Bildwelten des Wissens. Band 14 Scientific Fiction: Inszenierungen der Wissenschaft zwischen Film, Fakt und Fiktion 9783110565409, 9783110563344

Im Filmbild wird Imagination technisch verwirklicht und visuell erfahrbar. Ausgehend von dieser Prämisse, diskutiert Sci

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German Pages 136 [138] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Editorial
Bewegung an der Wand. Zur Aufführung von Organismen mit dem Sonnenmikroskop
Inszenierungen des mikroskopischen Dispositivs im animierten molekularbiologischen Lehrfilm
Grob und glatt. Über eine relationale Theorie des wissenschaftlichen Animationsbildes
Faksimile
Filmpräparate auf dem Messtisch. Der Meßkineautograph von Joachim Rieck
Die anthropologische Differenz der Medien. Wissenschaft und Phantasma
Technischer Realismus. Filmtechnik zwischen Kunst und Wissenschaft
Inszeniert? Zum Verhältnis von physikalischer und visueller Akkuratesse im Film
Film-Besprechung
Gravity. Kunst-Geschichte im Weltraum-Film
Kunst im Science-Fiction-Film oder: Warum in der Zukunft so gegenwärtige Bilder an der Wand hängen
Das Holodeck als Leitbild
Film-Schau
Inszenierung von Faktizität im Dokumentarfilm
Wiedergesehen
George Albert Smith: The X-Ray Fiend. Sichtbarkeits- und Wirklichkeitsfiktionen in der Amalgamierung von Film- und Röntgentechnik
Projekt-Besprechung
Das Künstlerduo A / A und die flüchtigen Tore zur Zukunft
Interview
OpenEndedGroup – The Set-up of Ghostly Presence. An Edited Conversation with Marc Downie and Paul Kaiser
Bau-Besprechung: Gebaute Weltraumfiktion. Die fliegende Untertasse in der Architektur des Evoluon
Bild-Besprechung: Idyllisches Schaudern. Das Habitat-Diorama zwischen Leben und Tod
Bildnachweis
Autorinnen und Autoren
Recommend Papers

Bildwelten des Wissens. Band 14 Scientific Fiction: Inszenierungen der Wissenschaft zwischen Film, Fakt und Fiktion
 9783110565409, 9783110563344

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Luisa Feiersinger (Hg.)

Scientific Fiction Inszenierungen der Wissenschaft zwischen Film, Fakt und Fiktion

Bildwelten des Wissens Band 14

Luisa Feiersinger (Hg.)

SCIENTIFIC FICTION Inszenierungen der Wissenschaft zwischen Film, Fakt und Fiktion

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1: Irving Pichel: Moon Ballet, unveröffentlichte Szene aus Destination Moon (USA: 1950). 2: European Southern Observatory: Zwergstern Trappist-1, gesehen von einem seiner Planeten aus, künstlerische Darstellung, 2016. 3: Chesley Bonestell: Mars gesehen vom Mond Deimos aus, Illustration aus „Man Will Conquer Space Soon!“, 1952. 4: Joseph Popper: Ein angehender Astronaut versucht Weltraumerfahrung mit einem Karussell zu simulieren, Videostill aus Into Orbit (GB: 2011). 5: Chesley Bonestell: Mondlandschaft, Matte painting für Destination Moon (USA: 1950). 6: Leandro Barajas: Wall of Red, Außenbordeinsatz in der Mars Desert Research Station, Fotografie, 2011. 7: Sebastian Kaulitzki: Nanobot, Stock-Illustration. 8: Henrique Alvim Corrêa: Illustration aus H. G. Wells: War of the Worlds, 1906. 9: Albert Barillé: Nanokapseln in der Blutbahn, Screenshot von Il était une fois… la Vie (F: 1986). 10: CragstonYoshiya: Fliegende Untertasse mit Weltraumpilot, Zinnspielzeug, ca. 1959. 11: Sachio Otani: Modell für den SumitomoMärchenpavillon auf der Expo in Osaka, Postkarte, 1970.

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12: Emmy Ingeborg Brun: Marskanäle auf handbemaltem und -beschriftetem Globus nach Percival Lowell, 1909. 13: Jillian Pelto: Climate Change Data (Gletscherschmelze, Meeresspiegelanstieg und globale Erwärmung), 2016. 14: Richard Ibghy, Marilou Lemmens: The Prophets, Detail: „S&P Sovereign Ratings“, Mixed Media, 2013–2015. 15: Hieronymus Bosch: Die Schöpfung, Außenflügel: „Der Garten der Lüste“, Öl auf Holz, um 1500. 16: Futuro-Häuser von Matti Suuronen an einem Berghang, Fotografie von 1:1-Modellen, 1968. 17: Alphonse de Neuville, Édouard Riou: Illustration aus Jules Verne: Vingt mille lieues sous les mers, 1871. 18: Jean Painlevé: Le guerrier japonais, Spinnenkrabbe, Screenshot von Hyas et Sténorinques (F: 1928). 19: Duke Worne: Filmstill aus The Trail of the Octopus (USA: 1919). 20: Carl Chun, Ewald Rübsaamen: Vampyrotheutis infernalis, Lithografie aus „Ergebnisse der deutschen Tiefsee-Expedition“, Detail, 1910. 21: Ronald Herron: Cities Moving, Architekturentwurf für „Walking City“, 1964. 22: NNtonio Rod: Koralle im Zeitraffer, Videostill aus Coral Colors (ES: 2016).

Inhalt 7 Editorial

10 Janina Wellmann Bewegung an der Wand. Zur Aufführung von Organismen mit dem Sonnenmikroskop



21 Bettina Papenburg Inszenierungen des mikroskopischen Dispositivs im animierten molekular­bio­logischen Lehrfilm



30 Scott Curtis Grob und glatt. Über eine relationale Theorie des wissenschaftlichen Animationsbildes

41 Faksimile  Sophia Gräfe: Filmpräparate auf dem Messtisch. Der Meßkineautograph von Joachim Rieck

44 Ute Holl, Emanuel Welinder Die anthropologische Differenz der Medien. Wissenschaft und Phantasma



56 Birk Weiberg Technischer Realismus. Filmtechnik zwischen Kunst und Wissenschaft



65 Sarine Waltenspül Inszeniert? Zum Verhältnis von physikalischer und visueller Akkuratesse im Film

Film-Besprechung  75 Stefan Trinks: Gravity. Kunst-Geschichte im Weltraum-Film



79 Marcus Becker Kunst im Science-Fiction-Film oder: Warum in der Zukunft so gegenwärtige Bilder an der Wand hängen



90 Jens Schröter Das Holodeck als Leitbild

Film-Schau  100 Anna Stemmler: Inszenierung von Faktizität im Dokumentarfilm Wiedergesehen  106 Vera Dünkel: George Albert Smith: The X-Ray Fiend. Sichtbarkeits- und Wirklichkeitsfiktionen in der Amalgamierung von Film- und Röntgentechnik Projekt-Besprechung  110 Lydia Korndörfer: Das Künstlerduo A / A und die flüchtigen Tore zur Zukunft Interview  113 OpenEndedGroup – The Set-up of Ghostly Presence. An Edited Conversation with Marc Downie and Paul Kaiser Bau-Besprechung  124 Annekathrin Heichler: Gebaute Weltraumfiktion. Die fliegende Untertasse in der Architektur des Evoluon Bild-Besprechung  127 Christiane Voss: Idyllisches Schaudern. Das Habitat-Diorama zwischen Leben und Tod Bildnachweis 130

134 Autorinnen und Autoren

Editorial

Als der neunminütige Film Quicker’n a wink (George Sidney, USA: MGM) 1940 in die Kinos kam, muss er einen Nerv getroffen haben. Anders als die üblichen Wochen­ schauen oder Unterhaltungsfilmchen jener Zeit zeigte er spektakuläre Effekte in kurzer Folge. Verantwortlich dafür zeichnete Harold E. Edgerton, Professor für Elektrotech­ nik am MIT. Der Film lässt eine junge Frau Seifenblasen aufpusten, um sie in Zeitlupe wieder zerplatzen zu lassen, ◊ Abb. 1–5 ein rohes Ei auf den Blättern eines Ventilators zerbers­ ten oder einen Profigolfer Telefonbücher durchschlagen. Bedingung für derlei Tricks war eine Kamera ohne Blende, die mit einem Stroboskop kombiniert durch Ultra­ kurzzeitbelichtung schnellste Bewegungen sichtbar machen konnte. „Do you see how smart you get when you go to the movies?” Mit der hier anklingenden Verquickung von Unterhaltung und Technik, medialer Wahrnehmung und wissenschaftlicher Erkennt­ nis gewann die Produktion von Pete Smith das Publikum und 1941 sogar einen „Oscar“ für den besten Kurzfilm. Die in Quicker’n a wink wirksame Verbindung von Medienspektakel und wissen­ schaftlicher Analyse hatte schon die frühen Bewegungsstudien des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet und war auch für das Kino konstitutiv. Obwohl sich das Bewegtbild seit diesen Anfängen zunehmend professionalisiert hat, blieb es stets ein Amalgam auseinanderstrebender Intentionen und Aufgaben. Natur- und Technikwissenschaf­ ten scheuen sich davor, die fiktionalen und affektiven Aspekte und Ursprünge jener Bewegtbilder anzuerkennen, die sie für ihre Forschungen benötigen. Der populäre Film verdeckt teilweise die technische und wissenschaftliche Forschung, die seinen fantastischen Welten zugrunde liegt, um eine immersive Illusion des Publikums zu ermöglichen. Unabhängig davon, ob sie ihre Faktizität oder ihre fiktionale Welt über­ zeugend in Szene setzen, müssen Bewegtbilder ihre Gegenstände – Zellkörper wie Raumschiffe – in sich ereignender Bewegung und in konkreten Formen erfahrbar machen. In den notwendigen Übersetzungsprozessen greifen das forschende und das unterhaltende Bewegtbild dabei auf ein gemeinsames Motiv- und TechnologieRepertoire zurück. Besonders deutlich wird dies im Science-Fiction-Film. Er dramatisiert die Ver­ bindung von Wissenschaft und Fiktion in seinen Erzählungen selbst und ermöglicht so eine Reflexion des Bewegtbildes in seinen Produktions- und Rezeptionswirklich­ keiten. Den filmischen Verdichtungen liegen stets präzise technische Anordnungen und kollektive Expertise zugrunde, sei es in Gestalt von Filmkulissen (wie auf dem Titelbild dieses Bandes), Modellbauten oder 3D-Animationen. Umgekehrt finden Computerprogramme, die für die Unterhaltungsindustrie entwickelt wurden, auch in Disziplinen wie der Archäologie oder Paläontologie Verwendung. 3D-Animationen,

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1–5: Sequenz aus Quicker’n a Wink (USA: MGM 1940), die im harten Schnitt zwei unterschiedliche profilmische Momente zu einer kohärenten Narration verschmilzt, TC: 4:49, 4:53, 5:03, 5:14, 5:21.

Editorial

die ­physikalische Gesetzmäßigkeiten verbildlichen, prognostizieren das Wetter mit den gleichen Algo­ rithmen, mit denen sie Flutwellen für Katastro­ phenfilme berechnen. Technische Innovationen inspirieren und ermöglichen technoide Filmfikti­ onen, während Funktionalität und Design realer Produkte in Simulationen überprüft werden. Filmische Formfindungen präsentieren sich dem Publikum stets als bereits realisiert. Die hier­ in gründende Überzeugungskraft parodiert der Holly­woodstreifen Galaxy Quest aus dem Jahr 1999. In der Sci-Fi-Komödie deuten Aliens, die mit den Codierungen unterschiedlicher Filmgattungen nicht vertraut sind, eine Fernsehserie fälschlicher­ weise als Dokumentation irdischer Geschichte. Die TV-Produktion als Blaupause verwendend, bauen sie ein Raumschiff, dessen zum Hauptantrieb führender Gang all jene, die ihn passieren wollen, unerbittlich zermalmt. Dass sein Vorbild, die fikti­ ve Serie, damit einzig auf den dramatischen Effekt, nicht aber auf logische Narration bedacht war, stellt Galaxy Quest mit seinen Dialogen heraus. Ganz beiläufig thematisiert die Persiflage zusätzlich einerseits die Suggestivkraft des bewegten Bildes – die überflüssige Architektur erscheint notwen­ dig, weil sie bereits fiktiv verwirklicht wurde – und andererseits eine Lichtbildwirklichkeit, die stets auf ihre Publikumswirkung gerichtet bleibt. Bewegtbilder gestalten Räume und Erfah­ rungen und argumentieren dabei nicht allein mit den dargestellten Bild- und Toninhalten, sondern vielmehr mit den Charakteristika dieser Darstel­ lung selbst. Naturwissenschaftliche oder medizi­ nisch-technische Visualisierungen verstärken ihre Glaubhaftigkeit zum Beispiel über visuelle Ana­ logien zu vermeintlich unbearbeiteten, analogen Filmaufnahmen. Quicker’n a wink simuliert in

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seiner Montage einer Detailaufnahme der Seifenblase, ◊ Abb. 3–5 die auf die Halb­ naheaufnahme der jungen Frau folgt, ◊ Abb. 1 + 2 das Blickmuster menschlicher Auf­ merksamkeit. Im dazwischenliegenden Schnitt werden jedoch zwei an verschiedenen Orten und mit unterschiedlichen Apparaturen aufgenommene Einstellungen zu einer kohärenten filmischen Narration verschmolzen. Scientific Fiction soll diese kinematografische Bildlichkeit in den Blick nehmen, weil sie es offenkundig vermag, Fakt und Fiktion gleichermaßen überzeugend vor Augen zu stellen. Luisa Feiersinger und die Herausgeber

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Bewegung an der Wand. Zur Aufführung von Organismen mit dem Sonnenmikroskop Das Sonnenmikroskop erzeugt sein Bild anders als das klassische Mikroskop nicht im Auge eines einzelnen Betrachters, sondern auf der Wand eines abgedunkelten Raumes. Das Licht der Sonne bringt im Dunkeln das stark vergrößerte Abbild kleinster oder mit bloßem Auge unsichtbarer Objekte im Wortsinne zum Leuchten. Zahlreiche noch erhaltene Exemplare in europäischen Sammlungen zeugen von der enormen Verbrei­ tung und Beliebtheit des Instruments im 18. Jahrhundert.1 In der Zeit der Aufklärung erfüllten Sonnenmikroskope das Ideal von nützlichem Zeitvertreib und gentleman science, von gelehrter Unterhaltung und kunstvoller Wissenschaft in besonderer Weise, da sie mikroskopisches Wissen öffentlich demonstrierten und einem Publikum zur Diskussion stellten.2 Sie sind Teil einer „sozialen Geschichte“ der Mikroskopie3 ebenso wie der Zeit des Rokoko, einer Epoche, in der Geselligkeit, höfisches Leben und kul­ tivierte Sinnlichkeit Signum der Kultur, aber nicht weniger ihrer Wissenschaft waren. Unzählige Mikroskopierbücher, populäre Schriften und wissenschaftliche Traktate berichten von dem Instrument und seinem Gebrauch. Zu den bekanntesten, mehr­ fach aufgelegten und in viele Sprachen übersetzten Werken dieser Zeit gehören die Mikroskopischen Gemüths- und Augen-Ergötzungen von Martin Frobenius Ledermüller (1719–1769), die Insecten-Belustigungen August Johann Rösel von Rosenhofs (1705–1759) und Das Neueste aus dem Reich der Pflanzen des Wilhelm Friedrich Freiherr von Glei­ chen gen. Rußworm (1717–1783).4 Die folgenden Überlegungen widmen sich einer unbeachtet gebliebenen Seite der Sonnenmikroskopie, die gleichwohl in ihrem Zentrum steht: Aufführungen mit dem Sonnenmikroskop waren performative Handlungen. Sie waren Akte des Zeigens 1 Peter Heering: The enlightened microscope. Re-enactment and analysis of projections with eighteenthcentury solar microscopes. In: The British Journal for the History of Science, Jg. 41, 2008, Heft 3, S. 345– 367. Heering zählt allein 83 Exemplare in den großen europäischen Sammlungen und Museen. 2 Vgl. zur Wissenschaft der Aufklärung: William Clark, Jan Golinski, Simon Schaffer (Hg.): The Sciences in Enlightened Europe, Chicago/London 1999; Roy Porter (Hg.): The Cambridge History of Science, Bd. 4: Eighteenth-century science, Cambridge 2003; Ulrich Johannes Schneider: Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Göttingen 2008; Barbara Maria Stafford: Artful Science. Enlightenment, Enter­ tainment, and the Eclipse of Visual Education, Cambridge, MA 1994. 3 Jim Bennett: The social history of the microscope. In: Journal of Microscopy, Jg. 155, 1989, Heft 3, S. 267­–280. 4 Martin Frobenius Ledermüller: Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergötzung. Bestehend in Ein Hundert nach der Natur gezeichneten und mit Farben erleuchteten Kupfertafeln, sammt deren Erklä­ rung, Nürnberg 1760–1762, zur Geschichte des Sonnenmikroskops siehe S. 40–46; August Johann Rösel von Rosenhof: Der monatlich herausgegebenen Insecten-Belustigung, Nürnberg 1736–1752; Wilhelm Friedrich Freiherr von Gleichen gen. Rußworm: Das Neueste aus dem Reiche der Pflanzen, oder Mik­ roskopische Untersuchungen und Beobachtungen der geheimen Zeugungstheile der Pflanzen in ihren Blüten, und der in denselben befindlichen Insekten [...]; herausgegeben, verlegt und mit den nöthigen in Kupfer gestochenen und illuminirten Abbildungen versehen, von Johann Christoph Keller, Maler in Nürnberg, Nürnberg 1764.

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und Sichtbarmachens unter der besonderen Bedingung der Darstellung auf einer illu­ minierten Bildfläche.5 Zur Zeit der Aufklärung entfalteten optische Instrumente erst­ mals eine breite, vielfältige, wissenschaftliche und soziale Wirkmächtigkeit. Mit ihnen erwuchs ein neues „Bildungsideal“, das sich an der Sensibilität und Wahrnehmungsfä­ higkeit des Menschen orientierte.6 Die Instrumente waren gleichermaßen die „optische Ergänzung“ zu den gelehrten Bibliotheken: Sie führten das „trockene und diagram­ matische“ Wissen aus Handbüchern und Lexika in „theatralischen Aufführungen“ schwungvoll vor Augen.7 Worum es im Folgenden geht, sind indes weder die gelehrten Diskussionen, die das gemeinsame Schauen begleitete,8 noch das Spektakelhafte der Aufführungen.9 In den Aufführungen verband sich vielmehr die optische Apparatur mit einer spezifischen sinnlichen Erfahrung. In der dunklen Kammer eröffnete die Aufführung einen außergewöhnlichen Blick auf die mikroskopische Welt, den das Sonnenmikroskop, und nur dies, in dieser Form lieferte: die Erfahrung von Bewegung. Die Sichtbarmachung und das sinnlich Erfahrbar-, genauer, das durch die Projektion sozusagen Greifbarmachen der Bewegungen der organischen Welt waren die hervor­ stechende Eigenschaften der Sonnenmikroskopie, die hier untersucht werden sollen. Die Forschung zur Bildwelt der Sonnenmikroskopie reduziert sich bisher weit­ gehend auf die Kupferstiche und die großen illuminierten Tafeln, die das Mikroskop als Instrument hervorbrachte.10 In den Stichen der Nürnberger Werke ist die ikonogra­ 5 Zu frühmodernen Projektionstechniken vgl. Olaf Breidbach, Kerrin Klinger, André Karliczek (Hg.): Natur im Kasten. Lichtbild, Schattenriss, Umzeichnung und Naturselbstdruck um 1800, Jena 2010; zur Vorgeschichte des Films sei nur genannt Friedrich von Zglinicki: Der Weg des Films. Die Geschichte der Kinematographie und ihrer Vorläufer, Berlin 1956; zum Phantasmatischen der Projektion im frühen 19. Jahrhundert vgl. Anja Lauper: ‚Der Lebensproceß im Blute‘. Zu Carl Heinrich Schultz’ Mikroskop-Phantastik. In: dies. (Hg.): Transfusionen. Blutbilder und Biopolitik der Neuzeit, Zürich 2005, S. 139–155. 6 Vgl. Angela Fischel: Optik und Utopie. Mikroskopische Bilder als Argument im 18. Jahrhundert. In: Horst Bredekamp, Pablo Schneider (Hg.): Visuelle Argumentationen. Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt, München 2006, S. 253–266, S. 262. 7 „These attractive machines were part of an inviting range of instruments […] the optical complement to the tome-lined library: They energetically enacted the dry and diagrammatic natural philosophy buried in manuals and dictionaries, metamorphosing them into theatrical productions.“ Barbara Maria Stafford: Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine, Cambridge, MA 1991, S. 360. 8 Siehe dazu Heering (s. Anm. 1), der dies durch das Re-Enactment von sonnenmikroskopischen Vor­ führungen stützt; auch Marc J. Ratcliff: The quest for the invisible. Microscopy in the Enlightenment, London 2009. 9 Vgl. Stafford: Body Criticism (s. Anm. 7); vgl. auch Stafford: Artful Science (s. Anm. 2) sowie Barbara Maria Stafford, Francis Terpak: Devices of wonder. From the world in a box to images on a screen, Los Angeles 2001. 10 Vgl. Fischel (s. Anm. 6); vgl. auch dies. (Hg.): Bildwelten des Wissens, Bd. 2,2: Instrumente des Sehens, Berlin 2004; Friedrich Klemm: Martin Frobenius Ledermüller. Aus der Zeit der Salon-Mikroskopie des Rokoko. In: Optische Rundschau, 1927, Heft 45–48; zum Kontext der Buchtradition der Stadt Nürnberg, die im 18. Jahrhundert das deutsche Zentrum und neben London der bedeutendste Verlagsort des natur­

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fische Nähe zu Ornamenten und Mustern deutlich: In den Bildern eines Ledermüller dominieren Geometrie, Symmetrie und Iteration ebenso wie eine flächige Organisation. ◊ Abb. 1 + 2 In den „kontraststarken Stichen der Mikroskopierbücher“ verbildlichte sich die Natur als „visuelle Utopie“, deren Wachstum, etwa in den Tafeln zum Polypen, seine Entsprechung in der Formensprache der Ornamentik fand.11 Die Erfahrung der bewegten Welt dagegen schlug sich kaum in den Tafeln nieder. Gleichwohl handelte es sich in vielen Fällen bei den projizierten Objekten um lebende Präparate und damit um bewegte Bilder. Was sich an der Wand zeigte, war eine Welt von wuchtiger Dynamik, voller Chaos und Unberechenbarkeit. Hier versetzten die Bilder von menschengroßen Flöhen, Spinnennetzen und baumstarken Filamenten die Betrachtenden in den Stand der Unsicherheit. Sonnenmikroskop und Dunkelkammer brachten das Ungewisse und Fremde, Täuschung und Illusion in den Blick. Sie warfen den Zweifel an den eigenen Wahrnehmungs- und Denkräumen gleichsam an die Wand der dunklen Kammer und tauchten sie in grelles Licht. Des­ halb wurde die mikroskopische Bilderwelt des 18. Jahrhunderts auch in die Nähe zu „visueller Quacksalberei“ und „Wahrnehmungspathognomie“ gerückt: Sie war verwir­ rend und verblüffend, erregend und zusammengeflickt wie ein „prächtiges Monster“.12 Entsprechend achtete die wissenschaftshistorische Forschung die Mikroskopie der Auf­ klärung lange Zeit gering. Weder die Entdeckung von Antoni van Leeuwenhoeks Spermien oder Robert Hookes Floh noch von Theodor Schwanns Zellen oder Robert Kochs Bakterien fielen in das 18. Jahrhundert. Das Jahrhundert erschien daher kaum mehr als eine hinzunehmende Etappe zwischen den großen Entdeckungen des 17. und Neuerungen des 19. Jahrhunderts.13 Erst recht wissenschaftlich marginal, vom Rang allein eines Spielzeugs, erschien das Sonnenmikroskop.

wissenschaftlichen Buchhandels und der naturgeschichtlichen Buchillustration war und in der namhafte Künstlerfamilien und Wissenschaftler wirkten, vgl. Heidrun Ludwig: Nürnberger naturhistorische Male­ rei im 17. und 18. Jahrhundert. Diss., Berlin 1993; Wilhelm Schwemmer: Nürnberger Kunst im 18. Jahr­ hundert, Nürnberg 1974; Claus Nissen: Die botanische Buchillustration, 3 Bde., Stuttgart 1966; Thomas Schnalke: Natur im Bild. Anatomie und Botanik in der Sammlung des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew, Ausst.kat., Erlangen 1995; Richard Wegner: Christoph Jacob Trew (1695–1769). Ein Führer zur Blütezeit naturwissenschaftlicher Abbildungswerke in Nürnberg im 18. Jahrhundert. In: Mitteilungen zur Geschichte der Medizin, der Naturwissenschaften und der Technik, Jg. 39, 1940, S. 218–228. 11 Vgl. Fischel (s. Anm. 6), Zitate S. 257 und S. 259. 12 Stafford: Body Criticism (s. Anm. 7), S. 362. 13 Vgl. klassische Abhandlungen wie Savile Bradbury: The evolution of the microscope, Oxford 1967. Zur Korrektur dieses Bildes vgl. insbesondere Ratcliff: The quest (s. Anm. 8); ders.: Wonders, Logic, and Microscopy in the Eighteenth Century. A History of the Rotifer. In: Science in Context, Jg. 13, 2000, Heft 1, S. 93–119; ders.: Temporality, Sequential Iconography and Linearity in Figures. The Impact of the Discovery of Division in Infusoria. In: History and Philosophy of the Life Sciences, Jg. 21, 1999, Heft 3,

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Tatsächlich stellte der Mikrokosmos unter der Linse jedoch den Betrachter vor ernst zu nehmende Herausforderungen: Er offenbarte eine Welt voller Mehrdeutigkeit, des vagen Dazwischen und des Weder/Noch, eine Welt, die „visuelle Verzweiflung“ und Ver­ zauberung hervorrief.14 Die Lektüre der Trak­ tate zeigt, dass gerade die Wahrnehmung der Bewegtheit dieser Welt wesentlich zu diesem Eindruck beitrug. Die ebenso irritierende wie unterhaltende, unverstandene wie deutlich zu sehende und gleichwohl nicht abbildbare Qua­ lität der Bewegung war ein zentrales Sujet in den Schriften der Zeit. Um Bewegung zu begreifen, bedurfte es hingegen eigener Ana­ logien und Metaphern, und zwar solcher, wie sie das Schauspiel, die Bühne und das Theater boten. Bühne, Tanz, Theater oder Oper waren aber nicht nur metaphorische Welten für die Belustigungen, die die bewegten Szenen an der Wand boten. Diese Metaphorik, so die Behauptung, war grundlegend für das Verste­ hen der biologischen Welt. Die Kleinstlebewe­ sen warfen essenzielle Fragen auf: Wo verliefen angesichts der Erscheinungen unter der Linse die Grenzen zwischen Mensch und Tier, Tier und Pflanze, tot und lebendig? Wie konnte Getrocknetes wieder lebendig, ein Kristall S. 255–292; sowie James Elkins: On Visual Despera­ tion and the Bodies of Protozoa. In: Representations, Jg. 40, 1992, S. 33–55. 14 Vgl. Barbara Maria Stafford: Images of Ambiguity: Eighteenth-Century Microscopy and the Neither/ Nor. In: David Philip Miller, Hanns Peter Reill (Hg.): Visions of Empire. Voyages, Botany, and Represen­ tations of nature, Cambridge 1996, S. 230–257; Zitat Elkins (s. Anm. 13).

1 + 2: Ledermüller: Gemüths- und Augen-Ergötzungen, Tab. lxxv; lv.

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­ ieder beweglich, ein Tropfen Regenwasser w zum Hort sich rasend vermehrender Tierchen werden? Das Sonnenmikroskop eröffnete den Mikroskopisten einen Imaginationsraum, um sich der unbekannten und unverstandenen biologischen Welt anzunähern. Ästhetischsinnliche Wahrnehmung und epistemologi­ sches Durchdringen dieser Welt gingen dabei einher: Das Begreifen des Spektakels unter der Linse fand Ausdruck im Spektakel der Projek­ tion. ◊ Abb. 3 + 4 Die Tafeln aus Ledermüllers Gemüths- und Augen-Ergötzungen zeigen die theatrale Aufführungssituation: das Objekt wird durch das von einem Spiegel durch das Sonnenmikroskop geleitete Sonnenlicht auf die gegenüberliegende Wand des verdunkel­ ten Raumes (oder auf die durchsichtige Schei­ be einer Box) projiziert. Vorhänge, Bestuhlung, Betrachterposition und Verdunklung unter­ streichen die Bühneninszenierung. Von Flöhen, Rauch und Sand. Komödien unter dem Deckglas

Der Floh gehört seit Robert Hookes Abbildung in der Micrographia von 1665 zu den vermut­ lich bekanntesten mikroskopischen Bildsujets überhaupt. Seine Darstellung ist ein Sinn­ bild für die Macht der Vergrößerung. Auch Martin Frobenius Ledermüller illustriert die Leistung seines Sonnenmikroskops an diesem Beispiel.15 Obwohl „die weiße Wand, woran

3 + 4: Ledermüller: Gemüths- und Augen-Ergötzungen, Tab. i, xxi.

15 Zu Ledermüller vgl. Karl Wilhelm Naumann: Ledermüller und Gleichen-Russworm. Zwei deut­ sche Mikroskopisten der Zopfzeit, Leipzig 1926; Klemm (s. Anm. 10); Emil Reicke (Hg.): Gottscheds Briefwechsel mit dem Nürnberger Naturforscher Martin Frobenius Ledermüller und dessen seltsame

Bewegung an der Wand

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ich die Objecta zu werfen pflege, [...] über vier und eine halbe Ele hoch“ sei, „langt sie nicht hin [...], den Floh aufrecht [...] dahin zu bringen“. Mit den entsprechenden Linsengrößen jedoch lässt er sich „nach allen seinen äußerlichen und innerlichen Thei­ len, vollkommen hell, klar und durchsichtig, betrachten“.16 Die Größe eines zu kaum vorstellbaren Maßen angewachsenen Insekts ist jedoch nur eine Wahrnehmung; seine Bewegung eine andere. Bewegung aber gehört zu den hervorstechendsten Merkmalen von Insekten: „Ein Blick in den Saal verriet dem jungen Pepusch sogleich die Ursache des fürchterlichen Entsetzens, daß die Leute fortgetrieben. Alles lebte darin, ein ekelhaftes Gewirr der scheußlichsten Kreaturen erfüllte den ganzen Raum. Das Geschlecht der Pucerons, der Käfer, der Spinnen, der Schlammtiere bis zum Übermaß vergrößert, streckte seine Rüssel aus, schritt daher auf hohen haarichten Beinen, und die greulichen Ameisenräuber faßten, zerquetschten mit ihren zackichten Zangen die Schnacken, die sich wehrten und um sich schlugen mit den langen Flügeln, und dazwischen wanden sich Essigschlangen, Kleisteraale, hundertarmichte Polypen durcheinander und aus allen Zwischenräumen kuckten Infusionstiere mit verzerrten menschlichen Gesichtern. Abscheulicheres hatte Pepusch nie geschaut.“ 17

Der Aufruhr im Saal ist das Werk eines Sonnenmikroskops, die Darstellung wiederum eine literarische Imagination, erzählt 1822 von E. T. A. Hoffmann in seiner Geschichte Meister Floh. Das Bild des Schreckens, erzeugt durch Vergrößerung und Bewegung, wird in der Metaphorik des Schauspiels in Worte gefasst. Der winzige Floh erscheint nicht nur monströs vergrößert, verschiedenste Insekten strecken und schreiten, winden und schlagen sich durch den Bildraum, alles ist Gewirr und Durcheinander, alles ist verzerrt und lebendig.18 Lebensschicksale, Leipzig 1923; Ratcliff: The quest (s. Anm. 8), S. 184–188; ders.: Genèse d’une décou­ verte. La division des infusoires (1765–1766), Paris 2016. 16 Martin Frobenius Ledermüller: Physicalische Beobachtungen derer Saamenthiergens, durch die allerbes­ ten Vergrößerungs-Gläser und bequemlichsten Microscope betrachtet; und mit einer unpartheyischen Untersuchung und Gegeneinanderhaltung derer Buffonischen und Leuwenhoeckischen Experimenten in einem Sendschreiben mit denen hierzu gehörigen Figuren und Kupfern einem Liebhaber der NaturKunde und Warheit mitgetheilet, Nürnberg 1756, S. 21–22. Die Elle als historisches Maß wird von der Länge des Unterarmes abgeleitet. Obgleich die Längen erheblich variierten, gibt Ledermüllers Angabe einen Eindruck von der enormen Größe der Projektion. 17 E. T. A. Hoffmann: Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde, Zürich/Düsseldorf 1998, S. 39. 18 Zur Bedeutung optischer Instrumente im Werk von E. T. A. Hoffmann vgl. Ulrich Stadler: Von Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen. Zum Gebrauch optischer Instrumente

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Tafel lxxv der Gemüths- und Augen-Ergötzungen zeigt als „Fig. 1“ ebenfalls ein Insekt, den „Arlequin“, ein „Schlammwasser Inseckt“. ◊ Abb. 1 Das Tier ist fein und präzis gezeichnet. Die obere Bildhälfte zeigt seine Anatomie und Erscheinung in hoher Vergrößerung und markanter Farbigkeit. Zugleich zeigt sie in Figur 1a entlang des oberen Bildrandes in einer Folge von kleinsten Bildern das natürliche Insekt, einer roten Schleife gleich, sich krümmen und winden, schlängeln und aufrollen. Sternchen dienen zur Markierung der Bewegungen. Gleichwohl gibt die Folge nur ein schwaches Bild dessen, was Ledermüller beobachtete: „Ob in dem Reiche der Schlammthierchen Komödien gespielet werden, werde ich wohl niemalen bejahen, ob ich schon Begebenheiten und Heldenthaten unter ihnen mit angesehen, welche Stof zu den schönsten Stücken auf die Schaubühne geben könnten; wie ich dann erst neuerlich einen einigen [sic!] tapfern Polypen, [...] auf dem Schlachtfelde als einen Sieger über viele hundert seiner Feinde, mit Vergnügen betrachtet habe. Indessen ist es doch gewiß, daß unter ihnen ein Geschöpfe lebet, welches in gar vielen Stücken, der poßirlichen Figur eines Arlequins gleichet. Sein schwarzer Kopf, sein scheckicht gefärbter Leib, und seine lächerlichen Sprünge und hüpfenden Verdrehungen und Wendungen, deren einige mit Sternchen bey der 1. Figur dieser fünf und siebenzigsten Kupfertafel angemerket sind, haben viel ähnliches mit dieser lustigen Person der italienischen Schaubühne: Denn bald steht dieses Inseckt auf dem Kopf [...], bald aber auf seinem mit breiten Floßfedern gezierten Schwanze, gerad in der Höhe; bald liegt es nach der Länge gestreckt, ganz stille, fährt aber hernach wie ein Blitz zusammen und springt wie eine Schlange, weit vor sich hin. Zuweilen ist es wie ein Ballen zusammengerollt, siehet mit ­seinem schwarzen Kopf heimtückisch, gleich einem Scapin aus seinem Mantel, hervor, macht sodann mit einmal einen Sprung in die Höhe, krümmet sich endlich wie ein gespannter halber Bogen, und gehet ganz bedächtlich in dieser Positur, als eine Spannerraupe, auf dem Wasser fort, auf welchem es sich allemal, sowohl in der Tiefe als auf der Fläche und dem Grunde des Wassers, im Gleichgewichte, wie ein Fisch, zu erhalten weiß.“ 19

Es finden sich bei Ledermüller zahlreiche solcher Beschreibungen. Sie stehen den lite­ rarischen von Hoffmann in nichts nach. So schreibt er von Bewegungen, „ungemein in Hoffmanns Erzählungen. In: Hartmut Steinecke (Hg.): E. T. A. Hoffmann. Deutsche Romantik im europäischen Kontext, Berlin 1993, S. 91–105. 19 Ledermüller: Augen-Ergötzungen (s. Anm. 4), S. 145.

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leicht, munter“, mit „einer unbeschreiblichen Geschwindigkeit“, „im Zirkel herum“ oder „geradewegs“, 20 von Insekten, die „rudern“, „so geschwinde als ein Pfeil [...] in die Höhe, Tiefe, Breite, Quere und Runde“ 21 und von Salzen und Kristallen, deren „geschwinde Operation und Konfiguration“ er „an der Wand zum öfftern beobachtet“ hat, „welche iedoch sich nur sehen, keineswegs aber nachbilden lassen“. 22 Meeressand erweist sich unter der Linse als „ein vollkommenes Luftfeuerwerk auf dem Wasser“: „Wie angezündet“ zeigen sich Kugeln „gleichwie ein Ball oder eine eiserne Kugel“ in die Höhe spritzend, „herumgeschleudert und gestossen“, einem „Lustspiel“ gleich.23 Aber auch der Anblick der Haut eines Fingers, ◊ Abb. 2 gezeichnet mit all ihren „Linien, Ris­ sen oder Spalten, Schweislöchern und Schuppen“, birgt unter dem Sonnenmikroskop weitaus mehr: hier kann man „die Ausdünstung der Hände, an der weissen erleuch­ teten Wand, wie einen starken Rauch aus denen fünf Fingern in die Höhe steigen sehen“.24 Während die Tafel also akribisch die Struktur zu erfassen sucht, entgeht ihr gleichwohl die Lebendigkeit, das Atmen der Haut. Was die Tafeln nicht zeigen konnten, ließ sich an der Wand direkt betrachten. Die Bewegung betritt bei der Sonnenmikroskopie im wahrsten Sinne den Zuschau­ erraum, gleichermaßen in Augenhöhe. Mikro- und Makrowelt treffen in der dunklen Kammer in einem eigens geschaffenen Raum aufeinander, nicht mehr wie üblich durch das Instrument deutlich voneinander geschieden.25 Lebensvolle Bewegung

Die Bewegung, die das Sonnenmikroskop sichtbar machte, beflügelte jedoch nicht allein die Fantasie. Sie taugte auch als wissenschaftliches Argument: Auf sie stützte sich Ledermüller, als er sich gegen Georges Buffon, eine der größten naturhistorischen Autoritäten seiner Zeit, stellte. Ledermüller führte die Bewegung der Spermien, wel­ che er mit dem Sonnenmikroskop aufs Genaueste beobachtet hatte, gegen Buffon ins Feld, um für ihre Lebendigkeit zu argumentieren, die dieser bestritt.26 Ledermüller 20 Ledermüller: Augen-Ergötzungen (s. Anm. 4), S. 76. 21 Ledermüller: Augen-Ergötzungen (s. Anm. 4), S. 146. 22 Ledermüller: Augen-Ergötzungen (s. Anm. 4), S. 48. 23 Ledermüller: Augen-Ergötzungen (s. Anm. 4), S. 169. 24 Eine lange Passage ist der Untersuchung der Haut gewidmet. Vgl. Ledermüller: Augen-Ergötzungen (s. Anm. 4), Zitate S. 105 und S. 107. 25 Vgl. Heering (s. Anm. 1), S. 363–364. 26 Zur Geschichte der Spermien vgl. Francis Joseph Cole: Early Theories of Sexual Generation, Oxford 1930; Jacques Roger: Les sciences de la vie dans la pensée française du xviiie siècle. La génération des animaux de Descartes à l’Encyclopédie, Paris 1963; Florence Vienne: Organic Molecules, Parasites, ‘Urt­ hiere’: The Contested Nature of Spermatic Animalcules, 1749–1841. In: Susanne Lettow (Hg.): Gender, Race and Reproduction. Philosophy and the Early Life Sciences in Context, Albany 2014, S. 45–64.

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nutzte ein „Cuffisches Sonnen-Microscop“, mit dem er „hundert- ja wohl tausendfache Versuche“ anstellte.27 Schon als er „den ersten Blick in das Glas richtete“, sah er die Samentierchen unmittelbar bewegt und „mit Schwänzgens versehen“: „Sie [...] schwam­ men wie die jungen Frösche, munter und frisch herum“.28 Wenn Buffon dagegen keine Bewegungen der Spermien gesehen habe, dann müsse entweder das von ihm benutzte Sperma bereits „zu alt und zu glutinos [...] gewesen seyn“. Zu trockenes Sperma sei wie eine „klebrige Masse“, die „ihre Schwänzgen [der Spermien, J. W.] wie angeleimt“ festhielte.29 Oder aber Buffon könne schlicht kein Sonnenmikroskop benutzt haben.30 Spermien waren nur eine Erscheinung innerhalb einer ganzen Gruppe schwer zu deutender Phänomene, die in Aufgüssen unter dem Mikroskop sichtbar wurden und für die es so zahlreiche Namen wie animalcula, dierken, fish, protozoa, infusoria, Urtierchen und andere gab.31 Das Sonnenmikroskop erlaubte es Ledermüller, in allen möglichen „kleinen Waßer-Insecten“, „Regenwasser-Würme[n]“, „Wasserflöhe[n], Bou­ cerons, Radthiere[n]“ , und „Schlänglein“ „die Bewegung der innersten Eingeweyde, den Pulsschlag, das Auf- und Absteigen derer Lebens-Säffte und des Geblütes, das Absterben aller Glieder etc. sehr groß und deutlich [zu] zeigen“.32 Inspiriert von Ledermüllers Gemüts- und Augen-Ergötzungen wandte sich der adelige Wilhelm Friedrich Freiherr von Gleichen gen. Rußworm ebenfalls der Mikro­ sko­pie zu.33 Nach dem Neuesten aus dem Reich der Pflanzen veröffentlichte er 1778 die Abhandlung über die Saamen- und Infusionsthierchen. Immer wieder vergleicht auch er darin den Samen mit den Fröschen. So wie schlüpfende Kaulquappen, „die das wahre

2 7 Ledermüller: Beobachtungen (s. Anm. 16), Zitate S. 21–22. 2 8 Ledermüller: Beobachtungen (s. Anm. 16), S. 11, vgl. auch S. 22; siehe auch ders.: Versuch einer gründli­ chen Vertheidigung derer Saamengethiergen: nebst einer kurzen Beschreibung der Leeuwenhoeckischen Mikroskopien und einem Entwurf zu einer vollständigern Geschichte des Sonnenmikroskops als der besten Rechtfertigung der Leeuwenhoeckischen Beobachtungen, Nürnberg 1758, S. 21. 29 Ledermüller: Beobachtungen (s. Anm. 16), Zitate S. 11 und S. 12. Ledermüller selbst sah Sperma „nicht länger als zwey Stunden mit lebendigen Creaturen“, S. 15. 30 Martin Frobenius Ledermüller: Nachlese seiner mikroskopischen Gemüths- und Augen-Ergötzung, Nürnberg 1762. Umgekehrt schließt er, dass Leeuwenhoek bereits eines benutzt haben müsse, vgl. auch Ledermüller: Versuch (s. Anm. 28), S. 45–46. 31 Zum Hintergrund der intensiven Diskussion um Kleinstorganismen, der hier nicht weiter ausgeführt werden kann vgl. Ratcliff: The quest (s. Anm. 8) sowie ders.: Genèse (s. Anm. 15); zu ihrer Rolle in Zeugungstheorien vgl. John Farley: The spontaneous generation controversy from Descartes to Oparin, Baltimore/London 1979; zur Diskussion in Frankreich vgl. Paula Gottdenker: Three clerics in pursuit of ‘little animals’. In: Clio medica, Jg. 14, 1980, Heft 3/4, S. 213–224; sowie Shirley Roe: The life sciences. In: Porter (s. Anm. 2), S. 397–416. 32 Ledermüller: Beobachtungen (s. Anm. 16), S. 21. 33 Zu Gleichen-Rußworms Leben vgl. Melchior A. Weikard: Biographie des Herrn Wilhelm Friedrich v. Gleichen genannt Rußworm Herrn auf Greifenstein, Bonnland und Ezelbach, o. O. 1783.

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Schauspiel im Großen vorstellen“, sind es die Samen „im Kleinen“, die „unter dem Vergrößerungsglase“ nicht „einen Augen­ blick“ Anlass zum Zweifel gäben, „daß diese Thierchen eine selbständige (aus ihnen selbst herkommende) oder freiwil­ lige Bewegung haben“.34 ◊ Abb. 5 Gleichen-Rußworm setzte sich in seiner Abhandlung grundsätzlich mit dem Wesen von Bewegung auseinander. Infusionstiere entstünden im Wasser, dem „Anfang alle Dinge“. Hier überführe die Natur „die Materie in das Leben“, indem sie durch Wärme und Gärung Bewegung stiftet.35 Bewegung ist aber nicht gleich Bewegung, und nicht alle Bewegung ist 5: Gleichen-Rußworm: Abhandlung über die Samen- und ein Zeichen von Lebendigkeit. Gleichen- Infusionsthierchen, Tab. xxvi. Rußworm unterscheidet die „lebensvolle Bewegung“ von der „mechanischen“ oder „mechanisch-organischen“. Letztere ist überall anzutreffen, denn sie ist „ein allgemeines Naturgesetz“.36 Das macht sie allerdings noch nicht zu lebendiger Bewegung. Die lässt sich indes für ein „durch das Mikroskop zu sehen gewohntes Auge“ leicht erkennen. Weder in chemischen Flüssigkeiten lasse sich „etwas belebtes“ sehen, noch könne man in Pflanzensäften die bewegten Teilchen für „Thierchen“ halten, „weil sie gerade vor sich weggestoßen werden, und nicht wie die Saamenthierchen in schwankenden Wen­ dungen, den ganzen Gesichtskreis durchfahren, und einander ausweichen“.37 Lebens­ volle Bewegungen sind „unerwartete“, also solche, „die von keiner mechanischen Triebfeder herrühren, mithin freie Handlungen sind“. Unvorhersehbarkeit, Freiheit und Freiwilligkeit werden zum Kennzeichen der lebendigen Bewegung. Diese ist das „untrügliche Kennzeichen der Animalität“ und zeichnet auch die Infusionstiere aus:

34 Wilhelm Friedrich Freiherr von Gleichen gen. Rußworm: Abhandlung ueber die Samen- und Infusi­ onstierchen und ueber die Erzeugung. Nebst mikroskopischen Beobachtungen des Samens der Tiere und verschiedener Infusionen, Nürnberg 1778, S. 6, vgl. auch S. 10, 68. 35 Gleichen-Rußworm: Abhandlung (s. Anm. 34), S. 74. 36 Gleichen-Rußworm: Abhandlung (s. Anm. 34), S. 98. 37 Gleichen-Rußworm: Abhandlung (s. Anm. 34), Zitate S. 6.

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„Sie haben die Kraft, mitten in ihrer Fahrt Halt zu machen, sich um, und von einer Seite zur anderen, zu werfen und zu wenden[...]; einen anderen Weg zu nehmen; das Vermögen sich den hindernden Schleimtheilchen zu widersetzen, sie zu bewegen und fortzustoßen; Ueberlegung, ihren Körper zusammen zu ziehen; [...] sich zu krümmen [...] endlich Leidenschaften zu erkennen zu geben, wenn sie sich ­Truppenweis versammeln, gesellschaftlich miteinander fortgehen, und sich wieder trennen [...] oder sich paarweis vereinigen.“ 38

In Regentropfen und Pflanzenschäften, Schlamm und Organen, im durchsichtigen Innern und den äußerlichen Rädern und Schaufeln der Tiere: Bewegung war überall. Das Mikroskop machte sie zum ersten Mal sichtbar, das Sonnenmikroskop dagegen überführte sie in die Welt des Betrachters. Was die frühen Mikroskopisten sahen, ließ keinen Zweifel daran, dass Lebensbewegungen mehr als physikalische und chemische Bewegungen waren. Gleichwohl blieben sie ein großes Rätsel. Wenn Ledermüllers Schlamminsekt sich wie der Arlecchino aus der italienischen Comedia dell’arte beweg­ te, dann nicht nur, weil seine Bewegungen so lustig, lächerlich oder heldenhaft wie auf dem Theater, sondern weil sie von so überraschender, ungeahnter Vielfalt und Kom­ plexität waren. Die Erfahrung von Bewegung verlangte, dass das Gesehene begriffen und das Begriffene gesehen werden musste. All die zitternden und schwankenden, rotierenden, rasenden und stockenden Körperchen, das Gewimmel und Geschwärme, das einerseits Chaotische, andererseits Koordinierte: An der Wand wurde diese Welt groß und ihre Bewegungen Fiktion.

38 Gleichen-Rußworm: Abhandlung (s. Anm. 34), Zitate S. 98–99.

Bettina Papenburg

Inszenierungen des mikroskopischen Dispositivs im animierten molekularbiologischen Lehrfilm „Wenn man in einem Experiment nicht seine Vernunft aufs Spiel setzt, dann ist das Experiment es nicht wert, versucht zu werden.“ 1

Der französische Wissenschaftsphilosoph Gaston Bachelard hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass wissenschaftliche Neuerungen ohne die Beteiligung der Imagina­ tion nicht zu haben sind. In seinem richtungweisenden Aufsatz zum „Surrationalis­ mus“ in der surrealistischen Zeitschrift Inquisitions fordert Bachelard „eine experimentelle Vernunft [zu] etablieren, die dazu in der Lage ist, das Wirkliche surrational zu organisieren”.2 Das wissenschaftliche Programm, das Bachelard hier unter dem titel­ gebenden Neologismus „Surrationalismus“ auslegt, beharrt auf der Überschreitung der wissenschaftlichen Rationalität und erweitert die naturwissenschaftlich-experimentelle Methodik hinein in das Feld der Kunst. Das Programm Bachelards ist wesentlich für ein Spektrum von kultur- und medienwissenschaftlichen Forschungen sowie wissenschaftshistorischen und wissen­ schaftstheoretischen Untersuchungen, die das Augenmerk auf das Experiment und auf die Experimentalanordnungen legen. So haben sowohl wissenschaftshistorische Ansät­ ze als auch jüngere Studien im Rahmen der neo-materialistischen Wissenschaftsfor­ schung darauf aufmerksam gemacht, dass den Forschungsinstrumenten und den Expe­ rimentalanordnungen eine entscheidende Rolle für die Wissenserzeugung zukommt. Hans-Jörg Rheinberger beispielsweise hat die wichtige epistemische Funktion kom­ plexer Vermittlungstechniken unterstrichen und die Bedeutung der experimentellen Anordnungen für die Wissensgenese hervorgehoben.3 Und auch die US-amerikanische Quantenphysikerin und Wissenschaftstheoretikerin Karen Barad hat den Blick wieder auf die wissenschaftlichen Instrumente gelenkt und unterstrichen, wie wichtig diese für die Erzeugung von wissenschaftlichem Wissen sind.4 Das mikroskopische Dispositiv

In medienwissenschaftlicher Terminologie lassen sich Experimentalanordnungen unter der Rubrik des Dispositivs subsummieren. Der Begriff des Dispositivs wurde von Michel Foucault in den späten 1960er- und 1970er-Jahren eingeführt und aus­ge­ 1 Gaston Bachelard: Le surrationalisme. In: Inquisitions. Organe du groupe d’études pour la phénomé­ nologie humaine, Jg. 1, Juni 1936, S. 1–6, S. 5. Deutsche Übersetzung von Hans-Jörg Rheinberger in: ders.: Der Kupferstecher und der Philosoph. Albert Flocon trifft Gaston Bachelard, Zürich 2016, S. 15. 2 Rheinberger (s. Anm. 1), S. 11 (Hervorhebung im Original). 3 Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Protein­ synthese im Reagenzglas, Göttingen 2001. 4 Karen Barad: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham, NC 2007.

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ar­beitet.5 Nahezu zeitgleich entwickelten der französische Filmtheoretiker Christian Metz sowie die Filmkritiker Jean-Louis Comolli und Jean-Luc Baudry den Dispositiv­ begriff zur Beschreibung der kinematografischen Konstellation – das räumlich-appara­ tive Arrangement der Filmrezeption im Kino, in der das Publikum gemeinschaftlich arretiert in einem dunklen Raum sitzt und ein projiziertes Lichtbild betrachtet. Das kinematografische Dispositiv (the cinematic apparatus), ein zentraler Begriff der semi­ otisch orientierten Filmwissenschaft der 1970er- und 1980er-Jahre, ermöglichte es, die ideologischen Effekte dieser Konfiguration zu analysieren.6 Im Anschluss an diesen Begriff des kinematografischen Dispositivs hat Lisa Cart­wright die chronofotografischen Bewegungsstudien, wie sie unter anderem von Étienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge betrieben wurden, aus den 1870er- und 1880er-Jahren und die frühen medizinischen Filme als wissenschaftliches kinematogra­ fisches Dispositiv (the scientific cinematic apparatus) gefasst. Diese apparativ-technische Schauanordnung bezwecke,7 Cartwright zufolge, die Überwachung, die Vermessung und die Transformation des menschlichen Körpers.8 Der in kritischer Weiterführung der vorgestellten Forschungen entwickelte Begriff des mikroskopischen Dispositivs erlaubt, die Grenzen konstituierenden und Grenzen überschreitenden Effekte jener Schauanordnungen zu analysieren, die dar­ auf abzielen, innerzelluläre Strukturen und Prozesse vermittels eines Gefüges aus optischen Apparaturen wie Mikroskopen, Lasern, Scannern und Kameras sowie komplexen Software- und Hardware-Komponenten sichtbar zu machen. Traditionell kennzeichnend für das mikroskopische Dispositiv sind die Reduktion oder Dekon­ textualisierung, die sich über die Ausschnittwahl begründen, sowie die Vergrößerung, die Visualisierung und die Relation von Schärfe und Unschärfe. Im Labor werden unter dem Mikroskop präparierte Untersuchungsgegenstände arretiert. Die technisch 5 Zur Unterscheidung zwischen dem Dispositivbegriff und dem Diskursbegriff siehe Michel Foucault: Das Spiel des Michel Foucault (Gespräch) [frz. Orig. 1977]. In: Daniel Defert, François Ewald (Hg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 3: 1976–1979, Frankfurt a. M. 2003, S. 391–430. 6 Strukturbildend für die Apparatus-Debatte waren der wegweisende Aufsatz von Jean-Louis Baudry, Alan Williams: Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus. In: Film Quarterly, Jg. 28, 1974–1975, Heft 2, S. 39–47, sowie die Texte in den Sammelbänden von Teresa de Lauretis, ­Stephen Heath (Hg.): The Cinematic Apparatus [Orig. 1980], New York 1985 und von Philip Rosen (Hg.): ­Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York 1986. 7 Der Begriff der Schauanordnung wird hier mit Rückbezug auf die Studien zu Zoo und Kino von Sabine Nessel verwendet. Nessel leitet den Begriff von Siegfried Kracauers Überlegungen zum Film her. Siehe Sabine Nessel: Tiere und Film. In: Roland Borgards (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 262–270. 8 Lisa Cartwright: Science and the Cinema. In: Nicholas Mirzoeff (Hg.): The Visual Culture Reader, London 1998, S. 199–213, S. 206.

Inszenierungen des mikroskopischen Dispositivs im Lehrfilm

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verlängerten Hände der Betrachtenden und die von optischen Apparaturen ver­ mittelten Blicke navigieren zwischen einer Reihe von Bildschirmen und den auf den Bildschirmen aufscheinenden diagram­ matischen Repräsentationen der zu unter­ suchenden Zellen. Das mikroskopische 1: X Inactiviation and Epigenetics, Titelbild, TC: 00:09. Dispositiv aus dem Laborkontext, so die These, tritt nunmehr in den computeranimierten Visualisierungen von molekularen Prozessen im molekularbiologischen Lehrfilm der 2010er-Jahre erneut in Erscheinung. In diesem Remedialisierungsprozess verwandelt sich das mikroskopische Dispositiv und es werden neue Bedeutungen hervorgebracht, die in die Erzeugung von moleku­ larbiologischem Wissen einfließen.9 Der elfminütige animierte Lehrfilm X Inactiviation and Epigenetics10 inszeniert das epigenetische Phänomen der Inaktivierung des weiblichen X-Chromosoms. Der Film dient zum einen der Erklärung von komplexen innerzellularen und molekularen Prozessen in der akademischen Lehre. Zum anderen sichert der Film die Kontinui­ tät der epigenetischen Forschung und kommuniziert mit der Öffentlichkeit und mit Sponsoren. Bereits das Titelbild des Films X Inactiviation etabliert das mikroskopische Dispositiv. Die Titeleinblendung ist in Form einer Schablone gestaltet. ◊  Abb.  1 Buchstaben, die aus einer schwarzen Folie herausgeschnitten wurden, eröffnen und verstellen zugleich den Blick auf eine zweite, dahinterliegenden Ebene, auf der rasche, schwirrende Molekülbewegungen erahnt werden können. Der Blick auf die farbigen Moleküle wird allein durch die ausgeschnittenen Buchstaben freigegeben. ­Dieser Inszenierungsstil beleiht die Scherenschnittanimation, bei der sich klassischer­ 9 Auch die niederländische Medienwissenschaftlerin José van Dijck hat hervorgehoben, dass Computer­ animationen die Wissenschaft mitgestalten. Sie führt dies an den Visualisierungen von Bewegungsabläu­ fen verschiedener Dinosaurierspezies in der naturgeschichtlichen populärwissenschaftlichen Mini-Serie Walking with Dinosaurs (Tim Haines, Jasper James: GB: Wide-Eyed Entertainment 1999) aus. Siehe José van Dijck: Picturizing science. The science documentary as multimedia spectacle. In: International Journal of Cultural Studies, Jg. 9, 2006, Heft 1, S. 5–24, S. 14. Zum Zusammenkommen unterschied­ licher Methoden der Bilderzeugung zur Rekonstruktion der Bewegungsabläufe ausgestorbener Tiere siehe John Nyakatura: Beschreibung, Experiment, Modell. Zum Spurenlesen in der paläobiologischen Forschung am Beispiel einer funktionsmorphologischen Analyse. In: Bettina Bock von Wülfingen (Hg.): Bildwelten des Wissens, Bd. 13: Spuren. Erzeugung des Dagewesenen, Berlin 2017, S. 12–23. 10 Etsuko Uno (Animation), Drew Berry (Regie): X Inactivation and Epigenetics (AUS: The Walter and Eliza Hall Institute of Medical Research, Melbourne 2011) online https://www.wehi.edu.au/wehi-tv/xinactivation-and-epigenetics (Stand: 06/2017), 11 min.

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weise schwarze Papierfiguren vor einem hellen Hintergrund bewegen, kehrt aber die Figur-Grund-Relation um: Die Bewegungen der bunten Figuren laufen hinter der im Vordergrund stillgestell­ ten schwarzen Folie ab und stellen so 2: X Inactiviation and Epigenetics, farbige Moleküle vor eine Schau­anordnung her, die Betrach­ dunklem Hintergrund, TC: 01:12. tende gleichsam vor einem Mikroskop po­sitioniert. Das mikroskopische Dispositiv ist vor allem seit der computergestützten Mikro­ skopie eines, das sich über die Gleichzeitigkeit verschiedener Bildtypen – Diagramme, Zahlenkolonnen, gescannte Abbilder von Zellen – konstituiert und von der Vernetzung einer Vielzahl von Apparaturen wie Prozessoren, Lasern, Kühlgeräten und Mikro­ skopen bestimmt wird. Die farbige Darstellung der Moleküle in X Inactivation ruft die bioluminiszenten Farben aus der Fluoreszenzmikroskopie auf. Techniken wie die Fluoreszenzmikroskopie oder die Bewegt-Zell-Mikroskopie (live-cell-imaging) ermög­ lichen es Forschenden, Veränderungen von eingefärbten, fluoreszierenden Molekülen zu beobachten und ausgehend von diesen Beobachtungen Rückschlüsse über Verän­ derungen in lebenden Zellen zu ziehen. X Inactivation inszeniert das mikroskopische Dispositiv und unterwandert diese Schauanordnung zugunsten der Abstraktion.11 Der Film fokussiert auf das ­Wesentliche, auf das, was der oft unscharfe Blick durch das Mikroskop hervorzubringen beabsichtigt, was jedoch in der mikroskopischen Praxis oft unklar bleibt. Der US-amerikanische Filmwissenschaftler Scott Curtis hat die Verwirrung und Unklarheit des mikroskopi­ schen Bildes der Abstraktion und Klarheit der wissenschaftlichen Zeichnung gegen­ übergestellt.12 Eine ähnliche Gegenüberstellung gilt auch für das Verhältnis zwischen der unordentlichen Realität und der Sauberkeit der Computeranimation.

11 Sabine Flach hat den Stellenwert der Abstraktion als Vermittlungskategorie hervorgehoben, die künst­ lerische und wissenschaftliche Darstellungsformen miteinander verbindet. Sabine Flach: Abstraktion als Missing Link zwischen Kunst und Naturwissenschaft am Beispiel der Laborarbeiten von Wassily Kandinsky, Kasimir Malewitsch und Michail Matjuschin. In: Claudia Blümle, Armin Schäfer (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Zürich/Berlin 2007, S. 115– 139. 12 Scott Curtis: Rough and Smooth. The Rhetoric of Animated Images in Scientific and Educational Film. Kracauer Lectures in Film and Media Studies. Goethe-Universität Frankfurt am Main, 5. Juli 2013. http://www.kracauer-lectures.de/en/sommer-2013/scott-curtis/ (Stand: 2/2017). Vgl. auch den Beitrag von Scott Curtis in diesem Band, S. 30–40.

Inszenierungen des mikroskopischen Dispositivs im Lehrfilm

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Remedialisierungen des populärkulturellen Bildrepertoires

X Inactiviation gliedert sich in fünf kurze Kapitel, die komplexe epigenetische Prozesse der Inaktivierung und der Aktivierung des X-Chromosoms mit vielfarbigen Bildse­ quenzen illustrieren. Materie vibriert, schwirrt, windet sich, strotzt vor Energie. Das bunte Treiben scheint einem ausgeklügelten Plan zu folgen. Histonschwänze – länglich geformte Proteine im Zellkern – schlängeln sich vor einem schwarzen Bildhintergrund. Begleitet von dem Geräusch eines raschen Flügelschlages sausen violett gefärbte Mole­ küle auf einen Histonring zu – Proteine, Bestandteile des Chromatin, die zu einer Spule aufgerollt sind – und docken mit einem mechanischen Klick-Geräusch an den Ring an. Goldfarben schimmernde, als filigrane Netzwerke dargestellte X-Chromo­ some tasten sich aneinander heran, tasten einander ab und driften wieder auseinander, bevor eines der beiden Chromosomen erlischt und erstarrt. Die computergenerierten Bewegtbilder wechseln bisweilen mit stillen und beweg­ ten Schautafeln ab, die symmetrisch in den zwei gegenüberliegenden Bildhälften ange­ ordnet sind. Unterlegt sind die Bewegtbilder mit verspielt anmutenden Geräuschen sowie einem fachwissenschaftlichen Kommentar. Die Geräusche korrespondieren mit spezifi­ schen Bewegungen im Bild. Leises Rasseln und ein hoher sphärischer Ton – der irgend­ wo zwischen dem Klang von Silberglöckchen und der Rückkopplung zweier zu dicht beieinander stehender Lautsprecher liegt – indizieren molekulare Bewegungen. Fach­ begriffe und Kernaussagen, die im gesprochenen Kommentar vorkommen, erscheinen als geschriebene Texteinblendungen im Bild. Farbcodierungen einzelner Moleküle und die Formähnlichkeit von Molekülverbindungen gewährleisten die Wiedererkennung. Die Bilder rufen Inszenierungsstrategien auf, die aus dem frühen wissenschaftli­ chen Film, aus dem populären Animationsfilm und aus dem Experimentalfilm bekannt sind. Ein Beispiel dafür bietet das zweite Kapitel, „Epigenetics and the X chromoso­ mes“, das auf die Inaktivierung des X-Chromosoms in weiblichen Körperzellen fokus­ siert. Dieses Kapitel umfasst zweierlei Typen von Animationen. Zum einen zeigen ani­ mierte Schemazeichnungen die Interaktionen zwischen farbigen Molekülen vor einem schwarzen Hintergrund. ◊ Abb. 2 Zum zweiten visualisieren detailreiche, farblich nuan­ cierte animierte Sequenzen die innerzellularen Interaktionen zwischen Chromosomen. Die Schwimm- und Schlangenbewegungen der Moleküle greifen die Bewegungen der Tintenfische aus dem wissenschaftlich-experimentellen Unterwasserfilm Les Amours de la Pieuvre13 auf. In den unregelmäßig geformten Oberflächen der Moleküle kehren 13 Jean Painlevé, Geneviève Hamond: Les Amours de la Pieuvre/Lovelife of the Octopus (F:  Les Docu­ ments Cinématographiques 38 1965), 14 min, in: DVD Science is Fiction. The films of Jean Painlevé (GB: British Film Institute 2008), 215 min.

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3: X Inactiviation and Epigenetics, Zellen, TC: 02:21.

4: L’Hippocampe, Eier im Beutel des schwangeren männlichen Seepferdchens, TC: 06:57.

5: Les Amours de la Pieuvre, Saugnäpfe an den Tentakeln des Tintenfischs, TC: 00:06.

Bettina Papenburg

die vorgewölbten Hautplatten der Seepferd­ chen aus dem Film L’Hippocampe14 wieder. Der blasenartige Zellverbund ◊ Abb. 3 ruft sowohl die Bilder der Eier auf, die aus dem aufgeschnittenen Beutel des schwangeren männlichen Seepferdchens herausquellen, ◊ Abb. 4 als auch die Aufnahmen der mit Saugnäpfen überzogenen Tentakel des Tin­ tenfischs. ◊ Abb. 5 Neben dem biologischen Themenfokus weist X Inactivation ähnlich wie L’Hippocampe eine surreale Tonspur auf, wo ein wissenschaftlicher Kommentar über einer experimentellen Klangcollage liegt, die von Darius Milhaud komponiert wurde. Es scheint, als hätten die Forschen­ den, die X Inactivation gemacht haben, die bestechende Verbindung von Vernunft und Imagination den Vorbildern der experi­ mentellen Filmkunst entlehnt. Das Farbschema, die schimmernden, transluzenten Bildhintergründe und die merkwürdigen bildbegleitenden Tiefsee­ geräusche in X Inactivation zitieren den sehr populären Animationsfilm Finding Nemo.15 So wird das dunkel-blau-grünviolette Farbschema der unheimlichen 14 Jean Painlevé: L’Hippocampe/The Sea Horse (F: Pathé-Consortium-Cinéma 1934), 14 min, in: Science is Fiction (s. Anm. 13). 15 Andrew Stanton, Lee Unkrich: Finding Nemo (USA: Pixar Animation Studios 2003), DVD Disney Home Entertainment 2003, 100 min. Etsuko Uno, die Biologin und Wissenschaftsa­ nimatorin, die für die Animationen in „X Inacti­ viation and Epigenetics“ verantwortlich ist, sagt, sie sei von den Animationsfilmen der DisneyFirma Pixar inspiriert, die Finding Nemo pro­ duziert hat. https://clarafi.com/profiles/etsukouno-ms/ (Stand: 02/2017).

Inszenierungen des mikroskopischen Dispositivs im Lehrfilm

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Unterwassersequenzen aus Finding Nemo für die Einfärbung der inaktivierten DNAStränge in X Inactivation verwendet. Das Farbschema des Korallenriffs  – der Aus­ gangspunkt der Abenteuer des Clown­ fischs Nemo – umfasst kräftige Violett-, Blau- und Grüntöne sowie blasse Gelb- und 6: Finding Nemo, Korallenriff, TC: 07:07. Ockertöne. ◊ Abb. 6 Ähnliche Farbtöne wer­ den für jene Bildsequenzen verwendet, die Kopierprozesse des aktiven DNA-Strangs anschaulich machen. ◊ Abb. 7 Der Aufbau der Bilder vom Kopiervorgang der DNA ähnelt zudem der Komposition der Bilder des Korallenriffs. Die Darstellungen der Meeresoberfläche im Sonnenuntergang sind in warmen Violett-, Blau- und Gelb­ tönen gehalten. Dieses Farbspektrum kehrt 7: X Inactiviation and Epigenetics, aktivierte DNA-Stränge in X Inactivation in leicht abgewandelter im Kopiervorgang, TC: 03:59. Form in jenen Sequenzen wieder, die akti­ vierte DNA-Stränge zeigen. Analog zu den zahllosen Quallenköpfen in der Tiefsee gerät eine kompakte bildfüllende Zellenmasse im Körperinneren in den Blick. ◊ Abb. 3 Die lichtdurchlässige Materialität der Quallen korrespondiert mit der Transluzenz der Zellen, und die Tentakel der Quallen kommen als grundierende Bildtextur in den Zelldarstellungen im Lehrfilm wieder vor. Alle diese Zitationen von Motiven und Evokationen von Konventionen aus experimentellen und populären Filmen erhöhen den Unterhaltungswert des Lehrfilms und unterstüt­ zen den Lernprozess, indem sie an bestehende Bildtraditionen anknüpfen und den Lehrfilm in ein kulturelles Bildrepertoire einbetten.16

16 Visualisierungen der Zelle sind seit dem Beginn der Mikroskopie in den 1660er-Jahren in ein kulturelles Bildrepertoire eingebettet. Vgl. Matthias Bruhn: Zellbilder. Eine Kunstgeschichte der Wissenschaft. In: Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel (Hg.): Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008, S. 54–65. Für den Bereich des Makrokosmos hat die Kunsthistorikerin Elizabeth Kessler gezeigt, wie die Aufnahmen und Daten, die das Hubble-Teleskop an die Erde sendet, in Anlehnung an ein kulturelles Bildrepertoire – namentlich die Darstellungen des US-amerikanischen Westens in der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts – zu populären Bildern verarbeitet werden. Siehe Elizabeth A. Kessler: Picturing the cosmos. Hubble Space Telescope images and the astronomical sublime, Minneapolis 2012.

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Bettina Papenburg

Vermittels von Sprüngen zwischen verschiedenen Vergrößerungsmaßstäben ver­ bindet X Inactivation diverse milliskopische und mikroskopische Größenordnungen von 10-3 bis 10-7 miteinander. Der Wechsel zwischen den Größenordnungen ruft oft zitierte und imitierte Experimentalfilmklassiker wie Cosmic Zoom17und Powers of Ten18 auf. Anders als in Powers of Ten bleibt die virtuelle Kamera in X Inactivation jedoch unbewegt, während sich die Objekte im Bild – Zellen, Moleküle und ein menschlicher Torso – nahezu unablässig bewegen. Während Powers of Ten einen mühelosen Flug durch die Dimensionen suggeriert, verweisen die Sprünge zwischen den Skalen in X Inactivation auf den traditionell von Hand realisierten Wechsel der Vergrößerungsmaß­ stäbe am Mikroskop und auf den mühsamen Prozess des Scharfstellens. X Inactiviation vermittelt ein Gefühl der visuellen Kontrolle über die Materie, indem er eine spezifische Schauanordnung aufruft: Das mikroskopische Dispositiv dekontextualisiert, rahmt und vergrößert lebendige Materie; durchschneidet und durchleuchtet sie in verschie­ denen Vergrößerungsstufen. Zugleich unterwandert der Film diesen Eindruck der Kontrolle jedoch auch, wenn er Materie als unendlich vital und handlungsmächtig zeigt: Materie wimmelt, fliegt, schwankt, rauscht, brodelt und knirscht. Unterwanderung der naturwissenschaftlichen Rationalität

Die affektive Aufladung der Bilder vollzieht sich sowohl über die Bezüge zu den Motiven aus Spielfilmen und Experimentalfilmen als auch über Verknüpfungen mit anderen, arbiträren Themenfeldern wie der industriellen Fertigung, der Unterwasser­ welt und dem Vogelflug. Diese vitalen Affektimpulse animieren das mikroskopische Dispositiv, das seinerseits die Vitalität des Winzigkleinen rahmt, lebendige Materie für den wissenschaftlichen Blick zugänglich und für die technische Durchleuchtung und die mathematische Vermessung verfügbar macht. Die Inszenierung von epigenetischem Wissen löst das Desiderat Bachelards, dass im Experiment nichts weniger auf dem Spiel stehen müsse als die Vernunft, in über­ raschender Weise ein, indem sie populärkulturelle Motive zitiert. Inszenierungen von computeranimierten Molekülmodellen im wissenschaftlichen Lehrfilm unterlaufen die naturwissenschaftliche Rationalität und verweben vernünftige Gedanken mit spie­ lerischen Formen. Das Spiel besteht hier im Oszillieren zwischen wissenschaftlichen Formaten einerseits und unterhaltenden Formaten andererseits. Molekularbiologische 17 Eva Szasz: Cosmic Zoom (CAN: National Film Board of Canada 1968), online https://vimeo.com/ 102030758 (Stand: 06/2017), 8 min. 18 Charles and Ray Eames: Powers of Ten (USA: International Business Machines (IBM)/Office of Charles & Ray Eames 1977), online http://www.criticalcommons.org/Members/ccManager/clips/powers-of-ten/ view (Stand: 06/2017), 8:47 min.

Inszenierungen des mikroskopischen Dispositivs im Lehrfilm

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Animationsfilme, wenngleich sie für den Kontext der akademischen Lehre entwickelt wurden, gehören damit zugleich einer populären Bildkultur an. Ihre Inszenierungs­ strategien im mikroskopischen Dispositiv speisen sich aus dem kollektiven visuellen Repertoire. Und es ist die Beleihung des Unterhaltungsfilms, die X Inactivation so verlockend macht. Die Bezüge zu einer Blockbusterästhetik lenken die Aufmerksam­ keit der Betrachtenden und generieren Formen der Wahrnehmung von molekularen Prozessen, die Materie als vital und energiegeladen begreifbar machen.

Scott Curtis

Grob und glatt. Über eine relationale Theorie des wissenschaftlichen Animationsbildes 1926 produzierte das College of American Surgeons den medizinischen Lehrfilm Diagnosis and Treatment of Infections of the Hand,1 einen ansonsten nicht weiter bemerkens­ werten Vertreter seines Genres, der mit einigen typischen Mitteln filmischer Tricktech­ nik gearbeitet hat. So werden unter der Haut liegende Strukturen auf dem Wege der Animation in die Fotografie einer Hand oder eines Arms eingetragen. ◊ Abb. 1 Diese gezeichneten Linien leisten gleichwohl wichtige Arbeit: Sie zeigen Struktur und Posi­ tion an; sie demonstrieren den Zusammenhang von Venen, Nerven und Krankheit; und sie stellen auf relativ einfache und klare Weise dar, was mit einer Kamera kaum aufgezeichnet werden könnte. Nichtsdestotrotz wurde Animation in diesem und vergleichbaren Filmen spar­ sam und vorsichtig eingesetzt, präzise eingehegt durch die fotografische Basis und die erklärenden Beschriftungen auf dem Bildschirm. Als Darstellung dessen, was nicht fotografiert werden kann (wie das sehr Kleine, das sehr Große oder überhaupt alles, was unterhalb der Oberfläche der Haut liegt, wie in diesem Film), oder als hilfreiche Abstraktion durch die Vereinfachung von Details, erwies sich das gezeichnete Bild zwar stets als nützlich und fand seit dem frühen 20. Jahrhundert Anwendung in den Wis­ senschaften. Dennoch wurden Bilder dieser Art, die so viel leisten, innerhalb der wis­ senschaftlichen Gemeinde eher als zweitklassige Bildformen erachtet, zumal sie einer Nähe zur Unterhaltung verdächtig schienen. In der Forschung kamen sie daher nur zurückhaltend und vorsichtig angewandt zum Einsatz. Wie das oben genannte Beispiel andeutet, wurde der Verdacht mangelnder Wissenschaftlichkeit auch durch bestimmte Konventionen des Genres weiter genährt. Demgegenüber soll der vorliegende Aufsatz dafür plädieren, Animation und Fotografie im Prozess der Wissensproduktion als gleichwertige Partner anzusehen. Allen Argwohns ungeachtet, benötigen Forschende, Lehrende – und auch die Filme selbst – das animierte Bild für ihre Argumentation. Um diese historische Beziehung zu erklären, bedarf es in den Film- und Medienwissen­ schaften einer neuen Theorie, da hier gegenüber der Animation nahezu immer große Befangenheit herrschte. Konkret müssen die Disziplinen ihre Annahme überdenken, wonach „Animation“ lediglich ergänzend zu Fotografie und Live-Action-Film fun­ giert, und damit ein übliches Vorurteil abbauen, was das Verhältnis von ­Animation 1 Allen B. Kanavel: Diagnosis and Treatment of Infections of the Hand (USA: College of American Surge­ ons 1926), online https://wellcomelibrary.org/item/b16697911#?c=0&m=0&s=0&cv=0 (Stand: 09/2017), 47:22 min. In der Kopie, die in der Wellcome Library vorliegt, wird Allen B. Kanavel, M. D., als Pro­ duzent angegeben, Kirsten Ostherr jedoch gibt an, dass für die vom American College of Surgeons geförderten Filme von Eastman Medical Films keine Filmemacher referenziert wurden. Siehe Kirsten Ostherr: ­Operative Bodies. Live Action and Animation in Medical Films of the 1920s. In: Journal of Visual Culture, Jg. 11, 2012, Heft 3, S. 352–377.

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und Wissenschaftlichkeit (oder Dokumen­ tationsqualität) angeht. Alternativ soll ein relationaler Ansatz vorgeschlagen werden, in dem das Grafische und das Fotografische im Prozess der Wissensproduktion untrennbar miteinander verbunden sind, genauso wie das Konkrete und das Abstrakte im menschlichen 1: Diagnosis and Treatment of Infections of the Hand Verständnisprozess dialektisch funktionieren. weist eine für den medizinischen Lehrfilm typische Ein Beispiel aus einem Lehrbuch der Bio­ Kombination von Live-Action Filmmaterial und logie aus den 1970er-Jahren verdeutlicht dies.2 Animationselementen auf, TC: 02:23. ◊ Abb. 2 Die Fotografie und die Linienzeich­ nung, die das Mitochondrium eines norma­ len Parameciums (Pantoffeltierchens) zeigen, gehen in einer gemeinsamen Abbildungsform auf, die der Wissenschaftssoziologe Michael Lynch eine „Paarstruktur“ genannt hat.3 Die­ ses Muster ist in der Geschichte wissenschaft­ licher Illustration recht weit verbreitet und in Fachbüchern und wissenschaftlichen Artikeln ebenso wie bei Konferenzvorträgen anzutref­ fen. Indem das fotografische Bild über dem gezeichneten steht, scheint es die Paarstruktur zu dominieren oder sich als eine Aufzeichnung von Rohdaten zu präsentieren, die mithilfe der Strichzeichnung interpretiert werden können. Es ist jedoch bemerkenswert, dass beide Bilder 2: Beispielhafte Anordnung von Fotografie und Zeichnung in einer Paarstruktur. L. T. Threadgold: The hochgradig bearbeitet sind: Um eine lesbare Ultrastructure of the Animal Cell. Fotografie zu erhalten, war ein ebenso großer Aufwand wie für die Strichzeichnung erfor­ derlich, wenn nicht sogar ein größerer. Zweifellos ist das Fotografieren eine andere Arbeit als das Zeichnen – die Zelle muss ausgewählt und präpariert werden, das Fär­ bemittel muss zum Fotomaterial kompatibel sein, der Druck muss bestimmte Eigen­ schaften der Zelle stärker als andere hervorbringen – aber nichtsdestotrotz findet Arbeit 2 L. T. Threadgold: The Ultrastructure of the Animal Cell, Oxford (2. Aufl.) 1976, S. 321. 3 Michael Lynch: The Externalized Retina. Selection and Mathematization in the Visual Documentation of Objects in the Life Sciences. In: Michael Lynch, Steve Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice, Cambridge, MA 1990, S. 153–186.

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statt, wird die Zelle in ein veritables „Arbeitsobjekt“ verwandelt, das als Beispiel für eine Reihe von Eigenschaften dienen kann, die als normal erachtet werden.4 Auf­ grund dieser Arbeit, die vom wissenschaftlichen Publikum überwacht und als legi­ tim anerkannt wird, kann auch die Fotografie einer Zelle als realistisch gelten – also nicht nur aufgrund ihres Status als Fotografie, die historisch gesehen bereits über ein beträchtliches rhetorisches Gewicht verfügt. Umgekehrt ist auch die Linienzeichnung auf ihre eigene Art ebenfalls realistisch, indem sie mit dem Foto verankert ist und ihre Darstellung als gültige und wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der Elemente der Zelle verstanden werden kann. Dennoch ist die Linienzeichnung keine bloße, nachrangige Zutat; sie ist es viel­ mehr, die aus der Fotografie ‚Sinn macht‘. Jedes Bild benötigt das andere – die Foto­ grafie beglaubigt die Zeichnung, während die Zeichnung den Informationswert des Fotos erhöht, vom Detail bis zum generellen Prinzip. Die Zeichnung reduziert die überbordenden Informationen der Fotografie auf einen leichter verständlichen Gehalt; tatsächlich erscheint sie ob ihrer Ähnlichkeit zur Fotografie eher wie deren Abstraktion und nicht als ein Werk der Imagination. Sie funktioniert nur deshalb als Abstraktion und erklärendes Lehrmittel, weil die Fotografie in ihrem Detailgehalt ungeordnet, überreich und verwirrend ist und sie dadurch den Eindruck vermittelt, dass sie naturgetreu ist. Die Fotografie repräsentiert die natürliche Welt, während die Linienzeich­ nung Ausdruck unseres Versuchs ist, sie zu beherrschen. Die Biologin oder der Biologe bearbeitet zwar die Fotografie, aber nicht in dem Maße, dass sie zur Linienzeichnung würde; ihre Rhetorik der Authentizität ist vielmehr abhängig von einem Chaos, das durch sie sorgfältig geregelt ist. Genauso ist die Linienzeichnung nicht einfach eine Umrisszeichnung des fotografischen Bildes, sondern eine an der Erfahrung mit tausend ähnlichen Fällen geschulte Abstraktion. Es handelt sich bei ihr nicht einfach um eine Zeichnung, sondern um eine Aussage über die Natur der Zelle. Das Argument, das in der Lehrbuchillustration zum Ausdruck kommt – ‚So sind Mitochondrien in einer Zelle angeordnet!‘ –, erfordert beide Elemente der Paarstruktur: die Unordnung oder ‚Grobheit‘ der Fotografie und die Ordnung oder ‚Glattheit‘ der Linienzeichnung. Das Spiel zwischen dem Groben und dem Glatten führt dabei das Wesen wissenschaft­ licher Untersuchungen selbst vor: Forschende finden Muster innerhalb und trotz des rohen Widerstands und der endlosen Vielfalt der Natur und leiten aus diesen ihre Prinzipien ab.

4 Zum Konzept der „Arbeitsobjekte“ (working objects) siehe Lorraine Daston, Peter Galison: Objektivität, Frankfurt a. M. 2007.

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Dieses Modell des Verstehens ist dennoch unzureichend: Prinzipien werden nicht schlicht und einfach aus den Mustern der Natur abgeleitet; Linienzeichnungen machen nicht einfach ‚Sinn‘ aus den Rohdaten, indem sie aus deren Detailfülle verständlichere Darstellungen herausdestillieren. Das Konzept der Abstraktion, als Prozess der Destil­ lation und Auslassung, erklärt weder hinreichend, wie die Forschenden die Elemente auswählen, die in die Darstellung ein- oder ausgeschlossen werden, noch wie in diesem Prozess neues Wissen entsteht. Wir benötigen daher ein Verständnis von Abstrakti­ on, in dem das Konzept vor dem Objekt existiert, als eine „Vor-Konzeptualisierung“ oder „Vor-Interpretation“ der Rohdaten. Der biologische Blick trifft nicht unvorbe­ reitet auf diese Zelle, sondern beruht auf einer umfassenden naturwissenschaftlichen Ausbildung. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nutzen jede Metapher, jedes Bezugssystem oder Konzept, das ihnen verfügbar ist, um aus einem unbekannten oder unverständlichen Objekt Sinn zu machen. Dergestalt wird ihr Verständnis des Objekts reichhaltiger mit jedem konkreten Beispiel, auf das sie treffen. Anders gesagt, ist die Beziehung zwischen dem Realen und Idealen oder dem Konkreten und Abstrakten dialektisch: sich einander gegenseitig bereichernd und verändernd im Prozess des Ver­ stehens. Wir haben genau dann das Gefühl, dass wir ein Objekt, wie beispielsweise eine Zelle, verstehen, wenn wir konkrete Beispiele zu abstrakten Konzepten sinnvoll in Bezug setzen können und vice versa. Und genau dies ist wiederum gemeint mit dem „relationalen Wissen“, von dem Alfred North Whitehead (1861–1947) gesprochen hat; als Begreifen gilt, ein Objekt in Relation zu zwei unterschiedlichen Registern des Wissens zu sehen: ein Wissen um individuelle, tatsächliche Einzelbeispiele und ein Wissen, das sich auf die generellen oder idealen Konzepte oder Theorien richtet, welche das Objekt umschließen. Ohne das jeweils Andere sind beide unzureichend, Verstehen ohne beide ist unvollständig. Damit ist die Linienzeichnung der Fotografie also nicht einfach nachgeordnet, sondern vielmehr äquivalent, wenn nicht sogar vorrangig. Sie repräsentiert das theo­ retische Bezugssystem, das die Forschenden dazu gebracht hat, genau dieses Bild der Zelle anzufertigen, diese Zelle in ein Objekt zu transformieren, das seine Theorie exemplifiziert. Die Linienzeichnung ist nicht das Ergebnis der Untersuchung der Zelle, sondern ihre Bedingung. Mehr noch ist die Paarstruktur nicht einfach eine Illustrati­ on der Zelle oder eines Arguments über sie, sie ist die Darstellung des Prozesses der Wissensproduktion selbst. Das Zusammenspiel zwischen den piktoralen Elementen beider Bilder (das eine „grob“ ungeordnet und zufällig, das andere „glatt“ wie eine Abstraktion) verbildlicht den Prozess des Verstehens.

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3 + 4: Medizinische Lehrfilme wie Introduction to Acute Inflammation setzen Animation ein, um den betrachtenden Blick anzuleiten, TC: 12:59, 13:02.

Animation und Wissen

In ihrem abwechselnden Gebrauch von Animation und Realfilm (Live Action Film) setzen die meisten Unterrichts-, Lehr- und populärwissenschaftlichen Filme auf die erwähnte Paarstruktur. Häufig gehen sie von Live-Action, das heißt Kamerabil­ dern eines Objekts, aus und setzen dann Animation als gezeichnete Erklärung des Phänomens ein. In Filmen, die von aufklärenden Titeln wie Care of the Skin5 bis zu medizinischen Lehrfilmen wie Introduction to Acute Inflammation6 reichen, weisen die Animationssequenzen das Publikum nicht nur auf das hin, was es nach Ansicht der Filmemacher sehen sollte, sondern sie rahmen auch das Argument ein und entwi­ ckeln das Rohmaterial weiter in eine Konzeption des Phänomens, die näher untersucht werden kann. In Introduction to Acute Inflammation sieht das Publikum beispielswei­ se die Realfilmaufnahme von in einer Vene zirkulierenden Blutkörperchen. ◊ Abb. 3 Die anschließende animierte Einstellung imitiert die fotografische Aufnahme in ihrer Rahmung und Komposition, allerdings vereinfachen die gezeichneten Umrisslinien der Zellen und Venen das vorangegangene Bild. ◊ Abb. 4 Tatsächlich orientiert, ja trainiert die animierte Einstellung das betrachtende Auge: ‚Nach diesem oder jenem sollst Du Ausschau halten.‘ Das neue Wissen indes – ‚Aha, das also kann Entzündung hervor­ rufen!‘ – ist nur möglich durch das Zusammenspiel der spezifischen Bildcharakteristika der beiden Arten von Bildern: die scheinbar zufälligen und unbeständigen Oberflä­ chenstrukturen des kamerabasierten Bildes, und jene geordneten, vereinfachten und gleichbleibenden des animierten oder gezeichneten Bildes.

5 Care of the Skin (USA: Encyclopaedia Britannica 1949), online https://archive.org/details/Careofth1949 (Stand: 09/2017), 10:30 min. 6 Maurice Backett, Savile Moller, Peter Hansell: Introduction to Acute Inflammation (GB: Westmins­ ter Medical School 1945), online https://archive.org/details/Introductiontoacuteinflammation-well­ come (Stand: 09/2017), 17:11 min.

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5–7: In Defense against Invasion nehmen Zeich­nun­gen die Funktion von fotogra­fi­schen Elemen­ten ein. Die Zeichnung innerer Organe wird in der Ani­ma­tions­sequenz in visueller Allegorie in die Darstellung einer Stadt transformiert, TC: 02:22, 02:25, 02:26.

Der 1943 entstandene Disney-Film Defense against Invasion7 ist ebenfalls ein Live-Action-Film mit animierten Sequenzen, unterscheidet sich von der typischen Paarstruktur jedoch dadurch, dass es kein fotografisches Bild gibt, das die Animation beglaubigt. Stattdessen beziehen sich die animierten Bilder auf Linienzeichnungen als dem anderen Teil der Paarstruktur. Damit funktionieren die Zeichnungen der menschlichen Form und der Blutgefäße gewissermaßen fotografisch. Verglichen mit den animierten Sequenzen sind die Zeichnungen komplexer, wenn auch nicht so kom­ plex oder ungeordnet (oder verstörend) wie eine kamerabasierte Aufnahme. ◊ Abb. 5 Es scheint vielmehr, als ob die Zeichnungen als Zwischenstufen notwendig sind, um die Animationssequenzen auf ein anderes, höheres Abstraktionsniveau zu katapultieren, welches hier, natürlich, allegorisch ist. Der Film präsentiert den menschlichen Körper in Analogie zu anderen Dingen, wie Städten, Maschinen und Ähnlichem. ◊ Abb. 6 + 7 Diese Analogien demonstrieren auch, welche andere Funktion Animation jenseits der Abstraktion haben kann: Sie liefert einen Hauch von Fantasie. Der Film verbildlicht die utopische Vision eines menschlichen Körpers, der die Effizienz einer Maschine mit dem fröhlichen Kame­ radschaftsgeist verbindet, der durch die Hauptstraßen der Disney-Themenparks weht. Diese Repräsentationsstrategie ist nicht auf die Animation begrenzt – die Live-ActionElemente des Films sind genauso offensichtlich fantastischer Natur. Tatsächlich funkti­ onieren die drei Hauptmodi der Darstellung – fotografisch, grafisch und animiert – als verschiedene Versionen des platonisch Idealen (oder, vielleicht genauer, des disneyesken). Entscheidend dabei bleibt, dass alle Darstellungsmodi in diesem wie in anderen Auf­ klärungsfilmen nur relational funktionieren, sie sich also gegenseitig benötigen, um ihr Argument vorzubringen. Dies bedeutet in weiterführender Konsequenz, dass Wissen selbst relational ist und dass Bilder ebenfalls relational funktionieren, um diesen Pro­ zess zu verkörpern oder zu repräsentieren. Darüber hinaus hängt das Zusammenspiel 7 Defense against Invasion (USA: Walt Disney Studios 1943), online https://archive.org/details/Defense­ AgainstInvasion (Stand 09/2017), 12:38 min.

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der Bilder nicht von ihren jeweiligen Produktionstechniken ab, sondern vielmehr von den spezifischen Bildcharakteristika, die sie unterscheiden. Wissenschaftliche und medizinische Filmmacher der Nachkriegszeit warnten häufig vor dem Einsatz von Techniken in Animation, die an Disney erinnern könnten, indem sie auf Fantasie und die Identifikation mit den Charakteren setzen. Sie waren der Ansicht, dass Disney-Filme wie jene der Health for the Americas-Serie die Gültig­ keit ihrer Aussage unterlaufen würden, indem sie eine exzellente, aber realitätsfremde Kost böten, wie es ein Experte für medizinische Fotografie, Robert Ollerenshaw vom königlichen Spital in Manchester, im Jahre 1951 betonte: „Diese Filme haben, mit einigem Recht, besonderes Lob für ihren makellosen Ansatz und ihre brillante Einfallskraft erhalten, sind gleichzeitig aber kritisiert worden, weil sie als Zeichentrickfilme viel zu gut sind: Sie sind als Unterhaltung so reizvoll geworden, dass ihre Aussage unterzugehen droht […]. Die Charaktere [Disneys] sind als Charaktere so ansprechend geworden, dass sie aus ihrem Rahmen herausgetreten sind.“ 8

Gerade die letzte Wendung ist verblüffend, impliziert sie doch nicht nur, dass die Charaktere zum Leben zu erwachen und regelrecht von der Leinwand zu springen schienen, sondern auch, dass die Animation ihren Kompetenzbereich überschritten und die ihr zugestandene Rolle als Illustration von Konzepten hinter sich gelassen habe, um in den Bereich der Imagination und Fantasie einzutreten. Disney war nicht das einzige Ziel dieser Kritik; sie war bei den Machern von in der prä-digitalen Ära Animation einsetzenden Lehr- und Wissenschaftsfilmen viel­ mehr prinzipiell verbreitet, weswegen diese insgesamt sehr vorsichtig im Umgang mit Animation in ihren an ein spezialisiertes Publikum gerichteten Filmen waren. Olle­ renshaw merkt an, dass „der ausschließlich aus Zeichentrick bestehende Film kein sehr weites Anwendungsfeld zu haben scheine, abgesehen vielleicht im Feld medizinischer Öffentlichkeitsarbeit, in dem es ein Laienpublikum gibt“.9 Anders gesagt, Zeichen­ trickfilme sind für ein Laienpublikum akzeptabel, solange sie nicht zu verführerisch wirken; Experten aber benötigen Animation, die innerhalb der ihr zugeschriebenen Grenzen bleibt und spärlich eingesetzt ist. Diese Einschätzung hallt durch die gesamte Literatur, die den medizinischen und wissenschaftlichen Film umgibt, was kürzlich durch eine Studie Kirsten Ostherrs über die Verwendung von Animation in den am 8 Robert Ollerenshaw (Department of Medical Photography, Manchester Royal Infirmary): On the Uses of Animation in the Medical Film. In: Medical and Biological Illustration, Jg. 1, 1951, Heft 1, S. 28–36, S. 29–30. Hervorhebung im Original. 9 Ollerenshaw (s. Anm. 8), S. 28.

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American College of Surgeons produzierten Filmen belegt worden ist.10 Ostherr gibt an, dass das College of Surgeons sehr misstrauisch gegenüber Animation war, auch wenn es diese beständig in seinen Filmen verwendete. Für seine Mitglieder gründete die Besorgnis in der mutmaßlichen Differenz zwischen dem Zeichentrick (welcher mit Kinderunterhaltung und dem Kindlichen allgemein assoziiert wurde) und Animation als einem wissenschaftlichen oder pädagogischen Hilfsmittel. Es ging also, vereinfacht ausgedrückt, die Sorge um, dass unangemessene Dosen an Fantastischem den wis­ senschaftlichen Diskurs des Lehrfilms vergiften würde. Obwohl die Animation ihren primären Reiz gerade aus der Vereinfachung von Konzepten und Prozessen gewinnt, führte und führt sie offenbar immer noch das Vorurteil mit sich, für ein eher einfältiges Publikum bestimmt zu sein; die Fachleute wollen ihre Expertise schlicht vor jeglicher kommerziellen, populären oder fantastischen Färbung schützen. Der Verdacht des Anschaulichen in der wissenschaftlichen Illustration

Eine vergleichbare Besorgnis, das Fantastische betreffend, hatte schon die Diskussionen über die Rolle des Anschaulichen in wissenschaftlichen Zeitschriften, Lehrbüchern und Vorlesungen begleitet. Wie Alberto Cambrosio und seine Mitautoren gezeigt haben, datieren die Debatten über die angemessene Funktion von Zeichnungen in wissen­ schaftlichen Illustrationen mindestens bis zu den Vorlesungen Paul Ehrlichs (1854– 1915) zurück.11 Für Vorträge bei der Königlichen Gesellschaft in London griff der prominente deutsche Arzt und Wissenschaftler erstmals auf visuelle Hilfsmittel zurück, um seine Theorie der Antikörperbildung dazustellen. ◊ Abb. 8 Cambrosio zufolge „machten Ehrlich und seine Studenten nach 1900 häufigen und vorurteilslosen Nutzen von Graphiken […], traten dieselben Graphiken oder Abwandlungen von diesen immer häufiger in Fach- und Handbüchern der Immunlehre der 1910er und 1920er Jahre auf […]. Insofern, als Ehrlichs Zeichnungen verstanden werden […] als direkte Vorfahren der geometrischen Formen, die noch heute von Immunologen verwendet werden, wird 1900 als das Geburtsdatum immunbiologischer Bildlichkeit bejubelt“.12 10 Kirsten Ostherr: Medical Education through Film. Animating Anatomy at the American College of Surgeons and Eastman Kodak. In: Devin Orgeron, Marsha Orgeron, Dan Streible (Hg.): Learning with the Lights Off. Educational Film in the United States, New York 2012, S. 168–192. Siehe auch Kirsten Ostherr: Medical Visions. Producing the Patient Through Film, Television, and Imaging Technologies, Oxford/New York 2013. 11 Alberto Cambrosio, Daniel Jacobi, Peter Keating: Ehrlich’s ‚Beautiful Pictures‘ and the Controversial Beginnings of Immunological Imagery. In: Isis, Jg. 84, 1993, Heft 4, S. 662–699. 12 Cambrosio, Jacobi, Keating (s. Anm. 11), S. 665–666.

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Auch wenn Ehrlichs Beiträge zur Immunbiologie 1908 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden sind, wurde seine Theorie der Antikörperbildung damals, wie die meisten Theorien, von ebenso ­prominenten Wissenschaftlern wie Jules Bor­ det in Frage gestellt. Dieser gab mit nicht wenig Empörung an, dass der Erfolg von Ehrlichs The­ orien nur mit der offensichtlichen Faszination für dessen „recht kindliche graphische Darstellungen“ erklärt werden könne.13 Das Problem für Bordet und andere war, unabhängig vom späteren Erfolg der Theorie Ehrlichs, dass die Illustrationen einem Vorgang, der eben nicht stabil, ja nicht ein­ 8: Paul Ehrlich: On Immunity with Special Reference mal abbildbar war, den Anschein materieller Sta­ to Cell Life, Zeichnung für seine Croonian Lecture an der Royal Society 1900. bilität verliehen. Ehrlich verbildlichte seine Idee von Zell­re­zep­to­ren in den Zeichnungen mit einem Schlüssel-und Schloss-Mechanismus, auch wenn ein solcher in keiner Zelle zu finden ist. Die Darstellung war vielmehr symbolhaft für eine chemische Verbindung von bis heute unbekannter Zusammensetzung. Diese konkret darzustellen, sei vielleicht heuristisch nützlich, so monierten seine Kritiker, aber irreführend für alle Laien, die sie unter ande­ rem in Fachbüchern zu sehen bekämen. Tatsächlich konnte Ehrlich, wenn er bei Labor­ besuchen darum gebeten wurde, die Zellrezeptoren im Mikroskop sehen zu dürfen, nur traurig den Kopf schütteln, im vollen Bewusstsein, dass seine Illustrationen eine Fiktion waren, um das nicht Abbildbare zu symbolisieren. Die größere Angst beim Einsatz von Zeichnungen aber bestand davor, dass sie den falschen Eindruck vermitteln könnten. Die Klagen über Disney und Ehrlich konzentrieren sich auf die angemessene Rolle der Anschaulichkeit im wissenschaftlichen Diskurs. Bei Disney ist das Problem jedoch nicht nur, dass es zu viel Zeichentrick gibt, sondern auch, dass dieser seine Sache zu gut macht, die Zuschauenden vollkommen darin eintauchen und so von der Aussage abgelenkt werden. Die Charaktere springen nachgerade aus der Bildschirmebene oder, anders gesagt, die Filme zeichnen sich durch einen unangemessenen psychologischen Realismus aus, der den Charakteren eine Tiefe verleiht, die für die grundlegende Aus­ sage über Hygiene unnötig wäre. Live-Action-Elemente werden daher nicht allein hinzugefügt, um das Anschauliche in der empirischen Welt zu verankern, sondern auch, um diese Identifikation zu unterbrechen und die Betrachtenden auf kritischer 13 Cambrosio, Jacobi, Keating (s. Anm. 11), S. 666.

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Distanz zu halten. Während Fachleute aus diesem Bereich sich besonders um narrative Immersion und Psychologie sorgen, beklagen Ehrlichs Kritiker, dass seine Darstellungen unbewiesenen Theorien materielle Stabilität verleihen würden. Es sind also nicht die Theorien selbst, die sie beunruhigen, als vielmehr seine Bildschöpfungen, die Mecha­ nismen darstellen, als ob sie wirklich existieren würden. Die Tiefe der Bilder beun­ ruhigt sie, die Art, wie Zellen im dreidimensionalen Raum gemäß den realistischen Konventionen konstruiert und vorgeführt werden. Es ist also nicht die Fiktion an sich, die sie beunruhigt, sondern der subtile und kluge Einsatz realistischer Techniken, der eine fiktionale Konstruktion vermitteln soll. Mit den Kritikern Disneys teilen sie die Befürchtung, dass sich Fiktion als Realität präsentieren könnte. Dies ist das Dilemma im Herzen wissenschaftlicher Illustration. Wie Gilbert und Mulkay in ihrer soziologischen Untersuchung des wissenschaftlichen Diskurses gezeigt haben, sind Grafiken „konzeptuelle Arbeits-Halluzinationen“,14 da alle Forschenden wissen, dass sie ihre Ideen mit teilweise fiktionalen Darstellungen veranschaulichen, die aber in der diskursiven und experimentellen Bildung des Untersuchungsobjekts absolut essenziell bleiben, insbesondere wenn das untersuchte Phänomen jenseits der direkten Wahrnehmung liegt. Grafiken stellen die Theorie hinter der Wissenschaft dar, indem sie aufzeichnen, was nur gedacht werden kann: Sie sind konzeptionelle Hallu­ zinationen. Aber sie erschaffen das Phänomen auch als Objekt der Wissenschaft: Sie sind arbeitende konzeptionelle Halluzinationen – wobei „Arbeit“ einerseits nützliches Arbeitsmittel, anderseits provisorisches Arbeitsmodell meint. In diesen Darstellungen setzten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowohl fiktionale oder konventio­ nelle als auch realistische Techniken ein, aber sie insistierten darauf, dass „die realis­ tischen Konventionen in einer Art eingesetzt werden müssen, die mit den fiktionalen Aspekten des Bildes nicht unvereinbar ist und Laien nicht dazu verleitet, das visuelle Konstrukt zu buchstäblich zu verstehen“.15 Das Dilemma ist also, wie das Unbekannte als Unbekanntes dargestellt und zugleich vermittelt werden kann, dass diese Version des Unbekannten wahrscheinlicher ist als eine andere. Es wird also offensichtlich, dass Experten das Fiktionale oder Fantastische – das auch das Theoretische genannt werden könnte – anerkennen und sogar begrüßen, dass sie es aber mit realistischen Elementen als Mittel der Überzeugung anreichern. Dieser sich wechselseitig verstärkende Zusam­ menhang von Realismus und Konvention oder von Grobem und Glattem findet sowohl durch die Bilder als auch in ihnen statt. 14 G. Nigel Gilbert, Michael Mulkay: Opening Pandora’s Box. A Sociological Analysis of Scientists’ Dis­ course. Cambridge 1984. [Im englischen Original sprechen Gilbert und Mulkay von „working conceptual hallucinations”, die Übersetzung ins Deutsche verliert den Aspekt des Funktionierens, L. F.] 15 Gilbert, Mulkay (s. Anm. 14), S. 160.

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Damit ist es nicht zwangsläufig die Idee von Grafiken oder animierten Sequenzen, die den Argwohn des Fachpublikums erregt, als vielmehr die Mobilisierung der spezifischen visuellen Eigenschaften des animierten Bildes. Zeichnungen und Animationen sind meist ‚glatt‘, wohingegen Realismus oder Fotografie ,grob‘ ist; diese Differenz ist entscheidend. Forschende sind sehr auf die dazwischen verlaufenden Grenzen bedacht und darauf, dass die Elemente der Fiktion ebenso auf ihrer Seite bleiben wie die rea­ listischen oder dokumentarischen auf der anderen. Dennoch erkennen sie die wichtige Arbeit an, welche die glatte Seite leistet: eine Arbeit der Theorie oder Imagination, der Metapher und des Verstehens. Sie wollen allerdings, dass sie an ihrem Platz bleibt. Der entscheidende Punkt bleibt, dass die Produktionsmodi bei dieser Arbeitsteilung weniger ausschlaggebend sind – schließlich sind sich die wissenschaftlich Arbeitenden vollends bewusst, dass ihre Fotografien genauso bearbeitet sind wie ihre Zeichnungen – als die spezifischen piktoralen oder formalen Eigenschaften der Bilder. Diese Schlussfolgerung führt weg von jenen Theorien der Fotografie, die vor allem auf deren automatische, mechanische Objektivität abzielen. Die rhetorische Kraft der Fotografie liegt dagegen nicht primär darin begründet, wie sie gemacht ist, sondern wie sie aussieht. Das Vertrauen in das fotografische Bild beruht nicht notwendigerweise auf dem Herstellungsprozess – der bekanntlich eine konstante und bleibende Quelle der Unsicherheit gewesen ist –, sondern darauf, wie die Struktur und die Details des Bildes die Zufälligkeit und Kontingenz der Welt verkörpern und ausdrücken. Die Authentizi­ tät der Natur, ihr Status als das Reale, ergibt sich vorrangig aus ihrer Ungeordnetheit, aus ihrem Widerstand gegen unsere Versuche ihrer Beherrschung. Nichtsdestotrotz beherr­ schen wir sie, indem wir Muster in der offensichtlichen Ungeordnetheit der Welt finden und sie in den Registern der Abstraktion und Kategorienbildung organisieren. Die Form fotografischer Bilder drückt häufig, wenn auch nicht immer, gerade das Detail und die Unordnung aus oder fängt sie ein; diese Ähnlichkeit zwischen dem Bild und der natürlichen Welt ist seine größte rhetorische Kraft. Der Charakter des animierten oder gezeichneten Bildes – seine Absichtlichkeit und seine Regelmäßigkeit – wiederum gleicht unseren Versuchen die Welt zu beherrschen und zu ordnen. Widerstand und Beherrschung, jene dialektische Essenz unserer Beziehung zur Welt, ist verbildlicht im Changieren zwischen den groben und den glatten Formen der Repräsentation. Das Streben nach Beherrschung ebenso wie die dabei auftretenden Hindernis­ se finden im Spiel zwischen dem Groben und dem Glatten ihre bildliche Form. Sie deutet die Grenzen eines Wissens an, das auf den rohen Widerstand der Natur trifft, und verbildlicht zugleich auch Fantasien und Versuche ihrer Beherrschung. Dergestalt evozieren die bildlichen Charakteristika des Wissenschafts- und Lehrfilms die Natur des Forschens selbst.

1: Reproduktion eines Messstreifens des Meßkineautographen von Joachim Rieck in Research Film, 1955.

Faksimile Sophia Gräfe

Filmpräparate auf dem Messtisch. Der Meßkineautograph von Joachim Rieck Diese Abbildung lässt sich nur schwer eindeutig der Kategorie des Bildlichen oder der des Grafi­ schen zuordnen. In der fotografischen Reproduk­ tion ist ein linierter Papierstreifen rechteckigen Formats zu sehen, der zwei horizontale Punkt­ linien aufweist. ◊ Abb. 1 Während die untere Linie in gleichbleibender Höhe das Blatt durch­ zieht, besitzt die obere im rechten Bildteil einen mehrfach geschwungenen Kurvenausschlag. Deutlich zu erkennen ist eine nachträglich mit schwarzer Tinte angetragene Legende, die am rechten Bildrand mithilfe eines vertikalen Pfeils und der Beschriftung „s“ einen Bewegungsvek­ tor anzeigt sowie durch einen etwas kleineren und horizontal angebrachten Pfeil „t“ einen zeitlichen Verlauf in die Darstellung bringt. Letzterer diktiert gleichsam die Richtung des Bewegungsgraphen. Das Blatt ist von rechts nach links zu lesen.

Ein dritter, wesentlich kleinerer Pfeil lenkt die Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Detail: Der obere Kurvenzug beginnt erst in einem gewissen Abstand zum rechten Bildrand und bricht nach einer kurzen geraden Punktlinie abrupt in einen geschwungenen Kurvenzug mit nachlassender Amplitude um, die im linken Bildteil in einer geraden Punktlinie endet. Die engen Punktab­ stände tragen den Zug des Mechanischen, auch die Sprache der Legende lässt einen naturwis­ senschaftlichen Kontext erahnen. Doch erst eine besondere Bearbeitung des Papiers weist auf seinen Entstehungskontext hin. Der Streifen ist am oberen und unteren Rand perforiert. Er ist Registrierpapier und Filmstreifen zugleich. Das hier gezeigte bildliche Hybrid ent­ stammt dem Publikationsorgan Research Film des ehemaligen Instituts für den Wissenschaft­ lichen Film (IWF). Als sich die Institution 1956 gründete, floss „neben dem immer mächtiger werdenden Strom des beginnenden Spielfilms […] ein kleines, langsam wachsendes Bächlein für die Wissenschaft“.1 Eine fast zwanzigjähri­ ge Vorgeschichte fortführend, trat das IWF an, die Theorie und Praxis des wissenschaftlichen

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2: Paul Leyhausen, E 10 Bibos banteng (Raffl.), Galopp, 16 mm Film, SW, 1.03 min, TC: 0:04, 0:06, 0:10, 0:17.

Das Digitalisat des Enzyklopädiefilms ist derzeit neben weiteren über die Technische Informationsbibliothek Hannover zugänglich, https://av.tib.eu/media/12518 (Stand: 10/2017), TC: 0:52, 0:52, 0:52, 1:00.

Films in der jungen ­Bundesrepublik staatlich einzuhegen.2 Gegenstand der Bemühungen des Instituts waren fortan die Arbeit am Begriff des Forschungsfilms und die Förderung seiner Pro­ duktion, die vornehmlich in der Biologie, Ethno­ logie, Medizin und Physik Sichtbarkeitsbereiche erweitern und haltbare Bildpräparate für die Ver­ gleichsstudien einer nun international agierenden Wissenschaftsgemeinschaft bereitstellen sollte.3 In Gegenwart bedrohter Tierarten und ver­ schwindender Lebensformen indigener Kul­ turen4 forcierte man insbesondere den Aufbau einer internationalen Filmenzyklopädie. Als wichtigstes Langzeitprojekt des IWF hatte Gotthard Wolf schon 1952 den Grundstein für eine Encyclopaedia Cinematographica gelegt, die nach dem Vorbild der klassischen schrift­ lichen Enzyklopädie jegliches verfügbares Wissen von der bewegten Welt filmisch kar­ tieren sollte.5 ◊  Abb.  2 Die auf ein „studium generale“ 6 angelegte Universalbibliothek der Bewegung suchte „durch ihre Erfassung der Dynamik in einer nie gekannten Vielfalt einen neuen Anstoß zu Ehrfurcht [zu] vermitteln“.7 Konrad Lorenz, Mitbegründer des Faches und der Methode der klassischen Vergleichenden Verhaltensforschung, hegte entsprechend großes Interesse am Aufbau einer wissenschaftlichen

Filmenzyklopädie und wurde wesentlicher Für­ sprecher des Projektes.8 Es lässt sich beobachten, wie das Verfahren der ethologischen Vermes­ sung des Verhaltens von Tieren und Menschen mit der Einführung des Enzyklopädiefilms durch das IWF in den Gegenstand des Filmbil­ des überführt wurde. Nach dem Bearbeitungs­ schema des Artenvergleiches fand ein Bildver­ gleich an Filmpräparaten statt, der Bewegung unabhängig vom ursprünglich untersuchten Gegenstand räumlich und zeitlich zu analysie­ ren und zu verrechnen glaubte.9 In der Praxis der Analyse der als „Be­we­ gungs­dauerpräparate“ 10 behandelten Aufnah­ men, geriet das Sehen der derart konservier­ ten Bewegungen jedoch zum Problem. Als Urtopos sowie etymologisches Kennzeichen der Kinematografie11 bildete die Bewegungs­ aufzeichnung die entscheidende epistemische Chance und gleichsam eine der größten Hür­ den der Bildforschung in Göttingen. Vielgestal­ tige Bildmotive, aber auch die physiologischen Grenzen und die jeweilige psychische Lage der Betrachtenden,12 erschwerten die exakte Arbeit am bewegten Bild und beförderten eine ausge­ feilte Kinematogrammetrie.13„Es besteht also die Notwendigkeit, dem Film in der Wissenschaft die Flüchtigkeit zu nehmen […].“ 14

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Ein herausragendes Beispiel für die notwen­ dige Stillstellung des filmischen Bildes ist der Meßkineautograph (1954) von Joachim Rieck, ◊ Abb. 3 dessen papierene Ausgabe am Anfang dieses Textes steht und exemplarisch einen Schwingungsvorgang verzeichnet.15 ◊ Abb. 1 Für das messkinematografische Verfahren wurde der zu untersuchende Bildpunkt mithilfe einer runden Klebemarke auf dem Untersuchungs­ objekt markiert. Der weiße Mittelpunkt der schwarzen Kreisfläche ergab in seiner filmischen Aufzeichnung einen lichtdurchlässigen Punkt. Im nächsten Schritt wurden die so präparierten Einzelbilder des Filmes auf fotoempfindliches Papier geworfen. Die Markierung des Films bil­ dete sich auf dem Registrierpapier als schwarzer Punkt ab und ergab bei einer minimalen und getakteten Verschiebung des Registrierpapiers vor den projizierten Einzelbildern und jeweils kurzer Belichtungsdauer durch die Apparatur eine Bewegungskurve.16 Auf dem Messtisch des IWF scheint sich die Bewegung sowohl von den Körpern als auch aus ihrer medialen Aufzeichnung zu lösen. Im Ersatz der filmischen Gestalt durch die Form einer Punktlinie ließ sich im messkineautographischen Verfahren so etwas wie die Essenz der Bewegung präparieren. Aber auch die forschungspolitische Anlage der Encyclopaedia Cinematographica trägt die Vorzeichen einer wesentlichen Reduktion. Das irdische Leben, gedacht als artenübergreifen­ des Kontinuum, wurde im Blick des Ethologen zur politischen Vergleichsmasse des Menschen und als messbares und lesbares Bild Gegenstand eines ethologischen Möglichkeitssinns. 1 Gotthard Wolf: Der wissenschaftliche Film – Refe­ rat gehalten anlässlich der Tagung der Hochschul­ filmreferenten in Göttingen am 27.10.1949, Göttin­ gen 1949, S. 3. 2 Vgl. Wolf: Film (s. Anm. 1), S. 1ff. 3 Vgl. Gotthard Wolf: Die wissenschaftliche FilmEnzyklopädie – Referat gehalten anlässlich der Tagung der Hochschulfilmreferenten in Göttingen am 16.10.1952, Göttingen 1952, S. 3 und 5. 4 Vgl. Wolf: Film-Enzyklopädie (s. Anm. 3), S. 4. 5 Nachdem seit 1952 der Plan zur Gründung einer Filmenzyklopädie in den Publikationen des IWF zu finden ist – siehe u.a. Wolf: Film-Enzyklopä­

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3: Aufbau des Meßkineautographen von Joachim Rieck in Research Film, 1955.

die (s. Anm. 3) –, wird der Name der „Encyclopa­ edia Cinematographica“ schließlich 1954 festgelegt. Siehe: Gotthard Wolf: Encyclopaedia Cinemato­ graphica. In: ders.; Jean Dragesco (Hg.): Research Film, Jg. 1, 1954, Heft 4, S. 28. 6 Wolf: Film (s. Anm. 1), S. 8. 7 Wolf: Film-Enzyklopädie (s. Anm. 3), S. 7. 8 Vgl. Wolf: Film (s. Anm. 1), S. 3. 9 Vgl. Wolf: Film (s. Anm. 1), S. 3. 10 Gotthard Wolf: Die Aufgaben des wissenschaftli­ chen Filmes. In: Die Umschau, Jg. 56, 1956, Heft 19, S. 577. 11 Siehe Etymologie des Wortes Kinematografie als Zusammensetzung aus griech. kinema, ‚Bewegung‘ und gráphein, ‚schreiben‘. Vgl. Wolfgang Pfeifer (Hg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 2 Bde., Bd. 1: A–L, Berlin (2. Aufl.) 1993, S. 655. 12 Vgl. Gotthard Wolf: Der wissenschaftliche Film (Methoden – Probleme – Aufgaben). In: Die Natur­ wissenschaften, Jg. 44, 1957, Heft 18, S. 478-479. 13 Vgl. Wolf: Film (s. Anm. 1), S. 5. 14 Wolf: Film-Enzyklopädie (s. Anm. 3), S. 6. 15 Joachim Rieck:  Meßkinematographische Aufnahmen mit dem Kurvenauswertgerät: „Meßkineauto­graph“. In: Kino-Technik, Jg. 8, 1954, Heft 1, S. 8–9 und Heft 2, S. 42–43; Ders.: Der Meßkineautograph. In: Research Film, Bd. 2, 1955, Heft 1, S. 24–30. 16 Zur Absicherung der Genauigkeit des Verfahrens wurde für jedes Einzelbild zusätzlich ein zweiter Festpunkt aufgezeichnet, der sich als Vergleichs­ graph in einer geraden Punktlinie auf dem Regis­ trier­papier abbildete. Vgl. Abb. 1; Rieck: Meßkine­ autograph (s. Anm. 15), S. 27.

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Die anthropologische Differenz der Medien. Wissenschaft und Phantasma Unauffällige und sehr kleine Gesten sind es, eine Fingerspitze, die die Lippe berührt, ein ganz vorsichtiges Zurückstreichen der Haarsträhne, zwei Finger einer Hand, die die andere suchen, kaum spürbare Berührungen des eigenen Körpers, an denen die Leute auf sich selbst und das sensomotorisches Band aufmerksam werden, das den für ein Menschliches konstitutiven Zusammenhang von Leib, Wahrnehmung und Gestalt bestätigt. Reveries, Tagträume, Träumereien kaum unterhalb des Bewusstseins sind es, die der Menschenmacher Dr. Robert Ford den Algorithmen seiner künstlichen Wesen als Mikrogesten einprogrammiert. Es zeigt sich, dass den Figuren damit blitzartig Bil­ der der Erinnerung durch die Vorstellung schießen, ein Vorgang, den die Zuschauen­ den als Montage von flash-frames auf dem Bildschirm sehen. Solche Erinnerungsfetzen führen im Einklang mit jeder Erinnerungstheorie des 20. Jahrhunderts dazu, dass das Verhalten der Androiden beginnt, Inkonsistenzen aufzuweisen, dass sie ihre implemen­ tierten Routinen und Narrative verlassen, dass sie Bewusstsein entwickeln.1 Mit die­ sem ausgestattet werden sie sich schließlich gegen ihre Schöpfer auflehnen. So erzählt es die Serie Westworld,2 die sich selbst aus einer Art medienphilologisch inspiriertem Erinnerungsblitz entwickelt: in Dialogen und Einstellungen, in der Inszenierung des Labors ebenso wie im Verhalten der Androiden erinnert die Serie filmisch implizit an die Geschichte des berühmtesten unter den künstlichen Geschöpfen, an Frankensteins Monster, das seinem Schöpfer begegnen will, um ihn zu erledigen. Frankensteins Monster in seinen behäbigen Schritten und der schlechten hap­ to-motorischen Rückkopplung, mit der es Blumen und Mädchen viel zu grob packt, verletzt und vernichtet, hat, wie sich gerade im Vergleich der Verfilmung von James Whale3 mit dem Roman Mary Shelleys beobachten lässt, den Medientransfer einer Differenz überstanden: der Unterscheidung von Mensch und Maschinenwesen im Übergang von der Bücher- in die Kinofantasie. Die Büchermenschen trennte von ihren so sehr ähnlichen Brüdern und Schwestern, den Androiden und Androidinnen, vor allem eins: Dem Monster fehlte eine Seele. James Whales Kinokerl aber zeigt deutlich, inwiefern sich ein filmisches Monster von allen literarischen AndroidenFantasien unterscheidet: Der literarische Doppelgänger oder Androide, wie er um 1800 ins Leben gerufen wird, gehorcht den Gesetzen der symbolischen Schrift, die nur 1 Das gilt für die Psychoanalyse in ihrer klassischen oder strukturalen Variante ebenso wie für die philo­ logisch motivierte Erinnerungstheorie von Aleida und Jan Assmann. Vgl. Erik Porath: Gedächtnis des Unerinnerbaren. Philosophische und medientheoretische Untersuchungen zur Freudschen Psychoana­ lyse, Bielefeld 2005. 2 Jonathan Nolan: Westworld, Staffel 1 (USA: Bad Robot Productions/Kilter Films/Warner Bros. Televisi­ on/Jerry Weintraub Productions 2016), TV-Ausstrahlungen auf HBO seit 10/2016, 10 Folgen, 60–90 min. 3 James Whale: Frankenstein (USA: Universal 1931), 70 min.

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ein „individuelles Allgemeines“ 4 abbilden kann. Erst die analogen technischen Medi­ en des späten 19. Jahrhunderts – Fotografie, Film und Phonographie – können Sin­ gularitäten abbilden: spezifische Bewegungen eines Körpers, einer Mimik oder einer Stimme, deren Spuren, mit wieder anderen Medientechniken, als unverwechselbare identifiziert werden. Was ein Mensch sein will, kommt um das Wissen und die Logik solcher Medienanordnungen nicht herum. Die Serie Westworld wirft gegenwärtig für das 21. Jahrhundert die Frage auf, welche Medien und Netzwerke bestimmen, was Menschen sind und wie sie sich von ihren androiden Doppelgängern unterscheiden könnten. Dazu kehrt auch die Serie noch einmal zurück zur Genealogie künstlicher Menschen in wissenschaftlichen Laboratorien und damit zur alten Kinogeschichte. Im Kino werden Monstren, diese buchstäblich zu zeigenden und wahrzuneh­ menden Dinger, zu Androiden, die im Austausch mit der Welt der Dinge und Reize, in die sie gesetzt wurden, funktionieren. Ihre Gefühle erweisen sich, sichtbar für alle Zuschauer und Zuschauerinnen, als beständiges Arbeiten an der Rückkopplung des Sensomotorischen; auf diesem Weg des kybernetischen Lernens werden sie mensch­ licher. Schon der Golem in Paul Wegeners Film von 1921 wird damit enden, dass der grobe Kerl der kabbalistischen Mystik am Ende des Films Blumen und Mädchen vor­ sichtig anfassen kann und träumend seinen eigenen Berührungen nachhängen. Gefüh­ le, das wissen Filmschauspielende und Regieführende ebenso wie das Publikum, sind nichts anderes als allmähliche Verfeinerungen der Rückkopplung von Sinnlichkeit und Bewegung. Entsprechend zeigt sich der Kinomensch durch ein sichtbares Verhalten, in dem Leib, Gestalt und Wahrnehmung als Sensomotorik mehr oder weniger grob, mehr oder weniger fein rückgekoppelt sind. Als Form einer solchen energetischen zirkulär-kausalen Rückkopplung zwischen Kino, Welt und Körpern hat Edgar Morin 1956 das Kino beschrieben: „Ein Werk der Phantasie ist eine radioaktive Batterie von Projektion – Identifikation. [...] Ein wirklich energetischer Stromkreis ermöglicht es, Partizipation in starker Dosierung zu vergegenständlichen, um sie dem Publikum wieder zuzuführen.“ 5 Spätestens seit den fünfziger Jahren wird das Subjekt als Hybrid aus Kino und Mensch vorgestellt. Westworld verhandelt ein wiederum neues Menschenbild, in dem die alten Kinomenschen und -monster verabschiedet werden zugunsten eines wirklich kyber­ netischen Menschen, der zwischen medizinischen Laboratorien, Experimenten der Computersimulation und alltäglichen medialen Praktiken entsteht. Deutlicher als im 4 Friedrich Kittler: Romantik – Psychoanalyse – Film. In: ders. (Hg.): Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 81–104, S. 86. 5 Vgl. Edgar Morin: Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Untersuchung, Stuttgart 1958, S. 122.

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Film gleichen Namens aus dem Jahr 19736 bindet die neuere Serie ihre Erzählung an Vorstellungen vom Menschen, die ihre Genealogie in Phantasmen medizinischer Bildgebungsverfahren und deren Material Cultures ebenso haben wie in Verfahren und Formaten des sogenannten postkinematografischen Kinos mit seinen neuen und ska­ lenfreien Oberflächen.7 Die neue Serie ist nicht mehr nur, wie Michael Crichtons Ori­ ginal, ein amusement park des Wilden Westens, in dem Mord, Totschlag, Erniedrigung und Vergewaltigung der lokalen Bevölkerung allen zahlenden Gästen offenstehen. Sie positioniert sich vielmehr exakt zwischen Kulturtechniken des Abenteuerparks und jenen des Videospiels. Deshalb heißen die Indigenen auch hosts, halbwegs zwischen Datenspeichern und Gastgebern. In den hosts ist die Rückkopplung zwischen Takti­ lem und Sensorischem zum Automatismus des Verhaltens geworden. Das ist nichts Neues. Vergnügt üben schon Kleinkinder die spezifische Körpertechnik der Integra­ tion von Auge und Hand oder Auge und Daumen an Videospielen ein. So können sie später, wenn sie zahlenden Zugang zur Welt haben und nicht zum prekären Volk der Benutzbaren gehören, mit demselben Verhalten an entsprechenden Schnittstellen in den amusement park Erde intervenieren, als Managerinnen oder Krankenpfleger, als Meeresbiologinnen oder Piloten, können ihn entweder retten oder vernichten.8 Für die Indigenen dieser Welt, die unfreiwilligen hosts der reicheren Eliten, macht das freilich kaum einen Unterschied. Als Trainingscamp etabliert Westworld mithin ein Szenario im doppelten Sinne von Drehbuch und filmischem Szenenbild, ein zugleich überschaubares und begeh­ bares Modell, das aus einem leicht antiquierten Fundus alter Westernfilme besteht. Damit können sich auch die alten Kinomenschen aus der alten Welt an das erinnern, was sie selbst einmal im Kino oder im Fernsehen sahen. Eine Immersion ins Fiktive, die im alten Medium Buch noch metaphorisch beschrieben und im Dispositiv Kino im Imaginären bewirkt werden musste, ist, so die Annahme der Serie, unter Bedingungen beweglicher Oberflächen omnipräsenter Bilder als Touchscreens stets bereits als Ver­ halten realisiert. Was wir bildlich vor uns haben, als Spiel, Film oder amusement park ist niemals nur Schauspiel einer Welt. Nicht wir verfügen, sie per Monitor betrachtend, über diese Bildwelten, sondern wir sind deren Unterworfene. Ob als silly oder serious game konzipiert, unser Verhalten als senso- oder hapto-motorischer Zugang zur Welt – oder wie Maurice Merlau-Ponty deutlicher anmerkt: unser Verhalten als Sein-zurWelt – folgt Algorithmen, die meistens andere schreiben und vertreiben. Auch wenn in 6 Michael Crichton: Westworld (USA: MGM 1973), 89 min. Im Folgenden ist mit Westworld stets die neue Serie gemeint. 7 Vgl. Steven Shavir: Post Cinematic Affect, Winchester/Washington 2010. 8 Michel Serres: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Berlin 2013.

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der Westworld zunächst die Erfahrung und Koordination eines relativ überschaubaren Milieus aufgerufen wird, auf das die Gäste singulär, konkret und mikrostrategisch mit kleinsten Bewegungen reagieren müssen, entspricht das genau dem Lernen in der Welt, die wir die wirkliche nennen: an den Schnittstellen von Computern, gestalteten Bildwelten und erhöhten Wahrnehmungskapazitäten bildet sich das Verhalten des gegenwärtig neuen Menschen wie in einem Spiel. Daher hat Claus Pias vorgeschla­ gen, „versuchsweise einmal alle Computeranwendungen als Spiele zu thematisieren, die ‚im wirklichen Leben im Gange sind‘ und diese zum Grund von Spieltheorie zu machen“.9 Westworld thematisiert Verhalten entsprechend als Schauspieltheorie: eine neue Vernetzung der Körper, die alte Gewaltverhältnisse mitschleppt. Die neuen Menschen haben, darauf insistiert der Vorspann der Serie, ihre Genea­ logie in mechanischen, physiologischen, materialen und elektronisch rückkoppelnden Forschungen und Wissensformationen, dem ganzen Arsenal westlicher Laborato­rien des 19. und des 20. Jahrhunderts. Für die antiquierten analogen Kinomenschen ist unheimlich, wie die heutigen poucettes,10 Däumlinge der manuell-gesteuerten Schnitt­ stellen, nach Michel Serres’ Diagnose, bei lebendigem Leibe von einem neuen Bewusst­ sein von außen ergriffen werden, als quasi reflektierte Innenansicht gegenwärtig herr­ schender Mediensysteme.11 Dass auch die alten Kinomenschen von außen und nicht mehr von einer internen Seele gesteuert waren, kommt erst angesichts der digitalisier­ ten Netzwerk-Menschen unerwartet in den Blick. Die Erfahrung, als revery, Tagtraum, Träumerei, in einer schönen Trance, an Computer und Monitore gefesselt zu sein, mit einem technisch integrierten Bewusstsein verbunden, das als Teil des eigenen nur bewusst wird, wenn sich jemand die Augen reibt, über die Lippen streicht, die Haare zurückschiebt, zeigt sich anachronistisch immer nur an den anderen, der anderen Medien-Bewusstseins-Generation. So alt die Kinomenschen für die poucettes sind, so seltsam sind die für jene. Die Serie Westworld organisiert eine Begegnung beider, an der Schnittstelle von Mediengenerationen, als Spiegelbild von historisch unterschied­ lichen Formen des Imaginären. Damit wird jedes Ich als immer von Außen her, aus medialisierten Gestalten generiertes erkennbar: als Anderes.

9 Claus Pias: Wirklich problematisch. Lernen von ‚frivolen Gegenständen‘. In: ders., Christian Holtorf (Hg.): Escape! Computerspiele als Kulturtechnik, Weimar/Wien 2007, S. 255–269, S. 269. 10 Serres (s. Anm. 8), S. 23. 11 Vgl. Friedrich Kittler: Die Welt des Symbolischen, eine Welt der Maschine. In: ders. (Hg.): Draculas Vermächtnis (s. Anm. 4), S. 58–80, S. 61.

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Verhalten als Austausch von Information und Störung

Ob er die ganze Nacht hier draußen gewesen sei, fragt Dolores Abernathy ihren Vater Peter, als sie ihn morgens selbstvergessen auf der Veranda sitzend vorfindet. In der Serie Westworld wird mit dieser Frage ein Verhaltens-Loop zurückgesetzt, der das Narrativ der Figur Dolores immer wieder von vorne starten lässt.12 Weil die Narration außer Kontrolle gerät, müssen die Ingenieure immer wieder eingreifen und das Verhalten der hosts zurücksetzen. Bereits in der Pilotfolge geschieht dieser Reset mehrmals, zuerst eben auf der Veranda, jenem klassischen Ort des homesteaders im Western, an dem der Blick auf die Wildnis draußen gerichtet wird. Aber es ist nicht das abwesende Träumen des Vaters oder eine Inkonsistenz seiner Aussagen, die Tochter Dolores an dieser Stelle stutzig machen, sondern das repetitive Verhalten ihres Vaters: er ist offenbar neben der Spur, out of order. Flüsternd und zuckend sitzt der alte Mann in seinem Schaukelstuhl und versucht sich zu artikulieren.13 Der gerade aus seiner Programmierung laufende host Peter kennt keine kohärente Innerlichkeit, er ist weder Monade noch Descart’sches cogito, das sich in der Trennung von cogitans und extensa wieder erkennen könnte. Vielmehr ist die Struktur des im Übrigen vom Anblick einer alten Fotografie gestörten Peters als Verhalten „zugleich von außen für den Beobachter wie auch von innen für den Akteur sichtbar“.14 Dolores nimmt die Verstörung des Vaters als Veränderung sei­ nes Körperschemas wahr. Ein Konzept einer Introspektion zum Verstehen des Ande­ ren ist nicht mehr nötig. Der malfunctioning host auf dem Schaukelstuhl flüstert seiner noch regelhaft funktionierenden host daughter die scheinbare Erklärung – inklusive Warnung – ins Ohr. Die geflüsterte Nachricht können die Zusehenden nicht teilen, dafür aber unmittelbar teilhaben am Verhalten der hosts. Ein Verhalten ist, so MerleauPonty, „nicht mehr bloß ‚visuelle Gegebenheit‘, deren psychologische Bedeutung wir in unserer inneren Erfahrung aufzuspüren hätten; der Psychismus des Anderen wird ein unmittelbarer Gegenstand“.15 Auch der Phänomenologe kam zu dieser Annahme mit Blick auf einen nicht nach Norm funktionierenden Körper: dem Phänomen des Phantomgliedes. Dieses Phänomen hatte in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Merleau-Ponty die Phänomenologie der Wahrnehmung schrieb, Konjunktur. Das Phantom des Anderen als konstitutiv für alles Verhalten zu begreifen ist ein Topos nicht nur französischer Nachkriegsphilosophie. Der Spielplatz von Westworld wen­ det diese Verstrickung ins Virtuelle unserer Gegenwart. Hier erkennen die Schöpfer der künstlichen Welten, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Delos Company, 12 13 14 15

Nolan (s. Anm. 2), Staffel 1, Episode X. Nolan (s. Anm. 2), Staffel 1, Episode I, TC: 00:45:10. Maurice Merleau-Ponty: Die Struktur des Verhaltens, Berlin/New York 1976, S. 256. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin/New York 1966, S. 82.

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unmittelbar am Verhalten der hosts, dass diese sich ihrer programmierten Identitäten entziehen wollen. Verhalten sich die hosts nicht nach den ihnen zugeschriebenen Nar­ rativen, wird das Programm gestoppt – Standbild – und der Tatort in eine Szenerie forensischer Spurensicherung verwandelt. Bereits die Chronofotografien von Étienne-Jules Marey folgen diesem Changieren von Bewegung und Stillstellung, ganz genauso wie später die konstruktivistischen Filme der russischen Avantgarde. Sistierung und Bewegung des Bildlaufs, Analyse und Synthese des Bewegungseindrucks, wurden zugunsten der Erziehung eines neuen Menschen in Anschlag gebracht. Dessen Selbsterkenntnis und letztlich Wahrheit – im anthropologischen, biologischen und psychologischen Sinn – wurde erst mit der Evidenz und der Wahrnehmung durch und dank der Kamera angenommen. Dziga Vertovs celovek’s kinoapparatom, dessen Titel als Mann mit der Kamera, aber ebenso als „Mensch, wie der Kinoapparat ihn herstellt“ übersetzt werden kann, nimmt das Motiv der Analyse durch Sistierung eines optisch Unbewussten auf. Die experimentelle Anordnung chronofotografischer Beobachtung zerlegt die Bewegung in einzelne – von den Wissenschaftlern zu analysierende – Segmente und eröffnet damit zugleich die Möglichkeit zur Synthetisierung in der Illusion des sich bewegenden Bildes. Versuchs­ personen laufen, springen und steigen Treppen, in Laboratorien wie in den dokumen­ tarischen Filmen, in ethnografischen ebenso wie in fiktionalen Settings. Ihr Verhalten teilt sich entsprechend paradigmatischer Unterscheidungen mit: normal oder anormal, soldatisch oder pathologisch. Berechnet, verrechnet und abgerechnet wird, nachdem die Bewegungen grafisch in Fotoplatten eingeschrieben sind. „Die aufzeichnenden Geräte messen die Infinitesimalen der Zeit; die schnellsten und die schwächsten Bewegungen, die geringsten Änderungen der Kräfte können ihnen nicht entgehen. Sie dringen in die intimsten Funktionen der Organe ein, wo sich das Leben als ständige Mobilität zu vermitteln scheint.“ 16 Bittet in Westworld der Gründer der Firma, Dr. Robert Ford (gespielt von Antho­ ny Hopkins), die hosts zum Gespräch, so werden auch hier keine Schädel mehr geöffnet. Apathisch und ihres Ausdrucks beraubt, sitzen die Androiden vor ihrem Schöpfer und beantworten Fragen. Das psychoanalytische Setting Freuds wird modifiziert, der Analytiker verschwindet nicht im Rücken des Analysanden; er sitzt ihm gegenüber. Nicht Körpervergessenheit und die Rede eines Unbewussten, sondern Zentrierung des Körpers und das Lesen der Mimik und Gestik verraten, ob ein host nach – oder eben 16 Étienne-Juley Marey: Die graphische Methode in den experimentellen Wissenschaften (1878). In: B. Schneider, C. Ernst, J. Wöpking (Hg.): Diagrammatik-Reader. Grundlegende Texte aus Theorie und Geschichte, Berlin/Boston 2017, S. 203–206, S. 204.

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nicht nach – Protokoll operiert. Es gibt keinen Einblick in die Schaltkreise, die ganz im Sinne der Kybernetik black boxes bleiben. Jedoch werden die hosts energetisch nach­ geladen, mithilfe von Computern und mobilen Touchpads werden Stromkreise neu verdrahtet und Spannungen verändert. Auch das geht zurück auf Laborgeschichten. 1949 konstruierten Norbert Wiener und Henry Singleton eine heliotrope Maschine, die sich mithilfe einer internen Steuerung auf Licht zubewegen konnte, wie eine Motte, oder vor dem Licht verkriechen, wie eine Wanze. Die Palomilla war mit technischen Sinnesorganen ausgestattet, die die Lichtintensität aus der Umwelt aufnahmen und als Information, also Signal weitergaben an eine schwachstromgespeiste Steuerung, die ihrerseits die mit Starkstrom betriebenen motorischen Teile lenkte. Wenn sich das Gerät bewegte, änderte sich wiederum die Ausrichtung seiner sensorischen Elemente und steuerten so, je nach Position, die Bewegungsmotorik neu aus. So simulierte die Palomilla als eines der ersten künstlichen Lebewesen Verhalten im integrierten Kreis­ lauf. Das Prinzip der Rückkopplung, das zugunsten eines einfachen und vergleichen­ den Informationstransfers auf Konzepte von Innen und Außen verzichten kann – ließ sich nur und unmittelbar an der wechselseitigen Ausrichtung von Individuum und Milieu erkennen. „Mit Verhalten ist jede Veränderung einer Entität in Bezug zu ihrer Umgebung gemeint. […] Dementsprechend, kann jede Veränderung eines Objekts, die von außen wahrgenommen werden kann, als Verhalten bezeichnet werden.“ 17 Die Rückkopplung, die entweder erhaltend – homöostatisch – oder korrigierend funk­ tioniert, folgt Impulsen aus der Umwelt und wirkt dann wieder auf diese ein. Ein Philosoph wie Max Bense kann daher in seiner Beschreibung solcher Interaktionen dem älteren Paradigma verhaftet bleiben und von einem „reagierenden Bewußtsein“ 18 sprechen um festzustellen, dass Perfektion reine Automatik, aber auch das Ende aller Entwicklung bedeutet. Imperfektion, Brüche, Fehlschaltungen und Störungen erst machen Verhalten aus, machen unheimliche Apparate und Apparate unheimlich – aber eben auch optimierbar. Die Experimente am MIT in den fünfziger Jahren, die Prinzipien sensomoto­ rischer Rückkopplung als gegenseitige Regelung von Wahrnehmung und Bewegung, neuronalen und motorischen Prozessen erforschten, reduzierten freilich das Verhältnis von Eingabe und Ausgabe von Signalen in maschinellen oder menschlichen Kreisläufen 17 „By behavior is meant any change of an entity with respect to its surroundings. […] Accordingly, any modification of an object, detectable externally, may be denoted as behavior.“ Arturo Rosenblueth, Nor­ bert Wiener, Julian Bigelow: Behavior, Purpose and Teleology. In: Philosophy of Science, Jg. 10, 1943, S. 18–24, S. 18. 18 Max Bense: Kybernetik oder die Metatechnik einer Maschine. In: Max Bense. Ausgewählte Schriften, Bd. 2: Philosophie der Mathematik, Naturwissenschaft und Technik, Stuttgart 1998, S. 429–446, S. 444.

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auf wenige grundlegende Parameter. Doch bereits damit ließ sich im Verhalten simu­ lieren, was überaus menschlich erschien: Palomilla, das tropismusgesteuerte Räderviech, zeigte zur Überraschung des Mathematikers Wiener und des Mediziners Rosenblueth, dass nicht nur Orientierungen im Raum, sondern auch Pathologien dieser Orientie­ rung anhand der Regelung der Rückkopplungsmechanismen sichtbar wurden: War die Übertragung der Signale zu stark eingestellt, zeigte die Palomilla ein Verhalten, das exakt den motorischen Übersteuerungen glich, wie sie als Intentionstremor bekannt waren. War die Rückkopplung zu schwach eingestellt, verhielt sich die Palomilla ori­ entierungslos und selbstvergessen wie ein Parkinsonpatient – oder wie host Vater in Westworld.19 Diese erste sehr primitive, aber doch in ihrem spezifischen Verhalten cha­ rakterisierbare Maschine wurde bald durch ein mechanisches Tier von Grey Walters übertroffen, das durch statistische Vorhersagen aufgrund gleichbleibender Handlungs­ abläufe das Muster seines gesamten Verhaltensschemas ändern, also lernen konnte. Für Wiener war damit klar, dass Verhalten Kommunikation ist und jeder Mensch eine Nachricht, die mit Kommunikationsmaschinen der Zukunft verbunden werden kann.20 Im Konzept des Verhaltens, das durch die Rückkopplung von Eigenem und Fremden, von Menschenkörper und technischer Anordnung bewusst wird, begegnen sich die Geschichte der Kybernetik, die Geschichten des Kinos und ein phänomeno­ logisches Konzept des Bewusstseins: „Bewusstsein ist einmal ein besonderer, und zwar fundierter Verhaltenstyp und mithin ein Sonderbereich, zum anderen ist es das ‚universale Milieu’, in dem sich die Strukturen und Verhaltensweisen darstellen und voneinander abheben. Die Blickwende, die im Gesehenen das Sehen und den Sehenden selbst vor Augen führt, ist ein Akt der Reflexion.“ 21

Die Logik des Zirkulär-Kausalen also liegt allem Verhalten zugrunde. Die französi­ sche Schule der Phänomenologie und vor allem Maurice Merleau-Ponty haben das als Dialektik des Verhaltens bezeichnet. Merleau-Ponty konnte sein Konzept des comportement daher zugleich auf eine technisch-biologische Geschichte der Kybernetik zurückführen und auf die Wahrnehmungsgeschichte des Kinematografischen selbst. Für Robert Ford in Westworld ist, genau wie einst für Norbert Wiener, die Mög­ lichkeit eines malfunctioning von kybernetischen Intelligenzen, Lebewesen und Maschi­ 19 Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine, Frankfurt a. M./Berlin 1952, S. 173ff. 20 Wiener: Mensch (s. Anm. 19). 21 Bernhard Waldenfels: Vorwort des Übersetzers. In: Maurice Merleau-Ponty: Die Struktur des Verhaltens, Berlin/New York 1976, S. v–xxi, S. xvii.

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nen einerseits bedrohlich, andererseits der deutlich interessantere Teil der Forschung. „Was tun wir bei einer Maschine, wenn ein solcher Unfall auftritt“, fragte Wiener. 22 Seine Reparaturvorschläge markieren das gesamte Spektrum dessen, was auch in der Westworld zu sehen ist: „Zuerst bemühen wir uns, sämtliche Informationen zu löschen, in der Hoffnung, dass die Schwierigkeit bei einem Neustart mit anderen Daten nicht wieder auftaucht.“ 23 Doch das Löschen wird bei den hosts der Westworld aufgehalten durch eben jene reveries, die alte Programmierungen reaktivieren, in den Arbeits­ speicher holen, ins Gedächtnis rufen. Eine Maschine lässt sich in solchen Fällen auch, schreibt Wiener, gut schütteln – wie es ja Eltern zum Teil auch mit ihren Kindern versuchten – oder einem starken elektrischen Impuls aussetzen, wie die Ingenieure in der Serie es tun. Die sanftere, aber nicht sehr effektive Methode einer guten Reini­ gung des Gehirns sei für Menschen der Schlaf, der allerdings die Erinnerungen nicht löscht. Dass der Vater von Dolores, Peter, nicht mehr schläft, ist daher auch im kyber­ netischen Sinne ein höchst beunruhigendes Symptom. In Fällen endlos oszillierender Daten im Kreislauf, merkt Wiener kritisch an, werden häufig „wesentlich brutalere Eingriffsmethoden in den Gedächtniskreislauf“ vorgenommen, die Lobotomie, die die Fähigkeit zerstört, „sich jene anhaltenden Sorgen zu machen, die in der Terminologie eines anderen Berufsstandes Gewissen genannt werden“.24 Genau solche Varianten der kybernetischen Therapie werden im Verlauf der ersten Staffel der Filmserie verhandelt: den hosts wird die Energie entzogen, Nervenverbindungen werden durchtrennt und neu verlötet, sie werden kaltgestellt oder von anderen Figuren geschüttelt oder – westernstyle – verprügelt. Rückkopplung als Wissen der Anderen

Die gegenwärtige Kultur des Ich, die, als eine Art iKult, alle Verbindungen zu ihrer Genealogie in der Utopie von Kontrolle und Kommunikation kybernetischer For­ schungen zumindest terminologisch zu kappen trachtet, behauptet sich in medizini­ schen und ästhetischen ebenso wie in kulturindustriellen Kontexten als Triumph des Individuums in seinem durch technische Extension oder Substitution nahtlos zu opti­ mierendem Körper. Dieser Triumph verstellt jedoch den Blick darauf, dass es weniger der homo protheticus25 in seiner vermeintlichen Kohärenz ist, für den sich Biopolitik zu 22 Norbert Wiener: Kybernetik (1948). In: Bernard Dotzler (Hg.): Norbert Wiener. Futurum Exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie, Wien/New York 2002, S. 13–29, S. 22. 23 Wiener: Kybernetik (s. Anm. 22). 24 Wiener: Kybernetik (s. Anm. 22), S. 23. 25 Vgl. Karin Harasser: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen, Bielefeld 2013.

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interessieren hätte, als vielmehr die Vernetzung von Körpern oder, genauer, Körper­ teilen in Relais technischer Gadgets und ihrer Schnittstellen, zu denen nicht zuletzt auch das Post-Kinematografische in all seinen neuen digital organisierten Oberflächen gehört. Damit werden alle Körper durch ihr Verhalten zuerst Körper für andere, hosts im strengen Sinne des Gastgebers als Datengeber, und damit erst Ich oder iDing für uns selbst. Die Dialektik des corps propre Merleau-Pontys verweist darauf ebenso wie die strukturale Psychoanalyse Jacques Lacans. Beide verhandeln damit auch Überlegungen aus der frühen Kybernetik, die sich der Herausforderung stellte, Verhalten nicht länger als etwas zu untersuchen, das sich an individuellen und persönlichen Zielen und Zwe­ cken ermessen lässt, sondern dessen Formen und Richtungen sich als Resultat ständiger Rückkopplungen mit der Umwelt und ihrer Systeme erkennen lassen.26 Inzwischen ist diese Logik der Nachbarschaften als solche der Schwärme und ihrer Intelligenzen etabliert und als Grundsatz in der Bildung von Managements oder Smart Mobs einge­ setzt.27 In ihren kybernetischen Anfängen in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts jedoch war die Annahme eines ungerichteten, nicht-teleologischen Verhaltens, das sich lediglich an den Strukturen seiner Umgebung orientiert, wie Gregory Bateson anmerkt, absolut rätselhaft, insofern „Zweck vollkommenes Mysterium war“.28 Dabei hieß das zunächst nur, dass sich eine Logik des Verhaltens nicht mehr aus einer Seele des Han­ delnden erklären ließ, sondern aus einem Verhältnis zu Umwelt: „Der Begriff der Zweckgerichtetheit soll kennzeichnen, dass eine Handlung Akt oder ein Verhalten interpretiert werden kann auf das Erreichen eines Ziels hin orientiert – d. h., auf einen finalen Zustand, in dem das [sich] verhaltende Objekt eine endgültige Beziehung in Zeit oder Raum in Verhältnis zu einem anderen Objekt oder Ereignis erreicht.“ 29

Margaret Mead berichtet, dass Anthropologen und Anthropologinnen gegen die Mathematikerinnen und Ingenieure unter den Kybernetikern, die sich lieber auf Ge­setze großer Zahlen verlassen wollten, in der Bestimmung des Verhaltens das 26 Rosenblueth, Wiener, Bigelow (s. Anm. 17). 27 Eugene Thacker: Netzwerke – Schwärme – Multitudes. In: Eva Horn, Lucas Marco Gisi (Hg.): Schwär­ me. Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S. 27–68. 28 „Purpose was a total mystery.“ Gregory Bateson, Margaret Mead, Stewart Brand: For God’s Sake Mar­ garet. In: CoEvolutionary Quarterly, June 1976, Nr. 10, S. 32–44, S. 38. 29 „The term purposeful is meant to denote that the act or behavior may be interpreted as directed to the attain­ ment of a goal – i. e., to a final condition in which the behaving object reaches a definite correlation in time or in space with respect to another object or event.“ Rosenblueth, Wiener, Biogelow (s. Anm. 17), S. 18.

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Prinzip des Musters gegen das Kalkül der großen Zahl durchsetzen mussten: pattern against purpose. Heute ist es genau das, was die Kinder von den hosts lernen: sich in Musterumgebungen sehr schnell zu bewegen und bewegen zu lassen. Inzwischen sind die Schnittstellen und Interfaces, die haptischen und taktilen ebenso wie die stimmlichen und sprachlichen Übertragungen, mit denen Norbert Wie­ ner am MIT experimentierte, verfeinert und an potentere Datenspeicher und -prozes­ soren angeschlossen, die in der Tat nicht nur erhöhte Wirklichkeiten des Erinnerns, Vorstellens und Reagierens realisiert haben, sondern buchstäblich eine augmented reality des Menschlichen insgesamt. Nicht dass Computer ein Bewusstsein entwickeln, wie Ray Kurzweil es schon 1999 für die nahe Zukunft prognostizierte, sondern dass Bewusstsein überhaupt nur noch als Relation von Mensch und Maschine gedacht wer­ den kann, fordert das Denken heraus: „An der Stelle, wo die Philosophie eine ursprüngliche ‚Vertrautheit-mit-uns-selbst’ lehrt, die erstens Abbildungsbeziehungen als solche wahrnehmen und zweitens einen ‚kontinuierlichen Iterationsprozeß’ (M. Frank) speichern kann, so daß alle Individuen im Erzählen ihrer Lebensgeschichte kleine Autoren oder Goethes werden, an genau dieser Stelle insistiert die Psychoanalyse darauf, daß Bewußtein nur die imaginäre Innenansicht medialer Standards ist.“ 30

Im historischen Moment, an dem diese Ununterscheidbarkeit von menschlichem und nichtmenschlichem Anteil in Denk- und Erinnerungsprozessen ebenso wie im Verhal­ ten, etwa im Straßenverkehr unter Bedingungen selbststeuernder Autos aufmerksame und zugleich ratlose Juristinnen und Juristen aufruft, Fragen von Willen und Intention, Verantwortung und Recht neu zu verhandeln,31 interveniert die schlaue Neuauflage von Westworld als Imagination einer Welt der Pioniere im rechtlosen frontier-Gebiet. Darin beschreibt sie eine Umkehr der US-amerikanischen Geschichte in eine Geschichte der THEM. Mit diesen großgeschrieben Anderen sympathisieren die Androiden, wenn sie sich gegen das US, das phantasmatische WIR wenden, sich besinnen und aufbegehren. Westworld legt das Verhältnis von Körper und Technologie unter Bedingungen eines digital ver- und berechnenden Milieus offen. Damit schließt die Serie an die Wis­ senschaft der Kybernetik und an die Phänomenologie an, welche es ins Zentrum ihrer Theorien gestellt haben. Deutlich nimmt Westworld zahlreiche Motive des Westerns 30 Kittler: Die Welt des Symbolischen (s. Anm. 11), S. 61. 31 Vgl. Sabine Gless, Kurt Seelmann (Hg.): Intelligente Agenten und das Recht, Baden-Baden 2016; Ryan Calo, A. Michael Froomkin, Ian Kerr: Robot Law, Cheltenham 2016.

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oder frontier-Films auf: die Ausdifferenzierung von Natur und Kultur, von Gewalt und Gesetz, Fortpflanzung und Sinnlichkeit, Männern und Frauen. Alle diese Unter­ scheidungen erscheinen als Verhalten, wie US-amerikanische Popkultur es vor allem durch das Kino globalisiert hat. Darüber hinaus aber bleibt die Serie vor allem deshalb eine irritierende Erfahrung, weil sie die Laboratorien, in denen Menschen künstlich gemacht werden, nicht nur zeigt und in ihren historischen Geräten und Verfahren aufruft, sondern weil die Serie selbst in ihrer Ästhetik und netzwerkartigen Distribu­ tion ein Laboratorium herstellt, das die Frage nach einer künstlichen Implementierung von Bewusstsein als datengesteuertes Verhalten mit jeder Szene, mit jedem Schnitt aufwirft. Westworld zeigt damit auch, dass eine Differenzierung von inner-, außeroder transdiegetischer Welt unter Bedingungen universeller und dennoch agonaler Datenprozessierung nicht mehr sinnvoll ist. Westworld macht deutlich, inwiefern jede und jeder unter Netzwerkbedingungen Datenspuren hinterlässt, die das Verhalten aller anderen und damit schließlich auch das eigene modifizieren. In integrierten Schalt­ kreisen wird jede und jeder durch Verhalten zur Nachricht für alle anderen, die sich einschalten und zuschalten, weil sie sich dafür interessieren: to whom it may concern.32 Bereits Norbert Wiener hat das als Struktur der universalen message bezeichnet. Unser Verhalten, das sich immer dank irgendwelcher Gadgets und immer über irgendwelche Monitore auf andere überträgt, generiert mit allen Botschaften zugleich Daten, von denen wir, algorithmisch unterbelichtet, nicht wissen, welche Gespenster am Weges­ rand von Datenautobahnen und click-farms sie abzapfen. Welche hosts nehmen unser Verhalten an? Können wir aufbegehren gegen programmiertes Verhalten? Sich so zu benehmen, dass das Muster des Verhaltensschemas mit jeder Handlung fundamental reorganisiert und auch die Umgebung neu geordnet wird, das ist der kategorische Imperativ, den wir von den hosts der Westworld lernen können.

32 Vgl. Erhard Schüttpelz: To Whom it May Concern Messages. In: Claus Pias (Hg.): Cybernetics/Kyber­ netik. Die Macy Konferenzen 1946–1953, Bd. 2: Essays & Dokumente, Berlin/Zürich 2004, S 183–198.

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Technischer Realismus. Filmtechnik zwischen Kunst und Wissenschaft Ästhetik und Gebrauchsweisen fotografischer Bilder in den Naturwissenschaften sind Gegenstand einer inzwischen mehrere Jahrzehnte währenden Diskursgeschichte. Eine wesentliche Frage ist dabei vor allem, welche repräsentativen Funktionen den Bildern zugeschrieben werden und in welchem Maße diese Repräsentationen Konstrukte sind, deren Verweise auf die Welt mehr über ihre Entstehungsmilieus sowie Urheber und Urheberinnen aussagen als über die Bildgegenstände selbst. Die Bilder des Spielfilms in diesen Diskurs einzubeziehen, ist insofern diffizil, als sie zum einen offensichtlich einer Fiktion dienen, aber zum anderen in ihrer Gegenständlichkeit den Anspruch auf Repräsentation nicht aufgeben. Dieser Glaube an das fotografische Bild und seinen Verweischarakter ist wissenschaftlicher und erzählerischer Nutzungen des Films dabei gemein. Aber während sich die Herstellung wissenschaftlicher Bilder gerade über die Funktion der Repräsentation legitimiert, werden die Bilder des Spielfilms trotz dieser nicht als authentisch, sondern als zum Zwecke einer Narration konstruiert verstanden.1 Im Kontext konstruktivistischer Lesarten wissenschaftlicher Praktiken verspricht eine Einbeziehung des Spielfilms und der darüber erzeugten Erkenntnisse in den Diskurs jedoch zusätzliche Produktivität. Spielfilm und Wissenschaft interagieren als Forschungsgegenstände auf meh­ reren Ebenen miteinander, die von der wissenschaftlichen Fundierung des Mediums selbst über seinen Einsatz als wissenschaftliches Hilfsmittel bis zur Darstellung von Wissenschaft als Thema reichen. Im Folgenden soll diesem Netzwerk von Bezügen eine bislang wenig beachtete Perspektive hinzugefügt werden. Der Blickwinkel ist dabei jener von Technikern im Studiosystem Hollywoods in den 1920er- und 1930erJahren.2 Die konkrete Fallstudie soll dabei vor dem Hintergrund grundsätzlicher Fra­ gen darlegen, warum die Rolle der Technik in der Filmgeschichtsschreibung in dieser Zeit marginalisiert wurde und sich damit als blinder Fleck in die Theorien des Kinos eingeschrieben hat.3

1 Filmbilder zeigen vieles, von dem wir zwar wissen, dass es nicht existiert, das wir als Teil einer Erzäh­ lung aber als real akzeptieren. 2 Ein Techniker ist hier nicht notwendig eine reale Person, sondern eine Rolle. Kameramänner in den Studios treten in der Regel sowohl als Techniker als auch als Autoren auf, wenn es um die Gestaltung von Szenen und Bildern geht. Da es sich bei den betreffenden Personen ausschließlich um Männer handelt, wird zudem auf eine geschlechtsneutrale Bezeichnung verzichtet. 3 Benoît Turquety hat aufgezeigt, wie sich die Filmhistoriografie in den 1930er-Jahren von der Technik abgewendet hat, als in Frankreich gerade Grundsteine für eine Philosophie der Technik gelegt wurden. Benoît Turquety: Toward an Archaeology of the Cinema/Technology Relation. From Mechanization to ‚Digital Cinema‘. In: Annie van den Oever (Hg.): Techné/Technology. Researching Cinema and Media Technologies, Their Development, Use and Impact, Amsterdam 2014, S. 50–64.

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Zunächst ist zu klären, welche Rolle die wissenschaftliche Fundierung für die Produktionspraktiken in den Hollywood-Studios gespielt hat und in welchem Ver­ hältnis sie insbesondere zum Selbstverständnis des technischen Personals gestanden hat. Ausgehend von der Feststellung, dass die Techniker selbst ihre Arbeit als wissen­ schaftlich betrachtet haben, stellt sich weiter die Frage, wie Bilder in Wissenschaft und Spielfilm als Mittel der Repräsentation verstanden wurden. Film als Kunst und Wissenschaft

Der Punkt, an dem sich das Verhältnis von Wissenschaft und Spielfilm während des untersuchten Zeitraums bestimmt, ist deren jeweiliges Verhältnis zum Automatismus des fotografischen Verfahrens. Der Umstand, dass sich fotografische Bilder schein­ bar unmittelbar oder eben ohne menschliches Zutun erzeugen lassen, wurde in der Wissenschaft bereits Mitte des 19. Jahrhunderts begrüßt, wie etwa Lorraine Daston und Peter Galison am Beispiel von Bildatlanten gezeigt haben.4 Der anfangs noch als magisch empfundene Automatismus entwickelte sich zu einem Garanten für ein Sehen frei von menschlichen Einflussnahmen und Wahrnehmungsbeschränkungen. Letz­ teres zeigte sich vor allem bei Bildsequenzen, die alternative Zeitlichkeiten herstellen konnten, wie dies zunächst bei den Bewegungsstudien von Étienne-Jules Marey und später allgemein in den Praktiken von Zeitlupen- und Zeitrafferaufnahmen der Fall war. Für das Erzählkino stellte dieser Automatismus ein Problem dar, weil er ihm den Vorwurf einhandelte, lediglich abgefilmtes Theater zu sein. Das Selbstverständ­ nis des sich entwickelnden Stummfilms war daher geprägt von dem steten Bemühen, durch menschliche Eingriffe in den Automatismus des Mediums einen Form- und Gestaltungswillen zum Ausdruck zu bringen und damit Kadrierung und Montage gegenüber der Inszenierung vor der Kamera aufzuwerten.5 Die hier skizzierte Emanzipation des Mediums steht im Kontrast zu seiner Nut­ zung in den Naturwissenschaften. Gleichzeitig etablierte sich aber in der hier beispiel­ haft untersuchten amerikanischen Filmproduktion der 1920er-Jahre ein wissenschaft­ liches Ethos, welches dieser Darstellung selbst zu widersprechen scheint. Durch die zunehmend teurer werdenden Produktionen und die Notwendigkeit, mit anderen Wirtschaftszweigen um Investoren zu konkurrieren, war jede Möglichkeit, das ver­ meintliche Schaustellergewerbe auf solide Füße zu stellen, mehr als willkommen. Die vielleicht ersten Schritte machten hier die Kameramänner, unter denen bereits in den 4 Lorraine Daston, Peter Galison: Das Bild der Objektivität. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Tech­ nologie. In: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit, Frankfurt a. M. 2002, S. 29–99. 5 Exemplarisch auf den Punkt gebracht bei Rudolf Arnheim: Film als Kunst, Frankfurt a. M. 2002.

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1910er-Jahren ein Diskurs über Praktiken des Filmtricks entstand. Darunter sind sol­ che Verfahren zu verstehen, die mit filmischen Mitteln in die unmittelbar abbildende Funktion des Mediums eingreifen. Das daraus resultierende Genre des trick films stellt genau diese Eingriffe ins fotografische Bild zur Schau. Die Fantastereien des Genres haben sich allerdings ästhetisch und damit auch ökonomisch in kurzer Zeit verbraucht, was die Forderung nach sich führte, Filmtricks der repräsentativen Funktion des fil­ mischen Bildes, also der Narration unterzuordnen. Repräsentation ist damit vornehm­ lich an menschliche Autorschaft gebunden und nicht an eine Autorschaft des Mediums, wie sie bereits die frühe Fototheorie beschrieben hat. Der Begriff des Tricks selbst war Ausgangspunkt einer Debatte über das Selbstverständnis der beteiligten Kamera­ männer und ihre institutionelle Positionierung in den sich professionalisierenden Stu­ dios. ‚Tricks‘ wurden ersetzt durch ‚optische Effekte‘ oder ‚Spezialeffekte‘, für welche zunehmend auch kleine, eigenständige Labore eingerichtet wurden.6 Die Diskussion wurde befördert durch die Gründung von Fachverbänden wie der Society of Motion Picture Engineers (SMPE, 1916)7 sowie der American Society of Cinematographers (ASC, 1919) und ihrer jeweiligen Zeitschriften. Sowohl die Verbände als auch ihre Mitglieder sahen sich dabei mit der Herausforderung konfrontiert, sich Sichtbarkeit zu verschaffen, während es zu ihrem neuen Selbstverständnis gehörte, dass ihre Arbeit unsichtbar bleiben sollte. Mit der Einführung des Tons ein Jahrzehnt später wurde diese Entwicklung hin zu einer wissenschaftlichen Fundierung von Praktiken weiter forciert. Das hat zunächst mit den nach Hollywood importierten Toningenieuren selbst zu tun. Die Kameramänner hatten sich ihr technisches Wissen in den Studios angeeignet. Wenn sie über eine Ausbildung verfügten, dann über eine in den bildenden Künsten oder der Fotografie. Die Entwicklung und Anwendung akustischer Aufnahme-, Speiche­ rungs- und Wiedergabesysteme setzte dagegen ein anderes, abstrakteres Wissen vor­ aus. Paramounts Kameramann für Spezialeffekte, der selbst aus einer kalifornischen Fotografenfamilie stammende Farciot Edouart, beschrieb den Einzug der Tontechniker 1945 rückblickend so: „Mit dem Aufkommen des Tons hatten wir zum ersten Mal wirklich gute Ingenieure und eine erheblich verbesserte technische Infrastruktur. Diese Männer wurden rekrutiert von der Telefongesellschaft, vom Radio, Elektrofirmen 6 Judi Hoffman: The Discourse of ‚Special Effects‘ Cinematography in the Silent American Cinema. In: Post Script, Jg. 10, 1990, Heft 1, S. 30–49; Julie Turnock: Patient Research on the Slapstick Lots. From Trick Men to Special Effects Artists in Silent Hollywood. In: Early Popular Visual Culture, Jg. 13, 2015, Heft 2, S. 152–173. 7 Luci Marzola: A Society Apart. The Early Years of the Society of Motion Picture Engineers. In: Film History, Jg. 28, 2016, Heft 4, S. 1–28.

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und Universitäten.“ 8 Edouart und seine Kollegen profitierten bei ihrer Arbeit am Bild auch auf andere Weise von der Einführung des Tons. So stellte die seitlich neben dem Bildkader auf dem Filmstreifen platzierte optische Tonspur höhere Anforderungen an die Kopierwerke hinsichtlich gleichbleibender Kontraste und Gamma-Werte. Um dies zu gewährleisten, reichte es nicht mehr, Filmkopien mit dem Auge zu begutach­ ten, sondern ihre Dichte musste gemessen werden. Die damit gewährleistete Präzision und Wiederholbarkeit beim Kopieren steigerte die Qualität von Bildmanipulationen – etwa bei der Zusammenführung eigenständiger Bildteile – unter Berücksichtigung des Anspruches auf fotografischen Realismus.9 Das unterschiedliche Entwicklungsniveau von Bild und Ton zeigte sich auch in den Arbeitsweisen der jeweiligen Geräteher­ steller. Während die Hersteller von Mikrofonen, Verstärkern und Tonaufnahmegerä­ ten über große Abteilungen für Forschung und Entwicklung verfügten, investierten die Kamerahersteller Bell & Howell und Mitchell wenig in die Weiterentwicklung ihrer einmal erfolgreichen Produkte.10 Die so entstehende Lücke versuchten die improvisierten Werkstattlabore in den Studios ebenso zu füllen wie private Labore der Angestellten. Zudem hat Donald Crafton darauf hingewiesen, dass die Elektrifizierung Hol­ lywoods – Strom ist nicht mehr nur Energie für die Setbeleuchtung, sondern über­ mittelt beim Ton selbst Informationen – auch eine dezidiert symbolische Ebene hatte. Sie beförderte ein Bildungsnarrativ, in dem sich Studiotechniker nicht nur mit der abstrakten Idee von Forschung identifizieren, sondern diese mit Aufstiegschancen ver­ binden und die Industrie über ihren Branchenverband, die Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS), zusammen mit der University of Southern California (USC) erstmals berufsbegleitende Ausbildungen für Filmton organisiert.11 Im Vorwort des später erschienenen Textbuchs zu diesem Weiterbildungsprogramm beschreibt AMPAS-Präsident William C. de Mille den Einzug des Tons als die Zusammenfüh­ rung von Kunst und Wissenschaft:

8 „With the advent of sound, we had, for the first time, really good engineers and greatly improved techni­ cal organizing. These men were recruited from the Telephone Company, radio and electrical companies and from Universities.“ Farciot Edouart: 25 Years of Progress. In: American Cinematographer, Jg. 26, 1945, Heft 11, S. 368–369, 378 und 402, Zitat S. 378. 9 Frank E. Garbutt: Laboratory Technique for Sound Pictures. In: Lester Cowan (Hg.): Recording Sound for Motion Pictures, New York 1931, S. 180–195; Edouart (s. Anm. 8). 10 David Bordwell, Kristin Thompson: Technological Change and Classical Film Style. In: Tino Balio (Hg.): Grand Design. Hollywood as a Modern Business Enterprise, 1930–1939, New York 1995, S. 109– 141. 11 Birk Weiberg: Classical Hollywood as an Epistemological Network. In: Journalism and Mass Commu­ nication, Jg. 2, 2012, Heft 2, S. 421–427.

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„Die Wissenschaft hatte im Verborgenen und abseits der Kunst gewirkt und als sie plötzlich verlangte, dass die Kunst sich ihrer neuen Erfindung bediente, stieß das die gesamte Filmwelt in eine unüberschaubare Terra incognita und führte unmittelbar zu großer Konfusion.“ 12 Repräsentation in Film und Wissenschaft

Die doppelte Bezugnahme der Filmindustrie auf Kunst und Wissenschaft gab den Technikern der Studios die Möglichkeit, ein eigenes Rollenverständnis zu entwickeln. Dabei wurde Wissenschaft über ihre technische Anwendung als ebenso dienend ver­ standen wie die eigene Arbeit im Hinblick auf die Narration als künstlerischer Teil der Produktion. Technik nahm dabei eine vermittelnde Funktion zwischen Wissenschaft und Kunst ein, jenen beiden Feldern, denen Hollywood sich inzwischen ganz offiziell verbunden fühlte, wie sich beispielhaft an der Namensgebung der 1927 gegründeten Academy of Motion Picture Arts and Sciences ablesen lässt. Die hier idealisiert vorgenommene Bestimmung der Filmtechniker erlaubt es, die Frage zu stellen, wie sich der Glaube der Techniker an das Bild und seine reprä­ sentative Funktion im Spielfilm mit jenem in der Wissenschaft vergleichen lassen. Die Wissenschaftsgeschichte bemüht sich redlich, das Konzept der Repräsentation zu dekonstruieren und alternative Ansätze zu einem naiven Verständnis von Repräsen­ tation zu entwickeln.13 Die Analyse der Bildatlanten durch Daston und Galison hat beispielhaft gezeigt, dass ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Argument einer höheren Objektivität die Fotografie den bis dahin verwendeten Zeichnungen vorgezo­ gen wurde. Objektivität wurde dabei als Gegenbegriff zur menschlichen Subjektivität von Wissenschaftlern und Illustratoren verstanden.14 Wenn es einen Begriff in den zeitgenössischen Filmdiskursen gab, der sich mit jenem der Objektivität in Beziehung setzen lässt, dann ist es jener des Realismus. Rea­ 12 „Science had been working quietly and apart from art, and when it suddenly demanded that art make use of the new invention it thrust the whole motion-picture world into a vast terra incognita, with much confusion as an immediate result.“ William C. de Mille: Preface. In: Lester Cowan (Hg.): Recording Sound for Motion Pictures, New York 1931, S. v–vi, S. v. 13 Daston hat sich hier etwa für ein ontologisches Verständnis wissenschaftlicher Bilder ausgesprochen und fordert, diesen „den Dämon der Repräsentation und seine doppelten Welten auszutreiben“ („to exorcise the demon of representation and its duplicate worlds“). Lorraine Daston: Beyond Representation. In: Catelijne Coopmans, Janet Vertesi, Michael. E. Lynch, Stephen W. Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice Revisited, Cambridge, MA 2013, S. 319–322, S. 320. Vgl. zur Analyse wissenschaft­ licher Bilder mit kunsthistorischen Methoden exemplarisch Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel (Hg.): Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008. 14 Daston, Galison (s. Anm. 4).

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lismus wurde dabei als ästhetisches Konzept eingeführt, welches etwa der Kamera­ mann Gregg Toland im Hinblick auf seine Arbeit bei Citizen Kane (1941) beschreibt als „das Betrachten der Realität selbst, anstatt nur eines Films“.15 Es geht hier also weniger um eine Loslösung vom Autor oder gar vom Motiv, sondern um die Transparenz des Mediums selbst. Diese wird für Toland dadurch erreicht, dass die Kamera in ihren technischen Eigenschaften angenommene Wahrnehmungsweisen des menschlichen Auges möglichst getreu nachahmt, was er mit dem Mittel gesteigerter Schärfentiefe umsetzte. „Das menschliche Auge sieht alles (innerhalb einer bestimmten Distanz) deutlich und scharf. Es gibt keinen besonderen oder isolierten Punkt visueller Schärfe im wahren Leben. […] Die Verwirklichung einer annähernd menschlichen Sehschärfe war unser grundlegendes Ziel bei Citizen Kane.“ 16 Toland ist mit seiner Position kei­ neswegs repräsentativ für die ästhetischen Konventionen des Studiosystems. Das wird deutlich, wenn man sich die Kritik der Apparatustheoretiker der 1970er-Jahre am konventionellen Erzählkino in Erinnerung ruft. Diese kritisieren gerade, dass dem Publikum keine Position eingeräumt wird, aus der heraus es sich zum ihm gebotenen Spektakel ins Verhältnis setzen kann. Jean-Louis Baudry spricht hier im Hinblick auf die räumlichen Sprünge, die das continuity editing mit sich bringt, von einem trans­ zendentalen Subjekt.17 Der Umstand, dass Baudry dort, wo Toland das Fehlen eines wahrnehmenden Subjektes kritisiert, ein solches immer noch aus seiner dialektischen Negation heraus erkennt, zeigt, wie stark der konventionelle Realismus der Vorstellung eines wahrnehmenden Subjekts verbunden ist. Eine auf den ersten Blick der von Toland ähnelnde Definition präsentierte Alfred Goldsmith, der Präsident der SMPE, 1934 bei der Herbsttagung seines Verbandes, wenn er das Ziel der Filmtechniker wie folgt umreißt:

15 „[L]ooking at reality, rather than merely at a movie“, Gregg Toland: Realism for “Citizen Kane”. In: American Cinematographer, Jg. 22, 1941, Heft 2, S. 54–55 und 80, Zitat S. 54. 16 „The normal human eye sees everything before it (within reasonable distance) clearly and sharply. There is no special or single center of visual sharpness in real life. […] The attainment of an approximate human eye focus was one of our fundamental aims in Citizen Kane.“ Gregg Toland: I Broke the Rules in “Citizen Kane”. In: Popular Photography, Jg. 8, 1941, Heft 8, S. 55 und 90–91, Zitat S. 90. Auf diese Definition berief sich später auch André Bazin. Aber wie Noël Carroll gezeigt hat, handelt es sich dabei um zwei gänzlich unterschiedliche Konzepte von Realismus. Aus dem phänomenologischen Realismus Tolands macht Bazin einen physikalischen Realismus, der von einer kausalen Beziehung zwischen Motiv und Bild ausgeht. Noël Carroll: Philosophical Problems of Classical Film Theory, Princeton 1988, S. 129. 17 Jean-Louis Baudry: Ideological Effects of the Basic Cinematic Apparatus. In: Philip Rosen (Hg.): Nar­ rative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York 1986, S. 286–298.

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„Es ist die Darstellung eines realen oder vorgestellten Geschehnisses für das Publikum mit einem solchen Streben nach Perfektion, dass eine befriedigende Illusion einer tatsächlichen Präsenz des entsprechenden Ereignisses entsteht. Kurz gesagt, es ist die Produktion einer Ähnlichkeit mit der Realität.“ 18

Der Realismus von Goldsmith ist auf den zweiten Blick wesentlich offener als jener von Toland, weil er keine Annahmen über die menschliche Wahrnehmung enthält, aus welcher Toland sein ästhetisches Programm entwickelt. Worum es sich bei der avisierten Ähnlichkeit mit der Realität genau handelt, bleibt bei Goldsmith allerdings unbestimmt. Diese lässt sich nur indirekt aus einem ungebrochenen Fortschrittsglauben ableiten, wonach sich die Zielrichtung technischer Entwicklungen aus den zu mini­ mierenden Differenzen zwischen Film und Welt ergibt. Eine solche kontinuierliche Gegenüberstellung beider begründet dann nicht nur die Einführung ‚natürlicher‘ Far­ ben, sondern auch die Arbeit gegen technische Artefakte, wie unter anderem Filmkorn, Kratzer und Helligkeitsschwankungen. Dieses Streben nach einer Unsichtbarkeit der Technik – sowohl im Hinblick auf das produzierte Bild als auch auf die möglichst unmittelbaren Praktiken seiner Herstellung – deckt sich mit der angestrebten Dienst­ barkeit der Techniker selbst. Goldsmith trennt hier klar zwischen Technik und Kunst, wenn er weiter ausführt, eine exakte Nachbildung der Welt sei zwar das technische Ziel, würde beim Publikum jedoch ohne jeden Effekt bleiben. Dafür seien die Künstler in den Studios zuständig.19 Ausgehend von der Gegenüberstellung von Toland und Goldsmith lässt sich also zwischen ästhetischem und technischem Realismus diffe­ renzieren.20 Repräsentation als Konflikt

In seinem Selbstverständnis als subjektlose Repräsentation nähert sich der technische Realismus dem normativen Konzept eines wissenschaftlichen Objektivismus an, wäh­

18 „It is the presentation of a real or imagined happening to the audience in such approach to perfection that a satisfactory illusion of actual presence at the corresponding event is created. Briefly, it is the production of an acceptable semblance of reality.“ Alfred N. Goldsmith: Problems in Motion Picture Engineering. In: Journal of the Society of Motion Picture Engineers, Jg. 23, 1934, Heft 6, S. 350–355, S. 350. 19 Goldsmith (s. Anm. 18). 20 Bruno Latour hat in seiner Kritik der Kritik der Moderne beklagt, dass ‚wissenschaftlich‘ – und dies gilt ebenso für ‚technisch‘ und ‚ästhetisch‘ – ein wenig brauchbares Adjektiv sei, wenn man damit verbinde, dass Wissenschaft wissenschaftlich sei. Alle drei Adjektive seien hier entsprechend im Sinne von ‚einem Bereich zugeordnet‘ und nicht zur Zuschreibung einer bestimmten Qualität gebraucht. Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, S. 153.

Technischer Realismus

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rend er sich gleichzeitig in den Dienst eines ästhetischen Realismus stellt – etwa, wenn von dort die Forderung nach einer größeren Schärfentiefe gestellt wird, so lässt sich dies in verbesserte Eigenschaften der Produktionsmittel übersetzen. Der technische Realismus scheint damit eine vermittelnde Funktion zwischen Wissenschaft und Kunst einzunehmen. Das daraus resultierende Modell geschichteter Repräsentationskonzepte vermag auch Konflikte bei der Entwicklung seiner einzelnen Ebenen deutlicher zu machen, wie sie bei der Einführung des Tons auftraten. Schaut man sich frühe Tonfilme aus Hollywood an, so kann man feststellen, dass ein zu erwartender stilistischer Bruch weitestgehend ausgeblieben ist. David Bordwell hat das darauf zurückgeführt, dass bei den meisten zu treffenden Entscheidungen von einer stringenten Bild-Ton-Analogie ausgegangen wurde.21 Diese Entwicklung, die im Rückblick nach einer geradlinigen Übersetzung aussieht, war ein Prozess, der jedoch aufgrund unterschiedlicher Realismuskonzepte von Konflikten begleitet war. Die Toningenieure gingen, wie James Lastra gezeigt hat, davon aus, dass die Tonauf­ nahme einer Szene einen imaginären Hörer als Referenz voraussetze. Sie platzierten ihre Mi­kro­fone also an einer Position vor der Szene, die über deren gesamte Dauer beibehalten wurde.22 Dies widersprach dem damaligen Stil, der sich gerade erst von einer starren Position der Kamera emanzipiert hatte und statt dessen auf Kamerafahr­ ten und die Kombination unterschiedlicher Perspektiven als Ausdruck einer eigenen Formsprache Wert legte. Die Ästhetik des späten Stummfilms arbeitete mit einem Realismus ohne identifizierbaren Betrachter oder, nach Baudry, mit dem transzenden­ talen Subjekt, während bei der Einführung des Tons zunächst von einem idealisierten Standort und Hörer ausgegangen wurde. Die aus einer anderen Forschungs- und Tech­ nikkultur stammenden Toningenieure brachten also nicht nur technische Verfahren, sondern auch eigene ästhetische Konzepte ein und nahmen damit die von Toland später formulierte Forderung nach einem greifbaren Wahrnehmungssubjekt vorweg. Die von Bordwell konstatierte stilistische Kontinuität wurde erst in einem zweiten Schritt durch die Einführung des Tongalgens gewährleistet, also einer Konstruktion, die das Führen des Mikrofons über den Darstellern ermöglichte. Das nun schwebende Mikro­ fon hielt auch bei Bewegungen der Akteure stets denselben Abstand und erzeugte so eine Aufnahme, die dem bestehendem Realismuskonzept mit seinem transzendentalen 21 David Bordwell: The Introduction of Sound. In: David Bordwell, Janet Staiger, Kristin Thompson: The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960, New York 1985, S. 298–308. 22 Dabei wurde auch schon mit Kunstköpfen gearbeitet, die über zwei seitlich angebrachte Mikrofone eine nicht nur stereophone, sondern vor allem anthropomorphe Aufnahme gewährleisten sollten. James Lastra: Standards and Practices. Aesthetic Norm and Technological Innovation in the American Cinema. In: Janet Staiger (Hg.): The Studio System, New Brunswick, NJ 1994, S. 200–225.

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Birk Weiberg

Subjekt entsprach. Diese Erweiterung der importierten Geräte und Prozesse durch das Studiosystem zeigt eine klare Trennung zwischen technischem und ästhetischem Realismus, das heißt zwischen der Frage, wie auf der einen Seite die Differenz zwi­ schen Realität und medialer Repräsentation und auf der anderen Seite jene zwischen technischer und menschlicher Wahrnehmung verringert werden kann. Der beschriebene Konflikt erinnert zudem daran, dass Repräsentationskonzepte medienspezifisch ausgebildet werden und sich nicht ohne Weiteres vom Radio auf den Film beziehungsweise vom Ton auf das Bild übertragen lassen. Filmtechniker und Toningenieure standen vor der Herausforderung, sowohl technisch als auch ästhetisch argumentieren zu müssen. Für die technische Anwendung wissenschaftlicher Erkennt­ nisse bedurfte es eines ästhetischen Konzeptes, welches sich durch die Konstruktion eines Subjekts auszeichnete. Über diese Subjekte werden Techniken verhandelt, sobald sie sichtbar werden sollen und dürfen. Gleiches gilt für die Techniker selbst, die mit der Wiedereinführung der in der Wissenschaft verfemten Subjekte ihre eigene Position als Übersetzer zwischen Wissenschaft und Kunst markierten.

Sarine Waltenspül

Inszeniert? Zum Verhältnis von physikalischer und visueller Akkuratesse im Film „Wenn f, m, l und t die Symbole sind, die die fundamentalen Größen der Kraft, Masse, Länge und Zeit im Modell repräsentieren, und wenn f ’, m’, l’ und t’ die ­entsprechenden Größen in der imaginären Welt auf der Leinwand sind, können wir die grundlegenden Dimensionsgleichungen aufstellen:

f = m  1  2   [1]   t

f ’ = m’  1’  2   [2]    “ 1 t’

1924 schlägt ein J. A. Ball diese Formeln zur Berechnung der Bildwechselfrequenz beim Filmen von skalierten kinematografischen Modellen vor. Ball ist kein Geringerer als der Physiker und Erfinder Joseph Arthur Ball, jener Ingenieur bei Technicolor, 2 der bekannt ist für seine Beiträge zur Entwicklung des Farbfilms.3 In Theory of Mechanical Miniatures in Cinematography überträgt er fundamentale Gesetze aus der Dynamik, einem Teilgebiet der Mechanik, auf den filmischen Bereich. Die darin formulierten Formeln sollen den Filmschaffenden ein Instrument an die Hand zu geben, um den Illusionismus bei der Arbeit mit kinematografischen Modellen beziehungsweise Mini­ aturen4 zu steigern. Im Aufeinandertreffen angewandter Physik und der „imaginären Welt auf der Leinwand“, wie beispielsweise im Spielfilm Jason and the Argonauts,5 ergeben sich jedoch Reibungen in den jeweiligen Konzepten der Präzision. Denn obwohl sowohl die Physik als auch der Film hinsichtlich der Größenskalierung mit vergleichbaren Herausforderungen umzugehen haben, lässt sich die numerische Genauigkeit Ersterer nicht mit der Akkuratesse, als sorgfältige Exaktheit nach Augenmaß verstandenen, des visuell strukturierten Films gleichsetzen, wie die wissenschaftshistorische Analyse in Kombination mit einer produktionstechnischen Fallstudie zeigen wird.

1 Joseph A. Ball: Theory of Mechanical Miniatures in Cinematography. In: Transactions of the Society of Motion Picture Engineers, 1924, Nr. 18, S. 119–126, S. 120, alle Zitate übersetzt durch S. W. 2 Luci Marzola: A Society Apart. The Early Years of the Society of Motion Picture Engineers. In: Film History, Jg. 28, 2016, Heft 4, S. 1–28, S. 13. 3 Vgl. Joseph A. Ball: The Technicolor Process of Three-Color Cinematography. In: Journal of the Society of Motion Picture Engineers, Vol. 25, 1935, Heft 2, S. 127–138. 4 Die Begriffe werden im kinematografischen Kontext manchmal synonym verwendet, der Terminus technicus lautet ‚Modell‘. Nicholas Seldon: Gulliver in Hollywood. The World of Movie Miniatures. In: American Cinematographer, Jg. 64, 1983, Heft 11, S. 87–92, S. 88. 5 Don Chaffey: Jason and the Argonauts (USA: Morningside Worldwide Pictures 1963), BluRay, Columbia Pictures 2015, 104 min.

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Skalierungsprobleme

1–3: Jason and the Argonauts, TC 01:05:40, 01:06:01, 01:07:08.

Die visuellen Effekte aus Jason stammen von Ray Harryhausen, dessen Arbeit als Mei­ lenstein in der Geschichte der Spezialeffekte gefeiert wird.6 Während der Film insbesondere für seine kämpfenden Skelette bekannt ist, die in Einzelbildern animiert wurden,7 wird eine Szene in den Blick genommen, in welcher sich die Kollision der Maßstäbe des Profilmischen, also dessen, was sich vor der Kamera befindet,8 mit den im Filmbild inszenierten Größen besonders deutlich zeigt. In dieser Szene des Films, der eine lose Adaption der Argonautensage darstellt, haben die Argonauten samt ihres Schiffs Argo die Symplegaden, die zusammenschlagenden Fel­ seninseln, zu durchqueren.9 Während dabei beidseitig Steine ins Wasser stürzen, taucht Triton, ein bärtiger Riese mit Krone, aus dem Wasser auf. ◊  Abb.  1 Er stellt sich rücklings gegen die Felswand, mit dem Blick auf die Argo gerichtet. ◊ Abb. 2 Als die Felswand back­ bords ebenso einzustürzen droht, spannt Triton seine Arme und stemmt die Felsen zu beiden Seiten des Schiffs auseinander, so dass Jason die Argo unter seinem Arm hindurchführen und den Symplegaden entkommen kann. ◊ Abb. 3 Triton taucht ab – mit der Schwanzflosse wie zum Abschied winkend.

6 So gewann Harryhausen beispielsweise bei den Academy Awards 1992 den Gordon E. Sawyer Award, einen ‚Ehrenoscar‘ für besondere technologisch-wissenschaftliche Beiträge, die der Filmindustrie dien­ lich sind, http://www.oscars.org/sci-tech-awards/gordon-e-sawyer-awards (Stand: 03/2017). 7 Vgl. Ray Harryhausen, Tony Dalton: Ray Harryhausen. An Animated Life, London 2003, insb. S. 168– 174. 8 Vgl. Etienne Souriau: Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie [frz. Orig. 1951], übers. v. Frank Kessler. In: montage AV, Jg. 6, 1997, Heft 2, S. 140–157. 9 Chaffey (s. Anm. 5), TC: 01:05:22–01:07:59.

Inszeniert?

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Vor der Realisation der Aufnahmen musste die Sequenz in zwei Grup­ pen von Einstellungen unterteilt werden, die es in filmtechnischer Hinsicht unter­ schiedlich umzusetzen galt. Einerseits die Aufnahmen, die Triton alleine oder mit dem (Modell-)Schiff zeigen ◊ Abb. 3 und andererseits die, welche Triton gemeinsam mit Jason und seinen Männern auf Teilen des Schiffs zeigen. ◊ Abb. 1 + 2 Triton im ­Wasser – ob mit oder ohne (Modell-)Schiff – wurde in erhöhter Bildwechselfrequenz ( frames per second, fps) gefilmt, während die Wiedergabe in normaler Frequenz erfolgte. Die Aufnahmen, die Triton gemeinsam mit Jason und seinen Männern auf dem Schiffsdeck zeigen, setzen sich wiederum aus zwei einzeln gedrehten Aufnahmen zusammen (Triton im Wasser, Argonauten auf dem Schiff), die später mithilfe eines optischen Printers kombiniert wurden.10 Die Filmschaffenden sahen sich bei der Rea­ lisierung der Aufnahmen mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert, die aus den divergierenden Maßstäben der einzelnen Elemente resultieren: Ein (profilmi­ sches) Modellschiff soll auf der Leinwand als full-size-Schiff erscheinen, der Mensch daneben als riesenhafter Gott und das Wasser, in dem er sich befindet, darf seinen Maßstab nicht verändern, denn Wasser ist und bleibt Wasser – egal ob sich ein Riese mit Fischflosse darin tummelt oder nicht. Ball berichtet, dass wenn ein Modellschiff mit normaler Bildwechselfrequenz gefilmt werde, das Resultat „enttäuschend“ sei, ja „genau wie eine Miniatur“ aussehen würde. Grund dafür seien die zu schnellen Bewegungen des Boots auf dem Wasser.11 Soll also der Eindruck von Größe erweckt werden, gilt es, die Modelle massiger wirken zu lassen: „Wenn wir die Aufnahmen des Boots mit einem Vielfachen der normalen Geschwindigkeit erstellen und sie in normaler Geschwindigkeit projizieren, wird das Dümpeln des Boots so ausgedehnt, dass es wie das Wanken eines großen Boots erscheint und die gewünschte Illusion so erreicht wird.“ 12

Wie die Frequenz zu berechnen ist, um diese „gewünschte Illusion“ zu erhal­ ten, e­ ntwickelt Ball mithilfe der zu Beginn zitierten Formel. Diese beschreibt zum einen das Verhältnis von Kraft, Masse, Länge und Zeit im Modell, zum anderen das Verhältnis der entsprechenden Dimensionen in der „imaginären Welt“. Um das 10 Harryhausen, Dalton (s. Anm. 7), S. 162. 11 Ball (s. Anm. 1), S. 119. 12 Ball (s. Anm. 1), S. 119.

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Modell nicht als solches erscheinen zu lassen, müssen die Größen im Modell und auf der Leinwand in Relation zueinander gebracht werden, woraus Ball eine Formel auf­ stellt, mithilfe derer die von der Objektgröße abhängige Masse berechnet werden kann (T2 = L).13 Ball blieb nicht das einzige Mitglied der Society of Motion Picture Engineers (SMPE), das sich mit der Erzeugung des Eindrucks von Größe auf der Leinwand beschäftigte. Sein, wie er es selbst charakterisierte, „sehr allgemeines Gesetz“ wurde wenige Jahre später durch G. F. Hutchins, Mitarbeiter der General Electric Company, in einer Replik für das Journal der SMPE weiterentwickelt.14 Hutchins reduzierte die Formel auf die Grundgrößen Masse, Länge und Zeit und erarbeitete verschiedene Varianten derselben, abhängig von der jeweils ausschlaggebenden Größe. Ungeachtet der marginalen Unterschiede referieren beide Autoren auf ein und dasselbe Verfahren, nämlich auf die Dimensionsanalyse, wie sie beispielsweise in der Strömungslehre zum Einsatz kommt.15 Verfahrenstransfer

Die Dimensionsanalyse umfasst gemäß H. L. Langhaar, der dem Verfahren zur Popu­ larität verholfen hat,16 zwei Schritte: Erstens seien die relevanten Variablen des zu lösenden Problems eines Systems zu identifizieren und zu benennen, wodurch red­ undante und vernachlässigbare Variablen ausgeschlossen würden. Zweitens sei ein Set aus dimensionslosen Produkten der Variablen zu bilden.17 Die Tatsache, „dass sich jede physikalische Gleichung dimensionsbehafteter Einflussgrößen – unabhängig vom benutzten Maßsystem – als Beziehung zwischen einem Satz dimensionsloser Kenn­ zahlen ausdrücken lässt“, stellt den theoretischen Überbau dar, die „Grundidee“ der sogenannten „Ähnlichkeitstheorie“.18 Damit ergänzen sich Dimensionsanalyse und Modellübertragung wie folgt:

13 F = MG; da die Gravitationskraft G eine Konstante sei und die Masse sich aus M, L und T zusammen­ setze, wobei die Variable M entfällt, leitet er davon ab: T2 = L. Ball (s. Anm. 1), S. 120. 14 G. F. Hutchins: Dimensional Analysis as an Aid to Miniature Cinematography. In: Journal of the Society of Motion Picture Engineers, Vol. 14, 1930, Heft 4, S. 377–383, S. 377. 15 Henry L. Langhaar: Dimensional Analysis and Theory of Models. New York 1951, S. v. Zur Geschichte der Dimensionsanalyse und Modellübertragung siehe Marko Zlokarnik: Scale-up. Modellübertragung in der Verfahrenstechnik, Weinheim 2005. 16 Zlokarnik (s. Anm. 15), S. 252. 17 Langhaar (s. Anm. 15), S. v. 18 Wolfgang Siemes, Rüdiger Worthoff: Ähnlichkeitstheorie und Dimensionsanalyse. In: dies.: Grundbe­ griffe der Verfahrenstechnik, Weinheim 2012, S. 1–15, S. 1.

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„Die Dimensionsanalyse liefert einen vollständigen Satz von Kennzahlen [Potenzprodukte], die einen physikalisch-technischen Vorgang beschreiben und aufzeigen, unter welchen Bedingungen sich dieser Vorgang im Modell und in der technischen Ausführung ‚ähnlich‘ verhält: Die Dimensionsanalyse ist die einzige gesicherte Grundlage der Modellübertragung.“ 19

Der technische Durchbruch der Ähnlichkeitsüberlegungen erfolgte im Zuge der experimentellen Modellversuche von William Froude und Osborne Reynolds. Froude ermittelte den Schleppwiderstand von Schiffen, Reynolds veröffentlichte 1883 seine Forschung zur Strömung von Fluiden durch Rohre. „Die ‚Modellwissenschaft‘ war geboren.“ Darauf basierend sind „die ‚Übertragungsregeln‘ für die abgeleiteten Defi­ nitionsgrößen (wie z. B. Geschwindigkeiten, Beschleunigungen usw.)“ entwickelt wor­ den, woraus wiederum aus dem „Vergleich der Kräfte, der Energien etc.“ die ersten Kennzahlen gewonnen wurden.20 Somit wurde nicht erst in der Übertragung eines ursprünglich im Zuge der Strö­ mungslehre entwickelten Verfahrens in einen populären Kontext Wissenschaft ‚insze­ niert‘,  sondern die Wissenschaft selbst inszenierte bereits – und dies sowohl in der Entwick­ lung als auch in der Anwendung der Modellübertragung. Denn die in Modellversuchen gewonnenen Ergebnisse stellen die Basis der Berechnungen der ‚Realgrößen‘ dar. Die Vergleichbarkeit der Skalierungsprobleme, wie sie in der Strömungslehre und im Film vorkommen, kann als Bedingung der Möglichkeit zur Übertragung des Verfahrens der einen in die andere Praxis gesehen werden. Bemerkenswerterweise fällt die ‚Geburt‘ der Modellwissenschaft in dieselbe Dekade, in der auch das Medium Film wesentlich entwickelt wurde. Der tatsächliche Einfluss von Ball und Hutchins auf die filmische Praxis lässt sich kaum rekonstruieren. Bekannt ist, dass sowohl die geografische als auch intellektuelle Distanz der SMPE dieser bis 1930 Schwierigkeiten bereitete, in Hollywood Anschluss zu finden.21 Einige Dekaden später tauchten jedoch die Formeln zur Berechnung der Bild­ wechselfrequenz beim Filmen von Modellen in einschlägigen Filmtechnikbüchern auf, womit sie spätestens in den 1960er-Jahren in einen Kontext übergingen, der der filmischen Praxis nahe stand. Raymond Fielding, der nach eigenen Aussagen das erste Textbuch in englischer Sprache verfasste, das die Grundlagen zeitgenössischer, professioneller visu­ eller Effekte aus aller Welt zu vereinen sucht und sich explizit an unabhängige Spezial­ 19 Zlokarnik (s. Anm. 15), S. 252. 20 Zlokarnik (s. Anm. 15), S. 253. 21 Zum Verhältnis der SMPE zu Hollywood vgl. Marzola (s. Anm. 2), S. 2.

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  = f “ effekt-Organisationen richte, 22 führt die Formel „ √  D d       an, wobei D die Distanz des „realen Objekts“, d die Distanz beim Modell und f der Faktor zur Erhöhung der normalen Bildwechselfrequenz von 24 fps ist.23 Mit diesem Transfer des Verfahrens aus dem wissenschaftlichen Bereich in einen praktischen, primär visuell strukturierten, wurden für die Skalierungsproble­ me auch spezifisch visuelle Lösungen entwickelt. Denn selbst wenn Elemente, wie beispielsweise das Modellschiff, in den besprochenen Aufnahmen durch Berechnun­ gen mithilfe der Formel den korrekten Eindruck von Masse erwecken und auch die restlichen, bezüglich ihres Maßstabs problematischen Bildelemente miteinander har­ monieren würden, bliebe ein Skalierungsproblem ungelöst: das des Wassers. In dicken Striemen läuft es von Gesicht und Körper des riesigen Gottes herunter, ◊ Abb. 1 in überdimensionierten Tropfen spritzt es um stürzende Steine, ◊ Abb. 3 und die Wellen erscheinen zwar aufgrund der im Verhältnis zur Aufnahme reduzierten Bildwechsel­ frequenz massig, jedoch wenig strukturiert. Der Eindruck von Größe wird folglich nur bedingt erzeugt, wodurch das Wasser zur unbeabsichtigten Referenzgröße im Filmbild wird. Physikalischen Entitäten wie Feuer, Wasser oder Wind lassen sich im Gegensatz zu festen Objekten nur bedingt skalieren.24 Oder wie Hutchinson es formuliert: „Tröpf­ chen, Gischt und Schaum weigern sich, ihren physikalischen Maßstab in Verhältnis zum gefilmten Modell zu reduzieren“, was dazu führe, dass eine „Szene mit Minia­ turen und Wasser meist unmittelbar als solche erkannt werden kann“. Die „Unmög­ lichkeit Wasser zu miniaturisieren“, hänge mit der Oberflächenspannung desselben zusammen, die nur bedingt durch den Einsatz von Chemikalien reduziert werden könne.25 Ein weiterer, spezifisch filmisch-visueller Umgang mit dem nahezu nicht skalierbaren Wasser ist die Arbeit mit Wassersubstituten, wie beispielsweise mit Mehl gemischtem Marmorstaub, oder zähflüssigeren Fluiden.26

22 Raymond Fielding: The Technique of Special Effects Cinematography (1965), London/Boston 1985, o. S. 23 Fielding (s. Anm. 22), S. 325–326. Fielding verweist bei seiner Nennung der Formel auf die Diskussion im Kontext der SMPE (S. 325), wobei spätere Autoren diese ohne Referenz nennen. So beispielsweise David Hutchison: Film Magic. The Art and Science of Special Effects, London 1987, S. 16; Richard Rickitt: Special Effects. The History and Technique, New York 2007, S. 116. 24 Rickitt (s. Anm. 23), S. 374. 25 Hutchison (s. Anm. 23), S. 15. 26 Fielding (s. Anm. 22), S. 357.

Inszeniert?

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Wissenschaftliche und ästhetische Größe

Wasser stellt jedoch nicht nur in Modellaufnahmen eine Herausforderung dar, sondern auch in computergenerierten Bildern (computer-generated imagery, CGI). Die Schnitt­ stellen zwischen ‚analogem‘ und ‚digitalem‘ Wasser sind jedoch nicht bloß die Probleme, die sich im Umgang damit ergeben, sondern ebenso die entsprechenden Lösungsan­ sätze. Denn nicht nur bei der Arbeit mit materiellen kinematografischen Modellen wird auf Verfahren aus der Strömungslehre zurückgegriffen, die Berechnungen stellen ebenso die Grundlage von Simulationen dar, mit denen Filmbilder computergeneriert werden. So berichtet Jim Hourihan, Leiter der Forschung und Entwicklung bei Tweak Films, bezüglich The Day After Tomorrow:27 „Wir benutzten eine physikalisch basierte Strömungssimulation, in der die natürlichen Eigenschaften von Wasser als Algorithmus definiert werden. [...] Dieser Algorithmus ist eine mathematische Beschreibung davon, wie sich Wasser bewegt und auf unterschiedliche Kräfte reagiert. Daher müssen wir dem Computer mitteilen wie groß das Wasservolumen ist, mit dem wir es zu tun haben, und in welcher Umgebung es sich befindet. Anschließend befehlen wir dem Computer, exakt zu berechnen, wie das Wasser durch diese Umgebung fließen würde.“ 28

Das mithilfe der Simulation erhaltene Resultat sei jedoch, „obwohl akkurat“, nicht im Sinne des Regisseurs ausgefallen. „Schließlich erhielten wir etwas, das aussah, wie ein dicker Klecks blaue Farbe, der durch einen Haufen grauer Boxen floss [...]. Gleichwohl es ein Klecks war, der sich gemäß physikalischer Gesetze bewegte.“ 29

Die Gesetze der Physik wurden daraufhin zugunsten einer visuellen Erwartung fallen­ gelassen, die Emmerich und sein Team dem Publikum unterstellten. Tacit ­sensing trium­ phierte über mathematisch-physikalische Korrektheit. Zwar hielten sie sich ­weiterhin an die Simulation, beeinflussten diese jedoch dahingehend, dass sie die Menge an Wasser erhöhten, bis sich dieses in der „gewünschten dramatischen Weise“ verhielt.30 27 Roland Emmerich: The Day After Tomorrow (USA: Centropolis Entertainment/Lionsgate Films/Mark Gordon Company 2004), DVD Twentieth Century Fox 2004, 119 min. Als Durchbruch für realistische digitale Wassereffekte gilt Wolfgang Petersons The Perfect Storm (USA 2000). Rickitt (s. Anm. 23), S. 224. 28 Jim Hourihan, zitiert nach Rickitt (s. Anm. 23), S. 224. 29 Jim Hourihan (s. Anm. 28), S. 224. 30 Jim Hourihan (s. Anm. 28), S. 224.

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Darüber, ob die visuelle Akkuratesse einer wie auch immer gearteten Exaktheit vor­ zuziehen sei, wurde auch in anderen Bereichen debattiert. So hält James Roy King bezüg­ lich der Detailtreue architektonischer Modelle fest, dass „visuelle Akkuratesse“ wichti­ ger sein könne als „haarspalterische Akkuratesse“.31 Zum Verhältnis von „ästhetischer“ und „wissenschaftlicher“ Größe äußerte sich auch der Philosoph Bertram E. Jessup: „Ästhetische Größe ist eindeutig nicht wissenschaftliche Größe, und faktische Fehltritte können ästhetische Triumphe sein. Der Verstoß gegen die wissenschaftliche oder reale Größe mag in vielen Fällen ästhetisch genau treffend sein [...]. Das wissenschaftlich Falsche kann das ästhetisch Wahrste sein.“ 32

Die Logik des Visuellen ist zwar in weiten Zügen physikalisch determiniert, bei unbe­ kannten Phänomenen, wie durch New York fließendes Wasser, kann jedoch die visuel­ le Akkuratesse dem „Klecks“ vorgezogen werden, der sich zwar physikalisch ‚korrekt‘ bewegt, dennoch aber das Publikum nicht zu überzeugen vermag. Diese Diskrepanz von berechneter Simulation und der prognostizierten Erwartung des Publikums an die Dynamik von Wasser mag auch der Grund dafür sein, dass selbst Jahre später der Ein­ satz von ‚echtem‘ Wasser in Flutszenen dem computergenerierten vorgezogen wurde. In The Impossible33 wurden die durch einen Tsunami verursachten Überschwemmun­ gen mithilfe eines Modell-Ferienresorts inklusive Liegestühle und Pool im Maßstab 1:3 realisiert. Bevor das Set gebaut wurde, wurde das Verhalten der Flutwelle wiederum in einem Wassertank im Maßstab 1:50 bei Edinburgh Designs Ltd getestet, einer auf ­Wellen und Gezeiten spezialisierten Forschungseinrichtung.34 Meist jedoch werden Modell­ auf­nahmen und CGI bezüglich ihrer jeweiligen Vorzüge kombiniert. In Master and Commander. The Far Side of the World 35 treffen beispielsweise full-size-Schiffe auf Mini­ aturschiffe und Aufnahmen von Wasser auf CG-Elemente,36 wobei die Entscheidung für die jeweilige Technik rein durch das Erscheinen im Filmbild begründet wurde.

31 James Roy King: Remaking the World. Modelling in Human Experience, Urbana/Chicago 1996, S. 12. 32 Bertram E. Jessup: Aesthetic Size. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Jg. 9, 1950, Heft 1, S. 31–38, S. 38. 33 Juan A. Bayona: The Impossible, (ES: Apaches Entertainment/Telecino Cinema 2012), 113 min. 34 Ian Failes: Making ‚The Impossible‘, https://www.fxguide.com/featured/the_impossible/ (Stand: 03/2017). 35 Peter Weir: Master and Commander. The Far Side of the World (USA: Miramax Films 2003), 138 min. 36 Rickitt (s. Anm. 23), S. 136–137.

Inszeniert?

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Inszenierende Simulationen

Die Analyse der Szene aus Jason sowie die Betrachtung des Einsatzes dimensionsana­ lytischer Berechnungen als Grundlage computergenerierter Bilder zeigt, dass (Bewegt-) Bilder komplexe Assemblagen darstellen, die ohne entsprechende Inputs aus anderen Bereichen, wie Wissenschaft oder Technologie, nicht möglich wären. Was Inge Hin­ terwaldner und Markus Buschhaus bezüglich wissenschaftlicher Bilder formulierten, lässt sich auch auf die im Aufsatz beschriebenen Beispiele übertragen: „Mit dem Komposit wird ein epistemisches Ding geschaffen, welches nicht an den Bildrändern endet, sondern auch dasjenige umfasst, was um die Bildflächen herum und insofern mit ihnen stattfindet. [...] So setzt sich jedes konkret realisierte wissenschaftliche Bild aus einer Vielzahl von Faktoren zusammen, darunter etwa: Bildpraktiken, Visualisierungstechniken, Messverfahren, Präparationsmethoden, Einigungsprozesse, disziplinäre Konventionen, Umwindungen.“ 37

Da die im Film geschaffenen Bilder jedoch in erster Linie ‚visuelle‘ und nicht ‚episte­ mische Dinge‘ sind, auch wenn sie mitunter durch komplexe epistemische Faktoren mitgeprägt werden, sind filmische Komposite stärker der visuellen Akkuratesse ver­ pflichtet als der mathematisch-physikalischen Korrektheit. Ungeachtet dessen bestehen Parallelen zwischen den beiden disparat erschei­ nenden Praxen des Films und der Wissenschaft, wie beispielsweise die erforderliche Kenntnis des zu lösenden Problems sowie der Grenzen und Möglichkeiten der ein­ gesetzten Verfahren, und ein vom trial and error-Prinzip geleitetes Arbeiten. Auch im Film müssen, wie der erste Schritt der Dimensionsanalyse besagt, alle relevanten Variablen des im Zentrum stehenden Problems eines Systems identifiziert und benannt werden. Im Falle der Szene aus Jason musste entschieden werden, welche Faktoren ska­ liert werden konnten und welche nicht. Soll Triton durch einen Menschen verkörpert werden, bedeutet das nicht nur, dass ein Modellschiff in den Aufnahmen eingesetzt werden musste, sondern auch, dass das Wasser als Referenzgröße im Filmbild fungieren wird – ungeachtet einer noch so exakten Berechnung der Bildwechselfrequenz. Liefert hingegen eine nach Gesetzen der Strömungslehre programmierte Simulation nicht das zu erwartende visuelle Ergebnis, so müssen die Parameter entsprechend manipuliert werden. 37 Inge Hinterwaldner, Markus Buschhaus: Zwischen Picture und Image. Überlegungen zu einem kom­ plementären Kompositbegriff. In: dies. (Hg.): The Picture’s Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit, München 2006, S. 9–19, S. 18–19.

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Sarine Waltenspül

Die Gemeinsamkeit zwischen dimensionsanalytischen Berechnungen in wissen­ schaftlichen Kontexten, im Filmen von kinematografischen Modellen sowie als Grund­ lage von Computersimulationen liegt einerseits im Lösen von Skalierungsproblemen, andererseits in ihrem prospektiven Charakter. Die dabei entstehenden Entwürfe eines möglichen Zustands – geleitet von physikalischer und/oder visueller Akkuratesse – rücken die Verfahren in die Nähe einer Inszenierung.

Film-Besprechung Stefan Trinks

Gravity. Kunst-Geschichte im Weltraum-Film I. Interiority – Weltallseelenlandschaften Wie bei Tarkowskys Solaris das Publikum im Weltall auf eine altertümliche Kunstkammer als Spiegel der unentweichlichen Innenwelt des Protagonisten stößt, spürt es auch in Alfonso Cuaróns Gravity1 (2013) sehr früh, dass es mit einem vor die imposante Kulisse der Blue Marble verlegten Kammerspiel konfrontiert ist. Vor dieser Hintergrundsfolie, die fragil wie eine Sei­ fenblase wirkt, werden existenzielle menschliche Bedingungen verhandelt. Die Zusammenfassung des Filmplots auf IMDb (Internet Movie Database), „Zwei nach einem Unfall allein im Weltall umhertreiben­ de Astronauten arbeiten zusammen, um zu überleben“, 2 wirkt daher lakonisch und ist doch treffend. Ersetzte man „Astronauten“ durch „Protagonisten“ und „im Weltall“ durch am „Arbeitsplatz“, könnte der Film überall spielen. Seine Fallhöhe gewinnt er erst durch die in das All projizierte innere, verheerte Seelenlandschaft der Astronautin, die den ungelösten irdischen Problemen – durch Unfall verlorene Tochter, Trauma, Scheidung – eskapistisch zu entkom­ men sucht. Oder auch nicht, denn das All mit seiner Leere und den wenigen geschlossenen Architek­ turen dient Cuarón in der Tradition von Solaris als Allegorie für das Leben.3 Der Weltraum ist hier als Raum der endlosen Freiheit – wie der Gefahren mit wahllos tötenden Trümmern – unvorhersehbar und ohne Halt. Im Gegensatz dazu bieten die Kapseln, die von der Protago­ nistin der Reihe nach aufgesucht werden, zwar Schutz, aber jede von ihnen ist als hermetisch abgeschlossener Raum auch Symbol für eine versehrte Seele, die gleichsam autistisch diesen Kokon der Kapsel kaum zu durchdringen ver­ mag. Nach dem Ausscheiden des zweiten Astro­ nauten, der sein Leben für die Protagonistin opfert, treibt seine Gefährtin allein im All und

1–3: Stillleben der amerikanischen Raumstation mit Spiel­ zeug-Legionär, Stillleben mit Astronautin in der russischen Raumstation, Stillleben mit Familienfotos vor Georges Méliès A Trip to the Moon, TC: 00:21:35, 00:39:34, 00:41:48.

in den Kapseln dahin. Die Bilder, die Cuarón dabei mit der modernsten Computergrafik unauslöschlich prägt, sind plastische Seelenland­ schaften der Ort- und Haltlosigkeit. II. Zero Gravity – Die formelle Nicht-Ebene der Schwebefiguren im ­Vakuum Wie in der antiken Odyssee oder bei einem Videospiel muss die Astronautin vor ihrer Not­ landung auf der Erde drei Stationen absolvieren, die vielleicht metaphorisch für die drei großen Lebensabschnitte stehen. Drei Mal trifft sie in den jeweils demolierten Raumkapseln und Raumstationen auf umhertreibendes Spiel­ zeug, also auf schwebende Stillleben, besser mit dem in der angelsächsischen Welt gebräuchli­ chen Begriff nature morte bezeichnet. In den ­Resten der amerikanischen Station kommt dem

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Film-Besprechung

4: Space-Mobile mit Astronaut an Fallschirm-Arabeske, TC: 00:29:21.

5: Albrecht Dürer: Randzeichnungen im Gebetbuch Kaiser Maximilians, fol. 39v, 1515, Bayerische Staatsbibliothek München.

Betrachter unmittelbar nach Rubiks Zauberwür­ fel ein Spielzeug-Legionär entgegen, in der rus­ sischen Raumstation ein Blechspielzeug-­Alien, eine Schachfigur sowie ein Miniatur-SpaceShuttle vor Leonardos Vitruv-Mann im Hinter­ grund; schließlich blinkt Feueralarm auf neben Familienfotos mit Kindern vor Georges Méliès A Trip to the Moon und dem Kleinen Prinzen. ◊ Abb. 1–3 Zusammen mit der abschreckenden Mitteilung im Vorspann, „Life in space is impos­ sible“, bilden diese kosmischen Stillleben, die per Definition menschenleer sind und tote oder absterbende Materie zeigen, ein schwebend-ein­ dringliches Memento mori der dritten Art.

Als müssten in einer erweiterten „Anato­ mie Sündenfall“ die beiden Astronauten, die als Adam und Eva aus dem „Paradies Erde“ in den kalten Kosmos vertrieben wurden und dort nun die einzigen Menschen sind, wieder und wieder kunstvoll verrenkt fallen, unterzieht der Regisseur als alter deus seine Figuren unausge­ setzt Belastungstests, die an das Akrobatische grenzen. Wie in einem Wetteifern mit Alexander Calder hängt Cuarón dabei wiederholt kine­ tische Mobiles in den schwarzen Filmhimmel, ähnlich wie die ersten Raumschiffe im Film an eben solchen Seilen fixiert waren. An scheinbar

Film-Besprechung

endlos arabesken Schlaufen baumeln in Gravity Menschen wie winzige Marionetten, die in der Asymmetrie ihrer Ponderierung kein ernstzu­ nehmendes Gegengewicht zu den Raumstati­ onen und Sonden bilden, die ebenfalls an den Mobiles hängen. ◊  Abb.  4 Diese Metaphorik aufnehmend, könnte, wenn der Vergleich auch anfangs überrascht, ein Bluescreen mit dem gleichsam schwerelosen Weißraum eines Blattes verglichen werden; die Akrobatik der CuarónFiguren kann assoziativ beispielsweise an die Randzeichnungen im Gebetbuch für Kaiser Maximilian im scheinbar luftleeren Weißraum des Papiers erinnern.4 ◊ Abb. 5 Gezeichnet von Albrecht Dürer, Lukas Cranach, Albrecht Alt­ dorfer und anderen, schweben die Figuren in den Arabeskenranken malerisch im Vakuum des weißen Nichts, ohne dass der Künstler sie erlösen würde oder ihnen festen Grund unter den Füßen gäbe. Entweder aus eigener Anschauung oder von Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer, von James Turrells Licht-Raum-Ins­ tallationen oder Olafur Eliassons Nebelkam­ mern ist den meisten Menschen das irritierende Gefühl bekannt, in einem Nicht-Raum aus glei­ send weißen Wänden oder Nebel jeglichen Halt unter den Füßen zu verlieren. Dieses Gefühl lässt Cuarón über 91 Minuten in hochgradig bearbeiteten Bildern manifest werden. Seit dem Aufkommen der Blue Box, in der die Akteure an Seilen in einem ansonsten völlig leeren Raum hängen und alle Bilder erst nachträglich als CGI eingespeist werden, ist jedes in der Schwerelosig­ keit angesiedelte Lichtspiel strukturell zugleich eine Reflexion über das Medium Film, da es seine Entstehungsbedingungen spiegelt. Diese neu erzeugte Welt soll über die 3D-Technik des Films für das Publikum trotz ihrer Künstlichkeit immersiv erfahrbar werden. Der Einsatz dieser Technik bildet zudem eine beträchtliche Erwei­ terung der künstlerischen Möglichkeiten, weil er die Zusehenden durch die ohne starken Schärfe­ verlust nicht abzulegende 3D-Brille nachgerade zur Zeugenschaft dieses Bild-Verismus und zur Interaktion des permanenten inneren Auswei­ chens zwingt. Ein weiterer Schlüsselmoment

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6 + 7: Träne mit sphärisch gekrümmtem Bild der Astro­ nautin zu Babygeschrei und Hundebellen über Funk, Radar und „Swetofilter Peripher“ mit Christophorus-Ikone, TC: 00:57:56, 00:54:52.

in dieser Hinsicht ist das wiederholte Zerbers­ ten umherschwebender Tropfen von Blut und Tränen auf der Kameralinse. ◊ Abb. 6 In den „Sphaira“-Tropfen5 werden nicht nur die Astro­ nautin, sondern auch die Kamera reflektiert, ein Kunstgriff, der dem Publikum nicht nur die Anwesenheit der Kamera vor Augen führt, sondern es bei aller illusionistischen Perfektion an das Filmbild als gemachtes Bild gemahnt. In allen Raumstationen komponiert Cuarón Bild-im-Bild-Verweise (etwa wenn er über der Armatur der russischen Raumkapsel das Bild einer Christophorus-Ikone für Reisende aus dem Mittelalter erscheinen lässt), ◊ Abb. 7 nur um sie im nächsten Augenblick surreal zum Schweben zu bringen und damit wieder über direkte Mise en abyme hinauszugehen. Nicht zuletzt wohl diese subtilen Reflexionen über das Medium haben Gravity sieben Academy Awards einge­ tragen. III. Gravitätlichkeiten Der Filmtitel Gravity ist mehrfach eingelöst. Das Wort meint sowohl in seinem lateinischen Ursprung wie auch in den meisten Sprachen beides – die Erdanziehungskraft ebenso wie Ernst und Schwere. Die Schwere der un­gelösten

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i­rdischen Probleme der Astro-Eva ist so groß, dass sie diese unsanft und buchstäblich zurück auf die Erde zwingen; Gaia holt die Geflohe­ ne durch ihre Anziehungskraft wieder zurück. Das Bild am Ende nährt zumindest die Hoff­ nung, dass nach all den Gravitätlichkeiten des Alls gegenüber der Protagonistin, die selbst den Sturz aus dem Himmel überlebt hat, ihre irdischen Probleme durch den gewaltigen Maß­ stabswechsel an erdrückender Gravität verlo­ ren haben. Der Film bringt in seiner Allegorie des haltlosen Lebens tradierte Bilder neu zum Schweben. 1 Alfonso Cuarón: Gravity (USA/GB: Warner Bros./ Esperanto Filmoj/Heyday Films 2013), Blu-Ray Diamond Luxe Edition Warner Home Video 2013, 91 min. 2 www.imdb.com/title/tt1454468/?ref_=fn_al_tt_1 (Stand: 08/2017). 3 Neben Tarkowskys Solaris (SU: Mosfilm 1972) hat in der Post-Apollo-17-Ära v. a. David Bowie mit seinem Major Tom das Science-Fiction-Fieber der 1970er-Jahre angefeuert. Bei beiden dient das All indes als Metapher für die innere Befindlichkeit der Protagonisten. Im letzten Interview vor sei­ nem Tod gab Bowie auf die Frage „What is it with spaceships?“ überraschend zur Antwort: „Well, it’s an interior dialogue that you manifest physically. That’s my little inner space, isn’t it?, written large. I wouldn’t dream to get on a spaceship. It would scare the shit out of me. I have absolutely no interest or ambitions to go into space. I’m scared going to the end of the garden“, in: Francis Whately: David Bowie – Die letzten Jahre / David Bowie – The Last Five Years (GB: BBC 2017), TV-Ausstrahlung ARTE am 13.01.2017, 90 min, TC 01:13:35; Hervorh. durch d. Verfasser. 4 Um die in den Randzeichnungen wiederholt auf den Kopf stehenden Details decodieren zu können, war ein Drehen des Gebetsbuches nötig. Ähnlich wie bei der 3D-Technologie, die das Aufsetzen von Brillen erfordert, war daher eine konkrete Handlung sowie eine Interaktion mit dem Bild gefragt. 5 Vgl. hierzu beispielsweise Monika Wagners Unter­ suchung der fein gemalten Risse auf zerborstenen Trompe l’Œuil-Glasscheiben über Gemälden: Monika Wagner: Das zerbrochene Glas. Opake Kommentare in einem transparenten Medium. In: Bärbel Hedinger (Hg.): Täuschend echt, Ausst.kat., München 2010, S. 40–47.

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Marcus Becker

Kunst im Science-Fiction-Film oder: Warum in der Zukunft so gegenwärtige Bilder an der Wand hängen Was verliert, wenn man es malt Nelken. Kirschbaumblüten. Goldnesselblüten. Die Gesichter von Männern und Frauen, deren Schönheit man in Romanen rühmt. Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon1

Die willkürlich scheinende, apodiktische Liste, die die japanische Hofdame um das Jahr 1000 zusammenstellte, ließe sich heute leicht aktualisieren: Was verliert, wenn man es in Science-Fiction-Filmen darstellt, sind die Kunstwerke der Zukunft. Erfasst die Kamera innerhalb der Cadrage Gemälde, Zeichnungen oder Grafiken, so verbreitet sich oft ein unterschwelliges Unbehagen: Sollte dies, wortwörtlich, der state of the art der Zukunft sein? Ein solcher Blick in künftige Zeiten kann nie die Vorwegnahme einer als kom­ mend faktisch anzunehmenden zukünftigen Gegenwart sein, sondern nur eine gegen­ wärtige Zukunft, ein Entwurf, der hier also auch Kunstwerke als Ergebnisse einer implizierten kunsthistorischen Entwicklung präsentiert und als gegenwärtige Wette auf die Zukunft meist nicht mit der Realität der zukünftigen Gegenwart abgeglichen werden muss.2 Die ästhetisch nur defizitär zu transmedialisierenden „Gesichter von Männern und Frauen, deren Schönheit man in Romanen rühmt“, lassen die Liste des Kopfkissenbuchs wie ein fernöstliches Gegenstück zu Lessings Laokoon und dem europäischen Paragone-Diskurs erscheinen. Auch im Bereich der Science-Fiction können Romane Kunstwerke imaginär mühelos vor das innere Auge der Leserschaft stellen; in der kinematografischen Verbildlichung hingegen müssen diese Objekte tatsächlich Form annehmen. Enthistorisiert ein solcher Paragone zunächst seine medialen Kategorien, so gilt es auch für visuelle Darstellungen mit Heinrich Wölfflin festzuhalten: „Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich. Das Sehen an sich hat seine Geschichte, und die Aufdeckung dieser ‚optischen Schichten‘ muß als die elementarste Aufgabe der Kunst­ geschichte betrachtet werden.“ 3 1 Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon, hg. u. übers. v. Mamoru Watanabé, Zürich 1952, S. 176. 2 Ich orientiere mich hier an den Modellen von Elena Esposito: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, übers. v. Nicole Reinhardt, Frankfurt a. M. 2007, insb. S. 50–67. 3 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München (7. Aufl.) 1929, S. 12.

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Wolfgang Ullrich hat herausgestellt, in welch hohem Maße die Rezeption von Kunstwerken nicht durch die Originale, sondern durch die Modi ihrer Reproduzier­ barkeit bestimmt wird.4 In diesem Sinne handelt es sich auch bei den Kunstwerken im Science-Fiction-Film nicht um die von Production Designern und Requisiteuren am Drehort bereitgestellten profilmischen ‚Originale‘, sondern um deren fotografischfilmische Reproduktion. Wenn sich die folgenden Überlegungen daher einer kunst­ historischen Stilentwicklung von (irdisch menschlichen) Werken widmen, die in den gegenwärtigen Zukünften des Science-Fiction-Films entworfen wird, so erscheint die Formfindung gegenwärtig zukünftiger Kunst zugleich unmittelbar abhängig von den Bedingungen der je gegenwärtigen kinematografischen Bildproduktion wie nicht zuletzt der geringen zeitlichen Verfügbarkeit des Filmbildes. 1960 oder: 2003 resp. 1970 – Die Zukunft des Formalismus

Architektur, Design, Mode verdanken ihre Gestaltung im Science-Fiction-Film meist einer Futurisierung der Gegenwart in trendprognostischer Übersteigerung. Im her­ meneutischen Interesse kommunikativer Anschlussfähigkeit präsentieren sich die gestalteten Objekte in lebensweltlich funktionalen Kontexten, die entweder drama­ turgisch thematisiert werden können oder auch nur als evident erscheinen bis hin zu den Elementaria einer conditio humana wie der Bekleidung oder der Behausung. Im Analogieschluss muss auch ‚Kunst‘, die als circumstantial detail flüchtig ins Bild kommt, notwendig auf eine funktionale Persistenz des gegenwärtig Vertrauten wetten. Als nicht zu explizierendes Axiom erscheint der Kunstbegriff der Moderne in die Zukunft verlängert – einer bereits gegenwärtig recht antiquierten Moderne, die sich zudem vom Anspruch verabschiedet, das noch nie Gesehene zu vertreten. Verdächtig zuverlässig steht ‚Kunst‘ in der Zukunft auf einem Sockel oder hängt gerahmt an der Wand; bereits Installationen oder Performances scheinen im Bewegtbild der Science-Fiction kaum darstellbar, Videoarbeiten sich nur schwer abzugrenzen von nichtkünstlerischen Formen bewegt visueller Kommunikation. Mit der Engführung auf einen klassischen Werk-Begriff kann sich das Filmpublikum so zwar die essenzialisierende Frage „Was ist Kunst?“ beantworten, doch schon die für ästhetische Theorien der Moderne lei­ tende Frage „Wann ist Kunst?“ lässt sich nur extrem enggeführt und gewissermaßen vormodern beantworten: Mit Kunst haben es die Rezipienten zu tun, wenn sie ein Objekt betrachten, das traditionell präsentiert und dadurch, an konventionalisierten Orten gesockelt und gerahmt, als Kunstwerk markiert ist.

4 Wolfgang Ullrich: Raffinierte Kunst. Übung vor Reproduktionen, Berlin 2009.

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Wie sich aber selbst scheinbar ‚visionäre‘ Avantgarde-Kunstwerke in den Stricken ihrerzeit gegenwärti­ ger Kulturpolitik verfangen können, zeigt Der Schweigende Stern, eine ostdeutsch-polnische Koproduktion von 1960, die zu den herausragenden Science-Fiction-Filmen dieser Ära zu zählen ist.5 Die Welt von Kurt Maetzigs Schweigendem Stern nach Stanisław Lems Roman Astronauci von 1951 ist noch immer von der Sys­ temkonfrontation des Kalten Krieges 1 + 2: Der schweigende Stern (DDR/POL: 1960), gekennzeichnet, für einen internatio­ TC: 00:04:17; 00:10:40. nal bemannten Raumflug zur Venus aber auf friedliche Kooperation angewiesen. Für die irdischen Räume einer nahen Zukunft setzte Alfred Hirschmeier als Szenenbildner der ostdeutschen DEFA auf die für das Genre etablierte Futurisierung modernen Designs und stattete Schauplätze der amerikanischen Protagonisten mit non-figurativ abstrakten Kunstwerken aus. Der bereits auf 1957 datierte Entwurf für ein Hotelzimmer zeigt freistehende, expressiv verschränkte plastische Figurationen und als Wandschmuck geometrische Kompo­ sitionen sowie das Bild einer menschlichen Gestalt mit erhobenem linken Arm, die an den Modulor Le Corbusiers erinnert. Den Vordergrund eines Tempera-Blattes für eine Vorhalle füllt eine Kette von Personen, die einige bildparallele Stufen emporsteigen in Richtung auf einen Hintergrund mit großen Paneelen, die Hirschmeier wohl als gläserne Türen suggeriert. Auf oder hinter ihnen zeichnen sich rhythmische Kompo­ sitionen aus blauen und roten Linien und Punkten ab. Die Einzelflächen verbindet ein dynamisch geschwungenes rotes Farbband. Im realisierten Film verdichtet sich dieser Entwurf auf eine aluminiumschim­ mernde Einzelplastik im Hintergrund der Halle, eine organisch abstrakte Komposition irgendwo zwischen Hans Arp und Henry Moore, deren Wirkung sich durch ihren Schattenwurf auf den Fond der Rückwand verstärkt. ◊ Abb. 1 Bildkompositorisch setzt 5 Kurt Maetzig : Der schweigende Stern ( DDR/POL: DEFA 1960), DVD Science Fiction Special-Edition, Icestorm 2005, 90 min., Szenenbild: Alfred Hirschmeier. Vgl. zum Folgenden mit Angabe weiterfüh­ render Literatur Marcus Becker: Die Sache mit dem Weltniveau. Die DEFA-Science-Fiction und das Szenenbild eines Filmgenres. In: Annette Dorgerloh, ders. (Hg.): Alles nur Kulisse?! Filmräume aus der Traumfabrik Babelsberg, Weimar 2015, S. 158–167.

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die Plastik einen visuellen Akzent ins Tableau wartender Presseleute und verbindet sich mit dem leuchtenden Rot im Kostüm einer Frau im mittleren Vordergrund, dem Grün einer angeschnittenen Fächerpalme rechts sowie der lebhaften Marmorierung eines Wandsegments links, das seinen erlauchten Urahn in der Onyxwand der Villa Tugendhat von Ludwig Mies van der Rohe findet. Den Hintergrund der Beratung eines Konsortiums zerstrittener amerikanischer Wissenschaftler definieren kurz darauf ein dekoratives Wandbild in Pastelltönen und ein plastisches Gebilde in der Art einer schwarzschillernden Vase mit goldmetallischen Gitterapplikationen. ◊ Abb. 2 Für den futuristischen Effekt solcher Kunstwerke durfte Hirsch­meier immer noch auf die befremdliche Wirkung setzen, die Avantgarde-Konzepte auf weite Teile des Publikums ausübten und die bereits in Science-Fiction-Filmen der Vorkriegszeit genutzt wurde, so etwa in Fritz Langs Frau im Mond von 1929 mit den kühn expressi­ onistischen Gemälden im Arbeitszimmer des Ingenieurs Helius. Für den Schweigenden Stern von 1960 fiel die Übersteigerung der ästhetischen (Nachkriegs-)Moderne aller­ dings noch in die Schlussphase einer kulturpolitischen Kampagne der frühen DDR, die solche Werke als dekadent formalistisch brandmarkte und als negatives Distink­ tionsmerkmal des untergangsgeweihten westlichen Systemgegners in argumentativen Dienst nahm.6 In diesem Kontext offerierten sich den Filmemachern dramaturgisches Potenzial und kulturpolitisches Dilemma: Die abstrakten Kunstwerke waren – neben dem Ausblick auf das nächtliche Manhattan und dem angebotenen Whiskey – Semio­ phoren, die in der marginalen Selbstverständlichkeit, mit der sie ins Filmbild kommen, zur szenischen Charakterhülle der Amerikaner als fragwürdige Partner für eine fried­ lich-kooperative Venus-Mission beitrugen. Zugleich aber wirkte dieses gegenwärtig dekadent-formalistische Amerika durch die Futurisierung der Nachkriegsmoderne, den Genre-Konventionen gemäß, auch für ein zeitgenössisches DDR-Publikum unge­ mein zukünftig. Lems Roman spielt in der global kommunistischen Zukunft von 2003; der Film verlegte das Geschehen bereits ins Jahr 1970 – und nährte den Verdacht, die nahe Zukunft könnte trendprognostisch dann doch dem Formalismus gehören. 1993 oder: Sternzeit 46578.4 (2369 AD) – Data malt

Fiktional vier Jahrhunderte später finden sich Kunstwerke als szenografische circumstantial details auch an Bord der USS Enterprise NCC-1701-D. Birthright, Part 1, eine 1993 erstmals ausgestrahlte Episode der Next-Generation-Serie (1987–1994) im Star-Trek-Universum, zeigt den Klingonen Worf in seinem Quartier bei der aggres­ 6 Vgl. etwa Ulrike Goeschen: Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus. Die Rezeption der Moderne in Kunst und Kunstwissenschaft der DDR, Berlin 2001, passim.

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siven Bewältigung emotionalen Stresses.7 Neben der offenbar historischen bronzier­ ten Statuette einer manieristischen Ringergruppe, die die Kamera metonymisch als Präfiguration des zwischen Tai-Chi und möbelsprengendem Karate changierenden Worf’schen Ringens mit sich selbst inszeniert, sehen wir auch als zukünftige Gegen­ wartskunst suggerierte Werke. Auffälligerweise erinnern die aus pilzartigen Forma­ tionen komponierte abstrakte Plastik und ein pastelltoniges Gemälde des Abstrakten Expressionismus dabei weniger an die entstehungszeitliche Kunst der 1980er- und frühen 1990er-Jahre, sondern weiterhin an eine Nachkriegsmoderne, deren klischee­ hafter futuristischer Gestus immer noch, gewissermaßen retrofuturistisch, in Dienst genommen werden kann. Vor allem aber führt Birthright 1 die Entstehung gegenwärtig zukünftiger Bilder als ein zentrales Thema vor, dessen Entwicklung nun aufs Engste mit kinematografischen Strategien verknüpft ist. In Folge eines Plasmaschocks während eines Experimentes erlebt der Androi­ de Data Visionen eines vormodernen Schmiedes bei der Arbeit, in dem Data sofort seinen Konstrukteur Dr. Soong erkennt.8 Nachdem ihm Worf, ebenfalls rechtschaf­ fen amerikanisch auf Vatersuche, den patriarchalen Hinweis erteilt hat, nichts sei so bedeutend wie Visionen des eigenen Vaters, sucht Data einen umstandslos vorausge­ setzten Symbolgehalt des Geschauten zu ergründen – und dies mit der Gründlichkeit eines Androiden als wandelnde Datenbank: „Ich habe schon über 4.000 verschiedene religiöse und philosophische Systeme und mehr als 200 psychologische Lehrmeinun­ gen analysiert […].“ 9 Den Grund für ausbleibenden Erkenntnisgewinn benennt Data gegenüber dem um Rat ersuchten Captain Picard: „Die Interpretation von Visionen und anderen metaphysischen Erlebnissen liegt beinahe ausschließlich in der Kultur begründet – und ich besitze keine eigene Kultur.“ Picard entgegnet, kulturtheoretisch bemerkenswert, doch, er habe, denn eine Kultur, die nur von einem getragen werde, sei nichts weniger wert als die von einer Milliarde. Die Bedeutung seiner Vision sei in ihm selbst zu suchen: „[…] die Kernfrage ist: Was bedeutet es uns? Erforschen Sie dieses Bild, Data! Konzentrieren Sie sich … nur darauf, lassen Sie es Ihre Fantasie [imagination] anregen […]! Lassen Sie sich inspirieren!“ Während der vorausgehende Dialog verbal ein wahres Pandämonium semiotischer Systeme aufgerufen hatte, treffen die Filmema­ 7 Winrich Kolbe: Star Trek: Next Generation, Birthright: Part 1, Staffel 6, Episode 16 (USA: Paramount Domestic Television 1993), DVD Star Trek: The Next Generation, CBS-Studios/Paramount Pictures 2014, Disc 1, Part 1, 43:10 min, Szenenbild: Richard D. James. Dank für den Hinweis auf diese StarTrek-Episode an Sara Hillnhütter. 8 Zu Data vgl. etwa Klemens Hippel: Der Menschlichste von uns allen. Die Figur des Androiden Data in Star Trek. In: Nina Rogotzki, Thomas Richter, Helga Brandt u. a. (Hg.): Faszinierend! Star Trek und die Wissenschaften, Kiel (4. Aufl.) 2012, Bd. 2, S. 50–63. 9 Der Dialog hier wie im Folgenden nach der gesprochenen (Synchron-)Version im Film.

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3 + 4: Star Trek: The Next Generation, Episode Birthright: Part 1 (USA: 1993), TC: 29:48, 30:00.

cher nun in wenigen Sekunden Filmlaufzeit zwei fundamentale Entscheidungen: Im Sinne des klassischen disegno versteht Data Picards Aufforderung (1.) sofort als Aufruf zur Umsetzung der mentalen in gegenständliche Bilder. Data verlässt den Captain, Schnitt, und wir sehen ihn an einer Metall-Staffelei mit auf Keilrahmen aufgespannter Leinwand handwerklich mit einem Pinsel, wenn auch in Zeitraffer-Aufnahme rasant malen (Data ist eine Maschine!). Die Großaufnahme zeigt sein konzentriertes Gesicht, in dem sich Erkenntnis im Prozess des Bildermachens widerspiegelt. Im Interesse dra­ maturgischer Knappheit findet das Filmbild (2.) für die etwa halbminütige Szene10 als alternativlosen Prototyp des Bildermachens auch für das 24. Jahrhundert die klassische europäische Tafelmalerei. Was in der Folge entsteht, erläutert Data dem Lieutenant Commander Geordi La Forge, der den Androiden in dessen Quartier besucht: „Ich habe in den vergangenen sechs Stunden und siebenundzwanzig Minuten dreiundzwanzig verschiedene Illust­ rationen geschaffen – […] ich bin inspiriert worden.“ In dieser zweiten, lediglich etwa zweieinhalbminütigen Szene11 werden alle diese 23 Bilder, die in unterschiedlichen ­Stufen der Vollendung auf Staffeleien, Tischen und an die Wände gelehnt im Raum verteilt sind, zu sehen sein: in Großaufnahmen des malenden Data, in Kamera­schwenks, die zunächst als Point-of-view-Perspektive dem Blick des eintretenden G ­ eordi folgen, und in Close-ups von Arbeiten, die Data jeweils wenige Sekunden lang vorführt.12 Die stilistische Gestaltung der Werke folgt keinem Personalstil, sondern scheint direkt von den dargestellten Sujets motiviert zu sein. Motive, deren Vorbilder während Datas Vision als Filmbilder zu sehen waren, welche die Kamera per leicht verzerrter Per­ spektive und Filter als Traumsequenz charakterisiert hatte, sind in realistischer Manier wiedergegeben: das Gemälde des Schmiedes, für das in der ersten Szene die Rotunter­ 10 Star Trek: Birthright (s. Anm. 7), TC: 00:24:27–00:25:01. 11 Star Trek: Birthright (s. Anm. 7), TC: 00:28:53–00:31:26. 12 Im Hintergrund kommt dabei auch immer wieder eine Reproduktion von Vermeers „Perlenwägerin“ aus der Washingtoner National Gallery ins Bild.

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5 + 6: Star Trek: The Next Generation, Episode Birthright: Part 1 (USA: 1993), TC: 29:55, 29:17.

malung gezeigt worden war, in der Art eines 19.-Jahrhundert-Realismus, der Amboss mit hämmernder Hand als Studie in zwei Simultanansichten, Dr. Soongs Porträt als sorgfältige Bleistift-Vorzeichnung. ◊ Abb. 3 + 4 Lediglich der Raumschiffkorridor als Schauplatz der Vision versagt sich motivisch diesem malerischen Akademismus und erscheint als düster technizistisches Ornament, das die Bildfläche symmetrisch aus­ spannt. ◊ Abb. 5 Eine zweite Gruppe von Arbeiten evoziert hingegen stilistisch die Bildwelten des Surrealismus: ein Eimer, aus dem Rauch aufsteigt, eine apokalyptisch leuchtende Landschaft mit schwarzen Vögeln, ◊ Abb. 6 ein unheimlicher einzelner Vogel. Sie alle eint, dass sie zuvor nicht in der filmischen Version der Vision gezeigt worden waren: „Es ist kein Bild, das ich während meiner Vision sah.“ Gegen Ende der Episode wird das Experiment mit dem Plasmaschock wieder­ holt; die Vision findet eine Fortsetzung, in der die Motive der surrealen Bilder auf­ tauchen; Data trifft seinen väterlichen Konstrukteur, der ihm erläutert, der lernfähige Android sei nun bereit für die Möglichkeit des Träumens, für die Soong die nötigen Schaltkreise, beim Experiment vorzeitig aktiviert, von vornherein angelegt hatte. Ein sich wiederholender Traum sei niemals derselbe – aber holte Data die surrealen Moti­ ve aus dem Unterbewusstsein einer unvollständigen Erinnerung oder spann sich der zweite Traum den Bildfindungen in Öl gemäß fort? Gleichwohl ist die Stilistik dieses Entwurfs einer positronisch-ambitionierten Laienkunst des 24. Jahrhunderts nur nachrangig intradiegetischen Erzählabsichten verpflichtet. Die Gestaltung des Data’schen Oeuvres verdankt sich vor allem dem Ziel diegetischer Verständlichkeit, für das die Bilder innerhalb einer kürzesten Verfügbar­ keit des Filmbildes von Fernsehzuschauerinnen und -zuschauern decodiert werden müssen. Visuelle Überzeugungskraft gewinnen die Szenen damit aus der Dynamik eines hermeneutischen Zirkels, der sich aus einem populärkulturellen, wiederum bestätigten, Vorverständnis von ‚Kunst‘ speist, inklusive der Vorstellungen von kon­ ventionalisierten Darstellungsmodi für unterschiedliche Sujets. Die Enthistorisierung des Bildermachens durch die Koppelung von Stil und Sujet und die Zwangsläufigkeit

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westlicher Staffeleimalerei ist daher vor allem Nebeneffekt der kinematografischen Logik – im Gegensatz etwa zu den für die Zeit der Filmhandlung, das ausgehende 17. Jahrhundert, anachronistischen fotorealistischen Zeichnungen in Peter Greenaways The Draughtsman’s Contract von 1982, die als ­trügerisch objektives Dokumentationsme­ dium ein bewusst selbstreferenzielles Pendant zur fotografisch aufzeichnenden Film­ kamera in der Diegese verankern.13 Auffällig aber ist, dass das künstlerische Bilderma­ chen in der Star-Trek-Welt nur noch der Bewältigung von individualpsychologischen Befindlichkeiten dient. Als Erkenntnisinstrument eines größeren Weltverständnisses scheint der disegno nicht mehr in Frage zu kommen. 2002 oder: The year 2054 – Horizontalität und orthos

Ein letztes Beispiel möge den Blick auf die Eigengesetzlichkeit von ‚Kunst im öffent­ lichen Raum‘ lenken. Publikumsecho und Forschung zu Steven Spielbergs Minority Report14 von 2002 haben sich vor allem auf die ethischen und rechtsphilosophischen Implikationen des PreCrime-Konzepts als zentralem Motiv der Handlung, der Präven­ tion von Verbrechen einschließlich der Verurteilung der potenziellen Täter, konzen­ triert sowie auf die Trendprognostik in Design und Technik, die sich aus der engen Zusammenarbeit der Filmemacher mit den Entwicklungsabteilungen der Industrie speiste.15 Ein erneutes Anschauen des Films nach anderthalb Jahrzehnten verdankt seinen Reiz nicht unerheblich dem Konstatieren der Treffsicherheit dieser Prognosen beziehungsweise der Abweichungen zu tatsächlich Realität gewordenen Alternativen. Im Film basiert die Präventionsarbeit des PreCrime-Departments der Washing­ toner Polizei auf der Fähigkeit dreier sogenannter precogs, bevorstehende Verbrechen vorauszuahnen. In der kathedralenartigen Krypta der PreCrime-Zentrale schweben die träumenden precogs im lichterfüllten milchigen Wasser eines runden Beckens. ◊ Abb. 7 Drei segmentförmige Plattformen reduzieren die Beckenfläche zu einem Drei­ eck, dessen Seiten konkav einschwingen, während die Spitzen durch den Beckenrand

13 Vgl. dazu etwa Jean Lüdeke: Die Schönheit des Schrecklichen. Peter Greenaway und seine Filme, Bergisch Gladbach 1995, S. 62–64. 14 Spielberg: Minority Report (USA: Amblin Entertainment/Cruise/Wagner Productions/Blue Tulip Productions 2002), DVD 20th Century Fox/DreamWorks Pictures 2006, 145 min, Szenenbild: Alex McDowell. 15 Vgl. zum ethischen Aspekt etwa Josef Früchtl: ‚Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.‘ Minority Report und die Kunst als De/Legitimation. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 2013, Heft 1, S. 29–42; zum technologischen Aspekt den ausführlichen Wikipedia-Artikel https://en.wikipedia.org/ wiki/Technologies_in_Minority_Report (Stand: 05/2017), sowie allgemein David Kirby: The Future Is Now: Diegetic Prototypes and the Role of Popular Films in Generating Real-world Technological Development. In: Social Studies of Science, Jg. 40, 2010, Heft 1, S. 41–70.

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konvex gekappt werden. Die Körper der precogs sind symmetrisch in die­ ser Dreiecksformation ausgerichtet, ihre Köpfe gegen das Zentrum, die Füße zu den Spitzen hin gekehrt. Dieses ornamental schlüssige Arran­ gement als präkognitives Herzstück wird im Film immer wieder in der naheliegenden Aufsicht präsentiert – und zur gestalterischen Vorlage für Logos, Embleme und ein Monument des PreCrime-Departments. Diese Versinnbildlichungen des Konzepts tauchen gemeinsam in einem schnell geschnittenen Wer­ beclip der Behörde auf.16 Der Spot eröffnet mit dem matt metallisch glänzenden PreCrime-Emblem, das die Formation des precogs-Beckens in ein Art-Deco-Ornament überführt, dessen Ästhetik mit den badges rea­ ler amerikanischer Behörden oder filmhistorisch etwa auch mit dem Enterprise-Abzeichen von Star Trek wohletabliert ist. ◊ Abb. 8 Die abstra­ hierte Aufsicht des Beckens wird hier 7–10: Minority Report (USA: 2002), TC: 00:25:56, 00:14:37, um neunzig Grad in die Senkrechte 00:14:55, 00:21:30. gekippt. Im Werbeclip dreht es sich, sofort die Cadrage sprengend, ins Bild und wird von einer sehr kurz aufzoomenden Detailansicht eines goldglänzenden Monuments abgelöst. ◊ Abb. 9 Es folgen weitere Versionen des Logos, die ein Statement des PreCrime-Direktors begleiten. Der Clip wird nun überführt in eine düstere Straßensequenz, die das Logo des Werbespots als Big-Brother-is-watching-you-Videoprojektion in einer Unterführung zu sehen gibt, durch die, überleitend zur nächsten Szene, Tom Cruise als PreCrime-Chief John Anderton läuft. 16 Minority Report (s. Anm. 14), TC: 00:14:34–00:15:55.

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Wenige Minuten später wird das goldene Monument aus dem PreCrime-Clip erst­ mals mit Aufnahmen seines realen Settings referenziert. ◊ Abb. 10 Angestellte eilen zur Arbeit im Sitz der Behörde; das weit überlebensgroße Denkmal in dunkel patinierter Bronze zeichnet sich vor dem hellen Fond einer imposanten neoklassizistischen Fassade ab, für die als Drehort das 1931–1934 im Washingtoner Federal Triangle ursprünglich als Hauptquartier der Bundespost errichtete Ariel Rios Building gewählt wurde, das heute als William Jefferson Clinton Federal Building Sitz der Umweltbehörde ist. Das Denkmal ist hier wie in weiteren Filmszenen einerseits reines circumstantial detail, andererseits die ultimative Monumentalisierung des PreCrime-Konzepts und seiner gesellschaftlichen Institutionalisierung. Als Darstellung der precogs bilden drei stehende Figuren einen engen Kreis. Ihre Köpfe sind gegen dessen Mitte geneigt, die Arme leicht vorgestreckt, als wollten sich die Figuren im Zentrum der Komposition bei den Händen greifen. Die Volumina der detailarmen Figuren sind weich verschmol­ zen; eine in den Schulterbereichen angedeutete Drehbewegung gegen den Uhrzei­ gersinn verstärkt sich im unteren Teil in der Torsion teigig auslaufender Formen, die der Gruppe die Anmutung eines Reigens verleiht. Die Verwaschenheit der Formen scheint auf den vagen Charakter der Präkognition zu deuten und leistet zugleich mit der Abstraktion eine milde Futurisierung des Monuments. Eine Inspirationsquelle für diese Komposition dürfte Walter Schotts vor 1910 entstandener neobarocker Nymphen­ brunnen gewesen sein, von dem sich eine Version seit 1947 als Untermyer Fountain im New Yorker Central Park befindet,17 die auch filmhistorisch bereits des Öfteren dem kollektiven Gedächtnis anheimgestellt wurde. Hier fassen sich die Nymphen tat­ sächlich bei den Händen, und die mit Jugendstil-Grazie ausschwingenden Gewänder versetzen die Gruppe in die Drehbewegung eines Tanzes. Der Entwurf der precogs-Gruppe für das Washington des Jahres 2054 erscheint zunächst auch ungeachtet eines weit verbreiteten angelsächsischen Konservatismus bei der Gestaltung öffentlicher Denkmäler enttäuschend in seiner bronzen verwaschenen Orthodoxie. Tatsächlich aber erfüllt das Denkmal nur so seine dramaturgische Funk­ tion in den kurzen Momenten, in denen es die Kamera ins Bild setzt. Der Behördensitz verräumlicht mit einer signifikanten Unterscheidung von Innen und Außen zentrale Aspekte des PreCrime-Konzepts. Die Interieurs veranschaulichen mit der stylishen Eleganz digitaler Gadgets und der Transparenz, in der sich Räume und Ebenen durch­ dringen – und das Behörden-Logo ebenso transparent auf Glastüren zu sehen ist –, den 17 Vgl. etwa Katrin Lesser (Hg.): Gartendenkmale in Berlin. Privatgärten, Petersberg 2005, S. 139–140; http://www.centralparknyc.org/things-to-see-and-do/attractions/untermyer-fountain.html (Stand: 05/2017).

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in der Datenverarbeitung vermessenen gläsernen Menschen der Verbrechensprävention. Das Äußere der Behörde hingegen kommuniziert die institutionalisierte Alternativlo­ sigkeit des Verfahrens mit dem Ewigkeitsanspruch ihrer Fassade im Stripped Classicism und dem ambivalenten Gestus der konkaven Kolonnade, die die Herantretenden in Empfang und gefangen nimmt. Denselben Anspruch muss auch das Denkmal in wenigen Sekunden vermitteln mit seiner monumentalen Größe und den materialikonografischen Implikationen der traditionsreichen Bronze – und der eigentlich unstimmigen Neupositionierung der Figuren. Kann das PreCrime-Logo noch die Figuration der drei liegend schwim­ menden precogs abstrahieren, so rektifiziert das Denkmal die Haltung der Gestalten im Sinne eines klassischen Denkmals. Die precogs in ihrer Dreierkonstellation stehen nun aufrecht gemäß dem orthos-Ideal der menschlichen (männlichen) Gestalt, das im freien Stand Stärke, Integrität und Würde garantiert18 – vor allem aber als etablierte Denkmalsformel für wenige Sekunden Filmlaufzeit aus dem Bildgedächtnis des Kino­ publikums abgerufen werden kann. Auch wenn es im Science-Fiction-Film gut um die Zukunft autonomieästheti­ scher Kunstwerke bestellt zu sein scheint: Die Aufgabe zu verstören und Weltbilder neu zu justieren, kommt ihnen hier in der kinematografischen Inszenierung nicht mehr zu.

18 Zur griechischen Genese des orthos-Ideals vgl. etwa Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin (2. Aufl.) 1996, S. 45–84.

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Das Holodeck als Leitbild

Wie sich für fast alle Medien historisch zeigen lässt, gelingt ihre Durchsetzung nur, wenn an sie bestimmte, ausreichend weit gestreute ‚utopische‘ Hoffnungen gekoppelt sind. Diese utopischen Aufladungen haben beispielsweise, für den Buchdruck Michael Giesecke,1 für die Fotografie Geoffrey Batchen2 und für das Fernsehen Lynn Spigel3 herausgearbeitet. Dies zeigt die Wichtigkeit der Analyse von Paratexten über Medi­ en – ist doch die Durchsetzung eines ‚neuen Mediums‘, wie etwa der Computer (sofern man sich darauf einigen mag, den Computer als Medium zu bezeichnen), keineswegs allein aus sich heraus verständlich. Die ‚utopischen Projektionen im Feld digitaler Bild­ technologien‘4 zu untersuchen, insbesondere jene, die mit der sogenannten Virtuellen Realität (VR) verbunden sind, verspricht daher, das Medium in seiner eigenen Logik deutlicher werden zu lassen. Denn dessen Geschichte ist nicht reduzierbar auf die technische Genealogie der Simulationssysteme und ihrer Begriffsbildungen, sondern muss auch ihre fiktiven Darstellungen umfassen. Alle diese Elemente sind für eine anspruchsvolle Diskussion von VR unverzichtbar; das Auftauchen des Begriffs des Virtuellen im Bereich der Informatik in Zusammenhang mit sogenannten virtuellen Speichern zu rekonstruieren, reicht alleine nicht. Die hier im Zentrum stehende und die Paratexte durchziehende „realistische“ Ausrichtung der Computersimulation, ist einerseits bedingt durch den Ursprung der Simulatoren in der zivilen und militäri­ schen Flugsimulation, da diese praktischen Anwendungen aus naheliegenden Gründen realistisch sein müssen. Um andererseits jedoch die auf der Ebene der Imagination getätigten Entwick­ lungen mitzubedenken, wird zunächst ein Vorgänger von Simulations-Utopien in der Science-Fiction-Literatur des 20. Jahrhunderts dargestellt, um dann zu den Arbeiten von Ivan Sutherland zu kommen, der das erste Head-Mounted-Display entwickelt und selbst eine wirkmächtige utopische Figuration einer vollendeten Simulation formu­ liert hat. Schließlich sollen imaginative Verwirklichungen der VR am Beispiel des ­Holodecks analysiert und daran anschließend einige Schlussfolgerungen gezogen werden.

1 Michael Giesecke: Der Buchdruck der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchset­ zung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1998, S. 124–167. 2 Geoffrey Batchen: Burning with Desire. The Conception of Photography, Cambridge, MA/London 1997. 3 Lynn Spigel: Installing the Television Set. Popular Discourses on Television and Domestic Space, 1948– 1955. In: Camera Obscura, Nr. 18, Jg. 6, 1988, Heft 3, S. 10–47. 4 Kevin Robins: Into the Image. Culture and Politics in the Field of Vision, London/New York 1996, S. 12. Übersetzung J. S.

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Der Begriff Virtuelle Realität taucht erst und bezeichnenderweise 1989, mut­ maßlich von Jaron Lanier geprägt, auf. Vorher war in der Forschung stets nur von Virtual Environments oder Ähnlichem die Rede. Obgleich die VR nach fast dreißig Jahren technisch immer noch in den Kinderschuhen steckt5 und von einer Simulation, die die sie Benutzenden tatsächlich von ihrer Realität überzeugen könne6 – wenn das überhaupt ihr Ziel ist –, weit entfernt ist, ranken sich genau um diesen Aspekt zahllose Phantasmen: „Vor unseren ungläubigen Augen beginnen alternative Welten aus den Computern aufzutauchen: Diese Welten sind farbig und können tönen, wahrscheinlich können sie in naher Zukunft auch betastet, berochen und geschmeckt werden.“ 7 Was Flusser im Diskurs der Wissenschaft formulierte, ist in populären Fern­ sehserien wie Star Trek längst zur zukünftigen Wirklichkeit geronnen. Dort ist mit dem Holodeck eine von der ‚realen‘ Realität ununterscheidbaren, immersiven8 Com­ putersimulation, die sogar olfaktorische und gustatorische Ebenen umfasst, televisuell bereits realisiert. Ray Bradbury: The Veldt

Doch eine vergleichbare fiktive Darstellung tritt bereits am 23. September 1950 auf. In der Saturday Evening Post erscheint Ray Bradburys Kurzgeschichte The Veldt (auch: The World the Children made), deren deutscher Titel Das Kinderzimmer ist.9 Die Geschichte spielt in der Zukunft und erzählt das Leben einer Familie, die in einem technologisch hochgerüsteten – heute würde man sagen: intelligenten – Haus lebt. Die große Besonderheit des Hauses ist das ,Kinderzimmer‘, eine Art Simulator, das vollkommen real erscheinende Illusionen generieren kann:

5 Zur Technik und Geschichte der VR siehe etwa Howard Rheingold: Virtuelle Welten. Reisen im Cyber­ space, Reinbek bei Hamburg 1992; Benjamin Woolley: Die Wirklichkeit der virtuellen Welten, Basel/ Boston/Berlin 1994. 6 Der ,totale Realismus‘ wird mindestens solange unmöglich bleiben, wie die Differenz zwischen den akustischen und visuellen Wahrnehmungen auf der einen und den propriozeptiven Wahrnehmungen auf der anderen Seite, die zur sogenannten VR-Krankheit führt, nicht getilgt werden kann. 7 Vilém Flusser: Digitaler Schein. In: Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt a. M. 1991, S. 147–159, S. 147. 8 Immersion gibt den Grad des ,Eintauchens‘ in oder des ,Eingehülltwerdens‘ durch mediale Repräsen­ tationen an. Immersion ist graduell und relativ, das heißt, verschiedene Medien haben zum Zeitpunkt ihrer Erscheinung unterschiedlich immersiv gewirkt und können diesen relativen Immersionseffekt im Fortlauf der Mediengeschichte auch verlieren. Zu Versuchen, den Grad an Immersion in VR quantitativ zu bestimmen, vgl. Randy Pausch, Dennis Proffitt, George Williams: Quantifying Immersion in Virtual Reality (1997), http://www.cs.cmu.edu/~stage3/publications/97/conferences/siggraph/immersion (Stand: 05/2017). 9 Vgl. Ray Bradbury: Das Kinderzimmer. In: ders.: Der illustrierte Mann, Zürich 1977, S. 15–35.

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„Das Kinderzimmer war stumm. Es war leer wie eine Lichtung im Dschungel an einem heißen Tag. Die Wände waren massiv und zweidimensional. Doch jetzt, während George und Lydia Hadley in der Mitte des Raumes standen, begannen die Wände zu surren und sich scheinbar in kristallklare Weite aufzulösen, und langsam erschien vor ihren Augen eine afrikanische Steppe, dreidimensional nach allen Seiten, farbig und vollkommen natürlich bis zum letzten Kieselstein und Grashalm. Die Decke über ihnen wurde zu einem unendlichen Himmel mit einer heißen gelben Sonne. Die verborgenen Odorophone begannen jetzt den beiden in der Mitte der ausgedörrten Steppe stehenden Menschen Gerüche entgegenzublasen: den heißen, strohigen Geruch trockenen Grases, den Duft nach kühlem Grün vor dem versteckten Wasserloch, die strenge, harte Ausdünstung von Tieren – und der Geruch nach Staub, wie von rotem Paprika, hing in der hitzeflimmernden Luft. Und dann die Geräusche: Das dumpfe Dröhnen von Antilopenhufen in der Ferne, das papierartige Rauschen von Geierschwingen.“ 10

Zunächst verwundert eine solche Simulation in einem Raum, der als Kinderzimmer normalerweise dazu bestimmt sein soll, Kindern die freie Entwicklung ihrer Fanta­ sietätigkeit zu ermöglichen. Im Lauf der Erzählung stellt sich heraus, dass die Kinder durch das intelligente Haus und den Simulator von ihren Eltern entfremdet sind. Nach­ dem sich ihr Vater einmal ,erdreistet‘ hat, ihnen etwas nicht zu gestatten, wünschen sie ihren Eltern nur noch den Tod. Am Ende der Geschichte sperren die Kinder ihre Eltern mit einem Trick in dem Kinderzimmer ein, in dem sie von den in der simu­ lierten Savanne befindlichen Löwen zerrissen werden. Bradburys kurze Erzählung ist in vielerlei Hinsicht wegweisend: Nicht nur malt er schon 1950 das Bild eines technologisch generierten, realistischen und immersi­ ven Raumes, welcher ohne sperrige Datenbrillen funktioniert und der interaktiv und haptisch bis zur körperlichen Gefährdung ist, sondern inszeniert auch das mit neuen Technologien (tendenziell) einhergehende Kompetenzgefälle zwischen Kindern und Eltern – insofern die Kinder das Zimmer umprogrammiert haben und es den Eltern nicht gelingt, die tödliche Simulation zu beenden – auf besonders drastische Weise. Ivan Sutherland: The Ultimate Display

Dass sich selbst die technologische Grundlagenforschung nicht (oder jedenfalls nicht immer) von Utopien und Phantasmen ablösen lässt, zeigt sich nirgendwo besser als an einem Quellpunkt der VR im heutigen Sinne, nämlich in der Arbeit Ivan Sutherlands, 10 Bradbury (s. Anm. 9), S. 16–18.

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in der zum ersten Mal in der ,harten‘ Forschung so etwas wie ein Totalsimulator kon­ zipiert wird (auch wenn Sutherlands konkrete Entwicklungen eher heute zum Feld der Augmented Reality gezählt würden). 1965 hält er auf der Tagung der International Federation of Information Pro­ cessing in New York einen Vortrag mit dem Titel The Ultimate Display.11 Der darauf basierende Text zeigt seine besondere Wichtigkeit darin, dass hier erstmals eine enge Berührung der militärisch finanzierten Forschung – Sutherland war zu dieser Zeit Angestellter des Information Processing Techniques Office bei der (D)ARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) – mit den phantasmatisch aufgeladenen Erwar­ tungen an die neuen Illusionstechnologien lesbar wird. Sutherland weist zunächst auf die Potenziale zur wissenschaftlichen Visualisie­ rung hin, die die neuen Computerdisplays bieten könnten. Nachdem er einige zu seiner Zeit bestehende Interfaces (Tastatur, Lightpen, Joystick) beschrieben und in vielerlei Hinsicht für unzureichend befunden hat, spekuliert er detaillierter über die mögliche Beschaffenheit seines ultimativen Displays: „Wenn die Aufgabe des Displays ist, als ein Spiegel zu dienen, durch den man in ein mathematisches, im Computerspeicher konst­ ruiertes Wunderland gelangen kann, sollte es so viele Sinne wie möglich ansprechen.“ 12 In dieser Textpassage zeigt sich, dass das Computerdisplay, um nun als Tür zum Wunderland fungieren zu können, auch eines sein muss, welches alle Sinne adressiert. Allerdings räumt Sutherland ein, dass olfaktorische und gustatorische Interfaces außer­ halb des Möglichen liegen, wie dies auch noch heute gilt, und beschränkt sich auf ein kinästhetisches Display. Doch Sutherlands später folgende Behauptung, dass ein neues Display mathematische Phänomene so vertraut wie die natürliche Umgebung machen könnte, impliziert eine noch radikalere Utopie. Wäre das neue Display nur eines zur wissenschaftlichen Visualisierung, wäre es kaum das ,ultimative‘ Display. In der äußerst eigentümlichen, kaum noch an einen Vortrag auf einem Kongress für Informatik, sondern vielmehr an seinen Zeitgenossen Bradbury erinnernden Schlusspassage des Vortrags heißt es: „Das ultimative Display wäre – natürlich – ein Raum, in welchem der Computer die Existenz der Materie kontrollieren kann. Ein in einem solchen Raum dargestellter [displayed] Stuhl wäre zum Sitzen geeignet. In einem solchen Raum dargestellte Handschellen würden fesseln und ein in einem solchen Raum dargestelltes Geschoß 11 Vgl. Ivan E. Sutherland: Das ultimative Display, übers. v. Nicola Glaubitz, Jens Schröter. In: Tristan Thielmann, Jens Schröter (Hg.): Display II. Digital (= Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kul­ turwissenschaften, Jg. 7, 2007, Heft 2), Siegen 2007, S. 29–32. 12 Sutherland (s. Anm. 11), S. 31.

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wäre tödlich. Mit der angemessenen Programmierung könnte ein solches Display buchstäblich das Wunderland sein, in welches Alice ging.“ 13

Das ultimative Display ist keine Datenbrille, sondern ein Raum, der jede beliebige Umgebung audiovisuell, haptisch und – wie die Spekulation über die Möglichkeit, die Existenz der Materie in diesem Raum zu kontrollieren, nahelegt – auch olfaktorisch und gustatorisch erschaffen kann. Das Phantasma einer „komplette[n] technologischen Reproduktion der Realität“ 14 ist eine Fantasie omnipotenter Kontrolle: Wenn man lernte, die Existenz der Materie zu kontrollieren, würde dies die vollkommene wis­ senschaftliche Durchdringung Letzterer voraussetzen – nichts bliebe an der Materie opak und unvorhersagbar, gefährlich und unberechenbar. Dieses Kontrollphantasma setzt sich in Sutherlands Beschreibung des ultimativen Displays fort. Der virtuelle Raum scheint ein Verhörzimmer zu sein: Stühle, Handschellen, schließlich tötende Kugeln sind in diesem Raum an der Tagesordnung. Sprechend ist diesbezüglich dann insbesondere das Ende, an dem Sutherland wieder zum Thema des mathematischen Wunderlandes, welches Alice betreten hat, zurückkehrt. Die Verwandlung eines vir­ tuellen Wunderlandes in eine tödliche Bedrohung, die auch schon Bradbury in The Veldt beschrieben hat, kehrt hier im Diskurs der Informatik wieder. Star Trek – The Next Generation: Das Holodeck

Das seit 1987 in der Fernsehserie Star Trek – The Next Generation präsentierte Holo­ deck ist eine der wichtigsten und populärsten Fiktionen der VR – zwei Jahre bevor die Wortfügung im bekannten Sinne auftritt. Das Holodeck ist ein Raum an Bord der Raumschiffe und Raumstationen, in welchem begehbare, audiovisuell absolut ‚realisti­ sche‘, haptisch berührbare und olfaktorisch sowie gustatorisch erfahrbare Simulationen erschaffen werden können. Diese dienen als Entertainment, aber auch für sportliches oder Kampftraining. Und selbst wenn auf dem Holodeck, also in jenem mathema­ tischen Wunderland, ein fiktives Szenario dargestellt wird, sind diese Darstellungen durch nichts von einer Darstellung in der filmischen Realität zu unterscheiden. Es zeigt sich hier ein aufschlussreiches Spannungsfeld zwischen Imagination und ihrer filmischen Verwirklichung. Denn es ist zunächst der einfachste televisuelle Weg eine Computersimulation darzustellen. Wenn diese als perfekt konzipiert ist, muss kein tat­ sächliches und kostenaufwendiges computergrafisches Szenario generiert werden, die 13 Sutherland (s. Anm. 11), S. 32. Der Verweis auf das Medium der Darstellung geht in der Übersetzung von „displayed“ in „dargestellt“ verloren, muss aber dennoch implizit gedacht werden, J. S. 14 Slavoj Zizek: Die Pest der Phantasmen. Die Effizienz des Phantasmatischen in den neuen Medien, Wien 1997, S. 123.

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Schauspieler und Schauspielerinnen können vielmehr, jeder filmischen Inszenierung gleich, in entsprechen­ den Settings die Simulation schlicht spielen. ◊ Abb. 1 + 2 Zugleich aber, und hier wird diese Verbildlichung für die fakti­ sche Realisierung der Technologie interessant, ist eine solche Darstellung eines virtuellen Raums nur möglich und glaubwürdig, wenn es in den tatsächlichen Entwicklungsdiskur­ sen die Utopie gibt, virtuelle Räume müssten quasi selbstverständlich auf den, implizit fotografisch und fil­ misch aufgefassten, ‚vollkommenen Realismus‘ zulaufen. Dieser Telos des Fotorealismus ist damit nicht nur durch tatsächliche praktische Anwendungen begründet, sondern wird ebenso auf der Unterhaltungs­ ebene produziert. In der Darstellung einer vollendeten Simulation durch 1 + 2: Mitglieder der Crew der Enterprise gehen verkleidet in eine televisuelle Mittel wird der Fotorea­ hyperrealistische Simulation des Chicagos der 1920er-Jahre. Entscheidend ist, dass die Welt der Simulation genauso lismus der Simulation diskursiv sta­ ‚realistisch‘ aussieht wie die Welt des Raumschiffs. bilisiert. Durch seine Inszenierung in Star Trek: The Big Goodbye, TC: 12:52, 13:15. einer kommerziellen amerikanischen Fernsehserie erscheint der computer­ generierte Raum als eine andere Form von Fernsehfilm, als ein Medium der Zukunft. Die fiktionalen Räume der Literatur, des Films und von diversen Fernsehproduktionen sind Vorlagen, an die die virtuellen Räume anschließbar werden. An der Inszenierung des Holodecks fällt auf, dass es sich um eine Visualisierung von VR handelt, die gerade ohne die abschottenden und isolierenden Datenbrillen aus­ kommt, die technisch heutzutage als notwendig erscheinen. Dadurch, dass die reprä­ sentierten Objekte buchstäblich materialisiert sind, sind sie kollektiv rezipierbar. Ganze Gruppen und damit, für das amerikanische Publikum besonders reizvoll, potenziell auch Familien können das Holodeck besuchen und deren Simulationen gemeinsam

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erleben. In dieser Rezeptionsmöglichkeit ist das fiktive Medium jenen medialen Prä­ sentationen analog gedacht, die das Subjekt nicht isoliert einschließen, also auch jenem, in dem das Holodeck selbst auftritt, dem allseits beliebten Fernsehen. Das Holodeck ist so auch die Vision einer mit bestehenden Sozialstrukturen prinzipiell kompatib­ len, ‚benutzerfreundlichen‘ Immersionstechnologie. Diese Rezeptionssituation wird, nichtsdestotrotz, historische Fiktionen wie die Bradburys aufgreifend, erweitert. Dessen negativ gewendete Beschreibung des Simulators als Kinderzimmer in The Veldt findet ihren Widerhall in der Materialisierung der präsentierten Objekte, die wiederum an den Anfang des eröffneten Spannungsfeldes zurückführt. Mit ihr geht auch einher, dass die Körper der die Simulation erlebenden Personen – anders als in HMD-VR – nicht anders in der Filmrealität dargestellt werden, als sie wirklich sind (abgesehen von den Möglichkeiten von Maske und Kostüm). Wie am Ende von Sutherlands Ultimate Display kann man auf den simulierten Stühlen auf dem Holodeck sitzen und simulierte Kugeln können auf dem Holodeck töten, allerdings nur, sofern dessen ‚Sicherheitsvorrichtungen‘ deaktiviert sind. Deren Existenz selbst ist dabei bezeichnend, zwar soll das Holodeck die Realität in allen Aspekten simulieren können, aber dennoch die in seine Simulationen verwickelten Subjekte vor den Widrigkeiten und Gefahren allzu wirklicher Simulationen abschir­ men. Das sich hierin eröffnende dramatische Potenzial wird dann auch in verschie­ denen Episoden der Serie ausgenützt. Fallen die Sicherheitsvorrichtung aus, wird die materialisierte Simulation des Holodecks zur Gefahr, Personen auf dem Holodeck können ein tödliches Ende finden, wenn sich, wie in der Episode The Big Goodbye, die Tür nicht öffnen lässt.15 Der realistischen Simulation sind die physischen Körper, der sie mit allen Sinnen Erlebenden, wie in Bradburys The Veldt, in all seinen Kon­ sequenzen ausgeliefert. Aber die erwähnte Tür dient nicht nur dazu, den Besuchern und Besucherinnen Ein- oder Ausgang zu gestatten oder zu verwehren. Sie markiert auch die Grenze, die verhindert, dass etwas Simuliertes das Holodeck verlässt. Und so können in der eben genannten Episode die Körper der das Holodeck Betretenden zwar materiell angegriffen werden, der in der Simulation produzierte Gangster aber löst sich, nachdem er das Holodeck verlassen hat, vielmehr sofort auf. Die Fiktion versichert also: Nichts kann die Simulation verlassen und die reale Welt gefährden.

15 Joseph Scanlan: Star Trek: The Next Generation, Der große Abschied / The Big Goodbye, Staffel 1, Episode 13 (USA: Paramount Domestic Television 1988), DVD CBS Studios/Paramount Pictures 2011, Disc 3, Part 4, 43:37min., TC: 26:10–28:05.

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Fiktionen als Leitbilder

Auf die Durchsetzung von Medien in Abhängigkeit von assoziierten ‚utopischen‘ Hoff­ nungen zurückkehrend, lässt sich feststellen, dass wissenschaftliche Positionen, wie sich bei Sutherland zeigen ließ, und unterhaltende Science-Fiction, wie sie Bradburys Geschichte ebenso wie Star Trek darstellen, diese gleichermaßen produzieren, indem sie technische Entwicklungen einer gegebenen Gegenwart in die Zukunft projizieren. Die Utopien wissenschaftlich-spekulativer Essays und der Entertainment-Industrie unterscheiden sich dabei vor allem in dem von ihnen adressierten Publikum. Die jeweils artikulierten Technikutopien und damit auch Sozialutopien haben also verschiedene Funktionen. In der Wissenschaft können vielversprechende, utopisch besetzte Technikpro­ jektionen Leitbild-Funktionen besitzen. Ein ganzer Zweig der Techniksoziologie hat sich mit der Erforschung solcher Leitbilder befasst.16 Ausgangspunkt ist das Problem, dass der komplexe Vorgang der Entwicklung, Serienproduktion und Vermarktung einer neuen Technologie über viele spezielle Wissenskulturen und damit insbesondere der in Wissenschaft, Ingenieurwesen, Design, Management und Werbung agieren­ den Personen hinweggreifen muss. Diese verschiedenen Wissenskulturen mit ihren „je spezifischen Rationalitäten“ 17 müssen daher – so die These – interferieren, um neues technisches Wissen hervorzubringen. Dieses „Synchronisationsproblem“ 18 wird unter anderem durch „Leitbilder“ gelöst: „Leitbilder binden Menschen aneinander, die sonst nichts aneinander bindet; Menschen, die vielleicht nicht nur verschiedenen sozialen Milieus, sondern vor allem unterschiedlichen Wissenskulturen angehören [...].“ 19 In Science-Fiction und anderen populärkulturellen Texten haben Technikutopien tendenziell eine andere Funktion, die in einer Definition von Science-Fiction aus dem Jahr 1929 aufscheint. „Für den, der die Erleuchtung des wissenschaftlichen Wissens 16 Vgl. generell Meinolf Dierkes, Ute Hofmann, Lutz Marz: Leitbild und Technik. Zur Entstehung und Steuerung technischer Innovationen, Berlin 1992; Meinolf Dierkes, Lutz Marz: Leitbildprägung und Leitbildgestaltung – Zum Beitrag der Technikgenese-Forschung für eine prospektive TechnikfolgenRegulierung [WZB-Papier FS II], Berlin 1992, S. 92–105; vgl. speziell zu Computern Hans-Dieter Hellige: Militärische Einflüsse auf Leitbilder, Lösungsmuster und Entwicklungsrichtungen der Com­ puterkommunikation. In: Technikgeschichte, Nr. 59, 1992, S. 371–401 und die Beiträge in: ders. (Hg.): Leitbilder der Informatik- und Computerentwicklung, Bremen 1994; ders. (Hg.): Technikleitbilder auf dem Prüfstand. Leitbild-Assessment aus Sicht der Informatik- und Computergeschichte, Berlin 1996. Zum Begriff des ‚soziotechnischen Imaginären‘ siehe neuerdings auch Sheila Jasanoff, Sang-Hyum Kim (Hg.): Dreamscapes of Modernity. Sociotechnical Imaginaries and the Fabrication of Power, Chicago/ London 2015. 17 Dierkes, Hofmann, Marz (s. Anm. 16), S. 31. 18 Dierkes, Hofmann, Marz (s. Anm. 16), S. 38. 19 Dierkes, Hofmann, Marz (s. Anm. 16), S. 57.

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sucht, ist Science-Fiction der angenehme Weg zum Ziel. Für den Laien bedeutet, in Science-Fiction belesen zu sein, gut über wissenschaftliche Zusammenhänge informiert zu sein.“ 20 Oder anders formuliert, Science-Fiction vermittelt auf unterhaltsame und erzählende Weise die Erkenntnisse der Wissenschaft und ihre möglichen Implikatio­ nen. Da sich populäre, massenmediale Texte an ein breites und differenziertes Publi­ kum richten, können sie nicht auf spezielle und daher möglicherweise unverständliche technische Details eingehen, sondern vermitteln eher allgemeines Wissen über neue Technologien und prophezeien wunderbare Effekte. Nichtsdestotrotz amalgamieren sich diese futuristischen Entwürfe der ScienceFiction mit der Wissenschaft teilweise, indem die allgemein verständlichen Entwürfe der Fiktion der Wissenschaft eben als Leitbilder dienen können. Beispiele dafür sind William Gibsons Begriff des Cyberspace oder eben das Holodeck in der populären Sci­ ence-Fiction-Fernsehserie Star Trek – The Next Generation. Das Aufgreifen populärer Semantiken kann auch deswegen nützlich sein, weil Begriffe wie Cyberspace oder Holodeck auch außerhalb der Wissenschaft anschlussfähig sind, was unter Umständen die Kommunikation zwischen Forschung und Wirtschaft oder die Beschaffung von Geldern für Forschungsprojekte begünstigt.21 In diesem Sinne hat David Kirby die Rolle ‚diegetischer Protoypen‘ in Filmen hervorgehoben, die potenzielle Technologien sozusagen in Aktion und in ebenso normaler wie gestörter Nutzung zeigen.22 So konstatiert Michael Heim, dass das Holodeck auf den SIGGRAPH-Kon­ ferenzen 1989 und 1990 – bei denen VR erstmals stark diskutiert wurde – eines der Leitbilder war, das den zu VR Forschenden als Ansporn diente.23 Ein technisches und designerisches Handbuch über VR von 1993 benennt ganz selbstverständlich das Holodeck als „ultimatives Ziel“ der VR-Forschung.24 Randy Pausch und seine Mit­ arbeiter bemerkten zu den Testpersonen, die zum ersten Mal die virtuelle Realität des von Disney in den 1990er-Jahren entwickelten Aladdin-Projects besuchen wollten: „Die Gäste gingen davon aus, dass VR möglich sei und hatten die Erwartung, dass die Qualität extrem gut wäre. Viele hatten das ‚Holodeck‘ in Star Trek gesehen und 20 William Sims Bainbridge: Dimensions of Science Fiction, Cambridge, MA 1986, S. 53. Übersetzung J. S. Zur Theorie der Science-Fiction siehe Simon Spiegel: Die Konstitution des Wunderbaren, Marburg 2007. 21 Vgl. David Gugerli: Der fliegende Chirurg. Kontexte, Problemlagen und Vorbilder der virtuellen Endos­ kopie. In: David Gugerli, Barbara Orland (Hg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit, Zürich 2002, S. 251–270. 22 David Kirby: The Future is Now. Diegetic Prototypes and the Role of Popular Films in Generating Real-world Technological Development. In: Social Studies of Science, Jg. 40, 2010, Heft 1, S. 41–70. 23 Vgl. Michael Heim: The Metaphysics of Virtual Reality, Oxford 1993, S. 122. 24 Francis Hamit: Virtual Reality and the Eploration of Cyberspace, Carmel, IN 1993, S. 48–49.

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erwarteten genau dessen Qualität.“ Bei den Auswertungen ihrer Befragungen dieser Gäste ergab sich zudem auf die Frage, ob diese bereits zuvor von Virtual Reality gehört hätten, dass der mit Abstand größte Teil von ihnen, fast die Hälfte (49%), sein Wissen über VR aus dem Fernsehen hatte.25 Das Holodeck ist also ein Leitbild oder ein diegetischer Protoyp für die Erfor­ schung virtueller Räume. Die Gründe, warum gerade der Simulationsraum aus Star Trek sich als „ultimatives Ziel“ in der tatsächlichen Entwicklung festgesetzt hat, sind vielfältig und sicherlich spielt dabei das Fernsehen als viel konsumiertes Massenmedium und die besondere Beliebtheit der Serie eine große Rolle. Nichtsdestotrotz – mögli­ cherweise besteht ein Mehrwert des hier dargestellten Holodecks, der sich aus den Produktionsbedingungen der Fernsehserie selbst generiert. Während Bradbury zwar mit dem „Kinderzimmer“ einen Raum beschreibt, der „dreidimensional nach allen Seiten, farbig und vollkommen natürlich“ eine Simulation abbilden kann und diese durch wie auch immer funktionierende „Odorophone“ mit olfaktorischen Eindrücken ausstatten kann,26 muss für die Fernsehserie ein visuell greifbares Bild dieser Simula­ tion gefunden werden. Aus technischer Einfachheit wird so – ohne eine Computer­ grafik einzusetzen – eine perfekte Simulation gesetzt, die keine Differenz zum Bild der filmischen Realität aufweist. Diese perfekte Simulation erweist sich als folgenreich, weil sie so einen hyper-realistischen Standard hervorbringt, der zum Ziel der techni­ schen Entwicklung virtueller Räume werden kann. Die filmischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten bringen so Erwartungen an die Technologie, beim Laienpublikum also auch über Leitbilder beim Expertenpublikum hervor. Obwohl ein Beispiel von vielen, erweist sich die televisuelle Verwirklichung des Simulationsraums so als ein besonders potentes.

25 Randy Pausch, Jon Snoddy, Robert Taylor, Scott Watson, Eric Haseltine: Disney’s Aladdin. First Steps Toward Storytelling in Virtual Reality. In: SIGGRAPH Proceedings of the 23rd Annual Conference on Computer Graphics and Interactive Techniques, 1996, S. 193–203, S. 196 und S. 198. Das AladdinProjekt war ein Projekt zu Virtual Reality, in dem versucht wurde, die Möglichkeiten von Erzählung in immersiven Räumen auszuloten. Übersetzung des Zitats durch J. S. 26 Bradbury (s. Anm. 9), S. 16–18.

Film-Schau Anna Stemmler

Inszenierung von Faktizität im Dokumen­tarfilm In der für diesen Band titelgebenden Trias Film, Fakt und Fiktion sind zeitgenössische Vertreter des Dokumentarfilms nicht einfach einzu­ ordnen. Zwar zeigt sich die klassische Unter­ scheidung in fiktionalen und nichtfiktionalen Film trotz aller berechtigten Zweifel weiterhin virulent, um als Kategorien die Erwartungen des Publikums am Filmmarkt zu kanalisieren, doch drängen die inzwischen vorsichtiger mit „Dokumentarischer Form“ betitelten Filme in der Diversität ihrer ästhetischen und konzep­ tuellen Strategien in Richtung Hybridisierung der Gattungen. Rezente Manifestationen wie The Act Of Killing (Joshua Oppenheimer, DK/ GB/N: Final Cut for Real/Piraya Film/Nova­ ya Zemlya/Spring Films 2012) und Leviathan (Lucien Castaing-Taylor, Verena Paravel, F/GB/ USA: Arrête Ton Cinéma/Sensory Ethnography Lab Harvard University 2012) nutzen die mög­ liche Bandbreite der Gestaltung aus und lassen damit radikal neue Methoden der Wissensge­ nerierung mit und durch Film erkennen. Wäh­ rend The Act of Killing mit der Simulation einer Filmproduktion und Re-Enactments arbeitete, um in seinem Protagonisten eine psychologische Erkenntnis herauszupräparieren, präsentierten Anthropologen in Leviathan vermittels des Ein­ satzes von GoPro-Kameras auf und um einen Trawler eine ungekannt immersive, desorien­ tierende und zugleich abstrahierende Sicht auf Hochseefischerei, die die menschlich verkör­ perte Perspektive verlässt. Auch das Arbeiten mit Archiven und Kontexten, welches mitunter die Protagonistinnen und Protagonisten zu CoRegisseuren macht, kann verstärkt beobachten werden. In dieser Weiterentwicklung der Gat­ tung ist das gewandelte Vorgehen in anderen kreativen und akademischen Feldern ebenso spürbar wie mediale und technische Neuerun­ gen. Die im Folgenden besprochenen Kinofilme Untitled, Fuocoammare und Havarie, die alle drei

auf der Berlinale (2016 respektive 2017) urauf­ geführt wurden, sind diesem weiten Feld des Dokumentarischen zuzuordnen. Sie sehen sich der Darstellung der Wirklichkeit verpflichtet, scheuen aber zugleich nicht davor zurück, diese Repräsentation mit virtuosem Erkenntnisinter­ esse zu produzieren. Untitled Michael Glawogger, Monika Willi, (AT/D: Lotus Film/ Razor Film 2017), 105 min.

Der Film Untitled ist nicht nur namenlos, son­ dern auch ohne Zentrum – und widmet sich dennoch nichts Geringerem als der Erforschung der Welt. Die vom Regisseur dazu formulierte Strategie lässt sich vor allem durch Offenheit charakterisieren. Auf einer einjährigen Reise um die Welt wollte sich Michael Glawogger (1959–2014, verstorben während der Dreharbei­ ten) mit einem minimalen Team ohne thema­ tische Beschränkung allem widmen, was ihm vor die Linse trete. So entstand ein essayistischer Dokumentarfilm, fertiggestellt von der Schnitt­ meisterin Monika Willi, der achronologisch zwi­ schen den bereisten Orten Ex-Jugoslawiens und Westafrikas springt, der außer am Anfang und am Schluss auf Texteinblendungen verzichtet und keine expositorische Argumentation illus­ triert. Stattdessen werden Alltagsszenen beob­ achtet, die dem (nord)westlichen Blick dennoch das Eintauchen in fremde Lebenswelten bedeu­ ten. Gezeigt werden scheinbar eklektische Ein­ stellungen: Kinder und Ziegenherden auf der Suche nach Brauchbarem auf einer Müllhalde, ein Eselmarkt, von Maden kolonialisiertes Roadkill, ein agiles Fußballspiel amputierter Vetera­ nen, das kalte Licht des Stromausfalls bei Nacht irgendwo in Afrika, Kriegsruinen auf dem Bal­ kan und darin ein überaus süßer Hundewelpe. Dezent unterlegt wird der visuelle Reichtum von einer teils dramatisierenden Tonspur, welche experimentell neue und elektronische sowie ritu­ elle Musik (Wolfgang Mitterer) mit Originalton der Aufnahmesituationen vermischt und so auf der akustischen Ebene subtil kleine Erzählein­ heiten arrangiert, ohne sich mit den Bildern zu einem reibungsfreien organischen Ganzen zu

Film-Schau

verkleben. Hinzu kommen poetisch-philoso­ phische Textfragmente, Reisetagebuchnotizen Glawoggers, eingesprochen von Birgit Minich­ mayr in der deutschen und von Fiona Shaw in der englischen Sprachfassung, die sich lose mit dem Präsentierten verknüpfen. Spätestens die von weiblichen Stimmen vor­ gelesenen Autorenüberlegungen in der dritten Person lassen an Chris Markers dokumenta­ risches Filmpoem Sans Soleil (F: Argos Films 1983) denken. Aber auch die Bezugnahme der Bilder untereinander durch die Montage sowie die Auswahl der Motive im Moment ihrer Auf­ zeichnung legen den Vergleich zu diesem nahe. Obwohl Marker wie Glawogger oft zufällige Fundstücke der Welt zeigt und beiden Filmen etwas Nomadisches anhaftet, ist an Sans Soleil ein latenter Fokus des essayistischen Nachdenkens ablesbar. Marker fragt in mehreren Anläufen nach Erinnerung und Zeitverständnis des Men­ schen. Glawogger tritt stärker hinter seine Bilder zurück. Assoziative Schlussfolgerungen über das Gesehene werden hier über weite Passagen den Zuschauern überlassen, ohne dass eine Einord­ nung durch außerbildliche Quellen erfolgt. Diese audiovisuelle Erkundung der Welt folgt dem Serendipitätsprinzip der glücklichen Zufallsentdeckung. Was zunächst wenig dem Kanon wissenschaftlicher Methodik verpflich­ tet scheint, entpuppt sich trotz fehlender Sys­ tematik als forschendes Vorgehen. Glawogger sucht die Begegnung mit dem Ungewohnten, um Hypothesenbildung – als ersten Schritt im wissenschaftlichen Prozess der Erkenntnisge­ winnung – zuzulassen. Gleich zu Beginn wird in Untitled in einer wunderbar beiläufigen Einstellung das Auf­ scheuchen einer riesigen Menge Vögel aus einem Feld durch das Filmteam gezeigt. Hier wird Gla­ woggers Auffassung offenbar, dass es weder ein Abfilmen von Wirklichkeit ohne Beeinflussung durch die Filmsituation geben könne, noch dass ein solches erstrebenswert wäre. Sein filmisches Handeln ändere „die Wirklichkeit […] um die Wirklichkeit zu zeigen“. Auch wenn sein Werk von Kritikern mit dem nach Objektivität stre­ benden direct cinema, dem Filmteam als „fly on

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the wall“, in Verbindung gebracht wird und ein guter Teil der Bewunderung seines Publikums auf dem Wissen um den dokumentarischen Charakter seiner Bilder ruht, hatte der Regisseur keine Angst davor, gestaltend vorzugehen – und verschleierte dies nicht. Untitled dokumentiert mit dem Aufscheuchen die eigene Beteiligung an der Schaffung der Szene, die das anschlie­ ßende Filmbild des Vogelschwarms mit seinen faszinierenden Flugmustern hervorbringt. Ähn­ lich verhält es sich mit der Tonspur: Einerseits ist Untitled mit der Verwendung extradiegetischer Musik klar auf der Seite des Gestalteten verortet, ein Tabu für puristische Dokumentarfilmtradi­ tionen, andererseits inkorporiert der Soundtrack dezidiert dokumentarischen Ton, so dass es zu einer eigenständigen Verflechtung des Kompo­ nierten mit dem Kontingenten kommt. Die Reduktion des gesprochenen Wortes zugunsten der Ausweitung des Zeigens spricht dabei für das Vertrauen in den semantischen Überschuss der Bilder. Wenn ein Mann sich und zwei winzige Zicklein vor dem Sandsturm, der lokalitätsbedingt zugleich auch ein Müllsturm ist, durch einen notdürftigsten Windschutz aus ein paar verwurzelten Zweigen und Fetzen von Plastikfolie schützt, die Tierbabies zusätzlich in ein Stück Mülltüte einwickelnd, dann lässt sich sein methodisches Vorgehen in scheinbar völlig hoffnungslosen Umständen als Eine Einstellung zur Arbeit (vgl. Farocki (D: Harun ­Farocki Filmproduktion/Goethe-Institut 2015) bzw. Glawoggers Workingman’s Death (AT/D: Lotus Film/Quinte Film 2005) lesen, lässt aber auch eine Fülle an weitergehenden Assoziationen zu, gerade auch in Kombination mit den anderen Vignetten des Films. Eine mögliche Erkenntnis aus Untitled wäre die Prekarität, eine andere die Resilienz des Lebens am Rande der Zivilisati­ on, die Infragestellung selbiger, aber auch die Akzeptanz menschlicher Widersprüchlichkei­ ten. Ob Letztere als etwas Gegebenes oder etwas Gemachtes aufzufassen wären, wird in dieser Dokumentation nicht durch die Erzählinstanz analysiert. Indes wird das empirische Material dem Publikum für die eigene Überlegung dar­ geboten.

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Fuocoammare, dt: Seefeuer Gianfranco Rosi, (I/F: Stemal Entertainment/ 21 Unofilm/Istituto Luce Cinecittà/Rai Cinema 2016), DVD/Blu-ray Weltkino 2017, 114 min.

Gianfranco Rosis Film Fuocoammare beschäftigt sich mit der Lage auf und um Lampedusa in den letzten Jahren. Rosi lebte dazu über einen Zeit­ raum von anderthalb Jahren selbst auf der Insel, porträtierte die alteingesessene Bevölkerung und fuhr mehrere Wochen auf Schiffen der italieni­ schen Marine mit, die auf dem Mittelmeer nach Flüchtlingsbooten fahndeten. Im Ergebnis zeigt sein Film zwei sehr disparate Lebenswelten, die trotz der räumlichen Verbundenheit kaum Berührungspunkte miteinander haben. Abgesehen von ein paar einführenden Text­ zeilen kommt Fuocoammare ohne Kommentar aus, der Film verlässt sich auf seine Bilder. Rosi arbeitet allein, um die die intime Vertrautheit mit den Protagonisten und Protagonistinnen nicht zu zerstören, die für sein unaufdringliches Beobachten Voraussetzung ist. Meist verwendet er feste Kameraeinstellungen. Darin spiegelt sich ein gegenläufiger Trend der letzten Jahre: In Spielfilmen, die produktionsökonomisch nicht darauf angewiesen sind, kommen oft Hand­ kameras zum Einsatz, um den Eindruck eines authentischen, nahen Geschehens zu erwecken. In Dokumentarfilmen, die häufig viel weniger Kontrolle über die Aufnahmesituation besitzen, wird sich hingegen um qualitativ unauffällige Bilder bemüht, die lieber ein Stativ nutzen als durch Verwackelung die Aufmerksamkeit vom Dargestellten abzuziehen. Das Leben der Bewohner und Bewohne­ rinnen Lampedusas gestaltet sich unaufgeregt. Rosi gelingt es mit dem Zeigen ihres Alltags, wie schon im preisgekrönten Sacro GRA (F/I: Doclab/La Femme Endormie/Rai Cinema 2013), leisen Humor mit einer tiefen Sympathie zu kombinieren und das Bedürfnis zu wecken, diesem Leben länger beizuwohnen. Ein Groß­ teil von Fuocoammare folgt einem präpubertä­ ren Fischersohn bei seinen Streifzügen über die Insel, aber auch beim Versuch, sich ‚Seebeine’ zu holen, oder zum Arztbesuch ob seiner angstbe­ dingten Kurzatmigkeit.

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Der Arzt, den er aufsucht, ist als einziger Arzt der Insel zugleich für die eintreffenden Geflüchteten zuständig. Seine Scharnierfunk­ tion zwischen den beiden geschilderten Welten lässt an die Rolle der jungen Ärztin in La fille inconnue (B/F: Les Films du Fleuve/Archipel 35/ Savage Film 2016) der Dardenne-Brüder den­ ken, einen Spielfilm, der stilistisch dokumenta­ rische Züge aufgreift. Auch dort ist die Ärztin durch ihre Arbeit zwangsläufig in Kontakt mit den Problemzonen der Gesellschaft. Einmal fik­ tiv gesetzt, einmal ausgewählt im Rahmen des Gegebenen spüren beide Ärzte seismografisch auf, wo es versäumt wird, gemeinschaftlich Ver­ antwortung zu übernehmen. An dieser klugen Wahl lassen sich die jeweils spezifischen Strategi­ en der beiden Filmformen ablesen: Wo auch der Spielfilm auf Beobachtungen fußt, namentlich der der Sonderstellung von Ärzten als Mitt­ lern zwischen gesellschaftlicher Krankheit und individuellem Symptom, inszeniert er letztlich doch fiktiv, was der Dokumentarfilm nur als glücklich Aufgefundenes einsetzen darf. Das mindert zwar nicht die philosophische Dimen­ sion der geteilten Erkenntnis, jedoch nur der nichtfiktive Film wird als Dokument verstanden und kann so zum Zeugen werden. Im Unter­ schied zu operativen Bildern wie etwa denen der ubiquitären Überwachungskameras geht der Dokumentarfilm über eine reine Darlegung des Sachverhalts hinaus, indem – vergleichbar der naturwissenschaftlichen Vorbereitung eines Spezimens – eine Auswahl getroffen und die Wirklichkeit regelrecht präpariert wird für die forschende Analyse. Diese Strategie anwendend, wartet die Welt der Geflüchteten in Fuocoammare mit unge­ wohnten Formen des Zeugnisses auf. Männer im Lager besingen die Stationen und Schre­ cken ihrer Flucht in einem religiös anmutenden Gruppenaustausch, der allerdings der Selbstver­ ständigung dient und nicht für den Film pro­ duziert wurde. Unkommentiert werden auch die Rettungskräfte bei ihrer Arbeit gezeigt, für die sie sich in Bio-Schutzanzüge kleiden, die der Situation etwas Beängstigendes und zugleich etwas Unwirkliches verleihen, da solche

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­ onturen in der Regel aus Spielfilmen bekannt M sind. Bilder eines geretteten Babies können nicht den Horror aufwiegen, den die stummen Auf­ nahmen unter Deck eines Fluchtbootes vermit­ teln, in dem zu viele Menschen auf zu engem Raum eingepfercht waren. Nachdem die noch zu Rettenden auf das Marineschiff verbracht waren – man sieht sie, verzweifelt um Atemluft kämpfend, auf Deck liegen –, forderte der Kapi­ tän den Regisseur auf, die Leichen zu filmen. In Interviews spricht Rosi von seiner anfängli­ chen Scham und vergleicht dann die Situation mit dem Holocaust: Beim Anblick eines solch ungeheuerlichen Verbrechens käme es nicht darauf an, wer wie die Bilder davon mache, sondern darauf, die schlimmen Fakten nicht zu verdrängen. Mit visuellem Beweismaterial, aber auch durch den direkten Blickkontakt mit den Betroffenen (wie die Filmerfahrung ihn nachsi­ mulieren kann) fiele es schwerer, die Ereignisse an sich abgleiten zu lassen. Der Kontrast der beiden Welten wird dem Film in vielen Besprechungen vorgeworfen und als symbolische Aussage verstanden, die zunehmende Unverbundenheit ist jedoch fak­ tisch gegeben. Dadurch, dass die Flüchtenden oft schon auf hoher See abgefangen und dann professionell durch das Aufnahmezentrum auf Lampedusa geschleust werden, kommt es kaum zu direkten Begegnungen zwischen den auf der Insel Lebenden und den auf sie Flüch­ tenden. Die Außenperspektive ist irritierend: Lampedusa, im Auge des Sturms, wird ruhig geschildert, wo nachrichtenbedingt dramati­ sche Ereignisse erwartet werden. Die Tragödien rücken zwar ins Bild, dies jedoch so isoliert von der Lebenswelt der Einheimischen, dass ihnen ein Hauch von Irrealität beizuwohnen scheint. Manche Szene von Fuocoammare wirkt insze­ niert, was nicht zuletzt mit Rosis erfolgreichem Bemühen um fotografisch gelungene Aufnah­ men zusammenhängt. Trotz großer visuel­ ler Nähe – die Zusehenden erleben vermittels der Kamera Menschen beim Ringen mit dem Tod – bleiben die Geflüchteten schemenhafter als die Inselbewohner, sie werden in Moment­ aufnahmen ihrer Flucht gezeigt, die Erzählung

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ihres Gesamtschicksals wird nicht geleistet. Zwar wird auch bei der Bevölkerung der Insel nur ein Ausschnitt ihres Lebens aufgezeich­ net. Deren offensichtliche Verwurzelung lässt jedoch unhinterfragt eine Kontinuität vorstel­ len. Aber so wie die Spaltung der Lebenswelten entspricht auch die Flüchtigkeit der Darstel­ lung der Geflüchteten dem Alltag auf Lampe­ dusa. Deren permanenter Ausnahmezustand braucht eher die lange Teilhabe als Basis der Beobachtung denn den typischen FallschirmJournalismus der Nachrichten. Auch wenn Rosi nur einzelne Szenen im Film präsentiert, hat er sich doch gründlich auf die Gesamtsitua­ tion eingelassen, um zu seinen Bildern zu kom­ men. Im Falle der Geflüchteten heißt das der Umstände halber, dass für Individualität kaum Raum bleibt. Befindet sich Rosi mit dieser Entpersönli­ chung zwar nicht sehr weit weg vom journa­ listischen Bild der Krise, so gelingt ihm mit der cineastischen Form, was in Nachrichten­ sendungen außen vor bleiben muss. Er kann sowohl heftigere Bilder zeigen als auch den ein­ zelnen Einstellungen deutlich mehr Zeit gönnen. Zugleich legt er den Schwerpunkt seines Beob­ achtens auf Details und Alltägliches, vermeidet Zuspitzungen durch Dramaturgie und Schnitt und unterlässt die ausformulierte Anbindung an konkrete politische Fragen. Die angenommenen Vorkenntnisse des Publikums um den Kontext der Krise reichen ihm aus, um die durch seine persönlichen Erkenntnisinteressen perspekti­ vierten, komplexeren Einsichten zu vermitteln. Sein Anliegen ist es, die kleinen Universen, die er vorfindet, in ihrer eigenen Logik zu verste­ hen und so, wie er sie wahrgenommen hat, ange­ messen darzustellen. Dass dabei keine objektive Wahrheit produziert, sondern ein subjektiver Einblick geteilt wird, birgt in sich eine Ehrlich­ keit, die auf das Vertrauensverhältnis verweist, das sowohl zwischen Filmemacher und den im Film Porträtierten nötig ist als auch zwischen Regisseur und Publikum. Hier begründet es eine Art Sehvertrag, innerhalb dessen die Wahr­ haftigkeit der Bilder angenommen oder zurück­ gewiesen wird.

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Havarie Philip Scheffner, (D: Pong/Blinker Filmproduktion/ Worklights Media 2016), 93 min.

Der Film Havarie kreist wie Fuocoammare um die Fluchtsituation auf dem Mittelmeer. Regis­ seur Philip Scheffner und Co-Autorin Merle Kröger wählen allerdings einen komplemen­ tären Zugang zum gleichen Gegenstand. Wo Gianfranco Rosi verbal schweigt und visuell kraftvoll erzählt, wird bei Scheffner und Kröger die Bildebene extrem reduziert und stattdessen die Tonspur für die Kommunikation der Inhalte genutzt. Anlass ihres Films war die Begegnung des Kreuzfahrtschiffes Adventures of the Sea mit einem kleinen, manövrierunfähigen Schlauch­ boot voller Geflüchteter. Dieses Aufeinandertref­ fen zweier inkommensurabler Welten im Sep­ tember 2012 inspirierte sie zu einer umfassenden dokumentarischen Recherche zu den potenziell an solchen Begegnungen Beteiligten (Seefah­ rende, Flüchtende, Reisende, Rettungsteams). Anstatt jedoch aus dem gedrehten Material anschließend einen konventionellen Dokumen­ tarfilm mit Interviews und Kommentar zu ferti­ gen, entschieden sie sich dafür, die sowieso schon überpräsenten Bilder zu umgehen, die durch die repetitive Berichterstattung in den Medien einen Zustand der de-facto-Unsichtbarkeit erreicht haben. Sie gehen stattdessen von einem auf Youtube hochgeladenen Video namens refugees des irischen Touristen Terry Diamond (https:// www.youtube.com/watch?v=CRAmCO2ilrg, 16.09.2012) aus, der das hilflos in Sichtnähe seines riesigen Kreuzfahrtschiffes dümpelnde Boot in schlechter Qualität gefilmt hatte. Dieses 3 Minuten und 36 Sekunden lange Video, das aus einer einzigen Einstellung mit einem kur­ zen Zwischenschwenk auf die Bordwand der Adventures of the Sea, Wacklern und Zoomver­ suchen besteht, wird in Havarie auf 90 Minu­ ten gedehnt, die Zeit, die zwischen dem ersten Sichtkontakt mit den Flüchtenden und dem Eintreffen der Seenotrettung verstrich. Darü­ ber wird eine Art Hördokumentation aus dem Originalfunkverkehr zwischen Küstenwache und Touristenschiff sowie den verschiedenen

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Stimmen aus der Recherchephase des Projekts gelegt. Gehört werden beispielsweise Interview­ ausschnitte mit Terry Diamond, der von seinem beruflichen Hintergrund als Wachmann und seiner von Gewalterfahrung geprägten Heimat Belfast erzählt, mit Geflüchteten, die auf dem Meer nicht nur Rettungs-, sondern auch Mord­ versuche erlebt haben, aber auch selbst vor der Verantwortung standen, sich gegen den Selbst­ schutz und für das Leben eines schwer kranken Mitflüchtenden zu entscheiden. Gelegentlich kommt auch der Originalton des verwendeten Videomaterials zum Einsatz. Die Strategien des Films finden ihre Vorbil­ der in fiktionalen und künstlerisch-experimen­ tellen Filmen. Visuell und konzeptuell ähnlich funktioniert Blue (GB: Basilisk/Uplink 1993) von Derek Jarman, auch hier starrt das Publi­ kum während des ganzen Films auf eine sehr blaue Leinwand, während der Off-Kommentar Welten im Kopf entstehen lässt. Allerdings ist Jarmans Blau von keinerlei Bildstörung überzo­ gen. Als nichtrepräsentativer, nicht räumlicher Anblick erwirkt das monochrome „Bild“ einen psychologischen inneren Raum. Das vage Bild in Havarie bietet noch etwas mehr Anhaltspunk­ te, um eine Reibung zwischen dem Film im Kopf und dem Filmbild auf der Leinwand zu provozieren. Douglas Gordons 24 Hour Psycho (GB: 1993) als zeitliche Dehnung des HitchcockKlassikers von 109 Minuten auf 24 Stunden Projektionszeit verweigert sich ebenfalls der Erwartungshaltung des Publikums und lässt diese damit bewusst werden. Ein dritter film­ bildlicher Verweis führt zu einer fiktiven Fak­ tensuche: In Michelangelo Antonionis Blow Up (GB/I/USA: Bridge Films/Carlo Ponti Produc­ tion/MGM 1966) werden fotografische Bilder so stark vergrößert, dass sich beim Versuch, mehr zu erkennen, die Gewissheit über das Gesehene im groben Korn verliert. Auch das durch die radikale Verlangsamung reduzierte Bild des Fluchtboots in Havarie über­ mittelt kaum noch tatsächliche Information, und dennoch beansprucht es durch die technischphysikalische Einschreibung des Gesehenen die Beweiskraft der direkten Aufnahme. Das

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Spurhafte wird im Film von Scheffner aller­ dings selbst zum Symbol erhoben, es steht in seiner Mangelhaftigkeit für das mediale Pro­ blem, Zeichen für etwas Reales zu finden, die nicht wirkungslos bleiben. Scheffner verwirft nicht etwa das Dokumentarische an sich – die Ernte an Tondokumenten, die seine Recherche ergeben hat, fließt in Havarie ein –, sondern den visuellen Überschuss an Ansichten, die zu keiner Erkenntnis führen. In einer für den Dokumen­ tarfilm paradigmatischen Wende fokussiert der Regisseur auf den inneren Bewusstseinsfilm und installiert im Publikum durch das Kinoerlebnis von Havarie eine Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung, die schließlich zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Denken führen soll. Ähnlich dem inneren Kampf um Aufmerksamkeit beim Versuch des Meditierens ist Abschweifen und freies Assoziieren beim Betrachten von Havarie vorprogrammiert. Frag­ lich ist, inwiefern die schwere Lesbarkeit der Bil­ der tatsächlich zu einer erhöhten Anstrengung beim Publikum führt, etwas zu verstehen, aktiv über den Konsumentenstandpunkt hinauszu­ denken. Auf der Tonebene wird, wenn auch assoziativ, ein Maß an Informationen und Kon­ text geliefert, das in Argumentationen münden kann. Auf der Bildebene konstatiert Havarie den Zusammenbruch der Kommunikation.

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Wiedergesehen Vera Dünkel

George Albert Smith: The X-Ray Fiend. Sichtbarkeits- und Wirklichkeits­fiktionen in der Amalgamierung von Film- und Röntgentechnik In einem nur 45 Sekunden langen Stummfilm aus dem Jahre 1897 ist ein auf einer Bank sit­ zendes Liebespaar zu sehen, das sich unter der imaginierten Wirkung von Röntgenstrahlen für einige Momente in lebende Skelette verwan­ delt. ◊ Abb. 1–3 Während der Mann die Frau mit übertriebenen Gesten bedrängt, wird von links außen ein kameraähnlicher Kasten mit der Aufschrift „X Rays“ herangetragen. Nach­ dem der Deckel von dessen Objektiv genommen wurde, präsentieren sich die Figuren plötzlich als Skelette, bei denen nur noch ein durchsichti­ ger Schleier und ein Drahtgerüst auf Kleidung und Schirm der Dame hindeuten. Durch die unerwartete Verwandlung wirken die Gesten der Annäherung und Abwehr nun geradezu grotesk, das männliche Skelett zeigt sich immer aufdringlicher und wirft vor Freude die Beine hoch, während das weibliche sich mit Mühe auf dem Bänkchen zu halten sucht. Kaum ist der Deckel des Kameraobjektivs wieder aufgesetzt, erlangen die Figuren ihr vorheriges Aussehen zurück. Wie bei der ersten Verwandlung läuft die Szene scheinbar nahtlos weiter, wobei das auffällige Lachen beider Figuren zunächst Ein­ vernehmen suggeriert, die Frau jedoch plötz­ lich – vielleicht durch eine anzügliche Bemer­ kung ihres Verehrers – empört zurückweicht, entschlossen aufsteht, ihr Schirmchen zuklappt und dem anhaltenden Drängen des Mannes, welcher nun sogar vor ihr niederkniet, kurzer­ hand durch eine Ohrfeige ein Ende setzt. Der Kurzfilm wurde unter dem Titel The X-Ray Fiend1 von George Albert Smith (1864– 1959) nur ein Jahr nach der Bekanntgabe der Entdeckung einer neuen Art von Strahlen durch den Physiker Wilhelm Conrad Röntgen veröf­ fentlicht. Kurz nach Röntgens Experimenten in Würzburg Ende 1895 hatten in Paris die ersten

1–3: George Albert Smith: The X-Ray Fiend (GB: 1897), TC: 0:12, 0:21, 0:36.

Filmvorführungen der Brüder Lumière stattge­ funden, die, wenig später auch in London prä­ sentiert, Smith dazu motivierten, sich der neuen Technik zuzuwenden. Ähnlich wie Georges Méliès in Frankreich hatte Smith seine Karriere als Zauberkünstler begonnen und daher geläufi­ ge Bühnentricks und Illusionseffekte aus Thea­ ter- und Laterna-Magica-Vorführungen in seine Filme übernommen.2 Ästhetisch erinnert die Verwandlungsszene in The X-Ray Fiend unmit­ telbar an die zeitgleich entstandenen Transfor­ mationsszenen bei Méliès; wie diese ist sie mit Hilfe des Stopptricks realisiert, bei dem die Auf­ nahme angehalten wird, um vor der fixierten

Wiedergesehen

Kamera etwas auszutauschen. Und auch ikono­ grafisch steht sie Méliès’ Filmen nahe, indem sie eine zeittypische humoristische Antwort auf die Entdeckung der Röntgenstrahlen gibt. Eine Karikatur vom Anfang des Jahres 1896 führt zwei Aspekte vor Augen, die für die frühe Rezeption der Röntgenstrahlen zentral waren. ◊ Abb. 4 Zum einen verdeutlicht sie, dass Rönt­ gens Entdeckung in erster Linie als Erfindung einer neuen Bildtechnik begriffen wurde. So verkörpert sie die weit verbreitete Vorstellung, man könne analog zur Fotografie mittels der neuen Strahlen in undurchsichtige Körper ‚hineinfotografieren‘ oder auch „das Fleisch wegfotografieren“.3 Die Erzeugung der Strahlen (mittels Vakuumröhre, Quecksilberpumpe und Funkeninduktor) ist dabei zweitrangig. Zum anderen spiegelt die Karikatur, dass die Resul­ tate des neuen Bildverfahrens – die Erscheinung von Knochen im menschlichen Körper – sofort mit bekannten Ikonografien der Memento-Moriund Totentanzdarstellungen verkoppelt wurden. Die neue Röntgenfotografie macht lebende Kör­ per zu Sinnbildern des Todes, die in der Über­ tragung auf klassisch fotografische Kontexte wiederum ins Lachhafte abgleiten, wie bei dem ‚porträtierten‘ Bauern auf dem Feld. ◊ Abb. 4 Smiths Film knüpft an diese frühen Reakti­ onen auf die Röntgentechnik an und überträgt sie auf den Film: Die in The X-Ray Fiend von rechts herangetragene Kamerabox ist sowohl Aufnahmegerät als auch Strahlenapparat, der die eigentliche Erzeugung der Strahlen im Dunkeln lässt. Im Unterschied zur Karikatur jedoch ist es eine imaginierte Filmkamera, die im selben Moment, in dem sie ihre Strahlen frei­ setzt, zugleich deren Wirkung auf die Dinge in Echtzeit festhält. Röntgen- und Filmtechnik verschmelzen hier zu einem Medium, das die Faszination eines jeden in sich aufnimmt: Die Reproduktion lebendiger Bewegungen und die Fiktion der Sichtbarmachung eines durch­ dringenden, indiskreten Blicks.4 Indem sug­ geriert wird, dass es sich um einen Ausschnitt der Wirklichkeit handelt, der sich unter der Wirkung zauberhafter Strahlen vor den Augen des Zuschauers verwandelt, wird die Röntgen­

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4: „The New Roentgen Photography“. Karikatur aus Life, Februar 1896.

technik als ein Medium der Sichtbarmachung inszeniert, das in magischer Weise die Kapazi­ täten visueller Wahrnehmung erweitert. Hatte der Topos der Enthüllung mit der Hilfe durch­ dringender Strahlen bereits die Anfänge der Fotografie begleitet,5 wird in The X-Ray Fiend die Idee aufgenommen, dass die wahren Absich­ ten des Mannes erst im Licht der unsichtbaren Röntgenstrahlen offensichtlich werden. Zugleich gerät die Aufdeckungsszene zum lustvollen Spektakel, wenn die Skelette einen vom existen­ ziellen Ursprung befreiten, schaurig-spaßigen Totentanz aufführen, der an Auguste und Louis Lumières Trickfilm Le squelette joyeux erinnert, wo ein wild tanzendes Marionettenskelett nach und nach seine Knochenglieder verliert und wiedergewinnt.6 „Wenn der Mensch nicht für solche Aufnah­ men etwas zu groß wäre, würde man nach der Natur direkt aufgenommene Totentänze für den Kinematographen darstellen können“, spe­ kulierte im Jahre 1897 auch die Photographische Rundschau.7 Ebenso schnell wurden erste Versu­ che unternommen, kinematografische Röntgen­ bilder herzustellen.8 Die technische Grundlage hierfür bestand in der von Anfang an gegebenen Möglichkeit, Röntgenbilder auf einem Leucht­ schirm darzustellen. So konnte die Wirkung

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5: Edisons Fluoroskop.

der Röntgenstrahlen etwa mit Hilfe sogenann­ ter Fluoroskope in Echtzeit beobachtet werden. ◊ Abb. 5 Wenn auch potenziert und im Sinne angedeuteter Zukunftsfiktionen weitergedacht, hat die inszenierte Durchleuchtung in vivo in Smiths Film also einen realen Hintergrund. Tat­ sächlich war diese Aufführungsform der Rönt­ genstrahlung sehr verbreitet: Bei Demonstrati­ onen im wissenschaftlichen Kontext ebenso wie auf populärwissenschaftlichen Technik- und Gewerbeausstellungen oder auch auf Jahrmärk­ ten konnten Besucher ihre eigenen Hände unter Wirkung der Röntgenstrahlen auf Fluoreszenz­ schirmen betrachten. Was der Film als lustvollvoyeuristischen Blick unter die Oberfläche inszeniert, konnte dabei als röntgentechnische Metamorphose am eigenen Körper nachvollzo­ gen werden. In einer Mischung aus Schauder und Schaulust konnte dabei auch die Erfahrung des eigenen Todes vorweggenommen werden. Nicht nur war die Röntgentechnik somit bereits eine zeitbasierte Erscheinungsform, beide finden sich zum Zeitpunkt der Entstehung von The X-Ray Fiend im selben kulturellen Kontext wieder: Wie der Film war die Röntgentechnik ein Unterhaltungsmedium, in das dieselben Erwartungen gesetzt wurden: Beide wurden „als potentiell profitable Technologien zur Her­ stellung bewegter Bilder angesehen“, ohne dass klar war, welche sich als erfolgreicher erweisen

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würde.9 Bevor sich die Röntgentechnik als medi­ zinische Diagnosetechnik etablierte, stand sie als Unterhaltungsmedium mit dem Film auf einer Stufe. So verwundert es nicht, wenn Filmpio­ niere oftmals zugleich Röntgenpioniere waren und beide Medien als „Schwestertechnologien“ an denselben Orten und in ähnlicher Weise inszeniert und verbreitet wurden.10 Sie wurden im Sinne von „moderner Magie“ als technische Wunder und visuelle Spektakel inszeniert, in denen Momente der Transformation zentral waren, welche sich auf die visuelle Kultur des 19. Jahrhunderts, von kinetischen Spielzeugen, über Guckkästen bis hin zum Zaubertheater, gründen.11 Insgesamt thematisiert The X-Ray Fiend nicht nur eine Erfahrung, die parallel zum Betrachten erster Kinofilme auf Jahrmärkten, Messen und Weltausstellungen gemacht werden konnte, sondern verweist umgekehrt zugleich darauf, wie die frühen Vorführungen der Rönt­ gentechnik als Verwandlungsspiele die Ästhetik früher Kinofilme übernommen haben. Während das Thema der Röntgendurch­ leuchtung im Film nur ein mögliches Narrativ unter vielen war, blieb die Inszenierung der Röntgenbilder als Kino im Hinblick auf ihr narratives Potenzial beschränkt. Wenn dies der Grund dafür gewesen sein mag, dass sich die Röntgentechnik als Unterhaltungsmedium gegenüber dem Film schließlich nicht durchset­ zen konnte,12 so muss betont werden, wie wich­ tig für sie die Verbindung gewesen war, die sie in ihrer Frühzeit mit dem Kino eingegangen ist: Es war dieser gemeinsame kulturelle und populäre Kontext, in dem Science und Fiction nicht voneinander zu trennen waren. Er verhalf der neuen, von Grund auf bedeutungs­offenen Röntgentechnologie zu ihrem blitzartigen Durchbruch, ließ sie einer breiten Öffentlichkeit vertraut werden und begünstigte so schließlich ihre Weiterentwicklung und Domestizierung.13 1 George Albert Smith: The X-Ray Fiend (GB: G. A. S. Films 1897), online https://www.youtube.com/ watch?v=3gMCkFRMJQQ (Stand: 11/2017), 45 sek. 2 Zur Übernahme der Theaterästhetik ins Kino vgl. Ray Johnson: Tricks, Traps and Transformations.

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In: Early Popular Visual Culture, Jg. 5, 2007, Heft 2, S. 151–165 und André Gaudreault: Méliès the Magician. The magical magic of the magic image. In: Early Popular Visual Culture, Jg. 5, 2007, Heft 2, S. 167–174. 3 Vgl. Josef Maria Eder, Eduard Valenta: Versuche über Photographie mittels der Röntgen’schen Strahlen, Wien 1896, S. 13. Siehe z. B. auch einen der ersten Zeitungsberichte über die Entdeckung: Eine sensa­ tionelle Entdeckung. In: Die Presse, 5. Januar 1896, S. 1–2. 4 Vgl. Yuri Tsivian: Media Fantasies and Penetrating Vision. Some Links Between X-Rays, the Micro­ scope, and Film. In: John E. Bowlt, Olga Matich (Hg.): Laboratory of Dreams. The Russian AvantGarde and Cultural Experiment, Standford 1996, S. 81–99. 5 So hatte bereits William Henry Fox Talbot über die Möglichkeit spekuliert, mittels unsichtbarer Strah­ len etwa das Verhalten von in einem dunklen Raum befindlichen Personen zu entlarven. W. H. F. Tal­ bot: The Pencil of Nature (1844–1846), Reprint, hg. von Beaumont Newhall, New York 1969, Text zu Tafel viii. 6 Auguste und Louis Lumière: Le squelette joyeux (F: Société A. Lumière et ses Fils 1898), Film Nr. 831. 7 Hugo Müller: Ausländische Rundschau. In: Pho­ tographische Rundschau, Jg. 11, 1. Dezember 1897, S. 379–382, S. 382. 8 Vgl. hierzu Otto Glasser: Wilhelm Conrad Röntgen und die Geschichte der Röntgenstrahlen, Berlin/ Heidelberg (3. Aufl.), 1995, S. 205–206; Lisa Cart­ wright: Screening the Body. Tracing Medicine´s Visual Culture, Minneapolis/London 1995; Ramon Reichert: Erotisch-voyeuristische Visualisierungs­ techniken im Röntgenfilm. In: Zeitenblicke, Jg. 7, Nr. 3, 2008; http://www.zeitenblicke.de/2008/3/rei­ chert/index_html (Stand: 11/2017). 9 Solveig Jülich: Media as Modern Magic: Early x-ray imaging and cinematography in Sweden. In: Early Popular Visual Culture, Jg. 6, 2008, Heft 1, S. 19–33, S. 22. 10 Tsivian (s. Anm. 4), S. 82. 11 Vgl. Jülich (s. Anm. 9) und Tom Gunning: An aes­ tetic of astonishment. Early film and the (in)credu­ lous spectator. In: Linda Williams (Hg.): Viewing Positions. Ways of seeing film, New Brunswick 1995, S. 114–133. 12 Vgl. Richard Crangle: Saturday Night at the X-Rays – The Moving Picture and ‚The New Photography‘ in Britain, 1896. In: John Fullerton (Hg.): Celebrating 1895. The Centenary of Cinema, London u. a. 1998, S. 138–144. 13 Zum Thema insgesamt vgl. Vera Dünkel: Röntgen­ blick und Schattenbild. Genese und Ästhetik einer neuen Art von Bildern, Emsdetten/Berlin 2016.

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1: A / A, A / Doom, 2017 (Installationsansicht, A / A. Golden Gates, Galerie KWADRAT, 28. Januar – 25. März 2017).

Projekt-Besprechung Lydia Korndörfer

Das Künstlerduo A / A und die ­ üchtigen Tore zur Zukunft fl Rauch Die Beschreibung eines physikalischen Phäno­ mens dient Karl Marx und Friedrich Engels 1848 als Sinnbild für den durch Fortschritt, Industrialisierung und Globalisierung beding­ ten gesellschaftspolitischen Wandel. Während die bekannte deutsche Formulierung – „Alles Stehende und Ständische verdampft“1 – dabei auf politisch konnotiertes Vokabular zurück­ greift, rückt die englische Übersetzung, davon losgelöst, den naturwissenschaftlichen Kontext in den Vordergrund. Der Übergang vom festen zum gasförmigen Zustand beschreibt hier als lyrische Formel den Zerfall bestehender Kon­ ventionen und Ordnungen: „All that is solid melts into air“2 – ein Wechselspiel der Aggregat­ zustände, das auch für die Arbeiten des Künst­ lerduos A / A bezeichnend ist.

Marx und Engels erlebten im 19. Jahrhun­ dert ein durch Qualm und Rauch geprägtes Stadt- und Landschaftsbild. Doch die zukunftsund fortschrittsverheißenden Zeichen bilden sich heute kaum mehr am Horizont ab. Die Fabriken wurden in die Peripherie verlegt und Züge gleiten ohne Dampfwolken durch die Ebene. Untergang Verlässlich zeugen jedoch Kondensstreifen vom konstanten Einfluss des Menschen auf die Natur. Selbst an den entlegensten Orten markieren sie die Routen von Gütern und Arbeitskräften rund um den Globus. Die feinen weißen Schleier erinnern dabei stets an die Folgen der techni­ schen Evolution und das gefürchtete Ende der Zivilisation. Die Untergangsszenarien, die in Science-Fiction und Wissenschaft entworfen werden, nähern sich an: Ob Smog, Ozonlöcher, Sonnenwinde, Meteoriteneinschläge oder der Angriff von Außerirdischen – die Menschheit scheint vom Himmel her bedroht.

Projekt-Besprechung

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2: A / A, A / Doom, 2017 (Still der Echtzeitsimulation).

Auf die Atmosphäre konzentriert sich auch das Künstlerduo A / A, bestehend aus Andreas Greiner und Armin Keplinger, mit seiner ersten Virtual-Reality-Arbeit A / Doom (2017). Eine minimalistische, in schwarz-weiß gehaltene Rauminstallation und apokalypti­ sche Sounds bereiten das digitale Geschehen vor, das das Publikum erwartet. Die Mitte des Ausstellungsraums wird durch zwei weiße Platt­ formen dominiert. Zwischen Boden und Decke beschreiben sie eine Transitzone – das Tor in eine von den Künstlern geschaffene, digitale Welt. Der Zutritt wird durch Geräte gewährt, die an zentraler Position herabhängen. ◊ Abb. 1 Die Besuchenden betreten die Plattform allein und werden, sobald VR-Brille und Kopfhörer angelegt sind, auf audiovisueller Ebene von der unmittelbaren Umgebung abgekoppelt. Sie fin­ den sich in einem unbegrenzten, weißen Raum wieder – gefüllt von schwarzen Rauchwolken, die meteoritenartig auf sie einstürzen. ◊ Abb. 2 Das Geschehen wird in Echtzeitsimulation generiert, sodass man ausweichen oder sich von den Wolken einhüllen lassen kann. Das Akti­ onsfeld im virtuellen Raum entspricht dabei der Größe des Podests im Ausstellungsraum. Kunst­ werk und Körper bleiben somit in der Realität verankert. Das bedrohliche und gleichermaßen anmutige Untergangsszenario kann aus sicherer Position betrachtet werden.

Schwerelosigkeit Mit A / ::: erprobt das Künstlerduo das skulptu­ rale Potenzial von Wasser. Ins Blickfeld rückt zunächst eine schmale, aluminiumverkleidete Wandsäule. Etwa auf Augenhöhe befindet sich ein handbreiter Spalt, der beim Herantreten den Blick in eine andere Welt eröffnet: In regelmäßi­ gen Abständen spritzt Wasser aus einer Kanü­ le. Einzelne Tröpfchen bilden sich, verharren senkrecht in der Luft und schweben. ◊ Abb. 3 Der Eindruck von Schwerelosigkeit entfaltet sich unmittelbar vor den Augen des Publikums. Science-Fiction wird Realität. Das Spiel mit der Gravitation beruht dabei auf einer Entde­ ckung, einem physikalischen Phänomen, das seit wenigen Jahren erforscht und industriell nutz­ bar gemacht wird: der akustischen Levitation.3 Die Tropfen markieren die Druckknoten von stehenden Ultraschallwellen – von Sinuswellen also, die in kaum hörbarer Frequenz von einer Sonotrode im unteren Säulenbereich abgestrahlt und einem Reflektor zurückgeworfen werden. In den Druckknoten herrscht schließlich eine so hohe und konstante Spannung, dass die Schwer­ kraft kompensiert wird und das Wasser schwebt. ◊ Abb. 4 Zukunft Das skulpturale Schaffen von A / A ist durch Momente der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit

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3: A / A, A / :::, 2017 (Detail).

gekennzeichnet. Seit 2011 konzentriert sich das Künstlerduo auf zeitbasierte Medien und erprobt physikalische Phänomene und techni­ sche Neuerungen. Im nüchternen und sterilen Umfeld technischer Entwicklungen betonen Greiner und Keplinger die Schönheit und die fantastischen Aspekte von Wissenschaft, Tech­ nologie und Fortschritt. Dass Computer anstel­ le von Menschen agieren und Smartphones zu ihren verlängerten Gliedmaßen geworden sind, veranlasst A / A, Technologien und Verfahren wie Virtual Reality und akustische Levitation auf ihre ästhetischen Qualitäten zu überprüfen. Ihre Arbeiten werten nicht, sie entwerfen weder Utopien noch Dystopien. Dennoch zeigen sie eines deutlich: Die Weichen für den Fortschritt sind gestellt, die Tore zur Zukunft geöffnet und die kommenden Ereignisse und Welten liegen im Dunkeln.

4: Vera Klein: Akustische Levitation von Ferrofluiden, 2010.

1 Karl Marx: Manifest der kommunistischen Partei (2. Ausgabe von 1848). In: Theo Stammen, Alexander Classen (Hg.): Karl Marx. Das Manifest der kom­ munistischen Partei, Paderborn 2009, S. 69. 2 Die englische Übersetzung von 1888 wurde von Friedrich Engels autorisiert und von Samuel Moore verfasst. Vgl. Friedrich Engels: Vorrede zur engli­ schen Ausgabe von 1888. In: Stammen, Classen (s. Anm. 1), S. 103–108. 3 Die Künstler wurden in der Entwicklung der Arbeit A / ::: von ZS Handling in Regensburg unterstützt. Dort wird das physikalische Phänomen in großem Maßstab reproduziert und beispielsweise bei der industriellen Verarbeitung von Mikrochips ange­ wendet.

Interview OpenEndedGroup – The Set-up of Ghostly Presence. An Edited Conversation with Marc Downie and Paul Kaiser

The works of the artist collective OpenEndedGroup build their own realities which are nonetheless rooted in real physical space. The tools used in the processes of transforma­ tions, as for instance motion capture, 3D-animation, and stereoscopic projection, are also employed in today’s popular film industry. But Marc Downie and Paul Kaiser do not use these image production techniques to archive a mimetic illusion but rather to actual­ ly question vision itself. With the Bildwelten des Wissens the artists discuss the scientific application of their programs, the physical properties of film realities, as well as their artistic position towards integrating intelligent algorithms in their working processes. Bildwelten:

Let me start our conversation with the observation that a lot of your works seem to be structured as experimental set-ups. Similar to visual inquiries in scientific contexts your films appear to explore a subject by implementing a fixed set of rules which are then allowed to play out.

Kaiser:

Well, we like to investigate something by making the elements and the methods we’re applying to them very apparent both to ourselves and to our viewers – which is an aspect of modernism as much as it is of science. But unlike science, we’re trying to reach a point of pure magic, a moment when you know exactly what you’re looking at, yet still you can’t believe your eyes, as Marc once put it. It takes a certain discipline to get to that place. Once we have decided how to set up our approach, we stick to that method for quite a while regardless of whether the initial outcome is great or questionable. You can’t give up too early! So we pursue our method until we understand everything that it can yield and then we compose our work from the discov­ eries we’ve made in the process, which usually entail adjusting our method or even throwing it out altogether and starting over again. Now at the very end of creating a piece, we’ll often let our visceral intelligence take over. We feel free to bend our initial set of rules when our gut tells us to – our stance is not religious or ideological or doctrinaire! So in fact there are not many of our films or artworks that just carry out our initial set of rules purely; but few of them would have emerged without the rigor of that initial set-up.

Downie:

Many of our images have a tremendous amount of engineering behind them; it’s less clear whether there is a tremendous amount of science behind them. There is engineering in a sense that there are algorithms that optimize things, discover things, tease out hidden patterns, and so forth. But these are feats of engineering rather than contributions to extending ­science – it’s

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not experimental design, it doesn’t entail the formation of hypotheses to be validated or rejected. But, more broadly, we’ll take free inspiration from science when we are hunting for forms and approaches that might yield those “sets of rules” to start artworks from – be it ethological studies of animals or the physics of traditional art media. Biology, for example, gives us a textbook full of formal approaches that produce interesting systems, shapes and interactions. But it’s purely theft: we neither seek to give back to science or illuminate scientific topics with our work. Bildwelten:

But through the tools you develop in your engineering that make data visible scientists could ask questions maybe more effectively?

Downie:

Of course. There is this huge tradition in science of visualization and image making being done in ways to convey results – not as a way to produce results. Recently though this has changed as scientists confront gigantic sets of data – statistical data from the government (census, voting, etc.) or particle accelerator data from the Large Hadron Collider, or from similar large-scale research involving thousands of researchers. So that is a new line through science that might need exploratory visualization tools like ours now that the point of departure is often a huge data set rather than a hypothesis. In this regard they are in a position that feels very similar to the one in which we often find ourselves.



To illustrate from a 3D film we made called plant (USA: 2012), which explored the largest urban ruin in America, an abandoned car factory in Detroit. First we surveyed several of its buildings by taking tens of thou­ sands of 2D photographs of it. Next we teased out of all that photographic data a 3D reconstruction of some of its spaces, discovering in the process completely new angles by which we might reveal those spaces most vividly. But if we – as artists – interrogate a building, and find something beautiful, we are satisfied with drawing it as compellingly as we can and by so doing to evoke a deep response in our viewers. We don’t formulate hypotheses to be confirmed or rejected, we don’t design an experiment to prove it, and we don’t need validation measures like control groups. Our artistic way is a different kind of questioning. While art and science do share the fact that they end up being judged by what they provoke, there’s no point pretending that they value the same kinds of outcomes.



Off and on for the last four or five years, I’ve tried convincing a few scientists that we can have a conversation centered not on the kinds of things we value but on our processes and tools: specifically, we have a set of tools to put a lot of data on high resolution and even 3D screens and then to manipulate them, i. e. change them, move them around, look at them in stereo, blow

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them up, and present them on multiple screens. But scientists are, in general, averse to interrogating a large data set until they find something interesting because they feel like they are bound to have a chance encounter with some ultimately un-replicable statistical fluke – surely not real science!

One of our recent collaborations across this methodological divide started off with scientific partners giving us a huge quantity of data from simula­ tions that they had been running (of hypothetical future supercomputers). This was data that they were sure contained absolutely nothing of interest. Anything that we discovered in it would be a sure sign of us making art out of noise. This data had gone unvisualized for years for the usual reasons: it was big, it was poorly curated and formatted, and it obviously wasn’t inter­ esting anyway. But sure enough, within an afternoon of exploring the data visually, one major problem with the simulation’s random number generator jumped out at us – an error that was plainly visible as a pattern to the eye and one that completely invalidated their experimental results.

Bildwelten:

In order to explore one of your techniques and their specific aesthetic quali­ ties let’s turn to your work with point cloud reconstructions and its relation to the captured space – Saccades (USA: 2014) for instance, which was pro­ duced in the Isabella Stewart Gardner Museum.

Kaiser:

Of the works we’ve created there, Saccades is the one that tries to capture the museum as a whole. Isabella Stewart Gardner, a wealthy Bostonian who collected great works of art from all over the world, was a very eccentric but also a very brilliant curator – an amateur, you could say, but a genius amateur. Her approach to exhibiting her collection was anti-modernist in the sense that – rather than to isolate works of art so that they could stand on their own – she would juxtapose them in all sorts of unusual ways. The rooms of the museum she founded are extraordinarily rich with correspon­ dences between works of art not only of the same period but even across eras and cultures. So these odd constellations of artworks can trigger exceptional links and associations in the eyes and minds of the museum-goers.



Our stereoscopic film Saccades tries to convey this idea of the interconnected­ ness of things. As with plant, we started with a massive photographic survey of the site. That means we were just taking photographs, not composing them, just literally moving around with a camera of high enough quality to allow us to take photographs very rapidly – click, click, click. You go high, low, on your back, anything to change your angle on the subject. Light conditions don’t matter very much as long as it’s bright enough for a sharp focus. It’s a quite ‘mindless’ activity but it is an oddly mesmerizing thing to do. You get completely lost in it.

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Bildwelten:

If there is not so much conceptual thinking involved at this stage of the process, it sounds like a very bodily activity. The way you showed it now in your gestures was actually that you moved your camera and that you have in mind some kind of objects you like to catch, but you do not necessarily look through the viewfinder? Has that to do with the kind of ghostly presence one can sense in your work or how does the survey resonate in the layout of the cinematographic tour?

Kaiser:

Sometimes you look though the viewfinder but usually you don’t, because it would take too long. We are basically trying to get as many photographs from as many angles as possible, but it is true and important that you do get this kind of ghostly sense of the photographer’s body moving through the space. To get this sense that someone has circled around trying to capture this and to get a sense of that, we often sequence the images we derive from the photographs in the order the photographs were taken, and this evokes the sense of the other somewhat ghostly presence.



You have to remember the interesting thing about a point cloud world is – and it’s ironic for us having made so many works exploring dance – that you cannot capture movement in point clouds. In order to introduce any sense of movement, you have to create a virtual camera moving through the point cloud space.



But to return to Saccades – after the initial photographic survey, we devised a number of ways of looking at and organizing the vast number of stills we’d amassed. For each of the twenty-four sections in Saccades, we created a dif­ ferent set of rules, the idea being that each set would lead to new methods of montage that would impart a different sense of the museum. Interestingly, the computer sometimes would ignore the artistic masterpiece, for instance, the Rape of Europa by Titian on the wall. It would not capture it so well, while it captured a table and window right next to the Titian exquisitely. Using technology, that shifting of focus is what you often end up with – which we welcome, since it jars you out of your habitual ways of paying attention. For each section of the film we gave the computer a different set of rules and thus a different kind of exploration. Saccades, by the way, is the only instance in our body of work where we stayed true to the algorithmic cutting rules we’d devised; we didn’t manually tweak the montage afterwards.

Bildwelten:

Does the algorithmic cutting work on a different level, since as you said, you also preserved the phantom movement of the photographer?

Kaiser:

Well, let me give you a simple example of algorithmic cutting in one particu­ lar scene, which is a simple pendulum-like cross-cutting between two spaces,

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a pair of galleries that we chose. ◊ fig. 1a–f As the view cuts back and forth between them, the camera movements that emerge are very similar. Why? Not because we’d planned similar camera trajectories in advance; we simply noticed the parallel afterwards in reviewing the two separa­ te sequences that we’d photographed. We’d just happened to photograph the two galleries by moving through them in similar ways. So as you cut back and forth, you start to see this amazing similarity between these two spaces – not just in the movement through them, but also in the way the artworks and windows and furniture are arranged within them. But since it would be mind-numbing if the two views were absolutely parallel, there are two factors that kept it irregu­ lar. One factor is all these accidental emergent properties coming from the rendering program itself, which changes every view. The second factor is that the scenes are not aligned. The angle taken in the first room is not the angle taken in the second – sometimes they may be very close, but sometimes they diverge quite far. That makes for a very rich visual counterpoint. And of course other sections of Saccades have far more complex rules generating the montage. Downie:

One of the ways our practice sort of comes to a halt is when the computer isn’t actually giv­ ing us anything back and we get sucked into a process where more and more handcrafting is required. Here I am not referring to manu­ ally changing parameters, algorithms, rules, or things that are generating the material. I am not referring to the questions that you ask the computer, but to the answers themselves.



When we begin handcrafting the results them­ selves beyond the usual process of editing – whenever we find we have to make a tremen­ dous number of separate decisions in order to

1: The crosscutting between two rooms makes appa­rent the analogies in the patterns of movement that the photo­ graphers took in acquiring the data for the point cloud reconstructions. Stills from Saccades.​

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nudge the work closer to what seems compelling in it – that’s usually when we know that we’ve taken the wrong path. If we are not working with the flow the computer provides, we suddenly have this indirect approach of posing questions to the computer and of manually arranging the results. At this point, the computer is pushing against us, and our work processes suddenly morph into something that is much more conventional. We don’t mind moments of impurity (where we directly manipulate a process, usually limiting ourselves to changing parameter settings, but sometimes adjusting the montage) – but we don’t want our exceptions to predominate.

But let’s look at another work of point cloud reconstructions: Maenads & Satyrs (USA: expected 2018), our third commission at the Gardner Museum. Here our subject is a masterpiece of sculpture in the Gardner collection, a 2,000-year-old Roman sarcophagus. It’s one of the few poor choices Isabella Gardner made in displaying her collection, for the way she has placed it, between two pillars at the edge of the courtyard, has the unfortunate result that most people walk right past it. So the vast majority of the museum visitors neglect a work of art that in Renaissance, by contrast, was studied intensely when it was unearthed again. Artists drew it repeatedly as they tried to master the techniques of Classical art.



So in a sense we started doing the same thing. But our “sketching” of a copy is of course an entirely different process – as artists we exist here in the 21st century. So we did our usual thing, using 4,000 photographs of the tomb and then making point cloud reconstructions of them. I devised techniques to try to make the reconstructions feel more solid, for in our previous point cloud works, for example plant, there’s the feeling that everything is poten­ tially diaphanous, nothing is opaque. For further testing, I had the idea to take the photographic material and project it back on the geometry that we captured, back onto the sarcophagus. Partly by accident, partly due to where the computer happened to be standing when we turned it on, we discovered that if you project a picture back onto the point cloud and your viewpoint correlates exactly with the angle from which the photograph was taken, the object appears completely solid and is indistinguishable from a stereo photograph. Of course, that solidity begins to disintegrate as soon as you move away from that angle.



But with this we suddenly seized the concept for a piece – within the first minutes of ‘let’s put it on the screen’, we both knew that there was a haunt­ ing piece to be made out of this transition from solidity to abstraction. We could make it out of almost micro camera movements, simply placing vir­ tual cameras at the right spot and then letting them drift away.

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2: The images show the illusion of movement produced solely through cinematographic means, here the movement of the simulated cameras. Stills from Meanads & Satyrs.



Our next move was to let the computer produce about a thousand short films of the same camera motion going through each point of solidity. To do this, we hand-crafted, using mathematics, seven camera motions that we thought would be satisfying. After testing and refining these on a handful of pho­ tographs, we applied them to all the material. As a next step we built three different ways of rendering the images beautifully, again by this method of ‘proposing code-changing numbers and looking at the result’. When you mul­ tiply those things together – the initial 4,000 photographs by the seven cam­ era moves by the three ways of rendering by the 400 frames in each animated sequence –, you get eight million images – some of them good and some not.



We then built tools that let us audition the camera movement sequences. And when we did so, we discovered something unexpected: we were mak­ ing a dance-film out of a sculpture. The figures carved on the sides of the sarcophagus are intertwined in a Dionysian orgy, an erotic celebration of life, and even though the stone figures do not move, our virtual camera does. And the camera may, almost by chance, follow the gaze of one of the figures as it turns to another, or follow a hand as it pulls down someone’s dress – and all of this becomes a kind of dance. ◊ fig. 2a–d So now, two years after that moment when the formal structure revealed itself – after a huge amount of work, rendering, arranging, and editing the work as beau­ tifully as possible –, we are putting the finishing touches on a three-screen 3D installation for the museum, one constructed entirely out of synthetic camera movements.

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Bildwelten:

Could you do your work in celluloid as well, or asked differently, what is the specific relationship of your medium – digital film – towards space and movement?

Downie:

These micro camera movements in Maenads & Satyrs could not have been done conventionally. We used precisely reproduced camera motions to connect different scenes in time. You can have the same motion on three different subjects and because they are all moving the same way they all feel connected. These are things that would be impossible to do in the real world because it’s so hard to repeat camera movements so precisely while applying them to different scenes. And then, of course, we can place our virtual camera at any angle and distance we desire and move it along any trajectory we set. This gives us a freedom vastly greater than anything possible in conventional film.

Kaiser:

Our methods allow us to probe space in a way that filmmakers have no way of doing – partly because our imagery contains voids and uncertainties, which give us far more ambiguous spaces than the ones you see through a camera lens. And this in turn gives the viewer many more degrees of freedom in seeing and making sense of those spaces.

Bildwelten:

In your work the texture often seems detached from the actual material objects that the photographer would catch. And it seems to open up some ghostly space in-between … something that leaves room for something. Would you elaborate a little bit on what kind of space your texture creates?

Downie:

We’ve often pursued rendering styles that feel like drawing, and so the tricks that draftsman use to articulate lighting, or particularly shade which often involves lighting, are the tricks that we reference. We want to make something look like it’s being made to look like it’s being lit, so that it looks like it’s being drawn – because that is what drawing is to us.

Kaiser:

When talking about our fascination with drawing in spaces, we have to remember that drawings are in fact gestures evolving in time. Even if you have a drawn line hanging in space, you always have a sense that it’s a pocket of time as well. And if it is in fact a pocket of time (I never thought of this before), then the other thing that digital media gives you is the freedom to look at it in any way you want. If you want to look around the corner, you can in fact look around the corner of this gesture in every possible way. ◊ fig. 3a–b If the line then has the feel of a human mark intensified by the “hand-drawn” style with which we render it, you will not necessarily be aware of that almost human presence, but you do sense it inwardly. It may seem paradoxical, but rendered images are much closer to painting or

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3: 3a shows the corner of a room captured from inside the room, while 3b shows the same corner but ​from the inside out, a camera angle achievable only in virtual 3D space. Stills from Saccades.

drawing than to photography. They have gaps that a photograph never has. There are no voids in a photograph, which to my eyes can become really oppressive – there’s no space for the mind to fill in the way there is in a drawing. Bildwelten:

How would that reflect in differences between analog photographic capture and digital simulations?

Downie:

If you look at an ordinary photograph you know what it is, that it con­ tains what it contains. But a photograph in three-dimensional space is a much more interesting object. Not just from the point of view of the effort you have to take, in order to produce a geometry from it. So for example, Stairwell (USA 2010) is a piece about a dancer-choreographer dancing in a stairwell that was shot from three cameras which were stuck to a piece of metal I was holding. When that geometrical reconstruction creates a virtual space, part of what is dramatized there, through the position of the camera and the dancer, are actually shadows cast by the inability of some cameras to see parts of the scene. ◊ fig. 4 So suddenly you have a dramatization of what is not seen by photographs – due to omission. And that area moves in relation to how the camera moves and how the dancer moves just like a shadow, but it’s not a shadow because there actually are no lights, but the mathe­ matical connection and the mental connection between cameras and lights suddenly becomes visible in a very dramatic way. Suddenly you wonder why there are shadows in this thing and perhaps start to piece it together.

Kaiser:

One always regards ‘computer things’ as being objective and therefore cold, and yet the images that come out of our renderer pick out and heighten certain details, and often leave in the accidents. Mistakes in the capture or in the simulation of what you are seeing are left in, but they are preserved very beautifully, with perfectly fine lines, or splatters, unlike the errors of

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4: The point cloud reconstructions make missing data appear as a shadow. Still from Stairwell.

many digital things where you just get some bad artifacting. These are all part of the image, in the same way that smudges can be crucial to drawing and spatters to painting. Downie:

When you make a film which involves a camera and actors and sets, or a documentary where you go out onto the street, the frame is very important – it’s very salient and very solid. As artists, we feel compelled both to ignore the frame and to understand it. We try to make the relationship between what is inside and what is outside the frame fascinating, but then often go to great lengths to dissolve the frame. Consequently, that puts you in a different relation to the image than you have at home in front of your TV. And that’s a good opening move to say: ‘These images are different.’ And I think it’s important to tell audiences that these images are different, they function in different ways. They should have different expectations about what they are going to see.

Bildwelten:

So can the application of your rules and systems be described as exploratory set-ups to produce different aesthetic reflections of the world and its per­ ception?

Downie:

Well, what is enjoyable about some of the rendering algorithms we talked about is that they produce ambiguity. Do they produce biomorphic forms, do they produce drawn forms? Do they suggest a secret skeleton behind everything, a ghostly interconnectedness between the chair and the floor? Are you seeing behind reality? In Saccades, for example, the images are thematized in the fact that the cameras can actually go through a wall and

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5: This shot of the gallery down through the ceiling is from a camera angle achievable only in virtual 3D space. ​Still from Saccades.

look down from above through a ceiling. ◊ fig. 5 Our imagery poses these questions which it doesn’t answer. Bildwelten:

This links us back to where we began, that also scientists pose questions …

Downie:

Yes absolutely. A really great piece of science is a paper that ends with, ‘therefore now we don’t know how that works; that seems odd, you know that light can be both a wave and a particle’, it’s opening up into an unan­ swered question. And a great piece of art does the same thing. And there can be all different kind of questions that great pieces of art pose.

This interview is edited on the basis of conversations Luisa Feiersinger and Inge Hinterwaldner had with Paul Kaiser on the 14th of January 2017 and with Marc Downie on the 10th of February 2017 in cooperative post production.

1: Evoluon, Außenansicht. 75-jähriges Jubiläum von Philips, 1966.

Bau-Besprechung Annekathrin Heichler

Gebaute Weltraumfiktion. Die ­fliegende Untertasse in der ­Architektur des Evoluon In Eindhoven, Niederlande, eröffnet 1966 unter dem Namen Evoluon ein Ausstellungsgebäude in außergewöhnlicher Gestalt. Auf im Kreis angeordneten, V-förmigen Stützen ruhen zwei aneinandergesetzte Betonschalen in Form einer liegenden, bikonvexen Linse. Mit einer Spannweite von 77 Metern kragen sie so weit über die Stützen hinaus, dass ein Großteil des Baukörpers frei über dem Boden schwebt. Am höchsten Punkt schließt dieser mit einer kleinen, transparenten Kuppel ab, die zusammen mit 48 trapezförmigen Luken entlang des Randes der Oberschale die einzigen Fensteröffnungen bil­

den. Im Dunkeln heben sie sich als Lichtkranz weithin sichtbar von der Schalenkonstruktion ab, ebenso wie eine von den Stützen eingefasste glä­ serne Rotunde, welche dem Baukörper nachts eine leuchtende, tagsüber eine transparente Basis gibt. ◊ Abb. 1 Abgesehen von einer Stelle, an welcher der Rundbau über einen Glasgang mit einem Flachbau verbunden ist, steht er frei in einer parkähnlichen Landschaft. Aus der Ferne betrachtet, besitzt er keine explizite Schau- oder Eingangsseite – weder Funktion noch innere Raumorganisation können von außen abgeleitet werden. Klarheit über den Zweck des Baus verschaff­ te erst das Eintreten ins Gebäudeinnere: Das Evoluon wurde für eine naturwissenschaftlichtechnische Ausstellung des Elektronikkonzerns Philips gebaut, welche bis 1989 im stützenfreien Freiraum zwischen den Betonschalen auf drei

Bau-Besprechung

ringförmigen Galeriegeschossen präsentiert wurde.1 Der Konzernpräsident Frits Philips hatte den Bau nach dem Erfolg des von Le Cor­ busier und Iannis Xenakis entworfenen PhilipsPavillons auf der Weltausstellung in Brüssel 1958 initiiert. Mit Blick auf das sich nähernde 75-jährige Firmenjubiläum des 1891 in Eindho­ ven gegründeten Unternehmens sowie die hohen Kosten der temporären Weltausstellungsarchi­ tektur sollte mit der Einrichtung einer Dauer­ ausstellung die Partizipation an zukünftigen Expos reduziert werden. 2 Während zunächst lediglich eine Präsentation von Produkten aus dem Firmenportfolio geplant war, thematisierte die letztlich verwirklichte Ausstellung breitgefä­ chert Entwicklungen aus Technik und Natur­ wissenschaft sowie deren Auswirkungen auf die Gesellschaft.3 Für den Entwurf des Ausstellungshauses beauftragte Philips den Werbegrafiker, Lichtund Produktdesigner Louis C. Kalff (1897–1976), der bis 1960 die künstlerische Leitung des Kon­ zerns innegehabt hatte.4 Zusammen mit dem jüngeren Architekten Leo de Bever (1930–2015) plante dieser zunächst ein Gelände nach Vor­ bild der Weltausstellungen – mit Pavillons in körpergeometrischen Formen (Würfel, Kugel, Kegel, Pyramide u. a.). Wohl nicht nur aus finanziellen Gründen wurde daraus am Ende nur ein Element, ein Ellipsoid, zur Realisati­ on ausgewählt.5 Denn in seiner Vergrößerung und vor allem durch seine Loslösung aus einer Vielzahl geometrischer (Bau-)Körper erweckte seine Form eine zeitgenössische Assoziation, die in eine außer­weltliche Zukunft zu weisen schien. In den 1950er- und 1960er-Jahren stellte das Weltall eine Projektionsfläche menschlicher Utopien und Visionen von bisher unerreichtem Ausmaß dar, nicht zuletzt angeregt durch den Wettlauf zum Mond, der die ersten Menschen aus dem terrestrischen Orbit beförderte. Von der hypothetischen Expansion der Menschheit in den Weltraum bis hin zur Annahme außer­ irdischen Lebens rezipierten und produzierten Kunst, Film, Literatur, Comic, Mode, Pro­ duktdesign und Musik außerweltliche Motive in vielfältiger Manier.6

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Ein Phänomen der Zeit sind auch vermeint­ liche Sichtungen von Ufos – unidentifizierten Flugobjekten – seit Ende der 1940er-Jahre in den USA und etwas später auch in anderen Tei­ len der (westlichen) Welt. Populär wurde dabei der Begriff der „fliegenden Untertasse“, der 1947 durch den Bericht eines amerikanischen Piloten über einen scheibenförmigen Flugkör­ per Eingang in den Sprachgebrauch fand. In der vertrauten Form, dem Diskus, wurde das „unidentifizierbare“ Raumschiff imaginier- und kommunizierbar, wie sich an den zahlreichen Comics und Filmadaptionen zeigt, die die flie­ gende Untertasse dann als visuelles Motiv in der Populärkultur verankerten. Diese bildlichen Darstellungen weichen in Details häufig voneinander ab. Sie verfügen jedoch über ausreichend Gemeinsamkeiten, um einen wiedererkennbaren Raumschiffty­ pus auszumachen: an erster Stelle die runde, flache Form, durch die es keine im Flugkörper angelegte Bewegungsrichtung in horizontaler Ebene gibt. Die Oberseite des Raumschiffes ist in der Regel durch einen kuppelförmigen Auf­ bau markiert, die Unterseite durch Stützen, die zum Landen ausfahren, sowie häufig einen nach unten ausstrahlenden Lichtkegel (als Simulation eines Kraftfeldes oder Antriebs).7 Da diese Flug­ objekte meist als Fortbewegungsmittel außerir­ discher Lebewesen charakterisiert sind, führen sie in Science-Fiction-Narrationen oft das Motiv des Ankommens aus extraterrestrischen Welten und der Kontaktaufnahme mit sich – im Gegen­ satz zur menschengemachten Rakete, die, von der Erde abgeschossen, vorwiegend Distanz­ überwindung und Exploration demonstriert. Auch haftet Untertassen ob der Unergründ­ lichkeit ihrer Passagiere, ihres Baumaterials oder Antriebs, welcher sich im Gegensatz zur Flugzeugturbine oder Raketendüse selten in einer außenliegenden Maschine nachvoll­ ziehen lässt, grundsätzlich etwas BefremdlichMysteriöses an.8 Das Evoluon in Eindhoven, 1964–66 errich­ tet, greift jenes Raumschiffmotiv der ­kollektiven Imagination auf. Mit seiner Linsenform, wel­ che nach oben mit einer transparenten Kuppel

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abschließt, dem scheinbaren Schweben über dem Boden und der erleuchteten Rotunde unter ihm rezipiert der Bau in seiner äußeren Hülle die Charakteristiken der aus einer Viel­ zahl an Manifestationen gebildeten fliegenden Untertasse. Deren Landen in menschenleeren Umgebungen, wie es in zahlreichen (filmischen) Umsetzungen inszeniert wurde und wird, amal­ gamiert sich, mit der architektonischen Bezugs­ losigkeit des Evoluon zu seiner Umgebung, zu einer fremdkörperhaften Anmutung des Baus als auf der Erde gelandetes, außerirdisches Flugobjekt. In der Konstruktion erforderte die Wahl der Diskusform eine aufwendige Innenar­ chitektur, so mussten Etagen, gerade Böden und Wände für die Ausstellungsfläche durch Einbau­ ten gesondert geschaffen werden, die dement­ sprechend anspruchsvoll und kostspielig in der Umsetzung war.9 Die Intention der Erbauer lag folglich nicht in der ökonomischen Umbauung von Ausstellungsraum, sondern in der Schaf­ fung eines fernwirksamen und eindrücklichen Bildes in der Architektur. Das rätselhafte und außerweltliche Moment, das in den populären Narrationen um die fliegenden Untertassen ausgebildet wird, überträgt sich durch die for­ male Referenz auf den Bau und seine Funktion: Technik und Naturwissenschaft, deren Vermitt­ lung an ein Laienpublikum in der Ausstellung angestrebt wurde, erhalten eine fantastische Aufladung. Der Eintritt in die Architektur wird als Kontaktzone inszeniert, als Übergang der vertrauten in eine (Außer-)Welt, die es noch zu entdecken gilt. Während der Philips-Kon­ zern durch das Evoluon einerseits sein eigenes Wirken klug als technisch innovativ und in die Zukunft deutend inszenierte, zeigt sich der Bau gleichermaßen ganz in seiner Zeit verortet, deren Technik- und Fortschrittsoptimismus er nicht als einziger architektonisch rezipiert.

Bau-Besprechung

1 Für das Ausstellungsdesign engagierte Philips den britischen Designer James Gardener (1907–1955), welcher u. a. den britischen Pavillon auf der Brüs­ seler Weltausstellung 1958 gestaltet hatte. 2 Steef Hendriks: Evoluon. 40 jaar boegbeeld van een ambitieuze regio. ’s-Hertogenbosch 2006, S. 13 u. 26. 3 Hendriks (s. Anm. 2), S. 71. 4 Kalff wurde 1925 Leiter der Werbeabteilung von Philips. 1929 gründete er das Lichtberatungsbüro (Lichtadviesbureau, LIBU) des Konzerns, das er bis zu seiner Pensionierung 1960 leitete. Als Archi­ tekt war er z. B. für das Philips Observatorium in Eindhoven (1937) verantwortlich; auch am PhilipsPavillon in Brüssel war er als Ideengeber und an der Umsetzung beteiligt. 5 Hendriks (s. Anm. 2), S. 15 und 20. 6 Für diese Jahrzehnte wird oft der Begriff des „Space Age“ verwendet, doch ist sowohl die zeitliche Fest­ setzung als auch thematische Abgrenzung (z. B. zum „Atomic Age“) problematisch, vgl. Alexander C. T. Geppert: Flights of Fancy: Outer Space and the European Imagination, 1923–1969. In: Steven J. Dick und Roger D. Launius (Hg.): Societal impact of spaceflight, Washington, D. C. 2007, S. 585–599; ders.: European Astrofuturism, Cosmic Provincia­ lism. Historicizing the Space Age. In: ders. (Hg.): Imagining Outer Space. European Astroculture in the Twentieth Century, Basingstoke 2012, S. 3–24. Zur Weltraumfiktion vgl. auch De Witt Douglas Kilgore: Astrofuturism. Science, Race, and Visions of Utopia in Space, Philadelphia 2003, S. 1–30. 7 Raumflugkörper dieser Art sind, auch wenn ihr Auftreten verbunden mit Spekulationen über außer­ irdische Zivilisationen in den 1950er-Jahren seinen Höhepunkt fand, formal keine Erfindung der Nach­ kriegszeit. Vorläufer finden sich beispielsweise schon auf Titelbildern von Science-Fiction-Magazinen aus den späten 1920er-Jahren. Vgl. Michel Meurger: Alien Abduction. L’enlèvement extraterrestre de la fiction à la croyance, Amiens 1995, S. 141–168. Es wäre weiter zu untersuchen, wie die runde Form ikonografisch mit fiktiven Raumstationen („Space Wheel“ u. a.) und technologischen Raumfahrtdis­ kursen in Verbindung steht. 8 Hingegen ist die detaillierte Erkenntnis der Beschaf­ fenheit und Funktionsweise von Raketen oft narra­ tives Element der Science-Fiction, angefangen bei Jules Vernes Romanen bis zu Filmen wie George Méliès: Le Voyage dans la Lune (F: Star Film 1902); Fritz Lang: Frau im Mond (D: Fritz Lang Film/ Universum Film AG 1929); George Pal: Destination Moon (USA: George Pal Productions 1950) u. v. m. 9 Hendriks (s. Anm. 2), S. 31–46.

1: Die Malerei William R. Leighs, das Faux Terrain Albert E. Butlers und die Taxidermie Carl Akeleys bilden in kollektiver Expertise die Schauanordnung Mountain Gorilla Diorama (1936), welche die Stillstellung der Natur inszenatorisch kompensieren soll. Die dabei entstehende Spannung zwischen Stillstellung und Bewegung wird in der Fotografie aufgelöst, wie sich bei diesem Handyfoto zeigt, das den betrachtenden Blick fixiert.

Bild-Besprechung Christiane Voss

Idyllisches Schaudern. Das HabitatDiorama zwischen Leben und Tod Das Mountain Gorilla Diorama (1936) gehört zum bildnerischen Dispositiv der HabitatDioramen, die im 19. Jahrhundert zusammen mit den Naturkundemuseen in Schweden und Amerika aufgekommen sind. Es stammt von dem Taxidermisten, Großwildjäger und Naturforscher Carl Akeley, dessen über 40 Dio­ ramen im Jahre 1936 nach seinem Tod im New Yorker American Museum of Natural History (AMNH) erstmalig der Öffentlichkeit prä­ sentiert wurden. Das Material für diese Szene

wurde von Akeley und seinem Team im Rah­ men der Akeley-Eastman-Pomeroy-Expedition nach Afrika (1926) zusammengetragen, die von George Eastman (1854–1932) finanziert und begleitet wurde. Habitat-Dioramen setzen sich aus mehreren Elementen zusammen, die von unterschiedli­ chen Akteurinnen und Akteuren aus Kunst, Technik und Wissenschaft verantwortet werden und die zu einem stimmigem Gesamtbild unter der Anleitung eines Taxidermisten synthetisiert werden: Ein naturalistisch gemaltes Panorama eines zuvor zeichnerisch, fotografisch und zoo­ logisch dokumentierten Lebensraums, das auf einer halbrunden Leinwand angebracht wird, fungiert als Hintergrundmotiv. Es wird stets

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als Erstes angefertigt. Das Mountain Gorilla Diorama zeigt das in grau-blau-weißen Tönen gehaltene Vulkanbergmassiv Mikeno (heute Demokratische Republik Kongo), dessen Gipfel weiße Rauchschwaden ausstoßen und das von weißen Schönwetterwolken umgeben ist. Das Weiß des Rauchs, der die bedrohliche Aktivität des Vulkans anzeigt, zieht sich bis in den blasser werdenden Himmel hinein und das Blaugrau des Vulkangesteins dehnt sich nach beiden Sei­ ten des Bildes seitlich abfallend aus. Nach vorne hin geht es in Richtung des dreidimensionalen Faux Terrains kontinuierlich in eine Regenwald­ darstellung über. In der Tradition des Trompe l’Œil nimmt das Faux Terrain das Grün der gemalten Flora in den plastischen Pflanzenexponaten auf, sodass der Übergang zwischen dem 2D-Hin­ tergrundgemälde und den 3D-Elementen des Vordergrundes optisch nahtlos wirkt. Im vorde­ ren Bildteil sind in Grün-Gelb-Abschattungen und unterbrochen von rosafarbenen und dun­ kelroten Blüten niedrige Bodengewächse, wie wilder Sellerie und Brombeersträucher, auf einem moosigen Waldboden zu sehen. Dieser bildet den Untergrund für eine Gruppe Gorillas in repräsentativen Posen. Ein in Imponierpose zu sehender Siberrückengorilla scheint direkt in den Zuschauerraum des Museums hinein­ zublicken. Akeley hatte ihn 1921 an dem im Diorama nachgestellten Ort selbst erlegt. Drei weitere Tiere, in unterschiedlichen Größen und Posen und einander zum Teil direkt zugewandt, finden sich über den Bildraum verteilt. Zwei tro­ pische Regenwaldbäume rahmen den Bildaus­ schnitt ein und ragen mit Ästen und Lianen wie ein Vorhang in die Bildmitte hinein. Nach oben hin sind sie vom Bildrand abgeschnitten, sodass der Eindruck entsteht, die Bäume gingen darü­ ber hinaus weiter. Das indirekte Licht wird als Letztes gesetzt. Hier ist es farblich einer frühen Nachmittagsstunde der afrikanischen Region im Sommer nachempfunden. Eine schräg angebrachte, entspiegelte Glas­ wand im Holzrahmen verschließt die Schau­an­ ord­nung, die in ihrer relativen Unsichtbarkeit Immersion gewähren soll. Das Ausmaß des

Bild-Besprechung

Schaukastens sowie die zentralperspektivische Anordnung der Szenerie und die Blickachsen­ überlagerung der Tierexponate verstärken den immersiven Effekt des Ganzen im Verbund mit der nach hinten rechts abfallenden Bodenlinie des Faux Terrains, die den betrachtenden Blick in die Bildtiefe hineinzieht. Habitat-Dioramen (griech. dio = durch; hora­ma  = Sicht) sind nicht mit den Dioramen von Louis Daguerre zu verwechseln. Er ließ den Term für bewegliche Theaterräume patentieren, in denen Naturspektakel auf geschickt beleuch­ teten, halbdurchsichtigen Gazevorhängen prä­ sentiert wurden, die filmisch wirkten. Doch auch die zu Bildungszwecken produzierten HabitatDioramen gehorchen einer Logik der Verleben­ digung. Sie lösten die taxonomisch-additiven Präsentationen von Sammlungsbeständen in den Museen ab. Als „Fenster zur Natur“ bean­ spruchen sie getreu abzubilden, was die Natur selbst an Schönheit und Erhabenheit geschaffen hat und was in Worten und wissenschaftlichen Textabhandlungen nicht ausdrückbar sein soll. Die Statik der Szenarien muss dafür allerdings inszenatorisch kompensiert werden. Und so wählen die Taxidermisten, wie hier, die Darstel­ lung eines „fruchtbaren Augenblicks“ (Lessing) einer lebensechten Szene unter Tieren in freier Wildbahn, der die Betrachter über die Natur belehren und dazu motivieren soll, eine ökolo­ gische Sensibilität auszubilden. Dieser doppelte Anspruch verbietet die Markierung künstleri­ scher Subjektivität und Autonomie. Die Konstruiertheit der Habitat-Dioramen soll hinter ihrem vermeintlich objektiven Reali­ tätseindruck zurücktreten. In ihren meist jedoch idyllischen Naturrekonstruktionen vermeiden sie allerdings die Darstellung von Schmerz und Tod und weichen allein darin ungewollt von ihrem objektiven Realitätsideal ab. Die eigens für die museale Präsentation getöteten Lebewe­ sen werden zu Semiophoren. Ihre Körper wer­ den präparationstechnisch in haltbare Zeichen­ dinge transformiert und so die Endlichkeit der ehemaligen Lebewesen in die Ewigkeit musealer Ausstellungsstücke überführt. In dieser Hinsicht tut sich eine schaurige Latenz an dem Gezeigten

Bild-Besprechung

auf, eine Art Zwischenzone eines ‚Nicht-mehrLebens‘, in das die Betrachtenden imaginär und affektiv hineingezogen werden. Da nicht klar zu sagen ist, welchen ontologischen Status diese Zone hat, die von den Dioramen im Kontakt mit den sie Betrachtenden eröffnet wird, stellt sich ein kontraintentionaler Irrealitätseffekt ein. Ist die Verwendung und Präparierung der realen Tierhäute und der vor Ort gesammelten Pflanzen der Dokumentation einer vermeint­ lich faktisch genauso existierenden Wirklichkeit geschuldet, so folgen die posierenden Tierkörper und Szenenausmalungen in ihren expressiv-nar­ rativen Qualitäten einer fiktional-idiosynkrati­ schen Logik.1 In dieser Spannung zwischen Fakt und Fik­ tion, Abbildung und Idealisierung spiegeln die einzelnen Elemente der dioramatischen Schau­ anordnung die Hybridität der Dispositive im Ganzen wider. Sie sind als eigensinnige Schau­ anordnungen zwischen Kunst, Wissenschaft und Unterhaltung zu verorten: Zwischen dem Gedenken an eine verlorene Natur, die streng genommen nie existiert hat, auf der einen Seite (Idyll) und der Animierung einer umweltbe­ wussten Haltung gegenüber einer zukünftigen Natur, die im diorama-technischen Vorschein ansichtig wird, changiert die visuelle Rhetorik der Habitat-Dioramen. So fungieren und fas­ zinieren sie als schaurig-erbauliche Vehikel für ästhetische Wachtraumreisen durch eine chimä­ renhafte Weltlichkeit, die ohne feste Raum-ZeitKoordinaten uneinholbar anachronistisch bleibt. Diese Hybridität des noch immer massenwirksa­ men Dispositivs theoretisch zu reflektieren und einzuordnen, ist nach wie vor ein Desiderat für die Medienphilosophien und moderne Ästheti­ ken. 1 Vgl. Jutta Helbig (Hg): Bildwelten des Wissens, Bd. 9.1: Präparate, Berlin 2012.

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Bildnachweis

Titelbild: Rä di Martino: No More Stars (Star Wars) #7 (2010), mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und der Monica De Cardenas Galerie, Mailand/Zuoz. Editorial: 1–5: George Sidney: Quicker’n a Wink (USA: MGM 1940), online https://www.youtube.com/ watch?v=gspK_Bi0aoQ (Stand: 11/2017), 9:02 min, TC: 4:49, 4:53, 5:03, 5:14, 5:21. Wellmann: 1–4: Martin Frobenius Ledermüller: Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergötzung. Bestehend in Ein Hundert nach der Natur gezeichneten und mit Farben erleuchteten Kupfertafeln, sammt deren Erklärung, Nürnberg 1760–1762, Tab. lxxv, lv, i, xxi; 5: Wilhelm Friedrich Freiherr von Gleichen gen. Rußworm: Abhandlung ueber die Samen- und Infusionstierchen und ueber die Erzeugung. Nebst mikroskopischen Beobachtungen des Samens der Tiere und verschiedener Infusionen, Nürnberg 1778, Tab. xxvi. Papenburg: 1–3, 7: Etsuko Uno (Animation), Drew Berry (Regie): X Inactivation and Epigenetics (AUS: The Walter and Eliza Hall Institute of Medical Research, Melbourne 2011) online https://www.wehi. edu.au/wehi-tv/x-inactivation-and-epigenetics (Stand: 06/2017), 11 min, TC: 00:09, 01:12, 02:21, 03:59; 4: Jean Painlevé: L’Hippocampe/The Sea Horse (F: Pathé-Consortium-Cinéma 1934), 14 min, in: DVD Science is Fiction. The films of Jean Painlevé (GB: British Film Institute 2008), 215 min, TC: 06:57; 5: Jean Painlevé, Geneviève Hamond: Les Amours de la Pieuvre/Lovelife of the Octopus (F:  Les Documents Cinématographiques 38 1965), 14 min, in: DVD Science is Fiction. The films of Jean Painlevé (GB: British Film Institute 2008), 215 min, TC: 00:06; 6: Andrew Stanton, Lee Unkrich: Finding Nemo (USA: Pixar Animation Studios 2003), DVD Disney Home Entertainment 2003, 100 min, TC: 07:07. Curtis: 1: Allen B. Kanavel: Diagnosis and Treatment of Infections of the Hand (USA: College of American Surgeons 1926), online https://wellcomelibrary.org/item/b16697911#?c=0&m=0&s=0&cv=0 (Stand: 9/2017), 47:22 min, TC: 02:23; 2: L. T. Threadgold: The Ultrastructure of the Animal Cell, Oxford (2. Aufl.) 1976, S. 321; 3, 4: Maurice Backett, Savile Moller, Peter Hansell: Introduction to Acute Inflammation (GB: Westminster Medical School 1945), online https://archive.org/details/Introductiontoacuteinflammationwellcome (Stand: 09/2017), 17:11 min, TC: 12:59, 13:02; 5–7: Defense against Invasion (USA: Walt Disney Studios 1943), online https://archive.org/details/DefenseAgainstInvasion (Stand: 09/2017), 12:38 min, TC: 02:22, 02:25, 02:26; 8: Paul Ehrlich: On Immunity with Special Reference to Cell Life. In: Proceedings of the Royal Society of London, 1900, Jg 66, S. 424–448, Abb. 6, o. S. Gräfe: 1, 3: Joachim Rieck: Der Meßkineautograph. In: Gotthard Wolf; Jean Dragesco (Hg.): Research Film, Jg. 2, 1955, Heft 1, S. 29, 26; 2: Filmstills aus der digitalisierten Fassung von: Paul Leyhausen, E 10 Bibos banteng (Raffl.), Galopp, (D: Institut für den Wissenschaftlichen Film, Göttingen 1954), 16 mm Film, SW, 1:03 min, online https://av.tib.eu/media/12518 (Stand: 10/2017), CC BY-NC-ND 3.0, TC: 0:04, 0:06, 0:10, 0:17, 0:52, 0:52, 0:52, 1:00. Waltenspül: 1–3: Don Chaffey: Jason and the Argonauts (USA: Morningside Worldwide Pictures 1963), BluRay, Columbia Pictures 2015, 104 min, TC: 01:05:40, 01:06:01, 01:07:08. Trinks: 1–4, 6–7: Alfonso Cuarón: Gravity, (USA/GB: Warner Bros./Esperanto Filmoj/Heyday Films 2013), Blu-Ray Diamond Luxe Edition Warner Home Video 2013, 91 min, TC 00:21:35, 00:39:34, 00:41:48, 00:29:21, 00:57:56, 00:54:52; 5: Theodor Hetzer: Die Bildkunst Dürers, Mittenwald 1982, Abb. 92, S. 278. Becker: 1, 2: Kurt Maetzig: Der schweigende Stern (DDR/POL: DEFA 1960), DVD Science Fiction SpecialEdition, Icestorm 2005, 90 min, TC: 00:04:17, 00:10:40; 3–6: Winrich Kolbe: Star Trek: Next Generation, Birthright: Part 1, Staffel 6, Episode 16 (USA: Paramount Domestic Television 1993), DVD Star Trek: The Next Generation, CBS-Studios/Paramount Pictures 2014, Disc 1, Part 1, 43:10 min, TC: 29:48, 30:00, 29:55, 29:17; 7–10: Steven Spielberg: Minority Report (USA: Amblin Entertainment/Cruise/Wagner Productions/Blue Tulip Productions 2002), DVD 20th Century Fox/DreamWorks Pictures 2006, 145 min, TC: 25:56, 14:37, 14:55, 21:30.

Bildnachweis

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Schröter: 1, 2: Joseph Scanlan: Star Trek: The Next Generation, The Big Goodbye, Staffel 1, Episode 13 (USA: Paramount Domestic Television 1988), DVD CBS Studios/Paramount Pictures 2011, Disc 3, Part 4, 43:37 min, TC: 12:52, 13:15. Dünkel: 1–3: George Albert Smith: The X-Ray Fiend (GB: G. A. S. Films 1897), online https://www. youtube.com/watch?v=3gMCkFRMJQQ (Stand: 11/2017), 45 sek, TC: 0:12; 0:21, 0:36; 4: Otto Glasser: Wilhelm Conrad Röntgen und die Geschichte der Röntgenstrahlen, Berlin 1995, S. 289; 5: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, Jg. 11, 1897, S. 93. Korndörfer: 1, 3: A/A und Galerie KWADRAT, 2017, Foto: Trevor Good; 2: A/A, 2017; 4: Vera Klein, Akustische Levitation von Ferrofluiden, 2010, PDF https://www.yumpu.com/de/document/view/5878764/ akustische-levitation-von-ferrofluiden-5-physikalisches-institut- (Stand: 08/2017), S. 4. Interview: 1, 3, 5: Saccades, (USA: Isabella Steward Gardner Museum 2014), 36 min; 2: Meanads & Satyrs, (USA: Isabella Steward Gardner Museum voraussichtlich 2018); 4: OpenEndedGroup: Stairwell, (USA: Hayward Gallery 2010). Heichler: 1: Philips Company Archives, Foto: Hans van Stekelenburg. Voss: 1: Mountain Gorilla Diorama (1936), AMNH, N. Y., Foto: Lorenz Engell. Bildtableau I: 8, 11, 15, 17, 19, 20: Public Domain. 1: © Getty Images, Foto: Allan Grant. 2: ESO/M. Kornmesser / CC BY 4.0. 3: Reproduced courtesy of Bonestell LLC. 4: © Joseph Popper. 5: Licensed thru Wade Williams Distribution/ Blue Dolphin Films. 6: © 2011 by Leandro G. Barajas, All Rights Reserved. 7: Sebastian Kaulitzki/Science Photo Library. 9: Mit freundlicher Genehmigung von Gilles Bourgarel/ Procidis. 10: © Peter Kleeman and Space Age Museum. 12: © National Maritime Museum, Greenwich, London. 13: Mit freundlicher Genehmigung von Jillian Pelto. 14: Werk: Richard Ibghy & Marilou Lemmens, Foto: © Sahir Ugur Eren. 16: © Matti Suuronen, Espoo City Museum, Foto: unbekannt. 18: © 2017 Archives Jean Painlevé, Paris. 21: Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main, © VG Bild-Kunst, Bonn 2017. 22: Foto: NNtonio Rod. Bildtableau II: 3, 7: Public Domain. 1: Photo courtesy of Heritage Auctions, www.HA.com. 2: From The New York Public Library, Image ID 1684413. 4: Masterfilms/CNRS. 5: Berlinische Galerie, © Elisabeth von Sartory/Georg Kohlmaier. 6: Foto: David Baltzer. 8: © Thomas Struth. 9: Reuben Hoggett, http:// cyberneticzoo.com/cyberneticanimals/cora-cyberneticanimals/cora-the-tortoise-m-docilis/ (Stand: 11/2017). 10: Hito Steyerl / CC BY 4.0 / Image courtesy of the Artist and Andrew Kreps Gallery, New York. 11: Geminoid™ HI-2 : ATR Hiroshi Ishiguro Laboratories, Telenoid™ : Osaka University and ATR Hiroshi Ishiguro Laboratories. 12: The John Canemaker Collection. 13: Berenika Oblonczyk, LWL-Museum für Naturkunde, Münster. 14: SPINVFX. 15: Andreas Greiner, Foto: Theo Bitzer. 16: Deutsches Filminstitut, Frankfurt am Main, Nachlass Paul Wegener, Sammlung Kai Möller. 17: Mit freundlicher Genehmigung von Wim Delvoye. 18: © Marion Laval-Jeantet, Benoît Mangin. 19: Mit freundlicher Genehmigung von Max Aguilera-Hellweg. 20: Image supplied courtesy of Matador, SVT and Endemol Shine International Limited. 21: Alex Norton, EyeWire.

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1: Georg Wilson: The Time Machine, Cover-Art für „Classics Illustrated”, Öl und Acryl auf Pappe, 1956. 2: Künstlerische Darstellung des Inneren der „Perisphere“, New York World’s Fair 1939–1940. 3: Bewegliche Trottoire im Jahre 2000, Sammelkarte, um 1900. 4: Masterfilms: Molekülfahrzeug im NanoCar-Rennen, Animation, 2016. 5: Georg Kohlmaier, Barna von Sartory: Rollende Gehsteige am Kurfürstendamm, Bildcollage, 1969. 6: Gob Squad: My Square Lady, Operninszenierung mit dem lernfähigen Roboter Myon, 2015. 7: Al-Dschazarī: Automat für Trinkspiele, Illustration aus „Book of Knowledge of Ingenious Mechanical Devices“, 1315. 8: Thomas Struth: Golems Playground, Georgia Tech, Atlanta 2013, Chromogendruck, 2013. 9: William Grey Walter: Die kybernetische Schildkröte CORA führt konditionierte Reflexe aus, Fotografie, 1953. 10: Hito Steyerl: Videostill aus Hell Yeah We Fuck Die (D: 2016). 11: Hiroshi Ishiguro mit Roboter-Doppelgänger Geminoid HI-2™ und Telekommunikationsroboter Telenoid™, 2012.

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12: Winsor McCay: Animationszeichnung für Gertie the Dinosaur (USA: 1914). 13: Boban Filipovic: Modell eines Velociraptors, 2014. 14: Brenton Thwaites mit präparierten Beinen zur Nachbearbeitung durch Spin VFX für The Signal (USA: 2014). 15: Andreas Greiner: Monument for the 308, 3D-Druck des Skeletts eines Masthuhns vom Typ 308, Mixed Media, 2016. 16: Paul Wegener kostümiert neben Golem-Figur von Rudolf Belling anlässlich des ersten Golem-Films (D: 1915). 17: Wim Delvoye: Cloaca Professional, Nachbildung des menschlichen Verdauungsvorgangs, Mixed Media, 2010. 18: Art Orienté Object: Que le cheval vive en moi, Transspezies-Performance, 2011. 19: Max Aguilera-Hellweg: Ein unvollständig montierter Roboter des Roboterherstellers Hanson Robotics, Fotografie, 2017. 20: Harald Hamrell: Entnahme eines Hubot-Gehirns, Screenshot von Real Humans (SE: 2012). 21: Seung Lab: Retinazellen, kartiert von Spielern in „EyeWire“, Computervisualisierung, 2014.

Autorinnen und Autoren Dr. Marcus Becker Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Scott Curtis Department of Radio/Television/Film, Northwestern University, Evanston, Illinois, USA; Communication Program, Northwestern University, Qatar Marc Downie Freier Künstler, New York Dr. Vera Dünkel Freie Kunsthistorikerin, Berlin Luisa Feiersinger Projekt Das Technische Bild, Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin Sophia Gräfe Lehr und Forschungsbereich Kulturtheorie und Kulturwissenschaftliche Ästhetik, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin Annekathrin Heichler Projekt Das Technische Bild, Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Inge Hinterwaldner Lehrstuhl Kunst- und Bildgeschichte der Moderne und Gegenwart, Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Ute Holl Seminar für Medienwissenschaft, Universität Basel Paul Kaiser Freier Künstler, New York Lydia Korndörfer Freie Kuratorin, Lehrbeauftragte an der Universität der Künste, Berlin Dr. Bettina Papenburg Institut für Medienkulturwissenschaft, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Jens Schröter Lehrstuhl Medienkulturwissenschaft, Institut für Sprach-, Medien- und Musikwissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Anna Stemmler Studiengang Fotojournalismus und Dokumentarfotografie, Hochschule Hannover; Filmkritikerin für das Indiekino Magazin, Berlin PD Dr. Stefan Trinks Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Christiane Voss Lehrstuhl Medienphilosophie/Philosophie audiovisueller Medien, IKKM (Internationales Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie), Bauhaus-Universität, Weimar Sarine Waltenspül Forschungsschwerpunkt Transdisziplinarität, Zürcher Hochschule der Künste, Co-Projektleitung Forschungsprojekt Luftbilder/Lichtbilder. Bewegtbild und Kamera als Skalierungs- und Analyseinstrument Dr. Birk Weiberg Institute for Contemporary Art Research, Zürcher Hochschule der Künste Dr. Janina Wellmann DFG-Kollegforschergruppe Medienkulturen der Computersimulation, Institut für Kultur und Ästhetik Digitaler Medien, Leuphana Universität, Lüneburg Emanuel Welinder Seminar für Medienwissenschaft, Universität Basel

Redaktion Das Technische Bild Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin [email protected] Tableaus Annekathrin Heichler, Simon Lindner und Anna Nostheide Lektorat Rainer Hörmann Layout und Umschlag Andreas Eberlein, Berlin Satz aroma, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg ISBN 978-3-11-056334-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056540-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-056372-6 © 2018 Walter de Gruyter GmbH Berlin/Boston www.degruyter.com Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Bildwelten des Wissens 1,1: Bilder in Prozessen Horst Bredekamp, Gabriele Werner (Hg.) 2003. 124 S., 14 Farb- und 117 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-003781-3

7,1: Bildendes Sehen Karsten Heck (Hg.) 2009. 120 S., 75 Farb- und 26 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004609-9

1,2: Oberflächen der Theorie Horst Bredekamp, Gabriele Werner (Hg.) 2003. 128 S., 16 Farb- und 98 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-003782-0

7,2: Mathematische Forme(l)n Wladimir Velminski, Gabriele Werner (Hg.) 2009. 144 S., 18 Farb- und 98 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004646-4

2,1: Bildtechniken des Ausnahmezustandes Horst Bredekamp, Gabriele Werner (Hg.) 2004. 128 S., 16 Farb- und 40 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004058-5

8,1: Kontaktbilder Vera Dünkel (Hg.) 2010. 120 S., 35 Farb- und 83 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004917-5

2,2: Instrumente des Sehens Angela Fischel (Hg.) 2004. 110 S., 20 Farb- und 90 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004063-9

8,2: Graustufen Felix Prinz (Hg.) 2011. 120 S., 9 Farb- und 111 s/w-Abbildungen Originalgrafische Bildbeilage ISBN 978-3-05-005087-4

3,1: Diagramme und bildtextile Ordnungen Birgit Schneider (Hg.) 2005. 144 S., 8 Farb- und 58 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004120-9 3,2: Digitale Form Margarete Pratschke (Hg.) 2005. 104 S., 16 Farb- und 93 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004184-1 4,1: Farbstrategien Vera Dünkel (Hg.) 2006. 104 S., 85 Farb- und 29 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004228-2 4,2: Bilder ohne Betrachter Matthias Bruhn (Hg.) 2006. 120 S., 11 Farb- und 92 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004286-2 5,1: Systemische Räume Gabriele Werner (Hg.) 2007. 100 S., 9 Farb- und 49 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004354-8 5,2: Imagination des Himmels Franziska Brons (Hg.) 2007. 112 S., 22 Farb- und 87 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004362-3 6,1: Ikonografie des Gehirns Matthias Bruhn (Hg.) 2008. 136 S., 21 Farb- und 95 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004463-7 6,2: Grenzbilder Angela Fischel (Hg.) 2008. 120 S., 12 Farb- und 88 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-004530-6

9,1: Präparate Jutta Helbig (Hg.) 2012. 120 S., 21 Farb- und 98 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-005088-1 9,2: Morphologien Matthias Bruhn, Gerhard Scholtz (Hg.) 2013. 152 S., 85 Farb- und 66 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-006026-2 10,1: Ereignisorte des Politischen Gabriele Werner, Philipp Ruch (Hg.) 2013. 112 S., 12 Farb- und 104 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-05-006028-6 10,2: Bild, Ton, Rhythmus Yasuhiro Sakamoto, Reinhart Meyer-Kalkus (Hg.) 2014. 130 S., 39 Farb- und 65 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-11-040091-5 11: Planbilder Sara Hillnhütter (Hg.) 2015. 116 S., 55 Farb- und 56 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-11-043888-8 12: Image Guidance Kathrin Friedrich, Moritz Queisner, Anna Roethe (Hg.) 2016. 108 S., 77 Farb- und 54 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-11-045794-0 13: Spuren Bettina Bock von Wülfingen (Hg.) 2017. 112 S., 87 Farb- und 38 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-11-047650-7

Bildwelten des Wissens Herausgegeben von: Claudia Blümle, Horst Bredekamp und Matthias Bruhn

Im Filmbild wird Imagination technisch verwirklicht und visuell erfahrbar. Ausgehend von dieser Prämisse, diskutiert Scientific Fiction das für den Film konstitutive Zusammenkommen scheinbar divergierender Denkkollektive. In den Blickpunkt rücken dabei wissenschaftliche und technische Fakten, die die Produktion von Blockbustern beeinflussen, aber auch das epistemische Potenzial der konkret gewordenen Fiktion von Bewegtbildern in den Wissen­ schaften. Die versammelten Beiträge widmen sich historischen und zeitgenössi­ schen Fallbeispielen. Sie zeigen, dass sich im bewegten Inszenieren des Films sein spezifisches Verzauberungspotenzial wie sein Veranschaulichungsver­ mögen ebenso begründet wie seine Fähigkeit, Fakt und Fiktion überzeugend zu realisieren.

9 783110 563344

ISBN 978-3-11-056334-4

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