Besitzer und Leser Simplicianischer Schriften. Vom unvergleichlichen Wert einer Grimmelshausen-Bibliographie 8862279361, 9788862279369

Italo Michele Battafarano e Hildegard Eilert hanno descritto nella loro bibliografia le edizioni barocche e moderne dell

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Besitzer und Leser Simplicianischer Schriften. Vom unvergleichlichen Wert einer Grimmelshausen-Bibliographie
 8862279361, 9788862279369

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NUOVI SAGGI * 119.

BESITZER UND LESER SIMPLICIANISCHER SCHRIFTEN Vom unvergleichlichen Wert einer Grimmelshausen-Bibliographie ALBERTO MARTINO

PISA · ROMA F AB R I Z I O S E R R A ED I T ORE M M X VI I

Originalfassung des in Daphnis (Jg. 43/2 – 2015 –, S. 503-591) erschienenen Aufsatzes. * A norma del codice civile italiano, è vietata la riproduzione, totale o parziale (compresi estratti, ecc.), di questa pubblicazione in qualsiasi forma e versione (comprese bozze, ecc.), originale o derivata, e con qualsiasi mezzo a stampa o internet (compresi siti web personali e istituzionali, academia.edu, ecc.), elettronico, digitale, meccanico, per mezzo di fotocopie, pdf, microfilm, film, scanner o altro, senza il permesso scritto della casa editrice. Under Italian civil law this publication cannot be reproduced, wholly or in part (included prints, etc.), in any form (included proofs, etc.), original or derived, or by any means: print, internet (included personal and institutional web sites, academia.edu, etc.), electronic, digital, mechanical, including photocopy, pdf, microfilm, film, scanner or any other medium, without permission in writing from the publisher. * Proprietà riservata · All rights reserved © Copyright 2017 by Fabrizio Serra editore, Pisa · Roma. Fabrizio Serra editore incorporates the Imprints Accademia editoriale, Edizioni dell’Ateneo, Fabrizio Serra editore, Giardini editori e stampatori in Pisa, Gruppo editoriale internazionale and Istituti editoriali e poligrafici internazionali. www.libraweb.net Uffici di Pisa: Via Santa Bibbiana 28, I 56127 Pisa, tel. +39 050542332, fax +39 050574888, [email protected] Uffici di Roma: Via Carlo Emanuele I 48, I 00185 Roma, tel. +39 0670493456, fax +39 0670476605, [email protected] * Stampato in Italia · Printed in Italy i sbn (br ossu r a) 9 78- 88- 6227- 9 3 6- 9 e-i sbn 978- 8 8- 6227- 9 3 7- 6

Für Alessandro Alberto

Italo Michele Battafarano – Hildegard Eilert: Planet Grimmelshausen. Beschreibende Bibliographie der Werke 1666-2010. Taranto: Scorpione Editrice 2012 (Pegaso. Saggi e Testi di Cultura Europea, 3), 928 S.

D

zu besprechende Bibliographie stellt die Krönung einer fast vierzigjährigen Beschäftigung mit Grimmelshausen und den Ausgaben seiner Werke dar. Im Jahre 1975 wurde der erste Versuch einer umfassenden Bibliographie veröπentlicht, die – entsprechend der damaligen Forschungssituation – die Werke Grimmelshausens (die barocken Editionen und die Neueditionen) erfaßte, die Forschung dokumentierte und eine Darstellung der Wirkungsgeschichte erstmals zusammenhängend bot. 1 Jahrzehnte später, im Jahre 2008, erschien das Buch Probleme der Grimmelshausen-Bibliographie, in dem sich Italo Michele Battafarano und Hildegard Eilert mit den strittigen Fragen der Autor- und Verlegerschaft auseinandersetzten. 2 Die Autoren konnten beweisen, daß Manfred Koschligs These eines Bruchs von Grimmelshausen mit seinem Verleger Wolf Eberhard Felsecker 3 nicht zu halten ist. 4 Der von Manfred Koschlig als neuer Verleger angenommene Georg Andreas Dollhopf erschien auf Grund seines Verlagsprogramms, seiner Druckqualität und seiner Kommissionskataloge ebenfalls fragwürdig. 5 So vermuteten Italo Michele Battafarano und Hildegard Eilert für die nachweislich nicht bei Felsecker gedruckten Werke einen anderen Drucker oder Verleger, der – wie Georg Andreas Dollhopf – im Straßburger Raum tätig war. Es war vor allem die Entstehungs- und Druckgeschichte des ie











1   Italo Michele Battafarano: Grimmelshausen-Bibliographie 1666-1972. Werk – Forschung – Wirkungsgeschichte. Unter Mitarbeit von Hildegard Eilert (= Quaderni degli Annali dell’Istituto Universitario Orientale. Sezione Germanica, 9). Napoli: Istituto Universitario Orientale 1975. 2   Italo Michele Battafarano / Hildegard Eilert: Probleme der Grimmelshausen-Bibliographie. Mit Beispielen der Rezeption (= Testi e Ricerche di Germanistica, 3. Labirinti 113). Trento: Dipartimento di Studi Letterari, Linguistici e Filologici 2008. 3   Manfred Koschlig: Grimmelshausen und seine Verleger. Untersuchungen über die Chronologie seiner Schriften und den Echtheitscharakter der frühen Ausgaben (= Palaestra, 218). Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft 1939. – Manfred Koschlig: Das Ingenium Grimmelshausens und das >KollektivKönigs aller deutschen LeihbibliothekenLiteratur-Instituts< Last und ihre Lektüre im Jahre 1958. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 11 (1986), 115-148. – A. Martino: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914). Wiesbaden: Harrassowitz 1990. – Raimund Kast: Der deutsche Leihbuchhandel und seine Organisationen im 20. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 36 (1991), 165-349. – Thomas Sirges: Die Bedeutung der Leihbibliothek für die Lesekultur in Hessen-Kassel 1753-1866 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 42). Tübingen: Max Niemeyer 1994. – Thomas Sirges: Leihbibliothekskataloge aus HessenKassel. Quellen zur populären Lesekultur und Bildungsgeschichte im 18. und 19. Jahrhundert (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 72). Tübingen: Max Niemeyer 1999. – Johannes Frimmel: Lektüre in Budapest im 19. Jahrhundert. Eine Untersuchung anhand von Leihbibliothekskatalogen mit bibliographischen Ergänzungen zu dem Verzeichnis der erhaltenen Leihbibliothekskataloge von Georg Jäger und Alberto Martino. In: Fremde Kulturen, vertraute Welten – ein Leben für die Komparatistik. Festschrift für Alberto Martino überreicht von seinen Schülerinnen und Schülern. Hrsg. von Ernst Grabovszki, Stefan Kutzenberger und Philipp Wascher (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, 143). Berlin: Weidler 2011, S. 549-613. – Heinz-Jürgen Krause: Zur Frühgeschichte kommerzieller Leihbibliotheken in München (1772-1849). In: Fremde Kulturen, vertraute Welten – ein Leben für die Komparatistik, S. 615-746.

18 alberto martino entdeckte ich in der Neunzehnten Fortsetzung des Hauptverzeichnisses der deutschen Bücher (Braunschweig 1849) auf Seite 1202 folgende Eintragung: «Der Abenteuerliche Simplicius-Simplicissimus, das ist ausführliche, unerdichtete und sehr merkwürdige Lebensbeschreibung eines einfältigen, wunderlichen und seltsamen Menschen, Melchior Sternfels von Fuchsheim, wie er seine Jugend in Spessart verlebt, dann im 30jährigen Kriege gar denkwürdige und bunte Schicksale gehabt, vielerlei Noth, Leiden und Lebensgefahr ausgestanden, aber endlich noch manchen frohen Tag genossen. 6 Thle in 3 Bdn. 848».

Diese von Oskar Ludwig Bernhard Wolπ herausgegebene und bei dem Leipziger Verlag Otto Wigand erschienene Bearbeitung, die auf die Ausgabe des Simplicissimus mit drei Continuationen und der Arzt-Zugabe vom Jahre 1671 basiert und sieben Auflagen erfahren sollte, 11 wurde gleich nach ihrer Veröπentlichung (1848) angeschaπt! Nur wenn von einer Leihbibliothek die vollständige Serie der Hauptkataloge und ihrer Nachträge bzw. Fortsetzungen verfügbar ist, kann man eine fundierte Behauptung aufstellen. Vollständige Serien sind aber in sehr seltenen Fällen überliefert worden. Außerdem enthält meine Sammlung nicht alle existenten Leihbibliothekskataloge. 12 In der oben erstellten Liste der Leihbibliotheken, die ihren Lesern in der Zeit der ‚zweiten Leserevolution’ Simplicius und manchmal auch die Simplicianischen Schriften angeboten haben, fällt auf, daß ihre Kataloge erst ab Ende der 70er Jahre diese Werke enthalten. So, zum Beispiel, stellt ihren Kunden eine Wiener Leihbibliothek dieses Zeitraumes erst im Jahre 1884 den Simplicius Simplicissimus zur Verfügung. Aber schon viele Jahre vor der J. Hesky’schen Leihbibliothek und zwar im Jahre 1858 hatte die Leihbibliothek von Georg Draudt das Werk in ihren Katalog aufgenommen. 13 Die aus der Auswertung der Leihbibliothekskataloge gewonnenen Daten resultieren häufig, wie schon angedeutet, aus Zufälligkeiten und sind daher nur in begrenztem Maße statistisch repräsentativ. Es ist schließlich anzumerken, daß zahlreiche Leihbibliotheken mehrere Exemplare von einem und demselben Werk erwarben. So, zum Beispiel, kaufte das Wiener Literatur-Institut E. Last 10 bis 300, manchmal 400-900 Exemplare von den belletristischen Neuigkeiten; die Anschaπungen des Berliner Fritz Borstells Lesezirkels waren noch höher (gewöhnlich 100-200, häufig 600-3.000 Exempla 





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  Vgl. Planet Grimmelshausen, S. 698-701.   So haben – zum Beispiel – Thomas Sirges (Die Bedeutung der Leihbibliothek für die Lesekultur in Hessen-Kassel 1753-1866. – Leihbibliothekskataloge aus Hessen-Kassel) und Johannes Frimmel (Lektüre in Budapest im 19. Jahrhundert) Kataloge entdeckt, die ich und Georg Jäger nicht gefunden hatten. 13  Haupt-Catalog der Leih-Bibliothek von Georg Draudt in Wien, Wieden, Adlergasse Nr. 1025. Wien. Ende 1858, S. 287 («Simplicius, Simplicissimus, der abenteuerliche. 3 Bände. Leipzig 1848.»). 12

besitzer und leser simplicianisher schriften 19 re). Nicht nur das Literatur-Institut E. Last, die bedeutendste und vornehmste Leihbibliothek des habsburgischen Reiches, 14 und der Fritz Borstells Lesezirkel, die größte Leseanstalt des deutschen Sprachraums (600.000 Bände), 15 stellten viele Exemplare von einem und demselben Werk auf. Auch Leseanstalten mittlerer Größe (Bestand 26.000 Bände) kauften mehrere Exemplare eines Werkes. Die erwähnte Braunschweiger Leihbibliothek des Buchhändlers G. C. E. Meyer besaß 2 bis 6 Exemplare der erfolgreichen bzw. erfolgversprechenden Werke. Die Verleger wußten, daß die Romane fast nur von den Leihbibliotheken gekauft wurden, und die Leihbibliothekare waren sich ihrer monopolartigen Stellung als fast alleinige Käufer und Verbreiter der Belletristik durchaus bewußt. Der Erfolg eines Werkes wurde an der Intensität der Nachfrage in den Leihbibliotheken gemessen. 16 Wie viele Exemplare des Simplicius Simplicissimus und der Simplicianischen Schriften die oben aufgelisteten Leihbibliotheken erworben hatten, wissen wir nicht. Es ist aber anzunehmen, daß einige Leseanstalten – mit Sicherheit die größten und elegantsten, wie das Literatur-Institut E. Last und der Fritz Borstells Lesezirkel, die ihren feinen und gebildeten Abonnenten immer einwandfreie und frische Bücher anbieten wollten – viele Exemplare der Ausgaben des simplicianischen Zyklus angeschaπt hatten. Auch in den Vereinsbibliotheken waren häufig der Simplicius Simplicissimus und gelegentlich auch eine Ausgabe der Simplicianischen Schriften vertreten. In Katalogen der Wiener Vereinsbibliotheken waren – zum Beispiel – folgende Werke verzeichnet:  





Katalog der Bibliothek des Wiener Kaufmännischen Vereines. Wien. Im Selbstverlag des Vereines 1906, S. 46 («Grimmelshausen Hans J. Chr. v.: Der abenteuerliche Simplizissimus»). Zentral-Bibliothek der Arbeiter-Organisationen des Bezirkes Ottakring: Verzeichnis der Bücher. [Wien 1913], S. 11 («Grimmelshausen H. J.: Der abenteuerliche Simplicissimus»). Verein „Zentral-Bibliothek“ in Wien. Zentrale: Eduard Reyer-Bibliothek, Wien I, Tuchlauben 13: Katalog für Schöne Literatur. 7. Auflage. 1916. Verlag des Vereines 14   Vgl. Alberto Martino: Lektüre in Wien um die Jahrhundertwende (1889-1914). In: Buchhandel und Literatur. Festschrift für Herbert G. Göpfert zum 75. Geburtstag am 22. September 1982. Hrsg. v. Reinhard Wittmann und Bertold Hack (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, 20). Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1982, S. 314-394; hier S. 317-319, 326-329, 331-341. – Alberto Martino: Albert Last. In: Neue Deutsche Biographie, 13. Band. Berlin 1982, S. 682-683. 15   Vgl. Julius Rodenberg: Die Nicolaische Buchhandlung. In: Beiträge zur Kulturgeschichte von Berlin. Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Korporation der Berliner Buchhändler. (1. November 1898.) Berlin: Verlag der Korporation der Berliner Buchhändler 1898, S. 220-246. 16   Vgl. A. Martino: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914), S. 629-635.

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„Zentral-Bibliothek“, S. 217 («Grimmelshausen, Hans Jakob Christoπ v.: Der abenteuerliche Simplicius Simplicissimus. 4 Bde. – Simplizianische Schriften: 1. Die Landstreicherin Courage. 2. Der Seltsame Springinsfeld»). 17  

Die Verbreitung des Simplicissimus wurde gleichfalls von den Volksbibliotheken, den Volksschriftenvereinen, den Volksbildungsvereinen und von den Volksschriftenverlagen gefördert. 18 So – zum Beispiel – bot ihren Lesern die Bücherei des Volksbildungsvereins Butzbach die von dem Bremer Nordwestdeutschen Volksschriften-Verlag veröπentlichte Simplicissimus-Bearbeitung von Elard Hugo Meyer an. 19 Auch die Werksbibliotheken trugen zur Rezeption des Simplicissimus bei. Die Angestellten und die Arbeiter der Sprengkapselfabrik Dömitz konnten – zum Beispiel – aus der werkeigenen Bücherei die von Philipp Lenz herausgegebene Simplicissimus-Ausgabe der von Anton Philipp Reclam 1867 gegründeten Universal-Bibliothek entleihen. 20  





17   Über die Wiener Arbeiterbibliotheken vgl. Dieter Langewiesche: Zur Freizeit des Arbeiters. Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik (= Industrielle Welt, 29). Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 92-248. – Alfred Pfoser: Literatur und Austromarxismus. Wien: Locker Verlag 1980, S. 85-92. – A. Martino: Lektüre in Wien um die Jahrhundertwende (1889-1914), S. 374-394. Zu den Arbeiterbibliotheken in Deutschland vgl. Dieter Langewiesche / Klaus Schönhoven: Arbeiterbibliotheken und Arbeiterlektüre im Wilhelminischen Deutschland. In: Archiv für Sozialgeschichte 16 (1976), 135-204. – Horst Gebauer: Arbeiterbibliotheken in Leipzig. In: Leihbibliotheken, Arbeiterbibliotheken, Bücherhallen. Bibliothekarische Bemühungen um die Volksbildung vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1933. Herausgegeben anläßlich des Jubiläums 75 Jahre städtisches Bibliothekswesen in Leipzig (= Zur Geschichte der Staatlichen Allgemeinbibliotheken im Bezirk Leipzig, Heft 1). Leipzig: Stadt- und Bezirksbibliothek Leipzig 1989, S. 31-44. 18   Über Volksbibliotheken, Volksschriftenvereine,Volksbildungsvereine und Volksschriftenverlage vgl. Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoπe 1770-1910 (= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, 5). Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1970, S. 221-227. – Horst Dräger: Die Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung. Eine historisch-problemgeschichtliche Darstellung von 1871-1914. Stuttgart: Klett 1975. – Michael Knoche: Volksliteratur und Volksschriftenvereine im Vormärz. Literaturtheoretische und institutionelle Aspekte einer literarischern Bewegung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 27 (1986), 1-130. 19   Ulrich Hain - Jörg Schilling: Katalog der Sammlung „Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts“ in der Univ. Bibl. Giessen. Hrsg. von Hermann Schüling (= Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek Giessen, 20). Giessen: Universitätsbibliothek 1970, S. 129 («Grimmelshausen, Hans Jakob Christoπel: Der abenteuerliche Simplicius Simplicissimus. Lebensbild. Aus dem 30jährigen Kriege. Frei bearb. von Elard Hugo Meyer. 3. Aufl. Bremen: Nordwestdt. Volksschriften-Verl. [um 1878]. 194 S. 8»). Zu dieser Ausgabe und zu Elard Hugo Meyer vgl. Planet Grimmelshausen, S. 665-666, 880. 20   Der abenteuerliche Simplicissimus von Hans Jacob Christoπels von Grimmelshausen. Herausgegeben von Philipp Lenz. Leipzig: Druck und Verlag von Philipp Reclam jun. [1912]. Stempelaufdruck auf der Rückseite des braunen Bibliothekseinbandes (Kaliko): «Sprengkapselfabrik Dömitz» (Privatbibliothek Battafarano / Eilert). Auch die Berliner Bibliothek August Scherl (Ein neuer Weg zu guten Büchern. Zweite Folge), deren Bände „nach freier Wahl ausgeliehen“ werden konnten, enthielt eine Ausgabe des Simplicissimus: Der abenteuerliche Simplicissimus. Roman von H. J. Christoπel v. Grimmelshausen. Bearbeitet von Guido Höller. Verlag von Hermann & Friedrich Schaπstein in Köln a. Rhein. Druck von August Scherl in Berlin [1909]. Vgl.

besitzer und leser simplicianisher schriften 21 Die Aufnahme des Simplicius Simplicissimus in das Handbuch für Leihbibliothekare (1888) 21 hatte sicher einige Leihbibliotheken der Jahrhundertwende veranlaßt, das Buch anzuschaπen. Ab Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts wird auch die Aufnahme des Simplicius Simplicissimus und der Simplicianischen Schriften in die Liste der empfehlenswerten Bücher des Literarischen Ratgebers des Dürerbundes (1908) 22 ihre Verbreitung und ihre erstmalige Anschaπung bzw. die Erwerbung von neuen Ausgaben seitens der Leihbüchereien 23 und der Vereinsbibliotheken fördern.  





Planet Grimmelshausen, S. 733, Nr. 345. August Hugo Friedrich Scherl (1849 Düsseldorf-1921 Berlin) druckte zunächst Kolportageromane im Verlag Duster & Co. in Köln. Anfang der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts übersiedelte er nach Berlin, wor er einen Presse- und Buchverlag gründete. Er gab den Berliner Lokal-Anzeiger als eine kostenlose Zeitung heraus, die sich über Inserate finanzierte und Nachrichten aus aller Welt sowie Romane in Fortsetzungen enthielt. 1895 brachte er das erste Berliner Adreßbuch heraus. Seit 1899 verlegte August Scherl Illustrierte, Zeitungen und Zeitschriften: Die Woche, Der Tag, Vom Fels zum Meer, Die Gartenlaube, Sport im Bild, Praktischer Wegweiser, Hamburger Correspondent, Hamburger Börsenhalle, Allgemeine Sportzeitung. 1909 gründete er außerdem eine der erfolgreichsten Leihbibliotheken in Berlin. 21   Vgl. Titel-Verzeichnis der neuen erzählenden und volkstümlich-wissenschaftlichen Werke in deutscher Sprache, nach den Schlagwörtern alphabetisch geordnet. Ein Handbuch für Leihbibliothekare, Sortimenter und Antiquare, sowie für Schriftsteller und Bücherfreunde. Bearbeitet von August Reher. Erster Halbband: A bis K [Zweiter Halbband: L bis Z]. Zweite Auflage. Altona: A. C. Reher 1888; hier II, S. 405 («Simplicissimus, 8., der abenteuerliche, Grimmelsh., Brockh., M. 7; L. Oehmigke, M. 2.50; Speman, M 2; O. Wigand M. 4.50. – dass., für die Jugend von Lauckhard, A. Oehmigke M 4.50.»). 22   Vgl. Literarischer Ratgeber des Dürerbundes. Begründet von Ferdinand Avenarius. Geleitet und in Verbindung mit zahlreichen Gelehrten und Sachverständigen zum fünften Male bearbeitet von Wolfgang Schumann. Bedeutend erweiterte fünfte Auflage. München: Verlag Georg D. W. Callwey 1919, Sp. 20 [«Grimmelshausen, Simplicissimus (H. N.) geh. 4.20. – – bei Cotta, Bong u. Insel 2. – bis 8. – Simplicianische Schriften (M. Möricke, M.) 4.50. – – (Insel-Verl.) 40.»]. Der Dürerbund veröπentlichte auch eine eigene Teilausgabe des Simplicissimus: H. J. Ch. Grimmelshausen: Der Jäger von Soest. München: Georg D. W. Callwey [1910], 78 S. mit 8 Abb. (= Der Schatzgräber 10. Hrsg. vom Dürerbund). Vgl. Planet Grimmelshausen, S. 662, Nr. 180. Zum Dürerbund vgl. Gerhard Kratsch: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969. Der Kunstwart hatte Grimmelshausen schon 1904 seine Aufmerksamkeit gewidmet (18, 11 [1904], Lose Blätter). 23   In dem eleganten Katalog aus dem Jahre 1914 der sehr anspruchsvollen Kölner Leihbibliothek von Leonhard Tietz, in der auch die zeitgenössische europäische Literatur gut vertreten war, war – zum Beispiel – der «Simplicius Simplicissimus ... 2 Mark» verzeichnet. Vgl. Leihbibliothek Tietz, Köln. Werke in deutscher, englischer, französischer, holländischer, italienischer und spanischer Sprache. 1914, S. 100. Der Fritz Borstells Lesezirkel, der schon Grimmelshausens Werke in älteren Ausgaben besaß, erwarb in den Jahren 1909-1912 folgende neue Ausgaben: «Grimmelshausen, Joh. Jak. Christoph von: Die Landstreicherin Courage. Hrsg. von Ernst Arnold. Stuttgart 1909. – Der abenteuerliche Simplicissimus. 3 Bde. Mit Abbildungen. Leipzig 1909. – Der seltsame Springinsfeld. Hrsg. von Ernst Arnold. 2. Aufl. Stuttgart 1909». Vgl. Nicolaische Buchhandlung Borstell & Reimarus. Nachtrag zum Haupzverzeichnis von Fritz Borstells Lesezirkel. Unterhaltungsschriften und Werke wissenschaftlicher Richtung in deutscher, französischer, englischer und italienischer Sprache. 1907-1912. Berlin 1912. Haupt-Geschäft: NW. Dorotheen-Straße 62. – Zweig-Geschäft: W. Potsdamer Straße 123 b., S. 60.

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Das von I. M. Battafarano und H. Eilert erstellte Verzeichnis der Schul- und Jugendausgaben, der Feldpostausgaben und der illustrierten Ausgaben des Simplicius Simplicissimus eröπnet die Gelegenheit, den Beitrag zu untersuchen, die sie zur Popularisierung des Romans und zur Beeinflussung seiner Rezeption geleistet haben. (Die Veröπentlichung der Illustrationen, Zeugnisse der Interpretation der Werke Grimmelshausens durch die Illustratoren und ihrerseits nicht unwesentliche prägende Faktoren der Rezeption der Werke durch die Leser, in einem monographischen ikonographischen Band – so wie es, zum Beispiel, mit der Iconografía de Don Quijote schon im 19. Jahrhundert geschehen ist 24 – wäre sehr wünschenswert. 25)  



24   Vgl. Francisco López Fabra: Iconografía de Don Quijote. Barcelona: Imprenta y librería religiosa y científica del Heredero de D. Pablo Riera 1879. Vor wenigen Jahren erschien das Buch: Imágenes del Quijote. Modelos de representación en las ediciones de los siglos XVII a XIX. Eds. P. Lenaghan, J. Blas y J. M. Matilla. The Hispanic Society of America, Museo Nacional del Prado, Real Academia de Bellas Artes de San Fernando y Calcografía Nacional, Madrid, 2003. 25  Schon am Beginn des vorigen Jahrhunderts hob Jan Hendrik Scholte die Bedeutung der Illustrationen der Werke Grimmelshausens hervor. Vgl. J. H. Scholte: Grimmelshausen und die Illustrationen seiner Werke [1912]. In: J. H. Scholte: Der Simplicissimus und sein Dichter. Tübingen: Niemeyer 1950, S. 219-264. Peter Heßelmann hat Ende desselben Jahrhunderts versucht, die Hauptmerkmale und die Funktion der als Rezeptionszeugnisse betrachteten Textillustrationen der Gesamtausgaben zu bestimmen, und die 57 Kupferstiche der ersten Gesamtausgabe im Anhang zu seiner ausgezeichneten Monographie über die Rezeptionsgeschichte Grimmelshausens reproduziert. Vgl. Peter Heßelmann: Simplicissimus redivivus. Eine kommentierte Dokumentation der Rezeptionsgeschichte Grimmelshausens im 17. und 18. Jahrhundert (1667-1800). Frankfurt: Klostermann 1992 (= Das Abendland. Neue Folge, 20), S. 117-130. Vgl. außerdem Gisela Noehles: Text und Bild. Untersuchungen zu den Kupferstichen von 1671 und den Nachbarocken Illustrationen zu Grimmelshausen. In: Daphnis 5 (1976), 595633. – Manfred Sestendrup: Die Illustrationen des »Barock-Simplicissimus«. In: Simplicius Simplicissimus. Grimmelshausen und seine Zeit. [Ausstellungskatalog.] Münster: Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1976, S. 103-107. – Thomas Bürger - Gisela Noehles: Spätere Ausgaben und Übersetzungen. In: Simplicius Simplicissimus. Grimmelshausen und seine Zeit, S. 235-256. – Manfred Sestendrup: Das Medaillonkupfer und die Textillustrationen des sogenannten „Barock-Simplicissimus“ von Grimmelshausen. Studien zur Urheberschaft, Editionsgeschichte und Echtheitsfrage nebst Abbildungen aller 20 Textillustrationen. Münster 1977. Herstellung: Universitäts-Buchdruckerei Joh. Burlage, Münster (= Ein Hundertdruck. Im Selbstverlag). – Christian Juranek: Künstler illustrieren Grimmelshausen. Eine Bibliographie. In: Simplicissimus heute. Ein barocker Schelm in der Kunst des 20. Jahrhunderts. [Ausstellung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Präsidialabteilung der Stadt Zürich. Ausstellung und Katalog: Martin Bircher u. Christian Juranek.] Wolfenbüttel 1990 (= Malerbuchkataloge der Herzog August Bibliothek), S. 113-139. – „Benebenst feinen und neu-inventirten Kupπer-Stücken“. Die Illustrationen der posthumen Grimmelshausen-Gesamtausgabe (1683-1713). Herausgegeben und eingeleitet von Ruprecht Wimmer (= Sondergabe für die Mitglieder der Grimmelshausen-Gesellschaft, V). Augsburg: Pröll Druck und Verlag 1992. – Rosmarie Zeller: Blick und Gegenblick. Die Illustrationen der Simplicissimus-Ausgabe von 1671. In: Simpliciana 32 (2010), 137-158. – Daniel Langner: Lustige Wahrheit. Das ‚gekoppelte Titul-Kupπer’ der posthumen Grimmelshausen-Ausgabe von 1683/1684. In: Simpliciana

besitzer und leser simplicianisher schriften 23 Dank einer genialen Innovation ist Planet Grimmelshausen zu einer in ihrer Art unvergleichlichen Bibliographie und zu der wertvollsten Grundlage für die Erforschung der Aufnahme Grimmelshausens in der Barock- und Aufklärungszeit geworden. Es wurde schon erwähnt, daß Italo Michele Battafarano und Hildegard Eilert der traditionellen Beschreibung der einzelnen Werke und der Gesamtausgaben die Angaben über die Besitzer der zahlreichen Barockexemplare hinzugefügt haben, die aufgrund handschriftlicher Eintragungen, sonstiger Besitzvermerke und anderer Dokumente und Quellen eruiert werden konnten. Die Bibliographen haben nicht nur die Namen der Besitzer verzeichnet, sondern, soweit es möglich war, auch ihre wichtigeren biographischen Daten ermittelt und die Umstände des Erwerbes der Bücher erläutert. Auf diese Weise haben sie einen für die historische Leserforschung der Barockzeit und für die Rezeptionsgeschichte des bedeutendsten Autors der deutschen Barockliteratur reichen Fundus von kostbaren Informationen geschaπen. Der Barockforscher kann dank der von diesem Fundus zur Verfügung gestellten Daten aufschlußreiche Einblicke in die Lesepräferenzen und in die soziologische Zusammensetzung des Lesepublikums gewinnen. Er kann verifizieren, ob diese Daten die Erkenntnisse der historischen Leserforschung über die ausschließliche Rolle der elitären Schichten der Gesellschaft als Adressaten, Träger und Konsumenten der schönen Literatur 26 bestätigen oder ob sie eine gewisse, durch die Spezifität des simplicianischen Zyklus bewirkte Ausdehnung und Diπerenzierung des Lesepublikums feststellen lassen. Er kann schließlich überprüfen, ob verschiedenartige Gattungen wie – zum Beispiel – die novela picaresca und der ‚höfische Roman’ zu unterschiedlichen sozialen Schichten oder Lesergruppen zuzuordnen sind. Man könnte einwenden, daß der Besitz von Büchern nicht identisch mit ihrer Lektüre ist. Die Erwerbung eines Buches beweist aber mindestens das Interesse des Käufers für das Buch. Man könnte außerdem den Einwand vorbringen, daß der Buchbesitz und die literarischen Präferenzen von Fürsten, Adligen, Patriziern und Gelehrten durch Bibliotheksbestände, 27 hand 



32 (2010), 159-194. – Rosmarie Zeller: Weitere Originalzeichnungen zu den Kupferstichen der ersten posthumen Grimmelshausen-Ausgabe (1683/1684). In: Simpliciana 32 (2010), 427-434. – Christian Hausknecht: Illustrierte Grimmelshausen-Ausgaben seit 1900. Eine Bibliographie. In: Simpliciana 33 (2011), 357-379. 26   Vgl. Alberto Martino: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1 (1976), 107-145. – Alberto Martino: Daniel Casper von Lohenstein. Geschichte seiner Rezeption. Band I. 1661-1800. Aus dem Italienischen von Heribert Streicher. Tübingen: Niemeyer 1978, S. 28174. 27   Vgl. – zum Beispiel – Guenther Schuhmann: Ansbacher Bibliotheken vom Mittelalter bis 1806. Ein Beitrag zur Kultur- und Geistesgeschichte Frankens. Diss. Erlangen 1947 (Blatt 96 des Typoskriptes: der Markgraf Johann Friedrich von Ansbach – 1654-1686 – besaß den

24 alberto martino schriftliche und gedruckte Bücherkataloge, 28 Vermögensverzeichnisse und Nachlaßinventare, 29 Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse, 30 Exlibris und handschriftliche Einträge in Büchern, 31 Briefwechsel, 32 Memoiren,  









Simplicissimus, Vogelnest I und andere Werke Grimmelshausens). – Paul Gehring: Prinz Ludwig von Württemberg: seine Bibliothek und ihre Teilung zwischen den Universitätsbibliotheken zu Halle und Tübingen 1701. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 41 (1924), 505-531, 565-580 (vorhanden in der Bibliothek des Prinzen „ein Grimmelshausen“). – Gottlieb Jacob: Heinrich, Herzog von Römhild 1676-1710. Lebens-, Charakter- und Zeitbild (= Schriften des Vereins für Sachsen-Meiningische Geschichte u. Landeskunde. 21. Heft). Hildburghausen 1896, S. 97 (der Herzog besaß einen Simplicissimus). – Otto Brünner: Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688. Salzburg: Otto Müller 1949, S. 139-176, S. 353-354 (Liste von 13 Katalogen adeliger Büchereien aus Nieder- und Oberösterreich). – Otto Brunner: Österreichische Adelsbibliotheken des 15. bis 18. Jahrhunderts als geistesgeschichtliche Quelle. In: O. B.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Zweite, vermehrte Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968, S. 281-293. 28  Vgl. Paul Raabe: Bibliotheksgeschichte und historische Leserforschung. Anmerkungen zu einem Forschungsthema. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte VII/1-2 (1982), 433-440. – Reinhard Wittmann: Bücherkataloge des 16.-18. Jahrhunderts als Quellen der Buchgeschichte. Eine Einführung. In: Bücherkataloge als buchgeschichtliche Quellen in der frühen Neuzeit. Referate des 6. Jahrestreπens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens vom 21.-23. Oktober 1982 in der Herzog August Bibliothek. Hrsg. v. R. W. (= Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 10). Wiesbaden: Harrassowitz 1985, S. 7-17. 29   Vgl. – zum Beispiel – Laurenz Pröll: Ein Blick in das Hauswesen eines österreichischen Landedelmannes aus dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts (= XXXIX Jahresbericht über das K. K. Staatsgymnasium im VIII. Bezirke Wiens für das Schuljahr 1889). Wien: Selbstverlag des K. K. Staatsgymnasiums im VIII. Bezirke, S. 1-47 (Bibliotheken von Erasmus von Roedern und Wolf von Oedt). – Eva Pleticha: Adel und Buch. Studien zur Geisteswelt des fränkischen Adels am Beispiel seiner Bibliotheken vom 15. bis zum 18. Jahrhundert (= Veröπentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte. Reihe X. Band 33). Neustadt a. d. Aisch: Kommissionsverlag Degener & Co. 1983. 30  Vgl. Reinhard Wittmann: Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse als lesersoziologische Quellen. In: Buch und Leser. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert (= Schriften des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens, 1). Hamburg: Hauswedell 1977, S. 125-159. Vgl. außerdem die erweiterte Fassung des Aufsatzes mit dem leicht geändertem Titel Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse als Quellen zur Lesergeschichte in: Reinhard Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750-1880 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 6). Tübingen: Niemeyer 1982, S. 46-68. 31   Aus den Exlibris von in der Landesbibliothek Coburg vorhandenen Exemplaren weiß man – zum Beispiel –, daß Herzog Albrecht von Sachsen-Coburg (1648-1699), Bruder des Herzogs Heinrich von Römhild, die Courage, das Rathstübel Plutonis und das Galgen-Männlin besaß. Vgl. Peter Heßelmann: Grimmelshausen – „gesellschaftlich alleingelassen“? Auf den Spuren seiner Gönner und Leser im 17. Jahrhundert. In: Simpliciana 8 (1986), 51-70; hier S. 60. – Hans Dieter Gebauer: Grimmelshausens Bauerndarstellung. Literarische Sozialkritik und ihr Publikum (= Marburger Beiträge zur Germanistik, 53). Marburg: Elwert 1977, S. 451. – P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 267. 32   Vgl. – zum Beispiel –: Briefwechsel der Herzogin Sophie von Hannover mit ihrem Bruder, dem Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz, und des Letzteren mit seiner Schwägerin, der Pfalzgräfin Anna. Hrsg. von Eduard Bodemann (= Publikationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven, 26). Leipzig: Hirzel 1885, S. 152-154, 155-156. – Leibnizens Briefwechsel mit

besitzer und leser simplicianisher schriften 25 34 Tagebücher und Auktionskataloge, Buchhändler- und Buchbinderrechnungen und sonstige Archivalien 35 besser dokumentiert sind als der Buchbesitz und die literarischen Präferenzen einfacher Leute. Die von amtlicher Seite angefertigten Inventurakten, Verpfändungsinventare und Inventare post mortem verzeichnten aber sorgfältig alle Gegenstände – also auch die Bücher –, die in dem Haushalt der Angehörigen des Mittelständes, der unteren Volksschichten und des Bauernstandes vorhanden waren. 36 Auch Konfiska 

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dem Herzoge Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Hrsg. von Eduard Bodemann. In: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen, Jahrgang 1888. Hannover: Hahn’sche Buchhandlung 1888, S. 73-244. – Privatbriefe Kaiser Leopold I. an den Grafen F. E. Pötting 1662-1673. Hrsg. v. Alfred Francis Pribram und Moriz Landwehr von Pragenau (= Fontes Rerum Austriacarum. Zweite Abteilung, LVI-LVII). Wien: In Kommission bei Carl Gerold’s Sohn 1903-1904, 2 Bde. – Der Briefwechsel zwischen Philipp Hainhofer und Herzog August d. J. von Braunschweig-Lüneburg. Bearbeitet von Ronald Gobiet (= Forschungshefte. Hrsg. vom Bayerischen Nationalmuseum München, 8). München: Deutscher Kunstverlag 1984. 33   Vgl. – zum Beispiel – Ferdinand Bonaventura Graf Harrach: Tagebuch über den Aufenthalt in Spanien in den Jahren 1673-1674. Mitgeteilt von Regierungsrat Ferdinand Mencik. Wien: Selbstverlag. In Kommission bei Gerold & Co. 1913. – Diario del Conde de Pötting, embajador del Sacro Imperio en Madrid (1664-1674). Edición de Miguel Nieto Nuño (= Biblioteca Diplomática Española. Sección Fuentes, 1). Madrid: Escuela Diplomática 1990, 2 Bde. – Die Tagebücher des Sigmund von Birken. Bearbeitet von Joachim Kröll (= Veröπentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte. VIII. Reihe. Quellen und Darstellungen zur fränkischen Kunstgeschichte, Bd. 5 u. Bd. 6). Würzburg: Kommissionsverlag Ferdinand Schöningh 19711974, 2 Bde. (Bd. I, S. 496: Eintragung vom 16. September 1669: „H[errn] Gebharden [Johann Gebhard, Buchdrucker und Verleger in Bayreuth] seine 3 Simpliziß[imos] ... gesendet“). Einige Jahre später erhielt Sigmund von Birken einen Brief (27. Januar 1674) von Quirin Moscherosch (er war der Bruder Johann Michael Moscheroschs und wurde als Philander in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen), der sich über den Verleger Felßecker beschwerte und dabei den Simplicissimus und seinen Autor beschimpfte. Vgl. Peter Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 40-41. 34   Über die Auktionskataloge als wichtige Quellen für die Geschichte der Lektüre und für die Erforschung des Buchbesitzes gelehrter Stände vgl. Gerhard Streich: Die Büchersammlungen Göttinger Professoren im 18. Jahrhundert. In: Öπentliche und private Bibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert. Raritätenkammern, Forschungsinstrumente oder Bildungsstätten? Hrsg. v. Paul Raabe (= Wolfenbütteler Forschungen, 2). Bremen und Wolfenbüttel: Jacobi Verlag 1977, S. 241-299. – Hans Dieter Gebauer: Bücherauktionen in Deutschland im 17. Jahrhundert. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1981 (= Bonner Beiträge zur Bibliotheks- und Bücherkunde, 28). – Alberto Martino: [Rez. zu:] Gebauer: Bücherauktionen in Deutschland. 35 In: Arbitrium 1984, S. 50-54.   Vgl. Eva Pleticha: Adel und Buch. 36   Über die Nachlaßinventare als Quellen für die Lese(r)forschung – insbesondere der mittleren und unteren Schichten der Gesellschaft – vgl. Beruf und Buch im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Erfassung und Gliederung der Leserschaft im 18. Jahrhundert, insbesondere unter Berücksichtigung des Einflusses auf die Buchproduktion, unter Zugrundelegung der Nachlaßinventare des Frankfurter Stadtarchivs für die Jahre 1695-1705, 1745-1755 und 1795-1805. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt am Main vorgelegt von Diplom-Kaufmann Walter Wittmann. 1934. Druck: Heinrich Pöppinghaus o. H.-G., Bochum-Langendreer. – Hildegard Neumann: Der Bücherbesitz der Tübinger Bürger von 1750-1850. Ein Beitrag zur Bildungsgeschichte des Kleinbürgertums. Die Bücherverzeichnisse in den Vermögensinventaren und Erbteilungen der Tübinger Bürger aus den Jahren 1750-60,

26 alberto martino 37 tionslisten, Kirchenkonvents- und Visitationsprotokolle 38 enthalten wichtige Daten über den Buchbesitz dieser Schichten und Stände. (Eine andere wichtige Quelle – die Ausleihjournale u. -listen oder Ausleihkarteien und Benützerbücher öπentlicher oder privater aber dem Publikum geöπneter Bibliotheken 39 – liefert Daten über die Lektüre aller Stände. 40) Planet-Grimmelshausen hat alle bisher verfügbaren Daten – auch jene, die durch die Auswertung von Nachlaßinventaren und Inventurakten ermittelt worden sind und Auskunft über den Buchbesitz bürgerlicher und kleinbürgerlicher Schichten geben – einbezogen. Das Wissen um die Lücken in der Lesergeschichte und das Bewußtsein der Notwendigkeit, die bekannten Quellen vollständiger und systematischer auszuwerten und alle möglichen anderen noch unbeachteten Quellen zu erschließen, sollen keineswegs den Wert der Daten des Fundus schmälern, die mit gutem Gewissen als repräsentative Indikatoren betrachtet werden können.  







1800-10, 1840-50. Diss. Tübingen [Masch.].1955. – Angelika Bischoπ-Luithlen: Auszüge aus den Inventur- und Teilungsakten der Gemeinde Feldstetten Kreis Münsingen über den Besitz an Büchern und Bildern. [Masch.] 1964 (Anhang: Der Bücherbesitz in der Gemeinde Feldstetten Kreis Münsingen, 1650-1852. Auf Grund der von Frau Angelika Bischoπ-Luithlen aufbereiteten Inventur- und Teilungsakten alphabetisch zusammengestellt von Martin Scharfe, Tübingen 1964). Tübingen: Ludwig Uhland-Institut der Universität Tübingen. – Günter Berger: Inventare als Quelle der Sozialgeschichte des Lesens. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 5 (1981), 368-380. – Erdmann Weyrauch: Nachlaßverzeichnisse als Quellen der Bibliotheksgeschichte. In: Bücherkataloge als buchgeschichtliche Quellen in der frühen Neuzeit, S. 299-312. – Christine Paschen: Buchproduktion und Buchbesitz in der frühen Neuzeit: Amberg in der Oberpfalz. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 43 (1995), S. 1-201, hier S. 10-12. 37   Über die Konfiskationslisten als Quelle für die Buchbesitzforschung vgl. Christine Paschen: Buchproduktion und Buchbesitz in der frühen Neuzeit, S. 14-41, S. 83-115 («Privater Buchbesitz in Amberg anhand der Konfiskationslisten des Jahres 1628»). 38   Über diese unbeachteten Quellen vgl. Reinhart Siegert: Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem >Noth- und HülfsbüchleinKollektivKollektivKonsumliteratur< in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts. In: Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Festschrift für Reinhard Wittmann. Hrsg. v. Monika Estermann, Ernst Fischer und Ute Schneider. Wiesbaden: Harrassowitz 2005, S. 93-187; hier S. 95-100. 117   Vgl. I. M. Battafarano: Grimmelshausen-Bibliographie 1666-1972. Werk – Forschung – Wirkungsgeschichte, S. 243-246. – Hans Dieter Gebauer: »Machiavellischer Hocus Pocus«. Eine Quelle zur zeitgenössischen Rezeption der simplicianischen Schriften Grimmelshausens. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten IV/1 (1977), 7-9. – Philip Brady: Grimmelshausen und die Prediger. In: Simpliciana 6-7 (1985), 81-98. – Urs Herzog: Der Roman auf der Kanzel. Prokop von Templin (um 1608-1680), ein erster Leser von Grimmelshausens Simplicissimus. In: Simpliciana 6-7 (1985), 99-110. – P. Heßelmann: Grimmelshausen – „gesellschaftlich alleingelassen“? Auf den Spuren seiner Gönner und Leser im 17. Jahrhundert, S. 57. – Peter Heßelmann: Zur Rezeptionsgeschichte Grimmelshausens im Spätbarock. Das Werk Johann Christoph Ettners. In: Simpliciana 12 (1990), 229-266. – P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 18-48, 135191, 283-313. 118   H. D. Gebauer: Bücherauktionen in Deutschland im 17. Jahrhundert, S. 107. 119   H. D. Gebauer: Bücherauktionen in Deutschland im 17. Jahrhundert, S. 106.

besitzer und leser simplicianisher schriften 45 Simplicissimus-Zyklus – aus der Verallgemeinerung, der Undiπerenziertheit des Begriπes ‚die Gelehrten’ entsteht. Die Gelehrten werden nämlich als eine einheitliche soziale Schicht betrachtet, als ob sie einen homogenen Stand – den Gelehrtenstand eben – bilden würden. Wie der Adel weisen aber auch der Gelehrtenstand 120 (Theologen, Juristen, Mediziner, Magister der Philosophie, Universitäts- u. Gymnasial-Professoren ...) sowie das Beamtentum 121 (Beamtentum der hohen Reichsbehörden, Staats-,  



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  Über den Gelehrtenstand vgl. Franz Eulenburg: Über die Frequenz der deutschen Universitäten in früherer Zeit. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, III. Folge, 13 (1897), 481-555. – Emil Reicke: Der Gelehrte in der deutschen Vergangenheit. Zweite Auflage. Mit einhundertdreißig Abbildungen. Jena 1924. – Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur (1931). In: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Hrsg. v. Richard Alewyn (= Neue wissenschaftliche Bibliothek, 7). Köln-Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 147-181. – Fritz Weigle: Deutsche Studenten in Italien. Teil I: Die deutsche Nation in Perugia. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 32 (1942), 110-188. – Fritz Weigle: Die deutschen Doktorpromotionen in Siena von 1485-1804. Deutsche Studenten in Italien. Teil II. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 33 (1944), 199-251. – Heinz Schneppen: Niederländische Universitäten und deutsches Geistesleben. Von der Gründung der Universität Leiden bis ins späte 18. Jahrhundert (= Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, 6). Münster Westfalen: Aschendorπsche Verlagsbuchhandlung 1960. – Laetitia Boehm: Libertas Scholastica und Negotium Scholare. Entstehung und Sozialprestige des akademischen Standes im Mittelalter. In: Universität und Gelehrtenstand 1400-1800. Hrsg. von Hellmuth Rössler und Günther Franz (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, 4). Limburg/Lahn: C. A. Starke Verlag 1970, S. 15-61. – Hermann Mitgau: Soziale Herkunft der deutschen Studenten bis 1900. In: Universität und Gelehrtenstand 1400-1800, S. 233-260. – Friedrich Wilhelm Euler: Entstehung und Entwicklung deutscher Gelehrtengeschlechter. In: Universität und Gelehrtenstand 14001800, S. 183-231. – Rainer A. Müller: Universität und Adel. Eine soziokulturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 1472-1648 (= Ludovico Maximilianea. Forschungen und Quellen. Forschungen, 7). Berlin 1974. – A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 65-70. 121   Über das Beamtentum vgl. S. Isaacsohn: Geschichte des preußischen Beamtentums vom Anfang des 15. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart. In drei Bänden. Neudruck der Ausgabe 1874-1884. Aalen: Scientia Verlag 1962. – Otto Hintze: Der österreichische Staatsrat im 16. und 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Achter Band. XXI. Band der Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Zweites Heft. Germanistische Abteilung. Weimar 1887, S. 137-164. – Gustav Schmoller: Der deutsche Beamtenstaat vom 16.-18. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 18 (1894), 1-20. – Otto Hintze: Der Beamtenstand (1911). In: O. H.: Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte. Herausgegeben und eingeleitet von Gerhard Oestreich. 2., erweiterte Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1964, S. 66-125. – Otto Hintze: Der österreichische und der preußische Beamtenstaat im 17. und 18. Jahrhundert (1901). In: O. H. Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte. Hrsg. v. Gerhard Oestreich mit einer Einleitung v. Fritz Hartung. 3., durchgesehene und erweiterte Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970, S. 321-358. – Gerhard Oestreich: Das persönliche Regiment der deutschen Fürsten am Beginn der Neuzeit (1935). In: G. Oe.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin: Duncker & Humblot 1969, S. 201-234. – Carl Hinrichs: Die preußische Zentralverwaltung in den Anfängen Friedrich Wilhelms I. (1958). In: C. H.: Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen (= Veröπentlichungen der Historischen

46 alberto martino Stadt- u. Hofbürokratie – Kanzler, Gelehrte Räte, Leibärzte der Fürsten, Stadtphysikusse, Richter, Schultheißen, Vögte, Notare, Stadtschreiber, Syndici, Bürgermeister, Räte –, höhere Beamtenschaft bürgerlicher u. patrizischer Herkunft, bürgerliche Mittel-, Unter- u. Lokalbeamtenschaft ...) und die Geistlichkeit (Theologieprofessoren, Superintendenten, Hofprediger, Hofpfarrer, Assessoren am Konsistorium, Stadtpfarrer, Landpfarrer 122...) eine komplexe, aus ungleichartigen Schichten zusammengesetzte soziale Stratifikation auf. Die Angehörigen der höheren Schichten des Gelehrtenstandes, der Beamtenschaft und der Geistlichkeit – die drei Bestandteile dieser Gruppe sind nicht klar voneinander zu trennen, da die Gelehrten auch zum Beamtentum und zur Geistlichkeit gehören konnten – hatten durch den Besuch des Gymnasiums bzw. der Lateinschule und das Universitätsstudium eine Bildung genossen, die die Grundlage für eine starke kulturelle, literarische 123 und soziale 124 Homogenität geschaπen hatte.  





Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, 10). Berlin: Walter de Gruyter 1964, S. 138-160. – Heinz Lieberich: Die gelehrten Räte. Staat und Juristen in Baiern in der Frühzeit der Rezeption. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27 (1964), 120-189. – Oswald von Gschliesser: Das Beamtentum der hohen Reichsbehörden (Reichshofkanzlei, Reichskammergericht, Reichshofrat, Hofkriegsrat). In: Beamtentum und Pfarrerstand 1400 bis 1800. Hrsg. v. Günther Franz (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, 5). Limburg/Lahn: C. A. Starke Verlag 1972, S. 1-26. – Niklas Freiherr von Schrenck und Notzing: Das Bayerische Beamtentum 1430-1740. In: Beamtentum und Pfarrerstand 1400 bis 1800, S. 27-50. – Gebhard von Lenthe: Zur Geschichte des Beamtentums in Niedersachsen. In: Beamtentum und Pfarrerstand 1400 bis 1800, S. 239-247. 122   Über die höhere Geistlichkeit und den Pfarrerstand vgl. Hans Martin Decker-Hauπ: Die geistige Führungsschicht Württembergs. In: Beamtentum und Pfarrerstand 1400 bis 1800, S. 51-80. – Albrecht Eckhardt: Beamtentum und Pfarrerstand in Hessen. In: Beamtentum und Pfarrerstand 1400 bis 1800, S. 81-120; hier 101-110. – Harald Schieckel: Die Pfarrerschaft und das Beamtentum in Sachsen-Thüringen. In: Beamtentum und Pfarrerstand 1400 bis 1800, S. 149-178; hier S. 149-160. – Gerd Heinrich: Amtsträgerschaft und Geistlichkeit. Zur Problematik der sekundären Führungsschichten in Brandenburg-Preußen 1450-1786. In: Beamtentum und Pfarrerstand 1400 bis 1800, S. 179-238. 123   Nach der Schule – schreibt Hans-Henrik Krummacher in einem grundlegenden Aufsatz über die beträchtliche Bedeutung der Universität für die Entstehung, Eigenart und Wirkung von Literatur im 17. Jahrhundert – „werden Rhetorik und Poetik, Grundlagen der Literatur der Zeit, zusamt der Lektüre und Auslegung antiker Autoren auch in der Universität betrieben und durch das Grundstudium in der Artistenfakultät, das auch die Studenten der drei höheren Fakultäten zunächst durchlaufen, nicht nur künftigen Autoren, sondern auch einem großen Kreis künftiger Leser anhaltend vermittelt.“ (Hans-Henrik Krummacher: Universität und Literatur im 17. Jahrhundert. In: Stadt-Schule-Universität-Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Hrsg. v. Albrecht Schöne. München: C. H. Beck 1976, S. 313-323; hier S. 313.) Vgl. außerdem Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen: Niemeyer 1970. – A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 37-38, 99-174. 124   Die Doktoren der Theologie, des Rechts und der Medizin besaßen seit dem Mittelalter die gleichen Rechte und Vorrechte (Steuer- und Abgabenfreiheit, Freiheit von körperlicher Züchtigung, usw.) wie der niedere Adel, dem sie juristisch gleichgestellt wurden. Ihr Adel war persönlicher Art, kein Erbadel. Diese Elite des Gelehrtenstandes entwickelte ein elitäres

besitzer und leser simplicianisher schriften 47 Kulturelle Homogenität bestand aber auch zwischen den Adeligen, die immer häufiger die Universitäten besuchten, um nicht ganz von den Verwaltungsämtern im Territorium und am Hof ausgeschlossen zu werden, 125 und den Gelehrten, den hohen Beamten und den hohen Geistlichen – insbesondere jenen, die im engen Kontakt mit den Sprachgesellschaften 126 und den Höfen standen. 127 Im Laufe des 17. Jahrhunderts hatte sich nämlich ein geschichtlicher Prozeß von großer Tragweite für die Kultur und die Literatur vollzogen: die durch die bürokratische Zentralisierung des Reiches und der Territorialstaaten und durch die damit verbundene Erhöhung der vertikalen sozialen Mobilität ausgelöste Umwandlung eines erheblichen Teils des Gelehrtenstandes in das Hofbeamtentum. Viele der Angehörigen dieser sozial aufsteigenden Akademikerschicht, die zu hohen Beamten der Fürsten geworden waren, wurden nobilitiert. 128 Durch die Entstehung einer breiten Hofbürokratie geschahen im Verlauf des 17. Jahrhunderts die gesellschaftliche – und zum Teil auch die blutmäßige – Integration zwischen adliger und patrizischer oder bürgerlicher Beamtenschaft. Aus der Begegnung, aus der Amalgamierung im reaktiven Milieu des Hofes zwischen adelig-feudalem und patrizisch/bürgerlich-städtischem Element entstand die aristokratisch-höfische Kultur. 129  









Bewußtsein, eine elitäre Gesellschaftsauπassung. Sie distanzierte sich von den unteren sozialen Schichten und bemühte sich um Assimilierung an den Blutsadel als Bildungsadel (nobilitas literaria, nobilitas scientiae). So wurden die Voraussetzungen für die Umwandlung der Doktoren in Staats- und Hofbeamte, für ihre soziale Integration in den Adel und für die Begegnung von humanistischem und adeligem Ethos geschaπen (vgl. A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 63-65). 125   Vgl. A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 69-78. – Rainer A. Müller: Aristokratisierung des Studiums? Bemerkungen zur Adelsfrequenz an süddeutschen Universitäten im 17. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 10/1 (1984), 31-46. 126   Zum Beitrag der Sprachgesellschaften zum kulturellen Integrationsprozeß zwischen Adel und Bürgertum vgl. A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 109-111. 127   Vgl. Hans-Joachim Schoeps: Deutsche Geistesgeschichte der Neuzeit. Das Zeitalter des Barock. Zwischen Reformation und Aufklärung. Mainz: v. Hase & Koehler Verlag 1978, S. 178-181. – Notker Hammerstein: Res Publica litteraria – Oder Asinus in Aula? Anmerkungen zur ‚bürgerlichen Kultur’ und zur ‚Adelswelt’. In: Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung. Festschrift für Paul Raabe. Hrsg. v. August Buck und Martin Bircher (= Chloe, 6). Amsterdam: Rodopi 1987, S. 34-68; hier S. 50-58. 128   Über die soziale Mobilität im Reich und in den deutschen Territorien vgl. A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 61-77. – A. Martino: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz, S. 124-130. 129   A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 78-80. – A. Martino: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz, S. 131. Das Höfische war freilich der Tod des Ritterlichen (H. Rössler: Adelsethik und Humanismus, S. 243. – E. Schenk zu Schweinsberg: Die Wandlung des Adelsbildes in der Kunst, S. 10-11) und auch des demokratischen Elements in den humanistischen Idealen. Zur höfischen Kultur in Deutschland vgl. Günther Müller: Höfische Kultur der Barockzeit. In: Hans Naumann u. G. M.: Höfische Kultur (= Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Buchreihe, 17. Band). Halle/Saale: Niemeyer 1929, S. 81-154. – Willi Flemming: Deutsche Kultur im Zeit-

48 alberto martino Die Adeligen – wie die Akademiker patrizischer oder bürgerlicher Herkunft – mußten sich die durch die Gymnasien, 130 Lateinschulen und Universitäten 131 vermittelte Bildung aneignen. Die adeligen Studenten sowie die Studenten patrizischer oder bürgerlicher Herkunft mußten außerdem ihre Bildung durch die große Kavalierstour bzw. durch die langjährige Studienreise (wenn man über die dafür notwendigen finanziellen Mittel nicht verfügte, konnte man sie als Hofmeister oder Reisebegleiter von reichen jungen Herren unternehmen) vervollkommnen. Ausschließlich durch den Besuch von fremden und heimischen Höfen, den Zentren der politischen Macht 132 und des Aristokratisierungsprozesses der Gesellschaft, konnte aber die „so nöthige Wissenschaft“ der Höflichkeit, 133  







alter des Barocks. Zweite neu bearbeitete Auflage (= Handbuch der Kulturgeschichte. Erste Abteilung. Zeitalter deutscher Kultur). Konstanz 1960. 130   Die katholischen adligen – wie die nicht-adligen – Schüler konnten auch die Jesuitenkollegien besuchen, die im 17. Jahrhundert einen ungeheuren Erfolg erfahren hatten. Vgl. Heinrich Boehmer: Die Jesuiten. Auf Grund der Vorarbeiten von Hans Leube neu herausgegeben von Karl Dietrich Schmidt. Stuttgart 1957, S. 198-199. Zur Gründung der Kollegien vgl. Bernhard Duhr, S. J.: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge im XVI. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau: Herdersche Verlagsbuchhandlung 1907, S. 163-236, 372-395. 131   Die Adeligen hatten selbstverständlich auch die Möglichkeit, die Ritterakademien zu besuchen. Erst aber ab ca. 1680 wurden zahlreiche Ritterakademien gegründet. Außerdem konnten sich die Angehörigen des niederen Adels die beträchtlichen Ausgaben eines Aufenthaltes in einer Ritterakademie kaum leisten. Über die Ritterakademien vgl. Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. Dritte, erweiterte Auflage herausgegeben und in einem Anhang fortgesetzt von Rudolf Lehmann. Erster Band. Leipzig: Verlag von Veit & Comp. 1919, S. 514-524. – Friedrich Debitsch: Die staatsbürgerliche Erziehung an den deutschen Ritterakademien (= Hallische pädagogische Studien, 4). Osterwieck am Harz 1928. – W. Barner: Barockrhetorik, S. 377-384. 132  Über den Hof als politisches Herrschaftsinstrument des Fürsten über die Gesamtheit seiner Untertanen, über Adlige und Nichtadlige, vgl. Peter Baumgart: Der deutsche Hof der Barockzeit als politische Institution. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hrsg. v. August Buck u.a. (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 8). I. Hamburg: Hauswedell 1981, S. 25-43. 133   Georg Philipp Harsdörπer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hrsg. von Irmgard Böttcher. I. Teil [2. Aufl. Nürnberg: Wolfgang Endter 1644]. (= Deutsche Neudrucke. Reihe Barock, 13.) Tübingen: Niemeyer 1968, S. 276. Der ‚Spielende’ fragt: „Warum sind die Gelehrten selten höflich?“ Die Antwort ist leicht vorauszusehen: „Dieweil sie selten nach Hof kommen“ (S. 274-275). Die Gelehrten, die nie oder zu selten am Hof verkehren, sind die Pedanten, die einsam in ihren Stuben hocken und sich und ihre Gelehrsamkeit verächtlich gemacht haben: „Es wäre zu wünschen / daß die alten Schulfüchse die Wirdigkeit der Künst und Wissenschaπten / mit ihren ungeschlachten und unartigen Sitten / bey Fürstenhöfen nicht so verächtlich gemacht hätten. Jndem sie die jetzige Zeiten / mit den jenigen so sie aus vielen Büchern erlernet vergleichen / kommet ihnen alles / welches sie in ihrer gewöhnlichen Einsambkeit nicht gesehen / noch sehen mögen / so frembd vor / daß sie sich gantz nicht in die Welt schicken...“. Vgl. Georg Philipp Harsdörπer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hrsg. von Irmgard Böttcher. II. Teil [2. Aufl. Nürnberg: Wolfgang Endter 1657]. (= Deutsche Neudrucke. Reihe Barock, 14.) Tübingen: Niemeyer 1968, S. 38-39. Über diesen Gelehrtentypus vgl. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in

besitzer und leser simplicianisher schriften 49 134 das höchste Gesellschaftsideal der Barockkultur, gepflegt werden. Die Lehren des Cortegiano, 135 der Civil Conversatione, 136 des Honneste Homme ou l’Art de plaire à la Court, 137 des Discreto und des Oráculo Manual y arte de prudencia 138 konnten nur am Hof, dessen tiefstes Bedürfnis die ‚Repräsentation’ 139 war, assimiliert  











der Literatur des Barockzeitalters (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 3). Tübingen: Niemeyer 1982. – Carlos Gilly: Das Sprichwort «Die Gelehrten Die Verkehrten» oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung. Firenze: Leo S. Olschki Editore 1991. 134   A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 81-82, 89. 135  Zur Rezeption des Cortegiano im deutschen Sprachraum vgl. Otto Brunner: Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688. Salzburg: Otto Müller 1949, S. 110, 113, 163. – Klaus Ley: Castiglione und die Höflichkeit. Zur Rezeption des Cortegiano im deutschen Sprachraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (im Anhang: H. Turler: De perfecto aulico B. Castilionii, deque eius in latinam linguam versione narratio. 1561). In: Beiträge zur Aufnahme der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Hrsg. v. Alberto Martino (= Chloe, 9). Amsterdam: Rodopi 1990, S. 3-108. 136   Zur Aufnahme der Civil Conversatione von Stefano Guazzo in Deutschland vgl. Emilio Bonfatti: La «Civil Conversazione» in Germania. Letteratura del comportamento da Stefano Guazzo a Adolph Knigge 1574-1788. Udine: Del Bianco Editore 1979, S. 71-178. 137  Über L’Honneste Homme ou l’Art de plaire à la Court (Paris 1630) von Nicolas Faret vgl. Maurice Magendie: «Introduction» zu: Nicolas Faret: L’honneste homme ou l’Art de plaire à la Court. Thèse complémentaire pour le Doctorat Ès Lettres par M. M. Paris: Les Presses Universitaires de France 1925, S. I-LII. – Maurice Magendie: La politesse mondaine et les théories de l’honnêteté, en France au XVIIe siècle, de 1600 à 1660. Genève: Slatkine Reprints 1993 (Réimpression de l’édition de Paris, 1925), S. 355-369. 138   Über die Rezeption von Baltasar Gracián im deutschen Sprachraum vgl. Karl Borinski: Baltasar Gracián und die Hofliteratur in Deutschland. Halle an der Saale: Niemeyer 1894, S. 7393. – Hermann Tiemann: Das spanische Schrifttum in Deutschland von der Renaissance bis zur Romantik. Eine Vortragsreihe. Hamburg: Ibero-Amerikanisches Institut 1936, S. 55-62. – Knut Forssmann: Baltasar Gracián und die deutsche Literatur zwischen Barock und Aufklärung. Diss. der Johannes Gutenberg-Universität zu Mainz 1976 [gedr. Barcelona 1977]. – Jürgen von Stackelberg: Baltasar Gracián und das „je ne sais quoi“. Amelot de la Houssaie als Vermittler des Oráculo manual. In: J. v. St.: Übersetzungen aus zweiter Hand. Rezeptionsvorgänge in der europäischen Literatur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Berlin: Walter de Gruyter 1984, S. 91-124. – Alberto Martino: Lektüre und Leser in Norddeutschland. Zu der Veröπentlichung der Ausleihbücher der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel (= Chloe, 14). Amsterdam: Rodopi 1993, S. 53-57. 139   Über Bedeutung und Funktion der ‚Repräsentation’ für die höfische Gesellschaft vgl. E. Vehse: Illustrierte Geschichte des preußischen Hofes. – Carl Hinrichs: Staat und Gesellschaft im Barockzeitalter (1951). In: C. H.: Preussen als historisches Problem, S. 205-226. – Richard Alewyn: Das weltliche Fest des Barock. Versuch einer Morphologie. In: Festschrift der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen zu Ehren des Herrn Ministerpräsidenten Karl Arnold. Köln und Opladen 1955, S. 1-22. – Richard Alewyn u. Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung (= rowohlts deutsche enzyklopädie). Hamburg: Rowohlt 1959. – J. Lampe: Aristokratie, Hofadel und Staatspatriziat in Kurhannover, I, S. 93-365. – Eberhard Straub: Repraesentatio Maiestatis oder churbayerische Freudenfeste. Die höfischen Feste in der Münchner Residenz vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhundert (= Miscellanea Bavarica Monacensia, 14). München: Stadtarchiv 1969.– W. Barner: Barockrhetorik, S. 117-124. – K. Plodeck: Hofstruktur und Hofzeremo-

50 alberto martino werden und in Fleisch und Blut übergehen. Der Hof – „ein kleiner Begriπ oder Zusammenfassung diser gantzen Welt“ 140 – war der einzige Ort, wo die Menschen in wahre Menschen, 141 in perfetti cortigiani und honnêtes hommes verwandelt werden konnten. Die Gelehrten, die durch den intensiven Umgang mit dem Hof zu weltmännischen und weltgewandten Galanten geworden waren und sich in den Dienst der Fürsten gestellt hatten – aber auch die Gelehrten, die als Patrizier und Bürger von Städten und Freireichsstädten eine losere Beziehung zu den Höfen hatten – und die Adeligen, die von der politischen Macht verdrängt worden waren und sich in Höflinge verwandelt hatten, 142 teilten natürlich dieselben höfischen kulturellen Wertvorstellungen und dieselben literarischen Geschmackspräferenzen, da sie alle durch das gemeinsame „höfisch-moderne Bildungsideal“ 143 und  







niell in Brandenburg-Ansbach vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, S. 90-236. – Jürgen Freiherr von Kruedener: Die Rolle des Hofes im Absolutismus (= Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 19). Stuttgart: Gustav Fischer Verlag 1973. – A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 80-93. – A. Martino: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz, S. 131. – Hubert Ch. Ehalt: Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert (= Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien, 14). Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1980. – Johannes Kunisch: Hofkultur und höfische Gesellschaft in Brandenburg-Preußen im Zeitalter des Absolutismus. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hrsg. v. August Buck u.a. (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 10). III. Hamburg: Hauswedell 1981, S. 735-744. Zur Soziologie des barocken Hofes vgl. außerdem das grundlegende Werk von Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie (= Soziologische Texte, 54). Neuwied u. Berlin: Luchterhand 1969. 140   Johann Rist: Das AllerEdelste Leben der gantzen Welt. Hamburg 1663, S. 205. 141   Johann Rist schrieb, daß nur der Höfling wahrhaft Mensch ist, während „der grösseste Theil der Menschen nur halbe Menschen sind / diweil sie bei Hofe gahr selten / oder auch wol niemahlen gewesen“ (Das AllerEdelste Leben der gantzen Welt, S. 205). 142  Die Verwandlung des Kriegeradels in Hofadel war keine spontane Entwicklung. Die ‚Verhofung’ des Adels wurde von verschiedenen Faktoren – wie dem Funktionsverlust des ritterschaftlichen Adels im Kriegswesen (Umwandlung des Fußvolkes in die dem ritterlichen Reiterheer überlegene Fußtruppe, Aufkommen und allmähliche Vorherrschaft des freien Söldnertums, Kriegsorganisation und -führung als geschäftliches Unternehmen, Erfindung der Feuerwaπen); dem Fehdeverbot, das die Adeligen politisch entmachtet hatte; der Preisrevolution des 16.Jahrhunderts, die die Grundrenten erheblich verringerte; der Säkularisierung der Stifte und Klöster in den protestantischen Gebieten, in denen früher der Adel Söhne und Töchter unterbringen konnte; den Zerstörungen und Verwüstungen des 30jährigen Krieges, die in vielen Territorien die wirtschaftlichen Verhältnisse des Adels verschlimmerten – bestimmt. Auch das Standesbewußtsein, das den Adel davon abhält, einem bürgerlichen Erwerb nachzugehen, spielte eine wichtige Rolle. Vgl. P. Baumgart: Der deutsche Hof der Barockzeit als politische Institution, S. 35. – R. Wohlfeil: Adel und neues Heerwesen, S. 203-214. – R. Wohlfeil: Adel und Heerwesen, S. 315-319. 143   Über das „höfisch-moderne Bildungsideal“ der Barockzeit vgl. Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Erster Band, S. 492-505.

besitzer und leser simplicianisher schriften 51 durch das Hofleben – gepriesen als „das Aller Edelste Leben der gantzen Welt“, als „ein recht Göttliches Leben“ 144 – geprägt worden waren. Die Besitzer von Werken des simplicianischen Zyklus gehörten alle zu diesen höheren, kulturell und sozial homogenen Schichten und standen – als Juristen, Mediziner, Theologen, Superintendenten, Universitäts- u. Gymnasial-Professoren, hohe Beamte, Bürgermeister, Hofrichter- u. räte, Historiker, Schriftsteller und Polyhistoren – fast alle in persönlichem oder kulturellem Kontakt mit den Höfen:  

Friedrich Benedict Carpzov (1649-1699), der zu einer berühmten Familie gelehrter Theologen und Juristen gehörte, die vielfältige Bindungen zu dem Sächsischen Hof hatte (Benedikt Carpzov, 1595-1666, Doktor der Rechte, Hof- und Justizrat, Geheimer Rat in Dresden, Ordinarius an der Juristenfakultät in Leipzig; 145 Samuel Benedikt Carpzov, 1647-1707, Doktor der Theologie, Oberhofprediger und Kirchenrat in Dresden), war Jurist, Polyhistor, Kaufmann, Stadtbaumeister und Ratsherr in Leipzig sowie Beförderer und Mitarbeiter der Acta Eruditorum. – Georg Serpilius (1668-1723), Verfasser zahlreicher gelehrter, erbaulicher und hymnologischer Studien, 146 pflegte als Superintendent in der Reichsstadt Regensburg, Sitz seit 1663 des Immerwährenden Reichstages, zweifellos Kontakte zu dem Stadtpatriziat, zu dem Neuadel, 147 zu dem Landesadel und zu dem Hochadel der ständigen Gesandschaften. 148 – Christoph Ar 







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  Johann Rist: Das AllerEdelste Leben der gantzen Welt, S. 169. Der Hof und das Hofleben werden aber in der Literatur des 17. Jahrhunderts auch scharf angeprangert. Die Kritik an der höfischen Welt kommt insbesondere aus jenen Adelskreisen, die sich in die neue Gesellschaft nicht integrieren wollten oder konnten. Sie drückt den fundamentalen Gegensatz zwischen der feudalen Welt und dem modernen zentralistischen und nivellierenden Staat, zwischen dem Landadel, der versucht, die in den Landständen verankerten Vorrechte zu wahren, und dem Hofadel sowie der Hofbürokratie aus. Zur ‚gegenhöfischen’ Literatur des 17. Jahrhunderts vgl. Erika Vogt: Die gegenhöfische Strömung in der deutschen Barockliteratur (= Von deutscher Poeterey, 11). Leipzig 1932. – O. Brunner: Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 220-223. – W. Barner: Barockrhetorik, S. 120-124. – Wilhelm Voßkamp: Landadel und Bürgertum im deutschen Schäferroman des 17. Jahrhunderts. In: Stadt-Schule-UniversitätBuchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, S. 99-110. – Hellmuth Kiesel: >Bei Hof, bei HöllLob des Landlebens< in der Literatur des absolutistischen Zeitalters (= Hermaea. Germanistische Forschungen. N. F. 44). Tübingen: Niemeyer 1981. 145   Vgl. Jochen Bepler: «Carpzov, Benedikt». In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. v. Walther Killy. Band 2. Bertelsmann Lexikon Verlag 1989, S. 374. 146   P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 263. 147   Vgl. die Liste der im 17. Jahrhundert nobilitierten Bürger von Regensburg in: Erwin Riedenauer: Kaiserliche Standeserhebungen für reichsstädtische Bürger 1519-1740. Ein statistischer Vorbericht zum Thema „Kaiser und Patriziat“. In: Deutsches Patriziat 1430-1740. Büdinger Vorträge 1965. Hrsg. von Hellmuth Rössler (= Schriften zur Problematik der deutschen Führungsschichten in der Neuzeit, 3). Limburg/Lahn: C. A. Starke Verlag 1968, S. 27-98; hier S. 47. 148   Vgl. Rudolf Reiser: Adeliges Stadtleben im Barockzeitalter. Internationales Gesandten-

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nold (1627-1685), Sohn des Pfarrers Kaspar Arnold, besuchte das Egidiengymnasium in Nürnberg und dann die Universität in Altdorf (Magister 1649). Er wurde 1645 in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen und arbeitete an den Frauenzimmer Gesprächspielen des Nürnberger Patriziers Georg Philipp Harsdörπer. Ende 1649 trat er eine längere Reise in die Niederlande und nach England an. Im Jahr 1652 kehrte Arnold nach Nürnberg zurück, wo er Diakon an der Frauenkirche und Professor am Egidiengymnasium wurde. Er schrieb (teils im Auftrag von Leopold I. und von Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel) Vorreden und Kommentare zu Ausgaben antiker Autoren, verfaßte Biographien und Beiträge für Trauer- und Hochzeitschriften sowie geistliche Lieder. 149 Als Professor am dem Egidiengymnasium 150 veranstaltete er zahlreiche Schulactus (von seinem Sohn Andreas, 1653-1694, Professor ab 1687 für Poesie und Eloquenz am selben Gymnasium, stammen ebenfalls viele Programme zu Reden im auditorium publicum 151). Christoph Arnold trug mit seinem Sohn eine etwa 7.200 Titel umfassende Büchersammlung zusammen, in der selbstverständlich die Werke aus den Bereichen Theologie, Altphilologie, Geschichte und Jura stark überwogen, aber auch die deutsche Literatur der Zeit gut vertreten war und sogar viele (32) spanischsprachige Werke anzutreπen waren. 152 Als bedeutendes Verlags 







leben auf dem Immerwährenden Reichstag zu Regensburg. Ein Beitrag zur Kultur- und Gesellschaftsgeschichte der Barockzeit (= Miscellanea Bavarica Monacensia, 17). München: Stadtarchiv 1969. 149  Renate Jürgensen: «Arnold, Christoph». In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. v. Walther Killy. Band 1. Bertelsmann Lexikon Verlag 1988, S. 217218. 150   Das Gymnasium und alle Bereiche des öπentlichen Lebens und sozialen Alltags waren in Nürnberg dem Regiment des patrizisch dominierten Rats unterworfen. Vgl. Markus Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts (= Frühe Neuzeit, 69). Tübingen: Niemeyer 2002, S. 62. Die Nürnberger Patrizier, die Geschlechter, stammten zum größeren Teil aus der Ministerialität. Sie gerierten sich als ‚Bürger’ und „wahrten bei aller Strenge ihres oligarchischen Regiments betont eine äußerliche Einordnung in die Bürgerschaft [...], blieben aber in ihr eine ständisch streng geschlossene Schicht von ‚gerichtsfähigen’ und ‚ratsfähigen’ [...] Familien“ (Hanns Hubert Hofmann: Der Adel in Franken, S. 107, Anm. Nr. 21). Zum Nürnberger Patriziat, das den Anspruch hatte, mit dem Landadel auf gleicher ständischer Stufe zu stehen, vgl. Gerhard Hirschmann: Das Nürnberger Patriziat. In: Deutsches Patriziat 1430-1740, S. 257-276. – Wolfgang von Stromer: Reichtum und Ratswürde. Die wirtschaftliche Führungsschicht der Reichsstadt Nürnberg 1348-1648. In: Führungskräfte der Wirtschaft in Mittelalter und Neuzeit 1350-1850. Teil I. Hrsg. von Herbert Helbig (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, 6). Limburg/Lahn: C. A. Starke Verlag 1973, S. 1-50. Vgl. außerdem die lange Liste der nobilitierten Bürger der Reichsstadt in: E. Riedenauer: Kaiserliche Standeserhebungen für reichsstädtische Bürger 1519-1740, S. 50-53. 151   Vgl. M. Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts, S. 248 Anm. Nr. 319. 152   Vgl. Guillaume van Gemert: Die Niederlande als Umschlagplatz spanischer Literatur des Siglo de Oro für den deutschen Sprachraum. Ein Aufriß. In: Tussen twee culturen: de Nederlanden en de Iberische wereld, 1500-1800 (= Nijmeegse publicaties over de nieuwe geschiedenis, 2). Nijmegen: Instituut voor Nieuwe Geschiedenis 1988, S. 11-38; hier S. 19-20. Vgl. außerdem Renate Jürgensen: Bibliotheca Norica. Patrizier und Gelehrtenbibliotheken in Nürnberg zwischen Mittelalter und Aufklärung (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, 43). Wiesbaden: Harrassowitz 2002, 2 Teile; hier I, S. 778.

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und Buchhandelszentrum, als Sitz des Pegnesischen Blumenordens und als wichtiger Austauschplatz für Musik, Theater und Literatur 154 stand die Reichsstadt Nürnberg in enger Verbindung mit verschiedenen deutschen fürstlichen Höfen (Köthen, Wolfenbüttel, Weimar, Coburg, 155 u.s.w.) und mit dem kaiserlichen Hof in Wien. 156 Sigmund von Birken, der dank seiner Beziehungen zum Grafen von Windischgrätz in den erblichen Adelsstand erhoben (1655) und zum Comes Sacri Palatini (Pfalzgraf) ernannt wurde, war sein Leben lang dem österreichischen Kaiserhaus ergeben. 157 – Johann Albert Gebhard, Braunschweiger Gymnasialdirektor (1663-1710). – Salomon Opitz (1650-1716), besuchte das Gymnasium in Lissa, Thorn und Danzig, dann die Universität in Leiden und Franeker, 1677 Pastor der Unitätsgemeinde in Lasswitz bei Lissa, seit 1695 in Lissa, dort 1699 Konsenior, 1703 Erster Pastor, 1712 Erster Senior (= Bischof) der Unität. Er verfaßte Sonette und zahlreiche Leichenpredigten und -gedichte 158 und nannte sich einen Schüler seines berühmten Namensvetters Martin Opitz. 159 – Jacob Oizel (1631-1686), Professor für öπentliches Recht an der Universität Groningen. – Johann Heinrich Sültzner (1621-1692), Justitien- und Renten-Rat der Grafen von Schwarzburg-Rudolstadt 160 in Rudolstadt (Thüringen). – Samuel Frisching  

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153   Vgl. Theodor Bischoπ: Georg Philipp Harsdörπer. Ein Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert. In: Festschrift zur 250jährigen Jubelfeier des Pegnesischen Blumenordens gegründet in Nürnberg am 16. Oktober 1644. Hrsg. im Auftrag des Ordens von Th. B. und August Schmidt. Mit vielen Abbildungen. Nürnberg: Johann Leonhard Schrag 1894, S. 1-474. – August Schmidt: Sigmund von Birken, genannt Betulius, 1626-1681. In: Festschrift zur 250jährigen Jubelfeier des Pegnesischen Blumenordens, S. 475-532. 154   Vgl. Blake Lee Spahr: Nürnbergs Stellung im literarischen Leben des 17. Jahrhunderts. In: Stadt-Schule-Universität-Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, S. 7383. – Renate Brockpähler: Handbuch zur Geschichte der Barockoper in Deutschland. Emsdetten / Westf.: Verlag Lechte 1964, S. 295-305. – M. Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts. – Dietrich Jöns: Literaten in Nürnberg und ihr Verhältnis zum Stadtregiment in den Jahren 1643-1650 nach den Zeugnissen der Ratsverlässe. In: Stadt-Schule-Universität-Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, S. 8498. – A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 115-119. 155  Zu den Beziehungen Nürnbergs zu dem Coburger Hof des musikliebenden Herzogs Albrecht von Sachsen-Coburg vgl. M. Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts, S. 504-507. 156   Vgl. M. Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts, S. 362-389, 413-416, 530-558. 157   Richard van Dülmen: Sozietätsbildungen in Nürnberg im 17. Jahrhundert, S. 175. 158   Vgl. Franz Heiduk: Bio-bibliographischer Abriß. In: Erdmann Neumeister: De Poetis Germanicis. Herausgegeben von F. H. in Zusammenarbeit mit Günter Merwald. Bern und München: Francke Verlag 1978, S. 271-504; hier S. 437 («Opitz, Salomon»). 159   Vgl. W. Bickerisch: Eine wiederaufgefundene Bücherei, S. 451-456. 160   Kaspar Stieler war 1662-1666 Kammersekretär des Grafen Albrecht Anton von Schwarzburg-Rudolstadt, der 1697 die Reichsfürstenwürde erlangte. Zu der Hochzeit des Grafen Albrecht Anton mit Emilie Juliane Gräfin von Barby verfaßte Kaspar Stieler das Lustspiel Der Vermeinte Printz (Dramatisierung des Romans von Ferrante Pallavicino Il Principe Hermafrodito) und das Mischspiel Ernelinde (1665). Vgl. Martin Bircher: Im Garten der Palme. Katalog einer Sammlung von Dokumenten zur Wirksamkeit der Fruchtbringenden Gesellschaft, S. 461. – Gerhard Dünnhaupt: Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur. Dritter Teil: R-Z. Stuttgart: Hiersemann 1981, S. 1764. Zur Taufe des Grafen Ludwig Friedrich von Schwarzburg-Rudolstadt verfaßte Kaspar Stieler das Lustspiel Der betrogene Betrug (Vorlage: Alonso de

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(1638-1721), zuerst militärische Karriere, dann nach einer Verwundung ausgedehnte Kavalierstour durch Deutschland, England und die Niederlande, nach seiner Rückkehr in die Schweiz Eintritt in die Regierung der Stadt Bern, welcher er ab 1715 als Schultheiß vorstand. 161 – Lucas von Bostel (Hamburg 1649-1716), Sohn eines Hamburger Seidenkrämers und Ratsherren, studierte Jura in Heidelberg und in Leiden, wo er 1674 den Doktorgrad erwarb. Im selben Jahr trat er eine Bildungsreise durch fast ganz Europa. Nach seiner Heimkehr im Jahr 1679 schloß er sich der aristokratischen Ratspartei an. 162 1682/1683 war Lucas von Bostel Vorsitzender des Niedergerichts, 1686 Stadtsyndikus, 1709 Bürgermeister der Freien, von der Kaufmannschaft dominierten 163 Reichsstadt. 164 Als Inhaber hoher städtischer Ämter und Diplomat war Lucas von Bostel, der maßgeblich an der Gestaltung der neuen Verfassung von 1712 beteiligt war, 165 in Kontakt mit den in Hamburg ansässigen ausländischen Diplomaten und Adeligen. Als Übersetzer aus dem Italienischen und aus dem Französischen und Verfasser von Singspiel- und Opernlibretti hat er besonders engere Beziehungen zu jenen Diplomaten und Adeligen unterhalten, die Förderer der Hamburger Oper waren, an deren Gründung der im Exil in der Reichsstadt weilende Herzog Christian Albrecht von Holstein-Gottorf einen entscheidenden Anteil gehabt hatte. 166 Obwohl  











Castillo Solórzanos A lo que obliga el honor. – Paul Scarrons A trompeur, trompeur et demi), das am 4. Dezember 1667 auf der gräflichen Residenz Heydeck „in Anwesenheit vieler Fürstlicher/ Gräflichen und andern Standes Personen“ aufgeführt wurde. Vgl. A. Martino: Die erste deutsche Übersetzung der Garduña de Sevilla. Ein spanischer Beitrag zur Produktion von fiktionaler >Konsumliteratur< in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts. S. 177. Über die Residenz Rudolstadt und die Grafen von Schwarzburg-Rudolstadt vgl. Horst Fleischer: Vom Leben in der Residenz, Rudolstadt 1646-1816. Rudolstadt: Thüringer Landesmuseum Heidecksburg 1996. – Die Grafen von Schwarzburg-Rudolstadt. Hrsg. von Horst Fleischer. Rudolstadt: Thüringer Landesmuseum Heidecksburg 2000. – Über Emilie Juliane Gräfin von Barby und Mühlingen (1637-1706) vgl. Judith P. Aikin: The Militant Countesses of Rudolstadt. In: Gender Matters. Discourses of Violence in Early Modern Literature and the Arts. Edited by Mara R. Wade (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, 169). Amsterdam: Rodopi 2014, S. 19-41; hier S. 28-39. 161   Planet Grimmelshausen, S. 403. 162   Rainer Wolf: «Bostel, Lukas von». In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. v. Walther Killy. Band 2. Bertelsmann Lexikon Verlag 1989, S. 127-128. 163   Vgl. Helmut Böhme: Frankfurt und Hamburg. Des Deutschen Reiches Silber- und Goldloch und die allerenglischste Stadt des Kontinents. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1968, S. 62-65. – Martin Reißmann: Die hamburgische Kaufmannschaft des 17. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Sicht (= Beiträge zur Geschichte Hamburgs, 4). Hamburg: Hans Christians Verlag 1975, S. 340-368. 164   In Hamburg wurde 1669 endgültig „ein schon länger bestehender Zustand festgelegt, daß die Hälfte des Rats und drei von den vier Bürgermeistern graduierte Juristen sein mußten“. Außerdem saßen vier Doktoren der Rechte „als Syndici im Rat, allerdings ohne Stimmrecht, aber von bedeutendem Einfluß“. Als Doctores iuris rangierten die Ratssyndici in Hamburg „unmittelbar nach den Bürgermeistern und vor den anderen Ratsherren“ (Otto Brunner: Souveranitätsproblem und Sozialstruktur in den deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit. In: O. B.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 294-321; hier S. 310-311). 165   M. Reißmann: Die hamburgische Kaufmannschaft des 17. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Sicht, S. 239 Anm. 166   Vgl. R. Brockpähler: Handbuch zur Geschichte der Barockoper in Deutschland, S. 187, 197.

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Hamburg eine ‚Kaufmännische Republik’ war, war sie als reichsunmittelbare Stadt 167 mit dem Reich und dem Kaiser, der im Laufe des 17. Jahrhunderts viele Bürger von ihr nobilitierte 168 und 1710 ihrem Rat mit seinem hochadligen Kommissar, dem Reichsgrafen Rudolf Franz Erwein von Schönborn, und seiner militärischen Macht zu Hilfe kam, um die alte Ordnung wieder herzustellen, 169 nahe verbunden (als die Bürgerschaft 1665 versuchte, der Bestechlichkeit beschuldigte Ratsmitglieder abzusetzen, erklärte der Rat, ihm sei sein Regiment „von Gott und dem Kaiser, dem Born und Quell aller Gerechtigkeit in Deutschland, anvertraut“ worden und nur Gott und dem Kaiser sei er Rechenschaft schuldig 170). So feierte die Hamburger Oper das Kaiserhaus und „Hochzeiten, Geburts- und Namenstage an deutschen und europäischen Fürstenhäusern sowie Besuche einzelner fürstlicher Herrschaften in Hamburg“. 171 Die von Lucas von Bostel der Belagerung und dem Entsatz Wiens gewidmeten Libretti dienten zur Verherrlichung des Kaisers Leopold. – Ulrich Paulin war Anfang des 18. Jahrhunderts Bürgermeister der zuerst dänischen, dann (1658) schwedischen Stadt Lund (Bischofsitz, Universität). – Joachim Wolters (1672-1719), Glückstädter Justitiar, Rat des dänischen Königshauses (Glückstadt gehörte zu dem Königreich von Dänemark in den Jahren 1616-1658, 1675-1679, 1683-1689 und ab 1713; zu dem Herzogtum von Schleswig-Holstein-Gotthorf in den Jahren 1658-1675, 1679-1683, 1689-1713 172). – Johann Albert Fabricius (1668-1736) studierte 1686-1688 Theologie, Philologie und Medizin an der Leipziger Universität, wurde 1688 zum Magister der Philosophie und 1699 zum Doktor der Theologie (Universität Kiel). Ab diesem Jahr war er Professor der Moral und Eloquenz am Akademischen Gymnasium in Hamburg und zeitweilig Rektor des Johanneums. Er war Mitglied – zusammen mit einflußreichen Juristen, Ratsherren, Syndici und Gelehrten der Reichsstadt – der Patriotischen Gesellschaft, die die frühaufklärerische Moralische Wochenschrift Der Patriot (1724-1726) herausgab, 173  













167

  Im Jahre 1618 hatte das Reichskammergericht endgültig die Reichsunmittelbarkeit Hamburgs anerkannt. Vgl. Otto Brunner: Hamburg und Wien. Versuch eines sozialgeschichtlichen Vergleichs. In: O. B.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 322-334; hier S. 330. 168   Vgl. E. Riedenauer: Kaiserliche Standeserhebungen für reichsstädtische Bürger 1519-1740, S. 68-69. 169   Vgl. M. Reißmann: Die hamburgische Kaufmannschaft des 17. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Sicht, S. 343. – Hans Mauersberg: Wirtschafts- und Sozialgeschichte zentraleuropäischer Städte in neuerer Zeit. Dargestellt an den Beispielen von Basel, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover und München. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1960, S. 118-119. 170   O. Brunner: Souveranitätsproblem und Sozialstruktur in den deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, S. 316. 171   Renate Brockpähler: Handbuch zur Geschichte der Barockoper in Deutschland, S. 197. 172   Vgl. Geschichte der deutschen Länder. „Territorien-Ploetz.“ 1. Band: Die Territorien bis zum Ende des alten Reiches. Hrsg. v. Georg Wilhelm Sante und A. G. Ploetz-Verlag. Würzburg: A. G. Ploetz 1964, S. 439-443. 173   Zu der Patriotischen Gesellschaft und ihren gemeinnützigen Zielen vgl. Otto Brunner: Die Patriotische Gesellschaft in Hamburg im Wandel von Staat und Gesellschaft. In: O. B.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 335-344. Zu ihren Mitgliedern vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart: Metzler 1968, S. 129. Zum Patriot vgl. Die Botschaft der Tugend von Wolfgang Martens und seine Ausgabe der Moralischen Wochenschrift (Berlin: De Gruyter

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Verfasser von zahllosen theologischen, philosophischen, altphilologischen und literarhistorischen Werken und Übersetzer physikotheologischer Schriften. 174  

Johann Albert Fabricius ist wahrscheinlich der einzige Gelehrte, der kulturell nicht ganz zu dieser sonst homogenen Gruppe gehört. Wir wissen aber auch nicht, wann er das Vogelnest gekauft hat. Seine Eingliederung in die Gruppe der Besitzer simplicianischer Schriften in den Jahren 1668-1713 ist daher vielleicht falsch. Erst in den letzten Jahrzehnten seines Lebens hatte sich aber Johann Albert Fabricius von der Barockliteratur und -kultur distanziert und für die gesellschaftlich und pädagogisch gemeinnützigen Ziele der Frühaufklärung und für eine klare, einfache literarische Sprache eingesetzt. Ungefähr bis vor der Gründung der Teutsch-übenden Gesellschaft (1715-1717) und der Patriotischen Gesellschaft (1724) hat er – wie übrigens die zu seinem Freundeskreis gehörenden Dichter Barthold Heinrich Brockes, Johann Ulrich von König, Michael Richey und Christian Friedrich Weichmann – noch die vorherrschenden ästhetischen und literarischen Ansichten des Barock geteilt. Wie die ästhetische und literarische Entwicklung Brockes’ zeigt, war der Übergang vom Barock zur Frühaufklärung ein gradueller. Barthold Heinrich Brockes (Hamburg 1680-Hamburg 1747) besuchte zuerst die hamburgische Lateinschule Johanneum und dann das Akademische Gymnasium, wo er bei Johann Albert Fabricius hörte, studierte Jura und Philosophie in Halle, Jura in Leiden und erwarb hier 1704 das Lizentiat beider Rechte. In den Jahren 17021704 hatte Brockes die gewöhnliche Bildungsreise unternommen und sich in Paris, in Italien, in der Schweiz und in den Niederlanden aufgehalten. Ende 1704 war Brockes nach Hamburg zurückgekehrt, wo er vom Vermögen seines verstorbenen Vaters lebte. Er hielt auf vornehmsten Umgang, pflegte einen aristokratischen Lebensstil, gab wöchentlich ein Konzert und erwarb eine kleine Gemäldesammlung. Er hatte die höfischen Fertigkeiten des Tanzens, Fechtens, Voltigierens und Reitens erlernt, ahmte die Lebensweise des Adels nach und strebte mit Widmungen und Gelegenheitsgedichten an hochgestellte Persönlichkeiten des Reiches die Erhebung in den Adelsstand an. 175 Brockes  

1970-1984). Vgl. außerdem Ernst Fischer: Patrioten und Ketzermacher. Zum Verhältnis von Aufklärung und lutherischer Orthodoxie in Hamburg am Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (17001848). Festschrift für Wolfgang Martens zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Wolfgang Frühwald und Alberto Martino (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 24). Tübingen: Niemeyer 1989, S. 17-47; hier S. 40-47. 174  Vgl. Jürgen Rathje: «Fabricius, Johann Albert». In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. v. Walther Killy. Band 3. Bertelsmann Lexikon Verlag 1989, S. 322-323. 175   Jürgen Rathje: «Brockes, Barthold Heinrich». In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. v. Walther Killy. Band 2. Bertelsmann Lexikon Verlag 1989, S. 241-243; hier S. 241.

besitzer und leser simplicianisher schriften 57 war mit Lucas von Bostel, Verfasser – wie schon erwähnt – von Libretti von Barockopern, Ulrich König (1688-1744; 1741 nobilitiert), der am Hamburger Opernhaus eine leitende Stelle hatte und bis etwa Mitte der 20er Jahre ein glühender Bewunderer des Marinismus blieb, und Barthold Feind (Anhänger der Lohensteinschen Schule) befreundet. 176 Im Auftrag des Rats bat ihn 1709 Lucas von Bostel, damals Syndicus, den Text für eine Serenade zu Ehren der in Hamburg als Ordnungsmacht tätigen kaiserlichen Schlichtungskommission (ihr Vorsitzender war Reichsgraf Rudolf Franz Erwein von Schönborn) zu verfassen (sie wurde vertont von Reinhard Keiser). 1715 widmete Brockes dem Kaiser seine Übersetzung von La strage degl’innocenti, Giambattista Marinos posthum erschienenem Poema sacro (1632), die auch ein Huldigungsgedicht an Karl VI. enthielt. 177 Ein weiteres Huldigungsgedicht auf die Geburt des Erz-Herzogs Leopold, eine Serenade auf den Geburtstag des Kaisers und eine Serenade auf den Sieg von Prinz Eugen bei Temesvar folgten. Bis ca. 1716 und danach stellte Lohenstein für Brockes das nachahmenswerte Vorbild, den erklärten Meister dar. 178 Gegen 1716 verzichtete Brockes auf die Ambition, geadelt zu werden (1730 wurde er dennoch zum Kaiserlichen Pfalzgrafen erhoben!), und näherte sich allmählich den bürgerlichen Wertvorstellungen der Frühaufklärung. 179 1720 wurde Brockes zum Ratsherrn gewählt, 1728 zum Stadtrichter, 1730 zum Landrichter. Barthold Heinrich Brockes repräsentiert fast idealtypisch den Gelehrten, den hohen Beamten, den „politischen Funktionär“ 180 und Diplomaten, der die höfische Kultur vollkommen assimiliert hatte und nach der Nobilitierung strebte. Erst mit der Aufgabe oder dem Scheitern seiner Nobilitierungspläne zeichnet sich die Abwendung Brockes’ vom Barock und die Annäherung an die bürgerlichen Wertvorstellungen ab. Noch 1721, als er  









176   Die Freundschaft mit Ulrich König, der Hamburg verlassen hatte und 1720 am Dresdner Hof zum Geheimsekretär und Hofdichter Augusts des Starken ernannt worden war, zerbrach aber als die zweite Ausgabe des Bethlehemitischen Kinder-Mords in Hamburg (1725) veröπentlicht wurde. Ulrich König, zum Verfechter des Boileauschen Rationalismus und der „gesunden Vernunft“ geworden, griπ nun in der Untersuchung Von dem Guten Geschmack In der Dicht- und Rede-Kunst (1727) die Liebhaber „des üblen schwülstigen Geschmacks“ an, zu deren prominentesten er Lohenstein, Brockes (Königs eigentliche Zielscheibe) und Amthor rechnete. Vgl. Friedrich Braitmaier: Geschichte der Poetischen Theorie und Kritik von den Diskursen der Maler bis auf Lessing. Erster Teil. Frauenfeld: J. Hubers Verlag 1888, S. 55. – A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 297-299. 177   Vgl. Italo Michele Battafarano: Marino tradotto da Brockes. Rivisitazione protestante della teologia politica cattolica. In: I. M. B.: Dell’arte di tradur poesia. Dante, Petrarca, Ariosto, Garzoni, Campanella, Marino, Belli: Analisi delle traduzioni tedesche dall’età barocca fino a Stefan George (= Iris, 23). Bern: Lang 2006, S. 81-156. 178   Vgl. Alois Brandl: Barthold Heinrich Brockes. Nebst darauf bezüglichen Briefen von J. U. König an J. J. Bodmer. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Innsbruck: Verlag der Wagner’schen Universitäts-Buchhandlung 1878, S. 27 u. 32. 179   J. Rathje: «Brockes, Barthold Heinrich», S. 241. 180   E. Fischer: Patrioten und Ketzermacher, S. 33.

58 alberto martino mit einer, Bürgermeister Garlieb Sillem unterstellten Verhandlungsdeputation nach Wien reiste, überreichte er aber dem Kaiser ein „in hochbarocker Manier gedrechseltes Huldigungsgedicht“ auf das Ertzhaus Oesterreich, das zu dem Erfolg der diplomatischen Mission entscheidend beitrug. 181 Im selben Jahr erschien der erste Band des Irdischen Vergnügens in Gott. Brockes’ Geschmack hatte sich gründlich geändert. 182 Das Huldigungsgedicht auf das Ertzhaus Oesterreich beweist aber, daß die ‚Überwindung’ des Barock nicht abrupt geschehen war und daß gegensätzliche literarische Richtungen noch für eine Weile nebeneinander bestehen konnten. Diese kurze Abschweifung war vielleicht nicht ganz überflüssig, da die Reichsstadt Hamburg, deren Opernhaus noch jahrzentelang Barockoper auπühren wird, eine der drei Handelsstädte war (die zwei anderen waren Leipzig und Zürich), die zu der Entwicklung des literarischen Geschmacks im antibarocken Sinn erheblich beigetragen haben (die ersten Impulse gingen aber von dem Berliner Hof der Hohenzollern und dem Dresdner Hof der Wettiner aus).  



Das Patriziat ist – als Besitzer von pikaresken Werken Grimmelshausens – nur von Werner Julius von Horn und von Erhard Schad vertreten. Die Familie von Horn, ursprünglich ein – nach Peter von Gebhardt – schwedisches Geschlecht, 183 gehörte zum Braunschweiger Patriziat. Viele ihrer Angehörigen – zum großen Teil handelt es sich um Frauen – erscheinen in den von Joachim Lampe erstellten Ahnentafeln der Zentralbeamten und Hofchargen sowie ihrer Ehefrauen der Kurhannoverschen Zentralbehörden und des Hofes. 184 Werner Julius von Horn besaß ein Exemplar des zweiten rechtmäßigen Druckes der Courasche (Jahr des Besitzvermerkes: 1684. Verbleib: Niedersächsische Landesbibliothek Hannover), der Ende 1671 oder Anfang 1672 in Nürnberg in der O√zin von Wolf Eberhard Felsecker hergestellt wurde. 185 Es ist auπallend, wie das Interesse für die Werke des simplicianischen Zyklus in den Welfischen Landen (sowohl in adligen wie auch in patrizischen und gelehrten – ich erinnere an den Braunschweiger Gymnasialdirektor Johann Albert Gebhard, der den ersten und den zweiten Band der Gesamtausgabe 1685 besaß – Kreisen) verbreitet war. Die Familie von Erhard Schad (1605-1681), war eine der 17 führenden Geschlechter des Ulmer Patriziats, denen Kaiser Karl V. im Jahr 1552 eine „Declaratio sive confirmatio ihres adeligen Standes und Herkommens“ erteilte. 186  







181

  Vgl. E. Fischer: Patrioten und Ketzermacher, S. 30-33.   J. Rathje: «Brockes, Barthold Heinrich», S. 242. 183   Vgl. Peter von Gebhardt: Die ältere Genealogie des schwedischen Geschlechts von Horn. 1938 (zit. von Joachim Lampe II, S. 547). 184   Vgl. Joachim Lampe: Aristokratie, Hofadel und Staatspatriziat in Kurhannover II, S. 35, 185 88, 115, 243, 318, 381, 430.   Planet Grimmelshausen, S. 205-207. 186   Vgl. E. Riedenauer: Kaiserliche Standeserhebungen für reichsstädtische Bürger 1519-1740, S. 56. 182

besitzer und leser simplicianisher schriften 59 Die Herren Schad von Mittelbiberach gehörten eigentlich dem Landadel an, bis Hans Schad 1480 das Ulmer Bürgerrecht um zwei Goldgulden erwarb. 187 Erhard Schad studierte die Rechtswissenschaften in Tübingen, Altdorf und Padua, war in der Verwaltung der Stadt Ulm tätig und ab 1650 Ulmer Obervogt in Geislingen. Seine Bibliothek umfaßte 14.000 Titel. Es ist anzunehmen, daß Erhard Schad den Autor des bei dem bedeutenden Ulmer Druckerverleger Matthäus Wagner veröπentlichten Fortsetzungsromans Deß Französischen Kriegs-Simplicissimi, Hoch-verwunderlicher Lebens-Lauπ (1682-1683), Johann Georg Schielen (Ulm 1633 – Ulm 1684), kannte, der zunächst aushilfsweise in der Stadtbibliothek Ulm beschäftigt war und dann (1671) die Stelle eines Bibliotheksadjunkten erhielt. 188 Daß das Bürgertum auschließlich von einem um 1695 gestorbenen Frankfurter Großkaufmann (Eisenhändler) vertreten war – auch ein paar der nicht identifizierten Besitzer von Werken des Simplicissimus-Zyklus gehörten aber vielleicht zum Bürgertum –, ist nicht überraschend. Das völlige Desinteresse des Mittelstandes des 17. Jahrhunderts für die ‚Schöne Literatur’ ist längst bekannt. 189 Arnold Hirsch, der große Kenner der Erzählliteratur des Barock, war der Meinung, daß sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts „eine neue, breite Schicht von Lesern“ gebildet hatte und daß die Pikaroromane gerade in den mittleren und unteren Schichten des Bürgertums verbreitet waren: „Obwohl der Pikaroroman Verbreitung weder in höfischen Kreisen noch in der akademischen Oberschicht fand, sondern vielmehr in den mittleren und unteren Schichten des Bürgertums, ist seine Tendenz völlig unbürgerlich.“ 190  







187

  Karl Heinrich Roth von Schreckenstein: Das Patriziat in den deutschen Städten, besonders Reichsstädten, als Beitrag zur Geschichte der deutschen Städte und des deutschen Adels. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1856. Aalen: Scientia Verlag 1970, S. 606. Zum Ulmer Patriziat und zu der Familie Schad vgl. Albrecht Rieder: Das Patriziat von Ulm, Augsburg, Ravensburg, Memmingen, Biberach. In: Deutsches Patriziat 1430-1740, S. 299-351. 188   Zu Johann Georg Schielen und seinem Französischen Kriegs-Simplicissimus vgl. – außer dem schon erwähnten grundlegenden Aufsatz von Manfred Koschlig Der »Frantzösische KriegsSimplicissimus« oder: Die »Schreiberey« des Ulmer Bibliotheksadjunkten Johann Georg Schielen (16331684) – Arnold Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes. 3. Auflage (= Literatur und Leben. Neue Folge, 1). Köln-Wien: Böhlau 1979, S. 9-13. – P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 154-157, 306-308. – Volker Meid: «Schielen, Johann Georg». In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. v. Walther Killy. Band 10. Bertelsmann Lexikon Verlag 1991, S. 225-226. 189   Vgl. Otto Schütte: Vom Büchernachlaß einiger Braunschweigischer Bürger a. d. J. 15851639. In: Braunschweigisches Magazin 16 (1910), 141-146. – W. Wittmann: Beruf und Buch im 18. Jahrhundert. – H. Neumann: Der Bücherbesitz der Tübinger Bürger von 1750-1850. – A. Bischoπ-Luithlen: Auszüge aus den Inventur- und Teilungsakten der Gemeinde Feldstetten Kreis Münsingen über den Besitz an Büchern und Bildern. – M. Scharfe: Der Bücherbesitz in der Gemeinde Feldstetten Kreis Münsingen, 1650-1852. – R. Engelsing: Der Bürger als Leser, S. 46-55. 190   Arnold Hirsch: Barockroman und Aufklärungsroman. In: Études Germaniques 9 (1954), 97-111; hier S. 97-98.

60 alberto martino Die von Planet Grimmelshausen gelieferten Daten kehren diese apodiktisch aufgestellte Behauptung über die soziologische Zuordnung der Leser der Pikaroromane radikal um und beweisen, wie wichtig die empirische Forschung ist, um den Wahrheitsgehalt von ideengeschichtlichen oder ideologischen Thesen und Hypothesen zu überprüfen. Besitzer simplicianischer Schriften (Simplicissimus/Continuatio: ST/CONT. – Courasche: COU. – Springinsfeld: SPRI. – Vogelnest Teil I-II: VNI-VNII) in den Jahren 1714-1800: Adel: Rüplin von Käfikon (18. Jh.): 191 ST/CONT.  

Gelehrtenstand – Beamtentum – Geistlichkeit: Johann Friedrich Christ (1700-1756): ST/CONT, Gesamtausgabe 1683-1685. – Benedikt Muhl (1693-1778): ST/CONT, SPRI u. 1 Gesamtausgabe. – Ein Tübinger Pfarrer (gest. um 1756): ST/CONT. – Ein Tübinger Salzverwalter (gest. um 1758): COU. – Christoph Jakob Trew (1695-1769): ST/CONT. – Johann Gottlieb Albert (1674- um 1750): ST/CONT. – Johann Christoph Gottsched (1700-1766): ST/CONT, SPRI. 192 – Franz Wilhelm Hohorst (geb. um 1700): ST/CONT. – Johann Joachim Schwabe (1714-1784): ST/CONT. – Gottlieb Ernst Schmid (1727-1814): VNI.  

Patriziat: Zacharias Conrad von Uπenbach (1683-1734): Gesamtausgabe von 1713.

Bürgertum: Thomas Fritsch (1666-1726): Gesamtausgabe 1713. – Johann Schorndorπ (1705-1769) oder Johann Jakob Schorndorπ: ST/CONT.

Der Adel ist nur von einem Mitglied der Familie Rüplin von Käfikon (der Erwerb des Simplicissimus könnte aber vor 1713 geschehen sein) vertreten. 191   Käufer des Werkes war ein Mitglied der Familie Rüplin von Käfikon. Diese Familie „stammte aus dem Kanton Thurgau, verzweigte sich nach Österreich und Schwaben und war im Kanton Neckarschwarzwald reichsritterschaftlich begütert. Das Geschlecht erwarb 1722 durch Ignatz Rüplin, Geheimrat des Fürsten zu St. Gallen und regierenden Landvogt von Toggenburg, sowie durch seinen Bruder Karl Anton, fürstlich Einsiedel’schen Geheimrat und Obervogt zu Gachnang, den Freiherrnstand“ (Planet Grimmelshausen, S. 178). 192   Diese Werke waren in der Privatbibliothek Gottscheds enthalten. Friederike Caroline Neuber schenkte am 1. Januar 1734 der Deutschen Gesellschaft, deren Senior Gottsched war, die drei Bände der Grimmelshausen-Gesamtausgabe von 1713. Vgl. P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 270.

besitzer und leser simplicianisher schriften 61 Verhältnismäßig groß ist dagegen die Gruppe der Gelehrten, der Beamten und der Geistlichen, die Werke des Simplicissimus-Zyklus besassen: Johann Friedrich Christ (1700-1756), Altphilologe, Historiker, Universitätsprofessor in Leipzig. – Benedikt Muhl (1693-1778), Mediziner, Rat, Senator und Bürgermeister von Minden (seine Bibliothel, die ca. 9.000 Titel enthielt, wurde 1741 versteigert). – Ein Tübinger Pfarrer (gest. um 1756). – Christoph Jakob Trew (1695-1769), Mediziner und Botaniker in Nürnberg (seine Bibliothek umfaßte ca. 34.000 Bände), Leibarzt des Markgrafen von Ansbach. 193 – Johann Gottlieb Albert (1674-um 1750), Doktor der Rechte (1703), Weimarer Jurist und Hofrat. 194 – Johann Christoph Gottsched (17001766). 195 – Thomas Franz Wilhelm Hohorst (geb. um 1700), braunschweigisch-lüneburgischer Hofrat und Professor. – Johann Joachim Schwabe (1714-1784), Studium in Leipzig, Privatlehrer, Hofmeister, Kustos der Universitätsbibliothek, a. o. Professor für Philosophie, Literaturkritiker, Übersetzer, Herausgeber, Publizist, Anhänger von Gottsched und Mitarbeiter an dessen unvollendeter Literaturgeschichte als eigenverantwortlicher für die Abteilung «Roman». 196 – Gottlieb Ernst Schmid (1727-1814), evangelisch-lutherischer, der Aufklärung nahestender Theologe, Prediger am Königlichen Waisenhaus zu Berlin (seine Bibliothek bestand aus über 15.000 Bänden). 197  









Bei der Betrachtung der Daten über die Besitzer von Werken des simplicianischen Zyklus in den Jahren 1714-1800 fällt auf, daß der Adel plötzlich kein Interesse mehr für sie zeigt. Es war mit Sicherheit eine Folge des immer stärker werdenden Einflusses der französischen Sprache, Literatur, Kultur und Philosophie, die sich an den Höfen durchsetzten und eine radikale Änderung der Lesegewohnheiten und der Geschmackspräferenzen des Adels bewirkten. Die Ergebnisse der Forschungen von Marianne Spiegel, die die in acht Bibliotheken des schleswig-holsteinischen Adels vorhandenen Romane untersucht hat, und die Analyse der Bestände von adeligen Bibliotheken anderer Territorien zeigen deutlich die vorherrschende Rolle der französischen Sprache und Literatur. In der Zeit von 1700 bis 1770 finden sich in allen acht schleswig-holsteinischen Bibliotheken zusammengenommen nur 147 Romane: 99 stammen aus Frankreich, 39 aus England und neun aus Deutschland; 113 sind in französischer Sprache, 25 in Deutsch und neun in Englisch. Bei einer Gliederung nach Jahrzehnten der ermittelten Daten stellt sich heraus, daß bis 1740 die Romanlektüre des schleswigholsteinischen Adels absolut vom französischen Roman in französischer Sprache beherrscht wurde. 198 In den Bibliotheken des Adels von anderen Territorien  

193

  Vgl. Gert A. Zischka: Allgemeines Gelehrten-Lexikon. Stuttgart: Kröner 1961, S. 652.   Vgl. P. Heßelmann: Simplicissimus Redivivus, S. 264. 195   Über die kritische Einstellung Gottscheds zu Grimmelshausen vgl. P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 195. 196   Vgl. Felix Leibrock: «Schwabe, Johann Joachim». In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. v. Walther Killy. Band 10. Bertelsmann Lexikon Verlag 1991, 197 S. 442-443.   Planet Grimmelshausen, S. 308. 198   Marianne Spiegel: Der Roman und sein Publikum im früheren 18. Jahrhundert 1700-1767 194

62 alberto martino überwiegen ebenfalls die Bücher in französischer Sprache. Die Bibliothek der geistvollen, eifrigen Förderin der Künste und Wissenschaften Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt (1721-1774) enthielt nach dem 1763 angelegten Katalog 2.611 Werke (2.249 französische, 77 englische, 172 deutsche, 97 über Musik, 16 Handschriften). Während in dieser Bibliothek die mit 847 Werken vertretene französische Literatur recht vollständig vorhanden ist (die englische mit 61, die italienische mit 25), ist die deutsche Literatur des Barock völlig abwesend und die des 18. Jahrhunderts lediglich mit Werken von Gellert, Geßner, Haller, Lessing und Justus Möser in französischer Übersetzung präsent (die Prinzessin kannte und schätzte aber auch die Oden und den Messias von Klopstock und die Werke Wielands). 199 In der Bibliothek des soldatenbesessenen Mannes der „großen Landgräfin“ (Goethe 200), des Landgrafen Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt (1719-1790), die gemäß dem 1790 angelegten Katalog 569 Titel umfaßte, wovon ein Großteil das Militärwesen betraf (98 Bände), war die deutsche Literatur nur mit (insgesamt sechs) Werken von August Friedrich Cranz, Heinrich von Veldeke, Carl Christian Reckert, Gottfried Jacob Schaller, Joseph Paul Jacob Winkler und Just Friedrich Wilhelm Zachariä vertreten, die französische Literatur dagegen mit 44 Werken. 201 Viel besser war die deutsche Literatur hingegen in der Bibliothek der Mutter der Landgräfin Karoline, der Herzogin Karoline von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld (1704-1774), vertreten, die aus 1.595 Werken bestand. Auch in dieser Bibliothek überwog aber die französische Literatur (205 Werke) gegenüber der deutschen (47 Werke). Die deutsche Barockliteratur fehlte – mit der einzigen Ausnahme der Weltlichen Poëmata von Opitz – zur Gänze. 202 Die Bibliothek des Freiherrn Ludwig Karl von Schrautenbach (1724-1783), Nachkommen einer seit dem 15. Jahrhundert in hessischen Diensten stehenden, dann nobilitierten Beamtenfamilie, setzte sich ebenfalls – wenn man von den Fabeln (Esopus. Frankfurt am Main 1548, 1555, 1557...) von Burkhard Waldis und dem Opus Theatricum (Nürnberg 1618) von  







(= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, 41). Bonn: Bouvier 1967, S. 96-98. 199   Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Die Bibliothek der großen Landgräfin Caroline von Hessen. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 6 (1966), Sp. 681-876. 200   Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. Vierundzwanzigster Band. Dichtung und Wahrheit. Dritter Teil. Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger [o. J.], S. 84. 201   Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Der Katalog der Bibliothek des Landgrafen Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt (1790). In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 11 (1971), Sp. 1673-1728. 202   Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Zwei Privatbibliotheken des 18. Jahrhunderts. 1. Die Bibliothek der Herzogin Caroline von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld, Mutter der »Großen Landgräfin«, (gestorben 1774). 2. Die Bibliothek des Freiherrn Louis von Schrautenbach (gestorben 1783). In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 10 (1970), Sp. 685-836; hier Sp. 685776.

besitzer und leser simplicianisher schriften 63 Jacob Ayrer absieht – ausschließlich aus Werken von Autoren des 18. Jahrhunderts zusammen. In der 832 Titel umfassenden Bibliothek des Freiherrn von Schrautenbach, der am Darmstädter Hof der ‚großen’ Landgräfin Karoline lebte, 203 hat die deutsche Literatur (mit 37 Werken) ein gewisses Übergewicht gegenüber der französischen (24 Werke) und der englischen (26 Werke). Das Hauptinteresse des Freiherrn von Schrautenbach, der Mitglied der pietistischen Herrnhuter Gemeinde war und zum Biographen des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf wurde, galt natürlicherweise der religiösen Literatur. 204 Einen extremen, aber nicht einzigen Fall von Frankophilie und von radikaler Wende zur französischen Kultur stellt die schöne, geistreiche und außerordentlich gebildete Prinzessin von Hannover Sophie Charlotte (1668-1705), die als Frau von Friedrich III. (I. als König) zuerst Kurfürstin (1688) von BrandenburgPreußen und dann (1700) Königin in Preußen wurde, dar. 205 Während sich ihre Mutter Sophie von der Pfalz auch für die deutsche Literatur interessierte und Werke wie den Simplicissimus und die Courasche las oder sich vorlesen ließ, hegte Sophie Charlotte, die durch ihre Tante (eig. Cousine) Liselotte von der Pfalz 206 eine von der französischen Hofkultur Ludwigs XIV. geprägte Erziehung empfangen hatte und die am Hof des Sonnenkönigs mehr als ein Jahr (1683/1684) verbrachte, 207 eine ausschließliche Vorliebe für die französische Kultur, Sprache und Literatur, 208 die die Entwicklung des Klassizismus am  











203  Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte. Dritter Band, Sp. 2548-2549 («Schrautenbach, Ludwig Karl Frh. von Sch., gen. Weitelshausen»). 204   Vgl. H. Bräuning-Oktavio: Zwei Privatbibliotheken des 18. Jahrhunderts, Sp. 777-836. Das gleiche starke Interesse für die pietistische religiöse Literatur hatte Maria Schramm Misler (1734-1777), eine typische Vertreterin des vornehmen Hamburger Bürgertums der mittleren Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Ihre Lieblingslektüre bestand aus erbauulichen Schriften und Sammlungen geistlicher Lieder; sie las aber auch die Anakreontiker Friedrich von Hagedorn und Johann Peter Uz und die Clarissa von Samuel Richardson. Vgl. Percy Ernst Schramm: Die Hamburgerin im Zeitalter der Empfindsamkeit. In: Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte 41 (1951), 233-267. 205   Auch der Kurfürst Max Emanuel (1662-1726) von Bayern, den Sophie Charlotte anscheinend gern geheiratet hätte (vgl. E. Vehse: Illustrierte Geschichte des preußischen Hofes, S. 100-101), hatte eine ebenso große Vorliebe für die französische Sprache und Kultur und zeigte dasselbe Desinteresse für die deutsche Sprache und Literatur. Zum blauen Kurfürsten vgl. Kurfürst Max Emanuel. Bayern und Europa um 1700. Zur Geschichte und Kunstgeschichte der Max-Emanuel-Zeit. Herausgegeben von Hubert Glaser. München: Hirmer Verlag 1976. 206   Die berühmte Elisabeth Charlotte (Liselotte) von der Pfalz (1652-1722) war die Tochter von Karl Ludwig von der Pfalz, Bruder von Sophie von der Pfalz, die sie erzogen hatte. Sie hatte 1671 den Herzog Philipp von Orléans, Bruder von Ludwig XIV., geheiratet und spielte die Rolle der zweiten, jahrelang der ersten Dame am Hof von Versailles, wie – u. a. – ihr ausgedehnter Briefwechsel und insbesondere die Mémoires des Herzogs von Saint-Simon bezeugen. Als Frau von ‚Monsieur’, Titel des Bruders des Königs, wurde sie mit ‚Madame’ betitelt. Zu Liselotte von der Pfalz vgl. Maria Fürstenwald: Liselotte von der Pfalz und der französische Hof. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. III, S. 467-473. 207   Vgl. Eduard Vehse: Illustrierte Geschichte des preußischen Hofes, S. 99-115. 208  Vgl. Otto Krauske: Königin Sophie Charlotte. In: Hohenzollern-Jahrbuch 4 (1900), 110-126.

64 alberto martino preußischen Hof stark förderte, 209 und verachtete die deutsche Sprache. 210 Daß genauso ausschließlich die Vorliebe ihres Enkels Friedrich II. des Großen für die französische Sprache, Literatur und Kultur und ebensogroß sein Unverständnis für die deutsche Literatur und Kultur sein wird, ist sattsam bekannt. Bei der Gruppe der Gelehrten, Beamten und Geistlichen scheint dagegen, daß in den Jahren 1714-1800 das Interesse für Werke des simplicianischen Zyklus nicht erloschen war. Freilich handelte es sich bei einigen Besitzern um ein rein literarhistorisches, bei anderen vermutlich um ein rein bibliophiles Interesse. Die Bestände von Bibliotheken anderer Angehörigen dieser Gruppe, deren Kataloge überliefert worden sind, verzeichnen in der Tat kein pikareskes Werk von Grimmelshausen und – im allgemeinen – fast kein Werk der Barockliteratur. So enthielt, zum Beispiel, die reichhaltige Bibliothek des Vaters von Goethe – Johann Kapar Goethe (1710-1782) war Doktor beider Rechte und hatte den Titel eines Wirklichen Kaiserlichen Rats gekauft –, die 1.691 Werke umfaßte und in der die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts sehr gut vertreten war, ein einziges Werk der Barockliteratur: die Ausgabe der von K. W. Ramler und Lessing herausgegebenen Epigramme von Friedrich von Logau. 211 In dem Auktionskatalog (1762) der Bibliothek von Michael Richey, Professor am Akademischen Gymnasium Hamburgs, sowie in dem Auktionskatalog der Bibliothek von Gottlieb Friedrich Goeze, Pastor in derselben Stadt, sind 57 bzw. 21 Romane verzeichnet, aber kein Werk von Grimmelshausen. 212 Auch unter den 34 Romanen (sie waren alle in den Jahren 1703-1766 veröπentlicht worden) der Bibliothek des Justizrates Hoe aus Schleswig, deren Bestände möglicherweise von seinem Vater, dem Compt. Rath Hoe, angeschaπt worden waren und aus einem Verzeichnis hervorgehen, das seinem Testament (1820) beiliegt, erscheint kein Werk Grimmelshausens. 213 Das Patriziat wird nur von Zacharias Conrad von Uπenbach (1683-1734) repräsentiert. Der Frankfurter Patrizier, ein berühmter Bibliophile, der eine  









209   Zur Dichtung am Berliner Hof unter Friedrich III. (I. als König) vgl. Ludwig Geiger: Berlin 1688-1840. Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt. Erster Band. Erste Hälfte. Berlin: Verlag von Gebrüder Paetel 1892, S. 15-49. 210   Für Sophie Charlotte waren „französische Sprache und Literatur ein Gesetz, dem alle Völker sich zu unterwerfen hatten, und die Muttersprache war ein Dialekt, in dem man im vertrauten Familienkreise und zu Domestiken sprach“ (Carl Hinrichs: Friedrich Wilhelm I. König in Preussen. Eine Biographie. Jugend und Aufstieg. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1943, S. 47). 211  Vgl. Franz Götting: Die Bibliothek von Goethes Vater. In: Nassauische Annalen 64 (1953), 23-69. 212   Vgl. M. Spiegel: Der Roman und sein Publikum im früheren 18. Jahrhundert 1700-1767, S. 109-111. 213   Vgl. M. Spiegel: Der Roman und sein Publikum im früheren 18. Jahrhundert 1700-1767, S. 88-89, 111-112.

besitzer und leser simplicianisher schriften 65 Bibliothek von 40.000 Bänden und 2.000 Handschriften gesammelt hatte, hatte Jura und Philosophie an den Universitäten in Straßburg und Halle studiert. Er verfaßte Reisebücher und wirkte ab 1721 in seiner Heimatstadt als Ratsherr und Bürgermeister. 214 Das Bürgertum hat allein zwei Besitzer vorzuweisen: der bekannte Leipziger Großverleger Thomas Fritsch (1666-1726), der die in seiner 1729 versteigerten Privatbibliothek enthaltene dreibändige Grimmelshausen-Gesamtausgabe von 1713 höchstwahrscheinlich nach 1714 erworben hatte, und der Basler Postmeister Johann Schorndorπ (1705-1769), ein bedeutender Sammler von Münzen, oder sein Bruder Johann Jakob, Buchdrucker und Buchändler. 215  



Ab ungefähr dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts hatten die Entwicklung eines ausgedehnten Buchmarktes 216 und die Gründung von Moralischen Wochenschriften, Lesegesellschaften und Leihbibliotheken eine progressive Zunahme des Lesepublikums ermöglicht. 217 Die Moralischen Wochenschriften, die eine neue ästhetisch-literarische Erziehung des Lesepublikums ungemein förderten und  



214

  Vgl. Winfried Siebers: «Uπenbach, Zacharias Conrad von». In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. v. Walther Killy. Band 11. Bertelsmann Lexikon 215 Verlag 1991, S. 463-464.   Vgl. Planet Grimmelshausen, S. 150-151. 216   Vgl. A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 414-419. – A. Martino: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz, S. 132-135. 217   Vgl. W. Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, S. 141-161, 520-542. – Herbert G. Göpfert: Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert [1971]. In: Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland. Zwölf Aufsätze. Herausgeber: Franklin Kopitzsch. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1976, S. 403-411. – Klaus Gerteis: Bildung und Revolution. Die deutschen Lesegesellschaften am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Archiv für Kulturgeschichte 53 (1971), 127-139. – Barney Martin Milstein: Eight Eighteenth Century Reading Societies. A Sociological Contribution to the History of German Literature (= German Studies in America, XI). Bern and Frankfurt: Lang 1972. – Marlies Prüsener: Lesegesellschaften im achtzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur Lesergeschichte. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe. Jahrgang 28. Nr. 10, vom 4. Februar 1972, S. 189-301 (auch als Sonderdruck aus dem »Archiv für Geschichte des Buchwesens«, Band XIII, Lieferung 1-2, Frankfurt am Main 1972, Sp. 369-594). – R. Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500-1800, S. 216-295. – Otto Dann: Die Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts und der gesellschaftliche Aufbruch des deutschen Bürgertums. In: Buch und Leser. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert, S. 160-193. – Otto Dann: Die deutsche Aufklärungsgesellschaft und ihre Lektüre. Bibliotheken in den Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts. In: Buch und Sammler. Private und öπentliche Bibliotheken im 18. Jahrhundert. Heidelberg: Carl Winter 1979, S. 187-199. – Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. Hrsg. v. Otto Dann. München: C. H. Beck 1981. – Ulrich im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München: Beck 1982, S. 123. – Otto Dann: Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14/II (1989), 45-53. – Thomas Sirges: Lesen in Marburg 1758-1848. Eine Studie zur Bedeutung von Lesegesellschaften und Leihbibliotheken (= Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, 37). Marburg: Magistrat der Stadt Marburg. Presseamt 1991. – A. Martino: Die deutsche Leihbibliothek, S. 1-133.

66 alberto martino 218 verbreiteten, der Pietismus, 219 die Empfindsamkeit 220 und die Ästhetik des Emotionalismus 221 führten eine radikale Änderung des literarischen Geschmacks herbei. Diese geistigen Strömungen bewirken die ‚Verbürgerlichung’ der Literatur, während die starke Verringerung der sozialen Mobilität die ‚Verbürgerlichung’ der Intellektuellenschicht verursacht. 222 Man hätte folglich erwarten können, daß alle diese zusammenhängenden und sich wechselseitig beeinflussenden Erscheinungen und insbesondere die Verbreiterung des literarischen Publikums auch die Aufnahme der pikaresken Werke Grimmelshausens beim Bürgertum begünstigt hätten. Die von Planet Grimmelshausen gelieferten Daten enttäuschen aber diese Erwartung. Es gibt dennoch eine sehr wichtige lesersoziologische Quelle, die zu beweisen scheint, daß tatsächlich eine ziemlich intensive Aufnahme des Simplicissimus und der anderen Schelmenromane Grimmelshausens in mittelständischen Schichten stattgefunden hat. Es handelt sich um die Ausleihbücher der Herzog-AugustBibliothek-Wolfenbüttel, 223 deren Eintragungen Mechthild Raabe bearbeitet, ausgewertet und systematisch herausgegeben hat.  











218   Vgl. W. Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, S. 456-461. 219   Über den Pietismus vgl. Klaus Deppermann: Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961. – Hartmut Lehmann: Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Stuttgart: W. Kohlhammer 1969, S. 22-134. – Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1971. – Hartmut Lehmann: Der Pietismus im alten Reich. In: Historische Zeitschrift 214 (1972), 58-95. Über die Rolle des Pietismus bei der Verurteilung der weltlichen Barockliteratur und seinen Beitrag zu ihrer Überwindung vgl. Hans Sperber: Der Einfluß des Pietismus auf die Sprache des 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 8 (1930), 497-515. – Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts (= Germanistische Abhandlungen, 15). Stuttgart: Metzler 1966, S. 440-456. – A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 430-433. 220   Zur Empfindsamkeit vgl. Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur, 11). Stuttgart: W. Kohlhammer 1969. – Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Band I: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart: Metzler 1974; Band III: Quellen und Dokumente. Stuttgart: Metzler 1980. 221   Zur Ästhetik der Emotionalismus vgl. Alberto Martino: Geschichte der dramatischen Theorien in Deutschland im 18. Jahrhundert. I. Die Dramaturgie der Aufklärung (1730-1780). Aus dem Italienischen von Wolfgang Proß (= Studien zur deutschen Literatur, 32). Tübingen: Niemeyer 1972, S. 1-108. – Alberto Martino: Emotionalismus und Empathie. Zur Entstehung bürgerlicher Kunst im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 81/82/83 (1977/1978/1979), 117-130. 222   Vgl. A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 419-429. – A. Martino: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz, S. 135-144. 223   Über den großen Wert der Registraturbücher der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel als Quellen für die leser- und literatursoziologische Forschung vgl. John A. McCarthy: Lektüre und Lesertypologie im 18. Jahrhundert (1730-1770). Ein Beitrag zur Lesergeschichte am Beispiel Wolfenbüttels. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 8 (1983), 35-82; hier S. 55-58.

besitzer und leser simplicianisher schriften 67 Nach dem Verzeichnis der aus dieser Bibliothek entliehenen Bücher hatten sich nämlich für den Simplicissimus und andere Werke Grimmelshausens folgende Leser interessiert: ein Galanterienhändler (23. Nov. 1756: Simplicissimus. 1. Theil. – 1 Bd. [Der Aus dem Grab der Vergessenheit wieder erstandene Teutsche Simplicissimus]); ein Professor (Febr. 1759: Simplicissimus. I.-III. Th. – 3 Bde. [1. Bd.: Der Aus dem Grab der Vergessenheit wieder erstandene Teutsche Simplicissimus – 2. Bd. Springinsfeld, Courage, Vogelnest, Keuscher Joseph. – 3. Bd. Satyrischer Pilgram, Rathstübel Plutonis, Verkehrte Welt, usw.]); ein Kondukteur (29. Aug. 1765: Simplicissimus. B. I. II. III. – 3 Bde. [wie oben]); ein Generalmajor (14. Dez. 1765: Simplicissimus. 3 Bde. [w. o.]); ein Student jur. (8. Aug. 1767: Simplicissimus. Bd. 3. – 1 Bd. [siehe oben]); ein Schüler (14. Sept. 1768: Simplicissimus. T. I.-III. – 3 Bde. [w. o.]); ein Koch (15. Okt. 1768: Simplicissimus. 1. 2. Th. 2 Bde. [s. o.]); ein Tabakreiber (29. Nov. 1768: Simplicissimus. 1.-3. Theil. – 3 Bde. [w. o.]); ein Sergeant (13. April 1769: Simplicissimus. 1.-3. Theil. – 3 Bde. [w. o.]); ein Tapezierer (4. Juni 1771: Simplicissimus. 1.-3. Band. 3 Bde. [w. o.]); ein Mühlenschreiber (18. Jan. 1772: Simplicissimus. 1.-3. Band. – 3 Bde. [w. o.]); ein Kaufmann (8. Febr. 1772: Simplicissimus. 2. u. 3. Band. – 2 Bde. [s. o.]); ein Kurier (29. Sept. 1772: Simplicissimus. P. I. II. – 2 Bde. [s. o.]); ein Bedienter (10. Dez. 1776: Simplicissimus. P. I. – 1 Bd. [s. o.]); ein Kammerjunker (4. Sept. 1778: Simplicissimus. 1.-3. Bd. – 3 Bde. [w. o.], 15. Okt. 1783: Simplicissimus Schriften. 2. Th. 1. Buch. – 1 Bd. [Deß possirlichen ... Simplicissimi Sinnreicher und nachdencklicher Schriπten Zweyten Theils Erstes Buch von dem seltzamen Springinsfeld], 17. Nov. 1783: Simplicissimus Lebenswandel. – 1 Bd. [Der Aus dem Grab der Vergessenheit wieder erstandene Simplicissimus; Dessen Abentheurlicher / und mit allerhand seltsamen / fast unerhörten Begebenheiten angefüllter Lebens-Wandel]); ein Trüπeljäger (14. Nov. 1778: Simplicissimus. 2. u. 3. Theil. – 2 Bde. [s. o.]); ein Bäcker (6. Juli 1779: Simplicissimus. 1 Bd. ); ein Strumpπabrikant (20. April 1780: Simplicissimus. 1 Bd.); ein Candidat theol. (18. Aug. 1790: Abentheuerliche[r] Simplicissimus. 1 Bd.). 224  

Die Entleihungen erfolgten fast alle zwischen 1765 und 1790. Das Übergewicht der Angehörigen der mittel- und unteren Schichten des Mittelstandes ist klar. Der (niedere) Adel ist kaum vertreten. Peter Heßelmann, der in seiner vortre∫ichen Monographie über die Rezeptionsgeschichte Grimmelshausens im 17. und 18. Jahrhundert auch die von Mechthild Raabe aufbereiteten Ausleihbücher der Herzog-August-Bibliothek-Wolfenbüttel berücksichtigt hat, schreibt: Was die Entleihungen der Werke Grimmelshausens in der Okerstadt angeht, so ist der Anteil adliger Rezipienten auπallend gering, während die Leser bürgerlicher Herkunft weit überwiegen. Bei der groben sozialen Diπerenzierung der Ausleihenden sind vier 224

  Vgl. Mechthild Raabe: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1714-1799. Band 3. Alphabetisches Verzeichnis der entliehenen Bücher, S. 169. – A. Martino: Lektüre und Leser in Norddeutschland. Zu der Veröπentlichung der Ausleihbücher der Herzog-August-Bibliothek, S. 390-391.

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Hauptgruppen auseinanderzuhalten: Hofbedienstete und -beamte, Soldaten unterschiedlichen Ranges, Kaufleute und Handwerker sowie Schüler und Studenten. Überraschenderweise findet sich im untersuchten Zeitraum kein Geistlicher mit Ausnahme eines Studenten der Theologie unter den Grimmelshausen-Entleihern. Sämtliche Bibliotheksbenutzer borgten ausschließlich Bände der Gesamtausgabe. [...] In der untersuchten Zeitspanne wurde die Werkedition von 19 Bibliotheksbesuchern geborgt. Grimmelshausen befindet sich damit nicht in der Spitzengruppe der in Wolfenbüttel am meisten gelesenen Autoren. Hier nimmt Herzog Anton Ulrich mit weit über 200 Entleihungen den ersten Rang ein; die Barockerzähler Happel, Bucholtz und Ziegler und Kliphausen liegen klar vor dem Simplicissimus-Verfasser. Nur wenig öfter als Grimmelshausen wurden Lohenstein und Zesen in der Registratur aufgezeichnet. 225  

Die Daten über die Entleihungen der Werke Grimmelshausens sind so wichtig und in ihrer – wie man sehen wird – Einzelheit so rätselhaft, daß es sinnvoll scheint, die literarischen Lesepräferenzen jener neun Angehörigen der mittleren-unteren und untersten Schichten des Mittelstandes eingehend zu betrachten, die den Simplicissimus und zum Teil auch die anderen simplicianischen Schriften entliehen. Von diesen neun Bibliotheksbesuchern wurden – außer jenen Grimmelshausens – folgende literarische Werke entliehen: Galanterienhändler (Schaefer) – Zahl der zwischen dem 21. August 1756 und dem 21 Januar 1758 insgesamt entliehenen Werke: 11 –. Literarische Werke: Arminius und Thusnelda; Die Asiatische Banise; Herkules und Valiska; Herkuliskus und Herkuladisla; Der Heldenmüthige Perseus und die getreue Andromeda. In einer angenehmen Staats- und HeldenGeschichte (Nürnberg 1726) von Melander (Johann George Ansorge); Der Bethlehemitische Kinder-Mord von Brockes. Kondukteur (Johann Martin Bornemann) – Zahl der zwischen dem 29. September 1763 und dem 29. August 1765 insgesamt entliehenen Werke: 31 –. Literarische Werke: Les Aventures de Télémaque von Fénelon; Aramena; Römische Octavia; Le cabinet des fées von Marie Catherine d’Aulnoy; Herkules und Valiska; Der Ungarische Kriegs-Roman, Der Ottomanische Bajazeth, Oder so genannter Europaeischer Geschicht-Roman und Der Sächsische Witekind/ Oder so genannter Europaeischer Geschicht-Roman von Eberhard Werner Happel; L’histoire de Mr. Cleveland von Antoine-François Prévost d’Exiles; Schlesischer Robinson von Christian Stieπ. Koch (Johann Michael Hake) – Zahl der zwischen dem 27. Juli 1768 und dem 25. November 1772 insgesamt entliehenen Werke: 56 –. Literarische Werke: Der Ungarische Kriegs-Roman, Der Jnsulanische Mandorell, Der Sächsische Witekind, Der Teutsche Carl, Der Bäyerische Max, Afrikanischer Tarnolas, Der Ottomanische Bajazeth, Der Französische Cormantin, Der Spanische Quintana und Der asiatische Onogambo von E. W. Happel; Die Scheinheilige Witwe und Das in Lastern ersoπene alte Weib von Veriphantor (Johann Gorgias); Die seltsamen Avanturen zweyer Personen (Leipzig: Zedler 1728); Die Durchlauchtigste Margaretha von Oesterreich / In einer Staats- und Heldengeschichte von 225

  P. Heßelmann: Simplicissimus Redivivus, S. 271-273.

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Aramene (Pseud.); Der Semper-lustige Fabel-Hanns (1703); Der unbesonnenen Jugend Artzney-Spiegel (Nürnberg: Endter o. J.) von Joerg Wickram; Aramena; Römische Octavia; Almahide, oder Leibeigene Königin (1682-1696) von M. de Scudéry; Herkules und Valiska; Herkuliskus und Herkuladisla; Aurorens/ Königlicher Princeßin aus Creta, Staats- und Liebes-Geschichte von Talander (August Bohse); Argenis (übs. v. Talander); Aeyquam, oder der Große Mogol von Christian W. Hagedorn; Das Leben ... von Robinson Crusoe (1720) von Daniel Defoe; Arminius und Thusnelda; Assenat von Zesen; Don Quixote; Leben und Thaten der englischen Straßenräuber von Captain Alexander Smith; Die Türkische Helena von Meletaon (Johann Leonhard Rost); Gedichte von Gellert. Tabakreiber (Joseph) – Zahl der zwischen dem 15. November 1768 und dem 25. September 1781 insgesamt entliehenen Werke: 79 –. Literarische Werke: L’histoire de Mr. Cleveland von Antoine-François Prévost d’Exiles; Der Unglücklich-Glückselige Epirotische Graf Rifano (Nürnberg 1722) von Melissus (Otto Philipp Virdung? Michael Erich Frank?); L’Infortuné Philope, ou Les memoires et avantures de Mr.*** (Rouen: J. B. Mazuel 1732); Les Entretiens du Luxembourg (Paris: Billaine 1666) von Jean-Baptiste de Rocoles; Histoire des amours du Maréchal Duc de Luxemburg (Cologne: Batanar 1694); Der Lustige Weiber-Procurator (Bremen: Sauermann 1714); Die Unüberwindliche Stärke der Liebe (1728) von Namor (Pseud.); Die Prinzessin Tamestris aus Aegypten von Johann Leonhard Rost; Tugend-Cron und Laster-Lohn (1687) von Vincentius Cisner; Die Ungemein-Curieuse Liebes-Neigung zweier Fürstlicher Brüder (Nürnberg 1699; Übs.: Les princes rivaux. Paris 1698); Der stäubige Jungfernpeltz von Antimoderno (nicht identifiz.); Contes à rire, ou Récréations françoises (1762); Les soirées bretonnes (Paris 1712) von Thomas-Simon Gueulette; Le voyage et les avantures des trois Princes de Serendip (Paris 1719; Übs.: Cristoforo Armeno: Peregrinaggio di tre giovani... Venezia 1557); Leben und Thaten der englischen Straßenräuber von Captain Alexander Smith; Der unbesonnenen Jugend Artzney-Spiegel (Nürnberg: Endter o. J.) von Joerg Wickram; Janetzkius Redivivus. Oder ... Erzehlungen und Handlungen in Rätzeln / Gesprächen / Scherzhaπten doch Sinnreichen Reden... (um 1670); Amors Glücks- und Unglücksfälle von Damiro (1720; Übs.: Giovanni Francesco Loredano: Novelle amorose. Venezia 1646); Les Désespérés (Paris 1731; Übs.: Giovanni Ambrogio Marini: Le Gare de’ disperati. Milano 1644); Les amours de Henry IV, avec ses lettres galantes (1695) von M. de Le Harpe; Curieuse Bauer-Historien (1709) von Urban Dorπgast (Pseud.); Aethiopica Historia ... von Theagenes und Chariclia (A. von 1554 bis 1641) von Heliodoros aus Emesa; Historien von Claus Narr (A. 1572 bis 1687) von Wolfgang Büttner; Liebe und Intriquen unterschiedlicher Maitressen vornehmer Potentaten (Dresden 1703; Übs.: Anne de la Roche-Guilhen: Histoire des favorites. Amsterdam 1697); Die lustige Schau-Bühne von allerhand Curiositäten (A. 1663 bis 1702) von Erasmus Francisci; Voyages du Capitaine Lemuel Gulliver (A. 1727 bis 1777) von Jonathan Swift; Les voyages de Cyrus (1727) von Sr. Andrew Ramsay; Die glückseeligste Insul ... oder das Land der Zufriedenheit (1723) von Constantin von Wahrenberg (Philipp Balthasar Sinold, gen. von Schütz); Leben und Thaten des weltberüchtigten Spitzbuben Louis Dominique Cartouche (1723. Übs.: Histoire de la vie de C. 1723); Le Conte du Tonneau (A. 1721 bis 1757) von Jonathan Swift; Le véritable ami, ou la vie de David Simple (1749) von Sarah Fielding; Die Neuzugerichtete Historische Confect-Taπel (1677) von Jacob Daniel Ernst; Unterredungen von dem Reiche der Geister

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(1731) von Otto von Graben zum Stein; Faramond, ou l’Histoire de France (Paris 16611670, 12 Bände; Faramond... Abregé par le Marquis de Surgères. Paris 1753, 4 Bde.) von Gautier de Costes, sieur de La Calprènede; 226 Les avantures du Prince Jakaya (1731) von Adrien de la Vieuville, comte de Vignacourt; Der wahrhaπtige Roman (1668. – Le roman véritable. Paris 1645; franz. Übs. der Cigarrales de Toledo von Tirso de Molina); Lustig-listige kurzweilige Begebenheiten (= Allerhand lustige und kurzweilige Begebenheiten. Straßburg 1686? Oder: List- und lustige Begebenheiten. Rostock 1741?); Zwey anmuthige und warhaπte Liebs-Historien (Nürnberg 1682. Übs.: Le Triomphe de l’amitié, histoire galante. Lyon 1679. – Le voyage de la Reine d’Espagne. Paris 1680) von Jean de Préchac; Histori von dem Keyser Octaviano (1535; Übs.: Lhistoire de Florent et Lyon, enfants de l’empereur de Rome. Paris o. J.); Gespräche im Reiche der Todten (Hrsg. v. David Fassmann. Lpz. 1718-1739? Oder: Hrsg. v. Chr. H. Korn. Ulm 1773-1775? Oder: Hrsg. v. Chr. G. Richter. Nürnberg 1757-1763?); Die Tausend und Eine Nacht (Mit einer Vorrede v. August Bohse. Lpz.: Gleditsch 1710-1732, 1759-1761); Le diable boiteux (Paris 1707, 1726) von Alain-René Lesage; Les adventures de Joseph Pignata, échappé des prisons de l’Inquisition de Rome (Cologne: P. Marteau 1725) von Giuseppe Pignata (?); Grillenvertreiber, Das ist: Neuwe wunderbarliche Historien (Frankfurt/M. 1603) von H. F. von Schönberg; Don Quixote; Amor am Hofe (1689) von August Bohse; Histori von dem Edlen Ritter Pontus (Ausgaben: von 1485 bis 1760: Übs.: L’histoire du noble roy Ponthus. Lyon: G. le Roy o. J.); Nützliches Rosengebüsche in Lebensbeschreibungen (1724) von Adam Gottlieb Arnold; Herkuliskus und Herkuladisla. (Hof-)Tapezierer (Johann Heinrich Goertz) – Zahl der zwischen dem 29. September 1769 und dem 2. Januar 1779 insgesamt entliehenen Werke: 39 –. Literarische Werke: Die Leipziger Land-Kutsche (1725) von Telandrinus (Johann Leonhard Rost); Der Israelitischen Printzens Absalons und Seiner Princessin Schwester Thamar Staats- Lebens- und Helden-Geschichte (Nürnberg 1710) von Pallidor (Georg Christian Lehms); Das Leben ... von Robinson Crusoe (1720) von Daniel Defoe; Almahide, oder Leibeigene Königin (1682-1696) von M. de Scudéry; Aramena; Asiatische Banise; Herkuliskus und Herkuladisla; Don Quixote; Der Ottomanische Bajazeth von E. W. Happel; Heinrich der Vogler. Ein Singspiel (1719) von Johann Ulrich König; Der Kobold. Ein scherzhaftes Heldengedicht (1758) von Paul August Schrader; Arminius und Thusnelda; Clelja: Eine Römische Geschichte (1664) von M. de Scudéry; Abendzeitvertreib in verschiedenen Erzählungen (1757-1777); Klagen, oder Nachtgedanken (1760-1763) von Edward Young; Moralische Erzählungen (1757) von Johann Gottlob Benjamin Pfeil; Hercules und Valiska. Kurier (Schütze) – Zahl der zwischen dem 29. September 1772 und dem 26. September 1776 insgesamt entliehenen Werke: 14 –. Literarische Werke: Der Heldenmüthige Perseus und die getreue Andromeda. In einer angenehmen Staats- und Helden-Geschichte (Nürnberg 1726) von Melander (Johann Georg Ansorge); Der Israelitischen Printzens  

226   Der Tabakreiber Joseph entleiht nur den ersten Band der französischen Ausgabe. Alle Leser und Leserinnen des Faramond lasen das Werk in der Originalsprache. Es gab aber auch eine deutsche Übersetzung des Romans aus der Feder von Johann Philipp Ferdinand Pernauer von Perney: Des Durchleuchtigsten Pharamunds/ curiöse Liebs- und Helden-Geschicht/ Oder [....]. 12 Theile. Nürnberg 1688-1699.

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Absalons und Seiner Princessin Schwester Thamar Staats- Lebens- und Helden-Geschichte (Nürnberg 1710) von Pallidor (Georg Christian Lehms); Die Unglückseelige Atalanta (1708) von Meletaon (Johann Leonhard Rost); Schau-Platz Barbarischer Sclaverey (1666, 1694) von Johann Frisch; Lustspiele (Ausgaben: 1747 bis 1774) von Gellert; Leben von Marianne (1751) von Marivaux; Der Ritter von Thurn, Zuchtmaister der Weiber und Junckfrawen (Ausgaben: 1538 bis 1682. Übs.: Le Livre du chevalier de La Tour pour l’enseignement de ses filles. 1371-1372) von Geoπroy de La Tour Landry; Der wohlversuchte Amant (1716) von Adamantes (Pseud.); Die Durchlauchtigste Margaretha von Oesterreich / In einer Staats- und Heldengeschichte von Aramene (Pseud.); Der Frantzösische Robinson (1723) von François Le Guat; Die unglückselige Princeßin Michal und der verfolgte David (1707) von Pallidor (Georg Christian Lehms). Bedienter (Daniel Grobe) – Zahl der zwischen dem 10. Dezember 1776 und dem 11. Mai 1780 insgesamt entliehenen Werke: 21 –. Literarische Werke: Schriften zum Vergnügen (1757) von Christian Gottfried Derling; Der asiatische Onogambo von E. W. Happel; Das Leben ... von Robinson Crusoe (1720) von Daniel Defoe; Werke (3. Theil. 1770-1771) von Johann Elias Schlegel; Historie der Neugefundenen Völcker Sevarambes genannt (1689. Übs.: The History of the Sevaritis or Severambi. 1675-1679. – Histoire de Sévarambes. 1677-1679) von Denis Veiras (oder: Vairasse) d’Alais; Amphitheatrum curiosum. Neu-auπgerichteter Schauplatz vieler curiösen ... Begebenheiten (1696-1699) von Jacob Daniel Ernst; Der abentheuerliche Buscon (1671) von Francisco de Quevedo; Don Quixote; Leben und Thaten des weltberüchtigten Spitzbuben Louis Dominique Cartouche (1723); Der Frantzösische Robinson (1723) von François Le Guat; Der Europaeischen Höfe/ Liebes- und Heldengeschichte (1705) von Menantes (Christian Friedrich Hunold); Gründliche Nachricht von Diebes- und Mördergeschichten (1715?). Bäcker (Johann Heinrich Roedler) – Zahl der zwischen dem 6. Juli 1779 und dem 14. Oktober 1779 insgesamt entliehenen Werke: 4 –. Literarische Werke: Die Heldenmüthige Doraura, oder die durch den Todt bestätigte treue Liebe (1724) von Mirmindus (Pseud.). Strumpπabrikant [in Braunschweig] (Johann Kaspar Friedrichs) – Zahl der zwischen dem 29. August 1773 und dem 16. Dezember 1780 insgesamt entliehenen Werke: 48 –. Literarische Werke: Don Quixote; Nicolai Klims unterirdische Reise (1741) von Ludwig af Holberg; Das Märchen von der Tonne (1729) von Jonathan Swift; Unterredungen von dem Reiche der Geister (1731) von Otto von Graben zum Stein; Die glückseeligste Insul ... oder das Land der Zufriedenheit (1723) von Constantin von Wahrenberg (Philipp Balthasar Sinold, gen. von Schütz); Die Helden- und Liebes-Geschichte dieser Zeit (1715) von Meletaon (Johann Leonhard Rost); Almahide, oder Leibeigene Königin (1682-1696) von M. de Scudéry; Die schöne Russinn, oder wunderbare Geschichte der Azema (1766. Übs.: Mémoires d’Azéma. 1764) von André-Guillaume Contant D’Orville; Die Türkische Helena von Meletaon (Johann Leonhard Rost); Aurorens/ Königlicher Princeßin aus Creta, Staats- und Liebes-Geschichte von Talander (August Bohse); Der UnglücklichGlückselige Epirotische Graf Rifano (Nürnberg 1722) von Melissus (Otto Philipp Virdung? Michael Erich Frank?); Das Leben ... von Robinson Crusoe (1720) von Daniel Defoe; Assenat von Zesen; Amor am Hofe (1689) von August Bohse; Der Weise König Salomon, in einer Staats- und Helden-Geschichte (1712) von Pallidor (Georg Christian

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Lehms); Die Anmuthige Pistophile In einer wahrhaπten/ obwohl verdeckten Liebes- und Helden-Geschichte (1713) von Friedrich Erdmann von Glaubitz; Die Durchlauchtigste Margaretha von Oesterreich / In einer Staats- und Heldengeschichte von Aramene (Pseud.); Der Jtaliänische Spinelli, Oder So genanter Europaeischer Geschicht-Roman (1685-1686) von E. W. Happel. 227  

Diese Listen zeigen, daß die zu den mittleren-unteren und untersten Schichten des Mittelstandes gehörenden Leser des Simplicissimus eine starke Vorliebe für den höfisch-historischen und den sogenannten galanten Roman und ein sehr geringes Interesse für den ‚modernen’ Roman hatten, der nur durch Cleveland von Prévost, La vie de Marianne von Marivaux, Robinson Crusoe von Defoe und Gulliver von Swift vertreten ist. Diese Listen beweisen auch, daß zwar die ‚Demokratisierung’ des Lesepublikums, nicht aber die ‚Demokratisierung’ der Lesestoπe stattgefunden hat. Die umfangreichen Listen der Entleihungen einiger Simplicissimus-Leser lassen auch eine andere wichtige Erscheinung klar erkennen: den allmählichen Übergang von der intensiven zur extensiven Lektüre. Schließlich führen diese Listen vor Augen, daß die Vorliebe für die ‚aristokratischen’ Lesestoπe der höfisch-historischen und der galanten Romane völlig vereinbar mit der Vorliebe für Schriften des Simplicissimus-Zyklus und für spanische pikareske Werke – wie den Buscón und den Don Quijote, der als ‚pikaresk’ empfunden wurde – war. Man könnte einwenden, daß vielleicht der Koch, der Kondukteur, der Bäcker oder der Kurier die Bücher nicht zur eigenen Lektüre sondern für ihre Frauen oder Töchter entliehen hatten. Es könnte dies in einigen Fällen auch wirklich geschehen sein, obwohl es nicht notwendig war, weil die – verheirateten wie unverheirateten – Frauen ebenso freien Zugang zu der HerzogAugust-Bibliothek wie die Männer hatten und zahlreiche Frauen erscheinen tatsächlich in ihren Registraturbüchern als häufige Besucherinnen und Entleiherinnen. 228 Wenn auch manchmal die Entleiher die Bücher für Frauen und Töchter entliehen hätten, ändert dies nichts an der Tatsache, daß Personen aus  

227   Mechthild Raabe: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1714-1799. Band 1. Die Leser und ihre Lektüre. München: K. G. Saur 1989, S. 398 (Schaefer), 30-31 (J. M. Bornemann), 151-152 (J. M. Hake), 210-211 (Joseph), 133-134 (Johann Heinrich Goertz), 417 (Schütze), 137 (Daniel Grobe), 372 (Johann Heinrich Roedler), 123-124 (Johann Kaspar Friedrichs). Den Namen der Autoren von Werken, die jeder Barockforscher kennt, habe ich nicht angegeben; in vielen Fällen wurden die Titel ergänzt sowie die Namen der Autoren und die wesentlichen bibliographischen Angaben hinzugefügt, die für die Identifikation des Werkes notwendig sind. Für alle Ergänzungen zu den sehr kargen Angaben der Ausleihbücher und für die Identifizierung der darin verzeichneten Werke sowie für die Klärung von fast allen bibliographischen Problemen verweise ich auf A. Martino: Lektüre und Leser in Norddeutschland. Zu der Veröπentlichung der Ausleihbücher der Herzog-August-Bibliothek. 228   Zu den Frauen als Benutzerinnen der Herzog-August-Bibliothek vgl. John A. McCarthy: Lektüre und Lesertypologie im 18. Jahrhundert (1730-1770), S. 77-80.

besitzer und leser simplicianisher schriften 73 den mittleren-unteren und untersten Schichten des Mittelstandes schöngeistige Bücher regelmässig lasen und daß folglich die ‚Demokratisierung’ des Lesens wirklich eingesetzt hatte. Aber stellten die angeführten Leser des Simplicissimus eine Ausnahme dar, oder waren sie statistisch repräsentativ für die Verbreitung der Lektüre in Gesellschaftsschichten, deren Angehörige bisher als Nicht-Leser – insbesondere Nicht-Leser schöngeistiger Werke – betrachtet wurden? Sie waren keine Ausnahmefälle. Unter den Entleihern gab es nämlich auch Perückenmacher, Schützenwirte, Kellerwirte, Küchenmeister, Ladendiener, Feldscherer, Bereiter, Zeugwärter, Buchbinder, Radmacher, Seifensieder, Gärtner, Tischler, Schneider, Uhrmacher, Büchsenmacher, Ho√schmeister, Damm-Müller, Konditoren, Maurermeister, Peruquier, Schlosser, Färber, Stallbedienter, Zeugwärter, usw. Nach der von Mechthild Raabe erstellten Statistik über die in den Berufs- und Standesgruppen entliehenen Bücher ist die Anzahl der von Angehörigen der mittleren-unteren und untersten Schichten des Mittelstandes insgesamt in den Jahren 1714-1799 entliehenen Bücher die folgende (in Klammer wird die Zahl der Bücher gesetzt, die zur ‚Schönen Literatur’ gehören): die Handwerker 290 (164), die Dienstboten 92 (66), die Soldaten 60 (28), die Kaufleute 642 (281), die Bediensteten am Hof 329 (182). 229 Eine weitere Statistik zeigt, daß in den drei Dekaden 1760-1769, 1770-1779, 1780-1789 die genannten Berufsgruppen die meisten Bücher entliehen. In diesen drei Jahrzehnten holten sich – zum Beispiel – die Handwerker 276, die Kaufleute 578 Bücher. 230 Die Konzentration der Entleihungen in diesen Jahrzehnten hat eine einfache Erklärung: erst nach dem Fortgang des Hofes (1754) wurde die Herzog-August-Bibliothek den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten der Bevölkerung geöπnet. Die schöngeistige Lektüre der Simplicissimus-Entleiher und im allgemeinen der Angehörigen der mittleren-unteren und untersten Schichten des Mittelstandes unterscheiden sich nicht wesentlich von jenen der höheren Schichten des Bürgertums, der höheren Beamten, des Adels (in den Jahren 1770-1799 verringert sich aber die Zahl der von adeligen Personen ausgeliehenen Bücher weitgehend 231), der O√ziere und der anderen Berufs- und Standesgruppen. Bei einer näheren Analyse der Eintragungen der Registraturbücher, die – zum Beispiel – die Lektüre der barocken und der galanten Literatur dokumentieren, 232  







229   Vgl. Mechthild Raabe: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1714-1799. Band 2. Die sozialen Lesergruppen und ihre Lektüre. München: K. G. Saur 1989, S. 625-627. 230   Mechthild Raabe: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Band 2, S. 629. 231   In diesen drei Jahrzehnten entlieh der Adel nur 32 Bücher. Vgl. Mechthild Raabe: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Band 2, S. 629. 232   Hier einige Angaben über die Entleihungen von höfisch-historischen und galanten Romanen: Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg: Römische Octavia (118 Entl.), Aramena

74 alberto martino fallen nämlich zwei ganz unerwartete Tatsachen auf: erstens die nicht schichtenspezifische Struktur der Leserschaft dieser die ideologischen Werte und Leitbilder der hohen Aristokratie und des Adels propagierenden Literatur, zweitens die Häufigkeit der Entleihungen barocker und galanter Werke zwischen 1760 und 1780. 233 Die nähere Analyse der Entleihungen belletristischer Werke oπenbart außerdem eine interessante wie unerwartete Inkongruenz in dem Leseverhalten zahlreicher Leser: Altes und Neues, Modisches und Unzeitgemäßes, barocke und bürgerliche Literatur, aristokratische heroische und bürgerliche sentimentale Romane wurden gleichzeitig ‚konsumiert’. 234 So werden die Lesertypologien der Literatursoziologie, die Strukturierungen und Periodisierungen der Lesergeschichte, die gängigen Vorstellungen über die Kongruenz der Literaturpräferenzen und die ideologische und ästhetische Gleichmäßigkeit im Leseverhalten der Konsumenten literarischer Werke, die schichtenspezifische Struktur des Lesepublikums der Barockliteratur und die Verbürgerlichung des literarischen Geschmacks über den Haufen geworfen. 235 Insbesondere widersprechen die aus den Eintragungen der Ausleihbücher gewonnenen Daten den Ansichten der Literatursoziologie und den Ergebnissen der historischen Leserforschung, wonach sich die Lektüre schöngeistiger Schriften noch für das ganze 18. Jahrhundert und die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts auch in den wohlhabenden  





(101 Entl.); Andreas Heinrich Bucholtz: Herkules und Valiska (44 Entl.), Herkuliskus und Herkuladisla (24 Entl.); La Calprenède (Gautier de Coste, sieur de): Cassandre – Cléopatre – Faramond (insges. 78 Entl.); Lohenstein: Arminius (24 Entl.); M. de Scudéry: Artamène – Almahide – Clélie (insges. 69 Entl. + 11 Entl. der Römischen Clelja in der Übersetzung des Grafen Johann Wilhelm von Stubenberg); Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen: Asiatische Banise (24 Entl.); August Bohse (Talander): Amor an [!] Hofe – Aurorens Staats- und Liebes-Geschichte – Antonia de Palma in einer angenehmen Staats- und Liebes-Geschichte (= Die Verliebten Verwirrungen. Teil II) – Die liebenswürdige Europäerin Constantine – LiebesCabinet der Damen (u. Neu-eröπnetes Liebes-Cabinet des galanten Frauenzimmers) – Letztes Liebes- und Helden-Gedichte (= Die Verliebten Verwirrungen. Teil I) – Die Verliebten Verwirrungen der Sicilianischen Höfe (= neue Ausg. von: Verwirrungen. T. I-II) – Der Liebe Jrregarten (insges. 45 Entl.); Christian Friedrich Hunold (Menantes): Der Europäischen Höfe Liebes- und Helden-Geschichte – Die Verliebte und Galante Welt (insges. 11 Entl.). Wie bei den Entleihungen des Simplicissimus festgestellt wurde, ist das mittelständische Element im Lesepublikum der höfisch-historischen und der galanten Romane stark vertreten (selbstverständlich bei Romanen, die nur in der Originalsprache vorlagen, gehörten die Leser auschließlich zu den höheren und gebildeten Schichten der Gesellschaft). Vgl. M. Raabe: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1714-1799. Band 3. Alphabetisches Verzeichnis der entliehenen Bücher, S. 18-21, 68-69, 263-264, 400-402, 401, 472-473, 53-54, 207-208. 233  Alberto Martino: Die Verbürgerlichung des literarischen Geschmacks, ein Mythos? Zur Gegensätzlichkeit von lesergeschichtlichen empirischen Daten und literaturhistorischen und -soziologischen Ansichten. In: A. M.: Lektüre und Leser in Norddeutschland. Zu der Veröπentlichung der Ausleihbücher der Herzog-August-Bibliothek, S. 479-494; hier S. 482. 234   A. Martino: Die Verbürgerlichung des literarischen Geschmacks, ein Mythos?, S. 484. 235   A. Martino: Die Verbürgerlichung des literarischen Geschmacks, ein Mythos?, S. 492.

besitzer und leser simplicianisher schriften 75 Schichten des Bürgertums sehr langsam und bescheiden erweiterte und die Lektüre des Kleinbürgertums im ganzen 18. Jahrhundert und darüber hinaus fast ausschließlich auf Kalender, Gebetbücher, die Bibel und – manchmal – auf ein paar Texte der religiösen Erbauungsliteratur beschränkt war. 236 Man könnte bemerken, daß die Daten über die Lektüre in einer Residenzstadt wie Wolfenbüttel nicht allzu sehr repräsentativ sind, da die Ausstrahlung des Hofes einen starken Einfluß auch auf die Lesegewohnheiten und Geschmacks­ präferenzen der Angehörigen der mittleren und der unteren Schichten der Stadt ausübte. Von der Ausstrahlung des Hofes und der Hofkultur haben zweifellos die großen höfisch-historischen Romane, insbesondere die des Herzogs Anton Ulrich, und die galanten Romane profitiert. (Unerklärlich bleibt aber, wie auch die ‚unhöfischen’ Werke des simplicianischen Zyklus, die erst ab 1756 entliehen wurden, von dieser Ausstrahlung hätten profitieren können.) Es ist aber notwendig, sich zu vergegenwärtigen, daß mit der Umsiedlung des Hofes nach Braunschweig im Jahre 1754 Wolfenbüttel zu einem kleinbürgerlichen Landstädtchen geworden war. „Hofstaat, Adel und mehrere Kollegien, im Ganzen 150 Familien, und über 3.000 der vermögendsten Einwohner“ hatten die Stadt verlassen. 237 So war die Bevölkerungszahl in zwei Jahrzehnten dramatisch gesunken: 9.213 (1754), 7.000 (1764), 5.831 (1776). Sind also die Daten über die in den Jahren 1756-1790 entliehenen Bücher als Daten über die Lesepräferenzen und das Lesepublikum eines anonymen Landstädtchens zu betrachten? Dies würde selbstverständlich den Grad ihrer Repräsentativität erheblich erhöhen.  



236   Vgl. Walter Rumpf: Das literarische Publikum und sein Geschmack in den Jahren 17601770. (Versuch einer sozialliterarischen Literaturbetrachtung.) Diss. [Masch.] Frankfurt am Main 1924, S. 7-66. – W. Wittmann: Beruf und Buch im 18. Jahrhundert, S. 44-136. – H. Neumann: Der Bücherbesitz der Tübinger Bürger. – A. Bischoπ-Luithlen: Auszüge aus den Inventur- und Teilungsakten der Gemeinde Feldstetten Kreis Münsingen über den Besitz an Büchern und Bildern. – M. Scharfe: Der Bücherbesitz in der Gemeinde Feldstetten Kreis Münsingen, 1650-1852. – R. Schenda: Volk ohne Buch, S. 441-467. – Rolf Engelsing: Dienstbotenlektüre im 18. und 19. Jahrhundert. In: R. E.: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, S. 180-224, 297-304. – Wolfgang R. Langenbucher: Das Publikum im literarischen Leben des 19. Jahrhunderts. In: Der Leser als Teil des literarischen Lebens. 2. Aufl. Bonn: Bouvier 1972, S. 52-84. – R. Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500-1800, S. 182-215, 339-343. – Günter Erning: Das Lesen und die Lesewut. Beiträge zu Fragen der Lesergeschichte; dargestellt am Beispiel der Schwäbischen Provinz. Bad Heilbrunn / Obb.: Verlag Julius Kleinhardt 1974. – Peter Michelsen: Der unruhige Bürger. Der Bürger und die Literatur im 18. Jahrhundert. In: Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Hrsg. v. Rudolf Vierhaus (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 7). Heidelberg: Lambert Schneider 1981, S. 101-130. – Helmut Möller: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gruppenkultur. Berlin: De Gruyter 1969, S. 248-279. 237   G. Hassel u. K. Bege: Geographisch-statistische Beschreibung der Fürstenthümer Wolfenbüttel und Blankenburg. Bd. 1. Braunschweig 1802, S. 338-339 (zit. nach Mechthild Raabe: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1714-1799. Band 1. Die Leser und ihre Lektüre. München: K. G. Saur 1989, S. LXIX).

76 alberto martino Oder ist die Repräsentativität dieser Daten dadurch erheblich reduziert, daß sie sich auf eine – wenn auch ehemalige – kulturell glanzvolle Residenzstadt beziehen, deren Bürger aller Stände ihre ungewöhnlich reiche, wunderbare fürstliche Bibliothek besuchen und sich sogar mehrere Bücher auf einmal ausleihen durften – eine wohl einmalige Konstellation –? Revenons à nos moutons. Bestätigen andere Quellen die Rezeption von Werken des Simplicissimus-Zyklus in bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten? Die bisher durchgeführten Untersuchungen über die Lektüre der mittel- und unteren Schichten des Mittelstandes untermauern nur in sehr bescheidenem Ausmaß die Mutmassungen, die die aus der Auswertung der Eintragungen der Ausleihbücher der Herzog-August-Bibliothek-Wolfenbüttel gewonnenen Daten suggerieren. Die von Walter Wittmann und Hildegard Neumann ausgewerteten Nachlaßinventare verzeichnen nur zwei – vielleicht drei – Exemplare des Simplicissimus und ein Exemplar der Courasche. Im Nachlaßinventar (Jahr 1695) eines Frankfurter Großkaufmanns (Eisenhändler), der die größte Kaufmannsbücherei um 1700 besaß, sind «Der deutsche Simplicissimus» und «Des Simplicissimi redivivi Staatskram» [Deß Aus dem Grabe der Vergessenheit wieder erstandenen Simplicissimi, Mit ... ausgefüllter Staats-Kram ... Dritten und letzten Theils. 1684] – dieser dritte Band der Gesamtausgabe enthält aber keine pikaresken Werke – wie auch «Der abenteuerl. Buscon» 238 und «Der Landstörtzer» von Aegidius Albertinus verzeichnet. 239 Ein Frankfurter Kaufmann besaß – Jahreszahl des Nachlaßinventars 1749 – den «Simplicissimus, [und den?] Staatskram» [Deß Aus dem Grabe der Vergessenheit wieder erstandenen Simplicissimi, Mit ... ausgefüllter Staats-Kram ... Dritten und letzten Theils. 1684 oder 1695, 1713]. 240 Fast gleiche Ergebnisse brachte die Untersuchung der Bücherverzeichnisse in den 460 Vermögensinventaren und Erbteilungen der Tübinger Bürger aus den Jahren 1750-60: 241 ein Pfarrer besaß (1756) einen Simplicissimus, ein Salzverwalter (gest. um 1758) eine Courasche. 242 Kein Werk Grimmelshausens verzeichnen dagegen die von Angelika Bischoπ-Luithlen transkribierten Auszüge aus den Inventur- und Teilungsakten der Gemeinde Feldstetten (Kreis Münsingen) aus den Jahren 1650-1852 über den Besitz an Büchern. Es soll aber bemerkt werden, daß diese Daten – die immerhin nicht ganz irrelevant sind – nur aus der Analyse der Nachlaßinventare von zwei Städten und der Inventur- und Teilungsakten einer kleinen ländlichen Gemeinde gewonnen  









238   Es handelt sich um die erste deutsche Übersetzung – aus dem Französischen – des Buscón von Quevedo: L’Aventurier Buscon, Histoire Facetieuse. – Der Abentheurliche Buscon. Eine Kurtzweilige Geschicht. Frankfurt / Bey Herman von Sand. MDCLXXI. Vgl. A. Martino: Der deutsche Buscón (1671), S. 225-253. – A. Martino: Le metamorfosi del pícaro, S. 410-428. 239   W. Wittmann: Beruf und Buch, S. 70 u. S. 70-74, Anm. Nr. 12. 240   W. Wittmann: Beruf und Buch, S. 77 u. S. 77-78, Anm. Nr. 17 241   H. Neumann: Der Bücherbesitz der Tübinger Bürger von 1750-1850, S. 5. 242   H. Neumann: Der Bücherbesitz der Tübinger Bürger von 1750-1850, S. 55.

besitzer und leser simplicianisher schriften 77 worden sind. Der statistisch repräsentative Wert der Analyse wird außerdem auch dadurch reduziert, daß sie stichprobenweise – mit Ausnahme der Gemeinde Feldstetten (Angelika Bischoπ-Luithlen hat die vollständige Reihe der Inventurund Teilungsakten der Jahre 1650-1852 aufbereitet) – durchgeführt wurde: für die Stadt Tübingen wurden die Vermögensinventare und Erbteilungen aus den Jahren 1750-1760, für die Stadt Frankfurt am Main die Nachlaßinventare der Jahre 1695-1705, 1746-1755 und 1795-1805 untersucht. Hätte man die Inventare aller Jahre ausgewertet, wäre wahrscheinlich die Ernte an Daten reicher gewesen. Nach den von Walter Wittmann und Hildegard Neumann ausgewerteten Quellen ist also die Gruppe «Bürgertum» der Besitzer simplicianischer Schriften in den Jahren 1714-1800 auschließlich von einem Frankfurter Kaufmann vertreten, der ein Exemplar des Simplicissimus besaß, wenn die Eintragung «Simplicissimus, Staatskram» Simplicissimus und Staatskram bedeutet. Der Tübinger Pfarrer, der ein Exemplar des Simplicissimus hatte, und der Tübinger Salzverwalter, der eine Courasche besaß, wurden nämlich respektive den Geistlichen und den Beamten zugeordnet. Der Großkaufmann (Eisenhändler) gehört zu der Gruppe der Jahre 1668-1713, da das Nachlaßinventar im Jahr 1695 erstellt wurde. Verhältnismäßig zahlreich sind dagegen die in den untersuchten Nachlaßinventaren verzeichneten höfisch-historischen und galanten Romane. In den Vermögensinventaren der Tübinger Bürger, die in dem Jahrzehnt zwischen 1750 und 1760 verstarben, sind zwei Exemplare des Arminius und zwei Exemplare der Aramena verzeichnet. 243 Ein Frankfurter Glockengießer besaß Herkules und Valiska. 244 In dem im Jahre 1753 erstellten Nachlaßinventar eines Frankfurter Kaufmanns werden Ariadnens Königlicher Printzeßin von Toledo, Staats- und Liebes-Geschichte von Talander (August Bohse) und Der Heldenmüthige Perseus und die getreue Andromeda. In einer angenehmen Staats- und Helden-Geschichte von Melander (Johann George Ansorge) aufgeführt. 245 In anderen Frankfurter Nachlaßinventaren der Jahre um 1750 waren höfisch-historische – Die asiatische Banise, Herkules und Valiska und Herkuliskus und Herkuladisla – und höfisch-galante Romane – Christian Friedrich Hunolds Der Europäischen Höfe Liebes- und Helden-Geschichte und August Bohses Unglückselige Prinzessin Arsinoë (Nürnberg 1718) 246 – verzeichnet. 247  







243



  H. Neumann: Der Bücherbesitz der Tübinger Bürger, S. 27.   Vgl. Nachlaßinventar aus dem Jahr 1755, in: W. Wittmann: Beruf und Buch, S. 53-55 245 Anm. Nr. 17.   Vgl. W. Wittmann: Beruf und Buch, S. 81. 246   Zusammen mit den oben genannten Romanen wird August Bohses Staatsroman verzeichnet. Dies ist der Titel des Werkes: Staats-Roman/ Welcher Unter der denckwürdigen LebensBeschreibung Telemachi ... vorstellet/ Wie Die Königl. ... Printzen ... zur Staats-Kunst .... anzuführen ... (Breßlau 1700). Es handelt sich um Talanders Übersetzung der Aventures de Télémaque von François Fénelon. Das Werk enthält auch Liebesabenteuer, aber es ist im wesentlichen ein ‚politischer’ Roman, ein Roman über den art de régner. 247   Vgl. W. Wittmann: Beruf und Buch, S. 34. 244

78 alberto martino In der Annahme, daß die Bücherverzeichnisse der Leihbibliotheken, die soviel zur Demokratisierung des Lesens beigetragen hatten, bessere Daten über die Verbreitung der Schelmenromane Grimmelshausens liefern würden, habe ich die zalhreichen, in meiner Sammlung vorhandenen Kataloge der Leseanstalten des 18. Jahrhunderts durchgesehen. Das Ergebnis der Suche war aber ziemlich enttäuschend. Viele Leihbibliotheken boten zwar ihren Kunden verschiedene pikareske Romane und Erzählungen – wie deutsche oder französische Übersetzungen des Lazarillo, des Guzmán de Alfarache, der Novelas ejemplares, des Diablo cojuelo, der Garduña de Sevilla, des Estebanillo González 248– an, aber nur in dem Verzeichnis aus dem Jahre 1786 einer sehr kleinen Straßburger Lesebibliothek 249  



248   Vgl. Verzeichniß der im neuen LecturCabinet zur Lesung ausgestellten Bücher. Erstes Heft. In: Einrichtung des neuen LecturCabinets zu Wien im Jahr 1776. Nebst einem angehängten Verzeichniß der vorhandenen Zeitungen, Brochüren, und Bücher. Wien, auf Kosten der Impresa: und zu haben bey E. E. Bader, in der Bognergasse, S. 1-77; hier S. 49 («La vie et les Avantures de Lazarille de Tormes écrites par lui même. Enrichies de figures, 2. parties à Bruxelles 1738. in 12.»). – J. Hofmeisterische Lees Bibliothec, in Zürich an der Rosengass. [1777], S. 19 («Seltsame und sehr lustige Lebens-Geschichte des Gußmanns von Alfarache, aus dem Spanischen, mit Kupfern, 2 Bände, 752»), S. 20 («Leben und seltsame Begebenheiten der Dona Rufine, einer bekannten [beruπenen!] Spanischen Comödiantin [Courtisane!], mit Kupfern»), S. 23 («Histoire d’Estanville [Estévanille!] Gonzalez, Surnomée [surnommé] le Garçon de Bone [bonne] Humeur, tiré de l’Espagnol, par Msr. le Sage, av. Fig. 4 Vol.». – «Histoire Facetieuse de Lazarille de Tormes, avec Fig.»), S. 24 «Histoire & Avantures de Donna Rufine, Fameuse Courtisane de Seville, 2 Vol. 760. Figures»), S. 43 («Satyrische und lehrreiche Erzehlungen des Michael de Cervantes Saavedra, aus dem Spanischen»), S. 44 («Der hinkende Teufel, von Herrn le Sage, aus dem Spanischen»), S. 45 («le Diable Boiteux, par Msr. le Sage, 2 Vol. 767»), S. 82 [72!] («Lustige Begebenheiten des berühmten Spaniers, Lazarillo de Tormes, 2 Bände, 769»), S. 85 («l’Histoire de Lazarille de Tormes. 2 Tom.»), S. 87 («la Vie de Guzman d’Alfarache, avec Fig. 3 Vol.»). – Verzeichniß einer Büchersammlung, zum öπentlichen Gebrauch bestimmt, von J. C. Seiler. Leipzig, zu finden in der Hainstraße im Anker, 2. Treppen hoch, im Hofe. 1780, S. 29 («Moralische Novellen von Cervantes, 1779»). – Verzeichniß derjenigen neuen Bücher, welche bey dem Buchbinder Andreas Ahrens allhier in Stade zu vermiethen sind. Stade, gedruckt bey H. A. Friedrich, Königl. privileg. Buchdrucker. 1782, S. [1] («Der hinkende Teufel. 2 Theile»), S. 9 («[des berühmten Spaniers Lazarillo von] Tormes lustige Begebenheiten. 2 Theile»). – Verzeichniß der Bücher, welche bey J. M. Zehetmayer und B. Kiermayr, in der Goldschmidgasse Nro. 540. zum Lesen ausgeliehen werden. [Wien] 1790, S. 5 («Begebenheiten des berühmten Spaniers Lazarillo von Tormes. 2 Theile. Ulm 769.»), S. 49 («Geschichte Gußmanns von Alfarache. 2 Thl. Leipzig. 778.»), S. 66 («Der hinkende Teufel, ein komischer Roman. 2 Theile. Frankfurt. 777.»). –Verzeichniß der Bücher, welche bey Johann Georg Binz Buchhändler, auf dem Stephansfreydhof nächst dem Zwetlhof ausgeliehen werden. Erste Sammlung. Wien [1790], S. 24 («Satyrische und lehrreiche Erzählungen des Michael Cervantes Saavedra, Verfasser des Don Quichotte. Frankfurt, 753»), S. 39 («Geschichte des Estevanille Gonzalez, mit dem Zunamen des Lustigen, aus dem Französischen. Hamb.». – «Geschichte Gußmanns von Alfarache, des Lustigen, andern zum Beispiel von ihm selbst beschrieben, 2 Bände.»), S. 52 («Moralische Novellen, des Cervantes Saavedra, Verfassser des Don Quixote. 2 Bände. Leipzig 779»), S. 57 («Der hinkende Teufel, ein komischer Roman des Herrn le Sage, aus dem Französischen übersetzt. Leipzig, 764»); Rubrik: Livres François S. 13 («Le diable boiteux par M. le Sage. Basle, 766»), S. 15 («Nouvelles exemplaires de Michel de Cervantes Saavedra, auteur de Don Quichotte. 2 Tomes. Lausanne, 759»). 249  Catalogue d’une Bibliotheque de Lecture établie au Bureau des feuilles publiques place

besitzer und leser simplicianisher schriften 79 und in dem Katalog eines im Jahr 1800 aufgegebenen Pester Lesekabinetts erscheint Grimmelshausens Simplicissimus. 250 Das Fehlen des Simplicius Simplicissimus, des Vogelnest und der Gesamtausgabe 1713 in den Wiener Leihbibliotheken der Jahre 1772-1782 – wie auch in den Leseanstalten der anderen Städte der habsburgischen Territorien – hat freilich einen einfachen Grund. Die Bücher-Censurs-Hofcommission, die Maria Theresia im Jahr 1751 geschaπen hatte, indizierte schon im Jahre 1758 – also viele Jahre vor der Errichtung des ersten Lesekabinetts in Wien 251 – den Simplicissimus, das Vogelnest 252 und die Gesamtausgabe von 1713. 253 Nach dem Tod der Kaiserin milderte aber Joseph II. mit seinen Grundregeln zur Bestimmung einer ordentlichen  







d’armes au Caπé Suedois N°. 5. – Verzeichniß der Bücher einer Lesebibliothek, welche in dem Zeitungs-Komtoir auf dem Paradeplatz im Schwedischen Kaπehaus N°. 5. errichtet ist. Strasburg, gedruckt mit hoher Approbation 1786, S. 21 [«Simplicissimus (der abentheuerliche)».]. Der Katalog umfaßt 23 Seiten. Von Seite 5 bis 14 sind die französischen (darunter der «Histoire de Don Guzmann d’Alfarache» und den «Avantures de Lazarille de Tormes»), von Seite 15 bis 23 die deutschen Bücher aufgelistet. Die Lesebibliothek stellte den Abonnenten nur 173 französische und 202 deutsche Werke zur Verfügung. Es wurde aber versprochen: „Nach Maasgabe der Zunahme der Herren Abonnenten wird ... diese Büchersammlung mit den neuesten und besten Büchern vermehret werden.“ 250   Gebundene seltene und rare Bücher, von verschiedenen Sprachen und Wissenschaften, welche zu Pest bey der goldenen Sonne der Stadt Pfarrkirche gegenüber im Mihitsischen Hause Nro. 57. bey Johann Gleixner, in den gewesten Lesekabinet um sehr wohlfeile Preise zu haben. Der gedruckte und zensurirte Katalog ist in obgedachten Gewölbe um 10 kr. zu haben. [Pest] 1800, S. 13 («Der abentheuerliche Simplicissimus»). Auf Seite 31 ist auch der «Lazarillo, aus dem spanischen des Dom Hurtado de Mendoza» verzeichnet. 251   Das erste Lekturkabinett wurde im Jahr 1772 gegründet. Vgl. Alois Jesinger: Wiener Lekturkabinette. Wien: Verlag Berthold & Stempel 1928, S. 21-52, 83-91. – Alberto Martino: „Lekturkabinette“ und Leihbibliotheken in Wien (1772-1848). In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. bis zum 19. Jahrhundert (1750-1830). Hrsg. von Herbert Zeman. Teil I. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1979, S. 119-142. – A. Martino: Die deutsche Leihbibliothek, S. 749-754. 252  Vgl. Catalogus Librorum Per Quinquennium A Commissione Aulica Prohibitorum. Viennae: O√cina libraria Kaliwodiana M.DCC.LVIII., S. 160, 179. Das Verbot blieb selbstverständlich in den folgenden Ausgaben des Catalogus aufrecht: Catalogus Librorum A Commissione Aulica Prohibitorum. Viennae: O√cina libraria Kaliwodiana 1762. – Catalogus Librorum, A Commissione Aulica Prohibitorum. Viennae: Johann Thomas Edler von Trattner 1765. – Catalogus ... Wien: Kaliwoda 1768. – Catalogus ... Wien: Kaliwoda 1774. – Catalogus ... Wien: Gerold 1775. Vgl. Franz Hadamowsky: Ein Jahrhundert Literatur- und Theaterzensur in Österreich (1751-1848). In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. bis zum 19. Jahrhundert (1750-1830), S. 289-305. – Hans Wagner: Die Zensur in der Habsburger Monarchie (1750-1810). In: Buch und Verlagswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Kommunikation in Mittel- und Osteuropa. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Gerard Kozielek und Reinhard Wittmann. Redaktion Heinz Ischreyt. Berlin: Camen 1977, S. 28-44. – Albert Ward: Book Production, Fiction, and the German Reading Public 1740-1800. Oxford: Clarendon Press 1974, S. 99. – I. M. Battafarano - H. Eilert: Planet Grimmelshausen, S. 118-119, 300. 253   Vgl. P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 273. – I. M. Battafarano - H. Eilert: Planet Grimmelshausen, S. 521.

80 alberto martino künftigen Bücher-Censur (10. Februar 1781) weitgehend die vorherigen Zensurbestimmungen. Der Simplicissimus erscheint nicht mehr in dem Katalog der von 1783. bis 1794. in Oesterreich von der hochlöblichen Hofbücherzensurskommission verbothenen Bücher (Freyburg im Breisgau 1794). 254 Dies erklärt die Präsenz des Simplicissimus in dem Pester Lesekabinett. Das Verbot des Simplicissimus und des Vogelnest stellt andererseits ein Indiz dafür dar, daß sie bekannt und vielleicht im Buchhandel erhältlich waren und daß mindestens einer der Zensoren sie gelesen hatte. Die Wiener Leihbibliotheken von Johann Georg Binz und von J. M. Zehetmayer & B. Kiermayr hatten in ihren Beständen die von Heinrich August Ottokar Reichard herausgegebene «Bibliothek der Romane. 11 Bände, mit Kupfern. Berlin, 778» 255 bzw. «Bibliothek der Romane. 16 Theile. Berlin 1789», 256 die einen sehr kurzen, von Christian Jakob Wagenseil verfaßten Auszug des Simplicissimus enthielt. 257 Die aus der Auswertung von Nachlaßinventaren und Leihbibliothekskatalogen gewonnenen Daten über die Rezeption der pikaresken Werke Grimmelshausens in den mittelständischen Schichten des 18. Jahrhunderts sind weit bescheidener als die, die uns die Ausleihbücher der Herzog-August-BibliothekWolfenbüttel angeboten haben. Man könnte vermuten, daß die barocken Romane auch beim bürgerlichen Lesepublikum in Vergessenheit geraten waren, da sie ideologisch aristokratisch und dezidiert ‚unbürgerlich’ waren und literarisch nicht mehr dem Geschmack der Aufklärung entsprachen. Aber obwohl tatsächlich die Barockromane von der literarischen Kritik der Aufklärung, die völlig unfähig war, auf ihre klassizistischen Grundsätze und ideologischen Vorurteile zu verzichten und Werke aus ihrem historischen Kontext heraus zu verstehen, vernichtend kritisiert wurden, 258 wurden auch in den, in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts neu gegründeten Leihbibliotheken sogar die rie 









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  Vgl. P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 273.   Verzeichniß der Bücher, welche bey Johann Georg Binz Buchhändler, auf dem Stephansfreydhof nächst dem Zwetlhof ausgeliehen werden. Erste Sammlung. Wien [1790], S. 30. 256   Verzeichniß der Bücher, welche bey J. M. Zehetmayer und B. Kiermayr, in der Goldschmidgasse Nro. 540. zum Lesen ausgeliehen werden. [Wien] 1790, S. 38. 257   Zu dieser Kurzfassung, die in der «Bibliothek der Romane» (Vierter Band. Berlin 1779. bey Christian Friedrich Himburg, S. 125-140) veröπentlicht wurde, vgl. Liselotte E. KurthVoigt: Grimmelshausens „Simplicissimus“ in Aufklärung und Vorklassik. In: Simpliciana 8 (1986), 19-50; hier S. 27-28. – P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 215-218. 258  So – zum Beispiel – wurde Lohensteins Arminius von Bodmer verrissen, weil darin Gestalten dargestellt sind, die in ihrem Verhalten von dem Ideal der „Hö∫ichkeit“ bestimmt und vom Geist der „Unterthänigkeit“ anstatt von einem Abscheu davor und von der Liebe zur „natürlichen Freyheit“ beseelt seien (Johann Jacob Bodmer: Vergleichung Zwischen Lohensteins Arminius und Heideggers Apollo Auricomus. 1732). Über die ästhetischen, poetologischen, stilistischen und ideologischen Argumente und Kategorien, die die literarische Kritik der Aufklärung anwendete, um das Hauptwerk der Gattung – den Arminius – als Inbegriπ des schlechten Geschmacks darzustellen und zu verurteilen, vgl. A. Martino: Daniel Casper von Lohenstein, S. 291-435. 255

besitzer und leser simplicianisher schriften 81 sigen höfisch-historischen Romane (die barocken Romane par excellence!) – wie der Artamenes, 259 die Almahide, 260 die Asiatische Banise, die Römische Clelja, der Arminius, die Römische Octavia, der Herkules und Valiska, der Herkuliskus und Herkuladisla, die Ariadne und die Argenis – aufgestellt. 261 Einige höfisch-histo 





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  «Artamenes, oder der große Cyrus in einer anmuthigen Liebes- und Heldengeschichte, aus dem Französischen des Scudery übersetzt, 4 Bände, mit Kupfern, Nürnberg [1690-1699]». Es handelt sich um die unbekannte Übersetzung „in das Hochteutsche“ des immensen Romans Artamène, ou le Grand Cyrus (Paris: Aug. Courbé 1649-1653, 10 Bände, 13.095 Seiten) von Madeleine de Scudéry. Der Übersetzer ist laut Titelblatt „ein vornehmes Mit-Glied der Hochlöbl. Fruchtbringenden Gesellschaft“. Nach der Bibliotheca Germanorum Erotica & Curiosa (Dritte Aufl. Bd. I. Hanau/M.: Müller & Kiepenheuer 1968, S. 123) wäre der Übersetzer der Freiherr Johann Ferdinand Adam Pernauer von Perney, der aber nicht Mitglied der berühmten Gesellschaft war (s. Mitgliederverzeichnis der Fruchtbringenden Gesellschaft. In: Im Garten der Palme. Kleinodien aus dem unbekannten Barock: die Fruchtbringende Gesellschaft und ihre Zeit, S. 129-150), sondern des Pegnesischen Blumenordens (vgl. Richard van Dülmen: Sozietätsbildungen in Nürnberg im 17. Jahrhundert, S. 185). Volker Meid (Der deutsche Barockroman. Stuttgart: Metzler 1974 S. 16) hat geschrieben, daß der bekannteste Roman der Scudéry, Artamène ou le Grand Cyrus, nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Auch Hans Gerd Rötzer (Der Roman des Barock 1600-1700. München: Winkler 1972, S. 147-153) und die Literaturlexika (Kindlers Literaturlexikon. Band I. Zürich: Kindler 1965, S. 966-967. – Kindlers Neues Literaturlexikon. Band 15. München: Kindler 1991, S. 98-100. – Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. v. Walther Killy. 15 Bände. Gütersloh/München: Bertelsmann 1988-1993, I, S. 71, 188; V, S. 108; VII, S. 337; IX, S. 116; XI, S. 267; XII, S. 484; XIII, S. 173, 203, 317, 411, XIV, S. 303) kennen die Übersetzung nicht. 260   Johann Ferdinand Adam Pernauer von Perney übersetzte und führte zu Ende den unvollendeten Roman von Madeleine de Scudéry Almahide ou l’Esclave reine (Paris: Aug. Courbé 1660-1663, 8 Bände, 6.533 Seiten): Almahide, oder Leibeigene Königin. Nürnberg 1682-1696, 3 Bde. (2. A. Nürnberg 1701, 3 Thle.). Vgl. Bibliotheca Germanorum Erotica & Curiosa I, S. 52. – Faber du Faur: German Baroque Literature I, S. 159, Nr. 588. 261   Vgl. – zum Beispiel – J. Hofmeisterische Lees Bibliothec, in Zürich an der Rosengass. [1777], S. 67 («Die asiatische Banise.»), S. 74 («Wunder-Geschichte des Großfürsten Hercules, und der Königlichen Fräulein Valisca.». – «Des Fürsten Herculiscus und Herculadisla, sehr anmüthige Wundergeschichte, mit Kupfern, 4to, 3 Bände.». – «Des Herrn von Lohenstein großmüthiger Feldherr Arminius, neben der Durchläuchtigen Prinzeßin Tusnelda, in einer sinnreichen Staats- und Helden-Geschichte, 4 Bände, in 4to. »), S. 79 («Barclais Argenis, ein politischer Roman mit beygefügten Erzehlungen aus der Geschichte der Zeit. 2 Bände, 772.»), S. 80 («Asiatische Banise, von Herrn von Ziegler, 2 Bände, 738.»). – Verzeichniß derjenigen neuen Bücher, welche bey dem Buchbinder Andreas Ahrens allhier in Stade zu vermiethen sind. Stade, gedruckt bey H. A. Friedrich, Königl. privileg. Buchdrucker. 1782, S. [1] («Die Asiatische Banise.»). – Verzeichniß der Bücher, welche bey Johann Georg Binz Buchhändler, auf dem Stephansfreydhof nächst dem Zwetlhof ausgeliehen werden. Erste Sammlung. Wien [1790], S. 6 («Artamenes, oder der große Cyrus in einer anmuthigen Liebes und Heldengeschichte, aus dem Französischen des Scudery übersetzt, 4 Bände, mit Kupfern, Nürnberg.»), S. 27 («Almahilde, oder die Leibeigene Königinn, aus dem Französischen des Scudery übersetzt, 3 Bände, Nürnberg. 701.». – «Ariadnens königlicher Prinzessin von Toledo, Staats- und Liebesgeschichte [von Talander - August Bohse -. Leipzig: J. L. Gleditsch 1699].»), S. 28 («Banise, die asiatische, oder das blutige und muthige Pegu. 2 Bände, Leipzig, 753.». – «Barklais, Joh., Argenis, ein politischer Roman, mit Erläuterungen aus der Geschichte seiner Zeit, 2 Bände, Augsburg, 770.»), S. 33 («Clelia, die römische, in einer Helden und Liebesgeschichte, 5 Bände, Nürnberg.»), S. 48 («Lebens und Liebesgeschichte des Heldenmüthigen Arminius und seiner durchlauchtigsten Thusnelda, 4 Bände mit Kupfern, 4to.»), S. 53 («Die römische Octavia,

82 alberto martino rische Romane wurden selber in Nicht-Residenzstädten gelesen, wie die oben erwähnten Frankfurter und Tübinger Nachlaßinventaren zu dokumentieren scheinen, vom Sortimentsbuchhandel angeboten 262 und sogar von einer Moralischen Wochenschrift aus dem Jahre 1767 empfohlen. 263 Hinderte vielleicht die Verbreitung der Werke Grimmelshausens das Fehlen auf dem Buchmarkt von jüngeren Ausgaben? Die letzte Ausgabe seiner Werke war im Jahr 1713 veröπentlicht worden. Nicht jüngeren Datums waren aber – mit wenigen Ausnahmen – die Ausgaben der erwähnten höfisch-historischen Romane. Von den vier Bänden des Artamenes gab es nur eine einzige Ausgabe (1690-1699). Die letzte Ausgabe der Almahide erschien im Jahre 1701. Die fünf Teile der Römischen Clelja (1664) 264 wurden nie nachgedruckt. Keiner der sieben Teile der Römischen Octavia kam – mit Ausnahme einer ‚privaten’ Ausgabe des Siebenten Theils – nach 1716/17 heraus. 265 Die letzte Ausgabe von Herkules und  







in einer Liebes und Heldengeschichte, 6 Bände, Nürnberg.»), S. 62 («Wundergeschichte des christlichen deutschen Königs Herkules, und der deutschen Königinn Valiska, 2 Bände.»). 262   So boten – zum Beispiel – der Regensburger Buchhändler Johann Leopold Montag und der Wolfenbütteler Buchhändler Johann Christoph Meißner in ihren Katalogen des Jahres 1764 bzw. der Jahre 1767-1774 höfisch-historische Romane. Ernst Weber, der viele Sortimentskataloge analysiert hat, stellt fest, daß „die höfisch-historischen Romane wie auch der galante Roman bis gegen Ende der 60er Jahre Lesestoπ“ bleiben (Sortimentskataloge des 18. Jahrhunderts als literatur- und buchhandelsgeschichtliche Quellen, S. 238-241). 263   Vgl. Joseph Sonnenfels: Theresie und Eleonore. Eine Wochenschrift. Wien 1767. In: J. S.: Gesammelte Schriften. Vierter Band. Wien 1784, S. 137-138, 149. Die Lektüre von Romanen wie Arminius und Aramena wird wegen der hohen Auπassung der weiblichen Tugend empfohlen, die diese durchdringt. Im allgemeinen warnen – wie es bekannt ist – die Moralischen Wochenschriften vor der Lektüre der höfisch-historischen Romane nachdrücklich. Vgl. W. Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, S. 501-510. 264   Über die Übersetzung und den unter dem Beinamen des ‚Unglückseligen’ in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommenen Übersetzer dieses Romans (Clélie, histoire romaine. Paris 1654-1660, 10 Bände, 7.316 S.) von Madeleine de Scudéry, dessen zweiter Band die berühmte «Carte de Tendre» enthielt, vgl. Martin Bircher: Johann Wilhelm von Stubenberg (1619-1663) und sein Freundeskreis (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N. F. 25). Berlin: de Gruyter 1968. 265  Im Auftrag der Kaiserin Maria Theresia, Urenkelin des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, veranstaltete der Wiener Hofbuchdrucker und Buchhändler Johann Thomas Trattner im Jahr 1762 eine neue Ausgabe des Siebenten Theils der Römischen Octavia. Es handelt sich um eine vollständigere Ausgabe des ca. 1716/1717 erschienenen unvollständigen Siebenden Theils (Braunschweig: Johann Georg Zilliger). Vgl. Curt von Faber du Faur: German Baroque Literature. A Catalogue of the Collection in the Yale University Library. Volume 2. New Haven: Yale University Press 1969, S. 98 (Nr. 840a). – Etienne Mazingue: Anton Ulrich, Duc de Braunschweig-Wolfenbuettel (1633-1714). Un Prince Romancier au XVIIème siècle. Thèse présentée devant l’Université de Paris IV le 16 mars 1974. Université de Lille III: Service de reproduction des thèses 1974, 2 Bde.; hier II, S. 363-375. – Gerhard Dünnhaupt: Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur. Erster Teil: A-G. Stuttgart: Hiersemann 1980, S. 228. – Wolf-Dieter Otte: Eine Nachricht von Gottfried Alberti über das Schicksal der von Herzog Anton Ulrich hinterlassenen Manuskripte zur „Octavia“. In: Wolfenbütteler Beiträge. Aus den Schätzen der Herzog August Bibliothek 6 (1983), 336-351.

besitzer und leser simplicianisher schriften 83 266 Valiska wurde im Jahr 1728 verlegt. Der Arminius erfuhr eine zweite Auflage in vier Bänden im Jahr 1731. Nur die Asiatische Banise, der erfolgreichste Barockroman, 267 und die Argenis wurden auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachgedruckt bzw. neu übersetzt. 268 Die Nicht-Verfügbarkeit des Simplicius Simplicissimus, der Courasche, des Springinsfeld und des Vogelnest in jüngeren Ausgaben erklärt also nicht ihre fast völlige Abwesenheit in den Leihbibliotheken. Die Leseanstalten waren wohl in der Lage, wenn die entsprechende Nachfrage vorhanden war, ihren Abonnenten auch sehr alte Werke – wie die Römische Clelja und den Artamenes – anzubieten. Solange andere wichtige und umfangreiche Quellen – wie beispielsweise die in den Archiven von vielen Städten, Städtchen und Landgemeinden massenweise vorhandenen Inventurakten und Nachlaßinventare – nicht systematisch ausgewertet sein werden, ist es unmöglich, den Grad der Repräsentativität der schöngeistigen Lesepräferenzen und der soziologischen Zusammensetzung der Leserschaft der Herzog-August-Bibliothek zu bestimmen. Was unseren spezifischen Fall betriπt, ist es folglich auch unmöglich, die Häufigkeit der Entleihungen des Simplicissimus und anderer simplicianischen Schriften zu erklären. So bleibt vorläufig die Vorliebe der Benutzer der Herzog-August-Bibliothek für Grimmelshausen in ihrer Einzelheit rätselhaft. Allerdings könnten die freien modernisierenden Bearbeitungen des Simplicissimus (1756, 269 1785, 270  









266   Eine kurze Fassung des Romans wurde im Jahr 1744 vom selben Braunschweiger Verleger (Ludolph Schröder) der letzten Ausgabe herausgebracht. „Eine anon. Neubearbeitung des Romans in 4 Bänden u. d. T. Die deutschen Fürsten aus dem 3. Jahrhundert erschien in Leipzig 1781-1783“ (G. Dünnhaupt: Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur. Erster Teil, S. 522). 267   Vgl. Hans-Gert Roloπ: Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausen. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hrsg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin: Erich Schmidt 1984, S. 798-818. Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausen hatte Beziehungen zum kurfürstlichen sächsischen Hof in Dresden und auch zum Hof des Herzogs von Sachsen-Weißenfels Johann Adolf I. in Weißenfels, den er – zum Beispiel – am 6. November 1696 besuchte, als seine Oper Die Lybische Talestris dort aufgeführt wurde. 268  Die Asiatische Banise wurde 1753 (in diesem Jahr erschienen sogar zwei Ausgaben) und 1764 nachgedruckt. Die Argenis – zuerst von Martin Opitz (1626-1631) übersetzt – wurde 1770 nachgedruckt; 1701 erschien in Leipzig bei Gleditsch die Übersetzung von August Bohse (2. A.: Leipzig: Gleditsch 1709). 269  Der Wechsel des Glücks und Unglücks im Krieg, oder Wunderbahre Begebenheiten Herrn Melchior Sternfels von Fuchsheim, Eines gebohrnen Edelmanns. Franckfurt und Leipzig 1756 (vgl. P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 209 u. S. 282. – C. von Faber du Faur: German Baroque Literature I, S. 294. – I. M. Battafarano: Grimmelshausen-Bibliographie, 1666-1972, S. 85). Das in Planet Grimmelshausen (S. 636) angegebene Erscheinungsdatum ist 1755. Das Werk wurde sofort in den Catalogus librorum prohibitorum (1758) aufgenommen (vgl. P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 273). Zu dieser stark komprimierten freien Bearbeitung vgl. L. E. Kurth-Voigt: Grimmelshausens „Simplicissimus“ in Aufklärung und Vorklassik, S. 19-26. – P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 209-211. 270   Der Abentheuerliche Simplicissimus. Auch Melchior Sternfels von Fuchsheim genannt. Leipzig: Weygand 1785. Zu dieser, von Christian Jakob Wagenseil veröπentlichten Bearbeitung des Simplicissimus, in der alle sechs Bücher des Romans auf 168 Seiten in gedrängter Form

84 alberto martino 271 1790 ) und die Adaptation des Springinsfeld und der Courasche (1791 272), die im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts veröπentlicht wurden, wohl als Anzeichen eines verbreiteten – wenn auch schwachen – Interesses des Lesepublikums und einer gewissen buchhändlerischen Nachfrage bewertet werden. Die Reaktionen der Kritik auf diese modernisierenden Bearbeitungen haben aber mit Sicherheit dieses sich abzeichnende Interesse für Werke des Simplicissimus-Zyklus im Keime erstickt. Die Rezensenten behaupteten nämlich, daß die Werke des simplicianischen Zyklus nicht mehr zu dem gesitteten Geschmack der Zeit paßten. Sie stellten einen zu großen Stein des Anstoßes für die literarische Kritik der Aufklärung dar, da ihre „Zoten“, ihre skatologischen Exzesse und ihre unverhüllte Darstellung des Sexuellen die heiligen ästhetischen und moralischen Prinzipien der ‚bienséances’ 273 am ärgsten verletzten. 274 So wäre auch für unternehmerische Buchändler und Verleger der Versuch zu riskant gewesen, eine neue Ausgabe des einen oder des anderen pikaresken Werkes von Grimmelshausen auf den Markt zu bringen Man darf selbstverständlich Daten über den von Nachlaßinventaren und Inventurakten dokumentierten Buchbesitz, über das Bücherangebot von Leseanstalten und über Entleihungen aus einer fürstlichen Bibliothek, die den Angehörigen des Hofes und der Beamtenschaft wie auch den Bürgern der Stadt und auswärtigen Besuchern zugänglich war, nicht in einen Topf werfen. Der Gegensatz zwischen den Daten der Ausleihbücher der Herzog-August-BibliothekWolfenbüttel und den Daten der anderen Quellen ist zu stark und unerklärlich. Die Daten der drei heterogenen Datenserien und die Veröπentlichung der freien modernisierenden Bearbeitungen beweisen aber wohl insgesamt, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die pikaresken Werke Grimmelshausens in  







nacherzählt werden, vgl. L. E. Kurth-Voigt: Grimmelshausens „Simplicissimus“ in Aufklärung und Vorklassik, S. 28-35. – P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 218-226. 271  Der im vorigen Jahrhundert so weltberufene Simplizius von Einfaltspinsel, in einem neuen Kleide nach dem Schnitt des Jahres 1790. Neue, nach dem 1685. aufgelegten Original umgearbeitete Auflage in 6 Büchern. Frankfurt und Leipzig 1790. Zu dieser, 876 Seiten umfassende Adaption, die bei weitem die umfangreichste der bisherigen Bearbeitungen ist, vgl. L. E. Kurth-Voigt: Grimmelshausens „Simplicissimus“ in Aufklärung und Vorklassik, S. 35-45. – P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 227-230. 272   Lächerliche und unterhaltliche Lebensgeschichte des im vorigen Jahrhundert allgemein bekannten tapfern Soldaten Kilian Springinsfeld, getreuen Kriegskammeraden des Simplizius, zuletzt aber verarmten Landstürtzers. Mit einem Anhange von der begünstigten Liebhaberin des Simplizius, Jungfer Courage. Gedruckt im Jahre 1670. Nunmehr aber ganz umgearbeitete Auflage in zwei Theilen. Frankfurt und Leipzig, 1791. Zu diesen Bearbeitungen des Springinsfelds und der Courasche, vgl. P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 236-238. 273   Über die klassizistische Doktrin der ‘bienséances’ vgl. René Bray: La formation de la doctrine classique en France. Paris: Librairie Nizet [1927], S. 215-230. – Jacques Scherer: La dramaturgie classique en France. Paris: Librairie Nizet 1970, S. 383-421. 274   Vgl. P. Heßelmann: Simplicissimus redivivus, S. 230-235.

besitzer und leser simplicianisher schriften 85 den mittelständischen Schichten noch rezipiert – wenn auch in bescheidenem Ausmaß – wurden. Die Fülle von kostbaren Daten, die Planet Grimmelshausen anbietet, hat mich dazu verlockt, Anregungen und neue Materialien für den Bau eines organischen Modells der Leserschaft des Barockautors zu unterbreiten. Für die Verwirklichung dieses Modells fehlen freilich noch die notwendigen Voraussetzungen. Die homogenen und zahlreichen Daten der Jahre 1668-1713 dokumentieren ganz klar die Rolle des Adels und der von dem höfisch-modernen Bildungsideal geprägten Gelehrten, hohen Beamten und hohen Geistlichen als Träger und Rezipienten der pikaresken Werke Grimmelshausens. Die Daten über den Besitz und die Lektüre der pikaresken Werke Grimmelshausens in den Jahren 1714-1800, obwohl heterogen und spärlich, veranschaulichen in aller Deutlichkeit einen abrupten Bruch in ihrer Rezeptionsgeschichte: der Adel hat seine Rolle als ihren Träger und Rezipienten völlig aufgegeben. Beide Datenserien – die eine weniger, die andere weit mehr – sind zu lückenhaft, um jene räumliche (Territorien, Regionen, Städte, Höfe), chronologische und lesersoziologische Diπerenzierung und Nuancierung der Leserschaft Grimmelshausens durchführen zu können, die für ihre feinere Strukturierung sowie für eine befriedigende Lösung von noch oπenen Fragen und eine überzeugende Klärung von scheinbaren oder wirklichen Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten notwendig wären. Planet Grimmelshausen hat die Lage ungemein verbessert und uns eine Masse von wertvollen Angaben zur Verfügung gestellt. Die Auswertung von allen archivalischen Dokumenten, die Hinweise auf Lektüre oder Buchbesitz enthalten, von Auktionskatalogen, Bibliotheksbeständen, Ausleihbüchern, Briefwechseln, Memoiren und Tagebüchern ist aber noch unbedingt erforderlich, um zu fundierten Ergebnissen zu kommen. Ebenso wichtig ist die gründliche Erforschung der Lebensgeschichte der eruierten Leser, um das Netz der eventuell unter ihnen bestehenden Beziehungen rekonstruieren zu können. Erst wenn die historische Leserforschung diese Vorarbeiten geleistet hat, könnte der Bau des oben erwähnten organischen Modells in Angriπ genommen werden. Leider wird die so notwendige wie „mühselige, glanzlose und höchst empirische Kärrnerarbeit“, 275 die ‚positivistiche’ Forschung also, nicht gefördert. Selbst Bibliographien, die wichtigsten Grundlagen für die wissenschaftliche Arbeit, finden – wie man auch im Vorwort zu Planet Grimmelshausen mit großer Bitterkeit erfährt – keine Unterstützung. Wissenschaftliche Institutionen, Univer 

275   Erdmann Weyrauch: »Bürger und Bücher«. Informationen über ein Arbeitsvorhaben zur Geschichte des Buchbesitzes im 16./17. Jahrhundert. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten VIII/1 (1981), 150-154; hier S. 151.

86 alberto martino sitäten und private und öπentliche Stiftungen (mit wenigen lobenswerten Ausnahmen) ziehen es häufig vor, modisches, ephemeres – womöglich kollektives –, rasch zu produzierendes und zu kommerzialisierendes Geschwätz zu fördern. Über die ministerialen Evaluierungsausschüsse von Wissenschaftlern, die Bibliographien und historisch-kritische Ausgaben minimal bewerten, schweige ich per carità di Patria. Es ist folglich nicht verwunderlich, wenn die Forscher, die trotz aller Hindernisse den Mut haben, sich in voller Einsamkeit großen, langjährigen, individuellen Projekten zu widmen, immer seltener werden. Zu der Elite dieser seltenen Forscher gehören Italo Michele Battafarano und Hildegard Eilert, die der Barockforschung wie auch der Buchgeschichte die besprochene, großartige Bibliographie geschenkt haben. Diesen Forschern, die contra viento y marea auch an einem zweiten Band der Grimmelshausen-Bibliographie, der Forschung und Rezeption erfassen wird, arbeiten, werden mit Sicherheit alle Literatur- und Buchhistoriker ihre volle Bewunderung und hohe Anerkennung zollen.

c omp osto i n car atter e ser r a m a nu zi o da l l a fabr i z i o ser r a edi tor e, p i s a · r o m a . i mp r esso e r i legat o da l l a t ipogr afi a di agnano, agna no p i s a no (p i s a ) .

* Maggio 2017 (cz2/fg13)

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