Bismarcks „Draht nach Russland”: Zum Problem der sozial-ökonomischen Hintergründe der russisch-deutschen Entfremdung im Zeitraum von 1878 bis 1891 [Reprint 2021 ed.] 9783112472521, 9783112472514


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Bismarcks „Draht nach Russland”: Zum Problem der sozial-ökonomischen Hintergründe der russisch-deutschen Entfremdung im Zeitraum von 1878 bis 1891 [Reprint 2021 ed.]
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Auf Seite V I I , letzte Zeile, muß es richtig heißen: Zum Problem der Triebkräfte . . .

2087/16 - Kumpf-Korfes, Bismarcks „Draht nach Rußland"

SIGRID

KUMPF-KORFES

B I S M A R C K S „ D R A H T NACH

RUSSLAND"

D E U T S C H E A K A D E M I E D E R W I S S E N S C H A F T E N ZU B E R L I N INSTITUT F Ü R G E S C H I C H T E ARBEITSGRUPPE FÜR GESCHICHTE D E R SLAWISCHEN VÖLKER

QUELLEN UND STUDIEN ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS H E R A U S G E G E B E N VON

EDUARD WINTER UND

HEINZ LEMKE IN ZUSAMMENARBEIT MIT A L F R E D AN D E R L E , C O N R A D G R A U , G Ü N T E R R O S E N F E L D FRITZ STRAUBE REDAKTIONSSEKRETÄR: GÜNTHER

BAND X V I

JAROSCH

UND

SIGRID

KUMPF-KORFES

BISMARCKS „DRAHT NACH RUSSLAND" Zum Problem der sozial-ökonomischen der russisch-deutschen

Entfremdung

Hintergründe

im Zeitraum

von

1878 bis 1891

AKADEMIE-VERLAG 1968



BERLIN

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1968 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/37/68 Herstellung: IV/2/14 V E B Werkdruck, 445 Gräfenhainichen • 2854 Bestellnummer: 2087/16 • E S 14 D

Meinem Vater Otto Korfes

Inhalt

Vorwort

IX Kapitel I

Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses" im. Jahre 1881 1.Kräfteverhältnis, Diplomatie und russisch-deutsche „Freundschaft" (1870—1879). Vom Deutsch-Französischen Krieg zum Zweibund . . .

1

2. Wirtschaftliche Gegensätze zwischen den herrschenden Klassen des zaristischen Rußlands und des kaiserlichen Deutschlands in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre — Der Übergang Rußlands zum verstärkten Schutzzoll — Zur Schutzzollpolitik Deutschlands

5 8 15

3. Die Auseinandersetzungen im herrschenden Lager Rußlands zu außenpolitischen Fragen nach dem Berliner Kongreß. Die Ursache des Abschlusses des Dreikai8er„bündnisses" — Auseinandersetzungen innerhalb der zaristischen Regierung über die Außenpolitik — Der russische Panslavismus — Über das Verhältnis Rußlands zu Frankreich — Die Rolle des monarchischen Prinzips in den Beziehungen Deutschlands, Österreich-Ungarns und Rußlands — Einschätzung des Dreikaiser„bündnisses"

17 21 30 33 35 37

Kapitel II Zwischen Dreikaiser,.bündnis" und Rückversicherungsvertrag (1881—1887) 1. Die Auseinandersetzungen innerhalb der zaristischen Regierung um die Erneuerung des Dreikaiser„biindnisses" (1883—1884) — Beratung in Moskau

40 45

2. Die zollpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Rußland in der Mitte der achtziger Jahre

50

3. Zu den sozialökonomischen Triebkräften der zaristischen Expansionspolitik in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts — Zum Problem der Tätigkeit der zaristischen Nahostpolitik

62 69

VIII

Inhalt 4. Die Balkankrise 1885/86 und ihre Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen den drei Monarchien. Der Kampf in der russischen Öffentlichkeit und innerhalb der zaristischen Regierung um den Rückversicherungsvertrag (1885-1887) 77 — Auseinandersetzungen im herrschenden Lager Rußlands über das Verhältnis zu Deutschland und Österreich-Ungarn 84 90 — Katkovs Briefe an den Zaren — Katkovs Stellung zu Frankreich 92 95 — Die Kritik an Giers findet neue Anhänger — Der Sieg der Giersschen Konzeption 100 Kapitel III Das Ende des Rückversicherungsvertrages. Die Ursachen der französischrussischen Annäherung (1887—1891) 1. Die weitere Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche zwischen den herrschenden Klassen Deutschlands und Rußlands (1887—1891) . . 115 — Vysnegradskijs neuer Zolltarif 118 121 — Deutschlands Gegenmaßnahmen — Das Ende der Bismarckschen Handelspolitik gegenüber Rußland . . 1 2 6 — Caprivis Handelspolitik und Rußland 129 2. Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Das Lombardierungsverbot Bismarcks und seine Folgen — Rußlands Eisenbahnbau und das deutsche Kapital — Deutsches Kapital in anderen Zweigen der russischen Volkswirtschaft — Die russische Öffentlichkeit zum deutschen Kapital in Rußland . . . — Hintergründe des Lombardverbots — Die Reaktion Rußlands auf das Lombardverbot — Auseinandersetzungen in Deutschand um das Lombardverbot . . .

135 139 145 152 154 158 163

3. Das deutsche Engagement im Nahen Osten 171 — Das deutsche Finanzkapital und Österreich-Ungarn 173 — ökonomische Einflußnahme auf Rumänien, Serbien und Bulgarien . . 1 7 7 — Deutschland und die Türkei 181 Schlußbemerkungen 188 Verzeichnis der Abkürzungen und Verzeichnis der hier gebrauchten Maßeinheiten 192 Verzeichnis der Quellen und der Literatur 193 Personenregister 214

Vorwort

Die vorliegende Arbeit bemüht sich, einen Beitrag zur Klärung jener Ursachen zu leisten, die zur deutsch-russischen Entfremdung in dem Zeitraum von 1878 bis 1891 führten und mit dazu beitrugen, daß sich im Jahre 1914 die herrschenden Klassen Deutschlands und Rußlands offen als Feinde gegenüberstanden; sie soll zugleich eine Lücke in der marxistischen Forschung schließen helfen. Die Bismarcksche Rußlandpolitik nach der Reichsgriindung zeichnete sich trotz all ihrer Klassenschranken und trotz ihrer reaktionären Ausgangsposition durch eine gewisse Einsicht in das reale Kräfteverhältnis in Europa aus. Die internationale Lage, die Stellung Deutschlands in Europa und die Interessen der herrschenden Klassen im deutschen Kaiserreich ließen Bismarck in den zwanzig Jahren nach der Reichseinigung mehr oder minder konsequent eine Rußlandpolitik anstreben und zum Teil auch verwirklichen, deren Ziel es war, das Gleichgewicht in Europa zu erhalten, die Zukunft der herrschenden Klassen Deutschlands nicht durch außenpolitische Unbedachtsamkeiten zu gefährden, ernsthafte Differenzen oder gar einen Bruch mit dem zaristischen Rußland zu verhüten und vor allem einen kriegerischen Konflikt Deutschlands mit Rußland zu vermeiden. Und doch waren die Beziehungen zwischen dem zaristischen Rußland und dem kaiserlichen Deutschland in den letzten eineinhalb Jahrzehnten der Regierung Bismarcks und besonders nach dem Russisch-Türkischen Krieg durch wachsende außenpolitische und auch immer stärker werdende ökonomische Differenzen gekennzeichnet. Rußland und Frankreich kamen einander näher, und Deutschland und Rußland standen sich schließlich Anfang der neunziger Jahre in einander feindlichen Bündnissen gegenüber. In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, die Ursachen dafür zu finden. Bismarcks Bündnispolitik, das Verhältnis Bismarcks zu Rußland, die Ursachen der außenpolitischen und machtpolitischen Widersprüche zwischen den beiden Monarchien in den letzten zwölf Jahren der Bismarckschen Regierungszeit, die Gründe für das Scheitern der Rußlandpolitik des Kanzlers und für die russischdeutsche Entfremdung waren in Deutschland schon oft Gegenstand historischer Untersuchungen. Besonders nach dem ersten und zweiten Weltkrieg erschienen in der Weimarer Republik beziehungsweise in der Bundesrepublik zahlreiche historische Untersuchungen über die Geschichte der Außenpolitik des kaiserlichen Deutschlands. 1 1

Der Verfasser stellt sich nicht die Aufgabe, im folgenden auf die gesamte deutsche, äußerst umfangreiche Bismarckforschung im einzelnen einzugehen. Er beschränkt sich vielmehr auf eine Auswahl einiger ihrer typischsten Vertreter.

X

Vorwort

Eine Vielzahl neuer Quellen wurde durch die Publikation von Akten, Memoiren, Tagebüchern, Reden und Briefen einem breiten Kreis von Historikern zur Verfügung gestellt. Doch es gelang keinem dieser Historiker, eine wirklich erschöpfende Antwort auf die Frage nach den Ursachen der deutsch-russischen Entfremdung nach dem Sturz, geschweige denn während der Regierungszeit Bismarcks zu geben. Es sei hier von denjenigen Motiven abgesehen, welche unmittelbar der politischen Zweckbestimmung entsprachen und verschiedene Historiker der Weimarer Republik und der Bundesrepublik veranlaßten, diese oder jene Seite der Bismarckschen Außenpolitik besonders hervorzuheben oder in fragwürdiger Weise zu interpretieren. 2 Hier interessiert vielmehr die Frage, warum sie — abgesehen von ihrer politischen Einstellung — zu keiner befriedigenden Antwort kommen konnten. Zweifellos lag es mit an der Art der Quellen, die den deutschen Wissenschaftlern durch Veröffentlichungen zur Verfügung gestellt wurden. Es waren in erster Linie, ja fast ausschließlich — und zudem noch oft in tendenziöser Weise zusammengetragene — politische Quellen, die man der Forschung zugänglich gemacht hatte — Quellen, die entweder über die innenpolitische und wirtschaftliche Lage oder die sozialen Verhältnisse in Deutschland ganz schwiegen oder über diese Fragen nur in äußerst unzureichendem Maße Auskunft gaben und die außerdem die wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands zu anderen Staaten fast gar nicht berücksichtigten. 3 Die Schuld jedoch in erster Linie auf die Quellenveröffentlichungen zu schieben ist vor allem deshalb nicht möglich, weil alle Historiker in diesem oder jenem Maße auch in unveröffentlichte Quellen Einsicht nehmen bzw. die zeitgenössische Presse heranziehen konnten. Zudem wurden die Quellenpublia

Vgl. hierzu A. S. Jerussalimski, Problemy vnesnej politiki Bismarka v poslevoennoj germanskoj istoriografii, in: Istorik-Marksist, Moskau 1929, Bd. 12, S. 214ff.; derselbe, Die Außenpolitik und die Diplomatie des deutschen Imperialismus zu Ende des 19. Jh., Berlin 1954, S. 11 ff.; derselbe, Die Außenpolitik und die Diplomatie des deutschen Imperialismus zu Beginn des 20. Jh., in: ZfG, 1962, H. 3, S. 575 ff.; J. Streisand, Bismarck und die deutsche Einigungsbewegung des 19. Jh. in der westdeutschen Geschichtsschreibung, in: ZfG, 1954, H. 3, S. 349 ff.; E. Engelberg, NATOPolitik und westdeutsche Historiographie über die Probleme des 19. Jh., in: ZfG, 1959, H. 3, S. 477 ff.; derselbe, Über da« Problem des deutschen Militarismus, in: ZfG, 1956, H. 6, S. 1113 ff., F. Klein, Die westdeutsche Geschichtsschreibung über die Ziele des deutschen Imperialismus im 1. Weltkrieg, in: ZfG, 1962, H. 8, S. 1808 ff.; G.Lozek, Friedrich Meinecke — ein Stammvater der NATO-Historiker in Westdeutschland, Teil I—II, in: ZfG, 1962, H. 7, S. 1538 ff., H. 8, S. 1786 ff.; W. Berthold, „ . . . g r o ß hungern und gehorchen". Zur Entstehung und politischen Funktion der Geschichtsideologie des westdeutschen Imperialismus. Untersucht am Beispiel von Gerhard Ritter und Friedrich Meinecke, Berlin 1960, u. a. " Vgl. hierzu z. B. A. S. Jerussalimski, Vopros ob otvetstvennosti za vojnu (Dokumenty mirovoj vojny, kak orudie politiceskoj bor'by), in: Istorik-Marksist, Moskau 1932, Bd. 23—24, S. 26 ff.; F. Klein, Über die Verfälschung der historischen Wahrheit in der Aktenpublikation „Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871—1914", in: ZfG, 1 9 5 9 , H. 2, S. 318 ff., u. a.

Vorwort

XI

kationen meist auch von Historikern besorgt, die mit den gleichen methodologischen Prinzipien an die Quellenpublikation wie die anderen von ihnen an die QueUeninterpretation

herangingen.

Es muß demnach in erster Linie an einer einseitigen oder unrichtigen Fragestellung gelegen haben — die natürlich vor allem auch sozial und politisch bedingt war —, wenn die Mehrzahl der historischen Untersuchungen die tieferen Ursachen des Geschehens nicht erfaßte. Bei der Darstellung der Außenpolitik des Deutschen Reiches von Ende der siebziger bis zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts war der überwiegende Teil der offiziellen bürgerlichen deutschen Historiographie bemüht, die Ursachen der deutsch-russischen Entfremdung und des französisch-russischen Bündnisses durch eine Untersuchung ausschließlich der diplomatischen Geschichte zu ergründen. Die diplomatischen Schritte der deutschen Staatsmänner wurden dabei fast nur durch das internationale Kräfteverhältnis und ihr eigenes diplomatisches Geschick erklärt. Man übersah in der Regel, daß die Handlungen der Diplomaten von ihrer eigenen Klassenposition bzw. von den Interessen der ökonomisch und politisch herrschenden Klassen abhingen. Eine derartige Betrachtungsweise hatte den Vorteil, die Schuld der imperialistischen deutschen Bourgeoisie und der preußischen Junker am Ausbruch des ersten Weltkrieges auf einzelne Personen, auf die Politik Waldersees, auf die Leute des „neuen Kurses" oder auf Wilhelm II. zu schieben 4 und über einzelne, oft aus dem Zusammenhang gerissene Schritte der Leiter der deutschen Außenpolitik oder über einzelne bündnispolitische Fragen jahrelange Diskussionen führen zu können, ohne je deren wahre Hintergründe aufzudecken. So stritt man sich z. B. lange darüber, ob Bismarck ein Bündnis mit England gegen Frankreich und Rußland angestrebt habe 5 , ob ihm das Bündnis mit Rußland wichtiger erschienen6 oder ob Bismarck nicht vielmehr ständig bestrebt gewesen sei, zwischen England und Rußland zu lavieren.7 Oder man diskutierte lang und breit, ob die Nichterneuerung des Rückversicherungisvertrages, die Erneuerung des Zweibundes oder ähnliches die Ursachen der russisch-französischen Annäherung gewesen seien.8 Man sah dabei in der Regel '' Vgl. z . B . E.Reventlov, Von Potsdam nach Doorn, Berlin 1940, S. 265 ff.; G.Ritter, Bismarcks Verhältnis zu England und die Politik des „Neuen Kurses", in: Einzelschriften für Politik und Geschichte, Berlin 1924, S. 52 ff. 5 O. Hamman, Der mißverstandene Bismarck. Zwanzig Jahre deutsche Weltpolitik, Berlin 1921, S. 173; F. Rachfahl, Deutschland und die Weltpolitik, Bd. I, Die Bismarcksche Ära, Stuttgart 1923, S. 84; derselbe, Bismarcks englische Bündnispolitik, Freiburg 1922, S. 22 ff. O. Becker, Bismarck und die Einkreisung Deutschlands, Bd. II, Das französischrussische Bündnis, Berlin 1925, S. 264; E. Scheller, Bismarck und Rußland, Marburg 1926, S. 10; M.v. Hagen, Bismarck und England, Stuttgart-Berlin 1941, S. 11. 1 H. Rothfels, Bismarcks englische Bündnispolitik, Berlin-Leipzig 1924, S. 120 ff.; G.Ritter, a.a.O., S. 10, 37, 45; M.v. Hagen, Das Bismarckbild in der Literatur der Gegenwart, Berlin 1923, S. 55, 569 ff. u. a. * Vgl. hierzu Becker, a. a. 0., S. I V - V I , 18, 252 ff.; Reventlov, a. a, 0 . , S. 229; vgl. auch S. 114 der vorliegenden Arbeit.

XII

Vorwort

in Bismarcks Außenpolitik eine absolut richtige, für alle Zeiten gültige Politik. Man versuchte selten, Ursachen der deutsch-russischen Entfremdung in der Politik Bismarcks zu finden. Nur wenige bürgerliche deutsche Historiker machten den Versuch, auf die reine Diplomatiegeschichte zu verzichten und die Außenpolitik als „die Resultante von vielen . . . Komponenten . . . " , darunter auch die „Lage des betreffenden Staates", „den Charakter seiner Bevölkerung" und die parteipolitischen oder wirtschaftlichen Komponenten zu betrachten. 9 Doch auch damit kam man den wahren Schuldigen an der deutsch-russischen Entfremdung nicht viel näher. Entweder erklärte man die Notwendigkeit des dauernden Aufrüstens, des Abschlusses des Dreibundes und des Lavierens zwischen England und Rußland durch die geographische Lage, die Mittelstellung Deutschlands in Europa 1 0 , oder man stellte den russischen Expansivstaat 11 , den russischen aggressiven Nationalismus — hinter dem man teilweise auch richtig die „nationale Partei" Katkows und deren ökonomische Interessen vermutete 12 — oder die russischen Weltherrschaftspläne 13 der ausgleichenden und friedliebenden Außenpolitik eines Bismarck gegenüber. Man behauptete, die „Antipathien", die „Stimmungen des russischen Volkes" 14, die russische nationalistische öffentliche Meinung 15 , die „irrationalen massenpsychologischen Strömungen", der russische und der französische Chauvinismus seien schuld am Abbruch des Bündnisses gewesen.16 Es gelang einem Teil dieser Historiker auch, den Einfluß der wirtschaftlichen Beziehungen auf das politische Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland im Keime zu erkennen. Doch die Wirtschaftspolitik der beiden Staaten wurde in den meisten Fällen als abstrakte, nicht klassengebundene Politik aufgefaßt 1 7 , die sogar der Außenpolitik untergeordnet würde. 18 Man neigte dazu, die zollpolitischen Gegensätze oder das Lombardverbot Bismarcks in ihrer Wirkung auf die Außenpolitik zu unters

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K. Körlin, Zur Vorgeschichte des russisch-französischen Bündnisses 1879—1890, Halle 1926, S. 2. H. Oncken, Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Bd. I, LeipzigMünchen-Berlin 1933; F. Härtung, Deutsche Geschichte vom Frankfurter Frieden bis zum Vertrag von Versailles (1871—1919), Bonn-Leipzig 1924. O.Hoetzsch, Rußland. Eine E i n f ü h r u n g . . . , Berlin 1917, S. 55, 424; Körlin, a . a . O . , S. 10. I. Grüning, Die russische öffentliche Meinung und ihre Stellung zu den Großmächten 1878—1894, Berlin 1929, S. 200ff.; G.v.Rauch, Rußland im Zeitalter des Nationalismus und Imperialismus 1856—1917, München 1961, S. 33. v. Rauch, a. a. 0 „ S. 18 ff., 63. H. Uebersberger, Abschluß und Ende des Rückversicherungsvertrages, in: Berliner Monatshefte, H. 10, Okt. 1927, S. 964. R. Wittram, Bismarcks Rußlandpolitik nach der Reichsgründung, in: Rußland, Europa und der deutsche Osten, München 1960, S. 164 ff. Becker, a . a . O . , S. VII, 140 ff., 236 ff. Hoetzsch, a. a. O., S. 68 ff. R. Ibbecken, Das außenpolitische Problem Staat und Wirtschaft in der deutschen Reichspolitik 1880-1914, Schleswig 1928, S. 1 ff., llOff., 273ff.

Vorwort

XIII

schätzen. 19 Es wurde betont, daß trotz des Bagdadbahnbaues unter Bismarck kein „direktes eigenes Interesse im Orient" bestanden habe. 20 Die Bismarcksche Orientpolitik wurde der Wilhelminischen als eine prinzipiell andere entgegengestellt. 21 Auf der Suche nach den wirklichen Ursachen der deutsch-russischen Entfremdung trug man auf diese Weise wichtige neue Fakten, richtige Einzeleinschätzungen, aber auch Einseitigkeiten, Fehleinschätzungen, ja Fälschungen zusammen und drang zum wirklichen Kern des Problems nicht vor. Und nur einzelnen bürgerlichen deutschen Historikern gelang es, auf Grund einer neuen, zweifellos vom Marxismus beeinflußten Fragestellung nach den sozialen und ökonomischen Grundlagen der Bismarckschen Politik, durch die sie sich in offene Opposition zur traditionellen deutschen Historiographie stellten, und durch Heranziehung völlig neuen Quellenmaterials zu neuen Ergebnissen zu kommen. Dadurch konnten sie in der Klärung der Rolle der herrschenden Klassen Deutschlands bei der russischdeutschen Entfremdung unter Bismarck einen bedeutenden Schritt voran tun. 22 Die vorliegende Arbeit bemüht sich, auf der Grundlage der Arbeiten von Marx, Engels und Lenin, neuer Untersuchungen zu methodologischen Problemen 23 sowie der sowjetischen und marxistischen deutschen Forschungen über die Geschichte der Außenpolitik von 1871 bis 1914 2 4 auch in der Geschichte der deutschrussischen Beziehungen in der Zeit von 1878 bis 1891 zu einer Fragestellung zu kommen, die zur Aufdeckung der sozialen und ökonomischen Wurzeln der deutschen Rußlandpolitik jener Zeit beiträgt. Dabei war es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, auf alle Probleme der russisch-deutschen Beziehungen in der hier behandelten Zeit einzugehen. Es konnten nur die wichtigsten, typischsten Probleme untersucht werden, diejenigen Faktoren, die diesen Beziehungen offensichtlich in erster Linie ihren Inhalt und ihre Richtung geben. So mußte eine ganze Reihe von Fragen im Hintergrund bleiben, die Gegenstand späterer Untersuchungen sein können. 19 20 21 22

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24

Becker, a. a. 0., S. 182, 236. H. Holborn, Deutschland und die Türkei 1 8 7 8 - 1 8 9 0 , Berlin 1926, S. 69. Reventlov, a. a. O., S. 301 ff.; Becker, a. a. 0., S. 187 f. G. W. F. Hallgarten, Imperialismus vor 1914, Bd. I, München 1963; vgl. hierzu die Rezension zur 1. Auflage dieses Buches (München 1951) von A. S. Jerussalimski, George F. W. Hallgarten und seine Darstellung der Außenpolitik des deutschen Imperialismus, in: Zfg, 1962, H. 4, S. 844 ff.; H. Böhme, Deutsche Handelspolitik 1848—1881. Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründerzeit 1848—1881, Köln-Berlin 1966. Vgl. hierzu z. B. Istorija i sociologija, Moskau 1964, besonders den Beitrag von I. F. Gindin; F. Kumpf, Methodologische Aspekte der materialistischen Dialektik. Eine Untersuchung der Methode der Imperialismusanalyse Lenin, Dissertation, Berlin 1965. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, seien hier nur einige Arbeiten genannt: S.Skazkin, Konec Avstro-Russko-Germanskogo sojuza, Bd. I, 1879 bis 1884, Moskau 1928; F. A. Rotstejn, Mezdunarodnye otnesenija v konce XIX. veka, Moskau-Leningrad 1960; Jerussalimski, Die Außenpolitik und die Diplomatie des deutschen Imperialismus zu Ende des 19. Jh., a.a.O.; Istorija Diplomatii, Bd. II, Diplomatija v Novoe Vremja (1871—1914), avtor toma V. M. Chvostov, Moskau 1963;

XIV

Vorwort

Um die ganze Dynamik der Zuspitzung d e r russisch-deutschen Beziehungen u n d i h r e r entscheidenden Knotenpunkte mit ihren wichtigsten Ursachen u n d Folgen möglichst allseitig beleuchten zu können, w u r d e die Arbeit chronologisch aufgebaut u n d in drei Kapitel eingeteilt. Der Schwerpunkt d e r Untersuchung liegt auf der russischen Seite. Dabei wird die Kenntnis der Geschichte d e r Diplomatie weitgehend vorausgesetzt u n d diese n u r d a n n dargestellt, sofern das f ü r das Verständnis der Problematik notwendig ist. Bei der Sammlung u n d D u r c h a r b e i t u n g d e r f ü r diese Zeit verwandten veröffentlichten u n d unveröffentlichten Quellen s t a n d vor allem die K l ä r u n g folgender Probleme im Mittelpunkt: Inwieweit w u r d e die Entwicklung d e r diplomatischen Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland in der Zeit von 1878 bis 1891 von deren internationaler Stellung, von den der Diplomatie eigenen Gesetzein, von den subjektiven Bestrebungen u n d Fähigkeiten seiner Staatsmänner — eines Bismarck oder eines Giers — u n d ähnlichen Faktoren bestimmt? Inwieweit hatten diese genannten Momente eigenständige Bedeutung? In welchem Maße hingen die Gestaltung der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten u n d jene eben genannten Faktoren von objektiven materiellen, ökonomischen u n d sozialen Ursachen u n d deren Entwicklung ab — z. B. von ökonomischen u n d sozialen Veränderungen innerhalb d e r beiden Staaten, von d a m i t in Zusammenh a n g stehenden K ä m p f e n innerhalb der einzelnen Fraktionen der herrschenden Klassen u n d deren Ergebnissen, von Veränderungen in den handelspolitischen u n d finanziellen Beziehungen zwischen den beiden Staaten, von Veränderungen in den wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Staaten zu anderen Ländern sowie von damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Gegensätzen zwischen den herrschenden Klassen beider Länder auf anderen Märkten u n d deren A u s maß. Zu einer richtigen Beantwortung dieser Fragen war Voraussetzung, die historische Etappe, in welcher die russisch-deutsche E n t f r e m d u n g einsetzte, einzuschätzen u n d sich die — teilweise ähnlichen, teilweise unterschiedlichen — Charakteristika d e r sozial-ökonomischen u n d politischen Entwicklung Deutschlands u n d R u ß lands ins Gedächtnis zurückzurufen. Dabei waren vor allem folgende Momente zu beachten: Die Periode der Geschichte, in der die E n t f r e m d u n g zwischen dem kaiserlichen Deutschland u n d dem zaristischen Rußland begann, zeichnete sich d u r c h eine wachsende Ausbreitung des Kapitalismus u n d den sich vorbereitenden u n d b e ginnenden Übergang zum Monopolkapitalismus aus. V. I. Bovykin, Ocerki Istorii vnesnej politiki Rossii v konce XIX. veka — 1917 god, Moskau 1960; M. N. Maskin, Germanskaja diplomatija i konec russko-germanskogo dogovora o nejtralitete v 1890 g., Dissertation, Moskau 1951; A. Z. Manfred, Vnesnjaja politika Francii 1871—1891 godov, Moskau 1952; I. V. Bestuzev, Bor'ba v Rossii po voprosam vnesnej politiki 1906—1910, Moskau 1961; A.Schreiner, Zur Geschichte der deutschen Außenpolitik 1871-1945, Bd. I, 1871-1918, Berlin 1952; F. Klein, Deutschland 1887/98—1917 (Deutschland in der Periode des Imperialismus bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution), Berlin 1961, u. a.

Vorwort

XV

Die Klassenstruktur und die innenpolitische Situation wiesen in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jh. in Rußland und Deutschland gewisse Gemeinsamkeiten auf. In beiden Staaten hatte sich die kapitalistische Gesellschaftsordnung verspätet und ohne die revolutionäre Beseitigung der Kräfte der alten Ordnung durchgesetzt. Beide Länder hatten ihre „Revolutionen von oben" mit allen für derartige Revolutionen typischen Zugeständnissen an die alte Feudalität und die entstehende Bourgeoisie erlebt. In beiden Ländern blieb die alte Ausbeuterklasse erhalten, paßte sich mehr oder minder konsequent den Bedingungen der kapitalistischen Warenwirtschaft an und kämpfte um die Erhaltung und Erweiterung ihrer ökonomischen Privilegien und um die Bewahrung ihrer politischen Herrschaft und ihres Einflusses auf das Militärwesen. In beiden Ländern konnte die neue Ausbeuterklasse, die Bourgeoisie, ihre Herrschaft nicht uneingeschränkt entfalten und mußte auf die ökonomischen und politischen Interessen der alten Ausbeuterklasse Rücksicht nehmen, ihr zuliebe Kompromisse eingehen, ihr zuliebe — in beiden Ländern allerdings in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlichen Formen 25 — auf die direkte politische Machtausübung verzichten und mit ihr ein Bündnis abschließen. Das hatte seine Hauptursache im hohen Reifegrad der Klassenwidersprüche zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Das Bündnis kam in beiden Staaten im gemeinsamen Kampf beider Klassen gegen die revolutionäre und nationale Bewegung, in der Wirtschaftspolitik (insbesondere, wie sich zeigen wird, in der Zoll-, Handels- und Finanzpolitik) sowie in der expansionistischen Außenpolitik der Regierungen beider Länder zum Ausdruck. Jedoch wurden damit unterschiedliche Interessen der beiden Klassen vielfach nur überbrückt, die an entscheidenden Punkten immer wieder zum Durchbruch kamen. Dazu kam folgendes. Sowohl Rußland als auch Deutschland hatten in der hier behandelten Zeit unter drei großen Wirtschaftskrisen (1873—1875, 1882/83—1886 und 1890/91) zu leiden, die von einer seit Mitte der siebziger Jahre andauernden ständigen Agrarkrise begleitet und verschärft wurden.26 Diese Krisen mußten nicht nur die Konzentration der Produktion und des Kapitals beschleunigen und monopolistische Tendenzen verstärken, sondern auch den Kampf der Großbourgeoisie und der Großagrarier beider Länder um die Monopolisierung des eigenen Marktes und um neue Absatzmärkte verschärfen, was zu Widersprüchen zwischen den herrschenden Klassen beider Länder führen konnte. Trotz dieser Gemeinsamkeiten gab es auch starke Unterschiede in der Entwicklung beider Länder. Die für diese Betrachtung wichtigsten Unterschiede, die sich so25

20

Rußland war trotz seiner ersten zaghaften Schritte der sechziger bis achtziger Jahre zur bürgerlichen Monarchie eine absolute Monarchie geblieben; Deutschland hingegen war ein „mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Besitz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus". (K.Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Marx/Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1961, S. 28.) A. F. Jakovlev, Ekonomiceskie krizisy v Rossii, Moskau 1955; J.Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 12, Studien zur Geschichte der zyklischen Überproduktionskrisen in Deutschland, 1873 bis 1914, Berlin 1961.

XVI

Vorwort

wohl auf die ökonomischen als auch auf die politischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten auswirken mußten, waren die Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur, im Entwicklungsgrad und im Entwicklungstempo des Kapitalismus in beiden Ländern. Trotz des relativ starken ökonomischen Aufschwunges nach der Abschaffung der Leibeigenschaft blieb das zaristische Rußland in der hier behandelten Zeit im Vergleich zu den wichtigsten westeuropäischen Staaten ein ökonomisch relativ zurückgebliebenes Land. In ihm spielte die zudem noch mit halbfeudalen Methoden betriebene landwirtschaftliche und nicht die industrielle Produktion die wichtigste Rolle. Es herrschte Mangel an freiem Kapital. Infolgedessen mußten die Entwicklung und die Erweiterung einer modernen Schwer- und Grundstoffindustrie, die Ausdehnung des Eisenbahnnetzes und die technische Neuausrüstung der zaristischen Armee in gewissem Maße vom ausländischen Kapital abhängen. Solange sich Rußland nicht endgültig von seinen feudalen Überresten befreite und einer uneingeschränkten und allseitigen kapitalistischen Entwicklung Raum gab, mußte es außerdem damit rechnen, daß die herrschenden Klassen der ökonomisch höher entwickelten und mächtigeren Industriestaaten es in der Realisierung seines eigenen Expansionsprogramms im bestimmten Maße behinderten und daneben versuchten, Rußland sich selbst zum Ausbeutungsobjekt zu machen. Einer dieser ökonomisch mächtigeren Industriestaaten war der westliche Nachbar Rußlands, das Deutsche Reich. In Deutschland vollzog sich die industrielle Revolution unter wesentlich günstigeren Bedingungen und in einem ganz anderen Tempo als in Rußland. Abgesehen von der konsequenteren Beseitigung der inneren Hindernisse, der feudalen Überreste, welche mit dazu beitrug, daß der deutsche Kapitalismus die wichtigsten technischen Errungenschaften Englands, der USA und Frankreichs wesentlich schneller als der russische übernehmen konnte, spielten hier die Vereinigung und der Sieg Deutschlands über Frankreich eine große Rolle. Deutschland erhielt von Frankreich nicht nur den Milliardensegen, sondern entriß ihm auch eines seiner wichtigsten Industriezentren, Elsaß-Lothringen. Deutschland entwickelte sich unter Bismarck zur modernsten und größten Industriemacht auf dem europäischen Kontinent27 und verfügte über die damals technisch stärkste und kampferfahrenste Armee in Europa. Das konnte zu Komplikationen im Verhältnis zu Rußland führen. Ich möchte an dieser Stelle allen denjenigen danken, die mir bei der Ausarbeitung der vorliegenden Untersuchung mit wertvollen Ratschlägen und Hinweisen zur Seite standen. Besonderer Dank gilt Professor Dr. E. Winter, der die vorliegende Arbeit, die Ende des Jahres 1964 an der Philosophischen Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin als Dissertation vorgelegt wurde, betreute, und meinen beiden anderen Gutachtern, den Professoren Dr. E. Engelberg und Dr. H. Mohr27

Deutschlands Anteil an der Weltindustrieproduktion wuchs von 1870—1890 von 13 auf 1 4 % . Rußlands Anteil hingegen sank von 4 auf 3 % und Frankreichs von 10 auf 8 %. (J. Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 3, Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1871 bis 1900, Berlin 1962, S. 4 f., S. 95 fi.)

Vorwort

XVII

mann. Zu Dank bin ich auch den Angehörigen des Instituts f ü r Geschichte der UdSSR der Humboldt-Universität, besonders Prof. Dr. G. Rosenfeld, sowie den sowjetischen Historikern verpflichtet, die die Arbeit durch ihre Ratschläge außerordentlich bereicherten, unter ihnen besonders Dr. I. F. Gindin. Dank gebührt auch den Mitarbeitern des Deutschen Zentralarchivs in Potsdam und Merseburg sowie den Mitarbeitern der von mir aufgesuchten sowjetischen Archive und der Handschriftenabteilung der Lenin-Bibliothek in Moskau. Herrn G. Haenel möchte ich herzlich f ü r die Zusammenstellung des Personenregisters danken.

2 Bismarcks,.Draht nach Rußland"

KAPITELI

Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses" im Jahre 1881

1. Kräfteverhältnis,

Diplomatie und russisch-deutsche (1870-1879)

Vom Deutsch-Französischen

„Freundschaft"

Krieg zum Zweibund

Nach dem Frankfurter Frieden und der deutschen Reichsgründung war der deutsch-französische Gegensatz zu einem der wichtigsten Gegensätze in Europa geworden. Die Außenpolitik aller europäischen Mächte mußte das in den nachfolgenden Jahrzehnten in starkem Maße berücksichtigen. Frankreich bemühte sich, die äußerst spürbaren und erniedrigenden Bedingungen des Frankfurter Friedens zu annullieren. Es versuchte, möglichst rasch seine Kräfte wiederherzustellen, die diplomatische Isolierung zu überwinden und sieb Verbündete gegen Deutschland zu schaffen. Potentielle Bundesgenossen Frankreichs waren dabei die beiden östlichen Nachbarn Deutschlands, das zaristische Rußland und Österreich-Ungarn. Die Politik der deutschen Regierung gegenüber Frankreich war deshalb darauf gerichtet, Frankreichs schnelle Wiederherstellung zu verhindern und es bündnisunfähig zu halten. 1 Geplagt vom „Alpdruck der Koalitionen", setzte Bismarck alles daran, Frankreich von den anderen europäischen Mächten, besonders von Rußland und Österreich-Ungarn, zu isolieren, um bei einer neuen militärischen Auseinandersetzung mit Frankreich einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden. Das zwang ihn dazu, um die „Gunst des Zaren zu buhlen" 2 und mit ihm und FranzJoseph ein Bündnis anzustreben. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg und der Losreißung Elsaß-Lothringens hatte sich die außenpolitische Stellung Rußlands zunächst verbessert. „Die zaristische Diplomatie war nun in der beneidenswerten Lage, die beiden durch 1

2

2*

Dazu gehörte sowohl der Versuch, in Frankreich die Restauration einer Monarchie zu verhindern, um es nicht „mächtig und bündnisfähig für" Deutschlands „bisherige Freunde zu machen" (GP, Bd. I, Nr. 95), als auch die Bemühungen Bismarcks, Frankreich auf Kolonialabenteuer abzulenken. F.Engels, Einleitung zu Karl Marx, Bürgerkrieg in Frankreich (Ausgabe 1891), in: Marx/Engels, Werke Bd. 22, Berlin 1963, S. 190.

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Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

diese Losreißung auf den Tod verfeindeten Länder, Frankreich wie Deutschland, von Rußland abhängig zu wissen." 3 Sie hatte die Entstehung eines ökonomisch und militärisch starken vereinigten Deutschen Reiches zugelassen — doch eine weitere Erstarkung des deutschen Nachbarn auf Kosten Frankreichs lag weder im Interesse des europäischen Gleichgewichts noch der Sicherheit der russischen Grenzen. Die russische Regierung verstärkte daher in den siebziger Jahren ihre Westgrenzen und veränderte nach dem Frankfurter Frieden ihre Position gegenüber Frankreich. Sie wandte sich sowohl in den siebziger als auch in den achtziger Jahren energisch gegen einen erneuten Überfall Deutschlands auf Frankreich. 1 Doch sie gedachte nicht ihre Manövrierfähigkeit durch ein Bündnis mit Frankreich einzuschränken. Eine Bindung an einen starken deutschen Nachbarn versprach Rußland bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre hinein die größeren Vorteile. 5 Das Deutsche Reich war ihm nicht nur eine Stütze im Kampf gegen die revolutionäre und nationale Bewegung, bot ihm nicht nur wirtschaftliche Unterstützung, sondern gab ihm die günstige Gelegenheit, das deutsche „Buhlen" in seinem Interesse auszuwerten, zu manövrieren, „den deutsch-französischen Antagonismus zur Durchsetzung" seiner „eigenen Ziele auf dem Gebiet der Außenpolitik und der kolonialen Expansion auszunützen". 6 Nach den Mißerfolgen im Nahen Osten hatte Rußland in den sechziger Jahren seine expansionistischen Bestrebungen vorwiegend auf Mittelasien gelenkt. 7 Hier, wie gleichzeitig in Persien und der Türkei, stieß es auf den erbitterten Widerstand Englands. Der Gegensatz zu England spielte bis Mitte der achtziger Jahre eine hervorragende Rolle in der Außenpolitik des Zarismus, bestimmte weitgehend das Bedürfnis Rußlands nach Verbündeten und war eine der Ursachen f ü r das Zusammengehen des Zarismus mit Deutschland und Österreich-Ungarn. 8 !

F. Engels, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, in: ebenda, S. 43. '' V. M. Chvostov, Rossija i germanskaja agressija v dni evropejskogo krizisa 1887, in: Istoriceskie Zapiski, Moskau 1946, Bd. 18, S. 201 ff.; derselbe, Franko-russkij sojuz i ego istoriceskoe znacenie, in: Desjatij Mezdunarodnyj Kongress istorikov v Rime, September 1955, Doklady sovetskoj delegacii, Moskau 1956, S. 618 ff.; A.Z.Manfred, Iz predistorii franco-russkogo sojuza, in: Voprosy Istorii, Moskau 1947, Nr. 1, S. 24ff.; derselbe, Vnesnjaja politika a. O. 5 Für ein Bündnis Rußlands mit Frankreich waren die Voraussetzungen bis Ende der achtziger Jahre noch nicht gegeben. Frankreich war nach dem Deutsch-Französischen Krieg innen- und außenpolitisch und auch wirtschaftlich zu schwach, um dem zaristischen Rußland ein nützlicherer Verbündeter als Deutschland sein zu können, zumal auch die Verlagerung des Schwerpunktes der französischen Außenpolitik auf kolonialpolitische Abenteuer von Ende der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre Rußland und Frankreich voneinander trennte, Deutschland und Frankreich hingegen einander annäherte (vgl. hierzu Manfred, Vnesnjaja politika . . ., a. a. O., S. 211 ff.). '' A. S. Jerussalimski, Die Außenpolitik und Diplomatie des deutschen Imperialismus zu Beginn des 20. Jh., a. a. 0., S. 596. 7 Vgl. z. B. N. A. Chalfin, Politika Rossii v Srednij Azii, Moskau 1960. 8 Bismarck erkannte die Bedeutung des englisch-russischen Gegensatzes für das Dreikaiserbündnis sowie auch für die Realisierung der deutschen Kolonialpläne und war

Kräfteverhältnis, Diplomatie, russisch-deutsche „Freundschaft"

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Dazu kam, daß große Teile der herrschenden Kreise R u ß l a n d s d u r c h a u s nicht beabsichtigten, sich in ihrem Kampf u m die Meerengen mit den Ergebnissen des J a h r e s 1871 zufriedenzugeben. Auch hier erhoffte die zaristische Diplomatie, d u r c h ein Bündnis mit Deutschland die notwendige Unterstützung zu erhalten. Die herrschenden Klassen Deutschlands hatten nach 1871 zunächst noch keine nennenswerten eigenen ökonomischen, machtpolitischen oder militärstrategischen Interessen auf dem Balkan u n d in der Türkei. Bismarck konnte deshalb Rußland im Nahen Osten freie H a n d geben, ja es hier in stärkerem Maße zur Aktivierung seiner Politik drängen, als der zaristischen Regierung, welche einen Krieg u m das E r b e der Türkei mit Recht fürchtete und möglichst zu vermeiden suchte, lieb sein konnte. Bismarck bezweckte damit, das zaristische Rußland, den stärksten und gefährlichsten deutschen Nachbarn, bei „der Verwendung seiner überflüssigen K r ä f t e nach Osten h i n " 9 voranzutreiben, u m es nach Westen hin zu schwächen, um „die Kombination eventuell zu benützen, die Franzosen nochmals gründlich zu verarbeiten". 1 0 Im Nahen Osten stießen die Interessen Rußlands jedoch nicht n u r mit denen Englands, sondern auch mit Österreich-Ungarns Expansionsbestrebungen zusammen. Österreich-Ungarn w a r nach dem Scheitern seiner großdeutschen P l ä n e zum gefährlichsten Nebenbuhler R u ß l a n d s auf dem Balkan geworden. Vor der Aktivierung seiner Politik im Nahen Osten — ganz gleich, in welcher Form diese stattfinden sollte — mußte die zaristische Diplomatie deshalb versuchen, diesen Gegner zu neutralisieren, seine A n n ä h e r u n g an England oder an Deutschland allein zu verhindern. U n d dazu sah es den besten Weg im Zusammengehen m i t ihm. 1 1 Das D r e i k a i s e r „ b ü n d n i s " des J a h r e s 1873 w u r d e zu einem Zeitpunkt abgeschlossen, als eine Wirtschaftskrise die Welt zu erschüttern begann. Die innenpolitische Lage verschärfte sich besonders in so rückständigen Ländern wie Rußland und der Türkei. Zwei J a h r e nach Abschluß des Dreikaiser„bündnisses" b r a c h eine Balkankrise aus. Zwei J a h r e später entschloß sich Rußland zum Krieg gegen die Türkei. Das Dreikaiser,,bündnis" w u r d e einer harten P r o b e unterzogen. Die deutsche Regierung unterstützte Rußlands Kampf gegen die Türkei — doch sie war nicht bereit, eine Schädigung der Interessen Österreich-Ungarns oder gar dessen Schwächung zuzulassen; sie half der Donaumonarchie vielmehr, ihren Einfluß auf dem Balkan zu erweitern. An der E r h a l t u n g u n d Festigung der Habsburgermonarchie w a r den herrschenden Klassen des von Preußen vereinigten deutschen Kaiserreiches sowohl aus innendeshalb ständig bestrebt, diesen Gegensatz zu schüren. (H. Stoecker, Zur Politik Bismarcks in der englisch-russischen Krise von 1885, in: ZfG, 1956, H. 6, S. 1187 ff.) ä O.v.Bismwrck, Erinnerung und Gedanke, in: Bismarck, Die Gesammelten Werke, Bd. 15, Berlin 1932, S. 151; H. Poschinger, Fürst Bismarck und die Parlamentarier, Bd. I, Tischgespräche des Reichskanzlers, Breslau 1894, S. 119. 10 Lucius v. Ballhausen, Bismarckerinnerungen, Stuttgart 1920, S. 93. 11 Das russisch-österreichische Zusammengehen wurde dadurch erleichtert, daß beiden an einer gewissen Kontrolle über die deutsche Außenpolitik besonders Frankreich gegenüber gelegen war.

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Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

politischen als auch aus außenpolitischen Gründen gelegen. Einerseits garantierte die Existenz des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates die Herrschaft Preußens über Deutschland. Andererseits war die „Erhaltung der österreichischungarischen Monarchie als einer unabhängigen Großmacht . . . für Deutschland ein Bedürfnis des Gleichgewichts in Europa". 1 2 Ohne Österreich-Ungarn wäre das deutsche Kaiserreich nach 1871 in einem Maße vom zaristischen Rußland abhängig geworden, daß es — zumindest in den ersten Jahren — weitgehend auf eine selbständige Außenpolitik hätte verzichten müssen. Mit Österreich-Ungarn aber konnte es „Rußland in Schach halten". 13 Beide Funktionen konnte die Habsburgermonarchie jedoch nur dann erfüllen, wenn ihr Expansionsdrang sich nicht mehr auf Deutschland, sondern auf den Balkan konzentrierte. Auf dem Balkan, neben Elsaß-Lothringen dem wichtigsten Brennpunkt möglicher europäischer Komplikationen 14 , bot sich für Bismarck das geeignete Feld, auf welches er seinen südöstlichen Nachbarn verdrängen konnte. „Hier konnten ehrgeizige Dynastien Befriedigung finden, hier war die Arena für Heldentaten der Armee — zwei Kräfte, die in Österreich trotz des Konstitutionalismus noch eine große Rolle spielten; hier war schließlich ein weites Feld f ü r die Tätigkeit der österreichischen Industrie und der österreichischen Bankiers, für alle möglichen EisenbahngWinder und Kulturträger, die in so rührender Intimität mit den österreichischen herrschenden Kreisen standen. Ein Österreich, das im Osten beschäftigt war, war für Preußen in Deutschland ungefährlich." 15 Das bedeutete aber f ü r die deutsche Diplomatie, daß sie in einigen wesentlichen Fragen der Balkanpolitik die österreichischen Interessen den russischen vorziehen mußte. Dafür bot sich ihr die günstigste Chance während der Balkankrise der Jahre 1875—1878.16 Deutschland brachte den Zarismus um einen Teil der Früchte seines Sieges und verschaffte Österreich-Ungarn Bosnien und die Herzogewina. Österreich-Ungarn biß sich mit deutscher Hilfe auf dem Balkan fest. Es wurde in seiner Außenpolitik von Deutschland abhängig und war damit auch fernerhin auf Deutschlands Unterstützung angewiesen. Ein Jahr nach dem Berliner Kongreß schloß es den Zweibund mit Deutschland ab. Die deutsche Regierung unter Bismarck dachte auch jetzt nicht daran, die Bindung an Rußland aufzugeben und sich allein auf Österreich-Ungarn zu orientieren. Das wäre schon deshalb nicht ratsam gewesen, weil dies nicht nur die russischfranzösische Allianz beschleunigt hätte, sondern auch dazu führen konnte, daß dann „in Wien die Ansprüche wachsen" würden, „die man an die Dienste des deutschen Bundesgenossen glauben würde stellen zu können". 17 Immerhin hatte 12

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14 15 1B 17

Bismarck, a.a.O., S. 412; vgl. auch DZA Potsdam, RK, 2014, BI. 1 0 - 1 3 , Protokoll der Kronratssitzung vom 23. III. 1888. Chlodwig zu Hohenlohe-Schülingfürst, Denkwürdigkeiten des Fürsten. .., Bd. II, Stuttgart-Leipzig 1907, S. 202. GP, Bd. VI, Nr. 1190. Skazkin, a. a. O., S. 25 (russ.). Poschinger, a. a. O., S. 111 ff. Bismarck, a. a. O., S. 411.

Wirtschaftliche Gegensätze

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Deutschland seine Bindung an Rußland doch geschwächt und diesem damit gezeigt, daß es dessen Nahostprogramm nicht bedingungslos zu unterstützen bereit war. Es hatte ihm zwar „auf diplomatischem Wege alle Hindernisse f ü r einen .siegreichen' Marsch nach Konstantinopel" aus dem Wege geräumt, hatte eine Wiederholung von Sevastopol verhindert 1 8 — doch es hatte gleichzeitig zur Schwächung des Zarismus beigetragen. Das fand seinen eklatanten Ausdruck sowohl in der Tatsache, daß dem siegreichen Rußland — mit Deutschlands Hilfe! — von den genannten Großmächten ein Teil seiner Siegesbeute streitig gemacht werden konnte und es in diplomatische Isolierung zu geraten drohte, als auch darin, daß in Rußland eine revolutionäre Krise ausbrach. 2. Wirtschaftliche Gegensätze zwischen den herrschenden Klassen des zaristischen Rußlands und des kaiserlichen Deutschlands in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre Zwischen dem zaristischen Rußland und seinem westlichen Nachbarn hatten sich in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jh. rege Handelsbeziehungen entwickelt. Rußland hatte in dieser Zeit seine Gründerzeit durchlebt. Ein umfangreiches System des kapitalistischen Kredits hatte sich rasch entwickelt. Es waren große Industriebetriebe — Maschinenfabriken, Rüstungsbetriebe und Hüttenwerke — gebaut worden. Vor allem aber hatte Konjunktur in der Gründung von Eisenbahngesellschaften geherrscht. Von 1860 bis 1880 hatte sich das russische Eisenbahnnetz von 1100 km auf 23 000 km vergrößert. 19 Bloch, Poljakov, v. Meck, Ginzburg, Mamontov, v. Derviz und andere Gründer galten bald als Leute mit klangvollem Namen. In Rußland bestand starke Nachfrage nach Schienen, Lokomotiven und Waggons f ü r den Bau von Eisenbahnen, nach Maschinen und Ausrüstungen für die entstehende Großindustrie, nach Waffen, Munition und Schiffen f ü r den Wiederaufbau und die Vergrößerung der im Krimkrieg zerschlagenen zaristischen Armee und Flotte, nach landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten f ü r die Rationalisierung der Landwirtschaft und schließlich nach Artikeln des täglichen Bedarfs und Luxuswaren. Dazu gesellte sich ein außerordentlich starkes Bedürfnis nach freiem Kapital. Weder die Nachfrage nach Industriewaren noch die nach Kapital hatte in der damaligen Zeit in Rußland selbst auch nur annähernd befriedigt werden können. Rußland war daher auf den Import von Kapitalien aus dem Ausland, darunter auch aus Deutschland, angewiesen gewesen und hatte auch seine Bedürfnisse an Industrieerzeugnissen in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach der Abschaffung der Leibeigenschaft in starkem Maße durch Importwaren decken müssen. In den sechziger und der ersten Hälfte der siebziger Jahre hatte Rußland eine gemäßigt-protektionalistische Zollpolitik betrieben. Relativ hoch verzollt worden 18

Skazkin,

a. a. O., S. 44.

l» 71 p Chacaturov, Razmescenie transporta v kapitalisticeskich stranach i v SSSR, Moskau 1939, S. 436.

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Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

waren, abgesehen von Luxuswaren, nur die wenigen Produkte, die die russische Industrie bereits in relativ starkem Maße lieferte, z. B. Formguß, einfache Maschinen, Lokomotiven, Waggons, gesponnene und gewebte Baumwolle, Jute, Leinen, Hanf, Textilien sowie einige Farben. Diejenigen Waren jedoch, welche in Rußland gar nicht oder nur in völlig unzureichendem Maße erzeugt, aber f ü r den Aufbau des russischen Eisenbahnnetzes und der Industrie bzw. von den bereits bestehenden Großbetrieben als Rohstoffe benötigt wurden — komplizierte Fertigwaren, Halbfabrikate und Rohstoffe, wie Schiffe, Maschinen, Werkzeuge, Eisendraht, Eisenbahnschienen, Stahl, Gußeisen, einige Erze, Kohle, rohe Baumwolle und Baumaterialien —, wurden überhaupt nicht oder nur mit sehr niedrigem Zoll belegt. Dazu bestand für die Maschinenindustrie die besondere Vergünstigung, Metalle, und für die Eisenbahngesellschaften, rollendes Material zollfrei einführen zu können. 20 Unter den damaligen Bedingungen hatte diese Zollpolitik im wesentlichen sowohl den Interessen des Fiskus als auch denen der Industriebourgeoisie entsprochen, was natürlich auch damals schon Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Gruppen der russischen Bourgeoisie in dieser Frage nicht ausschloß, denn ein Teil der jungen Bourgeoisie fühlte sich schon damals in seiner Entwicklung von der ausländischen Konkurrenz bedroht. Insgesamt gesehen hatte diese Zollpolitik jedoch unter den damaligen Bedingungen die Industrialisierung, die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland gefördert. Für die deutsche Industrie, die besonders nach der Reichsgründung, der Eroberung von Elsaß-Lothringen und dem französischen Milliardensegen einen stürmischen Aufschwung genommen hatte und nach der Industriekrise des Jahres 1873 verstärkt zum Export drängte, bot sich unter diesen Bedingungen im benachbarten Rußland ein vielversprechender Absatzmarkt an. Die deutschen Industriellen hatten ihre Erzeugnisse: Roheisen, Kohle, Maschinen, Apparate, Fahrzeuge, Waffen, Produkte der Elektroindustrie, chemische Waren und Textilien denn auch in wachsendem Maße nach Rußland exportiert. Großunternehmer wie Krupp, Siemens 2i , Ludwig Löwe, Henckel v. Donnersmarck u. a. hatten ihr Vermögen zu jener Zeit in beträchtlichem Maße ihren Geschäften mit Rußland zu verdanken. Der deutsche Industriewarenexport war durch den deutschen Kapitalexport ergänzt und gefördert worden. Deutsche Banken hatten in großem Umfange russische Eisenbahnpapiere und Staatsanleihen aufgekauft und damit direkt oder indirekt den deutschen Industrieexport gefördert. Deutsche Großindustrielle, z. B. Krupp und Ludwig Löwe, hatten in den sechziger und siebziger Jahren die Umbewaffnung des russischen Heeres und der Marine unterstützt 2 2 ^ M. N. Sobolev, Tamozennaja politika Rossii vo vtoroj polovine XIX. veka, Tomsk 1911, Kap. 5 u. 6. 21 Werner v. Siemens baute schon in den fünfziger Jahren Telegraphenlinien: von Petersburg nach Moskau, Warschau nach Petersburg, Moskau nach Kiew, Kiew nach Odessa u.a. — Vgl. W. v. Siemens, Lebenserinnerungen, Berlin 1922, S. 68 ff. 22 Krupp, 1812—1912. Zum 100-jährigen Bestehen der Firma Krupp und der Gußstahlfabrik zu Essen-Ruhr. Essen 1912, S. 146 ff. — Vgl. auch Berliner Tageblatt, 7 . 1 2 . 1 8 8 2 .

Wirtschaftliche Gegensätze

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und außer dem Kriegsmaterial auch Eisenbahnmaterial geliefert. Mitte der siebziger Jahre hatte Rußland bereits 2 4 % des gesamten deutschen Exports absorbiert.23 Deutschlands Anteil an der russischen Einfuhr war vom Jahrfünft 1 8 5 8 - 6 2 bis zum Jahrfünft 1868—72 von 28 auf 4 4 % gewachsen. Ab Mitte der sechziger Jahre nahm es den ersten Platz im russischen Import ein.24 Die Warenbewegung zwischen den beiden Ländern war jedoch nicht einseitig geblieben. In den sechziger und siebziger Jahren begann in Deutschland der Bedarf an landwirtschaftlichen Erzeugnissen rapide zu wachsen. Seine rasch emporstrebende Industrie brauchte landwirtschaftliche Rohstoffe, die sich stark vergrößernden Großstädte Holz und Lebensmittel, vor allem Roggen. Für die russischen Gutsbesitzer, die nach der Abschaffung der Leibeigenschaft allmählich zu kapitalistischen Wirtschaftsformen übergegangen waren und in wachsendem Maße für den Export produziert hatten — was von Seiten des Fiskus sehr gefördert worden war —, hatte sich hier ein günstiger Absatzmarkt geboten. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre waren bereits 16,8% des ganzen russischen Weizen-, 2 5 , 7 % seines Roggen- (über 5 0 % des deutschen Roggenimports!), 17,4% seines Haferund 11,4% seines Gersteexports bzw. 2 0 % seiner ganzen Getreideausfuhr nach Deutschland gegangen.25 In der Mitte der siebziger Jahre hatte Deutschland 34 % des gesamten russischen Exports — das waren 8,6 % des deutschen Imports — absorbiert26 und war damit für Rußland zum wichtigsten Handelspartner geworden.27 Die guten außenpolitischen Beziehungen zwischen dem kaiserlichen Deutschland und dem zaristischen Rußland hatten also zunächst auch eine solide ökonomische und soziale Grundlage. Diese sollte jedoch bald in Erschütterung geraten, denn die handelspolitische Eintracht zwischen Deutschland und Rußland wurde noch während der siebziger Jahre gestört. Im Jahre 1873 brach eine Weltwirtschaftskrise aus. Zwei Jahre später folgte ihr eine Weltagrarkrise. Für Rußland hatte diese Krise zusammen mit der ihr folgenden Depression schwerwiegende Folgen. Die Konkurrenz der ausländischen Industrie auf dem russischen Markt, die sich während und nach der Krise noch verstärkte, wurde für die junge, ohnehin kaum konkurrenzfähige russische Industrie zur schweren Belastung und hemmte deren Weiterentwicklung. Krise und ausländische Konkurrenz führten zu Absatzschwierigkeiten, in deren Folge die ohnehin nicht hohe Industrieproduktion in einigen Zweigen, besonders in der Textilindustrie, zu sinken begann.28 Es kam zu Bankrotten, Auflösungen von Gesellschaften, Zusammenbrüchen von Banken. Die russische Großbourgeoisie begann um verstärkten Schutzzoll zu kämpfen. 23

AVPR, F. BerlinskoePosol'stvo, delo 4004, Bl. 37, Vysnegradskij an Giers, April 1891. J. Kuczynski/G. Wittkowski, Die deutsch-russischen Handelsbeziehungen in den letzten 150 Jahren, Berlin 1957, S. 26. -5 P. I. Ljascenko, Zernovoe chozjajstvo i chlebo-torgovye-otnosenija Rossii i Germanii St. Petersburg 1915, S. 51 ff. 27 AVPR, ebenda. Kuczynski/Wittkowski, a. a. 0., S. 24. 28 Jakovlev, a. a. 0., Kap. III.

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Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

Infolge der Weltagrarkrise, die zwei Jahre später ausbrach, fielen die Getreidepreise. Dadurch sank der Wert der russischen Getreideexporte, und der Kurs des Rubels fiel. Die Zahlungsbilanz und Handelsbilanz Rußlands verschlechterten sich immer mehr. Da das Staatsbudget außerdem noch durch die Vorbereitung des Krieges gegen die Türkei außerordentlich belastet wurde, schien der Staatsbankrott bevorzustehen. 29 Der Übergang Rußlands zum verstärkten Schutzzoll

In dieser Situation sah der damalige russische Finanzminister Reutern den besten Ausweg in einer Maßnahme, die faktisch einer Erhöhung aller russischen Einfuhrzölle um 5 0 % gleichkam: Ab 1877 wurden alle Zölle nicht mehr in Kredit-, sondern in Goldrubel erhoben. Drei Jahre später wurden alle Zölle noch einmal um 1 0 % erhöht. 30 Reutern hoffte durch diese Schritte die Handelsbilanz Rußlands zu verbessern. Außerdem wollte er die Goldeinnahmen erhöhen, damit die Regierung ihren Verpflichtungen gegenüber ausländischen Gläubigern leichter nachkommen könne. Die Maßnahme hatte also vorwiegend fiskalischen Charakter. 31 Sie kam aber gleichzeitig auch den Forderungen der russischen Industriellen nach verstärktem •Schutzzoll entgegen. Reutern selbst betonte im Februar 1877 in seiner Denkschrift an den Zaren, daß durch den neuen Zolltarif und „die Einschränkung der Einfuhr aus dem Auslande . . . gleichzeitig die Fabrikindustrie geschützt und ein kräftigender Einfluß auf sie ausgeübt" werden sollte. 32 Dieser Schritt der zaristischen Regierung zum verstärkten Schutzzoll, diese ersten Zugeständnisse an die Forderungen der russischen Industriebourgeoisie nach verstärktem Protektionismus waren mit besonderen Schutzmaßnahmen für die russische Hüttenindustrie und den russischen Transportmaschinenbau verbunden. Die zollfreie Einfuhr von Schienen wurde verboten und die seit 1861 bestehende Vergünstigung f ü r die russische Maschinenindustrie, Metalle zollfrei einführen zu können, aufgehoben. Die Einfuhrzölle auf Lokomotiven und Tender a

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P. P. Migulin, Russkij Gosudarstvennyj Kredit 1769—1899, Opyt istoriko-kriticeskogo obzora, Bd. I, Charkovl899, S. 461 ff. Ebenda. — Reutern selbst war 1881 nicht mehr russischer Finanzminister. Die Zollerhöhung von 1881 war aber noch von ihm angestrebt und vorbereitet worden. Sobolev, a. a. O., S. 417 ff.; vgl. auch M. v. Reutern, Die finanzielle Sanierung Rußlands nach der Katastrophe des Krimkrieges 1862—1878 durch den Finanzminister Michael v. Reutern. Hrsg. W. Graf Reutern/Baron Nolcken, Berlin 1914, S. 109 ff. Reutern, a . a . O . , S. 116. — Es ist hierbei wichtig, beide Seiten dieser Maßnahme und nicht, wie es z. B. L. Lehrfreund (Die Entwicklung der deutsch-russischen Handelsbeziehungen, Leipzig 1921, S. 66), E.Zweig (Die russische Handelspolitik seit 1877, Leipzig 1906, S. 16 ff.), Migulin (a.a.O., S. 461), E. Kun' (Razvitie nasego tamozennogo oblozenija v poslednija desjatiletija, St. Petersburg 1917), ja selbst Kuczynski/ Wittkowski (a. a. 0 . , S. 28) und P. I. Ljascenko (Istorija narodnogo chozjajstva SSSR, Bd. II, Moskau 1952, S. 1911 tun, allein die fiskalische Seite zu sehen. 1. F. Gindin, Gosudarstvennyj bank i ekonomiceskaja politika carskogo pravitel'stva (1861—1892),

Wirtschaftliche Gegensätze

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stiegen um 66 % . Alle neu entstehenden Eisenbahngesellschaften mußten jetzt ihr rollendes Material ausschließlich in russischen Fabriken kaufen. Den russischen 'Transportmaschinenbau und die Schienenproduktion förderte ein staatliches Prämiensystem. 33 Das war für einige Teile der entstehenden russischen Schwerindustrie schon ein beachtlicher Schritt zum verstärkten Protektionismus. Zum allumfassenden extremen Protektionismus, der alle Zweige der industriellen Produktion in gleichem Maße vor der ausländischen Konkurrenz schützte und damit den Forderungen der gesamten russischen Industriebourgeoisie entsprach, sollte Rußland aber erst ein Jahrzehnt später übergehen. Die Hauptinitiatoren der russischen Schutzzollbewegung waren die Großbourgeoisie des zentralrussischen Industriegebietes, die großen Textilfabrikanten und Händler Moskaus und Vladimirs — Najdenov, Morozov, Rjabusinskij, Tretjakov und andere —, die Hüttenindustriellen, vor allem des Urals — Pa§kov, Sipov, Belosel'skij-Belozerskij, Poklevskij — sowie einige Vertreter der bürgerlichen Intelligenz. Das Moskauer Gebiet blieb auch nach der Abschaffung der Leibeigenschaft eines der größten, wenn nicht zunächst sogar das wichtigste Industrie- und Handelszentrum Rußlands. Moskau — und nicht Petersburg — hatte durch den Eisenbahnbau der sechziger und siebziger Jahre mit allen wirtschaftlich wichtigen Gebieter Rußlands direkte Verbindung. Moskau und das mit ihm eng verbundene NiznyjNovgorod waren die größten Warenumschlagplätze innerhalb des Reiches. In sozialer und gesellschaftspolitischer Beziehung stellte Moskau das Zentrum Rußlands dar 3 4 , seine Bourgeoisie brachte die Klasseninteressen der russischen Bourgeoisie in dieser Zeit am konsequentesten zum Ausdruck. Unter den Petersburger Industriellen, von denen sich viele erst in der Gründerzeit, nach Abschaffung der Leibeigenschaft, einen Namen geschaffen hatten, gaben die Schwerindustriellen den Ton an, die fast ausschließlich mit den billigen Rohstoffen (Kohle, Roheisen, Walzstahl) aus England und Deutschland sowie mit ausländischem Kapital arbeiteten. Die bedeutendsten privaten Großbanken Petersburgs waren mit Hilfe ausländischen Kapitals gegründet worden und hatten durch die ständigen Geschäfte mit Westeuropa beträchtliche Einnahmen. Die Handelsbourgeoisie dieser Stadt war auf den westeuropäischen Markt orientiert. Petersburg blieb auch jetzt noch das Fenster nach Westeuropa, das Fenster des russischen Kosmopolitismus.

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Moskau 1960, S. 48, kommt bei der Untersuchung des Nachlasses von Reutern sogar zu der Auffassung, daß die Gesichtspunkte der Valutapolitik nur das „unmittelbar stimulierende Motiv" waren. — Vgl. hierzu auch S. Pokrovskij, Vnesnjaja torgovlja i vnesnjaja torgovaja politika Rossii, Moskau 1947, S. 275 ff. Sobolev, a. a. 0., S. 551 ff. I. F. Gindin, Russkaja burzuazija v period kapitalizma, ee razvitie i osobennosti, in: Istorija SSSR, Moskau 1963, Nr. 2, S. 71. — Vgl. hierzu auch G. v. Schulze-Gävernitz, Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland, Leipzig 1899, Kap. II, S. 53 ff. sowie .S. 247 ff.

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Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

Die M o s k a u e r Bourgeoisie w a r nationalistisch, j a chauvinistisch, in i h r e r W i r t s c h a f t s f ü h r u n g u n d ihren A n s c h a u u n g e n konservativ. Sie arbeitete vorwiegend mit russischem Kapital. Viele M o s k a u e r Textilunternehmen u n d H a n d e l s h ä u s e r , j a sogar einige M o s k a u e r B a n k e n waren Familienunternehmen. E s gab wenig a u s ländisches K a p i t a l i n Moskau. A u s l ä n d e r , denen im M o s k a u e r Gebiet Großbetriebe gehörten, h a t t e n diese meist a u s eigener Initiative, n i c h t a b e r im A u f t r a g e einer ausländischen Gesellschaft o d e r B a n k errichtet, sie h a t t e n o f t m a l s auch d i e russische Staatsangehörigkeit angenommen u n d sich allmählich assimiliert. In M o s k a u gaben nicht neureiche Schwerindustrielle, s o n d e r n alteingesessene Textilf a b r i k a n t e n , deren V ä t e r oder Großväter schon M a n u f a k t u r e n besessen hatten, den. Ton an. Die M o s k a u e r Textilbourgeoisie—in ihreil Mehrzahl Baumwollindustrielle — arbeitete zwar noch m i t ausländischen Rohstoffen, vor allem Baumwolle, orientierte sich a b e r immer m e h r auf die E r o b e r u n g einer eigenen Rohstoffbasis in Mittelasien. 3 5 Sie r e p r ä s e n t i e r t e jenen Zweig d e r einheimischen I n d u s t r i e , d e r seit dem E n d e d e r siebziger u n d dem A n f a n g d e r achtziger J a h r e die B e d ü r f n i s s e des M a r k t e s im wesentlichen selbst befriedigen konnte u n d der auch am s t ä r k s t e n u n t e r d e r Krise zu leiden hatte. Die M o s k a u e r Textilindustriellen d r ä n g t e n mit aller Entschiedenheit z u r E r o b e r u n g n e u e r ' A b s a t z m ä r k t e , z u m a l sie — im Vergleich z u r neuentstandenen Schwerindustrie — vom S t a a t relativ wenig ökonomische U n t e r s t ü t z u n g erhielten. 3 6 N u r ein geringfügiger Prozentsatz i h r e r P r o d u k t i o n wurde vom Staat gekauft, u n d die an sie ausgegebenen staatlichen Kredite waren minimal. E s n i m m t d a h e r nicht wunder, d a ß die M o s k a u e r F a b r i k a n t e n den Kampf gegen die ausländische K o n k u r r e n z in R u ß l a n d einleiteten u n d einen v e r s t ä r k t e n Schutzzoll f o r d e r t e n . Sie wandten sich einzeln an die entsprechenden Instanzen, b r a c h t e n i h r e Beschwerden a b e r a u c h kollektiv in d e r M o s k a u e r Abteilung des M a n u f a k t u r u n d H a n d e l s r a t e s , im M o s k a u e r Börsenkomitee, auf den allrussischen F a b r i k a n t e n kongressen u n d a n a n d e r e r Stelle z u m A u s d r u c k . A u ß e r d e m w u r d e n i h r e Forder u n g e n d u r c h die M o s k a u e r Presse, v o r allem d u r c h die Katkovschen „Moskovskie Vedomosti", an die Öffentlichkeit gebracht. I h r K a m p f u m Schutzzollerhöhung richtete sich dabei von A n f a n g an — z u m Leidwesen B i s m a r c k s — vor allem gegen die deutsche K o n k u r r e n z u n d gegen die finanzielle Abhängigkeit R u ß l a n d s von Deutschland. Die russische Schutzzollbewegung wäre aber schwach u n d erfolglos geblieben, h ä t t e sie sich n u r auf diesen Teil d e r russischen Bourgeoisie gestützt. Sie wurde d u r c h die Bemühungen d e r r u s s i s c h e n H ü t t e n i n d u s t r i e des U r a l s — deren Absatzschwierigkeiten in e r s t e r Linie auf ihren r ü c k s t ä n d i g e n P r o d u k t i o n s m e t h o d e n , n i c h t a b e r auf d e r ausländischen K o n k u r r e n z b e r u h t e n — u n d S ü d r u ß l a n d s um erhöhten Schutz wesentlich v e r s t ä r k t . Die russischen Hüttenbesitzer reagierten auf die W e l t w i r t s c h a f t s k r i s e in d e r ersten H ä l f t e d e r siebziger J a h r e genauso wie 35

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Der Kampf der Moskauer Industriellen um Rohbaumwollzölle ist in Zusammenhang mit ihrer mittelasiatischen Rohstoffbasis zu sehen. Vgl. Schulze-Gävernitz, a. a. 0 „ S. 247 ff. Gindin, Gosudarstvennyj bank . . . , a . a . O . , S. 322 ff.

Wirtschaftliche Gegensätze

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•die Großbourgeoisie Westeuropas und der USA: Sie organisierten sich. Sie schufen sich eigene Interessenvertretungen, von denen die Räte der Konferenzen der Hüttenindustriellen des Urals und Südrußlands den größten Einfluß erlangten. 37 Ihnen schlössen sich andere Teile der russischen Schwerindustrie, vor allem der Transportmaschinenbau, an. Bei der Ausarbeitung und Konkretisierung des Schutzzollprogramms und bei .seiner Verwirklichung spielten Teile der bürgerlichen russischen Intelligenz eine beachtliche Rolle. Sie gehörten, wie z. B. der bekannte Prof. Mendeleev 3®, zur technischen Intelligenz. Durch ihre Tätigkeit an technischen Hochschulen, in der Russischen Technischen Gesellschaft und auf den Handels- und Industriekongressen wurden sie sich der industriellen Rückständigkeit Rußlands mit allen ihren Konsequenzen voll bewußt. Sie begannen — oft aus patriotischen Motiven — ihren Kampf gegen die Rückständigkeit Rußlands und setzten sich insbesondere f ü r den Schutz aller Zweige der russischen Industrie vor der ausländischen Konkurrenz ein. Oder es waren Journalisten, wie z. B. Katkov, der Herausgeber der „Moskovskie Vedomosti", die durch ihre Tätigkeit in den Industriezentren, durch ihre engen Verbindungen zur russischen Bourgeoisie, vielleicht auch durch ihre persönlichen Beteiligungen an den zollschutzbedürftigen Großbetrieben 3 9 zu glühenden und gefürchteten Verfechtern der Schutzzollidee wurden. Die Vertreter der russischen Intelligenz brachten die Klasseninteressen der ganzen Bourgeoisie oft klarer und entschiedener zum Ausdruck als die durch enge Gruppeninteressen belasteten Vertreter einzelner Teile der Großbourgeoisie selbst. 40 Gegner des verschärften Protektionismus und in diesem Sinne Freihändler waren große Teile der russischen Gutsbesitzer, Teile der Hofkreise und der hohen Bürokratie sowie einzelne Gruppierungen innerhalb der russischen Bourgeoisie. In den Interessenvertretungen der russischen Gutsbesitzer: in der Freien Ökonomischen Gesellschaft, in den Kreis-, Gebiets- und Allrussischen Kongressen der Landwirte, in den Börsenkomitees der Städte der vorwiegend landwirtschaftlichen Gebiete, in der Zeitung „Kievljanin" sowie teilweise auch im Staatsrat wurden Stimmen laut, die eine weitere Erhöhung der Einfuhrzölle auf Produkte der Schwerindustrie, auf Eisenbahnmaterial, Stahl, Maschinen und vor allem Zölle auf landwirtschaftliche Maschinen und Geräte ablehnten. Schutzzölle auf diese und andere Waren verteuerten den Großagrariern die Industriewaren und erschwerten durch die zu erwartenden Gegenmaßnahmen den Getreideexport in die vom Zoll betroffenen Länder. 41 Das hinderte jene Kreise allerdings nicht daran, ihre freihändlerischen Prinzipien aufzugeben, wenn das ihren Interessen mehr nützte. Ein großer Teil der russischen Gutsbesitzer verlangte Schutzzölle auf landwirtschaftliche Produkte bzw. Erzeugnisse der mit der Landwirtschaft verbundenen Industrie, wie z. B. Zucker, Wolle, Leinen, Stearin, Sprit u. a. 41 Die meisten 37

J. I. Livsin, „Predstavitel'nye" organisacii krupnoj burzuazii v Rossii v konce XIX — nacale XX vv„ in: Istorija SSSR, Moskau 1959, Nr. 2, S. 95ff. "ai Vgl. D. I. Mendeleev, Problemy ekonomiceskogo razvitija Rossii, Moskau 1960. 411 -19 GP, Bd. V, Nr. 977. Gindin, Russkaja burzuazija . . a. a. 0., S. 59. 41 Sobolev, a.a.O., S. 313 ff.

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Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

ihrer Vertreter im Staatsapparat sahen aber prinzipiell die Notwendigkeit und die Bedeutung von Industrieschutzzöllen für den Fiskus sowie f ü r Erhaltung und Festigung der Klassenherrschaft der Gutsbesitzer ein und unterstützten eine gemäßigte Schutzzollpolitik der Regierung. Eine Ausnahme machten dabei auch nicht jene Teile des russischen Zarenhofes und der hohen Bürokratie, denen — vor allem aus Angst vor jeder Handlung, die das monarchische Prinzip schwächen könnte, sowie auch aus diplomatischen Erwägungen — unter allen Umständen an der Erhaltung der „Freundschaft" zum deutschen Kaiserreich gelegen war. Zu ihnen gehörten z. B. Großfürst Vladimir, Giere, Lamzdorf und die Suvalovs. Ihren Anschauungen kam in der Öffentlichkeit der „Grazdanin", das Organ Fürst MeScerskijs, in einzelnen Fragen am nächsten. Innerhalb der russischen Bourgeoisie vertraten diejenigen Gruppen eine freihändlerische Wirtschaftspolitik, deren Existenz auf dem Geschäft mit Westeuropa beruhte: die Handelsbourgeoisie der baltischen Häfen (Petersburg, Riga, Reval) und des Schwarzen Meeres (Odessa), die mit dem ausländischen Kapital verbundene Finanzbourgeoisie Petersburgs (welche allerdings in dem Maße von ihren freihändlerischen Positionen abging, wie sie sich selbst mit der Finanzierung der Schwerindustrie befaßte), die Eisenbahnunternehmer, die auf das billige Eisenbahnmaterial Westeuropas nicht verzichten wollten, und in gewisser Beziehung auch die russische Maschinenindustrie der baltischen Städte und Petersburgs, die vom ausländischen Kapital und vom billigen ausländischen Rohstoffimport (Gußeisen, Walzeisen, Roheisen, Kohle) abhing. Die Interessen dieser Teile der russischen Bourgeoisie wurden von den Börsenkomitees in Petersburg, Riga, Reval, Warschau und Odessa sowie von den freihändlerischen Zeitungen „Golos", „Vestnik Evropy", „Russkie Vedomosti", „Birzevye Vedomosti" und anderen Presseorganen vertreten. Wie in Westeuropa war also auch im zaristischen Rußland die Stellung der Bourgeoisie zum Schutzzoll nicht einheitlich; aber auch dort setzte sich schließlich die industrielle Großbourgeoisie durch. Der Kampf der russischen Großindustriellen um Schutzzölle und die zollpolitischen Maßnahmen der zaristischen Regierung unterschieden sich aber vom westeuropäischen Protektionalismus dieser Zeit. Der russische Protektionismus war sowohl progressiver als auch zugleich reaktionärer. Seine progressive Rolle zeigte sich darin, daß er den industriellen Aufschwung, die Entwicklung der Produktivkräfte in Rußland in gewissem Maße förderte. E r war — trotz all seiner negativen Seiten — noch ein „Kunstmittel, Fabrikanten zu fabrizieren . . . , den Übergang aus der altertümlichen in die moderne Produktionsweise gewaltsam abzukürzen" 42 . Er schützte die noch schwache russische Industrie und trug in gewissem Maße dazu bei, Rußlands Selbständigkeit zu wahren. 43 Dabei darf man aber nicht übersehen, daß die zaristischen Zollmaßnahmen vor allem der achtziger Jahre in erster Linie jene Industriezweige förderten, welche 42 43

K. Marx, Das Kapital, Bd. I, in: Marx/Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1962, S. 784. F.Engels, Brief an Danielson, 18. VI. 1892, in: Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 537 f.

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zur Existenz des Regimes unter den damaligen Bedingungen unumgänglich notwendig geworden waren und in einzelnen Produktionszweigen — vor allem in der Uraler Hüttenindustrie — noch veraltete Produktionsmethoden konservierten. Damit dienten sie aber „nicht den Interessen der gesamten Klasse der Bourgeoisie, sondern nur einigen wenigen mächtigen Oligarchen"44. Auf Kosten des Volkes wurden die Preise für die Erzeugnisse solcher Betriebe über den Weltmarktpreisen gehalten und dadurch diesen Unternehmen hohe Profite gesichert. Auf solcher Basis konnte der am stärksten entwickelte Zweig der russischen Industrie, die Textilindustrie, den Kampf um neue Absatzmärkte aufnehmen. Die Schutzzollpolitik förderte die Bildung von Monopolen und erleichterte damit in gewissem Maße den Übergang zum Imperialismus. Eine ausgesprochen reaktionäre Rolle spielte der russische Schutzzoll — wie die ganze Wirtschaftspolitik des Zarismus überhaupt — aber in innenpolitischer Beziehung. Von einer nicht bürgerlichen Regierung gehandhabt, band er große Teile der russischen Bourgeoisie an den reaktionären zaristischen Staat. Eben dieser Staat sicherte ihr in gewissem Maße den inneren Markt, garantierte ihr auf Kosten der russischen Verbraucher außerordentlich hohe Preise und damit sehr hohe Profite. Dadurch ermöglichte er Teilen der Bourgeoisie den Kampf um ausländische Märkte und verzögerte so die gewaltsame Lösung der Widersprüche zwischen dem Kapitalismus und den feudalen Überresten, die die allseitige Entwicklung des Kapitalismus hemmten. Zugleich sicherte der Schutzzoll dem Zarismus neue Einnahmequellen und festigte auch insofern die Klassenherrschaft der Gutsbesitzer. In diesem Sinne war der russische Schutzzoll „besonders reaktionär".45 Die russischen Schutzzollerhöhungen in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre belasteten den deutschen Export nach Rußland. Die Zollabgaben waren faktisch um 5 0 % gestiegen. Zu Exportrückgängen kam es aber außer bei Textilien nur in den Zweigen, die einen zusätzlichen Schutz erhalten hatten, d.h. bei Stahl, Schienen, Waggons und Lokomotiven. Der Roheisenexport Deutschlands hingegen wuchs nun stark an.46 Auch der Gesamtexport Deutschlands nach Rußland stieg weiter und machte im Jahre 1880 bereits 4 0 % des russischen Imports aus 47 , wovon ein Fünftel auf die deutsche eisenerzeugende und verarbeitende Industrie entfiel.48 44

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W. I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung, in: Lenin, Werke Bd. 1, Berlin 1963, S. 453. Ebenda. — Vgl. F. Engels, Schutzzoll und Freihandel, in: Marx/Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, S. 372. — Zur Widersprüchlichkeit der Entwicklung der Industrie im zaristischen Rußland vgl. J. Kuczynski, Studien zur Geschichte des Kapitalismus, Berlin 1957, S. 23 f. DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII, 6a, Nr. 35, Adh. 2 (secr.), 1, Bl. 58, Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller. Rußlands Handels- und Zollpolitik in Betreff der Eisenindustrie und des Maschinenbaues (Unterlagen für Beratung von Nr. 6 der Tagesordnung der Vorstandssitzung vom 12. X. 1892). — Vgl. Mendeleev, a.a.O., S. 179. Kuczynski/Wittkowski, a. a. O., S. 27. DZA/Merseburg, ebenda.

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Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

Die zollpolitischen Maßnahmen der zaristischen Regierung riefen vor allem bei der deutschen Industrie- und Handelsbourgeoisie den schärfsten Protest hervor. Vertreter dieser Kreise der deutschen Bourgeoisie verlangten von Bismarck, die zaristische Regierung unbedingt zum Verzicht auf weitere Zollerhöhungen und möglichst auch zur Aufhebung der bestehenden Schutzzölle zu bewegen. Schon im Dezember 1876 forderte der Abgeordnete Richter aus Hagen im Reichstag Gegenmaßnahmen gegen die russischen Zollerhöhungen. Deutschland solle, wenn Rußland seine Zollpolitik fortsetzt, sich den russischen Staatspapieren gegenüber „neutraler" verhalten.49 Während des Russisch-Türkischen Krieges, im Dezember 1877, schlugen einige deutsche Handelskammern vor, Rußlands Zwangslage zu handelspolitischen Zugeständnissen auszunützen.50 Im September 1879 bemühte sich die Generalversammlung des Zentralverbandes Deutscher Industrieller um Konzessionen seitens Rußlands, das nötigenfalls durch Retorsionszölle zum Nachgeben gezwungen werden müsse. 51 1880 forderten einige Reichstagsabgeordnete im Auftrage des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller Bismarck auf, „der beabsichtigten Erhöhung der russischen Eisenzölle" entgegenzuwirken52, und in vielen der Industrie nahestehenden deutschen Zeitungen wurde eine Wendung in der deutschen Wirtschaftspolitik verlangt.53 Ein Jahr später ersuchte der Zentralverband Deutscher Industrieller die Regierung, „mit unserem Nachbarstaate Rußland wegen Abschlusses eines den beiderseitigen Verkehr erleichternden Handels- und Zollvertrages sobald als tunlich in Unterhandlungen zu treten." 5 4 Mit ihrem Kampf gegen die russische Zollpolitik wollte die industrielle Großbourgeoisie Deutschlands verhindern, daß ihr Export unrentabler würde, daß das Wachstumstempo ihres Exports von Industrieerzeugnissen nachlassen oder daß sie gar vom russischen Markt verdrängt würde. Sie verteidigte ihre Positionen auf dem russischen Markt gegen die entstehende russische Bourgeoisie und wollte sich noch weitere Positionen erobern. Damit wurde sie zu einem der Hauptkonkurrenten der russischen Industriebourgeoisie auf dem russischen Markt. Der Kampf der deutschen Großbourgeoisie gegen die russischen Zollerhöhungen war ein Teil ihres Kampfes um neue Absatzmärkte, ein Teil ihrer ökonomischen Expansionsbestrebungen. 4M

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Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, II. Legislaturperiode, 24. Sitzung, 5. XII. 1876, S. 579 ff. H. Bornemann, Die deutsch-russischen Handelsbeziehungen in der zweiten Hälfte des 19. Jh., phil. Dissertation, Berlin 1957, S. 35. — In den Jahren 1877 und 1878 wurden Zollverhandlungen zwischen der deutschen und russischen Regierung geführt, die allerdings offensichtlich ergebnislos blieben. (Vgl. AVPR, F. II, Dep. 1—5, p. III, 1886, delo 22, Bl. 14, Suvalov an Giers, 10./23. II. 1888.) H.A.Bueck, Der Zentralverband Deutscher Industrieller 1876—1901, Bd. 1, Berlin 1902, S. 411. DZA/Potsdam, Rdl, 4922, Bl. 9 7 - 1 0 2 , Philipsborn an Boetticher, 28. V. 1880, und Schreiben des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller an Bismarck, Mai 1880. Vgl. z. B. DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII, 6a, Nr. 27, Vol. 40, Zeitungsausschnitte des Jahres 1880, Bl. 6 7 - 8 4 . Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Zentralverbandes Deutscher Industrieller, Berlin 1881, Nr. 15, S. 3 ff.

Schutzzollpolitik Deutschlands

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Dieser Kampf um Absatzmärkte wurde von der deutschen Regierung nun ihrerseits durch ihre Schutzzollpolitik gefördert. Zur Schutzzollpolitik Deutschlands

Ohne hier im einzelnen auf die Entwicklung der Schutzzollbewegung in Deutschland nach der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1873 einzugehen 55 , sei nur folgendes festgehalten. Deutschland ging im Jahre 1879 — ein Jahr nach dem Sozialistengesetz! 56 — zum kombinierten Industrie- und Agrarschutzzoll über, der mit Recht als der „von allen Arten . . . der schlimmste" 57 bezeichnet wurde. Er war eine der wichtigsten ökonomischen Grundlagen des Klassenbündnisses zwischen den preußischen Junkern und der deutschen Großbourgeoisie mit allen seinen f ü r die deutsche Nation tragischen Folgen. Durch den Industrieschutzzoll wurde der deutschen Großbourgeoisie „die ausschließliche Exploitation des inneren Marktes" gesichert. Damit konnte sie sich durch hohe Preise im Innern, d. h. auf Kosten des Volkes, den äußeren Absatzmarkt zu Schleuderpreisen bewahren und erweitern. 58 Der deutsche Industrieschutzzoll diente somit — im Gegensatz zum russischen — nicht dazu, eine noch junge Bourgeoisie vor der ausländischen Konkurrenz zu schützen, sondern half vielmehr einer wirtschaftlich bereits sehr starken Bourgeoisie, die schon in erheblichem Maße zum Export übergegangen war, den eigenen Markt zu monopolisieren und neue Absatzmärkte, darunter auch den russischen, zu erobern. Der deutsche Schutzzoll diente somit der aggressiven Wirtschaftspolitik des entstehenden Monopolkapitals. Nachdem die deutschen Großindustriellen Schutzzölle durchgesetzt hatten, begannen sie den Kampf um Handelsverträge. Dadurch mußten immer stärkere Widersprüche zwischen der deutschen Bourgeoisie und der Bourgeoisie jener Länder, die von der ökonomischen Expansion der deutschen Industrie betroffen waren, so auch zwischen der deutschen und der russischen, entstehen. Der deutsche Agrarschutzzoll kam den Forderungen der preußischen Junker entgegen, die im Zusammenhang mit der Weltagrarkrise seit 1875 den englischen Markt an ihre Konkurrenten aus Übersee verloren und auch in Deutschland auf 55

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Vgl. L. Rathmann, Bismarck und der Übergang Deutschlands zum Schutzzoll (1873/75 bis 1879), in: ZfG, 1956, H. 5, S. 899 ff; Kuczynski, Die Geschichte der Lage der A r b e i t e r . . . , Bd. 3, a . a . O . , S. 53 ff.; A.Zimmermann, Die Handelspolitik des Deutschen Reiches vom Frankfurter F r i e d e n . . . , a . a . O . , 1901; W.Gerloff, Finanz- und Handelspolitik des Deutschen Reiches, Jena 1913; O. Schneider, Bismarcks Finanz- und Handelspolitik..., in: Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, H. 166, München-Leipzig 1912, sowie besonders Böhme, a. a. O., S. 341 ff., S. 585 ff. Über den Zusammenhang zwischen dem Sozialistengesetz und dem Übergang zum Schutzzoll vgl. E. Engelberg, Revolutionäre Politik und Rote Feldpost 1878—1890, Berlin 1959, S. 23 ff. Engels, Schutzzoll und Freihandel, a. a. 0., S. 368. F. Engels, Der Sozialismus des Herrn Bismarck, in: Marx/Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, S. 167 ff. - Vgl. R. Hilferding, Das Finanzkapital, Berlin 1955, Kap. XXI.

3 Bismarcks , .Draht nach Kußland"

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Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

die wachsende Konkurrenz Rußlands, Österreich-Ungarns, Kanadas und der USA stießen. Wollten sie ihre Stellung auf dem deutschen Markt nicht verlieren und ein Absinken der Getreidepreise in Deutschland auf das Niveau des Weltmarktes verhindern, so mußten sie ihre freihändlerischen Positionen aufgeben und sich durch Zölle vor der ausländischen Konkurrenz schützen. 59 Die Junker sahen im Schutzzoll ein Mittel, welches ihnen auf Kosten des deutschen Volkes ihre ökonomische Basis, eine der wesentlichsten Voraussetzungen für ihre politische Herrschaft, erhalten sollte. Dieses Mittel mußte jedoch zum verschärften Konkurrenzkampf zwischen ihnen und den russischen Großagrariern um den deutschen Markt führen. Hauptinitiatoren des deutschen Protektionismus waren von Seiten der Industrie die Führer der Reichspartei, des Zentralverbandes Deutscher Industrieller und und des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, der rechte Flügel der Nationalliberalen und die Führer des Zentrums, von Seiten der Großagrarier die Deutsch-Konservativen und die Reichspartei. Auf Ablehnung stießen die Schutzzölle aber, abgesehen von der Sozialdemokratie, bei jenen Parteien, die die Interessen weiter Teile der Handelsbourgeoisie und der exportierenden Fertigwarenindustrie sowie des mit diesen verbundenen Bankkapitals und des Mittelbürgertums vertraten. Das galt für den linken Flügel der Nationalliberalen, die späteren Sezessionisten, und die Fortschrittspartei. 60 Bismarck, der ehemals Freihändler gewesen war, unterstützte die Schutzzollbewegung der deutschen Großbourgeoisie von dem Zeitpunkt an, als die Agrarkrise die preußischen Junker zu schädigen begann und auch diese einen Schutzzoll forderten. Er benutzte die Schutzzollbewegung der Großindustrie „zum Vorteil des grundbesitzenden Adels" 61 , zur Durchsetzung der Agrarzölle. Mit dem Agrarschutzzoll kam er der sozialen Hauptstütze der preußischen Regierung, den Junkern, wirtschaftlich entgegen, was auch seine Regierungsgewalt festigen sollte. Der kombinierte Industrie- und Agrarschutzzoll schien ihm ein geeignetes Mittel zur Förderung des Bündnisses zwischen Junkern und Großbourgeoisie zu sein, um diese beiden Klassen zu tragenden „Säulen" des preußisch-deutschen Reiches zu machen und sie noch stärker an den von ihm geleiteten Staat zu binden. 62 Er versprach sich von Schutzzöllen Vorteile für Industrie und Landwirtschaft, fiskalischen Nutzen und eine stärkere finanzielle Unabhängigkeit des Reichs. 63 In den Getreidezöllen, den Holzzöllen und im Kampfzollparagraphen sah er zugleich von Anfang an ein geeignetes Mittel, Rußland in der Schutzzollpolitik und in der Außenpolitik zu Zugeständnissen zu zwingen.64 59

00 B1 m M

A. Börner, Der Klassencharakter der Caprivischen Handelsvertragspolitik, vornehmlich dargestellt am Beispiel des Kampfes um den Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrages von 1894, Dissertation, Leipzig 1961, S. 65 ff.; Böhme, a. a. 0 . r S. 398 ff. Hallgarten, a. a. 0., Bd. I, S. 186 ff. Engels, Schutzzoll und Freihandel, a. a. O., S. 370. Böhme, a. a. 0., S. 378, S. 410 ff., S. 538, S. 579 f. Gerloff, a. a. 0 . Vgl. z. B. S. v. Kardorff, Wilhelm v. Kardorff, Berlin 1926, S. 127.

Auseinandersetzungen im herrschenden Lager Rußlands

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Bismarck kam den Forderungen der deutschen Exportindustrie nach Unterstützung ihrer Bemühungen um die weitere Erschließung des russischen Marktes in den ersten Jahren nach den Zollerhöhungen Rußlands nur insoweit entgegen, als er auf handelspolitische Verhandlungen mit Rußland einging. Er lehnte es aber entschieden ab, Rußland durch direkte Zwangsmaßnahmen zu Zollkonzessionen im Interesse der deutschen Industrie zu veranlassen. Er wollte der zaristischen Regierung, die sich endlich zum Krieg gegen die Türkei entschlossen hatte — worauf Bismarck schon lange voller Ungeduld gewartet hatte —, nicht durch wirtschaftliche Zwistigkeiten den Glauben an die Freundschaft Deutschlands nehmen. 65 Diese Haltung wurde Bismarck dadurch erleichtert, daß; die deutschen Großindustriellen in diesen Jahren ihren Kampf aus taktischen Gründen in erster Linie noch auf die Voraussetzungen für ihre wirtschaftliche Expansion, auf industrielle Schutzzölle, konzentrierten, während ihr Kampf um den Außenmarkt erst nach der Durchsetzung der Schutzzölle seinen Höhepunkt erreichte. 66 Wie stark diese Haltung Bismarcks durch die außenpolitischen Umstände bedingt war, zeigte sich, als Rußland den Krieg gegen die Türkei beendet hatte. Schon im Januar 1879 begann die deutsche Regierung mit Repressalien gegen die russische Vieheinfuhr, die den deutschen Botschafter in Petersburg, Schweinitz, wegen ihres eindeutig antirussischen Charakters in helle Verzweiflung brachten. 67 Im Juli 1879 nahm der Reichstag Gesetze über die Agrarzölle, die Holzzölle (die Rußland besonders hart trafen) und den Kampfzollparagraphen an. Und schon im Januar 1880 glaubte Bismarck sich stark genug, gegenüber Rußland und „denjenigen L ä n d e r n . . . , welche unseren (d. h. den deutschen — S. K.) Export durch besonders hohe Belastung desselben einschränken" 68 , Kampfzölle vorbereiten zu können. 3. Die Auseinandersetzungen im herrschenden Lager Rußlands zu außenpolitischen Fragen nach dem Berliner Kongreß Die Ursache des Abschlusses

des

Dreikaiser„bündnisses"

Wie war es möglich, daß Bismarck nach seinem Verhalten während des RussischTürkischen Krieges und auf dem Berliner Kongreß, nach dem Abschluß des Zweibundes und angesichts der wachsenden ökonomischen Widersprüche zwischen den herrschenden Klassen beider Länder von den Diplomaten des zaristischen Rußlands Einverständnis zu einem Vertrag mit Deutschland erwarten konnte? Mußte ihn nicht die Pressekampagne in Rußland gegen ihn und Deutschland davon abhalten? e;>

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Poschinger, a . a . O . , S. 116ff. — Vgl. Stenographische Berichte des Deutschen Reichstages, II. Legislaturperiode, 24. Sitzung, Rede Bismarcks vom 5. XII. 1876, S. 584. Vgl. z . B . Bueck, a . a . O . , S. 387; Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Zentralverbandes Deutscher Industrieller, Berlin 1881, Nr. 15, S. 3 ff. Denkwürdigkeiten des Botschafters General v. Schweinitz, Bd. II, Berlin 1927, S. 41 ff. DZA/Potsdam, RSchA, 4214, Bl. 3, Bismarck an Scholz, 9.1. 1880.

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Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

Sehen wir uns die Auseinandersetzungen in der russischen Presse um diese Zeit 6 9 einmal näher an. Die meisten russischen Zeitungen waren mit den Ergebnissen des RussischTürkischen Krieges und des Berliner Kongresses sehr unzufrieden, unterzogen Bismarcks Haltung auf dem Berliner Kongreß einer scharfen Kritik und äußerten ihr Mißfallen über Bismarcks Zollpolitik. Doch es gab zwischen ihnen unterschiedliche Auffassungen über die Ursachen für die Mißerfolge der zaristischen Nahostpolitik der letzten Jahre und über die außenpolitischen Aufgaben des zaristischen Rußlands nach dem Russisch-Türkischen Krieg. Die konservative russische Presse, der „Grazdanin" unter der Leitung von Fürst Mescerskij, das Organ der rechtesten Kreise der russischen Großgrundbesitzer und der ultrakonservativen Hofkreise, die „Moskovskie Vedomosti" und der „Russkij Vestnik" Katkovs, die Organe der sogenannten „nationalen Partei", welcher auch die konservativen Kreise der russischen Großbourgeoisie angehörten, und der „Russkij Mir", das Organ der russischen Panslavisten Aksakov und Kireev, sahen die Hauptursache für die Mißerfolge des zaristischen Rußlands auf dem Berliner Kongreß nicht in Bismarcks Verhalten — obwohl sie ihn heftig angriffen —, sondern in der Nachgiebigkeit der zaristischen Diplomatie. Sie hatten im Namen der reaktionärsten und aggressivsten Kreise des herrschenden Lagers, aus machtpolitischen, ökonomischen und innenpolitischen Motiven dazu beigetragen, daß das zaristische Rußland den Krieg gegen die Türkei begann, und schoben die Schuld an den Mißerfolgen nun einzelnen zaristischen Diplomaten zu: Mescerskij vor allem Gorcakov und Ignat'ev 70 , die Panslavisten vor allem Suvalov. Sie machten ihnen zum Vorwurf, daß es an ihrem Ungeschick gelegen hätte, wenn es Rußland nicht gelungen war, sich den Einfluß auf die Meerengen zu sichern, die Verwandlung Batums in einen Freihafen zu verhindern, die Teilung Bulgariens zu verhüten und das Anwachsen des Einflusses ÖsterreichUngarns auf den Balkan und Englands auf die Türkei zu paralysieren. Sie beschuldigten die Diplomaten, die Annäherung Deutschlands an Österreich-Ungarn nicht verhindert zu haben. Sie warfen ihnen vor, das Ansehen des Zaren in Rußland und im Ausland, besonders unter den Balkanslaven, geschädigt und die revolutionäre Bewegung in Rußland nicht vermindert, sondern durch dief außenpolitischen Mißerfolge verstärkt zu haben. Während der „Grazdanin" MeSierskijs nun vor allem aus innenpolitischen Gründen zu einer friedlichen Außenpolitik riet, forderten die anderen deren Aktivierung, teilweise sogar Krieg mit England oder Österreich-Ungarn. Dabei hielt Katkov es für angebracht, die Hauptstoßrichtung der Außenpolitik in dieser Zeit vor allem auf Mittelasien, wohingegen Aksakov 69

70

Ich stütze mich hierbei, soweit es nicht ausdrücklich anders belegt wird, auf die Arbeiten von V. I. Ado, Berlinskij Kongress 1878 g. i pomescic'e-burzuaznoe obscestvennoe mnenie Rossii, in: Istoriceskie Zapiski, Bd. 69, Moskau 1961, S. 101 ff.; derselbe, Vystuplenie I. S. Aksakova protiv Berlinskogo Kongressa v 1878 g. i otklikina nego v Rossii i Bolgarii, in: Istorija SSSR, Moskau 1962, Nr. 6, S. 125 ff., sowie Grüning, a. a. O. V. P. Mescerskij, Moi vospominanija, Bd. II, St. Petersburg 1898, S. 391 ff.

Auseinandersetzungen im herrschenden Lager Rußlands

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und Kireev sie nach wie vor auf den Balkan zu lenken wünschten. Ebenso wie der „Grazdanin" traten auch die „Moskovskie Vedomosti", welche damals bereits entschieden gegen die Bismarcksche Agrarschutzzollpolitik protestierten 71 und Schutzzölle gegen die deutsche Industriekonkurrenz forderten, in dieser Zeit noch für eine Festigung der politischen Beziehungen zwischen den beiden Monarchien ein. Sie taten das aus innenpolitischen und auch aus außenpolitischen Motiven. Katkov glaubte, daß Rußland nur mit deutscher Hilfe seine mittelasiatischen Eroberungen fortsetzen 72 und später Konstantinopel für sich erobern könne. 73 Den konservativen Zeitungen schlössen sich diejenigen liberalen an, welche die Interessen jener Kreise der liberalen Gutsbesitzer und der Bourgeoisie vertraten, denen vor allem an einer Lösung der Meerengenfrage gelegen war, z. B. die „St. Peterburgskie Vedomosti" und die Moskauer „Russkie Vedomosti". Auch sie hetzten gegen England und Österreich-Ungarn, griffen Deutschlands Haltung an, kritisierten die Nachgiebigkeit der russischen Diplomatie und forderten einen härteren außenpolitischen Kurs, Vorbereitung zum Krieg. Zum Unterschied von den Konservativen machten sie aber nicht nur einzelne Diplomaten, sondern die ganze zaristische Regierung für die Mißerfolge auf außenpolitischem Gebiet verantwortlich. Sie sahen in Reformen in Rußland die erste Voraussetzung zu einer aktiveren Außenpolitik, zur Verhinderung neuer diplomatischer Niederlagen, welche die innere Lage Rußlands erneut komplizieren müßten. Ein anderer Teil des liberalen Lagers, z. B. die Zeitungen „Vestnik Evropy", „Golos" 74 und „Birzevye Vedomosti", welche die Klasseninteressen der am Frieden interessierten freihändlerischen Kreise, vor allem der Petersburger Großbourgeoisie, der Eisenbahnunternehmer, Finanziers, Großhändler, Börsenmakler und Gründer wiedergaben, versuchten, obwohl sie selbst mit den Ergebnissen der Nahostpolitik des Zarismus unzufrieden waren, die russische Öffentlichkeit mit den Beschlüssen des Berliner Kongresses zu versöhnen. Sie wollten dadurch verhindern, daß eine revanchistische Stimmung oder eine revolutionäre Bewegung gegen den Zarismus aufkam. Sie waren der Meinung, Rußland sei auf einen Krieg nicht vorbereitet gewesen. Ignat'ev habe mit dem Abschluß des Friedensvertrages von St. Stephano Rußlands Stärke überschätzt. Ein neuer Krieg müsse verhindert werden, weil Rußland zu schwach sei. Sie waren Gegner der panslavistischem Balkanpläne und hielten Konstantinopel oder eine andere Position an den Meerengen f ü r Rußlands Weiterentwicklung wichtiger als den Balkan. Sie sahen die Hauptursache für den Ausgang des Berliner Kongresses in Rußlands Schwäche, forderten Reformen in Rußland und Lösung der außenpolitischen Aufgaben Rußlands auf diplomatischem Wege — entweder in Anlehnung an eine andere Großmacht (der „Golos" neigte hierbei zu Frankreich) oder aber durch eine Politik der freien Hand. Dieser Meinungsstreit in der russischen Presse, diese Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Gruppierungen der Großgrundbesitzer und der Bour71 72 73 74

Moskovskie Vedomosti, 1879, Nr. 29. Moskovskie Vedomosti, 1879, Nr. 163: 1884, Nr. 129, 142, 169, 171 u. a. Moskovskie Vedomosti, 1882, Nr. 71. Der „Golos" z. B. soll enge Verbindungen zum Bankhaus Poljakov gehabt haben.

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geoisie waren Ausdruck einer Krise innerhalb des herrschenden Lagers Rußlands, die durch die revolutionäre Situation Ende der siebziger Jahre und die außenpolitischen Mißerfolge ausgelöst war. Es ging dabei jedoch nicht um den Inhalt der russischen Außenpolitik (beide Seiten setzten sich f ü r die zaristische Großmachtpolitik ein) als vielmehr um ihre Methoden, ihre Formen und ihre Richtung. Die Diskussion konnte von der zaristischen Regierung in bestimmtem Umfange zugelassen werden 75 , weil sie einerseits von den inneren auf die äußeren Ursachen der Mißerfolge ablenkte und andererseits nur einige zaristische Diplomaten betraf, die sie dem Zarismus gegenüberstellte, weil sie die Absetzung einiger zaristischer Diplomaten, im ärgsten Falle einiger Minister nach sich ziehen konnte, ohne den Zarismus, ohne das monarchische System selbst, zu gefährden. Bismarck konnte der Meinungsstreit in der russischen Presse sogar nützlich sein, obwohl er sich offiziell gegen ihn entrüstete. Er half ihm, die „russische Gefahr" f ü r Deutschland zu beweisen und den Abschluß des Zweibundes mit ÖsterreichUngarn, gegen welchen es in Deutschland ernsthafte Gegner — nicht zuletzt den Kaiser selber — gab, voranzutreiben. 76 Außerdem zeigte ihm der Meinungsstreit, wer die russischen Verbündeten der herrschenden Klassen Deutschlands waren. Abgesehen von einem Teil der Liberalen — denen Bismarck, wie sich erweisen wird, trotz ihrer deutschfreundlichen Tendenzen auch in dieser Zeit mißtraute —, waren es ausschließlich konservative Kreise, die Bismarcks Verhalten auf dem Berliner Kongreß zwar kritisierten, aber ein späteres diplomatisches Zusammengehen mit Deutschland nicht gefährden wollten und sogar befürworteten. Sie traten auch gegen innere Reformen auf, die das zaristische Rußland letztlich stärken und es dem Deutschen Reich gefährlicher machen mußten. Von diesen Kreisen war ein bedeutender Teil vor allem aus innenpolitischen Motiven ganz gegen eine aktive Außenpolitik und damit gegen eine weitere Zuspitzung der Widersprüche zwischen Rußland und Österreich-Ungarn eingestellt. Ein anderer Teil dieser Kreise forderte zu jener Zeit vor allem Eroberungen in Mittelasien, an welchen Bismarck sehr gelegen sein mußte, weil dadurch das zaristische Rußland in großem Maße vom Nahen Osten abgelenkt wurde. Bismarck konnte diese konservativen Kräfte in seinem Kampf gegen diejenigen Vertreter der zaristischen Diplomatie, welche f ü r eine Politik der freien Hand oder f ü r die Anlehnung Rußlands an Frankreich waren, gebrauchen. Darin mußte er noch bestärkt werden, als er von den Meinungsverschiedenheiten zu außenpolitischen Fragen innerhalb der zaristischen Regierung erfuhr. 7 7 75

70 77

Das schloß ihre Distanzierung von den wildesten Hetzern nicht aus. Aksakov bekam für seine Rede gegen den Berliner Kongreß, die er am 4. VII. 1878 in Moskau hielt, einen Verweis, verlor den Vorsitz über den Moskauer Slavischen Wohltätigkeitsverein und wurde aus Moskau ausgewiesen. Skazkin, a. a. 0., S. 17; Botstejn, a. a. 0., S. 88; Bismarck, a. a. 0 . , S. 403 f. GP, Bd. III, Nr. 441 und Nr. 514.

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Auseinandersetzungen innerhalb der zaristischen Regierung über die Außenpolitik

Ohne hier im einzelnen auf die fast drei Jahre lang andauernden geheimen Verhandlungen und Diskussionen innerhalb der zaristischen Regierung über Zielsetzung und Methoden der zaristischen Außenpolitik nach dem Berliner Kongreß einzugehen 78 , die in der Öffentlichkeit nicht bekannt wurden, soll hier versucht werden, eine Charakterisierung der verschiedenen Auffassungen sowie ihrer klassenmäßigen und ökonomischen Hintergründe zu geben. Schon wenige Wochen nach Beendigung des Berliner Kongresses beriet die zaristische Regierung zusammen mit Alexander II. über die zukünftige russische Außenpolitik, und schon dort machten sich verschiedene Auffassungen bemerkbar 7 9 , welche sich in den darauffolgenden Monaten vertiefen und konkretisieren sollten. Auch innerhalb der zaristischen Regierung war man sich darüber einig, daß man vom Berliner Kongreß mehr hätte erwarten können und daß Bismarck dort eine Rolle gespielt hatte, die ihn in den Augen Rußlands diskreditieren mußte. Es wurde allerdings von fast allen — vielleicht mit Ausnahme Peter Suvalovs — damals der Grad der deutsch-österreichischen Freundschaft noch unterschätzt. 80 Es gab auch keine Meinungsverschiedenheiten darüber, daß nach dem Berliner Kongreß und gerade auch seinetwegen nach wie vor dem Nahen Osten große Aufmerksamkeit gewidmet werden mußte und daß die Außenpolitik weiterhin in dieser oder jener Form expansionistischen Charakter zu tragen hatte. Ebensowenig herrschte Zweifel darüber, daß England in Mittelasien wie auch im Nahen Osten der stärkste Gegner Rußlands war, und danach strebte, sich der Meerengen zu bemächtigen. Das galt es zu verhindern. Die russische Außenpolitik hatte es sich deshalb zum Ziel gesetzt, die rußlandfeindliche Koalition der europäischen Großmächte zu spalten, um so England zu isolieren. Unterschiedliche Auffassungen gab es jedoch zu folgenden Fragen: 1. über die Methode, mit welcher man die Nahostpolitik durchführen sollte — mit friedlichen oder mit militärischen Mitteln, mit oder ohne Verbündete; 2. über die nächsten Aufgaben im Nahen Osten. Man war sich einig darüber, daß Rußland in den nächsten Jahren keinen neuen Krieg führen konnte und durfte — dazu war es militärisch zu schwach, und dazu war die Gefahr innenpolitischer Komplikationen nach neuen Mißerfolgen, wie sich nach dem Russisch-Türkischen Krieg gezeigt hatte, zu groß. Sollte man aber einen neuen Krieg vorbereiten, in den späteren Jahren einen neuen Krieg anstreben, die Nahostfragen dann mit Gewalt lösen, oder sollte man lieber versuchen, mit friedlichen Mitteln (diplomatischen Schachzügen, insbesondere Bündnispolitik, oder wirtschaftlicher Durchdringung) seinen Einfluß im Nahen Osten zu verstärken? 78 79 80

Zumal diese Fragen von Skazkin (a. a. O., S. 103 ff.) sehr ausführlich behandelt werden. GP, Bd. III, Nr. 441. Russko-Germanskie Otnosenija (1873—1914). Sekretnye dokumenty, in: Krasnyj Archiv, Moskau 1922, Bd. 1, S. 81. - Vgl. Skazkin, a. a. 0., S. 112.

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Gegner eines baldigen Krieges waren vor allem Gorcakov, der zaristische Außenminister, Giers, sein Stellvertreter, Peter Suvalov, bis 1879 Rußlands Botschafter in London, und Miljutin, Rußlands Kriegsminister (letzterer allerdings mit Einschränkungen) . Das Ende der diplomatischen Karriere Gorcakovs, mehr als zwei Jahrzehnte Rußlands Außenminister, war der Berliner Kongreß gewesen. Man wartete nur noch darauf, daß der zum senilen Greis erstarrte Politiker, welcher nur wenig Einfluß auf die Geschäfte hatte, offiziell abgelöst wurde. Da er aber nach wie vor das zaristische Außenministerium leitete und auf Leute wie z. B. Oubril, den damaligen Botschafter in Berlin, offenbar noch Einfluß hatte, mußte man vor allem im Ausland mindestens über seine Ansichten informiert sein. Gorcakov, welcher Bismarck dessen Haltung auf dem Berliner Kongreß nicht verzeihen konnte, vertrat die Meinung, Rußlands friedliche Außenpolitik sei nicht im Bündnis mit Deutschland, sondern entweder allein oder in Anlehnung an ein starkes Frankreich zu betreiben. 81 In seinem Kampf gegen Bismarck näherte er sich den Auffassungen der liberalen Petersburger Zeitung „Golos" und nutzte diese gegen eine Annäherung an Deutschland aus. Die deutschfreundlichen Kreise innerhalb der zaristischen Regierung verheimlichten vor ihm daher, solange es möglich war, ihre Annäherungsversuche an Deutschland. 82 Bismarck machte Gorcakov zur Hauptzielscheibe seiner Attacken. Im Einverständnis mit Bismarck versuchte Werder, Deutschlands Militärbevollmächtigter in Rußland, beim Zaren die Absetzung Gorcakovs durchzusetzen. 83 Wesentlich bessere Chancen zur Zusammenarbeit boten sich Bismarck in Giers und Peter Suvalov. Beide waren extreme Monarchisten und wurden von den konservativen Petersburger Kreisen, wie z. B. vom Fürsten Meäcerskij, dem Herausgeber des „Grazdanin", unterstützt. 84 Für sie konnte es nicht nur aus außenpolitischen, sondern vor allem auch aus innenpolitischen Gründen nach 1878 gar keine Frage sein, ob man mit dem „republikanisch verseuchten" Frankreich oder den benachbarten beiden Monarchien ein Bündnis anstreben sollte. Giers, Gorcakovs Stellvertreter, ein verarmter baltischer Adliger, hatte sich als Leiter des Asiatischen Departements im zaristischen Außenministerium seine diplomatischen Sporen erworben. Nicht zuletzt wegen seiner Furcht, seinen einträglichen staatlichen Posten zu verlieren, war ihm wie wohl kaum einem anderen an der Gunst des Zaren gelegen. E r war ein entschiedener Gegner aller liberalen Veränderungen im zaristischen Staatsapparat, ein glühender Verfechter der Selbstherrschaft, eine typische Gestalt der Epoche der Reaktion. Während seinei Tätigkeit als Stellvertreter Gorcakovs und später als Außenminister war es sein höchstes Prinzip, möglichst alle Handlungen zu unterlassen, welche die Freundschaft der Monarchen Rußlands, Deutschlands und Österreich-Ungarns untergraben konnten, und jeden Schritt zu umgehen, der die außenpolitische und innen81 82 83 84

GP, Bd. III, S. 441; Körlin, a. a. O., S. 34, 48 f. - Vgl. Skazkin, a. a. 0., S. 70 ff. D. A. Miljutin, Dnevnik . . . ( 1 8 7 3 - 1 8 8 0 ) , Bd. III, Moskau 1950, S. 167 ff. JDZA/Potsdam, RK, 5/4, Bl. 1 - 3 , Werder an Wilhelm I., 27. III. 1879. Mescerskij, a. a. 0 . , Bd. II, S. 392 ff., Bd. III, S. 137 ff.

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politische Lage des Zarismus erneut zu komplizieren drohte. Aus Angst vor der Revolution, aus Angst vor dem Sturz der Selbstherrschaft suchte er vor allem einen Krieg zu vermeiden. Seine Gegner warfen ihm daher Unentschlossenheit und Ängstlichkeit vor. Giers setzte alles daran, nach 1879 einen vorzeitigen Zerfall der Türkei zu verhindern. An einem Neuaufflammen der nationalen Befreiungsbewegung der Balkanslaven war ihm nicht gelegen. Er war von dem Gedanken beseelt, den Status-quo im Nahen Osten unter allen Umständen zu erhalten und auch in Zukunft eine Lösung der Nahostfragen durch Waffengewalt zu vermeiden.85 Er fürchtete sich vor England, verhielt sich skeptisch zu den mittelasiatischen Eroberungsfeldzügen und machte sich ständig Sorgen darüber, daß dem Zarismus, welcher im Schwarzen Meer keine Flotte und nur wenig Mittel zum Bau einer Flotte besaß, die mühsam erkämpften Erfolge im Nahen Osten wieder streitig gemacht werden könnten. Er sah in Bündnissen den einzigen Weg zu außenpolitischen Erfolgen. Anlehnung an Deutschland und Österreich-Ungarn, Fortsetzung des Dreikaisergedankens, Isolierung Englands, Verbesserung der Beziehungen zur Türkei waren seine wichtigsten Ziele. Das deutsche Kaiserreich sollte dem Zarismus nicht etwa die Besetzung der Meerengen, sondern nur deren Schließung — unter allen Umständen und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln — garantieren. Es sollte ihm nicht dabei helfen, Teile der Balkanhalbinsel zu erobern, sondern den Status quo zu gewährleisten. Deutschland sollte Österreich-Ungarn in Schach halten, mit Deutschland und Österreich-Ungarn gemeinsam wollte er bei eventuellen Veränderungen der Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel vorgehen, wobei er sich auch jetzt noch, nach den Erfahrungen des Russisch-Türkischen Krieges ganz besonders, an die Prinzipien des Reichsstädter Abkommens klammerte.86 Giers beschränkte sich jedoch bei der Realisierung seiner außenpolitischen Prinzipien nicht auf diplomatische Mittel. Er setzte sich, wenn auch in Maßen, für die friedliche wirtschaftliche Durchdringung eines Teiles der Balkanhalbinsel durch Rußland und für eine Aufteilung der wirtschaftlichen Interessensphären auf dem Balkan zwischen Österreich-Ungarn und Rußland ein. Er sah darin ein Mittel gegen die wirtschaftliche Eroberung der noch nicht aufgeteilten bzw. unter russischem Einfluß stehenden Gebiete des Balkans durch andere Großmächte, welche deren politische Eroberung vorbereiten konnte, und eine Voraussetzung für die Erhaltung des politischen Einflusses des Zarismus auf bestimmte Teile der Balkanhalbinsel.87 Das bedeutet praktisch, den Bau der bulgarischen Eisenbahnen durch österreichisch-ungarisches Kapital zu verhindern, die Donauschiffahrt nicht von österreichisch-ungarischen Gesellschaften monopolisieren zu lassen, den österreichisch-serbischen Handelsvertrag zu hintertreiben.88 Es war objektiv ein Zugeständnis vor allem an die Interessen der zentralrussischen Großbourgeoisie. Diese war zwar, wie sich besonders in den achtziger Jahren zeigen 85 86 87 88

V.N. Lamzdorf, Dnevnik (1886-1890), Moskau-Leningrad 1926, S. 47, 49. Skazkin, a. a. 0., S. 120 ff.; Schweinitz, a. a. 0., Bd. II, S. 59, 92; GP, Bd. III, Nr. 441. Skazkin, a. a. 0., S. 158 ff. GP, Bd. III, Nr. 520.

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sollte, noch nicht in der Lage, der Konkurrenz der weit finanzkräftigeren, erfahreneren, entwickelteren west- und mitteleuropäischen Eisenbahngesellschaften, Großbanken, Dampfschiffahrtsgesellschaften und Industrieunternehmungen Zu trotzen. Doch sie versuchte es dennoch und forderte immer wieder, vor allem auch in der Presse, die Eroberung und die Erschließung des Balkanmarktes durch Rußland sowie die finanzielle und politische Hilfe der zaristischen Regierung bei diesem Vorhaben. In dieser Frage einer wirtschaftlichen Expansion sah Giers sich durch die objektiven Bedingungen gezwungen, einigen Bestrebungen gewisser Teile der Panslavisten entgegenzukommen, obwohl er sich sonst von diesen distanzierte und ihre Forderungen ablehnte. Den Bemühungen der Panslavisten, eine aktive Außenpolitik unter den Balkanslaven zu betreiben, kam er oft gar nicht oder doch nur äußerst zögernd entgegen. Er setzte sich zu ihren Vorstellungen auch dadurch in Widerspruch, daß er gewisse Zugeständnisse, wenn auch nur auf wirtschaftlichem Gebiet, an Bismarcks Programm, den Balkan in Interessensphären aufzuteilen, machte. Den Ansichten Giers' sehr verwandt waren die von Peter Suvalov, der von 1874 bis 1879 als Botschafter in London tätig gewesen war und Rußland auf dem Berliner Kongreß vertreten hatte. Suvalov, Besitzer großer Betriebe im Ural und großer Ländereien in den verschiedensten Gouvernements, hatte sich während seiner fast neunjährigen Tätigkeit in der berüchtigten III. Abteilung eindeutig als Konservativer ausgewiesen. Er war ein „Intimus" von Schweinitz, dem deutschen Botschafter in Petersburg, und galt für Bismarck schon lange als einer der zuverlässigsten zaristischen Diplomaten. Bismarck setzte große Hoffnungen auf ihn. 89 Suvalovs Ziel auf dem Berliner Kongreß war es gewesen, einen Krieg Rußlands mit England oder Österreich-Ungarn um jeden Preis zu verhüten. 90 Nach dem Kongreß trat er wie Giers f ü r eine Politik des Friedens und des Nachgebens ein und lehnte eine aktive Außenpolitik des Zarismus im Nahen Osten aus innen- und außenpolitischen Motiven entschieden ab. 91 In Bismarcks Reise nach Wien im Herbst 1879, die mit dem Abschluß des Zweibundes verbunden war, sah er „den größten Dienst", den Bismarck Rußland erwiesen hätte, weil er es nun „in die Unmöglichkeit versetzt" habe, „sich in neue Verwicklungen auf der Balkanhalbinsel einzulassen". 92 Den einzigen Weg zur Realisierung seiner außenpolitischen Vorstellungen sah er im Bündnis mit den Habsburgern und den Hohenzollern — gegen England. Er befürwortete deshalb sofort nach dem Berliner Kongreß „auf das lebhafteste die Pflege des Dreikaiserbundes". Um nicht in politische Isolierung zu geraten, dürfe man sich „weder von Österreich noch von Deutschland trennen; denn im Fall eines Bruches mit ersterem sei es sehr zweifelhaft, ob Deutschland, wenn es zur Wahl genötigt würde, f ü r Rußland optieren werde . . . Die Interessen Deutschlands drängten dieses weit mehr nach Österreich 8a 5)0 91 92

Lucius von Schweinitz, Ebenda, S. Ebenda, S.

Ballhausen, a. a. 0., S. 70 f., S. 140 f. a. a. 0., Bd. II, S. 386. 59. 92.

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Tiin als zu Rußland, und von Deutschland, welches Rußlands natürlicher Bundesgenosse sei, sich zu trennen würde sehr gefährlich sein." 9 3 Weniger angenehm als Giers und Suvalov war der preußisch-deutschen Diplomatie Miljutin, Rußlands Kriegsminister. Man fürchtete ihn wegen seiner wenn auch gemäßigten, so doch liberalen Tendenzen, die besonders in seinen Heeresreformen zum Ausdruck kamen und das zaristische Rußland stärkten. 9 4 E s war auch bekannt, daß er — wie viele andere russische Liberale — Preußen gegenüber nie Sympathie gehegt hatte. 9 5 Der deutschen Regierung mißfielen besonders Miljutins außenpolitische Ansichten. Diesen schenkte sie vor allem deshalb immer größere Aufmerksamkeit, weil sich Miljutin während und nach dem RussischTürkischen Krieg einen immer stärkeren, wenn nicht sogar den entscheidenden Einfluß auf die zaristische Außenpolitik verschafft hatte. 96 Wie andere liberale Minister seiner Zeit, beispielsweise Valuev und Reutern 9 7 , hatte Miljutin den Zaren von dem Krieg gegen die Türkei abzuhalten gesucht. Er hatte Rußlands Schwäche gesehen und war überzeugt gewesen, daß weder Rußlands Militärpotential noch seine Wirtschaft, geschweige denn seine Finanzen genügend vorbereitet waren, einer derartigen Belastung standzuhalten. Außerdem durchschaute er Bismarcks Politik gegenüber Rußland. 9 8 Nach dem Krieg gehörte Miljutin zu jenen Kreisen in Rußland, die den Vertretern des Zarismus auf dem Berliner Kongreß Nachgiebigkeit predigten, um neue außenpolitische Komplikationen zu vermeiden. 99 Er war einer von denen, die die russische Öffentlichkeit mit den Ergebnissen des Berliner Kongresses auszusöhnen versuchten, weil der Frieden Rußland zunächst einmal zur Ruhe kommen ließ und ihm die Möglichkeit gab, die Heeresreform abzuschließen. 100 Dennoch war Miljutin auch noch nach dem Berliner Kongreß f ü r eine Fortsetzung der mittelasiatischen Eroberungen. 101 Obwohl er Bismarck mißtraute, unterstützte er jetzt auch die Annäherungsversuche der russischen Diplomaten an Deutschland, welche er Anfang der siebziger Jahre noch abgelehnt hatte, 1 0 2 denn er war davon überzeugt, daß Rußland in Europa unter den damaligen Bedingungen keinen anderen Verbündeten finden könne. „Wenn es uns nicht gelingen würde, mit Deutschland übereinzukommen, so würde uns die Koalition ganz Europas gegen uns drohen", schrieb er im September 1879 in sein Tagebuch. 103 Deutschland sollte Rußland, so wie sich das 93 94

45 96 S7

98 99 100 101 102 1U3

GP, Bd. III, Nr. 441. Schweinitz, a . a . O . , S. 155. — Zu den Heeresreformen vgl. z . B . P. A. Zajonckovskij, Voennye Reformy 1860—1870 godov v Rossii, Moskau 1952. Schweinitz, a. a. O., S. 53. GP, Bd. III, Nr. 447. — Vgl. auch Lucius v. Ballhausen, a. a. O., S. 547. Reutern, a. a. 0 . , S. 119, S. 134 ff., 156; P. V. Valuev, Dnevnik, Bd. II, Moskau 1961, S. 47. P. A. Zajonckovskij, Vorwort zu Miljutin, a. a. O., Bd. I, Moskau 1947, S. 47. Miljutin, a. a. 0., Bd. III, S. 26 ff. Ebenda, S. 68 f., 82 f. Zajonckovskij, ebenda, S. 46 ff. Ebenda, S. 46 f. Miljutin, a. a. 0 . , S. 167 f.

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auch Giers dachte, die Erhaltung der Unantastbarkeit des Ottomanischen Reiches und Ruhe und Friede auf dem Balkan garantieren.104 Er sah die Hauptaufgabe der zaristischen Diplomatie unter den gegebenen Bedingungen darin, dafür zu sorgen, daß keine europäische Macht die Vorherrschaft auf der Balkanhalbinsel an sich risse und die Meerengen erobere.105 Er unterstützte also vorläufig die Taktik der deutschfreundlichen Kreise in der Regierung, weil unter den gegebenen Bedingungen ein anderes Verhalten dem innen- und außenpolitisch geschwächten Rußland schaden mußte. In Berlin mißtraute man ihm jedoch weiter. Mit Miljutins Namen waren die russischen Rüstungen und auch die Truppenkonzentrationen und Festungsbauten an der Westgrenze Rußlands verbunden. Außerdem wich Miljutins außenpolitisches Programm von dem Giers' ab. Miljutin schob den Gedanken, das Ottomanische Reich könne einmal zerfallen, nicht in so panischer Angst wie Giers von sich. Bereits im Herbst 1880 machte er sich Gedanken über das weitere Schicksal der einzelnen Bestandteile dieses Riesenreiches. Dadurch tendierte er zu dem anderen Flügel innerhalb der Regierungskreise, der eine Aktivierung der zaristischen Außenpolitik in der Zukunft in Betracht zog. Zwar hielt er die Eroberung der Meerengen durch Rußland für nicht erstrangig wichtig. Vielmehr lehnte er sie für das anbrechende Jahrzehnt in Anbetracht der außen- und innenpolitischen Lage Rußlands ganz ab und schlug die Neutralisierung der Meerengen unter Leitung einer internationalen Kommission vor. Auf dem Balkan hingegen sollten sich, entgegen Österreich-Ungarns und Bismarcks Vorstellungen, die selbständig gewordenen Nationalstaaten einschließlich Bosniens und der Herzegowina zu einer Föderation unter dem Schutze ganz Europas zusammenschließen.106 Es interessiert hierbei weniger, daß diese Ideen völlig unrealisierbar, ja utopisch waren. Wesentlich ist aber ihr politischer Inhalt: Der Liberale Miljutin ängstigte sich nicht wie der Konservative Giers vor der nationalen Befreiungsbewegung der slavischen Völker, sondern rechnete mit ihr und begrüßte sie für die Zukunft. Sein politisches Ziel unterschied sich also von dem Giers' und konnte weder bei den herrschenden Klassen Österreich-Ungarns noch bei denen des Deutschen Reiches auf Sympathie stoßen. Sein offensichtliches Tendieren zu den Ansichten der Mokauer Slavophilen kam nicht nur hierin zum Ausdruck, sondern auch in seinem negativen Verhalten zu den österreichischen Herrschaftsansprüchen über Teile der Balkanslaven. Es wurde dadurch verstärkt, daß er den Plan Bismarcks, die Balkanhalbinsel zwischen Österreich-Ungarn und Rußland in Interessensphären aufzuteilen, strikt ablehnte.107 Diesen Vertretern der zaristischen Regierung, die das mehr oder weniger konsequente Bestreben einte, die Ergebnisse des Berliner Kongresses nicht anzutasten und zu einer friedlichen Außenpolitik überzugehen — die aber im einzelnen, wie sich zeigte, recht unterschiedliche Ausgangspositionen und Vorstellungen hatten —, 104 105 106 107

Ebenda, S. 159 f. Zajonckovskij, ebenda, S. 52. Ebenda. Skazkin, a.a.O., S. 93, 143 ff., 158; Miljutin, a.a.O., Bd. III, S. 82.

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stand eine andere Gruppe von Diplomaten gegenüber, deren markanteste Vertreter Saburov und Ignat'ev waren. Beide zeichnete aus, daß sie sich mit Rußlands Mißerfolgen auf dem Berliner Kongreß nicht abfanden und ihre Tätigkeit dem Kampf gegen die Berliner Abmachungen widmeten. Saburov, bis Ende 1879 russischer Botschafter in Griechenland und enger Freund des dortigen deutschen Botschafters Radowitz 108 , hatte im Sommer 1879 zwei Gespräche mit Bismarck über die deutsch-russischen Beziehungen geführt. 109 Er wurde Ende 1879 — trotz starker Bedenken von Giers 110 — zum russischen Botschafter in Berlin ernannt. In dieser Eigenschaft führte er alle Verhandlungen mit Bismarck und der zaristischen Regierung über das Dreikaiser„bündnis". Saburov war ein Vertreter der Petersburger gebildeten adligen Bürokratie, welche sich den neuen Verhältnissen im Interesse ihrer Existenz anzupassen verstand. Er hatte liberale Tendenzen, die sich vor allem in den achtziger Jahren durch seine Freundschaft mit Miljutin vertieften. Saburov verließ sich wie viele andere hohe Petersburger Staatsangestellte nicht allein auf die traditionellen Einkommensquellen, sondern besaß Aktien und spekulierte an der Börse. 111 Er versuchte in der Außenpolitik eine gute diplomatische Karriere damit zu verbinden, seine eigenen außenpolitischen Anschauungen durchzusetzen, welche mit denen großer Teile der herrschenden Kreise Petersburgs — der liberalisierenden Petersburger hohen Bürokratie, der hohen Militärs, der Petersburger Finanz- und Handelsbourgeoisie sowie auch vor allem der Großgrundbesitzer, welche an dem Getreideexport Rußlands durch die Meerengen interessiert waren 1 1 2 — übereinstimmten. In den Gesprächen mit Bismarck im Sommer 1879 hatte Saburov sich davon überzeugt, daß Rußland völlige außenpolitische Isolierung drohte, wenn es nicht seine Beziehungen zu Deutschland sofort verbesserte. Deutschland würde sich sonst einen anderen Verbündeten, wahrscheinlich Österreich-Ungarn, suchen. 113 Trotz der Meinungsverschiedenheiten, die zwischen den beiden Monarchien in der letzten Zeit aufgetreten waren und die er „in ihrer Quelle als völlig persönliche" oder als durch die russischen TruppenVerschiebungen verursachte unterschätzte 114 , maß er der Bindung an das deutsche Kaiserreich große Bedeutung t e i . Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses" lehnte er zwar zunächst mit der Begründung ab, daß es Rußland vor allem geschadet habe. 115 Eine Bindung an 108 109

GP, Bd. III, Nr. 514.

R. Fester, Saburov und die russischen Staatsakten über die russisch-deutschen Beziehungen von 1879 bis 1890, in: Grenzboten, 80. Jg., Nr. 16, 20. IV. 1921, S. 5 6 f f . 110 Miljutin, a. a. 0 . , S. 170 ff. 111 CGIAL, Fond 1044, op. I, delo 260, enthält z. B. mehrere Aufstellungen des Wertpapierbesitzes Saburovs (er besaß sogar Aktien der Suez-Kanal-Gesellschaft) und seinen Briefwechsel mit Bleichröder. 112 Das Interesse am Besitz der Meerengen wurde z. B. wiederholt im Organ der südrussischen Gutsbesitzer, dem „Kievljanin", zum Ausdruck gebracht. 113 Russko-Germanskie Otnosenija, a. a. O., S. 67, 85. — Vgl. auch GP, Bd. III, Nr. 514. H/ ' Russko-Germanskie Otnosenija, a . a . O . , S. 79. - Vgl. ROLB, F. 169, p. 74, Nr. 21, Saburov an Miljutin, 10./22. III. 1880. 115 Russko-Germanskie Otnosenija, a. a. O., S. 79.

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Die Erneuerung des Dveikaiser„bündnisses"

Deutschland jedoch würde die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, „die beste Karte, die wir (d. h. das zaristische Rußland — S. K.) jemals in unserem Spiel gehabt haben" 116, auf unbestimmte Zeit verlängern. Es würde die deutschösterreichische Annäherung verhindern, die nur dann zustande käme, wenn Deutschland Rußland nicht als Verbündeten fände. 117 Schließlich würde es Rußlands Westgrenze militärisch entlasten. 118 Im Gegensatz zu Giers und Miljutin gab Saburov sich jedoch über Deutschlands Haltung in einem russisch-englischen Krieg um die Meerengen keinen Illusionen hin. Er beschränkte sich daher von vornherein darauf, von Deutschland nur wohlwollende Neutralität und Isolierung Englands zu verlangen. 119 Das Deutsche Reich im Westen zu beschäftigen, es von Österreich-Ungarn und damit von den Problemen des Nahen Osten abzulenken, Rußlands Westgrenze militärisch zu entlasten, Deutschland dazu zu verpflichten, jede andere Macht von England fernzuhalten — dahinter steckte der insgeheime, abenteuerliche Plan, eine militärische Auseinandersetzung um die Meerengen gegen England mit Deutschlands Hilfe und Billigung vorzubereiten. Saburov wollte die nahöstliche Frage lösen, indem er Rußlands Flanke und Hinterland durch eine Bindung an Deutschland deckte. 120 Sein Ziel war es, Rußland auf eine militärische Auseinandersetzung, auf die Eroberung der Meerengen, vorzubereiten. 121 Darin sah er die Hauptaufgabe der russischen Politik. Auf dieses Ziel sollte seiner Meinung nach Rußlands „militärische, maritime, finanzielle und diplomatische Tätigkeit gleichzeitig gerichtet werden". 122 Zur Lösung dieser Aufgabe sollte Rußland seine Finanzen vorbereiten, sollte es schleunigst eine Schwarzmeerflotte erbauen und außerdem auf weitere Eroberungen in Mittelasien verzichten. 123 Zu diesem Zweck sollte es sich einen Bundesgenossen, Deutschland, suchen, der die Rußland feindlichen Gegenmaßnahmen Österreich-Ungarns neutralisieren und die Entstehung einer europäischen Koalition hintertreiben sollte. Die deutsche Regierung hoffte er dadurch für seine Pläne zu gewinnen, daß er ihr Neutralität bei einem deutsch-französischen Krieg versprach. Er bot ihr Handlungsfreiheit im Westen und forderte dafür Handlungsfreiheit für Rußland im Osten. 124 Er war bereit, wie er selbst zugab, für die Nahostinteressen Rußlands den europäischen Frieden und das europäische Gleichgewicht zu opfern. 125 116

Ebenda, S. 81. Ebenda. — Der Gedanke allein zeigt ein völliges Unverständnis für den sozialökonomisch und machtpolitisch bedingten Charakter der Bismarckschen Bündnispolitik. 118 119 Ebenda, S. 83. Skazkin, a. a. 0., S. 118 f. 12W CGIAL, F. 1044, op. I, delo 205, Bl. 7 - 8 , Saburov an Alexander III., 8./20. VII. 1888.. 121 ROLB, F. 169, p. 74, Nr. 21, Saburov an Miljutin, 1./13. II. 1885. m CGIAL, F. 1044, op. I, delo 200, Bl. 10, Saburov an Giers, 14./26. I. 1884. 123 ROLB, F. 169, p. 74, Nr. 21, Saburov an Miljutin, 5./17. IV. 1885. 124 Ebenda. Es stimmt demnach nicht mit der damaligen Konzeption Saburovs überein,, wenn man meint, Saburov wollte sich 1880 „das französische Eisen warm halten" (Körlin, a. a. 0., S. 52). 125 CGIAL, F. 1044, op. I, delo 205, Bl. 9, Saburov an Alexander III., 8./20. VII. 1888. 117

Auseinandersetzungen im herrschenden Lager Rußlands

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Dieser Plan Saburovs wurde durch den Abschluß des Zweibundes — welchen er allerdings zunächst, in Vertrauensseligkeit zu Wilhelm I., in seiner Bedeutung und Auswirkung noch unterschätzte 126 — durchkreuzt. Dazu kam, daß Bismarck es strikt ablehnte, einen Vertrag mit Rußland allein abzuschließen, und auch nicht die Absicht hatte, sich jetzt schon in der Meerengenfrage festzulegen. Saburov sah sich deshalb gezwungen, einen Vertrag mit Deutschland und Österreich-Ungarn zu unterstützen, bei welchem Deutschland zwischen Rußland und Österreich-Ungarn im Orient vermitteln sollte 127 , und auf die Verhandlungsgrundlagen, welche ihm von Giers gegeben wurden und keineswegs seinen Vorstellungen entsprachen 128 , einzugehen. Er willigte ein, Deutschland im Westen Handlungsfreiheit zu geben, ohne daß Deutschlands Gegenleistungen seinen Erwartungen entsprachen, weil er überzeugt war, daß ein deutsch-französischer Krieg in den nächsten drei Jahren — er hoffte sogar bis zu dem Zeitpunkt, wo Rußland zum Krieg um die Meerengen gerüstet war — nicht ausbrechen würde. 129 Er sah in den Bedingungen, welche 1881 zwischen den drei Kaisern vereinbart wurden, nur den ersten Schritt zu konkreteren Verpflichtungen, insbesondere zur Verpflichtung Deutschlands und Österreich-Ungarns, wohlwollende Neutralität zu halten, wenn Rußland die Meerengen erobert. 130 Um die Meerengen zu erhalten, war er bereit, auf Bismarcks Vorschlag einzugehen, den Balkan zwischen Österreich-Ungarn und Rußland in Interessensphären aufzuteilen und damit den Interessen der Panslavisten zuwiderzuhandeln. 131 Hierin vor allen Dingen unterschied er sich von Ignat'ev, dem ehemaligen Direktor des Asiatischen Departements im Außenministerium, russischen Botschafter in Konstantinopel und Verfasser des Friedensvertrages von St. Stephano. Ignat'ev war einer jener zaristischen Diplomaten gewesen, die Rußland zum Krieg gegen die Türkei gedrängt hatten. 132 Er hatte während des Krieges von der preußisch-deutschen Regierung wesentlich mehr Hilfe erwartet 1 3 3 und bezeichnete das Berliner Traktat als eine völlige Annulierung des Vertrages von St. Stephano, als eine Blamage Rußlands. 134 Er hetzte gegen die Regierungen Deutschlands, Österreich-Ungarns und Englands und drängte auch jetzt wieder zum Kriege. Von einer Annäherung an Deutschland oder gar an Österreich-Ungarn oder von einer Aufteilung des Balkans in Interessensphären wollte er nichts wissen. Sein Hauptziel waren, im Gegensatz zu Saburov, die Eroberung des Balkans, die Durchsetzung des außenpolitischen Programms des Panslavismus, was ihm die Kritik der Gegner des Panslavismus in den herrschenden Kreisen Rußlands, von den m 127 128 129 130 131 132 113

m

Ebenda, Saburov an Miljutin, 10./22. III. 1880. GP, Bd. III, Nr. 516. Näher darüber: Skazkin, a.a.O., S. 134ff. ROLB, F. 169, p. 74, Nr. 21, Saburov an Miljutin, 1./13. II. 1885. Ebenda, Saburov an Miljutin, 27.I./8. II. 1888. Skazkin, a. a. 0., S. 135 ff. Reutern, a. a. 0., S. 120, 148. Lucius von Ballhausen, a. a. 0., S. 103.

K. P. Pobedonoscev i ego korrespondenty. Pis'ma i zapiski. Bd. I, Moskau-Petrograd 1923, S. 93.

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Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

Liberalen bis zu den extremsten Reaktionären, z. B. Meäcerskijs 135 , einbrachte. Eben wegen seiner Balkanpläne war er auch einer der aktivsten Gegner einer Annäherung zwischen dem Vatikan und Rußland. 136 Ignat'ev kann als der zaristische Diplomat bezeichnet werden, der am konsequentesten die außenpolitischen Forderungen der Panslavisten zum Ausdruck brachte und unterstützte. Sein Name wurde zum Symbol des Kampfes Rußlands um die Balkanslaven. Nach den Mißerfolgen um den Friedensvertrag von St. Stephano mußte er deshalb den diplomatischen Dienst verlassen, was zweifellos eine Geste gegenüber Deutschland war. Man wagte aber nicht, Ignat'ev während der revolutionären Situation ganz aus dem Staatsdienst zu entfernen. So wurde ei zunächst Gouverneur von Niznyj Novgorod und nahm von 1881 bis 1882 den Posten des russischen Innenministers ein. 137 Später leitete er in Petersburg den Slavischen Wohltätigkeitsverein und blieb bis an sein Lebensende Mitglied des Staatsrats. Die preußisch-deutschen Diplomaten mißtrauten ihm weiter, verfolgten jeden seiner Schritte und befürchteten, er könne auf die Geschicke der russischen Außenpolitik wieder Einfluß gewinnen. 138 Der russische Fanslavismus

Das von Ignat'ev vertretene außenpolitische Programm, der Panslavismus, war der deutschen Diplomatie nach dem Russisch-Türkischen Krieg besonders unsympathisch. Der russische Panslavismus bildete jenen Bestandteil der nationalistischen russischen Ideologie, welcher die Expansion in Richtung auf den Balkan forderte. Er stellte der zaristischen Außenpolitik die Aufgabe, alle Balkanslaven zu „befreien" und sie an das zaristische Rußland zu binden. Die Unterwerfung des Balkans war für ihn die wichtigste, die ausschließliche Aufgabe der zaristischen Außenpolitik und hatte den Vorrang vor der Eroberung der Meerengen. Der russische Panslavismus hatte somit nicht nur die Vernichtung des türkischen Jochs, sondern auch die Beseitigung der Österreich-ungarischen Herrschaft über die Balkanslaven auf seine Fahnen geschrieben. Die Anhänger des Panslavismus in Rußland bildeten jenen Flügel innerhalb des herrschenden Lagers, der eine aktive Balkanpolitik forderte und zum Kriege mit der Türkei und Österreich-Ungarn drängte. Sie traten für die Annullierung des Berliner Traktates auf und wollten von einem Vertrag mit Österreich-Ungarn nichts wissen. 139 135

136 137

138 139

Mescerskij, a . a . O . , Bd. II, S. 375 fi. — Auch die Petersburger Bank- und Börsenkreise hatten für Ignat'ev nichts übrig. (DZA/Potsdam, Rdl, 5037, BI. 19—20, Hohenlohe an A. A., 17. VII. 1882.) E. Winter, Rußland und das Papsttum, Teil 2, Berlin 1961, S. 371 ff. Bezeichnenderweise versuchte er in dieser Zeit, Aksakov, den Führer der russischen Panslavisten, in den Staatsdienst zu bringen. Die Ernennung Ignat'evs zum russischen Innenminister war auf Empfehlung des Oberprokurors der heiligen Synode erfolgt, der Ignat'ev wegen seiner „russischen Seele" schätzte. (Pobedonoscev k Aleksandru III. [1881], in: Krasnyj Archiv, Bd. IV, Moskau 1923, S. 322.) Schweinitz, a. a. 0 . , Bd. II, S. 163 ff. Vgl. hierzu Kap. II/4.

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Der Panslavismus begann zu jener Zeit erheblich an Einfluß zu gewinnen, als sich nach der revolutionären Situation in Rußland zu Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre das Bündnis zwischen Großbourgeoisie und Gutsbesitzern festigte. Die Verbreitung des Panslavismus war ein Ausdruck des Klassenbündnisses zwischen Bourgeoisie und Gutsbesitzern im Kampf gegen die Revolution und im Kampf um eine expansionistische Außenpolitik. Sie war ein Ausdruck für den Übergang des Zarismus von einer liberalen zur konservativen Innen- und Außenpolitik. Während die Slavophilie, die in gewisser Beziehung als der ideologische Vorläufer des Panslavismus bezeichnet werden kann, noch liberale Forderungen enthielt (außer Reformen f ü r die Balkanslaven forderte sie z. B. nicht die Unterwerfung der Balkanslaven unter die zaristische Selbstherrschaft, sondern die Befreiung der Balkanslaven und die Schaffung einer Konföderation aller Slaven — ein Gedanke, der sich z. B. bei Miljutin noch erhalten hatte), war der Panslavismus eine konservative und nationalistische Ideologie. Um mit Hoetzsch zu sprechen: „In seiner Richtung hatte der Panslavismus die Wendung genommen, die ursprünglich nicht in der slavophilen Theorie lag, die aber dem Regierungssystem Alexanders III. entsprach: die grundsätzliche Verbindung mit der Idee der Selbstherrschaft und damit die ebenso grundsätzliche Feindschaft gegen alle Reformen und Verfassungspläne — was übrigens diese Richtung niemals hinderte, demokratische Empfindungen innerhalb und außerhalb des Reiches zu begünstigen." 140 Die Vertreter des Panslavismus setzten sich aus den verschiedensten Elementen des herrschenden Lagers zusammen. Es gab unter ihnen sowohl Vertreter der hohen Bürokratie (Ignat'ev, Chitrovo, in gewissem Maße — allerdings mit slavophilen, d.h. mehr liberalen Tendenzen — auch Miljutin), des Klerus (unter Leitung von Pobedonoscev) und des Militärs (Skobelev, Kireev). Sie gehörten zu den halbfeudalen, aristokratischen, militärischen und orthodoxen Kreisen des zaristischen Rußlands und verkörperten somit den militärisch-feudalen Charakter des Panslavismus als einer Erscheinung, die auf Angliederung aller Slaven an das zaristische Rußland, Festigung des russischen Absolutismus, Verewigung dei feudalen Überreste, Stärkung der Orthodoxie 141 , Konservierung der Bauerngemeinde und Abkapselung von dem „anarchistischen" (kapitalistischen!) Westeuropa gerichtet war. Diese Seite überwog und drückte dem Panslavismus ihren Stempel auf. Zugleich gab es innerhalb dieser Strömung aber Leute (Aksakov, in gewissem Grade auch Katkov — Katkov ging in seinen außenpolitischen Forderungen über die der Panslavisten hinaus 1 4 2 — oder auch selbst Ignat'ev), die, obgleich sie sich mit den politischen Forderungen der Vertreter der alten Gesellschaftsordnung innerhalb des Panslavismus weitgehend solidarisch erklärten, gleichzeitig auch die ökonomischen Interessen der Vertreter der neuen Gesellschaftsm

141 1,12

Hoetzsch, a.a.O., S. 62. — Vgl. hierzu auch A. Fischel, Der Panslavismus bis zum Weltkrieg, Stuttgart-Berlin 1919, bes. S. 363 ff., 407 ff. Winter (a.a.O., S. 388) bezeichnet ihn daher auch als „orthodoxen Panslavismus". Vgl. hierzu Kap. Il/4, S. 85.

4 Bismarcks,, Draht nach Baßland"

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Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

Ordnung, der chauvinistischen Teile der russischen Bourgeoisie, zum Ausdruck brachten. 1 4 3 Der Einfluß dieser Kreise in der russischen panslavistischen Bewegung der hier behandelten Zeit wurde immer stärker. So ist es wohl auch kein Zufall, wenn nicht Petersburg, sondern Moskau, Odessa und auch Niznyj Novgorod die Zentren des Panslavismus waren. Aksakov, einer der führenden Köpfe des Panslavismus, war z. B. bis Ende der siebziger Jahre Leiter des Moskauer Slavischen Komitees und hatte enge Verbindungen zur Moskauer Kaufmannschaft. Seit 1874 Vorsitzender des Rates der Moskauer Gesellschaft f ü r gegenseitigen Kredit, einer der wichtigsten Handelsbanken Moskaus, war er maßgeblich an der Erweiterung des Absatzes der Moskauer Industriellen und Händler beteiligt. Sein Tod zu Anfang des Jahres 1886 wurde daher vor allem von diesen Kreisen bedauert. Auch Katkov und Ignat'ev unterhielten enge Verbindungen zur Moskauer und Niznyj Novgoroder Textil- und Handelsbourgeoisie. 144 Die Einschätzung des Panslavismus: er spiegele „keinerlei ernsthafte ökonomische Interessen der russischen Bourgeoisie wider, f ü r die der Balkan als Markt keine wesentliche Bedeutung besaß" 145 scheint daher fraglich. Daß der Balkan f ü r die russische Bourgeoisie nicht die Bedeutung erlangen konnte, die sie sich von ihm versprach, lag weniger an der Bourgeoisie als an den Überresten des Feudalismus in Rußland und an der Konkurrenz der westeuropäischen Bourgeoisie auf dem Balkan. Das Streben nach Eroberung des Balkanmarktes hingegen war durchaus vorhanden. Engels bezeichnete den Panslavismus deshalb als die „nach Südwesten strebende Richtung" des Ausdehnungsdranges der russischen Bourgeoisie. 146 Gegner des Panslavismus waren (wenn man sich bei der Untersuchung dieser ideologischen Strömung auf ihre außenpolitische Funktion beschränkt und von ihrer innenpolitischen Funktion — der Festigung der Herrschaft der konservativsten Kreise Rußlands — absieht) die reaktionärsten Kreise von Hof und Regierung (Suvalov, Giers, Fürst Meäcerskij, Großfürst Vladimir, Graf Nesselrode, die beiden Osten-Saken, Graf Adlerberg, die Fürstin Kotcubej, Fürst Dolgorukij, kurz gesagt die deutschfreundliche Partei). Ihnen lag viel am Bündnis mit Deutschland und Österreich-Ungarn, und sie befürchteten, daß die Befreiung der Slaven das monarchische Prinzip, die Grundlagen der Selbstherrschaft, gefährden könne. 147 Zu den Gegnern des Panslavismus zählten außerdem die Petersburger gemäßigt-liberalen Bankiers und Börsenmakler, denen am Frieden, an unge143 144

145

147

Vgl. hierzu Kap. II/3, S„ 65 ff. Die Verbindung des russischen Panslavismus zu den zentralrussischen Industrieund Handelskreisen wurde auch von G. v. Schulze-Gävernitz (Der Nationalismus in Rußland und seine wirtschaftlichen Träger, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 75, Berlin 1894, S. 2 ff., sowie Volkswirtschaftliche Studien..., a. a. 0., S. 197); Hoetzsch (a. a. 0., S. 55) und Körlin (a. a. 0., S. 10,17, 65) gesehen. — Zur Verbindung Ignat'evs zur Moskauer Textilindustrie vgl. Otkliki Moskovskich promyslennikov na antievrejskie besporjadki 1881, in: Krasnyj Archiv, Moskau 1926, Bd. XIV, S. 258 ff. Istorija Diplomatii, a. a. O., S. 88. F. Engels, Der Sozialismus in Deutschland, in: Marx/Engels, Werke Bd. 22, Berlin. 1963, S. 258. Vgl. z. B. GP, Bd. III, Nr. 617, 618; Bd. V, Nr. 992.

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störter Gründertätigkeit, am geregelten Geschäft mit den westeuropäischen Banken gelegen war und die daher, ebenso wie die russischen Finanzminister, der Diplomatie zum Zusammengehen mit Deutschland und Österreich-Ungarn im Namen des Friedens rieten. Gegner einer überwiegend panslavistischen Außenpolitik waren schließlich jene Vertreter der Gutsbesitzer (z.B. der „Kievljanin"), der hohen Bürokratie (z. B. Saburov), des Militärs und der konservativen Bourgeoisie, die befürchteten, den panslavistischen Bestrebungen zuliebe könne die gesamte übrige zaristische Expansionspolitik, insbesondere die Eroberung der Meerengen und Mittelasiens, geopfert werden. Das Verhältnis der zaristischen Regierung zum panslavistischen außenpolitischen Programm war unterschiedlich. Sofern es ihr helfen konnte, die russische Gesellschaft von den innenpolitischen auf die außenpolitischen Widersprüche abzulenken, unterstützte sie es und machte es zum Bestandteil ihrer Expansionspolitik (z. B. während des Russisch-Türkischen Krieges und in gewisser Beziehung auch während der Balkankrise Mitte der achtziger Jahre). Sie trat aber dann gegen die Vertreter der panslavistischen Außenpolitik in der Öffentlichkeit auf, wenn deren Verhalten und die von ihnen geforderte Politik das Dreikaiser„bündnis" allzu offensichtlich untergraben mußten, wenn sie Rußland in Abenteuer zu drängen drohten, die nur mit einer neuen diplomatischen und militärischen Niederlage und der weiteren Isolierung und Schwächung des zaristischen Rußlands enden konnten (z. B. das Vorgehen gegen Aksakov in den Jahren 1879 und 1885) oder wenn sie die Regierung von ihrer außenpolitischen Hauptaufgabe, der Eroberung der Meerengen, abzulenken schienen.148 Über das Verhältnis Rußlands zu Frankreich Zu den unterschiedlichen Auffassungen und Vorstellungen über das außenpolitische Programm des Zarismus, über die Formen und Methoden seiner Verwirklichung sowie über die Beziehungen zu Deutschland, welche es nach dem Berliner Kongreß innerhalb der zaristischen Regierung und in der russischen Öffentlichkeit gab, traten Diskussionen über das Verhältnis des zaristischen Rußlands zu Frankreich. Diese Erörterungen hatten allerdings u. a. deshalb zunächst keine praktischen Auswirkungen, weil die französische Regierung nach dem Russisch-Türkischen Krieg ihr Verhältnis zu Rußland änderte. Ende des Jahres 1877 wurde in Frankreich die monarchistisch-klerikale Regierung gestürzt und durch eine gemäßigt republikanische abgelöst. Die französische Außenpolitik erhielt eine neue Richtung. Delcasse, bis dahin Leiter der französischen Außenpolitik, hatte in Übereinstimmung mit den französischen Monarchisten, einem großen Teil der Bourgeoisie, des Kleinbürgertums, des Militärs und der katholischen Kreise das Deutsche Reich nach wie vor für Frankreichs gefährlichsten Gegner gehalten und diesem Gegensatz seine Außenpolitik untergeordnet. Den besten Schutz vor einer Wiederholung des Deutsch-Französischen Krieges sah er in der Annäherung an 14B



Vgl. Kap. II/4.

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das zaristische Rußland. 149 Deshalb wahrte er während des Russisch-Türkischen Krieges Rußland gegenüber wohlwollende Neutralität. 1 " 0 Mit den Veränderungen in der französischen Regierung setzten Ende des Jahres 1877 nun jene Kreise des französischen Finanzkapitals ihre außenpolitische Konzeption durch, welche die russische Konkurrenz in der Türkei und auf dem Balkan, wo bedeutendes französisches Kapital angelegt war, fürchteten, andererseits aber nach der Eroberung von Kolonien drängten und dazu eine Annäherung an Deutschland suchten. Ihre Vertreter waren Waddington und Jules Ferry. 151 Die Folge war eine Änderung der französischen Rußlandpolitik. Frankreichs Diplomaten unterstützten auf dem Berliner Kongreß nun nicht Gorcakov, sondern Bismarck, Beaconfield und Andrassy. Sie machten ihrerseits den russischen Diplomaten z. B. in der bulgarischen Frage noch Schwierigkeiten. 152 Als Dank f ü r diese Haltung wurde Frankreich im Jahre 1881 von Deutschland und Österreich-Ungarn die Besetzung von Tunis gewährt. Frankreich, das dadurch mit Italien und England in Gegensätze geriet, wurde so bis Mitte der achtziger Jahre von einer Annäherung an Rußland und einer Revanche Deutschland gegenüber abgelenkt. 153 Diese Haltung der französischen Regierung zum zaristischen Rußland war einer der Gründe dafür, daß die frankophilen Kreise der herrschenden Klasse Rußlands bis Mitte der achtziger Jahre ihre außenpolitische Konzeption nicht durchsetzen konnten. Die Hauptursache dafür aber lag in Rußland selbst. Den einflußreichsten Kreisen der herrschenden Klasse Rußlands war auch nach 1878 noch nichts an einem Bündnis mit einem republikanischen Frankreich gelegen. Eine Annäherung oder ein Bündnis mit Frankreich hielten bis Mitte der achtziger Jahre nur einige liberale Zeitungen, beispielsweise der „Golos" und die „Russkaja Mysl" 1 5 4 , sowie einige abenteuernde, revanchistische Militärs, wie z. B. die Generale Obrucev 155 und Skobelev 156 , ferner einige Kreise des Hofes, an ihrer Spitze der Großfürst Nikolaj Michajlovic 157 , für wünschenswert. Die anderen liberalen Zeitungen sowie auch die konservativen „Moskovskie Vedomosti" und 149 150 151

152 153

154

153 156

157

Istorija Diplomatie a. a. 0., S. 58 f. Manfred, Vnesnjaja Politika . . . , & . a. O., S. 193. Ebenda, S. 211. Diese sozialen Hintergründe des veränderten außenpolitischen Programms Frankreichs unter Ferry wurden von Körlin (a.a.O., S. 70 ff., 103) übersehen. Ebenda, S. 216ff.; Körlin, a . a . O . , S . 4 6 f . Istorija Diplomatii, a. a. 0., S. 176 ff. — Über Bismarcks Ziele bei der Unterstützung der französischen Kolonialpolitik vgl. GP, Bd. I, Nr. 194; Lucius v. Ballhausen, a. a. O., S. 212, sowie Manfred, Iz predistorii franlto-russkogo sojuza, a. a. O., S. 24 ff. A.Patrik, Zapadnaja politika Rossii 80-ych gg. v. osvescenii russkoj publicistike, in: Ucenye Zapiski Sverdlovskogo Gosudarstvenno-Pedagogiceskogo Instituta, Sverdlovsk 1939, Vyp. 2, S. 151 f. GP, Bd. III, Nr. 515; Rotstejn, a. a. 0., S. 91 Ree generala Skobeleva v Parize v 1882, in: Krasny Archiv, Bd. XXVII, Moskau 1928, S. 119ff Körlin, a. a. 0., S. 56 f.

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der „Grazdanin" wollten von einer Annäherung an Frankreich nichts wissen: die liberalen Organe, weil sie Frankreich für zu chauvinistisch und krieglüstern hielten und nicht seinetwegen wieder in einen neuen Krieg verwickelt werden wollten 158 , die konservativen, weil ihnen die republikanische Ordnung mißfiel. 159 Gegner eines Bündnisses mit Frankreich waren Miljutin, Saburov, ftuvalov und Giers. Miljutin und Saburov begründeten ihre Ablehnung gegen ein Bündnis mit Frankreich mit ähnlichen Argumenten wie die liberalen Zeitungen. Miljutin wollte Rußland vor einem neuen Krieg bewahren. Saburov war überzeugt, daß Frankreich die russische Freundschaft nur zur Revanche gegen Deutschland brauche. Falls Bismarck Frankreich aber auf irgendeine Weise entschädigt und vom Kampf gegen Deutschland ablenkt, so würde der deutsch-französische Gegensatz zurückgehen und Rußland seine beste Karte im Spiele verlieren. Die ganze Mächtekonstellation würde sich ändern und Rußland seinen Verbündeten, Deutschland, verlieren. 160 Und gerade das wollte Saburov wegen seiner Ziele im Nahen Osten verhindern. Giers und Suvalov motivierten ihre Ablehnung dagegen vor allem damit, daß ein Bündnis mit dem republikanischen Frankreich den herrschenden Kreisen des zaristischen Rußlands innenpolitische Schwierigkeiten bereiten würde. 161 Die Rolle des monarchischen Prinzips in den Beziehungen Deutschlands, Österreich-Ungarns und Rußlands

Wir sind damit bei der Frage angelangt, inwieweit das monarchische Prinzip und die gemeinsame Furcht vor der revolutionären Bewegung ein Grund für den Abschluß des Dreikaiser„bündnisses" waren. Es ist bekannt, daß Bismarck das legitimistische Prinzip oft im Munde führte 1 6 2 und es auch als taktisches Mittel benutzte. Das geschah in den Jahren 1880/81, als er beabsichtigte, die Regierung Österreich-Ungarns für das Dreikaiser„bündnis" zu gewinnen. 163 Es wiederholte sich im März 1881, nach dem Attentat auf Alexander II., als er mit seinen Vorschlägen über den gemeinsamen Kampf gegen den „Nihilismus" Rußland von Frankreich und England zu isolieren suchte 164 — was Schweinitz mit den Worten kommentierte: „Es ist wirklich ein wahrer Hochgenuß, zu beobachten, wie Fürst Bismarck jedes Ereignis . zum Vorteil Deutschlands zu verwenden weiß." 165 Das monarchische Prinzip spielte auch während der Balkankrise Mitte der achtziger Jahre, als ein Krieg zwischen Rußland und Österreich-Ungarn drohte, in Bismarcks Argumentation eine wichtige Rolle. 166 158 15a 160 161 162 164

165 166

Z. B. Vestnik Evropy, Mai 1883 (r.D.), S. 375 ff., zitiert nach: Patrik, a. a. 0 . , S. 151. Z. B. Moskovskie Vedomosti, 1883, Nr. 233; 1885, Nr. 84. Russko-Germanskie Otnosenija, a. a. O., S. 81. Vgl. z. B. GP, Bd. III, Nr. 617, 626. 163 Fester, a. a. 0 . , S. 59. GP, Bd. III, Nr. 5 2 0 - 5 2 2 . E.v. Tarle, Kn. Bismarck i careubijstvo 1-ogo marta 1881 goda po neizdannym dokumentam, in: Byloe, Petrograd 1919, Nr. 14, S. 26 ff. — Vgl. Poschinger, a. a. 0., S. 184. Schweinitz, a. a. 0., Bd. II, S. 161. GP, Bd. V, Nr. 985, 989, 992, 997 u. a.

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Das monarchische Prinzip war für Bismarck jedoch in seinem Verhältnis zu Rußland und Österreich-Ungarn nicht nur eine taktische Frage. 167 Dem Leiter der Außenpolitik eines monarchisch geeinten Deutschen Reiches, das von den preußischen Junkern und vorwiegend von der preußischen reaktionären Großbourgeoisie beherrscht wurde, eines Staates, der im Kampf gegen die Revolution entstanden war, der auf die Unterdrückung anderer Nationalitäten nicht verzichten konnte 1 6 8 und in dem ein starkes, kampferfahrenes und gut organisiertes Proletariat schon eine bedeutende politische Rolle spielte, mußte sowohl aus machtpolitischen Gründen, also im Interesse des europäischen Gleichgewichts und der deutschen Hegemonie in Europa, als auch aus innenpolitischen Gründen an guten Beziehungen zu den Habsburgern und Romanovs gelegen sein. Bismarck selbst sah, daß „die Erhaltung eines Elements monarchischer Ordnung in Wien und Petersburg und auf der Basis beider in Rom . . . für Deutschland eine Aufgabe" ist, „die mit der Erhaltung der staatlichen Ordnung" in Deutschland zusammenfällt. 169 Die „Freundschaft" mit den anderen Kaiserhöfen konnte die Herrschaft der Junker in Preußen, die Herrschaft Preußens in Deutschland, die Erhaltung der bestehenden sozial-politischen Ordnung ungemein festigen. Bismarck hielt den Kampf der drei Monarchien gegen die Gefahr der „antimonarchischen Entwicklung", der „sozialen Republik" für wichtiger f ü r die „noch lebenskräftigen Monarchien" als die Rivalität um den Einfluß auf die nationalen Fragmente, welche die Balkanhalbinsel bevölkern". 170 Nach dem Russisch-Türkischen Krieg und dem Berliner Kongreß, wo diese österreichischungarische Rivalität auf der Balkanhalbinsel so deutlich geworden war und sich noch zugespitzt hatte, sah Bismarck deshalb eine seiner wichtigsten außenpolitischen Aufgaben darin, den Frieden zwischen beiden Monarchien zu erhalten. Kein Mittel sollte gescheut werden, welches die Wahrscheinlichkeit eines Krieges verminderte 171 , Österreich und Rußland sollten sich im Orient einigen. 172 Der Ausbruch eines russisch-österreichischen Krieges, die nationale Bewegung der Balkanslaven, welche für Österreich-Ungarn und damit für Deutschland so gefährlich war, weil sie sich nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Grenzen der Donaumonarchie entfaltete, das Anwachsen der nationalen Bewegung der Polen, die Zunahme der revolutionären Bewegung in den drei Monarchien konnten zu weitgehenden sozialen Veränderungen in einer der drei Monarchien, wenn nicht sogar in ihnen allen führen. Sie konnte die herrschenden Klassen dieser Staaten ernstlich bedrohen und dadurch die Beziehungen zwischen diesen grundlegend verändern, das Kräfteverhältnis in Europa neu gestalten und Bismarcks Bündnissystem, welches auch innenpolitisch bedingt war, zum Scheitern bringen. 187

Wie verschiedentlich betont wurde. — Vgl. z. B. Wittram, a. a. 0., S. 174.

168

Bismarck, Bismarck,

169

170 171 172

a. a. 0 . , S. 4 0 2 ; Poschinger, a. a. 0 . , S. 410.

Ebenda, S. 398. GP, Bd. III, Nr. 524. Ebenda, Nr. 515.

a. a. O., S. 70.

Auseinandersetzungen im herrschenden Lager Rußlands

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Die monarchistischen Bestrebungen Bismarcks stießen bei den herrschenden Kreisen Österreich-Ungarns und Rußlands auf Resonanz. Für die Regierung der Donaumonarchie waren das Dreikaiser„bündnis" und der Kampf um die Legitimität unter den damaligen Bedingungen die beste Möglichkeit, ihre Status-quoPrinzipien durchzusetzen und einen Zerfall des Reiches zu verhindern. 173 Für die herrschenden konservativen Kreise Rußlands war es nach dem Russisch-Türkischen Krieg eine wichtige Voraussetzung, die revolutionäre Situation zu überwinden und der liberalen Kräfte Herr zu werden. Diese konservativen Kreise waren die besten Verbündeten Bismarcks; fürchteten sie sich doch vor jeder noch so gemäßigten Veränderung in Rußland. Nur sie erniedrigten sich so weit, selbst den offensichtlich gegen Rußland gerichteten Zweibund zu begrüßen, weil er Rußland die Initiative zu neuen Verwicklungen im Nahen Osten nahm. 174 Nur sie waren bereit, bedingungslos eine Bindung an Deutschland und Österreich-Ungarn einzugehen und ihren beiden Partnern zu garantieren, daß die zaristische Regierung die nationale Bewegung der Slaven innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie nicht unterstützen würde. Diese konservativen Kräfte Rußlands konnten jedoch nur dann an der Macht bleiben, wenn der Zarismus außenpolitisch nicht so geschwächt wurde, daß dies seine Existenz gefährdete und wenn er innenpolitisch gestärkt wurde. 175 Bismarck gewährte dem Zarismus daher einen Sieg über die Türken, bewahrte ihn vor einer offenen Niederlage, versprach ihm für die Zukunft kleine außenpolitische Erfolge — vor allem in Gebieten, an denen Österreich-Ungarn wenig interessiert war — und sicherte ihm einen Teil seiner Eroberungen im Nahen Osten. Und in Rußland entfaltete die deutsche Regierung eine Wühlarbeit gegen alle oppositionellen Kräfte, einschließlich der gemäßigten Liberalen, und versuchte, „die Petersburger Politik in eine konservative Richtung zu bringen und sie darin festzuhalten". 176 Einschätzung des Dreikaiser„bündnisses"

Die Unterzeichnung des Dreikaiser„bündnisses" im Juni 1881 177 war f ü r Bismarck ein großer außenpolitischer Erfolg, auch wenn dieser Vertrag Deutschland und Rußland nicht mehr wie die Militärkonvention von 1873 zu gegenseitiger militärischer Hilfeleistung verpflichtete. 178 Das Dreikaiser„bündnis" war jene diplomatische Kombination, durch welche die außenpolitischen Aufgaben der herrschenden Klassen Deutschlands nach 1878 am besten gelöst werden konnten. 173 174 175 176 177

178

Ebenda, Nr. 522. Schweinitz, a. a. 0., S. 92. Skazkin, a. a. 0., S. 89 ff. GP, Bd. III, Nr. 520. - Vgl. auch ebenda, Nr. 617. Vgl. Sbornik dogovorov Rossii s drugimi gosudarstvami, 1856—1917, Moskau 1952, S. 228 ff. Zur Einschätzung dieser Seite des Dreikaiser„bündnisses" vgl. z. B. F. Haselmayr, Diplomatische Geschichte des Zweiten Reiches von 1871 bis 1918. Die Ära des Friedenskanzlers (1871—1890), Bd. II, Bismarcks Reichssicherung gegen Rußland (1879 bis 1884) . . . , München 1956, S. 65 f.

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Die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

„Es verhinderte die französisch-russische Annäherung, garantierte den Bestand Österreichs, öffnete ihm" sowie dem deutschen Kapital „günstige Aussichten auf dem Balkan und fügte die drei östlichen Mächte zusammen, von denen sich zwei weniger wegen der Gemeinsamkeit als der Gegensätzlichkeit ihrer Interessen aneinander annäherten, und gab der dritten von ihnen (Deutschland) das Mittel in die Hand, die eine gegen die andere auszunützen. Nur im Bündnis der drei erwies sich die russische Freundschaft für Deutschland als vollwertig, weil ihre vorteilhaften Seiten in vollem Maße erhalten blieben und ihre unvorteilhaften durch die Anwesenheit Österreichs paralysiert wurden." 179 Der „Draht nach Rußland" drängte den Zarismus vom Nahen Osten nach Mittelasien ab, schürte die englischrussischen Widersprüche, verhinderte eine englisch-russische Annäherung, welche vor allem auch von der Donaumonarchie gefürchtet wurde, und machte Deutschland den Rücken frei für seine eigene Kolonialpolitik. Das politische Zusammengehen mit Rußland entsprach auch den wirtschaftlichen Interessen jener Teile der deutschen Bourgeoisie, die stark am russischen Markt interessiert waren und die in guten politischen Beziehungen zu Rußland die Voraussetzung sahen, den russischen Absatzmarkt nicht zu verlieren. Zugleich kam es auch den innenpolitischen Bedürfnissen der preußischen Junker und der reaktionärsten Teile der deutschen Bourgeoisie unter den damaligen Bedingungen am besten entgegen. Für die herrschenden Klassen Rußlands hingegen war das Dreikaiser„bündnis" recht zwiespältiger Natur. Es stellte einen außenpolitischen Erfolg dar, weil es Rußlands diplomatische Isolierung nach dem Russisch-Türkischen Krieg beseitigte und dadurch dessen außenpolitische Stellung verbesserte. So garantierte es ihm Deutschlands und Österreich-Ungarns wohlwollende Neutralität bei einem russisch-englischen Krieg um Mittelasien und verhinderte die Besetzung der Meerengen durch England. Weiterhin war es ein Sieg der ökonomischen und außenpolitischen Forderungen eines Teiles der russischen Bourgeoisie und derjenigen russischen Gutsbesitzer, denen während der Agrarkrise besonders stark an der Erhaltung des deutschen Absatzmarktes gelegen war und die durch eine politische Bindung an Deutschland neue Maßnahmen der deutschen Regierung gegen den russischen Getreideimport zu vermeiden suchten. Schließlich sind in dem Bündnis auch ein innenpolitischer Erfolg der konservativsten Kräfte Rußlands, ein Sieg der Reaktion über die revolutionäre Bewegung Europas zu sehen. Gleichzeitig ist aber auch der Abschluß des Dreikaiser„bündnisses" als eine außenpolitische Niederlage des zaristischen Rußlands zu werten. Entgegen seinen Interessen mußte Rußland dem Deutschen Reich im Krieg mit Frankreich wohlwollende Neutralität garantieren. Im Widerspruch zu den außenpolitischen Gegensätzen zwischen den herrschenden Klassen Rußlands und Österreich-Ungarns mußte es die Freundschaft der Donaumonarchie suchen, um sich innenpolitisch zu festigen und sich auf innen- und außenpolitischem Gebiet Deutschlands Hilfe zu sichern. Der Vertrag garantierte dem Zarismus nur einige wenige Erfolge auf dem Balkan und schränkte den russischen Einfluß auf die Türkei ein. Er zwang 179

Skazkin, a. a. 0., S. 32 (russ.).

Auseinandersetzungen im herrschenden Lager Rußlands

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den Zarismus, auf eine aktive Außenpolitik im Nahen Osten weitgehend zu verzichten, die Eroberung des Balkans und der Meerengen zunächst aufzugeben, die Lösung der Balkanfrage aufzuschieben, abzuwarten, tatenlos zuzusehen, vor Deutschland zu buckeln. 180 Im Abschluß des Dreikaiser„bündnisses" drückten sich die innenpolitischen, wirtschaftlichen, militärischen und außenpolitischen Schwächen des Zarismus aus. Das Bündnis versinnbildlichte die Anerkennung des Rückgangs der eigenen Macht, des Sinkens der internationalen Bedeutung des einst so mächtigen Gendarms Europas. Hier lag die außenpolitische Konsequenz des Übergangs des Zarismus zur innenpolitischen Reaktion, der Absage an den Liberalismus. Das Dreikaiser„bündnis" beseitigte keineswegs die Widersprüche zwischen den herrschenden Klassen der drei Monarchien, sondern zögerte den offenen Ausbruch und die Lösung des Konflikts nur für eine gewisse Zeit hinaus. Es war das Produkt „einer ganz bestimmten, konkreten und ihrerseits wirtschaftlich bedingten Konstellation . . . , mit deren Veränderung es unmöglich wurde". 181 Es konnte nur so lange weiterbestehen, wie es auf dem Balkan zu keinen ernsthaften Komplikationen kam und die wirtschaftlichen und außenpolitischen Gegensätze zwischen den herrschenden Klassen der am „Bündnis" beteiligten Staaten nicht überhandnahmen. Dazu verblieben aber nur wenige Jahre. löu

Wie sehr sieh die russischen Politiker vor Deutschland erniedrigten, mag folgendes Beispiel illustrieren. Sowohl Saburov als auch Giers begrüßten gegenüber deutschen Diplomaten die geplante Entsendung einer deutschen Militärmission nach der Türkei — nur um Deutschland nicht zu verstimmen (Holborn, a. a. O., S. 19). 1H1 Hallgarten, a. a. 0., Bd. I, S. 207.

K A P I T E L II

Zwischen Dreikaiser,,bündnis" und Rückversicherungsvertrag (1881-1887)

1 .Die Auseinandersetzungen innerhalb der zaristischen Regierung um die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses" (1883—1884) Der Abschluß des Dreikaiser„bündnisses" im Jahre 1881 war eine außenpolitische Bestätigung der Schwäche des zaristischen Rußlands gewesen. Nur mit Rücksicht auf diese Schwäche hatten sich die Anhänger einer aktiveren Außenpolitik innerhalb der zaristischen Regierung zeitweilig mit einer Bindung an Deutschland und Österreich-Ungarn zu diesen für ein aggressives Rußland so ungünstigen Bedingungen einverstanden erklärt. Jede Verbesserung der innenpolitischen Situation und der außenpolitischen Stellung des zaristischen Rußlands mußte jedoch ihre Bedenken an der Zweckmäßigkeit dieser außenpolitischen Kombination und deren Bedingungen neu beleben und mußte zu neuen Auseinandersetzungen innerhalb der zaristischen Regierung führen. Das geschah bereits früher, als man erwarten konnte — schon anderthalb Jahre nach Abschluß des Dreikaiser„bündnisses", gerade als dessen Geltungsdauer, die ohnehin recht kurz bemessen war, erst zur Hälfte abgelaufen war. Abgesehen von einer gewissen Stabilisierung der innenpolitischen Lage, einer Verstärkung des Militärpotentials, einer gewissen Sanierung der Finanzen u. a., hatten sich vor allem die Beziehungen Rußlands zu England und der Türkei für den Zarismus günstiger gestaltet. Beaconfield war inzwischen gestürzt worden und ein liberales Kabinett unter Gladstone zur Macht gekommen. England machte einen Rückzug in Afghanistan, der den russisch-englischen Widersprüchen in diesem Gebiet für eine kurze Zeit ihre Schärfe nahm. Die englischen Liberalen — als traditionelle Gegner der österreichisch-ungarischen Monarchie bekannt—waren gegen eine Annäherung Englands an Österreich-Ungarn. Eine westeuropäische Koalition gegen Rußland unter Leitung Englands, womit die zaristische Regierung noch Ende der siebziger Jahre rechnen mußte, verlor damit immer mehr an realem Boden, zumal auch die deutsch-englischen Beziehungen — ganz abgesehen von den wachsenden handelspolitischen Gegensätzen auf den verschiedensten Teilen des Weltmarktes — durch die beginnende deutsche Kolonialpolitik belastet wurden.1 Dazu kam, daß England Ägypten eroberte, was ihm „einen ständigen Streit mit Frankreich einbrachte und außerdem die Unmöglichkeit einer Allianz der Türken mit den Engländern 1

Vgl. z. B. GP, Bd. IV, Nr. 774, 754 u. a.

Auseinandersetzungen um die Erneuerung des Dreikaiser,.bündnisses"

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nach sich zog, die jene soeben beraubt hatten".2 In Zusammenhang damit verbesserte sich Rußlands Stellung gegenüber der Türkei und sein Einfluß auf die türkische Regierung wuchs. Den außenpolitischen Chancen, die sich der zaristischen Regierung durch das verbesserte Verhältnis zu England und der Türkei boten, stand aber nach wie vor Österreich-Ungarn im Wege. Zwar konnte Österreich-Ungarn allein „nicht gegen Rußland kämpfen, da seine wirksamste Angriffswaffe, der Appell an die Polen, durch Preußen stets zunichte gemacht" werden konnte „und die Besetzung Bosniens . . . ein Elsaß zwischen Österreich und der Türkei" bedeutete.3 Doch die außerordentliche Regsamkeit der österreichisch-ungarischen Politiker und Militärs, Klerikalen und Finanziers, Eisenbahngründer und Händler, die diese nach dem Berliner Kongreß auf dem Balkan entfalteten, war bedrohlich genug. Österreichische Großbanken, an ihrer Spitze die Länderbank in Wien, verstärkten zusammen mit deutschen Banken ihre Geschäfte mit Serbien. Im Mai 1881 schloß Österreich-Ungarn mit Serbien einen Handelsvertrag ab, durch den es Serbien ökonomisch von sich abhängig machte. Dem Handelsvertrag folgte ein österreichisch-serbisches Bündnis, das Serbien faktisch zum Vasallen Österreich-Ungarns machte.4 Kein Wunder, daß den Regierungen Österreich-Ungarns und auch Deutschlands in bedeutendem Maße an der Erhaltung des Milanschen Regiments in Serbien gelegen war.5 Ähnlich sah es mit Rumänien aus. Ende 1883 wurde eine gegen Rußland gerichtete geheime Militärkonvention zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien abgeschlossen, der sich Deutschland anschloß.6 Schon diese Erfolge Österreich-Ungarns auf dem Balkan riefen bei der zaristischen Regierung und in der russischen Öffentlichkeit beträchtliche Unruhe hervor. Besonderen Grund zur Sorge gab jedoch die wachsende Einmischung ÖsterreichUngarns in Bulgarien, der „Domäne" Rußlands. Auch hier begann zuerst das österreichisch-ungarische Finanzkapital sich ökonomisch zu engagieren.7 Die politische Einflußnahme Österreich-Ungarns auf Bulgarien, welche bald folgte, wurde durch die engstirnige zaristische Herrschaft in Bulgarien außerordentlich gefördert. Den zaristischen Politikern gelang es nämlich, in einigen Jahren „jegliche Symphatie der Bulgaren für Rußland zu ersticken, obwohl sie groß und herzlich gewesen war".8 Der Einfluß der zaristischen Regierung auf Alexander v. Battenberg wurde schwächer. Die bulgarischen Konservativen, die Liberalen und schließlich 2

3

5

6 7 8

F.Engels, Die politische Lage Europas, in: Marx/Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, S. 311. Ebenda. Istorija Diplomatii, a.a.O., S. 237 f. — Vgl. A.Pribam, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns, 1879-1914, Bd. I, Wien 1920, S. 18 ff. Vgl. z. B. Schweinitz, a. a. 0., S. 242. — Bezeichnenderweise war Milan kurz vor der Unterzeichnung des Vertrages vom deutschen Kaiser festlich empfangen worden (vgl. Lucius v. Ballhausen, a.a.O., S. 209). Vgl. GP, Bd. III, Nr. 5 8 3 - 5 9 8 ; Pribam, a. a. 0., S. 32 f. Näher darüber siehe Kapitel Il/3 und Hl/2. Engels, Die politische Lage Europas, a. a. 0., S. 311.

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag

der Battenberger selbst wurden zu Gegnern der zaristischen Politik. Die Tendenzen einer politischen Orientierung Bulgariens auf Österreich-Ungarn traten immer offensichtlicher hervor. Schon 1883 waren die Chancen des zaristischen Rußlands bedeutend gesunken, das Battenbergische Bulgarien im Interesse der herrschenden Klassen Rußlands ökonomisch, politisch und militärisch ausnutzen zu können. 9 Die herrschenden Kreise Rußlands, denen zu einem großen Teil noch 1881 außerordentlich viel an der Vereinigung Bulgariens gelegen war, konnten daher bei dieser veränderten Situation jetzt nur noch dann an der Vereinigung des bulgarischen Fürstentums mit Ostrumelien — d. h. an einer weiteren Erstarkung Bulgariens — interessiert sein, wenn sich ihr Einfluß auf Bulgarien festigte und der Battenberger wieder gefügiger wurde oder aber zum Rücktritt gezwungen wurde. Das hätte aber die ganze Balkanfrage neu aufgerollt, die Widersprüche zwischen Österreich-Ungarn und Rußland wieder erheblich verschärft. Daran war jedoch den Leitern der zaristischen Diplomatie nicht gelegen. Sie hatten nicht die Absicht, die bulgarische Frage erneut hochzuspielen, sich noch aktiver in die bulgarischen Angelegenheiten einzumischen, den „rechtmäßig" herrschenden bulgarischen Monarchen zu beseitigen. Auch in diesem Fall klammerten sie sich an das Prinzip des Status quo und das Prinzip der Legitimität. Bei der für Rußland jetzt günstigeren internationalen Konstellation, der etwas verbesserten innen- und außenpolitischen Stellung des Zarismus und der veränderten Lage in Bulgarien war die Zweckmäßigkeit der Bedingungen des Dreikaiser„bündnisses" und seiner Zusatzprotokolle sowohl f ü r jene Kräfte in Rußland, welche zu einem aktiveren Vorgehen im Nahen Osten drängten, als auch für jene, die sich dem entgegenstellten, fraglich geworden. Es lag also nahe, daß sie beide die Bedingungen dieses „Bündnisses" zu verändern suchten. Hier gab es zwei Wege. Der eine bestand darin, daß man zu einer aktiveren Außenpolitik im Nahen Osten überging, die Kräfte innerhalb der Regierungs- und Hofkreise ausschaltete, die einer solchen Politik entgegenstanden, und daß man das Dreikaiser„bündnis" nur dann verlängerte, wenn es Rußland im Nahen Osten eine größere Handlungsfreiheit sicherte. Im anderen Falle, wenn man sich zu neuen diplomatischen oder militärischen Auseinandersetzungen um den Nahen Osten noch zu schwach fühlte, setzte man die alte Nahostpolitik fort und erneuerte das Dreikaiser„bündnis", aber verzichtete dann auf den Bulgarienparagraphen, der unter den gegebenen Bedingungen wertlos wurde, und schränkte auch gleichzeitig die Handlungsfreiheit Deutschlands gegenüber Frankreich und die ÖsterreichUngarns gegenüber Bosnien und der Herzegowina ein. In russischen Regierungskreisen, die in das Geheimnis des Dreikaiser„bündnisses" eingeweiht waren, entstanden schon 1883 über diese Frage lebhafte Auseinandersetzungen. Die Vertreter einer aktiveren Außenpolitik, an ihrer Spitze Saburov, glaubten verlangen zu können, daß — wenn man schon nicht ganz auf die Bindung an Deutschland und Österreich-Ungarn verzichten wollte — wenigstens den 9

Vgl. Skazkin, a. a. 0., Zweites Buch, Kapitel I sowie E. C. C. Corti, Alexander von Battenberg. Sein Kampf mit dem Zaren und Bismarck, Wien 1920, S. 109 f.

Auseinandersetzungen um die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

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Versuch machen sollte, die Bedingungen des „Bündnisses" in dieser oder jener Form für Rußland günstiger zu gestalten. Saburov sah schon Anfang des Jahres 1883 die Zeit gekommen, die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses" vorzubereiten und in diesem Zusammenhang zu erkunden, ob Bismarck bereit sei, den aggressiven Bestrebungen der herrschenden Klassen Rußlands in stärkerem Maße als 1881 entgegenzukommen und Rußland das Recht zu einer aktiveren Außenpolitik im Nahen Osten zuzugestehen. Ohne damit beauftragt worden zu sein, erklärte er Bismarck im Februar 1883, die zaristische Regierung würde während der Krönungsfeierlichkeiten ein Programm ihrer auswärtigen Politik u. a. im Nahen Osten aufstellen, und fragte ihn über seine Meinung zur Verlängerung des Dreikaiser„bündnisses". 10 Etwas später entwickelte er dem deutschen Botschafter in Wien, Reuß, seine Ideen über eine „Ausdehnung des alten Abkommens..., welches der Behandlung der orientalischen Frage näherzutreten haben würde", und über die Schaffung einer „Demarkationslinie zwischen dem Interessengebiet Rußlands und Österreichs". Ihm schwebte dabei ein Abkommen vor, „welches alle russischen Lieblingsträume zu realisieren verspräche". 11 Zur gleichen Zeit versuchte Saburov das russische Außenministerium und den Zaren davon zu überzeugen, daß „das politische Sternbild niemals so günstig gewesen wäre, die Lösung der Orientfrage durch ein vorheriges Abkommen mit den benachbarten Mächten vorzubereiten, wie im Augenblick". 12 Außerdem bemühte er sich darum, für die Aufteilung der Balkanhalbinsel zwischen Österreich und Rußland, zu welcher sich Bismarck im Interesse der russisch-deutschen Freundschaft nach Saburovs Meinung zweifellos bereit erklären würde 13 , Anhänger zu gewinnen. Saburov war überzeugt, daß Bismarck, um den russischen Verbündeten nicht zu verlieren, Rußland sofort große Zugeständnisse machen würde, falls der Zar es ablehnte, das Abkommen in der alten Form zu erneuern. 14 Er schlug vor, Deutschland nur noch den Besitz von Elsaß-Lothringen, nicht aber die russische Neutralität bei einem deutsch-französischen Krieg zu garantieren und von Deutschland eine größere Unterstützung der russischen Orientpolitik zu verlangen. 15 Er befürchtete für die nächsten Jahre einen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, welcher Frankreich erneut schwächen und das europäische Gleichgewicht ändern würde. Es sei daher nötig, entweder ein f ü r Rußland günstigeres Abkommen, das dessen Nahostinteressen besser Rechnung trüge, abzuschließen oder aber ganz auf das Abkommen zu verzichten. E r hoffte, mit Deutschland auch ohne den Vertrag gute Beziehungen aufrechterhalten zu können. 16 10 12 u 14

13 10

11 GP, Bd. III, Nr. 599. Ebenda, Nr. 603. Saburov an Giers, 25.1./6. II. 1883, in: Skazkin, a. a. 0 . , S. 334. ROLB, F. 169, p. 74, Nr. 21, Saburov an Miljutin, 27.1./8. II. 1888. Saburov an Giers, 12./24. II. 1883, in: Skazkin, a . a . O . , S. 336. — Über Bismarcks Stellung zu Saburovs Plänen vgl. GP, Bd. III, Nr. 609. Skazkin, a. a. O., S. 337. ROLB, F. 169, p. 74, Nr. 21, Saburov an Miljutin, 1./13. II. 1885.

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Saburov stand mit seinen Auffassungen über die Notwendigkeit eines energischeren außenpolitischen Kurses auch in dieser Zeit nicht allein. Mehrere Stimmen anderer prominenter Persönlichkeiten waren laut geworden, die entweder im Namen des Panslavismus eine aktivere Balkanpolitik oder namens der speziell an den Meerengen interessierten Kreise Rußlands Vorbereitungen zur Besetzung des Bosporus forderten. Zu ihnen war allerdings noch nichts von der Existenz eines Dreikaiser„bündnisses" gedrungen. Da war z. B. die gewichtige Stimme Katkovs nicht zu überhören, der im Sommer 1882 die russischen Staatsmänner daran erinnerte, daß Rußland — mit Deutschlands Hilfe — aus militärischen und ökonomischen Gründen (zur Entwicklung von Handel und Industrie) den Bosporus besitzen müsse.17 Da standen in der „Ree" die Aufrufe Aksakovs an die zaristische Regierung, die Aufständischen in Bosnien und der Herzegowina gegen Österreich-Ungarn zu unterstützen.18 Da gab es in der zaristischen Armee einflußreiche Offiziere, die nach neuen Kriegen, neuer persönlicher Macht und neuem Ruhm strebten. General Skobelev zum Beispiel, Held des Russisch-Türkischen Krieges, der Eroberer von Achal-Teke in Mittelasien und Liebling der russischen Panslavisten 19 , hielt im Februar 1882 in Paris während des Aufstandes in Bosnien und der Herzegowina vor serbischen Studenten, vielleicht sogar auf Veranlassung Ignat'evs20, eine Rede, in welcher er gegen Deutschland hetzte, Krieg der Slaven gegen die Teutonen und eine schnelle Lösung der Balkanfrage forderte.21 Er erklärte, damit im Namen der Moskauer Kaufleute zu sprechen. Obwohl sich Giers und Bunge, Orlov und Pobedonoscev gegen diese Rede wandten, wagte der Zar es nicht, den Forderungen der deutschen Diplomatie zu entsprechen und Skobelev für sein Verhalten ernstlich zu bestrafen.22 Zu sehr bangte ihm in dieser Zeit vor einem Neuaufflammen des Panslavismus in Rußland oder gar vor einem Militärputsch Skobelevs. Auch Ignat'ev trat wieder aktiv in Erscheinung. Er entwarf und besprach im Jahre 1883 „mit dem türkischen Botschafter in Petersburg einen russischtürkischen Allianzplan, der besonders für den Fall eines Krieges mit Österreich in Kraft treten sollte". 23 Unter den Diplomaten war es vor allem Nelidov (seit Juli 1882 als Berater, von Mai 1883 an als russischer Botschafter in Konstantinopel), der dem Zaren Rußlands Interesse an den Meerengen immer wieder in Erinnerung brachte. Er forderte im Dezember 1882 in einem Schreiben die Regierung auf, alles für die Eroberung der Meerengen vorzubereiten und diese in einem günstigen Augenblick, gegebenenfalls auch auf friedlichem Wege — durch ein Bündnis mit der Türkei — 17 18 19

20 21 23 23

Russkij Vestnik, Nr. 160, Juli 1882 (r.D.), S. 434. Vgl. Ree, 23.1. und 27. II. 1882 (r.D.) zitiert nach: Skazkin, a. a. 0., S. 208. Vgl. Pobedonoscev an Alexander III., 4./16. V. 1881, in: Pobedonoscev k Aleksandru III.. (1881), a. a. 0., S. 336 f., sowie Pobedonoscev i ego . . . , a. a. 0., S. 234. Grüning, a. a. O., S. 77. Ree' Generala Skoboleva . . . , a. a. O., S. 215 ff. Schweinitz, a. a. O., S. 183 ff. GP, Bd. V, Nr. 644.

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durchzuführen. Aus politischen, kommerziellen und militärischen Gesichtspunkten müsse Rußland die Meerengen besitzen. Mit der Eroberung der Meerengen sei Rußland in der Lage, seine Schwarzmeergrenzen zu schützen, ferner die kaukasischen Eroberungen endgültig zu sichern und einen entscheidenden Einfluß auf das Schicksal des Balkans und der Türkei zu gewinnen. Es könnte damit Österreich-Ungarns Drang nach dem Süden paralysieren, ja die Donaumonarchie vielleicht ganz vom Balkan verdrängen und außerdem Rußlands Verteidigungsbereitschaft an seiner Süd- und Westgrenze verstärken. 24 Es ist nicht bekannt, ob Saburov und Nelidov miteinander in Verbindung traten. Wahrscheinlich wußte Nelidov nichts von der Existenz des Dreikaiserbundes und über die Diskussionen zu dieser Frage. Giers war jedenfalls sehr daran gelegen, zu verhindern, daß Nelidov etwas von dem Vertrag und den damit verbundenen Problemen erfuhr. Offenbar fürchtete er, daß sich Saburov und Nelidov gemeinsam beim Zaren durchsetzen würden 25 , wozu — nach der Stellung des Zaren zu Nelidovs Gedankengängen zu urteilen — durchaus Veranlassung zu bestehen schien. 26 Giers hielt weder etwas von Saburovs noch von Nelidovs Plänen. Nach wie vor wollte er einen Zerfall der Türkei verhindern, den Status quo auf dem Balkan und in der Türkei erhalten 27 , seine Politik der äußersten Vorsicht und des Abwartens fortsetzen. Er befürchtete, Bismarck und Kälnoky könnten mißtrauisch werden, wenn Rußland neue Forderungen stellte, und womöglich auf das Abkommen mit Rußland verzichten, an dessen Erhaltung ihm unter allen Umständen gelegen war. 28 Er wollte auch jetzt noch nicht zu einer energischeren Nahostpolitik übergehen, obwohl sich hierfür in Rußland immer mehr Anhänger fanden. Außerdem sah Giers in Saburovs Auftreten eine persönliche Intrige gegen sich. Aus der Besorgnis, in Rußland könne über ihn die Meinung entstehen, er verhindere neue außenpolitische Erfolge Rußlands, befürchtete er, von seinem einträglichen Posten verdrängt zu werden. 29 Giers riet Saburov zur Vorsicht 30 und versuchte, die Verhandlungen über die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses" zunächst hinauszuzögern. 31 Beratung in Moskau

Während der Krönungsfeierlichkeiten in Moskau berief Alexander III. am 20. Mai (I.Juni) 1883 eine Beratung über das weitere Schicksal des Dreikaiser„bündnisses" ein, an der Giers, die Botschafter Lobanov und Saburov, der Mitarbeiter 24

36 27 28 29

30

ZapiskaA. I. Nelidovav 1882 o zanjatii prolivov, in: Krasnyj Archiv, Moskau 1931, 25 Bd. XLVI, S. 182 fi. GP, Bd. III, Nr. 602. Zapiska Nelidova ...,&. a. O., S. 182 ff. - Vgl. auch GP, Bd. III, Nr. 620. GP, Bd. III, Nr. 629. ROLB, F. 169, p. 74, Nr. 21, Saburov an Miljutin, 1./13. II. 1885. GP, Bd. III, Nr. 602 und 617; ROLB, F. 169, p. 74, Nr. 21, Saburov an Miljutin, 27.1./8. II. 1888. 31 Skazkin, a. a. 0., S. 337 GP, Bd. III, Nr. 602.

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des Außenministeriums, Jomini, sowie der inzwischen beurlaubte Miljutin teilnahmen. 32 Hier zeigte es sich, daß Saburov mit seinen Auffassungen selbst unter den wenigen russischen Staatsmännern, die vom Dreikaiser„bündnis" Kenntnis hatten, nicht alleine stand. Man war sich einig darüber, daß das Dreikaiser„biindnis" verlängert werden sollte. Lobanov, Rußlands Botschafter in Wien, trat deshalb für eine Verlängerung dieses Vertrages ein, weil er in ihm die beste Möglichkeit zur Erhaltung des Friedens in Europa und des Status quo im Nahen Osten sah (er wollte den Vertrag daher auch gleich auf sechs Jahre abschließen). 33 Miljutin dagegen hielt die Verlängerung des Vertrages für das beste Mittel, den Österreich-ungarischen Expansionsbestrebungen auf dem Balkan entgegenzutreten. 34 Saburov hielt es wahrscheinlich aus taktischen Gründen an diesem Ort nicht f ü r angebracht, seine Vorstellungen über einen eventuellen Verzicht auf den Vertrag hier vorzubringen. Über den Inhalt der anzustrebenden Abmachungen, über die Bedingungen des „Bündnisses" gab es auf der Beratung jedoch unterschiedliche Auffassungen. Saburov erklärte, es sei notwendig, das Abkommen in dem Sinn zu verändern, daß es ein völliges Gleichgewicht zwischen den Vorteilen f ü r Rußland und Deutschland schaffe. Der vorliegende Vertrag hingegen sei f ü r Deutschland wesentlich vorteilhafter als für Rußland: Deutschland erhielte volle Handlungsfreiheit im Westen; Rußlands Handelsfreiheit im Osten hingegen würde durch die Verpflichtung, sich mit Deutschland und Österreich-Ungarn zu verständigen, beeinträchtigt. Er schlug deshalb vor, Deutschland entweder völlige Handlungsfreiheit im Westen und Rußland dasselbe im Osten zuzugestehen oder aber Deutschlands Handlungsfreiheit im Westen ebenfalls einzuschränken. Rußland müsse von seinen Vertragspartnern das Recht erhalten, beim Zerfall der Türkei die Meerengen zu besetzen. Dadurch würde eine europäische Koalition gegen Rußland verhindert und England isoliert. Miljutin schloß sich diesen Auffassungen an. Lobanov hingegen hielt es f ü r verfrüht und gefährlich, die Frage der Meerengen jetzt aufzuwerfen. Er zweifelte — ebenso wie Giers — daran, daß Bismarck bereit sein würde, Rußland im Nahen Osten größere Rechte zuzugestehen. 35 Auch über den Bulgarienparagraphen des Abkommens gingen die Meinungen auseinander. Jomini und Lobanov waren für seine Beibehaltung und sahen in der Vereinigung Bulgariens auch jetzt noch das beste Mittel, um alle Schwierigkeiten in Bulgarien zu überwinden. Miljutin bezweifelte — auch hier in Übereinstimmung mit Saburov 36 — in der damaligen Situation die Nützlichkeit einer Vereinigung 32

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CGIAL, F. 1044, op. I, delo200, Protokoll der Beratung in Moskau vom 20. V./ I. VI. 1883, Bl. 3—6. Vgl. hierzu auch Fester, a. a. O., in: Grenzboten, a. a. 0., Nr. 17/18, 30. IV. 1921, S. 87 f. GP, Bd. III, Nr. 613. CGIAL, ebenda, Bl. 3. Ebenda, Bl. 4 - 6 . Saburov selbst nahm auf der Beratung zu dieser Frage offensichtlich nicht Stellung. Seine Meinung hat er aber in einem späteren Brief an den Zaren niedergelegt: CGIAL, F. 1044, op. I, delo 205, Saburov an Alexander III., 8./20. VII. 1888, Bl. 3 - 5 .

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Bulgariens 37 , weil die Stellung des Battenbergers zu Rußland zu ungewiß sei. Giers hingegen begründete seine ablehnende Haltung zur Vereinigung Bulgariens damit, daß Rußland durch sie in einen Krieg mit der Türkei gezogen werden könne, den er vor allem aus innenpolitischen Motiven vermeiden wollte. Im neuen Abkommen sollte daher die Erhaltung des Status quo in Bulgarien, Bosnien und der Herzegowina verankert werden. 38 Nach der Beratung in Moskau fuhr Saburov — der das Kräfteverhältnis im herrschenden Lager Rußlands offensichtlich verkannte — mit der Illusion nach Berlin zurück, daß seine Vorstellungen mit denen der „Mehrzahl der übrigen maßgebenden Stimmen" übereinstimmten 39 , und setzte seine alte Politik dort weiter fort. Entgegen seinen Erwartungen gewannen aber auch diesmal seine Gegner auf den Zaren den entscheidenden Einfluß. Trotz seiner Abneigung gegen ein „Bündnis" mit Österreich-Ungarn 40 , trotz seines Wohlwollens zu Nelidovs und Saburovs Plänen über die Eroberung der Meerengen 41 hielt der Zar ein endgültiges Abkommen über die Nahostfrage für verfrüht, weil Rußland zu dessen Realisierung noch nicht genügend vorbereitet sei. Auch wollte Alexander III. wohl in seinen ersten Regierungsjahren politische Komplikationen vermeiden. 42 Saburovs eigenwillige Politik mußte damit scheitern. Im November 1883 fuhr Giers im Auftrage des Zaren nach Berlin und zwei Monate später nach Wien, um Bismarck und Kälnoky zu versichern, daß Saburovs Ideen über das Schicksal der Türkei nichts als „unpraktische Fabeln" 4 3 seien. Mit Hilfe der anderen deutschfreundlichen Kräfte in den Regierungskreisen — des Fürsten Lobanov, des Fürsten Dolgorukij (russischen Militärbevollmächtigten in Berlin), des Grafen Peter Suvalov, des Grafen Adlerberg, des Fürsten Orlov, des Prinzen Kantakuzen (Giers' Neffen), ferner Bunges — und auch mit Unterstützung der mit deutschem Kapital verbundenen Petersburger Großbanken gelang es Giers, die Absetzung Saburovs durchzusetzen. 44 Saburovs Posten in Berlin nahm der bisherige russische Botschafter in Paris, Fürst Orlov, ein. Im März 1884 wurde das Dreikaiser„bündnis", abgesehen von einigen unbedeutenden Veränderungen (für die sich Giers aus Angst vor Bismarcks Mißtrauen bei diesem sogar noch entschuldigte und auf die er noch verzichtet hätte 45 ), auf Bismarcks Verlangen 37 38 39 40

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42

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5

Ebenda, delo 200, Protokoll der Beratung . .., Bl. 3. Ebenda, Bl. 4. - Vgl. GP, Bd. III, Nr. 601 und 612. GP, Bd. III. Nr. 605. GP, Bd. III, Nr. 628. - Vgl. ROLB, F. 169, p. 74, Nr. 21, Saburov an Miljutin, 27. I./ 8. II. 1888. Zapiska Nelidova . . a. a. 0., S. 182 ff. - ROLB, F. 169, p. 74, Nr. 21, Saburov an Miljutin, 1./13.II. 1885. ROLB, ebenda. - CGIAL, F. 1044, op. I, delo 200, Saburov an Giers, 14./26. H. 1884, Bl. 1. GP, Bd. III, Nr. 611 und 615. GP, Bd. III, Nr. 6 1 7 - 6 2 1 , 626. GP, Bd. III, Nr. 611 und 615; Sbornik dogovorov . . . , a . a . O . , S. 228 ff., 238 f.; Schweinitz, a. a. 0., S. 263; Haselmayr, a. a. 0., S. 119 ff. Bismarcks „Draht nach Bußland"

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag

sogar im wesentlichen zu den gleichen Bedingungen um weitere drei Jahre verlängert. Die Verlängerung des Dreikaiser„bündnisses" im Jahre 1884 war ein neuer Beweis f ü r die Schwäche des Zarismus, der sich immer noch nicht in der Lage fühlte, das Expansionsprogramm eines großen Teiles der herrschenden Klassen Rußlands zu erfüllen. Die zaristische Diplomatie bewahrte Rußland durch die Verlängerung des „Bündnisses" weiterhin vor der diplomatischen Isolierung, sie garantierte Rußland auch Deutschlands und Österreich-Ungarns wohlwollende Neutralität bei neuen Auseinandersetzungen mit England — besonders in Mittelasien —, und sie sicherte Rußland außerdem einen gewissen Einfluß auf das deutsch-österreichische Bündnis. Doch die beiden wichtigsten Zugeständnisse Österreich-Ungarns und Deutschlands auf außenpolitischem Gebiet — die Garantie einer Schließung der Meerengen gegenüber England und die Unterstützung der russischen Politik in Bulgarien, ja selbst die Versicherung Bismarcks, daß Deutschland keineswegs am Verbleiben des Battenbergers interessiert sei und nichts dazu tun würde, ihn dort zu halten 4 6 — konnten der zaristischen Nahostpolitik unter den gegebenen Bedingungen wenig nützen. Die zaristische Regierung war nicht in der Lage, zu einer aktiveren Politik im Nahen Osten überzugehen und das Schwinden ihres Einflusses auf Bulgarien zu verhindern. Die Unterzeichnung des Vertrages zu den fast gleichen Bedingungen wie im Jahre 1881 bot einen neuen Beweis dafür, daß die deutschfreundlichen, extrem monarchistischen Elemente des herrschenden Lagers in Rußland in der Außenpolitik noch tonangebend waren und die aggressivsten kapitalistischen und militaristischen Kräfte in Rußland noch nicht über den Einfluß verfügten, den sie wenige Jahre später errangen. Es war ein letzter — vergeblicher — Versuch, die „Freundschaft" der drei Monarchen zu verewigen 4 7 und die ökonomischen und politischen Widersprüche zwischen Österreich-Ungarn und Rußland auf dem Balkan zu überbrücken. Dieser Versuch wurde dadurch ermöglicht, daß die ökonomischen und politischen Widersprüche zwischen Rußland und seinen „Verbündeten" erst in den darauffolgenden Jahren ihren Höhepunkt erreichten. Erst im Jahre 1887 konnte es selbst ein Giers nicht mehr wagen, ein geheimes „Bündnis" mit Deutschland und Österreich-Ungarn abzuschließen. Für die herrschenden Klassen Deutschlands und Österreich-Ungarns war die Verlängerung des „Bündnisses" ein eindeutiger außenpolitischer Erfolg. Es verlängerte Bismarcks Vertragssystem auf weitere drei Jahre, trieb England und Rußland gegeneinander und isolierte Rußland von Frankreich. Es verschaffte Österreich-Ungarn „bei dem augenblicklichen guten Willen der dortigen (russischen — S. K.) Regierung f ü r einige Zeit Ruhe" ^ und ließ es Zeit gewinnen zur weiteren „friedlichen" Eroberung des Balkans. ,lß

GP, Bd. III, Nr. 632, 635; Waldersee, Denkwürdigkeiten . .., a. a. 0., S. 240. ''' In der Instruktion Giers' an Orlov über den Abschluß des Vertrages hieß es: „Der Vertrag sei wegen der wachsenden Gefahr der sozialen Revolution wertvoll." (Fester,. a. a. 0., in: Grenzboten, a. a. 0., Nr. 17/18, 30. IV. 1921, S. 89.) GP, Bd. III, Nr. 614.

Auseinandersetzungen um die Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses"

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Und ebenso schätzten nicht nur Saburov und Miljutin in der Regierung, sondern auch einflußreiche Stimmen in der russischen Öffentlichkeit die Annäherungsbestrebungen zwischen den drei Monarchien im Jahre 1884 ein. Während Teile jener liberalen Kreise Rußlands, die für eine friedliche Außenpolitik eintraten, in der Erneuerung des Dreikaiser,, bündnisses" eine Gefahr für den Frieden erblickten 49 , sahen die Panslavisten darin eine Schwächung des russischen Einflusses auf dem Balkan. Kireev, der offensichtlich im September 1884 von Katkov über den Inhalt des geheimen Dreikaiser,,bündnisses" informiert worden war 5 0 , beklagte sich darüber, daß „nicht nur keine Schwächung Österreichs in den Angelegenheiten des Ostens wahrzunehmen sei, sondern . . . sich im Gegenteil" zeige, „daß wir es zulassen, daß man uns in den Hintergrund drängt". 51 Aksakov befürchtete, Rußland habe in Skiernevice Österreich weitgehende Konzessionen gemacht. Er wandte sich in seiner Zeitschrift „Rus"' gegen die Einverleibung Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn und gegen ÖsterreichUngarns Herrschaftsansprüche auf dem Balkan. „Österreich wird die Balkanhalbinsel mit Schienen umgürten, Montenegro mit Festungen umzingeln, die Bulgaren und Serben sich ökonomisch unterwerfen, Bulgarien und Serbien und Makedonien mit jesuitischen Missionen überschwemmen, mit seinen Erziehungsanstalten, katholischer Propaganda, endlich deutschen Kolonisten — und wo bleiben wir?" 5 2 Auch aus seiner Antipathie gegenüber dem Deutschen Reich machte er keinen Hehl: „Wir kokettieren nur mit Deutschland, bis unsere polnischen Festungen fertig sind; das wird noch einige Jahre dauern, dann kann's losgehen." 53 Auch Katkov, der die Verbesserung der politischen Beziehungen zu Deutschland trotz der wachsenden handelspolitischen Gegensätze zwischen den herrschenden Klassen beider Länder damals noch für wünschenswert hielt, wenn das die Gefahr eines neuen Krieges um den Nahen Osten und die Gefahr innenpolitischer Komplikationen verringerte 54 und wenn das Rußland die Eroberung Mittelasiens garantierte, „beunruhigte . . . der Gedanke, ob man nicht beabsichtige, den günstigen Moment der freundschaftlichen Versicherung zu benutzen, um uns zur Sicherung des Friedens, der angeblich von irgendwem bedroht würde, die Erneuerung eines Dreikaiserbündnisses oder den Abschluß eines anderen Vertrages dieser Art abzulisten" 55 , der Österreich-Ungarns Positionen auf Kosten Rußlands auf dem Balkan stärken könne. 49

30 51

53 54 M

5*

C. Eichhorn, Die Geschichte der St. Petersburger Zeitung 1 7 2 7 - 1 9 0 2 , St. Petersburg 1902, S. 234. ROLB, F. 126, p. 10, Tagebuch Kireevs, Bl. 4 1 - 4 3 , 4 . / 1 6 . IX. 1884. ROLB, F. 120, p. 23, Bl. 3 - 4 , Kireev an Katkov, 1./13. XII. 1884. GP, Bd. III, Nr. 649. Ebenda. Russkij Vestnik, Nr. 161/2, Feb. 1884 (r.D.), S. 918. Katkov an Alexander III., 26. XII. 1886 (r.D.), in: Krasnyj Archiv, Bd. LVIII, Moskau 1933, S. 69 — E.deCyons Behauptung (Histoire diplomatique de l'Entente FrancoRusse [1886—1894], Paris 1895, S. 130), Katkov sei schon 1881 gegen das Dreikaiser„biindnis" aufgetreten, entspricht nicht den Tatsachen.

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag

Daß diese Stimmen in der rassischen Öffentlichkeit mit ihren Prophezeiungen über die Bedeutung des Dreikaiser,, bündnisses" für die russische Nahostpolitik recht behielten, sollte sich nur zu bald zeigen. Um die ganze Widersprüchlichkeit des Dreikaiser„bündnisses" jedoch voll zu erfassen, muß man sich zunächst noch einmal der Weiterentwicklung der handelspolitischen Widersprüche zwischen Deutschland und Rußland in der Mitte der achtziger Jahre zuwenden.

2. Die zollpolitischen

Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und in der Mitte der achtziger Jahre

Rußland

Mitte der achtziger Jahre, als es den Außenministern Rußlands, Deutschlands und Österreich-Ungarns nur mit Mühe und Not gelungen war, den Zerfall des Dreikaiser„bündnisses" um weitere drei Jahre hinauszuschieben, spitzten sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland auf wirtschaftlichem Gebiet zu und untergruben systematisch das von den Diplomaten mit so viel Geduld und Energie aufgerichtete Vertragswerk — unabhängig davon, ob diese das zunächst wahrhaben wollten oder nicht. Die zollpolitischen Differenzen zwischen den beiden Ländern erreichten ihren ersten Höhepunkt. Anfang der achtziger Jahre brach wiederum eine Krise aus 5 6 , die sich bis 1888 hinzog. Während der Krise und wegen der durch diese hervorgerufenen Absatzschwierigkeiten verstärkte sich in Rußland der Kampf der Industriebourgeoisie und in Deutschland der Kampf der Junker um erhöhten Zollschutz. Die Gegensätze zwischen der deutschen und der russischen Bourgeoisie auf dem russischen Absatzmarkt und die Konkurrenz zwischen den preußischen Junkern und den russischen Gutsbesitzern auf dem deutschen Absatzmarkt wuchsen stark an. Bereits 1884 und 1885 hatte die zaristische Regierung wiederum einige Fordederungen der russischen Großbourgeoisie befriedigt und die Zölle auf Roheisen und Kohle, auf Buntmetalle und deren Erzeugnisse, Eisenerz, landwirtschaftliche Geräte, Eisenwaren, Maschinen und Schiffe u . a . erhöht. 57 Im Mai 1885 hatte Bismarck seinerseits im Reichstag einen neuen Zolltarif 5 8 durchgesetzt, der die 56

57 58

S. A. Pervushin, Cyclical Fluctuations in Agriculture and Industry in Russia, 1862 bis 1926, in: Quarterly Journal of Economics, vol. XLII, Cambridge Mass. 1928, 563 ff. Sobolev, a. a. 0 . , S. 512 ff., 575 ff. Der ursprüngliche Plan Bismarcks, Kampfzölle gegenüber Rußland und anderen Ländern vorzubereiten, welche den deutschen Export mit hohen Zöllen belastet hatten, •war damit gescheitert. Bismarck konnte es angesichts der Stimmung im Reichstag und offensichtlich auch aus außenpolitischen Motiven nicht wagen, eine derartige Maßnahme in Angriff zu nehmen. Statt dessen wurde eine neue allgemeine Erhöhung der Agrarzölle vorbereitet. (DZA/Potsdam, RK, 422, Bl. 1 7 8 - 1 9 9 , Briefwechsel zwischen Burchard und Bismarck, 11.—31. X. 1882). Die allgemeine Erhöhung der Agrarzölle sollte

Zollpolitische Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Rußland

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Zollabgabe für 100 kg Weizen und Roggen von einer auf drei Mark erhöhte und die Holzzölle verdoppelte. Auch andere Teile des russischen Exports nach Deutschland wurden von dem neuen Tarif empfindlich getroffen. Ein Jahr später war der russische Roggen- und Weizenimport nach Deutschland im Vergleich zum Jahre 1884 um etwa 5 0 % gesunken.59 Doch auch mit diesem verstärkten Schutz gaben sich weder die russischen Großindustriellen noch die preußischen Junker zufrieden. Ende 1885 und Anfang 1886 wurden in Rußland erneut energische Forderungen nach weiteren Zollerhöhungen laut. Auf Veranlassung der Gesellschaft zur Förderung von Industrie und Handel trat mit Einwilligung des Zaren und unter Leitung des Domänenministeriums im November 1885 in Petersburg ein Kongreß russischer Eisenindustrieller zusammen, an dem Vertreter der Schwerindustrie, der Börsenkomitees, der Gesellschaft zur Förderung von Industrie und Handel, der Russischen Technischen Gesellschaft sowie der wichtigsten Ministerien teilnahmen. Im Mittelpunkt der Beratung stand die Lage der zentralrussischen Eisenindustrie, deren Absatzschwierigkeiten nicht mit ihrer Rückständigkeit begründet wurden, sondern vielmehr mit der ausländischen Konkurrenz und mit der Rivalität der Hüttenwerke an der polnischen Westgrenze, welche mit wesentlich moderneren Methoden als die Schwerindustrie des Uralgebietes 60 arbeiteten. Die Mehrheit des Kongresses setzte sich dafür ein, daß im Laufe von sieben Jahren eine jährliche Herabsetzung der Importquote für Roheisen um 1,5 Mill. Pud zu einem sukzessiven Roheisenverbot führen werde und daß die Zölle für Eisen zu erhöhen seien. Viele Kongreßteilnehmer forderten außerdem ein Einfuhrverbot für Schiffe und wandten sich gegen Auftragserteilungen der zaristischen Armee und Marine im Ausland. Ostrovskij, der Leiter des Domänenministeriums, erklärte sich mit den Forderungen auf Erhöhung der Roheisenzölle einverstanden und bemühte sich darum, den Antrag schnellstens dem Reichsrat zu übergeben.61 aber ursprünglich mit Zollermäßigungen f ü r Österreich-Ungarn verbunden werden, um zu garantieren, daß der Reichstag den Antrag „aus Scheu vor der Verantwortung, ein näheres handelspolitisches Verhältnis mit jenem Reich verhindert zu haben", nicht ablehnt, „der bestehenden politischen Intimität" entsprochen würde und die „österreichische Kornkammer zur Verfügung Deutschlands" gehalten würde. (Ebenda, Bl. 195, Burchard an Bismarck, 27. X. 1882; Bl. 199, Bismarck an Burchard, 31. X. 1882, Entwurf; ebenda, RSchA, 4214, Bl. 4 6 - 4 7 , Bismarck an Scholz, 16. VI. 1880.) 59 DZA/Potsdam, RSchA, 4215, Bl. 1 1 2 - 1 1 3 , Zusammenstellung der Einfuhren von Rußland nach Deutschland f ü r die wichtigsten Warenartikel von 1884 bis 1889; ebenda, Rdl, 4927, Bl. 44, E i n f u h r der wichtigsten Warenartikel aus Rußland in Deutschland von 1884 bis 1886 (Anlage zu Abschrift des Gutachtens Jacobis betr. die abermalige Erhöhung des russischen Eingangszolls auf Roheisen, 18.11. 1887). 60 Vgl. W. I.Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, in: Lenin, Werke Bd. 3, Berlin 1956, Kap. VIl/4. 61 CGIAL, F. 1152, op. X, delo 148, Bl. 6 - 7 , Vysnegradskij an Staatsrat, 14./26. III. 1 8 8 7 . Vgl. DZA/Potsdam, RDI, 5017, Bl. 1 1 7 - 1 2 7 , Mohl an Bismarck, 3 0 . 1 . 1 8 8 6 . - Die Haltung des Domäneministers erklärt sich dadurch, daß die staatliche Uraler Schwerindustrie ebenso wie die private an erhöhtem Schutz interessiert war.

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag

Gleichzeitig wandten sich Vertreter der Uraler Schwerindustrie mit Bittschriften an Bunge und forderten Erhöhung der Roheisen- und Stahlzölle. 62 Diese Entwicklung in Rußland, über die man in Deutschland sehr genau unterrichtet war, mußte mit den Interessen der deutschen Schwerindustriellen um so mehr kollidieren, als die häufigen Erhöhungen der Schutzzölle in Rußland ohnehin nicht ohne Einfluß auf den deutschen Export nach Rußland geblieben waren. Obwohl Deutschland im russischen Import nach wie vor den ersten Platz einnahm, sank die Gesamtexportsumme Deutschlands nach Rußland von 300 Mill. Mark im Jahre 1880 auf 206,3 Mill. Mark im Jahre 1886. Die Stellung Rußlands im Gesamtexport Deutschlands fiel von 7,3 auf 4,5 % . 6 3 Besonders stark ließ der Export der deutschen Schwerindustrie sowohl in Rheinland-Westfalen als auch in Oberschlesien nach. Während der Anteil z. B. der eisenerzeugenden und eisenverarbeitenden Industrie am Export nach Rußland im Jahre 1880 etwa 2 0 % ausmachte, sank er bis zum Jahre 1886 auf knapp 1 0 % . Der Export von Eisendraht und Eisenbahnschienen ging fast völlig, der von Schmiedeeisen, Lokomotiven und Kesseln sehr stark zurück. 64 Nur wenige Erzeugnisse der deutschen Schwerindustrie, vor allem Roheisen, Maschinen und Werkzeuge, konnten nach wie vor in starkem Maße nach Rußland ausgeführt werden. Im Jahre 1883 entfielen noch 1 5 % des ganzen russischen Roheisenimports und 3 5 % des Maschinenimports auf Deutschland, das 1886 noch 2 8 % seines Roh62

CGIAL, ebenda, Bl. 7 - 9 . Kuczynski/Wittkowski, a. a. O., S. 27. 64 DZA/Potsdam, RDI, 4858, Bl. 135, Boetticher und Scholz an Bismarck, 13. XII. 1886; RSchA, 3399, Bl. 109, Schweinitz an Bismarck, 6. VI. 1887; DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII, 6a, Nr. 35, Adh. 2, Bd. I, Bl. 37, Vereinigte Königs- und Laurahütte an Caprivi, 28. III. 1891. — Von den russischen Zollerhöhungen auf Walzdraht wurde besonders die Schwerindustrie Westphalens getroffen. Westphälische Großbetriebe besaßen in Petersburg und Riga Filialen, welche bis 1882 nur deutschen Walzdraht verarbeitet hatten. Sie hatten sich, als Rußland die Zölle auf Walzdraht erhöhte, über den Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller mit der Bitte um Hilfe an Bismarck gewandt. (DZA/Potsdam, Rdl, 4923, Bl. 58—59, Telegramm vom Vorsitzenden des Vorstandes der deutschen Walzdrahtfabrikanten, Eduard Becker, an Rdl, 21. VI. 1882, ebenda, Bl. 62, Generaldirektor der „Westphälischen Union", H. Kamp, an Boetticher, 17. VI. 82, ebenda, Bl. 83, Goering an Boetticher, 20. VII. 1882.) Die russischen Schutzzölle waren ziemlich hoch. 63

Höhe der russischen Schutzzölle in Prozent zum Wert Roheisen Eisen in Blättern und Tafeln Gußeisenwaren Maschinen und Apparate Eisen- und Stahlfabrikate Sensen, Sicheln, Werkzeuge

(1885)

120% 83 % 125—137% 43 % 13 7 % 27—30 %

(DZA/Potsdam, RSchA, 3399, Bl. 109-110, Schweinitz an Bismarck, 6. VI. 1887).

Zollpolitische Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Rußland

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eisenexports nach Rußland lieferte, wobei 80—90% aus der oberschlesischen Schwerindustrie kamen. 65 Export einiger wichtiger Ausfuhrprodukte der deutschen Schwerindustrie nach Rußland (1880 und 1884) 66 Roheisen aller Art Brucheisen und Eisenabfälle Schmiedbares Eisen in Stäben Eisenbahnschienen Rohe Platten und Bleche aus schmiedbarem Eisen Eisendraht Lokomotiven und -mobilen Ambosse und Schraubstöcke Maschinen aller Art Feine Eisenwaren Grobe Eisenwaren

1880 1,435 Mill. M 0,664 Mill. M 7,808 Mill. M 3,450 Mill. M

1884 3,306 Mill. M 0,037 Mill. M 2,830 Mill. M 0,080 Mill. M

3,036 Mill. M 5,469 Mill. M 4,245 Mill. M 1,093 Mill. M 12,458 Mill. M 1,780 Mill. M 7,195 Mill. M

2,314 Mill. M 0,184 Mill. M 0,840 Mill. M 0,292 Mill. M 7,398 Mill. M 1,772 Mill. M 12,578 Mill. M

Es waren daher vor allem die deutschen Schwerindustriellen, die die neuen Schutzzollforderungen der russischen Großbourgeoisie mit aller Entschiedenheit bekämpften und von der deutschen Regierang immer energischer forderten, die zaristische Regierung zum Verzicht auf weitere Zollerhöhungen und zur Rücknahme der bestehenden Schutzzölle zu veranlassen. Die deutsche Regierung sah sich nun gezwungen, Gegenmaßnahmen vorzubereiten. Auf Bismarcks Veranlassung verfaßte der Leiter der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, v. Berchem, am 13. April 1886 ein Promemoria. Er schlug darin vor, Rußland nicht nur Kampfzölle auf seine Getreide- und Holzeinfuhr nach Deutschland anzudrohen, sondern auch die gerade vom russischen Finanzminister vorbereitete Konversion der russischen Staatsschuld 67 in Deutschland zu verhindern. Dadurch sollte Rußland gezwungen werden, den zollpolitischen Status quo aufrechtzuerhalten, den Differentialzoll auf Kohlen 68 zu beseitigen und sich zu verpflichten, „innerhalb der nächsten fünf Jahre die Zollsätze für Eisen und Eisenwaren aller Art, Maschinen, Kohlen, Salz, Mauer- und feuerfeste 165

m

68

Ebenda, Rdl, 4858, Bl. 135, Boetticher und Scholz an Bismarck, 13. XII. 1886; ebenda, 5017, Bl. 118—120, Resolution des Kongresses russischer Eisenindustrieller, Nov. 1885; ebenda, 4927, Bl. 159, Gutachten Jacobis für Bismarck, 14. V. 1887; ebenda, RSchA, 3399, Bl. 109, Schweinitz an Bismarck, 6. VI. 1887. DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII, 6a, Nr. 27, Vol. 43, Bl. 160-205, Kaiserliches 67 Statistisches Amt an Bismarck, 31. V. 1886. Vgl. Kap. Hl/2. Rußland erhob Differentialzölle für Kohle. Die Zölle für den Kohlenimport über die westliche Landgrenze, über die die meiste deutsche Kohle geliefert wurde, waren dabei besonders hoch. Insgesamt deckte Deutschland, und hier vor allem Oberschlesien, aber nur den fünften Teil von dem russischen Kohlenimport, der aus England kam. (V. I. Pokrovskij, Sbornik svedenija po istorii i statistiki vnesnej torgovly Rossi, St. Petersburg 1902, S. 236 f.)

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Zwischen Dreikaiser»bündnis" und Rückversicherungsvertrag

Steine, Gips und Zement, Baumwollen-, Wolle-, Seidengarne und -waren nicht zu erhöhen und keinerlei Einfuhrverbote für diese Artikel einzuführen" 69. Diesem Vorschlag schloß sich der preußische Finanzminister v. Scholz am 19. April 1886 an. Fünf Tage später erhielt die Botschaft in Petersburg vom Auswärtigen Amt den Auftrag, „an geeignet scheinender Stelle in amtlicher Weise zu erklären, daß, falls der bestehende Differentialzoll auf Kohlen beibehalten oder die Einfuhr unserer wichtigeren Einfuhrartikel weiteren Zollerhöhungen, einer differentiellen Behandlung oder Einfuhrverboten unterworfen werden sollte, wir zu unserem Bedauern gezwungen sein würden, die russische Einfuhr auf Getreide, Holz und Borstenvieh nach Deutschland mit Retorsionszöllen zu belegen" 70 Bismarck hielt es demnach nicht für ratsam, Rußland gegenüber gleich alle Karten auf den Tisch zu legen. Er drohte ihm mit Kampfzöllen. Doch die Aktionen gegen den russischen Staatskredit wollte er sich offensichtlich für eine spätere Gelegenheit aufbewahren, zumal sich ihm jetzt die Möglichkeit bot, Rußland neben der Peitsche auch das Zuckerbrot anzubieten. Mitte Mai 1886 hatte Bismarck eine Unterredung mit dem russischen Botschafter Paul Suvalov, in deren Verlauf er die wohlwollende Neutralität Deutschlands gegenüber den russischen Einflußbestrebungen in Bulgarien anbot und dafür von Rußland Zollzugeständnisse forderte.71 Innerhalb der zaristischen Regierung entbrannten nun heftige Auseinandersetzungen. Einige einflußreiche Großagrarier und einige Staatsmänner nahmen Deutschlands Drohung mit Kampfzöllen und sein diplomatisches Angebot zum Anlaß, die geplanten neuen Zollerhöhungen zu verhindern. Peter Suvalov und Graf Dmitrij Tolstoj versuchten im Staatsrat, die Beratung der neuen Zollerhöhungen auf den Herbst zu verschieben.72 Sie wurden bei diesem Vorhaben von Außenminister Giere unterstützt, dem gerade jetzt, angesichts der Versprechungen Bismarcks über Deutschlands Haltung in der Bulgarienfrage, an guten Beziehungen zwischen den beiden Monarchien gelegen war. Dieser Gruppe schloß sich auch der damalige Finanzminister Bunge an. Bunge wollte im Interesse der ökonomischen Forderungen der russischen Gutsbesitzer sowie aus fiskalischen Gründen (wegen der Handels- und Zahlungsbilanz) den Verlust des deutschen Marktes für den russischen Export verhindern. Er befürchtete außerdem, den Kredit bei den deutschen Banken und ihre Unterstützung bei der Realisierung der russischen Staatsschuld in Deutschland zu verlieren. Er stand deshalb den neuen Forderungen der russischen Hüttenindustriellen abwartend gegenüber. Im März 1886 beriet eine Kommission im Finanzministerium die Anträge der Eisenindustrie und lehnte sie zunächst ab. 73 69

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DZA/Potsdam, Rdl, 4858, Bl. 5—15, Promemoria Berchems über die russischen Zollerhöhungen, 13. IV. 1886. Ebenda, RSchA, 4215, Bl. 30—34, Geheimer Aktenauszug aus den Akten des Auswärtigen Amtes für das Reichsschatzamt, 14. IX. 1886. Istorija Diplomatii, a. a. O., S. 241 f. DZA/Potsdam, Rdl, 4926, Bl. 135, Bülow an Bismarck, 14. V. 1886. CGIAL, F. 1152, op. X, delo 148, Bl. 1 0 - 1 2 , Vysnegradskij an Staatsrat, 14./ 26. III. 1887. — Diese Haltung Bunges erklärt sich auch dadurch, daß er die Absatz-

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Anfang Mai richtete Paul Suvalov ein Schreiben an Giers, worin er Verhandlungen mit Deutschland über Zollfragen vorschlug. Bunge, von Giers informiert, erklärte sich damit einverstanden und war sogar zu einigen Zugeständnissen an Deutschland bereit, wenn die deutsche Regierung dafür den Import aus Rußland erleichterte. Er bat Paul Suvalov, Deutschlands Forderungen und Angebote in Erfahrung zu bringen. 74 Ende Mai gab die zaristische Regierung ihre Absicht, die Eingangszölle auf Eisen, Roheisen und Kohle zu erhöhen, vorläufig auf 7 5 , und zwar mit der Begründung, daß die neuen Zollprojekte Rußlands „in Deutschland starken Eindruck gemacht hatten". Bunge hoffte, f ü r eventuelles Entgegenkommen auf Kosten der russischen Schwerindustrie von Deutschland Zugeständnisse für den russischen Export nach Deutschland zu erhalten. 76 Unter dem Druck der deutschen Drohungen und Angebote hatten somit zunächst die Interessen der Gutsbesitzer und der deutschfreundlichen Kreise Rußlands gesiegt. Es war ihnen gelungen, für eine gewisse Zeit die weitere Verschärfung der handelspolitischen Gegensätze zwischen Deutschland und Rußland zu verhindern. Diese Nachricht vom Rückzug der zaristischen Regierung rief in den protektionistischen Kreisen Rußlands einen Sturm der Entrüstung hervor. Katkov begann im Juni eine Pressekampagne gegen Deutschland und die russischen Staatsmänner, die mit Deutschland sympathisierten, vor allem gegen Giers und Bunge. Er forderte die sofortige Erhöhung des Eisenzolls, kritisierte das Nachgeben gegenüber Deutschlands Drohungen und trat gegen die politische Freundschaft mit Deutschland auf. 77 Auch die „Novoe Vremja" wandte sich gegen die Kapitulation vor den deutschen Forderungen. Die zaristische Diplomatie ließ sich dadurch aber nicht einschüchtern. Vielmehr versuchte sie nun, eine handelspolitische Vereinbarung zwischen Deutschland und Schwierigkeiten der russischen Hüttenindustrie damals nicht auf die deutsche Konkurrenz, sondern auf die Überproduktion in Rußland und das Sinken der Preise für Metall im Ausland schob. — Bunge erwies sich den deutschen Interessen gegenüber auch auf anderem Gebiet als sehr zugänglich. So war er bereit, über ein für Rußland sehr ungünstiges Angebot der deutschen Regierung zu verhandeln, statt es abzulehnen, demzufolge Deutschland seine Eisenbahntarife für russisches Erdöl senken wollte, wenn Rußland seine Tarife für deutsche Einfuhrwaren: Eisen, Eisenwaren, Zink, Blei, Zement, Blausäure u. a. im Interesse der deutschen Industrie senken würde. (CGIAL, F. 268, op. I, delo267, Bl. 2—10, Briefwechsel zwischen dem Verkehrs- und dem Finanzministerium, Januar 1885 — Februar 1886.) 7 '* AVPR, F.II, dep. 1 - 5 , p. III, 1886, delo Nr. 22, Bl. 1 - 7 , Bunge an Giers, 31. V./ 12. VI. 1886. 75 DZA/Potsdam, Rdl, 4858, Bl. 2, Berchem an Boetticher, 28. V. 1886. - Diese Nachricht wurde wenige Tage später von der preußischen Regierung dem Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller streng vertraulich mitgeteilt. (DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII, 6a, Nr. 27, Vol. 43, Bl. 112, Reichardt an Bismarck, 31. V. 1886.) 70 CGIAL, F. 40, op. I, delo 38, Bl. 8 3 - 8 4 , Vortrag Bunges an den Zaren, 6./18. VI. 1886. 77 Russkij Vestnik, Nr. 183/2, Juni 1886 (r.D.), S. 9 1 3 - 9 1 9 ; Nr. 184/1, Juli 1886 (r.D.), S. 457—462; Moskovskie Vedomosti, 1886, Nr. 197 und Nr. 221. - Vgl. auch GP, Bd. V, Nr. 977, sowie DZA/Potsdam, Rdl, 4858, Bl. 73, Bülow an Bismarck, 22. IX. l'886.

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag

Rußland herbeizuführen, welche die alten Gegensätze mildem und neuen zollpolitischen Konflikten endgültig einen Riegel vorschieben sollte. Giers beauftragte im Juni 1886 Paul Suvalov damit, der deutschen Regierung die russische Bereitschaft zu einem Zollabkommen mit Deutschland zum Ausdruck zu bringen, welches seiner Meinung nach allerdings n u r dann abgeschlossen werden könnte, wenn Deutschland zu Zugeständnissen an den russischen Getreide-, Holz- und Erdölimport bereit wäre. Im Juli 1886 wandte er sich selbst an das Auswärtige Amt. 7 8 Zur gleichen Zeit regte auch Paul Suvalov in Berlin mehrmals Unterhandlungen zwischen den beiden Regierungen an, „damit dem Gegensatz auf wirtschaftlichem Gebiet die Schärfe genommen werde". E r forderte f ü r russische Zugeständnisse „ein volles Äquivalent" deutschen Entgegenkommens, wobei er betonte, daß „Gefahr im Verzuge nicht vorliege, wenn nur in den nächsten Monaten ein Einverständnis erzielt werde. Seiner sicheren Überzeugung nach würden allerdings im Spätherbst in Rußland Zollerhöhungen vorgenommen werden", wenn der Reichsrat seine Tätigkeit wieder aufnähme. 7 9 Mitte August 1886 hatte Rußland, gedeckt durch Bismarcks mehrmalige Neutralitätsversicherungen, seine Politik in Bulgarien aktiviert und den Battenberger gestürzt. Jetzt glaubte man in Deutschland wohl erwarten zu dürfen, daß Rußland nach diesem mit Bismarcks „Hilfe" verstärkten Engagement in Bulgarien nicht den Mut haben würde, es mit Deutschland, und sei es auch nur auf handelspolitischem Gebiet, zu verderben, zumal sich Bismarck auch in der Frage des Batumer Freihafens so „großzügig" gezeigt hatte. Die Bedingungen zu Verhandlungen schienen günstig. Bismarck ging auf Suvalovs Angebot ein. E r ließ ihm — und gleichzeitig auch v. Schweinitz — mitteilen, daß Deutschland zu Verhandlungen bereit sei, „sobald dieser Gedanke russischerseits in amtlicher Form zum Ausdruck gebracht würde". E r kam damit den agrarischen, deutschfreundlichen Kreisen Rußlands, der wichtigsten sozialen Stütze der deutsch-russischen Freundschaft in Rußland, auf wirtschaftlichem Gebiet etwas entgegen und hätte ihre Position im Lande festigen können, wenn er zu ernsthaften Kompromissen bereit gewesen wäre. Die Rücksicht auf die preußischen Junker hinderte ihn jedoch hieran. Deshalb betonte er von vornherein, daß Deutschland seine Agrarzölle keinesfalls rückgängig machen könne. 80 Die geplanten Verhandlungen wurden auf deutscher Seite mit großer Sorgfalt vorbereitet. Ende August erhielt der Minister des Innern vom Auswärtigen Amt den Auftrag, zusammen mit dem Reichsschatzamt, dem preußischen Ministerium f ü r Handel und Gewerbe und dem Finanzministerium die zollpolitischen Wünsche Deutschlands gegenüber Rußland zusammenzutragen. 81 Die vier Minister stützten sich dabei vor allem auf die zahlreichen Eingaben der rheinisch-westfälischen 78

79

80 81

AVPR, F. Berlinskoe Posol'stvo, op. 509 a , delo3735, 1886, Giers an Suvalov, 11./ 23. VI. 1886; ebenda, Bl. 4, Giers an Berchem, 7./19. VII. 1886. DZA/Potsdam, RSchA, 4215, Bl. 33—34, Geheimer Aktenauszug aus den Akten des Auswärtigen Amtes für das Reichsschatzamt, 14. IX. 1886. Ebenda, Rdl, 4858, Bl. 31, Berchem an Boetticher, 25. VIII. 1886. Ebenda.

Zollpolitische Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Rußland

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und der oberschlesischen Schwerindustrie sowie anderer Teile der deutschen Industrie. Das Reichsschatzamt forderte eine Bindung, möglichst aber eine „Ermäßigung der russischen Zollsätze, namentlich derjenigen auf Eisendraht, Eisenbahnschienen, schmiedbares Eisen in Stäben, Platten und Blechen, Lokomotiven und Maschinen aller Art", auf Roheisen und Textilien. Weiterhin verlangte es die Bindung der Zölle auf chemische Waren und setzte sich im Interesse der oberschlesischen Kohlenindustrie für die Beseitigung des Differentialzolls auf Steinkohle ein. 82 Diesen Forderungen schlössen sich im wesentlichen auch die beiden preußischen Ministerien an. 83 Alle drei Ministerien vertraten also in gleicher Weise die Interessen der deutschen Großbourgeoisie, vor allem ihres schwerindustriellen Flügels, und unterstützten damit deren Bestrebungen, sich den riesigen russischen Absatzmarkt auf Kosten der russischen Industrie zu erhalten bzw. wiederzuerobern. Sie gingen dabei in ihren Forderungen insofern noch weiter als Berchem in seinem Promemoria vom April, als sie nicht nur Bindung, sondern Ermäßigung der russischen Zölle forderten. In der Frage der Zugeständnisse Deutschlands an Rußland waren sich die drei Minister aber nicht ganz einig. Während die beiden preußischen Ministerien sich damit begnügen wollten, Rußland Zugeständnisse auf dem Gebiet seiner Petroleum-, Flachs- und Hanfeinfuhr nach Deutschland zu machen 84 , ging das Reichsschatzamt noch einen Schritt weiter. Nach Burchards Vorschlag sollte „Deutschland unter der Voraussetzung, daß seine Getreidezölle im Laufe der beiden nächsten Jahre nicht erhöht werden, sich f ü r die Dauer eines auf etwa auf zwei Jahre abzuschließenden Vertrages zur Bindung dieser Zölle . . . bereit finden lassen". Außerdem zog er in Erwägung, Rußland das Recht der Meistbegünstigung anzubieten. Rußland würde dadurch „nicht nur gegen eine différentielle Begünstigung der österreichisch-ungarischen Getreideeinfuhr während der Vertragsdauer sichergestellt, sondern auch durch die Beseitigung der Gefahr eines handelspolitischen Zerwürfnisses mit Deutschland einen besseren Boden f ü r seine Konvertierungspläne erhalten" 85 . Die Vorschläge Burchards stießen bei den beiden preußischen Ministern und bei Bismarck selbst auf Ablehnung. 86 Es lag nicht im Interesse der preußischen Junker, auf ihre Kosten, durch Bindung der Agrarzölle, den deutschen Industriellen russische Zugeständnisse zu erkaufen. Aus diesem Grunde wandte sich auch Bismarck gegen einen solchen Vorschlag; 82 H:i 8/1

85 86

Ebenda, Bl. 58—60, Aschenborn an Boetticher, 14. IX. 1886. Ebenda, Bl. 134-148, Scholz und Boetticher an Bismarck, 13. XII. 1886. Ebenda. — Vgl. hierzu auch ebenda, RSchA, 4215, Bl. 37, Schraut an H. v. Bismarck, 22. IX. 1886. Ebenda, Bl. 3 7 - 3 8 . Ebenda, Rdl, 4858, Bl. 7 1 - 7 2 , H. v. Bismarck an Jacobi und Boetticher, 7. X. 1886; ebenda, Bl. 141-142, Scholz und Boetticher an Bismarck, 13. XII. 1886.

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag

er wollte die Vorteile des Bündnisses zwischen Großbourgeoisie und Junkern f ü r die Junker nicht antasten, zumal ihm an diesen Vorteilen selbst viel lag. E r lehnte es ab, auf dem Gebiet der Agrarzölle die Interessen der Junker zugunsten der der Großbourgeoisie zu opfern, selbst wenn bestimmte Industriellenkreise ein solches Vorgehen für richtig hielten. Außerdem sah Bismarck im Agrarschutzzoll sowie in der differentiellen Behandlung Rußlands seit nunmehr fast zehn Jahren das beste Mittel, den immer energischer erhobenen Forderungen der deutschen Industriellen nach Rückeroberung und Erweiterung des russischen Absatzmarktes nachzukommen und Rußland durch die Androhung von Kampfzöllen auf seine Agrarprodukte im Interesse vor allem der deutschen Schwerindustrie zur Kapitulation zu zwingen. Er wollte dieses Mittel, das sich gerade 1886 bewährt hatte, auf keinen Fall aus der Hand geben. Jegliche freihändlerische Tendenz, die das Bündnis der beiden Klassen anzutasten suchte und Bismarck seines Druckmittels gegenüber den Konkurrenten der deutschen Industrie in Rußland zu berauben drohte, wurde bekämpft. Offenbar in Zusammenhang auch mit dieser Frage nahm der Staatssekretär des Reichsschatzamtes, Burchard, Ende September seinen Abschied. 87 Anfang Oktober wurde aus Petersburg berichtet, daß der Reichsrat bald wieder zusammentreten und über die Zollerhöhung auf Roheisen und Eisenfabrikate beraten würde. 88 Um das zu verhindern, wurde die Deutsche Botschaft in St. Petersburg angewiesen, Deutschlands „Bereitwilligkeit zum Eintritt in die vom Russischen Botschafter selbst vorgeschlagenen kommissarischen Zolltarifunterhandlungen der russischen Regierung gegenüber zum Ausdruck zu bringen und die Entsendung eines russischen Delegierten hierher vertraulich anzuregen". 89 Im Oktober und November arbeitete eine Regierungskommission nach Bismarcks Vorschriften die Instruktion für die deutschen Vertreter bei den Verhandlungen aus. Um die Gegner Deutschlands in Rußland nicht unnötig zu reizen und zugleich, die Stellung der deutschfreundlichen Kräfte zu festigen, wurde den Forderungen der deutschen Großbourgeoisie nur in geringem Maße entsprochen. Vorläufig sollten „nur die Beseitigung des russischen Differentialzolles auf die Kohleneinfuhr" und „die Abwendung einer etwaigen weiteren Verschlechterung der jetzigen Lage unseres Exports nach Rußland", nicht aber die Senkung der bestehenden Zölle angestrebt werden. Wiederum wurde betont, daß Deutschland „keine Konzessionen von irgendwelcher Bedeutung", namentlich auf dem Gebiet der Agrarzölle, machen könne und daher die Zugeständnisse Rußlands durch die Androhung von „Kampfzöllen gegen alle russischen Produkte, in erster Linie auf 87

88 89

Ebenda, RK, 1620, Bl. 7 1 - 7 4 , Abschiedsgesuch Burchards vom 17. IX. 1886. Burchard hatte sich übrigens schon im Jahre 1884 gegen eine Erhöhung der deutschen Roggenzölle und eine differentielle Behandlung Rußlands gewandt, was damals die „Nationalzeitung" und der „Börsencourier" unterstützt hatten. (DZA/Merseburg, Rep. 87B, Adh. I, Nr. 6972, Bd. 1, Bl. 122, Nationalzeitung, 30. XI. 1884; ebenda, Bl. 128, Börsencourier, 4. XII. 1884.) DZA/Potsdam, Rdl, 4858, Bl. 73, Bülow an Bismarck, 22. IX. 1886. Ebenda, Bl. 71, H. v. Bismarck an Jacobi und Boetticher, 7. X 1886.

Zollpolitische Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Rußland

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•Getreide und Holz" erzwingen müsse. 90 Die deutsche Regierung, welcher jetzt offensichtlich sehr an Verhandlungen gelegen war, erklärte sich auch bereit — was sie vorher abgelehnt hatte —, die Verhandlungen nicht in Berlin, sondern in Petersburg zu führen, um die russische Öffentlichkeit nicht noch mehr zu reizen. 91 Zur gleichen Zeit setzten diejenigen Kreise in Rußland, die das Verhältnis zu Deutschland nicht verschlechtern wollten, ihre Bemühungen fort, die zaristische Regierung zu zollpolitischen Verhandlungen zu bewegen. Paul Suvalov, der im September 1886 in Petersburg weilte, gewann im Einverständnis mit Giers Finanzminister Bunge für seine Pläne. Bunge erklärte sich bereit, trotz der immer heftiger werdenden Forderungen vor allem der russischen Schwerindustriellen nach Erhöhung der Schutzzölle und trotz des energischen Auftretens Katkovs gegen ihn, „die seinerseits dem Reichsrate zugegangenen Zollerhöhungen zurückzuziehen bzw. für inopportun zu erklären" 92 . Paul Suvalov versuchte außerdem, die einflußreichsten Mitglieder des Ökonomischen Departements im Reichsrat für seine Projekte zu gewinnen. Gleichzeitig bemühte sich Sack, der Direktor der Petersburger Diskontobank, dem — ebenso wie anderen mit deutschen Banken liierten russischen Bankiers — an guten Beziehungen zu Deutschland gelegen war, den Präsidenten des Ökonomischen Departements des Reichrats, Abaza, davon zu überzeugen, „daß Rußland sehr unweise handeln würde, wenn es sich . . . jetzt Zollerhöhungen erlauben wollte" 93 . Paul Suvalov verhandelte in Petersburg mit Bülow und führte im Oktober in Berlin ein Gespräch mit Herbert v. Bismarck über ein deutsch-russisches Tarifabkommen. Er versicherte Bismarck, er wünsche ein solches Abkommen vor allem deshalb, weil dies „die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Mächten noch mehr zu festigen vermöge" 94 . „Ein Zollkrieg würde aber die Volksleidenschaften aufregen, die so schon trotz der Regierungen die tief in beiden Volksstämmen leider vorhandene idiosynkratische Abneigung schürten." 9 5 Trotz all dieser Bemühungen — die auch darauf zurückgingen, daß die russischen Gutsbesitzer den deutschen Getreideabsatzmarkt nicht verlieren wollten (Paul Suvalov selbst sagte zu Herbert v. Bismarck, daß die russische „Landwirtschaft mit ihrem Getreide erstickte und vollkommen ruiniert würde" 96) — siegten die Gegner einer zollpolitischen Annäherung an Deutschland. Und dazu trug Bismarcks ablehnende Haltung zu einem handelspolitischen Kompromiß mit Rußland Ebenda, RSchA, 4215, Bl. 59, Aschenborn an Boetticher, 14. IX. 1886. - Zu der Kommission gehörten: Gillet vom AA, Huber vom Rdl und Schraut vom RSchA. 91 AVPR, F.II, Dep. 1—5, p. III, 1886, delo Nr. 2 2 , Bl. 1 2 - 1 3 , kurzes Protokoll des Gesprächs zwischen Suvalov und Herbert v. Bismarck in Berlin, 4./16. X. 1886. — Vgl. GP, Bd. V, Nr. 989. 92 DZA/Potsdam, Rdl, 4858, Bl. 74, Bülow an Bismarck, 22. IX. 1886. 9! ' Ebenda, Bl. 108, Bülow an Bismarck, 11. X. 1886. 94 AVPR, ebenda, Bl. 10. 95 GP, Bd. V, Nr. 989. Ebenda.

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag

zweifellos bei. Auf das Betreiben der Gegner zollpolitischer Zugeständnisse begann der Reichsrat im Dezember 1886 mit der Beratung der Zollerhöhungen. Schon Ende Dezember wurde Bunge als Finanzminister abberufen. 9 7 Der Nachfolger Bunges, Vyänegradskij, besaß das Vertrauen der russischen Großbourgeoisie in stärkerem Maße als sein Vorgänger, zumal er selbst enge Beziehungen zur Wirtschaft unterhielt. Bis Anfang 1886 war er Mitglied des Auf sich tsrats und Aktionär der Petersburger Internationalen Handelsbank. 9 8 Er gehörte daneben dem Vorstand der Rybinsk-Bogoslover und der Südwestlichen Eisenbahngesellschaften an und war auch an diversen Industriegesellschaften beteiligt. 9 9 Vysnegradskij stand in engem Kontakt zu einflußreichen Kreisen der russischen Großbourgeoisie und galt als extremer Protektionist. 1 0 0 Kein Wunder also, daß Katkov und die ihn umgebenden Kreise sich für ihn zu interessieren begannen und in ihm den geeigneten Mann für die Durchsetzung ihrer Pläne sahen. Offensichtlich auch auf ihr Betreiben hin wurde Vyänegradskij 1886 zunächst in den Reichsrat berufen und dann ein Jahr später zum Finanzminister ernannt. 1 0 1 97

98

Bunge verließ seinen Posten offensichtlich vor allem wegen der Schutzzollfragen (S.J.Vitte, Vospominanija, Bd. 2, Moskau 1960, S. 279). Aber auch andere Fragen: „Alle ökonomischen Beschwerden und finanziellen Mißerfolge, Mißernten und Industriekrisis, schlechte Wechselkurse und unvorteilhafte Staatsanleihen, Defizit und Währungsschwächen" wurden ihm zur Last gelegt (V. Wittschewslcy, Rußlands Handels-, Zollund Industriepolitik..., Berlin 1905, S. 137). Besonders verärgert war die russische Bourgeoisie auch über Bunges Steuerpolitik sowie über seine Arbeitergesetzgebung. Außerdem hatte er auch unter den Gutsbesitzern Gegner (Migulin, a. a. 0., Bd. II, S. 2). Die Verabschiedung Bunges bedeutete natürlich nicht, daß die konsequenten Interessenvertreter der russischen Großbourgeoisie im Finanzministerium nun endgültig gesiegt hatten, wenn auch solche Reaktionäre wie Polvozov in der Ernennung Vysnegradskijs die bestehende Ordnung gefährdet sahen. (Dnevnik A. A. Polovzova, in: Krasnyj Archiv, Bd. XL VT, Moskau 1931, S. 1^,0 f.) Auch Vysnegradskij mußte im wesentlichen die gleiche Politik wie sein Vorgänger fortsetzen, wählte allerdings z. T. andere Methoden als dieser und war in seinem Protektionismus erheblich konsequenter. — Bunge wurdenach seiner Abberufung als Finanzminister von Alexander III. zum Präsidenten des Ministerkomitees ernannt und blieb weiterhin Lehrer des Thronfolgers. Der Gehilfe Bunges, Geheimrat Nikolaev, ein Gegner Vysnegradskijs, schied ebenfalls aus dem Finanzministerium aus und wurde in den Reichsrat berufen. An seine Stelle aber trat auf direkte Initiative des Zaren und der deutschfreundlichen Kräfte in der Regierung Geheimrat Törner, der das Vertrauen von Giers und Suvalov in einem derartigen Maße besaß, daß er von ihnen im Oktober 1886 als russischer Delegierter zu den geplanten zollpolitischen Verhandlungen vorgeschlagen worden war. (Vgl. DZA/Potsdam, RSchA, 4215, Bl. 57, Bülow an Bismarck, 11. X. 1886; ebenda, Rdl, 4927, Bl. 9 9 - 1 0 0 , Abschrift eines Aufsatzes von Hoch über die russischen Eisenzölle vom 20.11. 1887 von Reichard an Boetticher und Jacobi, 21. III. 1887.)

Otcety St. Peterburgskogo Mezdunarodnogo Kommerceskogo Banka 1885—1887,. 99 St. Petersburg 1886-1888. Migulin, a. a. O., S. 4. ,0 ° Gindin, Gosudarstvennyj bank . . . , a. a. 0., S. 62 f. 101 DZA/Potsdam, Rdl, 4927, Bl. 99, Reichardt an Boetticher und Jacobi, 21. III. 1887.

Zollpolitische Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Rußland

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Die protektionistischen Kreise Rußlands hatten sich in Vyinegradskij nicht getäuscht, Die Verhandlungen mit Deutschland wurden abgebrochen. Schon Anfang Mai 1887 erhöhte man die Zölle auf Erze, Roheisen, Eisen, Stahl und Erzeugnisse aus ihnen beträchtlich. Mitte Mai folgte dann die Zollerhöhung auf Kohle. Vyänegradskij hatte damit, wie er selbst sagte, „einen handgreiflichen Beweis für die streng schutzzöllnerische Richtung der Finanzverwaltung" gegeben. 102 Die neuen Zollerhöhungen sollten besonders der Schwerindustrie des Urals den zentralrussischen Absatzmarkt sichern und die ausländische wie auch die polnische Konkurrenz in Moskau und Niznyj-Novgorod ausschalten. 103 Sie kamen den Forderungen der russischen Großbourgeoisie maximal entgegen, stießen jedoch bei großen Teilen der russischen Großagrarier auf erbitterten Widerstand. Innerhalb des Reichsrates machte sich eine starke Strömung gegen neue Zollerhöhungen geltend. 104 In den Presseorganen der Gutsbesitzer wurden Stimmen gegen Vyänegradskijs Wirtschaftspolitik laut. Der „Kievljanin", das Organ der südrussischen Großgrundbesitzer, dem auch Bunge nahestand, warf Vysnegradskij vor, er habe die Beziehungen zu Deutschland verdorben, bezeichnete seinen Protektionismus als „Verstandes- und maßlosen Schutz der einheimischen Industrie", der die Staatseinnahmen senke, „das Publikum zu Gunsten der Eisenindustrie mit einer großen Mehrausgabe belaste" und „die Entwicklung der Landwirtschaft ungemein schädige" 105 . Vyänegradskij ließ sich jedoch nicht einschüchtern und setzte in den folgenden Jahren noch Zollerhöhungen auf landwirtschaftliche Maschinen, Schiffe, Waggons, Kabel, Pulver, Baumwollgewebe, Wolle, aber auch auf Hopfen, Wachs und Stärke durch. 106 Vor allem aber begann er noch im Frühjahr 1887 damit, unter aktiver Beteiligung von Vertretern aus Industrie und Handel eine allgemeine Reform des gesamten russischen Zolltarifs vorzubereiten. Die Übernahme des Finanzministeriums durch einen Mann, der in enger Verbindung zur russischen Großbourgeoisie stand und der diese Verbindung — sehr zum Verdruß der am weitesten rechts stehenden Kreise Rußlands 1 0 7 — nie verlor, ferner die zollpolitischen und die anderen gegen die ausländische Konkurrenz gerichteten Maßnahmen 108 Vyänegradskijs in der ersten Hälfte des Jahres 1887 bedeuteten einen Sieg der russischen Industriebourgeoisie über die Herrschaftsansprüche der deutschen Großbourgeoisie auf dem russischen Markt. Sie waren aber gleichzeitig auch ein ökonomischer Sieg der protektionistischen Großindustriellen über die freihändlerischen Tendenzen der deutschfreundlichen Gutsbesitzer und Teile der liberalen Handels- und Finanzbourgeoisie. 102 103

m 105 m 107 108

ROLB, F. 120, p. 23, Bl. 40, Voejkov an Katkov, 15./27. II. 1887. CGIAL, F. 1152, op. X, delo 148, Bl. 3 0 - 3 ] , Vysnegradskij an Reichsrat, 26. III. 1887. DZA/Potsdam, RSchA, 3400, Bl. 21, Lamezan an Bismarck, 31. X. 1887. Kievljanin, 25. IX. 1887, 11. X. 1887, 18. XII. 1887. (r.D.) Sobolev, a. a. 0., S. 503 ff. Polvozov, a. a. 0., S. 110 f. Vgl. Kap. I I l / l und Kap. III/2 der vorliegenden Arbeit.

14./

62

Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Röckversicherungsvertrag

3. Zu den sozialökonomischen

Triebkräften

in den achtziger Jahren

der zaristischen des 19.

Expansionspolitik

Jahrhunderts

Die zaristische Regierung sah sich nach Abschaffung der Leibeigenschaft gezwungen, nicht nur die ökonomischen Forderungen der russischen Gutsbesitzer, sondern auch — in der Zollpolitik sogar in erster Linie — die Forderungen der Großbourgeoisie zu berücksichtigen. Sie mußte versuchen, den ökonomischen Interessen beider Klassen gerecht zu werden und dadurch objektiv der Weiterentwicklung des Kapitalismus in Stadt und Land in mehr oder weniger konsequenter Weise den Weg zu ebnen. Ähnliche Tendenzen wie in der Wirtschaftspolitik gab es auch in der Außenpolitik. In den achtziger Jahren wurde immer offensichtlicher, daß die zaristische Regierung in wachsendem Maße auch den expansionistischen Forderungen der kapitalistischen Kräfte von Stadt und Land nachkommen mußte. Vor der Abschaffung der Leibeigenschaft hatte die aggressive Außenpolitik der zaristischen Regierung nahezu ausschließlich den Klasseninteressen der herrschenden feudalen Kräfte gedient. Sie hatte damals ihre Aufgabe vor allem darin gesehen, die Herrschaftsbasis der russischen feudalen Großgrundbesitzer zu erweitern und die Quelle der feudalen Ausbeutung zu verstärken. Außerdem hatte sie das Ziel verfolgt, die innen- und außenpolitische Stellung des russischen Absolutismus zu festigen, den Schutz der bereits eroberten Gebiete zu verbessern und die Macht der orthodoxen Kirche zu erweitern. Daneben hatte sie auch einigen russischen Feldherren und einigen Vertretern der hohen Bürokratie zur persönlichen Karriere verholfen. Der zaristischen Außenpolitik waren in dieser Zeit nahezu ausschließlich Charakterzüge einer militärisch-feudalen Großmachtpolitik, eines militärisch-feudalen „Imperialismus" zu eigen. 109 Mehr oder weniger stark war die zaristische Außenpolitik auch nach der Abschaffung der Leibeigenschaft und bis zur endgültigen Beseitigung der feudalen Überreste, bis zum Sturz des Zarismus im Jahre 1917, von militärisch-feudalen Merkmalen geprägt. So war es in der Kolonialpolitik des Zarismus in Mittelasien, so in seiner Fernostpolitik, und so war es auch in seiner Nahostpolitik. Überall jedoch machte sich, besonders seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts — wenn auch im einzelnen verschieden stark —, bemerkbar, daß nicht mehr allein die halbfeudalen, sondern auch die kapitalistischen Elemente Rußlands an der zaristischen Expansionspolitik interessiert waren und ihr den Stempel mit aufdrückten. So sah sich die zaristische Regierung auf dem Gebiet 109

Vgl. die Diskussionen über diesen Begriff Lenins: A. L. Sidorov, V. I. Lenin o russkom voenno-feodal'nom imperializme (o soderzanii termina „voenno-feodal'nyj imperializm"), in: Istorija SSSR, Moskau 1961, Nr. 3, S. 47 ff.; J.Mai, Wissenschaftliche Konferenz in Leningrad über den Imperialismus in Rußland, in: ZfG, Berlin 1962, H. 2, S. 436 ff.; Ob osobennostjach imperializma o Rossii, Moskau 1963, sowie K. N. Tarnovskij, Sovetskaja istoriografija rossijskogo imperializma, Moskau 1964, besonders S. 223 ff.

Sozialökonomische Triebkräfte der zaristischen Expansionspolitik

63

der Außenpolitik mehr und mehr dazu gezwungen, den Forderungen der russischen Großbourgeoisie und der kapitalistisch wirtschaftenden Gutsbesitzer 110 Rechnung zu tragen. Das wurde dadurch erleichtert, daß die aggressiven außenpolitischen Ziele der russischen Großbourgeoisie und der kapitalistischen Kräfte auf dem Lande in den meisten Fällen mit denen der militärisch-feudalen Kräfte übereinstimmten. Die einflußreichsten großkapitalistischen Kräfte in Rußland besaßen ein eigenes außenpolitisches Programm und strebten nach ökonomischer und politischer Expansion. Ebenso wie in anderen Ländern entwickelten sich im zaristischen Rußland die einzelnen Zweige der kapitalistischen Produktion in unterschiedlichem Tempo. Und gleich anderen Ländern begann auch in Rußland „das Gejammer über die Märkte" von dem Augenblick an, als die „kapitalistische Produktion in einzelnen Zweigen . . . ihre volle Entwicklung erreicht, sich nahezu des gesamten inneren Marktes bemächtigt und zu wenigen Riesenunternehmungen zusammengeschlossen hatte". 1 1 1 Während große Teile der Industriebourgeoisie des zaristischen Rußlands noch nahezu ausschließlich für den eigenen Absatzmarkt arbeiteten, doch dessen Anforderungen bei weitem noch nicht deckten, so gab es daneben einen relativ hoch entwickelten Industriezweig — die Baumwollindustrie —, der die Bedürfnisse des russischen Marktes im wesentlichen längst selbst befriedigte. Dieser Industriezweig, der vor allem in den zentralrussischen — in dem Moskauer und Vladimirer — Gouvernements konzentriert war, hatte am stärksten unter den Krisen und Depressionen der siebziger und achtziger Jahre zu leiden, zumal er im Gegensatz zur Schwerindustrie nur durch relativ geringe staatliche Aufträge und Kredite unterstützt wurde. Die russischen Baumwollindustriellen hatten z. B. in den Jahren 1880—1882 auf den bekannten Niznyj-Novgoroder Jahrmärkten nur einen geringen Teil ihrer Waren verkaufen können. 112 Schuld daran war hier beileibe nicht die ausländische Konkurrenz — der Zollschutz war so hoch, daß die ausländische Einfuhr von Baumwollerzeugnissen auf ein unbedeutendes Minimum zurückgegangen war —, sondern die Absatzschwierigkeiten in Rußland selbst: die relativ zögernde Differenzierung der Bauernschaft, die langsame Entstehung 110 111

113

Vgl. hierzu O. V. Orlik, Obsuzdenie problem istorii vnesnej politiki Rossii, in: Istorija SSSR, Moskau 1962, Nr. 2, S. 227 f. W. I. Lenin, Zur sogenannten Frage der Märkte, in: Lenin, Werke Bd. 1, Berlin 1963, S. 93. Von den in Niznyj-Novgorod angebotenen Waren wurden verkauft: 1880 1881 1882

von 34,6 Mill. Rubel „ 51 „ „ „ 46 „ „

27,2 Mill. Rubel 11,6 „ 29,9 „

(CGIAL, F. 1152, op. XI, delo225, Materialy k peresmotru obscego tamozennogo tarifa Rossijskoj Imperii..., 1890, Bd. 4, Bl. 350—355.) — Vgl. dazu auch Jakovlev, a. a. 0., Kap. 4. 6

Bismarcks, .Draht nach Kußland''

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag

eines Industrieproletariats, die geringe Zunahme der Kaufkraft der Volksmassen, kurz gesagt: das langsame Wachstum des inneren Marktes für Produkte der Konsumgüterindustrie. Auf die gleichen Ursachen waren auch die Absatzschwierigkeiten der russischen Gutsbesitzer in Rußland zurückzuführen. Die relativ langsame Entwicklung des inneren Marktes in Rußland hemmte den Absatz sowohl für Holz, Getreide und Vieh als auch für Produkte der landwirtschaftlichen Industrie (Zucker, Sprit u. a.). Aus dieser Situation gab es zwei Auswege. Entweder man forcierte die Entwicklung des Kapitalismus „in die Tiefe" und setzte sich für die radikale Abschaffung der feudalen Überreste in Rußland ein, die allein eine schnelle Entwicklung des inneren Marktes besonders auch für Industriewaren und landwirtschaftliche Erzeugnisse schaffen konnte. Doch die Abschaffung der feudalen Überreste in Rußland bedeutete Sturz des Absolutismus, Beseitigung der Monarchie und Enteignung der Gutsbesitzer. Darauf konnten sich jedoch weder die russischen Großagrarier noch die russischen Bourgeois einlassen. Mit dem Sturz des Zarismus und der Beseitigung anderer feudaler Überreste hätte die russische Bourgeoisie ihren besten Verbündeten gegen das Proletariat verloren und sich der Gefahr ausgesetzt, ökonomische und politische Zugeständnisse an die auch in Rußland besonders in der Textilindustrie anwachsende Arbeiterbewegung machen zu müssen und im Zusammenhang damit u. a. auf ihre außerordentlich hohe Profitrate verzichten zu müssen. Darauf wollten sich Leute wie Morozov, Poljakov, Chomjakov oder auch Aksakov und Katkov nicht einlassen. Oder man eroberte neue Märkte, entwickelte den Kapitalismus „in die Breite" 113 , nahm den kapitalistischen Widersprüchen in Rußland etwas an Schärfe, verlängerte die Existenz der veralteten Institutionen — des Absolutismus und der 113

Lenin charakterisiert diesen Prozeß folgendermaßen: „Die Entwicklung des Kapitalismus in die Tiefe wird auf dem alten, längst besiedelten Territorium durch die Kolonisation der Randgebiete verzögert. Die Lösung der dem Kapitalismus eigenen und von ihm erzeugten Widersprüche wird dadurch zeitweilig hinausgeschoben, daß sich der Kapitalismus in die Breite entwickeln kann. Das gleichzeitige Bestehen fortschrittlicher Formen der Industrie und halbmittelalterlicher Formen der Landwirtschaft z. B. stellt zweifellos einen Widerspruch dar. Hätte sich der russische Kapitalismus nirgends über die Grenzen des Territoriums ausdehnen können, das schon zu Beginn der Nachreformzeit besetzt war, dann hätte dieser Widerspruch zwischen der kapitalistischen Großindustrie und den archaischen Institutionen im Dorf (Fesselung der Bauern an die Scholle usw.) rasch zur völligen Beseitigimg dieser Institutionen, zur völligen Freilegung des Weges für den landwirtschaftlichen Kapitalismus in Rußland führen müssen. Aber die (für den Fabrikanten bestehende) Möglichkeit, in den Randgebieten, die kolonisiert werden, einen Markt zu suchen und zu finden, und die (für den Bauern bestehende) Möglichkeit, auf neue Ländereien zu ziehen, vermindert die Schärfe dieses Widerspruchs und verzögert seine Lösung. Es versteht sich von selbst, daß eine solche Verzögerung im Wachstum des Kapitalismus gleichbedeutend damit ist, daß sich ein um so stärkeres und breiteres Wachstum des Kapitalismus in nächster Zukunft vorbereitet" (Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus . . ., a. a. 0., S. 615 f.).

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anderen feudalen Überreste — durch die wirtschaftliche oder politische Eroberung von Gebieten, die sowohl als Rohstoffbasen und Absatzmärkte als auch als Sprungbrett zur Eroberung neuer Märkte dienen konnten. Und eben diesen Weg schlug man ein. Der russischen Handelsbourgeoisie, Teilen der Industrie- und Finanzbourgeoisie sowie der Gutsbesitzer, die ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse exportierten, bemächtigte sich ein starker Expansionsdrang. Sie bemühten sich stark um neue Absatzmärkte, identifizierten „die Interessen ihres Geldbeutels . . . mit den Interessen des .Landes'", versuchten, „Druck auf die Politik auszuüben" und „die Regierung auf die Bahn kolonialer Eroberungspolitik zu drängen". 114 „Und damit nicht nur der innere Markt stets wachse, sondern auch Produkte wärmerer Zonen im Innern des Landes selbst hervorgebracht wurden", strebten sie fortwährend „nach Eroberung auf der Balkanhalbinsel und in Asien, mit Konstantinopel hier, mit Britisch-Indien dort als letztem Ziel". All das zusammengenommen, war die ökonomische Grundlage des unter den kapitalistischen Kräften Rußlands „so stark grassierenden Ausdehnungsdranges".115 Zum Hauptinitiator des Ausdehnungsdranges derjenigen kapitalistischen Kräfte Rußlands, denen vor allem an der Erweiterung ihres Exports von Industriewaren (städtischer und ländlicher Herkunft) und der Eroberung neuer Rohstoffmärkte gelegen war, machte sich die zentralrussische Bourgeoisie. Nicht zuletzt ihrem Kampf war es zu verdanken, daß Rußlands Industriewarenexport laufend anwuchs und z. B. die russische Ausfuhr von Textilien und Petroleum, von Sprit und Zucker 116 , von Salz und Fischen, von Kerzen und Seife in Länder mit schwacher städtischer und ländlicher Industrie immer größer wurde. Die russischen Händler erschienen mit ihren Waren in der Mongolei und in China, in Persien und der Türkei und in den Balkanstaaten. Allein von 1885 bis 1886 verelffachte sich z. B. der Export an russischen Baumwollgeweben.117 Doch fast überall trafen die russischen Händler auf die Konkurrenz einer wesentlich höher entwickelten westeuropäischen Industrie. Diese war ihnen nicht nur durch bessere Waren und fortschrittlichere Produktionsmethoden, ein wesentlich reicheres Sortiment (in welchem die Produkte der Schwerindustrie, mit denen Rußland fast gar nicht dienen konnte 118 , oft eine viel größere Rolle spielten als 114 115 116

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Lenin, Zur sogenannten Frage der Märkte, a. a. 0., S. 94. Engels, Der Sozialismus in Deutschland, a. a. O., S. 258. Der Export der Zuckerindustrie, die sich in der Hand verbürgerlichter Gutsbesitzer befand, wurde übrigens durch hohe Ausfuhrprämien gefördert. Er stieg von 2700 auf 2 8 1 6 0 Pud (CGIAL, ebenda). In einigen wenigen Fällen exportierte auch die russische Schwerindustrie. Die Zweige der russischen Schwerindustrie, die sich vor allem auf die Produktion von Erzeugnissen für den Bau von Eisenbahnen spezialisiert hatten und in Rußland in den achtziger Jahren, als der Eisenbahnbau stark eingeschränkt wurde, nicht mehr genügend Absatz fanden, waren nun ebenfalls am Export ihrer Produkte interessiert. Das zeigte sich besonders bei den Bemühungen Rußlands um den Einfluß auf den bulgarischen und den persischen Eisenbahnbau. In Bulgarien bewarb sich z. B. ein

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die der Leichtindustrie), sondern vor allem auch durch ihre erfolgreichen Bemühungen überlegen, die Absatzmärkte mit Hilfe moderner Kreditgebung, großer Dampfschiffahrtsgesellschaften, riesiger Hafenanlagen und Warenlager und vor allem für ihren Handel günstig angelegter Eisenbahnlinien zu erschließen. Wollten die russischen Bourgeois der Zeit der Ostrovskijschen Dramen ihren erfolgreichen Geschäften nunmehr im Auslande nachgehen, so mußten sie sich entschließen, westeuropäische „Manieren" anzunehmen: Sie mußten mit Hilfe der russischen Banken versuchen, Eisenbahnen oder Dampfschiffahrtsgesellschaften in den von ihnen erwählten Märkten zu gründen, Einfluß auf die Staatsfinanzen der betreifenden Länder zu gewinnen, Handelsverträge mit ihnen abzuschließen, und — dazu allerdings bedurften sie des westeuropäischen Vorbilds nicht — Väterchen Staat bei all diesen Vorhaben um Hilfe bitten. Und Väterchen Staat half. Hinter den Eroberungen des Zarismus in Mittelasien standen sowohl militärischfeudale als auch kapitalistische Interessen. Die militärische Eroberung der mittelasiatischen Gebiete war eine Demonstration der militärischen Macht und Stärke des zaristischen Rußlands und festigte dessen Herrschaft über die bereits unterworfenen Gebiete. In den unterworfenen Gebieten wurde ein militärisch-feudales Regime errichtet, welches den russischen Militärs und der russischen hohen Bürokratie sowie den russischen Gutsbesitzern vielversprechende Posten und Einkommensquellen, dem zaristischen Staat aber durch Kontributionen und Steuern neue Mittel für das ewig leere Staatssäckel brachte. Hierbei wurden die alten patriarchalisch-feudalen Verhältnisse — oft durch außerökonomischen Zwang — konserviert. 119 Daneben wurde aber ein Teil der eroberten Gebiete durch russische Bauern kolonisiert. Außerdem schloß man mit Chiva und Buchara Verträge ab 120, die für Rußland den Handel und die Seefahrt in den beiden Khanaten monopolisierten. Das Jahr 1883 brachte dann die Aufhebung des Kaukasischen Transits 121, was der westeuropäischen Konkurrenz nicht nur in Mittelasien, sondern auch in Persien und anderen orientalischen Ländern einen schweren Schlag versetzte und

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Vertreter mehrerer russischer Schienen- und Waggonwerke, Guboni, um die Konzession für den Bau der wichtigsten bulgarischen Eisenbahnlinie. (Näheres darüber S. 72.) Als sich russische Bankiers um Konzessionen für den persischen Eisenbahnbau bewarben, wurden sie vom russischen Finanzministerium mit der Motivierung unterstützt, daß dadurch „den russischen Betrieben Arbeit und Aufträge zur Herstellung von Eisenbahnzubehör für die betr. Bahn zu verschaffen" sei. (Vysnegradskij an Giers, Januar 1888, in: Pobedonoscev i ego korrespondenty, a. a. 0., Bd. II, S. 845.) P. G. Galuzo, Agrarnye otnosenija na juge Kasachstana v 1867—1914 gg., Alma-Ata 1965; O.V.Orlik, Obsuzdenie voprosov kolonial'noj politiki. . ., in: Istorija SSSR, Moskau 1962, Nr. 5, S. 243 ff., sowie die Beiträge von Galuzo und Iskandarov in: Ob osobennostjach imperializma v Rossii, a. a. 0 . , S. 149 ff. Verträge zwischen Rußland und den Khanaten von Chiva und Buchara vom August und September 1873, in: Sbornik dogovorov R o s s i i . . . , a. a. O., S. 129 ff. Das geschah bezeichnenderweise während der Krönungsfeierlichkeiten im Jahre 1883 und war ein Geschenk des „national gesinnten" neuen Zaren an die russische Bourgeoisie.

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den russischen Export in diese Gebiete stark ansteigen ließ. Die russische Bourgeoisie forderte den Bau von Eisenbahnen nach Mittelasien — ihren Wünschen wurde, wenn auch zögernd, entsprochen. Die russischen Textilmagnaten erhielten außerdem die Genehmigung, in Mittelasien und im Kaukasus ihre Baumwollplantagen anzulegen, um sich von den teuren ausländischen Rohstoffen zu befreien, und anderes mehr. 122 Ähnliche Merkmale trug die russische Politik gegenüber Persien. Sicherlich spielten auch hier die Momente zaristischer Machtpolitik eine große Rolle. Persien als potentieller Verbündeter gegen die Türkei hatte f ü r den zaristischen Generalstab große Bedeutung, und wohl vor allem deshalb wurde 1879 unter Leitung russischer Offiziere f ü r den Schah eine sogenannte Kosakenbrigade aufgestellt, welche sich schließlich nicht nur als Leibgarde des Schahs, sondern auch als Kadettenschule und darüber hinaus als bestausgebildeter Teil der persischen Armee bewährte. 123 Sicherlich spielten auch bei der Einflußnahme auf Persien außerökonomischer Zwang (z. B. die starken Truppenkonzentrationen des Zarismus im Kaukasusgebiet) oder auch die Erwerbung feudaler Rechte, Landaufkauf u. ä. eine Rolle. Aber es lag keineswegs nur im Interesse der militärisch-feudalen Kräfte Rußlands, wenn entgegen Englands Bemühungen in Persien mit russischem Geld Chausseen gebaut wurden, wenn ein russischer Unternehmer die Konzession für Fischfang und Fischverarbeitung am persischen Ufer des Kaspischen Meeres erhielt, wenn ein russischer Bankier in Persien eine Bank gründete, wenn Rußland zum ersten und wichtigsten Handelspartner Persiens wurde 1 2 4 und wenn — was hier und in anderen noch wenig in den Weltmarkt einbezogenen Teilen der Welt, wo der Eisenbahnbau damals die wohl entscheidenste Rolle spielte — sich russische Unternehmer um die Anlage persischer Eisenbahnlinien bemühten. Mögen Männer wie Gorcakov und VySnegradskij oder einige zaristische Militärs diese Eisenbahnpläne der zaristischen Bourgeoisie entschiedener unterstützt, ja sogar forciert haben 125 , als es ein Giers tat 1 2 6 , letztlich setzten doch Vertreter der russischen 122

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Vgl. hierzu Russkij Vestnik, Nr. 169/2, Febr. 1884, S. 8 9 2 - 8 9 5 ; Nr. 171/2, Juni 1884, S. 550ff.; Nr. 186/2, Dez. 1886, S. 935 ff. (r.D.). Istorija Diplomatie a. a. 0., S. 76 ff., 82. Istorija Diplomatii, a . a . O . , S. 77 ff., 206 f. — Der russisch-persische Handel verfünffachte sich in den neunziger Jahren im Vergleich zu den sechziger Jahren (P. A. Chromov, Ekonomiceskoe razvitie Rossii v XIX—XX vekach ( 1 8 0 0 - 1 9 1 7 ) , Moskau 1950, S. 257). Ebenda, S. 82. — Aus dem Briefwechsel Pobedonoscevs geht hervor, daß der Bau einer Eisenbahn vom Kaspischen Meer nach Teheran nicht nur vom Fürsten Dolgorukij, von Voronzov u. a. unterstützt, sondern vor allem von Vysnegradskij systematisch forciert wurde, weil seiner Meinung nach der Eisenbahnbau in Persien „sowohl für die Entwicklung des russischen Handels mit Persien und zur Erleichterung des Absatzes unserer Erzeugnisse dort als auch dafür, um den russischen Betrieben Arbeit und Aufträge zur Herstellung von Eisenbahnzubehör für die betr. Bahn zu verschaffen, sehr wichtig und wünschenswert" sei. (Vysnegradskij an Giers, Januar 1888, in: Pobedonoscev i ego . . . , a . a . O . , Bd. II, S. 694 ff, 735, 844 f.) - Vgl. hierzu auch: V. Krjazin, Rossija v epochu Pobedonosceva, in: Krasnaja Nov', Moskau-Leningrad 126 1924, Nr. 1, S. 239 ff. Lamzdorf, a. a. 0., S. 72.

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Großbourgeoisie, Leute wie Poljakov oder von Derviz, Ossipov und Chomjakov, Tretjakov und Korf, den Willen der Moskauer und Niznyj-Novgoroder Bourgeoisie insofern durch, als die zaristische Regierung im März 1889 vom Schah das alleinige Recht erwirkte, Eisenbahnen in Persien zu projektieren, zu bauen und Kompanien f ü r diesen Bau zu gewinnen. Zum Nutzbarmachen dieses Monopols reichte die finanzielle Kraft der zaristischen Regierung und der russischen Bourgeoisie allerdings zunächst nicht aus, zumal sich Rußland gerade in dieser Zeit mit dem noch wichtigeren Bau der Transsibirischen Eisenbahn zu belasten entschloß. 127 Gleichwohl verzichtete Rußland keineswegs auf seine „Rechte" in Persien. 1890 mußte der Schah der zaristischen Regierung das Versprechen geben, in den nächsten zehn Jahren keiner Eisenbahnkompanie in Persien eine Konzession zu erteilen, welche nicht von der zaristischen Regierung genehmigt war. 128 Ähnlich lagen die Dinge auch im Fernen Osten. 129 Schon Mitte der achtziger Jahre, als England Port Hamilton besetzte, forderte Katkov von der zaristischen Regierung aktivere Schritte im Fernen Osten: Rußland solle sich dort einen eisfreien Hafen erobern und seine Flotte vergrößern. Es solle eine Eisenbahn nach dem Fernen Osten bauen und die Naturvorkommen des Fernen Ostens erschließen. Außerdem solle es den Handel mit Korea, China und der Mandschurei entwickeln. Katkov machte darauf aufmerksam, daß die Moskauer, NiSnyj-Novgoroder und Uraler Bourgeoisie diesen vielversprechenden Absatzmarkt an England, Japan oder Deutschland verlieren würde, wenn die zaristische Regierung im Fernen Osten nicht entschiedener vorginge. 130 Und es ist als Sieg der russischen Bourgeoisie zu werten, wenn die zaristische Regierung z. B. 1884 einen Handelsvertrag mit Korea abschloß und im Jahre 1891 den Bau der Transsibirischen Eisenbahn begann. Selbstverständlich diente diese Bahn in starkem Maße auch den militärisch-feudalen und den machtpolitischen Interessen des Zarismus. Sollte sie doch die Verteidigung der Besitzungen Rußlands 127

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Istorija Diplomatii, a. a. 0., S. 207 f. — Dabei spielte wohl auch die Überlegung eine Rolle, daß eine Eisenbahn durch Persien vor allem Englands Interessen dienlich sein könne. (Vgl. Pobedonoscev i ego . . . , a. a. 0., Bd. II, S. 695, 845.) Istorija Diplomatii, a. a. 0., S. 208. Vgl. hierzu A. L. Narocnickij, Kolonial'naja politika kapitalisticeskich derzav na Dal'nom Vostoke (1860—1895), Moskau 1956; J.M.Shukow, Die Internationalen Beziehungen im Fernen Osten (1870—1945), Berlin 1955; Pervye sagi russkogo imperializma na Dal'nom Vostoke, in: Krasnyj Archiv, Moskau 1932, Bd. LH, S. 34 ff.) sowie Popov, a. a. 0., S. 293 ff., vgl. S. 70, Anm. 137. Russkij Vestnik, Nr. 173/1, Sept. 1884, S.434ff.; Nr. 176/2, April 1885, S. 865; Nr. 178/1, Juli 1885, S. 427 ff.; Nr. 181./1, Januar 1886, S. 76 ff., (r.D.) - Interessant in diesem Zusammenhang ist übrigens, daß in den achtziger Jahren Deutschland im Export nach dem Fernen Osten an erster Stelle stand und daß die zaristische Regierung fast alle Versuche des ausländischen Kapitals unterband, auf die Industrie des Fernen Ostens Einfluß zu erhalten. (B. Morozov, Die Stellung des deutschen Kapitals in der Wirtschaft des russischen Fernen Ostens [1860—1904], in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der europäischen Volksdemokratien, Bd. 6, Berlin 1962, S. 144 f., 169.)

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im Fernen Osten erleichtern und die Eroberung neuen Landes vorbereiten. Und selbst wenn die zaristische Regierung die Exportinteressen der russischen Bourgeoisie hier wie an anderen Stellen aus höchst eigennützigen Motiven unterstützte — sei es aus innenpolitischen oder sei es aus finanzpolitischen Gründen —, objektiv diente sie auch hier bereits dem ökonomischen und politischen Expansionsdrang eines Teiles des russischen Kapitals.

Zum Problem der Triebkräfte der zaristischen Nahostpolitik

Einen hervorragenden Platz in der zaristischen Außenpolitik nahm die Nahostpolitik ein. Rußland wollte im Nahen Osten die Meerengen erobern und sich die Balkanslaven unterwerfen. Der Kampf um den Besitz der Meerengen war für das zaristische Rußland besonders nach dem Krimkrieg in starkem Maße von militärstrategischen Gesichtspunkten diktiert und hätte, wäre er von Erfolg gekrönt gewesen, zweifellos sowohl in als auch außerhalb Rußlands das Prestige des russischen Absolutismus erheblich gehoben. Zugleich gingen aber ein gutes Drittel des ganzen russischen Exports und ein bedeutender Teil der russischen Getreideausfuhr 131 durch die Meerengen. Eine Schließung der Meerengen durch die Türkei oder durch eine andere Macht hätte demnach nicht nur die außenpolitische und militärstrategische Stellung Rußlands wesentlich verschlechtert, sondern die russischen Gutsbesitzer und den zaristischen Staat auch in große wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht Die Zahlungs- und Handelsbilanz Rußlands (deren Aktiva sich größtenteils aus dem Getreideexport ergaben) und das ganze russische Finanzsystem wären dadurch außerordentlichen Belastungen ausgesetzt worden, und der wirtschaftliche und, ihm folgend, der politische Zusammenbruch der Herrschaft der russischen Gutsbesitzer hätten sich wohl nur noch schwer verhindern lassen. Wenn auch nach dem Russisch-Türkischen Krieg die einflußreichsten Kreise der herrschenden Klasse aus taktischen Gründen — sie fürchteten wegen der internationalen Lage und der militärischen Schwäche des Zarismus innenpolitische Komplikationen — es für ratsam hielten, die praktische Verwirklichung dieser Aufgabe hinauszuzögern, so war die zaristische Regierung auch in den achtziger Jahren nicht nur darauf bedacht, die Eroberung der Meerengen durch England zu verhindern 132 , sondern sie gab auch das Ziel, die Meerengen an sich zu reißen, niemals auf. Rußland hat „ein Hauptziel: die Eroberung Konstantinopels, um sich ein für allemal an den Meerengen festzusetzen, und zu wissen, daß sie ständig in unseren 131

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1887—1890 gingen 7 4 , 5 % des russischen Weizen- und 2 1 , 4 % des russischen Roggenexports durch die Meerengen (Ljascenko, Zernovoe chozjajstvo . . ., S. 207.) Skazkin (a.a.O., S. 214 ff.) vertritt die unrichtige Meinung, daß sich die zaristische Außenpolitik in den achtziger Jahren darauf beschränkte, die Eroberung der Meerengen durch England zu verhindern, und in dieser Zeit daher nicht aggressiv gewesen sei.

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Händen bleiben. Das ist im Interesse Rußlands, und dahin müssen unsere Bestrebungen gehen. Alles übrige, was auf der Balkanhalbinsel vor sich geht, ist für uns zweitrangig... Die Slaven sollen... Rußland dienen" 133 , so lautete Alexanders III. außenpolitisches Programm. Es beruhte auf militärstrategischen, außenpolitischen, handelspolitischen, fiskalischen und innenpolitischen Überlegungen und entsprach sowohl den Interessen der militärisch-feudalen Kräfte 1 3 4 und der verbürgerlichten Gutsbesitzer 135 als auch von Teilen der Handelsbourgeoisie (vor allem Südrußlands), denn eben f ü r sie hatte ein solches Programm entscheidende Bedeutung. Für die speziellen ökonomischen Interessen der zentral-russischen Großbourgeoisie hingegen war die Eroberung der Meerengen — abgesehen von der Möglichkeit, sich die Türkei zu erschließen — nur insofern von unmittelbarem Interesse (den außenpolitischen, militärstrategischen, innenpolitischen und finanzpolitischen Überlegungen der zaristischen Regierung schlössen sie sich im wesentlichen an), als sie darin ein Mittel sehen konnte, in der Zukunft neue Märkte zu erobern. Ihr direktes Interesse galt jedoch zunächst dem Balkan und hier besonders Bulgarien. 136 Dieses hatte für sie deshalb im Gegensatz zu den anderen Teilen des herrschenden Lagers, deren Stimmung Alexander III. zum Ausdruck brachte, nicht nur „zweitrangige" Bedeutung. 137 Kaum hatte sich Bulgarien befreit, ergoß sich ein Strom von Unternehmern, Gründern und Geschäftemachern in den jungen Staat, um ihn mit den „Segnungen der zivilisierten Welt" zu beglücken, in das Getriebe des Weltmarktes einzugliedern und um hier seine Geschäfte zu machen. Unter diesen Gründern und Bankiers aus den verschiedensten Ländern befanden sich auch zahlreiche Russen, denen — so hofften diese — das dankbare Bulgarien selbstverständlich den Vorzug geben würde. Dies sollte sich allerdings sehr bald als Irrtum herausstellen. 133 134

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Alexander III. an Obrucev, 12./24.IX. 1885, in: ZapiskaA. I.Nelidova, a.a.O., S. 1 8 0 f . Das schloß jedoch nicht aus, daß sich einige zaristische Militärs und Vertreter der Bürokratie (z. B. Kireev, Skobelev) in Erkenntnis der strategischen Bedeutung des Balkans und in dem Wunsche, neue militärische und außenpolitische Erfolge für den Zarismus und sich selbst zu sichern, ihre Aufmerksamkeit dem Balkan in einem Maße zuwandten (ein Ausdruck dafür ist der Panslävismus), daß für sie darüber die außenpolitische Hauptaufgabe ihrer Klasse — die Eroberung der Meerengen — zur zweitrangigen Frage, zum Mittel zur Beherrschung des Balkans wurde. Abgesehen von den Gutsbesitzern, die ihre Erzeugnisse der landwirtschaftlichen Industrie, z. B. Zucker und Sprit, in wachsendem Maße auch auf dem Balkan abzusetzen hofften. Ich beschränke mich hier vor allem auf Bulgarien, weil der Kampf Rußlands um Bulgarien in den achtziger Jahren einen hervorragenden Platz einnahm und auch das in diesem Zusammenhang interessierende Problem der Triebkräfte der zaristischen Außenpolitik hier am typischsten zum Ausdruck kommt. Eine Gesamtdarstellung der zaristischen Balkanpolitik würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Die Einschätzung von A. L. Popov (Vnesnjaja politika samoderzavija v XIX. v. v „krivom zerkale" M. N. Pokrovskogo, in: Protiv antimarksistskoj koncepcii M. N. Pokrovskogo, Sbornik Statej, Bd. II, Moskau 1940, S. 282) hierüber ist demnach zu einseitig und erschließt die Triebkräfte der zaristischen Außenpolitik dieser Zeit nur unvollständig.

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Der erste Versuch galt den bulgarischen Finanzen. Ende des Jahres 1879 brachte Utin (später Verwaltungsratmitglied der St. Petersburger Discontobank und einer großen russischen Eisenbahngesellschaft) im bulgarischen Ministerrat den Vorschlag ein, in Bulgarien eine Nationalbank unter finanzieller Leitung Ginzburgs und Poljakovs — zweier bekannter und berüchtigter russischer Bankiers, Spekulanten und Eisenbahngründer 138 — zu errichten. Man wollte damit ein Monopol für die Verwaltung der bulgarischen Staatsgelder, für die Finanzierung von Handel und Gewerbe, von Grund und Boden, für das Hypotheken- und das Münzwesen u. a. erwerben. Der Vorschlag, der in Österreich natürlich große Beunruhigung hervorrief, fand bei den diplomatischen Vertretern in Bulgarien, Davydov und Kumani — die teilweise finanziell selbst von Ginzburg abhingen —, beim russischen Kriegsminister Miljutin und auch bei Giers Unterstützung. Trotz anfänglicher Bereitschaft des Battenbergers scheiterte das Projekt jedoch schließlich am Widerstand der Österreich nahestehenden bulgarischen Konservativen. 139 Der nächste Versuch galt den bulgarischen Eisenbahnen. Der Kampf um die bulgarischen Eisenbahnen spielte in der internationalen Finanzwelt und in den russisch-bulgarischen Beziehungen der achtzgier Jahre eine große Rolle. Es ging dabei im wesentlichen um folgende Fragen: erstens um den Bau einer Eisenbahn von Sofia an die Donau, nach Ruscuk oder Sistovo, zweitens um den Bau einer bulgarischen Verbindungslinie zwischen den österreichischen und serbischen Linien und dem Hirsch'schen Eisenbahnunternehmen, insbesondere der Linie Bellova-Konstantinopel, und drittens um die Neuverteilung des Besitzes der Hirsch'schen Gesellschaft. Auf dem Berliner Kongreß war der Beschluß gefaßt worden, daß Bulgarien auf seinem Territorium eine, Verbindungslinie zwischen den österreichischen Bahnen und Konstaninopel zu erbauen hätte. Daß eine solche Linie den österreichischen Einfluß auf Bulgarien verstärken mußte, lag auf der Hand. Kein Wunder also, daß sich Rußland darum bemühte, den Bau dieser Linie entweder ganz zu verhindern, oder doch — als sich diese für Rußland beste Variante als unmöglich erwies — versuchte, das geplante Projekt in seine Hand zu bekommen und gleichzeitig die bulgarische Regierung zu überreden, eine Linie von Sofia an die Donau, nach Ruscuk oder Sistovo, zu bauen. 140 Von einer solchen Linie träumten nicht nur das russische Kriegsministerium, welches ihr mit Recht eine eminent strategische Bedeutung für den Aufmarsch auf dem Balkan und gegen die Türkei beimaß, sondern auch die russischen Industriellen des Moskauer Gebiets und die mit ihnen verbundenen russischen Banken. Sie hofften mit Hilfe dieser Bahn ökonomischen und politischen Einfluß auf den jungen bulgarischen Staat zu gewinnen und den wachsenden Einfluß Österreichs zu paralysieren. Ginzburg und Poljakov bewarben sich bei der bulgarischen Regierung um die Konzession f ü r beide Linien. Sie wurden dabei sowohl von der Moskauer Textil138 139 140

Vitte, a. a. 0., Bd. III, S. 694; Hallgarten, a. a. O., S. 237 f. Hallgarten, a. a. 0., Bd. I, S. 238 f; Skazkin, a. a. 0 . , S. 261 ff. Skazkin, a . a . O . , S. 254 ff., 267; W. I. Langer, European Alliances and Alignments 1 8 7 1 - 1 8 9 0 , New York 1931, S. 325 ff.

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bourgeoisie 1 4 1 , von den Organen Katkovs u n d Aksakovs u n d vom liberalen „Golos" Kraevskijs als auch vom russischen Kriegsministerium, von den in Bulgarien a k k r e d i t i e r t e n russischen M i l i t ä r s 1 4 2 , von Giers (solange dies keine außenpolitischen Komplikationen hervorrief) u n d schließlich — n a t ü r l i c h nicht o h n e Bestechungen — von den diplomatischen V e r t r e t e r n R u ß l a n d s in Bulgarien, K u m a n i , Chitrovo, J o n i n u. a., u n t e r s t ü t z t . 1 4 3 E s gelang a b e r den russischen K r ä f t e n , denen am B a u der Linie von d e r D o n a u b i s n a c h Sofia lag, nicht, ihren P l a n beim B a t t e n b e r g e r durchzusetzen. Katkov entzog dem B a t t e n b e r g e r deshalb seine U n t e r s t ü t z u n g 1 4 4 u n d begann im B ü n d n i s m i t den bulgarischen Liberalen, die Position des bulgarischen F ü r s t e n mit allen Mitteln zu u n t e r g r a b e n . A u c h d a s a n d e r e V o r h a b e n endete n i c h t viel günstiger. W o h l w a r es Poljakov u n d Ginzburg zu v e r d a n k e n , d a ß der B a u d e r sogenannten „österreichischen" Linie n i c h t von d e r H i r s c h ' s e h e n Gesellschaft ü b e r n o m m e n w u r d e 1 4 5 — a b e r d a s bedeutete n u r einen kleinen Trost, denn auch i h r e B e m ü h u n g e n u m dieses zweite P r o j e k t endeten 1883 m i t einem Mißerfolg. Zwei J a h r e s p ä t e r b e w a r b sich P. I. Guboni, ein a n d e r e r b e k a n n t e r russischer E i s e n b a h n u n t e r n e h m e r u n d Mitb e g r ü n d e r einiger wichtiger russischer M a s c h i n e n b a u b e t r i e b e 1 4 6 , m i t dem gleichen negativen E r g e b n i s u m diese Konzession. U n d a u c h ein direktes Angebot der zaristischen Regierung s e l b s t 1 4 7 vermochte die Position der b u l g a r i s c h e n Regier u n g nicht ins W a n k e n zu bringen. 141

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Beide Bankiers hatten zur russischen Textilbourgeoisie enge Kontakte. G. 0 . Ginzburg war seit 1872 Mitglied des Rates f ü r Handel und Manufaktur beim Finanzministerium, in welchem zusammen mit ihm so bekannte Fabrikanten und Großhändler wie Tretjakov, Morozov und Wogau saßen (CGIAL, F. 40, op. I, delo 40, Bl. 47—48, Vysnegradskij an Alexander III. 19. II./2. III. 1888; ebenda, Bl. 83, Vysnegradskij an Alexander III. 15./27. IV. 1888; ebenda, delo 41, Bl. 158—159, Vysnegradskij an Alexander III. 8./20. XII. 1889, und Mitglied des Aufsichtsrates der St. Petersburger Discontobank. S. Poljakov hatte enge Beziehungen zu Katkov. (Pobedonoscev i ego . . . , a. a. 0., Bd. II, S. 676.) Einer der Poljakovs, Ivan, war Mitglied des Jahrmarktkomitees von Niznyj-Novgorod und Direktor der Verwaltung der Gesellschaft der Manufaktur Vikuly Morozovs & Söhne. (CGIAL, F. 40, op. I, delo41, BL 115—116), Vysnegradskij an Alexander III., 9./21. VIII. 1889. General Sobolev, der 1882 auf Anraten Katkovs bulgarischer Kriegsminister wurde (Corti, a . a . O . , S. 122), soll sogar Teilhaber der Ginzburgschen Unternehmen gewesen 143 sein. (Hallgarten, a. a. 0., Bd. I, S. 238.) Skazkin, a. a. 0., S. 270fl. Corti, a. a. O., S. 133 ff. — Die Wendung Katkovs im Verhältnis zum Battenberger vollzog sich im Sommer 1883, als die russische Niederlage in der Eisenbahnfrage klar wurde. Skazkin, a. a. 0., S. 263 f. — Über die Eisenbahnunternehmungen des Baron Hirsch vgl. Hallgarten, a. a. 0., S. 228 ff. AVPR, F. Politotdel, delo 1280,1885,Bl. 153-154, Kojander an Giers, 5./17. IV. 1 8 8 5 . Guboni war Mitbegründer der Russischen Gesellschaft Mechanischer und Bergbaubetriebe, der Gesellschaft des Nevskij-Werkes und der Gesellschaft des Brjansker Werkes. (Gindin, Gosudarstvennyj b a n k . . ., a . a . O . , S. 168, 209, 271 f. sowie Vitte, a. a. 0., Bd. III, S. 668.) Die zaristische Regierung bot 1885 der bulgarischen Regierung eine Anleihe f ü r den Bau der Linie an und verlangte dafür von ihr, niemand die Exploitation dieser neuen

Sozialökonomische Triebkräfte der zaristischen Expansionspolitik

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Welches im einzelnen die Gründe waren, die all diese russischen Angebote scheitern ließen, ist nicht bekannt. Fest steht jedenfalls, daß ihnen bei diesem Vorhaben sowohl englisches als auch französisches (Pariser Comptoir d'Escompte), österreichisches (Gesellschaft der Serbischen Eisenbahnen und die Österreich-Ungarische Staatseisenbahngesellschaft) und deutsches Kapital entgegenstanden und daß schließlich Ende des Jahres 1886 eine deutsche Kapitalistengruppe unter Leitung der Deutschen Bank mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes das Spiel gewann. 148 Der bulgarische Eisenbahn&aw war damit Rußlands Händen entzogen. So blieb den russischen Interessenten nur noch die Möglichkeit, zu versuchen, auf die bereits fertiggestellten Linien in Bulgarien, welche fast ausschließlich dem Baron Hirsch gehörten, Einfluß zu bekommen. Doch auch hier war die westeuropäische Konkurrenz nicht schwächer. Englischen Kapitalisten gelang es 1886, der bulgarischen Regierung eine Anleihe zum Aufkauf der Linie von Varna nach RuScuk zu gewähren. 149 Die letzte Chance für Rußland bot jetzt nur noch die Linie von Konstantinopel nach Bellova. Im Dezember 1886 machte Poljakov der zaristischen Regierung den Vorschlag, mit seiner Vermittlung die Aktien der türkischen Eisenbahnen 150 , die sich größtenteils im Besitz der Hirsch'schen Gesellschaft befanden, aufzukaufen, um so allmählich alle Eisenbahnen in der europäischen Türkei, in Bulgarien und Serbien zu erwerben und dadurch die betreffenden Länder zu beherrschen. Der Erwerb der Eisenbahnen auf dem Balkan sei „eine der nützlichsten Aufgaben f ü r Zar und Vaterland". 151 Poljakov schlug vor, die russische Botschaft in Konstantinopel solle die Angelegenheit beim Sultan befürworten 152 , um zu verhindern, daß die Linie ohne ihr Einverständnis zu geben, damit die Linie nicht in „irgendwelche den bulgarischen und slavischen Interessen feindlichen Hände" fällt. (AVPR, F. Politotdel, delo 1280, 1885, Kojander an Giers, 15./27. VI. 1885, Bl. 1 8 4 - 1 8 5 ; vgl. auch ROLB, F. 120, p. 23, Bl. 119, Gagarin an Katkov, 29. XII. 1884/10.1. 1885. "'8 AVPR, ebenda, Bl. 1 5 3 - 1 5 5 , 182, 1 8 4 - 1 8 5 , Kojander an Giers, A p r i W u n i 1885; ebenda, delo 1285, 1886, Bl. 9 2 - 9 3 , Bogdanovic an Giers, Februar 1886; Skazkin. a. a. 0 . , S. 63 f.; C. Helfferich, Georg von Siemens. Ein Lebensbild, Bd. III, Berlin 1923, S. 6 f. 149 AVPR, F. Politotdel, delo 1285, 1886, Bl. 2 3 4 - 2 3 8 , Bogdanovic an Giers, 10./ 22. VII. 1886. 150 Zu den hier als türkischen bezeichneten Bahnen gehörten auch die der Hirsch'schen Gesellschaft (Konstantinopel-Bellova). Sie waren bereits in den siebziger Jahren, vor der Befreiung Bulgariens, erbaut worden und gehörten 1886 offiziell der türkischen Regierung, welche sie für 50 Jahre an Hirsch vermietet hatte. 151 S. Poljakov an Pobedonoscev, 11./23. XII. 1886, in: Pis'ma K. P. Pobedonosceva k Aleksandru III, Moskau 1 9 2 5 - 2 6 , Bd. II, S. 124 ff.; S. Poljakov an Pobedonoscev, 15./27 • VII. 1887, in: Pobedonoscev i ego . . . , Bd. II, S. 654. Es zeigt sich hier übrigens schon, daß sich Pobedonoscev entgegen der Feststellung O. Hoetzschs (Grundzüge der Geschichte Rußlands, Stuttgart 1949, S. 145 f.) sowohl in die Finanz- und Wirtschaftspolitik als auch in die Außenpolitik einmischte. lo2 Poljakov an Pobedonoscev, 29.1./lO. II. 1887, in: Pobedonoscev i e g o . . . , a . a . O . , Bd. II, S. 734.

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag

Bahnen von englischem oder deutsch-österreichischem Kapital aufgekauft würden. Poljakovs Vorhaben wurde von Katkov und dessen Agenten in Paris, Cyon, einigen französischen Bankiers sowie vom russischen Finanzminister Vysnegradskij unterstützt. 153 Zar Alexander und sein Ratgeber Pobedonoscev lehnten jedoch nach einigem Schwanken jede diplomatische Unterstützung des so verlockenden Projekts ab und gestatteten Poljakov nur, die Sache weiterzu„beobachten". 154 Es gelang Poljakov zwar, den Verkauf der Hirsch'schen Eisenbahnen f ü r einige Zeit zu verzögern 155 , doch im Jahre 1888 wurden die Bahnen nach harten Kämpfen gegen die Osterreichische Staatseisenbahngesellschaft, die Wiener Länderbank und das Pariser Comptoir d'Escompte 156 von einer deutsch-österreichischen Finanzgruppe unter Leitung der Deutschen Bank und des Wiener Bankvereins aufgekauft. 157 Neben den — allerdings vergeblichen — Bemühungen des zaristischen Rußlands um das bulgarische Kredit- und Verkehrswesen gingen die fortwährenden Versuche einher, Bulgarien für einen Handelsvertrag mit Rußland zu gewinnen. Rußland war am Abschluß eines Handelsvertrages mit Bulgarien besonders deshalb gelegen, weil die russischen Waren noch aus der Zeit her, als Bulgarien zur Türkei gehörte, höher als die Waren aus England und Österreich-Ungarn verzollt wurden. Das hemmte natürlich die Entwicklung des russischen Exports nach Bulgarien. Das zaristische Außenministerium und die diplomatischen Vertreter Rußlands in Bulgarien bemühten sich darum seit 1880 um eine Änderung dieser Sachlage. 158 1882 begannen die Verhandlungen über den Abschluß einer Handelskonvention. Diese Konvention sollte der russischen Seite nicht nur ökonomische, sondern auch politische Vorteile, „Festigung ihres politischen Einflusses", bringen. Man hoffte außerdem, durch die Entwicklung des russischen Handels mit Bulgarien — eine Aufgabe von „außerordentlicher politischer Bedeutung" — nicht nur den bulgarischen, sondern auch den rumänischen, serbischen und ostrumelischen Markt erobern zu können. 159 In seinen Vorschlägen zum Abschluß der Handelskonvention, zu deren Ausarbeitung u. a. das Odessaer Börsenkomitee hinzugezogen worden war, forderte Rußland (zunächst f ü r neun Jahre) völlige Handelsfreiheit und Freizügigkeit im 153

153

157 158

159

ROLB, F. 120, p. 39, Bl. 32, Cyon an Katkov, 14./26. V. 1 8 8 7 ; Cyon an Pobedonoscev, 17./29. V. 1888, in: Pobedonoscev i ego . . . , a. a. 0 . , Bd. II, S. 808 f. Alexander III. an Pobedonoscev, 14./26. XII. 1886, in: Pobedonoscev i ego . . ., a. a. 0 . , Bd. II, S. 5 5 4 ; Pobedonoscev an Alexander III. 15./27. XII. 1886, in: ebenda, S. 5 7 8 ; Cyon an Pobedonoscev, 17./29. V. 1888, in: ebenda, S. 809. — Dahinter steckte wahrscheinlich wieder Giers' Angst vor diplomatischen Komplikationen. Zapiska Poljakovs oder Pobedonoscevs, 1 2 . / 2 4 . 1 . 1887, in: ebenda, S. 7 3 3 f. AVPR, F. Kancelarija, 1888, delo 100, Bl. 3 2 8 - 3 3 3 , Basiii an Lobanov, 29. V./' 10. VI. 1888. Helfferich, a. a. 0 . , Bd. III, S. 6 f. Über die Bemühungen der zentralrussischen Bourgeoisie, z. B. T. S. Morozovs, im Jahre 1881 um den bulgarischen Markt vgl. Popov, a. a. O., S. 284. CGIAL, F. 40, op. I, delo 77, Bl. 2 2 - 2 3 , Begründung Chitrovos zur geplanten bulgarisch-russischen Handelskonvention, 3 1 . 1 . / 1 2 . II. 1882.

Sozialökonomische Triebkräfte der zaristischen Expansionspolitik

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Verkehr mit allen bulgarischen Städten und Häfen sowie das Recht, bewegliches und unbewegliches Eigentum zu erwerben, ferner industrielle Unternehmungen, Handelsfirmen u. a. gründen zu können. Es verlangte völlige Zollfreiheit, privilegierte finanzielle Bedingungen f ü r seine Handelsschiffe, Beseitigung aller Einfuhrverbote und den Verzicht der bulgarischen Regierung, anderen Ländern Einfuhrerleichterungen zu gewähren, die nicht auch auf die russische Einfuhr ausgedehnt würden. 160 Kurz gesagt, es machte mit diesem Abkommen den Versuch, die Konkurrenz Englands und Österreich-Ungarns in Bulgarien auszuschalten und den bulgarischen Markt sich selbst zu unterwerfen. Doch die Kräfte, die sich diesem Plan entgegenstellten, waren stärker als die russischen. Auch dieses Unternehmen scheiterte. 161 1889 schloß Bulgarien mit England, ÖsterreichUngarn, der Türkei und einer Reihe anderer Länder Handelsverträge ab. 162 Trotz aller Mißerfolge gab das zaristische Rußland seine Bemühungen um den bulgarischen Markt nicht auf. Schließlich hatte es wenigstens auf dem Gebiet der See- und Flußschiffahrt einige Erfolge. Anfang 1884, kurz nachdem die bulgarische Nationalversammlung endgültig dem Bau der sogenannten „österreichischen" Linie durch Bulgarien zugestimmt hatte 1 6 3 , wurde mit Unterstützung des zaristischen Finanz- und Marineministeriums 164 von dem Fürsten J. Gagarin eine Schwarzmeer-Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft gegründet, auf die man nun in Rußland in ökonomischer und politischer Hinsicht die größten Hoffnungen setzte. Die Gesellschaft betrieb in der ersten Zeit die Linie von Odessa nach Ruscuk. Sie eröffnete im Laufe der achtziger Jahre noch die Linien Odessa—Ismail, Odessa—Sistovo, Reni—Njemzeny (am Pruth), Reni—Sistovo und vor allem Sistovo—Eisernes Tor. 1889 verfügte sie über acht Schiffe (2 Mill. Pud Fracht,).165 Um die Gesellschaft vor ausländischen 160

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)62 m

1,w

Ebenda, Bl. 1—21, Vorschläge Rußlands zum Abschluß einer Handelskonvention mit Bulgarien, 1882. Mehr Erfolg hatte der Zarismus dafür auf diesem Gebiet mit der Türkei und Rumänien, mit denen er 1886 Handelsverträge abschloß. (CGIAL, F. 40, op. I, delo 38, Bl. 128, Vortrag Bunges vor Alexander III., 22. III./3. IV. 1886. — An den Verhandlungen mit Rumänien nahm V. I. Timirjasev teil, der dann an der Ausarbeitung des Vysnegradskijschen neuen Zolltarifs führend beteiligt war und im 20. Jh. zaristischer Handelsminister wurde.) Begünstigt durch den rumänisch-österreichischen Zollkrieg wuchs schon im Jahre 1887 der russische Export nach Rumänien bedeutend an. (DZA/Potsdam, Rdl, 5018, Bl. 166, Busch an Bismarck, 6. X. 1887.) 1892, als die Handelsverträge zwischen Serbien und Deutschland und Österreich-Ungarn kurz vor ihrer Unterzeichnung standen, nahm Rußland außerdem Handelsvertragsverhandlungen mit Serbien auf. (CGIAL, F. 20, op. VII, delo 128, Bl. 5 0 - 6 9 , Timirjasev an Törner, 30. VI./12. VII. 1892.) 163 CGIAL, F. 40, op. I, delo 77, Bl. 135, Aktennotiz. Corti, a. a. 0., S. 144 f. Die Gesellschaft wurde von der zaristischen Regierung laufend subventioniert und bekam vom Marineministerium die Erlaubnis, ehemalige Matrosen der zaristischen Marine einzustellen. CGIAL, F. 1152, op. XI, delo 27, Vysnegradskij an Departement Ekonomii Gosudarstvennogo Soveta, 10./22. I. 1891, Bl. 2 - 1 5 .

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag

Einflüssen zu bewahren, war es ihr verboten, ausländisches Personal einzustellen, Aktien an Ausländer zu verkaufen und Ausländer in ihren Aufsichtsrat aufzunehmen. Ihre Schiffe mußte sie bei russischen Fabriken erwerben. Staatliche Subventionen ermöglichten es ihr, den russischen Exporteuren besonders günstige Frachtsätze zu gewähren. 166 Den politischen Einfluß Rußlands auf Bulgarien konnte diese Gesellschaft zwar nicht mehr retten. Ebensowenig vermochte sie die Unterwerfung des von Rußland befreiten Bulgariens unter das westeuropäische Kapital zu verhindern. Aber trotzdem hat sie, sehr zur „Beruhigung" des Zaren 167 , den russischen Export nach dem Balkan gefördert, die Vorherrschaft der Österreichisch-Ungarischen Dampfschiffahrtsgesellschaft zumindest auf der unteren Donau untergraben und Rußland dabei geholfen, sich einen, wenn auch geringen wirtschaftlichen Einfluß auf Bulgarien zu bewahren, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Rumänien zu verstärken und seinen Einfluß auf Serbien zu festigen. 168 Die Bemühungen des zaristischen Rußlands um den bulgarischen Markt dienten somit objektiv den Klasseninteressen der russischen Bourgeoisie sowie jener Gutsbesitzer, die Erzeugnisse der ländlichen Industrie auf dem Balkan absetzten. Sie kamen dem Expansionsdrang dieses Teiles des russischen Kapitals entgegen. Die Klassenbasis der zaristischen Balkanpolitik hatte sich erweitert. Der Zarismus war ebenso wie in seiner Politik gegenüber der Türkei so auch gegenüber den jungen Balkanstaaten, besonders Bulgarien, zum Interessenvertreter großer Teile des expansiven russischen Kapitals geworden. 169 Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß für die halbfeudalen Kräfte Rußlands, in deren Händen die russische Außenpolitik lag, die ökonomische Erschließung des Balkans mit Hilfe und im Interesse des russischen Kapitals — abgesehen von innen- und finanzpolitischen Erwägungen — nur ein Hilfsmittel war, 166 167

168

169

CGIAL, F. 40, op. I, delo 41, Bl. 54—58, Vysnegradskij an Alexander III., 1888. „Sehr beruhigend", lautete eine Randbemerkung des Zaren zum Vortrag Vysnegradskijs über den wachsenden Export Rußlands nach dem Balkan. (CGIAL, F. 40, op. I, delo 43, Bl. 200, Vortrag Vysnegradskijs vor Alexander III., 20. IX./2. X. 1891). Die Gesellschaft errichtete auf der Donau, am Schwarzen Meer und in Serbien (in Belgrad und Kladova) große Petroleumlager, erhielt 1890 von der serbischen Regierung die Erlaubnis, Petroleum, Maschinen und Materialien, die zum Bau von Lagern, Reservoirs und Häfen erforderlich waren, zollfrei einzuführen, und bemühte sich um den serbischen Eisenbahnbau. (DZA/Potsdam, Rdl, 5021, Bl. 152, v. Bray an Caprivi, 14. IV. 1890.) Sie bekam außerdem Einfluß auf die serbische Donaudampfschiffahrtsgesellschaft, die die Frachten der Gagarinschen Gesellschaft vom Eisernen Tor die Donau aufwärts beförderte. (CGIAL, F. 40, op. I, delo 43, Bl. 132, Vysnegradskij an Alexander III., 7./19. VI. 1891.) Im Zeitalter des Imperialismus waren diese Charakterzüge der zaristischen Nahostpolitik jedoch wesentlich stärker ausgeprägt. (Vgl. hierzu I. V. Bestuzev, Bor'ba v Rossii po voprosam vnesnej politiki 1906—1910, a. a. 0 . ; derselbe, Bor'ba klassov i partii Rossii po voprosam vnesnej politiki nakanune Bosnijskogo krizisa [1906—1908] gg, in: Istoriceskie Zapiski, Moskau 1959, Bd. 64; derselbe, Bor'ba v Rossii po voprosam vnesnej politiki v 1906—1910 gg, in: Voprosy Istorii, Moskau 1960, Nr. 6, S. 60 f.)

Die Balkankrise 1885/86 und ihre Auswirkungen

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Rußlands politischen und militärischen Einfluß auf dem Balkan zu verstärken. Außerdem war damals für diese Kreise die ökonomische und politische Eroberung des Balkans der gesamten zaristischen Nahostpolitik, welche die Eroberung der Meerengen zum Hauptziel hatte, untergeordnet; sie wurde dementsprechend konsequent oder inkonsequent gehandhabt. 170 Die russische ökonomische Politik der achtziger Jahre gegenüber Bulgarien mußte vor allem deshalb scheitern, weil die kapitalistischen Kräfte in Rußland noch zu schwach waren. Bulgarien, das mit seiner nationalen Befreiung von der türkischen Unterdrückung mit Hilfe des zaristischen Rußlands seine bürgerliche Revolution vollzogen hatte, war an einer halbfeudalen Unterdrückung und Bevormundung durch Rußland nichts gelegen. Es hatte kein Interesse daran, zur Aufmarschbasis des Zarismus gegen England, Österreich-Ungarn und die Türkei, zum militärischen Vorposten des Zarismus für die Eroberung, f ü r die strategische Vorherrschaft oder für die Kontrolle über die Meerengen zu werden. Es wollte nicht zum Werkzeug der zaristischen ¡Expansionspolitik werden. Vielmehr strebte Bulgarien danach, in das kapitalistische Wirtschaftsgefüge, in den kapitalistischen Weltmarkt aufgenommen zu werden. Und eben das konnte ihm unter den damaligen Bedingungen nicht die russische, wohl aber die englische, österreichisch-ungarische und deutsche Bourgeoisie bieten. Doch es sollen hier die Ergebnisse der zaristischen und österreichisch-ungarischen Nahostpolitik in den achtziger Jahren und deren Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den Teilnehmern des Dreikaiser„bündnisses" nicht vorweggenommen werden.

4. Die Balkankrise 1885/86 und ihre Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen den drei Monarchien. Der Kampf in der russischen Öffentlichkeit und innerhalb der zaristischen Regierung um den Rückversicherungsvertrag (1885-1887)

Im Spätsommer 1885 trat in Bulgarien ein politisches Ereignis ein, welches die Aufmerksamkeit der europäischen Großmächte wieder auf den Balkan konzentrieren, ihr Verhältnis zueinander komplizieren und die zaristische Diplomatie vor neue Probleme stellen sollte. 170

Trotzdem kann ich mich dem Urteil Skazkins (a.a.O., S. 216) in dieser Frage nicht anschließen, der schreibt, daß die russische Balkanpolitik der achtziger Jahre „von Anfang bis zum Ende eine Erscheinung ,der alten Ordnung', eine Sache des Absolutismus und der Bürokratie und ausschließlich dieser gesellschaftlichen Kräfte..." gewesen sei „und ihren ideellen und materiellen Zusammenbruch" bedeutete. Seiner Meinung nach war diese Politik „eine Politik, die . . . ihre Rechtfertigung nur in der Unterstützung des Prestiges jener schon zerfallenden Institution hatte, welche der russische Absolutismus war". — Skazkin widerlegt seine Behauptung durch das von ihm gebotene reiche Faktenmaterial über die ökonomischen Interessen der russischen Bourgeoisie am Balkan in gewissem Maße selbst (a. a. 0., S. 237, 254ff.).

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag

Am 18. September 1885 brach in Ostrumelien ein Aufstand aus, in dessen Verlauf der türkische Generalgouverneur vertrieben wurde. Das bulgarische Fürstentum vereinigte sich mit Ostrumelien, und Alexander von Battenberg ließ sich zum Fürsten des vereinigten Bulgariens ausrufen. Noch vor wenigen Jahren hätte die zaristische Regierung dieses Ereignis wärmstens begrüßt. Jetzt aber, wo der politische Einfluß der zaristischen Regierung in Bulgarien stark nachgelassen hatte, den ökonomischen Forderungen ÖsterreichUngarns vor den russischen der Vorzug gegeben wurde und der Battenberger wie auch die bulgarische Regierung ihre Hinneigung zu Österreich-Ungarn immer offener zu erkennen gaben, machte sich die zaristische Regierung zum Verteidiger des Berliner Kongresses. „Die Slaven sollen Rußland dienen und nicht wir i h n e n . . . Die gegenwärtige Bewegung der Bulgaren billige ich nicht. Sie haben nicht auf uns gehört 171 , haben heimlich gehandelt, keine Ratschläge erbeten — sollen sie jetzt die Suppe selbst auslöffeln, die sie eingebrockt haben . . . Solange Fürst Alexander über das Schicksal des bulgarischen Volkes verfügt, ist unsere Einmischung in die Angelegenheiten Bulgariens völlig unmöglich und n u t z l o s . . . " 1 7 2 , erklärte Alexander III. kategorisch. Er befahl seinem Außenminister, gegen die Nichteinhaltung des Berliner Traktats durch Bulgarien zu protestieren, und berief die russischen Offiziere aus der bulgarischen Armee ab. Damit hoffte er die Position des Battenbergers untergraben und ihn zum Rücktritt veranlassen zu können. Eine Okkupation Bulgariens lehnte er jedoch ab. Es gelang der zaristischen Regierung jedoch nicht, mit dieser Taktik irgendwelche Erfolge zu erzielen. Sie hatte sich verrechnet. Nicht nur, daß sich die innenpolitische Position des Battenbergers nach der Vereinigung Bulgariens und kurz danach noch durch einen glorreichen Sieg über die Serben wesentlich verbesserte — auch seine außenpolitische Stellung festigte sich so, daß er gar nicht daran dachte, den Status quo wiederherzustellen oder gar abzudanken. England und auch Österreich-Ungarn war plötzlich gar nicht mehr daran gelegen, den Berliner Vertrag in jedem Fall zu verteidigen. 173 Trotz der Bemühungen Rußlands, die Türkei gegen die Veränderungen in Bulgarien aufzubringen, erkannte diese die Veränderungen faktisch an. Ja, sie schloß sogar mit Bulgarien ein Abkommen. Ostrumelien blieb diesem Abkommen zufolge zwar formell türkische Provinz. Doch in Wirklichkeit wurde es mit dem bulgarischen Fürstentum vereinigt, nachdem der Battenberger von der Türkei zum Generalgouverneur Ostrumeliens ernannt worden war. Der 171

172

17J

Die diplomatischen Vertreter Rußlands in Bulgarien waren in den Jahren 1 8 8 4 und 1885 mehrmals gegen die Vereinigungsbewegungen i n Bulgarien aufgetreten. (A. S. Bejlis, K voprosu o russko-bolgarskich otnosenijach v 80-ye gody 19. veka, in: Ucenye Zapiski L'vovskogo Gosudarstvennogo Universiteta. L'vov 1949, Bd. 17, Serija istorii, Vypusk 4, S. 116 ff.) Alexander III. an Obrucev, 12./24. IX. 1885, in: Zapiska A. I. Nelidova, a. a. 0 . , S. 180 f. Vgl. hierzu: Correspondance diplomatique de M. de Staal, (1884—1900). Publiée par le Baron A. Meyendorff, Bd. I, Paris 1929, S. 261 ff.

Die Balkankrise 1885/86 und ihre Auswirkungen

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zaristischen Regierung, die auf einen Krieg nicht vorbereitet war, blieb nur noch übrig, sich zu fügen. Dieses neue Schauspiel zaristischer Balkanpolitik mochte in den Augen eines Mescerskij Ausdruck eines souveränen und durchdachten Vorgehens des von ihm verehrten Giers sein. 174 Es mochte wohl auch denjenigen liberalen Kreisen gefallen, denen an neuen außenpolitischen Belastungen des zaristischen Rußlands nichts gelegen war und die außerdem ihrer liberalen Anschauungen wegen eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Balkanstaaten ablehnten. 175 Aber Leute wie Aksakov, Kireev und auch Katkov erblickten in den Ereignissen eine neue Demütigung Rußlands. Für Aksakov war die Haltung der zaristischen Regierung zu der Vereinigung Bulgariens von Anfang an ein neuer Beweis für ihre Unentschlossenheit und Schwäche. Rußland solle sich seiner Meinung nach freuen, wenn das Berliner Traktat vernichtet würde. Blieben der Status quo und die Bedingungen des Berliner Traktates mit Rußlands Hilfe erhalten, so übergebe Rußland seine politische Position auf der Balkanhalbinsel an Österreich-Ungarn und England. Rußland solle die Gelegenheit nützen, die Vereinigung Bulgariens anerkennen und durch die Entsendung eines russischen Kommissars mit diktatorischen Vollmachten, durch die Entsendung von Truppen oder durch Okkupation seinen Einfluß auf Bulgarien zurückgewinnen. Die Wiedervereinigung Bulgariens müsse von der zaristischen Regierung auch dann anerkannt und unterstützt werden, wenn die Türkei bewaffneten Widerstand leisten sollte. Rußland brauche Bulgarien, um auf der Balkanhalbinsel herrschen zu können. Die Unterwerfung Bulgariens sei vielleicht ohne Krieg gegen die Türkei, England und Österreich-Ungarn möglich, man müsse aber einen baldigen Krieg in Betracht ziehen und sich auf ihn vorbereiten. 176 Diese und ähnliche zur Aktivität mahnende Ratschläge erteilte Aksakov der zaristischen Regierung seit September 1885. Zur gleichen Zeit füllte Kireev, der mit Aksakov in enger Verbindung stand, sein Tagebuch mit Klagen über die zaristischen Diplomaten: Rußland mache sich zum Hüter des Berliner Traktats, wenn es sich jetzt zurückhalte. Es müsse aktiver vorgehen und Truppen nach Varna entsenden. Giers müsse den Battenberger aus Bulgarien vertreiben, mit Gewalt dort Ordnung schaffen und die Verfassung liquidieren. Die Okkupation Bulgariens — selbst auf die Gefahr eines Krieges mit Österreich-Ungam (der zwar für Rußland schwer, f ü r Österreich-Ungarn aber wesentlich verhängnisvoller wäre) — sei der einzige Ausweg. 177 174 175

176

177

Mescerskij, a. a. 0., Bd. III, S. 269 f. Sowohl der Golos als auch die Novosti hatten die Vereinigung Bulgariens begrüßt (vgl. Russkij Vestnik, Nr. 179, September 1885 [r.D.], S. 437), und der Vestnik Evropy schloß sich dieser Meinung an. (Grüning, a. a. 0 . , S. 89.) I. S. Aksakov, Polnoe Sobranie Socinenij, Bd. I, Slavjanskij Vopros (1860—1886), Moskau 1886, Aufsätze Aksakovs in der Zeitschrift Rus' vom September 1885 bis -Tanuar 1886 (r.D.), S. 633 ff. ROLB, F. 126, p. 10, Dnevnik Kireeva, Bl. 111, 114, 126, 156, Eintragungen vom 25. VIII., 20. X. und vom 8. IX. 1885 sowie vom Februar 1886 (r.D.).

7 Bismarcks „Draht nach Rußland"

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag

Auch Katkov begann sich diesen Vorstellungen anzuschließen. Er hatte anfangs die Vereinigung Bulgariens unter dem Battenberger abgelehnt und die zaristische Regierung in ihrer Taktik unterstützt, auf die Einhaltung des Berliner Vertrages zu bestehen. 178 Als er jedoch einsah, daß diese Taktik zu keinem Erfolg führte, forderte er die Entsendung eines Kommissars mit diktatorischen Vollmachten nach Bulgarien, die Beseitigung des Battenbergers (sei es auch mit militärischen Mitteln), schließlich sogar die militärische Besetzung Bulgariens und die Unterstützung einer revolutionären Verschwörung gegen die rußlandfeindliche bulgarische Regierung. 179 Anfangs versuchte die zaristische Regierung, diese Stimmen in der Öffentlichkeit, die stark an die Ereignisse in Rußland vor und nach dem Russisch-Türkischen Krieg erinnerten, mundtot zu machen. Aksakov erhielt für seine Aufsätze im Dezember 1885 eine öffentliche Verwarnung, weil er „Mißachtung vor der Regierung erzeuge". 180 Als er wenige Wochen später starb, gewährte man ihm aus „Angst vor Demonstrationen" kein Staatsbegräbnis. 181 Öffentliche Auftritte französischer Revanchisten, welche im Sommer 1886 vor allem in Odessa große Erfolge gehabt hatten, wurden verboten. 182 Kojander, der panslavistisch gesinnte diplomatische Vertreter Rußlands in Bulgarien, der die Okkupation Bulgariens forderte, wurde abberufen. Die Regierung erreichte damit gar nichts. Auf die Dauer konnte ihr diese Politik sogar gefährlich werden, wenn sie der aufgebrachten öffentlichen Meinung keine Zugeständnisse machte. Eine alte Forderung der protektionistischen Kreise Rußlands, die vor allem von den Organen Katkovs seit dem Berliner Kongreß immer wieder erhoben worden war, war die Forderung nach Schließung des Batumer Freihafens, deren Realisierung „den Schlußstein des protektionistischen Wirtschaftssystems in der europäischen Südostecke Rußlands" bilden sollte, „das mit der Schließung des kaukasischen Transithandels drei Jahre zuvor seinen Anfang genommen hatte". 1 8 3 Man hoffte, damit der ausländischen Konkurrenz in Rußland einen neuen Riegel 178

Moskovskie Vedomosti, Nr. 252 und 262, Sept. 1885 (r.D.). Moskovskie Vedomosti, Nr. 87, März 1886, Nr. 223, 230, August 1886, Nr. 242, 250, 260, 268, September 1886 (r.D.); ROLB, F. 126, p. 10, Dnevnik Kireeva, Bl. 196, l . X . 1886 (r.D.); Moskovskie Vedomosti, Nr. 230, August 1886, Nr. 242, September 1886 (r.D.), sowie Katkov an AleksanderllL, 26. XII. 1 8 8 6 / 7 . 1 . 1 8 8 7 und 31. XII. 1886/ 1 2 . 1 . 1 8 8 7 , in: M. N. Katkov i AleksanderllL v 1 8 8 6 - 1 8 8 7 , in: Krasnyj Archiv, Bd. LVIII, Moskau 1933, S. 60—77. — Katkov selbst forcierte einen Umsturz in Bulgarien. Er kümmerte sich um die finanzielle Unterstützung der Verschwörer und bemühte sich darum, die Wiedereröffnung der Moskauer Slavischen Gesellschaft durchzusetzen. (ROLB, F. 126, p. 10, Dnevnik Kireeva, Bl. 210, 1 3 . 1 . 1 8 8 7 , r.D.) 180 Kommentar zu Pobedonoscev an Feokistov, 7./19.XII. 1885, in: Pis'ma K. P. Pobedonosceva k E. M. Feokistovu, in: Literaturnoe Nasledstvo, Nr. 22—24, Moskau 1935., S. 521. 181 Pobedonoscev i ego . . ., Bd. II, a. a. O., S. 557. 182 Körlin, a.a.O., S. 119. 183 Grüning, a. a. O., S. 93.

179

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vorzuschieben u n d vor allem die westeuropäischen W a r e n von den kaukasischen und mittelasiatischen Märkten fernzuhalten. Giers wagte zwar nicht, etwas zu unternehmen, ohne sich vorher mit Berlin u n d Wien zu konsultieren 1 8 4 , doch f a n d er in dieser Frage bei Bismarck jetzt Entgegenkommen. 1 8 5 Bismarck bot sich nämlich jetzt nicht n u r die Möglichkeit, Rußland wieder einmal auf Kosten anderer seine „ F r e u n d s c h a f t " zu beweisen u n d die englisch-russischen Widersprüche zu schüren 1 8 6 , sondern auch aller Welt den Beweis zu erbringen, daß Rußland selbst das Berliner T r a k t a t nicht einhalte. Ebenfalls im Sommer 1886 versuchte die zaristische Diplomatie auch, die Türkei wieder enger an Rußland zu binden. Nelidov f ü h r t e in Konstanttnopel mit der türkischen Regierung Verhandlungen über den Abschluß eines Verteidigungsbündnisses zwischen Rußland und der Türkei, demzufolge die Türkei u n d Rußland bei einem Kriege gegen einen Dritten die Meerengen gemeinsam zu verteidigen hätten. Doch das Vorhaben scheiterte. 1 8 7 Schließlich schien sich auch die Möglichkeit zu bieten, die Machtverhältnisse in Bulgarien zu ändern und so der erregten russischen Öffentlichkeit entgegenzukommen. In der Nacht vom 20. zum 21. August 1886 w u r d e Alexander von Battenberg von Anhängern Rußlands, unter aktiver Beteiligung russischer panslavistischer Kreise u n d offensichtlich auch u n t e r Mitwirkung oder zumindest doch Mitwisserschaft einiger Angehöriger des russischen Außenministeriums 1 8 8 , gefangengenommen, entthront und seines Landes verwiesen. A n f a n g September verzichtete er endgültig auf den Thron. Man glaubte in Rußland, das Spiel gewonnen zu haben. Jedoch gelang es der zaristischen Regierung nicht, eine i h r willfährige Regierung in Bulgarien an der Macht zu halten. U n d auch der nächste Schritt der zaristischen Regierung, durch die Entsendung eines Außerordentlichen Bevollmächtigten des Zaren, des Generals Kaulbars, die U n t e r w e r f u n g Bulgariens u n t e r die russischen Interessen zu erzwingen, konnte R u ß l a n d s Ansehen in Bulgarien n u r noch mehr untergraben u n d endete schließlich Mitte November 1886 mit einem völligen Fiasko. Hier interessiert weniger der Verlauf der Battenbergkrise 1 8 9 , in deren Ergebnis der russische Einfluß auf Bulgarien s t a r k e Einbußen erlitt, als vielmehr die Frage, inwieweit diese Krise das deutsch-russische Verhältnis u n d im Zusammenhang damit die Haltung der russischen Öffentlichkeit zu Deutschland beeinflußte. Die Regierungen Österreich-Ungarns u n d Englands beobachteten das Vorgehen der zaristischen Regierung gegen den Battenberger mit größtem Mißbehagen. Österreich-Ungarn drohte mit einem Krieg, falls russische T r u p p e n in Bulgarien 18/1 185 18ti 187 188

189 7*

Schweinitz, a.a.O., Bd. II, S. 323. GP, Bd. V, Nr. 973-974. Vgl. hierzu: Staal, a. a. 0., Bd. I, S. 299 ff. ROLB, F. 169, p.4/5, Tagebuch Miljutins, 1886, Bl. 11, 21. VI. 1886 (r.D.). S. Sidel'nikov, Avautjura russkogo carizma v Bolgarii 1878—1896, in: Ucenye Zapiski Leningradskogo Gosudarstvennogo Universiteta, Leningrad 1939, Nr. 36, Serija Istoriceskich Nauk, Vypusk 3, S. 148 ff. Vgl. hierzu ausführlich z. B. Corti, a. a. 0 .

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erseheinen sollten. 190 Die Toryregierung hingegen hielt es f ü r klüger, sich zurückzuhalten und durch Österreich-Ungarn in Bulgarien die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen. 191 Bismarck bot sich durch die Krise die Möglichkeit, ein neues Zeugnis seiner „ehrlichen Maklerschaft" abzulegen. Der deutsche Kanzler hatte der zaristischen Regierung schon im Mai 1884 in Aussicht gestellt, daß die deutsche Regierung nichts gegen eine Beseitigung des Battenbergers einzuwenden habe. 192 Er konnte ihr damit einen „Freundschafts"beweis erbringen, der ihn nichts kostete, ihm in der Auseinandersetzung mit den Anhängern des Battenbergischen Heiratsprojekts recht nützlich sein konnte, ferner einen gefährlichen Zankapfel zwischen Österreich-Ungarn und Rußland beseitigte und sein „Prinzip" vom „Desinteresse" Deutschlands im Nahen Osten erneut bestätigte. Es fiel also Bismarck nicht schwer, zu seinen Worten von 1884 zu stehen und dem Zaren zu versichern, daß Deutschland sich in der Bulgarienfrage jeder Initiative enthalten werde. 193 Von einer Okkupation Bulgariens durch Rußland wollte er jedoch nichts wissen, „weil man nicht vorhersehen könnte, welche Verwicklungen daraus folgen würden" — das Hauptziel der deutschen Politik „sei ja stets gewesen, einen Konflikt zwischen Österreich und Rußland zu vermeiden" 194 . Diesem Hauptziele zuliebe mußte Bismarck wieder einmal zwischen ÖsterreichUngarn und Rußland vermitteln, die Gegensätze zwischen beiden in f ü r Deutschland günstigen Grenzen halten, keinem zu viel zugestehen und darauf achten, es mit keinem von beiden zu verderben. Neues konnte er jedoch dabei nicht bieten. Er ließ Rußland versichern, seine Politik habe deutscherseits „einen Widerspruch oder eine Erschwerung nicht zu erwarten". 195 Er empfahl ihm, die Meerengen zu erobern, zumal dies ein Ziel sei, „welches nicht nur verständlich und berechtigt erscheine, sondern f ü r Österreich durchaus harmlos sei". 196 Er schlug ÖsterreichUngarn und Rußland den Abschluß eines Abkommens vor, „nach welchem Österreich den russischen Einfluß in Bulgarien und Rußland den österreichischen in Serbien gewähren lassen" 197 solle. Dementsprechend empfahl er der Regierung in Wien, Rußland nachzugeben und sich nicht in Bulgarien einzumischen, wahrend er Rußland den Rat erteilte, Österreich keinen Anlaß zum Krieg zu geben. 198 190 191 192 193 m 195 196

197 198

GP, Bd. V, S. 70, Fußnote 3 zu Nr. 990, Nr. 1009. Staal, a. a. 0., S. 317, 321 u. a. GP, Bd. III, Nr. 632, 635. GP, Bd. V, Anlage zu Nr. 985. GP, Bd. V, Nr. 992. GP, Bd. V, Nr. 994. GP, Bd. V, Nr. 992. — Vgl. auch Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1 8 7 9 - 1 9 1 8 , Leipzig-Berlin 1922, S. 12. GP, Bd. V, Nr. 987. GP, Bd. V, Nr. 1021. — Typisch war z. B. Bismarcks Haltung zur Mission des Generals Kaulbars nach Bulgarien. Er trat nicht gegen Kaulbars auf, aber unterstützte ihn auch nur wenig, um sich nicht zu kompromittieren (ebenda, Nr. 922, S. 81). Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" wurde aber nicht daran gehindert, Hetzartikel gegen Kaulbars zu veröffentlichen.

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Zugleich versprach er der russischen Regierung, auf Österreich-Ungarn einzuwirken, um es „in Bahnen zu halten, die es nicht in Konflikt mit Rußland bringen können". 199 All das waren Angebote, von deren Irrealität Bismarck sich inzwischen selbst mehrmals hatte überzeugen können, blieb Demagogie, auf die er angewiesen war, wenn er das Dreikaiser„bündnis" erhalten wollte. Die „guten" Ratschläge und Empfehlungen wurden von Drohungen gegenüber seinen beiden Verbündeten begleitet. Diese Drohungen lauteten gegenüber Österreich-Ungarn: An einem von Österreich-Ungarn provozierten Krieg gegen Rußland würde sich Deutschland nicht beteiligen. 200 Deutschland müsse Österreich-Ungarn selbst dann vom Kriege gegen Rußland abhalten, wenn dieses Bulgarien oder die Meerengen bedrohe. (Er gab Österreich-Ungarn daher den Rat, „Österreich müsse den Engländern den Vortritt lassen und ruhig warten, bis die Russen in der Halbinsel engagiert sind, dann würden die enormen Vorteile der geographischen Lage Siebenbürgens usw. von selbst ins Gewicht fallen.") 2 0 1 Zur gleichen Zeit gab er Rußland zu verstehen, daß Deutschland Österreich-Ungarn keine Befehle erteilen könnte. „Wollten wir dem Zaren in allen seinen Antipathien gegen Österreich den Willen tun, so würden wir Österreich längst den Krieg erklärt haben müssen. Dies stehe aber für uns außer Frage." 2 0 2 „Unser Interesse . . . an der Erhaltung Österreichs und unserer guten Beziehungen mit ihm sei allerdings groß genug, um uns sehr gegen unseren Willen zum Kriege zu nötigen, wenn die österreichische Monarchie ernstlich bedroht sei." 2 0 3 Es ist bekannt, daß diese im Interesse des Dreikaiser,,bündnisses" kompromißlerische Haltung Bismarcks in Deutschland seinerzeit nicht nur beim Zentrum und den Freisinnigen 204 (zu denen übrigens auch v. Siemens gehörte, der gerade in dieser Zeit — mit Unterstützung und Billigung des Auswärtigen Amtes! — verstärkt ins Nahostgeschäft einstieg), der Sozialdemokratie, beim Kronprinzen und dessen Umgebung auf Protest stieß, sondern daß sie auch von einigen Leuten in der nächsten Umgebung Bismarcks nicht gutgeheißen wurde. Waldersee zweifelte schon damals an den Erfolgen der Bismarckschen Rußlandpolitik. Er riet, den Zerfall des Dreikaiser„bündnisses" ruhig in Kauf zu nehmen, die „orientalische Frage in Fluß zu bringen" und den großen, d. h. den Zweifrontenkrieg zu beginnen. 205 Mißbilligung fand die Bismarcksche Bulgarienpolitik auch bei von der Goltz, dem Leiter der preußischen Militärmission in der Türkei, der ebenso wie Waldersee der Meinung war, Deutschland müsse im geeigneten Augenblick gegen Rußland „losschlagen". 206 Holstein, die „graue Eminenz" im Auswärtigen Amt, welcher 199 200 291 202 203 204

205 206

Waldersee, a. a. 0 . , Bd. I, S. 295. GP, Bd. V, Nr. 1009. Schweinitz, a. a. 0 . , Bd. II, S. 319. GP, Bd. V, Nr. 992, 1001. GP, Bd. V, Fußnote zu Nr. 992. Hallgarten, a. a. O., Bd. I, S. 247 f. — Vgl. auch H. Oncken, Das Deutsche Reich . . ., a. a. 0 . , S. 299 f. Waldersee, a. a. 0 . , S. 263 ff., 277, 301 f., 308. K.v. der Goltz, Denkwürdigkeiten, Berlin 1929, S. 126 f., 149 f.

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Riickversicherungsvertrag

über Radolinski enge Verbindungen zum Kronprinzen unterhielt, nahm insgeheim für den Battenberger Partei, forderte von Österreich-Ungarn, auf dem Balkan aktiver zu werden, versprach ihm Deutschlands Hilfe und drängte es zum Zusammengehen mit England. Auch Caprivi begann sich über die Bismarcksche Rußlandpolitik Sorgen zu machen. 207 Daß sich Bismarck nicht offener auf die Seite Rußlands stellte, rief bei den herrschenden Kreisen des zaristischen Rußlands wiederum Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten hervor, die sich in ihrer Schärfe und Heftigkeit zwar mit den Auseinandersetzungen vor und nach dem Berliner Kongreß vergleichen lassen, die aber, entsprechend den veränderten Bedingungen, neue Merkmale trugen. Die Fronten der unterschiedlichen Auffassungen wurden klarer. Neue Teile der herrschenden Klassen wurden von den Diskussionen erfaßt. Wesentlich größere Teile des herrschenden Lagers in Rußland traten auf die Seite der Gegner eines Zusammengehens mit Deutschland und Österreich-Ungarn. Die Kämpfe zwischen den beiden „Parteien" wurden mit neuen Formen und wesentlich entschiedeneren Methoden geführt.

Auseinandersetzungen im herrschenden Lager Rußlands über das Verhältnis zu Deutschland und Österreich-Ungarn

Giers blieb sich treu und klammerte sich auch während der Battenbergkrise in der Hoffnung an Deutschland, daß es Rußland helfen würde und den Zerfall des Dreikaiser„bündnisses" verhindern könne. Die Ereignisse in Bulgarien im August 1886 hatte Giers offensichtlich nicht vorausgesehen. Möglich, daß er von den geheimen Vorbereitungen zum Sturz des Battenbergers wußte, aber äußerst unwahrscheinlich, daß er den Termin kannte. Jedenfalls schien ihn die Mitteilung von der plötzlichen Absetzung des bulgarischen Fürsten in Franzensbad, wo er gerade zur Kur weilte, überrascht zu haben. Eine Aussprache mit Bismarck kam ihm deshalb sehr gelegen. Er bat Bismarck inständig, ihm dabei zu helfen, daß der Battenberger nicht wieder auf den Thron käme. Rußland sei „zu erheblichen Geldopfem b e r e i t . . . , wenn der Fürst abdicieren und für Rußland die Wege in Bulgarien ebnen wollte". 208 In der Frage des Nachfolgers würde sich Rußland entgegenkommend verhalten. 209 E r versicherte Bismarck, „der Zar denke nicht an eine Okkupation oder sonstige Veränderung des Status quo ohne Beratung mit Wien. Das Gelingen der Gegenrevolution und die Wiedereinsetzung des Fürsten Alexander würden indessen Rußlands Stimmung 207

208 209

H. Krausnick, Holsteins Geheimpolitik in der Ära Bismarck 1886—1890, Hamburg 1942, S. 31, 36, 4 7 f . , 112ff.; Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, Hrsg. Norman Rieh und M. N. Fisher, Bd. II, Tagebuchblätter, Göttingen-Berlin-Frankfurt 1957, S. 338, 348, 356 f., 365, 367, 370, 374 u . a . ; vgl. hierzu auch Maskin, a . a . O . , S. 145 ff. Vgl. hierzu: Bismarck an Wilhelm I., 30. IX. 1886, in: Holstein, a. a. 0., S. 342. Corti, a. a. 0., S. 270.

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ändern." 210 Gleichzeitig versuchte Giers beim Zaren durchzusetzen, daß dieser trotz des Drängens von Kaulbars und von Bogdanov „weder eine Okkupation noch irgendwelche militärischen Demonstrationen . . . ohne ein vorheriges Abkommen mit einigen Großmächten" unternehme, und empfahl ihm außerdem, General Suvalov zu Bismarck zu schicken.211 Wenig später wurde Giers noch gefügiger. Von der irrigen Vorstellung befangen, daß die Krise „viele Russen von der St.-Stephano-Krankheit... heilen würde", schien er offensichtlich zu weiteren Zugeständnissen im Interesse des Monarchenbündnisses und auf Kosten der Forderungen eines großen Teiles des herrschenden Lagers Rußlands bereit zu sein. Er erweckte jedenfalls bei Bülow „den Eindruck, daß er in der Abgrenzung der Machtsphären Rußlands und Österreichs auf der Balkanhalbinsel das einzige ernsthafte und dauernde Mittel" sah, „um einem Zusammenstoß zwischen beiden Reichen vorzubeugen" — vorausgesetzt, daß Österreich Rußland in Bulgarien nicht daran hindere, „den ihm dort gebührenden Einfluß auszuüben".212 Ja, er ging sogar schließlich so weit, sich von der ganzen russischen Bulgarienpolitik seit dem Sturze des Battenbergers und selbst von dem Verhalten des Zaren in der Battenbergkrise zu distanzieren.213 Doch das half ihm alles nichts. Kräfte, die stärker waren als er, zwangen Giers, den Gedanken des Dreikaiser„bündnisses" schließlich doch fallenzulassen. An der Spitze dieser Kräfte stand jetzt Katkov. Katkov war im Gegensatz zu den extremen Panslavisten lange ein Anhänger des Dreikaiser,,bündnisses" gewesen.214 Die Hauptursache dafür war offensichtlich, daß Katkov ein breiteres außenpolitisches Programm als die extremen Panslavisten hatte. Katkov forderte — und auch hierbei machte er sich ebenso wie in der Wirtschaftspolitik zum Interessenvertreter der wichtigsten Teile der Bourgeoisie — nicht nur die Eroberung neuer Gebiete und Märkte im Nahen Osten, sondern auch die Erschließung neuer Gebiete im Fernen Osten und in Mittelasien. Jeder Veränderung der Machtverhältnisse im Fernen- Osten, jeder Eroberung Rußlands in Mittelasien begegnete er mit größtem Interesse. Aksakov und Kireev hingegen, welche die Interessen der vorwiegend, wenn, nicht sogar ausschließlich am Balkan interessierten Kreise Rußlands vertraten, beschränkten sich auf die Angelegenheiten der Slaven. Sie behaupteten, daß den realen Interessen Rußlands 210

211

212 213 214

Reuß an Kalnocky, 27. VIII. 1886, in: Krausnick, a. a. 0., S. 305; GP, Bd. V, Nr. 2013; Schweinitz, a. a. 0., S. 326 f. Giers an Alexander III., 25. X./6. XI. 1886, in: Avantjury russkogo carizma v Bolgarii, Sbornik Dokumentov, Söst. P. Pavlovic, Moskau 1935, S. 30 f.; Corti, a.a.O., S. 270; Lamzdorf, a.a.O., S. 67; Diese Haltung Giers' wurde von Mescerskij begrüßt. (Mescerskij, a. a. 0., Bd. III, S. 269.) GP, Bd. V, Nr. 1013. Schweinitz, a. a. 0., S. 326 f. ROLB, F. 126, p. 10, Tagebuch Kireevs, Bl. 85 (April 1885), Bl. 91 (Juni 1885), Bl. 111 (August 1885) (r.D.); vgl. auch ROLB, F. 120, p. 23, Kireev an Katkov, 1./13. XII. 1884. — Körlins gegenteilige Behauptung (a.a.O., S. 67) entspricht demnach nicht den Tatsachen.

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nur eine Politik entspräche, welcher die slavische Idee zugrunde läge. Kireev schrieb z. B. im Mai 1885, als Katkov die neuen Eroberungen Rußlands in Mittelasien feierte 215 , in sein Tagebuch: „Was nützen uns die Erfolge in irgend einem Merucak oder Sul'fikar, wenn wir den Einfluß auf die Slaven verlieren." Man solle lieber Bosnien und die Herzegowina zurückerobern oder den Milan von Serbien stürzen. 216 Und auch die Aufhebung des Freihafens von Batum im Juli 1886 entsprach gar nicht seinen Vorstellungen. Batum gäbe Rußland „weder Kraft noch Bedeutung, nichts! Aber wir geben den Europäern die Möglichkeit, wenn es ihnen paßt, uns zu sagen, daß wir das Berliner Traktat nicht einhalten." 2 1 7 Aus diesen unterschiedlichen außenpolitischen Programmen ergaben sich auch differenzierte Auffassungen über die Bündnispolitik des Zarismus. Während die extremen Panslavisten in Österreich-Ungarn den Hauptgegner Rußlands sahen, das Zusammengehen mit Österreich-Ungarn und Deutschland als eine Kompromittierung Rußlands vor den Balkanslaven und eine Kapitulation Rußlands vor Österreich 218 ablehnten und „jedes Übereinkommen mit der deutschen Welt zur Lösung der russisch-slavischen Frage für unnatürlich und verhängnisvoll" hielten 219 , während sie ungeduldig zum Kriege drängten und die einzigen natürlichen Bundesgenossen Rußlands in den Slaven sahen 220 , war Katkov zunächst vorsichtiger. Ein Dreikaiser„bündnis" konnte seiner Meinung nach den Zarismus innenpolitisch stärken und eine Aktivierung der russischen Außenpolitik in Mittelasien und dem Fernen Osten garantieren, ja Rußland dort sogar Verbündete gegen England schaffen. Es konnte die internationale Stellung Rußlands verbessern, die Kriegsgefahr verringern und bot außerdem die Chance, die Balkanfrage durch ein Abkommen oder ein Kompromiß (Aufteilung der Interessensphären — ein rotes Tuch für Leute wie Aksakov und Kireev 221 ) zwischen Wien und Petersburg vorübergehend zu lösen und Österreich-Ungarn auf dem Balkan in gewissem Maße die Hände zu binden. 222 Nach der Vereinigung Bulgariens und während des Serbisch-Bulgarischen Krieges jedoch, als die letzten Illusionen über die Nützlichkeit des Dreikaiser„bündnisses" für die russischen Balkaninteressen verlorengingen und die mittelasiatischen 215 216 217 218

219 220 221 222

Vgl. Russkij Vestnik, Nr. 1 7 l / l , Mai 1884; Nr. 175/2, Februar 1885 (r.D.). ROLB, F. 126, p. 10, Tagebuch Kireevs, Bl. 88, Mai 1885 (r.D.). Ebenda, Bl. 175 und 183, Juni/Juli 1885 (r.D.). „Wir haben uns zwar vor Handlungen Österreichs auf der Balkanhalbinsel gesichert, aber es zeigt sich, daß wir nicht vorausgesehen haben, daß 1. die Länderbank sich als ein von Österreich unabhängiger „Staat" erweist und daß Österreich nur die äußere (juristische) Seite seiner Verpflichtungen erfüllt und daß es 2. zuläßt, daß England, welches nicht an Skiernevicer Bedingungen gebunden ist, es vertritt." (Ebenda, Bl. 215, Jan./Febr. 1887 [r.D.]) Rus', 25.1.1886, (r.D.) in: Aksakov, a, a. 0., S. 791. Rus', 16. XI. 1885 (r.D.), in: Aksakov, a. a. 0., S. 717. ROLB, F. 126, p. 10, Tagebuch Kireevs, Bl. 111, 25. VIII. 1885 (r.D.). Ebenda, Bl. 85 (April 1885), Bl. 91 (Juni 1885), Bl. 111 (Aug./Sept. 1885) (r.D.).

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Eroberungen außerdem einen gewissen Abschluß gefunden hatten, begann sich Katkov den Anschauungen der extremen Panslavisten zu nähern. Es kamen ihm Zweifel an der Zweckmäßigkeit des Dreikaiser„bündnisses". Er begann Bismarcks Rolle in den Balkanangelegenheiten stärker zu kritisieren und eine ungebundenere Außenpolitik des Zarismus zu fordern. 223 Schließlich ging auch er so weit, im „Bündnis" der drei Kaiser eine der wichtigsten Ursachen für die außenpolitischen Mißerfolge Rußlands auf dem Balkan zu sehen. „Ein verlorener Krieg hätte uns keinen größeren Schaden zufügen können als dieses Bündnis, das abgeschlossen wurde, um den Frieden zu sichern. Schritt für Schritt sind wir von der Balkanhalbinsel verdrängt worden." Es sei falsch, im Dreikaiser„bündnis" ein Mittel zu sehen, die Lösung der Nahostfrage aufzuschieben, bis Rußland fertig gerüstet habe. Rußland habe nicht nur keine Fortschritte auf dem Balkan gemacht, sondern müsse neu erobern, was es bereits erobert hätte. Die Bedingungen des Dreikaiser„bündnisses" seien f ü r Rußland erniedrigend gewesen. Das „Bündnis" sei eine „vernichtende Friedenskombination gewesen, die unheilvoller sei als ein Krieg". 234 Bei dieser Stimmung großer Teile der russischen Öffentlichkeit über das Dreikaiser„bündnis", die auch auf die Haltung des Zaren nicht ohne Einfluß blieb, mußte Giers den Gedanken aufgeben, diesen Vertrag zu erneuern, wenn ÖsterreichUngarn nicht zu ernsthaften Zugeständnissen in Bulgarien bereit war. 225 Selbst wenn er auch dann noch ein Anhänger dieses Abkommens war — und das war er ebenso wie Lamzdorf noch im April 1887 —, konnte er es „aus Gründen innerer Politik" nicht mehr wagen, den Wünschen der deutschen Diplomatie in dieser Frage entgegenzukommen. 226 Ein Separatabkommen mit Deutschland — das war das einzige, was vielleicht noch erreicht werden konnte. Doch auch ein solches Abkommen sollte erst nach heftigen Auseinandersetzungen und Kämpfen innerhalb der herrschenden Kreise Rußlands und in strengster Heimlichkeit schließlich im Sommer 1887 unterzeichnet werden. Die Vorbereitungen dazu begannen aber bereits im Dezember 1886. Großfürst Vladimir, Bruder des Zaren und Führer der deutschfreundlichen Partei am Zarenhofe, versuchte zusammen mit Giers im Dezember 1886, Bülow f ü r einen separaten Vertrag zwischen Deutschland und Rußland, mit dem auch der Zar sympathisierte, zu gewinnen. 227 Ende Dezember wurde Botschafter Paul Suvalov damit beauftragt, in Deutschland wegen eines Abkommens mit dem Deutschen 223

2Vl

236 227

Russkij Vestnik, Nr. 180/1, Nov. 1885, S. 501; Nr. 180/2, Dezember 1885 (r.D.), S. 1084; ROLB, ebenda, Bl. 146, Jan./Febr. 1886 (r.D.). - Aksakov hielt zur gleichen Zeit schon „jedes Übereinkommen mit der deutschen Welt zur Lösung der russischslavischen Frage für unnatürlich und verhängnisvoll". (Rus', 25.1.1886 (r.D.), in: Aksakov, a. a. 0., S. 791.) Katkov an Alexander III., 26. XII. 1886/7.1. 1887, in: Krasnyj Archiv, Bd. LVIII, Moskau 1933, S. 69 ff. — Diesen Ansichten Katkovs schloß sich danach auchS. S.Tatiscev an. (Vgl. hierzu S. S.Tatiscev, Iz proslogo russkoj diplomatii, St. Petersburg 1890, 225 S. 505 ff., 554 ff.) GP, Bd. V, Nr. 1061. Lamzdorf, a.a.O., S. 59; GP, Bd. V, Nr. 1073. B. v. Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. IV, Berlin 1931, S. 565 f., 613; GP, Bd. V,Nr. 1003.

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Reich vorzufühlen. Außerdem wurde Anfang Januar Peter Suvalov, der sich aus den Tagen des Berliner Kongresses Bismarcks Sympathie bewahrt hatte, nach Deutschland geschickt, um dort die Meinung der deutschen Diplomatie zum Abschluß eines Zweikaiserabkommens zu sondieren. 228 Die unternehmungslustigen alten Herren gingen dabei weiter, als ihnen Giers aufgetragen hatte. Bei beiden Brüdern hatten sich schon im Herbst 1886 Anzeichen gezeigt, daß sie — im Bündnis mit Deutschland — einen wesentlich energischeren außenpolitischen Kurs als Giers einzuschlagen gedachten. Beide hätten es f ü r richtig empfunden, wenn sich Deutschland in dem neuen Vertrag verpflichtete, Rußland die Eroberung der Meerengen und Bulgariens zuzubilligen, während Rußland dafür Deutschland seine Neutralität in einem deutsch-französischen Krieg garantieren sollte. 229 Sie waren also bereit, ebenso wie Saburov wenige Jahre zuvor, die Großmachtstellung Frankreichs und damit das europäische Gleichgewicht den Nahostinteressen des Zarismus zu opfern. Diesen ihren Vorstellungen entsprechend, gingen sie in Deutschland vor. In einem Gespräch mit Herbert von Bismarck am 6. Januar 1887 unterbreiteten sie den Vorschlag, das Dreikaiser,, bündnis" durch ein deutsch-russisches Abkommen zu ersetzen. Sie versicherten ihm, „daß der Kaiser Alexander niemals Deutschland angreifen wird, am allerwenigsten im Bunde mit Frankreich". Sie boten Rußlands Neutralität bei einem deutsch-französischen Krieg an, „einerlei ob Frankreich Deutschland angreift oder ob Sie (d. h. Deutschland — S. K.) Frankreich mit Krieg überziehen und ihm 14 Milliarden Kontribution auferlegen, ja selbst einen preußischen General als Gouverneur nach Paris setzen". Dafür forderten die Suvalovs von Deutschland, Rußland nicht daran zu hindern, die Meerengen zu besetzen, seinen Einfluß in Bulgarien wiederherzustellen und Rußland außerdem dazu zu verhelfen, „daß Österreich die Ausübung des beabsichtigten russischen Einflusses in Bulgarien" nicht verhindere, wofür sie Österreich Serbien überlassen wollten. 230 Vier Tage später wurde von Bismarck und den beiden Suvalovs ein dementsprechendes Vertragsprojekt entworfen. 231 Bismarck war über den Verlauf der Verhandlungen mit seinen beiden alten Freunden begeistert, hielt seine bekannte Rede im Reichstag und sah den Zeitpunkt offensichtlich f ü r gekommen, den Krieg gegen Frankreich zu beginnen. 232 Doch er hatte zu früh frohlockt. Die Rede Bismarcks im Reichstag, das Septennat und die Vorbereitungen Deutschlands zu einem neuen Krieg mit Frankreich brachten die russische Öffentlichkeit, 228 229

230 232

Lamzdorf, a. a. 0., S. 22. Schweinitz, a. a. 0., S. 326; GP, Bd. V, Nr. 979, 989; V. Frank/E. Schüle, Graf Pavel A. Suvalov, russischer Botschafter in Berlin 1885—1894, in: Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte, VII (Neue Folge III), Heft 4, 1933, S. 536. 231 GP, Bd. V, Nr. 1062. GP, Bd. V, Nr. 1063. Lucius v. Ballhausen, a. a. 0., S. 263; Manfred, Vnesnjaja politika..., a. a. 0 . , S. 377 ff.; I. Füller, Bismarck's Diplomacy in its Zenith, Cambridge 1922, S. 138; DD, Serie I, Vol. VI, Nr. 437, Telegramm Bleichröders, Januar 1887.

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welche über das Verhalten der deutschen Diplomatie in der Bulgarienkrise ohnehin sehr aufgebracht war, in starke Erregung. Die Anhänger einer außenpolitischen Orientierung Rußlands auf Frankreich begannen ihren Kampf um die Durchsetzung ihrer außenpolitischen Konzeption zu aktivieren. Zum Wortführer der Gegner der Giersschen deutschfreundlichen Außenpolitik machte sich auch hier Katkov. Katkov wollte nicht nur von einem Vertrag zwischen den drei Kaisern, sondern auch von einem Separatabkommen mit Deutschland nichts mehr wissen. Katkovs Presseorgane hatten schon lange durch ihre Forderungen nach Erhöhung der Schutzzölle, nach Maßnahmen gegen die deutsche industrielle Konkurrenz und gegen die wirtschaftliche Abhängigkeit Rußlands von Deutschland die ökonomischen Gegensätze zwischen Deutschland und Rußland widergespiegelt und in gewissem Grade selbst verschärft. Die politische Zusammenarbeit mit Deutschland, das deutsch-russische „Bündnis" hatten sie aber noch so lange unterstützt, wie Rußland Deutschlands Hilfe im Kampf um Mittelasien brauchte und es noch nicht offensichtlich geworden war, daß Deutschland Rußland in Bulgarien nicht konsequent zu unterstützen gedachte. Die Gelegenheit, die Illusionen in dieser letzten Frage zu beseitigen, bot sich während der Balkankrise. Katkov begann Mitte des Jahres 1886 seinen Feldzug gegen die deutsche Diplomatie, was Hoetzsch mit Recht als „die bewußt gewordene Abkehr" Katkovs „von der bisherigen Politik" 2 3 3 bezeichnete. Er warf Giers vor, er habe Rußland in entwürdigende Abhängigkeit von Deutschland gebracht, Bismarck sei es gelungen, Rußland vom Balkan zu verdrängen, und habe trotzdem noch den Mut, im Namen der deutsch-russischen „Freundschaft" zollpolitische Zugeständnisse von Rußland zu fordern. Rußland verbänden mit Deutschland nur noch das abstrakte monarchische Prinzip, doch keine realen Interessen. Rußland brauche keine politischen Bündnisse, sondern Handlungsfreiheit und gute Beziehungen zu Deutschland und Frankreich. 234 Ähnlich wie nach dem Berliner Kongreß entbrannte nun zwischen einigen russischen Zeitungen und den deutschen offiziösen Blättern ein regelrechter Pressekrieg. Die Haltung des Zaren wurde schwankend. 235 Die deutschfreundliche Partei holte zum Gegenschlage aus. Bereits im September 1886 wurde der Korrespondent der „Moskovskie Vedomosti" in Berlin, Veselitskij Bozidarovic 236 , von Suvalov und Murav'ev auf die russische 233

234 235

236

Hoetzsch, Rußland, a. a. 0., S. 65. — Schon früher hatte Katkov das Verhalten der deutschen Diplomatie mehrmals angegriffen (vgl. z. B. Moskovskie Vedomosti, Nr. 334, Dez. 1885, [r.D.]) und auch zuweilen schon eine imgebundenere Außenpolitik gefordert (ebenda, Nr. 35, Febr. 1886, [r.D.]) der völlige Umschwung seiner außenpolitischen Ansichten setzte aber erst im Sommer 1886 ein. Moskovskie Vedomosti, Nr. 197, 19./31. VII. 1886; Nr. 221, August 1886 (r.D.). Alexander III. verlieh z . B . im November 1886 Katkov einen Orden, wagte es aber nicht, Giers irgendwie auszuzeichnen. ( L a m z d o r f , a. a. O., S. 28.) Näher über ihn: S. M. v. Propper, Was nicht in die Zeitung kam, Frankfurt a. M. 1929, S. 169 ff.

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Botschaft beordert, wo ihm mit aller Deutlichkeit erklärt wurde, er habe dafür zu sorgen, daß sich der Ton der Katkovschen Blätter gegenüber Deutschland ändere. Die zaristische Regierung habe nicht die Absicht, ihre Freundschaft zu Deutschland zu gefährden. Nicht Deutschland, sondern Rußland trage die Schuld, wenn es in der Balkankrise keine Erfolge errungen habe. Katkov greife die geplanten Zolltarifverhandlungen mit Deutschland, über die er offensichtlich nur oberflächlich informiert sei, zu Unrecht an. Wenig später suchte Murav'ev in Absprache mit Suvalov Katkov selbst auf und bemühte sich, ihn von seiner Position abzubringen. 237 Als diese Versuche an Katkovs Haltung nichts änderten, setzte man energischere Mittel ein. Auf Veranlassung von Giers erschien am 15. Dezember 1886 im „Pravitel'stvennyj Vestnik" eine offizielle Erklärung, welche die Freundschaft zu Deutschland betonte und „die Unüberlegtheit und die Überheblichkeit in den Urteilen, die in den Presseorganen geäußert würden, zumal deren Stimme nicht ohne Bedeutung f ü r die internationalen Beziehungen sei", scharf angriff. 238 Wenn Giers sich von dieser öffentlichen Rüge für Katkov das Ende der antideutschen Pressekampagne erhofft hatte 239 ) so erreichte er genau das Gegenteil. Katkov weigerte sich, die Erklärung des Regierungsorganes in seinen Blättern zu veröffentlichen, und brachte einen Gegenartikel heraus. Außerdem reiste er sofort nach Petersburg, um beim Zaren die Absetzung von Giers durchzusetzen und zu erreichen, daß ein Mann den Posten des Außenministers erhielte, der nicht nur bereit wäre, die Organisierung eines Aufstandes in Bulgarien zu unterstützen 240 , sondern auch ein Abkommen mit Deutschland zu verhindern. Offensichtlich wurde Katkov zunächst beim Zaren nicht vorgelassen. Infolgedessen schrieb er drei Briefe an Alexander III., um diesen von der Unhaltbarkeit der Giersschen Außenpolitik zu überzeugen. Uns interessieren hier vor allem der erste und der dritte Brief. 241 Katkovs Briefe an den Zaren

In seinem ersten Brief vom 7. Januar 1887 bezeichnete Katkov die Veröffentlichung im Regierungsblatt als „traurigen Fehler", als Selbsterniedrigung Rußlands vor Deutschland, durch die man sich in die deutsche Hand brächte, aber sonst nichts erreiche. Katkov sprach sich mit aller Deutlichkeit gegen ein Bündnis mit Deutschland aus und wies den Zaren darauf hin, daß sich die zaristische Regierung, wenn sie den Interessen der „patriotischen" Kräfte Rußlands nicht entgegenkomme, der Gefahr einer Revolution aussetze. 237 238

239 240 241

ROLB, F. 120, p. 22, Bl. 166, Veselitskij Bozidarovic an Katkov, 28. VIII./9. IX. 1886. Pravitel'stvennyj Vestnik, Nr. 265, 3./15. XII. 1886, in: Krasnyj Archiv, Bd.LVIII, Moskau 1933, S. 60. Lamzdorf, a. a. O., S. 4 ff. Ebenda, S. 10. Katkov an Alexander III., 26. XII./7.1. 1887 und 8 . / 2 0 . 1 . 1 8 8 7 , in: Krasny Archiv, Bd. LVIII, Moskau 1933, S. 60 ff., S. 77 ff.

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In aller Ausführlichkeit legte er dem Zaren seine außenpolitische Konzeption dar: Ein Separatabkommen mit Deutschland gäbe Rußland nichts. Würde Rußland nicht beabsichtigen, in der nächsten Zeit im Nahen Osten entschiedener vorzugehen, so sei ein solches Bündnis für Rußland schädlich, weil es Rußland von Deutschland abhängig mache, es Deutschland gegenüber verpflichte, von den übrigen Ländern hingegen isoliere und es'vor ihnen kompromittiere. Würde Rußland jedoch im Nahen Osten gegen Österreich-Ungarn Krieg führen, so könne Deutschland, selbst wenn es die Absicht dazu habe, Rußland nicht helfen, weil es sich der Gefahr eines Krieges mit Frankreich oder sogar noch mit England aussetze. Rußland sei ungebunden stärker als im Bündnis mit Deutschland. Rußland müsse sich Handlungsfreiheit bewahren. Es müsse nicht nur mit Deutschland, sondern auch mit anderen Großmächten, die Rußland gegenüber keine feindlichen Absichten hätten, gute Beziehungen unterhalten. Ungebunden könne Rußland zwischen Frankreich und Deutschland vermitteln, zu beiden Staaten gute Beziehungen unterhalten, den Frieden in Europa garantieren, Rußlands Autorität auf dem Balkan heben. Ungebunden könne es Deutschland mit der Drohung, mit Frankreich „unter bestimmten Umständen vereint vorzugehen", zu Zugeständnissen zwingen und sich nicht Frankreich durch vorzeitige Bindung an Deutschland zum Feinde und damit zum Verbündeten Englands, des Hauptgegners Rußlands, machen. Ungebunden würde es sich die Möglichkeit erhalten, andere Abkommen abzuschließen, die nicht weniger günstig, wenn nicht sogar günstiger für Rußland seien. Das Verhältnis zu Frankreich spielt also, wie sich zeigt, hier bereits eine große Rolle, wenn auch von einem Bündnis mit ihm vorläufig nur in Andeutungen die Rede ist. Frankreich fungiert hier nur als Druckmittel gegenüber Deutschland, als möglicher Verbündeter Rußlands. Ein engeres Verhältnis zu Frankreich wird jedoch durch die Feststellungen, daß 'es zwischen Rußland und Frankreich Meinungsverschiedenheiten nur in Glaubensfragen gebe (ein republikanisches Frankreich würde jedoch die katholische Politik im Orient nicht besonders forcieren!) und daß es Rußland gegen England helfen könne, vorbereitet. 242 In seinem dritten Brief vom 20. Januar 1887, also nach der Rede Bismarcks im Reichstag, ging Katkov noch weiter. Ihn ängstigte der Gedanke, Bismarck könne von der Neutralität Rußlands in einem neuen deutsch-französischen Kriege überzeugt sein. Er beschwor den Zaren, sich Deutschland gegenüber nicht darauf festzulegen, welche Stellung Rußland zu einem solchen Kriege einnehmen würde. Garantiere Rußland Deutschland die Neutralität, so habe es sich zum Verbündeten Deutschlands gemacht und sich — selbst wenn der Krieg mit Frankreich nicht ausbrechen würde — vor Frankreich kompromittiert und Frankreich zu seinem Gegner gemacht. Wenn Rußland die Absicht habe, einen Krieg um den Nahen Osten zu beginnen, so könne „das einzig günstige aktive Bündnis f ü r uns nur das mit Frankreich sein". 243 Wolle es einen solchen Krieg nicht, so solle es sich völlige Handlungsfreiheit bewahren. 27,2 243

Katkov an Alexander III., 26. XII. 1886/7.1.1887, in: ebenda, S. 60ff. Katkov an Alexander III., 8./20.I. 1887, in: ebenda, S. 77 f.

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Die Evolution der Ansichten Katkovs in der Frage des französisch-russischen Zusammengehens ist typisch für die Entwicklung des Verhältnisses jener Kreise Rußlands zu Frankreich, die Anhänger einer aktiveren Außenpolitik waren, obwohl Katkov im Jahre 1887 — das wird sich im weiteren zeigen — einen großen Teil der Kräfte, die sich ihm gegen Giers anschlössen, in der Konsequenz seines Programms (bis zum Bündnis mit Frankreich!) übertraf. Katkovs Stellung zu Frankreich

In der Zeit, als Frankreich noch zu schwach war, um eine ernsthafte Rolle in Europa spielen zu können, und dann unter Waddington und Jules Ferry seinen Schwerpunkt in der Kolonialpolitik und nicht in der europäischen Politik suchte, hatten, wie bereits festgehalten wurde, im Gegensatz zu einigen liberalen Kreisen und einigen abenteuerlichen zaristischen Militärs sowohl die konservativen Organe von den „Moskovskie Vedomosti" bis zum „Grazdanin" als auch Leute wie Miljutin, Saburov, Suvalov und Giers ein Bündnis mit Frankreich abgelehnt. 244 Die Stellung Katkovs zu Frankreich begann sich jedoch dann zu ändern, als Frankreich sich nach seinen Niederlagen in der Kolonialpolitik wieder stärker um die europäischen Angelegenheiten zu kümmern anfing und als man sich in Rußland von den Illusionen über den Charakter der politischen und ökonomischen Beziehungen zu Deutschland löste, wozu die Balkankrise und die ständige Zunahme der handelspolitischen Gegensätze zwischen den herrschenden Klassen beider Länder die beste Gelegenheit boten. Katkov sah in Frankreich nun zwar nicht gleich einen Verbündeten. Aber er begann sich doch wesentlich mehr f ü r Frankreich zu interessieren und versuchte, Frankreichs Außenpolitik in eine seinen eigenen Plänen genehme Richtung zu lenken. 245 Jeden Schritt der französischen Regierung, der dazu angetan war, Frankreich auf dem Kontinent wieder eine gewichtigere Stellung einzuräumen, verfolgte er mit großer Aufmerksamkeit. Ende des Jahres 1886 stellte er mit großer Genugtuung fest, daß Frankreich, ebenso wie Rußland, an der Erhaltung des Gleichgewichts der Kräfte und der Erhaltung des Ottomanischen Reiches interessiert sei. 246 Aber auch dann stand ein Bündnis mit Frankreich für Katkov und seine Anhänger noch nicht auf der Tagesordnung. Bis in den Sommer 1886, als er seine Haltung gegenüber Deutschland bereits geändert hatte, protestierte Katkov mit allem Nachdruck dagegen, in ihm einen Verfechter der franco-russischen Allianz zu sehen. 247 Als Deroulede, das Haupt der französischen Liga „de la revanche", 244

Vgl. Kap. 1/4. ' Er machte der französischen Regierung in seinen Blättern z. B. wiederholt den Vorwurf, daß Frankreich durch seine innere Unordnung und seine kolonialen Abenteuer auf dem europäischen Kontinent besonders während der Balkankrise nur noch die Rolle eines teilnahmslosen Zuschauers spielte. (Vgl. z. B. Moskovskie Vedomosti, Nr. 3, Januar 1886 [r.D]). 246 Russkij Vestnik, Nr. 185/2, Oktober 1886, S. 402 (r.D.). 247 Moskovskie Vedomosti, Nr. 197, Juli 1886 (r.D.).

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im August 1886 in Rußland weilte und Kireev für ein Bündnis mit Frankreich gegen Deutschland zu gewinnen suchte, fand er ungeachtet dessen, daß Frankreich Rußland in Bulgarien und in der Batumfrage zu unterstützen begann 248 , weder bei Kireev noch bei Katkov Entgegenkommen, da „in Frankreich keine stabile Regierung an der Macht sei". 249 In dem Maße jedoch, wie ein neuer Überfall Deutschlands auf Frankreich an Wahrscheinlichkeit zunahm (Rede Bismarcks im Reichstag, Septennat, SchnäbeleAffäre), wuchs das Interesse Katkovs am weiteren Schicksal Frankreichs. Er zog die letzte Konsequenz aus seiner außenpolitischen Wendung: Nur ein Bündnis mit Rußland konnte Frankreich vor der Vernichtung durch Deutschland bewahren und es als Gegengewicht gegen Deutschland in Westeuropa und als Verbündeten gegen England im Nahen Osten erhalten. „Wenn wir unsere Würde erhalten, unsere Interessen wahren, die entsprechende Macht in Europa erringen und die Rußland gebührende Macht im Nahen Osten erlangen wollen, ohne zu den Waffen zu greifen, so bleibt uns im gegenwärtigen Zeitpunkt nichts übrig, als ein Verteidigungsabkommen mit Frankreich" abzuschließen, in welchem „Rußland die führende Rolle spielen wird". Frankreich sei die „einzige Großmacht in Europa, die überhaupt und besonders augenblicklich mit uns in keinem Interesse zusammenstößt... Im Verteidigungsbündnis mit Frankreich erringen wir die Macht, die uns vor jeglichem Anschlag, ganz gleich von welcher Seite, bewahrt. . . . Keine Koalition kann uns mehr gefährlich sein". Die Türkei und Bulgarien und die anderen Balkanstaaten würden sich, wenn Rußland mit Frankreich verbündet sei, anders zu ihm verhalten als bisher. Nur Frankreich könne Rußland im Nahen Osten gegen die englische Seemacht helfen. Und diesen einzig denkbaren Bundesgenossen wolle Giers nicht nur von Rußland abstoßen, sondern ihn seiner Vernichtung durch Deutschland preisgeben und „damit alle Prinzipien des europäischen Gleichgewichts zerstören". 250 Zu diesen politischen Motiven der Evolution des Verhältnisses Katkovs zu Frankreich, die von dem internationalen Kräfteverhältnis und den außenpolitischen Plänen der herrschenden Klassen sowohl Frankreichs als auch Rußlands bestimmt wurden, kamen ökonomische Beweggründe. Rußland war in den siebziger und achtziger Jahren in die finanzielle Abhängigkeit von Deutschland geraten. Deutschland hatte nach dem französischen Milliardensegen und dem Aufblühen von Industrie und Handel über eine große Summe freier Kapitalien verfügt. 251 In der Anlage seiner Kapitalien im zaristischen Rußland sah es nicht nur eine ideale Quelle für Riesenprofite, sondern auch ein Mittel, 248 349 250

231

Körlin, a. a. 0-, S. 104, 113. ROLB, F. 126, p. 10, Tagebuch Kireevs, Bl. 1 8 8 - 1 9 1 , (August 1886) (r.D.). Katkov an Alexander III., 31. III./12. IV. 1887, in: Krasnyj Archiv, ebenda, S. 81 ff. Die falsche Ansicht Grünings (a.a.O., S. 99, 105, 127), Katkov sei vor allem ein Vertreter der Politik der freien Hand, nicht aber des Bündnisses mit Frankreich gewesen, erklärt sich vor allem daraus, daß ihr der Briefwechsel Katkovs nicht bekannt war. Ausführlich darüber Kap. III/2.

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seine freundschaftlichen Gefühle zu seinem östlichen Nachbarn laufend unter Beweis zu stellen. Die französischen Banken jedoch, die gemeinsam mit den englischen in den fünfziger und sechziger Jahren dem Zarismus mehrfach hilfreich unter die Arme gegriffen hatten, waren vor allem dem starken russischen Bedürfnis nach Anleihen nach 1871 zunächst nicht gewachsen, später waren sie wenig daran interessiert, zugunsten Rußlands die finanzielle Untermauerung ihrer Kolonialpolitik einzuschränken. Die finanzielle Abhängigkeit Rußlands von Deutschland konnte weder der zaristischen Heeresleitung wie der zaristischen Finanzverwaltung noch den russischen Industriellen, die in Deutschland ihren Hauptkonkurrenten auf dem russischen Markt sahen, angenehm sein. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn in Rußland in dem Maße, wie in Frankreich die Möglichkeiten zum Kapitalexport nach Rußland zunahmen, Leute wie Katkov die wirtschaftliche Annäherung an Frankreich suchten, zumal die französische Industrie ihnen auf dem russischen Markt nicht gefährlich werden konnte. Frankreich verfügte jetzt über genügend freie Kapitalien, um sie für die Vergrößerung der russischen Industrie, für die Erweiterung des russischen Eisenbahnnetzes, für die Umbewaffnung der zaristischen Armee und den Wiederaufbau der russischen Flotte nutzbar zu machen. War es da nicht naheliegend, sich mit diesem Land auch politisch zu verbünden? Katkov forderte von der zaristischen Regierung, Frankreich für die russischen Anleihen zu interessieren, und griff auch selbst in das Geschehen ein. Der berühmte und berüchtigte Verbindungsmann Katkovs nach Paris, der Korrespondent der „Moskovskie Vedomosti", Cyon, nahm Ende des Jahres 1886 mit Wissen Katkovs zu den Pariser Rothschilds Verbindung auf, um sie f ü r die russischen Finanzen zu interessieren. Als er bei ihnen auf Entgegenkommen stieß, versuchte er das russische Finanzministerium 252 mit der Begründung f ü r den französischen Geldmarkt zu gewinnen, es sei gefährlich, wenn Rußland allein vom deutschen Geldmarkt abhinge. Seine Bestrebungen fanden bei Vysnegradskij die vollste Unterstützung. Schon im Mai 1887 konnte Katkov seinen Lesern voller Genugtuung berichten, daß die zaristische Regierung nach zehnjähriger Ruhepause endlich wieder ein Geschäft mit den Pariser Rothschilds abschließen werde — „das erste Zeichen der angebahnten Beziehungen" zu Frankreich. 253 Die Entwicklung der Katkovschen Anschauungen zur russischen Bündnispolitik war ein Barometer f ü r die Stimmungsveränderungen in der russischen Öffentlichkeit, welche nicht zuletzt durch die neuen diplomatischen Niederlagen des Zarismus hervorgerufen worden waren. Ebenso wie nach dem Berliner Kongreß kam die Unzufriedenheit mit der zaristischen Außenpolitik auch jetzt nicht nur in der konservativen, sondern auch in der liberalen Presse zum Ausdruck. Sie fand ihre Anhänger auch innerhalb der Regierungskreise. 252

253

ROLB, F. 120, p. 39, Bl. 36 und 59, Cyon an Katkov, Nov. und Dez. 1886; ebenda, Bl. 40, 41 und 56, Cyon an Katkov vom 1. II. 1887, 13. III. 1887 und Sommer 1887. Moskovskie Vedomosti, Nr. 137, Mai 1887 (r.D.). — Vgl. hierzu auch: Cyon, a.a.O., S. 228 ff., 355 f.

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Die Kritik an Giers findet neue Anhänger

Ein belgischer Gesandtschaftsbericht aus Petersburg vom März 1887 charakterisiert die Stimmung in der russischen Öffentlichkeit damit, daß „diesmal alle Zeitungen ohne Unterschied die Partei Katkovs in der sehr deutlichen Absicht unterstützten, die Erneuerung des Bundes der drei Kaiserreiche zu verhindern, der in dieser Zeit abläuft". 2 5 4 „Rußland ist nicht gewillt, einer neuen Zerschlagung Frankreichs gleichgültig zuzusehen, selbst wenn man ihm dafür im Orient volle Handlungsfreiheit gewähren sollte" 255 , verkündete im April 1887 der liberale „Vestnik Evropy". „Es ist nicht mehr nötig, an die Tücke und Falschheit der deutschen Diplomatie gegenüber Rußland zu erinnern: jeder kennt jetzt den Wert und versteht die Bedeutung von Dreikaiserbündnissen im Namen des Friedens in E u r o p a . . . Sie dienten dazu, die Leidenschaften zwischen uns und Österreich im Nahen Osten zu entfachen", konnte man im Mai 1887 in den „BiräSevye Vedomosti" lesen, die sich nun entschieden gegen den Abschluß irgendwelcher Bündnisse und Abkommen aussprachen, obwohl auch sie zugeben mußten, daß Frankreich sehr erstarkt und ein wichtiger Faktor in der europäischen Politik geworden sei. 256 Frankreich der Vernichtung preiszugeben „würde nicht nur den nationalen Sympathien, sondern auch den allerwesentlichsten politischen Interessen Rußlands widersprechen", schrieben die „Russkije Vedomosti" und forderten zu einer Außenpolitik ohne Bündnisverpflichtungen auf. 257 Und selbst der „Kievljanin", das Organ der südrussischen Getreideexporteure, welcher auch in dieser Zeit seine freundschaftlichen Gefühle zu Deutschland — nicht aber zu dessen Verbündeten, Österreich-Ungarn, — immer wieder betonte, sah sich gezwungen, hervorzuheben, daß Rußland eine neue Vernichtung Frankreichs durch Deutschland nicht zulassen würde. 258 Das entschiedene Vorgehen Katkovs und die Stimmung in der russischen Öffentlichkeit veranlaßten auch Angehörige der Regierungskreise, ihre Tätigkeit gegen Giers wieder zu aktivieren. Die Stimmung in der Öffentlichkeit beeinflußte sogar einige Giers bisher treu ergebene Regierungsmitglieder darin, ihre Haltung zu verändern. Ignat'ev, Vorsitzender des Slavischen Wohltätigkeitsvereins und Mitglied des Staatsrats, der auch in den vergangenen Jahren seine engen Beziehungen zu den Moskauer Panslavisten nicht aufgegeben hatte 259 , trat in Beziehungen zu Voejkov, 254

255 256 257 258

2d9

8

Zur europäischen Politik. Unveröffentlichte Dokumente. Im amtlichen Auftrage herausgegeben von B. Schwerdtfeger, Bd. V, Revancheidee und Panslavismus. Belgische Gesandtschaftsberichte . . . , Berlin 1919, S. 187. Vestnik Evropy, 4. IV. 1887, S. 408 f. (r.D.). Birzevye Vedomosti, Nr. 117, 2. V. 1887, Nr. 132, 17. V. 1887 (r.D.). Russkie Vedomosti, Nr. 41 u. 42, 11. u. 1 2 . 1 1 . 1 8 8 7 (r.D.). Kievljanin, Nr. 250, 16. XI. 1886; Nr. 12, 1 6 . 1 . 1 8 8 7 ; Nr. 26, 1. II. 1887; Nr. 30, 7. II. 1887; Nr. 95, 2. V. 1887 (r.D.). Ignat'ev forcierte z. B. nach dem Tode Aksakovs die Herausgabe von dessen Werken. (ROLB, F. 126, p. 10, Tagebuch Kireevs, Bl. 162, 14. III. 1886 (r.D.).) Bismarcks ,, Draht nach Bußland"

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einem Mitarbeiter Katkovs 260 , und hielt durch ihn Katkov über außenpolitische Ereignisse auf dem laufenden. Er warnte Katkov Ende Februar 1887 über diesen Mittelsmann, daß „man uns von Berlin aus augenblicklich zu irgendeinem entscheidenden Schritt drängt, der Frankreich klar beweisen würde, daß man auf uns in keinem Falle zu rechnen hätte". Ignat'ev befürchtete nämlich, daß diese Versuche Berlins Erfolge haben könnten und „die natürliche Folge ein festes Bündnis gegen uns in der östlichen Frage sein" würde. Kurz danach ließ er Katkov mitteilen, es bestünde die Absicht, „in den nächsten Wochen ein Abkommen mit Deutschland" abzuschließen, „in welchem sich Kußland bereit erklären" würde, „bei einem Überfall Frankreichs auf Deutschland neutral zu bleiben". Bei einem solchen Abkommen „würden sich die Beziehungen zwischen Frankreich und Rußland verschlechtern, würde sich Frankreich, auch wenn es nicht zu einem deutschfranzösischen Krieg käme, einem Bündnis gegen" Rußland „zur Lösung der Nahostfragen anschließen und Rußland ein hoffnungsloser und schwerer Krieg drohen". 261 Ignat'ev wurde f ü r Katkov und Kireev der Mann, mit dessen Hilfe sich beide auf dem Balkan neue Erfolge erhofften. Katkov empfahl dem Zaren seinen Günstling — er sei zwar ein schlechter Innenminister, jedoch ein guter Diplomat gewesen — und versuchte, ihn auf den Posten von Giers zu bringen. 262 Auch Saburov, der in den ersten Jahren nach seiner Entlassung aus dem diplomatischen Dienst die Beziehungen zu Kireev und zu Katkov aufrechterhalten hatte — offensichtlich unterrichtete er Katkov schon im Herbst 1884 über die Erneuerung des geheimen Dreikaiser„bündnisses"! 263 —, trat wieder stärker in Erscheinung. In seinen Briefen und in persönlichen Aussprachen mit Katkov im Januar 1887 warnte er diesen vor einem deutsch-russischen Abkommen und schloß sich Katkovs Forderung nach einer Politik der „freien Hand" an, weil Deutschland eine Vernichtung Österreich-Ungarns offensichtlich niemals zulassen würde. 264 Saburov, der noch vor sechs Jahren ganz auf Deutschland gesetzt hatte und damals bereit gewesen war, Frankreich und das europäische Gleichgewicht zu opfern, wenn Rußland dafür mit deutscher Hilfe die Meerengen erhalten hätte, lehnte jetzt einen Vertrag mit Deutschland entschieden ab. Sowohl ein Dreikaiser„bündnis" als auch ein Separatbündnis mit Deutschland würde Frankreich, den zukünftigen Verbündeten Rußlands, der Gefahr einer zweiten Vernichtung preisgeben, Rußland würde sich Frankreich zum Gegner machen, das europäische 260

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263 264

D. I. Voejkov — einer der größten Gutsbesitzer des Simbirsker Gouvernements — von Golovin wegen liberaler Tendenzen als „monarchischer Halbdemokrat" charakterisiert. (K. Golovin, Moi Vospoininanija, Teil II [1881—1894], St. Petersburg, 1910, S. 54.) ROLB, F. 120, p. 23, Bl. 38, Voejkov an Katkov, 13./25. II. 1887; Bl. 40, Voejkov an Katkov, 22. II./6. III. 1887. Katkov an Alexander III., 26. XII. 1886/7.1. 1887, in: Krasnyj Archiv, ebenda, S. 6 3 ; ROLB, F. 126, p. 10, Tagebuch Kireevs, Bl. 211 (Jan./Febr. 1887), Bl. 231 (6.,'18. V. 1887), sowie E. M. Feokistov, Vospominanija, Za Kulisami politiki i literatury, 1 8 4 8 - 1 8 9 6 , London 1929, S. 261. ROLB, F. 126, p. 10, Tagebuch Kireevs, Bl. 139, 12./24.XII. 1885. ROLB, F. 120, p. 24, Bl. 1 5 6 - 7 , Saburov an Katkov, Januar 1887.

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Gleichgewicht gefährden und in diplomatische Isolierung geraten. Saburov sah voraus, daß sich mit der Annäherung Rußlands an Frankreich der Schwerpunkt der zaristischen Außenpolitik vom Nahen Osten nach Westeuropa verlagern und daß der Schutz Frankreichs im Interesse des europäischen Gleichgewichts fortan die zaristische Außenpolitik weitgehend — in gewisser Beziehung sogar auf Kosten der Nahostinteressen des Zarismus — bestimmen sollte. Saburov gab sich aber im Gegensatz zu Katkov 1887 noch der Illusion hin, daß Rußland seine Nahostpläne nur dann durchsetzen könne, wenn es „seine Flanke und sein Hinterland durch ein Bündnis mit Deutschland decken" würde. Ohne ein russisch-deutsches Bündnis hingegen seien England und Österreich-Ungarn auf dem Balkan die Überlegenen. 265 Zu den Kritikern der Giersschen Außenpolitik gehörte auch Miljutin, der noch immer engste Beziehungen zu den Hof- und Regierungskreisen, zu Großfürst Konstantin Nikolaevic, Giers, Obrucev, Golovin sowie auch zu Cicerin, Saburov, Ignat'ev u. a., unterhielt. Miljutin war über Giers' Unentschlossenheit und dessen sinnlos gewordenen Glauben an die „Freundschaft" Bismarcks enttäuscht. Er nahm schon im Jahre 1885 zu Aksakov persönlichen Kontakt auf und stellte fest, daß sich seine eigenen Anschauungen denen der Panslavisten immer mehr näherten. Trotz der diplomatischen Niederlagen Rußlands auf dem Balkan hielt er es aber auch jetzt noch f ü r nötig, einen Krieg möglichst lange hinauszuschieben. Rußland müsse rüsten, um den Krieg zu vermeiden, schrieb er im Sommer 1886 an Obrucev, denn es habe einen Krieg gegen eine Koalition mehrerer Staaten zu erwarten und „dazu seien die Kräfte Rußlands, das den Krieg ohne Verbündeten führen müsse, noch zu schwach". 266 Auch hohe russische Militärs forderten eine andere Bündnispolitik. Rußlands Kriegsminister Vannovskij 267 , der Generalgouverneur von Warschau, Gurko, der Generalstabschef des Zaren, Obrucev, sowie General Bogdanovic drängten auf ein Bündnis mit Frankreich, das seine Armee in so imponierend schneller Weise wiederhergestellt hatte. Rußlands Infanterie sei der von Österreich-Ungarn und Deutschland schon jetzt gewachsen, sein Eisenbahnbau, seine Flotte und sein Festungsbau würden 1887 oder 1888 kriegsbereit sein, berichtete Obrucev an Miljutin und Kireev. 268 General Bogdanovic fuhr im Frühjahr 1887 mit einer 265 266

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CGIAL, F. 1044, op. I, delo205, Bl. 4 - 9 , Saburov an Alexander III., 8./20. VII. 1888. ROLB, F. 169, p. 4, Nr. 5, Tagebuch Miljutins 1886, Bl. 3, 2./14. IV. 1886; ebenda Bl. 6, 22.IV./4. V. 1886; ROLB, F. 169, p. 51, Nr. 97, BL 3, Miljutin an Golovin, 9./21. IV. 1885; ROLB, F. 169, p. 4, Nr. 5, Tagebuch Miljutins 1886, Bl. 11, 21. VI./ 3. VII. 1886; ebenda, Bl. 12, 16./28. VII. 1886. - Die Stellung Miljutins zu den Ereignissen im Frühjahr 1887 ist schwer zu rekonstruieren, weil er sich zu dieser Zeit auf einer Reise durch Europa befand. ROLB, F. 126, p. 10, Dnevnik Kireeva, Bl. 222, 22. III./3. IV. 1887; Lamzdorf, a. a. 0 . , S. 44 f. ROLB, F. 169, p. 71, Nr. 63, Bl. 1 - 2 ; Obrucev an Miljutin, 2./14. VII. 1886; ebenda, F. 126, p. 10, Dnevnik Kireeva, Bl. 185 (Aug. 1886); ebenda Bl. 22 (22. III./ 3. IV. 1887); Lamzdorf, a. a. 0 . , S. 44 f.

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Riickversicherungsvertrag

Empfehlung Katkovs nach Paris 2 6 9 , nahm Kontakt mit einflußreichen französischen Kreisen auf und warb für ein Bündnis zwischen Frankreich und Rußland. Selbst bisher treue Anhänger des deutsch-russischen Zusammengehens konnten sich den Argumenten der profranzösischen Partei nicht länger verschließen. Mescerskij veröffentlichte im Januar 1887 in seinem „Grazdanin" einen Aufsatz gegen Bismarck und trat dafür ein, daß Frankreich und Rußland gegen Bismarck zusammenhalten müßten. 270 Der russische Botschafter in Paris, Mohrenheim, dem Giers bisher fest vertraut hatte, sprach sich ebenfalls für eine Wiederannäherung an Frankreich aus. 271 Innenminister Graf Tolstoj, auf den die deutsche Diplomatie bisher so große Hoffnungen gesetzt hatte und der vor allem wegen des monarchischen Prinzips noch 1884 ein glühender Verteidiger des Dreikaiser „bündnisses" gewesen war 2 7 2 , bezeichnete dieses Abkommen jetzt als „unnatürlich". Bismarck sei daran interessiert, daß Österreich-Ungarn sich auf dem Balkan engagiere, wo Wiens und Petersburgs „Interessen sowohl in politischer als auch in religiöser Beziehung diametral entgegengesetzt seien". „Ein noch engeres Bündnis mit Deutschland in der Form eines Separatabkommens" sei daher „wohl kaum zu wünschen", und eine ungebundene Außenpolitik sei wohl zunächst f ü r Rußland die zweckmäßigste. „Natürlich kann heute nicht einmal die Rede von einer Annäherung an die jetzige französische Regierung sein, aber wenn sich die Lage zuspitzt, wird sie wohl unvermeidlich werden." 2 7 3 Auch Pobedonoscev, der Hüter von Ordnung und Orthodoxie, der mit den Ergebnissen von Giers' Balkanpolitik gar nicht zufrieden sein konnte, begann sich für Katkov einzusetzen und ihn gegen Giers zu unterstützen. 274 Selbst der Zar — zwischen Monarchenfreundschaft und eigenem Prestige hin- und hergerissen — verschloß sich Katkovs Argumenten nicht mehr ganz. Er stellte 269

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Offensichtlich war Bogdanovic an der Herausgabe der Broschüre „Alliance francorusse" beteiligt. Er gab sich in Paris als Bevollmächtigter Katkovs aus (Feokistov, a.a.O., S. 263). Obwohl sich Katkov, als er und der General in Rußland für ihre profranzösische Haltung zur Rechenschaft gezogen wurden, von dem General distanzierte und die Zusammenarbeit mit ihm leugnete (Pobedonoscev i ego. .., a. a. 0., Bd. II, S. 712 f.), hatten Katkov und Bogdanovic doch enge Kontakte. Bogdanovic reiste mit einer Empfehlung von Katkov nach Paris, nahm dort zu Cyon Kontakt auf und kehrte mit geheimen Briefen Cyons an Katkov nach Rußland zurück. (ROLB, F. 120, p. 39, Bl. 40, Cyon an Katkov, 1./13. II. 1887; Feokistov, a. a. O., S. 263.) Mescerskij an Pobedonoscev, 10./22. III. 1887, in: Pobedonoscev i ego . . ., a. a. 0., Bd. II, S. 727 ff. J. Hansen, Diplomatische Enthüllungen aus der Botschafterzeit des Barons von Mohrenhein (1884-1898), Leipzig-Oldenburg-Berlin, o. J„ S. 29 ff.; vgl. auch Körlin, a. a. O., S. 125, 152. Schweinitz hatte z. B. im Juni 1882 an das A.A. geschrieben, er sei überzeugt, „im Grafen Tolstoj einen guten Nachbar erwarten zu können". (DZA/Potsdam, Rdl, 5037, Bl. 16, Schweinitz an das A.A., 14. VI. 1882). - Vgl. GP, Bd. III, Nr. 649. Tolstoj an Alexander III., 28. XII. 1886/9.1. 1887, in: Krasnvj Archiv, ebenda, S. 74 f. GP, Bd. V, Nr. 990. - Vgl. auch Pobedonoscev i ego . . . , a. a. 0., Bd. II.

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voller Beunruhigung fest, daß nicht „nur Katkov, sondern . . . ganz Rußland" gegen Deutschland seien. Wollte er sich nicht der Gefahr aussetzen, das Spiel zu verlieren, so mußte er zwischen beiden Parteien lavieren und die Gegner eines Bündnisses mit Deutschland durch sein Verhalten zu beruhigen versuchen. 275 Er beauftragte Tolstoj im Januar 1887, Katkov f ü r seinen ersten Brief zu danken und ihm mitzuteilen, daß er an Katkovs „Ergebenheit und an seinem Wunsch nicht zweifele, den Interessen des Vaterlandes, wie er sie auffaßt und wie es in seinen Kräften steht, zu dienen". Einen Hetzartikel Katkovs gegen Deutschland aus den ersten Februartagen versah er mit der Randbemerkung „viel Wahres". 276 So entstand bei Giers und Lamzdorf im Januar 1887 der berechtigte Eindruck, daß der Zar „nicht nur gegen den Dreibund, sondern sogar gegen das Bündnis mit Deutschland" sei, daß er mit der Okkupation Bulgariens liebäugele und den französischen Annäherungsbestrebungen in dieser Zeit nicht ganz ablehnend gegenüberstehe. 277 Mit einer derartig großen und aktiven Gegnerschaft gegen ihre Außenpolitik hatten Giers und Lamzdorf und die anderen deutschfreundlichen Kräfte am Hofe und in der Regierung offensichtlich nicht gerechnet. Giers hielt es deshalb auf jeden Fall für das klügste, sich von den Verhandlungen der Suvalovs zu distanzieren, was ihm dadurch erleichtert wurde, daß er mit den Bedingungen des Vertragsentwurfes nicht einverstanden war. 278 Er teilte Paul Suvalov mit, Suvalovs Gespräche mit Bismarck seien „als Privatgespräche . . . , welche keinerlei offiziellen Charakter tragen könnten", anzusehen, und befahl ihm, die Frage in Berlin vorläufig nicht wieder anzuschneiden. 279 Kurze Zeit danach erschien im „Nord", einem dem russischen Außenministerium nahestehenden Organ, eine Erklärung, daß Rußland in einem deutsch-französischen Krieg nicht neutral zu bleiben gedenke und in der nächsten Zeit Konflikte mit Österreich-Ungarn und England zu vermeiden suche. 280 275

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Lamzdorf, a . a . O . , S. 36. — Alexander erklärte Giers mehrmals, daß er sich fürchte, auf das Nationalgefühl Rußlands keine Rücksicht zu nehmen, daß er das Vertrauen seines Landes zu seiner Außenpolitik nicht untergraben wolle, denn sei dieses Vertrauen verloren, so sei alles verloren. (Ebenda, S. 35, 36, 47 u. a.). ROLB, F. 120, p. 11, Nr. 17, Tolstoj an Katkov, 27.1./8. II. 1887; vgl. Feokistov, a. a. 0., S. 252. Lamzdorf, a . a . O . , S. 41, 45 ff., 79, 82 f.; Schweinitz, a . a . O . , Bd. II, S. 336. — Diese schwankende Haltung des Zaren wurde sowohl von S. Goriainow (The End of the Alliance of the Emperors, in: The American Historical Review, Vol. XIII, Nr. 2, Jan. 1918, S. 335 ff.) als auch von Körlin (a.a.O., S. 127 f., 150) übersehen. Giers war, im Gegensatz zu den Suvalovs, weder bereit, in der nächsten Zeit die russische Nahostpolitik zu aktivieren, noch sich Deutschland gegenüber festzulegen, daß Rußland Österreich-Ungarn Serbien überläßt und daß es die territoriale Integrität Österreich-Ungarns nicht angreifen will. (Istorija Diplomatii, a . a . O . , S. 251.) Lamzdorf, a. a. 0., S. 30 ff. Wenn Giers auch Schweinitz gegenüber betonte, er sei mit diesem Artikel nicht einverstanden, so schien er ihm — aus taktischen Überlegungen — zumindest doch nicht ungelegen zu kommen. (Schweinitz, a. a. O., Bd. II, S. 335, 337.)

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Zwischen Dreikaiser„bündnis" und Rückversicherungsvertrag Der Sieg der Giersschen Konzeption

Doch die deutschfreundliche Partei gab ihren Plan nicht auf, ein Abkommen mit Deutschland abzuschließen. Ihr Rückzug im Januar und Februar 1887 war nur ein taktisches Manöver gewesen.281 Giers war sich offensichtlich darüber im klaren, daß die deutsch-russischen Verhandlungen erst dann wieder aufgenommen werden konnten, wenn das deutsche Kriegsgeschrei gegen Frankreich sich etwas beruhigt hatte, wenn die Annäherungsversuche Frankreichs an Rußland abgeschlagen waren 2 8 2 und wenn vor allen Dingen ein Sieg über die profranzösischen Kräfte in Rußland errungen und der Zar eindeutig für ein Separatabkommen mit Deutschland gewonnen war. Wenn alle Überredungskünste von Giers den Zaren auch zunächst kalt ließen 2 8 3 , so brachte doch schließlich ein Argument — Katkov greife nicht nur Giers, sondern auch den russischen Selbstherrscher an, in dessen Händen allein die Leitung der Außenpolitik läge — Alexander schließlich in Wut: „Alles hat seine Grenzen... Katkov wünscht die Rolle irgendeines Diktators zu spielen und vergißt dabei, daß die Außenpolitik von mir abhängt und daß ich und nicht Herr Katkov für ihre Folgen verantwortlich bin", schrieb der Zar und befahl am 19. März, Katkov mit einer öffentlichen Verwarnung zu strafen. 284 Daß es statt zu einer Verwarnung wenige Tage später zu einer ganz „freundschaftlichen" Unterredung zwischen Katkov und Alexander kam, in welcher der „Herrscher aller Reußen" den aufsässigen Journalisten inständig bat, sich mit seinem Außenminister zu versöhnen (!), und in welcher er Katkov außerdem davon zu überzeugen suchte, daß für einen Krieg um Bulgarien noch nicht die Zeit gekommen sei 2 8 5 , war natürlich nicht Giers' Absicht gewesen. Hier hatten die Hüter der inneren Ordnung ins Staatsgetriebe gegriffen. Auf Veranlassung Feokistovs, des Leiters der Presseabteilung des Innenministeriums 286 , war Pobedonoscev zum Zaren geeilt und hatte diesem mit aller ihm zur Verfügung stehenden Überzeugungskraft von einer öffentlichen Verwarnung dringend abgeraten. Katkov habe Rußland bei der Wiederherstellung der Ordnung große Hilfe geleistet und er sei in dieser Beziehung für die Regierung eine unersetzbare Kraft. „Die geplante Maßnahme würde unter den gegenwärtigen Bedingungen keinerlei gute Folgen 281 282

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Lamzdorf sprach das ganz offen aus (a. a. 0 . , S. 59, 63, 66). Manfred, Vnesnjaja politika . . ., a. a. O., S. 399 f., 417 f.; Chvostov, Rossija i germanskaja aggressija . . . , a.a.O., S. 221; Lamzdorf, a.a.O., S. 43 ff., 53 f, 78 f.; DD, Vol. VI, Nr. 4 1 0 ; Hansen, a. a. O., S. 25 ff. Man behauptete z. B., Katkov fälsche die Berichte seiner ausländischen Korrespondenten. (ROLB, F. 120, p. 12, Nr. 29, Feokistov an Katkov, 22. II./6. III. 1887.) Feokistov, a. a. O., S. 252. ROLB, F. 126, p. 10, Tagebuch Kireevs, Bl. 222, 22. III./9. IV. 1887; Feokistov, a. a. 0., S. 258. Feokistovs Sympathien zu Katkov sind u. a. auch dadurch zu erklären, daß Katkov ihm ab und an finanziell unter die Arme griff (vgl. ROLB, F. 120, p. 12, Bl. 28, Feokistov an Katkov, 24. XI./6. XII. 1884).

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haben, denn sie würde in Rußland äußerstes Unverständnis und Verwirrung hervorrufen." 287 Der Zar hatte diesen Argumenten nachgegeben. Statt Katkov eine Verwarnung auszusprechen, hatte man Feokistov nach Moskau geschickt, um ihm eine Einladung zum Zaren zu überbringen und ihm im Namen des „Allerhöchsten" zu eröffnen, man „sei überzeugt, daß Katkov in Zukunft solche Aufsätze über die Außenpolitik unterlassen" würde und daß man „ihn aus Verehrung gegenüber seiner Persönlichkeit nicht öffentlich bestrafen" wolle. 288 Die deutschfreundlichen Kreise waren über diese Wendung der Dinge schockiert. Giers weigerte sich, Katkov zu empfangen. Er wollte nicht zugeben, daß in Rußland „zwei gleichberechtigte politische Systeme nebeneinander" bestünden 289 , und drohte mit seinem Rücktritt. Großfürst Michail Nikolaevic, der sich kurz zuvor in Berlin aufgehalten hatte, befürchtete eine Verschlechterung der Beziehungen zu Deutschland. Die Zarin rügte die Schwäche ihres Gemahls gegenüber Katkov. 290 Abaza, Polovzov und einige andere Angehörige des Staatsrats waren überzeugt, daß nun auch in Rußland „die Anarchie ihre Herrschaft begonnen habe". 291 Nun holte die deutschfreundliche Partei zum nächsten — und letzten — Schlag gegen Katkov aus. Katkov wurde zum Verhängnis, daß er und seine Anhänger nicht nur in Rußland, sondern auch in Frankreich für das russisch-französische Bündnis eintraten. Cyon, der enge Vertraute Katkovs, war Mitte des Jahres 1886 Direktor der Zeitschrift der Madame Adam, „Nouvelle Revue" 292 , geworden und verfocht in diesem und in anderen französischen Presseorganen im Auftrage Katkovs die französischrussische Allianz. Daneben nahm er zu französischen hohen Militärs Verbindung auf und unterrichtete sich über den Zustand der französischen Armee. 293 Außerdem versuchte er mehrmals, einflußreiche französische Politiker f ü r ein Bündnis mit Rußland zu interessieren. 294 So schaltete sich Cyon ein, als in Frankreich das 287

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Pobedonoscev an Alexander III., 11./23. III. 1887, in: Pis'ma K. P. Pobedonosceva, a. a. 0., Bd. II. 289 Feokistov, a. a. 0., S. 254 f. GP, Bd. V, Nr. 1094. Manfred, Vnesnjaja politika . . ., a. a. O., S. 394, Fußnote 6. Pobedonoscev an Alexander III., 17./29. II. 1887, in: Pobedonoscev i ego . . . , a. a. 0., 292 Cyon, a. a. O., S. 165. Bd. II, S. 793 f.; Feokistov, a. a. O., S. 257. ROLB, F. 120, p. 30, Bl. 6 1 - 6 9 , Cyon an Katkov, 16. V. 1887; Körlin, a. a. 0 . , S. 1 5 0 f . Mitte März führte Cyon z. B. ein Gespräch mit einem gewissen Eduard und berichtete Katkov dann darüber. Dieser Eduard hatte einen französischen General „stark bearbeitet. Letzterer neigt sehr zu gemeinsamen Handlungen, aber er fürchtet offene Schritte, weil man diese dem Parlament mitteilen müsse. Der Gedanke, unmittelbar nach der englischen eine französische Flotte ins Schwarze Meer zu schicken, gefiel ihm sehr. Er versicherte, daß das auch ohne vorherige Vereinbarung geschehen wird. Es versteht sich, daß ihnen der Vorschlag des Verteidigungsbündnisses noch mehr gefällt". Allerdings würde der offizielle Vertreter Rußlands in Paris, d . h . der russische Botschafter Mohrenheim, „wenig Vertrauen einflößen". (ROLB, F. 120, p. 39, Bl. 41, Cyon an Katkov, 13. III. 1887.) Cyon empfahl daher Katkov später, sich für die Abberufung Mohrenheims einzusetzen, der in Frankreich nur schaden könne. (Ebenda, Bl. 29, Cyon an Katkov, 24. VII. 1887.)

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Gerücht auftauchte, Floquet, der Präsident der Kammer, würde einen Ministerposten übernehmen und die deutsche Diplomatie wolle Floquet dafür gewinnen, nach der Amtsübernahme auf Elsaß-Lothringen zu verzichten. Es gelang Cyon, Floquet von der Sinnlosigkeit derartiger Kompromisse mit Deutschland zu überzeugen und von ihm das Versprechen zu erhalten, daß er „alles tun würde, was von ihm abhänge, um seine Sympathien zu Rußland zu bezeugen". Allerdings müsse Rußland etwas unternehmen — und sei es eine Einladung zu einem Empfang auf der russischen Botschaft —, was ihm garantieren könne, daß seine ersten Schritte zur Annäherung nicht auf Ablehnung stießen. 295 Während der Ministerkrise Ende Mai, Anfang Juni 1887 unterstützte Cyon heimlich Floquet und nahm wahrscheinlich auch Kontakt zu Boulanger auf. 296 Diese Tätigkeit Cyons und Katkovs in Frankreich konnte auf die Dauer den maßgebenden Kreisen Rußlands nicht verborgen bleiben. 297 Der Kelch war voll. Weder Feokistovs und Pobedonoscevs Bemühungen noch die Verleugnung aller ihm vorgeworfenen Taten 2 9 8 konnten Katkov helfen, und seine Partei hatte die Sympathie des Zaren verscherzt. General Bogdanovic mußte seinen Abschied nehmen, und Saburov wurde wegen Verrats von Staatsgeheimnissen disziplinarisch bestraft. Gegen Tati§cev, Katkovs engsten Mitarbeiter, ging man gerichtlich vor. 299 Das außenpolitische Programm der profranzösischen Partei war diesmal noch gescheitert. Der Sieg der deutschfreundlichen Kräfte Rußlands war durch die Haltung der deutschen Diplomatie gefördert worden. Bismarck hatte nämlich, als ihm klar wurde, daß der Abschluß eines Separatabkommens mit Rußland emstlich gefährdet war, die Position der deutschfreundlichen Kreise der russischen Diplomatie durch gewisse Zugeständnisse an die außenpolitischen Interessen Rußlands zu verbessern gesucht. Der Kriegslärm Deutschlands gegenüber Frankreich hörte 295

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Ebenda, Bl. 43, Cyon an Katkov, 31. III. 1887. — Der Zar und auch Mohrenheim standen Floquet sehr zurückhaltend gegenüber, weil dieser 1867 den Zaren Alexander II. in Paris mit dem Ausruf „Es lebe Polen!" begrüßt hatte. Erst im Februar 1888 gestattete es Mohrenheim, daß man ihn mit Floquet bekannt machte. (Körlin, a. a. 0., S. 194 f; Hansen, a. a. 0 . , S. 52, 81 ff.) ROLB, F. 120, p. 39, Bl. 2 6 - 2 7 , Cyon an Katkov, 1. VI. 1887; Cyon an Pobedonoscev, 1./13. VIII. 1887, in: Pobedonoscev i ego . . . , a. a. 0., Bd. II, S. 802. Feokistov, a. a. 0., S. 260. — Katkov soll angeblich selbst mehrere Briefe an leitende französische Politiker, u. a. an Floquet und Grevy, geschrieben haben. (Feokistov, a . a . O . , S. 259 ff.; Pobedonoscev i e g o . . . , a . a . O . , Bd. II, S. 259 ff.) Katkov behauptete, sich nie für Floquet interessiert zu haben, zu keinen Politikern des Auslandes Verbindung unterhalten zu haben, mit Cyon in den letzten Monaten keine Briefe gewechselt zu haben, zu General Bogdanovic und dessen Tätigkeit in Paris sowie auch zu Saburov keinerlei Beziehungen gehabt zu haben. (Pobedonoscev i ego a. 0 . , Bd. II, S. 712 ff.; ROLB, F. 120, p. 48, Bl. 36, Katkov an Alexander III., Mai oder Juni 1887.) CGIAL, F. 1044, op. I, delo 205, Bl. 1 - 1 4 , Saburov an Alexander III., 8./20. VII. 1888; Zapiska Saburova, 19./31. V. 1889, in: Pobedonoscev i e g o . . . , a . a . O . , Bd. II, S. 290 ff.; Körlin, a. a. O., S. 161; Schweinitz, a. a. O., Bd. II, S. 346.

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auf, und Rußland erhielt die Versicherang, daß Deutschland Frankreich niemals angreifen würde. 300 Zur gleichen Zeit hatte Bismarck jedoch versucht, die zaristische Regierung mit Druckmitteln zu einem aktiveren Vorgehen für ein deutsch-russisches Separatabkommen zu zwingen. Man machte dem Zaren mit aller Deutlichkeit klar, wie der Verlust der deutschen Freundschaft Rußland außenpolitisch und wirtschaftlich schaden könne. Bismarck gab der Presse Anweisung, die rußlandfreundlichen Stellen seiner Reichstagsrede — die vor allem „nach auswärts" gerichtet gewesen seien — wieder abzuschwächen. 301 Der deutsche Botschafter in Konstantinopel erhielt Weisung, die russische Politik in der bulgarischen Frage nicht mehr zu unterstützen und bei englisch-russischen Meinungsverschiedenheiten streng neutral zu bleiben. 302 Bismarck drohte Rußland auch die Abberufung der deutschen Konsuln aus Bulgarien an und änderte seine Haltung in der Battenbergfrage. 303 Außerdem ließ er Schweinitz wissen, daß Deutschland den Zoll- und Pressekrieg gegen Rußland aufzunehmen beabsichtige. 304 Diese Mittel verfehlten ihre Wirkung nicht. Giers regte am selben Tage, als Alexander III. eine zweite öffentliche Rüge Katkovs befohlen hatte — in dem Augenblick also, als ihm der Sieg über die öffentliche Meinung und den Zaren gewiß zu sein schien —, die Erneuerung des Abkommens gegenüber Schweinitz zum ersten Mal wieder an. Daß dieses „Bündnis", sehr zum Bedauern der deutschen Diplomatie, nur ein geheimes sein konnte, verstand sich angesichts der Stimmung in Rußland natürlich von selbst. 305 Ende März reiste Großfürst Vladimir nach Berlin und legte Bismarck das außenpolitische Programm der deutschfreundlichen Kreise dar: „Mit der französischen Regierung habe" man „nicht viel gemein, allein man wolle Frankreich nicht aus der europäischen Politik ausscheiden sehen und wünsche dessen Machtstellung erhalten zu sehen, werde also einen Krieg bis zur Vernichtung nicht untätig ansehen. Auf der anderen Seite wolle man noch weniger Deutschland vernichten lassen und etwa direkter Nachbar der unruhigen Franzosen werden, welche so schon Rußland mit Umsturzideen gesättigt hätten. Im Fall eines unglücklichen Krieges sei die Dynastie verloren, darüber mache er sich keine Illusionen. Es sei ein Bündnis mit Rußland soweit möglich, daß man sich Neutralität garantiere für den Fall eines russisch-türkischen und eines deutsch-französischen Krieges . . . 300 301

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Schweinitz, a. a. O., Bd. II, S. 336; Lucius v. Ballhausen, a. a. 0., S. 379. M. Busch, Tagebuchblätter, Bd. III, Denkwürdigkeiten aus den Jahren 1880—1893, Leipzig 1899, S. 214. — In ähnlichem Sinne wurden die süddeutschen Höfe informiert. (GP, Bd. V, Nr. 1006). Aufzeichnungen und Erinnerungen aus dem Leben des Botschafters Joseph Maria von Radowitz, Stuttgart-Berlin-Leipzig 1925, Bd. II, S. 266f.; Schweinitz, a. a. 0., Bd. II, S. 334 f.; GP, Bd. V, Nr. 1007, 1034, 1068, 1070. Lamzdorf, a.a.O., S. 81; Corti, a.a.O., S. 295 f.; F. Rachfahl, Deutschland und die Weltpolitik (1871-1914), Bd. I, Die Bismarcksche Ära, Stuttgart 1923, S. 678 ff. Schweinitz, a. a. O., Bd. II, S. 335. Schweinitz, a. a. 0., Bd. II, S. 337; GP, Bd. V, Nr. 1071.

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Das Hauptinteresse des Zaren ginge auf Zentralasien und auf den Besitz der Dardanellen, welche er als seinen Hausschlüssel betrachte." 3 0 6 Bismarck nahm die dargebotene Hand begierig entgegen. Von einer Abberufung des Botschafters Schweinitz, der Waldersee und anderen Gegnern der Bismarckschen Rußlandpolitik zu rußlandfreundlich war, nahm man mit der Begründung Abstand, daß dadurch der deutsche Einfluß in Rußland gemindert würde. 307 Auf Giers' Bitten erwies man sich auch in Deutschland gegenüber den russischen Wünschen in Bulgarien wieder erkenntlicher. 308 So kam es schließlich doch noch zum Abschluß eines Separatabkommens zwischen Deutschland und Rußland, zum sogenannten Rückversicherungsvertrag. 309 Ohne hier im einzelnen auf die Verhandlungen über den Rückversicherungsvertrag einzugehen, die zunächst in Petersburg vorbereitet wurden, in Berlin am 11. Mai 1887 begannen und am 18. Juni mit der Unterzeichnung dieses Geheimabkommens ihren Abschluß fanden 310 , sei nur auf folgendes besonders hingewiesen. Wenn man sich auch im deutschfreundlichen Lager darüber einig war, daß sich das Abkommen gegen Österreich-Ungarn und England richten und die deutsche Neutralität bei einer Auseinandersetzung zwischen Österreich-Ungarn und Rußland garantieren sollte, so ging man doch selbst innerhalb dieses Lagers mit unterschiedlichen Erwartungen an dieses Abkommen heran. Die Suvalovs wollten erreichen, daß Rußland im Nahen Osten freie Hand bekäme und Deutschland sich zu einer aktiven Unterstützung der russischen Politik in Bulgarien und an den Meerengen verpflichte. Dafür waren sie bereit, ihm Frankreich zu opfern, Serbien den Österreichern zu überlassen und Rußland zu verpflichten, die staatliche Integrität Österreich-Ungarns zu wahren. Giers hingegen ging auch beim Abschluß dieses Abkommens nicht von seinem Prinzip ab, den Status quo im Nahen Osten zu erhalten (ohne sich allerdings wegen des weiteren Schicksals Österreich-Ungarns und dessen Interessensphäre in Serbien festzulegen!) und einen Krieg in Mitteleuropa wie auch um den Nahen Osten zu verhindern. Um das zu erreichen, brauchte er die Erhaltung Frankreichs als Gegengewicht zu Deutschland. Aber selbst wenn er Suvalov in der Meerengenfrage nachgab und selbst wenn er erreichte, daß 306 307 308 309

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Lucius v. Ballhausen, a . a . O . , S. 378 ff. Waldersee, a. a. 0., Bd. II, S. 320 ff.; Schweinitz, a. a. 0 . , S. 338 f. GP, Bd. V, Nr. 1072; Lucius v. Ballhausen, a. a. 0 . , S. 385. Ausführlich zur diplomatischen Vorgeschichte des Rückversicherungsvertrages vgl. z . B . Rachfahl, a . a . O . , S. 684 ff.; F. Rachfahl, Der Rückversicherungsvertrag, der „Balkandreibund" und das angebliche Bündnisangebot Bismarcks an England, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 16, Berlin 1921, S. 23 ff.; H. Trützschler v. Falkenstein, Bismarck und die Kriegsgefahr des Jahres 1887, Berlin 1924; H. Rothfels, Zur Geschichte des Rückversicherungsvertrages, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 187; G. Raab, Der deutsch-russische Rückversicherungsvertrag in dem System der Bismarcksehen Politik, vornehmlich des Jahres 1887, Wetzlar 1923; O.Becker, Bismarck und die Einkreisung Deutschlands, Bd. I, Berlin 1925; Haselmayr, a.a.O., Bd. III, Bismarcks Entlassung März 1890, München 1957, S. l l O f f . u.a. Vgl. Russko-nemeckie otnosenija, a.a.O., S. 109 ff.; GP, Bd. V, Nr. 1 0 7 6 - 1 0 9 4 ; Fester, a. a. 0., S. 91 ff.; Sbornik dogovorov R o s s i i . . . , a. a. 0., S. 267 ff.

Die Balkankrise 1885/86 und ihre Auswirkungen

105

Rußland der überwiegende und entscheidende (nicht allerdings der ausschließliche!) Einfluß auf ganz Bulgarien zugesprochen wurde, so änderte das doch nichts daran, daß der Rückversicherungsvertrag eine neue Kapitulation des zaristischen Rußlands vor den Schwierigkeiten im Nahen Osten bedeutete, daß er ein neues Mittel war, Komplikationen im Nahen Osten zu vermeiden und das europäische Gleichgewicht zu erhalten, denn der Meerengenparagraph und auch der Paragraph über Bulgarien besaßen unter den gegebenen Verhältnissen f ü r Rußland zwar „moralische, aber keine praktische Bedeutung". 311 Trotz der außenpolitischen Differenzen zwischen den herrschenden Klassen Deutschlands und Rußlands und trotz der ständig wachsenden handelspolitischen Widersprüche sowie der Haltung eines großen Teiles des herrschenden Lagers Rußlands gegen eine Bindung Rußlands an Deutschland hatten sich somit die deutschfreundlichen Kräfte noch einmal als stärker erwiesen. Es kam im Jahre 1887 noch nicht zur Lösung der vertraglichen Bindungen zwischen Deutschland und Rußland. Statt eines französisch-russischen Bündnisses wurde 1887 ein neues Geheimabkommen zwischen Deutschland und Rußland abgeschlossen. Doch der Sieg der deutschfreundlichen Kräfte konnte den Verlauf der Geschichte nicht wesentlich beeinflussen. Er mochte zwar ein russisch-französisches Abkommen noch um einige Jahre verzögern, doch zu verhindern war ein solches Bündnis schließlich nicht mehr, denn die Widersprüche zwischen den herrschenden Klassen Deutschlands und Rußlands wuchsen trotz des Rückversicherungsvertrages weiter an. 311

Botstejn,

Mezdunarodnye otnosenija . . . , a. a. 0., S. 181 f.

KAPITEL I I I

Das Ende des Rückversicherungsvertrages Die Ursachen der französisch-russischen Annäherung (1887-1891)

Drei Jahre nach dem Abschluß des Rückversicherungsvertrages lösten sich die; vertraglichen Bindungen zwischen Deutschland und Rußland. Der Rückversicherungsvertrag wurde nicht wieder erneuert. Ein Jahr nach diesem Ereignis, 1891, ging das zaristische Rußland mit der Französischen Republik ein Bündnis ein. Was hatte sich in der internationalen Lage und in den Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland seit 1887 verändert? Die Haltung der französischen Diplomatie zu Rußland war seit 1887 im wesentlichen die gleiche geblieben, Es konnte deshalb nicht in erster Linie an ihr liegen,, wenn es erst 1891 zu einem französisch-russischen Bündnis kam. Die französische Diplomatie hatte sich bereits 1887 um ein Bündnis mit Rußland bemüht. Wenn damals ihre Freundschaftsbeweise für Rußland in der bulgarischen Frage, welche einmal als „erste Markzeichen eines Einverständnisses zwischen Frankreich und Rußland" bezeichnet wurden1, bei der zaristischen Diplomatie nicht auf das erwartete Echo gestoßen waren, wenn ihre mehrmaligen Versuche zu Beginn des Jahres 1887, sich Rußland anzunähern und von ihm eine bindende Antwort über sein Verhalten in einem neuen deutsch-französischen Kriege zu erhalten, bei Giers und Lamzdorf wenig Entgegenkommen gefunden hatten, so hatte das vor allem an der russischen, nicht aber an der französischen Seite gelegen. Man kann der französischen Diplomatie natürlich den Vorwurf machen, daß sie bei ihren Annäherungsversuchen an Rußland zu Anfang des Jahres 1887 angesichts der Kriegsgefahr insgesamt zu vorsichtig, zu inkonsequent vorgegangen war.2 Doch war der Grund nicht vor allem der gewesen, daß die zaristische Diplomatie, obwohl ihr an einem neuen Überfall Deutschlands auf Frankreich nicht gelegen war, sich Frankreich gegenüber nicht hatte festlegen wollen? Und selbst wenn die französischen Diplomaten 1887 noch nicht so klar wie 1891 hatten erkennen können, daß es keinerlei Gründe mehr gab, an dem Bestehen eines zudem noch festen und langfristigen Bündnisses zwischen Deutschland, ÖsterreichUngarn und Italien zu zweifeln, selbst wenn es erst nach der Kriegsgefahr zu Anfang des Jahres 1887 offen zutage trat, daß sich der Dreibund und England aneinander annäherten und Frankreich sowohl in seiner europäischen Politik als auch in seinen Kolonialbestrebungen völlig isoliert zu werden drohte, selbst wenn die französische Regierung sich erst 1890 dazu entschloß, sich vor dem Zaren 1

2

Hansen,

a. a. 0 . , S. 2 8 f . ; vgl. auch Körlin,

a. a. 0 . , S. 138.

Manfred, Vnesnjaja Politika . . ., a. a. 0., S. 400 ff.

Die Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche

107

derartig zu erniedrigen, daß sie, um sein Vertrauen zu gewinnen, russische Revolutionäre in Frankreich verhaften ließ 3 , — so steht doch fest, daß sie schon 1887 eine Annäherung und eine Bindung an Rußland erstrebte. Schon damals hatte die französische Diplomatie in einem Bündnis mit dem östlichen Nachbarn Deutschlands den besten Weg gesehen, einen neuen Überfall des militärisch immer mehr erstarkenden Deutschen Reiches auf Frankreich zu verhindern 4 , und sie hätte sicherlich, bei einem Entgegenkommen der zaristischen Regierung, ein Bündnis mit Rußland geschlossen. Auch nach 1887 ordnete die französische Außenpolitik alles der Verbesserung der Beziehungen zu Rußland, dem Ringen um das Bündnis mit dem Zaren, unter, und auch keine unliebsamen Zwischenfälle in Ostafrika 5 konnten sie mehr von diesem Vorhaben abbringen. Es hatte demnach also in erster Linie an der zaristischen Diplomatie und an der Haltung des herrschenden Lagers Rußlands zu Frankreich bzw. zu Deutschland gelegen, wenn Rußland 1887, obwohl es eine abermalige Schwächung Frankreichs nicht zugelassen hätte, sich doch zu einem Bündnis mit Frankreich nicht hatte bereitfinden können. Warum aber änderte sich das vier Jahre später? Was bewog die zaristische Regierung zum Bündnis mit einer französischen Republik, die ihr als Verfechterin der Legitimität wenig sympathisch sein konnte? Was veranlagte den Teil der extrem monarchischen Kreise Rußlands, in dessen Händen die Außenpolitik lag, trotz aller Abscheu vor einem Bündnis mit einer französischen Republik — welche diese Kräfte Rußlands selbst dann nicht überwanden, als Alexander III. auf russischem Boden der Marseillaise seine Ehrerbietung bezeugte 6 — ein solches Bündnis hinzunehmen, ja sogar zu suchen? 7 Wenn es der zaristischen Diplomatie 1887 gelungen war, den allerdings sehr dünnen Draht zwischen Deutschland und Rußland zu erhalten und ein russischfranzösisches Bündnis zu verhindern, so hatte das die Stimmung des herrschenden Lagers Rußlands in gewisser Beziehung widergespiegelt. Eine Annäherung an Frankreich oder gar ein Bündnis mit diesem Staat hatte 1887 noch nicht den Vorstellungen der Mehrheit des herrschenden Lagers des zaristischen Rußlands entsprochen. 1887 waren es, abgesehen von einigen hohen Militärs und Vertretern der Bürokratie, nur die Presseorgane der zentralrussischen Großbourgeoisie, die „Moskovskie Vedomosti" und der „Russkij Vestnik" unter der Leitung von Katkov, ge3 4

0

6 7

Hansen, a. a. 0., S. 126; GP, Bd. VII, Nr. 1489. Von der anderen Ursache der Annäherung Frankreichs und Rußlands, dem gemeinsamen Gegensatz gegen England im Nahen Osten, sehe ich hier bewußt ab. Vgl. hierzu z . B . W.L. Langer, The Franco-Russian Alliance 1 8 9 0 - 1 8 9 4 , Cambridge (USA) 1929, S. 87 ff. Vgl. hierzu Lamzdorf, a. a. O., S. 122 ff., 131 ff., 144 ff., sowie Pobedonoscev i e g o . . ., Bd. II, a . a . O . , S. 829 ff. ROLB, F. 126, p. 11, Dnevnik Kireeva ( 1 8 8 7 - 1 8 9 4 ) , Bl. 234, 7./19. VII. 1891. Es sei hier davon abgesehen, daß sie trotzdem versuchten, „der Entente einen möglichst allgemeinen Charakter zu geben". (O. Becker, Das französisch-russische Bündnis, a. a. 0., S. 109 ff.) - Vgl. auch Mescerskij, a. a. O., Bd. III, S. 321 ff.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

wesen, die sich für eine Annäherung oder sogar ein Bündnis mit Frankreich eingesetzt hatten und die in Frankreich den zukünftigen Verbündeten Rußlands sahen. Fast alle anderen Teile des herrschenden Lagers hatten damals zwar ebenso wie die „französische Partei" — allerdings mit Ausnahme der extremen Monarchisten — ein Bündnis mit Deutschland und Österreich-Ungarn abgelehnt. Sie alle hatten jedoch in Frankreich nur einen günstigen Gegenpol gegen Deutschland, nicht aber, zumindest solange Frankreich eine Republik blieb 8 , den zukünftigen Verbündeten Rußlands gesehen. Sie waren deshalb zwar dagegen aufgetreten, Frankreich noch einmal der Vernichtung preiszugeben, doch von einer Annäherung oder gar Bindung an Frankreich konnte keine Rede sein. Eine Politik der freien Hand, eine Außenpolitik ohne Bündnisverpflichtungen, schien großen Teilen des herrschenden Lagers in Rußland das Erstrebenswerteste. 9 1891 jedoch hatten sich die Kräfte in Rußland, die f ü r die französisch-russische Annäherung und Freundschaft mit Frankreich auftraten, verstärkt. Jetzt konnte man nicht nur in den „Moskovskie Vedomosti" und in dem „Russkij Vestnik", in welchem übrigens nach dem Tode Katkovs Tatiicev eine gewichtige Position eingenommen hatte, lesen, daß eine Annäherung oder ein Bündnis mit Frankreich der einzige Ausweg f ü r Rußland sei. 10 Jetzt beobachteten nicht nur Leute wieKireev die russisch-französische Annäherung mit größter Sympathie. 11 Jetzt traten in der Regierung nicht mehr nur die Militärs für ein Bündnis mit Frankreich auf, welches ihnen nun sogar bei der Umbewaffnung der zaristischen Armee helfen wollte. 12 Der Kreis der Anhänger einer Annäherung bzw. eines Bündnisses mit Frankreich hatte sich erehblich erweitert. Die überwiegende Mehrheit des herrschenden Lagers Rußlands stand 1891 einer Annäherung Rußlands an Frankreich nicht mehr entgegen. Die liberalen „Birzevye Vedomosti", das Organ der russischen Börsenwelt, die sich noch 1887 f ü r eine Außenpolitik ohne Bündnisse ausgesprochen hatten, begrüßten 1891 den französischen Flottenbesuch mit den Worten, man solle im Namen des Friedens die freundschaftliche Hand, welche Frankreich Rußland ent8

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Stellung der zaristischen Regierung zum General Boulanger, in dem man zeitweilig einen zukünftigen Diktator Frankreichs glaubte sehen zu können, der Frankreich innenpolitisch festigen und damit für Rußland bündnisfähiger machen konnte (vgl. Aleksander III. i general Bulanze, in: Krasnyj Archiv, Bd. XIV, Moskau 1926, S. 260ff.; Bulanzizm i carskaja diplomatija, inr ebenda, Bd.. LXXII, Moskau 1935, S. 51 ff.; Staal, a. a. 0., Bd. I, S. 348; Lamzdorf, a. a. 0., S. 101; Manfred, Vnesnjaja politika . . . , a. a. O., S. 361 ff., 401 ff., 433 ff. u. a.). 9 Vgl. Kap. II/4. 10 Russkij Vestnik, Nr. 212/2, Feb. 1891, S. 376ff.; Nr. 213/2, April 1891, S.400ff.r Nr. 215/2, Aug. 1891, S. 377ff.; Nr. 216/1, Sept. 1891, S. 304ff., u. a.; Moskovskie Vedomosti, 16. VII. 1891 (r.D.). 11 ROLB, F. 126, p. 11, Dnevnik Kireeva ( 1 8 8 7 - 9 4 ) , Bl. 48 (März 1888), Bl. 146 (Okt. 1889), Bl. 181 (Mai 1890), Bl. 188 (Juli 1890), Bl. 199 (Sept. 1890), Bl. 230 (Juli 1891) (r.D.). 12 Ebenda, Bl. 188 (Juli 1890) (r.D.); ebenda, F. 120, p. 23, Bl. 10, Brief Kireevs, o. D . (1889?); Körlin, a.a.O., S. 215ff.

Die Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche

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gegenhalte, nicht ausschlagen. Frankreich nicht entgegenzukommen sei von russischer Seite „sowohl ein Fehler als auch . . . ein Verbrechen".13 Der „Kievljanin", das Organ der südrussischen Gutsbesitzer, der sich noch 1887 sowohl aus innenpolitischen als auch aus außenpolitischen Gründen gegen eine Annäherung an Frankreich ausgesprochen hatte (Frankreich würde Rußland bei seiner außenpolitischen Hauptaufgabe, der Eroberung der Meerengen, nicht helfen!) und der auch in den Jahren danach nach Wegen zur deutsch-russischen Verständigung gesucht hatte 14 , schlug 1891 gegenüber Frankreich neue Töne an. Mag sein, daß dabei die Befürchtung eine Rolle spielte, Deutschland könne versuchen, die Türkei für den Dreibund zu gewinnen.15 Jedenfalls erklärte er nun im Juli 1891, die französische Flotte könne Rußland unter bestimmten Bedingungen gute Dienste leisten, es gäbe zwischen Frankreich und Rußland keine Interessengegensätze, und eine französisch-russische Annäherung und Freundschaft könne ein fester Garant des Friedens sein. 16 Wenn er auch damals — in der Hoffnung, den Faden zu Deutschland noch einmal wiederanknüpfen zu können — noch nicht von der Zweckmäßigkeit und unbedingten Notwendigkeit eines Bündnisvertrages mit Frankreich überzeugt war (ein solcher Vertrag könne vielleicht negative Folgen haben und die Handlungsfreiheit der beiden Seiten beeinträchtigen)17, so bewies eine solche Stellungnahme doch im Vergleich zu der von 1887 eine nicht zu unterschätzende Entwicklung. Die liberalen „Russkie Vedomosti" betonten ihrerseits zwar, daß ihnen an einer Freundschaft mit dem französischen Volk, das in der Geschichte der Zivilisation und Kultur eine so große Rolle gespielt habe, dank der politischen Lage in Europa sehr viel läge, wollten jedoch auch jetzt von „allermöglichen diplomatischen Abkommen und Traktaten" noch nichts wissen.18 Ähnlich war die Position des „Vestnik Evropy". Auch er begrüßte die russisch-französische Freundschaft. Doch er hielt von einem Bündnis mit Frankreich deshalb nicht viel, weil nach seiner Meinung nur eine französisch-deutsche Feindschaft Frankreich zum Bündnis mit Rußland zwänge und Frankreich niemals bereit wäre, Rußland bei der Eroberung von Konstantinopel und bei der Vertreibung der Türken aus Europa zu helfen. Außerdem sei es notwendig, die friedlichen Bande zu Deutschland zu erhalten.19 Nur der „Grazdanin", das Organ der reaktionären Hofkreise, blieb auch im Sommer 1891 noch seinen Traditionen treu. Er betont auch jetzt noch, daß es zwischen Frankreich und Rußland keinerlei gemeinsame Interessen gäbe und geben könne, und lehnte nicht nur ein Bündnis, sondern auch jegliche französischrussische Annäherung entschieden ab. 20 13 14

15 17 18 19 20

Birzevye Vedomosti, Nr. 187, 9. VII. 1891; Nr. 190, 12. VII. 1891 (r.D.). Kievljanin, Nr. 192, 5. IX. 1887; Nr. 12, 1 6 . 1 . 1 8 8 7 ; Nr. 20, 2 6 . 1 . 1 8 8 7 ; Nr. 2 3 9 , 5. XI. 1887; Nr. 255, 26. XI. 1887; Nr. 144, 3. VII. 1 8 8 8 ; Nr. 150, 10. VII. 1888 (r.D.). 16 Ebenda, Nr. 232, 25. X. 1889 (r.D.). Ebenda, Nr. 149, 9. VII. 1891 (r.D.). Ebenda, Nr. 1 5 6 , 1 8 . VII. 1891 (r.D.). Russkie Vedomosti, Nr. 202, 25. VII. 1891 (r.D.). Vestnik Evropy, Nr. 150, 8. VIII. 1891, S. 832 ff. (r.D.). Grazdanin, Nr. 200, 21. VII. 1891 (r.D.); Mescerskij, a . a . O . , Bd. III, S. 3 2 0 ff.

110

Das Ende des Rückversicherung«ve rträges

Was hatte diese Veränderung in der russischen öffentlichen Meinung hervorgerufen? Frankreich, Anfang der neunziger Jahre militärisch wesentlich stärker als einige Jahre zuvor 21 , war auch innenpolitisch insofern etwas gefestigter, als sich Teile der französischen Royalisten dem Appell des Papstes fügten, ihre Angriffe gegen die Republikaner einstellten, die Stellung der republikanischen Regierung konsolidieren halfen und Frankreich für Rußland bündnisfähiger machten.22 Doch konnte das allein der Grund für die zaristische Diplomatie sein, alle bisherigen Prinzipien der Bündnispolitik über Bord zu werfen? Reichte das aus, das herrschende Lager Rußlands für eine Annäherung an Frankreich zu gewinnen. Von außerordentlicher Wichtigkeit war die Tatsache, daß sich die internationale Lage des zaristischen Rußlands in den vier Jahren zwischen der Unterzeichnung des Rückversicherungsvertrages und dem Abschluß des Beistandsabkommens mit Frankreich so verändert hatte, daß es, wollte es sich nicht der Gefahr der Isolierung und damit der außenpolitischen Schwächung aussetzen, eine Annäherung an den westlichen Nachbarn Deutschlands suchen mußte. Während der zaristischen Regierung im Jahre 1887 in Deutschland, ihrem damals einzigen Verbündeten, eine Regierung gegenübergestanden hatte, die vorläufig den „Draht nach Rußland" nicht abreißen lassen wollte 23 , so war in Deutschland Anfang der neunziger Jahre eine Regierung ans Ruder gekommen, die auf diesen Draht verzichten zu können, ja verzichten zu müssen glaubte 24 und die für die 21 22

23

24

Körlin, a . a . O . , S. 199ff. Ebenda, S. 230; Winter, a. a. 0., S. 430, 434 f.; E. Winter, Rußland und die slavischen Völker in der Diplomatie des Vatikans (1878-1903), Berlin 1950, S. 96. Das Ziel der deutschen Außenpolitik sei „vorläufig die Erhaltung des Friedens, wenigstens bis zu dem . . . Zeitpunkte, wo" Deutschland seine „Vorbereitungen in Gewehr und Munition zum Abschluß gebracht haben werde; womöglich sogar bis zu dem Zeitpunkt, wo Englands jetzige relative Wehrlosigkeit aufgehört haben und auf Englands Mitwirkung bei eintretender Krise mehr als bisher zu rechnen sein wird. Aus diesem einstweiligen Friedensbedürfnis geht die Notwendigkeit hervor, wenigstens doch bis dahin unsere Beziehungen zu Rußland zu schonen und zu pflegen", schrieb Bismarck im Juni 1889 an Boetticher (DZA/Potsdam, RK, 5/4, Bl. 125—130, Bismarck an Boetticher, 26. VI. 1889). — Trotz dieser „vorläufigen" Friedensliebe existierten aber schon seit 1878 die Moltkeschen Aufmarschpläne, die im Falle eines Zweifrontenkrieges eine deutsch-österreichische Überraschungsoffensive gegen Rußland beabsichtigten, bei der die Hauptkraft des deutschen Heeres nach Osten gelenkt werden sollte. (G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd. I [1740—1890], München 1954, S. 294, sowie G. Seyfert, Die militärischen Beziehungen und Vereinbarungen zwischen dem deutschen und dem österreichischen Generalstab, Leipzig 1934, S. 9 ff.) Becker, Das französisch-russische Bündnis, a . a . O . , S. 33 ff., 43 ff.; GP, Bd. VII, Nr. 1368; L. Raschdau, Unter Bismarck und Caprivi. Erinnerungen eines deutschen Diplomaten aus den Jahren 1885-1894, Berlin 1939, S. 142 f.; L. Raschdau, Zur Bewertung des Rückversicherungsvertrages, in: Berliner Monatshefte, Berlin Januar 1927, H. 1, S. 57 f.; derselbe, Zum Rückversicherungsvertrag, in: ebenda, Nov. 1927,

Die Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche

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bis zur Selbsterniedrigung gehenden Bemühungen der Wortführer der zaristischen Diplomatie um einen Fetzen Papier 25 kein Verständnis mehr hatte. Die Leiter der zaristischen Diplomatie standen damit also vor der Tatsache, auch ihren letzten Verbündeten nicht nur auf außenpolitischem, sondern auch auf innenpolitischem Gebiet im Kampf gegen die außenpolitische Konzeption der zentralrussischen Großbourgeoisie26 verloren zu haben. Dieser Verlust wäre vielleicht noch zu verschmerzen gewesen, wenn Deutschland auch ohne Verbündeten dagestanden hätte. Doch so war es nicht. Wenn es Bismarck auch gelungen war, der zaristischen Diplomatie trotz deren Argwohns das Bündnis mit Österreich-Ungarn bis zu dem Augenblick zu verbergen, als er sich Rußlands Bereitschaft zu einem Separatabkommen mit Deutschland völlig sicher geworden war, so wußten die zaristische Diplomatie seit Mai 1887 und die russische Öffentlichkeit seit Anfang 1888, als die vertraglichen Abmachungen des Zweibundes veröffentlicht worden waren27, daß Deutschland einen festen Verbündeten hatte. Trotz allen Unwillens über den Zweibund 2 8 konnte sich die zaristische Regierung jedoch bis 1890 damit trösten, daß es noch den Rückversicherungsvertrag gab. Doch Caprivi raubte ihr nicht nur diesen Trost und erneuerte nicht nur den Dreibund im Mai 1891 in aller Öffentlichkeit auf weitere sechs Jahre 2 9 , sondern begann den Dreibund auch noch durch eine veränderte Handelspolitik zum Schaden Rußlands ökonomisch zu untermauern.30 Mehr noch, auch das Verhältnis Deutschlands zu England begann sich zu verändern. Schon unter Bismarck zielte die deutsche Regierung darauf ab, die Beziehungen der Dreibundländer zu England zu verbessern. Wenn sie auch an der 1887 zustande gekommenen Mittelmeerentente offiziell nicht selbst beteiligt war, so hatten doch ihre Haltung zu diesem Abkommen und ihre Bemühungen um England im Jahre 1889 3 1 — selbst wenn sie, solange Bismarek die Zügel in die Hand hielt, den Gedanken an ein russisch-deutsches Abkommen nicht aufgegeben hatte 32 — gezeigt,

25

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31 32

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H. 11, S. 1106f.; H. Uebersberger, Abschluß und Ende des Rückversicherungsvertrages, in: ebenda, Oktober 1927, H. 10, S. 933 ff. Lamzdorf, a.a.O., S. 313 f.; GP, Bd. VII, Nr. 1379; GP, Bd. IX, Nr. 2084, 2 0 9 2 ; Schweinitz, a.a.O., Bd. II, S. 411 ff.; Becker, Das französisch-russische Bündnis, a.a.O., S. 70 ff., 86 ff, 97 f.; Frank/Schule, a.a.O., S. 554 ff. Giers war sich dessen voll bewußt (GP, Bd. VI, Nr. 1365). GP, Bd. V, Nr. 1 1 0 9 - 1 1 1 6 . Lucius v. Ballhausen, a. a. O., S. 505. (Gespräch zwischen Bismarck und Alexander III. in Kiel im Sept. 1889.) Becker, Das französisch-russische Bündnis, a. a. O., S. 294 ff. Ibbecken, a.a.O., S. 137ff.; E.Suter, Die handelspolitische Kooperation Deutschlands und Österreich-Ungarns, Marburg 1913, S. 3 ff. GP, Bd. IV, Nr. 943. Rothfels, Bismarcks englische Bündnispolitik, a.a.O., S. 103ff.; Hagen, Bismarck und England, a.a.O., S. 75ff. — Daß Bismarck jedoch 1889 mit dem Gedanken spielte, einen Krieg mit Rußland zu beginnen, wenn Deutschland auf die Unterstützung Englands einmal würde rechnen können, zeigt sein Brief an Boetticher vom Juni 1889 (vgl. Fußnote 23 von S. 110). Bismarcks „Draht nach Rußland"

112

Das Ende des Rückversicherungsvertrages

wie sehr ihr an England gelegen war.33 Und auch hier schuf Caprivi klarere Fronten. Er verzichtete nicht nur auf ein russisch-deutsches Abkommen, sondern bezeugte im Sommer 1890 durch den Abschluß des Helgolandvertrages in aller Öffentlichkeit, daß er das Abkommen mit Rußland durch ein Abkommen mit England, dem mächtigsten und gefährlichsten Gegner Rußlands, ersetzen wollte. Und ebenso wurde er auch von der russischen Diplomatie verstanden. Der Helgolandvertrag machte dieser klar, wie sehr Deutschland die politische Freundschaft Englands suchte, wenn es ihretwegen sogar bereit war, auf einen Teil seiner Kolonien zu verzichten.34 Und als sich die englische Regierung im Sommer 1891 zu einem festlichen Empfang des italienischen Thronfolgers und des deutschen Kaisers anschickte, bestand für die zaristische Diplomatie kein Zweifel mehr daran, „daß, wenn das Großbritannische Königreich auch seine Annäherung an das Bündnis der mitteleuropäischen Mächte nicht rechtskräftig gemacht, es auf jeden Fall zu einigen von ihnen bestimmte Verpflichtungen übernommen" hatte.35 Zu diesen Veränderungen in der Bündnispolitik der deutschen Regierung unter Caprivi, welche letztlich auf eine Isolierung Rußlands und Frankreichs hinauslaufen mußten, kam die Haltung der deutschen Regierung auf anderen Rußlands Interessen berührenden Gebieten. Vor allem die ständigen Erhöhungen des deutschen Militärbudgets und die Militarisierung Deutschlands 36 , die Ernennung Waldersees, des Verfechters des 33

M

36

Die russische Diplomatie beobachtete diese Vorgänge mit großem Argwohn. Man glaubte zwar nicht, daß z. B. während der Reise Wilhelm II. nach England im Sommer 1889 ein geheimes Abkommen zwischen England und Deutschland abgeschlossen worden sei, doch man sah mit Unbehagen, daß sich die „bereits früher stattgefundene Annäherung zwischen den beiden Kabinetten gefestigt" habe. Bismarck benütze „jede Gelegenheit, um England so weit es geht zum Wohlwollen f ü r die sogen. Friedensliga zu drängen. Diese Aufgabe war für ihn um so leichter, als England vorläufig eine besonders schnelle Entwicklung der deutschen Flotte nicht zu befürchten brauche, während die französische Flotte schon jetzt der englischen fast gleichbedeutend sei. Außerdem unterstützte England im Mittelmeer Italien ständig gegen Frankreich, und seine Interessen fielen in dieser Beziehung mit den deutschen Interessen zusammen", schrieb Suvalov an Giers. Er befürchtete, daß England in der Regel mit dem Dreibund zusammengehen wird, was in vielen Fragen Rußlands direkten Interessen widersprechen würde. (AVPR, F. Kanc., 1889, delo Nr. 16, Bl. 9 6 - 9 9 , Suvalov an Giers, 14./26. VIII. 1889.) Die Widersprüche in den Kolonien hinderten die beiden Länder nicht, „sich in vielen Fragen der europäischen Politik aufeinander abzustimmen". (Ebenda, Bl. 109 bis 110, Suvalov an Giers, 28.X./9.XI. 1889.) - Vgl. hierzu auch Lamzdorf, a . a . O . , S. 121, 164, 173, 195, 201 u. a„ sowie Staal, a. a. 0., Bd. I, Nr. 12, 15, 21, 22, 27 u. a.; Fester, a. a. O., S. 97. — AVPR, F. Kanc., 1891, delo 16, Bl. 7 8 - 8 2 , Suvalov an Giers, 3 0 . 1 . / l l . II. 1891. Ebenda, Bl. 193-198, Suvalov an Giers, 5./17. VI. 1891. In gleichem Sinne schätzte auch Murav'ev die Lage ein (ebenda, Bl. 2 3 4 - 2 3 6 , Murav'ev an Giers, 5./17. VII. 1891). - Vgl. auch V. .V. Lamzdorf, Dnevnik 1891/1892, pod. red. F. A. Rotstejna, MoskauLeningrad 1934, S. 151. Jerussalimski, Die Außenpolitik und Diplomatie des deutschen Imperialismus zu Ende des 19. Jh., a. a. O., S. 84 ff. — Die russische Botschaft in Berlin verfolgte die ständigen

Die Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche

113

Präventivkrieggedankens, zum Chef des Generalstab es 3 7 sowie die verstärkte militärische Zusammenarbeit Österreich-Ungarns und Deutschlands 38 machten die zaristische Regierung äußerst mißtrauisch. Dazu kam die veränderte Polenpolitik Deutschlands. Während die preußischdeutsche Regierung unter Bismarck gemeinsam mit der zaristischen Regierung die Polen unterdrückt und darin trotz der Mitte der achtziger Jahre auch hier entstehenden imperialistischen Widersprüche 39 eine Garantie der gegenseitigen guten Beziehungen gesehen hatte, schickte sich die Regierung unter Caprivi an, dieses Band zu zerschneiden. Das erschien Alexander III. „sehr bedeutungsvoll" und kündigte seiner Meinung nach „für Deutschland nichts Gutes" an. 40 Und schließlich blieben auch die Balkanfrage und insbesondere die bulgarische Frage ungelöst. Während Bismarcks Haltung gegenüber Rußlands Interessen in Bulgarien schon immer, besonders aber seit dem Sommer 1887, als der Koburger zum Fürsten von Bulgarien gewählt wurde, Rußland nicht gefallen konnte, so hatte Bismarck gleichwohl immer wieder betont, daß der Balkan in Interessensphären aufgeteilt werden sollte, daß gegen die Unterwerfung Bulgariens unter Rußland prinzipiell keine Einwände bestünden und daß Deutschland aus Furcht vor einem Zweifrontenkrieg bei einem russisch-österreichischen Krieg um Bulgarien nicht eingreifen würde. 41 Unter Caprivi hingegen wurde die deutsche Vertretung in Petersburg dahingehend instruiert, daß, wenn Rußland gegen Bulgarien vorgehe, Österreich eventuell in der Defensive sei! 4 2 Der Koburger blieb auf dem Thron und wurde von Deutschland unterstützt. 43 Deutsehland schloß mit Bulgarien einen Handelsvertrag ab. 44 Marschall erklärte zwar noch einmal in einem Gespräch mit Suvalov die Bereitschaft Deutschlands, Rußland bei der Wahl eines neuen Kandidaten auf den bulgarischen Thron zu unterstützen, welcher den Forderungen des Berliner Traktats entspräche and zu seiner Person das Ein-

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M

Erhöhungen des deutschen Militärbudgets mit größter Aufmerksamkeit. (Vgl. z. B. AVPR, F. Kaue., delo 15, 1888, Bl. 2 - 3 , Murav'ev an Giers, 7./19.1. 1888.) Ebenda,'Bl. 58—60, Murav'ev an Giers, 5./17.VIII. 1888. Zar Alexander sprach sich im September 1889 Bismarck gegenüber gegen Waldersee aus (Lucius v. Ballhausen, S. 504).

AVPR, ebenda, delo 100, Bl. 367, Basiii an Lobanov, 15./27. VI. 1888; ebenda, Bl. 3 9 5 - 3 9 7 , Basiii an Lobanov, 27. IX./9. X. 1888; ebenda, delo 15, Bl. 9 6 - 9 9 , Suvalov an Giers, 4./16. VIII. 1889; Waldersee, a. a. 0., Bd. II, S. 329; Raschdau, Unter Bismarck . . ., a. a. O., S. 71, u. a. 39 Vgl. hierzu J. Mai, Die preußisch-deutsche Polenpolitik 1885 bis 1887. Eine Studie zur Herausbildung des Imperialismus in Deutschland, Berlin 1962, S. 97 f. /,n AVPR, F. Kanc. 1891, delo 16, Bl. 150, Randbemerkung des Zaren zu Suvalov an Giers, 12./24. IV. 1891. — Über die Bestürzung Rußlands zur Caprivischen Polenpolitik siehe auch Schweinitz, a.a.O., S. 433 ff.; Becker, a.a.O., S. 99. /1 ' GP, Bd. V, Nr. 1051; Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, Aus 50 Jahren. Erinnerungen, Tagebücher und Briefe aus dem Nachlaß des Fürsten, Berlin 1925, S. 134. V1 Becker, Das französisch-russische Bündnis, a. a. O., S. 190. 43 Ebenda, S. 187 f. Maskin, a. a. O., S. 361 f. 9*

114

Das Ende des Rückversicherungsvertrages

Verständnis aller Teilnehmer des Berliner Kongresses zu vereinen imstande sei. Doch das war doch selbst f ü r Paul Suvalov n u r ein „Nachhall des alten Bismarckschen Liedes auf den Lippen seines Nachfolgers" 45 , welches nicht geeignet schien, die Verstimmung Rußlands über die deutsche Bulgarienpolitik auch n u r im geringsten zu beseitigen. Sowohl die veränderte Bündnispolitik als auch die Haltung Deutschlands zu den Balkaninteressen Rußlands, sowohl die Militarisierung Deutschlands als auch seine Beziehungen zu Frankreich 4 6 trugen nicht unwesentlich dazu bei, daß sich die zaristische Diplomatie und die überwiegende Mehrheit des herrschenden Lagers Rußlands schließlich f ü r eine Annäherung an den westlichen Nachbarn Deutschlands entschieden. Und trotzdem waren die deutsche Bündnispolitik wie auch die Haltung Deutschlands auf dem Balkan, ja selbst seine Militarisierung — ohne diesen Faktoren ihre Eigengesetzlichkeit absprechen zu wollen — nur Erscheinungen tieferliegen der Prozesse. Ohne die Klärung dieser Prozesse kann weder ergründet werden, warum sich die zaristische Regierung entschloß, unter die hinfällig gewordene Bindung an Deutschland ihrerseits nun den endgültigen Schlußstrich zu ziehen und sie durch eine zudem noch verhältnismäßig offen demonstrierte Bindung an Frankreich zu ersetzen (welche eine neue Annäherung an Deutschland, falls sie von ihr noch beabsichtigt wurde, natürlich außerordentlich erschweren mußte), noch warum das russisch-französische Bündnis ein Vierteljahrhundert fortbestand und auch dann nicht zerfiel, ja sich vielmehr noch festigte, als die vermeintlichen Gefahren des deutsch-englischen Bündnisses sich als Trugbilder erwiesen. Um auf diese Fragen eine erschöpfende Antwort geben zu können, gilt es zu ermitteln, ob sich die Widersprüche zwischen den herrschenden Klassen Deutschlands und Rußlands, deren Ausdruck und Widerspiegelung die Außenpolitik und in gewissem Maße auch die Rüstungspolitik der beiden Staaten waren, vertieft hatten und ob zwischen den herrschenden Klassen beider Staaten neue Widersprüche aufgetreten waren. 47 Und noch einmal f ü h r t der Weg von der Diplomatie zur Wirtschaft. 45

4Ü 47

AVPR, F. Berliner Botschaft, 3969, 1891-92, Bl. 28-30, Suvalov an Giers, 27. III./ 8. IV. 1891. Vgl. hierzu Manfred, Vnesnjaja politika. . ., a. a. O., S. 478 f., 500 ff. Nur so löst sich übrigens auch die Streitfrage, ob die Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages im Jahre 1890 oder die Erneuerung des Dreibundes im Jahre 1891, der französisch-russische Gegensatz zu England oder die Rolle des Vatikans, die Politik Bismarcks oder die Fehler Caprivis, der Helgolandvertrag oder die „mangelnde Lebensnähe" Holsteins die Hauptursache des Russisch-Französischen. Bündnisses waren. (Vgl. Becker, Das französisch-russische Bündnis, a.a.O., S.IVff., S. 252 ff.)

Die Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche

115

1. Die weitere Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche zwischen den herrschenden Klassen Deutschlands und Rußlands (1887-1891) Rußland hatte im Frühjahr 1887 wieder einige wichtige Industrieschutzzölle erhöht. Neue Zollerhöhungen in den folgenden Jahren brachten für einzelne deutsche Exportprodukte weitere Erschwerungen. Im September 1890, als alle Zölle noch einmal einen zusätzlichen Aufschlag von 2 0 % erfuhren 4 8 , erreichte der russische Schutzzoll zunächst seinen Höhepunkt. Für den deutschen Export nach Rußland bestand nun eine Zollmauer, die den Absatz eines großen Teiles der Industriewaren kaum noch rentabel gestaltete. Der Import aus Deutschland ließ rapide nach, und zwar stärker als der Gesamtimport Rußlands. 49 Sicherlich gelang es einem Teil der deutschen Großindustriellen, die neue Belastung ihres Exports nach Rußland durch Dumping, billigen Kredit an die Exporteure, durch den Einfluß auf russische Handels- 50 oder Bankfirmen, durch Kapitalexport (besonders in der vom deutschen Kapital in Rußland bevorzugten Form von Tochtergesellschaften, in deren Betrieben oft deutsche Rohstoffe oder Halbfabrikate weiterverarbeitet wurden), durch verstärkte Bemühungen um Lieferungsverträge zu privilegierten Bedingungen mit den russischen Kriegs-, Marine- und Wegebauministerien und durch verbilligte Eisenbahn- oder Schiffstarife zu erleichtern — vorausgesetzt allerdings, daß Vysnegradskij, wie er es oft 48

49

Sobolev, a . a . O . , S. 506; CGIAL, F. 40, op. I, delo40, Bl. 144-150, Vysnegradskij an den Zaren, 16./28. VIII. 1890. Während sich Rußlands Gesamtimport von 1880 bis 1890 um 3 5 , 5 % verringerte, sank der deutsche Import in der gleichen Zeit um 60 % (AVPR, F. Berliner Botschaft, delo 3988, 1890, Bl. 97, Vysnegradskij an Suvalov, 31.1./12. II. 1891). — Die russischen Industrieschutzzölle waren übrigens wesentlich höher als die deutschen. Folgende Tabelle kann das veranschaulichen: Vergleich zwischen den deutschen und russischen im Jahre 1891 (in Mark pro t) Deutschland Roheisen Eisenbahnschienen Lokomotiven Maschinen und Maschinenteile Grobe Eisenwaren Feine Eisenwaren

50

10 25 80 3 0 - 50 30-150 240-600

Industrieschutzzöllen

Rußland 48-

58 97 390

1 3 6 - 680 612-1287 390

(DZA/Merseburg, Rep. 120, C.XIII, 6 a, Nr. 35, Adh. 2, Bd. 1, Bl. 38, Vereinigte Königs- und Laurahütte an Caprivi, März 1891.) Vgl. hierzu z. B. E. Agahd, Wir und die Weltwirtschaft. Ursachen und Überwindung der Wirtschaftsnot, Berlin 1931, S. 87 f.

116

Das Ende des Rückversicherungsvertrages

getan hatte, diesen Umgehungsmanövern keinen Riegel vorschob. 5 1 Trotzdem war den deutschen Großindustriellen und den deutschen Großhändlern und besonders der deutschen Schwerindustrie ein großer Teil des russischen Absatzmarktes verlorengegangen, während sich andererseits zur „großen Freude" des Zaren der Absatz der russischen Industriellen vor allem in Zentralrußland wesentlich verbessert hatte. 5 2 Folgende Daten mögen das charakterisieren: Während im Jahre 1875 noch 2 4 % des gesamten deutschen Exports nach Rußland gingen, war dieser im Jahre 1885 auf 1 0 % , vier Jahre später auf etwa 8 % gesunken. 5 3 Kamen im Jahre 1875 4 2 % und 1880 sogar 4 9 % des gesamten russischen Imports aus Deutschland, so betrug der deutsche Anteil am russischen Import 1885 3 9 % , vier Jahre später jedoch nur noch 3 3 % . 5 4 Besonders war davon die deutsche Schwerindustrie betroffen: Export einiger wichtiger Ausfuhrwaren der deutschen Schwerindustrie nach Rußland (1880-1891) (in t) 5 5

Roheisen aller Art Eisenbahnschienen Stabeisen Bleche und Platten Eisendraht Röhren aus schmiedbarem Eisen Grobe Gußwaren und Geschosse Grobe Eisenwaren Maschinen und Maschinenteile Lokomotiven und Lokomobilen Federn, Achsen, Räder Eisenbahnfahrzeuge (Stück) Eck- und Winkeleisen Feine Eisenwaren 51

1880

1886

1888

11809 20 324 53 431 14 622 19 443 2 636 3 338 10 569 19413 3 985 2 721 598 1089 558

70 521 436 29 579 8 445 627 816 683 5 420 9 290 185 221 118 1746 507

10115 244 22 240 9 672 1088 1298 630 8 467 8 164 197 562 10 2514 447

1891 5 1 24 7

364 640 218 744 375 570 762 7 804 12160 155 874 40 5 693 943

Es würde den Rahmen der Arbeit sprengen, wollte man an dieser Stelle all die zweifellos sehr wichtigen Fragen im einzelnen untersuchen. Mögen daher einige Beispiele genügen. Die deutsche Schwerindustrie hatte z. B. durchgesetzt (möglicherweise mit Hilfe der deutschen Banken, die die russischen Eisenbahngesellschaften finanzierten — an ihrer Spitze die Große Russische Eisenbahngesellschaft, welche an dem deutschrussischen Handelsverkehr in erster Linie beteiligt war [DZA/Potsdam, RSchA, 3399, Bl. 147—148, Maybach an Bismarck, 25. VI. 1887]), daß die Eisenbahntarife für ihre Waren von der Westgrenze nach Moskau niedriger als die vom Ural nach Moskau gehalten wurden. (CGIAL, F. 1152, op. X, delo 148, Bl. 36, sowie DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII, 6a, Nr. 27, Vol. 43, Bl. 5 8 - 7 0 , Bismarckhütte an Bismarck, 10. IV. 1886.) Und man war in Deutschland außerordentlich beunruhigt, als man im Sommer 1887 erfuhr, Vysnegradskij plane die Kündigung sämtlicher direkter Eisenbahntarife zum westlichen Ausland und wolle außerdem alle Eisenbahntarife erhöhen. (DZA/ Potsdam, Rdl, 5018, Bl. 166, Berchem an Boetticher, 5. VII. 1887). Im Mai 1889 setzte Vysnegradskij dann durch, daß die an der Westgrenze Rußlands gelegenen

Die Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche

117

Berücksichtigt man neben dieser Tabelle noch, daß der Wert des ganzen deutschen Exports der deutschen eisenerzeugenden und eisenverarbeitenden Industrie nach Rußland von 1880 bis 1890 um über 5 0 % sank und nun nur noch 1 5 % (statt vorher 2 0 % ) des gesamten Exports Deutschlands nach Rußland ausmachte 56 und daß z. B. der englische Roheisenimport nicht nur weiterhin wesentlich größer war als der deutsche, sondern sogar noch anstieg 57 , so kann man sich leicht erklären, daß die russische Zollpolitik besonders die Profitinteressen der deutschen Schwerindustrie treffen mußte.

52

Eisenbahngesellschaften ihre Frachtsätze denen der anderen russischen Eisenbahnen anglichen und ihre Frachtermäßigungen für deutsche Waren, insbesondere für Roheisen, Eisen und Stahl, beseitigten (CGIAL, F. 268, op. IV, delo 11, Bl. 22-24, Vysnegradskij an Alexander III., 25. V./6. VI. 1889). Oder ein anderes Beispiel: Lange war es fast allen privaten russischen Eisenbahngesellschaften gestattet, rollendes Material und Eisenbahnzubehör für den Aufbau und den Unterhalt ihrer Linien zollfrei im Ausland einzukaufen. Ab Ende der sechziger Jahre traten hierin die ersten Veränderungen auf. Doch noch im Jahre 1890 besaßen einige wichtige russische Eisenbahngesellschaften, die insgesamt über fast 2 0 % des privaten russischen Eisenbahnnetzes verfügten — unter ihnen vor allem wieder die Große Russische Eisenbahngesellschaft und andere Linien an der Westgrenze Rußlands —, das Recht, ihr gesamtes Eisenbahnzubehör und rollendes Material zollfrei aus dem Ausland einzuführen. (CGIAL, F. 1152, op. XI, delo 225, Bd. III, Bl. 455—458, Schreiben des Vertreters des Verkehrsministeriums, Ing. Gorvcakov, zum Zolltarif, o. D.). CGIAL, F. 40, op. I, delo 39, Bl. 91—93, Randbemerkung Alexander III. zu Vysnegradskij an Alexander III., 25. VIII./6. IX. 1887. Auch die Industrieproduktion Rußlands wuchs an und konnte in wachsendem Maße die russische Nachfrage nach Industrieerzeugnissen selbst befriedigen. Einige Beispiele aus der Grundstoffproduktion: Rußlands Roheisen-, Eisen- und Stahlverbrauch (in Mill. Pud)* Stahlimport 1875 1880 1885 1890

8 5,5 0,4 0,9

Stahlprod.

Eisenimport

Eisenprod.

0,8 18,8 11,8 23,1

10,8 9,7 3,9 4,9

18,5 17,9 22,1 26,4

Roheisen- Roheisen import prod. 3,5 14,9 13,5 7,6

26,0 27,3 32,2 57,5

* Pokrovskij, Vnesnjaja torgovlja . . . , a. a. 0., S. 322. 53

54

55

56

AVPR, F. Berliner Botschaft, delo 4004, 1890, Bl. 37, Vysnegradskij an Suvalov, April 1891; Kuczynski/Wittkowski, a.a.O., S. 27. Ebenda, delo 3988, 1890, Bl. 97, Vysnegradskij an Suvalov, 31. I./12. II. 1891; Kuczynski/Wittkowski, a. a. O., S. 27. DZA/Merseburg, Rep. 120, C.XIII, 6a, Nr. 35, Adh. 2 secr. H. 1, Bl. 56-59, Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, Rußlands Handels- und Zollpolitik in Betreff der Eisenindustrie und des Maschinenbaues (Unterlagen für Beratung von Nr. 6 der Tagesordnung der Vorstandssitzung vom 12. X. 1892). Ebenda, Bl. 37, Vereinigte Königs- und Laurahütte an Berlepsch, März 1891.

118

Das Ende des Rückversicherungsvertrages

Nicht viel besser stand es übrigens um die Ausfuhr der deutschen Textilindustrie nach Rußland. Deutschland exportierte in bedeutendem Umfange nur noch Wollgespinste und Wollgewebe, besonders unbedruckte Tuch- und Zeugwaren nach Rußland. 58 Der Zollschutz für die russische Baumwollindustrie war jedoch so hoch, daß der ausländische Import von Baumwollwaren rapide zurückging 59 , die russische Produktion von Baumwollerzeugnissen sich laufend erhöhte und der russische Export an diesen Produkten rasch anstieg. Bereits 1887 war der Werl des russischen Exports von Baumwollgeweben im Vergleich zum Jahre 1884 von knapp 2 Mill. Rubel auf gut 5 Mill. Rubel angewachsen und umfaßte nun statt 1 6 , 7 % schon 2 6 % des russischen Imports an diesen Waren. 60 Das Verhältnis zwischen dem Import und der Produktion von Baumwollprodukten in Rußland sank von 5 % im Zeitraum 1860-1864 auf 1 % im Jahre 1886 ab. 61 Bei diesen Auswirkungen der russischen Industrieschutzzölle auf den deutschen Export nimmt es nicht wunder, daß die deutsche Industrie- und Handelsbourgeoisie und an ihrer Spitze die Schwerindustrie sich mit aller Energie gegen die russischen Zölle wehrte. Ihr Kampf nahm besonders heftige Formen an, als ihr bekannt wurde, daß Rußland eine Reform seines ganzen Zolltarifs vorbereitete, welcher die Erschwerungen f ü r den deutschen Export zumindest f ü r eine größere Zeitspanne sanktionieren, wenn nicht sogar verstärken sollte. Vysnegradskijs neuer Zolltarif

VySnegradskij hatte schon im Jahre 1887 damit begonnen, entsprechend einer alten Forderung der russischen Industriebourgeoisie 62 eine allgemeine Reform des gesamten russischen Zolltarifs vorzubereiten. Er wollte damit nicht nur dem Staat eine bedeutende Einnahmequelle sichern, sondern auch den Forderungen der russischen Industriellen entsprechen, möglichst allen Zweigen der Industrie und allen Stadien der Produktion einen gleich starken Zollschutz zu gewähren. Die Reform sollte die allseitige industrielle Entwicklung Rußlands garantieren. Sie sollte die wichtigsten Teile der russischen Bourgeoisie ebenso wirksam vor der 57

Rußland importierte aus: England Roheisen Schienen

58 59

00

61 62

1889 62 227 t 4211t

1890 78 373 t 4047t

Deutschland 1889 1890 27 294 t 17 524 t 515t 1 769t

(Ebenda, Bl. 38.) Ebenda, Bl. 6, Mosler an Berlepsch, Feb. 1891. Deutschlands Baumwollwarenexport nach Rußland sank z.B. von 1880 bis 1892 von 3,8 Mill. Mark auf 0,9 Mill. Mark, sein Kleider- und Wäscheexport von 4,9 auf 0,8 Mill. Mark, sein Wollwarenexport von 9,4 auf 2,5 Mill. Mark (Auswärtiger Handel des deutschen Zollgebiets, V. Rußland, Berlin 1897). CGIAL, F. 1152, op. XI, Bd. IV, delo225, Bl. 350, Materialy k peresmotru obscego tamozennogo tarifa Rossijskoj Imperii, 4. Zapiska. Ebenda, Bl. 352. Vgl. z. B. Russkij Vestnik, Nr. 182/2, April 1886, (r.D.), S. 957.

Die Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche

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heftigen Konkurrenz der hochentwickelten westeuropäischen und hier vor allem der deutschen Industrie schützen. Weiter war es Zweck der Zollreform, die wirtschaftliche Abhängigkeit Rußlands vom Ausland zu verringern. Schließlich sollte sie auch die Schutzzollforderungen der russischen Gutsbesitzer auf Produkte der landwirtschaftlichen Industrie (Zucker, Sprit, Wachs, Hopfen, Stärke, Mühlenprodukte u. a.) befriedigen, ein Schutzzollbündnis zwischen Großbourgeoisie und Gutsbesitzern vorbereiten63 und die russischen Gutsbesitzer vor der Konkurrenz der preußischen Junker auf dem russischen Markt (z. B. in Mühlenprodukten, Hopfen, Stärke, Sprit, Zucker u. a.) 6 4 bewahren. Der neue russische Zolltarif war das Werk einer Kommission im Finanzministerium, in der Vertreter der Kongresse der Hüttenindustriellen, der Börsenkomitees, des Vereins zur Förderung des Handels und der Industrie sowie anderer Vereinigungen der russischen Bourgeoisie, Bevollmächtigte der russischen Gutsbesitzer, Vertreter der technischen Intelligenz (Mendeleev) und der wichtigsten Ministerien mitwirkten. Dieser Zolltarif sah wiederum erhebliche Zollerhöhungen vor allem für Produkte der Grundstoff-, der Metall- und der chemischen Industrie vor (für 5 0 % aller russischen Tarifpositionen wurden die Zölle erhöht) und verstärkte den Schutz für die russische Rohstoff-, Halbfabrikate- sowie für die Fertigwaren-, besonders die Maschinenindustrie. Im Verhältnis zum Tarif vor dem 16./28. August 1890 stiegen die Zölle im Durchschnitt um 27—30% des Wertes der Waren.65 Und wenn die Reform nicht, wie ursprünglich geplant, im Januar 1888 6 6 , sondern erst im Sommer 1891 durchgesetzt wurde67, so lag das wohl auch am Widerstand, den die deutsche Regierung im Auftrage der deutschen Großbourgeoisie dieser Maßnahme entgegensetzte. Der neue Zolltarif drohte den deut63

64

65

66

Das schloß allerdings auch weiterhin Proteste eines großen Teiles der Gutsbesitzer gegen die hohen Industrieschutzzölle nicht aus. So wandte sich z. B. im Dezember 1889 die „Poltaver Landwirtschaftliche Gesellschaft" an das Finanzministerium und erhob ihre Bedenken gegen Prohibitivzölle. Rußland müsse an seinen eigenen Export denken und die Länder, die bisher das russische Getreide gekauft hätten, könnten sich durch Erhöhung ihrer Einfuhrzölle an Rußland rächen. (CGIAL, F. 1152, op.XI, Bd. III, delo 225, Bl. 285—288, Poltaver Landwirtschaftliche Gesellschaft an Vysnegradskij, Dezember 1889). Der bestehende russische Zollschutz für Industriewaren wurde von diesen Kreisen in vielen Fällen als große Ungerechtigkeit, als starke Belastung für die russische Landwirtschaft dargestellt. Die meisten Börsenkomitees landwirtschaftlicher Gebiete (z. B. der Ukraine, des Wolgagebietes und der nördlichen landwirtschaftlichen Bezirke) forderten Zollfreiheit für landwirtschaftliche Maschinen und Geräte. (Ebenda, Bl. 2 8 0 - 3 2 1 ; ebenda, Bd. III, Bl. 5 7 4 - 5 9 4 , Bd. IV, Bl. 10, Beratung der Zölle für landwirtschaftliche Maschinen in der Tarifkommission des Finanzministeriums, Bd. V, Bl. 97—233, Stellungnahme der „Freien ökonomischen Gesellschaft" zum neuen Zolltarif.) G. Gothein, Der deutsche Außenhandel, Berlin 1901, S. 103 ff.; Auswärtiger Handel des deutschen Zollgebiets, V. Rußland, a. a. O. CGIAL, F. 1152, op.XI, Bd. 1, delo 225, Bd. V, Bl. 1 - 6 , Vysnegradskij an Staatsrat, 23. III./4. IV. 1891. ROLB, F. 120, p. 23, Bl. 40, Voejkov an Katkov, 15./27. II. 1887. - Vgl. hierzu auch Kap. III/2.

120

Das Ende des Rück Versicherungsvertrages

sehen Industriellen die letzten Chancen für die Wiedereroberung ihrer Vormachtstellung auf dem russischen Markt zu rauben, denn ein einheitlicher Zolltarif mußte ein zollpolitisches Entgegenkommen der zaristischen Regierung sehr erschweren. Schon die ersten Zollerhöhungen Vysnegradskijs im Jahre 1887, mit denen die zollpolitischen Annäherungsversuche der beiden Mächte zunächst ihr Ende gefunden hatten, waren in Deutschland auf erbitterte Ablehnung gestoßen. Besonders schwer waren von den neuen russischen Zollerhöhungen im Jahre 1887 die oberschlesischen Eisenmagnaten betroffen, und zwar aus folgenden Gründen. Die Vereinigte Königs- und Laurahütte, die Oberschlesische Eisenbedarfs-AG und andere oberschlesische Unternehmen hatten zu Beginn der achtziger Jahre die Unterschiede in der Höhe der russischen Zölle auf verschiedene Waren in der Weise ausgenützt, daß sie — vor allem im Königreich Polen — eigene Filialen errichteten68, die relativ niedrig verzollte Rohstoffe, oberschlesisches Roheisen und oberschlesische Kohle, verarbeiteten und solche Waren herstellten, die besonders hohem russischen Zoll unterlagen, z. B. Bleche und Walzdraht. Die Betriebe im Königreich Polen lieferten 1887 etwa 1 7 % der ganzen russischen Eisen- und 25—33 % der Stahlproduktion. 69 Mit Einführung des differenzierten Roheisenund Kohlenzolls des Jahres 1887 verloren diese Werke jedoch ihren billigen deutschen Rohstoff, während die oberschlesischen Magnaten ihren Absatzmarkt in Rußland einbüßten. Seit Anfang 1887 erschwerte man außerdem russischerseits die Gründung und Erweiterung ausländischer Gesellschaften in Polen. Außerdem sollten die polnischen Hüttenwerke verstärkter Besteuerung unterworfen werden. Die Erhöhung der Eisenbahntarife für Transporte von der Westgrenze ins Innere Rußlands wurde vorbereitet. 70 Außerdem plante man noch andere Maßnahmen, „um der weiteren Entwicklung der bestehenden und dem Entstehen neuer Eisenschmelzwerke und Eisenhütten vorzubeugen, welche mit Hilfe ausländischen Materials oder mit Hilfe ausländischer Arbeiter betrieben" wurden. 71 Dies alles entsprach einer alten Forderung der Großbourgeoisie Zentralrußlands und des Urals. 72 Die oberschlesischen Großindustriellen waren über diese Entwicklung natürlich außerordentlich erregt und forderten Gegenaktionen. Am 10. Mai 1887 schrieb 67

68 m 70

71 72

Vgl. hierzu Sobolev, a . a . O . . Kap. XVI; Pokrovskij, Vnesnjaja torgovlja. . ., a . a . O . , S. 273 ff.; M. Sobolev, Istorija Russko-germanskogo torgovogo dogovora, Petrograd 1917. S. 21. DZA/Potsdam, Rdl, 4927, Bl. 282, Anlage zum Bericht Lamezans an Bismarck, Juli 1887. Ebenda, RSchA, 3399, Bl. 225, Seeboldt an das A.A., 17. IX. 1887. CGIAL, F. 1152, o p . X , delo 148, Bl. 81—84, Beratung der Zollvorlage im Staatsrat, 31. III./12. IV. 1887. Pravitel'stvennyj Vestnik, 7./19. V. 1887; vgl. auch GP, Bd. V, Nr. 1137. Russkij Vestnik, Nr. 1 7 l / l , Mai 1884, S . 4 6 5 f „ 471 f.; Nr. 177/1, Mai 1885, S . 4 7 8 ; Nr. 177/2, Juni 1885, S. 9 1 2 f . ; Nr. 179/1, Sept. 1885, S . 4 7 0 f f . ; Nr. 187/1, Januar 1887, S . 4 4 8 u. a. (r.D.).— Vgl. auch Schulze-Gävernitz, Volkswirtschaftliche Studien . . . , a. a. 0., S. 120 ff.

Die Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche

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z. B. die „Schlesische Zeitung": „Das neue russische Zollgesetz . . . richtet sich in erster Linie gegen das deutsche Eisen- und Stahlgewerbe" und drohte mit Getreidezöllen.73 Fünf Wochen später schrieb Henckel v. Donnersmarck, nach Krupp der zweitreichste Mann Preußens74, an das preußische Ministerium für Handel und Gewerbe: „Brutaler wie dies seitens der russischen Regierung dem deutschen Export gegenüber geschehen, zu verfahren . . . ist wohl kaum möglich." Er verlangte Gegenmaßnahmen: „Kampfzölle gegen Petroleum, land- und forstwirtschaftliche Produkte oder Besteuerung der russischen Werte auf deutschen Börsen".75 Auch die westphälische Schwerindustrie, welche bis 1887 sowohl in Riga als auch in Moskau, ja sogar in Brjansk nicht unbedeutenden Roheisenabsatz verzeichnen konnte 76 , schloß sich dem Kampf der Oberschlesier an. Die deutsche Regierung befaßte sich nun mit Gegenmaßnahmen. Deutschlands Gegenmaßnahmen

Diesmal wandte Bismarck ein neues Kampfmittel an, das Berchem schon vor einem Jahr vorgeschlagen hatte. Rußland sollte nunmehr durch Schädigung seines Staatskredits zu handelspolitischen Zugeständnissen gezwungen werden.77 Gleichzeitig griff Bismarck jedoch auch wieder zu seinem schon oft gebrauchten Druckmittel, den Agrarzöllen. Damit hoffte er — wie in den Vorjahren, so auch jetzt — sowohl Rußland zum Nachgeben zu zwingen als auch die wieder zunehmenden Forderungen der preußischen Junker nach einem verstärkten Schutzzoll zu befriedigen. Ungeachtet der Heraufsetzung der deutschen Agrarzölle im Mai 1885 hatte der Kampf der preußischen Junker für höhere Zölle nicht aufgehört. Schon Ende 1885 hatte der Landwirtschaftliche Verein Schlesiens wiederum von Bismarck eine Erhöhung der Schutzzölle gefordert.78 Im Frühjahr 1886 brachten dann die konservativen Abgeordneten Minnigerode und Kanitz im Preußischen Abgeordnetenhaus eine entsprechende Interpellation ein. Die Regierung hatte diesen Bestrebungen damals aber nicht nachgegeben, sondern die Interpellation am 9. April 1886 in der Sitzung des Staatsministeriums mit der Begründung abgelehnt, „daß eine fernere Erhöhung dieser Zölle z. Z. nicht in der Absicht liege" 79 . Maßgebend waren dabei einzig und allein taktische Gründe. Bismarck hätte auch schon 1886 durchaus nichts gegen eine weitere Erhöhung der landwirtschaftlichen Zölle eingewendet80, doch ließen innenpolitische Erwägungen sowie das 73

74 Schlesische Zeitung, 10. V. 1887. Böhme, a. a. 0., S. 336 ff. 'r> DZA/Potsdam, Rdl, 4927, Bl. 186—187, Henckel v. Donnersmarck an Bismarck, 15. VI. 1887. 70 DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII, 6a, Nr. 27, Bd. 44, Bl. 267, Lamezan an Berlepsch, 1887 (wahrscheinlich Juni/Juli). 77 Näher darüber Kap. III/2. 78 DZA/Potsdam, RK, 2118, Bl. 129, Landwirtschaftlicher Verein Schlesiens an Bismarck, Dezember 1885. ' 9 Ebenda, Bl. 154, Protokoll der Sitzung des Königlichen Staatsministeriums vom 80 9. IV. 1886. Lucius v. Ballhausen, a. a. 0., S. 344 f.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

Verhalten der zaristischen Regierung zu den Zollforderungen in Rußland ein Abwarten ratsamer erscheinen. Bismarck erachtete es damals offensichtlich f ü r günstiger, die Waffe gegen die russischen Zollerhöhungen jetzt, wo die zaristische Regierung sich so entgegenkommend zeigte, noch zurückzuhalten. Er wollte mit ihrer Anwendung drohen können und sie erst dann einsetzen — selbst wenn die preußischen Junker ungeduldig wurden —, sobald Rußland seine Industriezölle entgegen den deutschen Drohungen wiederum erhöhte. Anfang 1887 jedoch, als Vyönegradskij das Finanzministerium übernommen hatte und energisch zu neuen Zollmaßnahmen schritt, hielt Bismarck den Zeitpunkt offensichtlich f ü r gekommen, Gegenmaßnahmen vorzubereiten. Er beriet sich im Februar 1887 mit Jacobi, Scholz, Magdeburg und Boetticher darüber, wie man Rußlands Getreideexport am stärksten treffen könne. Man einigte sich, im Interesse der deutschen Ostprovinzen auf eine differentielle Behandlung Rußlands zu verzichten und eine allgemeine Erhöhung der Zölle auf die wichtigsten russischen Exportartikel vorzubereiten. 81 Noch im gleichen Monat mußte Schweinitz auf Bismarcks Geheiß mitteilen, Deutschland sähe sich durch die russische „Undankbarkeit" gezwungen, seine Getreidezölle zu erhöhen. 82 Kurz nach der Erhöhung der russischen Zölle forderte Bleichröder im Auftrage Bismarcks Cyon, den Agenten des zaristischen Finanzministeriums und Vertrauten Katkovs, auf, f ü r die Einstellung der Pressekampagne in Rußland gegen Deutschland zu sorgen. Er versuchte, Cyon von der Rußlandfreundlichkeit der Bismarckschen Außenpolitik zu überzeugen. Als er bei Cyon keinerlei Entgegenkommen fand, drohte er Rußland Differentialzölle auf Weizen an. 83 Zu dieser Zeit, am 19. April 1887, forderten einige konservative Abgeordnete im preußischen Landtag erneut eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Schutzzölle. Das geschah wahrscheinlich im Einvernehmen mit Bismarck nach einer Unterredung mit Kanitz über die Lage der Landwirtschaft. 84 Das Staatsministerium gab am 3. Mai eine „entgegenkommende Erklärung" ab, um „nicht die Unterstützung dieser Partei" zu „ v e r s c h e r z e n . . d e r e n Beistand" f ü r die Regierung „unentbehrlich" sei. 85 81

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DZA/Potsdam, Rdl, 4927, Bl. 33—37, Gutachten Jacobis betr. die abermalige Erhöhung der russischen Eingangszölle auf Roheisen, 18.11.1887; DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII, 6a, Nr. 27, Adh. 4, Bl. 4 2 - 4 3 , Berchem an Magdeburg, 20. II. 1887; DZA/Potsdam, Rdl, 4927, Bl. 48—52, Rdl an Bismarck, 26. II. 1887; ebenda; Bl. 8 0 - 8 1 , Magdeburg an Bismarck, 2. III. 1887; ebenda, RSchA, 4215, Bl. 104, Gutachten Jacobis über den Einfluß der russischen Zollerhöhungen auf Deutschland, U . V . 1887. Chvostov, Rossija i germanskaja agressija . . . , a. a. 0., S. 238. ROLB, F. 120, p. 39, Bl. 4 3 - 4 7 , Brief Cyons an Katkov, März oder April 1887. DZA/Potsdam, RK, 2279/2, Bl. 74, Notiz über die Audienz des Grafen Kanitz bei Bismarck, 25. IV. 1887. Ebenda, RK, 2118, Bl. 174—177, Antrag Minnigerodes, Boysens u.a. ans Preußische Abgeordnetenhaus, 29. IV. 1887; DZA/Merseburg, Rep. 90a, B.III, 2. b 6, Bd. 99, Bl. 155, Protokoll der Sitzung des Königlichen Staatsministeriums, 3. V. 1887.

Die Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche

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Trotzdem verhinderte Bismarck zunächst noch eine Ausweitung der Schutzzollbewegung. Offenbar wollte er abwarten, bis eine neue Steuervorlage im Reichstag durchgebracht war 8 6 und bis die im Mai begonnenen Verhandlungen mit Suvalov über den Abschluß des Rückversicherungsvertrages zwischen Deutschland und Rußland erfolgreich zu Ende geführt waren. 87 Nachdem im Sommer 1887 jedoch der Rückversicherungsvertrag unterzeichnet worden war und die politische „Freundschaft" mit Rußland auf weitere drei Jahre garantiert zu sein schien, hielt Bismarck den Zeitpunkt f ü r gekommen, die Wünsche der preußischen Junker nach weiteren Zollerhöhungen nunmehr zu erfüllen. Dabei bot sich ihm die Möglichkeit, mit der Erhöhung der deutschen Getreidezölle nicht nur den Forderungen der oberschlesischen Eisenmagnaten nach Maßnahmen gegen den russischen Import zu entsprechen, um Rußland zu zollpolitischen Zugeständnissen zu zwingen, sondern sich zugleich an Rußland dafür zu rächen, daß es ihm mit dem Rückversicherungsvertrag gegenüber Frankreich keine freie Hand gelassen hatte. Einer breiten Entfaltung und Forcierung der Agrarschutzzollbewegung stand nun nichts mehr im Wege. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung", das Organ Bismarcks, veröffentlichte am 1. August eine Petition der Bromberger Landwirte an Bismarck, in der diese •eine Erhöhung der Getreidezölle noch für den Herbst forderten. Eingaben von landwirtschaftlichen Vereinen, Resolutionen von Agrariertreffen u. a. füllten in dieser und in anderen Zeitungen die Seiten der August- und Septembernummern. Ende August berichteten die „Berliner Politischen Nachrichten" und die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung", daß bei den Reichsbehörden immer mehr Eingaben und Bittschriften um Erhöhung der Getreidezölle eingingen und deren Zahl bereits größer sei, als man allgemein annähme. 88 Im Oktober 1887 begann die Vorbereitung der neuen Gesetzesvorlage.89 Sie wurde am 25. November im Reichstag eingebracht und am 17. Dezember trotz des Einspruches vor allem der Sozialdemokratie, der Freisinnigen und der Nationalliberalen mit 203 gegen 116 Stimmen angenommen. 90 Die deutschen Roggen- und Weizenzölle stiegen von 3 auf 5 Mark (für 100 kg) und waren, wie Bismarck ausdrücklich betonte, als wirksame Waffe gegen die russischen Schutzzölle gedacht. 91 86 87

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Ebenda, Bl. 155 sowie Lucius v. Ballhausen, a. a. O., S. 387 ff. Am 11. Mai 1887, als die Verhandlungen mit Suvalov begannen, ließ der Reichskanzler über Wolffs Telegraphisches Bureau allen Zeitungen Deutschlands mitteilen, daß der Regierung „die Sperrung der Einfuhr von Getreide . . . vollständig fern steht" (DZA/ Potsdam, RK, 2118, Bl. 180). DZA/Potsdam, ebenda, 2119, Bl. 4 - 1 1 , Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 1. VIII., 19. VIII., 20. VIII. 1887 und Berliner Politische Nachrichten, 23. VIII. 1887; DZA/ Merseburg, Rep. 87B, 6974, Zeitungsausschnitte seit August 1887 bis November 1887. DZA/Potsdam, ebenda, RK, 2119, Bl. 6 3 - 7 8 , Jacobi an Bismarck, 8. XI. 1887. Ebenda, 2120, Bl. 4 1 - 4 2 , Lucius an Bismarck, 17. XII. 1887. Lucius v. Ballhausen, a. a. 0., Anhang, S. 583, H. v. Bismarck an Lucius, 15. XII. 1887. — Auch Lucius hielt die Zollerhöhung von 1887 „möglicherweise nur für eine gegen

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

Mit dieser Wendung der Dinge, die die Beziehungen zwischen Deutschland u n d Rußland noch m e h r zuspitzte, erklärten sich jedoch nicht alle Teile der herrschenden Klasse Deutschlands einverstanden. Hierzu gehörten einmal die extrem monarchistischen, prorussischen Kreise innerhalb der Regierung, die sich zwar nicht prinzipiell gegen den Schutzzoll, wohl aber gegen seine antirussische Spitze wendeten. Einer der einflußreichsten Vertreter dieser Gruppe, Schweinitz, hatte sich bereits im F e b r u a r 1879 gegen Deutschlands Repressalien hinsichtlich der russischen Vieheinfuhr gewehrt u n d sie als „zu rücksichtslos gegen R u ß l a n d " 9 2 bezeichnet. Im April 1886, als Deutschland Rußland Kampfzölle androhte, warnte er Berchem vor Repressalien gegen R u ß l a n d . 9 3 Ein J a h r später s p r a c h sich Lamezan, sein Mitarbeiter in der Botschaft, ganz in seinem Sinne gegen neue Getreidezölle aus, weil er befürchtete, daß diese den einflußreichsten Teil der davon betroffenen russischen Gutsbesitzer zum Kriege gegen Deutschland treiben könnten. 9 4 Es gab aber auch innerhalb der Bourgeoisie verschiedene Strömungen, wobei sich vor allem jene Teile der deutschen Finanzbourgeoisie 9 5 , die — wie beispielsweise Mendelssohn — an russischen Wertpapieren interessiert waren, gegen eine Verschlechterung der Beziehungen zu Rußland aussprachen. I h r e Meinung vertrat vor allem die „Berliner Börsenzeitung". Diese Zeitung suchte bei ihren Lesern die W i r k u n g der russischen Zölle auf die deutsche Industrie abzuschwächen u n d griff den von der Regierung bewußt inszenierten Zeitungskampf gegen die russischen Wertpapiere u n d das Lombardierungsverbot an. 9 6 Außerdem zählten noch große Teile der meist freisinnigen Handelsbourgeoisie, der freisinnigen Industriebourgeoisie u n d des mit ihnen verbundenen Bankkapitals, z . B . der Deutschen Bank, zu den Gegnern des deutschen u n d des russischen Schutzzolls; diese Kreise traten f ü r einen handelspolitischen Kompromiß zwischen beiden Staaten ein. 9 7 Den. entgegengesetzten S t a n d p u n k t aber vertraten die einflußreicheren K r ä f t e desherrschenden Lagers. Die überwiegende Mehrheit der preußischen J u n k e r — an

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Rußland gerichtete Maßregel..., welche man jederzeit wieder aufgeben und dann zugleich als Kompensationsobjekt benutzen könne, um von dort Konzessionen zu erhalten" (Ebenda, S. 409 f.). — Rantzau war der Ansicht, „daß es sich politisch darum handelt, den Russen die finanzielle Subvention zu entziehen, welche in den letzten Jahrzehnten die deutsche Landwirtschaft durch den Kanal der russischen Landwirtschaft an die russische Armee zahlt. . . Rußland würde schon lange nicht mehr seine gegenwärtige militärische Stellung halten können, wenn es nicht durch unsere Subsidien in Gestalt des Kaufpreises für das bei uns importierte Getreide gefüttert worden wäre" (DZA/Potsdam, AA, 10600 Bl. 35-37, Notiz Rantzaus, 6. XI. 1887). Schweinitz, a. a. 0., Bd. II, S. 41. Ebenda, S. 317. DZA/Potsdam, Rdl, 5018, Bl. 212, Lamezan an Bismarck, 21. XI. 1887. Die Kritik Agahds (a.a.O., S. 96, 109 f., 115 ff.) an Bismarcks Schutzzollpolitik geht eben von der Position des deutschen, an Rußland interessierten Bankkapitals aus. Berliner Börsenzeitung, 11. V. 1887; Raschdau, Unter Bismarck . . . , a. a. O., S. 17ff. DZA/Potsdam, Rdl, 4926, Bl. 114-116, Handelskammer Oppeln an Boetticher, 13. V. 1886; ebenda, Bl. 174-175, Wendt an Handelskammer Remscheid, Mai 1886;

Die Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche

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der Spitze ihre einflußreichsten Vertreter im System des preußischen Militarismus — war bereit, ihrem eigenen Interesse zuliebe die „Freundschaft" zu Rußland zu opfern. Diesen Kräften schloß sich die starke und einflußreiche protektionistisohe Großbourgeoisie an, als deren Wortführer die Magnaten von Rhein und Ruhr, von der Saar und aus Oberschlesien sowie das mit ihnen verbundene Bankkapital (z. B. die Direktion der Disconto-Gesellschaft und Bleichröder) auftraten. Diese Kreise der deutschen Großbourgeoisie waren Anhänger der deutschen Schutzzollpolitik und verteidigten das zollpolitische Bündnis zwischen Großbourgeoisie und Junkern, weil es ihnen die Erhaltung der alten und die Einführung der neuen Schutzzölle garantierte. Doch sie sahen in dem Kampf um Schutzzölle, d. h. um den inneren Markt, nur den ersten Schritt zum weiteren wirtschaftlichen Erstarken, dem als zweiter der Abschluß von Handelsverträgen, d. h. die Eroberung und Sicherung des äußeren Marktes, folgen sollte. Aus diesem Grunde traten sie von Anfang an gegen die Schutzzollpolitik der mit Deutschland benachbarten Staaten auf, weil diese Politik ihre Herrschaftsansprüche auf die Nachbarmärkte zum Scheitern zu bringen drohte. Und nachdem sie mit Hilfe der deutschen Regierung eine ihren Interessen entsprechende Zollpolitik durchgesetzt hatten, arbeiteten sie denn schon seit 1880 auf den Abschluß von Handelsverträgen, darunter auch mit Rußland, hin. 98 Die protektionistische deutsche Bourgeoisie fügte sich zunächst der Methode Bismarcks, Rußland durch Retorsionszölle, Repressalien gegen die russische Schweineeinfuhr u. ä. zu Konzessionen für den Absatz deutscher Industrieprodukte auf dem russischen Markt zu zwingen. Dabei war ihr der Gedanke gegenseitiger Zugeständnisse, unter Umständen auch auf Kosten gewisser Interessen der preußischen Junker, also ihrer Verbündeten, nie völlig fremd gewesen. Dieser Gedanke verstärkte sich, als Rußland seine Zollpolitik auch nach den bedeutenden Erhöhungen der deutschen Agrarzölle und trotz des Lombardverbots fortsetzte und daher Zweifel am Erfolg der Bismarckschen Politik gegenüber Rußland auftraten."

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ebenda, 4857, Bl. 2 3 0 - 2 3 1 , Bismarck an Handelskammer zu Iserlohn, 27. XI. 1885; Magdeburgische Zeitung, Abend, 27. XII. 1880 sowie 21. VII. 1882; Berliner Tageblatt, Nr. 228, 17. V. 1882, 1 7 . 1 . 1 8 8 5 ; Nationalzeitung, 12. VIII. 1884 und 30. XI. 1884; Börsencourier, 12. VIII. 1884 und 2 4 . 1 . 1 8 8 5 ; DZA/Potsdam, Rdl, 4925, Bl. 145, Rheinisch-Westphälische Zeitung, 10. X. 1885. Immer wieder forderte die deutsche Großbourgeoisie von der deutschen Regierung den Abschluß eines Handelsvertrages mit Rußland „auf dem Boden mäßiger Schutzzölle" (vgl. z. B. DZA/Potsdam, Rdl, 4925, Bl. 145, Rheinisch-Westphälische Zeitung, 10. X. 1885; ebenda, 4857, Bl. 228—231, Petitionen einiger Handelskammern an Bismarck und Antwortschreiben Bismarcks, Nov.—Dez. 1885; ebenda, 4858, Bl. 191, Weserzeitung, 24. IV. 1889; DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII, 6a, Nr. 27, Vol. 41, Bl. 73—80; Oberschlesischer Berg- und Hüttenmännischer Verein an Regierungspräsidenten in Oppeln, 12. IX. 1882; ebenda, Vol. 42, Bl. 158—162, Bismarckhütte an Regierungspräsidenten in Oppeln, 28. III. 1885; ebenda, Nr. 35, Bd. 1, Bl. 32—38, Vereinigte Königs- und Laurahütte an Caprivi, 28. III. 1891). Bueck, a. a. 0., S. 256, 265 f., 411 ff., 445, 464 ff.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

Trotzdem änderte die deutsche Regierung unter Führung Bismarcks auch nach 1887 ihre alte Politik gegenüber Rußland nicht.100 Erst als im letzten Drittel des Jahres 1889 in Deutschland bekannt wurde, daß Vy§negradskij von seinem Vorhaben, die russischen Zölle wiederum zu erhöhen und eine allgemeine Zolltarifreform durchzuführen, nicht abzubringen war, ja daß er dieses Vorhaben sogar noch forcierte 101 , wurde es offensichtlich, daß der alte Kanzler mit seiner Zollpolitik in eine Sackgasse geraten war. Bismarck fand kein Mittel mehr gegen die russischen Zollvorhaben. Das Ende der Bismarckschen Handelspolitik gegenüber Rußland

Die Anwendung des Kampfzollparagraphen, von den Konservativen auch 1888 und 1889 wieder gefordert, konnte Rußland in diesem Stadium nur dazu bringen, seine Zölle noch schneller zu erhöhen.102 Maßnahmen bei den Eisenbahntarifen mußten dagegen die östlichen Provinzen Deutschlands empfindlich schädigen. Neue Repressalien gegen die russischen Finanzen bewirkten eine weitere Verschärfung des Verhältnisses zu Rußland. Und der einzige Ausweg, den Bismarck noch sah — ein Doppeltarifsystem, bei dem zwischen Vertrags- und Nichtvertragsstaaten unterschieden werden sollte —, mußte am Protest des alten Reichstages scheitern und eine schlechte Wirkung auf die bevorstehenden Reichstagswahlen ausüben. Darüber konnte daher erst nach den Reichstagswahlen wieder beraten werden.103 Bismarck war auf dem Gebiete der Handelspolitik ebenso wie auf dem Gebiete seiner Innen- und seiner Außenpolitik 104 am Ende seiner Laufbahn angelangt. 100

Noch Mitte August 1889 erklärte Bismarck im Staatsministerium anläßlich des Schweineeinfuhrverbotes, daß „Deutschland Rußland keine Gefälligkeiten zu erweisen hätte" und daß ihm auch gleichgültig sei, ob die „Montanindustriellenbevölkerung billigeres Schweinefleisch habe" (Lucius v. Ballhausen, a. a. 0., S. 502). 1U1 DZA/Potsdam, RSchA, 4215, Bl. 106—109, Lamezan und Schweinitz an Bismarck, 20. VIII. 1889. 102 Bismarck lehnte dieses Mittel auch mit Rücksicht auf die Stimmung im Reichstag ab. — Interessant ist in diesem Zusammenhang folgende Episode. Im Mai 1888 hatte Bismarck offenbar in Wien den Vorschlag gemacht, gleichzeitig mit Österreich einen neuen Zollzuschlag auf russisches Getreide zu erheben. Trotz Holsteins Drängen scheiterte der Plan sowohl wegen Österreichs Gegenforderungen als auch angesichts der Schwierigkeiten im österreichischen und im deutschen Parlament (Krausnick, a. a. 0., S. 201 ff.; Waldersee, a. a. 0., Bd. I, S. 400). 1(0 DAZ/Potsdam, RSchA, 4215, Bl. 103-105, Berchem an Maitzahn; 29. VIII. 1889; ebenda, Rdl, 4858, Bl. 195-96, Maybach an Bismarck, 4. IX. 1889; ebenda, Bl. 199 - 2 0 1 , Maitzahn an H.V.Bismarck, 11. IX. 1889; ebenda, Bl. 207, Boetticher an H.V.Bismarck, 9. X. 1889; ebenda, Bl. 208, Reichardt an Boetticher, 23. X. 1889; ebenda, Bl. 209—210, Reichardt an Boetticher, 31. X. 1889; ebenda, Rdl, 3402, Bl. 180, Lamezan an Caprivi, 16. V. 1890; ebenda RK, 5/4, Bl. 125—126, Bismarck an Boetticher, 26. VI. 1889; ebenda, AA, 10 604, Bl. 164—168, Berchem an Rottenburg, 13. IX. 1889. 104 Ausführlich hierüber E. Engelberg, Deutschland 1871—1897, a. a. 0 .

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Es war ihm nicht gelungen, Rußland mit seinen Methoden zum Nachgeben zu bringen und es „zu nötigen...", auf Deutschlands „Interessen mehr Rücksicht zu nehmen". 105 Seine Zollpolitik gegenüber Rußland endete mit einem Mißerfolg. Bismarck konnte die immer stärker werdenden Forderungen der deutschen Bourgeoisie — Verhinderung weiterer russischer Zollerhöhungen, Rückeroberung verlorener Positionen auf dem russischen Markt, Sicherung und Ausbau der wirtschaftlichen Vormachtstellung in Rußland — nicht mehr erfüllen, denn die Mittel, mit denen er das erreichen wollte — Agrarzölle und Lombardverbot —, kamen letztlich den Forderungen der preußischen Junker und deren Vertretern im System des preußisch-deutschen Militarismus stärker entgegen als denen der Großbourgeoisie. Bismarcks Kampfmethoden gegen die russische Zollpolitik scheiterten, weil er letztlich die zollpolitischen Interessen der Junker über die der Bourgeoisie stellte. Sie stießen daher bei der deutschen Bourgeoisie am Ende der Bismarckschen Ära immer stärker auf Ablehnung, und zwar vor allem aus folgenden Gründen: Einerseits erweiterten sie nicht den Absatz der deutschen Bourgeoisie, in Rußland, wie man es teilweise erhofft hatte. Die Methoden Bismarcks führten weder zu einzelnen zollpolitischen Zugeständnissen Rußlands noch zum Abschluß eines Handelsvertrages mit diesem Staat. Andererseits stießen die Bismarckschen Agrarzölle in Deutschland bei den Volksmassen in wachsendem Maße auf Ablehnung. Sie trugen maßgeblich zu einer Steigerung der Lebenshaltungskosten in Deutschland bei und waren zweifellos einer der Gründe, die zur stark anwachsenden Streikbewegung des deutschen Proletariats besonders im Jahre 1889 führten. 106 Infolgedessen konnte es nicht wundernehmen, daß die Agrarzollpolitik Bismarcks nicht nur wie bisher bei der freisinnigen Bourgeoisie und Teilen der Nationalliberalen, sondern nun auch bei Vertretern der Reichspartei — z. B. einem Stumm — auf Ablehnung stießen 107 , bei jenen Leuten also, die sich, weil sie des zollpolitischen Bündnisses mit den Junkern bedurften, früher f ü r die Bismarcksche Agrarzollpolitik eingesetzt hatten. Insofern muß man in den Meinungsverschiedenheiten über handelspolitische Fragen im herrschenden Lager Deutschlands zweifellos eine der Ursachen f ü r die Krise der Bismarckschen Politik überhaupt sehen. Sie trugen zweifellos mit dazu bei, den alten Kanzler zu stürzen. Und selbst die preußischen Junker waren, zwar aus anderen Gründen als die Bourgeoisie, verärgert über die Ergebnisse der Bismarckschen Zollpolitik. Wenn die Bismarckschen Zollerhöhungen ihnen auch in Deutschland f ü r eine gewisse Zeit Monopolpreise f ü r ihren Absatz garantierten, so mußte doch die Konkurrenz des billigen russischen Getreides diese hohen Preise immer wieder gefährden. Die preußischen Junker, weit davon entfernt, zu einer Rationalisierung ihrer Wirt105 106

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Bismarck an Lucius, 4. XII. 1887, in: Lucius v. Ballhausen, a.a.O., Anhang S. 582. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. I, Von den Anfängen der deutschen Arbeiterbewegung bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Berlin 1966, S. 409 ff., S. 415 f. Vgl. hierzu Kreuzzeitung, 1. III. 1889, 13. III. 1889, 26. IX. 1889 und 14. XI. 1889; Danziger Zeitung, 6. III. 1889, Freisinnige Zeitung, 1. X. 1889; Nationalzeitung, 7.II. 1889; Frankfurter Zeitung, 11.X. 1889.

10 Bismarcks „Draht nach B u ß l a n d "

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schaft überzugehen, forderten deshalb immer wieder neue Zollerhöhungen, die ihnen selbst Bismarck schließlich nicht mehr zusagen konnte. Zu ihrem Verdruß konnte Bismarck die russische Konkurrenz auf dem deutschen Markt nicht beseitigen. Nach wie vor kamen, abgesehen von einigen Schwankungen Mitte der achtziger Jahre, 1 8 9 0 wie schon zehn Jahre zuvor etwa 1 2 % des gesamten deutschen Imports aus Rußland. 1 0 8 Trotz der Bismarckschen Zollerhöhungen blieb der Anteil des Exports nach Deutschland im gesamt-russischen Export seit 1875 fast gleich hoch. 1 0 9 Absolut gerechnet nahm der russische Export nach Deutschland sogar noch erheblich z u 1 1 0 , und es entfielen 1890 noch fast 6 0 % des deutschen Weizenimports, fast 85 % des Roggenimports, 50 % des Gerste- und fast 1 0 0 % des Haferimports sowie fast 7 0 % des deutschen Holzimports (im Jahre 1889 auf Rußland. 1 1 1 Bismarcks Schutzzollpolitik enttäuschte jedoch nicht nur die herrschenden Klassen Deutschlands, sie untergrub auch die Beziehungen Deutschlands zu Rußland. Bismarck fiel durch seine Zollpolitik seinen wichtigsten Verbündeten in Rußland, den deutschfreundlichen Kreisen der Gutsbesitzer, in den Rücken und stieß diese von Deutschland ab. 1 1 2 108 109

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Gerloff, a. a. O., S. 411 ; Kuczynski/Wittkowski, a. a. O., S. 27. E r betrug 1875: 3 3 % , 1880 und 1885: 3 0 % , 1890: 2 9 % . - (AVPR, F. Berliner Botschaft, delo 3988, 1890, Bl. 7, Vysnegradskij an Suvalov, 31. 1/12. II. 1891; ebenda, delo 4004, 1890, Bl. 30—31). — An erster Stelle im russischen Getreideexport (in Weizen, Hafer und Gerste) stand jedoch nach wie vor mit 4 2 , 8 % England (Ljascenko, Zernovoe chostjajstvo . . . , a. a. O., S. 72 fi.). Nach russischer Statistik führte Deutschland 1880 im Werte von 140 Mill. Rubel, 1890 f ü r 176 Mill. Rubel aus Rußland ein (AVPR, ebenda). Nach deutscher Statistik im Werte von 331,4 Mill. Mark und 542 Mill. Mark (Kuczynski/Wittkowski, a. a. O.. 111 S. 27). Gothein, a. a. 0., S. 97 ff., 508 f. Die Konkurrenz zwischen den preußischen und den russischen Gutsbesitzern verstärkte sich jedoch nicht nur auf dem deutschen Markte, sondern auch auf anderen westeuropäischen Märkten, auf welche beide Staaten ihre Agrarprodukte exportierten. Sie beschränkte sich übrigens nicht nur auf unverarbeitete Produkte der Landwirtschaft, wie Korn, Rohholz, Zuckerrüben u. a., sondern auch auf Produkte der landwirtschaftlichen Industrie. Preußischer Kartoffelschnaps und russischer Kornschnaps begegneten sich auf den deutschen und anderen westeuropäischen Märkten (vgl. hierzu F. Engels, Preußischer Schnaps im deutschen Reichstag, in: Marx/Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, S. 37 ff.), und die preußischen Junker (zu ihrem Wortführer machte sich übrigens im Reichstag der Freikonservative v. Kardorff) forderten Exportprämien f ü r Sprit und Verbot des russischen Spritimports. Preußischer und russischer Zucker machten sich z. B. im Nahen Osten Konkurrenz. Die russische Zuckerindustrie war durch einen hohen Zoll geschützt, so daß der ausländische Zuckerimport nach Rußland fast völlig aufgehört hatte. Trotzdem bemühte sich Deutschland immer wieder, den russischen Zuckermarkt f ü r die preußischen Junker zu erschließen (vgl. z. B. CGIAL, F. 40, op. I, delo 78, Bl. 42—53, Suvalov an Giers über Forderungen Marschalls an Rußland, 21. IV./3. V. 1891). Die russische Zuckerproduktion stieg rasch an und ging, durch Exportprämien dazu angeregt, selbst zum Export über. Bereits 1885 exportierte Rußland 4 Mill. Pud Zucker, d. h. etwa 2 3 % seiner Jahres-

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Wenn auch der Anteil des russischen Exports nach Deutschland sich weder im Gesamtimport Deutschlands noch im Gesamtexport Rußlands in den achtziger Jahren nennenswert verändert hatte, wenn auch der russische Export nach Deutschland sogar absolut (wert- und mengenmäßig) noch stark angestiegen war, so wirkten sich die deutschen Zollerhöhungen auf den russischen Außenhandel doch sehr negativ aus. Das mengenmäßige Wachstum des russischen Exports stand in keinem Verhältnis! mehr zu seinem wertmäßigen Wachstum. 113 Grund dafür war nicht nur das Fallen der Weltmarktpreise f ü r landwirtschaftliche Erzeugnisse, sondern in starkem Maße auch der hohe Zollschutz auf dem f ü r den russischen Getreideexport erstrangig wichtigen deutschen Markt. So verschlechterte sich die russische Handels- und Zahlungsbilanz zusehends. 114 Daneben bedrohte die deutsche Zollpolitik die ökonomischen Interessen der russischen Gutsbesitzer und des zaristischen Staates, bildete doch der Getreideexport neben den Auslandsanleihen f ü r das zaristische Rußland das wichtigste Mittel, seine Zahlungsbilanz zu aktivieren und dadurch den Staatsbankrott zu verhindern. Die Verbitterung Rußlands gegen die deutsche Zoll- und Handelspolitik nahm nach dem Sturz Bismarcks noch zu. Caprivis Handelspolitik und Rußland

Caprivi, der Nachfolger Bismarcks, ging zu einer Handelspolitik über, welche den Bedürfnissen der deutschen Großbourgeoisie in der Periode des allmählichen Übergangs zum Imperialismus besser entsprach, als es die Bismarcksche Politik vermocht hatte. Caprivi verfolgte mit seiner Handelspolitik zwar die gleichen Produktion (/. Levin, Nasa sacharnaja promyslennost', St. Petersburg 1908, S. 9 ff.). Die deutsche Rübenzuckerindustrie war ihrerseits durch Zölle und Exportprämien in ihrer Entwicklung unterstützt (vgl. F. Engels, Schutzzoll und Freihandel, a. a. 0., S. 370 f.), was ebenso wie die Spiritusexportpräinie bei den russischen Gutsbesitzern auf Protest stieß (Kievljanin, 9. X. 1887. [r.D.]). — Die deutschen und russischen Gutsbesitzer begegneten sich mit ihren Produkten jedoch nicht nur auf dem deutschen, und anderen west- oder mitteleuropäischen Märkten, sondern auch auf dem russischen Markt, wenngleich das auch im Vergleich zu den Jahren vor dem ersten Weltkrieg nur minimale Anfänge waren. 1890 gingen z.B. 1 % , 1896 aber schon 2 0 % des ganzen deutschen Exports an Mehl- und Mühlenfabrikaten nach Rußland. (Gothein, a. a. 0 . , S. 103f.). 1896 absorbierte Rußland 5 0 % des ganzen deutschen Exports von geschrotetem Getreide und Hülsenfrüchten (ebenda, S. 105 f.). 113 Der russische Weizenexport stieg z . B . von durchschnittlich 110,5 Mill. Pud in den Jahren 1876—1880 auf 171,2 Mill. Pud in den Jahren 1886—1890 (für Roggen das entsprechende Verhältnis: 83,2 Mill. Pud zu 82,5 Mill. Pud; für Gerste: 20,7 Mill. Pud zu 61,6 Mill. Pud). Die Preise für ein Pud Roggen fielen jedoch von 1881 bis 1890 von 98 Kop. auf 59 Kop., für Gerste von 1885 bis 1890 von 68 auf 56 Kop. und für Weizen von 81—71 Kop. auf 73—63 Kop. (Ljascenko, Zernovoe chozjajstvo . . ., a. a. O., S. 51 und 123.) — Vgl. hierzu auch die Tabellen bei P. A. Chromov, Ekonomika Rossii perioda promyslennogo kapitalizma, Moskau 1963, S. 205 f. 114 Migulin, a. a. 0., Bd. II, S. 514. 10»

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Das Ende des Rückversicherungsverlrages

Ziele wie Bismarck, denn auch er suchte den junkerlich-bürgerlichen deutschen Kapitalismus bzw. den entstehenden Imperialismus zu stärken. Auch unterstützten beide Kanzler die aggressiven ökonomischen Bestrebungen der deutschen Großbourgeoisie gegenüber Kußland, was sich für die deutsche Nation so verhängnisvoll auswirken sollte. Doch schenkte Caprivi „den Interessen des wachsenden Industriekapitals mehr Gehör" 115 und „trug den Erfordernissen des kapitalistischen, industriell hoch entwickelten Staates und der Bourgeoisie besser Rechnung". 116 Außerdem paßten sich seine Methoden den Interessen dieser Kräfte besser an als die Bismarcks. Caprivi wollte der nach wirtschaftlicher Expansion drängenden Großbourgeoisie durch den Abschluß von Handelsverträgen ständig garantierte Absatzmärkte, ja die Hegemonie über die Absatzmärkte der Nachbarstaaten sichern. Hierbei erklärte er sich zu zollpolitischen Zugeständnissen vor allem auf dem Gebiet der Agrarzölle bereit, was ihm um so leichter fiel, als er selbst kein Junker, sondern „ein Mann ohne Ar und Halm" war. Gegen solche Zugeständnisse hatte sich Bismarck gewehrt. Caprivi jedoch befürwortete sie im Interesse der deutschen Großbourgeoisie und sah in ihnen zugleich ein vortreffliches Mittel, die wachsende Protestbewegung breiter Kreise des deutschen Volkes gegen die Agrarzölle zu beruhigen. Er macht sich damit allerdings notgedrungen die preußischen Junker zum Gegner. 117 Der Übergang Deutschlands zu einer veränderten Handelspolitik rief bei den herrschenden Klassen Rußlands große Besorgnis hervor. Die russischen Großindustriellen befürchteten, Deutschland würde sich nun auch um den Abschluß eines Handelsvertrages mit Rußland bemühen und ihnen den mit so viel Mühe erkämpften außerordentlich hohen Zollschutz wieder streitig machen. 118 Der 115

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Jerussalimski, Die Außenpolitik und Diplomatie des deutschen Imperialismus zu Ende des 19. Jh., a. a. 0 . , S. 108. Börner, a. a. 0., S. 321. — B. Harms (Deutschlands Anteil am Welthandel und Weltsehiffahrt, Stuttgart-Berlin-Leipzig 1916, S. 175) charakterisiert die Caprivische Handelspolitik völlig richtig, wenn er schreibt: „Letzten Endes war nämlich die Caprivische Handelspolitik nichts anderes als die bewußt gezogene Konsequenz aus der Verschiebung des deutschen Wirtschaftslebens vom überwiegenden Agrar- zum überwiegenden Industriestaat." Die Konservative Partei trat gegen die Handelsverträge auf. Im Kampf gegen den Abschluß des Handelsvertrages mit Rußland gründeten die preußischen Junker den „Bund der Landwirte". Waldersee begann sieh z . B . auch gegen Caprivis Wirtschaftspolitik zu wenden, durch welche die konservativen Elemente Preußens wirtschaftlich vernichtet würden, der Offiziersnachwuchs gefährdet und außerdem Rußland wirtschaftlich gestärkt würde (Waldersee, a. a. 0., Bd. II, S. 309 ff.). Lucius v. Ballhausen, der jahrelange Mitstreiter Bismarcks, gab seinen Posten als Landwirtschaftsminister auf. Schon im November 1888, als Gerüchte über einen bevorstehenden deutsch-russischen Handelsvertrag auftauchten, hatte sich z. B. das Jahrmarktskomitee von Niznyj Novgorod an Vysnegradskij gewandt, ihn auf die unangenehmen Folgen eines solchen Abkommens für die russische Industrie aufmerksam gemacht und ihn gebeten, diese Gerüchte offiziell zu dementieren (CGIAL, F. 40, op. I, delo 40, Bl. 167—170, Vysne-

Die Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche

131

zaristischen Regierimg und den russischen Gutsbesitzern bereitete dagegen größere Sorge die Tatsache, daß Deutschland sein Handelsvertragssystem mit dem Abschluß eines Handelsvertrages mit Österreich-Ungarn, dem Hauptkonkurrenten Rußlands auf dem deutschen Markt 1 1 9 , und anderen zentraleuropäischen Staaten begann. Es behagte diesen Kreisen gar nicht, daß Deutschland Österreich-Ungarn durch einen Handelsvertrag und die damit verbundenen Zollsenkungen f ü r landwirtschaftliche Erzeugnisse auf dem deutschen Markt begünstigen wollte und daß es mit dem geplanten Handelsvertragssystems „nicht nur den Dreibund" neu beleben, „sondern um ihn einen Rayon neutraler Staaten" schaffen wollte, „die mit ihm durch gleichartige kommerzielle Interessen verbunden" waren. 120 Man mußte versuchen, dies zu verhindern. Schon im November 1890, kurz nachdem die zaristische Regierung von den deutsch-österreichischen Handelsvertragsverhandlungen Kenntnis erhalten hatte 1 2 1 , erklärte sich Vyänegradskij auf Drängen des Außenministeriums mit dem Vorschlag Suvalovs einverstanden, in Berlin geheime Verhandlungen über eine handelspolitische Annäherung an Deutschland und über die Ermäßigung der deutschen Zölle auf russisches Getreide, Holz und Petroleum aufzunehmen. Dies allerdings unter der Voraussetzung, daß die Annäherung der rassischen Industrie nicht schaden dürfe und der russischen Landwirtschaft nützen müsse. 122 Diese Haltung VySnegradskijs war nicht allein damit zu erklären, daß er, wie viele Vertreter der Petersburger Bürokratie, die Illusion hegte, „daß Deutschland durch die Verhältnisse seiner inneren wie auch seiner äußeren Politik genötigt sein werde, Rußland bedingungslos zuzugestehen, was Österreich-Ungarn nur unter Opfern sich wird erkaufen müssen". 123 Sie ergab sich auch daraus, daß er die kurz vor dem Abschluß stehende Zolltarifreform nicht gefährden wollte, zumal ein möglichst hoher autonomer russischer Tarif ein gutes Handelsobjekt in den auch von ihm geplanten Handelsvertragsverhandlungen mit Deutschland sein konnte. Das läßt sich durch folgendes belegen. Vyänegradskij überließ die Annäherungsversuche an Deutschland ganz den prodeutschen Kräften und hielt sich selbst im Hintergrund. Dem Drängen von Giers

120 121 122

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gradskij an Alexander III., 4./16. XI. 1888). — Auch 1891 traten die russischen Industriemagnaten wieder sehr entschieden gegen den Abschluß eines Handelsvertrages mit Deutschland auf (DZA/Potsdam, RSchA, 3402, Bl. 242, Lamezan an 119 Caprivi, 27.1. 1891). Gothein, a. a. 0., S. 91 ff., 97 ff. AVPR, F. Kanc., 1891, delo96, Bl. 1 5 9 - 1 6 2 , Lobanov an Giers, 5./17.XII. 1891. AVPR, F. Kanc., 1890, delo 16, Bl. 1 7 1 - 1 7 7 , Suvalov an Giers, 2 5 . X . / 6 . X I . 1890. AVPR, F. Berliner Botschaft, 1892, delo 4004, Bl. 3ar-b, Vysnegradskij an Giers, 19. X I . / l . XII. 1890; vgl. auch GP, Bd. VII, Nr. 1 6 2 6 - 1 6 2 7 . DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII, 6a, 35, Bd. I, Bl. 5 0 - 5 2 , Lamezan an Caprivi, 8. II. 1891. - Vgl. auch AVPR, F. Kanc., 1891, delo 16, Bl. 2 1 1 - 2 1 6 , Suvalov an Giers, 7./19. XII. 1891; ebenda, F . I I , Dep. 1 - 5 , p. III, 1886, delo 2g, Bl. 1 0 7 - 1 1 1 , 2urnal Vysocajse Ucrezdennogo Sovescanija po voprosu o torgovom sblizenii mezdu Rossiej i Germaniej, 28. V./9. VI. 1891; GP, Bd. VII, Nr. 1631; Lamzdorf, a.a.O., Bd. II, S. 127.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

und Suvalov, in schriftlicher Form offiziell konkrete Vorschläge an Deutschland zu machen, kam er erst nach, als der neue Zolltarif kurz vor seiner Annahme stand. 124 Erst im März 1891, als der Zolltarifvorschlag bereits im Reichsrat beraten wurde, ließ er offiziell mitteilen, daß er von Deutschland Zollermäßigung f ü r Erdöl sowie die Gleichstellung der österreichisch-ungarischen Getreide- und Holzeinfuhr erwarte und dafür die Stabilisierung einiger weniger Industriezölle böte. Die Senkung der Zölle unter den geplanten Tarif von 1891 lehnte er aber mit Rücksicht auf die russische Industrie entschieden ab. 125 Diese Vorschläge VySnegradskijs fanden Anfang Juni die Billigung auf einer außerordentlichen Beratung beim Zaren, die sich mit der handelspolitischen Annäherung an Deutschland befaßte und an der außer Vysnegradskij und Giers auch Abaza, Ostrovskij und Durnovo teilnahmen. 126 Trotzdem verübelten es die extremen Deutschfreunde in der Regierung Vyänegradskij noch Jahre später, daß er zu keinen größeren Zugeständnissen an Deutschland bereit gewesen war. 127 Doch es lag nicht allein an der Haltung des zaristischen Finanzministers, wenn es im Herbst 1890 und im Frühjahr 1891 zwar zu privaten Besprechungen, doch nicht zu offiziellen Verhandlungen zwischen Suvalov und Vertretern der deutschen Regierung kam. Auch die Haltung der deutschen Seite trug hierzu bei. Die deutsche Regierung war nicht zum kleinsten Zugeständnis an Rußland bereit. 128 Sie orientierte sich zuerst ausschließlich auf den Handelsvertrag mit Österreich-Ungarn, auf die ökonomische Untermauerung des Dreibundes und die Schaffung einer mitteleuropäischen Zollunion. Und in der für sie damals typischen Einseitigkeit schreckte sie aus Angst vor dem Protest der preußischen Junker 124 125

126

127 128

GP, Bd. VII, Nr. 1628 und 1631. GP, Bd. VII, Nr. 1629; Lamzdorf, a.a.O., Bd. II, S. 103, 374, 385; AVPR, F.II, Dep. 1 - 5 , p. III, 1886, delo 2g, Bl. 3 8 - 4 0 , Vysnegradskij an Alexander III-, 15./ 27. III. 1891. — Vysnegradskij erklärte sich nur bereit, die Zölle für landwirtschaftliche Maschinen etwas zu senken. Das tat er allerdings nicht, weil Deutschland es forderte, sondern weil der Proteststurm der russischen Gutsbesitzer gegen eine weitere Erhöhung der Zölle auf landwirtschaftliche Maschinen ihn dazu zwang. AVPR, P.II, Dep. 1 - 5 , p. III, 1886, delo 2g, Bl. 107-111, 2urnal vysocajse ucrezdennogo sovescanija po voprosu o torgovom sblizenii mezdu Rossiej i Germaniej, 28. V./9. VI. 1891. A.S.Suvorin, Dnevnik, Moskau-Petrograd 1923, S. 73. Marschall forderte von Rußland im Auftrage der deutschen Großbourgeoisie: Zollsenkungen für Metallprodukte, chemische Produkte und Farben, Textilwaren und Beseitigung der differenzierten russischen Grenzzölle; im Auftrage der preußischen Agrarier: Zollsenkungen für Zucker und Stärke (GP, Bd. VII, Nr. 1626—1633; Lamzdorf, a.a.O., Bd. II, S. 103 f.; CGIAL, F. 40, op. I, delo 78, Bl. 4 2 - 5 3 , Suvalov an Giers, 21. IV./3. V. 1891; ebenda, Bl. 1 9 - 3 1 , Rafalovic an Vysnegradskij, 15./ 27. IV. 1891). — Folgende Tabelle kann besser als Worte veranschaulichen, daß die Forderungen der deutschen Großbourgeoisie darauf hinausliefen, durch die Senkung der russischen Schutzzölle auf das Niveau von 1877 oder 1882 die Möglichkeit zu erhalten, sich den riesigen russischen Markt auf Kosten der eigenen industriellen Entwicklung Rußlands zu unterwerfen.

Die Zuspitzung der handelspolitischen Widersprüche

Aufstellung

einiger wichtiger russischer Zolltarife und die Forderungen der deutschen Großbourgeoisie im Jahre 1891 (in Kopeken [Gold] pro Pud)a

Verzollter Gegenstand

Gußeisen a) zur See b) westl. Landgrenze Schmiedbares Eisen in Stäben, Winkel- u. Eckeisen Eiserne Schienen Eisen in Blättern Schmiedbarer Stahl in Stäben, Winkel- u. Eckstahl Stahlschienen Stahl in Blättern Gußeisen verarbeitet Kupferdraht Drahtfabrikate aus Kupfer Eisen- u. Stahlfabrikate Eisen- u. Stahlkesselarbeiten (Kessel, Röhren, Brücken) Landwirtschaftliche Geräte Maschinen u. Apparate Lokomotiven Landwirtsch. Maschinen Baumwollgarn a

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1891 Forderung Deutschlds.

1877

1882

1887

5 5

6 6

25 30

ao 35

30* 30

35 20 50

40 50 55

50 50 70

60 60 85

40 35 50

80 45 80 80-250 150 300 100-135

40 50 55 110 165 330 88

5 5 - 1 0 0 55--100 44-80 55 frei—45 frei--165 125 140 frei frei 325 600

60 40 50 60 35 50 85 50 70 140 170 100 400 4 0 0 - 6 0 0 200-300 550 600 500 120 170 90 140 140 350 200 70 600

170 140 480 240 70 900

100 60 200 100 50 600

) Die Tabelle ist zusammengestellt aus: Sobolev, Tamozennaja politika, a . a . O . ; DZA/Potsdam, Rdl, 4858, Bl. 341—345, Aufstellung der deutschen Forderungen an Rußland vom Jahre 1892. — Die Forderungen der deutschen Schwerindustrie wurden von der Nordwestl. Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und StahlIndustrieller, Düsseldorf, dem Verein der Eisenhüttenleute, Düsseldorf, dem Zentralverband Deutscher Industrieller sowie einzelnen Firmen (Wolf, MagdeburgBuckau; Krause, Leipzig, u. a. [ebenda, Bl. 373—374]) zusammengestellt. — Die Vereinigte Königs- und Laurahütte jedoch, die wie andere Oberschlesische Großbetriebe besonders unter den russischen Schutzzöllen litt, forderte mit großer Ungeduld einen Handelsvertrag mit Rußland, durch welchen „die russische Regierung in bindender Weise zu einer Ermäßigung ihrer übertrieben hohen Eisenzölle, mindestens zur Fixierung der gegenwärtig bestehenden! zu bewegen" sein werde. (DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII., 3a, Nr. 35, Bd. I, Bl. 3 2 - 3 8 , Vereinigte Königs- und Laurahütte an Caprivi, 28. III. 1891).

*) Der Zoll für Gußeisen konnte einer Verfügung des Staatsrates zufolge bis 1898 nicht gesenkt werden.

134

Das Ende des Rückversicherungsvertrages

selbst vor Verhandlungen mit Rußland zurück. 129 Das fiel ihr um so leichter, als sie wohl immer noch erwartete, auf diese Weise die zaristische Regierung schon vor der Annahme des neuen Zolltarifs zu Konzessionen zu zwingen.130 Hatte die russische Seite bisher noch auf einen Kompromiß mit Deutschland gehofft, so zeigte ihr die Rede Caprivis im Preußischen Landtag am 1. Juni 1891 folgendes: Deutschland war mit Rücksicht auf die Stimmung in Österreich-Ungarn und um sich nicht vorzeitig ihres wichtigsten Kompensationsobjektes bei den Handelsvertragsverhandlungen mit anderen Ländern zu berauben, vorläufig zwar zu Zugeständnissen an Österreich-Ungarn, aber zu keinerlei Zugeständnissen an Rußland bereit. 131 Mochte es auch den Anschein erwecken, als ob sich Caprivi kurz vor dem französischen Flottenbesuch über die politischen Konsequenzen seines Verhaltens klar wurde, als er bei Murav'ev den Eindruck hinterließ, er sei für ein Handelsabkommen mit Rußland 132 , so trog diese Vermutung. Sowohl die Haltung der preußischen Junker als auch die der deutschen Großbourgeoisie zwangen Caprivi auch jetzt noch, auf die von den deutschfreundlichen Kreisen Rußlands betriebenen energischen Verständigungsbestrebungen nur pro forma einzugehen, um die politische, militärische und ökonomische Annäherung Rußlands an Frankreich aufzuhalten und die deutschfreundlichen Kreise Rußlands, die sich von diesen Verhandlungen eine Möglichkeit erhofften, den Abschluß einer Militärkonvention zu verhindern, nicht endgültig von Deutschland wegzustoßen.133 Wenn die deutsche Regierung unter Caprivi es gegenüber Rußland auch niemals offen zugab, so entsprachen ihre Haltung zu den handelspolitischen Annäherungsversuchen Rußlands und die différentielle Behandlung Rußlands doch völlig „der außenpolitischen Konzeption des .Neuen Kurses', der sich auf den Dreibund orientierte und den Zweifrontenkrieg für unvermeidbar hielt. Die Nichterneuerung des Geheimvertrages mit Rußland aus dem Jahre 1887 fand damit seine handelspolitische Parallele". 134 Sie entsprach sowohl den Interessen der preußischen Junkerschaft, die sich mit aller Energie (die in den Präventivkriegsplänen eines Waldersee ihre zugespitzteste Form erhielt) gegen die Ab Schwächung des Zollschutzes gegenüber ihrem Hauptkonkurrenten auf dem deutschen Markt, dem russischen Import, wehrte, als auch den Interessen des entstehenden deutschen Monopolkapitals, welches keineswegs von seinen Forderungen Rußland gegenüber 129 130 131

132

133

134

Börner, a. a. O., S. 128 f. Börner, a. a. 0., S. 24, 49 u. a. AVPR, P.II, Dep. II—5, p. III, 1886, delo2g, Bl. 71-74, Suvalov an Giers, 24. V./ 5. VI. 1891; ebenda, Bl. 79-82, Kasarinov an Suvalov, 22. V./3. VI. 1891 ; ebenda, Bl. 141-142, Suvalov an Giers, 18./30. VT. 1891 ; ebenda, F. Kanc., 1891, delol6, Bl. 211-216, Suvalov an Giers, 7./19. VII. 1891. AVPR, F. Kanc., 1891, delol6, Bl. 231-233, Murav'ev an Giers, 5./I7. VII. 1891 ; Lamzdorf, a. a. 0., Bd. II, S. 157. Börner, a.a.O., S. 137; Becker, Das französisch-russische Bündnis, a.a.O., S. 113; GP, Bd. VII, Nr. 1633. Börner, a. a. 0., S. 132.

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

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abzugehen gewillt war. So trug auch die Handelspolitik des „Neuen Kurses" nicht unwesentlich dazu bei, das von der deutschen Regierung nicht nur politisch, sondern nun auch kommerziell isolierte Rußland in die Arme Frankreichs zu treiben. Fünf Monate nach der Bestätigung des deutsch-österreichischen Handelsvertrages durch den deutschen Reichstag, im Mai 1892, wurde in einer außerordentlichen Beratung beim Zaren beschlossen, dem Verlangen des französischen Botschafters in Rußland zu entsprechen und mit Frankreich durch gegenseitige Zollzugeständnisse zu einer handelspolitischen Annäherung zu kommen. 135

2. Zum, Kapitalexport Deutschlands nach Rußland in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Das Lombardierungsverbot Bismarcks und seine Folgen Trotz der ständig wachsenden Widersprüche zwischen den herrschenden Klassen Deutschlands und Rußlands auf handels- und zollpolitischem Gebiet hatte es bis 1887 noch ein Band gegeben, das die wirtschaftlichen Bindungen zwischen Deutschland und Rußland festigte, die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland untermauerte und die wirtschaftliche wie politische Annäherung Rußlands an Frankreich hemmte: den Kapitalexport Deutschlands in das zaristische Rußland. Doch auch dieses Band sollte — welche Ironie der Geschichte! — noch mit Bismarcks Hilfe zerschnitten werden. Das zaristische Rußland hatte seinen Mangel an freiem Kapital seiner zudem noch relativ späten „Revolution von oben" zu verdanken. Die auch nach 1861 noch bestehenden halbfeudalen Überreste hemmten im zaristischen Rußland die Akkumulation von freiem Kapital. Ein großer Teil der Summen, welche die zaristische Regierung aus den russischen Bauernmassen und aus den Volksmassen der kolonialen Randgebiete durch Steuern und Abgaben herauspreßte, und ein großer Teil der laufend wachsenden Zolleinnahmen wurden unproduktiv — f ü r die Rüstung, 135

AVPR, F.II, Dep. 1-5, p. III, 1886, delo 2 a , Bl. 91-93, 2umal Osobogo Vyssego Sovesanija o torgovom sblizenii s Germaniej, 5./17.V. und 31. V./12. VI. 1891 Noch ein Jahr vorher war ein solches Ansinnen Frankreichs mit der Begründung abgelehnt worden, es gäbe Rußland keinerlei ernsthafte Vorteile und hemme es in seiner Handlungsfreiheit Deutschland gegenüber, mit welchem ein Handlungsabkommen für Rußland eine unumgängliche Notwendigkeit sei (Lamzdorf, a.a.O., Bd. II, S. 102 ff.). Die Handelsbeziehungen zwischen Rußland und Frankreich waren insgesamt nicht sehr bedeutend. 1888—91 kamen 4 J /2% der russischen Einfuhr aus Frankreich und gingen 7 % der russischen Ausfuhr nach Frankreich (Bornemann, a.a.O., S. 127), doch für einzelne russische Exportwaren, vor allem für seinen Weizenexport, spielte Frankreich schon Ende der achtziger Jahre eine größere Rolle als Deutschland (Manfred, a.a.O., S. 463). Natürlich erregte der Abschluß eines Handelsvertrages zwischen Frankreich und Rußland sowie die Tatsache, daß sich die französische Rüstungsindustrie auf den russischen Markt zu spezialisieren begann (z. B. bestellte 1888 Rußland in Frankreich 500 000 Gewehre [Körlin, a. a. O., S. 215 ff.]) in Deutschland Aufsehen (vgl. z. B. Bueck, a. a. O., S. 464).

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

die Deckung von Defiziten im Staatsbudget, Hypotheken an Grundbesitzer u. ä. — verwendet.136 Sehr viele der Gutsbesitzer, der ökonomisch stärksten Klasse Rußlands, zogen ein luxuriöses Leben, möglichst in einer Großstadt, produktiver Betätigung vor oder investierten ihr Kapital in der Landwirtschaft, in der landwirtschaftlichen Industrie (in Mühlen, Schnapsbrennereien und Zuckerfabriken), vielleicht noch im Handel, selten aber im Verkehrswesen, in der Textilindustrie, in der neu entstehenden Schwerindustrie oder gar der chemischen oder elektrotechnischen Industrie. Die Umlaufgeschwindigkeit und damit die Akkumulationsrate des bereits im Zirkulationsprozeß arbeitenden Kapitals war niedriger als in anderen kapitalistischen Ländern. Das lag vor allem an der schwachen Entwicklung des Verkehrswesens, des Kreditsystems wie überhaupt des inneren Marktes. Die Ausbeutungs- und damit die Profitrate in den oft mit veralteten Methoden betriebenen russischen Industriezweigen, z. B. der Uraler Schwerindustrie und der Moskauer Textilindustrie oder auch im sprichwörtlich rückständigen russischen Handel, war sehr hoch.137 Es gab dadurch für die russische Bourgeoisie wenig Anreiz, ihre Kapitalien in neuen Unternehmungen anzulegen, weil diese sowohl hohe Kapitalanlagen erforderten, als auch mit dem Profit auf sich warten ließen.138 War den herrschenden Kreisen des Zarenreiches am Aufbau eines modernen Verkehrsnetzes und einer modernen Schwerindustrie gelegen — aus welchen Motiven und mit welcher Inkonsequenz dieses Vorhaben dann durchgesetzt wurde, sei hier beiseite gelassen —, so mußten sie versuchen, Kapital aus dem Ausland nach Rußland zu ziehen. Möglichkeiten dazu waren vorhanden. In den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als sich der Kapitalismus der freien Konkurrenz allmählich in den Monopolkapitalismus verwandelte und die Konzentration sowie die Zentralisation des Kapitals zunahmen, ergab sich für die wichtigsten kapitalistischen Staaten Westeuropas die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit eines Kapitalexportes in andere Länder. England, Frankreich und Deutschland verfügten besonders nach den Weltwirtschaftskrisen Anfang der siebziger und Anfang der achtziger Jahre und den folgenden Depressionen über relativ viel freies Kapital. Sie waren daran interessiert, dieses Kapital in solchen neuen Unternehmen in und außerhalb ihres Landes anzulegen, die ihnen die höchste Profitrate versprachen. Sie exportieren ihre Kapitalien deshalb mit Vorliebe in ökonomisch rückständige Länder, darunter auch nach Rußland, wo die 136

137 138

Vgl. z. B. A. P. Pogrebinskij, Ocerki istorii finansov dorevoljucionnoj Rossii, Moskau 1954, S. 93 ff.; derselbe, Finansovaja reforma nacala 60-ch godov X I X veka v Rossii, in: Voprosy Istorii, Moskau 1951, Nr. 10, S. 85 ff.; J. N. Sebaldin, Gosudarstvennyj bjudzet Carskoj Rossii v nacale X X v., in: Istoriceskie Zapiski, Bd. 65, Moskau 1959, S. 163 ff.; F. Zahn, Die Finanzen der Großmächte, Berlin 1908, S. 23, Tabellenanhang, Rußlands Staatsausgaben in den neunziger Jahren. Gindin, Russkaja burzuazija . . . , a. a. 0., S. 67 ff. In der russischen Textilindustrie betrug der reine Profit 1887 z. B. in den wichtigsten Baumwollfabriken 1 5 — 4 5 % (R. S. Livsic, Razmescenie promyslennosti v dorevoljucionnoj Rossii, Moskau 1955, S. 148).

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

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Zins- und Profitrate wesentlich höher lag als in den größten westeuropäischen Staaten. Sie stürzten sich, um mit den Worten Lenins zu sprechen, „gierig... auf das junge Land, wo die Regierung dem Kapital so wohlgeneigt und gefällig" •war „wie nirgends sonst, wo sie Arbeiter" vorfanden, „die weniger organisiert und weniger abwehrfähig" waren „als im Westen, und wo das Lebensniveau der Arbeiter, damit auch ihr Arbeitslohn, bedeutend niedriger" war, „so daß die ausländischen Kapitalisten riesige, in ihrem Heimatland nie dagewesene Profite einstreichen" konnten.139 Eines dieser nach Rußland kapitalexportierenden Länder, zeitweilig das führende, war Deutschland. Das hatte folgende Ursachen. England, das wirtschaftlich höchstentwickelte Land der damaligen Welt, hatte in den •achtziger Jahren zwar schon große Summen im Ausland angelegt140, doch vorwiegend in seinen Kolonien und den Ländern, die bereits von ihm abhängig waren, aber wenig in Rußland. Es finanzierte den Eisenbahnbau in Kanada, Australien, Neuseeland und Italien, erweiterte die Baumwoll- und Teeplantagen Indiens und Ceylons und gewährte der türkischen Regierung große Anleihen. Rußland gegenüber, von dem es starke außenpolitische Differenzen in Mittelasien und der Türkei trennten, verhielt es sich jedoch, insbesondere bei dessen Staats- und staatlich garantierten Eisenbahnanleihen, seit Mitte der siebziger Jahre zurückhaltend.141 Auch die Großbanken Frankreichs, an ihrer Spitze Rothschild, welche Ende der achtziger Jahre zu Hauptfinanziers des Zarismus werden sollten, konnten und wollten in den siebziger Jahren und der ersten Hälfte der achtziger Jahre Rußlands Kapitalbedürfnis allein nicht befriedigen. Vor dem Deutsch-Französischen Krieg hatten sie Rußland beträchtliche Anleihen gewährt. Nach 1871 aber waren sie zunächst durch die große Kontribution an Deutschland, den Wiederaufbau der eigenen Wirtschaft und des eigenen Heeres zu stark belastet, um Rußlands Kapitalbedürfnis allein befriedigen zu können. Hinzu kam vor allem seit Ende der siebziger Jahre, daß Frankreich und Rußland durch ihre Orientierung auf die Kolonialpolitik — das eine in Nordafrika und Ostasien, das andere in Mittelasien — außenpolitisch bis Mitte der achtziger Jahre divergierende Interessen hatten. Frankreich zog es daher vor, neben der finanziellen Untermauerung seiner kolonialen Eroberungen, der Türkei, Lateinamerika und einigen kleineren, schwachentwickelten europäischen Staaten wie Rumänien und Spanien Anleihen zu gewähren142, während die russischen Wertpapiere damals in Frankreich noch keinen großen Anklang fanden. Zwar entstanden auch damals mit französischem Kapital einige Hüttenwerke und Kohlengruben im Donbaß und in Polen. Auch 139

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W. I. Lenin, Entwurf und Erläuterung des Programms der Sozialdemokratischen Partei, in: Lenin, Werke Bd. 2, Berlin 1961, S. 102. Vgl. z. B. J. H. Clapkam, An Economic History of Modern Britain . . . , Cambridge 1951, S. 25. C. M. Mac Innes, An Introduction to the Economic history of the British Empire, London 1935, S. 242 ff., 248 ff., 254 ff.; H. Feis, Europa the Worlds Banker 1870 tili 1914, New Häven 1930, S. 11 ff., 17 ff. H.See, Französische Wirtschaftsgeschichte, Zweiter Band, Jena 1936, S. 565 ff.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

wurden einige Banken gegründet. 143 In der Hauptform des damaligen Kapitalexports nach Rußland, im Anleihekapital, blieb Frankreich aber weit hinter Deutschland zurück. Deutschland hingegen konnte und wollte dem Zarismus auch auf dem Gebiete des Kapitalexports gute Dienste erweisen, verfügte es doch nach dem französischen Milliardensegen und den wirtschaftlichen Erschütterungen des Jahres 1873 über relativ viel freies Kapital. Es besaß bis Anfang der achtziger Jahre noch keine Kolonien, und große Teile der herrschenden Klassen Deutschlands wie auch die Reichsregierung hielten es lange nicht für ratsam, kolonialen Abenteuern zuliebe Deutschland seiner wirtschaftlichen und militärischen Kraftreserven zu entblößen und die deutsche Außenpolitik durch den Kampf um Kolonien zu belasten. 144 Die deutschen Interessen am Balkan oder der Türkei waren noch nicht so groß, daß sie Deutschland nennenswert vom russischen Markt abgelenkt hätten. Deutschland wurde in der ersten Zeit von Rußland noch durch keine wesentlichen außenpolitischen oder gar innenpolitischen Widersprüche getrennt. Im benachbarten Rußland bot sich der deutschen Großbourgeoisie die Möglichkeit, ein riesiges Gebiet durch Kapitalexport zu einer ihrer Rohstoff- und Lebensmittelbasen und zu einem ihrer wichtigsten Absatzmärkte zu machen. Der Kapitalexport Deutschlands nach Rußland fügte sich hervorragend in Bismarcks Bündnispolitik ein, ja unterstützte diese und wurde von Bismarck daher lange gefördert. Und auch der zaristischen Regierung konnte die Möglichkeit nicht ungelegen kommen, gerade im kaiserlichen Deutschland, mit dem Rußland aus außenpolitischen und innenpolitischen Gründen ein „Bündnis" abgeschlossen hatte und mit welchem es rege Handelsbeziehungen verbanden, nun auch noch die russischen Finanzgeschäfte unter Dach und Fach zu bringen. Vorherrschende Form des russischen Kapitalimports war bis in die neunziger Jahre hinein der Import von Anleihekapital. Aus den gleichen Ursachen, die die Akkumulation von Kapital in Rußland hemmten, war nämlich auch das private Gründer- und Unternehmertum in Rußland, obwohl von der zaristischen Regierung mit den verschiedensten Mitteln unterstützt und angeregt, relativ schwach entwickelt. Infolgedessen mußte sich die zaristische Regierung darum bemühen, Kapital in Rußland zu konzentrieren. Sie tat das in der damaligen Zeit in erster Linie in der Form von Staatsanleihen und staatlich garantierten Eisenbahnanleihen. Die zaristische Regierung hatte bereits früher mit der französischen und englischen, teilweise auch der deutschen Bankwelt Finanzgeschäfte getätigt. Während sie damals aber ihre Anleihen fast ausschließlich zu unproduktiven Zwecken verwendet hatte, sah sie sich nach 1861 genötigt, in wachsendem Maße Kapital f ü r produktive Zwecke (sei es in der Form von Staatsanleihen, von staatlich garan1/13

144

Manfred, Vnesnjaja politika . . . , a. a. 0., S. 62 f., 446 f.; P. V. Ol', Inostrannye kapitaly v narodnom chozjajstve dovoennoj Rossii, Leningrad 1925, S. 15, 28 f.; derselbe, Inostrannye kapitaly v Rossii, Petrograd 1922, S. 10 ff. Vgl. z. B. M. Nussbaum, Vom „Kolonialenthusiasmus" zur Kolonialpolitik der Monopole . . ., Berlin 1962, S. 20 ff.

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

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tierten Eisenbahnpapieren oder Aktien und Obligationen privater Kredit- und Industriegesellschaften) zur finanziellen Untermauerung ihrer Verkehrs-, Kredit-, Industrie- und Handelspolitik nach Rußland zu ziehen, wobei auch ein großer Teil der Mittel, die durch die Staatsanleihen nach Rußland kamen, in die privaten russischen Verkehrs-, Kredit- und Industrieunternehmen gepumpt wurde. 145 Durch den Import von ausländischem Kapital besserte sich außerdem die Zahlungsbilanz Rußlands f ü r kurze Zeit. Rußlands Eisenbahnbau und das deutsche Kapital

Die Hauptaufmerksamkeit der zaristischen Wirtschaftspolitik in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren galt dem Aufbau und der Erweiterung des russischen Eisenbahnnetzes. In der Verbesserung des russischen Verkehrswesens sah die zaristische Regierung nicht nur das beste Mittel, Rußlands Zurückbleiben hinter Westeuropa zu überwinden, das Niveau der Landwirtschaft zu heben, Rußlands Export zu aktivieren und seine Handels- und Zahlungsbilanz zu heben, sondern maß ihm auch politische und strategische Bedeutung bei: „Die ungenügende Entwicklung unseres Eisenbahnnetzes gefährdet die Einheit und Integrität des Staates. Ganz abgesehen von der strategischen Wichtigkeit der Eisenbahnen für den Fall eines auswärtigen Krieges, kann die Regierungsgewalt nur mit Hilfe dieser das Zentrum des Reiches mit der Peripherie verbindenden Verkehrsmittel jenen partikularistischen Bestrebungen entgegenwirken, die die Grundlagen der Reichseinheit untergraben und ins Schwanken bringen" — womit vor allem die polnische nationale Bewegung gemeint war —, so begründete ein besonderer Regierungsausschuß im Jahre 1865 die Notwendigkeit des Eisenbahnbaues in Rußland. 146 Entsprechende Regierungskommissionen legten die wichtigsten Linien fest und verfolgten deren Bau. Ein sogenannter Eisenbahnfonds zur finanziellen Unterstützung des geplanten Unternehmens bestand von 1866 bis 1885. 147 Der Eisenbahnbau erhielt jede erdenkliche Hilfe. So gewährte man vielen Gesellschaften das Recht zur zollfreien Einfuhr von Schienen und rollendem Material. 148 145

Vgl. hierzu ausführlich: Gindin, Gosudarstvennyj bank . . ., a. a. 0 . Reutern, a. a. 0., S. 188; vgl. auch Denkschrift Reuterns an Alexander II. vom Jahre 1866 in: ebenda, S. 54 f. 14 ' Die Mittel dieses Fonds, welche meist aus Staatsanleihen (besonders den sog. consolidierten Eisenbahnanleihen, von denen die zaristische Regierung von 1870 bis 1880 sechs Serien ausgab, welche teilweise auch in England verkauft wurden. [N. A. Kizlinskij, Nasa zelezno — doroznaja politika, St. Petersburg 1902, Bd. II, S. 4 0 93, 121, 157, 213, 311]), dem Verkauf von Alaska' und dem Verkauf staatlicher Eisenbahnen! stammten, reichten bald nicht mehr aus, so daß ein großer Teil der Kosten für den Eisenbahnbau aus dem Budget des Finanz- oder des Verkehrsministeriums bestritten werden mußte. (A. P. Pogrebinskij, Stroitel'stvo zeleznych dorog v poreformennoj Rossii i finansovaja politika carizma (60—90-ye gg. XIX v.), in: Istoriceskie Zapiski, Bd. 47, Moskau 1954, S. 150 fi.) 148 Schon ab Ende der sechziger Jahre begann man allerdings damit, dieses Recht allmählich wieder einzuschränken. Vgl. hierzu S. 116, Fußnote 51. uü

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

Dem Finanzierungszweck dienten staatliche Kredite und Subsidien. 1 4 9 Vor allem aber förderte die zaristische Regierung mit allen Mitteln die Heranziehung ausländischen Kapitals. 1 5 0 Zu dessen Gunsten wurde auf Veranlassung der Regierung, das Kapital der Gesellschaften vor allem aus Obligationen gebildet, um die Käufer nicht durch das mit Aktien verbundene Risiko zu schrecken. Das Grundkapital lautete meist nicht auf Kredit-, sondern auf Metallrubel mit feststehender Parität in ausländischer Valuta. Um die ausländischen Banken f ü r Rußlands Eisenobligationen zu interessieren, wurden die Zinsen hoch gehalten (4—5 % ) und von der zaristischen Regierung in vielen Fällen sogar vom Tag der Ausgabe an auf Jahrzehnte hinaus garantiert. Das Grundkapital der Gesellschaften war oft so hoch, daß die Bahnen allein vom Obligationskapital gebaut werden konnten und die Gründer die Aktien behielten. In vielen Fällen garantierte die Regierung auch eine bestimmte Dividende auf die Aktien. Diese Politik blieb nicht ohne Früchte. Bereits im Jahre 1878 waren 45 Eisenbahngesellschaften entstanden. 1 5 1 Das russische Eisenbahnnetz hatte eine Länge von 20 4 7 3 Werst erreicht und sich damit seit 1862 um gut 6 0 0 % vergrößert. 152 1VJ 150

151 152

Gindin, Gosudarstvennyi bank . . ., a. a. O., S. 149, 166 ff. Es stand nach dem Krimkrieg um die Finanzen des Zarismus so schlecht, zumal die Aktiva in der Handels- und Zahlungsbilanz äußerst niedrig waren, daß der Bau von Eisenbahnen privaten Gesellschaften, welche ihr Kapital meist im Ausland realisierten, übergeben wurde und man bis Ende der siebziger Jahre fast ganz auf den staatlichen Eisenbahnbau verzichten mußte, obwohl man wußte, daß letzterer wesentlich billiger war. Den Bau staatlicher Bahnen mit Hilfe von Staatsanleihen im Ausland lehnte man bis Ende der siebziger Jahre ab, weil man fürchtete, daß Staatsanleihen im Auslande weniger leicht als Papiere privater Gesellschaften zu realisieren seien, weil man die offizielle Staatsschuld im Interesse des russischen Staatskredits im Ausland nicht unnötig erhöhen wollte und weil man die Illusion hatte, daß Staatsanleihen das Budget stärker als staatlich garantierte Obligationen privater Gesellschaften belasten würden. (Kratkij ocerk razvitija nasej zeleznoj dorogi (1904—1913), Izdanie Ministerstva Finansov, St. Petersburg 1914, S. 6 f.) Chacaturov, a. a. 0., S. 443. Migulin, a. a. O., Bd. I, S. 544. — Während in den fünfziger Jahren und zu Anfang der sechziger Jahre, abgesehen von der Linie Moskau—Petersburg (1851) vorwiegend strategisch wichtige Linien (Petersburg—Warschau [1862]) erbaut worden waren, überwog in den sechziger und siebziger Jahren der Bau ökonomisch wichtiger Linien. In diesen beiden Jahrzehnten wurden die Linien gebaut, die Moskau mit den Getreidezentren Rußlands verbanden, (so Moskau—Niznyj Novgorod (1862), Moskau—Kozlov (1866) — Vorones (1870), Moskau—Kursk (1868) - Kiev (1870), Moskau-Jarolavl' (1870), Kozlov—Saratov (1870) und Sysran—Vjaz'ma (1874) und in den siebziger Jahren die Linien, welche die Getreidegebiete Rußlands mit den Häfen oder mit der westlichen Landgrenze verbanden und den Getreideexport forcieren, wenn nicht sogar erst ermöglichen sollten: Charkov—Rostov (1869), Charkov—Odessa (1872), Vorones— Rostov (1870), Riga—Zarizin (1871), Charkov—Sevastopol (1874), Libau—Romny (1874), Moskau-Brest (1871), Kiev-Brest^Graevo (1873). Daß ein großer Teil dieser Linien auch strategische Bedeutung hatte, versteht sich von selbst. — Gleichzeitig begann in den siebziger Jahren die Erschließung des Kuban und des Kaukasus:

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Im darauffolgenden Jahrzehnt ließ infolge finanzieller Schwierigkeiten das Tempo des russischen Eisenbahnbaues nach. Insgesamt kamen z.B. von 1879 bis 1886 nur knapp 5 000 Werst neue Strecken hinzu, so daß das russische Eisenbahnnetz Anfang des Jahres 1887 eine Länge von 25 505 Werst umfaßte. In dieser Zeit wurden vorwiegend staatliche Linien gebaut 153 , und der Staat begann mit dem Aufkauf stark verschuldeter privater Eisenbahngesellschaften. Doch es entstanden trotzdem noch einige neue Gesellschaften, und vor allem erfuhr das Netz einiger bereits bestehender großer Eisenbahngesellschaften eine Erweiterung, wobei nun unter Bunge sogar alle Obligationsanleihen der privaten Gesellschaften im Ausland realisiert wurden. 154 So konnten die deutschen Banken auch in den achtziger Jahren ihre Geschäfte mit russischen Eisenbahnobligationen, um welche sie sich in dieser Zeit förmlich rissen, fortsetzen und sogar noch erweitern. Die deutschen Geschäfte mit russischen Eisenbahnpapieren gehen bis in die sechziger und siebziger Jahre zurück. In den sechziger Jahren hatten sich hieran sowohl kleine, auch süddeutsche Banken, z.B. Gebr. Sulzbach, Siebert, Krause, E. M. Mayer u. a., als auch schon Mendelssohn, die Berliner Handelsgesellschaft, die Direction der Disconto-Gesellschaft beteiligt. Nach der Reichsgründung verlagerte sich das Schwergewicht des Börsengeschäftes immer stärker auf die Berliner Börse und die Berliner Banken: Mendelssohn, die Direction der Disconto-Gesellschaft, Bleichröder und die Berliner Handelsgesellschaft. 155 Es bildete sich schließlich in den achtziger Jahren ein festes Banksyndikat heraus, welches die nun äußerst beliebten Geschäfte mit den russischen Eisenbahnobligationen zu monopolisieren versuchte. Zu diesem sogenannten „Russenkonsortium" gehörten von deutscher Seite die Direction der Disconto-Gesellschaft, das Bankhaus Bleich-

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154 155

(Poti—Tiflis (1872), Rostov—Vladikavkas (1875) sowie des Urals: Samara—Orenburg (1877), Perm-Jekaterinburg (1878)). Über die Ursachen des Übergangs der zaristischen Regierung zum staatlichen Bahnbau siehe Gindin, Gosudarstvennyj bank . . . , a. a. 0., S. 42. — In dieser Zeit wurden z. B. die Jekaterininskaja-Linie (1884), welche den Donbaß mit Moskau verband, und die Linien Samara—Ufa (1888) — Celjabinsk (1892), Kaspisches Meer—Samarkand (1886) — Taskent (1889) gebaut. (O.Mertens, 30 let (1882—1911) russkoj zeleznodoroznoj politiki i ee ekonomiceskoe znacenie, Petrograd 1923, S. 3 9 ff.) — Trotz aller Bemühungen um die Erweiterung des russischen Verkehrsnetzes blieb das russische Eisenbahnnetz im Vergleich zum westeuropäischen sehr rückständig. Während es in Deutschland z. B. auf 1 000 km 2 95,9 km Eisenbahnen gab, waren es im europäischen Rußland nur 8,7 km (Migulin, a. a. O., Bd. III, S. 795). Migulin, a. a. O., Bd. II, S. 518. Ahnlich war es übrigens auch mit den ersten amerikanischen Eisenbahnlinien dieser Zeit (vgl. A. Vogts, Deutschland und die Vereinigten Staaten in der Weltpolitik, Bd. I, London 1935, S. 428). — In den sechziger und siebziger Jahren nahmen deutsche Banken schon an etwa 20 Syndikaten zur Realisierung privater russischer Eisenbahnobligationen teil. Zwölf dieser Syndikate wurden offensichtlich von deutschen Banken geleitet. (S. Kumpf, Nemeckij kapital i russkie banki v zeleznodoroznom stroitel'stve Rossii v konce XlX-nacale XX veka, Diplomarbeit, Historische Fakultät der Lomonossow-Universität, Moskau 1959, S. 33 ff.).

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

röder, M. A. von Rothschild, Frankfurt a. M., teilweise auch die Bankhäuser Mendelssohn & Co. und R. Warschauer sowie die Berliner Handelsgesellschaft 156 , von russischer Seite die St. Petersburger Internationale Handelsbank, die St. Petersburger Discontobank und die Russische Bank für Auswärtigen Handel.157 Diese 156

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In den achtziger Jahren entbrannten zwischen den deutschen Großbanken harte Konkurrenzkämpfe um das russische Eisenbahngeschäft. Ein großer Teil der Obligationsanleihen privater Eisenbahngesellschaften (9 von 19) wurde offensichtlich von einer Bankgruppe unter Leitung der Direction der Discontogesellschaft, zu welcher fast immer auch die Bankhäuser M. A. Rothschild und S. Bleichröder gehörten, übernommen. Hansemann reiste 1884 selbst nach Petersburg, um für seine Bankgruppe beim russischen Finanzminister Bunge die Realisierung der neuen Obligationen von drei großen russischen Eisenbahngesellschaften zu erlangen — ein Geschäft von zusammen fast 200 Mill. Mark. (Die Discontogesellschaft 1851—1901, Denkschrift zum 50jährigen Jubiläum, Berlin 1901, S. 55 ff.) Doch auch andere deutsche Banken versuchten, die Führung des Geschäfts an sich zu bringen. Die f ü r russische Geschäfte infolge außenpolitischer Komplikationen etwas schwierige Situation in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre versuchte z. B. die Berliner Handelsgesellschaft für sich auszunützen. Fürstenberg reiste in diesen Jahren selbst zweimal nach Petersburg (C. Fürstenberg, Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers 1870—1914, Berlin 1931, S. 244, 256), und es gelang ihm, 1886 zwei und 1887 ein Syndikat zur Realisierung russischer Eisenbahnobligationen zu leiten — ein Geschäft von etwa 125 Mill. Mark. Natürlich rief das von seiten der Discontogesellschaft, welche die Berliner Handelsgesellschaft an ihren Geschäften bisher nicht beteiligt hatte, und von anderen Großbanken stärksten Protest hervor, und so war letztere gezwungen, die Discontogesellschaft, Mendelssohn und Warschauer mit großen Prozenten am Geschäft zu beteiligen. Ab Ende der achtziger Jahre gelang es der Discontogesellschaft aber wieder, selbst die Führung im russischen Geschäft zu behaupten, obwohl sie dann meistens der Berliner Handelsgesellschaft eine nicht unerhebliche Beteiligung abgab (CGIAL, F. 268, op. III, delo 206, B1 21—23 ; ebenda, F. 626, op. I, delo 495, Bl. 1 - 6 ; ebenda, delo 245, Bl. 2 - 5 ) . - Erst in den neunziger Jahren bildete sich dann ein festes Banksyndikat heraus. Es stand nun unter der Leitung von Mendelssohn. Dieses Syndikat spezialisierte sich ausschließlich auf die Eisenbahnobligationen der neun größten Gesellschaften, von welchen im Jahre 1902 sieben Gesellschaften (zwei waren vorher vom Staat aufgekauft worden) über 7 6 % aller privaten Eisenbahnlinien oder 3 0 % des gesamten Eisenbahnnetzes im europäischen Rußland verfügten (vgl. S. Kumpf, a. a. 0., S. 145 ff., 180). Der Zusammenschluß des privaten russischen Eisenbahnnetzes zu einigen wenig rentabel arbeitenden Großunternehmen war seit 1891 vom zaristischen Finanzministerium systematisch forciert worden (A. M. Solov'eva, K Voprosu o roli fiansovogo kapitala v zelezno-doroznom stroitel'stve Rossii nakanune pervoj mirovoj vojny, in: Istoriceskie Zapinski, Bd. 55, Moskau 1956, S. 175 f.). Während die deutschen Banken bis Anfang der achtziger Jahre die Geschäfte mit den russischen Eisenbahngesellschaften allein abgeschlossen und die russischen Banken an diesen Geschäften nicht beteiligt hatten, änderte sich das nun. Die Beteiligung der russischen Banken war verschieden hoch (20—52%). Die Ursache f ü r die Teilnahme der russischen Banken an diesen Finanzierungen ist in folgendem zu suchen: Einerseits lag es wohl daran, daß es den genannten drei russischen Banken

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Banken realisierten in den achtziger Jahren allein 19 russische Obligationsanleihen im Werte von über 1 Milliarde Mark. Die im Jahre 1887 bestehenden 4 2 russischen Eisenbahngesellschaften, von welchen ein Obligationskapital von insgesamt 5 5 0 Mill. Rbl. Metall im Ausland realisiert worden war, hatten Obligationen im Werte von etwa 5 1 0 Mill. Rbl. Metall = 1,7 Milliarden Mark an der Berliner Börse verkauft. Bei dem im Ausland verkauften Aktienkapital dieser Gesellschaften betrug das Verhältnis 2 8 0 Mill. Rbl. Metall zu 207,3 Mill. Rbl. Metall = 685 Mill. Mark. 1 5 8 Zieht man von dieser Summe die inzwischen amortisierten Obligationen (ungefähr J / 3 ) a b , so kann man vermuten, daß sich zu Beginn des Jahres 1887 fast f ü r 2 Milliarden Mark russische Eisenbahnpapiere in Deutschland befanden. 1 5 9 Die Geschäfte mit den russischen Eisenbahnpapieren boten den deutschen Banken große Vorteile. D a das zaristische Rußland in Deutschland keine eigene Bank besaß und die Petersburger Banken noch zu schwach waren, blieb Rußland auf die Vermittlung der deutschen Banken zum deutschen Markt angewiesen. Die gelungen war, auf die Eisenbahngesellschaften Einfluß zu bekommen. (S. Kumpf, a. a. 0., S. 101 f.) Damit hatten die deutschen Banken nun zu rechnen. Sie versuchten, diese Tatsache f ü r sich auszunützen, und beauftragten vor allem Ende der achtziger Jahre die russischen Banken, die Interessen des Syndikats vor dem russischen Finanzminister zu vertreten (CGIAL, F. 626, op. I, delo 16, Bl. 21—22, Hansemann an Ljaskij, März 1889). Andererseits wurde die Beteiligung der russischen Banken, an deren Entwicklung vor allem einem Finanzminister wie Vysnegradskij gelegen sein mußte, an den sehr ertragreichen Syndikaten zur Realisierung russischer Eisenbahnanleihen von Seiten des russischen Finanzministeriums gefordert. 158 Die Actien, welche in Deutschland verkauft wurden, waren in ihrer Mehrzahl Aktien von Gesellschaften, deren Linien sich in der Nähe der preußischen oder der Österreich-ungarischen Grenze befanden: der Warschau—Wiener, der Rybinsk—Bologoe, der Baltischen, der Südwestrussischen (bis 1878 Kiev—Brest, Brest—Graevo und Odessaer), der Großen Russischen Eisenbahn (welche u. a. über die Linie von Petersburg nach Warschau und von dort bis an die preußische Grenze verfügte), der Linie Suja—Ivanovo, Warschau—Terespol, Moskau—Brest, Ivangorod—Dombrova u. a. Deutschen Aktienbesitz gab es übrigens auch von der Kurs—Kiever und der Vladikavkas-Eisenbahngesellschaft, deren Linie nach Batum f ü r den russischen Petroleumexport eine große Rolle spielte. (Vgl. DZA/Potsdam, AA, 2014, Bl. 61—86, Lamezan an Bismarck, 17. XII. 1887). 159 Diese Angaben wurden auf der Grundlage folgender Quellen ermittelt: der Syndikatsverträge, welche sich, soweit sie erhalten geblieben sind, in den Beständen der St. Petersburger Internationalen Handelsbank und der St. Petersburger Discontobank im CGIAL befinden, der Bestände der Deutschen Bank (Secretariat) und der Zulassungsstelle an der Berliner Börse im DWI, der Geschäftsberichte der russischen und deutschen Banken, des „Handbuches für Inhaber russischer Fonds", Berlin 1913; W. Däbritz, Gründung und Anfänge der Discontogesellschaft Berlin (1850—1875), Leipzig 1931; Fürstenberg, a. a. O.; Migulin, a. a. 0., Bd. I—III u. a. — Ibbecken (a. a. O., S. 109) hingegen schätzt, daß sich insgesamt an russischen Wertpapieren (Staatsanleihen und Eisenbahnobligationen) für 2 Milliarden Mark in Deutschland befanden, was übrigens dem Gesamtwert der Sparkasseneinlagen in Preußen im Jahre 1887 entsprach. 11 Bismarcks ,,Draht nach Rußland*'

144:

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deutschen Banken wurden auf diese Weise Finanziers des zaristischen Rußlands und brachten es in ihre Abhängigkeit. Sie verdienten an der Realisierung der Anleihen 160 , an der späteren Konvertierung der Anleihen und an der Zahlung der Zinscoupons und der Amortisation der Obligationen sowie an den Dividenden der Aktien. 161 Oft wurde auch ein großer Teil der Einnahmen aus dem Verkauf der russischen Papiere in den deutschen Banken deponiert. Beträchtliche Aktien der russischen Eisenbahngesellschaften blieben in der Hand der deutschen Banken. Schwer beantworten läßt sich die Frage, in welchem Maße und in welcher Art die deutschen Banken ihren Einfluß auf die russischen Eisenbahngesellschaften über die rein finanzielle Seite hinaus im einzelnen ausnutzten, denn die meisten Bestände der russischen Eisenbahngesellschaften wie auch der Bestand der Kreditkanzlei wurden während des Bürgerkrieges und während des zweiten Weltkrieges fast völlig vernichtet. In den Verträgen zur Realisierung der Obligationsanleihen, welche zwischen den deutschen und russischen Banken abgeschlossen wurden und die sich in dem relativ gut erhaltenen Bestand der St. Petersburger Internationalen Handelsbank befinden (allerdings fehlen auch hier die meisten Verträge vor Ende der achtziger Jahre), wird allein über die finanzielle Seite der Geschäfte gegesprochen. Auch die sehr raren Reste deutscher Bankarchive im DZA Potsdam und im DWI geben auf diese wichtige Frage keine Antwort. Es steht jedoch außer Zweifel, daß ein großer Teil der russischen Eisenbahngesellschaften berechtigt war, zu privilegierten Bedingungen1 Eisenbahnmaterial aus Deutschland zu importieren, und daß die deutsche Schwerindustrie durch den russischen Eisenbahnbau f ü r ihre Erzeugnisse einen reichen Absatzmarkt erhielt. Einige Beispiele: Von den 204 Lokomotiven, welche die Odessaer Eisenbahngesellschaft im Jahre 1875 besaß, waren 132 deutschen Ursprung. 162 Im Jahre 1877 ging ein Auftrag des russischen Verkehrsministeriums über 400 Lokomotiven und 10 000 Waggons 163 in erster Linie an deutsche Firmen. Acht Jahre später konstatierte ein Kongreß russischer Eisenindustrieller voller Erbitterung, daß von den bis 1884 geschaffenen 23 000 Werst Eisenbahnlinien über 15 000 Werst, d. h. fast V3, mit ausländischen Schienen erbaut worden seien und daß von den Schienen der übrigen 8 000 Werst allein 6 000 Werst aus Werken stammen, die mit ausländischem Roheisen und ausländischer Kohle arbeiteten. 16 '' Noch 160

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I(i2 103

Z. B. verdiente ein deutsches Banksyndikat unter Leitung der Discontogesellschaft im Jahre 1884 beim Verkauf neuer Obligationen der Südwestrussischen Eisenbahngesellschaft im Werte von 96,4 Mill. Mark 2,8 Mill. Mark, denn es kaufte die Obligationen zu einem Kurs von 76,131 % und verkaufte sie zu einem Kurs von TS,6% (CGIAL, F. 626, op. I, d e l o l 5 8 , Bl. 1 1 4 - 1 1 8 ; ebenda, d e l o l 5 6 , Bl. 192; ebenda, delo 475, Bl. 12; Migulin, a. a. 0., Bd. I, S. 576). So verdienten die deutschen Banken z. B bei der Konvertierung von sieben Anleihen in den Jahren 1 8 8 9 - 1 8 9 0 im Werte von 866 Mill. Rbl. 21,7 Mill. Rbl. (Migulin, a. a. O., Bd. II, S. 206). Kuczynski/Wittkowski, a. a. O., S. 26. DZA/Potsdam, RSchA, 3396, Bl. 60, Deutsche Volkswirtschaftliche Correspondenz, 164 5. VI. 1878, Nr. 43. ' Russkij Vestnik, Nr. 180/2. Dezember 1885, S. 1109 (r.D ).

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1896 kamen von allen 8 123 Lokomotiven auf den Eisenbahnen im europäischen Rußland 1 738 aus Deutschland.165 Höchstwahrscheinlich konnten auch die deutschen Banken im Auftrage der deutschen Exportindustrie auf die Tarifpolitik der privaten russischen Eisenbahngesellschaften Einfluß nehmen. Jedenfalls bestand seit 1875 ein deutsch-russisches Eisenbahnbündnis, dem sich von russischer Seite die wichtigsten Eisenbahngesellschaften im Westen Kußlands sowie einige wichtige Gesellschaften anschlössen, die über Linien aus den zentralen Getreidegebieten Rußlands an die Westgrenze verfügten. Die Mitglieder dieses Bündnisses verrechneten mit Hilfe des Bankhauses Mendelssohn & Co. die Kosten für den direkten Warenverkehr über ein besonderes Kontor bei der Großen Russischen Eisenbahngesellschaft und führten im Januar 1878 Spezialtarife für den deutsch-russischen Warenverkehr ein. 166 Offensichtlich war dieses Bündnis die Ursache dafür, daß die Eisenbahntarife der privaten russischen Eisenbahngesellschaften für die Produkte der deutschen Schwerindustrie von der Westgrenze nach Moskau niedriger lagen als die vom Ural nach Moskau. Deutsches Kapital in anderen Zweigen der russischen Volkswirtschaft

Das deutsche Kapital beschränkte sich jedoch schon in den siebziger und achtziger Jahren nicht auf den Kapitalexport in die russischen Eisenbahnen, sondern suchte bereits damals noch andere Anlagesphären. Er floß in russische Staatsanleihen 167 , in russische Stadtanleihen168, in die Pfandbriefe der Gesellschaften 1(i(i

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ii»

CGIAL, F. 268, op. I, delo 1652, Bl. 1 - 2 3 , Verkehrsminister Poset an Finanzminister Schwerindustrie im Zusammenhang mit ihren Finanzgeschäften in Rußland bemühten, zeigt z.B. folgende Mitteilung aus der „Magdeburger Zeitung", allerdings erst aus dem Jahre 1892: „Berliner Bankiers hatten in Rußland wegen der Finanzierung einiger großer Prioritätsanleihen verschiedener russischer Eisenbahngesellschaften unterhandelt und dabei Veranlassung genommen, zu erklären, daß die Unterbringung dieser Prioritäten in Deutschland nur dann möglich sein dürfte, wenn man russischerseits wenigstens einen Teil des zu beschaffenden Geldes zu Bestellungen von Eisenbahnmaterial bei deutschen Werken verwende." (DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII, 6a, 33, Bd. I, Bl. 119, Magdeburger Zeitung, 10. V. 1892.) CGIAL, F. 268. op. I, delo 1652, Bl. 1 - 2 3 , Verkehrsminister Poset an Finanzminister Reutern, 30. X . / l l . XI. 1879. Im Jahre 1900 waren 54 Prozent der russischen Staatsschuld im Ausland realisiert (L. N. Voronov, Inostrannye kapitaly v Rossii, Moskau 1901, S. 11). — E. Jenny (Die Deutschen im Wirtschaftsleben Rußlands, Berlin 1920, S. 39 f.) errechnete, daß einschließlich aller staatlich garantierten russischen Eisenbahnobligationen sich 6 5 % der russischen Staatsschuld (3,44 Mill. Rbl. von 5,33 Mill. Rbl.) in Deutschland befanden. — Die Berliner Börse war „in diesem Zeitabschnitt . . . f ü r russische Anleihen . . . der erste Markt der Welt". (H. Gebhard, Die Berliner Börse von den Anfängen bis 1896, Berlin 1928, S. 68) — Vgl. hierzu auch W. Steinmetz, Die deutschen Großbanken im Dienste des Kapitalexports, Luxemburg 1913, bes. S. 35 ff.; Bornemann, a. a. O., S. 84 ff., sowie die Discontogesellschaft . . ., a. a. O., S. 55 ff. Ebenda, S. 59 f.

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für Gegenseitigen Bodenkredit 1 6 9 , in die russischen Banken und in die russische Industrie. Wenn hier auch nicht der Platz ist, alle diese Formen des deutschen Kapitalexports b i s ins einzelne zu untersuchen, so seien doch zum Kapitalexport in die russischen Banken und in die russische Industrie noch einige Aspekte genannt. In den sogenannten Gründerjahren, Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, waren in Rußland 33 Aktienbanken entstanden 1 7 0 , darunter die St. Petersburger Internationale Handelsbank, die Russische Bank für Auswärtigen Handel und die St. Petersburger Discontobank, welche sich bald zu den größten russischen Bankunternehmen entwickeln sollten. A n der Gründung dieser Banken war deutsches Kapital beteiligt 1 7 1 , und die Aktien dieser Banken wurden außerhalb Rußlands nur an der Berliner Börse gehandelt. 1 7 2 A l s die drei Banken in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren ihr Aktienkapital mehrmals erhöhten, beteiligten sich an der Realisierung der neuen Aktien deutsche und österreichische Bankinstitute und erzielten dabei große Gewinne. 173 Die genannten drei russischen 169 1,0 171

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173

Vgl. z. B. 1.1. Levin, Germanskie kapitaly v Rossii, St. Petersburg 1918, S. 15 f. I. F. Gmain, Russkie kommerceskie banki, Moskau-Leningrad 1948, S. 42. An der Gründung der St. Petersburger Internationalen Handelsbank beteiligten sich im Jahre 1869 folgende deutsche Banken: die Discontogesellschaft, die Bankhäuser J. Berenberg, Goßler & Co. aus Hamburg, Gebr. Bethmann aus Frankfurt a. M. und Erlanger & Co. aus Frankfurt a. M. (S. Ronin, Inostrannyj kapital i russkie banki. K voprosu o finansovom kapitale v Rossii, Moskau 1926, S. 20; Levin, a. a. 0., S. 21). An der Gründung der St. Petersburger Discontogesellschaft im Jahre 1869 beteiligten sich die Discontogesellschaft, das österreichische Bankhaus Gebr. Eliseev, die Gebr. Polezaev, J. E. Ginzburg aus Petersburg, L. Kronenberg aus Warschau und Rafalovic & Co. aus Odessa. (Die Discontogesellschaft..., a . a . O . , S. 221; Salings Börsenpapiere, II. (finanzieller) Teil, 1885—86, S. 336). An der Gründung der Russischen Bank f ü r Auswärtigen Handel im Jahre 1871 beteiligten sich offensichtlich auch deutsche Bankhäuser. Schon 1871 saßen in ihrem Vorstand drei Deutsche: 0 . Strahlborn, E. Lindes und V. Elben (Otcet Russkogo Banka dlja Vnesnej Torgovly, 1871, St. Petersburg 1872). Die Aktien der Internationalen Handelsbank auf Antrag der Discontogesellschaft seit 1874 (DWI, Berlin, Zulassungsstelle an der Berliner Börse, St. Petersburger Internationale Handelsbank, Bl. 1), die der Russenbank auf Antrag der Deutschen Bank seit 1881 (Gebhard, a . a . O . , S. 70) und die der Discontobank seit 1875 (Salings Börsenpapiere, II. (finanzieller) Teil, 1885/86, S. 335). Die Internationale Handelsbank erhöhte ihr Aktienkapital bis 1900 dreimal: 1878 von 5 auf 13 Mill. Rbl., 1895 auf 18 Mill. Rbl. und 1898 auf 24 Mill. Rbl. Alle diese neuen Aktien wurden von einer Bankgruppe realisiert, zu der die Discontogesellschaft und die österreichische Kreditanstalt gehörten. Die Discontobank erhöhte ihr Kapital 1872 von 5 auf 10 Mill. Rbl., wobei die Hälfte der neuen Aktien an die alten Aktionäre, also auch an deutsche Banken, überging. Die Russenbank erhöhte ihr Kapital im Jahre 1881 von 7,5 auf 20 Mill. Rbl. - 4 0 % der neuen Aktien wurden u. a. von der Deutschen Bank und dem Wiener Bankverein aufgekauft, die übrigen Aktien erhielten die alten Aktionäre (Ronin, a . a . O . , S. 20 f.; DWI, ebenda, Bl. 16, 20; ebenda, Russische Bank f ü r Auswärtigen Handel, Bl. 1).

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147

Banken waren mit deutschen und österreichischen Banken durch Personalunion verbunden. 1 7 4 Wenn auch die deutschen Banken im 19. Jahrhundert schon von den russischen Banken nur zeitweilig große Aktienpakete übernahmen und die Aktien der russischen Banken meist bald an kleine deutsche Aktionäre verkauften 175 , so verzichteten sie doch nicht darauf, in Aktionärversammlungen ihr gewichtiges Wort zu sprechen. 1 7 6 Die drei Banken führte schon in dieser Zeit nicht nur ihre gemeinsame Abhängigkeit vom deutschen Kapital zusammen, sie waren auch durch Personalunion und gegenseitigen Besitz von Aktienpaketen 1 7 7 sowie durch ihre gemeinsamen Geschäfte miteinander verbunden. 1 7 8 In den neunziger Jahren monopolisierten die genannten m

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In den siebziger Jahren schickten die Discontogesellschaft und die Österreichische Kreditanstalt ihre Vertreter in den Aufsichtsrat und den Vorstand der Internationalen Handelsbank: in den Aufsichtsrat v. Winterstein von der Österreichischen Kreditanstalt und K. Wilkens von der Discontogesellschaft und in den Vorstand von 1872 bis 1878 F.V.Hornbostel, den Direktor der Österreichischen Kreditanstalt sowie von 1872 an S. Brandeis — Weikersheim von der Firma M. G. Weikersheim & Co. in Wien (Ronin, a. a. 0., S. 20; 1.1. Levin, Akcionernye kommerceskie banki v Rossii, St. Petersburg 1917, S. 169; Otcety St. Peterburgskogo Mezdunarodnogo Kommerceskogo Banka 1872—1878, St. Petersburg 1873—1879). — Im Vorstand der Discontobank saßen von 1884 bis 1892 A. G. Eliseev als Vertreter der österreichischen Firma Gebr. Eliseev und von 1875 bis 1891 G. A. Rafalovic, welcher zur gleichen Zeit (1885—1893) einen Platz im Verwaltungsrat der Berliner Handelsgesellschaft, sein Vater hingegen im Verwaltungsrat der Russenbank (von 1889 bis 1893) innehatte. (Fürstenberg, a . a . O . , S. 274; Otöety St. Peterburgskogo Ucetno-Ssudnogo Banka und der Russkogo Banka dlja Vnesnej Torgovly 1875-1893, St. Petersburg 1876-1894.) - Im Vorstand der Russenbank saßen im Jahre 1871 O. Strahlborn, E. Lindes und V.Elben. Im Jahre 1881 schickten der Wiener Bankverein und die Deutsche Bank je einen Vertreter in den Vorstand dieser Bank und die Deutsche Bank ihren Leiter, G. v. Siemens, der damals übrigens gleichzeitig einen Sitz im Verwaltungsrat des Wiener Bankvereins innehatte, in ihren Verwaltungsrat. (Ronin, a. a. O., S. 21; Otcety Russkogo Banka dlja Vnesnej Torgovly 1871—1890, St. Petersburg 1872-1891; Salings Börsenpapiere, II. (finanzieller) Teil, 1885-86, S. 358). E.Agahd, Großbanken und Weltmarkt, Berlin 1914, S. 20. — Vgl. hierzu, auch für die spätere Zeit, K. Strasser, Die deutschen Banken im Ausland, München 1924, S. 81. Sie erwarben sich vor allem Ende des 19. Jh. Kontrollpakete der drei Banken und vertraten die Interessen aller deutschen Aktienbesitzer auf den Versammlungen. Auf den Generalversammlungen der Internationalen Handelsbank befanden sich z. B. in der Hand von deutschen oder österreichischen Aktionären: 1879: 1 4 % , 1880: 8 % . 1881: 7 % , 1895: 2 2 % , 1900: 2 5 % (CGIAL, F. 626, op. I, delo 34, Bl. 1 - 7 , sowie delo35, 36 und 37, Anwesenheitslisten der Generalversammlungen der St. Petersburger Internationalen Handelsbank; und bei der Discontobank: 1895: 3 0 % , 1897: 2 7 % (Ebenda, F. 598, op. II, delo 34, Bl. 1 - 3 sowie delo 35, Bl. 1, Anwesenheitslisten der Generalversammlungen der St. Petersburger Discontobank). S. Kumpf, a. a. 0 „ S. 159 ff. Otcety St. Peterburgskogo Mezdunarodnogo Kommerceskogo Banka; Otcety St. Peterburgskogo Ucetno-Ssudnojo Banka; Otcety Russkogo Banka dlja Vnesnej Torgovly

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

Bankinstitute die Finanzierung des privaten russischen Eisenbahnbaues und schlössen (sicherlich nicht ohne die Hilfe des zaristischen Finanzministeriums, welches zu ihnen sehr enge Beziehungen unterhielt) die meisten anderen russischen Banken, bis auf wenige Fälle, von diesem Geschäft aus. Dabei spielte in der damaligen Zeit bei ihren Finanzoperationen — abgesehen vom Handelskredit — die Kreditgebung an den zaristischen Staat und an die russischen Eisenbahngesellschaften die wichtigste Rolle, während man von einem Verschmelzen zwischen Bank- und Industriekapital kaum sprechen konnte. Somit überwogen in ihren Geschäften mit den deutschen Banken neben dem Handelskredit die gemeinsamen Anleihegeschäfte sowie die gemeinsamen Spekulationen mit Wertpapieren und mit dem Rubel an der deutschen und der Petersburger Börse. 179 In den siebziger und achtziger Jahren setzte auch der Kapitalexport Deutschlands in die russische Industrie ein. 180 Ein Teil des deutschen Kapitals konzentrierte sich dabei auf bestimmte, in Rußland fast völlig fehlende Industriezweige, z. B. die Elektroindustrie. Dagegen begann ein anderer, und zwar der überwiegende Teil sich vor allem solche russischen Industriezweige zu unterwerfen, deren Produkte durch einen so hohen Zoll geschützt waren, daß sich der Import aus dem Ausland nicht mehr lohnte und es für die ausländischen Kapitalisten günstiger war, vom Waren- zum Kapitalexport in diese Industriezweige überzugehen. In beiden Fällen stellten eine außerordentlich niedrige Grundrente, ein relativ schwach organisiertes Proletariat mit sehr niedrigem Lebensstandard, besonders aber die hohen Preise f ü r Industriewaren 181 , welche durch die Schutzzölle und andere Unterstützungsmaßnahmen der zaristischen Regierung für die jungen Industriezweige 182 künstlich hoch gehalten wurden, den deutschen Unternehmern große Extraprofite in Aussicht.

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1870—1894, St. Petersburg 1871—1895; Gindin, Russkie kommerceskie banki. . ., a.a.O., S. 55 ff.; derselbe, Banki i promyslennost v Rossii, Moskau-Leningrad 1927, S. 89 ff. Gindin, Russkie kommerceskie b a n k i . . . , a.a.O., S. 62; Schulze-Gävernitz, Volkswirtschaftliche S t u d i e n . . . , a . a . O . , S. 461 ff, 500 f., 562 ff. Ausführlich darüber- B. F. Brandt, Inostrannye kapitaly. Ich vlijanie na ekonomiceskoe razvitie strany, Bd. 1—4, St. Petersburg 1898—1901; Ol', Inostrannye kapitaly . . ., a. a. 0 . ; derselbe, Inostrannye kapitaly v narodnom chozjajstve..., a. a. O.; V. S. Ziv-, Inostrannye kapitaly v russkich akcionernych predprijatijach, Vyp. I, Germanskie Kapitaly, Petrograd 1915; Derselbe, Inostrannye kapitaly v russkoj gornozavodskoj promyslennosti, Petrograd 1917; L.J.Eventov, Inostrannye kapitaly v russkoj promyslennosti, Moskau-Leningrad 1931 u. a. Die russischen Preise für Baumwollwaren, Kohle und landwirtschaftliche Maschinen waren in Rußland in den achtziger Jahren beispielsweise um 357, 200 und 1 5 9 % höher als zur gleichen Zeit in Deutschland (Livsic, a. a. O., S. 148). Ein Pud Schienen kostete in den siebziger Jahren in Rußland 2,2—2,4 Rubel, im Ausland 1,2—1,3 Rubel. (Z. Pustula, Monopolii v metallurgiceskoj promyslennosti Carstva Pol'skogo i ich ucastie v „Prodamete", in: Istoriceskie Zapiski, Bd. 62, Moskau 1958, S. 84 f.) Die zaristische Regierung forcierte die Entwicklung der Schienenproduktion, des Transportmaschinenbaus und der Kriegsindustrie z. B. durch staatliche Bestellungen

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

149

So unterhielt die Firma Siemens seit 1853 in Petersburg eine Filiale, das Handelshaus Siemens & Halske, welches in Rußland vor allem Telegraphenlinien errichtete. Die Firma Siemens erwarb 1864 und 1867 in Kedabak im Kaukasus zwei Kupferhütten, welche bis zu 2 000 Arbeitern beschäftigten und in den Jahren 1882—1886 90,5 % der ganzen Kupfererzeugung des Kaukasus (des damals neben dem Ural wichtigsten Kupferproduktionsgebietes Rußlands) lieferten.183 Weiter schuf Siemens 1879 in Petersburg ein elektrotechnisches und ein Kabelwerk, welche in den achtziger Jahren Petersburg und andere Städte Rußlands mit elektrischer Straßenbeleuchtung versahen. 1886 folgte in Verbindung mit der Deutschen Bank in Petersburg die Gründung der Gesellschaft für elektrische Beleuchtung.184 Die Direction der Discontogesellschaft und die Berliner Handelsgesellschaft erwarben Anfang der achtziger Jahre gemeinsam mit der St. Petersburger Internationalen Handelsbank Anteile an der Russischen Naphtaproduktionsgesellschaft Gebr. Nobel.185 1883 wurde außerdem eine deutsch-russische Naphtaimportgesellschaft gegründet, an welcher sich die Berliner Handelsgesellschaft beteiligte.186 In der russischen Schwerindustrie der verschiedensten Gebiete Rußlands arbeitete deutsches Kapital. In Riga hatte im Jahre 1869 Julius van der Zypen, der Begründer der Gesellschaft Vereinigter Stahlwerke in Köln-Deutz und späterer Mitbegründer des Deutschen Flottenvereins, die Russisch-Baltische Waggonfabrik errichtet, deren Aktien ihm bis Anfang der neunziger Jahre gehörten.187 Der Westphälische Drahtindustrieverein, Hamm, besaß Anfang der achtziger Jahre in Riga ein Werk, den Rigaer Drahtindustrieverein. Dort befand sich in den achtziger Jahren noch ein weiteres deutsches Drahtwerk. Weiter gab es damals in Libau ein von Boecker & Co. gegründetes deutsches Walzwerk und in Petersburg ein Werk der Westphälischen Union, die Petersburger Eisen- und Drahtwerke.188 — In Zentralrußland wurde 1863 im Moskauer Gouvernement, in Kolomna, von den Gebr. Struve ein Werk gegründet, an welchem sich 1871 nach dessen Umwand-

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zu erhöhten Preisen, Subsidien etc. (Vgl. Gindin, Gosudarstvennyj bank . . . , a. a. O., S. 44 und S. 74 ff.) Vgl. hierzu A. D. Brejterman, Cvetnye metally, Moskau-Leningrad 1925; derselbe, Mednjaja Promyslennost' SSSR, Leningrad 1930, Teil III, Kap. II. Vgl. Siemens, a . a . O . ; F.Sumpf, Monopolisticeskie organisacii elektropromyslennosti Rossii (s nacala vozniknovenija ee do pervoj mirovoj vojny), Diplomarbeit, Historische Fakultät der Lomonossow-Universität, Moskau 1957; S.v.Weiher, Carl v.Siemens 1 8 2 9 - 1 9 0 6 , in: Tradition, 1956, Bd. 1, S. 13 ff. CGIAL, F. 626, op. I, d e l o l 6 0 , B1.42; ebenda, d e l o l 5 6 , Bl. 1; DZA/Potsdam, AA, 2013, Bl. 94—100, Abschrift eines Urteils vom 20. IX. 1887 gegen die Russische Naphta-Produktionsgesellschaft Gebr. Nobel. Steinmetz, a. a. O., S. 74. Stahl und Eisen, Nr. 38, Jg. 27, 1907, S. 1372: DZA/Potsdam, AA, 2102, Bl. 132, Neue Preußische (Kreuz)Zeitung, 30. IX. 1887, Nr. 228. DZA/Potsdam, Rdl, 4923, Bl. 62, Generaldirektor der Westphälischen Union (H.Krause?) an Bötticher, 17. VI. 1882; ebenda, AA, 2079, Bl. 47, Lamezan an Caprivi, 22. I. 1891.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

lung in eine Aktiengesellschaft ein Deutscher namens Anton Lessing stark beteiligte. Dieses Werk, das 1888 bereits 3 000 Arbeiter beschäftigte, stellte vor allem Lokomotiven, Waggons und Binnenschiffe her. Die Dampf- und Werkzeugmaschinen der Fabrik sowie das technische Personal stammten vor allem aus Deutschland.189 An der in den achtziger Jahren entstehenden Brjansker Fabrikgesellschaft, welche für die zaristische Marine arbeitete und für den Bau der Erdölleitung von Baku nach Batum Röhren lieferte, war Ljaskij von der Petersburger Internationalen Handelsbank beteiligt.190 — Deutsches Kapital gründete und leitete in Odessa die Maschinenwerkstätten AG Bellino-Fendrich, welche sich vor allem an dem Aufbau der russischen Schwarzmeerflotte beteiligten und 1886 in Odessa eine größere Werft errichten wollten.191 Zu erwähnen bleibt auch, daß Krupp den Versuch unternahm, 1886 in Nikolaev ein großes Werk für Geschützfabrikation und 1888 bei Jekaterinoslav eine große Kanonengießerei zu errichten.192 Oskar Hahn, der Direktor der Firma Albert Hahn, Röhrenwalzwerk und Hahnsche Werke AG, Oderberg, beteiligte sich mit seiner Firma 1888 an der Gründung der Russischen Gesellschaft für Röhrenfabrikation in Jekaterinoslav, welche ihren Betrieb mit Ausrüstungen aus den Oderberger Werken aufbaute. 193 Deutsches Kapital war auch an der Russischen Gesellschaft für Maschinenbau und Hüttenwerke beteiligt.194 Die Rheinischen Stahlwerke in Meidrich betätigten sich als Teilhaber der Südrussisch-Dnjepropetrovschen Metallurgischen Gesellschaft in Jekaterinoslav, welche Ende der achtziger Jahre aus der Verlegung des Stahlwerkes in Prag entstanden war. 195 Besonders starken Umfang nahm jedoch der deutsche Kapitalexport in die Gebiete des Königreiches Polen an. Nicht nur, daß die polnischen Banken (die Kommerzbank in Warschau, die Warschauer Discontobank und die Lodzer Handelsbank) seit ihrer Gründung mit deutschen Banken in Verbindung standen 196 , auch in der polnischen Textilindustrie, ja vor allem in der polnischen Schwerindustrie spielte 189 190 191

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Ebenda, 2078, Bl. 8 6 - 8 8 , Zimmermann an das A.A., 8. VI. 1888. Ebenda, Bl. 9 7 - 1 0 0 , Lührsen an A.A., 10. X. 1888. Ebenda, Rdl, 5017, Bl. 111, Focke an A.A., 16.1.1886; ebenda, Bl. 196, Focke an A.A., 12. VI. 1886; ebenda, AA, 2078, Bl. 33, Aktennotiz vom 21. VIII. 1886. Ebenda, AA, 2078, Bl. 26, Weserzeitung, 25. VI. 1886, Nr. 14191; ebenda, Bl. 91, Handelszeitung des Berliner Tageblatts, 2. VIII. 1888; ebenda, Bl. 97—100, Lührsen an A.A., 10. X. 1888. Stahl und Eisen, Nr. 47, Jg. 27, 1907, S. 1715. DZA/Potsdam, Rdl, 5019, Bl. 167, Jordan an Bötticher, 15. VII. 1888; ebenda, Bl. 168, Aktennotiz. Ebenda, AA, 2078, Bl. 9 7 - 1 0 0 , Lührsen an A.A., 10. X. 1888; ebenda, 2079, Bl. 87, Anlage zu einem Schreiben Lührsens an Caprivi, 1. II. 1893. Ronin, a.a.O., S. 21; Leoin, Akcionernye kommerceskie banki . . . , a.a.O., S. 196; derselbe, Germanskie kapitaly . . . , a. a. 0., S. 21. Ausführlich darüber Pustula, a.a.O., S. 89 ff.; B. Ischehanian, Die ausländischen Elemente in der russischen Volkswirtschaft, Berlin 1913, S. 144 fi., 153, sowie DZA/ Potsdam, Rdl, 4927, Bl. 282—85, Anlage zum Bericht Lamezans an Bismarck, Juli 1887; ebenda, RSchA, 4215, Bl. 4 0 - 4 1 , Rechenberg an Bismarck, 28. IX. 1886. -

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

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das deutsche Kapital eine große Rolle. 197 Die Vereinigte Königs- und Laurahütte besaß hier seit Anfang der achtziger Jahre eine Filiale, die Katharinenhütte, welche mit schlesischem Roheisen arbeitete und auf vier Walzstraßen Sorteneisen, Bleche und Schienen anfertigte. Henckel von Donnersmark war Besitzer der Puschkinhütte, in welcher auf einer Walzstraße u. a. Walzdraht und Blech produziert wurden. Erwähnt sei auch, daß Breslauer Banken und die Oberschlesische Eisenbahnbedarfs-AG im Jahre 1882 die Gesellschaft der Milowicer Walzwerke (eine Walzstraße) gegründet hatten. Weiter besaß die Metallfabrik Handtke seit 1882 eine Filiale bei Warschau. Die 1883 gegründete Gesellschaft des Sosnovicer Röhrenwalzwerkes hing ebenfalls vom deutschen Kapital ab. Schon Anfang der siebziger Jahre war in Praga ein Stahlwerk von den Rheinischen Stahlwerken und von polnischen Kapitalisten (Lillpop, Rau & Co.) errichtet worden. 198 Von weiteren Vorhaben sei erwähnt, daß 1886 die Würtembergische Metallwarenfabrik in Warschau eine Filiale zu errichten plante 1 9 9 und daß 1890 E. Borsig in enger Verbindung mit der Kommerzbank in Warschau das Kessel- und Mechanische Werk Fitzner & Gamper gründete. Als Rußland seine Kohlenzölle erhöhte, setzte sich das deutsche Kapital allmählich auch im Kohlenbergbau Polens fest. Neun von den achtzehn Schächten des Dombrover Gebietes, die Mitte der neunziger Jahre förderten, wurden von deutschem Kapital kontrolliert und lieferten zusammen 86 % der Kohlenproduktion dieses Gebietes. 200 Der Kapitalexport Deutschlands nach Rußland spielte f ü r beide Länder eine große Rolle. So nahm Deutschland im Kapitalimport Rußlands bis zum Jahre 1887 den ersten Platz ein, während Rußland im deutschen Kapitalexport mit einem Anteil von Schätzungsweise 20—25 % 201 an wichtiger Stelle stand. Rußlands Abhängigkeit von Deutschland wurde noch dadurch verstärkt, daß die Bewertung des russischen Kreditrubels seit den siebziger Jahren bei der Berliner Rubelbörse lag. 202 Der Kapitalexport nach Rußland öffnete der deutschen Großbourgeoisie große Perspektiven. Das deutsche Kapital begnügte sich aber nicht mit dem aus dem Kapitalexport selbst herrührenden Spekulations- oder Gründergewinn. Vielmehr versuchte es offensichtlich, die finanzielle Abhängigkeit Rußlands von Deutschm

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DZA/Merseburg, Rep. 120, C. XIII, 6a, Nr. 27, Bd. 44, Bl. 265, Notiz über die Eisenindustrie im russischen Westgrenzgebiet, Anlage der gutachtlichen Äußerung Lomezans über die vermutliche Einwirkung der jüngsten russischen Eisenzollerhöhungen auf den deutschen Eisenexport nach Rußland, ohne Verf. und ohne Datum. DZA/Potsdam, Rdl, 4926, Bl. 20, Württembergische Metallwarenfabrik an Bismarck, Febr. 1886. In den achtziger Jahren entstanden übrigens in Rußland die ersten Kartelle und Syndikate in der Schwerindustrie, und zwar besonders in den Zweigen, wo das ausländische Kapital stark beteiligt war. 1886 wurde die erste Konvention zwischen den Eisenwalz-, Draht- und Nagelwerken besonders Polens und des Baltikums abgeschlossen (L. B. Kafengauz, Sindikaty v russkoj zeleznoj promyslennosti, Moskau 1910, S. 55). In den achtziger Jahren gab es außerdem das erste Schienensyndikat (Gindin, Gosu201 darstvennyj bank . . . , a. a. O., S. 256 f.). — Feis, a. a. O., S. 71. Schulze-Gävernitz, Volkswirtschaftliche Studien . . . , S. 500 ff.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

land dazu auszunützen, um sich Rußland zu einer Rohstoff- und Lebensmittelbasis zu machen und sich dadurch den Industriewarenexport nach Rußland zu erhalten, ja womöglich noch zu vergrößern. Den Import von russischen Rohstoffen und Lebensmitteln wußte es sich durch die Unterstützung des russischen Eisenbahnbaues, durch das beginnende Engagement in der russischen Erdölproduktion, aber auch durch den Kapitalexport in die russischen Banken und Handelsunternehmen zu erleichtern. Die Steigerung des Industriewarenexports förderte man durch die Unterstützung des russischen Eisenbahnbaues, wahrscheinlich auch durch den Aufkauf der Staats- und Stadtanleihen, durch die Einflußnahme auf einige russische Banken sowie auch in gewisser Weise durch die Beteiligung an der Gründung russischer Industriebetriebe, deren Ausrüstungen oft von der deutschen Schwerindustrie geliefert wurden und die — sofern sie in der Form von Tochtergesellschaften oder Filialen deutscher Großunternehmen arbeiteten — jenen den Absatz ihrer Halbfabrikate garantieren sollten. 203 Ein großer Teil der herrschenden Klassen Rußlands nahm eine solche Entwicklung nicht kritiklos hin. Die russische Öffentlichkeit zum deutschen Kapital in Rußland

An der Spitze der Gegner des deutschen Kapitalimports nach Rußland stand die zentralrussische Bourgeoisie. Sie forderte Repressivmaßnahmen gegen die polnische Textil- und Schwerindustrie, die meist mit deutschem Kapital, billigen deutschen Rohstoffen und deutschen Arbeitskräften arbeitete und ihnen sogar auf den zentralrussischen Märkten ernsthafte Konkurrenz zu schaffen begann. 204 Sie wandte sich gegen die hochprozentigen russischen Anleihen in Deutschland, die Rußland von Deutschland abhängig machten. 205 Sie verlangte ferner verstärkte Einflußnahme des Staates auf die Tarifpolitik der privaten russischen Eisenbahngesellschaften, möglichst eine Verstaatlichung dieser Gesellschaften. 206 Schließlich propagierte sie die Erschließung der russischen Bodenschätze, die Industrialisierung Zentral-, Ost- und Südrußlands (und sei es mit Hilfe französischen Kapitals!) sowie die Einschränkung des ausländischen Warenimports, um Rußland unabhängiger zu machen. 207 Auch der deutsche Landbesitz in Polen war ihr ein Dorn im Auge. 208 203 204

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Eventov, a. a. 0., S. 27. Sie forderten verstärkte Besteuerung der poln. Industrie, Erhöhung der Zölle an der westl. Landgrenze auf Rohstoffe lind Halbfabrikate, Erhöhung der Eisenbahntarife für die Frachten von Polen nach Zentralrußland u . a . (Russkij Vestnik, Nr. 1 7 l / l , Mai 1884, S. 465 ff.; 1 7 l / l , Mai 1885, S. 478; 177/2, Juni 1885, S. 912 ff.; 179/1, Sept. 1885, S. 470ff.; 185/1, Sept. 1886, S. 429 ff.; 187/1, Januar 1887, S. 448 u. a. (r.D.)). Russkij Vestnik, 170/2, März 1884, S. 929ff.; 172/2, August 1884, S. 914ff.; 179/2, Oktober 1885, S. 947 ff. (r.D.)). Russkij Vestnik, 175/2, Februar 1885, S. 897; 176/1, März 1889, S. 409 f. (r.D.). Russkij Vestnik, 171/2, Mai 1884, S. 465 ff.; 183/1, Mai 1886, S. 469 ff. - Die Konkurrenz zwischen der Uraler und der Südrussischen Schwerindustrie begann erst um die Jahrhundertwende nennenswerte Ausmaße anzunehmen (vgl. A. L. Zakernik, K istorii sindikata „Krovlja", in: Istoriceskie Zapiski, Bd. 52, Moskau 1955, S. 113). Russkij Vestnik, 180/1, November 1885, S. 509 f.; 181/2, Februar 1886, S. 910 ff. (r.D.).

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

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Gegen die Interessen der zentralrussischen Bourgeoisie traten ebenso wie bei den Schutzzöllen auch in dieser Frage die Petersburger Bank- und Börsenkreise sowie die deutschfreundlichen Gutsbesitzer auf. Letztere sahen in der finanziellen Zusammenarbeit mit Deutschland eine Garantie für ihren Absatz in Deutschland und f ü r die deutsch-russische Freundschaft. 209 Sie verwarfen die — wenn auch gemäßigten — Maßnahmen der zaristischen Regierung gegen die Abhängigkeit Rußlands vom deutschen Kapital. 210 Nur in einer Frage stimmten sie mit der zentralrussischen Bourgeoisie überein: Auch sie forderten die Verstaatlichung der strategisch wichtigen Eisenbahnen sowie wirksame Maßnahmen gegen die polnische Grenzindustrie. 211 Finanzminister Bunge hatte sich einem großen Teil der Forderungen der zentralrussischen Bourgeoisie versagt. Nun erwies sich VySnegradskij auch in dieser Frage als tatkräftiger, denn unter seiner Ägide wurden große Teile der russischen Staatsschuld konvertiert 212 und die jährlichen Zinszahlungen an das Ausland dadurch etwas verringert. 1887 belegte man die meisten russischen Eisenbahnaktien mit einer 5 %igen Kapitalrentensteuer, von welcher sie bisher befreit gewesen waren. 213 Im Mai 1887 und im Januar 1888 folgte eine Erhöhung der Stempelgebühr für russische Wertpapiere. 214 Außerdem ging ein Teil der privaten russischen Eisenbahngesellschaften in Staatsbesitz über. 215 Besondere Bedeutung kam den Maßnahmen gegen die polnische Grenzindustrie zu. Seit langem lag der Einfuhrzoll für Kohle über die Landgrenze höher als über die Seegrenze. 1887 wurde ein derartiger differenzierter Zoll auch f ü r Rohbaumwolle und Roheisen eingeführt. 216 Am 14./26. März 1887 bestimmte ein Ukas des Zaren, daß in Russisch-Polen und dem Baltikum „der gegenwärtige Besitz von Liegenschaften außerhalb der Städte auf Lebenszeit der jetzigen Besitzer und davon bei Erlaß des Ukases bereits in Rußland wohnenden Nachkommen limitiert wird, und zwar auch nur insoweit, als diese Nachkommen nicht aus einem Testament erben"; daß „ein Verkauf nur an russische Untertanen zulässig ist, die russischen Untertanen aber wegen Nichtbezahlung von Kaufgelderresten nur insoweit in Anspruch genommen werden können, daß der Ausländer unter keinen Umständen in den Besitz einzutreten hat", und daß „den ausländischen Verwaltern . . . weiter fortzu209

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Kievljanin, 1 8 . 1 1 . 1 8 8 7 ; 11. VI. 1887; 3. VII. 1887; 5. VII. 1887; l . X . 1887; 25. IX. 1887; 25. II. 1888; 25. III. 1888 (r.D.). Sie waren nicht nur gegen die Einkommensteuer auf die Aktien, sondern auch gegen die Konvertierung der russischen Anleihen (Kievljanin, 18.11.1887, 11. VI. 1887, 3. VII. 1887, 5. VIII. 1887 [r.D.]). Kievljanin, 15. V. 1887; 13. VII. 1887. (r.D.). Migulin, a. a. O., Bd. II, Kap. II.; Konversija vnesnich zajmov Rossii v 1888—1890 gg., in: Istoriceskij Archiv, Moskau 1959, Nr. 3, S. 99 ff. CGIAL, F. 1152, op. X, 1886, delo 566, Bl. 2 - 2 9 , Bunge an Staatsrat, 30. X./ 11. XI. 1886; ebenda, Bl. 48, Bl. 60, Protokolle der Staatsratssitzung vom 22. XII. 1 8 8 6 / 3 . 1 . 1887; — Hansemann hatte das im Jahre 1886 bei Bunge zu verhindern versucht. (ROLB, F. 120, Kat. 23, Bl. 29, Voeikov an Katkov, 7./19. V. 1886). CGIAL, F. 1152, op. X, 1888 delo 38, Bl. 4 2 - 4 9 , Bunge an Staatsrat, 9./21. XII. 1884. 216 Vgl. hierzu Kizlinskij, a . a . O . , Bd. III, Kap. 2. Livsic, a . a . O . , S. 190, 193.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

fungieren verboten wird". 217 Zwei Monate später verkündete der russische Finanzanzeiger, daß „eine allmähliche Einschränkung der Tätigkeit derjenigen Fabriken" beabsichtigt sei, „welche mit ausländischem Material arbeiten", und besonders der „schädliche Einfluß der Veredelungsfabriken, welche sich an der Westgrenze konzentriert haben", beseitigt werden solle. 218 Den ökonomischen Forderungen der zentralrussischen Großbourgeoisie und bestimmten militär-strategischen Bedenken großer Teile des herrschenden Lagers Rußlands trug somit VySnegradskij weitgehend Rechnung. Der deutsche Kapitalexport nach Rußland wirkte sich f ü r Rußland jedoch durchaus nicht nur negativ aus. Er förderte in gewisser Beziehung die Industrialisierung Rußlands. 219 Durch die mit deutschem Kapital gebauten Eisenbahnen steigerte sich der Warenexport Rußlands. Rußland wurde befähigt, den preußischen Junkern auf dem deutschen Markt und auf anderen Märkten verstärkte Konkurrenz zu bieten. Seine Handels- und Zahlungsbilanz verbesserte sich. Es verwendete die Mittel aber auch zur Erweiterung seiner Rüstungsindustrie und zum Ausbau seines strategischen Eisenbahnnetzes. Somit begannen die ökonomische und die militärisch-strategische Lage des zaristischen Rußlands sich zu bessern. Diese Tendenzen und Folgen des deutschen Kapitalexports nach Rußland ließen einen großen Teil des herrschenden Lagers in Deutschland aufhorchen. Man sah immer kritischer auf die Geschäfte der deutschen Großbanken mit der zaristischen Regierung und wendete sich gegen die Gründung von Industrieunternehmen in Rußland mit deutschem Kapital. Hintergründe des Lombardverbots Den preußischen Junkern war der Kapitalexport in die mit Deutschland konkurrierenden Agrarländer von jeher ein Dorn im Auge gewesen. Wenn sie auch aus außenpolitischen und militärstrategischen Überlegungen in Kauf nehmen mochten, daß beispielsweise der beginnende deutsche Kapitalexport nach dem Balkan ihnen selbst den Kredit verteuerte und für ihre Erzeugnisse auf dem deutschen Markt und auf anderen Märkten Konkurrenten heranbildete, so verloren sie Rußland gegenüber, ihrem Hauptkonkurrenten auf dem deutschen Markt, jedoch von dem Moment an endgültig die Geduld, als sich nicht nur die russische außenpolitische „Undankbarkeit" während der Balkankrise 1885—1887 erneut bestätigen sollte, sondern vor allem, als von 1886 und 1887 an in Zusammenhang mit der weiteren Verschärfung der Weltagrarkrise und mit dem Ende einer vierjährigen Depression das Kapital auf den deutschen Börsen teurer zu werden begann. 220 Die preußischen Junker beschränkten sich nicht nur darauf, ihre Ansichten zu dieser Frage nur in der ihnen nahestehenden Presse darzulegen. Sie 217 218 213 220

Zitiert nach einem Brief Henckel v. Donnersmarcks an Bismarck vom 13. VI. 1887, in: Hallgarten,

a. a. 0 . , Bd. II, S. 516.

DZA/Potsdam, Rdl, 4927, Bl. 263, Vestnik Finansov, 17./29. V. 1887. Was Agahd in seinen beiden Büchern besonders kritisierte. Hallgarten, a. a. 0 . , Bd. I, S. 253 f., 263 f.

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

155

fanden auch eine direkte Unterstützung gegen den deutschen Kapitalexport nach Rußland in jenen Vertretern ihrer Klasse, die die wichtigsten Positionen im System des preußisch-deutschen Militarismus innehatten und im Gegensatz zu Bismarck «inen Krieg zwischen Deutschland und Rußland f ü r unvermeidbar hielten. Einer von ¿hnen war General von Waldersee. Waldersee maß dem russischen Eisenbahnbau vor allem militär-strategische Bedeutung bei. Er war sich klar darüber, daß Rußland mit Hilfe der in Deutschland untergebrachten Eisenbahn- und Staatsanleihen sein Militärpotential verstärkte. Außerdem fürchtete er, daß Deutschland durch den wachsenden russischen Getreideimport von Rußland ökonomisch abhängig werden könnte, was im Falle eines Krieges gegen Rußland f ü r Deutschland sehr nachteilig wäre. 221 Dieser Flügel des herrschenden Lagers des Deutschen Reiches erhielt von jenem Teil der deutschen Großbourgeoisie Unterstützung, der im Kampf gegen die russischen Wertpapiere in Deutschland ein Mittel sah, die zaristische Regierung zu Veränderungen in ihrer Wirtschaftspolitik — insbesondere in der Schutzzollpolitik — zu zwingen. Vertreter der deutschen Industrie forderten seit 1876, auf die russischen Zollerhöhungen mit Maßnahmen gegenüber dem russischen Kredit in Deutschland zu antworten. 222 Besonders nachhaltig wurden ihre Stimmen Mitte der achtziger Jahre. 223 Im Gegensatz zu diesen Forderungen der preußischen Junker, der Exponenten des Militarismus und zum Teil auch der industriellen Großbourgeoisie hatte die deutsche Reichsregierung unter Bismarck bisher im großen und ganzen den deutschen Kapitalexport nach Rußland vor allem in der Form von Anleihekapital gebilligt, bot sich ihr dadurch doch die Möglichkeit, die deutsch-russischen Finanzbeziehungen ihren außenpolitischen Plänen irgendwie dienstbar zu machen. Bismarck lehnte es 1876 nicht nur entschieden ab, als Gegenmaßnahme gegen die russischen Zollerhöhungen vor dem Kauf russischer Wertpapiere in Deutschland zu warnen 224 , sondern verschaffte im Gegenteil Rußland ein Jahr später durch Bleichröders Vermittlung eine Anleihe in Höhe von 100 Mill. Rubel, um es f ü r die Auseinandersetzung mit der Türkei zu stärken. 1884 wurde die Preußische Seehandlung neben einigen deutschen Privatbanken für eine russische Anleihe als Subskriptionsbank zugelassen, was das Wohlwollen der deutschen Regierung zu •den Finanzgeschäften Rußlands in Deutschland offiziell betonen sollte. 225 Auf Betreiben des Auswärtigen Amtes kam im Sommer 1885 zwischen Schweinitz und 221

Waldersee, Denkwürdigkeiten, a . a . O . , Bd. I, S. 310 ff. Auf Veranlassung Waldersees war bereits im Dezember 1882 in der Kölnischen Zeitung ein Artikel gegen den russischen Eisenbahnbau erschienen (Hallgarten, a. a. 0., Bd. I. S. 226 f.). ' m Vgl. Kap. 1/3, S. 14, sowie DZA/Potsdam, RSchA, 3397, Bl. 1 1 - 1 2 , Fabrikbesitzer E. Rothschild an Bismarck, 1 3 . 1 . 1 8 8 1 . 223 Vgl. z. B. Kölnische Zeitung, 24. IV. 1886; zur Stellung Henckel von Donnersmarcks zu dieser Frage vgl. Schweinitz, a. a. O., Bd. II, S. 316. 224 Reichstagsrede Bismarcks vom 5. XII. 1876, in: Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. 11, Reden, Berlin 1928, S. 471 ff. ~2T' Feis, a . a . O . , S . 2 1 2 .

15G

Das Ende des Rückversicherungsvertrages

Giers in Petersburg ein Abkommen über die gegenseitige Zulassung von Aktiengesellschaften zustande 226 , welches die Errichtung deutscher Tochtergesellschaften und Filialen in Rußland erleichterte. Einem Vorschlag Berchems vom April 1886, der zaristischen Regierung eine Verhinderung der von ihr geplanten Konvertierungsvorhaben anzudrohen, um sie dadurch zum Verzicht auf weitere Zollerhöhungen zu bringen, sowie den Bemühungen Henckel von Donnersmarcks vom gleichen Jahr um Zwangsmaßnahmen gegen die russischen Zollerhöhungen kam Bismarck nicht nach. 227 Als sich zu Beginn des Jahres 1887 zeigte, daß auch die von Bismarck und Bunge geplanten handelspolitischen Verhandlungen zwischen Deutschland und Rußland scheiterten und an die Stelle Bunges ein Mann trat, der sehr bald seine Entschlossenheit bewies, die Interessen der russischen Großindustriellen entschiedener als sein Vorgänger zu verteidigen, die Abhängigkeit Rußlands vom deutschen Geldmarkt zu vermindern und eine unabhängigere Finanzpolitik zu betreiben, begann sich der Druck jener Kreise, die Repressalien gegen den russischen Kredit forderten, in und außerhalb der Regierung auf Bismarck zu verstärken. Der Leiter des Reichsschatzamtes, Jacobi, empfahl Bismarck, zur Unterstützung der zollpolitischen Forderungen der deutschen Industriellen an Rußland „dem Umlauf russischer Effekten auf dem deutschen Geldmarkte in wirksamer Weise entgegenzutreten." 2 2 8 Guido Henckel von Donnersmarck versuchte Bismarck davon zu überzeugen, daß die Besteuerung der russischen Werte auf den deutschen Börsen, das „Eingreifen der deutschen Regierung" gegen die weitere Überschwemmung Deutschlands mit russischen Werten das beste Mittel gegen die neuen russischen Kohlen- und Roheisenzollerhöhungen sei. Es sei gleichzeitig eine gute Waffe gegen die Maßnahmen VySnegradskijs gegen ausländische Grundbesitzer und Industrielle in den polnischen Westgebieten, welche ihn und seinesgleichen nicht nur als Waren-, sondern auch als Kapitalexporteure, als Industrielle und als Großgrundbesitzer in Polen und im Baltikum schädigten. 229 Bismarcks Haltung begann sich nun zu ändern. Auf seine Veranlassung hin wurden die russischen Werte auf der Berliner Börse „flau gemacht". Die immer hitziger werdende Pressekampagne gegen die russischen Werte fand jetzt seine Billigung, wurde nach Abschluß des Rückversicherungsvertrages, von dessen -'26 AVPR, F.II, Dep. I—I, p . I , 1885, d e l o l l , Bl. 1 - 1 4 , Korrespondenz zwischen Giers, Bunge u. a. über ein Abkommen mit Deutschland über die Zulassung deutscher Aktiengesellschaften in Rußland. Juni—Juli 1885. 227 DZA/Potsdam, Rdl, 4858, Bl. 5—15, Promemoria Berchems über die russischen Zollerhöhungen, 13. IV. 1886; ebenda, RSchA, 4215, Bl. 30, Bismarck an Bülow, 24. IV. 1886; ebenda, Rdl, 4929, Bl. 134, Bülow an Bismarck, 14. V. 1886; Schweinitz, a. a. 0., Bd. II, S. 316. 228 DZA/Potsdam, Rdl, 4927, Bl. 37, Jacobi an Bismarck, 18.11. 1887. 229 DZA/Potsdam, Rdl, 4927, Bl. 185—187, Henckel v. Donnersmarck an Bismarck, 15. VI. 1887; Henckel v. Donnersmarck an Bismarck, 13. VI. 1887, in: Hallgarten, a. a. 0., Bd. II, Anhang, S. 515 ff.

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

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Bedingungen Bismarck enttäuscht war, sogar systematisch forciert. 230 Raschdau, Vortragender Rat in der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, mit der Frage der russischen Werte betraut, reiste „privat" nach Rußland, um sich über die wirtschaftliche Lage Rußlands zu informieren. Er organisierte vom Sommer 1887 an einen planmäßigen Kampf in den einflußreichsten deutschen Tageszeitungen gegen die russischen Werte. 231 Lamezan erhielt den Auftrag, ausführlicher und regelmäßiger über die russischen Finanzen und über russische Finanzoperationen zu berichten. 232 Seine Berichte gelangten auf Veranlassung Bismarcks in die offiziöse und nichtoffiziöse Presse. 233 Die preußischen Ressortchefs wiesen die ihnen nachgeordneten Behörden dahin an, „daß ausländische Papiere in Zukunft weder als Kaution angenommen noch auch zum Zwecke der Vermögensanlage angekauft werden dürfen, bei welchen Behörden . . . mitzuwirken haben". 234 Von Herbert v. Bismarck kam schließlich der sorgfältig vorbereitete Vorschlag, „die Lombardierung ausländischer Papiere bei der Reichsbank einzuschränken". 235 Einige Tage vor dem Besuch des Zaren in Berlin wies der Reichskanzler die Reichsbank an, in Zukunft keine Lombarddarlehen mehr auf russische Wertpapiere zu gewähren. 236 Das Lombardverbot Bismarcks ist einmal als „ein weiterer Schritt zur Veragrarisierung Bismarcks" 237 bezeichnet worden. Und es zeigte in der Tat die Macht der preußischen Junker in Deutschland, wenn sich die deutschen Besitzer russischer Wertpapiere — von ihrer Regierung genötigt — dieser Papiere entledigten und man ihnen zuredete, ihr Kapital lieber in Deutschland anzulegen. Es war weiter ein Ausdruck dieser Macht, wenn man Rußland zu zwingen suchte, seine Maßnahmen gegen den deutschen Grundbesitz in seinen Westgebieten rückgängig zu machen, weil sie Leuten wie dem Fürsten Radziwill und dem Prinzen Hohenlohe 230

GP, Bd. V, Nr. 1138-1140 — Im Mai 1887, als die Verhandlungen um den Abschluß des Rückversicherungsvertrages begannen, soll einer Mitteilung des „Pester Lloyds" zufolge (was von Bismarck allerdings bestritten wurde) im Auftrage Bismarcks ein Vertreter Bleichröders nach Petersburg geschickt worden sein, um den Verdacht in Rußland zu beseitigen, daß hinter dem Druck der Berliner Börse auf die russische Valuta und die Pressefehde gegen die russischen Wertpapiere die deutsche Diplomatie stehe. (DZA/Potsdam, AA, 2012, Bl. 21a, Pester Lloyd, 2. V. 1887 mit Marginal 231 Bismarcks). Raschdau, Unter Bismarck . . ., a. a. 0., S. 16 ff.

232

DZA/Potsdam, AA 2012, Bl. 59, Bismarck an Lamezan, 13. VIII. 1887. Ebenda, 2013, Bl. 67, Marginal Bismarcks zu Lamezan an Bismarck, 20. X. 1887; ebenda, Bl. 68—83, Artikel des Auswärtigen Amtes für die Kölnische Zeitung, 18. X. 234 1887. GP, Bd. V, Nr. 1140. GP, Bd. V, Nr. 1140. — Anfang Oktober hatte die Reichsbank dem Auswärtigen Amt eine Aufstellung aller von ihr beliehenen russischen Wertpapiere übermittelt. (DZA/ Potsdam, AA, 2013, Bl. 17—19, Zusammenstellung der in Deutschland placierten russischen Eisenbahnpapiere vom 4. X. 1887). Das geschah am 10. XI. 1887 (Vgl. hierzu GP, Bd. V, Nr. 1142). - Kurz danach wurde diese Verfügung auch auf die preußische Seehandlung ausgedehnt. (Ibbecken, a. a. O., S. 91). Vogts, a. a. O., Bd. I, S. 437.

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235

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Das Ende des Rückversicherungs Vertrages

oder dem Grafen Henckel von Donnersmarck ihre „Rechte" auf ihre großen Besitzungen im Königreich Polen streitig zu machen drohten. 238 Bismarck fand sich zu diesem Zugeständnis an die preußischen Junker aber erst in dem Moment bereit, als ihm der Kampf gegen den russischen Kredit in Deutschland als eines der letzten Druckmittel gegen Rußland übriggeblieben war, es seine Abhängigkeit von Deutschland spüren zu lassen, es stärker an Deutschland zu binden und die zaristische Regierung zu außenpolitischen und ökonomischen Zugeständnissen an Deutschland zu zwingen. Insofern zeigte diese Maßnahme gleichzeitig das Klassenbündnis zwischen Junkern und Großbourgeoisie. Sie diente zwar letztlich den Interessen der Großagrarier, doch sie wurde von jenen Teilen der deutschen Großbourgeoisie gutgeheißen, die in ihr ein Mittel sehen mochten, sowohl die ökonomische Eroberung des großen russischen Marktes anzustreben als auch gleichzeitig die militärische Eroberung vorzubereiten. Das Lombardverbot war somit auch ein Bestandteil der Politik des preußisch-deutschen Militarismus, welcher sich auf einen Krieg gegen Frankreich und Rußland vorbereitete. Rechnete man mit der Möglichkeit eines deutschrussischen Krieges, so konnte die Spezialisierung Deutschlands auf russische Werte nicht im Interesse der Mehrheit des herrschenden Lagers Deutschlands liegen. Nicht nur deshalb, weil das f ü r die deutschen Besitzer russischer Papiere „finanziell verhängnisvoll werden" konnte 2 3 9 , sondern auch weil man der zaristischen Regierung die Mittel aus der Hand nehmen wollte, mit denen sie ihre gegen „Deutschland gerichteten Rüstungen förderte". 2 4 0 Die frei werdenden finanziellen Mittel konnte man einerseits f ü r die Verbesserung der Staatsfinanzen, die Forcierung der Aufrüstung Deutschlands, f ü r die Durchführung der geplanten Wehrreform und die Kreditgebung an die preußischen Junker verwenden, sie andererseits auch durch Kapitalexport in die mit Deutschland verbündeten Staaten lenken, was der Festigung der politischen Beziehungen zwischen den Dreibundländern und der militärischen Erstarkung der Verbündeten diente. 241 Die Reaktion Rußlands auf das Lombardverbot

Das Lombardverbot Bismarcks war f ü r die zaristische Regierung ein unerwarteter und schwerer Schlag, eine „äußerst empfindliche und gehässige Maßregel" 242 , die 238

239

241

DZA/Merseburg, Rep. 120, C.XIII, 6a, Nr. 27, Bd. 44, Bl. 6 6 - 6 7 , Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung, 24. VI. 1887. DZA/Potsdam, AA, 2012, Bl. 98, Kölnische Zeitung, 22. IX. 1887; ebenda, 2013, 240 Bl. 26, Die Post, 6. X. 1887. Raschdau, Unter Bismarck . .., a. a. 0., S. 18. Weshalb z. B. auch Holstein ein lebhafter Anhänger dieser Maßnahme war (Holstein, Die Geheimen P a p i e r e . . . , a. a. 0., S. 403). — Ein großer Teil des durch den Verkauf russischer Wertpapiere frei gewordenen Kapitals wurde z. B. in italienischen Papieren angelegt (Feis, a. a. 0., S. 69, 75, 236 ff.). Berchem überredete im September 1889 die Berliner Handelsgesellschaft und die Deutsche Bank, „etwas für den italienischen Markt zu tun". (DZA/Potsdam, RK, 2a, Bl. 46, Berchem an Rottenburg, 9. IX. 1889.) Ende der achtziger Jahre begann auch der verstärkte Kapitalexport Deutschlands in 242 die Türkei. Schweinitz, a. a. 0 . , Bd. II, S. 358.

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

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sie besonders deshalb schwer traf, weil sie sich nicht in der Lage sah, auf die deutschen Repressalien mit wirksamen russischen Gegenmaßnahmen zu reagieren. 243 Es dauerte fast ein Jalir, bis Vysnegradskij wieder Herr der Lage wurde. Die meisten Forderungen der russischen Industriellen nach neuen Zollerhöhungen blieben nun unberücksichtigt. Auch konnte keine Rede mehr davon sein, die geplante Reform des russischen Zolltarifs, wie ursprünglich beabsichtigt, noch im Jahre 1888 zu realisieren oder neue Eisenbahntarife einzuführen. Vielmehr schien sich Vyänegradskij zunächst sogar zu handelspolitischen Zugeständnissen an Deutschland bereit zu finden. Im Februar 1888 begann Suvalov in Berlin handelspolitische Verhandlungen vorzubereiten. 244 Im März 1888 ließ Vysnegradskij dem deutschen Konsul in Petersburg, Lamezan, über den Direktor der Petersburger Internationalen Handelsbank, Ljaskij, streng vertraulich mitteilen, wie sehr er „gegenwärtig von der Überzeugung durchdrungen sei, daß im Interesse der Gesundung der wirtschaftlichen und finanziellen Lage Rußlands auf eine Wiederherstellung besserer wirtschaftlicher Beziehungen . . . insbesondere zu Deutschland Bedacht genommen werden müsse und daß " er „entschlossen sei, seinen ganzen Einfluß in diesem Sinne aufzubieten". Ljaskij empfahl Lamezan, „in einem keinen amtlichen Charakter und keine Unterschrift tragenden Promemoria unter der Hand diejenigen Wünsche ihm mitzuteilen", welche der deutsche Handelsstand „mit Bezug auf die Ausführung und Handhabung von Zollverordnungen und anderen den Handel und die Schiffahrt belästigenden Bestimmungen etwa geltend machen möchte, insoweit solche von dem Finanzressort auf dem Verwaltungswege erlassen worden sind und ohne Hilfe der gesetzgebenden Faktoren abgeändert werden können. E r . . . wolle alsdann diese unsere Wünsche zur Kenntnis des ihm speziell befreundeten Finanzministers bringen, welcher denselben . . . so weit als irgend tunlich zu willfahren geneigt sei". 245 Lamezan sollte sich jedoch auf Berlins Weisung davor hüten, „bei den Russen den Eindruck zu erwecken, als wären wir konzessionsbedürftig", und „gegenüber den . . . Annäherungsversuchen des Herrn Vyänegradskij eine kühle und gleichgültige Haltung zu bewahren". Man erhoffte sich damit in Deutschland „eine prinzipielle Schwächung des gegenwärtigen uns feindlichen Systems" in Rußland und betonte 243

Bezeichnend für die Verfassung des sonst so entschlossenen Vysnegradskij ist folgende Episode. Er, der noch Anfang des Jahres 1887 ohne alle Rücksicht auf die Aufnahme dieser Maßnahme in Deutschland einige russische Zölle erhöht hatte, wagte es im November 1887 nicht, den Forderungen des russischen Kriegsministers zu entsprechen, den Export von Steinen aus Rußland nach Deutschland zu verbieten, mit welchen Deutschland seine Festungen an der russischen Westgrenze verstärkte, weil das „angesichts der freundschaftlichen Beziehungen zu der Nachbarmacht" nicht zu empfehlen sei. Ein Verbot „könne in politischer Beziehung einen außerordentlich ungünstigen Eindruck machen" (CGIAL, F. 40, op. I, delo 39, BI. 109-110, Vysnegradskij an den Zaren, 27. XI./9. XII. 1887, und delo 40, Bl. 1 3 - 1 4 , Vysnegradskij an Zaren,

VA

AVPR, F.II, Dep. 1 - 5 , p. III, 1886, delo 2g, Bl. 2, Suvalov an Osten-Saken, 10./ 22.11.1888. DZA/Potsdam, AA, 2015, Bl. 114-116, Lamezan an A.A., 20. III. 1888.

8 . / 2 0 . I. 1888).

245

12

Bismarcks „Draht nach Rußland"

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

nochmals, daß, selbst wenn die zaristische Regierung jetzt geneigt sei, „ihre Zölle auf einige Warengattungen herabzusetzen", die deutsche Regierung auf dem Gebiet der landwirtschaftlichen Zölle „nicht entfernt in der Lage" sei, „Rußland hierin Zugeständnisse zu machen", und sich ebensowenig bereit fände, „den zu erwartenden weiteren Wunsch der russischen Finanzverwaltung nach Förderung des russischen Kredits bei unseren Landsleuten zu vertreten und die allmähliche, in dem Interesse unseres Kapitals dringend gebotenen Entlastung des deutschen Marktes von russischen Werten durch amtliche Stellungnahme zu stören". 246 Trotzdem verlor Vyüinegradskij nicht die Hoffnung auf eine Verständigung mit Deutschland. Im Juli 1888 — anläßlich des Besuches Wilhelms II. in Petersburg — schickte er Giers Materialien zu handelspolitischen Verhandlungen mit Deutschland. 247 Als im Herbst das Niznyj Novgoroder Jahrmarktskomitee sich an ihn mit der Bitte wandte, Gerüchte von einem angeblich bevorstehenden Abschluß eines Handelsvertrages mit Deutschland offiziell in der Presse zu dementieren, lehnte er dieses Anliegen mit der Begründung ab, ein solches Dementi könne „in politischer Beziehung einen unangenehmen Eindruck erwecken". 248 Im Sommer 1888 bemühte er sich mehrmals, die deutschen Banken und die deutsche Börse für neue russische Eisenbahn- und Staatsanleihen zu interessieren und das Vertrauen der deutschen Banken und der deutschen Regierung für die russischen Fonds wieder zu beleben. 249 Zu den Anleiheangeboten der französischen Großbanken verhielt er sich hingegen zunächst recht abwartend, weil er immer noch zu hoffen schien — obwohl weder die wieder zunehmende deutsche Pressekampagne gegen die russischen Werte noch die Forderungen der „Kreuzzeitung" nach neuen Zollerhöhungen ihm dazu Anlaß geben konnten 250 —, „mit Deutschland auf einen besseren Fuß" zu kommen. Offensichtlich vertrat er damals noch die Ansicht, daß „der Abschluß einer französisch-russischen Anleihe in Berlin Schwierigkeiten politischer und finanzieller Natur hervorrufen würde" 2S1 , daß „der Finanzkrieg gegen Rußland mit erneuter Macht in Deutschland entbrennen und deutscherseits die Abstoßung der russischen Werte mit um so größerem Eifer betrieben werden könne, wodurch der Preis des Rubels von neuem sinken würde". 252 E r 346 247

348 249

250 251 252

DZA/Potsdam, AA, 2015, Bl. 122-126, A.A. an Lamezan, 27. III. 1888. AVPR, P.II, Dep. 1—5, p.III, 1886, delo2g, Bl. 1 5 - 2 0 , Vysnegradskij an Giers, 6./18. VII. 1888. — Das Mißlingen seiner Versuche zu einer wirtschaftspolitischen Annäherung an Deutschland während dieses Besuches schien ihn dann sehr enttäuscht zu haben. (CGIAL, F. 40, op. I, delo 78, Bl. 1 - 2 , Giers an Vysnegradskij, 8./20. VIII. 1888). Ebenda, delo 40, Bl. 167-170, Vysnegradskij an Alexander III., 4./16.XI. 1888. DZA/Potsdam, AA, 2017, Bl. 86, Fürstenberg an A.A., 29. VI. 1888; ebenda, Bl. 95, Berchem an Bismarck, 14. VII. 1888; ebenda, Fürstenberg an das A.A. 6. VII. 1888; ebenda, Bl. 118—120, Lamezan an das A.A., 5. VII. 1888; ebenda, 2018, Bl. 55, Berchem an Lindau, 5. VIII. 1888. Raschdau, Unter Bismarck . . . , a. a. O., S. 63 f. DZA/Potsdam, AA, 2016, Bl. 125-126, Münster an das A.A., 9. V. 1888. Ebenda, 2017, Bl. 37—39, Alvensleben an das A.A., 23. V. 1888; Ähnliches berichtete auch Lamezan aus Petersburg, in: ebenda, 2016, Bl. 86—88, Lamezan an das A.A.,. 15. IV. 1888.

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

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zog er daher einstweilen vor, den russischen Geldmarkt für neue Anleihen zu gewinnen. 253 Man glaubte auf deutscher Seite, frohlocken zu können. Lamezan berichtete triumphierend nach Deutschland, daß dem russischen Finanzminister „die immer unbescheidener werdenden Forderungen der zentralrussischen Industrie- und Handelsgruppe . . . sehr unbequem werden..., daß dieser, soweit es von ihm abhänge, entschlossen sei, keine weiteren Konzessionen an diese Clique mehr zu machen" 2 5 4 und daß der zaristischen Regierung offenbar viel daran läge, „den wirtschaftlichen Kampf mit Deutschland, bei welchem die größten Verluste auf ihrer Seite waren, nicht mehr weiter zu treiben". 255 In der deutschen Presse konnte man lesen, „daß möglicherweise die russische Regierung sich entschließt, erhebliche Zugeständnisse auf zollpolitischem und anderen Gebieten zu machen, um die hiesige Kapitalistenwelt zum Abschluß einer Anleihe eher geneigt zu machen". 256 Doch man hatte in Deutschland zu früh frohlockt. Die größten Verluste sollten schließlich nicht auf der russischen, sondern auf der deutschen Seite liegen. Die Vertreibung der russischen Werte aus Deutschland sollte ökonomische und politische Folgen haben, die sich in erster Linie für die herrschenden Klassen Deutschlands als sehr nachteilig erwiesen. Durch das Lombardverbot fielen der Wert des russischen Rubels und der Kurs der russischen Papiere. Den direkten Kursverlust mußten die kleinen Besitzer russischer Wertpapiere tragen, die ihre Russenwerte nun in großen Mengen verkauften. Die russischen Werte strömten, trotz aller Gegenmaßnahmen der deutschen Großbanken, aus Deutschland ab. Eine außerordentlich gute Ernte in Rußland in den Jahren 1887 und 1888 und eine Mißernte im übrigen Europa brachten es mit sich, daß der russische Getreideexport rapide anstieg und sich die russische Handelsbilanz wesentlich aktivierte. 257 Dazu kam, daß „die deutsche Landwirtschaft den indirekten Nachteil aus dem Sturz des Rubelkurses tragen mußte, da der russische Markt die von ihm aufgenommenen Papiere mit . . . Kreditrubel bezahlte und diese zum Ankauf von russischem Getreide dienten. In dem Maße wie das Angebot den Preis dieser Papierrubel herabdrückte, konnte das russische Getreide zu niedrigen Preisen auf den deutschen Markt gebracht werden, und entsprechend mußte der deutsche Landwirt sein Produkt verwerten, so daß der erhöhte Zoll ihm nicht die erhoffte Besserung brachte." 2 5 8 Es gelang VySnegradskij, einen großen Teil der hochverzinslichen russischen Wertpapiere nach Rußland zurückzuziehen und sie durch neue, niedriger verzinste Anleihen zu ersetzen. 259 253 254 255 256 257

268 259

12*

Ebenda, 2016, Bl. 153—154, Lamezan an A.A., 15. V. 1888. Ebenda, Rdl, 5020, Bl. 5 3 - 5 4 , Lamezan an A.A., 15. IX. 1888. Ebenda, 5013, Bl. 15, Lamezan an A.A., 5. X. 1888. Ebenda, AA, 2018, Bl. 15, Hamburger Börsenhalle, 22. VIII. 1888. Die russische Handelsbilanz verbesserte sich von 1887: 230 Mill. Rbl. auf 1888: 403 Mill. Rbl. (Migulin, a. a. 0 . , Bd. II, S. 7.). DZA/Potsdam, RK, 5/4, Bl. 1 4 7 - 1 5 2 , Hansemann an Rottenburg, 24. VI. 1889. Vgl. S. 153. — Nach Schätzungen Ibbeckens (a. a. O., S. 114 f.) gingen damals für 1,8 Milliarden Mark russische Wertpapiere nach Rußland zurück.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

Nicht alle von Deutschland abgestoßenen russischen Wertpapiere gingen jedoch nach Rußland zurück. Ein großer Teil von ihnen strömte nach Frankreich. Rothschild, Hottinger, Credit Lyonnais und andere französische Banken organisierten ein spezielles Syndikat zum Aufkauf russischer Wertpapiere auf der Berliner Börse und begannen, einen großen Teil der russischen Papiere nach Frankreich zu ziehen. 260 Sie setzten außerdem ihre Versuche fort, von Rußland eine größere Anleihe zu übernehmen. Schließlich veränderte sich auch die Haltung der zaristischen Regierung gegenüber den Anleiheangeboten Frankreichs. Hatte man den französischen Angeboten im Frühjahr 1888 noch kaum Gehör geschenkt, weil man sich den deutschen Geld- und Getreidemarkt nicht endgültig verscherzen wollte und weil man außerdem wohl auch auf Frankreichs Bedingungen nicht eingehen mochte 261 , so fand man sich im Herbst 1888, als man einsehen mußte, daß die deutsche Regierung zu einer Kursänderung gegenüber Rußland nicht willens war, bereit, dem Drängen der französischen Bankwelt nachzugeben. 262 Im November 1888 wurde in Paris eine 4 % i g e Anleihe in Höhe von 500 Mill. Franken = 125 Mill. Rubel Metall von den Bankhäusern Credit Lyonnais, Comtoir d'escompte, Hottinger, Banque de Paris, einer englischen und einer holländischen Bank übernommen, was einen großen Erfolg bedeutete. In die gleiche Zeit fiel eine Abmachung über die Lieferung von 500 000 Lebelgewehren. 263 Dem ersten Finanzgeschäft mit Frankreich folgten mehrere andere. 264 Dazu kamen andere Ereignisse, die die wirtschaftliche Annäherung Frankreichs und Rußlands dokumentierten. So nahm Rußland an der Weltwirtschaftsausstellung in Paris teil. Ende 1889 eröffnete die Russische Bank f ü r Auswärtigen Handel eine Filiale in Paris. Im gleichen Jahre wurden die französischen Einfuhrzölle f ü r russisches Vieh bedeutend gesenkt. 265 Der deutschen Finanzwelt kam diese Entwicklung der Beziehungen zu Rußland sehr ungelegen. 260 261

262

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Migulin, a. a. 0., Bd. II, S. 35. Offensichtlich hatte die französische Bankiersdelegation, die im Frühjahr 1888 in Petersburg weilte und Rußland eine größere Anleihe anbot, gefordert, daß Rußland für dieses Geld seine Bewaffnung verbessern müsse, strategische Eisenbahnen bauen und die Hauptlinien zweigleisig machen sollte. (A. V. Bogdanovic, Tri poslednich samoderzca. Dnevnik A. V. Bogdanovica, Petrograd 1924, S. 74). Was sicherlich auch dazu beitragen sollte, sich auch den deutschen Geldmarkt wieder gefügiger zu machen, wie Lamezan vermutete. (DZA/Potsdam, AA, 2020, Bl. 24—31, Lamezan an A.A., 18. I. 1889). Vgl. hierzu DD, S. I, Vol. VII, doc. 267, sowie DZA/Potsdam, AA, 2019, Bl. 2 6 - 2 9 , Fürstenberg an Berchem, 9. XI. 1888; Bl. 22, Lamezan an A.A., 26. X. 1888; Bl. 36—37, Anlage (Abschrift eines Artikels aus der Petersburger Börsenzeitung vom 11./23, XI. 1888) zu einem Schreiben Lamezans an A.A., 13. XI. 1888; Rdl, 5013, Bl. 30, Münster an A.A., 16. XI. 1888; ebenda, RK, 5/4, Bl. 1 4 8 - 1 5 1 , Hansemann an Rottenburg, 24. VI. 1889. Ausführlich vgl. Migulin, a. a. O., Bd. II, Kap. II. Manfred, Vnesnjaja politika . . . , a. a. O., S. 461 ff.

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

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Auseinandersetzungen in Deutschland um das Lombardverbot

Die Pressefehde gegen die russischen Werte und das Lombardierungsverbot Bismarcks hatten der deutschen Bank- und Börsenwelt, welche sich auf die bevorstehenden großen Konvertierungsanleihen Rußlands bereits vorbereitete 266 , im wahrsten Sinne des Wortes einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ihre Vertreter warfen der deutschen Regierung voller .Erbitterung vor, „das deutsche Kapital . . . zu Gunsten einiger deutscher Großgrundbesitzer" geschädigt zu haben. 267 Da die deutschen Großbanken nicht bereit waren, auf das russische Geschäft zu verzichten und ihren Platz an französische Banken abzutreten, lombardierten sie die russischen Wertpapiere weiter, um die deutschen Besitzer russischer Papiere zu beruhigen. 268 Einen großen Teil der russischen Wertpapiere kauften sie selbst auf, horteten sie in ihren Tresors und mußten sie dann oft mit Verlust abstoßen. Sie kauften außerdem im Auftrage und mit den Mitteln des zaristischen Finanzministeriums Kreditrubel auf, um den Rubelkurs hochzuhalten. 269 Den Bemühungen der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, sie für andere wichtige „Handelsplätze der Erde", f ü r China, Südamerika oder f ü r Italien, zu interessieren, kamen diejenigen der deutschen Banken, die besonders am russischen Geschäft interessiert waren, nicht nach. 270 Vielmehr wandten sie sich immer wieder ans Auswärtige Amt und an die Reichskanzlei, um zu erfahren, ob man dort nicht gewillt sei, ihnen neue Finanzgeschäfte mit Rußland wieder zu erleichtern. Klagebriefe gingen an ihre russischen Geschäftsfreunde, worin sie jammerten, daß „die Stimmung f ü r russische Finanzen . . . in den leitenden staatlichen Kreisen nach wie vor sehr unfreundlich" bliebe 271 , „daß sich der Besitz an russischen Fonds hier nennenswert verringert" habe und daß ein „rapider Dekorationswechsel" eingetreten sei. „Von den Effekten, welche auch andere Märkte haben, ist sehr viel fortgegangen, und so ist es durchaus nicht unerreichbar, daß man hier konstatiert, daß nunmehr die spezielle Belastung Deutschlands mit russischen Fonds einer gleichmäßigen Verteilung Platz gemacht hat und daß hierdurch das Interesse nicht mehr so speziell wie früher ist, sondern den ausländischen Börsen nicht gar zu ungleichmäßig mitangehört." 272 Das ganze Bestreben der genannten Bankkreise ging dahin, die Abhängigkeit Rußlands von der Berliner Börse zu erhalten und Rußland von einer finanzpolitischen Annäherung an Frankreich abzuhalten. Als sie im Herbst 1888 erfuhren, daß die Bemühungen Pariser Banken um eine große russische Anleihe erfolgversprechend verliefen, fuhren Schwabach und Fürstenberg nach Petersburg, um im Auftrage ihrer Banken und im Auftrage Mendelssohns den alleinigen Abschluß des Ge266 267 268

269 270 271 272

H. Münch, Adolf v. Hansemann, München-Berlin 1932, S. 199 ff., S. 456 ff., S. 460 ff. DZA/Potsdam, AA, 2012, Bl. 106, Berliner Börsenkurier, 27. IX. 1887. AVPR, F.II, Dep. 1 - 5 , p. III, 1887, delo l/Y, Bl. 24, Generalkonsul von Danzig an Osten-Saken, 30. X . / l l . XI. 1887. Vgl. DZA/Potsdam, AA, 2018, Bl. 3 9 - 4 0 , Lamezan an AA., 23. VIII. 1888. Raschdau, Unter Bismarck . . . , a. a. 0., S. 18. CGIAL, F. 626, op. I, delo 245, Bl. 13, Fürstenberg an Rotstejn, März 1888. Ebenda, Bl. 11—12, Fürstenberg an Rotstejn, 8. II. 1888.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

schäfts mit Frankreich zu verhindern. 273 Dabei gaben sie sich noch der Illusion hin, sie und nicht die französischen Banken direkt könnten bei Vyänegradskij „für die russische Regierung eine Anleihe mit den Rothschildschen Häusern vermitteln". 274 Doch Vyänegradskij konnte auf ihre Vermittlung jetzt verzichten. E r überließ französischen Banken im November 1888 die große Anleihe, gewährte den deutsche Banken eine kleine Unterbeteiligung und lehnte im übrigen höflich aber bestimmt ab, den deutschen Banken zuliebe noch eine weitere Anleihe aufzunehmen. Der Zeitpunkt sei ungünstig und sein „gegenwärtiger Geldbedarf" beschränke sich auf geringe Beträge..., „welche er mit Leichtigkeit im Innern aufbringen" könne. 275 Die deutschen Banken gaben jedoch ihre Bemühungen um das Geschäft mit Rußland nicht auf, und im März 1889 gelang Bleichröder und Hansemann der Abschluß einer größeren Konvertierungsanleihe mit Rußland, welche in Berlin guten Erfolg hatte. 276 Diese kleinen erfolgreichen Bemühungen der deutschen Banken um die Bewahrung ihrer Position in Rußland trafen offensichtlich mit gewissen Veränderungen in der Haltung Bismarcks zum Finanzgeschäft mit Rußland zusammen. Bismarck war bis zum Sommer 1888 seinem Prinzip, Rußland durch ökonomische Gewaltmaßnahmen zu Zugeständnissen zu bringen, treu geblieben. E r war zunächst sogar bereit gewesen, den Druck auf Rußland weiter zu verstärken. Noch im Mai 1888 wollte er Österreich-Ungarn dazu bewegen, gemeinsam mit Deutschland einen Zollzuschlag auf russisches Getreide zu erheben. 277 Außerdem hatte er sich mit dem Gedanken getragen, die Bedingungen für die Einführung russischer Wertpapiere an der Berliner Börse weiter zu erschweren. 278 Seit Juli 1888 jedoch zeigten sich erste Veränderungen in Bismarcks Haltung. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß Bismarck die außenpolitischen Konsequenzen verstärkter Zwangsmaßnahmen gegen Rußland schon damals befürchtete und daß seine Haltung außerdem mit dem Regierungsantritt Wilhelms II. und dessen Reise nach Petersburg zusammenhing. Mag sein, daß auch die damalige 273

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277 278

DZA/Potsdam, AA, 2019, Bl. 13, Notiz vom Okt. 1888; ebenda, Bl. 17—18, Pourtales an A.A., 19. X. 1888; ebenda, Bl. 32, Lamezan an A.A., 14. XI. 1888; CGIAL, F. 626, op.I, delo 245, Bl. 19. DZA/Potsdam, RK, 5/4, Bl. 7 6 - 7 7 , Bleichröder an Rottenburg, 4 . X . 1888. Ebenda, Bl. 8 0 - 8 2 , Beilage zum Brief Bleichröders an Bismarck, 8. XI. 1888. Es handelte sich dabei um die I. Serie der 4 % Russ. Konversionsanleihe in Höhe von 69 Mill. Pf. Sterling, an welcher Bleichröder und die Discontogesellschaft mit 3 3 , 3 % beteiligt worden waren (33,3% übernahmen die Pariser und Frankfurter Rothschilds und 3 3 , 3 % die Petersburger Internationale Handelsbank und die Petersburger Discontobank. (CGIAL, F. 583, op. 19, delo 58, Vertrag zwischen Banksyndikat und Finanzministerium vom 22. II./6. III. 1889); — Vgl. auch Lamzdorf, a.a.O., Bd. I, S. 188. Krausnick, a. a. 0., S. 201 ff. DZA/Potsdam, AA, 2016, Bl. 40, Marginal Bismarcks zu Kayser an A.A., 3. V. 1888.

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

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Verhandlungsbereitschaft Vyänegradskijs eine Rolle spielte oder daß auch das energische Drängen der deutschen Großbanken nach Veränderungen in der Haltung der deutschen Regierung zu ihrem Rußlandgeschäft auf Bismarck nicht ohne Einfluß blieb. Jedenfalls wollte Bismarck von einer Verschärfung des finanzpolitischen Druckes auf Rußland jetzt nichts mehr hören. Er ließ aus Friedrichsruh mitteilen, den deutschen Banken könne der Abschluß von Finanzgeschäften mit Rußland nicht verboten werden und es sei nicht mehr zu empfehlen, daß die nichtoffiziöse deutsche Presse gegen die Geschäfte der zaristischen Regierung aufträte. 279 Im Oktober 1888 erklärte er sich Bleichröder gegenüber damit einverstanden, daß die „deutschen Bankhäuser bei der russischen Anleihe" über Paris behilflich seien, „und daß es ihm erwünscht" sei, „wenn deutscherseits Rußland Gefälligkeiten erwiesen" würden — vorausgesetzt allerdings, daß nicht wieder mehr russische Papiere nach Deutschland kämen. 280 Schon damals hatten weder Waldersee noch Raschdau solche „Nachgiebigkeiten" Bismarcks Rußland gegenüber gutgeheißen 281 und daher eigenmächtig Schritte dagegen unternommen. Als dann Bleichröder im März 1889 sich wieder an einer russischen Anleihe beteiligte und Bismarck den deutschen Großbanken zu verstehen gab, daß er bereit sei, seine Haltung zur Realisierung einer russischen Konvertierungsanleihe in Deutschland zu ändern, „wenn eine solche nicht mit einer Subscription gegen bar verbunden" sei 282 , als Bleichröder im Mai 1889 eine Anleihe in Höhe von 207,4 Mill. Mark nach Deutschland bringen wollte 283 und in einer „halbamtlichen Korrespondenz plötzlich ein Artikel" erschien, „der die russischen Werte mit besonderem Vertrauen begrüßte" 284 , griffen die Gegner der Bismarckschen Rußlandpolitik sehr energisch ins Staatsgetriebe. Waldersee überredete im Einvernehmen mit Verdy den Kaiser, Bismarck zu einer rußlandfeindlichen Politik zu drängen, 285 Wilhelm II. beschwerte sich nun bei Herbert von Bismarck über Bleichröder, der „beim Kanzler aus- und einginge", und gab dem Geheimrat Lindau auf, ohne sich zuvor mit den beiden Bismarcks beraten zu haben, in der offiziösen Presse gegen die Konversionen Stellung zu nehmen. 286 E r berief sich dabei ausdrücklich auf seine „militärischen Ratgeber", welche die 279 280

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DZA/Potsdam, AA, 2017, Bl. 95, Rantzau an Berchem, 14. VII. 1888. Ebenda, RK, 5/4, Bl. 76, Bleichröder an Rottenburg, 4. X. 1888; vgl. auch ebenda, Bl. 74—75, Marginal Bismarcks zu Bleichröder an Bismarck, 2. X. 1888. Waldersee, Denkwürdigkeiten..., a.a.O., Bd. II, S. 19 ff.; Raschdau, Unter Bismarck . . . , & . a. 0., S. 63 f. DZA/Potsdam, RK, 5/4, Bl. 148-151, Hansemann an Rottenburg, 24. VI. 1889. Es handelte sich um die Konvertierung der 5 % Oblig. der Kursk-Charkov, OrelGrjassi und Kozlov-Vorones-Rostov Eisenbahngesellschaften (DZA/Potsdam, RK, 5/4, Bl. 148—151, Hansemann an Rottenburg, 24. VI. 1889). Raschdau, Unter Bismarck . . . , & . a. 0., S. 79. Waldersee an Wilhelm II., 10. VI. 1889, in: A. v. Waldersee, Aus dem Briefwechsel des Generalfeldmarschalls . . . , Bd. I, (1886-1891), Berlin-Leipzig 1928, S. 195; Verdy an Waldersee, 25. VI. 1889, in: ebenda, S. 198. Waldersee, ebenda, S. 311; derselbe, Denkwürdigkeiten..., Bd. II, S. 54f., 65; Raschdau, Unter Bismarck . . . , a. a. 0., S. 79.

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Das Ende des Rückversichcrungsvertrages

Ansicht vertraten, „es sei unzulässig, den Russen ihre Finanzoperationen noch weiter zu erleichtern und ihnen damit das Geld zum Kriege gegen uns zu schaffen". 287 In einem Schreiben des Zivilkabinetts wurde der Kanzler auf Befehl des Kaisers „dringend ersucht, das russische Geschäft unter allen Umständen zu verhindern".288 Außerdem ließ Staatssekretär von Boetticher Bismarck mitteilen, daß der Kaiser „durchaus die Teilnahme der hiesigen Börse an der Konvertierung Russischer Eisenbahn-Prioritäten verhindert zu sehen" wünsche und Bismarck ersuchen lasse, „in geeignet erscheinender Weise darauf hinzuwirken, daß besagte Konvertierung am hiesigen Platze weder zu Stande komme, noch Unterstützung finde".289 Bismarck wehrte sich entschlossen. Er griff Waldersee in den „Hamburger Nachrichten" an und warf ihm vor, er ginge über seine Aufgaben hinaus, störe die Politik und hetze zum Kriege.290 Ferner wandte er sich an Wilhelm II. und erklärte diesem, er vermöge eine Einwirkung auf Bleichröders „Geschäfte nicht zu üben, weil" dieser „für Dienste, die ihm Geld kosten, stets Gegendienste erwarten würde", die er (Bismarck) nicht leisten könne. „Für die militärische Leistungsfähigkeit Rußlands" hielt Bismarck „die Sache nicht von Bedeutung".291 Eine Einwirkung auf den Börsenvorstand, die Wilhelm II. verlangte und auch Bötticher und Rottenburg befürworteten, lehnte er ab und empfahl, die Entscheidung der Frage dem Börsenvorstand selbst zu überlassen.292 In einem vertraulichen Brief an Bötticher begründete Bismarck seine Haltung ausführlich. Er halte das „Bekanntwerden einer außerordentlichen Einwirkung zum Nachteil der russischen Konvertierung politisch für schädlich". Es sei „ganz unvermeidlich, daß eine antirussische Haltung der Reichspolitik in dieser Frage mit der Gesamtrichtung" der deutschen „Politik im Widerspruch stehen und sie schädigen würde. Das Ziel dieser Gesamtpolitik" sei „vorläufig die Erhaltung des Friedens . . . Aus diesem einstweiligen Friedensbedürfnis" ginge „die Notwendigkeit hervor, . . . unsere Beziehungen zu Rußland zu schonen und zu pflegen . . . Jede Änderung in" der deutschen „politischen Haltung, welche das vorstehend angedeutete Ziel" schädige, „würde einen Schachzug gegen" Deutschlands „eigene bisher verfolgte Politik bilden und sich durch eine im Vergleich zur großen Politik untergeordnete Frage wie die der jetzigen russischen Konvertierung nicht rechtfertigen lassen". Selbst wenn dadurch wieder weniger russische Wertpapiere aus Deutschland abzögen oder sogar neue russische Papiere nach Deutschland kämen, würde er „angesichts der sehr gewichtigen Fragen der europäischen Politik, welche 287 288 289 290 291

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Waldersee, Denkwürdigkeiten . . ., Bd. II, S. 56. Raschdau, Unter Bismarck . . . , a. a. 0., S. 79. DZA/Potsdam, RK, 5/4, Bl. 1 3 3 - 1 3 5 , Bötticher an Bismarck, 24. VI. 1889. Waldersee, Denkwürdigkeiten . . ., Bd. II, S. 57, 60, 66. DZA/Potsdam, RK, 5/4, Bl. 1 1 4 - 1 1 6 , Bismarck an Wilhelm II., 15. VI. 1889, sowie G.V.Eppstein, Fürst Bismarcks Entlassung, Berlin 1920, S. 95. DZA/Potsdam, ebenda, Bl. 117—118, Marginal Bismarcks zu Magdeburg an Rantzau, 16. VI. 1889; ebenda, Bl. 119, Rottenburg an Bismarck, 17. VI. 1889; Fürstenberg, a. a. 0., S. 2 4 6 f . ; Eppstein, a. a. 0., S. 99ff. (Dokumente 3 - 1 2 ) .

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

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einstweilen die Schonung der russischen Stimmung erfordern, und angesichts der vorzeitigen Ermutigung aller inneren und äußeren Reichsfeinde, welche augenblicklich in der Kriegsgefahr und in Verstimmungen zwischen Deutschland und Rußland ihr Interesse sehen und dieser Tendenz seit 14 Tagen in ihren Blättern Ausdruck geben, Sr. Majestät dringend abraten müssen, in diese Sache einzugreifen . . . " Solange er „nicht durch eine schriftliche Ordre Sr. Majestät in die Notwendigkeit versetzt werde, einen dahingehenden Allerhöchsten Befehl auszuführen", könne er seine „Zustimmung zu einer in" seinem „Namen geübten Einwirkung auf den Börsenvorstand nicht geben". Einstweilen und solange er „dazu berechtigt" sei, „untersage" er „jede amtliche Einwirkung auf die Sache". Er bat Bötticher, „Herrn von Lucanus in diesem Sinne mündlich und vertraulich zu verständigen und dabei durchblicken zu lassen, daß Allerhöchste Befehle politischer Natur und von so bedeutender Tragweite, wie sie in einer offenen Parteinahme gegen Rußland bei der heutigen europäischen Situation liegen würde, eine vorgängige Erörterung der Frage zwischen Sr. Majestät und dem verantwortlichen Minister, namentlich dem des Auswärtigen, erfordern". Wenn er „als Reichskanzler in einer Sache von dieser Tragweite vor die Alternative gestellt werden" solle, ob er „einen Allerhöchsten Befehl auszuführen oder auf" sein „Amt verzichten" wolle, so müsse ihm „die kaiserliche Willensmeinung in einer Form bekannt gegeben werden, welche geeignet" sei, ihm „zur Rechtfertigung" seiner „Entschließung vor der Öffentlichkeit dienen zu können". 293 Es waren somit also sowohl innenpolitische als auch außenpolitische Gesichtspunkte, die Bismarck zu dieser Haltung im Jahre 1889 veranlaßten, und er war nicht zu bewegen, von seiner Haltung abzugehen. Er fügte sich zwar der Anordnung des Kaisers, den Kampf gegen die russischen Anleihen in der Presse wieder zu verstärken. Doch er verbot „jede Einwirkung auf die Börse auf das entschiedenste". 294 So wurde die Konversion gegen den Willen der Gegner der Bismarckschen Rußlandpolitik — Wilhelms II., Waldersees, Verdys, Raschdaus, Berchems, Holsteins u. a. 2 9 5 — im Juli an der Berliner Börse zugelassen und be293

Bismarck an Boetticher, 26. VI. 1889, in: Fürst Bismarcks Entlassung. Nach den Aufzeichnungen K. H. von Boetticher und F. Joh. von Rottenburg. Hrsg. G. Frhr. v. Eppstein, Berlin 1920, S. 112 ff. — Vgl. zu der Auseinandersetzung zwischen Wilhelm II. und Bismarck auch: Waldersee, Denkwürdigkeiten . . . , Bd. II, S. 57 f., 85, 97; Kardorff, a . a . O . , S. 137 f.; H.Heffter, Die Kreuzzeitungspartei und Bismarcks Kartellpolitik, Leipzig 1927, S. 170ff.; Krausnick, a. a. 0 . , S. 236 f. u. a.

294

DZA/Merseburg, Rep. 92, v. Scholz, C, Nr. 1, Meinecke an Scholz, 8. VII. 1889. Vgl. hierzu den Briefwechsel Waldersees (Bd. I, S. 300 ff., 313 f.) mit Berchem, Holstein, Verdy. Interessant sind die Briefe Holsteins an Waldersee vom Juli 1889. Holstein empfahl Waldersee, den Kaiser ruhigzustimmen und ihn zu veranlassen, Berchem zu halten und keine Kanzlerkrise zu machen, denn diese würde nur Waldersee in die Schuhe geschoben. Für einen Kanzlersturz sei Wilhelms Lage noch nicht genügend stabilisiert. Man solle aber Bismarcks Stellung einengen. — Vgl. auch DZA/ Merseburg, ebenda.

295

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

rührte, wie Boetticher richtig vorausgesehen hatte, „an allerhöchster Stelle sehr unangenehm".296 Trotz all seiner Widerstände gegen die Pläne der Gegner seiner Rußlandpolitik und trotz seiner Versuche, die Beziehungen zu Rußland nicht weiter zuzuspitzen, trug aber auch Bismarcks Haltung im Jahre 1889 mit dazu bei, eine Verbesserung des deutsch-russischen Verhältnisses nicht zustande kommen zu lassen. Bismarck trennten von seinen Gegnern im herrschenden Lager in der Frage des Verhältnisses zu den russischen Wertpapieren in Deutschland letztlich nur taktische Meinungsverschiedenheiten. Nach wie vor war auch Bismarck — ebenso wie Waldersee oder Holstein — daran interessiert, daß die russischen Wertpapiere aus Deutschland herausgingen, wenn er dieses Ziel im Jahre 1889 auch mit anderen Mitteln — mit Mitteln, welche die politischen Beziehungen zu Rußland nicht sofort zuspitzen mußten — zu erreichen suchte. In der Zulassung der Konvertierung der russischen Anleihen in Deutschland — und nicht in ihrem Verbot — sah er, abgesehen von den innen- und außenpolitischen Aspekten dieser Maßnahme, eines der Mittel, um eben dieses Ziel zu erreichen. „Die Aussicht, russische Papiere loszuwerden, würde durch die Verminderung der Notierung der jüngsten russischen Anleihe in keiner Weise gefördert, sondern eher geschädigt werden", schrieb er in seinem Brief an Boetticher.297 Und Bismarck sollte recht behalten. Obwohl in den Jahren 1888—1890 von Bleichröder und der Disconto-Gesellschaft gemeinsam mit Rothschild für etwa 1,25 Milliarden Mark russische Papiere konvertiert wurden 298 , konnte er sich schon im Juli 1889 berichten lassen: „Wenn es . . . in der Absicht der leitenden Kreise gelegen hat, Deutschland von russischen Werten möglichst entlastet zu sehen 299 , so ist dieses Ziel in einer Weise erreicht worden, die selbst die hochgespanntesten Erwartungen übertreffen muß, denn . . . der größte Teil aller vorhandenen russischen Staatsanleihen" ist „im Laufe der letzten Jahre von Deutschland nach Frankreich und Holland ausgewandert".300 Bei den Eisenbahnobligationen sah es bald ähnlich aus. Die staatlichen russischen konsolidierten Eisenbahnobligationen, „welche früher an den deutschen Börsen im Hauptverkehr standen", gingen nach Frankreich. Auch die Amsterdamer Börse kaufte einen Teil der Wertpapiere privater russischer Eisenbahngesellschaften auf. Es blieben zwar in Deutschland solche Obligationen privater russischer Eisenbahngesellschaften in festem Besitz, „die durch ihre hohen Erträgnisse von der 296 297

298

300

DZA/Potsdam, RK, 5/4, Bl. 108, Bötticher an Rottenburg, 2. VII. 1889. Bismarck an Boetticher, 26. VI. 1889, in: Fürst Bismarcks E n t l a s s u n g . . . , a . a . O . , S. 114. — Auf Bismarcks Veranlassung wurde Berchem damit beauftragt, folgende Notiz in die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" zu bringen: „Wir machen darauf aufmerksam, daß sich für die Inhaber" der russischen „Papiere nunmehr eine Gelegenheit bietet, für dieselben Barzahlung zum Nominalbetrag zu erhalten, und wir empfehlen den deutschen Inhabern, diese günstige Gelegenheit nicht unbenützt vorübergehen zu lassen." Bismarck an Berchem, 4. VII. 1889, in: ebenda, S. 144. P.Model, Die großen Berliner Effektenbanken, Jena 1896, S. 38; Die Discontogesell299 s c h a f t . . . , a. a. 0 . , S. 56 ff. Marginal Bismarcks: „Ja"! DZA/Potsdam, RK, 5/4, Bl. 1 0 8 a - 1 0 9 , Bötticher an Rottenburg, 2. VII. 1889.

Zum Kapitalexport Deutschlands nach Rußland

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Staatsgarantie unabhängig waren, z. B. die Obligationen der Moskau-Rjazan . . . und der Rjazan-Kozlov-Eisenbahngesellschaft" 301 . Auch wurde der Abfluß der Obligationen privater russischer Eisenbahngesellschaften aus Deutschland dadurch erschwert, „daß diese Papiere im allgemeinen nur in Rußland und Deutschland, nur zum kleinen Teil auch in Holland ihren Markt" hatten und „die anderen großen Börsen und selbst die Pariser Börse" zunächst wenig geneigt waren, „russische Eisenbahnwerte aufzunehmen, weil sie ihren Markt mit russischen Werten als genügend versorgt ansahen".302 Doch gingen auch sie zum großen. Teil nach und nach in französischen Besitz über. Im Jahre 1894 befanden sich nach (allerdings wohl übertriebenen) Schätzungen Raschdaus insgesamt nur noch für 200 bis 250 Mill. Markt russischer Staats- und Eisenbahnpapiere, d. h. also etwa noch 1 0 % der Menge von 1887, in deutschem Besitz. 303 Und wenn auch der Kapitalexport Deutschlands in die russische Industrie in den sieben Jahren des Lombardverbots weiterhin anwuchs, so konnte dies doch an dem Gesamtbild wesentlich nichts ändern. Bismarck hatte auf finanzpolitischem Gebiet sein Ziel teilweise erreicht, doch auf handelspolitischem, außenpolitischem, ja in gewisser Beziehung selbst auf militärischem Gebiet war er mit seiner Ostpolitik gescheitert. Es war ihm nicht gelungen, alle von den herrschenden Klassen Deutschlands an die Regierung gestellten Aufgaben gegenüber Rußland zu lösen. Seine Kampfmittel — zollpolitische Repressalien und Lombardverbot — konnten die Fronten zwischen den herrschenden Klassen Deutschlands und Rußlands nur noch weiter verhärten, aber Rußland nicht „nötigen", auf Deutschlands „Interessen mehr Rücksicht zu nehmen".304 Das Lombardverbot sollte ebenso wie die Agrarschutzzölle den russischen Getreideimport nach Deutschland einschränken helfen. Doch trotz dieser Maßnahmen verringerte sich der russische Getreideexport nach Deutschland nicht, und die preußischen Junker verlangten wieder neue Zollerhöhungen. Das Lombardverbot sollte den deutschen Großgrundbesitzern und Großindustriellen in den Westgebieten des zaristischen Reiches ihre alten „Rechte" wiedergeben. Genau das Gegenteil trat ein. Im November 1887 wurde die sogenannte Bergwerkssteuer, von welcher die polnischen Hüttenwerke bis dahin befreit gewesen waren, auch auf diese ausgedehnt.305 Im Dezember 1888 erschien ein neuer Ukas des Zaren, welcher „Ausländern und nach ausländischen Bestimmungen gegründeten Montangesellschaften und Genossenschaften", welche nach dem 14./ 26. März 1887 entstanden waren, „von jetzt an nur auf den ihnen gesetzlich 301 302 303

304 305

Ebenda, Bl. 147—151, Hansemann an Rottenburg, 24. VI. 1889. Ebenda, Bl. 105-107, Burchard an Scholz, 26. VI. 1889. Ebenda, 418a, Bl. 323, Denkschrift Raschdaus, 23. VIII. 1894. Die Nationalzeitung (21. III. 1894) behauptete hingegen, es befänden sich noch für 1 Milliarde Mark russische Staatspapiere und Eisenbahnobligationen in deutschem Besitz. Lucius v. Ballhausen, a. a. O., Anhang, Bismarck an Lucius, 4. XII. 1887, S. 582. CGIAL, F. 1152, op. X, 1887 delo 506, Bl. 1—12, Schreiben des Domäneministers an den Staatssekretär, 7./19. XI. 1887.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

zugehörigen Ländereien in Polen Bergbau" zu treiben gestattete und ihnen verbot, diesen „auf benachbarte Grundstücke und Besitzungen" auszudehnen. 306 Das Lombardverbot sollte der deutschen industriellen Großbourgeoisie in der Periode des allmählichen Übergangs zum Imperialismus mit junkerlichen Mitteln den russischen Absatzmarkt öffnen. Doch der Zutritt zum russischen Absatzmarkt wurde statt erleichtert weiter erschwert. Rußland erhöhte auch in den Jahren nach der Einführung des Lombardverbotes noch einige Zölle. Nachdem im November 1888 das ganze Eisenbahntarifwesen vom Verkehrs- an das Finanzministerium gegangen war, wurden 1889 die Tarife der einzelnen privaten Gesellschaften entsprechend den Forderungen der zentralrussischen Industriellen verändert. 307 Zugleich wurde die neue Zolltarifreform weiter vorbereitet. Mit seinem Lombardverbot machte sich Bismarck nicht nur große Teile des deutschen Finanzkapitals zu Gegnern und hemmte letztlich nicht nur die ökonomische Eroberung Rußlands durch den entstehenden deutschen Imperialismus (wenn er die militärische auch vorbereiten half). Er stieß auch einen großen Teil der ehemals deutschfreundlichen russischen Gutsbesitzer- und Hofkreise von Deutschland ab und unterstützte ökonomisch und politisch die Emanzipationsbestrebungen der russischen Großbourgeoisie, die sich gegen den Expansionsdrang des entstehenden junkerlich-bourgeoisen deutschen Imperialismus richteten. Der russischen Großbourgeoisie war — mit Ausnahme eines Teiles der Bank- und Handelswelt — die finanzielle Abhängigkeit Rußlands von Deutschland, ihrem Hauptkonkurrenten auf dem eigenen Markt, schon lange ein Dorn im Auge gewesen. Das Lombardverbot sollte Rußland in finanzielle Schwierigkeiten bringen. Doch entgegen und in gewisser Beziehung sogar dank dem Lombardverbot verbesserte sich die finanzielle Lage des zaristischen Rußlands. Rußland senkte den Zinsfuß für einen großen Teil seiner Anleihen, ging mehr zu inneren Anleihen über, stärkte die eigenen russischen Privatbanken und verschaffte diesen gegenüber den ausländischen Banken eine selbständige Stellung. Zugleich vermehrte es die Staatseinnahmen und schuf der zaristischen Regierung einen Goldvorrat. Das Lombardverbot sollte die Abhängigkeit Rußlands von Deutschland zeigen und sie sogar noch verstärken. Statt dessen wurde Rußland durch diese Maßnahme in die Arme des finanzkräftigen Frankreichs getrieben, von der Bevormundung durch die Berliner Börse befreit und in gewissem Umfange dadurch unabhängiger, daß es nun teilweise zwischen dem Pariser und dem Berliner Geldmarkt wählen konnte. 308 Das Lombardverbot sollte Rußland die finanzielle Grundlage zur Aufrüstung gegen Deutschland und Österreich-Ungarn nehmen. Doch statt die zaristische :!0B 307 308

DZA/Potsdam, Rdl, 4855, Bl. 70, Rechenberg an A.A., 28. 1. 1889. Kizlinskij, a. a. 0 . , Bd. III, S. 71 ff. Was übrigens von den zaristischen Politikern durchaus erkannt und daher zunächst selbst von Giers begrüßt wurde (B.Nolde. L'Alliance Franco-Russe, Paris 1936, S. 549 f., sowie Lamzdorff, a. a. 0., Bd. I, S. 137, 238 f.). Als sich Giers jedoch darüber klar wurde, daß die Finanzbeziehungen zwischen Rußland und Frankreich zum französisch-russischen Bündnis führen mußten, änderte er seine Haltung, (vgl. z. B. Becker, Das französisch-russische Bündnis, a. a. 0., S. 113).

Das deutsche Engagement im Nahen Osten

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Regierung zum Verzicht oder zu einer Einschränkung der Rüstungen an der Westgrenze Rußlands zu bewegen, zwang es sie zu deren Verstärkung und zur militärischen Zusammenarbeit mit Frankreich. Bismarck „gönnte" es Frankreich, zum Finanzier Rußlands zu werden 3 0 9 — doch er untergrub damit selbst sein eigenes außenpolitisches System und trieb Rußland zum politischen und militärischen Bündnis mit Frankreich. 3 1 0 Wenn er sich auch einiger politischer Konsequenzen seines Kampfes gegen die russischen Werte seit dem Sommer 1888 allmählich klarzuwerden begann, so waren doch all seine Bemühungen, diese Konsequenzen zu verhindern, so stark von den ökonomischen Interessen der preußischen Junker und von den Forderungen der Exponenten des preußischen Militarismus bestimmt, daß ihnen der Erfolg versagt blieb. Bismarck konnte auf das Lombardverbot nicht mehr verzichten und mußte die Abwandelung der russischen Wertpapiere aus Deutschland fördern, wollte er es nicht mit den preußischen Junkern und deren Vertretern im Kriegsministerium bzw. Generaistab verderben und zu einem Bruch mit dieser Klasse kommen lassen. Die Maßnahmen gegen den russischen Kredit mußte Bismarck beibehalten — selbst wenn er sie nicht weiter zuspitzen wollte —, sofern er mit der Möglichkeit eines Krieges gegen Rußland rechnete und n u r noch ein „einstweiliges Friedensbedürfnis" Deutschlands, eine „vorläufige Erhaltung des Friedens" 3 1 1 mit Rußland einkalkulierte. Nicht Rußland, sondern Deutschland hatte eine Niederlage erlitten. Weder auf ökonomischem noch auf politischem Gebiet war es Bismarck gelungen, mit seinen Methoden dem Expansionsdrang des entstehenden deutschen Finanzkapitals und der preußischen Junker nach dem Osten den von diesen gewünschten Raum zu geben. Bismarck war am Ende seiner Politik angelangt. E r hatte sein außenpolitisches Programm selbst mit zu Fall gebracht. 3. Das deutsche Engagement im Nahen Osten Neben den ständig zunehmenden Interessengegensätzen zwischen den herrschenden Klassen Deutschlands und Rußlands auf dem rassischen und auf dem deutschen Markt wurden die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland zu Ende der Bismarckschen Regierungszeit noch durch ein anderes Moment belastet. Dieses Moment trug seinerseits wesentlich zum Bündnis Rußlands mit Frankreich und später sogar mit England bei und bildete schließlich sogar eines der wichtigsten Motive f ü r den Ausbruch des ersten Weltkrieges: Die herrschenden Klassen Deutschlands begannen sich im Nahen Osten zu engagieren. Für den Nahen Osten hatten die preußischen Junker und die deutsche Großbourgeoisie nach der Reichsgründung zunächst nur insoweit Interesse gezeigt, als 309

Hallgarten,

310

Was z. B. seinerzeit von Ibbecken (a. a. 0., S. 90 ff., 119 ff.) erkannt wurde, ohne daß es ihm gelang, die sozialökonomischen Hintergründe des Lombardverbots zu erfassen. Bismarck an Boetticher, 26. VI. 1889, in: Fürst Bismarcks Entlassung..., a.a.O., S. 113.

3tl

a. a. 0 . , Bd. I, S. 2 6 5 .

172

Das Ende des Rückversicherangsvertrages

er eine Grundlage des Bismarckschen Bündnissystems bildete. 312 Seine Bedeutung war f ü r sie ihrer sonstigen Außenpolitik untergeordnet. Den herrschenden Klassen Deutschlands bot der „kranke Mann am Bosporus" die Möglichkeit, ihre Verbündeten und ihre Gegner im Interesse des europäischen Gleichgewichts von, den Problemen Mitteleuropas auf die des Nahen Osten abzulenken und hier beide Gruppen von sich abhängig zu wissen. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschland und Rußland im Nahen Osten drehten sich daher im wesentlichen n u r um die Frage, ob Deutschland seinem Verbündeten, Rußland, dort die notwendige Hilfe gegen ihren gemeinsamen Verbündeten, Österreich-Ungarn, sowie gegen England erwiesen hatte, erwies oder zu gewähren beabsichtige. Das sollte sich jedoch mit dem allmählichen Ubergang Deutschlands zum Imperialismus und d e r Weiterentwicklung des Kapitalismus in Rußland ändern. Das vielzitierte, von politischen Erwägungen diktierte Prinzip Bismarcks, daß Deutschland an den orientalischen Dingen „kein Interesse habe, welches auch n u r die Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre" 313 , wurde von Ende der siebziger J a h r e an von deutscher Seite aus — und zwar mit Bismarcks ausdrücklicher Billigung — systematisch untergraben. Zwei wichtige Kräfte, die deutsche Großbourgeoisie und der preußische Militarismus, begannen sich im Nahen Osten selbst zu engagieren. So wurde der Nahe Osten zu einem der wichtigsten Expansionsgebiete f ü r das deutsche Finanzkapital und zum Reservoir des preußischen Militarismus. Die „zu spät gekommene" deutsche Großbourgeoisie drängte Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, nachdem sie durch Schutzzölle die notwendige K r a f t zum Kampf um den Weltmarkt gewonnen hatte, immer stärker zum „Auslandsgeschäft". Sie wollte Englands Industrie- und Bankmonopol auf dem Weltmarkt untergraben und sich eigene Absatz- und Rohstoffmärkte sowie Gebiete z u r Kapitalanlage erobern. Sie versuchte es auch mit Kolonien — doch d a war nicht mehr allzu viel zu holen. Sie wandte sich auch den USA und Südamerika zu — doch die besten Märkte beherrschte hier schon die seestärkste Handelsmacht Europas, England, gegen die trotz mancher Erfolge auch hier schwer aufzukommen war. Sie versuchte es mit Italien und Spanien — doch deren Märkte f ü r Industriewaren und Kapital waren zu klein, um den starken Profitdrang des deutschen Kapitals auch n u r annähernd befriedigen zu können. Die Unterwerfung des so verlockenden riesigen russischen Industriewarenmarktes scheiterte am wachsenden Widerstand der russischen Bourgeoisie, an der Politik der zaristischen Regierung sowie an der mangelnden Bereitschaft der preußischen J u n k e r u n d der deutschen Regierung zu handelspolitischen Kompromissen im Interesse der deutschen Großbourgeoisie. Durch die Politik der gleichen deutschen und russischen Kräfte wurde schließlich auch die Vormachtstellung der deutschen Großbanken im russischen Kapitalimport gebrochen. 312 313

Vgl. Kap. 1/2. Reichstagsrede Bismarcks vom 5. XII. 1876, in: Bismarck, Die Gesammelten Werke, Bd. 11, a.a. 0., S. 468 ff

Das deutsche Engagement im Nahen Osten

173

Der Nahe Osten, die jungen Nationalstaaten des Balkans und die Türkei, die ihrerseits das Sprungbrett nach Mesopotamien, Kleinasien, ja Indien darstellten, mithin eine eminente wirtschaftsstrategische Bedeutung hatten, boten jedoch noch relativ wenig erschlossene Absatz- und Rohstoffmärkte. Sie versprachen auch äußerst günstige Anlagemöglichkeiten für Kapital, zumal sie sich auch von Deutschland aus nicht allzu schwer erschließen ließen. Man brauchte sich dazu nur die hier ohnehin tätigen, im Nahostgeschäft erfahrenen österreichischen Großbanken und industriellen Großunternehmen zu Verbündeten machen und den Konkurrenzkampf der französischen Großbankengruppen um den Nahen Osten im deutschen Interesse ausnützen. Auch galt es die bestehenden Eisenbahnlinien unter seine Kontrolle zu bringen und die bestehenden Lücken durch neue, mit eigenem Kapital gebaute und kontrollierte Linien zu ergänzen, und schließlich ging es darum, das Vertrauen der Regierungen der jungen Balkanstaaten und der Türkei durch „Hilfe" bei der Vergrößerung ihrer Staatsschuld zu erwerben. Durch eine geschickte Politik in diesem Sinne hoffte die deutsche Großbourgeoisie, das Handels- und Finanzmonopol Englands und Frankreichs im Nahen Osten zu brechen und diesen Teil der Weltkugel zur Domäne des eigenen Einflusses zu machen. Das deutsche Finanzkapital und Österreich-Ungarn

Das Sprungbrett zum Nahen Osten war in jeder Beziehung Österreich-Ungarn. Und dessen war man sich in den am Nahen Osten interessierten Kreisen der deutschen Großbourgeoisie sehr wohl bewußt. Schon im Jahre 1878 hatten Vertreter des Zentralverbandes Deutscher Industrieller und des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller mit österreichischen Großindustriellen Verhandlungen geführt. Im Oktober 1879, kurz nach Abschluß des Zweibundes, fuhren Beutner, Bueck und Reimann im Auftrage des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller nach Wien, um sich mit den einflußreichsten österreichischen Groß-, vor allem den Montanindustriellen zu verständigen. Nicht etwa, um von ihnen Zollsenkungen auf die Erzeugnisse der deutschen Schwerindustrie zu fordern, nicht etwa, um sie zu Zugeständnissen auf dem österreichisch-ungarischen Markt zu veranlassen, sondern um mit ihnen über den „gemeinschaftlichen Schutz den industriell höher entwickelten . . . Staaten gegenüber" und vor allem über „die gegenseitige Sicherung des Marktes auf den eine Ergänzung oder einen Ausgleich erheischenden Gebieten" zu beraten und in eben diesem Sinne eine „innigere wirtschaftliche Verbindung der beiden . . . Nationen" anzustreben. Und deshalb begrüßten314 sie „die politische 314

Ich kann mich daher nicht mit der Feststellung Jerussalimskis einverstanden erklären, daß „die herrschenden Klassen . . . Preußen-Deutschlands " sich „dem Abschluß eines Bündnisvertrages widersetzten". (A. S. Jerussalimski, Die Außenpolitik und Diplomatie des deutschen Imperialismus am Ende des 19. Jh., a. a. 0., S. 176). Ganz abgesehen davon, daß die preußische Großbourgeoisie und vor allem die preußischen Junker am Bündnis mit Österreich-Ungarn interessiert sein mußten, welches ihnen

174

Das Ende des Rück Versicherungsvertrages

Annäherung zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn", deshalb konnten sie der österreichischen Großindustrie das Zugeständnis machen, „daß die speziellen Interessen beider Reiche nicht geopfert werden dürften". 3 1 5 Es war also in gewisser Beziehung ein Komplott der deutschen und der österreichischen Schutzzollanhänger innerhalb der Großbourgeoisie zur gegenseitigen Garantie hoher Zölle, zur gemeinsamen Eroberung neuer Absatzmärkte, was natürlich gegenseitige zollpolitische Zugeständnisse und vor allem heftige Auseinandersetzungen um solche nicht ausschloß. Bismarck war diese Haltung einflußreicher Vertreter der Untemehmerorganisationen der westdeutschen Schwerindustrie und des Zentralverbandes Deutscher Industrieller in einer Zeit, in welcher er um die Vereinbarung und Festigung des Zweibundes rang, recht willkommen. Die Bemühungen einflußreicher Kreise der deutschen Großbourgeoisie um engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Großbourgeoisie Österreich-Ungarns zur ökonomischen Unterwerfung des Balkans konnten Bismarcks außenpolitischen Plänen nur nützlich sein, zumal er sie in der damaligen Situation gegen jene Bestrebungen der deutschen Großbourgeoisie ausspielen konnte, die auf die wirtschaftliche Unterwerfung Österreich-Ungarns offen hinzielten. 316 Deshalb legte Bismarck in dieser Zeit auch auf Handelsvertragsverhandlungen 317 mit der Donaumonarchie großen Wert. E r erwartete damals nicht, schon Verhandlungsergebnisse erzielen zu können, welche den Vorstellungen jener Teile der deutschen Bourgeoisie entsprachen, die vor allem am österreichungarischen Markt interessiert waren. Doch konnte er durch diese Verhandlungsbereitschaft das Streben der deutschen Regierung zu einer Minderung der ökonomischen Widersprüche zwischen den herrschenden Klassen Deutschlands und Österreich-Ungarns bekunden, die ihm „durch die Gegenwart und Zukunft unserer Politik geboten" 318 schien. Bismarck zeigte damals sogar seine Bereitschaft, der

315

316 317

318

ihre Herrschaft in Deutschland garantierte, war großen Teilen der deutschen Bourgeoisie am politischen Zusammengehen mit Österreich-Ungarn zur gemeinsamen Erschließung des Nahen Ostens — trotz allen Kummers über das damit notwendig gewordene Zurückstecken ihrer zollpolitischen Forderungen dem österreichisch-ungarischen Markt gegenüber — gelegen. DZA/Potsdam, RK, 421, Bl. 127-130, Bericht von Bueck vom 19.X. 1879; ebenda, Bl. 141—151, Materialien des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller vom 14. XI. 1879. DZA/Potsdam, RK, 421, Bl. 4 3 - 4 9 , Bismarck an Bülow, 9. XII. 1877. Der Handelsvertrag zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn lief Ende 1878 ab und konnte erst nach langen Verhandlungen 1881 erneuert werden. Dieser Handelsvertrag, durch den auf beiden Seiten keine Zollsenkungen erzielt werden konnten, entsprach weder den Vorstellungen der deutschen Großbourgeoisie noch denen der imgarischen Agrarier. Der Vertrag wurde 1887 verlängert. (Gerloff, a.a.O., S. 129ff.) Bismarck an Lucius, 19.XI. 1879, in: Lucvusv.Ballhausen, a. a.O., Anhang, S. 545ff.— Wahrscheinlich spielte bei Bismarck damals auch der Gesichtspunkt eine Rolle, daß die Erhaltung der österreichischen Kornkammer für Deutschland nicht nur im Falle eines Krieges mit Rußland sehr wichtig war, sondern daß sie auch die einzige Voraussetzung dazu war, den Zollkrieg mit Rußland zu beginnen. (Schneider, a. a. 0., S. 240).

Das deutsche Engagement im Nahen Osten

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deutsch-österreichischen Freundschaft einige Interessen der preußischen Junker zu opfern, indem er Österreich-Ungarn zusicherte, Deutschland würde die Zolltarife ihm gegenüber nicht erhöhen (nicht aber etwa senken!) und die Freiheit des Transits bewahren. 319 Erst später machte er dieses Angebot von Zugeständnissen österreichischerseits abhängig. 320 Das deutsche Großkapital begnügte sich natürlich nicht mit Verhandlungen und Besprechungen mit österreichischen Großindustriellen über das gemeinsame Vorgehen anderen Ländern gegenüber, sondern es versuchte vor allem, durch Kapitalexport Einfluß auf die wichtigsten österreichisch-ungarischen Banken und Industrieunternehmen zu erlangen und sie von sich abhängig zu machen. Einmal gab ihm das die Möglichkeit, die Verbindungen der österreichisch-ungarischen Unternehmen zum Balkan für sich auszunützen und mit ihrer Hilfe von Wien aus Fäden zu spinnen, die sich von Berlin aus nur schwer knüpfen ließen. 321 Zum anderen konnte man dadurch die österreichisch-ungarischen Industrieschutzzölle umgehen und trotz aller Schönredereien über gegenseitige Zugeständnisse auf diese Weise dem deutschen Kapital den österreichisch-ungarischen Absatzmarkt erhalten. Die Direktion der Disconto-Gesellschaft und Bleichröder, welche beide zum sogenannten Rothschild-Konsortium gehörten, verschafften sich Einfluß auf die Länderbank, die Österreichische Kreditanstalt und die Ungarische Allgemeine Creditbank. 322 Auch die Berliner Handelsgesellschaft gewann Einfluß auf einen Teil dieser Banken und erlangte außerdem auch Kontrolle über die Wiener Unionsbank, die Österreich-Ungarische Bank und die niederösterreichische Escomtegesellschaft. 319

320

ail

Vgl. Poschinger, a.a.O., S. 186; Lucius v. Ballhausen, ebenda; Schneider, a.a.O., S. 238 f. Vgl. DZA/Potsdam, RSchA, 4216, Bl. 2 - 3 , Limburg-Stirum an Scholz, 9. XI. 1880; ebenda, RK, 2115, Bl. 142—146, Scholz an Bismarck, 1. V. 1882, und Bismarck an Scholz, 3. V. 1882; ebenda, RK, 422, Bl. 178—190, Briefwechsel zwischen Burchard und Bismarck vom 11. und 14. X. 1882. — Daß Bismarcks Bereitschaft zu Zugeständnissen im Jahre 1879 vor allem durch taktische Erwägungen bedingt war, wird auch dadurch bewiesen, daß er sich weder 1883 scheute, Kalnökys Anregungen zur deutschösterreichischen Zollunion abzulehnen, noch 1885 und 1887 davor zurückschreckte, die Einfuhrzölle auch auf die Agrarprodukte der Donaumonarchie zu erhöhen, zumal allerdings auch Österreich-Ungarn nach seinen Zollerhöhungen in den Jahren 1882 und 1887 zu fast prohibitiven Eisen- und Textilzöllen übergegangen war (J. von Bazant, Die Handelspolitik Österreich-Ungarns (1875-1892) . . . , Leipzig 1894, S. 65 ff., 79 ff.). Trotzdem spielten die gegenseitigen Handelsbeziehungen für beide Länder eine große Rolle. Österreich nahm 1889 mit 13,1% der deutschen Einfuhr und 1 0 , 4 % der deutschen Ausfuhr nach Großbritannien den zweiten Platz in der deutschen Handelsstatistik, Deutschland hingegen mit 5 6 , 1 % der Einfuhr und 6 2 , 2 % der Ausfuhr den ersten Platz in der österreichisch-ungarischen Statistik ein (Suter, a. a. 0., S. 4 f., 8.).

Vgl. hierzu z. B. H. C. Meyer, German Economic Relation with Southeastern Europa 1870-1914, in: The American Historical Review, Vol. LVII, Nr. 1, Okt. 1951, S. 82. 322 Vgl. hierzu J.Riesser, Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Großbanken mit Rücksicht auf die Konzentrationsbestrebungen, Jena 1905, S. 142. — Ich stütze mich 13 Bismarcks,,Draht nach Rußland''

176

Das Ende des Rückversicherungsvertrages

Mit Hilfe der von ihm abhängigen österreichisch-ungarischen Banken gelang es dem Rothschild-Konsortium seit Anfang der siebziger Jahre, die österreichischen und ungarischen Staatsanleihen sowie die meisten Eisenbahnanleihen der Donaumonarchie nach Deutschland zu ziehen. Besonders die Konversion der ungarischen Staatsschuld in den Jahren 1881—1885 brachte der Disconto-Gesellschaft sagenhafte Gewinne. Hansemann versuchte gleichzeitig auch den ungarischen Markt f ü r die deutsche Industrie zu gewinnen. 1880 wurde er zum österreichischungarischen Generalkonsul in Berlin ernannt und vermittelte in den zwanzig Jahren, die er diesen Posten bekleidete, der deutschen Industrie so manchen Auftrag. In der gleichen Zeit gewann die Berliner Handelsgesellschaft mit Hilfe der von ihr abhängigen österreichisch-ungarischen Banken, besonders der Escomptegesellschaft und der Unionsbank, Einfluß auf drei Großunternehmen der Schwerindustrie: die Prager Eisenindustriegesellschaft, die österreichische Alpine Montangesellschaft 323 und die im Februar 1888 gegründete Ungarische Waffenund Munitionsfabrik AG, welche von der ungarischen Armeeführung als einzige ungarische Rüstungsfabrik bedeutende Aufträge bekam. 324 Siemens & Halske und die AEG gründeten mehrere große elektrotechnische Unternehmen in Österreich und Ungarn. Deutsche Banken waren auch sehr stark an österreichisch-ungarischen Eisenbahngesellschaften beteiligt. 325 Dadurch kam es beispielsweise zu Verträgen mit den wichtigsten ungarischen Eisenbahngesellschaften, die den preußischen Industriellen die Möglichkeit eröffneten, ihre Waren sehr billig nach Budapest und weiter nach dem Südosten zu bringen. 326 bei der Darstellung der Tätigkeit des deutschen Finanzkapitals in Österreich-Ungarn und auf dem Balkan, soweit es nicht ausdrücklich anders belegt wird, im weiteren auf: Pürstenberg, a.a.O., S. 80, 114 ff., 156 ff.; Münch, a.a.O., S. 107 ff., 149ff., 169 ff., 196 ff.; Helfferich, a.a.O., Bd. II, S. 149 ff., Bd. III, S. 4 ff. 323 In beiden Gesellschaften saß Fürstenberg, der Leiter der Berliner Handelsgesellschaft, im Aufsichtsrat. ** AVPR, F.Kanc., 1888, delo 100, Bl. 2 7 2 - 7 7 , Basiii an Kantakuzen, 2 / l 4 . und 12/ 24. IV. 1888; Bl. 284-285, Basiii an Kantakuzen, 12/24. IV. 1888; Bl. 286, Text des Gesetzentwurfes über die Aktiengesellschaft „Ungarische Waffenfabrik"; Bl. 287, Zeitungsausschnitt über die „Ungarische Waffenfabrik"; Bl. 368—370, Basiii an Lobanov-Rostovskij; 19. VI./l. VII. 1888; Bl. 386—387, Basiii an Kantakuzen, 15./IX. 1888. — Alle Maschinen zum Bau dieser Fabrik wurden zollfrei (!) von der deutschen Gesellschaft Ludwig Löwe & Co., welche ihrerseits eng mit der Berliner Handelsgesellschaft liiert war, geliefert. In der Direktion der neugegründeten Ungarischen Waffen- und Munitionsfabrik AG saßen I. Loewe und E. Barthelems von L. Löwe & Co., Berlin sowie je ein Vertreter der Ungarischen Escompte- und Wechselbank und der Unionsbank in Wien. Die Gesellschaft ging 1890 in den völligen Besitz der Berliner Firma L. Löwe & Co. über. 336 G. Diouritch, L'Expansion des Banques Allemandes ä le' Etranger, Paris-Berlin 1909, S. 229 ff., 351 f., 405, 444 f. m AVPR, F. Kano., 1889, delo 92, Bl. 385-386, Basily an Lobanov, 28. III./9. IV. 1889..

Das deutsche Engagement im Nahen Osten

177

Ökonomische Einflußnahme auf Rumänien, Serbien und Bulgarien

Deutsche Großbanken rissen auch die Geschäfte mit Rumänien und Serbien an sich. Als Ergebnis des ersten großen rumänischen Geschäftes der Disconto-Gesellschaft und Bleichröders wurde im Jahre 1871 das rumänische Eisenbahnunternehmen des berüchtigten Gründers und Schwindlers Strousberg übernommen und in die Rumänische Eisenbahngesellschaft umgewandelt. Bis zu deren Verstaatlichung im Jahre 1881 gehörten sowohl Hansemann als auch Bleichröder dem Aufsichtsrat an. Die Gesellschaft verfügte über ein Eisenbahnnetz von fast 1000 km Länge. Es verband Bukarest mit Virciorova an der ungarisch-rumänischen Donaugrenze und mit Roman und Galatz an der russisch-rumänischen Grenze den Prath entlang. Den Bau dieser Linie übernahm die Privilegierte Österreichisch-Ungarische Staatseisenbahngesellschaft. 327 Sie dehnte ihr eigenes Netz in Südungarn bis OrSova an der rumänisch-ungarischen Donaugrenze (nahe bei Virciorova) aus und schuf damit eine direkte Verbindungslinie von der deutsch-österreichischen Grenze (Decin) über Prag, Wien, Budapest und Bukarest bis an die rumänisch-rassische Grenze. Diese Linie hatte nicht nur ökonomische Bedeutung. Sie gab auch dem gegen Rußland gerichteten Bündnis Österreich-Ungarns und Deutschlands mit Rumänien vom Jahre 1883 die notwendige militär-strategische Basis. Das rumänische Eisenbahngeschäft wurde zum Ausgangspunkt enger finanzieller Verbindungen der Disconto-Gesellschaft und Bleichröders mit der rumänischen Regierung, die dem Bündnis Österreich-Ungarns und Deutschlands mit Rumänien 328 eine feste wirtschaftliche Grundlage gaben. Fast alle rumänischen Staatsanleihen, z. B. die der Jahre 1879, 1882, 1885, fanden nun in Deutschland Aufnahme. Im Jahre 1880 wurde Rüssel, Mitglied des Direktoriums der DiscontoGesellschaft, des Aufsichtsrates der Dortmunder Union und des Direktoriums des Zentralverbandes Deutscher Industrieller, f ü r die Dauer von 25 Jahren mit der Verwaltung des rumänischen Generalkonsulats in Berlin betraut, was für die deutsche Exportindustrie von großem Nutzen werden sollte. In dem 1881 mit Rumänien geschlossenen Handelsvertrag erwarb sich Deutschland die Meistbegünstigung und verschaffte sich f ü r einige Industriewaren besondere Vergünstigungen. Der deutsche Export nach Rumänien wuchs von 1876: 15 Mill. Franken auf 1887: 90 Mill. Franken. Seit 1890 nahm Deutschland den ersten Platz im rumänischen Handel ein. 329 Ahnlich sah es mit Serbien aus. Hier machten sich die Berliner Handelsgesellschaft und die Wiener Länderbank, bis 1885 auch Bleichröder und Mendelssohn, zu 327

Diese Gesellschaft hing ihrerseits von der Wiener Länderbank, dem Pariser Comptoir d'Escompte und offensichtlich auch der Discontogesellschaft ab. (AVPR, F. Kanc., 1888, delo 100, Bl. 328-333, Basiii an Lobanov, 29. V./lO. VI. 1888).

328

Vgl. Haselmayr,

329

Gerlojf, a. a. O., S. 224, sowie J. / . Kopelova, Tamozennaja vojna i vopros o torgovom dogovore v russko-germanskich otnosenijach 1890—1894, Dissertation, Gorki 1950, S. 97 f.

18»

a. a. 0 . , Bd. II, S. 109 ff.

178

Das Ende des Rückversicherungsvertrages

Bankiers der Regierung und brachten bis 1882 fast alle serbischen Staatsanleihen an die deutsche Börse. 330 Im Oktober 1885, als der Serbisch-Bulgarische Krieg ausbrach, der der Länderbank „die schwindende Kontrolle über das westliche Bahnstück Ostrumeliens sichern" sollte, befanden sich schon über 4 0 % der ganzen serbischen Staatsschuld in deutschen Händen. 331 Gleichzeitig damit erlangte das deutsche Kapital Einfluß auf den serbischen Eisenbahnbau. Die Österreichisch-Ungarische Staatseisenbahngesellschaft verlängerte ihre Linie südöstlich von Budapest bis nach Belgrad. Deutsches Kapital, darunter diesmal auch der Deutschen Bank, führte diese Linie dann Mitte der achtziger Jahre bis nach Zaribrod an der serbisch-bulgarischen Grenze weiter und von dort über Sofia und Vacarel bis in den ostrumelischen Ort Belova, die Anfangsstation der Hirschschen Linie bis nach Konstantinopel. Damit war Wien durch eine direkte Linie mit Konstantinopel verbunden. Die serbischen Staatsanleihen sowie Finanzierung und Bau der serbischen Eisenbahnen brachten den deutschen Großbanken und der deutschen Schwerindustrie bedeutende Profite, die außerdem noch durch Handelsverträge mit der serbischen Regierung gesichert waren. Im Mai 1881 folgt der Abschluß eines österreichischserbischen Handelsvertrages, durch den die herrschenden Klassen ÖsterreichUngarns die ökonomische Abhängigkeit Serbiens f ü r die nächste Zeit besiegelten. 332 Im Januar 1883 schloß dann Deutschland einen f ü r sich sehr günstigen Handelsvertrag mit Serbien, in dem sich Serbien verpflichtete, seine niedrigen Einfuhrzölle zu binden und die Zölle f ü r Textilien und Chemikalien zu ermäßigen, während Deutschland sich das Recht vorbehielt, auf die serbischen landwirtschaftlichen Erzeugnisse seine Einfuhrzölle weiterhin zu erhöhen. 333 330 331

332

333

Vgl. z. B. Diouritch, a. a. 0., S. 440. Hallgarten, a . a . O . , Bd. I, S. 242; DZA/Potsdam RK, 2, Bl. 1 7 - 1 8 , Aufstellung Bleichröders für das AA, 15. X. 1885. Vgl. z. B. J. Ziekursch, Politische Geschichte des neuen Deutschen Kaiserreichs, Bd. 2, Das Zeitalter Bismarcks ( 1 8 7 1 - 1 8 9 0 ) , Frankfurt a. M„ 1927, S. 1 3 4 . - S e r b i e n s Export ging fast ausschließlich nach Österreich-Ungarn. — Ende des gleichen Jahres wurde ein österreichisch-serbisches Bündnis abgeschlossen (vgl. Ziekursch, a. a. O., S. 132 f.; Haselmayr, a . a . O . , Bd. II, S. 66 ff.; Pribam, a . a . O . , S. 18 ff.), das Serbien faktisch zum Vasallen Österreich-Ungarns machte. Bezeichnenderweise war Anfang Juni 1881, nach dem Abschluß des Handelsvertrages und kurz vor der Unterzeichnung des Bündnisses zwischen Österreich-Ungarn und Serbien, König Milan vom deutschen Kaiser festlich empfangen worden (Lucius v. Ballhausen, a. a. O., S. 209). DZA/Potsdam, RK, 410, Bl. 33, Scholz an Bismarck, 4 . 1 . 1 8 8 3 . — Deutschlands Export nach Serbien stieg danach in raschem Tempo an, Österreich blieb jedoch der Haupthandelspartner Serbiens: 1888 1891

Serbiens Import insg. 35,2 Mill. Frs. 42,8 „ „

Österr. 23,8 26,2

England 3,5 5,0

Deutschi. 1,5 4,3

Rußl. 1,1 0,8

CGIAL, F. 20, op. 7, delo 128, Bl. 5 0 - 6 9 Timirjasev an Törner, 30. VI./12. VII. 1892.). — Vom serbischen Export gingen 1890 8 6 % nach Österreich-Ungarn (Suter, a. a. O., S. 85). — Vgl. hierzu auch Meyer, a. a. O., S. 84.

Das deutsche Engagement im Nahen Osten

179

Der Kampf des deutschen Kapitals um Bulgarien begann erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Vorher überließ man es der österreichischen Finanzbourgeoisie, sich mit den hier starken englischen und russischen Gegenkräften auseinanderzusetzen und den Boden für einen profitbringenden und risikolosen Kapitalexport Deutschlands vorzubereiten. Es gelang dem österreichischen Kapital, sich in Bulgarien einen Absatzmarkt für seine Industrie zu schaffen und auf einen großen Teil der bulgarischen Großbourgeoisie Einfluß auszuüben. Mit Hilfe der bulgarischen Bourgeoisie und mit Unterstützung der deutschen Regierung setzte die österreichisch-ungarische Regierung gegen den Willen des zaristischen Rußlands im Jahre 1883 bei Alexander von Battenberg durch, die bulgarische Verbindungslinie zwischen den Bahnen der österreichisch-ungarischen Eisenbahngesellschaft und der Hirschschen Linie (Belova—Konstantinopel) zu bauen 3 3 4 und dadurch Wien über Serbien und Bulgarien mit Konstantinopel zu verbinden. Um die Konzession f ü r den Bau dieser Linie, deren eminente wirtschaftliche und militärische Bedeutung auf der Hand lag, entbrannten heiße und langwierige Kämpfe, die sich bis zum Ende der achtziger Jahre hinzogen. Hier zählten russische private Unternehmer und die zaristische Regierung, eine englische Bankgruppe und französisches Kapital, die Gesellschaft der Serbischen Eisenbahnen und der Baron Hirsch zu den Bewerbern. 335 Das deutsche Kapital hielt nun den Zeitpunkt f ü r gekommen, ins bulgarische Geschäft einzusteigen. An der Spitze des deutschen Kapitals stand diesmal die Deutsche Bank. Ihr war es bisher weder in Österreich-Ungarn noch in Rumänien geglückt, gegen die Konkurrenz der wesentlich stärkeren deutschen Bankgruppen (Disconto-Gesellschaft, Berliner Handelsgesellschaft und Bleichröder) aufzukommen und größere wirtschaftliche Erfolge zu erringen. Die serbischen Bahnen und die Hirschschen rumelischen Bahnen waren bereits Mitte der achtziger Jahre in die Abhängigkeit von dieser Bankgruppe geraten. Mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes gelang es ihr nun nicht nur, auf den Bau des bulgarischen Zwischengliedes Einfluß zu gewinnen, sondern Ende der achtziger Jahre auch gemeinsam mit dem Wiener Bankverein die Mehrheit der Aktien der Hirschschen Betriebsgesellschaft der Orientalischen Eisenbahnen aufzukaufen und dadurch die Linien nach Konstantinopel und Saloniki unter Kontrolle zu nehmen. 336 Siemens, der Leiter der Deutschen Bank, war seinem Ziel, „an einer einheitlichen Gestaltung des gesamten orientalischen Netzes mitarbeiten zu können" 337 ) somit einen beachtlichen Schritt nähergekommen. 334 335

336

337

Skazkin, a. a. 0., S. 254ff., 267; Corti, a. a. 0., S. 127ff.; vgl. auch Kap. Il/3. AVPR, F. Politotdel, delo 1280,1885, Bl. 1 5 3 - 1 5 5 , 1 8 2 , 1 8 4 / 1 8 5 , Kojander an Giers, April bis Juni 1885; ebenda, delo 1285, 1886, Bl. 9 2 - 9 3 , Bogdanovic an Giers, Februar 1886. Im Oktober 1889 übernahm die Deutsche Bank zusammen mit österreichischen Banken eine bulgarische Anleihe in Höhe von 30 Mill. Frs., die zum Erwerb der Linien Jamboli—Burgas, zum Ausbau der Häfen Varna und Burgas und zum Erwerb der Linie Zaribrod—Vacarel dienen sollte. (AVPR, F. Kanc., 1889, delo 92, Bl. 1 1 6 1 - 1 6 2 , Lobanov an Giers, 18./30. X. 1889; Helfferich, a . a . O . , Bd. III, S. 6). Siemens an Görz, September 1886, in: Helfferich, a. a. 0 . , Bd. III, S. 6.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

Daß die Eröffnung der direkten Verbindungslinie von Berlin nach Konstantinopel über Wien, Belgrad und Sofia der deutschen Exportindustrie dazu verhalf, „an der Seite des politischen Bundesgenossen . . . ein beträchtliches Stück neuer Absatzmärkte zu erobern" 3 3 8 — obwohl sie damals weder den englischen noch den österreichischen Export nach Bulgarien übertreffen konnte —, veranschaulicht folgende Tabelle: Export nach Bulgarien 339 1890 1893

Deutschland 3,8 Mill. Franken 13,7 „ „

Österreich 33 Mill. Franken 32,7 „

Die erfolgreiche Tätigkeit des österreichisch-ungarischen und des deutschen Finanzkapitals auf dem Balkan wurde von den diplomatischen Vertretungen des zaristischen Rußlands in den Balkanstaaten mit großer Aufmerksamkeit und wachsender Besorgnis verfolgt. 3 4 0 Besonderes Unbehagen bereitete diesen jedoch, daß sich Deutschland auch in der Türkei zu engagieren begann. 3 4 1 338 339

340

341

Frankfurter Zeitung, 23. VI. 1888. CGIAL, F. 40, op. I, delo 77, Bl. 52. — Deutschlands Export nach Bulgarien stieg von 1889 bis 1911 auf das Zwanzigfache, sein Import auf das 220fache an! (F. Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914-1918, Düsseldorf 1961, S. 462; Meyer, a . a . O . , S. 84). — In welchem Maße sich bereits damals die Reichsregierung f ü r die ökonomischen Interessen der deutschen Großbourgeoisie in Bulgarien einsetzte, zeigt folgender Vorfall: In den letzten Monaten der Bismarckschen Regierungszeit hatte Bulgarien Deutschland „in einer wirtschaftlichen Frage die Gleichberechtigung mit den Engländern . . . verweigert". Herbert Bismarck erwog nun, in Konstantinopel die Durchfahrt deutscher Kriegsschiffe durch die Dardanellen zu erwirken, um die deutschen Forderungen an der bulgarischen Küste zu unterstützen. Nur mit Rücksicht auf die internationale Lage wurde dieser Plan fallengelassen (Raschdau, Unter Bismarck . . . , a. a. 0., S. 119). Vgl. z.B. AVPR, F. Politarchiv, delo 1280, 1885, Bl. 152-156, Kojander an Giers, 5/IV. 1885; Bl. 180-185, Kojander an Giers, 15/VI. 1885; F. Politarchiv, delo 1285, 1886, Bl. 9 2 - 9 4 , Bogdanovan Giers, 28. II./12.III. 1886; F.Kanceljarija, 1888, delo 100, Bl. 2 7 2 - 7 7 , Basiii an Kantakuzen, 2/14. und 12/24. IV. 1888; Bl. 2 8 4 - 2 8 5 , Basiii an Kantakuzen, 12/24. IV. 1888; Bl. 286, Text des Gesetzentwurfes über die Aktiengesellschaft „Ungarische Waffenfabrik"; Bl. 287, Zeitungsausschnitt über die „Ungarische Waffenfabrik"; Bl. 3 2 8 - 3 3 3 , Basiii an Lobanov-Rostovskij, 29. V./10. VI. 1888; Bl. 3 6 8 - 3 7 0 , Basiii an Lobanov-Rostovskij, 19. VI./l. VII. 1888; Bl. 3 8 6 - 3 8 7 , Basiii an Kantakuzen, 15. IX. 1888; F.Kanceljarija, 1889, delo 92, Bl. 161-162, LobanovRostovskij an Giers, 18/30. X. 1889; Bl. 3 8 5 - 3 8 6 , Basiii an Kantakuzen, 28. III./ 9. IV. 1889. Bezeichnenderweise beginnen die in der GP (Bd. XIV/2) veröffentlichten Dokumente über die Beziehungen Deutschlands zur Türkei erst im Jahre 1890. Die ganze Bismarcksche Ära, in welcher der Grundstein zu den deutsch-türkischen Beziehungen nach 1890 gelegt wurde, werden herausgelassen. Dadurch versuchen die Herausgeber offensichtlich den Charakter der deutschen „Wirtschaftshilfe" zu verfälschen und die

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Deutschland und die Türkei

Das steigende Interesse der herrschenden Klassen Deutschlands an der Türkei datiert schon von Anfang der achtziger Jahre. Das deutsche Finanzkapital verschaffte sich über Bleichröder Einfluß auf die 1881 gegründete Ottomanische Staatsschuldenverwaltung342, mittels deren die ausländischen Gläubiger unter Leitung französischer Banken die Finanzen der Türkei kontrollierten und sich nutzbar machten. Ehemalige deutsche Staatsangestellte traten als „Ratgeber" und „Reformer" im türkischen Finanzministerium auf, wie auch bei der Justiz, im Ministerium für Handel und Ackerbau, im Ministerium für Bergbau und Forstwirtschaft, im Ministerium für öffentliche Arbeiten sowie in der türkischen Hauptverwaltung für Zoll-, Post- und Telegraphenwesen. Hinzu kam, daß die deutsche Heeresleitung mit Hilfe der deutschen Diplomatie Einfluß auf das türkische Militärwesen gewann.343 Im Jahre 1883 wurde General von der Goltz als Leiter des Militärbildungswesens und als Instrukteur im türkischen Generalstab an der Spitze einer deutschen Militärmission in die Türkei berufen. Während seiner zwölfjährigen Tätigkeit zusammen mit anderen preußischen Offizieren konnte er bedeutenden Einfluß auf den türkischen Generalstab, die Kavallerie, Infanterie^ Artillerie und Intendantur ausüben. Unter seiner Leitung wurde die 1877/78 von Rußland geschlagene türkische Armee reorganisiert und für einen neuen Krieg mit Rußland ausgebildet. Dabei schenkte man auch dem Eisenbahn- und Festungsbau an der Kaukasusfront sowie der Befestigung des Bosporus, der Dardanellen und Konstantinopels große Aufmerksamkeit.344 Die preußischen Offiziere in der Türkei wirkten nicht nur im Sinne des preußischen Generalstabes, sondern berücksichtigten bei der technischen Umgestaltung der türkischen Armee weitgehend auch die Exportinteressen der deutschen Rüstungsindustrie. Das lag ganz auf der Linie der ebenso wie die deutsche Botschaft in Konstantinopel erlassenen Weisungen des Auswärtigen Amtes in Berlin.345 Von der Goltz wurde überdies Mitglied der türkischen Regierungskommission, die die Lieferungsverträge mit fremden Firmen abzuschließen hatte. Die deutsche Rüstungsindustrie begann sich mit Hilfe von der Goltz' den türkiSchuld am Ausbruch des ersten Weltkrieges von der deutschen Monopolbourgeoisie auf Wilhelm II. und einige Politiker aus der Zeit nach Bismarcks Sturz zu schieben. Dieses Anliegen verfolgt übrigens auch das Buch von Holborn, a. a. 0. 342

Helfferich, a. a. 0., Bd. I I I , S. 19 f. — Bleichröder war hier Mitglied des Verwaltungsrates der Schuldverwaltung.

343

Radowitz, a.a.O., S. 212; Klein, a.a.O., S. 63; Waldersee, a. a. 0., Bd. I, S. 232; Holhorn, a. a. 0., S. 17.

344

Von der Goltz, a. a. 0., S. 111 f., 121, 140, 145, 153. Im August 1887 bekamen z.B. von der Goltz und Kiderlen, der Geschäftsträger der Botschaft, den ausdrücklichen Auftrag von Bismarck, die Bewerbungen der Duttenhoferschen Patronenfabrik um einen Auftrag bei der Türkei „lebhaft zu befürworten". (DZA/Potsdam, RK, 2, Bl. 169—174, Briefwechsel zwischen Berchem, Duttenhofer und Rottenburg vom Juli und August 1887; ebenda, 5/4, Bl. 85—88, Duttenhofer an Rottenburg, Dezember 1888).

345

Denkwürdigkeiten...,

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

sehen Absatzmarkt zu unterwerfen. Krupp übernahm die Neubewaffnung des türkischen Heeres und verschaffte sich mit von der Goltz' Hilfe Aufträge über die Lieferung von schweren Geschützen, darunter beispielsweise 1000 Feldgeschützen für die Verteidigung der Meerengen.346 Im Oktober 1886 bestellte die Türkei auf Anregung von der Goltz' bei der Germaniawerft und bei Schichau in Elbing eine große Zahl von Torpedojägern.347 Anfang 1887 konnten die Firmen Mauser und Löwe durch Vermittlung der deutschen Regierung einen Auftrag über 500 000 Gewehre und 50000 Karabiner verbuchen.348 Im Juli 1887 sicherte sich die Duttenhofersche Pulverfabrik, Rottweil-Hamburg, mit Hilfe Bismarcks (auf dessen Boden diese Fabrik stand!) einen Auftrag über die Lieferung von 150 Mill. Gewehrpatronen für die Mausergewehre.349 Der deutschen Schwerindustrie folgte das deutsche Bankkapital. Im August 1887 bewarb sich Bleichröder als Teilhaber beim Konsortium der Ottomanischen Bank um die Übernahme einer türkischen Anleihe.350 Über eine in der Türkei arbeitende deutsche Rüstungsfirma, die Mausersche Waffenfabrik, konnte vor allem die Deutsche Bank in der Türkei Fuß fassen und das türkische Geschäft mit Deutschland fast ganz an sich reißen. Mit dem wachsenden Interesse der deutschen Exportindustrie am türkischen Markt wurde der Bau von direkten Verkehrswegen zwischen Deutschland und der Türkei zur aktuellen Aufgabe. Es bestand zwar seit 1884 eine Dampfschiffahrtslinie zwischen Hamburg und Konstantinopel351, doch diese Linie konnte auf die Dauer weder den wachsenden Verkehr zwischen Deutschland und der Türkei bewältigen, noch bot sie — zumal mit internationalen Komplikationen im Mittelmeerraum immer wieder zu rechnen war — die nötige Sicherheit. Außerdem bestand seit 1888 eine direkte Eisenbahnlinie von Berlin über den Balkan nach Konstantinopel. Doch sowohl die Dampfschiffahrts- als auch die Eisenbahnlinie endeten in Konstantinopel und vermochten daher den riesigen türkischen Markt nur relativ wenig zu erschließen. Wesentlich größere Vorteile versprach daher der Bau einer Eisenbahnlinie ins Innere der Türkei. Nicht nur, daß man beim Bau der Bahn und bei der Gründung und Finanzierung der Eisenbahngesellschaft gewaltige Profite einstreichen konnte, nicht nur, daß man durch diese Bahn außer dem türkischen Markt auch die riesigen, noch wenig erschlossenen Märkte Kleinasiens und 346 347

Von der Goltz, a.a.O., S. 124f., 140. DZA/Potsdam, RK, 2, Bl. 189—194, Briefwechsel zwischen der Germaniawerft A G und der Reichskanzlei, August 1887; von der Goltz, a. a. O., S. 125.

348

Holborn, a. a. 0., S. 88.

349

DZA/Potsdam, RK, 2, Bl. 169-174, 180, Briefwechsel zwischen Berchem, Rottenburg und Duttenhofer Juli—August 1887; ebenda, 2a, Bl. 22—37, 48, Briefwechsel zwischen Bronsart v. Schellendorf und Bismarck, März 1889, zwischen Bismarck, Rottenburg und Duttenhofer und zwischen Verdy und Bismarck, Januar 1890.

350

DZA/Potsdam, RK, 2, Bl.

177, 183-184, Briefwechsel zwischen Rottenburg und

Berchem, August 1887. 351

G. L. Bondarevskij, Bagdadskaja doroga i proniknovenie germanskogo imperializma na Bliznyj Vostok (1888-1903), Taschkent 1955, S. 35.

Das deutsche Engagement im Nahen Osten

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Mesopotamiens öffnen konnte, von einmaligem Vorteil war vor allem die strategische Bedeutung einer solchen Bahn. Sie bot dem deutschen Kapital und damit der deutschen Regierung die Kontrolle über die Meerengen, daneben aber auch die Möglichkeit, die Manövrierfähigkeit der russischen Schwarzmeerflotte zu beeinflussen und die türkischen Truppen relativ schnell am Bosporus zusammenzuziehen. Zudem konnte sie den Angriff auf die russische Kaukasusfront und auf die russische Einflußsphäre in Persien erleichtern, ferner Deutschland die Kontrolle über den östlichen Mittelmeerraum und den Landweg nach Indien einräumen. Den herrschenden Klassen Deutschlands war sie also sowohl gegenüber England als auch gegen Rußland und Frankreich von hohem Nutzen. 352 Der Deutschen Bank, die sich zusammen mit dem Wiener Bankverein dieses Geschäftes annahm, wurde der Sieg über die anderen Bewerber beim türkischen Sultan und seiner Regierung dadurch erleichtert, daß der Bau einer Bahn ins Innere des Landes mit Hilfe deutschen Kapitals sowohl beim Sultan als auch bei der deutschen Regierung Unterstützung fand. Dem Sultan konnte eine Bahn von Konstantinopel bis Angora oder sogar bis Bagdad im Gegensatz zu den von England und Frankreich gebauten relativ kurzen Stichbahnen von den Hafenstädten ins Innere des Landes die Beherrschung seines riesigen Reiches und dessen Verteidigung nach außen erleichtern, ohne — wenn mit deutschem Kapital der Bau der Linie zustande kam — die finanzielle und damit politische Abhängigkeit der Türkei von ihren Hauptgläubigern, England und Frankreich, zu vergrößern. 353 Und Bismarck seinerseits versicherte Siemens, dem Leiter der Deutschen Bank, daß gegen das beabsichtigte Geschäft von Seiten der deutschen Regierung keine politischen Bedenken beständen, daß die diplomatische Vertretung Deutschlands in der Türkei die Deutsche Bank bei der Anknüpfung der Verhandlungen unterstützen werde — was auch geschah —, daß allerdings im weiteren bei politischen Komplikationen das Risiko allein bei der Deutschen Bank läge. 354 Im Oktober 1888 schloß die Deutsche Bank mit der türkischen Regierung den Vertrag über die Anatolische Eisenbahn ab. Sie erwarb für 6 Mill. Franken die bereits fertiggestellte Linie Haidar-Pascha-Ismaid (92 km) und erhielt für die Dauer von 99 Jahren die Konzession für den Bau und die Exploitation der Linie Ismaid—Eskeschehir— Angora (466 km), welche im Jahre 1892 fertiggestellt wurde. Die türkische Regierung garantierte der Gesellschaft eine ständige Einnahme (für die erste Linie 10 300 Franken pro km, f ü r die zweite 15 000 Franken), welche durch einen Zehnten aus der Landwirtschaft gedeckt wurde. 70 % aller zum Bau und Betrieb der Linie benötigten Schienen, Waggons und Lokomotiven wurden in Deutschland gekauft. Deutsche Firmen erhielten auch die Aufträge f ü r den Bau des Hafens Haidar Pascha. 355 Mit Beteiligung englischen Kapitals wurde 352 353 354 355

Vgl. hierzu Hallgarten, a. a. O., Bd. I, S. 267, sowie Klein, a. a. O., S. 64 f. Ibbecken, a. a. O., S. 191. Radowitz, a. a. 0 . , Bd. II, S. 289; Helfferich, a. a. O., Bd. III, S. 33ff. • Helfferich, a. a. 0., Bd. III, S. 37 ff.; Bondarevskij, a. a. 0 . , S. 37 ff. — Ende des Jahres 1888 übernahm die Deutsche Bank im Zusammenhang mit Bestellungen des türkischen Kriegsministeriums außerdem noch eine größere Anleihe der türkischen Regierung.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

im März 1889 die Anatolische Eisenbahngesellschaft gegründet, die den gesamten Betrieb übernahm. Ein Jahr später erwarben die Deutsche Bank und der Wiener Bankverein die Hirschsche Orientalische Eisenbahngesellschaft — neben der Österreichischen Donaudampfschiffahrtsgesellschaft das wichtigste Verkehrsunternehmen auf dem Balkan. 356 Nachdem die beiden Banken außerdem die Konzession für den Bau einer Linie von Saloniki bis Monastyr erhalten hatten, verfügten sie damit bereits Ende der achtziger Jahre über Anlage und Betrieb von 2000 km Eisenbahnen. Mit ihren Unternehmungen hatten sie die ganze Linie von Wien über Konstantinopel bis Angora unter deutsche Kontrolle gebracht. Ein großer Teil der späteren Bagdadbahn war damit fertiggestellt. Das sollte sich sehr bald auszahlen. Innerhalb von fünf Jahren (1888—1893) stieg der deutsche Export nach der Türkei um 3 5 0 % , der deutsche Import aus der Türkei um 617 %. 3 5 7 Konnten schon diese Geschäfte der deutschen Finanzwelt, soweit sie bekannt wurden, Rußland nicht angenehm sein 358 , so erregte die Reise Wilhelms II. im November 1889 nach Konstantinopel, nicht zu Unrecht als „Signal f ü r eine neue Epoche in den deutsch-türkischen Beziehungen" 359 bezeichnet, in der Weltöffentlichkeit und besonders in Rußland stärkstes Aufsehen. Große Beunruhigung zeigte sich auch während des Kaisertreffens in Berlin im Oktober 1889. 360 All das trug nicht unwesentlich dazu bei, die deutsch-russische „Freundschaft" weiter zu untergraben. Botschafter Nelidov aus Konstantinopel berichtete in großer Nervosität nach Petersburg über dieses „äußerst wichtige politische Ereignis, das . . . der allerschärfsten und sorgfältigsten Aufsicht bedürfe", zumal der Besuch Wilhelms II. von seiten Englands unterstützt würde. Der Besuch Wilhelms II. schädige den Einfluß Rußlands, ganz gleich, ob Bismarck die Türkei zum Beitritt in den Dreibund gewinnen wolle oder nicht. 361 Die Reise Wilhelms II. solle der „ganzen zukünftigen Richtung der türkischen Politik eine neue Bestimmung geben und ein für allemal jeder Gefahr von seiten Rußlands f ü r die Türkei zuvorkommen". 362 356 357

358

359 360

361

382

Hallgarten, a. a. 0., S. 244 f. E.M.Earle, Turkey, the Great Powers and the Bagdad-Railway, New York 1923, S. 36; Diourich, a. a. O., S. 398ff. Giers wurde laufend über das Vordringen des deutschen Kapitals im Nahen Osten informiert, vgl. z.B. AVPR, F. Kanceljarija, 1888, delolOO, Bl. 328-333, Basiii an Lobanov-Rostovskij, 29./V./10. VI. 1888; F. Kanceljarija, 1889, delo 92, Bl. 161-162, Lobanov-Rostovskij an Giers, 18/30. X. 1889. Helfferich, a. a. O., Bd. III, S. 10. Raschdau, Unter Bismarck..., a.a.O., S. 92, 115, 213 f.; Becker, Das französischrussische Bündnis, a. a. O., S. 69; GP, Bd. VT, Nr. 1358; Lucius v. Ballhausen, a. a. O., S. 505; Reventlov, a. a. 0., S. 301 ff.; Bogdanovic, a. a. 0., S. 103. — Holborn (a. a. 0.), der offensichtlich beweisen wollte, daß das Verhalten der deutschen Regierung zu den Anfängen des deutschen Engagements in der Türkei vor 1890 ohne politische Folgen blieb, umgeht die Problematik des Kaiserbesuches. AVPR, F. Politotdel, delo 24, Bd. II, 1888, Bl. 152-155, Nelidov an Giers, 10./ 22.X. 1889. Ebenda, Bl. 158, Nelidov an Giers, 6./18.X. 1889.

Das deutsche Engagement im Nahen Osten

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Wilhelm II. wolle beim Sultan durchsetzen, daß die bulgarische Frage gelöst und Prinz Ferdinand vom Sultan als Fürst von Bulgarien anerkannt werde. 363 Wenn sich auch nach dem Besuch herausstellte, daß an einen Beitritt der Türkei zum Dreibund damals nicht zu denken war, so blieb doch nicht nur die Sorge bestehen, Deutschland könne mit der Türkei neue Geschäfte getätigt haben (was sich «in Jahr später durch den Abschluß des deutsch-türkischen Handelsvertrages bestätigen sollte), sondern vor allem die Besorgnis, der deutsche Kaiser habe ein auffallend starkes Interesse am türkischen Heereswesen gezeigt. „In diesem Interesse für die militärischen Erfolge der Türkei in den letzten Jahren liegt . . . die Hauptbedeutung des deutschen Besuches", schrieb Nelidov nach Rußland. „Auf dem Gebiet des Heereswesens strebt der deutsche Einfluß . . . immer mehr zur grundlegenden Vergrößerung der Kampf- und besonders der Verteidigungskraft der Türkei. Man kann dabei nicht übersehen, daß die Hauptaufmerksamkeit auf die Gegenden und die Seiten gerichtet wurde, welche am ehesten einem Zusammenstoß mit Rußland ausgesetzt sein könnten. Unter diesen Bedingungen ist die Entwicklung und Festigung des deutschen Einflusses hier ein Ereignis, welches unseren Interessen direkt entgegengesetzt ist und eher unseren Gegnern von Nutzen sein kann." 364 Bismarck hatte vorausgesehen, daß die Reise Wilhelms II. in die Türkei in Rußland große Beunruhigung hervorrufen und die deutsch-russischen Beziehungen noch zusätzlich belasten mußte. Er hatte deshalb versucht, diese Reise zu verhindern, 365 was ihm jedoch nicht gelang. Bismarck hatte sich bei der Gestaltung der Beziehungen zur Türkei offensichtlich davon leiten lassen, daß die Beziehungen Deutschlands zur Türkei den Beziehungen Österreich-Ungarns und Deutschlands zu Rußland untergeordnet und diesen entsprechend angepaßt werden sollten. Insofern sich das Verhältnis zu Rußland verschlechtert hatte und die reale Gefahr bestand, Rußland könne zum Gegner werden, war es vorteilhaft, die Türkei vor der Vernichtung zu bewahren, sie zu stärken und in ihr ein Gegengewicht, im Bedarfsfalle sogar einen Verbündeten gegen Rußland zu haben. Bismarck hatte daher die Entsendung preußischer Offiziere in die Türkei gefördert, was den Einfluß Deutschlands auf die Türkei heben mußte: Es könne dem Deutschen Reich „nützlich sein, auch die Türken zu Freunden zu haben, soweit es unser Vorteil gestattet", in einem russisch-deutschen Krieg „wäre die Haltung und die Wehrhaftigkeit der Türkei für uns nicht gleichgültig", weil „unter Umständen ihre Feinde auch unsere werden" könnten. 366 Die Entsendung deutscher Offiziere an den Bosporus war für Bismarck somit nicht nur „gelegentlich ein Druckmittel gegenüber einer wider383

364 365 386

Ebenda, Bl. 184, Nelidov an Giers, 2 5 . X . / 6 . X I . 1889. - Vgl. hierzu auch Maskin, a. a. 0., S. 133 ff., sowie A. D. Novicev, Ocerki ekonomiki Turcii do mirovoj vojny, Moskau 1937, S. 94. Ebenda, Bl. 1 9 1 - 1 9 4 , Nelidov an Giers, 3 1 . X . / 1 2 . X I . 1889. Radowitz, a. a. 0., Bd. II, S. 295. Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingfürst, Bd. II, a. a. 0., S. 302.

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Das Ende des Rückversicherungsvertrages

spenstigen Nachbarschaft" 3 6 7 , sondern ein „nützlicher Faktor bei einer eventuellen Verwicklung mit Rußland". 368 Diese ständige Einrichtung war zu dem Zweck geschaffen, im Falle eines Krieges mit Rußland neben Österreich-Ungarn, Italien und Rumänien auch die Türkei zumindest wohlwollend neutral, wenn nicht sogar verbündet 3 6 9 zu wissen. Das bedeutete jedoch nicht, daß Bismarck sein Ziel, einen Krieg mit Rußland zu vermeiden, jemals aufgegeben hatte. Infolgedessen mußte er auch seine Nahostpolitik diesem Ziel unterzuordnen versuchen und bestrebt sein, eine Zuspitzung der Widersprüche zwischen Deutschland und Rußland im Nahen Osten zu verhindern. Zu einer solchen Politik boten sich Bismarck Ende der achtziger Jahre jedoch nur noch zwei Mittel. Einmal, daß die deutsche Regierung — soweit das die Interessen der herrschenden Klassen Deutschlands zuließen — alles unterließ, was im Nahen Osten das Verhältnis zu Rußland noch mehr trüben konnte. Zum anderen, daß die deutsche Regierung für die russischen Pläne zur Eroberung Konstantinopels und zur Einflußnahme auf Bulgarien nach wie vor zumindest ein gewisses Maß an Verständnis bewahrte. Ebenso wie Waldersee, Goltz, Moltke u. a. vertrat auch Bismarck die Meinung, daß die Türkei mit deutscher Hilfe gegen Rußland aufrüsten sollte. Doch im Gegensatz zu ihnen glaubte er, diese Aufrüstung könne mit Vorsicht, ohne Übereilung und ohne politische Demonstrationen (wie z. B. den Besuch Wilhelms II.) betrieben werden, um Rußland keinen neuen Grund zum Argwohn zu geben und zusätzlichen Konfliktstoff zu vermeiden. 370 Nach Bismarcks Auffassung sollte die Türkei über eine starke Armee verfügen. Doch im Gegensatz zu Waldersee und Goltz wollte er „die Türkei nicht in einem solchen Maße gerüstet sehen, daß „ein russischer Handstreich auf Konstantinopel völlig aussichtslos würde". Seiner Meinung nach würde nämlich bei einem Angriff Rußlands auf Konstantinopel England einspringen. Fühle sich Rußland jedoch zu schwach zu einem Krieg gegen die Türkei, so würde es lieber gegen ÖsterreichUngarn Krieg führen. 3 7 1 Ein Angriffskrieg Rußlands gegen Österreich-Ungarn bedeutete jedoch f ü r Deutschland Krieg gegen Rußland und gegen Frankreich. Und einen solchen Zweifrontenkrieg glaubte er, im Gegensatz zu Waldersee, noch vermeiden zu können. Diese Bismarcksche Nahostpolitik stieß aber im herrschenden Lager Deutschlands zunehmend auf Unverständnis und Widerstand. So waren die Bismarck387 369

370

371

368 Hallgarten, a. a. 0 . , Bd. I, S. 224. GP, Bd. III, Nr. 639. D . D . , S.I, Vol. VIII, Paris 1929, doc. 40, 1886. - Daß Bismarck Anfang der achtziger Jahre mit dem Gedanken spielte, außer Rumänien und Serbien auch die Türkei an die Dreibundstaaten zu binden, zeigt sein Brief an Reuß vom Aug. 1883 (GP, Bd. III, Nr. 583). Waldersee, Denkwürdigkeiten..., a.a.O., Bd. I, S. 222, 232; Bd. II, S. 51; Holborn, a. a. 0., S. 30 ff. Krausnick, a . a . O . , S. 235; Waldersee, Denkwürdigkeiten..., a . a . O . , Bd. II, S. 51, 63 f.; Holborn, a. a. 0 . , S. 67 f.

Das deutsche Engagement im Nahen Osten

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sehen Prinzipien auch auf diesem Gebiet zum Scheitern verurteilt, und zwar deswegen, weil sie den Expansionsdrang des entstehenden deutschen Finanzkapitals und die Interessen des preußisch-deutschen Militarismus im Nahen Osten nicht in der Konsequenz und Offenheit unterstützten, wie jene Kräfte das verlangten. 372 Ein Bismarck konnte die ganze politische Konsequenz des ökonomischen und militärischen Engagements Deutschlands im Nahen Osten nicht ziehen. Ein Bismarck unterschätzte im Gegensatz zu den Interessenvertretern jener Kreise innerhalb des herrschenden Lagers, die vor der politischen und militärischen Konsequenz des deutschen Engagements im Nahen Osten nicht zurückschreckten, den Grad der deutsch-russischen Widersprüche im Nahen Osten. 373 Ein Bismarck war nicht bereit, auf den Draht nach Rußland zu verzichten, was in der Nahostpolitik vor allem bedeutete, Rußland von einem Krieg um die Meerengen nicht abzuhalten. Doch Bismarck hatte seinen Nachfolgern selbst den Weg gebahnt. Trotz all seiner Bemühungen, die Beziehungen zu Rußland nicht weiter zuzuspitzen, hatte er im Nahen Osten Prozesse zugelassen und unterstützt, die objektiv das Verhältnis zu Rußland und damit sein ganzes Bündnissystem untergruben. Auch in seiner Nahostpolitik war Bismarck — ebenso wie seine Nachfolger — letztlich schon ein Werkzeug des Expansionsdranges des entstehenden deutschen Finanzkapitals und des preußisch-deutschen Militarismus gewesen. Schon unter Bismarck hatten das deutsche Finanzkapital und der preußische Militarismus an den Meerengen «ine Stellung aufzubauen begonnen, „durch die sie in taktischem Zusammenspiel mit den preußischen Agrariern den Bosporus gegen das russische Getreide zu verriegeln vermochten." 374 Schon unter Bismarck war der Grundstein dazu gelegt worden — ungeachtet dessen, daß damals im Nahen Osten noch England und Deutschland gegen Frankreich und Rußland in gewissem Maße zusammengegangen waren 3 7 5 —, daß sich Rußland, England und Frankreich, die sich alle durch das deutsche Engagement im Nahen Osten in ihren Interessen bedroht fühlten 3 7 6 , trotz aller untereinander bestehenden Widersprüche schließlich gegen Deutschland zusammenschlössen. Es war eine Grundlage f ü r eine Koalition gebildet worden, wie sie — nach Bismarcks eigenen Worten — „gefährlicher Deutschland nicht gegenübertreten" konnte. 377 Das Schicksal der Weltherrschaftspläne der herrschenden Klassen Deutschlands war damit weitgehend vorausbestimmt. 372

373

375 376

In der Begründung Berchems zur Ablehnung des Rückversicherungsvertrages hieß es bezeichnenderweise, daß sich Deutschland durch ihn vor der Türkei bloßstelle und Rußland Konstantinopel und die Meerengen übergebe (GP, Bd. VII, Nr. 1368). Noch im März 1888 erklärte Bismarck auf der Kronratssitzung, Deutschland hätte „keine eigenen Interessen auf der Balkanhalbinsel, die den russischen entgegenständen" (DZA/Potsdam, RK, 2014, Bl. 10—13, Protokoll der Kronratssitzung vom 374 28. III. 1888). Hallgarten, a. a. 0., Bd. I, S. 267. Holborn, a. a. O., S. 101 ff., 113 ff. Diese Tendenz verstärkte sich noch, als der deutsche Imperialismus auch direkt auf Persien übergriff und die englischen und russischen Interessen auch dort zu bedrohen 377 begann. GP, Bd. IV, Nr. 777.

Schlußbemerkungen

Die Entwicklung der russisch-deutschen Beziehungen im Zeitraum von 1878 bis 1891 war nicht nur durch das Kräfteverhältnis zwischen den Staaten Europas und durch die internationale Stellung Rußlands und Deutschlands bedingt, sondern bestimmt wurde es auch in starkem, ja letztlich entscheidendem Maße von den sich verändernden Interessen der herrschenden Klassen der beiden Monarchien und von dem Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Gruppierungen innerhalb des herrschenden Lagers in Rußland und in Deutschland sowie von den Beziehungen zwischen den herrschenden Klassen beider Länder. Mit dem ökonomischen Erstarken der russischen Großbourgeoisie verband sich deren Bestreben, sich den eigenen russischen Markt zu sichern, ihn vor der Konkurrenz der ökonomisch wesentlich stärkeren ausländischen Bourgeoisie zu schützen und den Kampf um fremde Absatzmärkte aufzunehmen. Diese Bestrebungen der russischen Großbourgeoisie stießen mit den Interessen des entstehenden deutschen Finanzkapitals zusammen, das auf der Jagd nach Extraprofit sich den russischen Markt unterwerfen wollte und die Märkte des Balkans und der Türkei zu erschließen begann. In Zusammenhang mit der Weltagrarkrise traten daneben seit Mitte der siebziger Jahre zwischen den russischen Gutsbesitzern und den preußischen Junkern zunehmende Widersprüche im Kampf um den deutschen Absatzmarkt für landwirtschaftliche Erzeugnisse auf. Diese Widersprüche wurden durch die Militarisierung Deutschlands und Rußlands und durch die militär-strategischen Interessen des preußischen und des zaristischen Militarismus sowohl innerhalb als auch außerhalb der beiden Länder zugespitzt. Diese Widersprüche zwischen den herrschenden Klassen der beiden Monarchien entstanden im wesentlichen in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Aber die vertragliche Bindung zwischen den beiden Monarchien, welche ungeachtet der Widersprüche weiterbestand, wurde erst im Jahre 1890 gelöst. Das war deshalb möglich, weil das russisch-deutsche Zusammengehen u. a. durch so wichtige Faktoren wie das internationale Kräfteverhältnis in Europa, die außenpolitische Stellung Rußlands und Deutschlands, aber auch die Stärke der revolutionären Bewegung in den beiden Ländern und in Europa diktiert wurde. Im übrigen setzten sich die monopolistischen Tendenzen in der Entwicklung des Kapitalismus in beiden Ländern erst allmählich durch und erreichten erst Ende der achtziger Jahre besonders in Deutschland einen solchen Grad, der das Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Gruppierungen innerhalb der herrschenden

Schlußbemerkungen

189

Klassen beider Länder — in stärkerem Maße aber in Deutschland — zugunsten der aggressivsten und expansionistischsten Kreise verschob. Erst in dieser Situation erreichten die Widersprüche zwischen den beiden Ländern in dem hier untersuchten Zeitraum allmählich ihren Höhepunkt. Die deutsch-freundlichen Kreise in Rußland, in deren Händen die Leitung der zaristischen Außenpolitik lag, konnten in bestimmten Fragen der russisch-deutschen Beziehungen (z. B. in der Zollpolitik und im Verhältnis zum deutschen Kapitalexport) oder in bestimmten Teilfragen des außenpolitischen Programms der einzelnen Gruppierungen des herrschenden Lagers relativ lange eine Politik betreiben, die den Interessen bestimmter Teile der russischen Großbourgeoisie und der russischen Gutsbesitzer widersprach. Das war möglich, weil das russischdeutsche Zusammengehen auf einer Reihe sehr verschiedenartiger Faktoren basierte und weil die ökonomischen wie politischen Kräfte der einzelnen Gruppierungen innerhalb des herrschenden Lagers, mit zum Teil widersprechenden Interessen, verschieden stark waren. Die gleichen Gründe ermöglichten es auch der deutschen Regierung unter Leitung Bismarcks, relativ lange gegenüber Rußland eine Politik zu betreiben, in der sich vor allem aus innenpolitischen Gründen eingeräumte Zugeständnisse der Großbourgeoisie an die Junker widerspiegelten. Die deutsche Diplomatie unter der Leitung von Bismarck und die zaristische Diplomatie unter der Leitung von Giers waren bemüht, die immer stärker werdenden ökonomischen und politischen Differenzen zwischen den herrschenden Klassen der beiden Monarchien, soweit dies möglich war, auszugleichen. Vor allem lag ihnen daran, zu verhindern, daß diese Widersprüche einen Grad erreichten, der zum Kriege zwischen den beiden Staaten führen mußte. Doch sie wurden beide vor allem in den achtziger Jahren durch den objektiven Gang der sozial-ökonomischen Entwicklung in ihren Ländern, der durch ein Erstarken der Großbourgeoisie charakterisiert war, immer stärker dazu gezwungen, den ökonomischen und politischen Widersprüchen zwischen den herrschenden Klassen und besonders zwischen den großkapitalistischen Kreisen ihrer Staaten Rechnung zu tragen. Sie mußten nun auch jene Interessen der herrschenden Klassen Rußlands und Deutschlands, die im Gegensatz zu den Interessen der herrschenden Klassen ihres „Verbündeten" standen, sowohl auf dem Gebiet der Handels- und Zollpolitik und des Kapitalexports als auch schließlich auf politischem Gebiet in wachsendem Maße wahrnehmen. Das geschah jedoch nicht in dem Maße, auch nicht immer mit den Methoden und oft nicht mit dem Ziel, wie sich das die immer einflußreicher werdenden aggressiven, expansionistischen Gruppierungen innerhalb der herrschenden Klassen der beiden Staaten vorstellten. Bei diesen Kreisen stießen sie schließlich auf immer größeren Widerstand. In diesem Sinne spielten auch Fragen der Außenpolitik bei der Entlassung Bismarcks eine Rolle. Bismarcks Zollpolitik gegenüber Rußland und seine Politik gegenüber den russischen Werten scheiterten, weil er sich Mittel bediente, die in erster Linie den Interessen der preußischen Junker entsprachen, aber nicht geeignet waren, dem entstehenden deutschen Monopolkapital den russischen Markt zu unterwerfen.

190

Schlußbemerkungen

Weder Bismarcks Zollpolitik noch seine Politik gegenüber den russischen Werten entsprachen den Erwartungen der einflußreichsten expansionistischen Kräfte innerhalb der herrschenden Klassen Deutschlands um 1890. Er wurde durch einen Mann abgelöst, der diesen Kräften höriger war. Überdies hatte Bismarck aber sowohl durch seine Zollpolitik und durch seinen Kampf gegen die russischen Werte als auch durch sein Verhalten, das er zum beginnenden Engagement des entstehenden deutschen Finanzkapitals und des preußischen Militarismus im Nahen Osten zeigte, seiner eigenen außenpolitischen Konzeption selbst objektiv entgegengearbeitet. Seine außenpolitische Konzeption basierte auf einer relativ realistischen Einsicht in das internationale Kräfteverhältnis und die außenpolitische Stellung Deutschlands; sie ging davon aus, daß ein Bruch zwischen Rußland und Deutschland f ü r die herrschenden Klassen beider Staaten innenpolitische Gefahren in sich barg. Obwohl Bismarck — ebenso wie Giers — die Gefahren einer russisch-deutschen Entfremdung für die herrschenden Klassen ihrer Staaten richtig erkannte, konnte er den objektiv bedingten Prozeß der russisch-deutschen Entfremdung, der sich aus den Klasseninteressen des mit seiner Hilfe entstandenen und erstarkten deutschen und des russischen Monopolkapitals wie der preußischen und russischen Großagrarier erklärte, in einzelnen Fragen zwar verzögern und aufhalten, doch nicht verhindern. Vielmehr mußte er ihm sogar selbst — so wollte es die Ironie der Geschichte — auf einigen entscheidenden Gebieten den Weg bahnen. Er stand dadurch am Ende seiner Laufbahn zum Teil vor anderen Ergebnissen, als er sie ursprünglich selbst angestrebt hatte. Bismarck hat durch seine Politik, zu der er von den preußischen Junkern und der deutschen Großbourgeoisie gedrängt wurde, nicht verhindern können, daß der überwiegende Teil der russischen Großbourgeoisie zum Gegner Deutschlands wurde. Er hat auch jene Klassenkräfte in Rußland, die für ein Zusammengehen mit Deutschland eintraten — die Mehrheit der russischen Gutsbesitzer und Teile des Petersburger Bank- und Handelskapitals —. vor allem seit Ende der achtziger Jahre durch seine Zollpolitik, sein Lombardverbot und das beginnende Engagement Deutschlands an den Meerengen schließlich dazu gebracht, einem russisch-französischen Bündnis nicht mehr zu widersprechen bzw. ein solches sogar zu suchen. Er hat die extrem monarchistischen Hof- und Regierungskreise Rußlands objektiv mit dazu veranlaßt, ihre eigenen engen Gruppeninteressen den Wünschen der nunmehr maßgebenden Gruppierungen der Gutsbesitzer und der Großbourgeoisie unterzuordnen. Bismarck hat so seine eigene Rußlandpolitik und „die dynastische Politik, das Zusammengehen der Monarchen gegen die Revolution", wie das Schweinitz am Ende seiner Tätigkeit in Petersburg selbst erkennen mußte, „definitiv zu Grabe getragen". 1 Obwohl Bismarck einmal selbst betont hatte, daß Deutschland „wegen Zollfragen keinen Krieg mit Rußland beginnen" und „die diplomatischen Gegensätze ihretwegen nicht verschärfen" könne 2 , hatten sich am Ende seiner Regierungszeit die 1 2

Schweinitz, a. a. 0., Bd. II, S. 427. Bismarck an Lucius von Ballhausen, 4. XII. 1887, in: Lucius v Ballhausen, a. a. 0., S. 582

Schlußbemerkungen

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russisch-deutschen Beziehungen wesentlich verschlechtert. Deutschland und Österreich-Ungarn verband ein Bündnis gegen das zaristische Rußland, das Dreikaiser,, bündnis" war zerfallen, und der Rückversicherungsvertrag war schon in einem solchen Grade durch die Politik der deutschen Regierung untergraben, daß es nur noch eines Caprivi bedurfte, um ihn endgültig fallenzulassen. Bismarck hatte objektiv, von den herrschenden Klassen Deutschlands dazu veranlaßt, den Prozeß der Annäherung des zaristischen Rußlands an das republikanische Frankreich in gewisser Beziehung gefördert und damit zur Selbstisolierung Deutschlands beigetragen, obwohl er gerade dies hatte verhindern wollen. Als ein Jahr nach der Entlassung Bismarcks die französische Flotte in Kronstadt empfangen wurde und Frankreich und Rußland gegen den Dreibund ein Bündnis abschlössen, war das nur der logische Abschluß einer letztlich sozialökonomisch bedingten politischen Entwicklung, die seit Jahren objektiv auf eben dieses Ergebnis hingesteuert hatte.

14 Bismarcks, .Draht nach R u ß l a n d "

Verzeichnis der Abkürzungen

AA AVPR CGIAL DD DWI DZA GP H Rdl RK ROLB RSchA ZfG

= = = = = = = = = = = = =

Auswärtiges Amt Archiv VneSnej Politiki Rossii Central'nyj Gosudarstvennyj Istoriceskij Archiv v Leningrade Documents Diplomatiques Français 1871-1917 Deutsches Wirtschaftsinstitut Deutsches Zentralarchiv Die Große Politik der Europäischen Kabinette (1871-1914) Heft Reichsamt des Innern Reichskanzlei Rukopisnyj Otdel Leninskoj Biblioteki Reichsschatzamt Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

Verzeichnis der hier gebrauchten russischen Maßeinheiten

1 Pud = 16,380496 kg 1 Werst = 1,06680 km

Verzeichnis der Quellen und der Literatur

I.

Quellen

A. Unveröffentlichte Quellen 1. DZA/Potsdam Auswärtiges Amt: Nr. 2 0 1 2 - 2 0 2 8 , 2 0 7 0 - 2 0 7 5 , 2 0 7 8 - 2 0 8 1 , 2827, 3126, 1 0 5 0 2 - 1 0 5 0 7 , 10600, 10604, 10607, 10610, H i l l , 13293. Reichskanzlei: Nr. 1, 2, 2a, 5, 5/4, 5/5, 5 7 - 5 9 , 3 6 3 - 3 6 7 , 4 1 0 - 4 2 2 , 5 7 2 - 5 7 3 , 589, 6 7 1 - 6 7 4 , 1 4 3 6 - 1 4 4 2 , 1604, 1 6 2 0 - 1 6 2 1 , 2014, 2 0 1 6 - 2 0 1 7 , 2 1 0 0 - 2 1 2 0 , 2 1 4 0 - 2 1 4 1 , 2 2 7 9 / 1 - 2 , 2301. Reichsamt d. Innern: Nr. 2 0 5 8 - 2 0 5 9 , 2941, 4 8 5 4 - 4 8 5 8 , 4 9 2 2 - 4 9 3 1 , 4 9 7 6 - 4 9 7 9 , 5 0 1 2 - 5 0 1 4 , 5 0 1 6 - 5 0 2 1 , 5037. Reichstag: Nr. 3289 Reichsschatzamt: Nr. 1634, 1 6 4 5 - 1 6 4 6 , 3182, 3 3 9 6 - 3 4 0 7 , 4 2 1 4 - 4 2 1 6 . Berliner Handelsgesellschaft: Nr. 14080, 14181, 14294, 14320, 14386, 1 5 0 3 0 - 1 5 0 3 5 . 2. DZA/Merseburg Preußisches Ministerium für Handel und Gewerbe (Rep. 120): C. XIII, 6a: Nr. 8, Bd. 15; Nr. 27, Adh. 3; Adh. 4 ; Adh. 5, Bd. 3 8 - 4 6 ; Nr. 35, Bd. 1 - 6 ; Adh. 2 (secr.), Bd. 1 - 2 ; Adh. 3 (secr.), Adh. 4, Bd. 1 - 4 ; Nr. 36. - C.Xl/l, Nr. 38, Bd. 1; Nr. 48; Nr. 59, Adh. 1 - 2 . - B. B., I, Nr. 27, Vol. 6, Nr. 32, Bd. 1. - C. B., VII, 4a; Nr. 17, Bd. 1. Preußisches Zivilkabinett (Rep. 89H) 12 f X X I I I 41 c, Vol. I Nachlaß A. v. Scholz (Rep. 92) A 1 , B 1 - 3 , B 11, C 1. Preußisches Landwirtschaftsministerium (Rep. 87/3) Bd. III, Adh. I, 6972—6975; Adh. II, 6976; Adh. IV, 6 8 3 5 - 6 8 3 7 , 7 1 7 8 - 7 1 7 9 . Preußisches Staatsministerium (Rep 90a) Bd. III, 2 b . 6, Bd. 91—102. 3. Archiv des Deutschen Wirtschaftsinstitutes (DWI), Berlin Zulassungsstelle an der Berliner Börse: St. Petersburger Internationale Handelsbank; Russische Bank für Auswärtigen Handel. 4. Archiv Vesnej Politiki Rossii (AVPR) F.II, 14*

Departement: Dep. 1 - 1 , p. II, 1879, delo 28; Dep. 1 - 1 , p. I, 1885, d e l o l l ; Dep. 1 - 5 , p. III, 1885, delo 1/6, Dep. 1 - 5 , p. III, 1886, delo 1/5, 2 a - l ; Dep. 1 - 5 ,

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Verzeichnis der Quellen und Literatur

p . I I I , 1887, délo 1 / 4 - 2 / 4 ; 1888, délo 1 / 4 - 2 / 4 ; 1889, délo 1 / 4 - 2 / 4 ; 1890, délo 1/ 4 - 2 / 4 ; 1891, délo 1 / 6 - 2 / 4 ; 1892, 1 / 5 - 2 / 6 ; 1888, Nr. 13. F. Kanceljarija: 1888, délo 15; 1889, délo 16; 1890, délo 16; 1891, délo 16; 1892, délo 16; 1888, délo 1 0 0 - 1 0 1 ; 1889, délo 92; 1890, délo 100; 1891, délo 96; 1892, délo 90. F.Berlinskoe Posol'stvo: Op. 509a, délo3723, 3735, 3777, 3912, 3918, 3954, 3969, 3988, 3997, 4004, 4025. F. Politarchiv: délo 24 ( B a n d l - 2 ) , 25, 28, 1128, 1129, 1131, 1 5 3 5 - 1 5 4 2 , 1544, 1545, 1280-1288. 5. Central'nyj Gosudarstvennyj Istoriceskij Archiv v Leningrade (CGIAL) F.20,

Departement Torgovli i Manufaktury Ministerstva Finansov: Op. 3, délo 2261; Op. 5, délo 48, 429, 577, 7 1 6 - 7 1 9 , 726, 730; Op. 6, délo 2 7 ; Op. 7, délo 13, 18, 38, 128, 167; Op. 10, délo 337, 351, 381. F. 22, Central'noe Ucrezdenie Ministerstva Finansov po Casti Torgovli i Promyslennosti: délo 527. F. 40, Doklady Ministra Finansov Carju: Op. I, délo 38—43, 48, 77—84, 88. F. 268, Departement íelezno-doroznych Del Ministerstva Finansov: Op. 1, délo 267, 1652; Op. 2, délo 252; Op. 3, 42, 117, 206, 306, 354, 441, 1325, 1360, 1376, 1389, 1399, 1421, 1423, 1433, 1434, 1442, 1448, 1456, 1461, 1464, 1 4 8 2 - 1 4 8 4 , 1647, 1648, 1654; Op. 4, délo 3, 11, 1156, 1321, 1442. F. 381, Kanceljarija Ministerstva Zemledelija: Op. 50, délo 50. F. 560, Obscaja Kanceljarija Ministerstva Finansov: Op. 21, délo 517, 518; Op. 22, délo 171. F. 563, Komitet Finarisov: Op. 2, délo 140, 216, 222, 223, 225, 228, 243, 255, 274, 275. F. 583, Osobennaja Kanceljarija po Kreditnoj Casti Ministerstva Finansov: Op. 19, délo 57-60. F. 598, St. Petersburgskij Ycetno-Ssudnij Bank: Op. 2, d e l o 3 4 - 4 4 , 4 5 8 , 4 6 3 , 4 6 5 , 4 6 7 , 5 4 6 . Op. 1, délo 34—38, 131, F. 626, St. Petersburgskij Mezdunarodnij Kommerceskij Bank: 136, 140, 142, 143, 146, 147, 152, 154, 156, 158, 159, 160, 164, 165, 168, 171, 179, 232, 239, 245, 272, 366, 475, 478, 481, 483, 484, 488, 495, 498, 500, 503, 511, 515, 520, 521, 526, 528, 530, 535, 539, 540, 544. F. 1016, Graf P. N. von der Pohlen: Op. 1, délo 280, 467. F. 1044, Saburov: Op. 1, délo 1 7 9 - 1 8 1 , 187, 189, 200, 2 0 3 - 2 0 5 , 207, 242, 249, 251, 260, 270, 287, 400. F. 1148, Obscie Sobranija Gosudarstvennogo Soveta: Op. 9, délo 1. F. 1149, Departament Zakonov Gosudarstvennogo Soveta: 1891, délo 30. F. 1152, Departament Ekonomiki Gosudarstvennogo Soveta: Op. 10, délo 38, 148, 170, 213, 215, 218, 229, 506, 566; Op. 11, délo27, 30, 225. F. 1159, Memorii Obscego Sobranija Departament.ov Gosudarstvennogo Soveta: Op. 1, délo 3 6 7 - 3 7 0 . F. 1263, Komitet Ministrov: Op. 1, délo 4585, 4590, 4603, 4608. 6. Rukopisnyj Otdel Leninskoj Biblioteki (ROLB) F.120, Katkov: p. 1, Nr. 6 9 - 7 0 ; p. 2, Nr. 2 4 - 2 5 ; p. 3, Nr. 4 3 - 4 5 , 56; p. 9, Nr. 45, 47—48, 51, 53, 56; p. 10, Nr. 12, 21; p. 11, Nr. 8, 1 5 - 1 7 ; p. 12, Nr. 2 3 - 2 8 ; p. 13, Nr. 2—3, 4 2 - 4 7 ; p. 1 9 - 2 4 ; p. 39; p. 40, Nr. 7, 9; p. 41, Nr. 3; p. 42; p. 44, Nr. 7 -

Verzeichnis der Quellen und Literatur

195

20; p. 4 5 - 4 8 ; p. 49, Nr. 4, 8, 23, 48, 48a, 61, 63, 68; p. 52, Nr. 5 - 2 7 ; p. 53, Nr. 26; p. 55, Nr. 1, 8, 25, 27; p. 56, Nr. 7, 8; p. 57, Nr. 2; p. 59, Nr. 16, 31, 32. F. 126, Kireev: p. 10, 11, 3606, Nr. 2. F. 169, Mil jutin : p. 2, Nr. 4; p. 4, Nr. 4 - 1 0 ; p. 51, Nr. 75, 97-100; p. 52, Nr. 81; p. 54, Nr. 3, 5, 20, 82; p. 56, Nr. 1; p. 61, Nr. 3; p. 62, Nr. 1 - 5 , 59, 60; p. 64, Nr. 3; p. 67, Nr. 1 - 5 ; p. 74, Nr. 21; p. 76, Nr. 74; p. 77, Nr. 3, 53, 63. F. 230, Pobedonoscev: p. 4394, Nr. 11 ; p. 4395, Nr. 13/20; p. 4396, Nr. 11, 40, 44, 46; p. 4397, Nr. 12, 13, 19, 29; p. 4398, Nr. 11.

B. Veröffentlichte Quellen

1. Aktenpublikationen „Krasnyj Archiv", Russko-germanskie otnosenija (1873—1914), Sekretnye Dokumenty, Bd. I, Moskau 1922, S. 3 ff. 4. Pis'ma Vil'gel'ma Prusskogo k Aleksandru III., Bd. II, Moskau 1922, S. I I S ff. A. A. Polovcov, Dnevnik . . . , Bd. III, Moskau 1922, S. 75 ff., Bd. IV, Moskau 1923, S. 63 ff. Pis'ma K. P. Pobedonosceva k Aleksandru III. (1881), Bd. IV, Moskau 1923, S. 317 ff. Otkliki Moskovskich promyslennikov na antievrejskie besporjadki 1881, Bd. X I V , Moskau 1926, S. 258 ff. Aleksander III. i général Bulanze, Bd. XIV, Moskau 1926, S. 260 ff. Ree' generala Skobeleva v Parize v 1882 g, B. X X V I I , Moskau 1928, S. 215 ff. Zapiska A. I. Nelidova v 1882 g. o zanjatii prolivov, Bd. X L VI, Moskau 1931, S. 179 ff., Pervye sagi russkogo imperializma na Dal'nom Vostoke, (1888-1903), Bd. LH, Moskau 1932, S. 34 ff., M.N.Katkov i o Aleksander III. v. 1886-1887, Bd. L V I I I , Moskau 1933, S. 58 ff. P.A.Suvalov Berlinskom Kongresse, Bd. L I X , Moskau 1933, S. 82 ff. Pis'ma O. Bismarka A. M. Gorcakovu, Bd. L X I , Moskau 1933, S. 3 ff. Bulazizm i carskaja diplomatija, Bd. L X X I I , Moskau 1935, S. 51 ff. „Istoriceskij Archiv", Trebovanija dvorjanstva i finansovo-ëkonomiceskaja politika carskogo pravitel'stva v 1880—1890 ch gg, Moskau 1957, Nr. 4, S. 122 ff. Konversija vnesnych zajmov Rossii v 1888—1890 gg, Moskau 1959, Nr. 3, S. 99ff. Avantjury russkogo carizma v Bolgarii. Sbornik Dokumentov, Hrsg. P. Pavlovic, Moskau 1935. L'alliance franco-russe, Ministère des affaires étrangères documents diplomatiques, Paris 1918. Kn. Bismarck i careubijstvo 1-ogo marta 1881 goda po neizdannym dokumentam, Hrsg. E.Tarlé, in: „Byloe", Petrograd 1919, Nr. 14, S. 19ff. Die Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes 1871—1914, Hrsg. B. Schwertfeger, Bd. 1, Berlin 1923. Documents Diplomatiques Français 1871-1917, S. I, Vol. I—X, Paris 1929—1945. Zur europäischen Politik. Unveröffentlichte Dokumente im amtlichen Auftrage hrsg. von B. Schwertfeger, Bd. V, Revancheidee und Panslavismus. Belgische Gesandtschaftsberichte, Berlin 1919. Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871—1914. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Hrsg. J. Lepsius, A. Mendelssohn-Bartholdy, F. Thimme, Bd. I—XII, Berlin 1922-1927. Mezdunarodnye otnosenija 1870—1918 gg. Sbornik dokumentov, Hrsg. V. N. Chvostov, Moskau 1940.

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Verzeichnis der Quellen und Literatur

Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns 1879—1914, nach den Akten des Wiener Staatsarchivs, Bd. I, Wien-Leipzig 1920, Hrsg. A. F. Pribam. Sbornik dogovorov Rossii s drugimi gosudarstvami, Moskau 1952.

2. Zeitungen und Zeitschriften: „Berliner Börsenzeitung", Jg. 1887. „Berliner Tageblatt", Jg. 1882—1885. „Börsencourier", Jg. 1884—1887. „Danziger Zeitung", Jg. 1889. „Freisinnige Zeitung", Jg. 1889. „Frankfurter Zeitung", Jg. 1 8 8 7 - 1 8 8 8 . „Kölnische Zeitung", Jg. 1886 —1887. „Kreuzzeitung", Jg. 1889. „Magdeburger Zeitung", Jg. 1880—1882. „Nationalzeitung", Jg. 1884, 1889, 1894. „Schlesische Zeitung", Jg. 1887. „Stahl „Grazdanin", und Eisen", Jg. 27, 1907. „Birzevye Vedomosti", Jg. 1887—1891. Jg. 1887—1891. „Kievljanin", Jg. 1 8 8 6 - 1 8 9 1 . „Nedelja", Jg. 1887. „Moskovskie Vedomosti", Jg. 1878—1891. „Pravitel'stvennyj Vestnik", Jg. 1887. „Russkije Vedomosti", Moskau, Jg. 1884—1891. „Russkije Vestnik", Jg. 1884—1891. „St. Petersburgskie Vedomosti", Jg. 1887. „Vestnik Evropy", Jg. 1887—1891. 3. Memoiren, Briefwechsel, Aufsatzsammlungen: /. S. Aksakov, Polnoe sobranie socinenij, Bd. I—VII, Moskau 1886—1887. H. v. Berlepsch, Sozialpolitische Erfahrungen und Erinnerungen, München-Gladbach 1925. W. Beumer, 25 Jahre Tätigkeit des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen von Rheinland und Westphalen, Düsseldorf 1896. Fürst Bismarcks Entlassung, Nach den Aufzeichnungen K. H. v. Boettichers und F. I. v Rottenburgs, Hrsg. v. G. v. Eppstein, Berlin 1920. Graf Herbert v. Bismarck, Aus seiner politischen Privatkorrespondenz. Hrsg. W. Bussmann, Göttingen 1965. O.V.Bismarck, Die gesammelten Werke, hrsg. v. Andreas, Berlin 1924—1933, Bd. 6c. 7—9, 11—13, 14, 15 (Gedanken und Erinnerungen). A. V. Bogdanovic, Tri poslednich samoderza. Dnevnik, Moskau-Leningrad 1924. H. A. Bueck, Der Zentralverband Deutscher Industrieller 1876—1901, Bd. I, Berlin 1902 B. v. Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. IV, Berlin 1931. M. Busch, Tagebuchblätter, Bd. III, Denkwürdigkeiten aus den Jahren 1880—1893 Leipzig 1899. E.deCyon, Historie diplomatique de l'Entente Franco-Russe (1886—1894), Paris 1895 Ph. zu Eulenburg-Hertefeld, Aus 50 Jahren. Erinnerungen, Tagebücher und Briefe aus dem Nachlaß des Fürsten, Hrsg. v. J. Haller, Berlin 1925. E. M. Feokistov, Vospominanija. Za kulisami politiki i literatury, 1848—1896, London 1929. C. Fürstenberg, Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers 1870—1914, Hrsg. von H. Fürstenberg, Berlin 1931. K.Golovin, Moi vospominanija, Bd. I—II, St. Petersburg 1908—1910. K. v. der Goltz, Denkwürdigkeiten, Hrsg. von F. v. d. Goltz, Berlin 1929. J. Hansen, Diplomatische Enthüllungen aus der Botschaftszeit des Baron v. Mohrenheim (1884—1898), Leipzig-Oldenburg-Berlin o . J . CA. zu Hohenlohe-Schillingfürst, Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu HohenloheSchillingfürst. Im Auftrage des Prinzen Alexander zu Hohenlohe-Schillingfürst hrsg. von F. Curtius, Stuttgart-Leipzig 1907, Bd. II.

Verzeichnis der Quellen und Literatur

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Verzeichnis der Quellen und Literatur

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II. Monographien,

Aufsätze,

Dissertationen

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