Berlin im Europa der Neuzeit: Ein Tagungsbericht [Reprint 2018 ed.] 9783110849240, 9783110116632


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German Pages 603 [608] Year 1990

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Table of contents :
VORWORT
INHALT
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Zur Einführung
Berlin im Europa der Neuzeit: Nationale Hauptstadt und europäische Metropole
Erste Sitzung
Einleitungsreferat
Die politische und kulturelle Rolle Berlins von der Aufklärung bis zur Reichsgründung
Beiträge
Berlins Rolle in den Kriegen gegen Napoleon
Die Revolution 1848/49 in Berlin im Vergleich
Wilhelm von Humboldt als Chef der Sektion für Kultus und Unterricht in Berlin und seine Bedeutung für die Bildungsreformen in Deutschland
Berlin als Schulstadt: Bildungspolitische Grundlagen der Wirtschaftsentwicklung (1770–1870)
Zweite Sitzung
Einleitungsreferat
Berlin als deutsches und europäisches Wirtschaftszentrum
Beiträge
Industrialisierung und Stadtausbau im Berliner Raum
Berlin als Zentrale der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung
Forschung und industrieller Fortschritt: Berlin als Wissenschaftszentrum
Berlin als preußisches und deutsches Finanzzentrum und seine Beziehungen zu den anderen Zentren in Ost und West
Berlin als Verkehrsknotenpunkt und Handelszentrum
Berlins Wirtschaft und der Kolonialismus
Dritte Sitzung
Einleitungsreferat
Berlin als Zentrum des deutschen Nationalstaats
Beiträge
Berlin im Spiegel britischer diplomatischer Berichte und Erinnerungen
Berlin und der europäische Westen: Der Fall Paris-Berlin
Berlin und Osteuropa
Warschau und Berlin im 19. Jahrhundert
Zwei Gesichter Berlins im neuzeitlichen tschechischen Nationalbewußtsein
Berlin zwischen Obrigkeitsstaat und Diktatur: Demokratische Tradition und Hauptstadtfunktion in der Weimarer Republik
Berlin in der Weltwirtschaftskrise
Vierte Sitzung
Einleitungsreferat
Berlin unter dem Nationalsozialismus
Beiträge
Die Zerstörung der internationalen Geltung Berlins auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet und die Wirkung der Berliner Emigranten auf die Gastländer
Berlin in den Plänen Hitlers als Zentrum des neuen nationalsozialistischen Großreiches
Berlin als Zentrum der Vorbereitung auf Hitlers „Lebensraum-Krieg“
Berlin als Zentrum des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates
Berlin als Zentrum des deutschen Widerstandes 1933 bis 1945
Krieg und Kriegsfolgen in Berlin im Vergleich zu anderen Großstädten
Berlin in den Plänen der Alliierten des Zweiten Weltkrieges
Fünfte Sitzung
Einleitungsreferat
Berlin im Spannungsfeld zwischen West und Ost
Beiträge
Berlin (West) im westlichen Bezugssystem: Westmächte, Bundesrepublik Deutschland und westliches Bündnis
Berlin (Ost) im östlichen Bezugssystem: Sowjetische Besatzungsmacht, Hauptstadt der DDR und „Sozialistische Staatengemeinschaft“
„Außerparlamentarische“ Politik und Protestbewegung in Berlin und der westlichen Welt
Minderheiten im Berlin der Nachkriegszeit — Tradition der Toleranz?
Die beiden Berlin-Krisen
Berlin und die Ostpolitik
Schlußvortrag
Berlin in der Welt von heute — Aufgaben und Perspektiven der aktuellen Politik
Bibliographie
Ortsregister
Personenregister
Autorenverzeichnis
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Berlin im Europa der Neuzeit: Ein Tagungsbericht [Reprint 2018 ed.]
 9783110849240, 9783110116632

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V E R Ö F F E N T L I C H U N G E N DER

H I S T O R I S C H E N KOMMISSION ZU BERLIN BAND 75

PUBLIKATIONEN SEKTION

DER

FÜR DIE GESCHICHTE

BERLINS

W _G DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1990

BERLIN IM EUROPA DER NEUZEIT

Ein Tagungsbericht

Herausgegeben von W O L F G A N G R I B B E und J Ü R G E N

SCHMÄDEKE

w DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1990

Die Schriftenreihe der Historischen Kommission zu Berlin erscheint mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung, Berlin

Lektorat der

Schriftenreihe

Christian Schädlich

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Berlin im Europa der Neuzeit: ein Tagungsbericht / hrsg. von Wolfgang Ribbe u. Jürgen Schmädeke. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1990 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin ; Bd. 75 : Publikationen der Sektion für die Geschichte Berlins) ISBN 3-11-011663-4 NE: Ribbe, Wolfgang [Hrsg.]; Historische Kommission : Veröffentlichungen der Historischen ...

© 1990 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Historische Kommission zu Berlin, Berlin 38 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65, Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin 61 Schutzumschlag: Rudolf Hübler, nach einer Vorlage von Wolfgang Ribbe

VORWORT Als die Historische Kommission sich entschloß, am Berliner Stadtjubiläum mit Publikationen, Vorträgen und einer Konferenz teilzunehmen, ließ sie sich vor allem von zwei Gesichtspunkten leiten: Zum einen galt es, Lücken in der historischen Forschung zu schließen, die es hinsichtlich der Berliner Stadtgeschichte, die im 19. und 20. Jahrhundert zugleich immer auch preußische beziehungsweise Reichsgeschichte war, reichlich gab. Das Ergebnis überraschte vor allem quantitativ. Eine kaum zu bewältigende Flut von Publikationen hat uns im Jubiläumsjahr erreicht und in manchen Fällen auch dazu beigetragen, die Kenntnisse über Berlins Vergangenheit zu erweitern und zu vertiefen. Andererseits galt und gilt es aufgrund eines veränderten Sachstandes eine neue Standortbestimmung Berlins vorzunehmen. Nun sind Historiker keine Politiker oder gar Futurologen, sondern (mit A. W. v. Schlegel) eher rückwärtsgewandte Propheten. Sie können damit aber der aktuellen Politik durchaus helfen, Anknüpfungspunkte zu finden und Hilfestellung zu geben, wenn es darum geht, die Weichen zu stellen für neue Entwicklungen. Diese politische Absicht ist unter anderem in der Formulierung unseres Konferenzthemas „Berlin im Europa der Neuzeit" verborgen. Berlin war in den letzten vier Jahrzehnten das Symbol für ein wieder zu vereinigendes Deutschland. Ost-Berlin, von dem auf unserer Konferenz leider zu wenig die Rede war, fungierte vier Jahrzehnte als Hauptstadt des östlichen Teilstaates; West-Berlin wurde — im Rahmen alliierter Vorbehalte und alliierten Schutzes — politisch und wirtschaftlich in den westlichen Teilstaat eingebunden. Doch seine isolierte geographische Lage, verbunden mit der besonderen politischen Stellung, zwang immer wieder dazu, über zukunftsweisende Aufgaben und Funktionen für West-Berlin nachzudenken. Seit die Formel von der möglichen Drehscheibenfunktion Berlins kreiert worden ist, galt es Wege zu finden, um solche Vorstellungen zu realisieren. In diesem Zusammenhang wurde es wichtig zu wissen, welche gewachsenen europäischen Beziehungen Berlins es gibt, um sie gegebenenfalls weiterzuentwickeln beziehungsweise neu zu beleben oder unter den aktuellen politischen Bedingungen erst durch die politische Annäherung von Ost und West im Rahmen der Entspannungspolitik, die inzwischen durch die revolutionären Ereignisse in Osteuropa, ins-

6

Vorwort

besondere aber durch den Vereinigungsprozeß beider deutscher Staaten, zu völlig neuen Konstellationen geführt hat. Ob das wiedervereinigte Berlin Hauptstadt des neuen deutschen Nationalstaates und Sitz der Regierung wird, ist noch nicht entschieden. Die kontroverse Diskussion darum bedient sich vielfach der Argumente, die bereits bei der Reichsgründung 1871 eine Rolle gespielt haben; daneben wird auch auf die Funktion Berlins in der wechselhaften deutschen Geschichte während der Weimarer Republik, im NS-Staat und zur Zeit der deutschen Teilung verwiesen. Aber im Hinblick auf die gesamteuropäische Einigungsbewegung wird Berlin nun auch als östlichste Metropole Westeuropas und als westlichste Metropole Osteuropas apostrophiert und ihr damit eine Drehscheibenfunktion zugewiesen, die sie, vielleicht auch ohne Regierungssitz zu sein, ausüben könnte. Ansätze dazu hat es — wie die Beiträge zu unserer Tagung zeigen — vor allem im 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vielfach gegeben. In einem politisch geeinten Europa sollten sie — anders als im Europa der Nationalstaaten — auch zu realisieren sein. Bleibt uns, allen zu danken, die durch ihre Teilnahme das Symposion ermöglicht haben. Referenten wie Diskussionsteilnehmer waren in ein zeitlich sehr eng bemessenes Programm eingebunden, das dazu zwang, viele Ausführungen stark zu komprimieren. In der vorliegenden schriftlichen Fassung sind die Ausführungen — auch dort, wo sie Zukunftsperspektiven entwickeln — bewußt nicht nachträglich aktualisiert worden. Die Planung dieser Konferenz fiel in die Amtszeit des inzwischen verstorbenen Dr. Dr. h. c. Wolfgang Treue als Vorsitzender der Historischen Kommission. Er knüpfte die ersten Kontakte und übertrug dann den Herausgebern die inhaltliche Planung und die Durchführung. Wir schulden ihm für seine Initiative und seine konstruktive Mitwirkung besonderen Dank. Bei der Einrichtung der Manuskripte für den Druck und der Bearbeitung der Bibliographie hat uns Harald Engler zur Seite gestanden, bei den Korrekturarbeiten und der Anfertigung des Registers Rosemarie Baudisch; die Lektorierung des Bandes lag in den bewährten Händen von Christian Schädlich. Berlin-Nikolassee (im am 30. März 1990

Mittelhof),

Professor Dr. Wolfgang Ribbe Leiter der Sektion für die Geschichte Berlins der Historischen Kommission zu Berlin

Dr. Jürgen

Schmädeke

Wissenschaftlicher Referent des Internationalen Konsultationsprogramms der Historischen Kommission zu Berlin

INHALT

VORWORT

5

der Herausgeber

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

13

Zur Einführung W O L F G A N G R I B B E / Berlin

Berlin im Europa der Neuzeit: Nationale Hauptstadt und europäische Metropole

17

ERSTE SITZUNG Leitung: Günter Richter, Berlin

Einleitungsreferat HORST

MÖLLER/Paris

Die politische und kulturelle Rolle Berlins von der Aufklärung bis zur Reichsgründung

55

Beiträge HAGEN

SCHULZE/München

Berlins Rolle in den Kriegen gegen Napoleon WOLFGANG

75

HARDTWIG/Erlangen

Die Revolution 1848/49 in Berlin im Vergleich

85

Inhalt

8

K A R L - E R N S T J E I S M A N N / Münster Wilhelm von H u m b o l d t als Chef der Sektion für Kultus und Unterricht in Berlin und seine Bedeutung für die Bildungsreformen in Deutschland PETER

99

LUNDGREEN/Bielefeld

Berlin als Schulstadt: Bildungspolitische Grundlagen der Wirtschaftsentwicklung (1770—1870)

ZWEITE

113

SITZUNG

Leitung: Reinhard Rürup, Berlin

Einleitungsreferat I L J A MIECK/Berlin Berlin als deutsches und europäisches Wirtschaftszentrum

121

Beiträge WOLFGANG

HOFMANN/Berlin

Industrialisierung und Stadtausbau im Berliner Raum ERNST

141

SCHRAEPLER/Berlin

Berlin als Zentrale der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung

155

B E R N H A R D VOM B R O C K E / Marburg Forschung und industrieller Fortschritt: Berlin als Wissenschaftszentrum. Akademie der Wissenschaften, Universität, Technische Hochschule und Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft

165

R I C H A R D TILLY/Münster Berlin als preußisches und deutsches Finanzzentrum und seine Beziehungen zu den anderen Zentren in O s t und W e s t

199

9

Inhalt M I C H A E L ERBE/Mannheim

Berlin als Verkehrsknotenpunkt und Handelszentrum CORNELIA

211

ESSNER/Berlin

Berlins Wirtschaft und der Kolonialismus

221

DRITTE SITZUNG Leitung: Wolfgang Ribbe, Berlin

Einleitungsrefera

t

L O T H A R G A L L / Frankfurt am Main

Berlin als Zentrum des deutschen Nationalstaats

229

Beiträge F R A N C I S L. C A R S T E N / L o n d o n

Berlin im Spiegel britischer diplomatischer Berichte und Erinnerungen DOMINIQUE

239

BOUREL/Paris

Berlin und der europäische Westen: Der Fall Paris-Berlin

249

K L A U S MEYER/Berlin

Berlin und Osteuropa RYSZARD

KOLODZIEJCZYK/Warschau

Warschau und Berlin im 19. Jahrhundert. Einige Anmerkungen zu den Beziehungen und wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den beiden Hauptstädten JIRJ

259

267

KORALKA/Prag

Zwei Gesichter Berlins im neuzeitlichen tschechischen Nationalbewußtsein

275

Inhalt

10 OTTO

BÜSCH/Berlin

Berlin zwischen Obrigkeitsstaat und Diktatur: Demokratische Tradition und Hauptstadtfunktion in der Weimarer Republik . . . 297 WOLFRAM

FISCHER/Berlin

Berlin in der Weltwirtschaftskrise

305

VIERTE SITZUNG Leitung: Herbert A. Strauss, Berlin /New York

Einleitungsrefera PETER

t

STEINBACH/Passau

Berlin unter dem Nationalsozialismus

315

Beiträge ALFONS

SÖLLNER/Berlin

Die Zerstörung der internationalen Geltung Berlins auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet und die Wirkung der Berliner Emigranten auf die Gastländer MARIE-LUISE

RECKER/Münster

Berlin in den Plänen Hitlers als Zentrum des neuen nationalsozialistischen Großreiches JÜRGEN

329

343

SCHMÄDEKE/Berlin

Berlin als Zentrum der Vorbereitung auf Hitlers „Lebensraum-Krieg" JOHANNES

353

TUCHEL/Berlin

Berlin als Zentrum des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates

367

11

Inhalt WILHELM ERNST

WINTERHAGER/Berlin

Berlin als Zentrum des deutschen Widerstands 1933 bis 1945 — CHRISTIAN

ENGELI/Berlin

Krieg und Kriegsfolgen in Berlin im Vergleich zu anderen Großstädten HELMUT

377

399

WAGNER/Berlin

Berlin in den Plänen der Alliierten des Zweiten Weltkrieges

417

FÜNFTE SITZUNG Leitung: Reimer Hansen, Berlin

Einleitungsrefera GEORG

t

KOTOWSKI/Berlin

Berlin im Spannungsfeld zwischen West und Ost

447

Beiträge DIETER

SCHRÖDER/Berlin

Berlin (West) im westlichen Bezugssystem: Westmächte, Bundesrepublik Deutschland und westliches Bündnis ALEXANDER

FISCHER/Bonn

Berlin (Ost) im östlichen Bezugssystem: Sowjetische Besatzungsmacht, Hauptstadt der D D R und „Sozialistische Staatengemeinschaft" GERD

461

469

LANGGUTH/Bonn

„Außerparlamentarische" Politik und Protestbewegung in Berlin und der westlichen Welt

481

Inhalt

12 B A R B A R A JOHN/Berlin

Minderheiten im Berlin der Nachkriegszeit — Tradition der Toleranz?

491

W I L L I A M E. GRIFFITH/Cambridge, Mass. Die beiden Berlin-Krisen MANFRED

497

GÖRTEMAKER/Berlin

Berlin und die Ostpolitik

503

Schlußvortrag DETLEF

STRONK/Berlin

Berlin in der W e l t von heute — Aufgaben und Perspektiven der aktuellen Politik

517

BIBLIOGRAPHIE

529

ORTSREGISTER

581

PERSONENREGISTER

588

AUTORENVERZEICHNIS

597

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS Das Abkürzungsverzeichnis bezieht sich ausschließlich auf den T e x t , nicht auf die Anmerkungen.

ADS AEG AGFA

=

Art. AVUS

=

BASF BEWAG = BIG BVG CDU CDUD

=

Concom =

CSU DC DDR DFD DKP DM

Allgemeiner Deutscher Studentenbund Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft Aktiengesellschaft für Anilinfarbenfabrikation Artikel Auto-Verkehrs- und Uebungsstraße Badische Anilin- und SodaFabriken Berliner Elektrizitätswerke AG Berliner Innovations- und Technologiepark Berliner Verkehrsgesellschaft Christlich Demokratische Union Christlich Demokratische Union Deutschlands Coordinating Committee for East-West-TradePolicy Christlich Soziale Union Deutsche Christen Deutsche Demokratische Republik Deutscher Frauenbund Deutschlands Deutsche Kommunistische Partei Deutsche Mark

Deutschnationale Volkspartei Deutsche Wirtschaftskommission Deutsche Waggon- und Maschinenfabrik

DNVP DKW DWM

EG e.V. Ew.

Europäische Gemeinschaft eingetragener Verein Einwohner

FDGB

Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei Freie Universität (Berlin)

FDJ FDP FU GASAG GBl gegr. Gekrat

=

Gestapo GG

=

Gas Aktiengesellschaft Generalbauinspektor gegründet Gemeinnützige Krankentransport-GmbH Geheime Staatspolizei Grundgesetz

i.W.

in Westfalen

KABD

Kommunistischer Arbeiterbund Deutschlands Kommunistischer Bund Kommunistischer Bund Westdeutschlands Königlich(e) Kommunistische Gruppen Kommunistische Partei Deutschlands

KB KBW Kgl. K-Gruppen = KPD

Abkürzungsverzeichnis

14 KPD/AO =

Kommunistische Partei Deutschlands/Aufbauorganisation

KPD/ML =

Kommunistische Partei Deutschlands/MarxistenLeninisten

KSZE

=

Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

KWG

=

Kaiser-Wilhelm-Gesell-

KWI

=

Kaiser-Wilhelm-Institut(e)

KZ

=

Konzentrationslager

LDPD

=

Liberaldemokratische Par-

schaft

tei Deutschlands M-Bahn

=

MBFR

=

Magnetbahn Mutual Balanced Forces Reductions

Nazi(s)

=

Nationalsozialist(en), nationalsozialistisch(e, en)

NS

=

sozialistisch^, en, er) =

=

Reichskriminalpolizeiamt

RM

=

Reichsmark

SA

=

Sturmabteilung

SBZ

=

Sowjetische Besatzungs-

SD

=

Sicherheitsdienst

SDS

=

Sozialistischer Studenten-

SED

=

zone

bund

SMAD

=

=

SPD

=

Physikalisch-Technische

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SS

=

Schutzstaffel

StGB

=

Strafgesetzbuch

TH

=

Technische Hochschule(n)

UdSSR

=

Sowjetunion (Union der sozialistischen Sowjetrepubliken)

USA

=

Vereinigte Staaten von Amerika (United States of

Nationalsozialistische

Reichsanstalt

Sowjetische Militäradministration in Deutschland

America)

Deutsche Arbeiterpartei PTR

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

Nationalsozialist(en), Nationalsozialismus, national-

NSDAP

RKPA

VVN

=

Verband der Verfolgtendes Naziregimes

Zur Einführung

Berlin im Europa der Neuzeit: Nationale Hauptstadt und europäische Metropole W O L F G A N G RIBBE Berlin

Die Öffnung der Grenzen zwischen der D D R und der Bundesrepublik Deutschland und damit auch zwischen Ost-Berlin und West-Berlin sowie die damit verbundenen politischen Bemühungen um eine Vereinigung beider deutscher Staaten haben die Diskussion um die Zukunft der größten und wohl bedeutendsten deutschen Stadt neu belebt. Bereits im Vorfeld der sich anbahnenden deutschen Vereinigung wird die Frage nach der künftigen Hauptstadt und dem Regierungssitz des neu zu bildenden Staates gestellt und kontrovers beantwortet, wobei den Argumenten, die bereits bei der Reichsgründung von 1871 eine Rolle spielten, neue hinzugefügt werden, die aus der jüngeren Geschichte resultieren. Vergleichsweise wenig bemüht bei der Lösung des Problems wird die europäische Dimension des Vorganges, zumal „Deutschland, einig Vaterland" doch im Rahmen des europäischen Zusammenschlusses Realität werden soll. Welche Rolle Berlin über den nationalen Aspekt hinaus im zukünftigen vereinten Europa spielen kann, welche Chancen eine solche Aufgabe bietet, aber auch welche historisch motivierten Grenzen sie impliziert, wird deutlich, wenn man Werden und Funktion Berlins im Europa der Neuzeit untersucht. Die wechselseitige Durchdringung von nationalen und internationalen Ansprüchen, die an diese Stadt gestellt wurden, hat äußerst extreme Ergebnisse gezeitigt, denn die entscheidenden Impulse gingen immer von der „großen" Politik aus: Reichshauptstadt im Kaiserreich, Metropole in der Weimarer Republik, Zentrale des Terrors (und auch des Widerstandes) in der NS-Zeit, geteilte Stadt und Teil-Hauptstadt während des Kalten Krieges. Und nun, nach einer Annäherung der politischen Blöcke, Drehscheibe zwischen O s t und West, NennHauptstadt des geeinten Deutschland, mit dem Regierungssitz in Bonn?

Wolfgang Ribbe

18

Fragen an die Geschichte Berlins Berlin war als Hauptstadt Deutschlands und als europäisches Zentrum niemals unumstritten. Vielfach ist die Stadt als Bedrohung empfunden worden, man lehnte sie als „Newcomer", oder „Parvenü" ab, fürchtete sie als Konkurrenten, und nur selten erkannte man in Berlin ein Vorbild. Offensichtlich wollten die Deutschen keine die ganze Nation repräsentierende Kapitale. Warum sollten Länder, in denen dies anders war, Berlin mit anderen Augen sehen? Auch in Europa sah und sieht man Positives und Negatives in Berlin, knüpfte Erwartungen an die Stadt und äußerte auch Ängste. Berlin war am Ausgang des 19. Jahrhunderts noch eine junge Stadt, mit einem jungen Kaiser, alles war neu, und dieses Neue repräsentierte Jugendlichkeit. Alles an diesem Berlin erschien amerikanisch: das schnelle W a c h s t u m , die Inhomogenität der Gesellschaft, die weitgehende Traditionslosigkeit. Berlin schien keine eigene Geschichte zu haben, keine autochthone Kultur. Die Stadt hatte nicht einmal eine deutsche Historizität. Alles in Berlin schien von außen zu kommen. Aber war die Stadt eine „Parasitopolis", eine Kulturinsel in kulturloser Umgebung; bestand die nach 1945 oft beklagte Insellage nicht bereits um 1900? Erfüllte Berlin nicht vor allem eine „Push-and-PullF u n k t i o n " , das heißt, Leute wurden nach Berlin gestoßen und Leute wurden nach Berlin gezogen? Empfand man Heimweh in Berlin, auch wenn man dort Erfolg hatte? W a r Berlin ein Mekka, und wenn ja, für wen? W a r Berlin die oft behauptete Speerspitze der Moderne? W i e hat es ausgerechnet dieser O r t erreicht, von einem Handelsort in der Mittelmark über die Residenzstadt der Kurfürsten von Brandenburg und der preußischen Könige zur deutschen Reichshauptstadt zu werden? Auf welcher Etappe seiner Entwicklung wuchsen der Stadt diese entscheidenden Funktionen zu? Waren die Wechselwirkungen der verschiedenen Aufgaben für die Bedeutungssteigerung verantwortlich? Gab es vielleicht auch H e m m f a k t o r e n , und wie wurden sie überwunden? Diese Fragen müssen beantwortet werden, um Berlins Sonderentwicklung zu klären. Denn auch Dresden, München, Frankfurt, Leipzig und andere deutsche Städte hatten ähnliche Voraussetzungen wie Berlin: — eine zentrale Verwaltung, deren Nachfrage den Markt belebte; Industrie und Handwerksbetriebe, die am O r t entstanden, um diesen Markt zu beliefern;

Nationale Hauptstadt und europäische

Metropole

19

— von der Industrie und Verwaltung errichtete Ausbildungs- und Forschungsstätten, die für qualifizierten Nachwuchs sorgten und neue Industrieverfahren und Produkte entwickelten; — kulturelle und wissenschaftliche Institutionen. Welche Besonderheiten bot nun Berlin, worin bestand die große Anziehungskraft, die dazu führte, daß alle anderen deutschen Städte an Einwohnerzahl und Bedeutung überflügelt wurden? Setzte diese Entwicklung bereits Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein, als die Stadt unter dem Einfluß der Aufklärung einen ersten Modernisierungsschub erhielt, oder waren es mehr praktische Gesichtspunkte, wie die Entstehung des Eisenbahnknotenpunktes Berlin, welche die rasante Entwicklung der Stadt zu einer europäischen Metropole des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts auslösten? Wie reagierte die „Provinz" auf den internationalen Rang der deutschen Hauptstadt? War man in München, Frankfurt, Köln, Hamburg und Königsberg bereit, sich der unumschränkten Vormachtstellung zu beugen? Hat der „Kulturkampf" in den katholischen Landesteilen Spuren hinterlassen, die dem Bild Berlins abträglich waren? Erkannten die deutschen Protestanten in Berlin ihr Rom, mit dem Kaiser als geistlichem Patron, oder ließ sie dieser Gedanke unberührt? Weiter ist zu untersuchen, ob die Revolution 1918/19 und die schwache Republik von Weimar bereits in den zwanziger Jahren die Stellung Berlins als deutsche Hauptstadt beeinflußt haben. Um noch einen Schritt weiter zu gehen: Welchen Einfluß übte es auf die protestantischen Wähler aus, als aus ihrem geistigen Zentrum Berlin, mit dem Kaiser an der Spitze, nach dessen erzwungener Abdankung eine „atheistische Großstadt" wurde? Verloren sie dadurch ihre Orientierung und ihren Halt, und ist damit ein Teil der frühen Erfolge Hitlers in der protestantischen Provinz zu erklären? Ein anderer Entwicklungsstrang, der auf unserer Konferenz leider nur unzureichend gewürdigt werden konnte, ist der Aufstieg Berlins zu einer Kulturmetropole. Entsteht aus der Zusammenballung einer geistigen, politischen und ökonomischen Elite, wie in Berlin am Ende des 19. Jahrhunderts, ein lebendiges und beispielgebendes Kulturleben fast wie von selbst oder müssen dazu noch andere Faktoren kommen? Ist es der Schmelztiegel Berlin, der ständig neue Menschen und Ideen aus dem In- und Ausland anzog, oder die Existenz von homogenen Gesellschaften, die um die politische und geistige Vorherrschaft konkurrieren? Neben das Mäzenatentum der Privatleute im Bereich der Kunst und die staatlichen Aufträge für Repräsentativbauten zur Ausgestaltung des

20

Wolfgang Ribbe

Stadtbildes trat die Förderung der Wissenschaft. Die überwiegend mit öffentlichen Mitteln gegründete Physikalisch-Technische Reichsanstalt und die durch private Initiative und mit finanzieller Unterstützung der Wirtschaft gegründete Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft waren die herausragenden Ergebnisse dieser Anstrengungen. Gab es für diese innovativen Schritte nur ökonomische Gründe oder verfolgte man noch ganz andere Interessen? Eines ist sicher: Diese und andere Forschungsinstitute waren wohl ausschlaggebend für den R u f Berlins als ein geistiges und wissenschaftliches Zentrum Europas in den Jahrzehnten um die Wende zum 20. Jahrhundert. Wie haben sich in diesem Zusammenhang die Unternehmer verhalten? Vertraten die Kohle- und Eisenindustriellen aus Schlesien und dem Rheinland, die Bank-, Versicherungs- und Handelskaufleute aus Frankfurt und Hamburg in Berlin nur ihre ökonomischen Interessen? Wirkten sie dämpfend auf zu starke Zentralisierungsbestrebungen ein? Aber nicht nur für die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch für die Arbeiterbewegung wurde Berlin das geistige und kulturelle Zentrum. Arbeiterbildungsvereine, Bücherhallen- und Volksbühnenbewegung nahmen hier ihren Anfang. Meinten beide Gesellschaftsschichten dasselbe Berlin oder hatte jede ihre eigene Ansicht von der Bedeutung der H a u p t stadt? Für die organisierte Arbeiterschaft in der Provinz war der Reichstag mit seinem gleichen Wahlrecht der natürliche politische Mittelpunkt des Denkens. Wollte die S P D diese Tendenz abschwächen und hielt sie deshalb vor 1945 nie einen Parteitag in Berlin ab? Bisher gibt es dafür noch keine schlüssige Erklärung. In der Revolution 1918/19 stand Berlin nicht mehr allein im Zentrum der Geschehnisse. D e r Ausbruch erfolgte in Kiel, München wurde die erste Räterepublik, und die schwersten Kämpfe fanden im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland statt. Beginnt hier bereits eine Dezentralisierung der Schauplätze? Zieht sich auch das Bürgertum enttäuscht vom „roten" Berlin zurück? Als Zentrum blieb die Stadt unangefochten, doch sind Anzeichen einer Stagnation zu bemerken. Die Frage, ob dies nur auf die politische Entwicklung zurückzuführen ist, oder o b die wirtschaftliche Situation zwangsläufig diesen Zustand bestimmt, ist zu untersuchen. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten ließ die Stellung Berlins nur äußerlich unangetastet. D e r Exodus eines großen Teils der Berliner Intelligenz mußte sich nachhaltig auf das geistige und kulturelle Leben der Stadt auswirken. Auf welchen Gebieten Berlin nach 1945 seine Vorherrschaft behielt, wo 1945 wieder angeknüpft werden konnte und welche Bereiche bis

Nationale Hauptstadt und europäische Metropole

21

heute noch keinen Anschluß gefunden haben, ist nur in Ansätzen geklärt. Mit der Teilung der Stadt entstand eine völlig neue Situation. Zwei konkurrierende Gesellschaftssysteme versuchten nach dem Zweiten Weltkrieg, eine große Tradition wieder aufzunehmen. Sowohl die hier verbliebene Bevölkerung als auch die zurückkehrenden Emigranten mußten sich entscheiden. Die Sowjetische Besatzungszone hatte in der ersten Zeit einen gewissen Attraktivitätsvorsprung gegenüber den Westzonen. Welche Vorteile bot das östliche System, und welche Entwicklungschancen sah ein Teil der Rückkehrer in der D D R , so daß sie sich dort niederließen? Führten sie nicht später ein Doppelleben, unter Einschluß West-Berlins als „Schaufenster der freien Welt"? Kann Berlin doch noch zur Drehscheibe zwischen Ost und West werden, wie seit längerem politisch gefordert? Und: Muß Berlin dazu wieder Hauptstadtfunktionen übernehmen, oder reicht die günstige geographische Lage in der Mitte Europas (nicht Deutschlands in den als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges akzeptierten Grenzen) dafür aus?

Von der Provinzhauptstadt zur europäischen Metropole Auf die zentrale Lage Berlins in Europa an der Schnittstelle zwischen Ost und West ist seit dem Beginn der Entspannungspolitik wiederholt hingewiesen worden. Diese zentrale Lage korrespondiert mit einer entsprechenden Verkehrserschließung, die bereits bei der Gründung der Doppelstadt Berlin-Cölln eine entscheidende Rolle gespielt hat: Die älteste Ansiedlung im Raum des heutigen Berlin entstand aufgrund eines günstigen Spreeübergangs an der Kreuzung von Handelsstraßen, die von Magdeburg nach Posen und von Leipzig an die Ostsee führten. Die Lagegunst führte auch dazu, Berlin — unter Vernachlässigung von Brandenburg an der Havel — um die Mitte des 15. Jahrhunderts zur Hauptstadt der Mark Brandenburg zu erheben. Die Mittellage Berlins zwischen Oder und Elbe ließ bereits im 18. Jahrhundert ein Wasserstraßennetz entstehen, das die Stadt mit Nord- und Ostsee verband. Den weitaus größten Anteil an der Bewältigung des Landverkehrs hatte dann aber die Eisenbahn. Es gab auf dem europäischen Kontinent keinen anderen O r t , der die gleiche Lagegunst im Eisenbahnnetz erreichte, wie Berlin. Dieser Vorzug prägte sich in einer Zeit, zu der keine künstlichen Hindernisse den Eisenbahnverkehr erschwerten, in der Fahrplanlage der Stadt überzeugend aus. Die gleiche Gunst der Knotenpunktlage hat Berlin auch im Auto- und Luftverkehr erlangt. Im N e t z der deutschen Autobahnen, das in vieler Hinsicht der Eisenbahn-

22

Wolfgang

Ribbe

netzidee von Friedrich List verwandt ist, hat Berlin eine seiner Bedeutung als Reichshauptstadt entsprechende Knotenpunktlage erhalten. 1939 waren sieben von Berlin ausgehende Autobahnstrecken in Betrieb und der Autobahnring um Groß-Berlin zu mehr als zwei Drittel fertiggestellt. Eine bereits damals projektierte achte Autobahnstrecke nach Hamburg ist erst in unseren Tagen realisiert worden, und zwar fast vollständig auf der bereits damals vermessenen Trasse. Schließlich wurde Berlin auch zum Luftkreuz Europas. Es gab und gibt keinen anderen Punkt, von dem aus man alle europäischen Hauptstädte in einer gleich kurzen Zeit erreichen kann. Doch damit allein ist der Bedeutungszuwachs, den die Stadt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr, nicht zu erklären, denn der in der Geschichte beispiellos rasche Aufstieg Berlins zu einer Weltmetropole beruhte in seinem Kern auf einer politischen Entscheidung: der Etablierung Berlins als Hauptstadt des kleindeutschen Reiches, eines Staates, der die Nation und ihre Kräfte in einem bisher unbekannten Ausmaß mobilisierte und organisierte. Die Zentralisierung von politisch-administrativen Entscheidungen setzte eine Entwicklungsdynamik in Gang, die auf alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft ausstrahlte und eine kumulierende Wirkung entfaltete. Menschen und Kapital, Ideen und Talente strömten in die neue Metropole, die sich in wenigen Jahren explosionsartig entwickelte. Dazu trug nicht unwesentlich bei, daß der steile Aufstieg Berlins in eine Periode säkularen Wachstums und Wandels fiel. Ein bisher unbekanntes Bevölkerungswachstum im ganzen Land, der Durchbruch von Industrialisierung und Urbanisierung und die Ausbildung des Interventionsstaates mit seiner Zunahme administrativer Funktionen verstärkten die in Gang gekommene Entwicklung, die schon bald alle Versuche der Planung und Steuerung überrollte. Und doch stand hinter diesem scheinbar ganz selbstläufigen Prozeß, hinter dieser, wie es schien, für die moderne Welt so charakteristischen Verbindung von Teilrationalität und abgrundtiefer Irrationalität des Ganzen eine durchaus rationale Entscheidung. Die Abkehr von der Tradition der Multizentralität in Mitteleuropa war letztlich machtpolitisch motiviert, bestimmt von dem Wunsch nach Zentralisierung und Ausdehnung staatlicher Macht. Berlin gab dabei das Grundmodell ab für die Durchformung der Gesamtgesellschaft. Und dieses Modell ließ sich schließlich in einem einzigen, den allgemeinen Entwicklungstendenzen konsequent folgenden Zentralisierungsakt auf das ganze Land übertra-

Nationale

Hauptstadt

und europäische

Metropole

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gen, konnte doch der Staat sich im einzelnen auf die skizzierten Zentrierungskräfte verlassen. Schon seit jeher war der Staat bestrebt, seine Hauptstadt zu mediatisieren. Obwohl dies im Falle Berlins weder in der Wilhelminischen noch in der Weimarer Zeit gelungen ist, so war doch die Stadt, bei allem Oppositionsgeist, in ihrer Struktur, in der Machtorientiertheit eines großen Teils ihrer führenden sozialen Gruppen auf den Staat bezogen. Das, was man die Wilhelminische Gesellschaft nennt, war vor allem in der Gesellschaft der Reichshauptstadt verkörpert, in ihrem oft parvenuhaften Lebensstil und ihren Grundvorstellungen, ihren Uberzeugungen und Vorurteilen. Gleiches gilt, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen, für die Gesellschaft von Weimar, für ihre tiefe soziale und politische Zerrissenheit, die Neigung zur Flucht in die — vorwärtsoder rückwärtsgewandte — Utopie. Auch in dieser Beziehung spiegelte Berlin, stärker als jede andere Stadt des Reiches, die vorherrschenden Tendenzen der Zeit wider. Dem entsprach in diesen Jahren die Vorstellung, daß das eigentliche Leben hier stattfand, seinen Höhepunkt erreichte — und mit ihm auch der Prozeß der Mediatisierung des Landes durch die Hauptstadt. Beides aber war machtorientiert. Diese Machtorientiertheit formte die moderne Metropole, und der Verlust der Macht ließ sie unvermeidlich verfallen. Allerdings gilt dies nur für West-Berlin. Bezogen auf den Teilstaat D D R blieben alle wichtigen Elemente, die eine Metropole ausmachen, erhalten und kamen durch die zentralistische Staatsverfassung, aber auch durch die zentrale Steuerung seitens der SED als Staatspartei, verstärkt zur Geltung. Neben den Verwaltungsfunktionen, die eine Kapitale wahrzunehmen hat, sei hier die herausragende Rolle auf kulturellem Gebiet sowie die führende Position als Wirtschafts- und Pressezentrum, als Knotenpunkt des Verkehrs, als Sitz gesellschaftlicher Spitzenorganisationen sowie auch als militärisches Zentrum erwähnt. Reichshauptstadt

im 19.

Jahrhundert

Berlin, das sich anschickt wieder eine europäische Metropole zu werden, ist als deutsche Hauptstadt nur zögernd, streckenweise gar nicht anerkannt worden. Lange Zeit war man sich in Deutschland nicht sicher, ob man eine Hauptstadt überhaupt benötigte. Samuel Pufendorf kam in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu dem Ergebnis: Auch pflegt in manchen Ländern der Glanz und die Größe der Hauptstädte, in denen unermeßliche Reichtümer zusammenströmen, die Augen

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der Fremden zu blenden, und von Paris, London und Lissabon schließen Unerfahrene leicht auf ganz Frankreich, England und Portugal, während Deutschlands Reichtum, über das ganze weite Land gleichmäßig verteilt, eben dadurch unbedeutender erscheint,-1 Lessing spottete in seiner „Hamburgischen Dramaturgie" Uber den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche doch keine Nation sind! Ich rede nicht von der politischen Verfassung, sondern bloß von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen dieser sei: keinen eigenen haben zu wollen. Wir sind noch immer die geschwornen Nachahmer alles Ausländischen,2 und Wieland beklagte 1780 die politische Verfassung seiner Zeit: Um ihretwillen werden wir niemals einen gemeinsamen M ittelpunkt, nie einen gemeinschaftlichen Schauplatz für Talente, Künste und Wissenschaften, nie eine wahre Nationalbühne, nie eine allgemein anerkannte Hauptstadt Germaniens haben, von deren Dasein jenes alles die natürlichen Folgen sein würde.* Doch gab es auch andere Stimmen. So meinte Schiller: Keine Hauptstadt und kein Hof übt Tyrannei über den deutschen Geschmack aus.* Nach der Französischen Revolution wurde aber der Hauptstadtfrage ein anderer Stellenwert zugemessen. Ohne Hauptstadt keine Revolution, keine Befreiung von den Fesseln des fürstlichen Absolutismus, von der feudalen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Aber auch die ständig zunehmende Maschinenwirtschaft, der Kapitalismus, die Börse beschleunigten den unmittelbaren, stetigen örtlichen Austausch. Dieser erfolgte in Deutschland zunächst nicht über eine Reichshauptstadt, sondern über die Haupt- und Residenzstädte der Fürstentümer und über die einzige, von Napoleon belassene Freie Reichsstadt Frankfurt sowie über die Hansestädte. Und noch dreizehn Jahre nach der Reichsgründung vermerkte Alfred Lichtwark, nachdem er französische 1

Samuel von Pufendorf, De statu imperii GermanicL Nach dem ersten Druck mit Berücksichtigung der Ausgabe letzter Hand herausgegeben von Fritz Salomon, Weimar 1910, S. 99. 2 Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hrsg. von Herbert G. Göpfert, Bd. 4: Dramaturgische Schriften, bearb. von Karl Eibl, München 1973, S. 698. 3 Patriotischer Beytrag zu Deutschlands höchstem Flor, veranlaßt durch einen unter diesem Titel im Jahre 1780 im Druck erschienenen Vorschlag eines Ungenannten, in: Christoph Martin Wieland, Sämtliche Werke, hrsg. von der „Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur" in Zusammenarbeit mit dem „WielandArchiv" . . . und Hans Radspieler, Bd. V/15, Hamburg 1984, S. 357. 4 Friedrich von Schiller, Deutsche Größe. Ein unvollendetes Gedicht Schillers, 1801. Nachbildung der Handschrift. Im Auftrage des Vorstandes der Goethe-Gesellschaft hrsg. und eingel. von Bernhard Suphan, Weimar 1902.

Nationale Hauptstadt und europäische Metropole

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Künstler durch Deutschland geführt hatte: Am meisten imponierte das selbständige Leben der einzelnen Zentren. Daß das Land nicht alle hervorragenden Kräfte der verschiedenen Künste und Wissenschaften nach Berlin sendet und sich nicht in der Provinz mit Kräften zweiten und minderen Ranges benügt, muß ein Franzose von Angesicht zu Angesicht geschaut haben, um mehr als das Wort zu begreifend Angesichts dieses weitverbreiteten und tief wurzelnden Föderalismus verwundert es nicht, daß selbst die Reichsverfassung von 1871 den Namen der Hauptstadt „Berlin" nicht nennt, und für die repräsentative Unterbringung der Reichsbehörden brauchte man Jahrzehnte. Als am 21. März 1871 in Berlin zum ersten Mal der neue deutsche Reichstag zusammentrat, versammelte man sich „vorläufig" im Abgeordnetenhaus am Dönhoffplatz, in einer „elenden Halle". Auch in dem Haus, das der Reichstag noch im selben Jahr bezog, waren die Zustände nicht viel besser. Dreiundzwanzig Jahre dauerte das Provisorium in der Leipziger Straße, und erst 1894, also fast ein Vierteljahrhundert nach der Reichsgründung, konnte das neue, repräsentative Reichstagsgebäude am Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik, eröffnet werden. Es fehlte übrigens nicht an Stimmen, die den Reichstag am liebsten überhaupt aus Berlin entfernt hätten. Auch Bismarck fand durchaus Argumente für eine Verlegung des Reichstages von Berlin weg. Doch fand er keine Resonanz. Was für den Reichstag im besonderen geltend gemacht wurde, galt für die Wahl der Reichshauptstadt im allgemeinen, denn bei der Reichsgründung von 1871 sahen die Deutschen Berlin keineswegs unbestritten als ihre Hauptstadt an. Im alten Reich war der Widerstand gegen das preußische Berlin noch groß, in dem man eine weitgehend kulturlose Stadt auf Kolonialboden sah. Die Mittel- und Kleinstaaten beklagten den Verlust der Souveränität sowie die Lasten, die ihnen gleichzeitig aufgebürdet wurden, und im Bewußtsein der Menschen setzte sich eine Legende als Tatsache durch: Wie im Märchen sei Berlin eines Morgens als Reichshauptstadt erwacht, gleichsam über Nacht groß geworden, ein glücklicher Gewinner ohne Verdienst und Würdigkeit. Selbst der Berliner Magistrat hat zur 700-Jahr-Feier im Jahre 1937 diese Sicht der Dinge übernommen, wenn er im städtischen Amtsblatt drucken ließ: Berlin ist fast über Nacht zur Hauptstadt des deutschen 5 Alfred Lichtwark, Briefe an die Kommission für die Verwaltung der Kunsthalle, in Auswahl mit einer Einleitung hrsg. von Gustav Pauli (= Hamburgische Hausbibliothek), Bd. 1 u. 2, Hamburg 1924, Bd. 1, S. 178.

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Kaiserreiches geworden. In keinem Stadium der deutschen Geschichte hätte menschliche Voraussicht die kühne Forderung erheben können, die preußische Hauptstadt müsse sich darauf vorbereiten, einmal die deutsche Reichshauptstadt darzustellen,6 Sogar zünftige Historiker schlössen sich dieser Auffassung an. So schrieb Erich Mareks noch 1936: Der Wetteifer der Landschaften spiegelt sich in einer Sonderbarkeit: Wo sollte die künftige Reichshauptstadt liegen? Doch nicht in der Mark Brandenburg?7 In der Publizistik meldete man viele Ansprüche an: etwa für Frankfurt, Nürnberg, Bamberg, für Erfurt und Leipzig und, als die echte gesamtdeutsche, deutsch-mitteleuropäische Zentrale, für Wien. Angesichts solcher Äußerungen fragt man sich, was Berlin eigentlich prädestinierte, Hauptstadt zu sein, wodurch sich die Nation in Berlin repräsentiert fühlen konnte. Zeitgenössische Beobachter registrierten bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts, daß Berlin von der Hauptstadt einer Provinz zu der eines ganzen Königreichs geworden sei; nun steige es zu einer Weltstadt auf. Dazu trage vor allem das nach allen Seiten ausgebaute Eisenbahnnetz bei, das in der Tat keine Stadt Europas (London ausgenommen) aufzuweisen hatte. Die Leipziger „Illustrirte Chronik" berichtete über die europäischen Länder und Hauptstädte im Jahresband 1848 von Berlin: Keine Stadt auf dem europäischen Festlande ist in kurzer Zeit so riesengroß angewachsen als Berlin. Im Jahre 1817 zählte es, mit Einschluß der Besatzung, nur 188 485 Bewohner, während diese Zahl jetzt die Höhe von fast 400000 erreicht hat und Berlin somit nächst Wien die bevölkertste Stadt Deutschlands geworden ist.9 Der Aufstieg Berlins von einem „Fabrikort" oder einer „Manufakturstadt" mit relativ begrenzter Bedeutung zu einem preußischen Wirtschaftszentrum hatte bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert begonnen, wurde aber durch die Belastungen während der napoleonischen Jahre empfindlich gestört. Nach 1815 waren es vor allem vier Faktoren, die für den Aufstieg zu einem überregional bedeutenden Wirtschaftsplatz entscheidend waren: die Verdoppelung der Bevölkerungszahl in 700 Jahre Berlin (= Amtsblatt der Reichshauptstadt), Berlin 1937. Erich Mareks, Der Aufstieg des Reiches. Deutsche Geschichte 1807—1870/71, Bd. 1: Vorstufen, Stuttgart-Berlin 1936, S. 304. 8 [Alfred Estermann/Andreas Werner,] Illustrirte Chronik. Aufzeichnungen aus der Geschichte der Ereignisse, der Länder, der Völker, der Menschen und Stimmungen der Gegenwart. Mit in den T e x t gedruckten Abbildungen, Portraits, Karten, Plänen und musikalischen Compositionen, Bd. 1: Chronik des Jahres 1848, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1848, Nendeln (Liechtenstein) 1978, S. 147. 6

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den drei Jahrzehnten vor 1848; die durchgängig positive Wanderungsbilanz, wodurch insbesondere Angehörige der mittleren und jüngeren Generationen, die arbeitswillig und arbeitsfähig waren, in das Berlin der beginnenden Industrialisierung kamen; die Entwicklung eines leistungsfähigen Handels- und Versorgungssystems für eine Stadt mit mehr als 400 000 Einwohnern in der Jahrhundertmitte und der Ausbau eines funktionierenden und zuverlässigen Post- und Verkehrswesens. Zu einem deutschen Wirtschaftszentrum wurde Berlin, als die von Preußen seit 1818 ausgehende aktive Zollpolitik erste Ergebnisse zeitigte. Etwa seit der Mitte der dreißiger Jahre kann man Berlin als die heimliche Hauptstadt des wirtschaftlichen Deutschland ansehen. Eine Bestätigung und einen wichtigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellte die erste Allgemeine Deutsche Gewerbeaussteilung dar, die 1844 in der preußischen Hauptstadt veranstaltet wurde. In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts überflügelte Berlin die Hauptstadt des Habsburgerreiches Wien und nahm wirtschaftlich die Entwicklung, die 1862 Friedrich Kapp, ein Achtundvierziger, auf seinem ersten Deutschlandbesuch nach fast anderthalb Jahrzehnten in einem Brief an Ludwig Bamberger begeistert schildert: Die größere Selbständigkeit des Volkes, seine Teilnahme am politischen Leben, sein ökonomisches Gedeihen und sein Selbstbewußtsein — der Eindruck aus vielen Städten in Nord und Süd. Berlin ist jetzt eine mächtige Fabrikstadt, die vom Hofe ebenso unabhängig dasteht wie Paris. Meine heimatliche Provinz [der protestantische Teil Westfalens] ist eigentlich nur ein Bergwerk, ein Hammer und Hochofen. Die Zukunft Deutschlands steckt nicht mehr in seiner studierenden, respektive auf Universitäten herumbummelnden Jugend, sondern in den jungen Technikern, Industriellen und besseren Handwerkern. Diese Wahrnehmungen eines durchaus nüchternen und praktischen Beobachters — so schließt Bamberger in seinen Erinnerungen — beweisen, daß nicht die Siege des Heeres und auch nicht die Gründung des neuen Deutschen Reiches den wahren Wendepunkt in Deutschlands großem wirtschaftlichen Aufschwung gezeitigt haben, sondern die Gesamtheit der technischen Entdeckungen und Veranstaltungen und die zu ihrer Verwertung angelegten Eigenschaften der Deutschend Berlin hatte sich zu einem der größten Industrie- und Handelszentren des neuen Deutschen Reiches entwickelt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Stadt auch zum führenden Finanzzentrum Deutschlands. Zu Anfang des Jahrhunderts überwog wohl der 9

Ludwig Bamberger, Erinnerungen,

hrsg. von Paul Nathan, Berlin 1899, S. 503.

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Finanzbedarf des preußischen Staates, später jedoch war es die Nähe zu den staatlichen Entscheidungsorganen, die Berlin Anziehungskraft verlieh. Preußens militärische Erfolge (1866 und 1870—1871) sicherten Berlin den Vorsprung gegenüber anderen Städten (vor allem Frankfurt am Main), aber die weitere Konzentration finanzieller Transaktionen und Institutionen in Berlin erklärt sich aus den durch „Economies of Scale" und positive externe Effekte bewirkten Kostenvorteilen gegenüber anderen Finanzmärkten. Der Weg Berlins zu einem europäischen Wirtschaftszentrum begann in dem Jahrzehnt nach der Reichsgründung. Auf vielen, doch nicht auf allen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens spielte die Reichshauptstadt bald eine führende Rolle in Europa. Es gelang, den Anschluß an die älteren Metropolen London und Paris zu finden und sich insgesamt an der dritten Stelle zu etablieren. Der Konsolidierung dieser Position sollte eine Weltausstellung in Berlin dienen, doch Wilhelm II. ließ 1896 nur eine Berliner Gewerbeausstellung durchführen — während Paris vier Jahre später die Weltausstellung organisierte und damit seine führende Position unter den kontinentaleuropäischen Hauptstädten bewahrte. Das Volumen der Industrie überholte bald das der anderen deutschen Städte. Berlin dehnte sich immer mehr aus, wobei sich die sozialen Gegensätze vergrößerten. Es war daher nicht überraschend, daß auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in der neuen Hauptstadt bald ihre feste Verankerung fand. Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes konnte sich ihr Vorstand hier eine gewichtige Position aufbauen und mit Hilfe einer leistungsfähigen Presse wirksame Propaganda treiben. Dazu errichtete die Parteiführung noch ein zentrales Preßbüro, einen Zentralbildungsausschuß und schließlich die Parteischule, die Funktionäre und Propagandisten heranbilden sollte. Den Abschluß bildete der Aufschwung des Gewerkschaftswesens, der mit einer allgemeinen Zentralisierung verbunden war. Seit 1903 amtierten die Generalkommission der Gewerkschaften, das Zentralarbeitersekretariat sowie ein Arbeiterinnensekretariat ebenfalls in Berlin. So hatte sich die Reichshauptstadt für die Arbeiterbewegung zu einer politisch-organisatorischen Zentrale entwickelt, die nicht nur in Deutschland eine integrierende Wirkung ausübte, sondern auch die Parteien der gesamten Zweiten Internationale beeinflußte, deren Führer sich häufig in Berlin aufhielten, um dort Eindrücke und Erfahrungen sammeln zu können. Berlins Bevölkerung wuchs innerhalb eines Jahrzehnts nach der Reichsgründung von 830000 auf 1,1 Millionen, bis 1890 um eine wei-

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tere halbe Million auf 1,6 Millionen und bis 1900 auf 1,9 Millionen; das bedeutet eine Verdoppelung innerhalb von zwanzig Jahren und einen Zuwachs um mehr als eine Million innerhalb von nur dreißig Jahren. Es handelte sich um das stärkste Wachstum einer kontinentaleuropäischen Hauptstadt in dieser Zeit und schuf außerordentliche Probleme für Verwaltung und Versorgung. Im ersten Jahrzehnt der Existenz als Reichshauptstadt gehörte Berlin verwaltungsorganisatorisch zur Provinz Brandenburg. Erst 1881 schied es aus dieser aus und wurde ein eigener Verwaltungsbezirk, doch blieben Oberpräsidium, Konsistorium, Provinzialschul- und Medizinalkollegium von Brandenburg weiterhin als höhere Instanz für Berlin zuständig, während das Polizeipräsidium direkt dem preußischen Ministerium des Innern, nicht dem Reichsamt des Innern unterstand, so daß die preußische Kapitale und Reichshauptstadt Berlin in mehreren Verwaltungsbereichen weiterhin abhängig von der Provinzregierung in Potsdam blieb. Die Industrialisierung hat die Stadtentwicklung Berlins im 19. Jahrhundert wesentlich geprägt, mit bis zur Gegenwart reichenden Folgen. Im Bereich der gewerblichen Anlagen beanspruchte die Großindustrie immer weitere Flächen. Sozialräumlich führte das zur strikten Trennung von Wohnen und Arbeiten, zur Ausgrenzung von großen Arealen und ganzen Straßenblöcken aus dem öffentlichen Bereich durch lange Mauern und Zäune. Die bemerkenswerten Berliner Industriearchitekten wie Strack (Borsig), Behrens (AEG) und Hertlein (Siemens) versuchten diese Areale optisch in die Stadt einzubinden. Zuerst als Hauptstadt des Wilhelminischen Kaiserreiches, dann als Metropole des besiegten und wirtschaftlich geknebelten Deutschland war Berlin ein europäisches Wirtschaftszentrum von Bedeutung, blieb aber dennoch hinter London und Paris zurück. Die ökonomische Substanz für eine höhere Einstufung wäre wohl vorhanden gewesen, doch die politischen Umstände standen dem im Wege. Andererseits ist hervorzuheben, daß es im Unterschied zu anderen Staaten neben der Reichshauptstadt mehrere wirtschaftlich, kulturell und politisch wichtige Landes- und Provinzhauptstädte wie München, Köln und Breslau sowie die „freien" Reichs- und Hansestädte wie Frankfurt am Main und Hamburg gab. Es ist also sehr fraglich, ob in Berlin die preußischdeutsche Bildung und politische Meinung ähnlich gemacht und bestimmt wurde wie in Wien die österreichische oder in Paris die französische.

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Europäische Hauptstädte im Vergleich Das Bild vom phänomenalen Aufstieg Berlins im 19. Jahrhundert wird relativiert, wenn man die Entwicklung bedeutender Metropolen anderer Nationen in die Betrachtung einbezieht. Bei allen Unterschieden, die hier sichtbar werden, bleibt eines gemeinsam: die ungeheure Wachstumsphase mit ihren wirtschaftlichen und sozialen, aber auch infrastrukturellen und kulturellen Begleiterscheinungen. Beginnen wir unsere Betrachtung mit der alten Reichshauptstadt Wien, 1 0 die zumindest kulturell konkurrenzlos in Österreich-Ungarn war. Berlin war zwar seit langem Hauptstadt des politisch und wirtschaftlich führenden Bundeslandes Preußen, mußte neben sich aber einige Landeshauptstädte wie München und Dresden dulden, die zumindest kulturell lange Zeit bedeutender waren oder als bedeutender galten. Während Berlins Ausdehnung durch Befestigungsanlagen im 19. Jahrhundert nicht mehr behindert wurde (lediglich die Zollmauer stand noch bis 1868), erhielt Wien durch die Entfestigung und die Aufhebung des Glacis seit 1858 Raum für große und großartige moderne Erweiterungen: Zu der historisch gewachsenen Hauptstadt des alten deutschen Reiches gesellte sich also ein in kurzer Zeit entstandener Teil der Hauptstadt Österreich-Ungarns. Schließlich begannen 1892 die Eingemeindungen. Wien bildete stets im Handel, großenteils auch in den produzierenden Gewerben und schließlich ebenso durch die Verkehrsanbindung das Zentrum der Monarchie. Nach 1866, als sich die Beziehungen zu Frankfurt durch dessen Angliederung an Preußen schnell lockerten, etablierten sich zahlreiche eigenständige Banken. Von den neunzehn Banken, die es um 1900 in Wien gab, sind die bedeutendsten von 1850 an nach dem Vorbild des Pariser Credit Mobilier gegründet worden. Wien war zwar wie Berlin Sitz der Reichsbehörden, aber abgesehen von den niederösterreichischen nicht von Behörden, die mit den preußischen Landesbehörden verglichen werden konnten; die Ungarn betreffenden Behörden sind sogar nach 1867 zum größten Teil abgewandert. Insgesamt war also Wien weniger eine Regierungs- und Verwaltungszentrale als Berlin und zugleich wiederum mehr als das, da es außer

10 Maren Seliger/Karl Ucakar, Wien. Politische Geschichte 1740—1934. Entwicklung und Bestimmungskräfte großstädtischer Politik, Teil 1 u. 2, Wien-München 1985.

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U n g a r n keine Reichsteile gab, deren Position etwa m i t H a m b u r g , Bayern, Sachsen oder Baden vergleichbar war. Ein Viertel der Wiener Bevölkerung stellten die Tschechen, aber sie wurden d u r c h Assimilation u n t e r d r ü c k t . So blieb die Sprache deutsch. D o c h die Wiener J u d e n ließen sich nicht assimilieren, so daß man in diesem Z u s a m m e n h a n g Wien wohl nicht als Schmelztiegel b e t r a c h t e n darf. N a c h der Ausruf u n g Berlins z u r H a u p t s t a d t des deutschen Kaiserreichs sank Wien zu einer „überflüssigen" Stadt herab, weil man keine zweite H a u p t s t a d t brauchte. Diese Entwicklung verstärkte sich nicht erst im „ D r i t t e n R e i c h " , sondern bereits nach dem Ersten Weltkrieg, d e n n der Ausgang des E r s t e n Weltkrieges r a u b t e W i e n auch die T r a n s i t f u n k t i o n zwischen d e m W e s t e n und d e m Balkan. In Wien erkannte man L o n d o n und N e w Y o r k als überlegen an, auf Moskau, Prag und Budapest sah man herab, Paris erschien dem Wiener nachahmenswert. In Berlin aber sah er lange J a h r z e h n t e den K o n k u r r e n t e n , der politisch u n d wirtschaftlich an Wien vorbeizog. Budapest 1 1 war als selbstbewußte nationale H a u p t s t a d t in einer A r t Haßliebe m i t W i e n v e r b u n d e n . Erst im R a h m e n der Nationalbewegung ist Budapest aus drei kleineren Städten zusammengeschlossen worden und war zunächst nicht sehr bevölkerungsstark. Die Bevölkerung vermehrte sich von 1870 bis 1900 von 280 000 auf 720 000 Einwohner (davon 170000, also fast 25 P r o z e n t , J u d e n , m e h r als 60 P r o z e n t Römisch-Katholische). Die U n g a r n selbst stellten n u r 37 Prozent der städtischen Bevölkerung. D e r überwiegende Teil der Einwohner war deutsch, slowakisch oder rumänisch. D e r „Ausgleich" von 1867 brachte entscheidende Veränderungen der H a u p t s t a d t f u n k t i o n e n Wiens und Budapests: V o n den 16100 Gebäuden, die es 1898 in Budapest gab, waren m e h r als 12000 erst seit 1870 gebaut worden, d a r u n t e r praktisch alle Regierungs- und Verwaltungsgebäude. D e r G e w e r b e s t r u k t u r des Landes entsprechend war und blieb Budapest im Gegensatz zu allen anderen europäischen Kapitalen eine ganz f ü r die Landwirtschaft u n d deren N e b e n - u n d Verarbeitungsgewerbe tätige, also agrarisch b e s t i m m t e H a u p t s t a d t . Bei d e r 1867 sofort einsetzenden starke Magyarisierung des Landes u n d seiner H a u p t s t a d t handelte es sich u m eine politische Protestbewegung. V o n den anderen europäischen H a u p t s t ä d t e n war zunächst Paris politisch wichtig f ü r Budapest. Dies galt sowohl hinsichtlich der Zen-

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Elisabeth Toth-Epstein, Historische Enzyklopädie von Budapest, Budapest 1974.

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tralisierungsbestrebungen der französischen Politik überhaupt, als auch im Hinblick auf die Suprematie der Hauptstadt. Kulturell, wissenschaftlich und ökonomisch knüpfte Budapest andere Beziehungen. So hat die Stadt Freundschaft nicht mit Wien, sondern mit Rom gesucht und richtete sich insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, als durch den Trianon-Vertrag wichtige Landesteile von Ungarn abgetrennt worden waren, auch nach Berlin aus. Prag 12 war kulturell zunächst nach Wien ausgerichtet; insbesondere die deutsche Kultur der Stadt war schon aus politischen und historischen Gründen auf Osterreich fixiert. Dies änderte sich nach dem Ausgang des Ersten Weltkrieges, als bedeutende Persönlichkeiten des deutschen Kulturlebens in Prag nun eher Berlin frequentierten, weil Wien in eine Randlage geraten war. St. Petersburg, 13 eine der geplanten Städte des Absolutismus und keine natürlich gewachsene Stadt wie alle anderen hier erwähnten Hauptstädte, durchlebte im 18. Jahrhundert eine dynastisch erzwungene Entwicklung, was zu unnatürlich schnellem Wachstum an Bevölkerung sowie wirtschaftlicher und kultureller Bedeutung führte. Während Wien bis 1837, Berlin, Paris und Rom seit 1871 eine unbestrittene Entwicklung aus dem eigenen Volke erlebten, spielten in St. Petersburg angeworbene Ausländer eine wichtige Rolle, gab es dort ein starkes geistiges Element, das die Rückkehr des Hofes nach Moskau propagierte und in der Zeit der Zarin Anna sogar zweimal versuchte, die Stadt niederzubrennen, was im Gegenzug zu deren Verschönerung und zusätzlicher Begünstigung führte. St. Petersburg war also bis ins 19. Jahrhundert eine umstrittene Hauptstadt, was ihr bauliches, wirtschaftliches und kulturelles Leben deutlich beeinflußte. St. Petersburg war der führende Bank- und Finanzplatz und der wichtigste Importhafen Rußlands, während im Export Odessa, Riga und andere Häfen höher rangierten, die produzierenden Gewerbe sowie der Binnenhandel in Moskau überwogen. Wirtschaftlich gab es also eine geographisch begründete deutliche Aufgabenteilung. Der Gründung und frühen Entwicklung entsprechend wurde St. Petersburg kulturpolitisch bevorzugt durch Akademie, Bibliothek, Universität, Schu-

12

Frantiseli Palacky, Strulné djiny Prahy [ A b r i ß der Prager Geschichte], Praha 1983.

13

Klaus Zernack, St. Petersburg,

schichte Rußlands. S. 3 3 6 — 3 3 8 .

in: Hans-Joachim T o r k e (Hrsg.), Lexikon

Von den Anfängen

bis zur Oktober-Revolution,

der Ge-

München 1 9 8 5 ,

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Metropole

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len, Oper, kaiserliche Theater. Moskau dagegen, bis 1703/1712 erste Hauptstadt, zweite kaiserliche Residenz, an Bevölkerung seit 1870 immer etwa ebenso groß wie St. Petersburg, war seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die bedeutendste Industriestadt Rußlands, wobei die Textilgewerbe überwogen und das wirtschaftliche Gesicht der Stadt prägten. Da Moskau der Hauptstapelplatz des russischen Binnenhandels war, verfügte es über ein leistungsfähigeres Eisenbahnnetz als St. Petersburg. Dagegen war das Bankwesen dadurch charakterisiert, daß in Moskau nur Filialen der großen, in St. Petersburg ansässigen Banken arbeiteten. Als Vertreterin des Altrussentums und Zentrum des Panslavismus stand Moskau immer in einem kulturellen, aber auch politisch-kirchlichen Gegensatz zu St. Petersburg, das internationaler orientiert war und immer blieb. Das wirkte sich auch auf die innere Entwicklung der beiden Städte sowie auf ihr Verhältnis zum Ausland aus. Paris 14 existierte bis weit in das 19. Jahrhundert hinein in sehr engen Stadtgrenzen; auch war die Stadt durch einen Festungsgürtel vom Umland getrennt. Die entsprechenden Rayonbestimmungen sowie die landwirtschaftliche Nutzung des Umlandes verhinderten lange Zeit ein kontinuierliches Wachstum der Stadt. Bei der Eingemeindung eines „Schmutzrandes" nach 1860, eines vorstädtischen Gebildes, entstanden ungeheure infrastrukturelle Defizite. Anders als in Berlin gab es lange Zeit keinen Generalplan für die Zone Paris. Auch die Innenstadt ist nicht funktional sinnvoll ausgebaut worden. Dem Stadtplaner und Präfekten Georges Eugene Haussmann war mehr an der schönen Perspektive gelegen, als an Funktionalität. Als Beispiel können die sternförmig zusammenlaufenden Straßensysteme gelten, die sich in der Praxis, insbesondere beim Häuserbau, als wenig funktional erwiesen haben. Anders als in London, in Budapest, aber auch in Berlin gab und gibt es in Paris keine Integration von Ausländern. Die Autochthonen lehnen es ab, sich mit ihnen zu vermischen. In diesem Zusammenhang spielte es auch keine Rolle, daß Paris Hauptstadt eines großen Kolonialreiches wurde. Anders als London, das sich insbesondere auf den Nahen und Fernen Osten sowie Afrika ausrichtete, avancierte Paris zum Referenzpunkt für Lateinamerika.

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Johannes Willms, Paris. Hauptstadt

Europas

1789—1914, München 1988.

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Auch in seiner Infrastruktur hat sich Paris als Metropole eher atypisch entwickelt. Das Bürgertum, das sich trotz Französischer Revolution am Geschmack der Aristokratie ausrichtete, lehnte zunächst die Einführung von elektrischem Licht ab, und auch das Telefon fand anfangs keinen Anklang. Es galt weiterhin als schick, persönlich miteinander zu sprechen, indem man jemanden in seiner Wohnung aufsuchte und seine Visitenkarte abgab, oder man benutzte das gut funktionierende Rohrpostsystem, mit dem ein entsprechendes Handschreiben mühelos übermittelt werden konnte. Eine Abwasserleitung ist zunächst nur für die inneren zwölf Arrondissements gelegt worden, im übrigen blieb die Stadt eine einzige Kloake. Auch eine U-Bahn fuhr erst zur Weltausstellung von 1900. Trotz dieses Modernisierungsdefizits war Paris seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als ein Anziehungspunkt für die Bewohner Europas und Besucher aus Ubersee konkurrenzlos. Paris war international gefragt wie keine andere Metropole, die Menschen fuhren dorthin, weil sie die Hauptstadt des angenehmen Lebens und der Sinnenlust kennenlernen wollten. Zu den fünf Weltausstellungen zwischen 1855 und 1900 kamen Scharen von Besuchern, zur letztgenannten allein fünfzig Millionen. Doch auch unabhängig von den Weltausstellungen galt Paris schon sehr früh als ein Zentrum des Tourismus. Bereits seit 1815 ergossen sich Besucherströme in die Stadt, die nach bestimmten Ereignissen eskalierten. So kam es nach der Niederschlagung des Aufstandes der Commune zum sogenannten „Ruinentourismus" der Engländer, und deutsche Besucher wollten nach 1871 den „Erbfeind" in seiner Hauptstadt „im Staube" liegen sehen. Paris brachte aus dem Mittelalter und den jüngeren Jahrhunderten einen Reichtum an Kultur, Organisation, Lebensweise, Gesellschaftsstruktur usw. mit in die Zeit nach 1871, dem Berlin wenig entgegenstellen konnte — außer der Tatsache, daß es, abgesehen vom März 1848, keine Revolutionen und Radikalitäten erlebt hatte. Berlin war und blieb auch nach 1871 weniger Zentrale des Reiches, als Paris es immer gewesen war und nach 1871 noch stärker wurde. Paris war, auch allen Hinweisen auf den preußisch-deutschen Militarismus zum T r o t z , nach 1907 noch „die großartigste Armeefestung der Welt" 15 mit 125 Kilometern Forts und Befestigungsanlagen, die im wesentlichen seit 1874 unter Berücksichtigung der Erfahrungen von

15

Meyers Großes Konversations-Lexikon.

Ein Nachschlagewerk f ü r allgemeines Wis-

sen, 6., gänzlich neubearb. u. verm. Aufl., Bd. 15, Leipzig-Wien 1908, S. 439.

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1870/71 und der modernsten Vorstellungen in bezug auf Artilleriebeschießung angelegt wurden, als andere Hauptstädte bereits ihre Befestigungen geschleift hatten. Die Bevölkerung von Paris wuchs von 1861 bis 1881 von 1,7 auf 2,2 und bis 1891 auf 2,4 Millionen Einwohner. Paris wurde damit zur dichtest besiedelten Großstadt Europas, von deren Einwohnerschaft 1890 nur noch weniger als 38 Prozent im Departement Seine geboren waren. Allen Revolutionen und Erschütterungen zum T r o t z blieb nach 1871 in Paris das nationale Geschichtsbewußtsein sehr stark, während in Berlin dieses Geschichtsbewußtsein viel mehr dynastiegebunden war und blieb — auch nach 1871. In Rom 1 6 blieb die Antike das beherrschende Element für die administrative, politische und kulturelle Entwicklung nach 1870, und durch den Tourismus, das heißt durch Ruinen, Museen, Sammlungen, Kunstschulen, auch für die Wirtschaft — deren „moderne" Zweige wenig Bedeutung hatten und unter anderem deswegen nickständig blieben, weil sich nach 1871 bald eine starke Bewegung gegen die „neue Zerstörung R o m s " durch Residenzen, Ministerien, Behörden, Eisenbahnen und Gasanstalten in Verbindung mit der Zerstörung von Palästen, Gärten, Plätzen und mit schnell wachsender Verschuldung der Stadt bildete. Die Frage, ob eine solche Macht der Geschichte die Gesellschaft stabilisiert, den Adel und das Bürgertum von Besitz und Bildung stärkt und das Proletariat durch nationales Selbst- und Uberlegenheitsbewußtsein gegenüber „jüngeren" Nationen beziehungsweise Hauptstädten diszipliniert, sei dahingestellt. Die Hauptstadt (seit 1871) des verhältnismäßig kleinen, wirtschaftlich unterentwickelten Königreichs Italien repräsentiert zugleich das Zentrum eines Weltreiches der Antike, dessen Ruinen den Städtebau bis hin zum Fehlen moderner Brunnen, Denkmäler und anderer schmückender Kunstwerke auch in der Zeit nach 1871 bestimmten. Im Gegensatz zu Paris, aber auch zu Wien und Berlin war R o m praktisch eine militärlose Hauptstadt. Seine Position als Hauptstadt auch der Christenheit bestimmte das Stadtbild nach 1871, einschließlich des Kirchenbaues, kaum weniger als die Geschichte davor seit Romulus und Remus. Nicht ohne Einfluß auf die Entwicklung der Stadt war die Tatsache, daß R o m seit 1871 Sitz zweier Monarchen war. Aber die älteste, die geistliche

16 Reinhard Elze/Heinrich Schmidinger/Hendrik Schulte Nordholt (Hrsg.), Rom in der Neuzeit. Politische, kirchliche und kulturelle Aspekte, Wien-Rom 1976.

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Monarchie hatte keine weltliche Macht und die jüngere war zumindest keine, die mit den Habsburgern und den Hohenzollern verglichen werden konnte. Rom entwickelte sich zu keiner Hauptstadt von weltpolitischer Bedeutung in Politik oder Wirtschaft, dagegen mehr noch als Paris zur kulturgeschichtlichen Hauptstadt Europas (vor Athen). Berlin als Ort europäischer

Begegnung

Berlins Brückenfunktion nach Osteuropa hat seit dem 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt und sich überwiegend auf Rußland und später die Sowjetunion konzentriert. Die Richtungen der Kommunikation liefen dabei nach dem Nordosten (St. Petersburg) und dem Osten (Moskau; auch Warschau), nicht aber nach Südosteuropa, für das Wien die Brückenfunktion wahrnahm. Stationen dieser Funktion Berlins waren die frühen Verbindungen zwischen Friedrich Wilhelm I. und Peter dem Großen sowie ein Jahrhundert später etwa die Ausstrahlung der Friedrich-Wilhelms-Universität auf die russische Intelligenz. Als Reichshauptstadt hat sich dann Berlin stärker auf dem politischen Umfeld engagiert. Dazu trat aber nun die ökonomische Ausstrahlungskraft nach dem Osten, für die der Name Siemens steht. Für die geistige Führungsschicht Rußlands war Berlin zunächst von geringerer Bedeutung als etwa Freiberg in Sachsen und Marburg, wo Michael Lomonossow studiert hatte, oder Weimar, der Stadt Schillers und Goethes. Die Sympathie der russischen geistigen Führungsschicht galt der deutschen Kultur, der Literatur, der Philosophie, aber nicht der Politik des Kaiserreichs. Aus dieser Sicht war Berlin die Stadt der Kasernen, mit der man nicht allzuviel im Sinn hatte. 17 Um so erstaunlicher ist der Wandel, der in diesem Zusammenhang nach der russischen Revolution zu konstatieren ist: Nach dem Ersten Weltkrieg stellte Berlin für zahlreiche russische Emigranten eine Brücke nach Europa dar, stärker noch als Dresden oder Prag.18 Zu Beginn der zwanziger Jahre konnte man mit Recht von einem „Russischen Berlin" sprechen. Von den Asylanten, die nach der Revolution

17

Vgl. den Beitrag von Klaus Meyer, Berlin und Osteuropa, in diesem Band S. 295—

265. 18 Lew Kopelew, Das russische Berlin, in: Gerhard Brunn/Jürgen Reulecke, Berlin... Blicke auf die deutsche Metropole, Essen 1989, S. 179—185 sowie die dort (S. 185) angegebene Literatur.

Nationale

Hauptstadt

und europäische

Metropole

37

ihre russische Heimat verließen, kamen 600000 nach Deutschland, wovon 1923 dann allein in Berlin 360 000 lebten. U m diese Zeit entstand das russische Berlin, in dem es 86 russische Verlage gab, die 1929 mit 39 russischen Zeitungen in die alte Heimat hineinwirkten. Von den bedeutenden Russen, die vorübergehend in der Stadt lebten, sei hier Maxim Gorki genannt, der zwei Jahre in Berlin und dessen Umgebung (Bad Saarow) verbrachte, wo er übrigens ein Buch über die russischen Bauern schrieb, das erst jetzt in der Sowjetunion veröffentlicht werden soll. Auch die Familie Pasternak kam nach Berlin, doch blieb ihr Sohn Boris nur ein halbes Jahr und kehrte dann nach Rußland zurück. Alexej Tolstoi und Ilja Ehrenburg lebten zeitweise in der Stadt, und Vladimir Nabokov entwickelte sich in Berlin zum Schriftsteller. Die Exilrussen lebten vor allem in Charlottenburg, das 1923/24 geradezu „russifiziert" gewesen sein muß. In der Exilliteratur jener Zeit wird der Stadtbezirk als „Charlottengrad" bezeichnet, und man wunderte sich, wenn man auf den Straßen hin und wieder auch einmal deutsche Laute hörte. In einem Schaufenster am Kurfürstendamm stand ein Hinweisschild: „Man spricht auch deutsch!" Dieses russische Berlin verkehrte mit Thomas Mann und Gerhart Hauptmann, mit Bert Brecht und Walter Benjamin, mit Erwin Piscator und anderen, es entdeckte einige Talente, die in der Heimat nicht erkannt worden waren: Sergej Eisenstein, der in Rußland zum 20. Jahrestag der Revolution von 1905 einen Film gedreht hatte, der dort wenig Anklang fand, wurde zur Weltberühmtheit, nachdem die russischen Initiatoren das Filmbruchstück nach Berlin verkauft hatten, wo es unter dem Namen „Panzerkreuzer Potemkin" seinen Siegeszug um die Welt antrat. Doch die russischen Emigranten blieben nicht in Berlin, viele Exilanten zogen weiter, insbesondere nach Paris. Es sollte in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, 19 daß schon unmittelbar nach der Beendigung der Inflation vom Gründer und ersten Präsidenten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Friedrich Schmidt-Ott, Pläne für eine deutsch-sowjetische Zusammenarbeit im Bereich der Wissenschaft entwickelt und zu einem Teil auch verwirklicht worden sind. Schmidt-Ott, der zugleich auch Präsident der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas war, benutzte seine Teilnahme an der 200-Jahr-Feier der Russischen Akademie der

19 Die folgenden Ausführungen zu den deutsch-sowjetischen Wissenschaftsbeziehungen beruhen auf einem Diskussionsbeitrag von Wolfgang Treue.

38

Wolfgang

Ribbe

Wissenschaften im September 1925 in Moskau zu Gesprächen mit maßgeblichen sowjetischen Persönlichkeiten und fand das schon früher mehrfach bekundete Interesse der Russen an wissenschaftlicher Information und Zusammenarbeit bei konkreten Forschungsprojekten bestätigt. Er konnte in seinem Bericht, der 1926 veröffentlicht wurde, bereits auf mehrere, durch die Unterstützung der Notgemeinschaft ermöglichte Forschungsreisen zum Zwecke der Zusammenarbeit mit russischen Gelehrten hinweisen. Die Zielsetzungen lagen im Bereich der länderkundlichen und weiteren naturwissenschaftlichen sowie der archäologischen Forschung wie auch in der Ergründung allgemeiner medizinischer Probleme. Die Zusammenarbeit ging zu Ende, als um 1930 in Rußland die bis dahin verhältnismäßig liberale Haltung der Forschung gegenüber durch härtere ideologische Auflagen und einen Machtzuwachs der Bürokratie abgelöst wurde und in Deutschland etwa gleichzeitig die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage auch die Finanzen der Notgemeinschaft schnell reduzierte. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurden diese Verbindungen abrupt abgebrochen und aufgehoben. Die Greuel des von Hitler entfesselten Krieges sowie die Eroberung und Besetzung Berlins durch die Rote Armee mit ihren politischen und wirtschaftlichen Folgen erweckten zunächst wenig Hoffnung auf eine erneute Annäherung. Im Rahmen einer gesamteuropäischen Einigung dürften sich die inzwischen nicht nur im Osten, sondern auch im Westen geknüpften Kontakte als hilfreich erweisen, die Zusammenarbeit wieder enger zu gestalten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Berlin einen Zustrom von Polen, 20 die aus den unterschiedlichsten Gründen in die preußische und deutsche Hauptstadt strebten. Soweit sie der Mitteloder Unterschicht angehörten, suchten sie hier vor allem Arbeit. In der Regel lebten sie dann außerhalb des Stadtkerns oder an seiner Peripherie. Sie waren eher als Angehörige der polnischen Oberschicht zur Assimilation bereit. Polnische Aristokraten lernten auf ihren Bildungsreisen auch Berlin kennen, aber im Grunde strebten sie eher nach Italien. Sie empfanden 20

Vgl. Witold Molik, Berlin in der Sicht polnischer Besucher in der Zeit des Kaiserreiches, in: G. Brunn/J. Reulecke, Berlin... (wie Anm. 18), S. 187—200, sowie Gottfried Hartmann, Polen in Berlin, in: Stefi Jersch-Wenzel/Barbara John (Hrsg.), Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990, S. 593—803.

Nationale Hauptstadt und europäische Metropole

39

die aufstrebende deutsche Hauptstadt als reich und geschmacklos und lehnten Berlin als Hauptstadt des preußischen Militarismus ab. Vorteilhaft erschien ihnen die Sauberkeit in den Straßen, deren Pflasterung, die Bepflanzung der Plätze und Straßen, der gute Zustand der Wohnhäuser. In ihren Augen war die Stadt ein Spiegelbild ihrer Bewohner, so wie sie von den Polen gesehen wurden: gesund, stark und stattlich, aber nicht hübsch. Der T y p des Berliners erschien ihnen unhöflich und grob; er konnte, weil er vor allem pünktlich und zuverlässig sein wollte, das Leben nicht genießen. Solche Berlin-Bilder sind in mehr als hundert polnischen Zeitungen veröffentlicht worden, die mehr oder weniger regelmäßig auch Berichte über die preußisch-deutsche Hauptstadt publizierten, in der mit dem Preußischen Landtag und dem Deutschen Reichstag die Parlamente tagten, in denen auch polnische Vertreter als Abgeordnete wirkten, die übrigens in der Zeit zwischen 1866 und 1890 insgesamt 80 (Landtag) beziehungsweise 240 (Reichstag) Reden gehalten haben. So überwogen die politischen, nicht die kulturellen Berichte, denn die deutsche Repressionspolitik gegenüber drei Millionen Polen, die als Minderheit im deutschen Reich lebten, wurde in Berlin gemacht. Die Germanisierungspolitik war es auch, die positive polnische Berichte aus Berlin weitgehend verhinderte, da die polnische Öffentlichkeit in solchem Fall sehr negativ reagierte. Immerhin lebten 1910 rund 81 000 Polen in Berlin. Darüber hinaus zählten viele Polen zu ständigen Besuchern der Stadt, so zum Beispiel polnische Gutsbesitzer, die über ein gut ausgebautes Eisenbahnsystem die deutsche Hauptstadt schnell erreichen konnten. Viele Polen studierten auch in Berlin, manche wirkten hier als Künstler. Sie behielten in der Regel ein distanziertes Verhältnis zur Stadt, da sie ihre Zimmer an der Peripherie der Stadt mieten mußten und so mit allen negativen Auswüchsen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens in einer Industriemetropole vertraut waren. Inwieweit hat sich das Berlin-Bild der Polen nach dem Ersten Weltkrieg verändert? 21 Berlin war neben Dresden eines der Zentren polnischer Emigration in Deutschland. Bis 1914 waren im Großraum Berlin etwa 1 0 0 0 0 0 Polen zugewandert. Nach polnischen Schätzungen war die Zahl der Polen in den zwanziger Jahren eher noch höher, wenn-

21

Vgl. den Beitrag von Ryszard Kolodziejczyk, Warschau und Berlin im 19.

hundert.

Einige Anmerkungen

zu den Beziehungen

zwischen den beiden Hauptstädten,

und wirtschaftlichen

in diesem Band S. 2 6 7 — 2 7 3 .

Jahr-

Verpflichtungen

40

Wolfgang

Ribbe

gleich die Volkszählung vom Jahre 1925 für die Stadt Berlin nur 13 500 Polen mit deutschen und 6000 mit polnischer Staatsangehörigkeit ausweist. Während die polnischen Schätzungen Herkunft und Volkszugehörigkeit als Kriterium verwenden, wurden Polen in der amtlichen Statistik zum Beispiel als „Doppelsprachige" geführt. Berlin war für Polen ein Anziehungspunkt in wissenschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht. Besonders seit Gründung des Deutschen Reiches strömten auch zahlreiche Handwerker und Arbeiter in die pulsierende, rasch wachsende Großstadt. Im Gegensatz zum Ruhrgebiet bildeten sich in Berlin aber keine spezifisch „polnischen" Wohngebiete heraus. Die Polen wohnten vorwiegend in den Arbeitervierteln rings um den Stadtkern. Nach Ende des Ersten Weltkriegs deutete sich mit dem neu entstandenen polnischen Staat eine neue Konstellation an: Es strebten zunächst mehr Polen zurück in die Heimat, als dort kurzfristig aufgenommen werden konnten. Der Vergleich zwischen dem kriegszerstörten Polen einerseits und dem gewohnten Lebensstandard, einem relativ gesicherten Arbeitsplatz und einer relativ besseren Wohnsituation andererseits erleichterte vielen Polen die Entscheidung, in Berlin zu bleiben. Hierzu trug auch bei, daß das politische Klima in Berlin nicht — wie andernorts — die Polen zum Verlassen genötigt hätte. Rückkehrer waren vor allem Vertreter der Intelligenz, reichere Kaufleute, qualifizierte Arbeiter und Handwerker, die sich als Fachkräfte und Aktivisten dem Aufbau des Heimatlandes zur Verfügung stellten. Polnische Schätzungen gehen von etwa 12000 Polen aus, die die Stadt bis Anfang der zwanziger Jahre verließen. Jene, die blieben, waren großenteils zur Assimilation bereit, wobei die katholische Kirche eine Mittlerrolle übernahm. Viele Polen bemühten sich, ins deutsche Milieu aufgenommen zu werden, vergaßen ihre Abstammung und paßten sich in Sitten und Gebräuchen der deutschen Umgebung an. In der NS-Zeit gestaltete sich das Leben der Polen in Berlin zunehmend schwieriger, sie waren Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt. Während des Krieges wurden verstärkt polnische Zwangsarbeiter in die Stadt gebracht; der polnische Widerstand formierte sich auch in Berlin. Hinter die Kontakte zwischen Berlin und dem Osten, also Rußland und Polen, traten die zu Prag und der Tschechoslowakei zurück. Auch hier nahm (wie in Südosteuropa) eher Wien die europäische Brückenfunktion wahr. Trotzdem lebten in Berlin und in der unmittelbaren Umgebung der Stadt viele Böhmen beziehungsweise deren Nachkommen, die als Glaubensflüchtlinge ihre Heimat verlassen mußten und

Nationale Hauptstadt und europäische Metropole

41

vom preußischen Staat im 18. Jahrhundert aufgenommen worden sind.22 Auch später, während der Industrialisierungsphase im 19. Jahrhundert, sind noch tschechische Handwerker, Gewerbetreibende und Arbeiter, wenn nicht für immer, so doch für viele Jahrzehnte nach Berlin gekommen, um in der preußisch-deutschen Hauptstadt zu leben und zu arbeiten, und die tschechische Kolonie in Berlin verfügte über ein gut organisiertes Kulturzentrum mit weitreichenden Verbindungen. Doch politisch blieb Berlin für die Tschechen die Stadt mit den zwei Gesichtern. Sie schätzten die Modernität der Spree-Metropole, auch ihre kulturelle Ausstrahlung und vor allem ihre wissenschaftliche Leistungsfähigkeit. Sie fürchteten die politische Gefahr, die von Berlin ausging als der Zentrale preußisch-deutscher Weltmachtpolitik. Auch die skandinavischen Staaten haben während ihrer sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ausbauphase in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts enge Kontakte vor allem zu den europäischen Staaten gehalten, mit denen sie sich als Küstenanrainer von Ost- und Nordsee verbunden fühlten. So fand die Berliner Städtebauausstellung von 1910 in Skandinavien großes Interesse. Helsinki, 23 dessen wohl bedeutendster Baumeister, Carl Ludwig Engel, aus Berlin stammte, hat auf dieser Ausstellung seine eigene Stadtplanung dargestellt. Bereits vor der finnischen Unabhängigkeit bestanden zahlreiche Kontakte über die Schulen, Universitäten, Museen und Theater. Ende des 19. Jahrhunderts waren mehr als hundert Finnen in Berlin immatrikuliert, die überwiegend zu Ärzten, Zahnärzten und Tierärzten ausgebildet wurden. Eine Anzahl von ihnen studierte Ingenieurwissenschaft an der Technischen Hochschule in Charlottenburg, aber auch die humanistischen Fächer waren vertreten. Mehr als 600 Reiseberichte aus der Zeit zwischen 1850 und 1918 zeugen vom Auslandsstudium skandinavischer Studenten, von denen die meisten auch nach Berlin kamen, um hier besonders zu Spezialisten, vor allem im Bereich der Medizin, ausgebildet zu werden. So galten die

22 Eva-Maria Graffigna, Böhmen in Berlin, in: St. Jersch-Wenzel/B. John (Hrsg.), Von Zuwanderern ... (wie Anm. 20), S. 491—591; vgl. auch den Beitrag von Jiri Kolralka, Zwei Gesichter Berlins im neuzeitlichen tschechischen Nationalbewußtsein, in diesem Band S. 275—295. 23 Vgl. dazu auch Marjatta Hietala, Berlin und andere deutsche Städte als Vorbild für die Stadtverwaltungen von Helsinki und Stockholm um die Jahrhundertwende, in: G. Brunn/J. Reulecke, Berlin... (wie Anm. 18), S. 201—224.

42

Wolfgang Ribbe

Chirurgie, die Gynäkologie sowie die Krankenhausverwaltung in Berlin als vorbildhaft. Aber auch die politische Komponente fehlte nicht. Einige der Skandinavier, die sich mit der sozialen Frage der Zeit, also mit der Arbeiterfrage beschäftigten, haben in Berlin, wohl vor allem bei Schmoller, studiert. Im kommunalpolitischen Bereich wurde es als wegweisend angesehen, daß die deutsche Beamtenschaft sich für „ihre" Stadt verantwortlich fühlte, damit sie bei der Konkurrenz der Städte auch bestehen konnte. Städtische Delegationen schickte man nach Berlin, um bestimmte kommunale Einrichtungen kennenzulernen. Auch hier war das Spektrum breit, es reichte vom Ankauf von Maschinen über Einrichtungen der Feuerwehr bis hin zur Kommunalisierung von Versorgungseinrichtungen. Epidemiekrankenhäuser wurden nach Berliner Vorbild eingerichtet, die Hygiene als wichtigster Teil der Gesundheitspflege erkannt (was zum Bau neuer Schlachthäuser und zur Einführung von Milch- und Fleischprüfungsmethoden führte). Fleiß und Sauberkeit wurden als Prinzipien der Schulerziehung übernommen, Schulgärten nach deutschem Vorbild eingerichtet und Licht, Luft und Raum beim Bau öffentlicher Einrichtungen gefordert. Die Verbreitung solcher Innovationen war von größter Bedeutung für die Entwicklung und das Wachstum der Städte. Vertraut wurde man mit dem „Know how" vor allem auf Reisen, die der Kontaktaufnahme mit den entsprechenden Berliner Behörden dienten, aber auch auf Ausstellungen und Kongressen, auf Städtetagen sowie nicht zuletzt durch Bücher, deren Rolle als Innovationsmultiplikator nicht unterschätzt werden darf.

Politisches Zentrum

in der deutschen

Republik

Das demokratische Berlin als politisches und gesellschaftliches Zentrum des republikanischen Deutschland im Weimarer Nationalstaat ging in einem Wandlungsprozeß aus der obrigkeitsstaatlichen Tradition des deutschen Kaiserreiches hervor, und es ging nach den Erfahrungen einer ersten demokratischen Selbstverwaltung in dieser ersten deutschen Republik von Weimar rund eineinhalb Jahrzehnte später in

24 O t t o Büsch, Berlin zwischen Obrigkeitsstaat und Diktatur: Demokratische tion und Hauptstadtfunktion in der Weimarer Republik, unten S. 297—303.

Tradi-

Nationale

Hauptstadt

und europäische

Metropole

43

der Hitlerdiktatur unter. 24 In diesen Jahren von 1919 bis 1933 hatte sich erst das alte Berlin, seit 1920 dann das um zahlreiche Nachbarstädte, Vororte und Gutsbezirke erweiterte neue Groß-Berlin mit seinen seit 1925 über vier Millionen Einwohnern auf mehreren Ebenen zu bewähren. Zu den Leistungen, die es dabei vollbrachte, gehörte ein „Lastenausgleich" zwischen den ärmeren und den wohlhabenden Bevölkerungsschichten durch eine entsprechende Steuer-, Sozial-, Verkehrsund Versorgungspolitik, durch die die Bevölkerung unter anderem eine billige Versorgung mit den Bedarfsgütern des täglichen Lebens — Wasser, Energie, Transport und anderen Leistungen zur Aufrechterhaltung einer adäquaten Infrastruktur — erhielt, und gehörten sozialpolitische Maßnahmen für Hunderttausende von Unterstützungsempfängern. Diese Entwicklung muß vor dem Hintergrund der allgemeinen politischen Entwicklung gesehen werden. Berlin ist mit einer Schuldenlast von 1,2 Milliarden Reichsmark in die Weltwirtschaftskrise gegangen und mußte bei sinkendem Steueraufkommen und wachsenden Soziallasten diese Schulden weiter erhöhen. 25 Das waren jedoch Auswirkungen, nicht Ursachen der Krise. Diese manifestierte sich besonders in einem katastrophalen Nachfragerückgang bei Handel und Industrie, der zu Entlassungen zwang, die weit über dem Reichsdurchschnitt lagen und Berlin mehr als 600 000 und damit ein Zehntel aller im Deutschen Reich 1932 erfaßten Arbeitslosen bescherte. Betroffen waren sowohl die Investitionsgüterindustrie, so die Elektrotechnik, wie die „Luxus"-Konsumgüter, besonders die Möbelindustrie oder die Herstellung von Musikinstrumenten, Branchen, in denen bis zu 80 Prozent aller Beschäftigten entlassen wurden. Auch die städtischen Betriebe entließen Arbeitskräfte (zwischen 4 und 29 Prozent), blieben aber bis auf die B V G rentabel, ja trugen mehr zu den Einnahmen der Stadt bei als zuvor. Berlin hatte also teil an einer weltweiten Finanz- und Absatzkrise, und das demonstriert, daß das Berlin der Weimarer Republik nicht in erster Linie eine Verwaltungsstadt gewesen ist, die eine solche Krise allgemein viel besser meistern konnte, sondern ein großes Industrie-, Handels-, Verkehrsund Finanzzentrum, das den veränderten Bedingungen des Weltmarktes voll ausgesetzt war. Zu den spezifischen Existenzformen des demokratischen Berlin der Weimarer Zeit zählte aber auch die Demokratisierung des politischen

25

Wolfram Fischer, Berlin in der Weltwirtschaftskrise, unten S. 305—311.

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Wolfgang Ribbe

Lebens und der Selbstverwaltung. Im Berliner Wählerverhalten spiegelt sich der Kampf um die politische Macht in Deutschland wider, es zeigt aber zugleich eine eigene Note. Die Parteien der Mitte bildeten im Stadtparlament eine „Etatsmehrheit", auf die sich der Magistrat, jedenfalls bis 1929, stützen konnte. Die NSDAP konnte hier erst spät und schwächer als im Reich Fuß fassen. Als besonders stark erwies sich während dieser Zeit die KPD. N S D A P und KPD, zum Teil auch die D N V P , bildeten die Exponenten einer Republikfeindschaft von rechts und links, die in Berlin den sinnfälligsten Ausdruck für ihren Haß gegen die demokratische Republik von Weimar fand. Durch Korruptionsskandale, Arbeitslosigkeit und Finanzkrisen lieferten die demokratischen Parteien ihren Gegnern aber auch Angriffspunkte, denen sie schließlich dadurch zu begegnen suchten, daß sie vom Preußischen Landtag aus im Jahre 1931 eine Gesetzesnovelle zur Berliner Verfassung erließen, durch die eine autoritäre Verstärkung der Stellung des Oberbürgermeisters gegenüber dem Parlament erreicht wurde. Auf diesem Gesetz konnten die Nationalsozialisten nach ihrer „Machtergreifung" aufbauen, als sie im Wege der Gleichschaltung die Demokratie in Berlin beseitigten. Auch die letzte, autoritär angelegte Phase der Berliner Selbstverwaltungsdemokratie der Weimarer Zeit blieb von der allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Krise nicht verschont. Bei den letzten freien Wahlen in Berlin 1932/1933 blieben nur noch 30 Prozent der Berliner Wähler der Demokratie treu. 26 Die Jahre 1933 bis 1945 brachten für Berlin den tiefsten Einschnitt in seiner Geschichte: Aus dem Symbol der Republik wurde die nationalsozialistische Reichshauptstadt — von den Nationalsozialisten im Grunde gehaßt, wobei ihre Großstadtfeindlichkeit (aber auch das „rote" Berlin) eine entscheidende Rolle spielten. 27 Berlin wurde „Welthauptstadt", die bald viele Bereiche der Welt beeinflußte — durch die Entscheidungen der Nationalsozialisten, die versuchten, die Welt umzustürzen. Hitler und Speer sahen in Berlin die künftige Welthauptstadt „Germania", für die sie gigantische Repräsentationsbauten planten. Für Berlin wird zuweilen der Anspruch erhoben, daß es nie im eigentlichen Sinne eine Nazistadt, dagegen stets ein Zentrum und eine Hauptstadt des Widerstandes gewesen sei. Die Herausstellung des „anderen", „besseren Berlin" hat dabei politische und pädagogische

26 27

Vgl. Otto Büsch, Berlin... (wie Anm. 24). Peter Steinbach, Berlin unter dem Nationalsozialismus, unten S. 315—328.

Nationale Hauptstadt und europäische Metropole

45

Gründe, doch gerät sie bisweilen in die Gefahr der Mythenbildung, wenn der Eindruck entsteht, als sei in Berlin die große Mehrheit der Bevölkerung für den Nationalsozialismus nicht anfällig gewesen. T a t sächlich hat auch in Berlin ein ähnlich hoher Prozentsatz der Bevölkerung die N S D A P gewählt wie in anderen deutschen Großstädten, zwar weniger als in Hamburg und Frankfurt, aber mehr als in Köln, Essen oder Stuttgart und etwa ebensoviel wie in München, der „Hauptstadt der Bewegung". Die Wahlergebnisse lassen ebensowenig wie die Zeugnisse für die öffentliche Unterstützung des Regimes zumindest in der Frühzeit des Dritten Reiches den Schluß zu, daß Berlin sich durch eine ganz exzeptionelle Widerstandskraft gegen die Versuchungen des Nationalsozialismus ausgezeichnet habe und insgesamt stets ein Bollwerk des Widerstandes gewesen sei. Natürlich war Berlin insoweit per se auch „Hauptstadt des Widerstandes", wie es Hauptstadt des Deutschen Reiches war, und die Opposition im engsten Sinne mit dem Ziel des Staatsstreiches war geradezu darauf angewiesen, ihre Kräfte in Berlin zusammenzuziehen, um hier den Umsturz vorzubereiten. 28 Die führenden Köpfe des Widerstandes sind auf diese Weise nach Berlin gekommen. Sie konnten sich dabei auf ein relativ breites Widerstandspotential stützen, das die Stadt aus sich selbst hervorbrachte. Diese zum aktiven Kampf gegen das Regime bereiten Kreise fanden sich seit 1938 zunehmend auch im bürgerlichen Berlin, vor allem aber in der Arbeiterschaft. T r o t z großer Verluste durch die schon 1933 erlittene brutale Verfolgung blieb die Millionenstadt Berlin stets der herausragende Schwerpunkt und das organisatorische Zentrum des sozialistischen und kommunistischen Widerstandes. Weniger politisch ausgerichtet, dafür aber stärker in die Öffentlichkeit wirkend war die Opposition aus den Kirchen. Nicht nur auf evangelischer Seite bildete Berlin mit Pfarrer Martin Niemöller und dem Theologen Dietrich Bonhoeffer ein Zentrum der Bekennenden Kirche (mit freilich begrenzter Verankerung im Kirchenvolk), sondern auch die katholische Kirche hatte in Berlin etwa mit Bischof Preysing klare Stimmen des Protestes gegen das staatliche Unrecht. Mehr denn je war während der NS-Zeit Berlin ein O r t krasser Gegensätze: in vieler Hinsicht ein Zentrum des Widerstandes, aber auch eine im vermeintlichen Glanz des Dritten Reiches sich sonnende Stadt.

28

Wilhelm Ernst Winterhager, Berlin als Zentrum des deutschen Widerstandes

1945, unten S. 377—397.

1933—

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„Berlin ist fürchterlich", urteilte Helmuth James von Moltke im Blick auf die Nazistimmung der Stadt — nicht nur während der Olympiade 1936. Daneben stehen vor allem für die spätere Zeit andere Stimmen: George Kennan etwa, bei Kriegsbeginn als US-Diplomat in Deutschland, war beeindruckt von der „inneren Distanziertheit" der Berliner gegenüber den NS-Parolen. Man kennt die Berichte, wonach in der Pogromnacht vom 9. November 1938 unter den „normalen" Berlinern eher Beklemmung als Begeisterung herrschte. Mehr als in jeder anderen Stadt sind gerade hier untergetauchte Juden von Einzelnen, Gruppen und kirchlichen Hilfsstellen vor dem Massenmord gerettet worden. Mit zunehmender Dauer vollzog sich während des Krieges in breiten Schichten die innere Abwendung vom herrschenden System, doch kennzeichnend dabei war (parallel zu dem sich verschärfenden Bombenkrieg) eher wachsende „Abgestumpftheit" und Indifferenz als eine politische Aktivierung. Am 20. Juli 1944 sollen die Berliner „apathisch" und äußerlich „unberührt" reagiert haben auf die Nachricht vom Umsturzversuch. So sehr also gerade in Berlin am Ende die Ablehnung gegen das Regime wuchs, so hat es auch hier doch nie Ansätze gegeben für den Durchbruch zu einer echten Volksopposition.

Von der Hauptstadt

im Wartestand

zur europäischen

Metropole

Ob Berlin in der NS-Zeit eine Weltstadt blieb, sei dahingestellt. Während des Krieges war sie es sicher nicht mehr. Seine Hauptstadtfunktionen hat Berlin aber im wesentlichen bis 1945 beibehalten. Völkerrechtlich blieb Berlin die Hauptstadt des Deutschen Reiches über das Kriegsende hinaus. Doch die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen und Berlins in vier Sektoren inmitten einer dieser Besatzungszonen unter zentraler alliierter Verwaltung schuf eine neue Situation. 29 Was mit dem um die früheren Ostprovinzen verkleinerten Deutschland und Berlin tatsächlich geschehen ist, die dreifache Teilung — in die Bundesrepublik, die Deutsche Demokratische Republik und West-Berlin — und die doppelte Integration — einerseits in den Nordatlantikpakt und die Europäische Gemeinschaft, andererseits in den Warschauer Pakt und den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe — das ist, soweit wir die Quellen kennen, von niemandem geplant oder auch nur antizipiert worden. Und was die Alliierten gemäß ihren Bekundungen vor und nach 1945 29 Helmut Wagner, Berlin in den Plänen der Alliierten des Zweiten Weltkrieges, unten S. 417—444.

Nationale

Hauptstadt

und europäische

Metropole

47

geplant und gewollt haben, das „dismemberment of Germany", zunächst die gemeinsame, dann die einseitige Kontrolle, die Neutralisierung oder auch die „Europäisierung", das ist gerade nicht erreicht worden. Aus dem „dismemberment of Germany", auf das sich die Alliierten in Teheran und Jalta grundsätzlich geeinigt hatten, ist so, wie sie es sich vorgestellt hatten, nichts geworden. Die gemeinsame Verwaltung, wie sie in Potsdam dann beschlossen worden war, ging bereits nach drei Jahren in die Brüche. Versuche, den Status quo Berlins durch einseitige Maßnahmen, etwa durch die Blockade von 1948 oder durch ultimative politische Drohungen zu ändern, blieben erfolglos. Alle Versuche, Deutschland zu neutralisieren, scheiterten bisher, aber auch die beabsichtigte „Europäisierung" Deutschlands ist noch nicht erreicht. Statt dessen verwandelten sich, was Berlin betrifft, die für den Zweck der Besatzung geschaffenen Sektorengrenzen in Block- und Staatsgrenzen. Diese bereits am 14. November 1944 von den Alliierten vereinbarten Grenzen verfestigten und vertieften sich und reduzierten sich auf eine Grenze zwischen zwei politischen Regimen. Berlin lebt seithermit einer Ersatzlösung: Weil die Alliierten sich nicht einigen konnten, was mit Berlin und mit Deutschland geschehen solle, sind sie bestrebt gewesen, den militärischen Status quo von 1945, der von keiner Seite als dauerhafter politischer Status quo gedacht war und angesehen wird, mit allen Mitteln zu halten und als beste aller möglichen Lösungen zu betrachten. Eine Änderung dieser Situation wird erst jetzt, im Rahmen der deutschen Einigung, möglich sein. Die Geschichte Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg ist in hohem Maße von der sowjetischen Besatzungsmacht beziehungsweise von der Sowjetunion als Schutzmacht der D D R geprägt worden. 30 Zunächst ließ eine aus den Fugen geratene R o t e Armee jene „Russenfurcht" aufkommen, die für viele Bewohner der Stadt ihr Bild von der osteuropäischen Großmacht wesentlich bestimmt hat. In der Folgezeit sind unter der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland von Berlin (Ost) jene Impulse ausgegangen, die im Rahmen der Moskauer Deutschlandpolitik für Staat und Gesellschaft in einem neuen deut-

Georg Kotowski, Berlin im Spannungsfeld von West und Ost, unten S. 447—460; Dieter Schröder, Berlin (West) im westlichen Bezugssystem: Westmächte, Bundesrepublik Deutschland und westliches Bündnis, unten S. 461—467; Alexander Fischer, Berlin (Ost) im östlichen Bezugssystem: Sowjetische Besatzungsmacht und,, Sozialistische Staatengemeinschaft", unten S. 469—479. 30

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sehen Staat für unerläßlich gehalten wurden. Freilich ist der sowjetischen Besatzungsmacht gerade in der ehemaligen Reichshauptstadt vor Augen geführt worden, daß ihre Zielsetzungen nicht auf die erhoffte Resonanz in der Bevölkerung stießen. Mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1949 wurde der O s t s e k t o r Berlins systematisch zur Hauptstadt der D D R auf- und ausgebaut, lag jedoch bis zum Mauerbau von 1961 deutlich im Schatten der westlichen Halbstadt. Die sowjetische Berlin-Politik konnte — bis zur Neuorientierung durch Gorbatschow — als ein empfindlicher Seismograph der Moskauer Deutschlandpolitik angesehen werden. So wurde Berlin oft als Prüfstein der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion bezeichnet. Das ist durchaus zulässig, wenngleich man auch betonen muß, daß die Deutschland-Frage überhaupt und mit ihr das Berlin-Problem seit dem Zweiten Weltkrieg nur ausnahmsweise im Mittelpunkt der Politik der Großmächte standen. Lediglich in den schweren Krisen von 1948/1949 und von 1958/1961 hatte Berlin in der Ost-West-Auseinandersetzung herausragende Bedeutung. Selbst die schwierigen und vielschichtigen Verhandlungen, die zu dem A b k o m m e n von 1971 führten, an dem deutsche Politiker beratend mitwirkten, waren vom Standpunkt der Großmächte aus keine zentrale politische Aufgabe. Seit diesem Abkommen spielte die Berlin-Frage in der Weltpolitik keine besondere Rolle mehr, bis die Ereignisse des 9. November 1989 eine neue Situation schufen. O b dadurch neue Handlungsräume für eine deutsch-deutsche Politik entstanden sind, ist Gegenstand aktueller Auseinandersetzungen. Insgesamt muß man berücksichtigen, daß Berlin in der Weltpolitik seit 1945 ganz unterschiedliche Funktionen hatte. Zunächst als Sitz des Alliierten Kontrollrates für Deutschland zwar noch Hauptstadt, aber Hauptstadt eines besiegten Feindstaates, der mangels Organisation auf die Politik der Sieger überhaupt keinen Einfluß ausüben konnte, wurde die Stadt sofort von den Folgen der Anfänge des Kalten Krieges erfaßt. Dieser Konflikt ist nicht wegen der Streitigkeiten über die Zukunft Deutschlands ausgebrochen, obwohl er die „Deutsche Frage" hervorrief. Berlin als besonderes Besatzungsgebiet, aber von der Sowjetischen Besatzungszone umschlossen, mußte von der Bildung zweier Teilstaaten in Deutschland besonders hart getroffen werden. Die Versuche der sowjetischen Militäradministration und des von ihr abhängigen deutschen Herrschaftsapparates, die Kontrolle über ganz Berlin zu gewinnen, haben zu einer kurz zuvor noch nicht denkbaren Interessensolida-

Nationale Hauptstadt und europäische

Metropole

49

rität zwischen der deutschen Bevölkerung in den Westsektoren Berlins und den westlichen Militärbehörden geführt. Der Konflikt, in dem die Blockade der Westsektoren der Stadt durch die erfolgreiche Luftbrücke aufgefangen wurde, hat die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und ihre Einbindung in ein westliches System sehr erleichtert. Die ursprünglich erhoffte Lösung der „Deutschen Frage" in absehbarer Zukunft wurde jedoch nicht erreicht. O b sich 1952 oder nach dem T o d e Stalins Möglichkeiten geboten hätten, eine andere Entwicklung einzuleiten, ist wegen des Mangels an zuverlässigen sowjetischen Quellen nicht sicher zu beantworten. Mit der Stabilisierung der Herrschaft Chruschtschows in der Sowjetunion konnte diese in erfolgreicher Ausnutzung des „SputnikSchocks" aus ihrer Defensivposition gelangen und das inzwischen entstandene Vertrauensverhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Westmächten nachhaltig erschüttern. 31 Zwar konnten die westlichen Regierungen das Ultimatum vom November 1958 nicht erfüllen, da dies eine Preisgabe ganz Berlins und damit eine weltweite Erschütterung des Ansehens der Vereinigten Staaten von Amerika bedeutet hätte. Seit 1959 aber bewirkte die Sorge vor dem Dritten Weltkrieg vor allem in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten von Amerika einen Stimmungsumschwung, der bis zur Reaktivierung der Feindbilder aus dem Zweiten Weltkrieg führte. Als die Sowjetunion im August 1961 durch den Mauerbau in Berlin die akute Krise in Deutschland beendete, mußte sie nicht mehr mit dem umfassenden Widerstand der Vereinigten Staaten von Amerika rechnen. Von besonderer Bedeutung wurde dabei, daß die Klimaverschiebung in den Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinigten Staaten dauerhaft blieb und damit die Erhaltung eines festen Vertrauensverhältnisses nahezu ausschloß. Der anti-deutschen Welle in den Vereinigten Staaten folgte fast zwangsläufig eine anti-amerikanische in der Bundesrepublik Deutschland und selbst in den Westsektoren von Berlin. Die von der Regierung Brandt/Scheel seit 1969 betriebene „Ostpolitik" kam den Forderungen der Sowjetunion auf verbindliche Anerkennung ihrer Interessen in Europa und in Deutschland weit entgegen, bemühte sich jedoch, die Position Berlins zu sichern. 32 Das Abkommen von 1971 hat zwar nicht den Status

31 32

William E. Griffith, Die beiden Berlin-Krisen, unten S. 497—502. Manfred Görtemaker, Berlin und die Ostpolitik, unten S. 503—513.

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Berlins verbessert, aber doch seine unmittelbare Gefährdung erheblich gemindert. Deutsch-deutsche Beziehungen, die sich seit dieser Zeit entwickelten, veränderten nicht mehr automatisch völkerrechtliche Positionen. Der Beginn der Entspannungspolitik im Jahre 1969 eröffnete auch für Berlin neue Perspektiven. Seit dem Zweiten Weltkrieg ein Ort von Ost-West-Spannungen, entwickelte sich die Stadt nun zu einem Prüfstein der Entspannung. Die Regelung des Berlin-Problems wurde westlicherseits zur Vorbedingung für die Ratifizierung der Ostverträge und für Fortschritte auf dem Weg zur Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz gemacht. Zugespitzt könnte man sogar sagen: Das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin vom 3. September 1971 war der Preis, den die Sowjetunion für die westliche Anerkennung des territorial-politischen Status quo in Europa und für die politisch-ökonomische Zusammenarbeit mit Westeuropa und den USA in den siebziger Jahren zu zahlen hatte. Auf der Grundlage des Vier-Mächte-Abkommens sowie der innerdeutschen Folgevereinbarungen (zum Beispiel Transitabkommen) gelang es, die äußere politische Sicherheit West-Berlins zu stabilisieren und die Lebensverhältnisse in der Stadt zu verbessern, ohne Rechtspositionen aufzugeben. Von einer „Normalisierung" der Lage in und um Berlin konnte jedoch auch danach nicht die Rede sein. Berlin blieb — und ist auch heute, nach der politische Wende in Osteuropa und der D D R — in den größeren Zusammenhang der Entspannungspolitik eingebettet. Bis zur Gründung der beiden deutschen Teilstaaten gingen Berlin die gesamtdeutschen Verwaltungsfunktionen verloren. Sie sind später nur für den DDR-Bereich in Ost-Berlin restituiert worden. Aber auch der Personen- und Güterverkehr zwischen beiden deutschen Staaten blieb stark eingeschränkt und war zeitweise fast ganz zum Erliegen gekommen. Für West-Berlin kamen die natürlichen Lagevorteile der einstigen deutschen Hauptstadt nicht mehr zu Geltung. Die politischen Folgen des Zweiten Weltkrieges und die weitere politische Entwicklung unter dem Einfluß des Kalten Krieges brachten der westlichen Teilstadt also erhebliche Standortnachteile, die bis heute nicht überwunden werden konnten. Die östliche Teilstadt hatte bei ihrer Landesplanung den „ Fremdkörper" West-Berlin zu berücksichtigen, der vor allem im Nahund Fernverkehrsbereich zu erheblichen Dispositionsänderungen zwang, und die westliche Raum- und Landesplanung hat in jenen Jahren auch keine neuen Modelle entwickelt, die sich der gegebenen politischen Situation angepaßt hätten. Im Gegenteil: Man ging davon

Nationale Hauptstadt und europäische

Metropole

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aus, daß über kurz oder lang der alte Zustand wieder hergestellt werden würde, und behalf sich bis dahin mit Notlösungen. Viele Stellen, insbesondere auch politische, haben Konzepte vorgelegt, aber je weiterdas Kriegsende zurücklag, desto kurzfristiger waren die Konzepte und Nutzungsvorschläge für Berlin oder, wie später häufig zu hören, für West-Berlin. Offenbar ging es nur noch um Uberlebenshilfen. Wagte dann doch jemand eine längerfristige Planung, so wurde sie so vage und irreal, daß an eine Umsetzung nicht gedacht werden konnte. Die Weite der planerischen Vorausschau erschien umgekehrt proportional zu den Realisierbarkeitserwägungen. Ein Festhalten an Berlin als dem zentralen O r t eines wiedervereinigten Deutschland blieb kaum erkennbar. Erst mit den grundlegenden politischen Veränderungen in Europa und dem damit gebahnten Weg zu einer Vereinigung beider deutscher Staaten eröffnet sich für Berlin erneut die Chance, nationale Hauptstadt und europäische Metropole zugleich zu sein.

Erste Sitzung Leitung: Günter Richter, Berlin

Die politische und kulturelle Rolle Berlins von der Aufklärung bis zur Reichsgründung HORST MÖLLER Paris

Deutschland, das Land der europäischen Mitte, besaß bis 1871 keine hauptstädtische Mitte. Schon die aufgeklärten Schriftsteller beklagten in einer Zeit zunehmend politisierter öffentlicher Diskussion immer wieder das Fehlen eines solchen Zentrums und verwiesen — wie zum Beispiel Friedrich Nicolai 1797 — auf England und Frankreich: Hier seien London und Paris die unbestrittenen Mittelpunkte des geistigen Lebens. 1 Unterschätzten die Kritiker die Bedeutung, die beispielsweise Edinburgh und Glasgow als Zentren der schottischen Aufklärung besaßen, verkannten sie auch die keineswegs unbedeutende Rolle der Provinzakademien in Frankreich, so sahen sie doch zutreffend, daß Öffentlichkeit in diesen Ländern wesentlich hauptstädtische Öffentlichkeit war. Die Viel- und Kleinstaaterei prägte in Deutschland wie in Italien nicht allein die politische, sondern ebenso die kulturelle Szenerie. Von kaum zu überschätzender Wirkung war im übrigen, daß sich in Deutschland seit der Reformation eine bikonfessionelle Kultur entwickelt hatte, die noch im 18. Jahrhundert trotz zunehmender Säkularisierung die unterschiedliche kulturelle Entwicklung der beiden größten Städte des alten Reiches mitprägte: Weder verleugnete Wien seinen katholischen noch Berlin seinen protestantisch-hugenottischen Charakter. Die kulturelle Anziehungskraft und Ausstrahlung einer Stadt mußte damals noch konfessionell begrenzt bleiben. Und selbst im

1 Friedrich Nicolai, Leben Justus Moser's, Berlin-Stettin 1797 (Ndr. in: Justus Mosers sämmtliche Werke. Neugeordnet und aus dem Nachlasse desselben gemehrt und hrsg. von Bernhard Rudolf Abeken, Teil 10, Berlin 1843, S. 5).

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19. Jahrhundert, ja selbst während der Weimarer Republik behielt beziehungsweise gewann Köln als Zentrum des rheinischen Katholizismus sogar in Preußen eine politische und kulturelle Funktion, die nicht einfach von Berlin absorbiert werden konnte — auch wenn das spätere inoffizielle Sprachrohr der Zentrumspartei, die „Germania", seit 1870 in Berlin herausgegeben wurde. Schillers und Goethes Frage aus den „Xenien": Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf,2 könnte ohne weiteres ergänzt werden: Die deutsche Hauptstadt? aber wo liegt sie... ? Damals lag die deutsche Hauptstadt und damit die politische Rolle Berlins in der Zukunft. Diese Zukünftigkeit gab ihm eine Chance gegenüber der alten, damals noch ungleich bedeutenderen Kaiserstadt Wien, den traditionsreichen Reichsstädten wie Nürnberg und Frankfurt am Main und selbst Hansestädten wie Hamburg, die Wirtschaft und Kultur miteinander verbanden. Doch aufstrebende Residenzstädte gab es im 18. Jahrhundert viele, München zum Beispiel oder auf sehr spezifische Weise Mannheim, wie Lothar Gali gezeigt hat. 3 An die politische Führungsrolle dachten gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch überzeugte kulturpolitische Protagonisten Berlins kaum, wenngleich sie — wie zum Beispiel Friedrich Gedike 1783 — das aufstrebende Berlin als schönste Stadt Europas ansahen, die sogar Paris und London übertreffe. 4 Friedrich Nicolai, der den königlichen Residenzstädten Berlin und Potsdam 1786 eine bis heute unentbehrliche dreibändige historisch-statistische Topographie 5 gewidmet hatte, vermißte in Deutschland bezeichnenderweise das kulturelle, nicht aber das

2 Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch, Bd. 1, 4. Aufl., München 1964, S. 267.

5 Lothar Gali, Stadt der bürgerlichen Gesellschaft — das Beispiel Mannheim, in: Forschungen zur Stadtgeschichte. Gerda Henkel Vorlesungen, hrsg. von der gemeinsamen

Kommission der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Gerda Henkel Stiftung, Opladen 1986, S. 55—71. 4 Friedrich Gedike, Uber Berlin. Briefe „Von einem Fremden" in der Berlinischen Monatsschrift 1783—1785. Kulturpädagogische Reflexionen aus der Sicht der „Berliner

Aufklärung", hrsg. von Harald Scholtz unter Mitwirkung von Ernst Kröger (= Wissenschaft und Stadt, Bd. 4), Berlin 1987, S. 5—7,11 f. 5 Friedrich Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend, Bd. 1—3,

3. Aufl., Berlin 1786 (Ndr. Berlin 1968).

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politische Zentrum. Und sein Mitstreiter, der königliche Bibliothekar und Mitherausgeber der „Berlinischen Monatsschrift", Johann Erich Biester, sah das nicht anders, wie seiner Würdigung von Nicolais zweihundertfünfundsechzigbändiger, von 1765 bis 1792 und — nach zwischenzeitlicher Verlegung des Druckorts nach Hamburg — 1801 bis 1805 in Berlin herausgegebenen „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" zu entnehmen ist. Biester beurteilte Nicolais, von seinen Gegnern boshaft als riesige „Rezensionsanstalt" bezeichnete Zeitschrift als ein Werk von solchem Umfange über unser gemeinschaftliches deutsches Vaterland, und von solchem Einfluß auf alle Provinzen desselben, wie keine Nation ein ähnliches aufzuweisen hat! Nun erst erfuhr Deutschland, was überhaupt literarisch in ihm vorging; es lernte sich selbst kennen...6 Kultur und Politik gehörten hier nur als Kulturpolitik zusammen; daß Paris und London nicht allein die kulturellen, sondern in eminentem Maße die politischen Zentren ihrer Staaten waren, erwähnten die Schriftsteller kaum je. Und doch wäre es zu kurz gegriffen, wollte man Friedrich Meineckes Interpretation 7 von Lessing, Schiller und vielen anderen Autoren des 18. Jahrhunderts folgen und einfach Kulturnation und Staatsnation trennen — indem man die kulturelle Dimension den Deutschen und die politische Dimension der Nation den Franzosen zuwiese. Der Weg Berlins von der königlichen Residenzstadt des 18. Jahrhunderts zur deutschen Reichshauptstadt des späten 19. Jahrhunderts demonstriert, wie eng zeitweise die politische und die kulturelle Entwicklung Berlins miteinander verbunden waren. Allerdings ist dieses Wechselverhältnis in den einzelnen Epochen sehr unterschiedlich akzentuiert worden — eine schlichte kausale Herleitung kultureller aus der politischen Bedeutung oder umgekehrt wäre verfehlt. Es ist nicht neu, muß aber trotzdem gesagt werden: Der Aufstieg Berlins zur deutschen und europäischen Metropole im 18. und 19. Jahrhundert ist ohne den Aufstieg Brandenburg-Preußens zur zweiten deutschen Großmacht und zum ausschlaggebenden Faktor der kleindeutschen Reichseinigung undenkbar. Die Entwicklung Berlins

6

Johann Erich Biester, abgedruckt in: Friedrich

Nachlaß, 7

Nicolai's Leben und

literarischer

hrsg. von Leopold Friedrich Günther von Goeckingh, Berlin 1820, S. 33.

Friedrich Meinecke, Weltbürgertum

Herzfeld (= Friedrich Meinecke, Werke,

und Nationalstaat,

hrsg. u. eingel. von Hans

hrsg. im Auftrag des Friedrich-Meinecke-

Instituts der Freien Universität zu Berlin von Hans Herzfeld, Carl Hinrichs u. Walther Hofer, Bd. 5), München 1962, S. 54 ff.

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bis 1871 steht folglich vom 18. Jahrhundert an in engster Verbindung zum deutschen Dualismus, zur deutschen Frage und schließlich zur europäischen Mächtekonstellation. Die Regierungszeit Friedrichs I. brachte nicht allein die politisch wegweisende Königserhebung von 1701, sondern bedeutete — wie Carl Hinrichs in Abwendung von der lange Zeit vorherrschenden Geringschätzung des ersten preußischen Königs gezeigt hat 8 — auch die ebenso grundlegende wie geplante kulturpolitische Aufwertung Berlins: Das politisch motivierte kulturelle Repräsentationsbedürfnis des Barock prägte von nun an eindrucksvoll das bauliche Gesicht Berlins. Andreas Schlüter goß — zwar durch vielerlei künstlerische Einflüsse aus Italien und Frankreich angeregt, aber doch in eigenem, unverwechselbarem Stil — den preußischen Absolutismus in künstlerische Form. Die politisch-kulturelle Symbiose ist in der Geschichte Berlins niemals deutlicher hervorgetreten. Zwar blieb Brandenburg-Preußens tatsächliche machtpolitische Bedeutung hinter dem nun erreichten künstlerischen Rang weit zurück, aber als Bauherr überragte Friedrich I. alle seine Vorgänger und Nachfolger, wie seine Gemahlin Sophie Charlotte an Intellektualität und Bildung alle übrigen preußischen Königinnen überragte: Welche andere hätte eine Gesprächspartnerin von Leibniz sein können? Sophie Charlotte war durch die französische und englische Philosophie des ausgehenden 17. Jahrhunderts geprägt, verband Leibniz' Optimismus mit dem Skeptizismus eines Pierre Bayle. Die mit ihrer Unterstützung von Leibniz entworfene und 1700 gegründete „Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin" wurde die erste kulturelle Institution Berlins mit überregionaler Ausstrahlung. 9 Auch wenn Friedrich Wilhelm I. sie schon wenig später wieder verkümmern ließ, behielt die Akademie ihren Symbolwert, den Friedrich der Große dann sehr schnell in den vierziger und fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts in tatsächliche wissenschaftliche und kulturelle Bedeutung verwandelte. Schon Friedrich I. holte eine Reihe bedeutender Gelehrter nach Brandenburg-Preußen — nach Berlin, aber auch in andere Städte, vor allem nach Halle. Friedrich der Große setzte dies fort. 1 0 8 Carl Hinrichs, König Friedrich I. von Preußen, in: Carl Hinrichs, Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hrsg. von Gerhard Oestreich (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 10), Berlin 1964, S. 253— 271. 9 Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 1—3, Berlin 1900. 10 Vgl. insges. Horst Möller, Friedrich der Große und der Geist seiner Zeit, in:

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Allerdings war Berlin im 18. Jahrhundert nicht die einzige brandenburgisch-preußische Stadt mit kultureller Bedeutung: Während Berlin bis 1810 keine Universität besaß und sich viele Universitäten damals in einem desolaten Zustand befanden, zählte Halle lange Zeit zu den führenden Universitäts- und Schulstädten des 18. Jahrhunderts. Lange vor Göttingen erlangte die durch Pietismus und Aufklärung geprägte Universität Halle hohes Ansehen als führende Reformuniversität. 1 1 Außer der Berliner entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach der Hallenser die Königsberger und die Breslauer Aufklärung. V o r allem aber: Neben der stark französisch geprägten königlichen Aufklärung des Hofes von Sanssouci mußte sich die bürgerlich-etatistisch-konsistorialrätliche Aufklärung in Berlin erst ihren Platz erobern. 12 Berlin blieb Friedrich II. wie schon seinem Vater Friedrich Wilhelm I. eher fremd, beide bevorzugten — wenn auch aus unterschiedlichen Motiven — Potsdam. Doch sollten wir uns auch an Theodor Fontane erinnern, der den spezifischen Berliner W i t z keineswegs vom französischen Esprit der zugewanderten und Berlin wesentlich mitprägenden Hugenotten herleitete, sondern aus dem Tabakskollegium des Soldatenkönigs. 13 Wie dem auch sei, die königliche Residenzstadt Berlin mußte in der Gunst der Herrscher mit Potsdam konkurrieren. Doch bekam dem

Johannes Kunisch (Hrsg.), Analecta Fridericiana (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beih. 4), Berlin 1987, S. 55—74. 11 Vgl. insges. Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971; sowie ders., Der Hallische Pietismus als politisch-soziale Reformbewegung des 18. Jahrhunderts, in: Carl Hinrichs, Preußen als historisches Problem ... (wie Anm. 8), S. 171—184; vgl. auch Wilhelm Schräder, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. 1 u. 2, Berlin 1894, sowie Notker Hammerstein, Die Universitätsgründungen im Zeichen der Aufklärung, in: Peter Baumgart/Notker Hammerstein (Hrsg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit (= Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 4), Nendeln/ Liechtenstein 1978, S. 263—298. 12 Vgl. Horst Möller, Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai (- Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 15), Berlin 1974, sowie ders., Königliche und bürgerliche Aufklärung, in: Manfred Schlenke (Hrsg.), Preußen. Politik, Kultur, Gesellschaft, Bd. 1, Reinbek 1986, S. 134—149. 15 Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 3: Fünf Schlösser (= Theodor Fontane, Sämtliche Werke, hrsg. von Walter Keitel), München 1968, S. 655 f.

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Berliner Geistesleben die Distanz Friedrichs des Großen nicht schlecht, es entfaltete sich während seiner Regierungszeit recht selbständig, der Friderizianismus war die Voraussetzung, aber nicht das Ergebnis dieses Nebeneinanders von königlicher und bürgerlicher Aufklärung. Mit ihr gewann Berlin erstmals ein nicht bloß importiertes kulturelles Leben, sondern wurde ein geistiges Zentrum von einer bis in den katholischen Süden, Südwesten und nach Wien reichenden Ausstrahlung. Dazu trugen die literarischen, gelehrten und kulturpolitischen Zeitschriften, die in Berlin herausgegeben und verlegt wurden, ebenso bei wie das Wirken herausragender Publizisten und die Existenz eigenständiger aufgeklärter und später romantischer Vergesellschaftungsformen. V o n den fünfziger Jahren des 18. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts erschienen in Berlin unter anderem — die „Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste", — die „Briefe, die neueste Literatur betreffend", — die „Allgemeine deutsche Bibliothek", — die „Berlinische Monatsschrift", — das „Berlinische Archiv der Zeit und ihres Geschmacks", — „Deutschland beziehungsweise Lyceum der schönen Künste", — „Der Freimüthige oder Berlinische Zeitung für Gebildete, unbefangene Leser". V o r und neben diesen zum Teil führenden Journalen nicht nur der Berliner, sondern der deutschen Aufklärung überhaupt, 14 besaß Berlin bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert zwei Zeitungen, die bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein von Bedeutung waren beziehungsweise zu den führenden deutschen Tageszeitungen zählten: die 1721 gegründete „Berlinische Privilegirte Zeitung", die später unter dem Namen ihres Verlegers als „Vossische Zeitung" zu Ruhm gelangte, sowie die nach kurzlebigen Vorläufern 1740 gegründeten „Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehrtensachen", die später abgekürzt unter der Bezeichnung „Haude-Spenersche Zeitung" bekannt wurde. Daneben existierten Spezialblätter, beispielsweise die „Berlinische Damenzeitung" oder die vom Prediger an der Dreifaltigkeitskirche und Mitbegründer der Realschulerziehung Johann Julius Hecker begründete „Gelehrte und politische Zeitung". Schließlich verdient aus wissenschaftsgeschichtlichen Gründen das von Karl Philipp Moritz zwischen

14 Vgl. Horst Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert (= Neue historische Bibliothek), Frankfurt/Main 1986 (2. Aufl. 1989), S. 268 ff.

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1783 und 1793 herausgegebene „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" gesonderte Erwähnung: Es gewann erhebliche Bedeutung für die Grundlegung der Psychologie und hatte den Verfasser des von ihm selbst so genannten „psychologischen Romans" „Anton Reiser" zum Herausgeber. Auch eine französische Wochenzeitung erschien in Berlin: Die „Gazette Littéraire de Berlin". Um 1800 hatte sich Berlin nach Leipzig zum zweitwichtigsten Verlagsort entwickelt, hatte neben bedeutenden Verlagen 32 Druckereien mit über 100 Mitarbeitern. Allerdings mußten die politischen, aber auch die kirchenkritischen Zeitschriften während des ganzen 18. Jahrhunderts und verschärft nach dem Tode Friedrichs des Großen, der seinerseits durchaus die Gazetten genieren konnte, mit der Zensur kämpfen. Doch wurde Politik deswegen nicht ausgespart, wenngleich es sich in der Regel um indirekte Formen politischer Kritik handelte. Immerhin verlangte die „Berlinische Monatsschrift" noch vor der Französischen Revolution politische Mitsprache. Nach der auf Vorschlag des Großkanzlers von Carmer vom preußischen König 1784 zugelassenen öffentlichen Diskussion der Gelehrten und Publizisten über das zentrale legislative Reformvorhaben des Friderizianismus, das „Allgemeine Gesetzbuch für die Preußischen Staaten", wurde auch die Diskussion politischer Themen intensiver. Und das war nach diesem innerhalb des Absolutismus singulären Vorgang, den die vor allem in Berlin geführte öffentliche Diskussion tatsächlich darstellt, kaum verwunderlich.15 So hieß es 1785 in der „Berlinischen Monatsschrift": Will ein Fürst seinen Gesetzen ... eine ungewöhnliche Dauer verschaffen, so muß er dem Staate eine Verfassung geben, wodurch es seinen Nachfolgern unmöglich wird, die von ihm eingeführten Gesetze willkührlich abzuändern. Er muß bewirken, daß von nun an keine Gesetze anders, als mit Einwilligung des gesammten Staats gegeben werden können; mit einem Worte, er muß den Staat in eine Republik verwandeln, in welcher das Haupt der regierenden Familie den bloßen Vorsitz hat.16 Ich kann aus Zeitgründen nicht auf diese außerordentlich bemerkenswerten politischen Forderungen eingehen, doch handelt es sich

15

H o r s t Möller, Wie aufgeklärt war Preußenf,

Wehler (Hrsg.), Preußen

im Rückblick

in: Hans-Jürgen Puhle/Hans-Ulrich

(= Geschichte und Gesellschaft, Sonderh. 6),

Göttingen 1980, S. 176—201, insbes. S. 195 ff. 16

Neuer Weg zur Unsterblichkeit

S. 239—247, hier S. 241.

der Fürsten, in: Berlinische Monatsschrift 5 (1785),

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keineswegs um den einzigen Beleg einer sehr konkret geführten politischen Diskussion, die bereits vor der Revolution im Nachbarland die Reform favorisierte. Sie zeigt zusammen mit einer Reihe weiterer Faktoren, zu denen beispielsweise die Debatte über die Revolution seit 1789 sowie das in vieler Hinsicht erfolgreiche Unterlaufen der teilweise reaktionären Politik der rosenkreuzerisch beeinflußten Regierung Friedrich Wilhelms II. durch die aufgeklärte Schicht von Beamten, Theologen und Publizisten zählte, 17 wie falsch eine in der wissenschaftlichen Literatur bis zur Ermüdung wiederholte These ist, die besagt: In Deutschland habe es kein selbstbewußtes Bürgertum und folglich keine Revolution gegeben. Berlin, das zeigte sich mehr als einmal, hatte unter dem Einfluß der Aufklärung am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchaus ein selbstbewußtes Bürgertum, wenngleich die seit dem 17. Jahrhundert faktisch beseitigte kommunale Selbstverwaltung auch durch die Steinschen Reformen einstweilen nur sehr unvollkommen wiederbelebt wurde. Die Berliner Aufklärung war tatsächlich in geringerem Maße als die der anderen preußischen Städte Gelehrtenaufklärung. Diese kristallisierte sich stärker in der Akademie, wo die Einflußnahme Friedrichs des Großen auf Berufungen besonders stark war und zeitweise zur überwältigenden Dominanz französischer Gelehrter führte — bedeutende deutsche Aufklärer wie Kant, Mendelssohn, Geliert wurden zu Lebzeiten Friedrichs nicht aufgenommen. Bis 1786 entwickelte sich die Berliner Aufklärung trotz der aufgeklärten Neigungen des Landesherrn weitgehend unabhängig von ihm und in Konkurrenz zu seiner Akademie. Uber die Wirkung der Aufklärung auf die Bevölkerung urteilte Gedike denn auch: So eine Aufklärung, wie hier allgemein ist, sah ich in Deutschland nirgends. — Ich sage in Deutschland; denn über Paris mag ich jetzt nicht streiten; auch heißt und ist vielleicht in Frankreich Aufklärung etwas anders als in Deutschland; und das republikanischere England geht freilich jeder Monarchie vor. — Ich meine im Ganzen. Denn allerdings gibt es auch hier erstaunliche und in der Tat unglaubliche Beispiele vom Gegenteil.18

Vgl. Horst Möller, Die Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer antiaufklärerischen Geheimgesellschaft, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1986, S. 199—239 insbes. S. 218 ff. 18 F. Gedike, Über Berlin ... (wie Anm. 4), S. 23 f. 17

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Eine Überlappung der Kommunikationsnetze aufgeklärter Vergesellschaftungsformen mit der Akademie begann erst nach dem T o d des Königs, als sein ehemaliger Minister, Graf Hertzberg, die Akademie reorganisierte 19 und eine Reihe führender Berliner Aufklärer aufnahm. Nicolai beispielsweise wurde 1799 außerordentliches und 1804 ordentliches Mitglied, während er bereits 1781 in die Münchener Akademie aufgenommen worden war. Als einer der wenigen führenden Berliner Aufklärer war Sulzer vor 1786 zugleich Akademiemitglied und Mitglied aufgeklärter Assoziationen. Aufgrund dieser Konstellation entwickelten sich in Berlin in stärkerem Maße zwei selbständige, jedoch ihrerseits in personeller Hinsicht teilweise identische Kommunikationsformen: erstens ein eigener T y pus aufgeklärter Assoziationen sowie zweitens der Typus der erwähnten führenden Journale. Alle genannten Herausgeber gehörten dem Montagsclub und der Mittwochsgesellschaft an. Die zeitliche Differenzierung des Assoziationswesens in der preußischen Hauptstadt verweist auf einen weiteren Tatbestand: In den letzten Jahrzehnten und Jahren des 18. Jahrhunderts traten neben die aufgeklärten Assoziationen andere, konkurrierende Vergesellschaftungsformen, zunächst die nach 1786 unter Friedrich Wilhelm II. starken, wenn auch kurzlebigen Einfluß gewinnende Geheimgesellschaft der Gold- und Rosenkreuzer, dann seit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts die romantischen Salons, die um 1800 die aufgeklärten Gesellschaften weitgehend abgelöst hatten. 2 0 Die Salons, zu deren Konstituenten auch der Generationswandel der literarisch-philosophisch und intellektuell tonangebenden Schicht zählte, bildeten aufgrund des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels einen neuen Typus der Vergesellschaftung. Ein Vergleich von aufgeklärten Assoziationen mit den romantischen Salons ist deshalb außerordentlich instruktiv. Allerdings waren diese Salons keineswegs auf Berlin beschränkt. Vielmehr gab es neben dem bis ins 17. Jahrhundert zurückreichenden französischen Vorbild beispielsweise auch in Wien berühmte Salons (Fanny Arnstein, Karoline Pichler). Deborah H e r t z hat für die Jahre

19 A. Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen A kademie der Wissenschaften ..., (wie Anm. 9), Bd. 1/2, S. 493ff.; insges. auch H. Möller, Vernunft und Kritik ... (wie Anm. 14), S. 253 ff. 20 Vgl. H. Möller, Aufklärung in Preußen ... (wie Anm. 12), S. 233 ff., sowie ausführlicher: ders., Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763 bis 1815 (= Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 1), Berlin 1989, S. 467—494.

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1780 bis 1806 mit Schwerpunkt auf der Zeit seit etwa 1790 für Berlin 14 Salons festgestellt, in denen ungefähr einhundert Personen regelmäßig verkehrten. 21 Die außerordentlich flexible Gestaltung dieser Salons macht eine definitorisch exakte Abgrenzung schwierig — blieb doch der Salon in formaler Hinsicht dem „offenen Haus" sehr ähnlich, das Berliner Aufklärer wie Friedrich Nicolai oder Moses Mendelssohn in Berlin eine Zeit lang führten. Bei allem Vorbild adliger französischer Salonkultur trat in diesen bürgerlichen Geselligkeitsformen die Repräsentation, der Aufwand deutlich zurück; die Zahl der Teilnehmer war erheblich geringer. Die Aufklärungsgesellschaften hatten, wie übrigens auch die Freimaurer-Logen und die Gold- und Rosenkreuzer, ein sehr viel strengeres Reglement. So war die Zahl der Mitglieder, unter denen führende Staatsmänner, Juristen und Theologen waren, beschränkt, Geheimhaltung zählte zu den Kriterien, in der Mittwochsgesellschaft wurde über vorher bestimmte Themen in einem festgelegten Verfahren diskutiert. 22 Die Themen waren zwar auch philosophischer und gelehrter Natur, häufig aber entstammten sie den als gesellschaftlich relevant geltenden Sektoren oder betrafen unmittelbar die preußische Politik. Die Zweckgebundenheit der Diskussion und ihr „gemeiner Nutzen" ersetzten geistreiche Plauderei und zweckfreie literarische Bildung, die für die Salons charakteristisch waren. Die in den Salons verkehrende Schicht unterschied sich in signifikanter Weise von derjenigen der Aufklärungsgesellschaften. Unverkennbar ist der Generationswandel, der sich exemplarisch an der Familie Mendelssohn zeigt: Moses Mendelssohn zählte zu den Mitgliedern der Aufklärungsgesellschaften, seine Tochter Dorothea Veit verkehrte in den romantischen Salons. Bildete Mendelssohn als Jude eine Ausnahmeerscheinung in den Aufklärungsgesellschaften, so waren die sprich21

Deborah Hertz, Intermarriage in the Berlin Salons, in: Central European History 10 (1983), S. 303—346, sowie dies., Jewish High Society in Old Regime Berlin, New Häven 1988. 22 H . Möller, Aufklärung in Preußen... (wie Anm. 12), S. 229 ff.; Günther Birtsch, Die Berliner Mittwochsgesellschaft (1783—1798), in: Hans Erich Bödeker/Ulrich Herrmann (Hrsg.), Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 85), Göttingen 1987, S. 94—112; Eckart Hellmuth, AußlärungundPressefreiheit. Zur Debatte der Berliner Mittwochsgesellschaft während der Jahre 1783 und 1784, in: Zeitschrift für Historische Forschung 9 (1982), S. 315—345.

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wörtlich geistvollen Jüdinnen in den Salons gern gesehene Gäste — oder auch die Gastgeberinnen. Berühmt waren die Salons von Rahel Varnhagen und Henriette Herz. 2 3 Adlige blieben in den Berliner Aufklärungsgesellschaften die Ausnahme, waren diese doch in erster Linie bildungsbürgerlich geprägt. Wie in den Freimaurer-Logen und dem Orden der Gold- und Rosenkreuzer verkehrten in den Salons zahlreiche Adlige, auch Angehörige des Hochadels. In dieser Hinsicht bildeten alle drei Vergesellschaftungsformen einen Ort sozialer Exterritorialität, in dem Stand, Religion, Nationalität, Geschlecht bloß sekundäre Bedeutung besaßen. Zweifellos zeigte sich unter diesen Aspekten die Wirkung aufgeklärter Ideen noch in den romantischen Salons. Auch bei dieser literarischkünstlerischen Avantgarde, die die Salons bevölkerte, transzendierte Bildung die geburtsständischen Grenzen, wurde zum neuen und unterscheidenden sozialen Definitionskriterium, dessen Voraussetzung sowohl Frauen als auch Juden erfüllen konnten — die beiden Gruppen, die im Montagsclub und der Mittwochsgesellschaft gar nicht oder kaum vertreten waren. Die kulturelle Kommunikationsstruktur Berlins ist also durch verschiedene, sich überlappende, personell teilweise identische Formen charakterisiert. Als zentrale Organisationsform erscheint in diesem Kommunikationsnetz die geheime Mittwochsgesellschaft als aufgeklärter Gegenpart zu den ebenfalls geheimen Gold- und Rosenkreuzern. Die Mittwochsgesellschaft verfügte mit der „Berlinischen Monatsschrift" faktisch, wenngleich nicht explizit, über ein eigenes Journal: Der aufgeklärte Diskussionsprozeß konnte auf diese Weise als rationale, exklusive Diskussion einer Aufklärerelite stattfinden und durch deren Vermittlung eine öffentliche Dimension erlangen. Beide Kommunikationsebenen besaßen eine konkrete Pointe: Sie sollten die in rationaler Diskussion gewonnenen Ergebnisse in praktische Politik umsetzen und gingen so über bloßes Räsonnement hinaus. Die flankierende Funktion der Meinungsbildung diente den aufgeklärten Staatsdienern und führenden Theologen der Mittwochsgesellschaft als Me-

23 Vgl. die T e x t e : Rahel Varnhagen, Gesammelte Werke, hrsg. von K o n r a d Feilchenfeldt, U w e Schweikert und Rahel E. Steiner, Bd. 1 — 1 0 (fotomech. Nachdruck), Mün-

chen 1 9 8 3 ; Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen, hrsg. von Rainer Schmitz, Frankfurt/Main 1 9 8 4 , sowie die Biographie v o n Hannah Arendt, Rahel Varnhagen. Lehensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1959.

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dium ihrer eigenen Reformpraxis — klärend, publizistisch unterstützend, postulierend zugleich. Staats- und gesellschaftspolitische Theorie sowie Öffentlichkeit sollten die Rolle dieser Elite in staatlichen Entscheidungsprozessen verstärken. Die aufgeklärte Elite konstituierte in der Mittwochsgesellschaft eine Organisation, die das Reformbeamtentum des frühen 19. Jahrhunderts vorwegnahm. 24 Berlin erhielt durch diese Kommunikationsstruktur um 1800 in kulturpolitischer und politischer Hinsicht eine außerordentlich interessante Stellung. In der gesellschaftspolitischen Bedeutung der Salons setzte sich dieser avantgardistische Zug einer kulturellen städtischen Elite fort. Die Existenz der Journale und Zeitungen, die Berlin schon im Rahmen der im 18. Jahrhundert noch begrenzten Möglichkeiten zur „Zeitungsstadt" 2 5 machten, bildete nicht allein das entscheidende Medium einer kulturellen und in wachsendem Maße auch politischen Diskussion, sondern schuf ein publizistisches Kommunikationsnetz im deutschen Sprachraum insgesamt. Hierdurch begann Berlin kulturpolitisch eine immer wichtigere Rolle zu spielen. Nicolais „Allgemeine deutsche Bibliothek" beispielsweise hatte 433 nachgewiesene Mitarbeiter aus dem gesamten Reichsgebiet. Die Zeitschrift, die im Jahre 1777 mit 2548 Exemplaren die höchste Auflage erreichte, wurde in Wien, im Südwesten, Westen und Nordwesten Deutschlands abgesetzt. Auch die „Berlinische Monatsschrift", deren berühmtester Autor Kant gewesen ist, bildete ein zentrales Diskussionsforum mit reichsweiter Ausstrahlung. Und am Ende des 18. Jahrhunderts repräsentierte die literarisch-kulturelle Zeitschrift der Gebrüder Schlegel, „Athenäum", die von 1789 bis 1800 erschien, die frühe Berliner Romantik. Aber freilich: Standen neben den Berliner Aufklärungsjournalen beispielsweise Wielands in Weimar herausgegebener „Teutscher Merkur" und Schlözers in Göttingen publizierte staatswissenschaftlich-politische Zeitschriften — um nur diese zu nennen —, so neben der Berliner die Jenenser und die Heidelberger Romantik. Weder in der zweiten Hälfte des 18. noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

24 Vgl. insges.: Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848 (= Industrielle Welt, Bd. 7), 2. Aufl., Stuttgart 1975. 25 Vgl. Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, 2., Überarb. und erw. Aufl., Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1982.

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war Berlin das einzige kulturelle Zentrum Deutschlands, dessen Polyzentrität auch in dieser Beziehung erhalten blieb. Das Pressewesen hatte jedoch mit verstärkter Zensur zu rechnen: Das bekam im frühen 19. Jahrhundert zuerst Heinrich von Kleist zu spüren, dessen „Berliner Abendblätter" im Winter 1810/11 zu den originellen kulturellen und politischen Zeitungsgründungen gehörten, aber durch die erzwungene Rücksichtnahme auf die Franzosen ebenso beeinträchtigt wurden wie durch das schnell wieder erlahmende Interesse des Publikums, das anfangs vielleicht mehr durch die damals noch sensationell wirkenden Reportagen über Kriminalität, Unglücksfälle oder auch unterhaltsamen Witz als durch die kritische Diskussion der Politik Hardenbergs oder den antinapoleonischen Patriotismus gefesselt war. Regierungstreuen Patriotismus vertrat dann während der Befreiungskriege 1813/14 „Der Preußische Correspondent in Berlin", dessen berühmte Redakteure nacheinander Barthold Georg Niebuhr, Friedrich Schleiermacher und Achim von Arnim waren. Nicht allein regierungsnah, sondern regierungsoffiziös war dann die auf Hardenbergs Anregung hin gegründete und bis 1862 erscheinende „Allgemeine Preußische Staatszeitung", die im Volksmund schon bald nicht mehr als „Allgemeine", sondern als „Gemeine" bezeichnet wurde. Die Revolution von 1848/49 überlebte das Blatt, nachdem zeitweilige liberalere Tendenzen wieder den reaktionären gewichen waren. War Berlin durch die napoleonische Herrschaft über weite Teile Europas machtpolitisch auch in den Strudel der großen europäischen Politik geraten, so hatte es schließlich nach den Jahren seiner Ohnmacht, anknüpfend zugleich an die aufgeklärt-absolutistische Reformtradition und die Erfahrungen der Französischen Revolution und Napoleons im frühen 19. Jahrhundert, sich zu einem Zentrum der Reformpolitik entwickelt. So ergriffen die Nachrichten aus Frankreich im Februar und März 1848 die Berliner fast stärker als die von 1789: War man damals in selbstbewußter Reformaktivität der Meinung gewesen, Preußen erreiche die revolutionären Errungenschaften auf einem schon lange eingeschlagenen evolutionären Wege, so hatte man 1848 auch die Erfahrung des uneingelösten königlichen Verfassungsversprechens und des restaurativen Rückschlags gemacht: Karl Ludwig von Prittwitz berichtet in seinem Erinnerungswerk über Berlin im Jahre 1848: Beider Wichtigkeit, welche man fast überall den Nachrichten aus Frankreich beizulegen gewohnt war, bei dem Glauben an die beglückenden Folgen des Konstitutionalismus und der parlamentarischen Formen, welche sich in Europa in beinahe allen Schichten der Gesellschaft immer mehr verbreitet

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hatten, ist es sehr schwer, den ungeheuren Eindruck zu schildern, welchen diese Nachrichten hervorriefen, die Teilnahme zu beschreiben, mit welcher den rasch hintereinander einlaufenden, eigentlich sich überstürzenden Nachrichten gefolgt wurde.26 Wieder zeigte sich Berlins Verflechtung in die politische Entwicklung Europas, doch das Zentrum der deutschen Politik konnte es bei der fortbestehenden Polyzentrität Deutschlands, die der Deutsche Bund keineswegs vermindert hatte, noch nicht sein. Und die verfassungspolitischen Debatten über die Zukunft Deutschlands fanden in Frankfurt am Main statt, der mittelstaatliche Konstitutionalismus im Süden und Südwesten des Deutschen Bundes war Preußen und Osterreich ohnehin schon seit Jahrzehnten vorausgeeilt. Die politischen Ereignisse von 1848 zeigen aber auch, daß Berlin nicht mehr nur durch die gelehrt-politisierende Offentlichkeitsstruktur geprägt war, sondern durch die sozialen und politischen Probleme einer modernen Großstadt und zunehmend durch die Erregbarkeit von Massenbewegungen charakterisiert wurde. Auf diese Weise wandelte sich das politische Verhältnis des Monarchen zu seiner Hauptstadt: Die politischen Rechte der Bürger konnten nicht mehr — wie im 17. und 18. Jahrhundert — weitgehend durch den absoluten Herrschaftsanspruch des Königs monopolisiert werden. Vielmehr gewann die Großstadt — nach den zum Teil noch altständisch geprägten Steinschen Selbstverwaltungsprinzipien — eine eigene politische Dynamik, die Berlin verschiedentlich zum Motor neuer Entwicklungen werden ließ. Das Revolutionsjahr selbst führte nicht allein zum Verbot oder zur Suspendierung zahlreicher aus dem Boden schießender Neugründungen, unter anderem auch der satirischen Zeitschrift „Kladderadatsch", sondern auch zur Etablierung von Zeitungen, die über mehrere Generationen hinweg Bedeutung behielten. Hierzu gehörten die liberale, von 1848 bis 1910 publizierte „National-Zeitung", die zunächst zu den sogenannten Comitee-Zeitungen zählte, sowie die „Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung", die bis 1939 erschien und bekanntlich Sprachrohr der Konservativen war. Die dritte Zeitung dieser Art war die allerdings kurzlebige „Urwähler-Zeitung" der demokratischen Linken, die 1849

26 Karl Ludwig von Prittwitz, Berlin 1848, Das Erinnerungswerk des Generalleutnants Karl Ludwig von Prittwitz und andere Quellen zur Berliner Märzrevolution und zur Geschichte Preußens um die Mitte des 19. Jahrhunderts, bearb. und eingel. von Gerd Heinrich (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 60), BerlinNew York 1985, S. 13.

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bis 1853 der Protagonist der jüdischen Reformer, Aaron Bernstein, im Verlag von Franz Duncker herausgab, der seinerseits 1861 zu den Gründern der Deutschen Fortschrittspartei und 1869 der HirschDunckerschen Gewerkvereine zählte. Diese Zeitungen demonstrierten einen gewissen Abschluß, aber auch einen Neubeginn der Politisierung, die zu einer schärferen Fraktionierung und inhaltlichen Konturierung führte. Kurzlebige politische Blätter mit vergleichsweise hohen Auflagen zeigen ebenso wie die frühen Arbeiterzeitungen, daß die politischen Diskussionen und die Presse zur öffentlichen Meinungsbildung in ungleich höherem Maße beitrugen und das Berliner Leben prägten, als das noch eine Generation zuvor auch nur vorstellbar gewesen wäre. Dies schuf auch Leserschichten für weitere Tageszeitungen, die im Gefolge oder einige Jahre nach der Revolution entstanden, beispielsweise die „Berliner Börsen-Zeitung" (1855—1944), die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" (1861—1918), die „Berliner Allgemeine Zeitung", den „Berliner Börsen-Courier" (1868 —1934). Alle diese Zeitungen wurden vor der Reichsgründung etabliert und bewiesen in ihrer vergleichsweise eindrucksvollen Vielfalt und Vielzahl, daß Berlin inzwischen zur führenden deutschen Pressestadt geworden war, die für das politische Meinungsklima, aber auch die Verbreitung von Informationen, Berichten und Kritik aus dem Kulturleben einen Sog zur preußischen Hauptstadt bewirkte. Berlin hatte sich aus den Anfängen einer vergleichsweise unbedeutenden Residenzstadt am Ende des 17. Jahrhunderts rapide zur zweitgrößten deutschen Stadt nach Wien am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt: 2 7 Die Einwohnerzahl der Stadt wuchs von 29 000 um 1700 auf 172000 um 1800 und ca. 826000 im Jahre 1871. Wien, mit dem Berlin in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts gleichgezogen hatte, lag nun mit ca. 607000 Einwohnern beträchtlich zurück, und

27 Vgl. insges. zur Geschichte Berlins in diesem Zeitraum: Hans Herzfeld unter Mitwirkung von Gerd Heinrich (Hrsg.), Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 25), Berlin 1968, sowie jetzt Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, 2 Bde., München 1987. In Bd. 1 insbes. die Beiträge von Felix Escher, Die brandenburgisch-preußische Residenz und Hauptstadt Berlin im 17. und 18. Jahrhundert, S. 343—403, und Ilja Mieck, Von der Reformzeit zur Revolution (1806—1847), S. 407—602, sowie in Bd. 2 den Beitrag von Günter Richter, Zwischen Revolution und Reichsgründung (1848 bis 1870), S. 605—687.

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auch die drittgrößte deutsche Stadt, Hamburg, die nun knapp 2 4 0 0 0 0 Einwohner hatte, war weit überholt worden. Berlins Bevölkerungswachstum entsprach demjenigen Preußens, das den Rivalen Österreich — das heißt dessen deutsche Teile — nach Fläche und Bevölkerung seit dem Wiener Kongreß bereits eingeholt beziehungsweise um 1820 übertroffen hatte. Andererseits blieb Berlin nach Einwohnerzahl noch zur Zeit der Reichsgründung beträchtlich hinter den europäischen Metropolen wie London (3,2 Millionen) und Paris (1,8 Millionen) zurück. Die demographische Entwicklung Berlins ist natürlich, wie die anderer Metropolen auch, nicht allein durch Erhöhung des Geburtenüberschusses und Verminderung der Sterblichkeitsrate, sondern in wachsendem Maße durch Zuwanderung geprägt worden. Diese Land-Stadt-Wanderung und Urbanisierungsbewegung ist allerdings nicht erst ein Ergebnis der Industrialisierung gewesen, wenngleich diese eine neue Dimension auch in demographischer Hinsicht eröffnete. Vielmehr hat die seit Ende des 17. Jahrhunderts erfolgende Zuwanderung der Hugenotten und eine verstärkte Ansiedlung auch der Juden Berlins kulturelles und sozialökonomisches Gepräge bereits im 18. Jahrhundert außerordentlich stark beeinflußt. Sicher blieb die Toleranz gegenüber den Juden begrenzt, aber die konfessionelle T o l e r a n z war wie die Freigeisterei in Berlin doch größer als in den meisten anderen deutschen Städten. Und während sein König durchaus judenfeindliche Tendenzen erkennen ließ, konnte der königliche Beamte D o h m das 1781 veröffentlichte grundlegende W e r k „Uber die bürgerliche Verbesserung der J u d e n " verfassen, das über den Abbé Grégoire und Mirabeau die weitestgehende Emanzipation der Juden, die der Französischen Revolution 1789, beeinflußt hat. Berlin zog nicht nur Menschen und Ideen an, sondern b o t ihnen im Rahmen der jeweiligen Epoche oftmals größere Gestaltungsfreiheit als andere O r t e . Die spezifische Modernität, ja nicht selten die Modernität um jeden Preis, die rasante Entwicklung in allem, was der Zeitgeist als aktuell betrachtete, wurde wie nur bei wenigen anderen Städten das Lebensgesetz dieser Stadt und machte einen Gutteil ihrer Faszination aus. Das Nebeneinander von königlich-höfischer Kultur und bürgerlich geprägtem Anspruch auf oftmals avantgardistische Dynamik war zwar nicht in jeder Epoche gleich ausgeprägt, verschwand aber kaum je. Dabei spielte die Bildung eine erhebliche Rolle. Und sie suchte sich zeitgemäße Formen. Bevor es zur wegweisenden Humboldtschen Universitätsgründung in Berlin kam, deren Grundprinzipien bekanntlich

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trotz vieler Überlagerungen bis in unsere Zeit nachwirkten, hielten während der kritischsten Jahre, die Berlin im 19. Jahrhundert durchmachen mußte, bedeutende Gelehrte der Zeit öffentliche Vorträge, deren Resonanz damals keine Universität hätte erreichen können: Der spätere erste Rektor der Berliner Universität, Fichte, hielt 1807/08 seine „Reden an die deutsche Nation", August Wilhelm Schlegel, der Jenaer Professor und prominente Mitarbeiter an der in Jena erscheinenden „Allgemeine Literatur-Zeitung", ging wie so viele andere in diesen Jahren nach Berlin und hielt dort — auch ohne Universität — die die europäische Literatur- und Geistesgeschichte eindrucksvoll erfassenden „Vorlesungen über Literatur und Kunst". Ein anderes Schlüsselwerk dieser Zeit, Schleiermachers Essay „Uber die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern", entstand zwar in Berlin und wurde hier auch 1799 veröffentlicht, aber anonym. Doch handelte es sich tatsächlich nicht um Reden — wie man gelegentlich lesen kann. Die zahllosen geistesgeschichtlichen, literarischen und künstlerischen Entwicklungen, Ereignisse und Schöpfungen, die in der einen oder anderen Weise während des frühen 19. Jahrhunderts mit Berlin verbunden sind, auch nur zu nennen, würde sicher mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Bemerkenswert ist, daß die philosophische und literarische, aber auch die künstlerische und musikalische Entwicklung während der politischen Auflösung des alten Reiches Gipfel nach Gipfel erreichte. Die bis an die Existenz gehende Bedrohung des preußischen Staates und die Beherrschung Europas — und zeitweilig auch Berlins — durch Napoleon minderte keineswegs die Entfaltung geistiger und künstlerischer Spitzenleistungen: War das Elend der Politik der Glanz der Kultur? Nach Eröffnung der Universität zog diese bald einen erheblichen Teil der geistigen Elite Deutschlands an, insbesondere Hegel bildete einen Anziehungspunkt der Berliner Universität mit einer weit ins 20. Jahrhundert hineinreichenden Nachwirkung. Madame de Sta'el fand bereits 1804, daß Berlin zur wahren Hauptstadt des aufgeklärten Deutschland geworden sei.28 So kam der junge Kierkegaard aus Kopenhagen, um persönlich Hegels Bekanntschaft zu machen, nachdem er sich durch die Lektüre der Hegeischen „Enzyklopädie" eigens auf den Besuch vorbereitet hatte. Aber Kierkegaard konnte hier nicht allein

28 Anne Louise Germaine Baronne de Stael-Holstein, Über Deutschland, Robert Habs, 2 Bde., Leipzig o.J. [1882], Bd. 1, S. 120 ff.

dt. von

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Möller

philosophische Kollegs hören, wie sie damals nirgendwo ihresgleichen hatten, sondern auch das Berliner Musikleben genießen — für den dänischen Philosophen, der Mozarts „Don Giovanni" sogar in einem seiner Hauptwerke „Entweder — Oder" fasziniert und faszinierend interpretierte, alles andere als eine Nebenbeschäftigung. Tatsächlich hatte sich das Berliner Kulturleben auch in denjenigen Faktoren rasant entwickelt, die ich aus Zeitgründen nicht näher erwähnen kann: Außer Zelters Liedertafel und Singakademie gab es schon im letzten Drittel des 18. Jahrhundertseine Oper und ein Schauspielhaus, an dem 1774 die Erstaufführung von Goethes „Götz von Berlichingen" stattfand — eines Stückes, das Friedrich der Große bekanntlich als eine abscheuliche Nachahmung der in seiner Sicht ohnehin schlechten Stücke Shakespeares charakterisierte. 29 Das Nationaltheater stand seit 1786 unter der Leitung Ifflands und hatte bekannte Schauspieler wie Konrad Fleck im Ensemble. 1829 leitete Felix Mendelssohn-Bartholdy mit einer Aufführung der „Matthäus-Passion" die Wiederentdeckung Johann Sebastian Bachs ein. 30 Andreas Schlüters Berlin wurde schließlich nicht nur in dem von Friedrich dem Großen mit Georg Wenceslaus von Knobeisdorff entworfenen „Forum Fridericianum", sondern im 19. Jahrhundert durch Schinkels Berlin überformt, um nur Stichworte zu nennen. Auch hier blieb Berlin freilich in die bau- und kunstgeschichtliche Entwicklung deutscher (Residenz-)Städte eingebettet, denkt man nur an Leo von Klenzes Umgestaltung Münchens. Und der Klassizismus war schließlich ein europäisches Phänomen, wie die seit dem 18. Jahrhundert einsetzende und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Vollendung findende „Antikenrezeption" zeigt: Berlin übernahm keineswegs eine singuläre Rolle als Protagonist kultureller Entwicklungen, sondern zeigte sich groß in der Aufnahmebereitschaft, die dann schließlich zu ganz eigener Gestaltungsfähigkeit führte: Und daß zum gesellschaftlichen Austausch auch die Existenz von Cafés und Weinhäusern gehörte, will ich nicht allein deshalb erwähnen, weil E . T . A . Hoffmann bei Lutter & Wegner regelmäßig zu Schoppen und Gespräch verkehrte.

29 Friedrich der Große, De la littérature allemande (unveränderter reprografischer Nachdruck der 2. Aufl., Berlin 1902), Darmstadt 1968, S. 66. 30 Vgl. die Beiträge in H. Herzfeld/G. Heinrich (Hrsg.), Berlin und die Provinz Brandenburg... (wie Anm. 27), von Paul Ortwin Rave, Die bildende Kunst, S. 557—601 ; Werner Bollert, Musikleben, S. 603—656, sowie Renate Böschenstein-Schäfer, Das literarische Leben. 1800 bis 1850, S. 657—699.

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Eine Verklärung des preußischen Königtums, wie sie Novalis' „Christenheit oder Europa" gab, war für die Berliner Kultur eher untypisch: Ihre Intellektuellen, Literaten, Künstler und gebildeten Bürger standen zwar der Hohenzollern-Dynastie normalerweise nicht kritisch gegenüber, doch bewahrten sie von der Frühaufklärung bis zur Reichsgründung dezidiert ihr Eigenleben, und das besagte auch: Die kulturelle und die politische Rolle Berlins vom 18. Jahrhundert bis 1871 ergänzten sich, standen in einem gewissen Spannungsverhältnis, kamen aber nur in wenigen Zeitabschnitten zur Deckung. Und ein weiterer Punkt muß abschließend wiederholt werden. Vom 18. Jahrhundert bis 1871 nahm zwar Berlins kulturelle und politische Bedeutung atemberaubend zu, doch die einzige Kulturmetropole, wie es London oder Paris in ihren Staaten waren, wurde Berlin in Deutschland nie 31 — nicht einmal in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, als sein politischer und kultureller Rang auf einen Höhepunkt gelangte: Selbst dann erhielt sich die historisch bedingte deutsche Vielgestaltigkeit — während die Modernität dieser Jahre nirgendwo mitreißender als in Berlin zum Ausdruck kam.

Siehe den instruktiven Vergleich zwischen Berlin, Wien und München bei Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815 bis 1866 (= Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 2), Berlin 1985, S. 343—384, für die Jahre zwischen Revolution und Reichsgründung. 31

Berlins Rolle in den Kriegen gegen Napoleon HAGEN

SCHULZE

München

Ob Napoleon bei seinem Einzug durch das Brandenburger T o r am 26. Oktober 1806 von den schaulustigen Berlinern wirklich mit Jubel begrüßt wurde, ist umstritten. Patriotische Preußen haben diese Unterstellung mit Empörung zurückgewiesen,1 andere Beobachter dagegen sprechen von dem donnernden Beifall derselben Menge, die noch acht Tage zuvor ganz anderen Gefühlen Ausdruck verliehen habe.2 Unbestritten ist jedenfalls, daß die Bevölkerung die Okkupation Berlins durch französische Truppen nach der Schlacht von Jena und Auerstedt einstweilen durchaus nicht unerträglich fand. Die Erwartungen waren die zeitüblichen gewesen, man hatte Gerüchte vom mordenden, plündernden und brandschatzenden Feind gehört und war jetzt um so erleichterter, als sich diese Erwartungen als durchaus ungerechtfertigt erwiesen. Man atmete auf so Varnhagen v. Ense, als man statt wilder, racheschnaubender Plünderer wohlgeordnete muntere Soldaten fand, die man schon durch Französischreden völlig zu entwaffnen schien, und deren Offiziere sich größtenteils durch höfliche Manieren auszeichneten.3 Der 1 Sophie Gräfin Schwerin, Vor hundert Jahren. Erinnerungen der Gräfin Sophie Schwerin geh. Gräfin von Dönhoff, Hrsg. von Amalie v. Romberg, Berlin 1909, S. 178; Friedrich Meusel (Hrsg.) Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege, 2 Bde., Berlin 1908—1913, Bd. 1, S. 190— 192; Friedrich Wilhelm Gubitz, Erlebnisse. Nach Erinnerungen und Aufzeichnungen, Bd. 1—3, Berlin 1868—1869, Bd. 3, S. 114—117. 1 Der bayerische Gesandte in Berlin Graf de Bray an den bayerischen König, 31. 10. 1806, in; Haupt-Staatsarchiv München, M A 2589. 3 Karl August Varnhagen v. Ense, Denkwürdigkeiten des eigenen Lehens, hrsg. von Konrad Feilchenfeldt, Bd. 1 (= Karl August Varnhagen v. Ense, Werke in fünf Bänden, Bd. 1) (= Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 22), Frankfurt/Main 1987, S. 394.

Hagen

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Schulze

österreichische Geschäftsträger, gewiß den Franzosen nicht wohlgesonnen, berichtete nach Wien, eine ruhigere und friedlichere Stadt als das besetzte Berlin sei kaum vorstellbar, die Einwohner wie das Gewerbe würden geschont, wo dies nur möglich sei, und das französische Militär bewege sich unbelästigt und mit erkennbarer Zustimmung durch die Einwohner in den Straßen der Stadt — eine Folge der weisen und zurückhaltenden Administration durch Generalgouverneur Clarke und Stadtkommandant Hulin. 4 So beschränkte sich die Gegnerschaft gegen die Besatzungsmacht einstweilen auf relativ wenige Personengruppen, hauptsächlich auf Teile der preußischen Beamtenschaft, soweit diese nicht dem Hof nach Königsberg gefolgt war, und auf das Heer der von den Franzosen auf Ehrenwort aus der Gefangenschaft entlassenen preußischen Offiziere, von denen ein französischer Polizeirapport zu berichten wußte, daß sie sich Tag für Tag unter den Arkaden vor dem Café Josti in der Nähe des Schlosses versammelten, politischer Debatten pflogen und Aufruhr planten; ein Spitzel wollte ganz deutlich die Namen der Offiziere Schill und Hirschfeldt gehört haben, die derzeit in Pommern und Schlesien einen Guerillakrieg gegen französische Fourage-Kolonnen führten. 5 Aber diese Personengruppen waren bekannt und leicht zu überwachen; davon abgesehen melden die französischen Polizeiberichte nur Friedliches: Die Mehrzahl der Bürger sei zufrieden, das Institut der nach französischem Vorbild in Berlin eingeführten Nationalgarden erfreue sich lebhaften Bewerberandrangs, und Tag für Tag enden die Berichte tranquille.'' mit dem lakonischen Satz: La ville est fort Dabei gab es durchaus Anzeichen für Unruhe, aber die fielen der Polizei nicht auf, oder sie interpretierte sie falsch. Es ist hier nicht der Ort, Überlegungen über die Fähigkeit von Behörden zur adäquaten Wirklichkeitswahrnehmung anzustellen; offenbar war man seitens der französischen Militärbehörden zutiefst davon überzeugt, daß man eine Politisierung der öffentlichen Stimmung bei der politisch wie zivilisatorisch im Vergleich zu Frankreich zurückgebliebenen preußischen Bevölkerung nicht zu fürchten hatte.

4 Baron Binder an Staatskanzlei, 1 0 . 1 2 . 1 8 0 6 , in: Haus-, H o f - u n d Staatsarchiv Wien, Staatskanzlei, Diplomatische Korrespondenz, Preußen/89. 5 Contrôle de Police Militaire du Gouvernement Générale de Prusse à Berlin, 25. 2. 1807, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, IV. Hauptabteilung B Nr. 226.

6

A.a.O.,

passim.

Berlins Rolle in den Kriegen

gegen

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Napoleon

Daß die Einquartierung der fortwährend durch Berlin ziehenden Truppen schwer auf der Bevölkerung lastete, fiel den französischen Behörden nur dann auf, wenn beispielsweise ein verzweifelter Familienvater aus diesem Grund sein Haus in Brand steckte. 7 Der Berichterstatter merkt beruhigend an, daß es in den seltensten Fällen französische Soldaten seien, deren Betragen solche Exzesse hervorriefe, sondern in der Regel Mitglieder deutscher Rheinbund-Kontingente; besonders gefürchtet waren auch italienische Truppen. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit den französischen Soldaten nahm jedoch zu. Obwohl sich Marschall Victor, Nachfolger des Generals Clarke als General-Gouverneur, die größte Mühe gab, durch Strenge gegen die eigenen Truppen die Berliner zu beschwichtigen, ließ im Laufe der Zeit die französische Disziplin nach, die Schlägereien zwischen Soldaten und Berliner Zivilisten nahmen zu, und Anfang 1809 berichtete der bayerische Gesandte nach München, der Haß der Bevölkerung werde durch das anmaßende und rücksichtslose Benehmen der Besatzungstruppen genährt.8 Auch die wirtschaftliche Lage Berlins verschlechterte sich unter der napoleonischen Herrschaft, und zwar in dramatischer Weise. Die Kontinentalsperre, die französische Zollpolitik, die preußischen Kontributionen und der dadurch enorm angestiegene Druck der direkten wie der indirekten Steuerabgaben — alles das hatte eine dramatisch sich zuspitzende Geldknappheit und Teuerung zur Folge. Die französische Besatzungsmacht nahm die immer häufigeren Aufläufe vor Bäckereien und Plünderungen von Lebensmittelgeschäften lediglich zum Anlaß, die Zahl der Militärpatrouillen zu verstärken. Während Marschall Victor nach Paris meldete, die Berliner seien durchaus in der Lage, auch Pferdefleisch zu essen,9 berichtete ein britischer Agent aus Berlin nach London, nun sei die Zeit gekommen, mit Einsatz hoher finanzieller Mittel die Bevölkerung zum Aufstand gegen die Besatzungsmacht anzustacheln, as the whole population of Berlin, not so much animated by patriotism, as driven to despair by the misery which the contributions and

7 8

A.a.O., 26. 8. 1807. Graf Rechberg an den bayerischen König, 2 8 . 1 . 1 8 0 9 , in: Hauptstaatsarchiv Mün-

chen, MA 2592. 9

Rapport des Marschalls Victor an Major-General Berthier, 2 6 . 4 . 1 8 0 8 , in: Hermann

Granier (Hrsg.), Berichte aus der Berliner Franzosenzeit Berliner Geheimen

Staatsarchivs

1807—1809.

und des Pariser Kriegsarchivs,

Nach den Akten

des

Leipzig 1913, S. 221 f.

Hagen Schulze

78

other adverse circumstances have occasioned, is ready to rally round first Standard which is raised in its defense.10

the

Das war allerdings nur teilweise richtig; zwar nahm die wirtschaftliche Verelendung und damit die Unzufriedenheit der Berliner Bevölkerung zu, aber von einer Bereitschaft zu spontanen Widerstandshandlungen konnte einstweilen noch keine Rede sein. Zwar wurden zahlreiche Individuen wegen aufrührerischer öffentlicher Reden gegen den Kaiser oder gegen Frankreich festgenommen, zwar wurden trotz französischen V e r b o t s am Geburtstag des Königs und mehr noch der Königin die Privathäuser illuminiert, zwar herrschte gähnende Leere in den Kirchen, wenn anläßlich eines französischen Siegs oder des kaiserlichen Geburtstags die Pfarrer Huldigungsadressen von den Kanzeln zu verlesen hatten, aber es fehlten die Begriffe wie auch die Führung, um aus diesem dumpfen Widerstandswillen der Bevölkerung geschlossenes Handeln werden zu lassen. Was die Begriffe angeht, so lagen sie durchaus in der Luft, formuliert beispielsweise von J o h a n n G o t t l i e b Fichte, der im W i n t e r 1807/1808 in aller Öffentlichkeit seine „Reden an die deutsche N a t i o n " hielt, oder von Heinrich v. Kleist, dessen blutrünstige H a ß - und Totschlagslyrik zwar erst vom Beginn der Freiheitskriege an, also seit 1813, verbreitet wurde, dessen seit O k t o b e r 1810 erscheinende Zeitschrift „Berliner Abendblätter", übrigens mit finanzieller Unterstützung aus der österreichischen Gesandtschaft, aber so unverblümt gegen Napoleon Front machte, daß sie schließlich der amtlichen, frankreichfreundlichen preußischen Zensur zum O p f e r fiel. 11 Es bezeichnet die Blickverengung der französischen Aufklärung zur Genüge, daß diese Namen wie die anderer politisch agitierender Publizisten in den französischen Stimmungsund Polizeiberichten nirgendwo erscheinen. Was allerdings, und das zu R e c h t , bedrohlich schien, das waren die ständig in Berlin umlaufenden Gerüchte über den Krieg in Spanien,

10

Der in britischem Sold stehende österreichische Leutnant August Wagner an das

Foreign Office, o. D. (Anfang April 1809), in: Public Record Office London, F O 7 / 9 0 . 11

Helmut Sembdner, Die Berliner Abendblätter

ihre Redaktion

Heinrich v. Kleists, ihre Quellen

und

(= Schriften der Kleist-Gesellschaft, Bd. 19), Berlin 1939; zur Finanzie-

rung Kleists aus dem Geheimfonds der österreichischen Gesandtschaft in Berlin siehe den Bericht des österreichischen Gesandten Frhr. v. Wessenberg über die Verwendung der im Jahre 1809 zu geheimen Auslagen ausgewiesenen Gelder, Wien, 4. 11. 1811, in: Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Staatskanzlei, Diplomatische Korrespondenz, Preußen/94.

Berlins Rolle in den Kriegen gegen

Napoleon

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Gerüchte, in denen die französische Seite stets schlecht dastand.12 Und so war es nicht verwunderlich, daß Major v. Schill, als er, beflügelt von der Nachricht vom Ausbruch des österreichisch-französischen Kriegs und benebelt von der romantischen Idee, die heimliche Unterstützung der Königin Louise zu besitzen, am 28. April 1809 an der Spitze seines Husarenregiments Berlin verließ, von der Berliner Bevölkerung zwar bejubelt wurde, daß sein Beispiel aber nicht Schule machte. Nun ist der Schill fort! Der wird, uns schon befreien, hieß es in den Straßen Berlins,13 aber von der Bereitschaft, sich befreien zu lassen, zur Entschlossenheit, sich selbst zu befreien, war noch ein weiter Weg. Diesen Weg zu verkürzen, hatten sich mehrere teils im geheimen, teils offen operierende Gruppierungen preußischer patriotischer Aktivisten vorgenommen. Da war zuerst der vielgenannte „Tugendbund", eine in Königsberg 1808 von Honoratioren und Militärs zur Beförderung patriotischer Tugenden ins Leben gerufene Vereinigung, die zwar bereits im Mai 1809 wieder vom König verboten und offiziell aufgelöst worden war, aber in mehreren Orten Preußens Wurzeln gefaßt hatte und nun unter anderen Namen und dezentral, aber mit vorzüglichen gegenseitigen Verbindungen, weiterexistierte. In Berlin handelte es sich um den allgemein als „Reimerscher Kreis" bekannten Verein, der sich in der Regel im Charlottenburger Haus des Buchhändlers Georg Andreas Reimer versammelte, daneben aber auch unter anderen Namen wie „Charlottenburger Kreis" oder „Schießende Gesellschaft" auftrat, welch letztere Bezeichnung einiges über die wirklichen Ambitionen dieser Gruppe sagt.14 Und wirklich handelte es sich keineswegs, wie man noch kürzlich lesen konnte, um eine harmlose, um Diskussion und Meinungsbildung bemühte Kommunikationsgruppe,15 sondern um einen

12 Controle de Police Militaire . . . (wie Anm. 5), 19. 8.1808, 31. 8.1808, 7.10.1808, 8.10.1808, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, IV. Hauptabteilung B Nr. 226. 13 Oberpräsident Sack an den Minister des Inneren Graf Dohna, Berlin, 2.5.1809, in: H. Granier, Berichte ... (wie Anm. 9), S. 423. 14 Theodor Roller, Georg Andreas Reimer und sein Kreis. Zur Geschichte des politischen Denkens in Deutschland um die Zeit der Befreiungskriege, Berlin 1924; Alexander Scharff, Der Gedanke der preußischen Vorherrschaft in den Anfängen der deutschen Einheitsbewegung, Bonn 1929, S. 13—15. 15 So in der ansonsten vorzüglichen Arbeit von Dieter Düding, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland 1808—1847. Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung (= Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 3), München 1984, S. 42.

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Hagen Schulze

konspirativen Zirkel, der unter der tatsächlichen organisatorischen Leitung des Grafen von Arnim-Boitzenburg Aufstandspläne schmiedete, Verbindungen mit unzufriedenen preußischen Militärs, an der Spitze General Blücher, organisierte und eine Drehscheibe für Kurierdienste darstellte, die zwischen dem österreichischen Böhmen und England Nachrichten, Agitationsmaterial und Subsidien transportierten und verteilten; der wirkliche Mittelpunkt dieser Gruppe war ein Agent des britischen Foreign Office mit Namen Alexander Gibson. 1 6 Daneben hatte sich in Berlin seit November 1810 ein „Deutscher Bund" gebildet, gegründet von den drei Berliner Lehrern Friedrich Ludwig Jahn, Friedrich Friesen und Wilhelm Harnisch. Der „Deutsche Bund" beruhte sehr viel stärker als der „Charlottenburger Kreis" auf völkisch-nationalen ideologischen Grundlagen, namentlich auf den von J a h n und von Ernst M o r i t z Arndt entwickelten Ideen; sein romantisches Geheimbundwesen, mit geheimer Schwurformel und dem Dolch, den jedes Mitglied stets bei sich zu tragen hatte, verdeckte jedoch, daß auch hier städtischer Mikrokosmos sich mit der großen Politik mischte. Jedenfalls diente diese Gruppierung zur Rekrutierung von Freiwilligen, die im Königreich Westfalen sowie in preußischen Provinzen guerillaartige Operationen gegen französische Nachschubkolonnen, aber auch gegen franzosenfreundliche Einwohner durchführen und Nachrichten über französische Truppenverschiebungen sammeln sollten. Organisiert wurde das von keinem Geringeren als dem Berliner Polizeipräsidenten Justus Gruner, und die Geldmittel kamen diesmal aus der russischen Botschaft. 1 7

16

Der Charlottenburger Kreis war nur ein kleiner Teil eines ganz Norddeutschland

umfassenden Organisationsnetzes, das von London aus teils durch das Foreign Office, teils vom hannoverschen Minister Graf Münster organisiert und geleitet wurde. Die näheren Zusammenhänge werde ich, fußend auf bislang unausgewertetem Material des Public Record Office London, demnächst veröffentlichen. 17

Zum „Deutschen Bund" siehe A. Scharff, Gedanke ...

Erwin Rundnagel, Friedrich

(wie Anm. 14), S. 2 6 — 3 1 ;

Friesen. Ein politisches Lebensbild,

vor allem S. 6 3 — 6 6 ; Wolfgang Schröder, Burschenturner

München-Berlin 1936,

im Kampf

um Einheit

Freiheit, Berlin [ O s t ] 1967, S. 8 0 — 8 8 ; D. Düding, Organisierter gesellschaftlicher

und

Natio-

nalismus ... (wie Anm. 15), S. 42—45. Die weitergehenden Informationen über den „Deutschen Bund" als Rekrutierungsbüro für russische Geheimdienstoperationen ergeben sich aus den bei der Verhaftung Justus Gruners 1812 in Prag aufgefundenen Unterlagen, in: Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Staatskanzlei, Notenwechsel mit der Polizeihofstelle, Kart. 56, und aus einem ausführlichen Bericht des hannoverschen Agenten in Wien, Graf Hardenberg, an Graf Münster, 9 . 1 1 . 1 8 1 2 , in: Public Record Office London, F O 34/4.

Berlins Rolle in den Kriegen gegen

Napoleon

81

Daß sich diese beiden Gruppierungen trotz gleichgerichteter patriotischer Interessen nicht zusammentun konnten, lag zum einen an den keineswegs einhelligen politischen Vorstellungen ihrer jeweiligen Geldgeber, zum anderen daran, daß die Mitglieder des „Deutschen Bunds" im „Charlottenburger Verein" eine reaktionäre Adelsclique ohne hinreichende völkisch-nationale Gesinnung sahen. 18 Wie weit an dieser Stelle im kleinen bereits Spannungen sichtbar wurden, die später die deutsche Nationalbewegung behindern sollten, kann an dieser Stelle aus Zeitgründen nicht erörtert werden. Das waren Tätigkeiten, die sich hinter den Kulissen abspielten und deren Auswirkungen sich erst in den Freiheitskriegen, mehr sogar erst nach deren Ende zeigen sollten. Viel einprägsamer trat dagegen eine dritte Gruppierung auf, die von Friedrich Ludwig Jahn 1811 auf der Berliner Hasenheide gegründete „Turngesellschaft", die näher vorzustellen angesichts ihres Bekanntheitsgrads hier kaum notwendig erscheint. Der Verein umfaßte zunächst etwa 200 Türner, hauptsächlich Gymnasiasten und Studenten, denen sich im Laufe der Monate zahlreiche Berliner Bürger anschlosssen. Man turnte, um gemäß der Jahnschen Programmatik nicht nur die körperlichen, sondern auch die Willenskräfte zu trainieren, unternahm aber auch Nachtmärsche und militärische Geländespiele und übte sich im Fechten und Armbrustschießen, um für den Krieg gegen die Franzosen bereit zu sein. Die wichtigste Wirkung der Turnbewegung lag aber in ihrem öffentlichen Auftreten, in ihrem mobilisierenden Vorbild, in ihrem nationalpädagogischen Charakter. 19 Nachdem die Ereignisse des Jahres 1809, das Scheitern Schills in Stralsund und der Sieg Napoleons über die österreichischen Armeen, und später dann das Bündnis Preußens mit Frankreich zu einer tiefen Demoralisierung der Berliner Bevölkerung geführt hatten, erwachte der Widerstandsgeist erneut mit dem Zug der Grande Armée nach Rußland im Frühsommer 1812. Berlin war ein Nadelöhr; hier bündelten sich die west-östlichen Fernstraßen, und so wälzte sich binnen weniger Wochen das gesamte französische Heeresaufgebot durch die preußische Hauptstadt. Einquartierungen, Requirierungen, Belästigungen

18

Bericht des Polizei-Agenten Jancke an Polizeiminister Fürst Wittgenstein, 27. 9.

1819, betr. den Deutschen Bund, in: Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Staatskanzlei, Deutsche Akten, alte Reihe/103. 19

D. Düding, Organisierter

S. 50—58.

gesellschaftlicher Nationalismus

...

(wie Anm. 15), v.a.

82

Hagen Schulze

auf den Straßen durch übermütige Militärs und die enorme Teuerung, verursacht durch die Beschlagnahme aller erreichbaren Lebensmittel durch die französischen Fouragekommissionen, schürten in der Bevölkerung eine dumpfe Wut. Im Laufe des August 1812 kam es zu antifranzösischen Straßenkrawallen, namentlich am Geburtstag des Kaisers, und der französische Gesandte Graf Saint-Marsan meldete besorgt nach Paris, die bislang überwiegend gleichgültige Bevölkerung wende sich in ihrer Stimmung jetzt massiv gegen das französische Bündnis Preußens; selbst der Name des Königs, der bislang sakrosankt gewesen sei, werde vermehrt in den Straßen verächtlich gemacht, da er vom Bündnis mit Napoleon nicht ablasse, wofür der Graf Saint-Marsan in erster Linie russische Flugblätter verantwortlich machte, die in Berlin ohne merkliches polizeiliches Eingreifen zirkulierten. 20 Der französische Gesandte war nicht der einzige, der einen tiefgreifenden Wechsel in der Stimmung der Berliner Bevölkerung wahrnahm; auch der bayerische Geschäftsträger in Berlin meldete ähnliches nach Hause, 2 1 und in der T a t wird in den folgenden Monaten spürbar, daß den preußischen Behörden, die einstweilen auch nach der Niederlage der Grande Armée und nach dem Seitenwechsel des Generals Yorck eisern an der Loyalität zu Frankreich festhielten, die Kontrolle über die öffentliche Meinung in der Hauptstadt entglitt — der Polizeipräsident von Berlin zögerte nicht einmal, das Verbleiben der französischen Division Grenier in Berlin zu fordern, weil die Berliner Polizei nicht mehr imstande sei, der Unruhe der Bevölkerung Herr zu werden. 22 Dann kam das Freiwilligenedikt vom 3. Februar 1813 und damit die Kanalisierung jenes nationalen Begeisterungstaumels, der in manchen Erscheinungsformen Ähnlichkeit mit den „journées révolutionnaires" des französischen Nachbarn zwanzig Jahre zuvor besaß. Allein Berlin stellte annähernd 9000 Freiwillige, also siebzehn Prozent der Berliner wehrfähigen Bevölkerung, hauptsächlich Schüler, Studenten, Beamte und vor allen Dingen Handwerksgesellen, die fast die Hälfte der Frei-

20 C o m t e de Saint-Marsan an den D u c de Bassano, Berlin, 23. 8. 1812, in: Q u a i d'Orsay Paris, C . P. Prusse/251. 21 Graf Hertling an den bayerischen König, Berlin, 21.1.1813, in: Haupt-Staatsarchiv München, M A 2595. 22 Bulletin particulier du Ministre de Police, 24.1.1813, in: Archives Nationales Paris, F 7 6349.

Berlins Rolle in den Kriegen gegen Napoleon

83

willigenkontingents ausmachten. 23 Für sie galt, was der englische diplomatische Agent Freiherr v. Ompteda nach London meldete: Wenn der König länger zaudert, so sehe ich die Revolution als unvermeidlich an.24 Das neue Element, das hiermit in die Öffentlichkeit trat, war die Idee der Freiheit in zweierlei Gestalt: Neben der Befreiung von Unterdrückung stand die Freiheit von obrigkeitlicher Bevormundung. Indem Friedrich Wilhelm III. nach langem Zögern und angstschlotternd am 1. März 1813 seinen Aufruf „An mein Volk" erließ, lenkte er schließlich doch noch das Wasser des Aufruhrs auf die Mühlen des preußischen Staats in seiner bestehenden Ordnung; bei späteren Anlässen sollte das Volk von Berlin nicht mehr so leicht zu lenken sein.

23 Diese Zahlen ergeben sich aus den Auswertungen der Stammrollen preußischer Freiwilligeneinheiten, die Rudolf Ibbeken, Preußen 1807—1813. Staat und Volk als Idee und in Wirklichkeit (= Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz, Bd. 5), Köln-Berlin 1970, S. 4 4 1 — 4 4 9 , vorgenommen hat, korreliert mit der Berliner

Einwohnerstatistik v o n 1 8 1 3 , die ihrerseits hochgerechnet ist aufgrund der Angaben bei Leopold K r u g , Abriß der neuesten Statistik des preußischen Staats, 2. A u f l . , Halle 1805, S. 1 2 — 2 6 . Daß auf diese Weise lediglich Annäherungswerte zu erzielen sind, liegt auf der Hand. 24 Frhr. Ludwig v. O m p t e d a an Graf Münster, Berlin, 3 1 . 1 . 1 9 1 3 , in: Public Record O f f i c e London, F O 34/6.

Die Revolution 1848/49 in Berlin im Vergleich WOLFGANG HARDTWIG Erlangen

Die Formulierung des Themas „Die Revolution 1848/49 in Berlin im Vergleich" eröffnet ein schier unüberschaubares Problemfeld. Da es angesichts des knappen R a u m e s unmöglich ist, seine Dimensionen auszumessen, bleibt nur die Möglichkeit, sich auf einige Hauptgesichtspunkte zu konzentrieren. Es soll also im folgenden eine Auswahl getroffen und versucht werdern, Berlin mit W i e n als Metropole vergleichbarer Größenordnung, mit München als einer Hauptstadt des dritten Deutschland und mit Bremen als Exempel einer Stadtrepublik punktuell zu vergleichen. Einzelne Gesichtspunkte, die die vergleichende Untersuchung zweifellos lohnen würden, wie etwa die Vereins-, Verbands- und Parteienentwicklung oder die sprunghafte Umformung der Öffentlichkeit, müssen unberücksichtigt bleiben. Der Schwerpunkt der folgenden Überlegungen liegt auf der Frühphase der Revolution. Genauer behandelt werden sollen: 1. das Verhältnis von Staatsstruktur und innerstädtischem Revolutionsverlauf; 2. das Verhältnis von vorrevolutionären Verfassungsstrukturen, Reform und Revolutionsverlauf; und 3. die Wirtschafts- und Sozialstruktur und die Träger kollektiver Gewaltaktionen. Vorab sollen in Stichworten die wichtigsten Stationen der Berliner Revolution in Erinnerung gebracht werden. Die Berliner Revolution beginnt in ähnlichen Formen wie in anderen Städten am 6. M ä r z mit einer Reihe von Volksversammlungen, die die Märzforderungen erheben. 1 Die Konzentration von Truppen seit dem

1 Zur Geschichte der Revolution vgl. allgemein Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution 1848—49, 2 Bde., Berlin 1930—1931; Rudolf Stadelmann, Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, 2. Aufl., Darmstadt 1962; Dieter Langewiesche (Hrsg.), Die deutsche Revolution von 1848/49 (= Wege der Forschung, Bd. 164), Darmstadt 1983, dort bes. die Beiträge in Abschnitt III: Soziale und politische Pro-

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Wolfgang

Hardtwig

13. März steigert die Spannung und führt zu einzelnen Gewalttaten; Konzessionen am 17./18. März: Die Aufhebung der Zensur und die Einberufung des Vereinigten Landtages auf den 2. April genügen nicht mehr. Die ominösen zwei Schüsse bei der großen Dankkundgebung auf dem Schloßplatz am 18. März lösen eine blutige Straßen- und Barrikadenschlacht aus. Daraufhin vollzieht der König seinen Kurswechsel, der sich in folgenden Entscheidungen niederschlägt: dem Abzug der Truppen aus Berlin gegen den Widerstand der Militärpartei bei Hof, dem Umritt des Königs durch Berlin mit der schwarz-rot-goldenen Fahne und der Erklärung, er habe sich in Berlin noch nie so sicher gefühlt wie unter dem Schutz seiner Bürger, sowie der Proklamation vom 21. März: Preußen geht fortan in Deutschland auf. Am 29. März folgt die Berufung von konstitutionell gesinnten Adeligen und liberalen Wirtschaftsbürgern zum Kabinett Camphausen-Hansemann-von Auerswald. Der für den 2. April berufene Vereinigte Landtag beschließt am 18. April Wahlen zu einer Nationalversammlung mit der Aufgabe, eine preußische Verfassung zu vereinbaren. Wahlen — Urwahlen und Abgeordnetenwahlen — zu der egalitärsten der deutschen Kammern finden am 1. und 8. Mai statt. Der Klassenkonflikt zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft bricht erstmals manifest am 14. Juni beim Berliner Zeughaussturm aus. Bei der Bildung der Bürgerwehr sollten die Arbeiter von der „allgemeinen Volksbewaffnung" ausgeschlossen werden. Als sie sich daraufhin, durch Studenten unterstützt, selbst Waffen verschaffen wollen, wird ihr Aufruhr durch Militär und Bürgerwehr niedergeschlagen. Der Konflikt um die zentrale Machtfrage der Revolution, den Besitz der Waffen beziehungsweise die Verfügungsgewalt über das Militär, treibt auch die Polarisierung in der Nationalversammlung und zwischen Nationalversammlung und Regierung voran: Er kulminiert zunächst in dem mit großer Mehrheit angenommenen Antrag vom 9. August auf einen

bleme; T h o m a s Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800—1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 5 9 5 — 6 7 0 ; Reinhard R ü r u p , Deutschland im 19. Jahrhundert. 1815—1871 (= Deutsche Geschichte, Bd. 8), G ö t t i n g e n 1 9 8 4 , S. 1 7 0 — 1 9 6 ; W o l f r a m Siemann, Die deutsche Revolution

von 1848/49 (= Neue Historische Bibliothek), Frank-

f u r t 1985; Dieter Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815— 1849 (= Oldenbourg G r u n d r i ß der Geschichte, Bd. 13), München 1 9 8 5 , S. 7 1 — 1 1 2 ; G ü n t e r Wollstein, Deutsche Geschichte 1848/49. Gescheiterte Revolution in Mitteleuropa, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz

1 9 8 6 ; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche

schichte, 2 Bde., München 1987, Bd. 2, S. 5 8 9 — 7 8 0 .

Gesellschaftsge-

Die Revolution

1848/49

in Berlin im

Vergleich

87

kriegsministeriellen Erlaß, daß die Offiziere auf die Verwirklichung eines konstitutionellen Rechtszustands festgelegt werden sollen. An der Unmöglichkeit, im Preußen des Jahres 1848 das Militär gleichsam zu parlamentarisieren, scheitert die Regierung Hansemann-Auerswald, die damit aber immerhin so etwas wie die Macht des praktizierten Parlamentarismus beweist. 2 Drei Tage nach dem Rücktritt des Kabinetts, am 11. September, entwirft Friedrich Wilhelm IV. das Konzept einer stufenweisen Durchführung des gegenrevolutionären Staatsstreichs, die erleichtert wird durch einen Maschinensturm Berliner Kanalarbeiter am 16. Oktober; die gleichzeitige Tagung des 2. Demokratenkongresses verschärft die Spannung. Am 1. November beruft der König das Reaktionsministerium Graf Brandenburg, am 27. November ordnet er die Verlegung der Nationalversammlung nach Brandenburg an. Der Ungehorsam der weiter tagenden Abgeordneten und der passive Widerstand der an sich revolutionsmüden Bürgergarde, die sich weigert, gegen das Parlament vorzugehen, liefern den Vorwand für den Einmarsch der T r u p p e n Wrangeis in Berlin am 10. November, für die Verhängung des Belagerungszustands und des Kriegsrechts, die Auflösung der Bürgerwehr, das Verbot aller politischen Vereine, die Beschränkung der Versammlungs- und Preßfreiheit — alles ohne gewaltsame Gegenwehr. Am 5. Dezember löst der König die Nationalversammlung endgültig auf und oktroyiert seinerseits eine Verfassung. In zeitlicher Perspektive kann Berlin keinerlei Vorrang im Revolutionsablauf für sich reklamieren. Die ersten Vorboten der Revolution — vielfach als Revolutionsbeginn interpretiert — zeigten sich in München mit Studententumulten seit dem 31. Januar und den Versammlungen der Münchener Bürger am 10./11. Februar. Die gesamtdeutsche Revolutionsdynamik kam von Baden aus in Gang mit der Mannheimer Volksversammlung vom 27. Februar; die Unruhen in Preußen setzten mit der ersten Sozialrevolutionär gefärbten Volksversammlung in Köln am 3. März ein. T r o t z der zeitlichen Verzögerung kommt der Berliner Revolution aber natürlich eine besondere Bedeutung zu. Sie ergibt sich aus der Funktion der Stadt als Metropole des zweiten deutschen Großstaates; 3 aber sie hat mehrere Seiten, die unterschieden werden wollen.

2

W. Siemann, Die deutsche Revolution ... (wie Anm. 1), S. 171. Vgl. dazu allgemein: Theodor Schieder/Gerhard Brunn (Hrsg.), Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten (= Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 12), München 1983, darin u. a. Gerhard Brunn, Die deutsche Einigungsbewegung mit dem Aufstieg Berlins zur deutschen Hauptstadt, S. 15—33; Richard Dietrich, Von der 3

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Als Sitz von Regierung, Verwaltungsspitzen und Militär beherbergt Berlin die staatlichen Machtträger, ergänzt durch die Anwesenheit eines neugewählten Parlaments. Hinzu kommen die Sonderstellung der hauptstädtischen Urbanen Kultur und die wirtschaftliche Metropolfunktion mit ihren Konsequenzen für den Sozialkörper der Stadt: die Anwesenheit von Studenten; die Konzentration von freier Intelligenz — Literaten, Journalisten; die Ansammlung von Arbeitern und Handwerkern unter anderem in den vom Eisenbahnbau geförderten Maschinenbaubetrieben. Dies alles unterscheidet Berlin nicht von Wien und nur graduell von München, allerdings wesentlich von Bremen. Die Metropolfunktion verschärft darüber hinaus hier wie in Wien oder München die latent bei allen Städten vorhandene Stadt-UmlandSpannung beziehungsweise den Stadt-Land-Konflikt und lädt ihn politisch auf. Hier setzen nun die Gemeinsamkeiten und zugleich die charakteristischen Divergenzen im Vergleich zu den übrigen Hauptstädten ein. I

Reicbs-(Staats)struktur

und innerstädtischer

Revolutionsverlauf

In Bremen existiert sehr wohl ein Stadt-Umland-Konflikt, aber er fällt bei der geringen Ausdehnung des nichtstädtischen Territoriums kaum ins Gewicht.4 In München blieb der Stadt-Land-Konflikt, der hier auch das Verhältnis der Landeshauptstadt zu den anderen bayerischen Städten einschließen soll, politisch indifferent. Der Kürze halber mit einem zeitgenössischen Kritiker gesprochen: Der geistig trägste, industriell schlaffste, confessionell starrste, sozial zurückgebliebenste

Lan-

desteil [gemeint ist Altbayern und damit auch München, W. H.] gab... stets die Norm für ganz Bayern ab.5 In Berlin versuchte der J u n k e r

Residenzstadt zur Weltstadt. Berlin vom A nfang des 19. ]ahrhunderts bis zur Reichsgründung, in: Das Hauptstadtproblem in der Geschichte. Festgabe zum 90. Geburtstag Friedrich Meineckes (= Jahrbuch für Geschichte des deutschen Ostens, Bd. 1), Tübingen 1952, S. 111—139. 4 Zu Bremen stütze ich mich vor allem auf Werner Biebusch, Revolution und Staatsstreich. Verfassungskämpfe in Bremen von 1848 bis 1854 (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 40), Bremen 1974. 5 Aurelio Buddeus, Baiern unter den Ubergangsministern von 1847—1849, Erster Abschnitt: Vom Sturze Abels bis zu König Ludwigs Thronentsagung, in: Die Gegenwart 7 (1852), S. 688—758, hier S. 746; der Hinweis auf Buddeus in der gehaltvollen und sorgfältigen Dissertation von Karl-Joseph Hummel, München in der Revolution von

Die Revolution

1848/49 in Berlin im Vergleich

89

Bismarck-Schönhausen den Stadt-Land-Konflikt in der Form einer gegenrevolutionären Militäraktion von Adel und Bauern gegen den städtischen Sozialkörper groß in Szene zu setzen, kam aber nicht zum Zuge. Von entscheidender Bedeutung ist dagegen die Stadt-LandSpannung beziehungsweise die Reichsstruktur für den Revolutionsablauf in Wien. 6 Der hohe Anteil der grundbesitzenden Bauern im frischgewählten österreichischen Reichstag hat die Energien des Reichstags wesentlich von Verfassungsfragen abgelenkt und auf die Agrarfrage konzentriert — früher und vollständiger als andernorts sind die Bauern mit der Beseitigung der Feudalstruktur aus der Revolution ausgeschieden. Wäre es in Osterreich nur um Wien gegangen, so hätte die Revolution — anders als in Berlin — zweifellos gesiegt. 7 Da es aber um ganz Deutsch-Österreich ging und um das Habsburger Reich, stand mit der Revolution nicht nur das Verfassungssystem, sondern die Existenz des Gesamtstaats auf dem Spiel. Innerhalb Deutsch-Österreichs ermöglichte es der Stadt-Land-Gegensatz, daß sich der Hof, während in Wien die Revolution herrschte, gefahrlos nach Innsbruck zurückziehen konnte, um von dort aus die Gegenrevolution zu planen. Und die VielvölkerStruktur des Reiches erleichterte indirekt, aber sehr wirkungsvoll den ungehemmten Militäreinsatz gegen Wien. Wollte das Reich überleben, dann forderten die Aufstände der Nationalitäten bereits frühzeitig den Einsatz militärischer Gewalt — so die bedenkenlose und erfolgreiche Niederschlagung des Krakauer Aufstandes schon am 26. April 1848. So wie die Revolution in Wien die Revolution in Prag beflügelt hat, so diente auch die Bombardierung Prags im Juni 1848 als Muster für die

1848/49 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 30), Göttingen 1987, S. 13. 6 Einen guten Einstieg in Probleme des Stadt-Land-Verhältnisses geben noch immer die Aufsätze in: Studium generale 16 (1963); anregend über das engere Untersuchungsgebiet hinaus: Klaus Tenfelde, Stadt und Land in Krisenzeiten. München und das Münchener Umland zwischen Revolution und Inflation 1918 bis 1923, in: Wolfgang Hardtwig/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1870 bis 1929, München 1990, S. 37—58. 7 Vgl. W . Siemann, Die deutsche Revolution ... (wie Anm. 1), S. 88, sowie zum Verhältnis des reichsdeutschen Wien zu den „vier Revolutionen" in Wien selbst, in Italien, Ungarn und Böhmen: G . Wollstein, Deutsche Geschichte 1848/49 ... (wie Anm. 1), S. 26—35; die zentrale Rolle der Wiener Revolution f ü r das gesamte deutsche Revolutionsgeschehen und die Zuspitzung der Wiener Oktoberrevolution zu einem Versuch, den ganzen Staat von der Hauptstadt aus zu revolutionieren, betont T. Nipperdey, Deutsche Geschichte ... (wie Anm. 1), S. 641.

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militärische Niederwerfung Wiens. Schließlich ging der entscheidende Richtungswechsel in Osterreich von der Peripherie, von Oberitalien und Innsbruck aus. Während das Märzministerium in Wien eine selbständige Lombardei anerkennen wollte, gewann Feldmarschall Radetzky mit Hilfe seines Adjutanten Schwarzenberg von Oberitalien aus den Hof. Zunächst mit der Absicht, die Reichseinheit zu verteidigen, gingen H o f und Militär fern von Wien die Koalition ein, die bald darauf die militärische Unterdrückung der Wiener Revolution ermöglichte.

II Vorrevolutionäre

Verfassungsstrukturen, Reformbewegung Revolutionsverlauf

und

Am gewaltlosesten ging die Transformation zu einer demokratischrepublikanischen Verfassung auf dem Boden der Freien Hansestadt Bremen vor sich. Die auf Verträgen zwischen R a t und Bürgerschaft aus den Jahren 1433 und 1534 beruhende patrizische Senatsverfassung und das Gemeinschaftsbewußtsein der Stadtgesellschaft erwiesen sich als flexibel genug, um die im wesentlichen von zwei Vereinen getragenen Opposition sofort mit Ausbruch der Unruhen so weit zu integrieren, daß eine auf egalitärem Wahlrecht, aber lebenslanger Amtszeit der Senatoren beruhende Verfassung ausgearbeitet werden konnte, die von der Mehrheit der Bremer Einwohner bejaht wurde. 8 In München und Berlin erwies sich, daß die Existenz von Kammern und einer einflußreichen Elite von Parlamentariern erheblich dazu beigetragen hat, die Wucht der Märzrevolution abzufangen und in die Bahnen geregelter Reformpolitik zu lenken, den revolutionären Impuls damit aber auch zu lähmen. In München forderte die 2. Kammer am 20. September 1847 in überaus höflichen Wendungen mehr Ministerverantwortlichkeit. 9 Der 1845 gewählte Landtag beschloß nach sachlicher Zusammenarbeit mit der Märzregierung am 4. Juni 1848 das entscheidende Bündel der Reformgesetze, von der Wahlreform über die Aufhebung der Grundherrschaft bis zur Justizreform. Nur die Reform der Reichsrätekammer gelang nicht. Die Reichsräte ihrerseits hatten aber als Gesamtheit wie mit einzelnen profilierten Vertretern, wie dem Freiherrn von R o tenhahn und dem späteren Reichsministerpräsidenten Karl von Lei-

8 9

Vgl. W. Biebusch, Revolution und Staatsstreich ... (wie Anm. 4), S. 20 ff. K.-J. Hummel, München in der Revolution von 1848/49 ... (wie Anm. 5), S. 26.

91

Die Revolution 1848/49 in Berlin im Vergleich

ningen, entscheidenden Anteil am frühzeitigen Rücktritt Ludwigs I., der die Revolutionsgefahr in München restlos und definitiv beendete. Der ehemalige Abgeordnete von Closen, in den Kammerkämpfen 1830 bis 1832 Hauptträger der Opposition, vertrat jetzt als bayerischer Bundesgesandter kräftig die Belange der bayerischen Selbständigkeit. 10 Auch in Berlin hatte die — wenn auch stärker gehemmte — Formierung einer parlamentarischen Opposition im rheinischen Provinziallandtag und im Vereinigten Landtag dafür gesorgt, daß im März eine bereits etablierte liberal-konservative Elite bereitstand, die im Ergebnis die Monarchie gegen den Druck von Volkserhebung und demokratischen Forderungen abschirmte. Nur in Wien war die Spannung zwischen dem Restaurationsregiment Metternichs und der vollständig unterdrückten bürgerlichen Opposition so groß, daß es im März nicht zur Bildung eines liberalen Ministeriums kam, daß die im „Juridisch-politischen Leseverein" gesammelte liberal-konservative Führungsschicht die Verantwortung scheute und daß demgegenüber von Anfang an der demokratische Radikalismus sehr viel stärker zum Zuge kam als in Berlin . Daher polarisierten sich die Gegensätze auch stärker und früher an der Frage einer neuen Verfassung. In Berlin wurde der schon im Mai von der Regierung vorgelegte Verfassungsentwurf allmählich im Lauf der Beratungen durch die „Charte Waldeck" ersetzt, in Wien dagegen oktroyierte die aus vormärzlichen Bürokraten bestehende Regierung am 25. April 1848 die sogenannte Pillersdorfer Verfassung, die den stärksten Widerspruch erregte und zur weiteren Politisierung, Radikalisierung und politischen Institutionalisierung der Wiener Revolution führte. 11 Der Versuch, das politische Zentralkomitee aus Akademischer Legion und Nationalgarde aufzulösen, brachte eine neue revolutionäre Welle in Gang, die „Mairevolution". Gewaltsam erkämpften die Träger der Wiener Revolution dann die Konzession eines konstituierenden Reichstags mit Einkammersystem und allgemeinem Wahlrecht unter Einfluß der „selbständigen Arbeiter". In Wien wurde der Kampf um die Macht in offener militärischer Konfrontation ausgetragen, dagegen spielte er sich in Berlin vorwie-

10

Z u m Stellenwert der Kammeropposition in der Vorgeschichte der Revolution vgl.

Wolfgang Hardtwig, Vormärz.

Der monarchische Staat und das Bürgertum

(= Deutsche

Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart), München 1985, S. 60 ff. 11

Zu Wien vgl. Wolfgang Häusler, Von der Massenarmut

Demokratie

zur

Arbeiterbewegung.

und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848, Wien-München 1979.

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gend als „Verfassungskampf" der Berliner Nationalversammlung unter Einwirkung „außerparlamentarischer Kräfte" ab. 12 In München kam zudem der mit Ludwig seit Jahrzehnten auf Kriegsfuß stehenden bürgerlichen Selbstverwaltung eine ganz wesentliche Rolle zu. Zielstrebig und in der Durchführung höchst wirkungsvoll vertrat der Bürgermeister Kaspar von Steinsdorf einerseits die Bürgerwünsche vor dem König, andererseits gelang es ihm, gerade indem er als Bürgermeister auftrat, den Anschein der Legalität des Bürgerprotestes zu wahren. Geleitet von dem Wunsch nach Ruhe und Ordnung, nötigte er im Interesse einer monarchisch-konservativen Reformpolitik Ludwig zum Rücktritt. 1 3 Schließlich ist auch die Rolle der konservativen, hochkonservativen und liberalkonservativen informellen und bekanntlich höchst einflußreichen Beraterkreise von den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen nicht unabhängig. In München lenkte ein liberalkonservativer Kreis die Monarchie zur Reformpolitik: Standesherren wie Rotenhahn und Karl von Leiningen, ergänzt durch Bluntschli und die Brüder Rohmer — alle strikt konstitutionell-monarchisch. In Berlin formierte sich bereits Ende März die hochkonservative Kamarilla, vormärzlich antikonstitutionell, aber vorläufig einflußlos und erweitert immerhin durch den Vertreter eines parlamentarisch ergänzten „monarchischen Prinzips", Friedrich Julius Stahl. In Wien und Innsbruck wird die Gegenrevolution von einer rein höfisch-militärischen Clique gesteuert, angeführt von Prinzessin Sophie und Fürst Schwarzenberg. III

Wirtschafts- und Sozialstruktur und die Träger kollektiver Gewaltaktionen Alle hier behandelten Städte litten in den Jahren vor der Revolution unter der bekannten doppelten Wirtschaftskrise, der letzten Krise des vorindustriellen Typs durch die Mißernten 1846/47 und der ersten zyklischen modernen Wirtschaftskrise des industriellen Typs seit 1847. 14 Aber auch hier zeigen sich große Divergenzen. In München

12

W . Siemann, Die deutsche Revolution

13

Vgl. K . - J . Hummel, München

... (wie Anm. 1), S. 170.

in der Revolution

von 1848/49

...

(wie Anm. 5),

S. 66 ff. 14

Vgl. vor allem Jürgen Bergmann, Ökonomische

von 1848. Zur Krise von 1845 bis 1848 in Deutschland, 200 Jahre amerikanische

Revolution

Voraussetzungen

der

Revolution

in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.),

und moderne Revolutionsforschung

(= Geschichte

Die Revolution

1848/49

in Berlin im

Vergleich

93

waren im Januar 1845 von 3152 heimatberechtigten Arbeitern 36,2 Prozent arbeitslos, was der Magistrat noch nicht bedenklich fand.15 Anfang 1847 war die Wirtschaftslage in ganz Bayern aber so kritisch, daß die Regierung Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch Straßenbau und Staatseisenbahnen beschloß. Angesichts der gestiegenen Getreidepreise zog der Magistrat der Stadt München im April 1848 mit Notstandsarbeiten nach. Die Beschäftigungskrise wurde verschärft durch die Krise der Münchener Baukonjunktur im Frühjahr 1847. Im Winter 1848/49 beschloß der Magistrat noch einmal ein Beschäftigungsprogramm, das für insgesamt 300 Mann Arbeit für 75 Tage schuf. Im ganzen war jedoch die Lage in München sehr viel entspannter als in Berlin. Entscheidend für das soziale Unruhepotential ist für beide Städte die Relation von Meistern und Gesellen: Berlin hatte 1801 12 000 Gewerbetreibende und 18 500 Gesellen und Lehrlinge, 1846 16700 Gewerbetreibende und 35000 Gesellen, pro 100 Meister gab es in Berlin 1801 103 Gesellen und 1846 180. 1 6 1841 bezahlten 75,5 Prozent aller Berliner Handwerker keine Steuern, 1849 sogar 83,1 Prozent. Da alle diese Handwerksmeister keine handwerkliche Vollstelle mehr besaßen, müssen sie als proletaroide Existenzen bezeichnet werden. Dagegen beweist schon die Liste des höchstbesteuerten Drittels der Münchener Bürger oder Heimatberechtigten, in der verschiedentlich Handwerker auftauchen, daß von 83,1 Prozent proletaroider Münchener Handwerker nicht die Rede sein kann; auch gab es keinen Gesellenstau. Die Zahl der Münchener Gesellen und Lehrlinge stieg von 7244 (1844) auf 7876 (1847), ging aber bis 1851 wieder auf 6804 zurück.

und Gesellschaft, Sonderh. 2), Göttingen 1976, S. 254—287; Reinhart Spree/Jürgen Bergmann, Die konjunkturelle Entwicklung der deutschen Wirtschaft 1840—1864, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 11), Göttingen 1974, S. 289—325; H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte ... (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 641—660. 15 Zit. nach K.-J. Hummel, München in der Revolution von 1848/49 ... (wie Anm. 5), S. 354. 16 Diese und die folgenden Daten nach K.-J. Hummel, München in der Revolution von 1848/49 ... (wie Anm. 5), S. 466—475; zu Berlin vgl. u. a. Dieter Bergmann, Die Berliner Arbeiterschaft in Vormärz und Revolution 1830—1850. Eine Trägerschicht der beginnenden Industrialisierung als eine neue Kraft in der Politik, in: Otto Büsch (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin!Brandenburg (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 6), Berlin 1971, S. 455—511, bes. S. 461—468.

94

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Hard

twig

Zwischen 1847 und 1861 nahm die Zahl der Münchener Meister um 145 Prozent zu, die Zahl der Gesellen aber nur um 19,9 Prozent. Zwar beklagten die Münchener Meister 1848/49 die Gefahren der Meisterkonkurrenz, aber im ganzen gewährten die Münchener Wirtschaftsstruktur und das Konzessionssystem dem Münchener Handwerk mehr Einkommen und Stabilität als das Berliner Handwerk. In Berlin überwiegt im Jahr 1846 die kleingewerbliche Arbeit die Fabrikarbeit noch erheblich, die Handwerker machen 1846 11,7 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, die 22 500 Fabrikarbeiter 5,8 Prozent. Trotzdem gab es mit der Beteiligung von einigen hundert entlassenen Borsig-Arbeitern im März bereits eindeutig auch den sozialen Protest des Fabrikproletariats. Er ist aber marginal im Vergleich mit Wien. Im Wiener Becken, besonders im Viertel unter dem Wienerwald, gab es ausgedehnte Textilindustrie, die extrem unter der Mechanisierung litt. Die ursprünglich hochqualifizierte und vergleichsweise gut bezahlte Arbeit der Webergesellen erhielt scharfe Konkurrenz durch Frauen- und Lehrjungenarbeit. Die Selbständigkeit der kleinen Meister in der Textilbranche wurde rasch ausgehöhlt. Zwischen 1837 und 1841 vermehrten sich die selbständigen Gewerbetreibenden nur um 7,8 Prozent, die „Fabrikanten" aber um 164 Prozent. 1 7 Hinzu kam die Arbeiterschaft aus den Lokomotivenfabriken für den frühen und umfangreichen österreichischen Staatseisenbahnbau und aus dem Maschinenbau (Buchschnellpressen und Spinnmaschinen). Von Anfang an haben die Wiener Unruhen sehr viel mehr als die Berliner den Charakter des gezielten und bewußten Maschinensturms (vor allem der Kattundrucker gegen die Perrotinen). Die Zahl der von der kommunalen Fürsorge Wiens erfaßten Personen stieg von 16966 (1843) auf 18956 (1848), die Zahl der Erwerbs- und Unterstandslosen nahm von 5745 (1840) auf 9161 (1847) zu, die Zahl der registrierten Bettler im gleichen Zeitraum von 4966 auf 8430. Zur Radikalisierung der Wiener Arbeiter hat zudem wesentlich die sogenannte Mietzinsbewegung beigetragen, in der die Demokraten die Forderung nach Erleichterung der unerträglich hohen Mieten mit politischen Forderungen verbanden, ein Sprengsatz ökonomisch-politischer Unruhe, den es so meines Wissens in Berlin nicht gegeben hat. Der kleine Mittelstand wurde wesentlich durch den Steuerdruck in Rage gebracht, der in einer Vielzahl von Pfändungen kulminierte. 18 17

Vgl. hierzu und zum folgenden W . Häusler, Von der Massenarmut

wegung ... (wie Anm. 11), S. 92 ff. 18

A.a.O.,

S. 130.

zur

Arbeiterbe-

Die Revolution

1848/49

in Berlin im

Vergleich

95

Diesen sozioökonomischen Ausgangsbedingungen entspricht nun jeweils die Sozialstruktur der Träger kollektiver Gewaltaktionen. Überall führte die Teuerung des Jahres 1847 zu gewaltsamem Protest mit Höhepunkten in Berlin im April 1847 und mit häufigen Plünderungen von Bäckerläden in den Wiener Vorstädten. Charakteristisch ist dann die Sozialstatistik der Märzgefallenen: In Bremen und München gab es keine Toten, in Berlin waren von insgesamt 303 im März Gefallenen oder an Verwundungen Gestorbenen sogenannte Arbeitsleute und Proletarier: 52; Gesellen: 115; Meister: 29; Diener und Kleinhändler: 34; sogenannte gebildete Stände: 15.19 Von den 48 Wiener Märztoten gehörte ein Fünftel zum Bürgertum, die anderen Gefallenen setzen sich aus Handwerksgesellen, Tagelöhnern und Lehrjungen zusammen. 20 Die nur ungenaue Statistik der Wiener Oktobergefallenen weist insgesamt 150 tote und verwundete „Bürger, Handwerker, Handelsleute, Fabrikanten" auf, 478 Gesellen, 39 Lehrlinge, 77 Dienstleute, 137 Taglöhner und 33 Stüdenten. In Bremen dagegen beschränkten sich gewaltsame Formen des Sozialprotests im weiteren Verlauf des Jahres 1848 auf die sogenannten Speck-Krawalle gegen hohe Fleischpreise und in München auf die sogenannten Schatzkrawalle verunsicherter Kleinsparer (21. August 1848), die Angst hatten vor einem Staatsbankrott, sowie auf den im übrigen normalen „Bierkrawall" vom 17./18. Oktober, bei dem es nicht primär um politische oder soziale Anliegen ging. Aus den besonderen wirtschaftlichen und sozialen Folgelasten der Wiener Industrialisierung wie auch aus der repressionsbedingten extremen Verzögerung beim Aufbau eines latent politischen Vereinswesens und dem Fehlen einer darin verankerten parlamentarischen Elite erklärt es sich nun, daß Wien, anders als Berlin, bereits am 13./14. März die Trennung in eine innerstädtische gemäßigte bürgerliche Revolution und die „proletarische Revolution" der Vorstädte erlebte, die trotz der Anstrengungen der Bürgerwehr und der Studenten dann doch auf die Innenstadt übergriff. In beiden Fällen jedoch — in Wien wie in Berlin — wurde der Erfolg der Märzbewegung wesentlich von den unterbürgerlichen Schichten erkämpft. Anders als in Berlin kündigte sich in Wien aber sogleich die erheblich größere soziale Dynamik der Revolution an. Sie wurde gesteigert durch den im Vergleich atypischen Anteil 19

Nach W . Siemann, Die deutsche Revolution ... (wie Anm. 1), S. 69. Nach W . Häusler, Von der Massenarmut zur A rheiterhewegung ... (wie Anm. 11), S. 149. 20

96

Wolfgang

Hardtwig

der Studenten in Wien. Diese bildeten von Anfang an eine starke, rasch demokratisch bewußte Kerntruppe der Revolution, die allerdings bis zum O k t o b e r stark zusammenschmolz. Dieser spezielle und sehr bedeutsame Faktor der Wiener Revolution ist — verglichen mit Berlin und München — sowohl politisch wie sozial begründet. Die strikte Unterdrückung jeder Organisation und politischen Äußerung bis zum März 1848 verhinderte die Einbindung des studentischen Unruhepotentials in das traditionelle Verbindungswesen oder in sich etablierende gemäßigtere politische Gruppierungen von Liberalen und Demokraten, 21 so daß sich die Aula selbst als revolutionäres Aktionszentrum konstituierte und die Sozialstruktur der Wiener Studenten der des nichtstudentischen Protest- und Unruhepotentials näherkam als in Berlin oder München. Von 933 im Studienjahr 1848 immatrikulierten Studenten waren 228 Söhne von Handwerkern und Gesellen, 128 von kleinen Beamten, 63 von Bauern, 19 von Tagelöhnern und Arbeitern; ein gutes Drittel gehörte also herkunftsmäßig den sozialen Unterschichten an; die materielle N o t vieler Studenten trieb sie an die Seite der Arbeiter und Gesellen. 22

Abschließend noch einige Bemerkungen zur Stellung Berlins im Gesamtzusammenhang der deutschen revolutionären Bewegung: Die deutsche Revolution blieb dezentral, obwohl Berlin unter den kleindeutschen Hauptstädten durchaus eine besondere Revolutionsdynamik entwickelte. Die Berliner Revolution war positiv und negativ abhängig von äußeren Anstößen. So wurde auch die Planung der Gegenrevolution durch die Frankfurter Abgeordnetenmorde erleichtert,

21 Zu den neu entwickelten Formen der Zusammenarbeit zwischen politisierten studentischen Verbindungen und der bürgerlichen „Bewegungspartei" in ihren verschiedenen Artikulationsformen: Wolfgang Hardtwig, Protestformen und Organisationsstrukturen der deutseben Burschenschaft 1815—1833, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Demokratische und soziale Protestbewegungen in Mitteleuropa 1815—1848/49, Frankfurt/ Main 1986, S. 37—76, bes. S. 52 ff.; vgl. auch die Fallstudie von Reinhart Müth, Studentische Emanzipation und staatliche Repression. Die politische Bewegung der Tübinger Studenten im Vormärz, insbesondere von 1825 bis 1837 (= Contubernium. Beiträge zur Geschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen), Tübingen 1977; Einstieg in den Problemkreis Studenten und Revolution 1848/49 bei Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten 1800—1970 (= Neue Historische Bibliothek), Frankfurt/Main 1984, S. 47—58. 22 Vgl. W. Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung ... (wie Anm. 11), S. 157, 177.

Die Revolution 1848/49 in Berlin im Vergleich

97

die Niederwerfung der Wiener Revolution im O k t o b e r hat die Widerstandskraft der Berliner Revolution zutiefst erschüttert. Berlin konnte sich in vieler Hinsicht nicht als gesamtdeutsches Revolutionszentrum etablieren. Es ist aber immerhin bemerkenswert, daß die künftige Reichshauptstadt Kleindeutschlands während der Revolution auf einem Gebiet gesamtdeutsche zentralörtliche Funktionen übernahm, das zum geläufigen Berlin-Bild, Hauptstadt eines obrigkeitlich-machtstaatlich organisierten Preußen-Deutschland zu sein, nicht paßt: bei der Organisation einer gesamtdeutschen reformorientierten Arbeiterbewegung in der Arbeiterverbrüderung.

Wilhelm von Humboldt als Chef der Sektion für Kultus und Unterricht in Berlin und seine Bedeutung für die Bildungsreformen in Deutschland KARL-ERNST

JEISMANN

Münster

I A u f d r e i G e b i e t e n h a t W i l h e l m v o n H u m b o l d t die E n t s t e h u n g e i n e s m o d e r n e n B i l d u n g s w e s e n s a m B e g i n n des 1 9 . J a h r h u n d e r t s b e e i n f l u ß t , i n d e m e r eine u m f a s s e n d e K o n z e p t i o n auf G r u n d s ä t z e b r a c h t e u n d in e i n e m g ü n s t i g e n h i s t o r i s c h e n A u g e n b l i c k a d m i n i s t r a t i v die W e i c h e n s t e l l t e : d u r c h die G r ü n d u n g d e r U n i v e r s i t ä t B e r l i n 1 8 1 0 , d u r c h die G r u n d l e g u n g d e r E n t w i c k l u n g eines s t a a t l i c h e n U n t e r r i c h t s w e s e n s als Leiter der Sektion für Kultus und öffentlichen U n t e r r i c h t im Innenmin i s t e r i u m u n d s c h l i e ß l i c h d u r c h s e i n e n die P r i n z i p i e n b e s t i m m e n d e n E i n f l u ß a u f die G r ü n d u n g d e s B e r l i n e r M u s e u m s 1 8 3 0 als V o r s i t z e n d e r d e r K o m m i s s i o n z u r E i n r i c h t u n g eines M u s e u m s . 1

1 Die umfangreiche Literatur zur Humboldtschen Bildungsidee und zur preußischen Bildungsreform kann hier nicht aufgeführt werden. Ich nenne von den älteren, selbst schon unter wissenschaftsgeschichtlicher Frage interessanten Werken: Bruno Gebhardt, Wilhelm von Humboldt als Staatsmann, 2 Bde., Stuttgart 1896—1899; Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909; ders., Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910, 3., unveränd. Aufl., Berlin 1965; Siegfried A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, München 1927 (Neuausgabe Göttingen 1963). Aus der neueren Forschung umfassend und zentral: Clemens Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts (= Das Bildungsproblem in der Geschichte des europäischen Erziehungsdenkens, Bd. 13), Hannover usw. 1975; Eberhard Kessel, Wilhelm von Humboldt. Idee und Wirklichkeit, Stuttgart 1967; Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als

100

Karl-Ernst

Jeismann

Knapp anderthalb Jahre war Humboldt in beiden Ämtern tätig — und als erstes springt die erstaunliche Diskrepanz zwischen der Kürze dieser Tätigkeit und ihrer säkularen Wirkung ins Auge. Es scheint so, als ob diese Episoden in Humboldts Leben, in denen er mit leichter, zugleich aber fester Hand, mit einem immer zur Distanz bereiten Interesse wie nebenher Entwicklungen in Gang setzte, die bis heute nicht nur nachwirken, sondern, wenn auch umstritten, zu den bestimmenden Elementen unseres kulturellen öffentlichen Lebens gehören. Öffentliches Leben — das meint in diesem Falle die prägende Vorstellung davon, wie sich die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft einerseits, Wissenschaft, Unterricht und Kunst andererseits nach regulativen Prinzipien und ihnen entsprechenden Organisationsformen gestalten sollten. Wilhelm von Humboldt hat etwas Grundsätzlicheres in die Wege geleitet, als die Aufzählung seiner Tätigkeiten ausdrückt. Er konnte das, weil einerseits die Masse der Vorstellungen, die er auf wirkungsvolle Begriffe brachte, längst vorher zu wirken begonnen hatte und weil er Mitarbeiter fand, die neben und nach ihm — wenn auch mit mancherlei Einschränkungen und Accomodationsmaximen2 — sein Werk fortsetzten und sich der Mühsal der Realisierung genereller Ideen unterzogen. Sieht man diesen Hintergrund, und vermeidet man also eine Individualisierung und Heroisierung der Leistung Humboldts, kann man für seine kurzen Amtszeiten doch sagen, daß sie wie Augenblicke erscheinen, in denen die Vernunft praktisch wurde, die Philosophie die Wirklichkeit ergriff und also einen realen Entwicklungsschub, eine Epoche bewirkte. Man hat Wilhelm von Humboldt ein Genie der pragmatischen Effizienz genannt; 3 die Doppelrolle seines Lebens als Philosoph und Staatsmann sowie die Zeitumstände ermöglichten ihm, seinem eigenen Postulat für politisches Handeln zu entsprechen, nämlich, die Idee zum Stempel der Wirklichkeit zu machen. Seine äußere und innere Unabhängigkeit von Amt und Macht waren die Voraussetzung dafür, daß seine politischen Entscheidungen durch die Kraft der

Schule des Staats und der Gebildeten, 1787—1817 (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Bd. 15), Stuttgart 1974, Teil II. 2 Wilhelm von Humboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan, in: Wilhelm von Humboldt, Werke in 5 Bänden, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 4, Darmstadt 1964, S. 168—195, hier S. 193. 3 Hermann Lübbe, Wilhelm von Humboldt und die Berliner Museumsgründung 1830, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980), S. 656—676, hier S. 658.

Wilhelm von

Humboldt

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Grundsätze getragen wurden und über die Dauer seines Einflusses hinaus lebendig blieben; sie war freilich zugleich einer der Gründe für die Schwäche seiner persönlichen politischen Position und für seinen doppelten Mißerfolg in der politischen Auseinandersetzung im Kräfteparallelogramm der Staatsspitze. Aber sein wiederholtes kühles Zurücktreten vom Schauplatz der inneren Politik war nicht nur der Ausdruck geistesaristokratischer Distanz und Ichbezogenheit; es ruhte auch auf der Gewißheit, daß politische Prinzipien, die er formuliert und administrativ realisiert hatte, auch dann weiterwirken würden, wenn er sich ins wissenschaftliche Leben zurückzog, weil sie ihm als notwendige Elemente des geschichtlichen Ganges der Menschheit erschienen. II Als Humboldt 1809 nach Berlin kam, hatte er sich eine Vorstellung vom Verhältnis gebildet, das zwischen Staat und Bürger, Gesellschaft (er würde gesagt haben „Nation") und Mensch herrschen sollte, die, im Gedankengut der Aufklärung und des deutschen Idealismus wurzelnd, es ihm ermöglichte, eine Fülle von politischen Aufgaben und Entscheidungen in die klare Struktur von Gründen und Folgen, von Zielen und Methoden zu bringen, also aus Konzeptionen handhabbare, praktische administrative Regulative werden zu lassen. Das Zentrum dieser Vorstellungswelt war die Einordnung der Bildung des einzelnen und des Zustandes der Staaten in eine postulierte Menschheitsgeschichte, deren Ziel die Ausbildung aller Kräfte der Gattung im ganzen und des einzelnen im persönlichen Leben war. Diese, von Kant abstrakt gefaßte Idee verlebendigte und individualisierte sich in der Vorstellung der „Nationalerziehung". 4 Diese Vorstellung zielte nicht, wie man wohl gemeint hat, auf weit- und praxisabgewandte Kultivierung der harmonischen

4 Die ausgedehnte Publizistik der Zeit, die sich, im Anschluß an die pädagogischen Konzepte der Französischen Revolution, der „Nationalerziehung" widmete, ist ausführlich zitiert und kommentiert von Helmut König, Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (= Monumenta Paedagogica, hrsg. von der Kommission für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte der Deutschen Geschichte Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 1), Berlin [Ost] 1960; ders., Zur der bürgerlichen Nationalerziehung in Deutschland zwischen 1807 und 1815, 2 Bde. (= Monumenta Paedagogica, Bd. 12/13), Berlin [Ost] 1972—1973; Karl-Ernst Jeismann, „Nationalerziehung". Bemerkungen zum Verhältnis von Politik und Pädagogik in der Zeit der preußischen Reform 1806—1815, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 19 (1968), S. 201—218.

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Karl-Ernst

Jeistnann

Persönlichkeit, auf „Innerlichkeit". Sie blieb auf die konkreten Vergesellschaftungen bezogen, ließ den einzelnen Menschen aber nie in einer als übergeordnet gedachten Räson von Staat und Gesellschaft aufgehen. Auf diese Weise konnte H u m b o l d t die Bestimmung des „Menschen" als Individuum mit der Bestimmung des Menschen als „Bürger", als Glied der Gesellschaft verbinden und den Zweck des Staates in der Ermöglichung fortschreitender Ausbreitung dieser Bildung der einzelnen und ihrer Vergesellschaftungen sehen. In diesem Verständnis wurde Kulturpolitik 5 — ein jüngerer Begriff — in anderer Weise fundiert als im späten 18. Jahrhundert und auch anders als von allen restaurativen Kulturpolitikern nach H u m b o l d t bis auf unsere Tage. Sie wurde nicht mehr als ein S e k t o r der „Polizey", also als ein Instrument der Staatsverwaltung — und oft als ein sehr nachgeordnetes — betrachtet, sondern als der geheime Mittelpunkt und das Kriterium aller politischen Verwaltung. Dies zeigt sich am deutlichsten in der Stellung, die er der Bildung zur „Brauchbarkeit" zuwies. E r hat sie keineswegs verworfen, vielmehr eine Fülle von „Spezialschulen" gefordert; aber er hat die für die „äußeren" Zwecke des Staates so wichtigen Qualifikationen in bestimmten Fertigkeiten der T o t a l i t ä t der Bildung des Menschen nachgeordnet und mit dieser Prioritätensetzung die Beherrschung der technisch-materiellen Kultur durch Humanität erstrebt. N i c h t weniger deutlich zeigt sich diese Prioritätensetzung in der Forderung, daß der Staat die Bildungsanstalten in einem Zeitalter des Umbruchs zwar auf diese Weise neu organisiert und lebensfähig macht, sich aber nicht als Staat in den Bildungsprozeß einmischt und, wenn die Neuordnung vollendet ist, die Bildungsanstalten „der N a t i o n " wieder zurückgibt. 6 N u r wenn der Staat, so schien ihm, die Bildung seiner Bürger freigibt und sich in seiner eigenen Existenz der Prüfung durch die so Gebildeten stellt, kann er seiner eigenen Verbesserung, seiner Humanisierung, entgegengehen. Diese Gedanken seiner frühen Schrift von 1792 standen auch im Hintergrund seiner energischen kulturpolitischen Tätigkeit von 1809 und 1810. 7

5 Vgl. Hermann Lübbe, Deutscher Idealismus als Philosophie preußischer Kulturpolitik, in: O t t o Pöggeler/Annemarie Gethmann-Siefert (Hrsg.), Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels (= Hegel-Studien, Beih. 22), Bonn 1983, S. 3—27.

Siehe K.-E. Jeismann, Das preußische Gymnasium ... (wie Anm. 1), S. 270f., S. 331. 7 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch die Grämen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), in: W. v. Humboldt, Werke... (wie Anm. 2), Bd. 1, 6

Wilhelm

von

Humboldt

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Der Glaube an die Perfektibilität des einzelnen wie der Gesellschaft und die Aussicht, Politik und Philosophie, Erkenntnis und Realität in Kongruenz bringen zu können, ließen ihn hoffen, durch eine gebildete, administrative und bürgerliche Avantgarde einen Prozeß in Gang zu setzen, an dessen Ende die bürgerliche Bildungsgesellschaft und der Kulturstaat stehen würden. Man müßte ... eine dauernde moralische Macht organisieren, die nichts anderes ist, als eine feste, systematische, zusammenhängende Administration, in allen Theilen gemacht, die Stimmung der Nation zu erheben.. .8 Humboldts Leistung als Bildungspolitiker bestand darin, daß er diese Grundgedanken in Verwaltungshandeln umzusetzen verstand — bis in die Grundzüge der Organisation und der Finanzierung des Bildungswesens. So „ideal" seine Konzeptionen waren, so pragmatisch war seine Verwaltung. Hat man die Hinterlassenschaft preußischer Bildungspolitik in der Phase von Zedlitz bis Massow vor Augen, gerät man in Humboldts Denkschriften, Anträgen und Verordnungen in eine bis dahin unbekannte Sphäre der Klarheit von Sprache und Gedanken. Das Geheimnis der „Effizienz" der Humboldtzeit liegt in der Fähigkeit, das unübersehbar gewordene Konglomerat von Reformprogrammen durch Rückführung auf eine klare Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Bildungsziel und Staatszweck zu ordnen. So ergab sich ein innerer Zusammenhang des praktischen Handelns auf der Basis einer Konzeption von verblüffender Einfachheit. 9 III Schulreformen und Universitätsreform, seit 1810 meist getrennt betrachtet, muß man im Zusammenhang des Bildungssystems auffassen, in dem Humboldt sie begriffen hat. Im Litauischen Schulplan beschrieb er eine natürliche Stufenordnung der Bildungsanstalten: Den Darmstadt 1960, S. 56—233, hier S. 106: Daher müßte, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müßte dann in den Staat treten, und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation mit Gewißheit hoffen ... 8 Briefe von Wilhelm von Humboldt an Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, hrsg. von Rudolf Haym (= Quellenschriften zur neueren deutschen Literatur- und Geistesgeschichte, Bd. 1), Berlin 1894, S. 37 f. 9 H. Lübbe, Wilhelm von Humboldt... (wie Anm. 3), S. 660 f.; C. Menze, Die Bildungsreform ... (wie Anm. 1), S. 78, Anm. 18.

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Elementarunterricht — den Schulunterricht — den Universitätsunterricht. In dieser klaren Stufenordnung eines einheitlichen Bildungsplanes liegt die frappierende Simplizität und Durchschlagskraft der neuhumanistischen Bildungsreform. Ubersieht man diese Laufbahn ... so findet man, daß... der höchste Grundsatz der Schulbehörde der ist: Die tiefste und reinste A nsicht der Wissenschaft an sich hervorzubringen, indem man die ganze Nation möglichst mit Beibehaltung aller individuellen Verschiedenheiten auf den Wegbringt, der... zu ihrführt... Die Einführung in die grundlegenden Inhalte und Formen menschlichen Begreifens der Welt in der Elementarschule, das Lernen des Lernens an den Objektivationen menschlichen Geistes im Gymnasium und schließlich, auf der Universität, die Vermittlung dessen, was der Mensch nur durch sich und in sich finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft10 — dies war der auf die Einheit philosophischer Erkenntnis gebaute Kosmos der „allgemeinen Menschenbildung". Diese Vorstellung erlaubte eine neue Konzeption für die Universität in Berlin — Ersatz für das 1807 verlorene Halle. Damit war die lange Zeit herrschende Meinung weggewischt, Universitäten seien durch eine Vielzahl höherer Fachschulen zu ersetzen; das breite und widersprüchliche Spektrum der schon zuvor von Beyme angeforderten Gutachten zur Gründung einer neuen Universität in Berlin wurde energisch auf die Vorstellung freier Bildung durch Wissenschaft reduziert. Bei Schonung, ja, Restituierung der äußeren Formen akademischer Selbstverwaltung — ein Ausdruck deutlicher Ablehnung der Tendenz zur „Verstaatlichung" der Wissenschaftssphäre — wurden ihre Zielsetzung und innere Form völlig neu bestimmt. Es gelang Humboldt, in seinen beiden Anträgen auf Errichtung der Universität Berlin vom Mai und Juli 1809 die schwierige Zusammenfassung der in Berlin bereits bestehenden wissenschaftlichen Institutionen sowie die nicht minder schwierige Abgrenzung der neuen Universität von der Akademie der Wissenschaften einerseits, den Gelehrtenschulen andererseits zu definieren — eine Voraussetzung für das Gelingen der praktischen Maßnahmen der Finanzierung, der Unterbringung, aber auch der Berufung von Gelehrten. 11 Humboldt war nicht mehr im Amt, als Michaelis 1810 die Universität eröffnet wurde; Anerkennung wurde ihm von den Zeitgenossen für W. v. Humboldt, Königsberger S. 191 f. 10

und Litauischer

Schulplan

11 Ausführlich dazu Max Lenz, Geschichte der Königlichen versität zu Berlin, Bd. 1—4, Halle 1910—1918, Bd. 1.

...

(wie Anm. 2),

Friedrich-Wilhelms-Uni-

Wilhelm von Humboldt

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sein Werk nicht zuteil. Aber er hat die „deutsche Universität" auf den Weg gebracht, der im 19. Jahrhundert zu einem Siegeszug im deutschen Sprachraum und darüber hinaus wurde. Daß die Berliner Universität mehr als eine preußische Staatsuniversität sein, daß sie auf die Bildung der ganzen, dieselbe Sprache redenden Nation einwirken solle und dazu dienen könne, das Vertrauen, welches ganz Deutschland.. .zu dem Einfluß Preußens auf wahre Aufklärung und höhere Geistesbildung hegte, zu stärken — kurz, daß diese Universität der Vereinigungspunkt der gesamten Nationalbildung werden müsse, gehört zu den stehenden Eröffnungssätzen der Anträge Humboldts auf die Errichtung der Universität.12 Die zum Grundsatz erhobene Verbindung von Forschung und Lehre, die Symbiose von Wissenschaft und Bildung, hatte die Gleichartigkeit und Gleichrangigkeit aller lehrenden Forschung und aller forschenden Lehre, also die prinzipielle Gleichstellung aller Universitäten zur Konsequenz. Das war eine deutliche Absage an das französische, hierarchische System höherer Bildungsanstalten, das die schärfste Ausformung des spätabsolutistischen Konzepts der Staatspädagogik war. Altensteins diesem Geiste nicht ferner etatistischer Versuch, auch die preußischen Universitäten hierarchisch als Regionalanstalten der Berliner Universität unterzuordnen, hat sich gegenüber der mächtigen Nachwirkung Humboldtscher Vorstellungen nicht durchsetzen lassen.13 IV Für das Unterrichtswesen hat Humboldt durch das klare System einer gestuften „Einheitsschule" 14 konzeptionell die Schwierigkeiten gelöst, die Massow beim Versuch, ein Unterrichtswesen für die bürger12 Wilhelm von Humboldt, Antrag auf Errichtung der Universität Berlin vom Mai und Juli 1809, in: W . v. Humboldt, Werke... (wie Anm. 2), Bd. 4, S. 29—37 u. 113—120. 13 Ernst Müsebeck, Das preußische Kultusministerium vor hundert Jahren, StuttgartBerlin 1918, S. 190. 14 Max Lamprecht, Die Einheitsschulidee hei Wilhelm von Humboldt und Johann Wilhelm Süvern, Diss. Jena 1922; Helmuth Sienknecht, Der Einheitsschulgedanke. Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtige Problematik (= Pädagogische Studien, Bd. 16), Weinheim 1968; Margret Kraul, Gymnasium und Gesellschaft im Vormärz. Neuhumanistische Einheitsschule, städtische Gesellschaft und soziale Herkunft der Schüler (= Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im 19. Jahrhundert, Bd. 18. Forschungsunternehmen „Neunzehntes Jahrhundert" in der Fritz-Thyssen-Stiftung), Göttingen 1980.

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Karl-Ernst

Jeismann

liehen Berufsstände zu entwerfen, nicht hatte bewältigen können. Keineswegs hat Humboldt dabei dem Gymnasium die intensivste Aufmerksamkeit zugewandt, sondern sich eher der Volksbildung unter Rezeption der Pestalozzischen Gedanken angenommen. Aus seiner Amtszeit stammt zwar nur ein einziges wichtiges Gesetz, das den Gymnasiallehrerstand schuf, das Edikt über das Examen pro facúltate docendi von 1810; aber in einzelnen Anweisungen wie in grundsätzlichen Anstößen hat Humboldt die Lehrerausbildung im Elementarbereich, den Lehrplan des Gymnasiums und schließlich auch das Grundkonzept des 1819 vorgelegten Entwurfes eines allgemeinen Unterrichtsgesetzes zusammen mit seinen Räten — Nicolovius, Süvern, Uhden, Natorp — bedacht und formuliert, Grundgedanken, die später unter maßgeblicher Mitwirkung Schleiermachers die einzelnen Verordnungen zur preußischen Bildungsreform prägten. 15 Auch hier ging die Wirkung der preußischen Unterrichtsreform ins Nationale. Insbesondere die Elementarschule wurde, als „Volksschule" konzipiert, durch die Einrichtung und schnelle Vermehrung der Lehrerseminare zu einer Anstalt, die in der Lage war, in den kommenden Jahrzehnten trotz der Bevölkerungsvermehrung und der sozialen Veränderungen durch die beginnende industrielle Revolution nicht nur Bildungsbedürfnisse aufzufangen, sondern darüber hinaus einen Bildungsschub in die Breite der Bevölkerung zu tragen. 16 Mißt man die Auswirkungen der Reformanstöße aus Humboldts Amtszeit auf allen Gebieten des Schulwesens nicht an Programmen und Postulaten, sondern an den Zuständen um 1800, muß man Kraft und Breite ihrer Veränderungsenergie beeindruckend nennen. Das hindert keineswegs daran, im Gang der deutschen Bildungsgeschichte nach 1817 die Abbiegungen, Instrumentalisierungen, Widersprüche und Deformationen wahrzunehmen, die sich beim Prozeß der Realisierung der Reformvorstellungen in der Periode der Restauration einstellten.

K.-E. Jeismann, Das preußische Gymnasium ... (wie Anm. 1), Teil II, Kap. 3 u. 4. Zur Tätigkeit des von Humboldt nach Berlin berufenen Reformers und Gründers der preußischen Lehrerseminare, Bernhard Christoph Ludwig Natorp, siehe Gunnar Thiele, Die Organisation des Volksschul- und Seminarwesens in Preußen 1809—1819. Mit besonderer Berücksichtigung der Wirksamkeit Ludwig Natorps (nebst ungedruckten Entwürfen) (= Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der wissenschaftlichen Pädagogik, Bd. 1), Leipzig 1912. 15 16

Wilhelm von Humboldt

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V Die Museumsgründung schließlich stand nicht nur im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Reform des öffentlichen Bildungswesens — Humboldts erste Eingabe stammt vom April 1810 —, sondern auch in einer inneren kultur- und bildungspolitischen Verbindung. 17 So wie Humboldt und seine Mitarbeiter im Aufbau des Unterrichtswesens die geburts- oder berufsständische Zuteilung von Wissen überwinden und allgemeine Menschenbildung für alle organisieren wollten, so sollten auch die Museen als Kunststätten eine Bildungsmöglichkeit für alle Interessierten darstellen. Nicht mehr nur wenige, privilegierte Personen von Rang oder mit Sondererlaubnis ausgestattete Experten sollten die Sammlungen ansehen und benutzen können. Auch die Kunst hatte vielmehr, wie Unterricht und Wissenschaft, mit staatlicher Förderung dem Ziele der Nationalbildung zu dienen. Welche im weitesten Sinne politische Bedeutung man der Kunst in jener Zeit zumaß, wird nicht nur in der zeitgenössischen philosophischen Literatur — etwa in Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung" — deutlich, sondern auch an der Praxis imperialer Kunstpolitik Napoleons, einer Mischung von Kunstraub, Kunstsammlung und Kunstpräsentation vor dem ganzen Volk. War Kunst dort Ausdruck und Legitimation politischer Herrschaft, so sollte hier die Gründung öffentlicher, frei zugänglicher Museen die Kunstbestände aus einem Eigentum des Monarchen zum Bildungsgut der Bürger machen; dies war die vorweggenommene Transformation des bürokratischen Absolutismus in die Bürgerfreiheit auf dem Wege ästhetischer Bildung. Schönheit als in Erscheinung getretene Freiheit, fern von jedem unmittelbaren Staatszweck durch sich selbst wirkend und gerade deshalb den innersten Zweck des Staates fördernd — dies war die Hoffnung Humboldts, daß öffentliche Museen eine wohltätige Rückwirkung der Kunst auf das Publikum ausüben werden. 18 Seine Museumskonzeption — insbesondere hinsichtlich der Freiheit des Erwerbs der Kunstschätze und der Kompetenz eines Gremiums von Sachverständigen — setzte sich gegenüber Altensteins Vorstellung

17

Wilhelm von Humboldt, Eingabe „ Zur Einrichtung eines Museums in Berlin" vom 24. April 1810, in: W. v. Humboldt, Werke ... (wie Anm. 2), Bd. 4, S. 245. Eine zusammenfassende und in den Gesamtzusammenhang der Kulturpolitik einordnende Darstellung bei H . Lübbe, Wilhelm von Humboldt... (wie Anm. 3); dort auch zahlreiche Hinweise auf wichtige Literatur. '» A.a.O.,

S. 662ff.

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108

Jeismann

durch, der die künstlerische Entwicklung der Sammlungen der Direktion des Ministeriums unterwerfen wollte. 19 So folgte Humboldt hier dem gleichen Prinzip wie bei der Einrichtung des Bildungswesens und der Universität. Die Zustimmung des Königs brachte ihm 1830 noch einen späten Erfolg, während er 1810 ein gerade begonnenes Werk verlassen mußte und 1819 im größeren Rahmen der Verfassungspolitik an Hardenberg scheiterte, als die Karlsbader Beschlüsse auch die Bildungsreform an Universitäten und Schulen an die Kette restaurativer Staatsräson zu legen suchten. VI Ein letztes W o r t zur mittelbaren Wirkung der kulturpolitischen Anstöße, die Wilhelm von Humboldt von Berlin aus gegeben hat. Sie beförderten und beschleunigten die Bildungsreform auf allen Stufen, führten aber im Parallelogramm der politischen Kräfte nach den Befreiungskriegen nicht zur Organisation einer zusammenhängenden Nationalbildung als Basis einer bürgerlichen Bildungsgesellschaft. 20 Die Distanz dieser Idee zur materiellen und mentalen Realität, die Räson des absolutistischen Verwaltungsstaats, schließlich das Interesse der schnell expandierenden Erwerbsgesellschaft drängten vielmehr auf ein staatliches Unterrichtswesen, das eher dem Beschäftigungssystem als den Postulaten der allgemeinen Menschenbildung entsprach. So wurde Humboldts idealistische Vorstellung von der Bedeutung der Prüfungen zum Beispiel verkehrt zu einem ausgefeilten Berechtigungswesen, das in der Hand des Staates zu einem — freilich unzulänglichen — Steuerungsinstrument der Bildungsfrequenzen und der Bildungswege geriet. 21 Das „Humboldtsche Gymnasium" im eigentlichen Sinne als Bildungsanstalt für alle, die Talent und hinreichende Mittel besaßen, hat in dieser Form nur ansatzweise existiert; statt des gestuften Einheitsschulwesens entwickelte sich ein System getrennter Bildungswege,

19

A. a. O., S. 658. Friedrich S t o c k , Urkunden

zur Einrichtung

des Berliner

Museums

(= Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen, Beih. zu Bd. 58), Berlin 1937, S. 10—42. 20

Karl-Ernst Jeismann, Schulpolitik, Schulverwaltung,

buch der deutschen Bildungsgeschichte,

Schulgesetzgebung,

in:

Hand-

Bd. 3, hrsg. von Karl-Ernst Jeismann und Peter

Lundgreen, München 1987, S. 105—122; C . Menze, Die Bildungsreform

...

(wie

Anm. 1), T e i l 4, Abschn. I V , V . 21

iml9. 776.

R u t h Meyer, Das Berechtigungswesen Jahrhundert,

in seiner Bedeutung für Schule und Gesellschaft

in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 124 (1968), S. 7 6 3 —

Wilhelm von Humboldt

109

den Bedürfnissen der Gesellschaft eher folgend als die Wirklichkeit selbst dem Ziele der Humanisierung entgegentreibend. Die Explosion der Wissenschaften und ihre Wendung zum Positivismus hat die philosophische Grundidee des Zusammenhangs von Wissenschaft und Bildung an der Universität bald in Frage gestellt; die neue Universität erwies sich als leistungsfähige Stätte der Produktion von Wissenschaft, auch von politischer Reformenergie, aber kaum von Bildung, wie Humboldt sie verstand. 22 Die drei Modernisierungsschübe, die seit dem späten 18. Jahrhundert Europa ergriffen: industrielle Revolution, politische Revolution und Bildungsrevolution, traten in Preußen und Deutschland in einer anderen Reihenfolge als in den westlichen Staaten auf. Die Neugestaltung der Bildung auf allen Ebenen begann hier vor der industriellen Revolution und vor den politischen Umwälzungen, die die bürgerliche Gesellschaft und den Verfassungsstaat heraufführten. Daß die Prinzipien einer modernen Bildungsgesellschaft als Pöstulate so deutlich formuliert wurden und in den Grenzen der Möglichkeiten so effektiv und so ambivalent in die Praxis wirken konnten, macht die Bedeutung Humboldts und seiner Mitarbeiter aus. Sie ist realgeschichtlich an der Entwicklung des deutschen Schul- und Universitätswesens trotz aller Defizite und Verformungen deutlich abzulesen. Auf der programmatischen, ideologischen und mentalen Ebene sind die Grundsätze und Pöstulate der Bildungsreform bis heute wirksam. Hatte man bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Humboldts grundlegende Tätigkeit kaum zur Kenntnis genommen, wurden die Ideen der „allgemeinen Menschenbildung" und der Bildung der „Persönlichkeit" seit der Differenzierung des höheren Bildungswesens und der Konkurrenzverhältnisse zwischen seinen verschiedenen Zweigen zum Arsenal bildungspolitischer Auseinandersetzung. Dabei wurde die Verteidigung des nunmehr „humanistischen" Gymnasiums gegen andere Formen der höheren Schulbildung unter Berufung auf Humboldt, aber gegen seine eigentlichen Intentionen geführt. Auf der anderen Seite blieben die Pöstulate der Reformpolitik um 1810 ein Protestpotential gegen eine etatistische oder ökonomische Erstarrung des Bildungswesens. Dieser Bildungsprotest — schon in der Revolution von 1848 formuliert, ver-

22

R. Steven Turner, Universitäten, in: Handbuch...

249,hierS. 236 ff.; C . Menze, Die Bildungsreform...

(wie Anm. 20), Bd. 3, S. 221 —

(wie Anm. 1), Teil 4,Abschn. IV.

110

Karl-Ernst

Jeismann

stärkt gegen Ende des Jahrhunderts im Kaiserreich, wieder aufgenommen in den sechziger und siebziger Jahren in der Bundesrepublik — ist unter jeweils verschiedenen realgeschichtlichen Bedingungen immer auch eine Auseinandersetzung um das „richtige" Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Menschen gewesen, das Wilhelm von Humboldt nicht nur auf den Begriff, sondern auch auf eine Organisationsformel für das Bildungswesen gebracht hatte. Bis heute ist diese kontroverse Berufung auf Humboldt lebendig, ist seine Bedeutung also noch nicht erschöpft, wenn um Ziele und Organisationsformen des öffentlichen Bildungswesens gestritten wird. 23 Schwerer zu erkennen und durch andere konkurrierende oder begleitende philosophische und pädagogische Vorstellungen verdeckt ist die Wirkung der Humboldtschen Bildungsreform und ihrer geistigen Grundlagen über den deutschsprachigen Raum hinaus. N u r in vermittelter Weise trafen die reisenden ausländischen Gelehrten und Schulmänner, die vom preußischen Unterrichts- und Universitätswesen Anregungen für die später einsetzende Bildungsreform in ihren Ländern zu erhalten hofften — in Frankreich, in Dänemark, den Niederlanden, den U S A — auf Auswirkungen der Humboldtschen Anstöße. Aber in den engen Austausch pädagogischer Ideen und Maßnahmen, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts schon die Länder des Deutschen Reiches nicht nur untereinander, sondern auch mit ihren Nachbarn im Norden und Osten verband, zeichnete das von Humboldt als Konzept eines staatlichen Bildungswesens formulierte „Bildungsideal der deutschen Klassik" auf eigentümliche Weise seine Züge ein. Nicht nur als Schüler eines humanistischen Gymnasiums, sondern als Schüler der Spätphase des deutschen Idealismus hat Karl Marx Grundgedanken der Bildungsvorstellung Humboldts in der Philosophie wie in der poli-

Uberflüssig und daher nur am Rande zu bemerken bleibt, daß von einer Wirkung H u m b o l d t s nur in dem Sinne gesprochen werden kann, daß er eine breite philosophische, ästhetische und literarische Bewegung in pointierter Weise in der Bildungspolitik zur Geltung brachte, daß er also als Exponent, nicht als Autor oder gar Schöpfer verstanden werden muß. S o betrachtet ist Kaehlers Feststellung doch zu eng: Dieser Mann, der außer der gewiß bedeutenden Leistung der Gründung der Berliner Hochschule nichts von Belang im Lehen durchgesetzt hat ...; siehe S. A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt... (wie Anm. 1), S. 242 f. und C . Menzes Urteil: So ist sein Reformversuch eine im Grunde folgenlose Epoche, ist nur zu verstehen, wenn man die historische Entwicklung an der idealen Konstruktion bildungsphilosophischer Grundkonzepte mißt statt an dem Grad, in dem diese auf jene einwirken konnten; siehe C . Menze, Die Bildungsreform ... (wie Anm. 1), S. 47 f. 23

Wilhelm von

Humboldt

111

tischen Ökonomie seines Werkes aufgegriffen. 24 Im „Reich der Freiheit", wie er ursprünglich die „klassenlose Gesellschaft" nannte, sollte das Individium die totale Entfaltung seines wahren Wesens, damit die Wirklichkeit der sittlichen Idee erleben. Auch die Wendung zur polytechnischen Erziehung ist nur eine konsequente Weiterentwicklung der Humboldtschen Vorstellungen unter den Bedingungen der arbeitenden Klassen in der industriellen Welt. So drangen auf dem Wege dieser Vermittlung Bildungsgedanken der frühen preußischen Reform in die sozialistischen Bewegungen und in die Pädagogik der sozialistischen Staaten im 20. Jahrhundert ein. Daß sich hier in großem Maßstab und in scharfer Zuspitzung der Widerspruch potenzierte, der bei der Realisierung dieser Ideen zwischen Bildungskonzeption und Bildungswirklichkeit unter politischem Zugriff schon im 19. Jahrhundert entstand, zeigt die Schärfe der Spannung, die zwischen den Postulaten der humanistischen Bildungsidee und den Zwängen politischer Systeme entsteht. 25 Der ideologische Mißbrauch Humboldtscher Vorstellungen wurde immer wieder, das zeigt auch die zeitgenössische Entwicklung in den sozialistischen Staaten, durch das in ihnen enthaltene Protestpotential gegen diese Pervertierung konterkariert. Daß in der DDR in den späten sechziger Jahren eine Neuentdeckung und Rezeption Wilhelm von Humboldts einsetzte, mag daher von einer Nachwirkung zeugen, deren Konsequenzen über den unmittelbaren Anlaß seines 200. Geburtstages und den beabsichtigten politischen Zweck weit hinausreichen könnten. 26

24 Vgl. H o r s t E. W i t t i g , Karl Marx. Bildung und Erziehung. Studientexte zur Marxsehen Bildungskonzeption (= Schöninghs Sammlung pädagogischer Schriften. Quellen zur Geschichte der Pädagogik), Paderborn 1968, S. 2 8 6 ff. 25

A. a. O., S. 295.

26

Vgl. W e r n e r Hartke/Henny Maskolat (Hrsg.), Wilhelm

v. Humboldt.

Erbe,

Ge-

genwart, Zukunft. Beiträge, vorgelegt von der Humboldt-Universität zu Berlin anläßlich der Feier des 200. Geburtstages ihres Gründers (= Beiträge zur Geschichte der H u m b o l d t Universität), Halle 1967. Eine sorgfältige, aber f ü r ein breiteres Publikum geschriebene Biographie W i l h e l m v. H u m b o l d t s erschien in der D D R : H e r b e r t Scurla, Wilhelm von Humboldt. Werden und Wirken, Berlin [ O s t ] 1 9 7 0 (als Lizenzausgabe in der Bundesrepublik: Düsseldorf 1976); siehe das Kapitel „Kulturpolitik auf weite Sicht", S. 3 4 7 — 3 8 8 .

Berlin als Schulstadt: Bildungspolitische Grundlagen der Wirtschaftsentwicklung (1770—1870) PETER LUNDGREEN Bielefeld

Im „Königsberger Schulplan" von 1809 unterscheidet Wilhelm von Humboldt scharf zwischen Menschen- und Bürgerbildung und spricht sich strikt gegen eine Vermischung der beiden Bildungszwecke in ein und derselben Unterrichtsanstalt aus. Den gelehrten Schulen, den späteren Gymnasien, wies Humboldt die allgemeine Menschenbildung zu und gab ihnen damit eine Legitimität, die immer wieder in falsches Bewußtsein umschlug. Allzu leicht übersah man, daß das gymnasiale Abitur mit einem anschließenden Studium auf die gelehrten Berufe vorbereitete, also Bürger einzelner Klassen, vornehmlich höhere Beamte und freie Berufe, ausbildete. Zugleich hatte Humboldt gefordert, daß es viele Spezialschulen gebe und kein bedeutendes Gewerbe des bürgerlichen Lebens eine entbehre. Dementsprechend konzipierte Humboldt für das einzelne Individuum den biographischen Gang von der Menschen- zur Bürgerbildung, vom Schulunterricht zur Universität oder Spezialschule.1 Die Idee einer Ausbildung von Bürgern einzelner Klassen in Schulen, gar für alle bedeutenden Gewerbe des bürgerlichen Lebens, bezeugt eine erstaunliche Kontinuität des Denkens zwischen Aufklärungspädagogik und Neuhumanismus, eine gemeinsame Überzeugung von den segensreichen, wenn nicht gar unverzichtbaren Auswirkungen schulischer Unterweisung für die gesellschaftliche Nützlichkeit des

1

Wilhelm von Humboldt, Der Königsberger

und der Litauische Schulplan,

in: Wil-

helm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 4, Darmstadt 1964, S. 168—195, hier S. 172, 175; vgl. S. 188.

114

Peter Lundgreen

Bürgers mit Blickrichtung auf die nationale Wohlfahrt. Richtet man den Blick auf die institutionengeschichtliche Ebene, so kann man allerdings an dem pädagogischen Optimismus zweifeln, und eine vorschnelle, funktionalistische Annahme paralleler Entwicklung zwischen Schul- und Wirtschaftsgeschichte ist ebenso abwegig. Die einschlägigen Befunde, die hier begreiflicherweise nur skizziert werden können, finden sich empirisch alle in der Stadt Berlin belegt und konzentriert. 2 Es ist vielleicht kein Zufall, daß die ältesten Spezialschulen, die von Dauer waren, im 18. Jahrhundert für die militärischen und zivilen Staatsdienste gegründet wurden und technische Offiziere sowie Beamte ausbildeten. In strenger Parallele zum französischen Vorbild finden wir in Berlin eine Ingenieur-Akademie (1788) und eine Artillerie-Akademie (1791) für das Militär, ferner eine Bergakademie (1770) und die Bauakademie (1799). Das bürokratisch-meritokratische Muster ist hier ebenso angelegt wie für die Fakultätsstudien: Vorbildung auf einer gelehrten Schule (Lateinschule), gegebenenfalls Fortsetzung an einer Artistenfakultät; Fachstudium mit oder ohne Kollegzwang, in jedem Fall aber Staatsexamen, also staatlich geregelte Prüfung; schließlich Berufsvorbereitung in gleichfalls staatlich geregelter Weise, mit weiteren Staatsexamina. Die vielfältigen Versuche des 18. und 19. Jahrhunderts, auf die „Gewerbe des bürgerlichen Lebens" in dafür konzipierten Schulen vorzubereiten, sind fast alle gescheitert. Erst im späten 19. Jahrhundert setzt sich das uns heute vertraute Bild durch: ein System von Fachschulen, mit unterschiedlichen Vorbildungsvoraussetzungen, bis hin zum Universitätsabsolventen, der erst seit dieser Zeit einen nennenswerten Arbeitsmarkt im privaten Sektor findet. Charakteristikum der vielen gescheiterten Versuche während der langen Zeit vor 1880/90 war, mit Humboldt gesprochen, die Vermischung von allgemeiner und speziel-

2 Zu der folgenden Skizze vgl. Peter Lundgreen, Schulbildung und Frühindustrialisierung in Berlin!Preußen. Eine Einführung in den historischen und systematischen Zusammenhang von Schule und Wirtschaft, in: O t t o Büsch (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin/Brandenburg^ Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 6), Berlin 1971, S. 562—610; Peter Lundgreen, Fachschulen, in: Christa Berg u. a. (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3, hrsg. von Karl-Ernst Jeismann u. Peter Lundgreen, München 1987, S. 293—305; Peter Lundgreen, Technische Bildung in Preußen vom 18. Jahrhundert bis zur Zeit der Reichsgründung, in: Günter Sodan (Hrsg.), Die Technische Fachhochschule Berlin im Spektrum Berliner Bildungsgeschichte, Berlin 1988, S. 1—44.

Berlin als Schulstadt

115

ler, von Vor- und Fachbildung. Anders formuliert, ging es immer wieder darum, eine alternative Schule neben dem Gymnasium zu konzipieren, die ihren Schwerpunkt nicht in den „gelehrten", sondern den realkundlichen Fächern haben und auf das „bürgerliche Leben" vorbereiten sollte. Die hier angelegte Spannung zwischen höherer, das heißt über die Elementarschule hinausgehender Allgemeinbildung einerseits, berufsfeldbezogener Fachbildung andererseits ist regelmäßig zugunsten der höheren Schule und gegen die Spezialschule entschieden worden. Betrachten wir stichwortartig die Berliner Beispiele. Die „ökonomischmathematische Realschule", 1747 von Johann Julius Hecker, dem Prediger der Friedrichstadt, gegründet, war in Wirklichkeit ein Verbund von Schulen und Fachklassen, in Analogie zu den Anstalten des Franckeschen Waisenhauses in Halle. Aus der „lateinischen Schule" dieses Verbundes, dem „Pädagogium", ging 1797 das Kgl. Friedrich-Wilhelms-Gymnasium hervor. Die Kgl. Realschule verkümmerte, bis der Prediger August G o t t l o b Spilleke 1820 Direktor geworden war und mit seiner Programmschrift von 1822 „über das Wesen der Bürgerschule" die neue Realschule des 19. Jahrhunderts bildungstheoretisch begründete: als höhere Schule f ü r diejenigen Gymnasiasten, die nicht studieren wollen (die sogenannten Frühabgänger). Genau auf diese Klientel zielte der Magistrat der Stadt Berlin, als er in den dreißiger Jahren die Königstädtische, die Dorotheenstädtische und die Luisenstädtische Schule begründete, Realschulen im Sinne der Instruktion von 1832 „für die an den höheren Bürger- und Realschulen anzuordnenden Entlassungsprüfungen". Mit dieser Instruktion war die Orientierung der (neuen) Realschulen am Gymnasium nicht mehr aufzuhalten; der Anschluß an das Berechtigungswesen, damit an Lateinkenntnisse, führte fast zwangsläufig z u m Realgymnasium, das freilich erst 1900 die volle Gleichberechtigung mit dem Gymnasium erhielt. Schon sehr früh, im Jahre 1824, hatte übrigens der Berliner Magistrat die Köllnische Schule aus dem Gymnasium zum Grauen Kloster ausgegliedert und als erstes Realgymnasium etabliert. Eine andere Entwicklung nahm die 1791 von dem pädagogischen U n t e r n e h m e r J o h a n n Michael Friedrich Schulz mit U n t e r s t ü t z u n g der Berliner Kaufmannschaft gegründete „Handlungsschule". Die vorgesehene Verknüpfung von höherer Allgemeinbildung und kaufmännischer Fachbildung stieß — schon vor H u m b o l d t — auf den Widerstand des Oberschulkollegiums, in dem der neuhumanistische Gedike auf reinliche T r e n n u n g zwischen allgemeiner (gymnasialer) und Fachbil-

116

Peter Lundgreen

düng bedacht war. Der gewählte Ausweg war hier die Beschränkung auf kaufmännische Fort- und Fachbildung. Eine Handelsschule als Fachschule k o n n t e sich indes weder in Berlin noch an anderer Stelle durchsetzen; erst hundert Jahre später beginnt die dauerhafte Etablierung von Handelsschulen, und dies, obwohl die Berliner Handlungsschule 1803 zur königlichen geworden war und in G o t t l o b Johann Christian K u n t h die U n t e r s t ü t z u n g durch einen bedeutenden Vertreter der Gewerbeverwaltung erhalten hatte. Konzeptionell hielt K u n t h die Fachschule allerdings nur f ü r die zweitbeste Lösung; er favorisierte die ursprüngliche Kombination von Allgemein- und Fachbildung und geh ö r t damit in die Ahnenreihe derer, die sich mit der Begründung des Realgymnasiums beschäftigten, freilich eines Realgymnasiums, das für die höhere Realschulbildung des Wirtschaftsbürgers sorgen würde, ohne sich dem Anpassungsdruck des Gymnasiums und des Berechtigungswesens zu unterwerfen. Institutionell fanden diese Überlegungen Berücksichtigung und Gestalt, als der Berliner Magistrat 1824 die „Städtische Gewerbeschule" unter Karl Friedrich Klöden gründete. Diese Gewerbeschule verstand sich als Alternative zur gymnasialen Oberstufe, setzte die Tertiareife eines Gymnasiums voraus und hatte keinen eigenen Unterbau; sie war aber keine Fachschule für gymnasiale Frühabgänger, sondern verkörperte die lateinlose Oberrealschule zu einem Z e i t p u n k t , als es diesen N a m e n noch gar nicht gab. U n d die weitere Entwicklung f ü h r t e denn auch, durch Ausbau nach unten, zur neunklassigen Oberrealschule, deren Angebote an berufsfeldbezogener Fachbildung reduziert wurden. Daß die Oberrealschule damit auch unter den Anpassungsdruck der berechtigten höheren Schulen geriet, versteht sich. Geradezu spektakulär muß die analoge Entwicklung der Provinzial-Gewerbeschulen zu Oberrealschulen eingestuft werden, denn diese Gewerbeschulen waren nun wirklich Fachschulen, setzten auch keine gymnasiale Unterstufenbildung voraus, sondern wollten den Elementarschulabsolventen und zukünftigen kleinen Gewerbetreibenden in der Provinz erreichen. Sie taten es auch, wie ihr Schöpfer Peter Christian Wilhelm Beuth, die führende Kraft der Gewerbeverwaltung des nachnapoleonischen Preußen, es 1820 im Interesse der Gewerbeförderung gewollt hatte. U n d dennoch reichten dreißig Jahre, von 1850 bis 1878, um vor dem Nichts in der Fachschulausbildung von Handwerkern, Werkmeistern und mittleren Technikern zu stehen, bis seit den neunziger Jahren die neue technische Mittelschule gegründet wurde. Die ehemaligen Provinzial-Gewerbeschulen waren 1878 fast alle zu neunklassigen lateinlosen Oberrealschulen geworden.

Berlin als Schulstadt

117

Wie ist dieser Sieg der höheren Allgemeinbildung — wenn auch in pluralistischer Ausprägung auf Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule verteilt — über die in Spezialschulen verankerte Fachbildung zu erklären? Ich glaube, folgendermaßen: Der privatwirtschaftliche Arbeitsmarkt zur Zeit der frühen Industrialisierung brauchte den Fachschulabsolventen noch nicht wirklich, trotz entgegenstehender Rhetorik, so daß das Wirtschaftsbürgertum die Entwicklung zum mehrgleisigen System höherer Allgemeinbildung hinnahm. In der Abwesenheit starker Gegenkräfte konnten Lehrer und Eltern ihre sozialen Interessen, soweit sie mit der Schule verbunden waren, verfolgen: Lehrer die Gleichstellung mit den Philologen, diese übrigens mit den Juristen; Eltern die Teilhabe an den Berechtigungen für ihre Söhne. Beide Bewegungen verweisen auf die Ausstrahlungskraft des öffentlichen Dienstes und der hier etablierten Regeln zur Verkoppelung von Bildung, Amt und Status. Diese Ausstrahlungskraft gilt sogar für die einzige bedeutende Fachschule im Preußen des 19. Jahrhunderts, die nicht in einer allgemeinbildenden höheren Schule aufgegangen ist, obwohl sie keine technischen Beamten ausbildete, sondern ausschließlich für den privaten Sektor. Gemeint ist das Berliner Gewerbe-Institut von 1821. Von Beuth in strenger Analogie zur Bauakademie konzipiert, bildete das GewerbeInstitut Techniker aus, die zwar in der gewerblichen Wirtschaft tätig waren, deren soziale Leitfigur aber in erster Linie der Baubeamte war. Und so ist denn auch die sukzessive Akademisierung des GewerbeInstitutes nicht mit den vielberufenen „gestiegenen Anforderungen der Praxis" zu erklären, sondern entsprach dem Wunsch von Dozenten und Absolventen nach Gleichstellung mit der Bauakademie. In den kleindeutschen Staaten läßt sich der gleiche Prozeß, wenn auch verdeckt, beobachten, denn hier vereinigten die polytechnischen Schulen eine Bauschule und eine höhere Gewerbeschule unter ihrem Dach. In Preußen kam es 1879 schließlich zu der bekannten Vereinigung von Bau- und Gewerbeakademie in der Technischen Hochschule Charlottenburg. Technische Hochschulen — waren sie erst einmal da — gaben den Oberrealschulen das gute Gewissen, die adäquaten allgemeinen Vorbildungseinrichtungen zu sein. Auf Umwegen war damit um 1880 ein Bildungssystem erreicht, das sich — in der Terminologie Humboldts — als Aufeinanderfolge von allgemeiner Bildung (in Gymnasien, Realgymnasien oder Oberrealschulen) und Spezialbildung (in Universitäten oder Technischen Hochschulen) charakterisieren läßt. Welche Bedeutung auch immer dieses Bil-

118

Peter Lundgreen

dungssystem f ü r die zweite industrielle Revolution gewonnen hat, seine Entwicklung in den hundert Jahren vor 1870/80 folgte eher der Logik des bürokratisch-meritokratischen Musters. Vielleicht konnten die wohlwollenden Beamten als Bildungsplaner gar nicht anders denken, und wenn sie es doch taten, setzten sie nicht-intendierte Nebenfolgen frei, allein schon über das mächtige Steuerungsinstrument des Berechtigungswesens. Man muß, soziologisch gesehen, eher von der sozialen Konstruktion von Teilarbeitsmärkten f ü r die Träger von Bildungspatenten sprechen, weniger von der Qualifikation für bestehende objektive Bedürfnisse.

Zweite Sitzung Leitung: Reinhard Rürup, Berlin

Berlin als deutsches und europäisches Wirtschaftszentrum ILJA

MIECK Berlin

Im Jahre 1805 veröffentlichte der Geheime expedierende Sekretär im Generaldirektorium, Friedrich Wilhelm August Bratring, den zweiten Band seiner „Statistisch-topographischen Beschreibung der gesamten Mark Brandenburg", indem er Berlin 38 Seiten widmete.1 Gemessen am Gesamtumfang des dreibändigen Werkes waren das rund 2,5 Prozent. Noch in der modernen landeshistorischen Forschung gilt das Werk Bratrings als eine Art Strukturbild der preußischen Zentralprovinz vor ihrer Neukonstituierung in der Reformzeit.2 Der Haupt- und Residenzstadt Berlin glaubte Bratring drei Prädikate verleihen zu können. Erstens sei die Residenz Berlin ... eine der schönsten Städte Europens? Diese Behauptung könnte von anderen Zeitgenossen durchaus angezweifelt werden, und auch die neuere Historiographie bevorzugt eine differenziertere Einschätzung.4 Als zwei1

Friedrich Wilhelm August Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung der ge-

samten Mark Brandenburg, Bd. 1—3, Berlin 1804—1809, kritisch durchgesehene und verbesserte Neuausgabe v o n O t t o Büsch und Gerd Heinrich (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 22), Berlin 1968, hier: Bd. 2, S. 147—184. Gerd Heinrich, Friedrich Wilhelm August Bratring. Lebensweg und Werk, in: F. W. A. Bratring, Beschreibung ... (wie Anm. 1), Bd. 1, S. X V — X X X I V , hier S. XXIII. 2

3

A. a. O., Bd. 2, S. 148.

4

Einer der bekanntesten Kritiker war der preußische Kriegsrat Friedrich v. Coelln, dessen Schrift Wien und Berlin in Parallele. Nebst Bemerkungen auf der Reise von Berlin nach Wien durch Schlesien über die Felder des Krieges. Ein Seitenstück zu der Schrift: Vertraute Briefe über die inneren Verhältnisse am preußischen Hofe seit dem Tode Friedrichs II. 1808 in Amsterdam und Cölln erschien. Vgl. zu dieser Problematik neuerdings Ilja Mieck, Von der Reformzeit zur Revolution (1806—1847), in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 1, 2. Aufl., München 1988, S. 405—602, hier S. 4 1 9 f . , 500 und 508—512.

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lija Mieck

tes Charakteristikum der preußischen Hauptstadt erwähnt Bratring, daß sie durch Friedrichs II. Bemühungen eine wirkliche Manufakturstadt geworden sei.5 Erläuternd und ergänzend fügt er — drittens — hinzu: Berlin ist im eigentlichsten Verstände ein Fabrikort, denn den Künstlern und Fabrikanten verdankt diese Residenz vorzüglich ihre Größe und ihre Bevölkerung.6 Bratring begründet diese Einschätzung mit mehreren Beispielen aus dem Wirtschaftsleben: Konkurrenz, Luxus und Mode bieten sich wechselseitig die Hand zur Verfeinerung des Geschmacks und zur Belebung der Künstler-Talente. Die Wollen-, Seiden- und Baumwollenmanufakturwaren, die Gold- und Silberarbeiten, die Porzellan- und Fayencewaren, Bronzearbeiten, Fuß- und Wandtapeten, Lackier-, Saffian- und Korduan-, Englische Stuhl-, Kunsttischler-, Bildhauer- und Tapezier arbeiten werden in einer Vollkommenheit geliefert, die o f t Bewunderung erregt. Die Berliner Chaisen und Farben haben sich berühmt gemacht und die L 'tqueure sind überall beliebt. Insgesamt gebe es 48 000 bis 50 000 Menschen, die in der Residenz ihren Unterhalt von den Fabriken und Manufakturen haben. Es stellt sich die Frage, ob die von Bratring als „Manufakturstadt" und „Fabrikort" charakterisierte preußische Hauptstadt auf der ökonomischen Stufenleiter noch etwas höher anzusiedeln war und als ein „Wirtschaftszentrum" gelten konnte — zunächst als preußisches. In einem zweiten Schritt wird dann zu prüfen sein, wann die preußische Hauptstadt eine Rolle als deutsches Wirtschaftszentrum zu spielen begann, bevor abschließend erörtert werden soll, ob und in welcher Epoche Berlin in die Funktion eines europäischen Wirtschaftszentrums hineingewachsen ist. I Um die Mitte des 19. Jahrhunderts konnte der Ausdruck „Stadt Berlin" fünf verschiedene räumliche Einheiten bezeichnen. 7 Es gab den Gemeindeverband von etwa 55 Quadratkilometern Größe, den etwas größeren Gerichtsbezirk, den weiteren Polizeibezirk mit fast 550 Quadratkilometern, den engeren Polizeibezirk und schließlich das eigentliche Berlin innerhalb der Stadtmauer, das nicht mehr als 15 Quadratki5 6 7

F. W . A. Bratring, Beschreibung ... (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 160. A. a. O., S. 164. Dort auch die beiden folgenden Zitate. Vgl. I. Mieck, Reformzeit ... (wie Anm. 4), S. 500—503.

Berlin als

Wirtschaftszentrum

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lometer groß war. All diese Abgrenzungen und Eingrenzungen waren polizeilich oder administrativ bestimmt, ökonomische Kriterien spielten dabei keine Rolle. Der Wirtschaftsraum Berlin lag irgendwo zwischen diesen administrativen Bereichen. Sicher gehörte Spandau dazu, auch Potsdam und bestimmt das entfernter liegende Oranienburg mit seiner wichtigen chemischen Fabrik. Auf der von O t t o Büsch 1970 herausgegebenen Karte „Gewerbe in Brandenburg um 1849" ist dieser Wirtschaftsraum Berlin eher zufällig, aber doch recht treffend durch einen Kreis umschlossen, dessen Größe zwar die Anzahl der Beschäftigten in dieser Zone repräsentiert, aber mit seinem Radius von etwa 35 km ziemlich exakt das Areal umreißt, das man als Wirtschaftsraum Berlin bezeichnen könnte. An der Peripherie dieser Zone liegen Orte wie Oranienburg, Biesenthal, Bernau, Strausberg, Alt-Landsberg, Köpenick, Mittenwalde, Zossen, Potsdam, Spandau und Nauen. 8 Man könnte diese rings um die preußische Hauptstadt gelegene Region in Anwendung eines moderneren Begriffes auch als eine Gewerbe-, oder in späterer Zeit, Industrielandschaft bezeichnen. Sie unterschied sich allerdings von anderen vergleichbaren Regionen dadurch, daß diese Landschaft in ganz ungewöhnlichem Maß von der Zentralsiedlung Berlin geprägt wurde. Schon vor 17 Jahren wies O t t o Büsch aufgrund seiner statistischen Untersuchungen auf die „überragende Stellung" hin, die Berlin inmitten seines brandenburgischen Umlandes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts innehatte: U m 1800 beherbergte die Stadt mehr als 16 Prozent der Bevölkerung der gesamten Provinz Brandenburg und — was in unserem Zusammenhang wichtiger ist — 34 Prozent aller in der Provinz tätigen Gewerbetreibenden. 9 Eine neuere Berechnung kommt sogar zu dem Ergebnis, daß sich in Berlin 46 Prozent aller Gewerbetreibenden der Provinz konzentrierten. Während auf dem Lande von 1000 Einwohnern 31 und in anderen Städten 125 gewerblich tätig waren, lassen sich für Berlin 203 errechnen. 10 8 O t t o Büsch, Das Gewerbe in der Wirtschaft des Raumes Berlin-Brandenburg 1800— 1850. Entwicklung, Bedeutung und regionale Gliederung des „ strategischen Sektors" in der frühindustriellen Wirtschaft und Gesellschaft, in: Otto Büsch (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte derfrühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin!Brandenburg (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 6), Berlin 1970, S. 4—105, hier Kartenbeilage. 9 A. a. O., S. 45. 10 Karl Heinrich Kaufhold, Gewerbelandschaften in der frühen Neuzeit (1650—1800), in: Hans Pohl (Hrsg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins

124

lija

Mieck

Nach den Berechnungen von Karl Heinrich Kaufhold ist es erwiesen, daß sich die Gewerbebetriebe in den mittleren Provinzen Preußens in wenigen Städten konzentrierten. Die Kurmark war deutlich agrarisch geprägt, doch gab es in ihr einige Städte von hoher Gewerbedichte — sozusagen gewerbliche Inseln in einer landwirtschaftlich bestimmten u Umwelt. Aus diesen Gründen hat sich Kaufhold dafür ausgesprochen, die Kurmark insgesamt nicht als eine Gewerbelandschaft anzusehen. Folgt man dieser Auffassung, richtet sich der Blick fast von selbst um so stärker auf die enorme ökonomische Potenz im Mittelpunkt dieser agrarisch orientierten Region. Die schon früher geäußerte Vorstellung von dem dominierenden Charakter der Residenzstadt gewinnt vor diesem Hintergrund schärfere Konturen: Berlin erscheint als ein unvergleichlich stark entwickeltes Gewerbezentrum, in dem die Produktion für den überörtlichen Absatz eine größere Rolle als in den übrigen Städten spielte. Der Stand der Forschung erlaubt es also, Berlin als ein überregional bedeutendes Gewerbezentrum zu kennzeichnen. Zu einem „Wirtschaftszentrum" gehört freilich mehr. Andere Faktoren müssen hinzutreten, damit ein Ort von einer gewissen gewerblichen Bedeutung zu einem „Wirtschaftszentrum" aufsteigt. Ich möchte vier dafür ausschlaggebende Faktoren vorschlagen und zugleich überprüfen, ob sie im Falle Berlins nachzuweisen sind. 1. Es muß eine ausreichende demographische Basis vorhanden sein, um neben der landwirtschaftlichen Beschäftigung auch genügend Arbeitskräfte für den gewerblich-handwerklich-industriellen Bereich und für die Dienstleistungsgewerbe zur Verfügung zu haben. Daß Berlin diese Voraussetzung erfüllte, darf als erwiesen gelten. Nach einem relativ kontinuierlichen Anstieg im 18. Jahrhundert beschleunigte sich der Bevölkerungszuwachs in der Folgezeit, vor allem in den Friedensjahrzehnten seit 1815, auf unerhörte Weise. Die Einwohnerzahl Berlins verdoppelte sich zwischen 1815 und 1848 von knapp 200000 auf gut 400000. Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren weder eine überhöhte Geburtenziffer noch eine besonders günstige Sterblichkeitsrate, sondern die Zuwanderung von außen.12 Die aufstrebende Groß20. Jahrhundert (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beih. 78), Stuttgart 1986, S. 112—202, hier S. 120; die Berechnungen nach Karl Heinrich Kaufhold, Das Gewerbe in Preußen um 1800 (= Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2), Göttingen 1978, Tab. 1, 6, 7 und 19. n 12

K. H. Kaufhold, Gewerbelandschaften ... (wie Anm. 10), S. 122. Vgl. I. Mieck, Reformzeit... (wie Anm. 4), S. 479 ff.

Berlin als

Wirtschaftszentrum

125

Stadt mit ihren vielfältigen Beschäftigungs- und Arbeitsmöglichkeiten, ihren Aufstiegschancen, ihren karitativen Einrichtungen und auch mit ihrer Zerstreuungskultur übte einen Sog aus, der von Jahr zu Jahr größer wurde. In dieser Zeit bekam Berlin die Auswirkungen des Oktoberedikts von 1807 zu spüren, das die Trennung von Stadt und Land aufgehoben und durch die Abschaffung der Erbuntertänigkeit die Mobilität der Landbevölkerung vorbereitet hatte. Man darf dabei nicht übersehen, daß der Zuwanderung auch eine erhebliche Abwanderung gegenüberstand. Entscheidend für die Berliner Bevölkerungsentwicklung war jedoch, daß die Wanderungsbilanz in diesen Jahrzehnten immer positiv blieb. Insgesamt wird man bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts annehmen können, daß von den rund 200000 Mehreinwohnern des Jahres 1847 im Vergleich zur Zeit um 1815 etwa 150000 zugewandert sind. 2. Der Begriff „Wirtschaftszentrum" deutet bereits an, daß ein zu solcher Qualität emporwachsender O r t in unmittelbarer Nähe keine vergleichbaren Siedlungen entstehen läßt. Er entfaltet eine derartige Dynamik, daß sich der spezifisch ökonomischen Sogwirkung kaum jemand in der näheren Umgebung entziehen kann. Dies zeigt sich in der geographischen Herkunft der Zuwanderen 13 Die meisten von ihnen, nämlich 86 Prozent, kamen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus anderen preußischen Gebieten, wobei der Regierungsbezirk Potsdam unangefochten mit über 45 Prozent die Spitzenposition einnahm. Mit weitem Abstand folgte die Provinz Sachsen, aus der 15 Prozent der Zuwanderer kamen. Erst an dritter Stelle erscheinen mit knapp neun Prozent die berühmten Schlesier, so daß die Redensart, jeder richtige Berliner stamme aus Breslau, zumindest für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht gerechtfertigt ist. Dieses Verhältnis verschob sich seit der Mitte des Jahrhunderts insofern, als der Anteil der Zuwanderer aus der Provinz Brandenburg zwar zurückging, aber nach wie vor die erste Stelle einnahm. Zwischen 1850 und 1875 bildeten die Schlesier die zweitgrößte Gruppe der Zuwanderer, während diejenigen aus Sachsen auf den dritten Platz zurückfielen. 14 3. Ein weiterer Faktor, der als konstitutives Element eines „Wirtschaftszentrums" zu gelten hat, ist das Vorhandensein eines funktio13

A. a. O., S. 483. Burkhard Asmuss, Berlin, Berlin. Materialien zur Geschichte der Stadt. Eine Publikation im Rahmen der Ausstellung im Martin-Gropius-Bau 1987, hrsg. von Gottfried Korff u. Reinhard Rürup, Berlin 1987, S. 48 f. 14

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l i j a Mieck

nierenden Waren- und Kapitalmarktes. Er ist die Voraussetzung für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Konsumgütern und muß auch in der Lage sein, die Kreditwünsche der aufstrebenden Industrie zu erfüllen. Ein deutliches Indiz dafür, daß Berlin bereits um die Jahrhundertwende ein beachtliches Handelszentrum darstellte, ist die Tatsache, daß man 1805 ein neues Börsengebäude, an dem man vier Jahre lang gebaut hatte, eröffnete. Zwei Jahre zuvor, im Herbst 1803, war mit der „Vereinigten Börsenkorporation" eine erste Gesamtvertretung der Berliner Handelswelt, die bislang in mehrere Gilden aufgesplittert war, ins Leben getreten. Man konnte es sich leisten, Fassadengestaltung und Innendekoration des neuen Börsenhauses Johann Gottfried Schadow, dem Schöpfer der Quadriga auf dem Brandenburger Tor, zu übertragen; das Gebäude kostete über 100000 Taler. 1 5 Unter den drückenden Verhältnissen während und nach der „Franzosenzeit" durchlebte der Berliner Handel, abgesehen von einigen Kriegsgewinnlern, infolge der unmäßigen Forderungen der Sieger eine schwere Krise. 16 Die allmähliche Erholung nach 1815 fand ihren sichtbarsten Ausdruck in der am 2. März 1820 erfolgten Gründung der „Korporation der Kaufmannschaft von Berlin". Die Verpflichtung, dieser neuen Interessenvertretung der Berliner Handelswelt beizutreten, bestand für jeden, der die kaufmännischen Rechte entsprechend den Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts in Anspruch nehmen wollte. Entsprechend groß war das Spektrum der in ihr vertretenen kaufmännischen Berufe. Insgesamt nahm die Berliner Kaufmannschaft zwischen 1815 und 1848 einen beachtlichen Aufschwung. Allein die Zahl derjenigen Händler, die „offene Läden" hielten oder Konsumgüter der verschiedensten Art verkauften, verdoppelte sich. Die Zahl der im Versorgungshandel tätigen Kaufleute nahm ebenfalls erheblich zu. 1843 arbeiteten in Berlin 91 Holzhändler, 86 Weinhändler und 44 Getreidehändler. An der Spitze der Kaufmannschaft standen die Inhaber der Bank- und Großhandelshäuser, von denen es im Jahre 1843 nicht weniger als 384 gab. Neben diesen waren noch 32 Geld- und Warenmakler tätig. 17 Die Ausbildung und allmähliche Verfeinerung dieses Versorgungssystems verstärkte natürlich die Attraktivität Berlins für seine Umgebung. Den Bewohnern des „Umlandes" wurde immer klarer, daß fast 15

16 17

Vgl. dazu I. Mieck, Reformzeit... A. a. O., S. 435, 449 f. und 459. A.a.O., S. 551—554.

(wie Anm. 4), S. 551 f.

Berlin als

Wirtschaftszentrum

12 7

alle ökonomischen Bedürfnisse im Wirtschaftszentrum Berlin sehr viel besser zu decken seien als im heimisch dörflichen Bereich oder in den kleineren Städten der Umgebung. Diese Bedarfsdeckung setzte aber voraus, daß parallel zum Aufbau eines Versorgungsnetzes auch ein funktionierendes Verkehrsnetz installiert wurde. 4. Daß die Doppelstadt Berlin-Cölln nicht aus einem Fischerdorf entstand, 18 sondern als Brückenort an einem günstigen Spreeübergang, gilt mittlerweile als historisch gesichertes Faktum. 1 9 Von dieser günstigen Marktlage hat die Stadt auch in späteren Jahrhunderten profitiert, obwohl sich die Verkehrs- und Transportmittel kaum änderten. Lediglich die Verkehrsdichte wurde den sich wandelnden Bedürfnissen allmählich angepaßt. Seit 1754 gab es eine „Journalière", die täglich einmal, später zweimal, nach Potsdam fuhr. 20 Um 1800 ging bereits sechsmal wöchentlich eine Fahrpost nach Hamburg, doch wurde die weitere Entwicklung des Verkehrswesens durch die napoleonischen Kriege stark gebremst. Erst nach 1815 vollzog sich der Ausbau eines überregionalen Verkehrsnetzes. 1829 gab es von Berlin aus tägliche Fahrpost-Verbindungen nach Frankfurt/Oder, Halle, Leipzig, Magdeburg, Potsdam, Spandau und Stettin. Mehrmals in der Woche wurden Breslau, Dresden, Hamburg, Prag und Stralsund angefahren. Die längsten Fahrten gingen von Berlin nach Königsberg in Preußen und nach Köln. Wer Berlin montags um 10.00 Uhr mit der Fahrpost verließ, traf am Sonnabend um 10.00 Uhr in Königsberg ein, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 5,35 km/h entsprach. Die Reise nach Köln dauerte noch einen Tag länger, weil die Fahrt durch die Mittelgebirge das Reisetempo auf 4,34 km/h absinken ließ. Die Schnellpost war in der T a t etwas schneller, aber auch erheblich teurer. Den eigentlichen Vorortverkehr, also die Verbindungen nach Charlottenburg, Schöneberg, Tempelhof, Pankow, Lichtenberg, Stralau und Spandau besorgten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die sogenannten „Torwagen". 2 1 Diese Fuhrwerke hatten zwar feste Ziele, verkehrten aber nur bei Bedarf und fuhren erst ab, wenn alle Plätze

18

Hauptverantwortlich für diese Legende war das verbreitete Buch von Adolf Streck-

fuß, Vom Fischerdorf zur Weltstadt. Berlin seit 500J ahren. Geschichte und Sage, Bd. 1—4, Berlin 1864, 4. Aufl. 1886 (mit etwas geändertem Titel). 19

Vgl. jetzt Winfried Schich, Das mittelalterliche Berlin (1237—1411),

(Hrsg.), Geschichte Berlins ...

(wie Anm. 4), Bd. 1, S. 138—248.

20

Vgl. I. Mieck, Reformzeit...

21

A.a.O.,

S. 516f.

(wie Anm. 4), S. 517—519.

in: W . Ribbe

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Mieck

besetzt waren. Sie standen vor den Stadttoren und faßten bis zu 16 Personen. U m 1820 hielten besonders am Sonntag 30 bis 40 solcher Kutschen, im Winter auch Schlitten, vor dem Brandenburger T o r und brachten die Passagiere für zwei Silbergroschen nach Charlottenburg. Diese Torwagen dienten nicht nur dem Vergnügungsverkehr der Berliner, die der verpesteten Großstadtluft 2 2 gern einmal den Rücken kehrten; sie dienten auch dem Besorgungsverkehr der Bewohner des Umlandes, die in Berlin Läden, Behörden, Arztpraxen, Apotheken und wohl auch die reichlich vorhandenen Vergnügungsetablissements besuchen wollten — jedenfalls fuhr sonntags der letzte Wagen erst um 23.00 Uhr nach Spandau zurück. Neben den 390 Torwagen, die man im Jahre 1841 registrierte, gab es für den innerstädtischen Verkehr noch über 600 ein- oder zweispännige Droschken — eine Einrichtung, die man erst seit 1815 in Berlin kannte und die zwei Jahrzehnte lang von einem einzigen Unternehmen, das ein Exklusivprivileg erhalten hatte, betrieben wurde. 23 1839 tauchten dann die ersten Pferdeomnibusse in den Straßen Berlins auf. In den zwanziger Jahren bereitete man auch eine Neuordnung der Stadtpost vor, die unter königlicher Regie stand. Berlin wurde in 36 Zustellbezirke eingeteilt; 60 Kaufleute hatten ihre Geschäfte für die Einlieferung von Postsendungen zur Verfügung gestellt. Briefkästen gab es nur vor der Hauptpost und in der Spandauer Straße. Die eingetroffene Post — um 1830 erreichten jährlich vier bis fünf Millionen Briefe die Stadt — wurde sechsmal täglich durch die 36 Briefträger zugestellt, die zugleich die eingelieferten Sendungen von den Sammelstellen abholten. Die Tarife der königlichen Stadtpost, die am 1. Dezember 1827 ins Leben trat, insbesondere das hohe Briefporto, wurden von Anfang an kritisiert. 24 Der Ausbau eines von Berlin ausgehenden überregionalen Verkehrsnetzes betraf auch die Wasserstraßen, die bereits in merkantilistischer Zeit häufig zu den Paradeobjekten fürstlicher Bemühungen um den Landesausbau gehört hatten. Bis zur späten Mitte des 19. Jahrhunderts kamen zu den bereits vorhandenen Kanal- und Hafenanlagen der Voß-

22

Vgl. Ilja Mieck, Berliner Umweltprobleme

(Hrsg.), Umweltprobleme 23

Vgl. dazu Ilja Mieck, Die werdende

Biedermeierzeit,

im 19. Jahrhundert,

Großstadt.

in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch

I. Mieck, Reformzeit

...

Berliner Verkehrsprobleme

in der

des Vereins für die Geschichte Berlins 9

(1960), S. 4 9 — 6 8 , hier S. 5 5 — 6 7 . 24

in: Ingolf Lamprecht

einer Großstadt — Beispiel Berlin, Berlin 1990, S. 1—26.

(wie Anm. 4), S. 512.

Berlin als

Wirtschaftszentrum

129

(1823), der Malzer (1828), der Oranienburger (1837), der ausgebaute Landwehr- (1850), der Luisenstädtische (1852) und der BerlinSpandauer-Schiffahrtskanal (1859) hinzu, außerdem der Schöneberger (1852), der Humboldt- (1859) und der Nordhafen (1859). 25 Während sich die bisher erwähnten Verkehrsverbesserungen im Rahmen jahrhundertealter Traditionen hielten (und auch noch nicht in allen Bereichen den Erfordernissen eines modernen Massentransports genügten), wies der optische Telegraf weit über die herkömmlichen Kommunikationsstrukturen hinaus. Seit 1832 arbeitete man an der Errichtung der insgesamt 61 Signalmasten, die etwa elf Kilometer voneinander entfernt standen, um eine durchgehende Verbindung von Berlin nach Koblenz zu erhalten. Die Linie war 1833 fertig. Die Telegrafiergeschwindigkeit war nicht nur vom Wetter, sondern auch von der Qualität der Telegrafisten abhängig; bei günstigen Sichtverhältnissen konnte eine Depesche aus Berlin anderthalb Stunden später in Köln sein — damit rückten nicht nur die westlichen Provinzen, sondern auch das westliche Ausland merklich dichter an die preußische Zentrale heran. 26 Vergleicht man die Charakterisierung Berlins durch Bratring zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Situation, wie sie sich durch das Hinzutreten der vier akzelerierenden Faktoren, die im einzelnen erörtert worden sind, etwa fünfzig Jahre später präsentierte, wird man keinen Zweifel daran haben können, daß sich der Fabrikort Berlin zu einem veritablen Wirtschaftszentrum entwickelt hatte. In Preußen gab es nicht seinesgleichen. II Wenn Berlin also in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als preußisches Wirtschaftszentrum von exzeptioneller Prägung gelten kann, stellt sich nunmehr die anschließende Frage, wann die preußische Hauptstadt über diese Funktion hinauswuchs und zu einem deutschen Wirtschaftszentrum wurde. Michael Stürmer hat darauf kürzlich fol-

25

Vgl. dazu die beiden ausgezeichneten Studien von Werner Natzschka, Berlin

seine Wasserstraßen, und die Märkischen und 183 f. 26

und

Berlin 1971, S. 59—80, und von Hans-Joachim Uhlemann, Berlin Wasserstraßen, Berlin [Ost] 1987, S. 43—47, 77 f., 96—103, 153 f.

I. Mieck, Reformzeit...

(wie Anm. 4), S. 519.

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lija Mieck

gende Antwort gegeben: Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde Berlin, was vom hohen Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg Nürnberggewesen war, Industriezentrum Deutschlands.27 Leider stimmt dieser für Berlin schmeichelhafte Vergleich nicht, da es aufgrund der faktischen ökonomischen und technischen Situation nicht gerechtfertigt ist, den Aufstieg Berlins zu einem deutschen Wirtschaftszentrum, geschweige denn zu einem deutschen Industriezentrum, bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert beginnen zu lassen. Ansätze dazu hat es sicher gegeben, aber insbesondere die napoleonischen Jahre haben die Stadt weit zurückgeworfen und die ökonomische Substanz ernsthaft angegriffen. Auch die von Stürmer als Ursache genannte bewußte und von oben vorangetriebene Anstrengung der technischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Hochleistung entfaltete ihre Wirkung erst seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die wissenschaftlichen Impulse der neuen Universität, die von Schinkel ausgehenden Einflüsse auf das künstlerische und architektonische Berlin, die vielfältigen Maßnahmen einer neu konzipierten, den Wettbewerb favorisierenden Gewerbe- und Wirtschaftsförderung — all das kam erst lange nach dem Ende der Freiheitskriege zum Tragen. Außerdem wiesen diese Tendenzen, wie sich aus zahlreichen Äußerungen Beuths und anderer Politiker entnehmen läßt, zunächst keineswegs über den preußischen Rahmen hinaus. Neue Faktoren mußten auch hier hinzutreten, um dem Aufschwung Berlins sozusagen eine neue Qualität zu verleihen. Nach meiner Auffassung waren dafür drei Komponenten konstitutiv: 1. Seitetwa 1818 ging von Berlin eine Wirtschafts- und Handelspolitik aus, die man zwar sicher nicht als gesamtdeutsch-national bezeichnen kann, die aber über den spezifisch preußischen Horizont hinausreichte. In der berühmten Silvesternacht des Jahres 1833 erreichte diese Politik ihren ersten Höhepunkt: Als die innerdeutschen Zollschranken zwischen den meisten Territorien fielen, wurde Berlin zur heimlichen Hauptstadt des wirtschaftlichen Deutschland. Der weitere Ausbau des Zollvereins, dem 1842 bereits 28 deutsche Staaten mit etwa 25 Millionen Einwohnern angehörten, konnte die zentrale ökonomische Rolle

17 Michael Stürmer, Berlin als Hauptstadt des Reiches, Industriemetropole und Finanzplatz, in: Berlin und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft — Lehren und Erkenntnisse, hrsg. von der Industrie- und Handelskammer zu Berlin, Berlin-New York 1987, S. 79—94, hier S. 90.

Berlin als Wirtschaftszentrum

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der preußischen Hauptstadt nur unterstreichen.28 Wie stark diese Position um 1840 im öffentlichen Bewußtsein verankert war, zeigt die Debatte, die sich damals um den Ort einer deutschen Gewerbeausstellung entspann. 2. Ausgehend von einer Anregung der 4. Generalkonferenz in Zollvereins-Angelegenheiten wurde seit 1841 der Plan periodischer Industrieausstellungen des Zollvereins diskutiert.29 Eine erste „gemeinsame" deutsche Ausstellung fand 1842 in der Bundesfestung Mainz statt; doch lag es wohl an der kurzen Vorbereitungszeit und dem als Garnison- und Kasernenstadt wenig attraktiven Ausstellungsort, daß sich nur 715 Aussteller, darunter 86 aus Preußen, einfanden.30 Dennoch hat diese Ausstellung, wie es ein Zeitgenosse formulierte, besonders im westlichen Deutschland das Publikum und namentlich den Gewerbestand so befriedigt, daß der Wunsch ihrer baldigen Wiederholung von mehreren Seiten laut wurde.11 Selbst der offizielle österreichische Ausstellungsbeobachter, Professor Reuter, der bereit war, die nächste Ausstellung in Wien durchzuführen, gab zu, daß Preußen als erster Staat des Zollvereins den Vorzug verdiene,32 Bereits ein halbes Jahr später zog die Ministerialverwaltung in Berlin ernsthaft in Erwägung, eine solche allgemeine Ausstellung vielleicht im nächsten Jahre hier zu veranstalten,33 Den letztlich entscheidenden Anstoß gab jedoch der Außenminister v. Bülow, der seinen Kollegen v. Bodelschwingh fragte, ob es nicht Preußen gezieme, wie in allen die Beförderung von VereinsInteressen betreffenden Angelegenheiten, so auch darin voranzuschreiten; dies sei insbesondere deshalb wünschenswert, damit nicht eine andere Vereins-Regierung, wie zum Beispiel Bayern, Preußen dabei zuvorkomme,34

28

Vgl. Wilhelm Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 56), Berlin-New York 1984, S. 292—297. Eine treffende Gesamtwürdigung gibt Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800—1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 358—361. 29 Zentralarchiv der DDR, Abteilung Merseburg, Rep. 120, E XVI 2, 13 c, vol. 1. 30 Franz Reuleaux, Die Anfänge des Ausstellungswesens, in: Hans Kraemer u. a., Das 19. Jahrhundert in Wort und Bild. Politische und Kulturgeschichte, Bd. 2, Berlin usw. 1900, S. 131—144, hierS. 136. 31 Amtlicher Bericht über die allgemeine Deutsche Gewerbe-Ausstellung zu Berlin im Jahre 1844, Bd. 1—3, Berlin 1845—1846, hier Bd. 1, S. 12. 32 Zentralarchiv/Merseburg, act. cit. (wie Anm. 29), fol. 68. 33 A. a. O., Schreiben Beuths vom 30. 5. 1843. 34 A. a. O., Schreiben v. Bülows vom 23. 11. 1843.

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Die Resonanz auf die bald darauf ergehenden Einladungen übertraf alle Erwartungen: 685 Aussteller kamen aus Berlin selbst, 1247 aus dem übrigen Preußen, 392 aus den süd- und 467 aus den mitteldeutschen Vereinsstaaten, schließlich noch 249 aus Ländern, die nicht dem Zollverein angehörten — insgesamt 3040 Aussteller, die ihre Objekte im Wert von mehr als einer Million Reichstalern im teilweise geräumten Zeughaus zehn Wochen lang zeigten und etwa 260 000 Besucher anlockten. 35 Berlin präsentierte sich mit dieser Allgemeinen Deutschen Gewerbeaussteilung von 1844 zum erstenmal als ein gesamtdeutsches Ausstellungs- und Messezentrum von unvergleichlicher Anziehungskraft. Seitdem galt die preußische Hauptstadt auch in den Augen der Öffentlichkeit als das deutsche Wirtschaftszentrum. 3. Daß Berlin diese Rolle in den folgenden Jahrzehnten immer stärker an sich ziehen konnte, lag nicht zuletzt auch daran, daß die Stadt mittlerweile zu einem Eisenbahnknotenpunkt von überregionaler Bedeutung geworden war. Schon Mitte der vierziger Jahre war Berlin, wie der Statistiker Dieterici befriedigt feststellte, durch vier Eisenbahnen mit den vier Weltgegenden verbunden;36 nach dem Potsdamer (1838), dem Anhalter (1841), dem Stettiner (1842) und dem Frankfurter Bahnhof (1842) wurde 1846 — nur acht Jahre nach Eröffnung der ersten Linie — mit dem Hamburger Bahnhof bereits der fünfte Kopfbahnhof in Betrieb genommen. Neben dem Personenverkehr spielte der Güterverkehr von Anfang an eine bedeutende Rolle, da die Schiffahrtswege, wie erwähnt, nur allmählich den Ansprüchen des Industriezeitalters angepaßt werden konnten. Man wird in den drei genannten Aspekten zweifellos konstitutive Faktoren für eine neue Funktion Berlins erblicken können. Die Stadt wurde mindestens seit den vierziger Jahren, aber gewiß auch nicht sehr viel früher in der T a t ein deutsches Wirtschaftszentrum; jetzt wurde sie, um noch einmal Michael Stürmer zu zitieren, Werkstatt, Kontor und Anwaltskanzlei der deutschen Industrialisierung,37 Lange vor der Reichsgründung von 1871 war der preußischen Hauptstadt die Funktion der deutschen Wirtschaftsmetropole zugewachsen.

Vgl. Amtlicher Bericht ... (wie Anm. 31), passim; F. Reuleaux, Die Anfänge (wie Anm. 30), S. 136—144; I. Mieck, Reformzeit... (wie Anm. 4), S. 582—586. 35

...

56 Carl Friedrich Wilhelm Dieterici, Statistische Übersicht der Stadt Berlin, in: Berliner Kalender 1844, Berlin 1844, S. 159—260, hier S. 188. 37 M. Stürmer, Berlin ... (wie Anm. 27), S. 90.

Berlin als Wirtschaftszentrum

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III Die Frage, wann Berlin zu einem europäischen Wirtschaftszentrum aufstieg, läßt sich nicht chronologisch exakt beantworten. Zweifellos hat sich dieser Ubergang ohne große Sprünge vollzogen, beginnend wohl im Jahrzehnt der Reichsgründung und der geradezu explodierenden wirtschaftlichen und finanziellen Aktivitäten in diesen Jahren. Dennoch wird man diese Position differenziert sehen müssen. In europäischem Maßstab führend war Berlin längst nicht auf allen ökonomischen Sektoren, wohl aber in der Metallverarbeitung, im Maschinenbau, in den verschiedenen Zweigen der chemischen Industrie sowie — in zunehmendem Maße — in der Elektroindustrie, die zum eigentlichen Paradepferd der Berliner Wirtschaft wurde.™ Aus kleinen Anfängen stiegen die Spitzenreiter dieser Entwicklung, die Firmen Siemens und A E G , in den Jahrzehnten vor 1900 zu Großunternehmen europäischen Zuschnitts auf. Hinter beiden stand das für die industrielle Expansion unentbehrliche Kapital; im Falle Siemens die Deutsche Bank, in der ein Siemens-Vetter im Vorstand saß, im Falle der A E G die Berliner Handels-Gesellschaft. 39 Zusammen mit der Dresdener Bank, die ihre Direktion 1884 nach Berlin verlegte, den älteren traditionsreichen Berliner Bankhäusern wie Hansemanns DiscontoGesellschaft, Bleichröder, Mendelssohn und der 1875 gegründeten Reichsbank machten sie Berlin im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem der internationalen Finanzzentren mit Verbindungen, die weit über den europäischen Raum hinausreichten. In enger Verbindung zum Bankwesen stand die Berliner Börse, die seit 1864 in ihrem neuen, von Hitzig errichteten Gebäude untergebracht war. Um die Jahrhundertwende wurde sie täglich von 4000 Personen besucht; sie war im Staatspapier- und Aktienhandel Deutschlands Hauptbörse und für den europäischen Geldmarkt von Bedeutung.40 Berlin war zu dieser Zeit als Wirtschafts- und Finanzzentrum an die großen Konkurrenten London und Paris herangewachsen und behauptete unangefochten den dritten Platz. War es erstaunlich, daß in diesen Jahren des ökonomischen Aufschwungs, den bekanntlich nicht gerade selten politische Großmanns38

Michael Erbe, Berlin im Kaiserreich (1871—1918),

Berlins... 39 40

in: W . Ribbe (Hrsg.), Geschichte

(wie Anm. 4), Bd. 2, S. 691—793, hier S. 722 f.

A.a.O.,

S. 724f.

Artikel: Berlin, in: Meyers Konversationslexikon, 1909, S. 692—704, hier S. 697.

Bd. 2, 6. Aufl., Leipzig-Wien

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sucht begleitete, namhafte Kreise daran dachten, auch in anderer Hinsicht mit den älteren Schwestern an Seine und Themse gleichzuziehen und in der deutschen Kaiserstadt eine Weltausstellung zu veranstalten? Beim Besuch der Berliner Ausstellung von 1844 war dem Prinzen Albert, dem Gemahl der Queen Victoria, der Weltausstellungsgedanke gekommen. Auf seine Anregung hin wurde die Idee in England weiterentwickelt und zum erstenmal in London 1851 verwirklicht. 41 Paris zog 1855 nach; London folgte 1862 mit einer zweiten Ausstellung, Paris wiederum mit der von 1867, die neun Millionen Besucher anlockte. Andere Weltausstellungen, teilweise hinter den großen Vorbildern zurückbleibend, teilweise diese noch übertreffend, folgten in Wien (1873), Philadelphia (1876), Paris (1878), Sydney (1879) und Melbourne (1880). Auch gab es Landesausstellungen mit internationaler Beschickung in Moskau, Antwerpen, Nizza, Amsterdam, bevor — zum Revolutionsjubiläum — Paris 1889 seine vierte Weltausstellung veranstaltete, deren Wahrzeichen der Eiffelturm wurde. 42 Wo war Berlin in dieser allgemeinen Ausstellungseuphorie? Es hatte 1879 eine Gewerbeausstellung veranstaltet, die im neugeschaffenen Landesausstellungspark neben dem Lehrter Bahnhof stattfand und fünf Monate dauerte. Mit 1800 Ausstellern und mehr als 200000 Besuchern blieb sie indessen deutlich hinter den Zahlen von 1844 zurück 43 — in Paris ein Jahr zuvor hatte man über 52000 Aussteller gezählt. Sicher erklärt sich die bescheidenere Resonanz aus der löblichen, letztendlich aber für diese Epoche verfehlten Ausstellungspolitik, die darauf achtete, daß nur wirkliche Berliner Erzeugnisse zur Ausstellung gelangten.44 Welch ein Gedanke, anders und besser als 1879 in den Wettstreit der Metropolen einzutreten und eine Weltausstellung nach Berlin zu holen! Es gab zwei entsprechende Projekte. Das erste zielte auf das Jahr 1885 und ging vom Deutschen Handelstag aus, der sich trotz der Zurückhaltung der Reichsregierung in dieser Frage Ende 1879 dafür aussprach, daß, wenn überhaupt eine Weltausstellung wieder veranstaltet

41

FranzKeulezux, Ausstellungswesen 1851—1899, in: H . Kraemeru. a., Das 19. Jahrhundert ... (wie Anm. 30), Bd. 3, Berlin 1900, S. 185—202, hier S. 183 f. 42 Eine Übersicht a. a. O., S. 188—196. 45 Berlin und seine Arbeit. Amtlicher Bericht der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896, zugleich eine Darstellung des gegenwärtigen Standes unserer gewerblichen Entwicklung, hrsg. vom Arbeitsausschuß Fritz Kühnemann, B. Felisch und L. M. Goldberger, Berlin 1898, S. 23. 44 Ebda.

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werden sollte, dieselbe in Berlin stattfinden müsse.AS In der Kaiserstadt selbst wurde der Weltausstellungsgedanke insbesondere von dem 1879 gegründeten „Verein Berliner Kaufleute und Industrieller" propagiert, wenngleich die Entscheidung gegen eine nur nationale Ausstellung mit 8 3 : 7 8 Stimmen denkbar knapp ausfiel.46 Aber die Reichsregierung blieb bei ihrer schon im April 1881 geäußerten Auffassung, daß eine Weltausstellung in Berlin nicht in Aussicht genommen sei... auch zur Zeit ein solches Unternehmen nicht empfohlen werden könne,47 Während die Denkschrift des Berliner Vereins vom Juni 1881 noch einmal alle Argumente für eine Weltausstellung in Berlin zusammenfaßte, finden sich die meisten Gegenargumente bereits in einem wahrscheinlich lancierten Artikel, der um die Jahreswende 1879/80 erschienen ist. 48 Abgesehen von den ausstellungsspezifischen Kontroversen, die hier übergangen werden können, enthält dieser Artikel eine Charakterisierung Berlins, die im Hinblick auf die Bedeutung dieser Stadt in Europa festgehalten zu werden verdient. 49 Berlin sei wohl, so heißt es, die erste Industrie- und Handelsstadt und die politische Hauptstadt eines nicht besonders wohlhabenden Reiches ... aber kein Mittelpunkt des Weltverkehrs wie es Paris und London sind und Wien es wenigstens für den österreichischen Kaiserstaat und weite Gebiete an der unteren Donau ist. Da Berlin überdies weniger A nziehungskraft auf den Fremden ausübt als Paris, London und Wien, wird es selbst in der guten Jahreszeit von Ausländern, abgesehen von den Russen und Skandinaviern, die es als Durchreisende berühren, in viel geringerer Zahl als jene besucht. Auch eine Weltausstellung könne an der Lage der Stadt nichts ändern — abseits von der großen Heerstraße der Engländer und Nordamerikaner, während den Franzosen, die ohnehin nicht sehr bereit sind, im A usland zu reisen, ein Besuch in Berlin sowieso kaum zuzumuten ist — um 1880 schien sich Berlin, der Parvenü unter den europäischen Metropolen, tatsächlich mit dem dritten oder vierten Platz zufriedengeben zu müssen. Nachdem die Verfechter des Ausstellungsgedankens mit ihrem zweiten Projekt, in Berlin im Jahre 1888 eine deutsch-nationale Gewerbe-

45 Karl Lüders, Das Projekt einer Weltausstellung zu Berlin im Jahre 1885, in: Preußische Jahrbücher 44 (1879), S. 614—627, hier S. 614. 46 Berlin und seine Arbeit ... (wie Anm. 43), S. 28. 47 Ebda. 48 K. Lüders, Projekt... (wie Anm. 45), S. 614—627. 49 A.a.O., S. 619f.

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ausstellung zu veranstalten, infolge der partikularistiscben Strömungen gegen Berlin und der Abneigung eines Teiles der Großindustriellen gegenüber jeder Ausstellung abermals gescheitert waren, begann der „Verein Berliner Kaufleute und Industrieller" 1891 eine neue WeltausstellungsKampagne für Berlin. In Aussicht genommen wurde das Jahr 1896/97.50 Während die befragten Institutionen außerhalb Preußens sich nach der Devise „ Sichere Kosten, unsicherer Nutzen" wiederum eher reserviert zeigten, schwappte von Berlin aus, wo sich die verschiedenen Interessengruppen im Juni 1892 zu einer gemeinsamen Initiative zusammenfanden, eine Welle der Ausstellungsbegeisterung über das Reich. Selbst Reichskanzler Caprivi schien, anders als Bismarck in den achtziger Jahren, aus der Verbindung von Ausstellungsidee und nationaler Bewegung politischen Gewinn für Kaiser und Reich zu erhoffen. Wilhelm II. wollte es anders — gegen den Verein Berliner Kaufleute, gegen die Korporation der Kaufmannschaft, gegen den traditionsreichen Gewerbeförderungsverein, gegen den Architektenverein, gegen den Verein für deutsches Kunstgewerbe und gegen unzählige andere Gruppierungen und Vereine. 51 Am 20. Juli 1892 teilte der Kaiser Caprivi mit, 52 daß er absolut dagegen sei. Er kritisierte nicht etwa die etwas unglückliche Terminierung im Hinblick auf die für 1893 geplante Weltausstellung in Chicago, sondern argumentierte prinzipiell: Ich will die Ausstellung nicht, weil sie meinem Vaterland und Stadt [sie!] Unheil bringt! ... Also keine Sorge! Ausstellung is nich, wie meine Herren Berliner sagen. Wiederum begegnet das schon bekannte Argument: In Berlin ist nichts, was den Fremden fesselt als die paar Museen, Schlösser und die Soldaten; in sechs Tagen hat er alles mit dem roten Buch in der Hand gesehen und zieht dann erleichtert weiter ... Das macht sich der Berliner nicht klar und würde es auch gründlich übelnehmen, wenn man ihm das sagte. Aber das ist eben das Hindernis der Ausstellung. Berlin also, mit den Worten des Kaisers, Großstadt, Weltstadt (vielleicht?) — eine Chance, auf dem Wege dorthin einen Schritt weiterzuBerlin und seine Arbeit ... (wie Anm. 43), S. 29—32. A. a. O., S. 32 f. Vgl. neuerdings auch Paul Thiel, Berlin präsentiert sich der Welt, in: Jochen Boberg/Tilman Fichter/Eckhart Gillen (Hrsg.), Die Metropole. Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert (= Industriekultur deutscher Städte und Regionen), München 1986, S. 16—27, hier S. 16f. 50 51

Das Schreiben Wilhelms II. an Caprivi vom 20. 7.1892 publizierte Hans Herzfeld, Berlin als Kaiserstadt und Reichshauptstadt, in: Das Hauptstadtproblem in der Geschichte. Festgabe zum 90. Geburtstag Friedrich Meineckes (= Jahrbuch für Geschichte des deutschen Ostens, Bd. 1), Berlin 1952, S. 141—170, hier S. 168 f.: Anlage 2. 52

Berlin als Wirtschaftszentrum

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kommen, war jedenfalls vertan, als man im Reichsanzeiger vom 13. August 1892 die kaiserliche Entscheidung lesen konnte, daß dem Plane einer Weltausstellung in Berlin von Reichs wegen nicht näherzutreten sei.Si In diplomatischen Kreisen wußte man das schon vorher, denn am 13. Juli 1892 stand im Amtsblatt der französischen Regierung, daß Frankreich die Weltausstellung des Jahres 1900 ausrichten würde. Die Berliner Ausstellungsaktivisten mußten nun umdenken. Da selbst für eine deutsch-nationale Ausstellung weder die Reichsregierung noch breitere Kreise aus anderen deutschen Staaten zu gewinnen waren, reduzierte sich der Ausstellungshorizont schließlich auf die Reichshauptstadt: Es mag Berlin wohl anstehen, öffentlich und übersichtlich zu zeigen, was es im Reiche und durch das Reich geworden... Berlin hat, was es aller Welt zeigen darf, erläuterte im November 1892 der Geheime Kommerzienrat Goldberger, Vorsitzender des Vereins Berliner Kaufleute, die neuen Ausstellungspläne. 54 Das Ziel war die Selbstdarstellung der Industriemetropole Berlin. Die Bemerkung: Der Parvenü unter den Weltstädten war sich selbst g e n ü g t umschreibt die veränderte Sachlage unzutreffend, da ja der Verzicht auf größere Ausstellungsdimensionen den Veranstaltern allein durch allerhöchste Weisungen aufgezwungen wurde. 56 Im Gegenteil: Die Veranstaltung einer großen Berliner Ausstellung sollte allem böswilligen Gerede ein Ende machen, als ob begründeter Mangel an Selbstvertrauen den Plan einer Weltausstellung in Berlin zum Scheitern gebracht hätte. 57 Da man die drastisch verengte Ausstellungsperspektive zwangsläufig akzeptieren mußte, blieb nur übrig, den vorgegebenen Rahmen so gut wie möglich auszufüllen. An Präsentationsfläche fehlte es nicht: Das im Treptower Park entstehende Ausstellungsareal umfaßte neunzig Hektar; nur Paris (1889)

53

Berlin und seine Arbeit ... (wie Anm. 43), S. 34. A. a. O., S. 881—883: Rede des Herrn Geh. Kommerzienrats L. M. Goldberger in der öffentlichen Versammlung, betreffend die Veranstaltung einer Berliner Ausstellung 1895/97, am 10. November 1892. Das Zitat: S. 883. 54

55

P. Thiel, Berlin ... (wie Anm. 51), S. 17. Caprivi erklärte in einem Schreiben vom 4 . 4 . 1 8 9 4 ausdrücklich, daß es richtig und zweckmäßig sei, das Unternehmen auf Berlin zu beschränken und den Erfolg nicht durch die Erweiterung zu einer deutsch-nationalen Ausstellung in Frage zu stellen, vgl. Berlin und seine Arbeit ... (wie Anm. 43), S. 37. 56

57

Dieses Motiv für die 1896er Ausstellung betonte L. M. Goldberger in seiner erwähnten Rede, vgl. a. a. O., S. 883.

138

lija

Mieck

und Chicago (1893) hatten größere Ausstellungsflächen beansprucht. 5 8 Die am 1. Mai 1896 eröffnete Berliner Gewerbeaussteilung b o t ihren rund fünf Millionen Besuchern eine merkwürdige Mischung aus industrieller Leistungsschau, kolonialem Imponiergehabe, patriotischen Kriegsspielen, wilhelminischer Symbolik und Volksbelustigung. 5 9 Der Nachbau einer Alt-Berliner Straße und zweier ägyptischer Pyramiden sowie die eindrucksvolle Darstellung eines gewaltigen Alpenpanoramas verliehen dem Ganzen noch einen H a u c h Disneyland. Sechsmal täglich wurde in einem Bassin von 10000 Quadratmetern eine regelrechte Seeschlacht mit Geschützdonner und Schiffeversenken inszeniert — wie überhaupt die Ausstellung dafür gelobt wurde, daß sie einen so hervorragend maritimen Charakter trug 6 0 — mitten im Z e n t r u m der alten Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches. Berlin präsentierte sich auf dieser Ausstellung der Welt, soweit sie davon Kenntnis nahm, ganz sicher als eine Industriemetropole europäischen Formats, allerdings wilhelminisch verfremdet und ohne eine ernsthafte Berücksichtigung der eigentlichen Träger dieser wirtschaftlichen Expansion, der Arbeiter und Angestellten, der Dienstleistungskräfte, der Handwerker und der Tagelöhner. Fast das einzige, was an die Arbeiter erinnerte, war ein muskulöser Arbeiterarm, der einen H a m m e r hielt und das von Ludwig Sütterlin entworfene Ausstellungsplakat zierte. Immerhin trug der nach Abschluß der Ausstellung erschienene Katalog den Titel „Berlin und seine Arbeit". 6 1 Mit den Nebenausstellungen „Kairo in Berlin" und der „Deutschen Kolonialausstellung" sowie mit den kriegerischen Spielereien präsentierte sich Berlin in dieser Ausstellung auch als Z e n t r u m und Ausgangspunkt einer überspannten und leichtfertigen, nach Seeherrschaft und Weltgeltung strebenden Politik, deren hohles Pathos sich mit einer grandiosen Selbstüberschätzung verknüpfte. Es war, als ob die alten Mächte noch einmal zeigen wollten, wo der richtige, zumindest der bessere Weg entlangführte: Die von Wil58

Eine tabellarisch-statistische Ubersicht der bis dahin veranstalteten Weltausstellungen befindet sich a. a. O., S. 27. 59

Das Ausstellungspanorama ist abgedruckt bei P. Thiel, Berlin ... (wie Anm. 51),

S. 18 f., der auch eine knappe Schilderung der Ausstellung gibt. Umfangreicher ist die kritische Gesamtbetrachtung von Annemarie Lange, Das Wilhelminische Berlin. Zwischen Jahrhundertwende und Novemberrevolution, Berlin [ O s t ] 1967, S. 29—63, Kapitel 2: Berliner GeWerbeausstellung 1896. 60

F. Reuleaux, Ausstellungswesen 1851—1899

61

Siehe Anm. 43.

... (wie Anm. 41), S. 199.

Berlin als

Wirtschaftszentrum

139

heim II. ausgeschlagene Weltausstellung fand im Säkularjahr 1900 in Paris statt: 48 Millionen Besucher haben sie gesehen 62 — fast zehnmal so viele wie 1896 die Schau in Treptow. Es war schwer für Berlin, an die beiden großen alten europäischen Metropolen heranzukommen; an ökonomischer Substanz fehlte es nicht, aber als Hauptstadt des wilhelminischen Kaiserreiches trug sie an einer Hypothek, die ihr das Erreichen dieses Zieles unmöglich machte. Als diese Hypothek 1918 wegfiel, profitierten die beiden konkurrierenden Metropolen an Themse und Seine von der Tatsache, daß sie die Hauptstädte der Siegermächte waren — Berlin schien dazu verurteilt, sich als europäisches Wirtschaftszentrum ein für allemal mit der dritten Position abfinden zu müssen. Niemand konnte damals ahnen, daß die Geschichte noch ganz anderes mit der Stadt vorhatte. Was von der Ausstellung des Jahres 1896 blieb, ist das in Jena hergestellte Riesenfernrohr, das zunächst im Freien stand und später zum Kernstück eines Observatoriums wurde, das heute den Namen seines Konstrukteurs Friedrich Archenhold trägt. 63 Sechs Jahre nach der Ausstellung war es allein dieses technische Wunderwerk — 130 Tonnen schwer und mit einer Brennweite von 21 Metern der längste Refraktor der Welt —, das der Baedeker in Treptow für erwähnenswert hielt. 64 Alles andere war vergessen, die Chance, Paris und London vielleicht auszustechen, ziemlich leichtfertig vergeben worden.

62 Einen kurzen A b r i ß gibt F. Reuleaux, Ausstellungswesen 1851—1899 ... (wie A n m . 41), S. 2 0 0 — 2 0 2 . Eine sehr detaillierte Würdigung durch neun Einzelbeiträge in: H. Kraemer u. a., Das 19. Jahrhundert ... (wie A n m . 30), Bd. 4, Berlin 1900, S. 1—374. 63

A . Lange, Berlin .., (wie A n m . 59), S. 62 f.

Karl Baedeker, Allemagne du Nord. Manuel du voyageur, 12. A u f l . , Leipzig 1904, S. 62. 64

Industrialisierung und Stadtausbau im Berliner Raum W O L F G A N G HOFMANN Berlin

Die Forschungen der letzten drei Jahrzehnte zur Geschichte Berlins haben sowohl in West- wie in Ost-Berlin einen besonderen Akzent auf die Entwicklung der Industrie und ihre Rolle beim Stadtausbau gelegt. Es sei an die Arbeiten der von Otto Büsch geleiteten Arbeitsgruppe zur Frühindustrialisierung erinnert, 1 insbesondere an Ingrid Thienels Untersuchung über „Städtewachstum im Industrialisierungsprozeß" 2 — mittlerweile ein Standardwerk der neueren Stadtgeschichtsforschung —, an Lothar Baars Buch über die Berliner Industrie 3 sowie an die Untersuchung von Alfred Zimm über die „Entwicklung des Industriestandortes Berlin". 4 Auf dieser Grundlage sind dann kürzlich weitere Spezialuntersuchungen wie die von Dieter Vorsteher über die Frühphase der Firma Borsig 5 entstanden und Sammelbände wie der von Hermann Glaser angeregte über die Berliner Industriekultur. 6 1 Vgl. dazu den Sammelband von Wolfram Fischer (Hrsg.), Wirtschaftsund sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 1), Berlin 1968. 2 Ingrid Thienel, Städtewachstum im Industrialisierungsprozeß des 19. Jahrhunderts. Das Berliner Beispiel (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 39), Berlin 1973. 3 Lothar Baar, Die Berliner Industrie in der industriellen Revolution (= Veröffentlichungen des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Ökonomie BerlinKarlshorst, Bd. 4), Berlin [Ost] 1966. 4 Alfred Zimm, Die Entwicklung des Industriestandortes Berlin. Tendenzen der geographischen Lokalisation hei den Berliner Industriezweigen von überörtlicher Bedeutung sowie die territoriale Stadtentwicklung bis 1945, Berlin [Ost] 1959. 5 Dieter Vorsteher, Borsig. Eisengießerei und Maschinenbauanstalt zu Berlin (= Industriekultur), Berlin 1983. 6 Jochen Boberg/Tilman Fichter/Eckhart Gillen (Hrsg.), Exerzierfeld der Moderne.

Wolfgang

142

Hofmann

Damit wurde der Blick auf einen Faktor der Berliner Stadtentwicklung gelenkt, der, mehr als es sein bloßer prozentualer Anteil am Berliner Wirtschaftsleben aussagt, die räumliche Struktur der Stadt und ihr soziales Leben in revolutionärer Weise veränderte; denn zunächst wird man sagen können, daß im Zeitalter der Industrialisierung — hier für Berlin in einer regionalen Periodisierung von 1815 bis 1914 gerechnet — die Berliner Industrie immer nur einen T e i l des wirtschaftlichen Systems der Stadt darstellte. 7 Zwar begann um 1815 in den Maschinenfabriken von Freund und der englisch-belgischen Brüder Coquerill die mechanisierte Produktion, und das erste Dampfschiff in Deutschland, von einem Engländer gebaut, fuhr im selben J a h r auf der Spree. Aber im Jahre 1846 waren die späteren Kernbereiche der Industrie mit Maschinenbau, Elektrotechnik und Chemie erst mit ca. 10 Prozent der gewerblich Beschäftigten vertreten; 8 und selbst 1875, noch bevor der Auszug der Industrie in die Randgebiete der Stadt voll einsetzte und damit deren numerischen Anteil für die Industriestatistik der Stadt reduzierte, stellte der Dienstleistungssektor knapp 50 Prozent der Beschäftigten in der Stadt. 9 Berlin war schließlich auch die Stadt der hauptstädtischen Verwaltungen, des Handels und der Banken, die sich im Stadtzentrum zunehmend konzentrierten. Außerdem findet man noch auf den F o t o s des frühen 20. Jahrhunderts immer wieder Winkel, in die das Industriezeitalter nur auf eine sehr vermittelte Weise hineinreichte, sei es das Scheunenviertel, eine Mischung von jüdischem Städtel und vormärzlicher Armuts- und Kriminalitätsstruktur, oder der Krögelhof. Berlin war schon seit Ende des 18. Jahrhun-

I ndustriekultur

in Berlin im 19. Jahrhundert

(= Industriekultur deutscher Städte und

Regionen), München 1984. 7

Z u m Problem der räumlich und zeitlich unterschiedlichen Phasen der Industriali-

sierung vgl. allgemein den Sammelband von Sidney Pollard unter Mitwirkung von Lucian Hölscher (Hrsg.), Region und Industrialisierung.

Studien zur Rolle der Region in

der Wirtschaftsgeschichte

(= Kritische Studien zur Ge-

der letzten zwei Jahrhunderte

schichtswissenschaft, Bd. 42), Göttingen 1980; darin besonders für das frühindustrielle Bergische Land Jürgen Reulecke, Nachzügler und der Beginn der Industrialisierung

und Pionier zugleich: das Bergische

in Deutschland,

Land

S. 5 2 — 6 8 ; ferner den allgemeinen

Uberblick von Peter Steinbach, Neuere Arbeiten zur industrialisierungshistorischen gionalgeschichte, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 8

Wolfram Fischer, Berlin. Die preußische Residenz auf dem Wege zur

in: Berlin und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft Erkenntnisse,

Industriestadt, — Lehren

und

hrsg. von der Industrie- und Handelskammer zu Berlin, Berlin 1987,

S. 59—78, hier S. 63. 9

Re-

24 (1974), S. 270—299.

I. Thienel, Städtewachstum

...

(wie Anm. 2), S. 376.

Industrialisierung

und

143

Stadtausbau

derts eine große Stadt mit sehr differenzierten Binnenstrukturen. Aber erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde es zur modernen Großstadt im qualitativen Sinne des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, für das der statistische Begriff von 100000 Einwohnern und mehr nur ein quantitatives Signal, kein ohne weiteres ablösbares und auf andere Epochen übertragbares Merkmal war. 10 Dennoch wird man davon ausgehen müssen, daß die Industrialisierung mit ihren direkten und indirekten Wirkungen schon seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die räumliche Struktur, das Wachstum und die Lebensverhältnisse in immer stärkerem Maße zu prägen begann. Auch der hohe Anteil des tertiären Sektors am Berliner Arbeitsmarkt des Kaiserreiches war ja — nach dem Gesetz vom doppelten Stellenwert industriell-gewerblicher Arbeitsplätze 11 — ein Ergebnis teils des lokalen Versorgungsbedarfs der Berliner Industrie, teils der zentralen Steuerungsfunktion eines Industriestaates; Beispiele hierfür sind das Reichspatentamt und die Deutsche Bank. Die direkten Wirkungen der Industrialisierung sollen an zwei Bereichen deutlich gemacht werden, der Ausdehnung der Fabriken sowie dem Einsatz der industriellen Städtetechnik für die Gestaltung der Lebensverhältnisse. Die Ausdehnung der Fabriken des Maschinenbaus und der Elektrotechnik sowie der Chemie wirkte sich im Laufe der Epoche zunächst in der Weise aus, daß große Flächen des Stadtgebietes von ihnen besetzt und damit vorwiegend gewerblicher Nutzung zugeführt wurden. Während Borsig in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts an der Chausseestraße mehrere Grundstücke mit zusammen 25 000 Quadratmeter kaufte und sich im Standort Moabit bis 1874 auf 142 000 Quadratmeter ausdehnte, waren es 1896 in Tegel sogleich 220 000 Quadratmeter, also fast das Zehnfache der ursprünglichen Werksfläche. Weitere große Areale wurden zum Beispiel von den Gaswerken eingenommen, von denen es um 1900 im Gebiet von Groß-Berlin 29 gab, darunter die beiden ersten

10

Ich kann deshalb auch nicht Felix Eschers Verwendung des Großstadtbegriffes für

das Berlin des 18. Jahrhunderts in seinem differenzierten und materialreichen Beitrag folgen, siehe Felix Escher, Die brandenburgisch-preußische Berlin im 17. und 18. Jahrhundert,

Residenz und

Hauptstadt

in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 1,

München 1987, S. 343—403, hier S. 383. 11

Vgl. zum Problem der Grund- und Folgeleistungen Gunter Ipsen, Stadt

Neuzeit, in: Handwörterbuch

der Sozialwissenschaften,

(IV).

Bd. 9, Stuttgart 1956, S. 7 8 6 —

800, sowie neuerdings Elisabeth Lauschmann, Grundlagen

einer Theorie der

Regionalpo-

litik (= Veröffentlichungen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Taschenbücher zur Raumplanung, Bd. 2), Hannover 1973, S. 179 ff.

Wolfgang Hofmann

144

englischen am Landwehrkanal in Kreuzberg und an der Oberspree im Stralauer Viertel, in deren Nähe dann auch die städtischen Gaswerke angesiedelt wurden. Auch bei ihnen kann man den Prozeß der flächenmäßigen Expansion am Einzelfall verfolgen: Das erste, 1861 am späteren Einsteinufer errichtete Gaswerk der Stadt Charlottenburg nahm etwa 10 000 Quadratmeter ein, das zweite, 1891 am Charlottenburger Verbindungskanal erbaute W e r k hatte eine Fläche von 500 000 Quadratmeter zur Verfügung. Die Lage am Wasser war, wie aus den Beispielen hervorgeht, für die Gaswerke ein bevorzugter Standort, dem später auch die großen Werke in Tegel und Mariendorf folgten. 1 2 Das größte Fabrikareal hat jedoch Siemens um 1900 mit der Konzentration der meisten Werkstätten auf den Spreewiesen zwischen Charlottenburg und Spandau eingenommen. D o r t wurden 2 1 2 2 000 Quadratmeter (1903) von der Firma angekauft. Rechnet man zu diesen Fabrikarealen noch die größeren Eisenbahngelände, etwa zwischen Potsdamer Platz, Anhalter Bahnhof und der Yorckstraße, als ebenfalls industriell genutzte Flächen hinzu, dann wird deutlich, daß die Industrialisierung im hohen Maße zu der Tatsache beitrug, daß 1918 das Alt-Berliner Stadtgebiet zu 89 Prozent überbaut war und auch in den Außengebieten viele Flächen industriell genutzt wurden. V o n der Fläche Groß-Berlins im Jahre 1926 (87 846 Hektar) nahmen die Eisenbahngelände 2000 H e k t a r ein; 1 3 das entspricht etwa einem Drittel des Alt-Berliner Stadtgebietes von 1881 (6326 Hektar). Und auch im heutigen West-Berlin (Stand 1966) nehmen die Eisenbahn-, S-Bahn- und U-Bahnflächen bisher mit 1255 H e k t a r 2,6 Prozent des Stadtgebietes ein, in einigen innerstädtischen Bezirken sogar prozentual wesentlich mehr: in Schöneberg 13 Prozent, in Kreuzberg 8,1 Prozent und in Tiergarten 7,3 Prozent. 1 4 Die soziale und bauliche Einordnung der großen Areale in die räumliche Struktur der Stadt stellte ein Problem dar, das auf eine sehr spannungsreiche Weise gelöst wurde. Im Fall der großen Bahngelände geschah dies vielfach ganz offensichtlich nicht im Sinne der Stadtplanung, wie noch heute einige Straßen im Bezirk Kreuzberg zeigen. Diese laufen gleichsam wie auf Barrieren auf alte Bahngelände zu. D o r t , wo James H o b r e c h t in seinem Fluchtlinienplan von 1862 die durchlau-

12 Wolfgang Hofmann, Charlottenburger Gas — kommunale Daseinsvorsorge in einer preußischen Nebenresidenz, in: Karl Schwarz (Hrsg.), Berlin. Von der Residenzstadt zur

Industriemetropole,

Bd. 1, Berlin 1981, S. 327—333.

13

Statistisches Taschenbuch der Stadt Berlin 2 (1926), S. 3.

14

Statistisches Jahrbuch Berlin 1967, S. 21.

Industrialisierung

und

Stadtausbau

145

fende Achse der H o r n - und Bülowstraße geplant hatte, dehnt sich heute die Stadtbrache des Bahngeländes der Potsdamer und Anhalter Bahn aus. Die beiden Straßenzüge werden nur durch die nach Süden abknickende Yorckstraße verbunden, deren zahlreiche Brücken eine W e g m a r k e in der Stadtlandschaft Berlins und ein zwiespältiges Denkmal der Planungs- und Eisenbahngeschichte sind. Der dort eigentlich vorgesehene monumentale Wahlstattplatz mußte den Gleisen weichen. — Ahnliches geschah im Osten Kreuzbergs, wo der Görlitzer Bahnhof die durchgehende Verbindung von der Oberbaumbrücke nach Südwesten sperrte, wie zum Beispiel im Zuge der Falkensteinstraße. — Die Viadukte der Stadtbahn wurden dann allerdings mit zahlreichen Unterführungen und Geschäftslokalen wesentlich sorgfältiger in die Stadt einbezogen. Auch im Bereich der Industrieareale führte dies zur Ausgrenzung der einzelnen Grundstücke und ganzer Straßenblöcke aus dem Stadtgefüge. W o h n e n und Arbeiten wurden hier deutlich getrennt, sieht man von der noch eine Zeitlang beibehaltenen Kombination von Wohnsitz und Fabrik einzelner Unternehmer, wie bei Borsig in der Chausseestraße und in Moabit, ab. Die Arbeiterwohnungen mußten notwendigerweise in den Mietshäusern Platz finden, die bis etwa 1870 noch in relativer räumlicher Nähe den Fabriken zugeordnet waren. Lange Mauern und Zäune grenzten das Gebiet der Großfabriken von der Straße und der Öffentlichkeit ab, wie es weder die alten Handwerksbetriebe noch die neuen Hinterhoffabriken etwa im Süden Berlins kannten. Auch ein so großer Baukomplex wie das Berliner Stadtschloß war spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert für den Fußgängerverkehr durchlässig geworden, wie man aus Skizzen Eduard Gaertners entnehmen kann. Aber selbst die viel gerühmte Turbinenhalle der AEG von Peter Behrens setzte den Fabrikbau hart neben den Fußgängerweg. Seine 14 Säulen ziehen die kahle Straßenflucht weit in die Ferne. Dahinter erschließen eigene Gleisanlagen und Werkstraßen das Gelände. Repräsentative oder schlichte T o r e signalisieren den Eingang in einen eigenen Bezirk industrieller Herrschaft, in dem besondere Ordnungen galten. Bekannt sind die drei großen Toreinfahrten von Borsig an seinen drei wichtigsten Standorten, aber auch bei der AEG in der Brunnenstraße oder bei der Deutschen Waggon- und Maschinenfabrik ( D W M ) in Reinickendorf. Damit wird aber auch deutlich, daß gerade in Berlin versucht wurde, durch Heranziehung von fähigen Architekten wie Strack bei Borsig, Peter Behrens bei der AEG und Hertlein bei Siemens die großen Fabrikareale wenigstens ästhetisch in die Stadt einzubinden

146

Wolfgang

Hofmann

und in das Straßensystem einzupassen. 15 Zunächst entlehnte man noch traditionale Elemente von älteren Großbauten der Adelswelt mit Türmen, Arkaden, Schmuckfassaden. Dann aber fand die moderne Industriearchitektur eine eigene Formensprache, die zwischen 1900 und 1933 die Berliner Fabriken zu Denkmälern der modernen Architektur machte. Auf eine andere Weise versuchte man nach 1882 die Eisenbahn als industrielles Verkehrsmittel in die baulich-räumliche Struktur der Stadt einzufügen. Mit der damals eröffneten 12 Kilometer langen Stadtbahn wurde eine für Berlin neuartige Konstruktion gewählt. Die Führung auf einem meist relativ schmalen Viadukt eröffnete die Möglichkeit, durch zahlreiche Unterführungen das Straßensystem auch in den gerade neu erschlossenen Gebieten Charlottenburgs beizubehalten. In die gemauerten Bögen des Viadukts konnten zahlreiche Geschäfte und Lagerhallen eingefügt werden, die, wie besonders am Savignyplatz in Charlottenburg, eine gelungene Verbindung von Stadtplatz, Versorgungsfunktion und modernen Schnellverkehrsmitteln darstellen. 16 O b die Berliner Stadtbahn mit ihrer Viadukt-Trasse das erste Bauwerk dieser Art in Europa war, wie noch neuerdings der Artikel „Stadtbahnbögen" im „Exerzierfeld der Moderne" im Einklang mit dem nationalen Pathos des Kaiserreichs behauptet, muß allerdings bezweifelt werden. 17 — Gemauerte Viadukte wurden bei der Londoner innerstädtischen Eisenbahn lange vorher errichtet. Die Verwendung ihrer Bögen zu geschäftlichen Zwecken ist jedenfalls heute noch sichtbar, zum Beispiel in der Umgebung der Stationen Vauxhall und LondonBridge.18 Wie in anderen Bereichen der Städtetechnik des 19. Jahrhunderts, bei Gas oder Wasser bzw. Abwasser dürfte auch hier London mit seinem zeitlichen Vorsprung in der Lösung der städtischen Probleme auf industrieller Grundlage wesentliche Anregungen gegeben haben. Daß der lang gestreckte Hauptbahnhof der Berliner Stadtbahn eine Ergänzung des Berliner Verkehrssystems darstellte, die sich zudem 15

Tilmann Buddensieg, Berlin. Der Standort großer Industriearchitektur, in: Berlin und seine Wirtschaft... (wie Anm. 8), S. 95—112. 16 Horst Henning Siewert, Die Bedeutung der Stadthahn für die Berliner Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert, Diss., Hannover 1978. 17 Lothar Binger, Stadtbahnbögen, in: J. Boberg/T. Fichter/E. Gillen, Exerzierfeld der Moderne ... (wie Anm. 6), S. 106—113. 18 Vgl. dazu Jack Simmons, The Power of the Railway, in: Harold James Dyos/Michael Wolff (Hrsg.), The Victorian City. Images and Realities, Bd. 1, London 1973, S. 277—310.

Industrialisierung

und

Stadtausbau

147

noch gut in das Stadtgebiet einfügte, wird dadurch nicht gemindert. Der Ausbau dieses Verkehrssystems erschloß darüber hinaus auch die Peripherie der Stadt für die Ausbreitung der Siedlungen. Mit der Randwanderung der Großindustrie von 1890 an rückten Arbeitsgebiet und Wohnort vielfach auseinander: Die Siemensstadt und Borsigwalde boten jeweils nur einem Bruchteil der Beschäftigten werksnahe Wohnungen, die zum Teil unter besonderer Berücksichtigung des Firmeninteresses und der innerbetrieblichen Hierarchie erbaut und vergeben wurden. Die Industrialisierung hatte aber auch andere direkte Einwirkungen auf die Lebensverhältnisse in Berlin. Neue Verfahren und Techniken im gewerblichen Bereich brachten einerseits Nebenwirkungen hervor, die die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bevölkerung beeinträchtigten: Lärmbelästigungen durch Heckmanns Kupferschmiede am Hausvogteiplatz und die Abgase von Kuhnheims Chemiefabriken in der Friedrichstadt und am Molkenmarkt beeinträchtigten die Anwohner bis zum Krankheitsgrad. 19 Auch das eindrucksvolle Bild aus der Gartenlaube von 1867 von Borsigs Moabiter Fabrikgelände mit seinen zahlreichen rauchenden Schornsteinen weist auf eine weithin sichtbare Emissionsquelle von Schadstoffen hin. Die Beschwerden der Nachbarn und die Eingriffe der Behörden führten dann häufig dazu, daß die Schornsteine erhöht wurden oder die Anlagen überhaupt an den jeweiligen Stadtrand verlagert wurden, wie in den oben erwähnten Fällen von Heckmann und Kuhnheim. So wurde der ökonomische Druck zur Randwanderung, der von den hohen Bodenpreisen im innerstädtischen Bereich ausging, durch die Problematik der Schadstoff-Emissionen verstärkt. Es betrug zum Beispiel nach einer von Ingrid Thienel zusammengestellten Tabelle 1871 der Preis für ein „Grundstück" — wie auch immer dieses bemessen gewesen sein mag — in der Friedrichstadt 2785 Mark und in Moabit 1211 Mark. 20 War um 1871 der relativ geringe Bodenpreis in den damaligen Randlagen des Wedding, Moabits und des nordöstlichen Charlottenburg noch attraktiv für die Niederlassung von Fabriken in dieser Zone, so führte der starke Anstieg der

19 llja Mieck, „Aerem corrumpere non licet". Luftverunreinigung und Immissionsschutz in Preußen bis zur Gewerbeordnung 1869, in: Technikgeschichte 34 (1967), S. 36— 78. 20 Ingrid Thienel, Verstädterung, städtische Infrastruktur und Stadtplanung. Berlin zwischen 1850 und 1914, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, S tadtsoziologie und Denkmalpflege 4 (1977), S. 55—84.

148

Wolfgang Hofmann

durchschnittlichen Grundstückspreise bis 1914 — in Moabit auf 1 6 3 6 3 Mark — dazu, daß zumindest einige wesentliche Großbetriebe wie Borsig die um die M i t t e des 19. Jahrhunderts begonnene Randwanderung um 1890 fortsetzten und neue Standorte aufsuchten, in diesem Fall am Tegeler See. Mit anderen weitreichenden Folgewirkungen der Städtetechnik des 19. Jahrhunderts sind wir aber noch bis heute befaßt, wie die Notwendigkeit der Bodensanierung bei der Umnutzung von alten Gaswerksgeländen vor einigen J a h r e n am Landwehrkanal in Kreuzberg und 1987 am Stadion Wilmersdorf auf dem Gelände des alten Berliner Gaswerkes zeigen. Auf der anderen Seite ist der Einsatz der modernen Städtetechnik für die Verbesserung der Lebensbedingungen im rasch wachsenden Berlin des 19. Jahrhunderts ein nicht zu übersehender Faktor, ja man kann sagen, im hygienischen Bereich, bei der Wasserversorgung und der Abwasserbeseitigung hat er die Zusammenballung von hunderten und tausenden von Menschen auf einzelnen Grundstücken überhaupt erst ermöglicht. D e r Zusammenhang von raschem Stadtwachstum, unhygienischen Zuständen und lebensgefährlichen Erkrankungen wurde in Mittel- und Nordwesteuropa vor allem durch die epidemischen Krankheiten des frühen 19. Jahrhunderts wie Cholera und Typhus bewußt gemacht. Die pragmatische Stadtkritik der englischen Mediziner wie C . T u r r e r Thackrah für Leeds und James Philipp Kay für Manchester und London wurde in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts dadurch besonders angeregt. 21 Sie führte zu den Reformvorschlägen des führenden englischen Verwaltungsbeamten Edwin Chadwick für die sanitäre Umgestaltung Londons in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, deren Ergebnis in bezug auf die Kanalisation gerade auch in Deutschland zur Kenntnis genommen wurde. 22 Im Jahre 1860 bereiste der Geheime Baurat Eduard Wiebe, begleitet von Baurat James H o b recht, mehrere europäische Städte, unter anderem Paris, London und Hamburg, um die dort erprobten Lösungen der Städtereinigung im Hinblick auf Berlin zu studieren. Wiebes Vorschlag von 1861 für die Errichtung einer Mischkanalisation, deren Abwässer unterhalb Charlottenburgs in die Spree geleitet werden sollten, beruhte wesentlich auf

Andrew Lees, Cities Perceived. Urban Society in European and American Thought, 1820—1940, Manchester 1985, S. 18 ff. 22 John von Simson, Kanalisation und Städtehygiene im 19. Jahrhundert (= Technikgeschichte in Einzeldarstellungen, Nr. 39), Düsseldorf 1983, S. 89 ff. 21

Industrialisierung

und

149

Stadtausbau

dem Londoner Vorbild. Allerdings berücksichtigte er nicht genügend die unterschiedlichen geographischen Verhältnisse von London und Berlin, die sowohl die größere Wasserführung der Themse gegenüber der Spree wie die Lage Londons im Mündungsgebiet des Flusses betrafen. Das dann von James Hobrecht umgearbeitete und von 1873 an ausgeführte Projekt der Kombination mehrerer Radialsysteme der Mischkanalisation mit einer Ableitung auf die Rieselfelder löste aber dieses Problem. Mehrere Statistiken über die Parallelität der Einführung einer besseren Wasserversorgung von 1851 an durch die englische Firma F o x und Crampton und der Schwemmkanalisation von 1873 an mit dem Rückgang der Typhussterblichkeit in Berlin wiesen darauf hin, daß die positiven Erwartungen an das System durchaus erfüllt wurden. Während 1842 kurz vor Einführung der Kanalisation der Anteil der Typhus-Sterblichkeit in Berlin an der allgemeinen Sterblichkeit noch einmal einen relativen Höhepunkt von 45 Prozent erreichte, waren es bei der nächsten Epidemie 1880 nur noch 15 Prozent. 2 3 Dieser Zusammenhang wird auch durch einen Vergleich von zwei in ähnlicher Weise verrufenen Grundstücken nahegelegt, den in den zwanziger Jahren vor dem Hamburger T o r errichteten Familienhäusern und dem fünfzig Jahre später erbauten Mietskasernenkomplex Meyers H o f in der Ackerstraße. Die katastrophalen gesundheitlichen Probleme auf dem Gelände der v. Wülknitz'schen Familienhäuser mit 426 Stuben und bis zu 3200 Einwohnern sind durch bauliche Mängel wie extreme Uberbelegung, vor allem aber durch die Verunreinigung der Hauptwasserquelle, eines Brunnens auf dem Hof, mit den Fäkalien und Abwässern entstanden. 24 Meyers H o f in der Ackerstraße, in dessen 1873/74 errichteten 257 Wohnungen zeitweise ebenfalls über tausend Menschen gelebt haben dürften, hatte die Versorgung mit Trinkwasser auf allen Etagen von Anfang an aufzuweisen. 25 Diese Einrichtung und der bald nach dem Bau erfolgende Anschluß der Gemeinschaftstoiletten an die von Wiebe, Virchow und James Hobrecht entwickelte 23

A. a. O., S. 13.

24

Vgl. dazu die umfassende Monographie von Johann Friedrich Geist/Klaus Kür-

vers, Das Berliner Mietshaus 1740—1862. Wülcknitzschen

Familienhäuser"

Eine dokumentarische

vor dem Hamburger

Geschichte der

Tor, der Proletarisierung

„von

des Berli-

ner Nordens und der Stadt im Ubergang von der Residenz zur Metropole, München 1980. 25

Johann Friedrich Geist/Klaus Kürvers, Das Berliner Mietshaus 1862—1945.

dokumentarische

Geschichte von „ Meyer's Hof

hung der Berliner Mietshausquartiere Untergang,

München 1984.

in der Ackerstraße

132—133,

Eine

der Entste-

und der Reichshauptstadt zwischen Gründung

und

150

Wolfgang

Hofmann

Schwemmkanalisation hat die extremen gesundheitlichen Folgen der Uberbelegung dort deutlich in Grenzen gehalten. Die Wasserversorgung und die Entwässerung beruhten aber zu wesentlichen Teilen auf dem Einsatz von industriellen Techniken. Das englische Wasserwerk vor dem Stralauer T o r begann 1856 seine Arbeit mit acht Dampfmaschinen. Um 1881 waren im Bereich der Berliner Schwemmkanalisation 34 Dampfmaschinen eingesetzt. Die Pumpstationen einiger Radialsysteme gehören heute zu den bemerkenswerten technischen Baudenkmälern in der Stadt; und so wie die Rückstände der Gaswerke eine negative Hinterlassenschaft dieser Epoche der Städtetechnik sind, muß man die 6700 km Entwässerungskanäle und Druckrohrleitungen in Groß-Berlin (Stand: 1948) als positives Erbe ansehen. Allerdings blieb der Bestand dieser Investitionen in die Städtetechnik des Zeitalters der Industrialisierung nicht unverändert. Einerseits wurde die Technik der Abwasserbeseitigung jeweils den neueren technischen Standards angepaßt: Die Dampfmaschinen wurden durch Elektromotoren, die Rieselfelder durch Klärwerke ersetzt beziehungsweise ergänzt, diese wiederum wurden mit Schlammverbrennungsanlagen kombiniert, deren Schornsteine jetzt mit Rauchgasreinigungsanlagen ausgestattet werden. Andererseits unterlag das Kanalsystem trotz Reparaturen und Erneuerungen insgesamt einer Abnutzung, die bundesweit — nach Aussagen des Deutschen Städtetages — einen Investitionsbedarf von fast 100 Milliarden DM erfordert. 26 Zum Vergleich sei hier die Summe aller Investitionen der West-Berliner Entwässerungswerke von 1950 bis 1976 genannt, die 1,644 Milliarden DM betrug. Abgesehen von der Veränderung der äußeren Rahmenbedingungen, die insbesondere im Falle Berlins sehr gravierend waren, wie die Schäden am System der Abwasserbeseitigung durch den Zweiten Weltkrieg und die Auswirkungen der Teilung der Stadt, enthalten die Systeme der industriellen Städtetechnik ihre eigenen Periodisierungstendenzen. Diese erinnern uns daran, daß die Pionierleistungen der Chadwick in London, Lindley in Hamburg, der Virchow und Hobrecht in Berlin Ausdruck einer bestimmten Epoche sind, der Zeit der europäischen Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Mit der Weiterentwicklung der damals ausgebildeten industriellen und urbanisierten Gesellschaft blieben diese industriellen Städtetechniken zwar not-

26 So der Präsident des Deutschen Städtetages, Oberbürgermeister Schmalstieg, Meldung: Städtetag sagt Töpfer Unterstützung zu, in: Der Tagesspiegel, Nr. 13032 vom 9. 8. 1988, S. 6.

Industrialisierung

und

151

Stadtausbau

wendiger Bestandteil zur Erhaltung dieser Gesellschaft, sie müssen sich aber deren neuen Strukturen anpassen, wie zum Beispiel dem Bedarf an Umweltschutz, und bedürfen darüber hinaus nach hundert Jahren der Erneuerung ihrer bautechnischen Grundlagen. Die Rezeption englischer Innovationen in der industriellen Städtetechnik setzte 1826 mit der Übertragung der Berliner Straßenbeleuchtung an die britische Imperial Continental Gas Association ein. Dem waren seit 1816 bereits einige vereinzelte Installationen von Gasbeleuchtungen in privaten Betrieben durch den deutschen Unternehmer Georg Christian Freund vorausgegangen.27 Als dieser bald danach starb, gab es offenbar keinen weiteren Fachmann für Gasbeleuchtung in Berlin, und man mußte auf den englischen Vorsprung an praktischer Erfahrung und Kapitalorganisationen zurückgreifen. In London war im Jahre 1810 die erste Gesellschaft zur Beleuchtung der Straßen mit Gas konzessioniert worden.28 In Berlin errichtete die britische Gesellschaft innerhalb von drei Jahren 1800 Laternen, die damit das bisherige begrenzte, unvollkommene System der Ölflammen in den Straßenlampen ablösten sowie die weithin gebräuchlichen Handlaternen bei nächtlichen Ausgängen überflüssig machten. In die privaten und öffentlichen Gebäude drang das Gaslicht aber nur allmählich ein. Während das neue Opernhaus nach dem Brand von 1843 schon bald damit ausgestattet wurde, herrschte noch in den siebziger Jahren in den Räumen der Reichskanzlei nach den Aussagen eines Referenten eine dumpfe Schwüle, die sich aus den Dünsten von einem Dutzend Ollampen und den Düften von Akten-Faszikeln, Zeitungsschwärze und Stubenluft 29 zusammensetzte. Dies ist erstaunlich angesichts der allgemeinen Faszination durch das hellflammende Gaslicht. 30 Berlin gehörte zu den ersten drei Städten in Deutschland, in denen diese Straßenbeleuchtung eingeführt wurde, und übernahm dadurch eine Vorbild- und Pionierfunktion für andere Orte, wie zum Beispiel das noch 1850 „unerleuchtete" Charlottenburg, dessen Bürgerden mit ihrer „Intelligenz" unvereinbaren Rückstand gegenüber dem benachbarten Berlin beklagten. Doch erst als der Druck des Berliner Polizeipräsidenten hinzutrat,

27

Ilja Mieck, Von der Reformzeit zur Revolution (1806—1847),

Geschichte Berlins ...

in: W . Ribbe (Hrsg.),

(wie Anm. 10), Bd. 1, S. 4 0 7 — 6 0 2 , hier S. 506.

28

H u g o Lindemann, Munizipalsozialismus

29

Moritz Busch, Tagebuchblätter,

30

Vgl. dazu allgemein Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke. Zur Geschichte der künst-

lichen Helligkeit im 19. Jahrhundert,

in England,

Stuttgart 1906, S. 175 f.

Bd. 1—3, Leipzig 1899, Bd. 2, S. 183. München-Wien 1983.

152

Wolfgang

Hofmann

wurde 1861 tatsächlich die Charlottenburger Gasanstalt durch den Magistrat gegründet. Ebenso setzte Berlin die Maßstäbe für die anderen Orte der Region im Bereich der Stadthygiene, indem es teils durch die eigenen Werke deren Versorgung mit übernahm, teils durch sein Vorbild die umliegenden Ortschaften veranlaßte, der in die Umgebung ziehenden Bevölkerung die gleichen Einrichtungen anzubieten wie in der Zentralstadt. Diese räumliche Expansion Berlins erfolgte seit 1865 durch den letzten großen und für die Stadtentwicklung besonders folgenreichen Schub in der Städtetechnik des 19. Jahrhunderts, durch die Mechanisierung des innerstädtischen Verkehrs. Dies begann mit der auf Schienen geführten Pferdebahn, setzte sich fort mit der durch Dampf betriebenen Ring- und Stadtbahn in den siebziger und achtziger Jahren sowie der weit verzweigten Einführung der Elektrischen seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Mit der Einführung der von der Berliner Elektroindustrie entwickelten Untergrund- und Hochbahnen sowie der motorisierten Omnibusse im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war noch nicht der Endpunkt der Mechanisierung des Verkehrs erreicht, sondern er strebte mit dem motorisierten Individualverkehr bis zur Gegenwart neuen Dimensionen zu, die das „fußläufige" Zeitalter des frühen 19. Jahrhunderts weit hinter sich gelassen haben. 31 Die Randwanderung der Industrie und die Ausgestaltung einer Siedlungsregion von etwa 40 bis 50 Kilometer Durchmesser um etwa 1920 sind die wichtigsten Auswirkungen dieses Vorganges, der zu einer sternförmigen Ausgestaltung des Berliner Siedlungsraumes bis zur Mitte des Jahrhunderts führte. Berlin war mit der industriell bedingten Dynamik seines räumlichen Wachstums eine der ersten Städte in Deutschland, in der die Urbanisierung in den Prozeß der Suburbanisierung überging. Fassen wir die Ergebnisse dieser Skizze über Industrialisierung und Stadtausbau im Berlin des 19. Jahrhunderts zusammen, so läßt sich sagen, daß bei einer Stadt wie Berlin, deren Bedeutung wesentlich durch ihre Hauptstadtfunktion und den hohen Anteil des tertiären Sektors am Wirtschaftswachstum geprägt wurde, die außerökonomischen Wirkungen der Industrialisierung deren unmittelbaren wirtschaftlichen Wirkungen mindestens gleichkamen. Das wird bei reinen Industriestädten, wie etwa im Ruhrgebiet, anders sein. Berlin wurde aber

31 Vgl. dazu Michael Erbe, Berlin im Kaiserreich (1871—1918), in: W. Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins... (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 691—793, hier 732 ff.

Industrialisierung

und

Stadtausbau

153

auch zum Standort großer Industrien, deren Anlage ganze Stadtteile räumlich und baulich prägte. Aber die Stadt benutzte auch die Errungenschaften des technisch-industriellen Zeitalters in Versorgung und Verkehr, um angesichts einer wachsenden Bevölkerung funktionsfähig zu bleiben. In den ersten drei Vierteln des 19. Jahrhunderts ist die Abhängigkeit von ausländischen Vorbildern und Organisationen, insbesondere englischen, noch deutlich zu bemerken, dann werden zunehmend eigenständige Entwicklungen sichtbar. Die Umplanung des Kanalisationssystems durch James Hobrecht (1873) und die Kommunalisierung der englischen Wasserwerke 1871 sind da eine wesentliche Zäsur, ohne daß man schon darauf verzichtete — wie das Stadtbahnprojekt zeigt —, vom Vorbild London zu lernen. 32 Der nationale Stolz des Kaiserreiches wollte es nur nicht mehr so deutlich wahrhaben, sondern orientierte sich rhetorisch an den ferner liegenden Beispielen von Babylon und R o m . Erst mit dem Aufkommen der elektrisch getriebenen Verkehrsmittel wurde das Geben und Nehmen bei der Städtetechnik im internationalen Rahmen ausgewogener. Das Besondere an dieser Entwicklung war aber auch, daß die Rezeption der Städtetechnik aus der heutigen Sicht in relativ kurzen Zeiträumen erfolgte. Der fortgeschrittene Stand der deutschen gewerblichen Entwicklung zu Beginn der Industrialisierung dürfte dazu ebenso beigetragen haben wie das direkte Engagement von ausländischen Unternehmungen und Technikern.

32 Die Auseinandersetzung mit der frühen Londoner Stadtbahn dargestellt bei Ulrich Krings, Die Stammstrecke der Berliner Stadtbahn — eine technische, urbanistische und architektonische Leistung des 19. Jahrhunderts, in: Die Berliner S-Bahn. Gesellschaftsgeschichte eines industriellen Verkehrsmittels, hrsg. von der Arbeitsgruppe Berliner S-Bahn, Berlin 1982, S. 73 ff.

Berlin als Zentrale der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung ERNST

SCHRAEPLER Berlin

Berlin, die Hauptstadt Preußens und seit 1871 des Deutschen Reiches, hatte sich in wenigen Jahrzehnten zu einer der größten deutschen Städte entwickelt. Zwar blieb die Vorrangstellung von „PreußischBerlin", wie die Metropole von den Einwohnern älterer deutscher Städte abschätzig genannt wurde, nicht unbestritten und wurde in Frage gestellt. Auch die deutschen Landesfürsten fügten sich nicht widerspruchslos allen Anordnungen, die aus Berlin kamen. Aber es ließ sich nicht ableugnen, daß die großen und entscheidenden politischen Aktionen hier vorbereitet, eingeleitet und durchgeführt wurden. Berlin war jedoch nicht nur die Residenz und der Sitz der kaiserlichen Regierung, sondern auch das Zentrum von Handel und Wirtschaft, wo sich das Bank- und Industriekapital konzentrierte. Schon seit den ausgehenden dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich hiereine moderne Großindustrie entwickelt. 1 Neue Produktionsmethoden sowie die Einführung von modernen Maschinen, die mit einer Konzentration der Arbeitskräfte am Ort verbunden waren, trugen erheblich dazu bei, das Industrievolumen zu steigern. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes weitete zudem den Handel erheblich aus. Gerade diesem Verkehrsmittel fiel die Funktion eines wirtschaftlichen Multiplikatoreffekts nicht bloß auf das Verkehrswesen, den Kapitalmarkt und die unmittelbar beteiligten Industrien zu. 2

' O t t o Wiedfeldt, Statistische Studien zur Entwicklungsgeschichte der Berliner Industrie von 1720 bis 1890 (= Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, Bd. 16), Leipzig 1898, S. 79. 2 Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa (= Publikationen zur Geschichte der Industrialisie-

156

Ernst

Schraepler

Mit der Vergrößerung des industriellen Sektors stieg die Einwohnerzahl. Berlin wuchs rasch zu einer Millionenstadt heran. Damit war ein allgemeiner Wandel der städtischen Struktur verbunden sowie ein Aufschwung, der mit dazu beitrug, daß die Stadt bald eine Spitzenstellung innerhalb der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands einnahm. Die Zahl der Maschinenbaubetriebe stieg schon in den Jahren 1837 bis 1846 von 3 auf 33, die Zahl der dort Beschäftigten von 720 auf 2881. 3 Im Berliner Bekleidungsgewerbe, das später Berühmtheit erlangen sollte, nahmen 1831 bis 1846 die selbständigen Unternehmen von 3627 auf 11 884 zu, die Zahl der Erwerbstätigen von 7530 auf 2 0 9 1 8 . 4 Die Krisenjahre 1846 bis 1848 führten zwar zu Absatzstockungen und Arbeitslosigkeit, konnten jedoch das weitere Wachstum nicht verhindern; die Ausdehnung der Produktion und die Zahl der Erwerbstätigen stiegen auch weiterhin an. 5 Eine beschleunigte Aufwärtsentwicklung trat nach der kurzen Konjunkturkrise von 1856/1857 im Jahre 1860 ein, als die Produktionssteigerung und das damit verbundene Anwachsen der Nominallöhne sich auch auf diejenigen Bevölkerungsschichten ausdehnte, die sich ihren Lebensunterhalt durch Hausarbeit verdienten. An diesem Aufstieg hatten der Maschinenbau, die Eisenindustrie und das Bekleidungsgewerbe einen fast gleichmäßigen Anteil, der bis zur Depression des Jahres 1873 anhielt. Die Zahl der Großbetriebe nahm erheblich zu. Schon zur Zeit der Reichsgründung von 1871 arbeiteten im Maschinen-, Instrumenten- und Werkzeugbau Berlins 2471 Erwerbstätige in Kleinbetrieben, dagegen 20 847 in Großunternehmen. 6 Dieser Konzentrationsprozeß verstärkte sich besonders in der metallverarbeitenden, der chemischen, der Nahrungs- und Genußmittel- sowie in der Papierindustrie. In den Jahren 1895 bis 1907 vermehrte sich die Zahl der Betriebe um rund 31 500, die Zahl der Arbeitskräfte um 307 500. 7

rung, Bd. 2) (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 24), Berlin 1967, S. 36. 5 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. Dezember 1875 in der Stadt Berlin, bearbeitet von Richard Boeckh, 4. Abteilung, Heft 3/4, Berlin 1880, S. 49 f. 4 A. a. O., S. 59. 5 Siehe Walt W. Rostow, The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto, Cambridge 1960, S. 38. 6 Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme ... (wie Anm. 3), S. 59. 7 Statistisches Jahrbuch für den preußischen Staat 9 (1911), S. 188 f.

Berlin als Zentrale der Arbeiterbewegung

157

Besondere Schwierigkeiten bereitete es, geeignete Kräfte für die Metallindustrie heranzuziehen. Von den Metallarbeitern wurden besondere Fähigkeiten verlangt, die der Durchschnittsarbeiter sich häufig nicht hatte aneignen können. Bei einem großen Teil derjenigen, die sich zur Verfügung stellten, handelte es sich aber um Mechaniker, Schlosser und Tischler, die ein Handwerk erlernt hatten. Unter ihnen befanden sich auch zahlreiche Gesellen, die zugewandert waren und in den Maschinenfabriken eine untergeordnete Tätigkeit ausübten. Die Fabrikleitungen waren daher ständig bemüht, einen Stamm guter Facharbeiter auszuwählen und an ihren Betrieb zu binden. Seit den krisenreichen Gründerjahren konnte sich das Volumen der Berliner Industrie verdoppeln und dasjenige anderer Städte überholen. Im Jahre 1907 konzentrierten sich 9 Prozent der Betriebe und 8 Prozent der Beschäftigten in Deutschland auf das Berliner Stadtgebiet. 8 Altere Firmen wie Borsig und Schwarzkopff hatten schon seit langem auf dem Weltmarkt einen guten Ruf. Neue Zweige wie die Elektroindustrie, vertreten durch Siemens und AEG, entwickelten sich im internationalen Handel ebenfalls zu einem Begriff. Das Wilhelminische Reich war schnell aus seiner Stellung als europäische Großmacht in die Rolle einer Weltmacht hineingewachsen, deren Außenhandel vor 1914 den zweiten Platz einnahm. Das zur Großstadt gewordene Berlin dehnte sich ebenfalls rasch aus, aber auch die sozialen Gegensätze erwiesen sich hier, verglichen mit anderen deutschen Städten, als viel größer und verbreiterten die Kluft zwischen Arm und Reich. So konnte es nicht überraschen, daß auch die Sozialdemokratie in der neuen Hauptstadt bald ihre feste Verankerung fand, obwohl sie noch 1871 gegen die Reichsgründung unter preußischem Vorzeichen scharf opponiert hatte. Es stellte sich nämlich bald heraus, daß Berlin über eine große Integrationskraft verfügte. Schon 1884 konnte August Bebel seinem Freunde Friedrich Engels berichten: Du täuschst Dich über unsere Entwicklung. Obgleich Du sie zugibst im Vergleich zu früher, ist sie doch weit höher, als Du glaubst. Es wäre in der Tat dringend wünschenswert, daß Du einmal eine Tour von vier bis sechs Wochen durch Deutschland machtest, und ich bin überzeugt, Du würdest erstaunt sein über die totale Umgestaltung, die Land und Leute erfahren haben.9 8

Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 35 (1914), S. 62 ff. A. Bebel an F. Engels, 24. November 1884, in: August Bebels Briefwechsel mit Friedrich Engels, hrsg. von Werner Blumenberg (= Quellen und Untersuchungen zur 9

158

Ernst Schraepler

Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes erstarkte die Partei immer mehr. Sie hatte ihre Organisation neu aufgebaut und gefestigt. Nach außen geschlossen, erwarb sie sich bald das Vertrauen nicht nur der deutschen, sondern auch der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung. Zur Zeit der Illegalität unter dem Sozialistengesetz hatte die Reichstagsfraktion in Berlin die Führung übernommen. Sie erhielt von ihren Mitgliedern Vollmachten, die weit über die eigentlichen parlamentarischen Aufgaben hinausgingen. Das blieb auch so, als die Ausnahmegesetzgebung gefallen war. Wichtige Fragen der Parteiführung wurden auch weiterhin von der Fraktion beraten und entschieden. So konnte sich der Vorstand in Berlin eine gewichtige Position aufbauen. Der Erfolg blieb der Sozialdemokratie treu. 1898 saßen 56 Abgeordnete im Reichstag, 1903 konnte die Parteiführung mit 81 Abgeordneten rechnen, und 1912 stützte sie sich auf 110 Abgeordnete. 10 Der größte Teil der Berliner sozialistischen Arbeiterschaft blickte, genauso wie die Führung, fortschrittsgläubig und zuversichtlich in die Zukunft. Er war davon überzeugt, daß der eingeschlagene Weg unbedingt zum Erfolg führen müsse. Der Aufstieg der Sozialdemokratie konnte sie immer wieder nur in ihrem Glauben bestärken. Franz Mehring, einer der bekanntesten und erfolgreichsten Publizisten der Partei, schrieb zur Jahrhundertwende: Mit freudigem Mute und stolzer Zuversicht überschreitet das klassenbewußte Proletariat die Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts. Wer zu seiner Fahne schwört, hat ein Ideal, wie es keine Vorzeit größer gekannt hat, und besitzt eine Bürgschaft des Sieges, wie sie der genialste Eroberer noch nie besessen hat. Er weiß, wofür er lebt, und im neuen Jahrhundert gilt ihm, wie im alten, der frohgemute Befreiungsruf: Es ist eine Lust zu leben.n Mit der Festigung der Parteiorganisation erwies es sich auch als notwendig, eine leistungsfähige Parteipresse aufzubauen, um die Gesamtpartei zu stärken und den Versuchen der Regierung wirksam zu begegnen, die Partei wieder in die Illegalität abzudrängen und ihre

Geschichte der deutschen und österreichischen Arbeiterbewegung, Bd. 6), L o n d o n - T h e Hague-Paris 1965, S. 1 9 6 — 2 0 1 , hier S. 199. 10

Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 34 (1913), S. 328.

1'

Franz Mehring, Die Wende des Jahrhunderts,

wieder abgedruckt in: Franz Mehring,

Gesammelte Schriften, hrsg. v o n T h o m a s Höhle, Hans K o c h u. Josef Schleifstein, Bd. 14, Berlin [ O s t ] 1964, S. 3 1 6 — 3 1 9 , hier S. 319. Der A r t i k e l wurde zuerst abgedruckt in: Die Neue Zeit 18 (1899/1900), Bd. 1, S. 3 8 5 — 3 8 8 .

Berlin als Zentrale der

159

Arbeiterbewegung

Propaganda zu behindern. Wilhelm Liebknecht betrachtete die Parteizeitungen sogar als das beste Agitationsmittel: Dieserpapierne Agitator ersetzt ein Dutzend der tüchtigsten Agitatoren von Fleisch und Blut und tut obendrein die Arbeit gründlicher, weil das gedruckte Wort bleibt, das gesprochene aber verfliegt.12 Unmittelbar nach dem Auslaufen des Sozialistengesetzes setzte daher ein erheblicher Aufschwung der Parteipresse ein, der das innere Wachstum der Gesamtpartei in mancher Hinsicht vorwegnahm. Der überwiegende Teil der Mitglieder lehnte es jetzt ab, eine bürgerliche Zeitung zu abonnieren. Es wurde regelmäßig ein Parteiblatt gelesen, getreu der Erkenntnis von Wilhelm Liebknecht, daß ein Arbeiter, der ein Organ der Arbeiterfeinde hält, geistigen Selbstmord ... Verrat an seiner Klasse begeht.13 Das seit April 1884 erscheindende „Berliner Volksblatt" wurde auf Beschluß des Parteitages in Halle am 1. Januar 1891 unter dem Titel „Vorwärts" mit dem Untertitel „Berliner Volksblatt" als neues Zentralorgan bestimmt. Chefredakteur war Wilhelm Liebknecht, nach dessen Tode Kurt Eisner. Der „Vorwärts", dessen Gesamtredaktion sich nun in Berlin befand, verfügte hier über die denkbar besten Informationsquellen und hatte daher gute Möglichkeiten, die sozialdemokratischen Provinzblätter mit Nachrichten und Artikeln zu versorgen. Der vom Parteivorstand festgelegte Kurs wurde von der „Vorwärts"-Redaktion konsequent vertreten. Die übrigen Parteizeitungen hatten sich daher ihren Tendenzen unterzuordnen, auch wenn sich daneben zum Beispiel die „Leipziger Volkszeitung" als selbständiges publizistisches Organ unter ihrem Chefredakteur Franz Mehring einer gewissen Eigenständigkeit erfreuen durfte. Seit Januar 1883 erschien im Stuttgarter Verlag von Johann Heinrich Wilhelm Dietz unter Leitung von Karl Kautsky „Die Neue Zeit" als Diskussionsforum für die Theorie des Sozialismus. Als Bildungszeitschrift getarnt, kam sie mit dem Untertitel „Revue des geistigen und öffentlichen Lebens" heraus. Sie übte nach Mehrings Auffassung einen bedeutenden Einfluß auf den proletarischen Emanzipationskampf aus und war nicht nur als Organ der wissenschaftlichen Forschung, sondern

12

Protokoll über den sechsten Congreß

der sozialdemokratischen

Arbeiterpartei,

abge-

halten zu Coburg vom 18. bis 21. Juli 1874, Leipzig 1874, S. 84. 13

Wilhelm Liebknecht, Wissen ist Macht — Macht ist Wissen. Festrede gehalten zum

Stiftungsfest

des Dresdner

Zürich 188« S. 60.

Arbeiter-Bddungs-Vereins,

am 3. Februar 1872,

Hottingen-

160

Ernst

Schraepler

auch als Organ des politischen Tageskampfes gedacht. 14 Die Auslieferung der Zeitschrift erfolgte nach wie vor in Stuttgart, aber die gesamte Redaktion hatte sich inzwischen in Berlin niedergelassen. Im Verlag J . H . W . Dietz erschien auch noch „Die Gleichheit", eine Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen. Es handelte sich um eine Fortsetzung der im Januar 1891 von Emma Ihrer begründeten Publikation „Die Arbeiterin", die sich als „Organ aller auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehenden Vereinigungen der Arbeiterinnen" kennzeichnete. Als verantwortliche Redakteurin betätigte sich in Berlin von 1891 bis 1917 Clara Zetkin. Sie war bemüht, die sozialistische Frauenbewegung zu festigen und die von ihr geleitete Zeitschrift als politisches Zentrum der sozialistischen Fraueninternationale zu stärken. Zu den Mitarbeitern zählten unter anderen Franz Mehring und Rosa Luxemburg. Zur Unterstützung der Presse- und Propagandaarbeit gab der Redakteur des „Vorwärts", Friedrich Stampfer, in Berlin eine Privatkorrespondenz heraus, die den Redaktionen der sozialdemokratischen Zeitungen allgemein zur Verfügung stand. Als weiteres Hilfsmittel für die Agitation erschien schließlich seit dem 19. Juli 1906 die „Sozialdemokratische Presse-Correspondenz", zunächst wöchentlich, seit 1909 vierzehntägig. Diese Korrespondenz enthielt reichhaltiges Material zur Innen- und Außenpolitik, nach Sachgebieten gegliedert und kommentiert. Der Inhalt dieser Veröffentlichungen wurde ebenfalls in Berlin diskutiert und ausgearbeitet. Die Gesamtentwicklung der sozialdemokratischen Presse wurde überhaupt immer wieder von der Frage nach einer zentralen Nachrichtenübermittlung bestimmt. Die Parteiführung errichtete daher in Berlin noch ein zentrales Preßbüro, das am 15. Juli 1908 seine Tätigkeit aufnehmen konnte. Berlin erwies sich dabei als der geeignete Ort, in dem die besten Möglichkeiten bestanden, die Propaganda wirksam zu gestalten. Die Parteiführung organisierte auch einen Zentralbildungsausschuß, der am 13. Dezember 1906 seine Tätigkeit in Berlin aufnahm. Dem Ausschuß gehörten Vertreter der verschiedenen politisch-ideologischen Strömungen innerhalb der gesamten Sozialdemokratie an. Dieser Institution unterstanden lokale Ausschüsse und Bezirksbildungseinrich14

Franz Mehring, Ein Jubiläum,

in: F. Mehring, Gesammelte

Schriften

...

(wie

A n m . 11), Bd. 15, Berlin [ O s t ] 1 9 6 6 , S. 3 0 1 — 3 0 3 . D e r A r t i k e l wurde zum ersten Mal in der Leipziger Volkszeitung, Nr. 229 v o m 2. O k t o b e r 1907, veröffentlicht.

Berlin als Zentrale der Arbeiterbewegung

161

tungen. Ihnen wurde die Aufgabe zugewiesen, für die Gesamtheit der organisierten Arbeiter an den betreffenden Orten alle Veranstaltungen belehrenden und künstlerischen Charakters zu arrangieren.15 Der Zentralausschuß hatte auch den Auftrag, wissenschaftliche Wanderkurse zu organisieren. Es wurden daher Redner bestimmt, die Vorträge über Wirtschaftsgeschichte, Nationalökonomie und Sozialgeschichte zu halten hatten. Als weiteres Aufgabengebiet war vorgesehen, gute und geeignete Jugendliteratur auszuwählen und darauf hinzuweisen. Der Ausschuß verbreitete deshalb regelmäßig Verzeichnisse mit entsprechenden Titeln. Am 15. November 1906 wurde in Berlin die Parteischule eröffnet. In Halbjahreskursen sollte hier eine ernst gemeinte und ernst gewollte Schulung der Genossen im Interesse unserer Agitation durchgeführt werden.16 In den Kursen traten jedoch bald Schwierigkeiten auf, da viele Lehrer keine pädagogischen Erfahrungen besaßen, die für eine solide Ausbildung der Parteimitglieder unbedingt notwendig waren. Schließlich muß noch auf den Aufschwung des Gewerkschaftswesens hingewiesen werden, der parallel zur Entwicklung der Sozialdemokratie verlief. August Bebel bezeichnete in seinen Erinnerungen das Jahr 1868 als das Geburtsjahr der deutschen Gewerkschaften, 17 obwohl sich schon seit 1865 einzelne gewerkschaftliche Gruppen zu Dachverbänden zusammengeschlossen hatten. Das Koalitionsrecht wurde im Gesamtbereich des Norddeutschen Bundes jedoch erst am 1. Oktober 1869 geregelt, als die neue Gewerbeordnung in Kraft trat. Bebel selbst hatte der jungen Gewerkschaftsbewegung dadurch geholfen, daß er Musterstatuten für deutsche Gewerksgenossenschaften ausarbeitete, die am 28. November 1868 veröffentlicht wurden.18 In diesen Statuten wurde vorgeschlagen, lokale Genossenschaften zu bilden, um sie dann in Gauverbänden und schließlich in einem Zentralverband zusammenzufassen. An der Spitze sollte ein zentral geleiteter Vorstand stehen. Als 15 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Nürnbergvom 13. bis 19. September 1908, Berlin 1908, S. 88. 16 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Essen an der Ruhr vom Ii. bis 21. September 1907, Berlin 1907, S. 198. 17 August Bebel, Aus meinem Leben, bearb. von Ursula Herrmann unter Mitarbeit von Wilfried Henne und Ruth Rüdiger (= August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, hrsg. von Horst Bartel, Rolf Dlubek und Heinrich Gemkow, Bd. 6), Berlin [Ost] 1983, S. 157. 18 A. a. O., S. 164.

162

Ernst Schraepler

oberste Institution mußte eine Generalversammlung Entscheidungen treffen. Es erwies sich als äußerst notwendig, eine einheitliche Gewerkschaftsorganisation aufzubauen. Die früheren Auseinandersetzungen zwischen Lassalleanern und Eisenachern hatten diesem Ziele jedoch im Wege gestanden. Während der Dauer des Sozialistengesetzes kamen noch die Unterdrückungsmaßnahmen der Polizei- und Justizbehörden hinzu, die ein Hindernis bildeten, besonders da die Gewerkschaftsbewegung auf die bürgerliche Legalität angewiesen war. Dennoch gelang es der sozialdemokratischen Führung, den Gedanken der Solidarität in der Gewerkschaftsbewegung zu festigen und ein Bekenntnis zur Schicksalsgemeinschaft mit der Sozialdemokratie als Partei der Arbeiterbewegung durchzusetzen. Nach dem Ende des Sozialistengesetzes kam es zu einer allgemeinen grundlegenden Reorganisation des gesamten Gewerkschaftswesens. Die Zentralisierung wurde durchgesetzt. Eine Generalkommission mußte Kongresse vorbereiten und einberufen. Die Generalkommission hatte 1890 bis 1902 ihren Sitz in Hamburg, von 1903 an in Berlin. Die Kommission zählte zunächst sieben, dann fünf, seit 1908 dreizehn Mitglieder. Sie wurden auf den periodisch stattfindenden Gewerkschaftskongressen gewählt. 1903 nahm in Berlin bei der Generalkommission ein Zentralarbeitersekretariat seine Tätigkeit auf, das die Rechtsansprüche der Arbeiterschaft aus den Versicherungsgesetzen vor dem Reichsversicherungsamt zu vertreten hatte. Seit dem 1. Oktober 1905 wirkte im ähnlichen Sinne ein Arbeiterinnensekretariat. Damit war Berlin allgemein als Zentrale auch der deutschen Gewerkschaftsbewegung ausgewiesen und anerkannt, von der aus die Weisungen an die untergeordneten Organisationen im gesamten Deutschen Reich ergingen. So hatte sich die Reichshauptstadt im Verlaufe eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums zu einem politisch-organisatorischen Zentrum entwickelt, das eine integrierende Wirkung auf die gesamte deutsche sozialistische Arbeiterbewegung ausübte. Das stellte Friedrich Engels schon 1893 in Berlin fest, als er auf einer Festversammlung, die zu seinen Ehren veranstaltet worden war, äußerte: Es sind fast auf den Tag 51 Jahre, daß ich Berlin zuletzt gesehen. Seitdem ist Berlin vollständig umgewandelt. Damals war es eine kleine sogenannte Residenz von kaum 350000 Einwohnern und lebte vom Hof, vom Adel, von der Garnison und der Beamten welt. Heute ist es eine große Hauptstadt mit fast zwei Millionen Einwohnern, die von der Industrie lebt. Heute können Hof,

Berlin als Zentrale der Arbeiterbewegung

163

Adel, Garnison und Beamte sich einen anderen Wohnort suchen, und Berlin bliebe doch Berlin.19 Es darf dabei nicht übersehen werden, daß Berlin nicht nur für die deutsche Arbeiterbewegung eine große Bedeutung hatte, sondern genauso für die Anhänger der Zweiten Internationale. Sie sahen mit Bewunderung auf Berlin, wo eine selbstbewußte Arbeiterschaft unter einer energischen und organisatorisch befähigten Führung sich behauptet hatte. Berlin erwies sich dabei als eine Stadt, in der sich die Erkenntnisse und Erfahrungen der sozialistischen Arbeiterbewegung am besten überprüfen und studieren ließen. Ausländische Arbeiterführer kamen daher gern nach Berlin, um an O r t und Stelle Eindrücke zu sammeln und Ratschläge auszutauschen. So blieb die beherrschende Stellung Berlins bis zum Kriegsausbruch von 1914 verhältnismäßig unangefochten, obwohl die süddeutschen Anhänger der Sozialdemokratie des öfteren bemüht waren, ihre föderalistischen Bestrebungen gegenüber der integrierenden Kraft der Reichshauptstadt durchzusetzen.

" Friedrich Engels, Rede auf einer sozialdemokratischen Versammlung in Berlin am 22. September 1893, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der S E D , Bd. 22, Berlin [Ost] 1963, S. 412 f.

Forschung und industrieller Fortschritt: Berlin als Wissenschaftszentrum Akademie

der Wissenschaften, und

Universität,

Technische

Hochschule

Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft

B E R N H A R D VOM Marburg

BROCKE

Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft befaßt sich unter anderem mit Versuchen, die das ungeheuer wichtige Problem der Zertrümmerung der Atome betreffen. Die Frage wird in Zukunft, wenn unsere Kohlenschätze ausgehen, eine ungeheure Bedeutung erlangen; denn in den Atomen schlummern gewaltige Energien. (Max Planck, o. Professor an der Universität, Ständiger Sekretär der Akademie der Wissenschaften, als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft am 23. Februar 1931 vor dem Haushaltsausschuß des Reichstags.)

Vier Institutionen haben den R u h m Berlins als deutsches und europäisches Wissenschaftszentrum begründet und dazu beigetragen, daß Deutschland im 19. und beginnenden 20. J a h r h u n d e r t die älteren wissenschaftlichen „ W e l t z e n t r e n " — England im 17. J a h r h u n d e r t , Frankreich im 18. J a h r h u n d e r t — ablöste: 1 die im J a h r e 1700 gestiftete Akademie der Wissenschaften, die 1 8 1 0 eröffnete

Friedrich-Wilhelms-

Universität, die 1 8 7 9 aus der Vereinigung der Bauakademie (gegr. 1 7 9 9 ) So Joseph Ben-David, The Scientist's Role in Society. A Comparative Study (= Foundations of Modern Sociology Series), Englewood Cliffs, N . J . 1971, insbes. Kapitel 7: „German scientific hegemony and the emergence of organized science", S. 108—138; auch ders., Centers of Learning. Britain, France, Germany, United States. An Essay Prepared for the Carnegie Commission on Higher Education, New York-Düsseldorf 1977. 1

166

Bernhard vom Brocke

mit der Gewerbeakademie (gegr. 1821) hervorgegangene Technische Hochschule zu Charlottenburg und viertens die Kaiser-WilhelmGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V . , deren Gründung Wilhelm II. im Rahmen der 100-Jahr-Feier der Universität 1910 feierlich verkündete. 2 I

Akademisches Leben — Wissenschaftsverwaltung und Wissenschaftspolitiker Diese vier Institutionen bildeten die Spitze eines reichen akademischen Lebens, das sich in der Residenzstadt Berlin seit dem 18. Jahrhundert entwickelte: von der Gründung der Akademie der bildenden Künste und mechanischen Wissenschaften (1696) über die Errichtung zahlreicher hervorragender Fachhoch- und Fachschulen ohne Promotionsrecht, die im Zuge einer bis heute wirksamen Tendenz zur Akademisierung im Laufe der Zeit in wissenschaftliche Hochschulen umgewandelt oder in diese eingegliedert wurden, bis hin zu den wissenschaftlichen Landes- und Reichsanstalten, Forschungsinstituten der Industrie und Zentralinstanzen der Wissenschaftsverwaltung und Wissenschaftsförderung. Diese Entwicklung kann hier nur in aller Kürze skizziert werden. U n t e r den Fachhochschulen müssen hervorgehoben werden: die Bergakademie, 1770 von Friedrich dem Großen errichtet, nach 1810 wegen der Universitätseröffnung stark eingeschränkt, 1860 neu eingerichtet und 1916 mit der Technischen Hochschule vereinigt; die als Königliche Forstlehranstalt 1770 eröffnete, dann 1820 gegründete Forstakademie, 1921 Forstliche Hochschule, seit 1946 Forstwissenschaftliche Fakultät der Universität; die 1790 gegründete Tierarzneischule, 1887 zur Tierärztlichen Hochschule erhoben, seit 1934 Landwirtschaftlich-Tierärztliche Fakultät der Universität; die Bauakademie 1799, die Gewerbeschule 1821; die 1906 von der „Korporation der Kaufmannschaft" von Berlin errichtete und ausschließlich unterhaltene Handels-

2 Grundlegend hier und zum folgenden: Hubert Laitko u. a., Wissenschaft in Berlin. Von den Anfängen bis zum Neubeginn nach 1945, Berlin [Ost] 1987. Diese von acht Autoren unter Zuarbeit eines 13köpfigen Forschungskollektivs verfaßte, gründlich recherchierte und gut geschriebene Bilanz der DDR-Forschung erschien im April 1987 zur 750-Jahr-Feier Berlins. Sie fußt allerdings weit mehr, als sichtbar gemacht wird, auf „westlichen" Forschungsergebnissen; zitiert werden fast nur DDR-Autoren.

168

Bernhard vom Brocke

hochschule, sie wurde 1946 als Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät in die Universität eingegliedert; aber auch die 1795 zur Ausbildung von Sanitätsoffizieren gegründete Pépinière, seit 1818 MedizinischChirurgisches Friedrich-Wilhelms-Institut an der Universität, seit 1895 Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen. Aus der Pépinière sind bedeutende Mediziner wie Helmholtz, Virchow, Leyden, Löffler, Behring hervorgegangen. 1919 wurde sie ebenso wie die 1758 von Friedrich dem Großen als Académie des nobles gegründete Allgemeine Kriegsschule, seit 1858 Kriegsakademie, durch den Versailler Vertrag aufgehoben, 1934 bis 1945 wiedereröffnet. Eine vergleichsweise nur kurze Lebensdauer hatten die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die 1872 an Stelle einer jüdisch-theologischen Universitätsfakultät zur Ausbildung deutscher liberaler Rabbiner errichtet und 1942 geschlossen wurde, und die Hochschule für Politik (1920—1933). Letztere wurde 1949 wiedergegründet und 1959 als O t t o - S u h r - I n s t i t u t der Freien Universität Berlin eingegliedert. Das Gesicht Berlins als Wissenschaftszentrum haben schließlich nicht minder die großen preußischen Landesanstalten und Reichsanstalten geprägt, auf die im Zusammenhang mit der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft eingegangen wird, die Forschungsinstitute landwirtschaftlicher und industrieller Verbände (unter anderen das Institut für Zuckerindustrie, 1867, seit 1903 T e i l der Landwirtschaftlichen Hochschule) und die Forschungslaboratorien großer Industrieunternehmen wie Siemens und der A E G . 3 Alle diese Institutionen waren auf vielfältige Weise personell miteinander verflochten. Professoren der Universität lehrten zugleich an der Kriegsakademie, der Landwirtschaftlichen Hochschule oder einer anderen Fachhochschule. Hermann von Helmholtz, ursprünglich Medi-

3 Wilhelm Spielmann, Handbuch der Anstalten und Einrichtungen zur Pflege von Wissenschaft und Kunst in Berlin, Berlin 1897; Wilhelm Paszkowski, Berlin in Wissenschaft und Kunst. Ein akademisches Auskunftsbuch nebst Angaben über akademische Berufe, Berlin 1910; Wilhelm Lexis (Hrsg.), Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. Aus Anlaß der Weltausstellung in St. Louis hrsg., Bd. 4: Das technische Unterrichtswesen, Teil 2: Die Hochschulen für besondere Fachgebiete, Berlin 1904; Karl Boeck, Die technisch-wissenschaftlichen Forschungsanstalten (= Deutsche technisch-wissenschaftliche Forschungsstätten, Bd. 2), Berlin 1931; Walter Ruske, Außeruniversitäre technischnaturwissenschaftliche Forschungsanstalten in Berlin bis 1945, in: Reinhard Rürup (Hrsg.), Wissenschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879—1979, Bd. 1 u. 2, Berlin-Heidelberg-New York 1979, Bd. 1, S. 231— 263; Peter Lundgreen u. a., Staatliche Forschung in Deutschland 1870—1980, Frankfurt/ Main-New York 1986.

Berlin als

169

Wissenschaftszentrum

ziner, lehrte als ord. Professor der Physik an der Universität und war zugleich Mitglied der Akademie und Präsident der 1887 eröffneten Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Die Präsidenten der KaiserWilhelm-Gesellschaft, der Theologe und Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek, Adolf von Harnack, und sein Nachfolger, der Physiker Max Planck, waren Professoren an der Universität und Mitglieder der Akademie. Der letzte Kgl. Preußische Kultusminister Friedrich Schmidt-Ott war Ehrenmitglied der Akademie. Nach dem Ersten Weltkrieg übte er als Vizepräsident der Kaiser-WilhelmGesellschaft und als Präsident der von ihm zusammen mit dem Physikochemiker Fritz Haber 1920 gegründeten Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Vorgängerin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, einen bestimmenden Einfluß auf die deutsche Wissenschaftsförderung aus, weit über Berlin und Preußen hinaus. Dem Präsidium der Notgemeinschaft gehörten wiederum Harnack als Vorsitzender des Hauptausschusses und Haber als Stellvertreter des Präsidenten an. Haber leitete das von ihm gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie, lehrte an der Universität und war Mitglied der Akademie. Ohne die größtenteils vom Reich finanzierte Notgemeinschaft hätte die deutsche Wissenschaft die schwere Krise der Inflation kaum überwunden. Notgemeinschaft und Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft hatten nach 1918 ihren Sitz im Berliner Schloß ebenso wie der 1928 durch Reichserlaß im Rahmen des Völkerbunds gebildete 51köpfige Nationalausschuß für geistige Zusammenarbeit, als dessen Präsidenten Harnack und nach ihm Planck amtierten. 4 Bildete das Schloß als Sitz des „obersten Schulherrn" in der monarchischen Zeit gewissermaßen den östlichen Abschluß von Berlins rue capitale „Unter den Linden", an der die Universität, die Akademie und die Staatsbibliothek lagen, so befand sich am anderen Ende unweit des Brandenburger T o r s Ecke Wilhelmstraße die Zentralbehörde der preußischen Wissenschaftsverwaltung und Wissenschaftspolitik, das im

4

Kurt Zierold, Forschungsförderung

schaft. Geschichte,

Arbeitsweise,

in drei Epochen.

Kommentar,

Ludwig Schmugge, fO Jahre Forschungsförderung schen Forschungsgemeinschaft und Erstrebtes 1860—1950, senschaft und internationale kultureller Beziehungen

1920—1970,

Deutsche

Forschungsgemein-

Wiesbaden 1968; Thomas Nipperdey/ in Deutschland.

Ein Abriß der Deut-

Berlin 1970; Friedrich Schmidt-Ott, Erlebtes

Wiesbaden 1952; Brigitte Schröder-Gudehus, Deutsche WisZusammenarbeit

1914—1928.

in politischen Krisenzeiten,

Ein Beitrag zum

Genf 1966.

Studium

170

Bernhard vom Brocke

Jahre 1817 aus der 1808 errichteten Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Innern hervorgegangene Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, das älteste Kultusministerium der W e l t . Seit 1918 nannte es sich Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, seit 1934 — nach Übernahme der kulturpolitischen Abteilung „für Bildung und Schule" aus dem Reichsinnenministerium und der Zuständigkeiten der bisherigen Kultusministerien der Länder — Reichs- und (bis 1938) preußisches Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. 5 Im Preußischen Kultusministerium liefen bis zum Ende Preußens alle Fäden der preußisch-deutschen Bildungsverwaltung und Wissenschaftspolitik zusammen. In ihm haben vornehmlich fünf Männer dieser den Stempel ihrer Ideen und ihres Handelns aufgedrückt: Wilhelm von H u m b o l d t (1767—1835) in seiner knapp anderthalbjährigen Amtszeit von Februar 1809 bis J u n i 1910 als erster Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht im Geiste der Aufklärung und des Neuhumanismus, als nach der Niederlage des Ancien Régime gegen die Freiheitsparole der Französischen Revolution das Königswort von Memel 1807 (der Staat müsse durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren habe) den Reformern freie Hand gab. Karl Freiherr von Stein zum Altenstein ( 1 7 7 0 — 1840) leitete als erster preußischer Kultusminister von 1817 bis 1840, allen Stürmen der R e a k t i o n und Demagogenverfolgungen zum T r o t z , zäh und nicht ohne Kompromisse die Durchführung des Reformwerks. U n t e r der Leitung des „allmächtigen Ministerialdirektors" in der Hochschul- und Wissenschaftsabteilung und Professors der R e c h t e Friedrich Althoff (1839—1908) erfolgten nach dem siegreichen Krieg gegen das Frankreich des Dritten Napoleon in einem Zeitalter wirtschaftlicher Prosperität und des Ubergangs von der Agrar- und Ständegesellschaft zur kapitalistischen Industriegesellschaft die Modernisierung des Bildungswesens für die Erfordernisse des

5 Reinhard Lüdicke, Die preußischen Kultusminister und ihre Beamten im ersten Jahrhundert des Ministeriums 1817—1917. Im amtlichen Auftrag bearbeitet, StuttgartBerlin 1918; Karl-Heinz Manegold, Das „Ministerium des Geistes". Zur Organisation des ehemaligen preußischen Kultusministeriums, in: Die deutsche Berufs- und Fachschule 63 (1967), S. 512—524; Bernhard vom Brocke, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882—1907: das „System Althoff', in: Peter Baumgart (Hrsg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs (= Preußen in der Geschichte, Bd. 1), Stuttgart 1980, S. 9—118, hier S. 20ff. (mit Organisationsplan). Eine Geschichte des Kultusministeriums fehlt.

Berlin als

Wissenschaftszentrum

171

Industriezeitalters, der Ausbau des Hochschulwesens zum „Großbetrieb" und der Schritt von der traditionellen Wissenschaftsverwaltung zu einer zielgerichteten Wissenschaftspolitik. Seiner immer auf die Förderung von Spitzenleistungen bedachten Berufungspolitik verdankte Berlin die Berufung so bedeutender Gelehrter wie Robert Koch, Harnack, Emil Fischer, Friedrich Paulsen und Ulrich von WilamowitzMoellendorff. In der Weimarer Republik verfolgten der preußische Kultusminister und Professor der Orientalistik Carl Heinrich Becker (1876—1933), ein erklärter Liberaler, und Althoffs bedeutendster Schüler Friedrich Schmidt-Ott (1860—1956), ein liberaler Konservativer, bei allen unterschiedlichen politischen Optionen das gemeinsame Ziel, unter den gewandelten politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen die Folgen des verlorenen Kriegs zu überwinden, die deutsche Wissenschaft aus ihrer internationalen Isolation zu befreien und ihre internationale Reputation wiederherzustellen und weiter auszubauen. Sie alle standen, unterstützt von bedeutenden Mitarbeitern — von Schleiermacher, Süvern, Beuth und Johannes Schulze bis zu Harnack, Werner Richter und Georg Schreiber —, als Repräsentanten des für die Ausbildung des preußischen Kulturstaats charakteristischen bürokratischen Liberalismus in einer Tradition, die über die Reformära hinaus bis zu den Anfängen Preußens als Königreich zurückreicht. 6 II

Akademie der Wissenschaften Die Stiftung der Kurfürstlich-Brandenburgischen Societät der Wissenschaften am 11. Juli 1700 durch Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, der sich am 18. Januar 1701 in Königsberg als Friedrich I. zum ersten König in Preußen krönte, war das Werk von Gottfried

6

Berlinische

Lebensbilder,

Bd. 3: Wissenschaftspolitik

in Berlin. Minister,

Beamte,

Ratgeber, hrsg. von Wolfgang Treue u. Karlfried Gründer (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 60), Berlin 1987; Bernhard vom Brocke, Preußische

Bildungspolitik

1700—1930,

in: Deutsches

S. 7 2 7 — 7 4 6 , erweitert unter dem Titel: Preußen Kasernen. Humboldt

Preußische Bildungspolitik

Verwaltungsblatt

— Land der Schulen,

von Gottfried Wilhelm Leibniz und Wilhelm

bis Friedrich Althoff und Carl Heinrich Becker (1700—1930),

Böhme (Hrsg.), Preußen

— eine Herausforderung^

(1988), S. 1—26.

von

in: Wolfgang

Herrenaiber T e x t e , Bd. 32), Karls-

ruhe 1981, S. 5 4 — 9 9 ; ders., Von der Wissenschaftsverwaltung Friedrich Althoff (19. 2. 1839—20.

96 (1981), nicht nur der

zur

Wissenschaftspolitik.

10. 1908), in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte

11

172

Bernhard vom Brocke

Wilhelm Leibniz (1646—1718) unter maßgeblicher Beteiligung der mit ihm befreundeten Königin, der ihren Gemahl an Intelligenz und Esprit überragenden Weifin Sophie Charlotte. Leibniz wurde der erste Präsident der Akademie. Seit 1717 nannte sie sich Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. U n t e r diesem Namen erlangte sie als die älteste, größte und reichste der deutschen Akademien Weltruf. Indem sie im Unterschied zu ihren älteren Schwestern, der Royal Society in London (1662) und der von Colbert geförderten Academie Royale des Sciences in Paris (1666), neben der Pflege der Naturwissenschaften auf Wunsch des Kurfürsten auch die der Geisteswissenschaften (zunächst deutsche Sprache, deutsche Geschichte, deutsches R e c h t usw.) in ihr Programm aufnahm, wurde sie zum bewunderten Vorbild für eine ganze Reihe ähnlicher wissenschaftlicher Körperschaften in Deutschland ( G ö t t i n g e n 1751, München 1759, Leipzig 1774, Wien 1847) und außerhalb Deutschlands, sowohl für die noch von Leibniz und Peter dem G r o ß e n entworfene Kaiserliche Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg (1725) als auch für die Königlichen Akademien in Schweden (Stockholm 1739), Dänemark (Kopenhagen 1742) und anderen europäischen Staaten. 7 Seit Juli 1946 trägt die Berliner Akademie den Namen Deutsche Akademie der Wissenschaften, und seit O k t o b e r 1972 heißt sie Akademie der Wissenschaften der D D R . Als eine freie Gelehrtenvereinigung unter staatlicher Fürsorge in einer Stadt ohne Universität gestiftet, mit ca. 50 Ordentlichen, das heißt in Berlin ansässigen Mitgliedern, die von 1812 an das Vorlesungsrecht an der Universität Berlin und ab 1838 an allen preußischen Universitäten erhielten, sowie mit 200 Korrespondierenden, auswärtigen Mitgliedern nahm die Akademie ihren eigentlichen Aufschwung mit dem Aufblühen der neuen Universität, deren berühmteste Professoren zugleich ihre Mitglieder waren. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit standen unter der Leitung von etwa 20 akademischen Kommissionen seit dem 19. Jahrhundert vor allem große geisteswissenschaftliche Unternehmungen: die beiden Inschriftenwerke, das von Philipp August Boeckh ins Leben gerufene „Corpus Inscriptionum Graecarum" (1815) und das

7 Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Im Auftrage der Akademie bearb., Bd. 1—3, Berlin 1900; Jürgen Voss, Die Akademien als Organisationsträger der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 231 (1980), S. 43—74; Fritz Hartmann/Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Der Akademiegedanke im 17. und 18. Jahrhundert (= Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 3), Wolfenbüttel 1977.

Berlin als

Wissenschaftszentrum

173

1836 auf Vorschlag eines dänischen Gelehrten begonnene, dann von Theodor Mommsen erst wirklich begründete „Corpus Inscriptionum Latinarum" (1845), die von August Bekker geleitete kritische Ausgabe der griechischen Aristoteles-Kommentare (1817) und die von Adolf Harnack begründete Ausgabe der griechischen Kirchenväter (1891). Ferner seien genannt die von Johann Gustav Droysen und Max Duncker initiierte „Politische Correspondenz Friedrichs des Großen" (1874), Gustav Schmollers „Acta Borussica" („Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung", 1888) sowie die großen akademischen Gesamtausgaben der Werke ihrer Mitglieder Friedrich der Große (seit 1840), Kant (1896), Wilhelm von Humboldt (1900), Leibniz (1901), Dilthey (1913). Dazu kamen auf dem Felde der Naturwissenschaften neben der Förderung von Expeditionen die Erstellung von Sternkarten (1825), die von dem Astronomen Arthur Auwers initiierte „Geschichte des Fixsternhimmels" (1900) und die großen, von dem Zoologen Franz Eilhard Schulze und dem Botaniker Adolf Engler begonnenen Werke „Das Pflanzenreich" und „Das Tierreich" (1900) sowie Gesamtausgaben der Schriften ihrer Mathematiker Weierstraß (1897) und Kronecker (1924/25). Die Akademie beteiligte sich führend an Gemeinschaftsprojekten des auf Anregung ihres Ständigen Sekretars Theodor Mommsen 1893 gegründeten Kartells der deutschen Akademien und der aus diesem Kartell im Jahre 1899 hervorgegangenen Internationalen Assoziation der Akademien. Den sachlichen Anstoß zur Gründung des Kartells hatte der „Thesaurus linguae latinae" gegeben, eine der größten gelehrten Unternehmungen auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften bis heute, den Anstoß zur Gründung der Assoziation der Wunsch der Royal Society, die von ihr betreute naturwissenschaftliche Bibliographie auf eine möglichst breite Grundlage zu stellen. Großen Einfluß besaß die Akademie auf einige in Berlin beheimatete nichtakademische Unternehmungen, die „Monumenta Germaniae Histórica", das Deutsche Archäologische Institut mit seinen Zweigstellen in R o m , Athen, Kairo und Konstantinopel, auf die monumentale LutherAusgabe und auf das „Deutsche Wörterbuch" der Brüder Grimm, dessen Weiterführung sie zusammen mit der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften im Jahre 1908 übernahm und dessen erster Band bereits 1854 erschienen war.8

8 A. Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften ... (wie Anm. 7); Leo Stern (Hrsg.), Die Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Imperialismus 1900—1945, Teil 1: Conrad Grau, Von den neunziger Jahren des

174

Bernhard vom Brocke

Ihre naturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen — Sternwarte, Botanischer Garten, Chemisches Laboratorium — hatte die Akademie im Laufe des 19. Jahrhunderts an die Universität verloren. Erst um 1900 wurde wieder, j e t z t unter Hinweis auf Vorbilder und ähnliche Bestrebungen in London, Paris, Wien, Stockholm (NobelInstitute) und den U S A , über die Errichtung naturwissenschaftlicher Forschungsinstitute durch die Akademie zwischen Althoff und führenden Akademikern (Emil Fischer, Harnack) diskutiert, in strengster Vertraulichkeit wegen der Widerstände aus den eigenen Reihen. Einen A n s t o ß hatte 1896 die auf Betreiben Fischers und Max Plancks von Althoff für den holländischen Physikochemiker Jacobus Hendricus van't H o f f (erster Nobelpreis für Chemie 1901) errichtete, vielbeneidete Akademieprofessur ohne Lehrverpflichtung — die erste ihrer Art — und sein Wunsch nach einem Laboratorium gegeben, nachdem van't H o f f einen R u f an die Universität wegen der Lehr- und Fakultätsverpflichtungen ausgeschlagen hatte und anders für Berlin nicht zu gewinnen war. Nach seinem frühen T o d erhielt 1913 Albert Einstein diese Professur. Sie gab dem damals 34jährigen die institutionelle und materielle Basis zur ungestörten Entwicklung der Relativitätstheorie. Die Errichtung naturwissenschaftlicher Akademie-Institute hat dann nicht zuletzt die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft verhindert. Diese entwickelte sich als eine große Forschungsorganisation neuer Art zwar unter Ausnutzung der Kompetenz der Akademie, aber im wesentlichen unabhängig von ihr. Das Akademiemitglied Einstein übernahm 1917 nicht die Leitung eines Akademie-Instituts, sondern des für ihn gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik. 9 Erst seit der Umwandlung aus einer Gelehrtenvereinigung alten Typs zur Staatsakademie der D D R und Trägerorganisation von Akademie-Instituten nach dem von allen osteuropäischen Ländern übernommenen sowjetischen Vorbild unterhält die Akademie eigene natur- und geisteswissenschaftliche Forschungsinstitute in Ost-Berlin und in der D D R . Im Jahre 1986 verfügte sie mit etwa 145 Ordentlichen

19. Jahrhunderts

bis zur Großen

Sozialistischen Oktoberrevolution

(= Studien zur Ge-

schichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Bd. 2/1), Berlin [ O s t ] 1975; Peter Alter, Internationale

Wissenschaft und nationale Politik. Zur Zusammenarbeit

senschaftlichen Akademien

im frühen 20. Jahrhundert,

Schlenke/Hellmut Seier (Hrsg.), Studien britischen Beziehungen. 9

der wis-

in: L o t h a r Kettenacker/Manfred

zur Geschichte Englands

und der

deutsch-

Festschrift für Paul Kluke, München 1981, S. 2 0 1 — 2 2 1 .

B. vom Brocke, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft

im Kaiserreich ... (wie Anm. 25).

Berlin als Wissenschaftszentrum

175

und 70 Korrespondierenden Mitgliedern über 72 Institute und Einrichtungen, darunter 53 Forschungseinrichtungen, mit rund 23 000 Beschäftigten; von diesen sind 8000 Wissenschaftler. Ihr westdeutsches Pendant, die aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft hervorgegangene Max-Planck-Gesellschaft, unterhielt im selben J a h r über 60 Institute und selbständige Forschungseinrichtungen mit circa 8500 Mitarbeitern, darunter 2200 Wissenschaftler und Ingenieure, sowie 2000 Stipendiaten und Gastwissenschaftlern. 1 0 III U niversität Der gewaltige Aufschwung der Wissenschaften, der im 19. Jahrhundert in Deutschland zuerst die Geisteswissenschaften, dann auch die Naturwissenschaften und die Medizin zur Weltgeltung brachte, erfolgte nicht an den Akademien, die vor allem auf naturwissenschaftlichem Gebiet immer weiter zurückfielen und sich ohne nennenswerte eigene Forschungskapazitäten und Mitarbeiterstäbe mehr und mehr auf die Rolle von Kommunikationszentren, Aufsichts-, Lenkungs- und Gutachtergremien und auf langfristige Editionsvorhaben vornehmlich in den Geisteswissenschaften beschränkten. Er vollzog sich weitgehend im R a h m e n der deutschen Universitäten. Die Voraussetzungen dafür schuf die mit dem Namen Wilhelm von H u m b o l d t s verbundene Universitätsreform, die aus Anstalten mit ganz überwiegenden Lehraufgaben, entsprechend dem Grundsatz der Einheit von Forschung und Lehre, Universitäten mit Lehr- und Forschungsaufgaben entstehen ließ. Den Anstoß gab die Gründung der Berliner Universität. 1 1

10 Werner Hartkopf, Die Akademie der Wissenschaften der DDR. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Berlin [Ost] 1975; ders., Die Akademie der Wissenschaften der DDR. Biographischer Index, Berlin [Ost] 1983 [Kurzbiographien und Mitgliederentwicklung 1700— 1981]; Die Akademie der Wissenschaften der DDR. Geschichte und Auftrag, Berlin [Ost] 1987; Max-Planck-Gesellschaft. Jahrbuch 1986, Göttingen 1986. " Die klassische Darstellung verdanken wir Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1—4, Halle a.d. Saale 1910—1918. Eine Fortsetzung fehlt. Vorarbeiten liefern die Fest- und Gedenkschriften: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (= Gedenkschrift der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1), Berlin 1960; Hans Leussink/Eduard Neumann/Georg Kotowski (Hrsg.), Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Ge-

176

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Schon im 18. Jahrhundert gab es Pläne, auch in der Hauptstadt des Königreichs eine Universität zu errichten. Sie verdichteten sich gegen Ende des Jahrhunderts. Insbesondere der preußische Justizminister Freiherr von Massow, von 1798 bis 1807 Chef des Departements der geistlichen Sachen, welches seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Spitze der preußischen Unterrichtsverwaltung bildete, verfolgte seit 1797 das Modell einer neuartigen Hochschule, das in enger Anlehnung an die staatlichen Ausbildungsbedürfnisse nach französischem Muster eine Koppelung von Fachhochschulen für Arzte, Juristen, Geistliche und Lehrer vorsah. Aber 1807 wurde Massow wegen Kollaboration mit Napoleon entlassen. Die Niederlage Preußens eröffnete den Reformern Fichte, Schelling, Schleiermacher, Wilhelm von Humboldt den Weg. Den konkreten Anlaß zur Universitätsgründung gab 1806 die Schließung der Universität Halle durch Napoleon. Nach dem Frieden von Tilsit 1807 waren von den bisher neun Landesuniversitäten nur noch Frankfurt/Oder und Königsberg verblieben. In Memel antwortete König Friedrich Wilhelm III. gegenüber einer Deputation Hallenser Professoren unter Führung des Juristen Schmalz, die um die Verlegung ihrer Universität nach Berlin baten, mit den berühmten, ihm vielleicht auch nur zugeschriebenen Worten, daß der Staat durch geistige Kräfte ersetzen müsse, was er an physischen verloren habe.12 In seiner nur eineinhalbjährigen Amtszeit als Leiter der neu geschaffenen Sektion für Kultus und Unterricht schuf Humboldt die neue Universität. Sie sollte in Übernahme der traditionellen Universitätsverfassung als selbständige, sich selbst verwaltende Korporation, gegliedert in die vier klassischen Fakultäten, aber in gründlicher Abkehr

schichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (= Gedenkschrift der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 2), Berlin 1960; Willy Göber/Friedrich Herneck (Hrsg.), Forschen und Wirken. Festschrift zur 150-JahrFeier der Humboldt-Universität zu Berlin 1810—1960, Bd. 1—3, Berlin [Ost] 1960; Die Humboldt-Universität. Gestern — heute — morgen. Zum 150jährigen Bestehen der Humboldt-Universität zu Berlin und zum 250jährigen Bestehen der Charite Berlin, Berlin [Ost] 1960; Johannes Asen, Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers der Universität Berlin, Bd. 1 (1810—1945), Leipzig 1955. Einen knappen, eindrucksvollen Uberblick gibt Rüdiger vom Bruch, Berlin, in: Laetitia Boehm/Rainer A. Müller (Hrsg.), Universitäten und Hochschulen in Deutschland, Osterreich und der Schweiz. Eine Universitätsgeschichte in Einzeldarstellungen (= Hermes Handlexikon), Düsseldorf 1983, S. 49—86. 12 M. Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität... 11), Bd. 1, Halle a.d. Saale 1910, S. 78.

(wie Anm.

Berlin als Wissenschaftszentrum

177

von dem bis dahin gültigen System der Landesuniversitäten zur Ausbildung der jeweiligen territorialen Beamten, nicht als eine dritte bloße Provinzialuniversität neben Königsberg und Frankfurt/Oder treten, sondern für Preußen in Deutschland werben, nicht nur zum Besten Preußens, sondern zum Besten Deutschlands schaffen. Ihre Gründung war daher durchaus kein unpolitischer Vorgang. 1802 schloß Napoleon die Universitäten in Frankreich und löste sie in Fachschulen auf. 1810, im Gegenzug, eröffnete Humboldt eine neue Universität gegen die Fachschulen. Nicht mehr die bloße Tradierung von Wissen, sondern die Produktion der Wissenschaft ist ihre Aufgabe, und diese wird als Einheit gesehen. Daher die bekannten Grundsätze der „Einheit der Wissenschaft" und der „Einheit von Forschung und Lehre", daher auch das veränderte Verhältnis von Lehrer und Schüler. Professor und Student, beide sind Suchende und Schaffende, beide sind Mitarbeiter an derselben Aufgabe. Gegen den (absolutistischen) Staat einerseits und die werdende bürgerliche Wirtschaftsgesellschaft andererseits setzte Humboldt als weiteres für die neue Universität konstitutives Prinzip die „Freiheit der Wissenschaft", die Freiheit der Forschung und Lehre und des Lernens. Die Universität ist daher sowohl Staatsanstalt als auch autonome, sich selbst verwaltende Korporation. Keine andere Universitätsgründung hat den kulturpolitischen Auftrag ihrer Schöpfer in solchem Maße erfüllt. Dank ihrer freiheitlichen Verfassung, der Gewinnung bedeutender Lehrkräfte, ihrer Leistung und Ausstrahlungskraft wurde die Berliner Universität im 19. Jahrhundert zum Modell der Hochschulreform im In- und Ausland, wurden, wie der führende Bildungshistoriker der Zeit Friedrich Paulsen — durchaus ein Kosmopolit und keineswegs ein Nationalist — 1906 mit dem Selbstbewußtsein der Epoche konstatierte, die deutschen Universitäten und die aus den Polytechniken hervorgegangenen Technischen Hochschulen mit ihren vornehmlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts errichteten Seminaren, Instituten, Laboratorien und zahlreichen Neubauten zu Zentralstätten der wissenschaftlichen Arbeit für die ganze Welt, so wie auch auf dem Gebiet der Volksschule und des technischen Schulwesens Deutschland der Lehrmeister Europas geworden sei.13 Bis zum Jahre ihres hundertjährigen Bestehens hatte die Universität mit 93 ordentlichen Professoren, 101 außerordentlichen Professoren, 262 Privatdozenten und 10000 Studenten sich zur mit Abstand 13 Friedrich Paulsen, Das deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen (= Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 109), Leipzig 1906, S. 111.

Entwicklung

178

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größten deutschen Hochschule entwickelt und im Vorjahre an Zahl der Studenten sogar Wien und Paris überflügelt — bei 53 000 Studenten an den 22 Universitäten des Reiches insgesamt. Sie besaß seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine starke Anziehungskraft auf ausländische Studenten aus den USA und allen europäischen Nachbarländern und trat so auch hier in Konkurrenz zu dem bis dahin führenden Paris. 27 Nobelpreise wurden an Berliner Professoren vergeben, davon allein 14 im frühen 20. Jahrhundert. Bis zum Zweiten Weltkrieg galt für viele eine Berufung nach Berlin als krönender Abschluß einer herausragenden wissenschaftlichen Laufbahn. In politischer Hinsicht wurde die Universität, die Emil Du BoisReymond — einer der bedeutendsten Physiologen seiner Zeit — in einer Rektoratsrede während des Kriegs von 1870/71 zum geistigen Leibregiment der Hohenzollern, dem Palaste des Königs gegenüber einquartiert erklärte, 14 besonders in Krisenzeiten durch die enge Verflechtung mit der Reichshauptstadt und die Nähe zu Hof und Regierung geprägt. Kritische Liberale wie Mommsen und Virchow bildeten die Minderheit. Während des Ersten Weltkriegs traten im „Krieg der Geister" Berliner Professoren mit öffentlichen Erklärungen, Unterschriftensammlungen, Denkschriften, Vorträgen und Publizistik bestimmend hervor. Der verhängnisvolle „Aufruf der 93" Gelehrten, Schriftsteller und Künstler „An die Kulturwelt!" und die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches", die mit mehr als 4000 namentlich aufgeführten Unterzeichnern fast die gesamte Hochschullehrerschaft aller 53 deutschen Universitäten und Hochschulen hinter sich brachte und in deutscher, englischer, französischer, italienischer und spanischer Sprache ins Ausland versandt wurde, nahmen von Berlin ihren Ausgang. In ihnen wurde Deutschlands Schuld am Krieg bestritten, der Bruch der belgischen Neutralität moralisch gerechtfertigt, die Greueltaten der eigenen Truppen in Belgien beschönigt und eine Identität von deutschem Militarismus und deutscher Kultur beschworen. Ein von dem Medizinprofessor an der Charité und Arzt der Kaiserin, Georg Friedrich Nicolai, zusammen mit Albert Einstein verfaßtes Gegen-Manifest „Aufruf an die Europäer" fand dagegen nur vier Unterzeichner, außer den Verfassern den greisen Astronomen und Mitgründer der Deutschen Friedensgesellschaft Wilhelm Foerster und einen Privatgelehrten. 15 Nach 1933 konnte sich die politisch wie wissen14 15

Emil Du Bois-Reymond, Reden, Bd. 1, 2., vervollst. Aufl., Leipzig 1912, S. 418. Bernhard vom Brocke, „ Wissenschaft und Militarismus". Der Aufruf der93 „An die

Berlin als

179

Wissenschaftszentrum

schaftlich exponierte Universität, obwohl sie im Unterschied zur Technischen Hochschule in ihrem Lehrkörper kaum nationalsozialistisch Gesinnte aufwies, der Gleichschaltung ebensowenig entziehen wie die anderen deutschen Hochschulen. Durch die rassistischen und politischen „Säuberungen" war sie mit über 32 Prozent von aufgrund der NS-Gesetzgebung verfügten Entlassungen allein bis 1934 nach der Frankfurter Universität unter den deutschen Hochschulen absolut wie prozentual am stärksten betroffen. Mit dem Zusammenbruch 1945 wurde die Friedrich-WilhelmsUniversität geschlossen. Am 29. Januar 1946 wurde die Lindenuniversität, seit 1949 Humboldt-Universität, von der sowjetischen Militärverwaltung eröffnet. Die Westalliierten zeigten sich desinteressiert, wie auch frühe Pläne einer Verlegung aus der zerstörten Innenstadt nach Dahlem scheiterten, wo bereits Althoff vor dem Ersten Weltkrieg nach amerikanischem Vorbild eine Campus-Universität erwogen hatte. Ihre Weiterentwicklung vollzog sich im Rahmen der einheitlichen sozialistischen Hochschulentwicklung. 1 6 Die im Westteil der Stadt nach der Währungsreform und der am 24. Juni 1948 einsetzenden Blockade am 4. Dezember 1948 in Dahlem eröffnete Freie Universität Berlin erlangte als FU-Modell mit erhöhter studentischer Mitverantwortung und als Kontrast zur Humboldt-Universität weite Beachtung. Ende der sechziger Jahre wurde sie zum M o t o r der Studentenbewegung, die, von Teilen des Lehrkörpers unterstützt, zur heutigen präsidialen, in Fachbereiche gegliederten Gruppenuniversität führte. 17 Kulturwelt!" Weltkrieg, lamowitz

und der Zusammenbruch

der internationalen

Gelehrtenrepublik

im Ersten

in: William M . Calder I I I / H e l l m u t Flashar/Theodor Lindken (Hrsg.), Winach 50 Jahren,

Darmstadt 1985, S. 6 4 9 — 7 1 9 ; ders., Wissenschaft

versus

Militarismus: Nicolai, Einstein und „ Die Biologie des Krieges", in: Carl von Ossietzky — Kurt

Tucholsky

— Georg

Friedrich

Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg 16

Nicolai.

Eine Dokumentation

W . G ö b e r / E . H e r n e c k (Hrsg.), Forschen undWirken

Humboldt-Universität... Die Humboldt-Universität

Carl-von-

... (wie A n m . 11),Bd. 1 ;Die

(wie Anm. 11), S. 120ff.; Karl-Heinz Wirzberger (Hrsg.), zu Berlin.

Bilder aus Vergangenheit

durchges. u. erg. Aufl., Berlin [ O s t ] 1976; H e l m u t Klein (Hrsg.), zu Berlin, Bd. 1: H e i n z Kossack u . a . (Bearb.), Dokumente Rüger u.a., Überblick 1810—1985, 17

zum

1986, Oldenburg 1987, S. 6 5 — 1 2 4 .

und Gegenwart,

2.,

Humboldt-Universität

1810—1985;

Bd. 2: Adolf

Berlin [ O s t ] 1985.

H a t die F U Berlin sich in der Aufarbeitung ihrer Geschichte lange Zeit eine

bemerkenswerte Zurückhaltung auferlegt, so sind zum 40. Jahrestag ihrer Gründung sogleich vier Darstellungen erschienen: James F. T e n t , The Free University of Berlin. A Political History, Bloomington 1988; deutsch: Freie Universität Berlin 1948—1988. deutsche Hochschule

Eine

im Zeitgeschehen, Berlin 1988; Bernd Rabehl unter Mitarbeit von

180

Bernhard

vom

Brocke

IV

Technische Hochschule Es gehört zu den Charakteristika der deutschen Hochschulentwicklung, daß die Akademisierung des gewerblich-technischen Schulwesens sich außerhalb der Universitäten vollzog. Das Berliner technische Hochschulwesen ging in seinen Ursprüngen auf die 1696 gegründete Akademie der bildenden Künste und mechanischen Wissenschaften und das im Jahr 1706 in ihr eingerichtete Fach „bürgerliche Baukunst" zurück. Seit 1770 gab es in Berlin die Bergakademie, seit 1799 die Bauakademie, seit 1821 die nach den Vorstellungen Peter Christian Beuths als Leiter der von Hardenberg 1811 eingesetzten preußischen technischen Deputation für Gewerbe gegründete Gewerbeschule (1817 Gewerbe-Institut, 1866 Gewerbeakademie), nicht aber eine polytechnische Schule, wie sie von 1815 an in Wien und in den süddeutschen Hauptstädten Karlsruhe (1825), München (1827), Stuttgart (1840), aber auch in Dresden (1828) und Hannover (1831) errichtet wurden. Zwar erörterte man im neu geschaffenen Kultusministerium von 1823 an Pläne zur Gründung einer „Ecole polytechnique" nach dem berühmten Pariser Vorbild von 1794 18 und auch dem Wiener Vorbild, aber erst in der stürmischen Phase der Industrialisierung nahmen diese Pläne konkrete Gestalt an. 1870 wurde als erste Technische Hochschule Preußens, von 1879 an auch unter diesem Namen, die Polytechnische

Helmut Müller-Enbergs, Am Ende der Utopie. Die politische Geschichte der Freien Universität Berlin, Berlin 1988; Kurt Düwell, Forschung und Reform. Die Wissenschaftsgeschichte der Freien Universität Berlin (noch nicht erschienen); Siegward Lönnendonker, Freie Universität Berlin. Gründungeiner politischen Universität[\945—1949], Berlin 1988 (zuerst Phil. Diss. FU Berlin 1987). Ferner: Freie Universität Berlin 1948—1973. Hochschule im Umbruch, ausgewählt und dokumentiert von Siegward Lönnendonker u. Tilman Fichter unter Mitarbeit von Claus Reitzschel, Teil 1: Gegengründung wozuf (1945—1949), Teil 2: Konsolidierung umjeden Preis (1949—1957), Teil 3: Auf dem Weg in den Dissens (1957—1964), Bibliographie 1948—1974, zusammengestellt von HansFriedrich Trinks u. Ellen Neubauer (= Dokumentation FU Berlin, Nr. 12—14 und 19/73), Berlin 1973—1974; Helmut Gollwitzer/Richard Löwenthal/Eberhard Lämmert, 30 Jahre Freie Universität Berlin. Reden anläßlich des 30. Jahrestages der FU-Gründung am 4. Dezember 1948, gehalten am 5. Dezember 1978 im Theatersaal der Freien Universität (= Dokumentationsreihe der Freien Universität Berlin, Bd. 5), Berlin 1979. Karl-Heinz Manegold, Eine Ecole Polytechnique in Berlin. Uber die im preußischen Kultusministerium in den Jahren 1820 bis 1850 erörterten Pläne zur Gründung einer höheren mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehranstalt, in: Technikgeschichte 33 (1966), S. 182—196. 18

Berlin als

Wissenschaftszentrum

181

Schule Aachen gegründet und im Jahre 1879 — nach Umbenennung der Polytechnischen Schulen München, Darmstadt, Braunschweig 1877 in Technische Hochschulen — als zweite Technische Hochschule, politisch durchgesetzt von der liberalen Mehrheit des Abgeordnetenhauses, durch Vereinigung der Bauakademie mit der Gewerbeakademie die Königliche Technische Hochschule zu Berlin — oder wie es ab 1884 inoffiziell hieß, zu Charlottenburg — errichtet. In ihr ging dann 1916 auch die Bergakademie auf. 19 Im April 1884, wenige Monate vor der feierlichen Einweihung des Neubaus in Gegenwart Kaiser Wilhelms I. in Charlottenburg, mit einer Habilitationsordnung ausgestattet, erhielt die Hochschule zu ihrer Hundertjahrfeier aus Anlaß des lOOjährigen Gründungstages der Bauakademie im Jahre 1899 als erste deutsche Technische Hochschule zusammen mit den Technischen Hochschulen Aachen und Hannnover gegen den heftigen Protest der Universitäten zusätzlich zum Diplomierungsrecht durch Wilhelm II. persönlich das Promotionsrecht verliehen und damit die seit langem erstrebte Gleichstellung mit den Universitäten demonstrativ bekräftigt. Die übrigen deutschen Staaten folgten noch im selben J a h r dem preußischen Beispiel. 20 Dadurch wurde die Jubiläumsfeier der Berliner Hochschule zu einem der zentralen Daten in der allgemeinen Geschichte des deutschen und europäischen Technischen Hochschulwesens. Mit der Umwandlung der „etatsmäßigen" in „ordentliche" Professuren, deren Inhaber nicht mehr gegen ihren Willen versetzt werden konnten und emeritiert (das heißt Weiterzahlung des vollen Gehalts) statt pensioniert wurden, sowie der Einführung der Fakultätsverfassung an Stelle der bisherigen Abteilungen für Architektur, Bauingenieurwesen, Maschinenbauingenieurwesen usw. fand der Prozeß der Gleichstellung in den Jahren 1921/22 seinen Abschluß. Die rasch anwachsende Hochschule, an der im Wintersemester 1901/02 — in dem die Studentenzahl mit 4811 einen Höchststand zu verzeichnen hatte, der erst 1927/28 wieder erreicht wurde — zwei Drittel aller T H - S t u d e n t e n in Preußen studierten, gewann Vorbildcharakter für das Ausland und diente um die Jahrhundertwende vergleichbaren Gründungen in Großbritannien als Muster. Das Schlüsselwort „Charlottenburg" bürgerte sich dort seit Jahrhundertbeginn als Markenzeichen für das gesamte Technische Hochschulwesen in Deutschland ein, Grundlegend: Wissenschaft und Gesellschaft ... (wie A n m . 3). W . Lexis (Hrsg.), Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich... (wie A n m . 3), Bd. 4, Teil 1: Die Technischen Hochschulen im Deutschen Reich, Berlin 1904. 19

20

Bernhard vom Brocke

182

so daß in der britischen Öffentlichkeit und auf Seiten britischer Ingenieure gelegentlich schon kritisch von einer verbreiteten „Charlottenburgitis" der Bildungsreformer die Rede war. Die Trennung zwischen Universitäten und Technischen Hochschulen wurde allerdings in Großbritannien vermieden; das 1907 als „new Charlottenburg" gegründete Imperial College of Science and Technology wurde 1926 in die Londoner Universität eingegliedert. 21 Damit nahm das britische H o c h schulwesen eine Entwicklung vorweg, die Deutschland erst in den sechziger Jahren nachvollzog. Berlin übernahm in diesem Prozeß, der sich in der zunehmenden Ausweitung der Technischen Hochschulen um nichttechnische Fächer schon länger vorbereitet hatte, wieder eine Pionierrolle. Die Umwandlung der T H Berlin, des alten „Charlottenburg" der britischen Bildungsplaner, in die Technische Universität Berlin, die am 9. April 1946 im britischen Sektor neu-, nicht wiedereröffnet wurde, geschah unter maßgeblicher Hilfestellung von Vertretern der britischen Militärregierung mit dem Ziel, neben der technologischen Ausbildung auch eine „universale" Bildung zu vermitteln. Als 1910 die Universität ihr lOOjähriges Bestehen mit über 456 H o c h schullehrern und 1 0 0 0 0 Studenten feierte, wurden an der Technischen Hochschule 3052 Studenten von 181 Hochschullehrern unterrichtet: 60 „etatsmäßigen" Lehrstuhlinhabern, zwei außerordentlichen, drei Honorarprofessoren, 15 Dozenten, 39 Titularprofessoren, 56 Privatdozenten, einem Lehrbeauftragten und fünf Lektoren. Bis zum Jahre 1932 stieg ihre Zahl auf 70 ordentliche, 101 außerordentliche, 56 H o n o rarprofessoren, 12 D o z e n t e n , drei Titularprofessoren, 94 Privatdozenten, 27 Lehrbeauftragte und sechs Lektoren, also auf 369 Hochschullehrer bei j e t z t 4611 Studenten; das waren rund 60 Prozent aller T H Studenten in Preußen und knapp ein Viertel aller T H - S t u d e n t e n im Deutschen Reich. D e r außerordentlich hohe Ausländeranteil unter den Studenten lag beide Male bei 16,5 Prozent. 2 2 Männer wie Julius Rasch-

21

Peter Alter, Wissenschaft, Staat, Mäzene. Anfänge moderner Wissenschaftspolitik

Großbritannien

1850—1920

in

(= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Insti-

tuts London, Bd. 12), Stuttgart 1982, S. 177—192; ders., Das Imperial College of Science and Technology tausche 22

— deutsches Vorbild und britischer A nsatz, in: Zeitschrift für

Kulturaus-

(1981), S. 6 8 — 7 9 .

Renate Schröder-Werle (Hrsg.), Studentenstatistik

(Hrsg.), Wissenschaft und Gesellschaft... Heinz Schröder, Hochschullehrerstatistik schaft und Gesellschaft...

(1879—1979),

in: R . Rürup

(wie Anm. 3), Bd. 1, S. 567—591; Wilhelm (1879—1945),

in: R . Rürup (Hrsg.), Wissen-

(wie Anm. 3), Bd. 1, S. 592—610.

Berlin als Wissenschaftszentrum

183

dorff (Erbauer des Berliner Doms), Karl Schäfer (Erbauer der Marburger Universität) und sein Schüler Hans Poelzig in der Architekturabteilung, der Begründer einer wissenschaftlichen Lehre der Baustatik Heinrich Müller-Breslau und der Pionier der Heizungs- und Lüftungstechnik Hermann Rietschel in der Abteilung für Bauingenieurwesen begründeten den Ruf der Hochschule nicht nur als Ausbildungs-, sondern auch als eine hervorragende Forschungsstätte. In der Abteilung für Maschinenbau, die während des Kaiserreichs Zentrum der Hochschule war und die meisten Studenten ausbildete, wirkten von Franz Reuleaux über Adolf Slaby, Alois Riedler und vielen anderen bis hin zu Georg Schlesinger Gelehrte von höchstem internationalen Ansehen. Von der 1894 aus der Abteilung Maschinenbauingenieurwesen ausgegliederten Abteilung Schiff- und Schiffsmaschinenbau konnte man sagen, Aa&fast alle um die Jahrhundertwende in der kaiserlichen Marine sowie auf Reedereien und Werften tätigen höheren Baubeamten aus ihr hervorgegangen seien.23 Während seiner Studienzeit an der Charlottenburger Hochschule ersann Mitte der dreißiger Jahre der junge Diplomingenieur für Bauwesen Konrad Zuse den ersten programmgesteuerten Rechner und leitete damit das Zeitalter der Großrechner und der Informatik ein. Politisch war die Hochschule, die sich häufiger Besuche des Kaisers erfreute und die regelmäßige Feier seines Geburtstages und andere vaterländische Festtage mit Uberschwang beging, noch konservativer als die Universität, entsprechend einmütig die Ablehnung der Republik. Den 125. Jahrestag im Jahre 1924 feierte man ganz in der Tradition von 1899, in Anwesenheit des Prinzen Heinrich von Preußen, des ersten Ehrendoktors der Hochschule, und in unveränderter Dankbarkeit gegenüber Wilhelm II., der heute nicht unter uns weilt.2* Schon vor der „Machtergreifung" hielt der Nationalsozialismus Einzug in die T H , vor allem über die Studentenverbindungen. Im Wintersemester 1931/32 stimmten rund 62 Prozent der Studenten (bei einer Wahlbeteiligung von allerdings nur 62 Prozent) für die Vertreter des Nationalsozialistischen Studentenbundes. Von 410 Hochschullehrern und Assi-

23 Alfred Hermann (Hrsg.), Technische Universität Berlin-Charlottenburg (= Bücherreihe von Universitäts-Publikationen der Länderdienst AG), Basel 1954, S. 26. 24 Die Technische Hochschule zu Berlin 1799—1924. Festschrift, Berlin 1925, S. 17, zit. nach Reinhard Rürup, Die Technische Universität Berlin 1879—1979: Grundzüge und Probleme ihrer Geschichte, in: ders., Wissenschaft und Gesellschaft..., (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 3—47, hier S. 4.

184

Bernhard vom Brocke

stenten bekannten sich 1932 bereits mindestens 37 öffentlich zur N S D A P , rund zwei Drittel der Hochschullehrer traten bis 1941 der Partei bei, aber das restliche Drittel tat dies auch bis 1944 nicht. Auf Grund des sogenannten „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 wurden bis 1935 94 überwiegend jüdische Hochschullehrer und Assistenten gezwungen, die Hochschule zu verlassen, darunter nach 29jähriger Tätigkeit an der Hochschule und „Untersuchungshaft" von April bis November 1933 der international renommierte Ingenieur und Betriebswissenschaftler Georg Schlesinger. Auch der Physiker Gustav H e r t z (Nobelpreis 1925) verlor seinen Lehrstuhl. Die gleichwohl einsetzende Expansionsphase an Lehrstühlen und Instituten mit Schwerpunkt auf der Wehrtechnischen Fakultät, für die 1937 umfangreiche Neubauten in Angriff genommen wurden, beendeten abrupt die 1943 beginnenden Bombardierungen. Als nach weitgehender Zerstörung schließlich auch noch die Energieversorgung zusammenbrach, wurde am 20. April 1945, an Hitlers 56. Geburtstag und zehn T a g e vor seinem Selbstmord, die Hochschule geschlossen. — Mit dem Berliner Universitätsgesetz von 1969 wurden auch an der Technischen Universität Berlin Präsidialverfassung, hauptamtliches Management und die Gruppenuniversität etabliert. Im Rahmen der allgemeinen Entwicklung zur Massenuniversität stieg die Zahl der Hochschullehrer zwischen 1964 und 1972 von 180 auf 584, die der Studenten von 1969 bis 1975/76 auf fast 2 2 0 0 0 . V

Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft



Im Zusammenhang mit der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V. 2 5 ist es von Interesse, noch einmal daran zu erinnern, daß der gewaltige Aufschwung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert sich weitgehend im Rahmen der

Vgl. zum folgenden: Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hrsg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/ Max-Planck-Gesellschaft (1911—1986), Stuttgart 1990, darin meine Beiträge: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kaiserreich, und: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der Weimarer Republik; Günter Wendel, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1911—1914. Zur Anatomie einer imperialistischen Forschungsgesellschaft (= Studien zur Geschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Bd. 4), Berlin [Ost] 1975; Lothar Burchardt, 25

185

Berlin als Wissenschaftszentrum

deutschen Universitäten abgespielt hat. Es muß daher auf den ersten Blick überraschen, daß trotz hervorragender Forschungsleistungen der Universitäten gegen Ende des vorigen Jahrhunderts nahezu gleichzeitig von ganz verschiedenen Seiten der Wunsch nach außeruniversitären Forschungsstätten laut wurde. Zugunsten der Entwicklung solcher reinen Forschungsinstitute ohne Lehraufgaben wurde damals vorgebracht, daß der gerade in jenen Jahren durch steigende Studentenzahlen vermehrte Lehrbetrieb die Forschung behindere, daß die Einteilung der Universitäten nach den klassischen Disziplinen der Lehrfächer Forschungen auf neuen Gebieten oder in der Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen hemme, daß drittens die ständig kostspieliger werdende apparative Ausstattung in den naturwissenschaftlichen Fächern die Möglichkeiten der Universitätsinstitute übersteige und schließlich, daß die deutsche Forschung gegenüber dem Ausland zurückzufallen drohe. Das wurde mit dem Hinweis verbunden, daß im Ausland solche von Lehraufgaben freien Forschungsinstitute bereits mit großem wissenschaftlichen Erfolg existierten. Man verwies auf das Institut Pasteur in Paris (gegr. 1888), auf das Nobel-Institut für physikalische Chemie in Stockholm (1905), die Stiftungen amerikanischer Millionäre, insbesondere auf das Rockefeiler Institute for Medical Research in New York (1901) und die Carnegie Institution of Washington for Fundamental and Scientific Research. Diese, 1902 mit einem Stiftungskapital von zehn Millionen Dollar errichtet, eröffnete bis 1907 zehn Institute und Laboratorien für Grundlagenforschung auf Gebieten, die von den Universitäten nicht oder nicht in genügender Weise berücksichtigt werden können, wie der gut unterrichtete Berichterstatter im 1. Jahrgang der 1907 von Althoff begründeten „Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik" vermerkte. 26 Die Zahl der Studenten an den Universitäten des Deutschen Reiches hatte zwischen 1871 und 1911/12 besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern geradezu stürmisch von 987 auf 7286, also auf mehr als das Siebenfache oder um 638 Prozent, zugenommen. Dem standen bis 1910 eine Zunahme der ordentlichen Professoren um nur 56 Prozent (von

Wissenschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland.

Vorgeschichte, Gründung

bau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft

der Wissenschaften

zur Förderung

und A uf-

(= Studien zu

Naturwissenschaft, T e c h n i k und Wissenschaft im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1), Göttingen 1975. 26

Das Carnegie-Institut

Sp. 163—166.

zu Washington,

in: Internationale

Wochenschrift

1 (1907),

186

Bernhard vom Brocke

154 auf 241), der Extraordinarien um 133 Prozent (von 76 auf 177) und der Privatdozenten um 250 Prozent (von 75 auf 262) gegenüber. 27 Diese angesichts der Knappheit der Staatsfinanzen bei niedrigen Steuern und hohen Rüstungsausgaben sich immer weiter öffnende Schere und die Beschleunigung und Intensivierung des Wissenschaftsprozesses stürzten neben der mit ihr einhergehenden Kostenexplosion sowie der Differenzierung, Spezialisierung und Arbeitsteilung in den Wissenschaften das deutsche Hochschulsystem in seine größte Krise seit der Reform durch den Neuhumanismus. Das zunehmende Unvermögen der Universität, den sich ihr stellenden Aufgaben — humanistische Menschenbildung, berufliche Fachbildung und wissenschaftliche Forschung — gleichermaßen gerecht zu werden, bewirkte eine ständig wachsende Diskrepanz zwischen Universitätsidee und tatsächlicher Hochschulstruktur. Die großbetriebliche Entwicklung der Forschung in den Hochschulen mit neuen hierarchischen Strukturen von Ordinarius und Institutsdirektor, Professoren minderen Ranges und zahlreichen weisungsgebundenen Mitarbeitern sowie die verstärkte Heranziehung unbesoldeter Lehrkräfte, vor allem von Privatdozenten, stellte die alte Kollegialverfassung infrage. Der eigenartige Zustand, daß die Ordinarien durch Vorlesungen, Institutsaufsicht, Examina so in Anspruch genommen sind, daß ihnen keine Zeit für wissenschaftliche Arbeit mehr bleibt, während den in großer Zahl vorhandenen jüngeren Forschern, Dozenten, Extraordinarien, die nicht über die Mittel der Universitätsinstitute verfügen, eine Betätigung auf wissenschaftlichem Gebiet vielfach unmöglich geworden ist, erschien schon damals aus der Sicht führender an der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft beteiligte Kultusbeamter als einer der Hauptfehler der wissenschaftlichen Organisation Deutschlands,28 27 N a c h Preußische Statistik, Bd. 236: Statistik der Landesuniversitäten, Berlin 1913, S. 94—99, und Christian v o n Ferber, Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864—1954 (= Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer, Bd. 3), G ö t t i n g e n 1956, S. 195—198. Eine Interpretation dieser Zahlen mit weiteren Angaben gibt Lothar Burchardt, Naturwissenschaftliche Universitätslehrer im Kaiserreich, in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815—1945 (= Deutsche Führungsschichten in der N e u z e i t , Bd. 17; Büdinger For-

schungen zur Sozialgeschichte), Boppard a. Rhein 1988, S. 151—214. 28

So im D e z e m b e r 1909 Friedrich S c h m i d t - O t t (Preußisches Kultusministerium) und T h e o d o r Lewald (Reichsamt des Innern) in ihrer Aufzeichnung für den Reichskanzler über eine Referentenbesprechung über die Harnacksche Denkschrift zur Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft v o m 2 1 . 1 1 . 1 9 0 9 , gedruckt bei G. Wendel, Die KaiserWilhelm-Gesellschaft ... (wie A n m . 25), S. 289.

Berlin als

Wissenschaftszentrum

187

Andererseits hatte gerade Berlin inzwischen eine Reihe hervorragender außeruniversitärer Forschungseinrichtungen aufzuweisen, mit denen Preußen als erster deutscher Bundesstaat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vorangegangen war. Sie waren aus aktuellen Bedürfnissen der Wetterkunde und Erderschließung, der Vereinheitlichung des Meß-, Eich- und Normwesens und der Gesundheitsvorsorge entstanden. Preußische Staatsanstalten waren das 1847 auf Vorschlag Alexander von Humboldts nach dem Vorbild des englischen Meteorological Office (1845) gegründete Kgl. Preußische Meteorologische Institut, das Geodätische Institut (1869), Wilhelm Foersters Astrophysikalisches Observatorium bei Potsdam (1876/79) und das Königlich Preußische Institut für Infektionskrankheiten Robert Kochs (1891), das wiederum dem Rockefeller Institute in New York als Vorbild diente. Daneben traten die großen Reichsanstalten: 1876 das Kaiserliche Gesundheitsamt mit immer umfangreicher werdenden chemischen, hygienischen und bakteriologischen Laboratorien; in ihm machte Robert Koch in den frühen achtziger Jahren seine bahnbrechenden bakteriologischen Entdeckungen; 1877 das Kaiserliche Patentamt; 1887 die Physikalisch-Technische Reichsanstalt; 1905 die Biologische Reichsanstalt, um nur die wichtigsten zu nennen. Vor allem die nach fünfzehnjähriger wechselvoller Vorgeschichte durch Wilhelm Foerster, Werner Siemens und Hermann von Helmholtz gegründete PhysikalischTechnische Reichsanstalt (PTR) erwies sich in ihrer Doppelfunktion als technische Prüfanstalt und als Zentrum physikalischer Grundlagenforschung als so erfolgreich, daß sie in fünf Staaten Nachfolger fand: in Rußland (1893, das spätere D. I. Mendeleev-Institut für Maße und Gewichte), in England (1900, das National Physical Laboratory in Teddington), in den USA (1901, das National Bureau of Standards), in Frankreich (1902, das Laboratoire d'essay) und in Japan (1917, das Staatliche Physikalisch-Chemische Institut). Messungen in der P T R über die von der Elektroindustrie gestellte Frage, wie sich beim elektrisch geheizten Metalldraht die Intensität des Lichts auf die verschiedenen Spektralbereiche verteilt, veranlaßten Max Planck zur Beschäftigung mit diesem Problem und führten schließlich zur Aufstellung seiner Strahlungsformel und in Folge davon zur Begründung der Quantentheorie (1900), die wiederum in der P T R experimentell überprüft wurde. Die Mehrheit der Staatsanstalten diente jedoch hauptsächlich praktischen Zwecken, der Normierung und Kontrolle, sie betrieben Auftragsforschung. 29 29

Siehe die in Anm. 3 genannte Literatur. Ferner: David Lee Cahan, The

Physikalisch-

Bernhard vom Brocke

188

D e r R u f nach außeruniversitären Forschungsinstituten, die ausschließlich der Grundlagenforschung dienten, fand Resonanz bei den Wissenschaftlern selbst, bei Vertretern der Industrie, vor allem der am meisten forschungsintensiven, der chemischen und der Elektroindustrie, und bei der unter Friedrich Althoff bemerkenswert aufgeschlossenen Ministerialbürokratie im Preußischen Kultusministerium. Althoff verfolgte seit den neunziger Jahren mit Sorge den zunehmenden Raummangel der Berliner Universität im städtischen Kernbereich. Professoren konnten nicht berufen werden, weil Bauplätze für neue Institute fehlten. Sein bei der Verlegung des Botanischen Gartens aus dem dicht bebauten Schöneberg auf die Kgl. Domäne Dahlem in den neunziger Jahren entstandener Plan, die ganze Universität oder wenigstens die medizinischen und naturwissenschaftlichen Institute an die Peripherie der Stadt zu verlegen, scheiterte am Widerstand der anderen Ministerien und an der Universität selbst. Als im Jahre 1901 vom Landtag ein „Gesetz über die Aufteilung der Domäne Dahlem" verabschiedet wurde und auf Betreiben der Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten und für Finanzen die Domäne zum parzellenweisen Verkauf an reiche Privatleute zur Begründung einer vornehmen Villenkolonie freigegeben werden sollte, knüpfte Althoff sofort an seine alten Vorstellungen an und verlangte, j e t z t durch Eingaben von R e k t o r und Senat, namhaften Professoren und Akademiemitgliedern an den Kultusminister in den Jahren 1901,1904 unterstützt, und als alles dies nichts nutzte, 1906 durch einen Appell an den Kaiser persönlich, von den zur Verfügung stehenden 530 H e k t a r mindestens 100 H e k t a r Land für die Bedürfnisse der Universität in den nächsten Jahrzehnten und für die Errichtung reiner, universitätsunabhängiger Forschungsinstitute zu reservieren. D e r Vorschlag einer Gruppe von Hochschullehrern zur Errichtung einer „Chemischen Reichsanstalt", für die in kurzer Zeit Spenden von einer Million Mark aus der interessierten chemischen Industrie zusammenkamen, unterstützte diese Pläne. 3 0 Nichts anderes Technische Reichsanstalt. A Study in the Relations of Science, Technology and Industry in Imperial Germany,

Diss. J o h n Hopkins University Baltimore 1980, j e t z t gedruckt: An

Institute for the Empire,

Cambridge 1988; Itakura Kiyonobu/Yagi Eri, The

Research System and the Establishment of the Institute of Physical and Chemical

Japanese Research,

in: Shigeru Nakayama/David L. Swain/Yagi Eri (Hrsg.), Science and Society in Modern Japan, 30

Cambridge (Mass.) 1974, S. 158—201.

Jeffrey A. J o h n s o n , The Chemical Reichsanstalt Association. BigScience

Germany,

in Imperial

Ph. Diss. Princeton University 1980. Eine Veröffentlichung als Buch ist für

1990 in Vorbereitung unter dem T i t e l : The Kaiser's Chemists. The Making of Research Institutions in Imperial

Germany.

Modern

Berlin als

Wissenschaftszentrum

189

war schließlich von Althoff geplant, als die Begründung einer in ihrem Charakter durch hervorragende Wissenschaftsstätten bestimmten vornehmen Kolonie, eines deutschen Oxford. In ihr sollten neben Universitätsinstituten, Museen und Sammlungen als eine der grundlegendsten Forderungen für weiteren wissenschaftlichen Fortschritt ... neue ausschließlich der Forschung gewidmete staatliche Institute... nach Art der Nobelinstitute hervorragenden Gelehrten Gelegenheit zu freier Forschungstätigkeit bieten. Von ihnen erwartete der Ministerialdirektor durch die Erschließung neuer Gebiete auch für die Industrie reiche Förderung. Geplant waren aufgrund zahlreicher, teils an das Ministerium herangetragener Vorschläge, teils von Althoff gezielt eingeholter Gutachten — von Emil Fischer und van't Hoff, Philipp Lenard, Walther Nernst, Otto Jaekel und anderen — Institute für Hirnforschung, für Physik, für Radioaktivität und für Elektronenforschung (das ist für physikalische Chemie), für Serumforschung, für anorganische Chemie, für Biochemie, ferner Zentralforschungsinstitute für Chemie, Anthropologie, vergleichende Anatomie und vergleichende Physiologie. Eine landwirtschaftliche Arbeitsfläche von 2000 Quadratmetern war für van't Hoffs Forschungen über Pflanzensynthese und den Einfluß von Enzymen auf den Pflanzenaufbau vorgesehen. 31 Nach Althoffs Tod im Oktober 1908 nahmen sein engster Mitarbeiter Friedrich Schmidt-Ott und sein Straßburger Schüler, der Chef des Geheimen Zivilkabinetts Rudolf von Valentini, diese von Althoff im Herbst 1907 und Februar/ März 1908 angesichts der Widerstände im Staatsministerium dem Kaiser persönlich vorgetragenen Pläne wieder auf; noch an seinem Todestag sollte der Ministerialdirektor dem Monarchen erneut über den Stand seiner Dahlem-Planungen Bericht erstatten. Ende 1908, Anfang 1909 stellte Schmidt-Ott auf Wunsch des Kaisers Althoffs Pläne in einem Expose zusammen. Aufgrund dieses Exposes und Schmidt-Otts Vorschlag betraute Wilhelm II. im September 1909 den federgewandten Verfasser der grandiosen Akademiegeschichte, Generaldirektor der Kgl. Bibliothek und international angesehenen Gelehrten Adolf Harnack mit der Abfassung einer Denkschrift über die Errichtung reiner Forschungsinstitute, dabei unterstützt durch den Chemiker und Hauptwortführer der Chemischen Reichsanstalt, Emil Fischer, und durch andere Gelehrte.

31 Althoffs Pläne für Dahlem. Denkschrift für Kaiser Wilhelm II. [Ende 1908/Anfang 1909], in: W. Weischedel (Hrsg.), Idee und Wirklichkeit einer Universität... (wie Anm. 11), S. 483—503, Zitat S. 487, 493 f.; Michael Engel, Geschichte Dahlems [als

190

Bernhard vom Brocke

Harnacks glänzend formulierte Denkschrift für den Kaiser vom 21. November 1909 wurde die „magna charta" der Kaiser-WilhelmGesellschaft. 32 Mit ihrer Hilfe und der Zugkraft des kaiserlichen Interesses kamen dank Schmidt-Otts souveräner Handhabung des von Althoff aufgebauten Netzes persönlicher Beziehungen zu Industriellen und Mäzenen aller Art und durch Einsatz des staatlichen Verwaltungsapparats, von den Oberpräsidenten der Provinzen bis zu den Landräten und Bürgermeistern, in kurzer Zeit über zehn Millionen Mark aus der chemischen und der Elektroindustrie, der Montanindustrie und den Banken zusammen. W i r müßten diese Summe nach heutigem Geldwert verzehn- bis verzwölffachen. Es entbehrt freilich nicht einer gewissen Pikanterie, daß ausgerechnet zum hundertsten Geburtstag der Universität Wilhelm von Humboldts am 11. Oktober 1910 vom Deutschen Kaiser und König von Preußen — wenn auch unter geschickter Berufung auf angeblich unausgeführte Pläne Humboldts — dw/feruniversitäre Forschungsinstitute aus der Taufe gehoben wurden. Nahegelegen hätte ihre Errichtung im Rahmen der Akademie oder in organisatorischer Verbindung mit ihr und der Universität, und das war ursprünglich auch beabsichtigt. Aber die Akademie, in der die Philosophisch-historische Klasse dominierte, war uneins, dem Staat fehlten die Mittel, und den Stiftern konnten die verlangten Mitbestimmungsrechte über die Verwendung der Gelder schlecht in einer staatlichen Institution eingeräumt werden. So konstituierte man eine Wissenschaftsorganisation neuer Art als überwiegend privat finanzierte, aber staatlich kontrollierte Selbstverwaltungskörperschaft in der Rechtsform des eingetragenen Vereins nach bürgerlichem Recht. Die staatliche Aufsicht galt vor allem der Wahrung der Freiheit und Unabhängigkeit der Forschung von industriellen Interessen und kapitalistischem Verwertungsstreben. Sie wurde wahrgenommen durch den Kaiser als Protektor der Gesellschaft beziehungsweise Wissenschaftszentrum und als Villenkolonie], Berlin 1984, S. 102—113 ff. Dazu meine Korrekturen und Ergänzungen in: R. Vierhaus/B. v. Brocke (Hrsg.), Forschung im Spannungsfeld ... (wie Anm. 25), S. 120 ff. 52 Die Denkschrift ist mehrfach gedruckt, zuerst 1911, zuletzt: Denkschrift von Harnack an den Kaiser, in: 50 Jahre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Max-PlanckGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1911—1961. Beiträge und Dokumente, hrsg. von der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., Göttingen 1961, S. 80—94. Dazu Rudolf Vierhaus, Adolf von Harnack, in: R. Vierhaus/B. v. Brocke (Hrsg.), Forschung im Spannungsfeld ... (wie Anm. 25), S. 473—485.

Berlin als Wissenschaftszentrum

191

seinen Kommissar und durch Staatskommissare des Kultusministeriums in den zentralen Leitungsgremien, Senat und Verwaltungsausschuß, sowie in den Aufsichtsorganen, Kuratorien der Institute. Es ist daher falsch, wie es in DDR-Veröffentlichungen gemeinhin und recht pauschal geschieht, in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft lediglich eine monarchistisch protegierte, mit dekorativem Beiwerk verbrämte, nach großkapitalistischen Spielregeln organisierte, zum staatsmonopolistischen Kapitalismus tendierende und seine Methoden schon frühzeitig praktizierende Wissenschaftsorganisation des deutschen Finanzkapitals,33 zu sehen. Dazu war von den ersten Planungen an der Anteil des Staates zu ausschlaggebend, waren die beteiligten Wissenschaftler zu unabhängig und zu bedeutend und ihre Leistungen, die heute zum Wissensfundus der ganzen Welt gehören, zu großartig, als daß die Initiatoren und Gründer der Gesellschaft (Althoff, Emil Fischer, Schmidt-Ott, Wilhelm II., Harnack) und ihre führenden Naturwissenschaftler (Haber, Einstein, Correns, Warburg, Franz Fischer, O t t ö Hahn und andere mehr) als Handlanger und bezahlte Lohnarbeiter des Monopolkapitals abgestempelt werden könnten. Ihre Ausgaben bestritt die KaiserWilhelm-Gesellschaft zu drei Vierteln aus den Zinserträgen ihres Kapitals und den Stiftungen und jährlichen Beiträgen der Mitglieder. Die Grundstücke für die Institute stellte der preußische Staat, er übernahm auch die Direktorengehälter und gab Zuschüsse, keineswegs freiwillig, sondern von Schmidt-Ott mit Hilfe des Königs gegen den Widerstand des Finanzministers dazu gezwungen. Bis zum Ausbruch des Weltkriegs entstanden so in Dahlem die Kaiser-Wilhelm-Institute für Chemie (Direktor Ernst Beckmann, Abteilungsleiter Richard Willstätter, Otto Hahn, Lise Meitner), für physikalische Chemie und Elektrochemie (Direktor Fritz Haber), für experimentelle Therapie (Direktor August von Wassermann, Abteilungsleiter Carl Neuberg), für Biologie (Direktoren Carl Correns, Hans Spemann, Abteilungsleiter Otto Warburg, Max Hartmann), für Arbeitsphysiologie (Direktor Max Rubner) und als erstes innerdeutsches Institut außerhalb Berlins in

33

Zitat: G. Wendel, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ... (wie Anm. 25), S. 114. Ähnlich C. Grau in: L. Stern (Hrsg.), Die Berliner Akademie der Wissenschaften ... (wie Anm. 8), Teil 1, S. 209; W. Hartkopf, Die Akademie der Wissenschaften der DDR ... (wie Anm. 10), S. 75—77. Bemerkenswert kritisch hingegen setzt sich mit Wendel auseinander: Jürgen Kuczynski, Das Rätsel der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, in: ders., Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 2, Berlin [Ost] 1975, S. 170—208.

192

Bernhard vom Brocke

Mülheim/Ruhr das Kaiser-Wilhelm-Institut für Kohlenforschung (Direktor Franz Fischer). In der Weimarer Republik entwickelte sich die Gesellschaft unter der Leitung ihrer Präsidenten Harnack und Max Planck und ihres Generalsekretärs Friedrich G l u m zu einer gesamtdeutschen Forschungsorganisation. N a c h dem Verlust ihres Vermögens in der Inflation wurde sie, t r o t z immer noch erheblicher Zuwendungen aus Industrie und W i r t schaft und j e t z t auch von den Gewerkschaften, in zunehmendem Maße von der öffentlichen H a n d , das heißt vom Reich und von Preußen, von Provinzen, Städten und anderen deutschen Ländern finanziert. V o n ihren 36 natur- und geisteswissenschaftlichen Forschungsinstituten im Jahre 1933 lagen 16 in Berlin, davon 12 in Dahlem. Das Harnack-Haus (Institut für ausländische Gäste), das am 78. Geburtstage Harnacks im Mai 1929 in Dahlem als Gäste-, Veranstaltungs- und Klubhaus der Gesellschaft mit Ansprachen Reichsaußenminister Stresemanns und des amerikanischen Botschafters, ehemaligen Universitätspräsidenten und Professors der Philosophie Schurman eingeweiht wurde, aber auch der Akademie, den Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Institutionen Berlins dienen sollte, entwickelte sich zu einem Mittelpunkt für die Gelehrten Berlins und ihre auswärtigen Gäste, zu einem Zentrum kulturellen Lebens und geistigen Austausches, das weit über die Reichshauptstadt hinaus wirkte. Die „Haber-Kolloquien", die „Dahlemer Medizinischen Abende" und die nicht weniger berühmten „Dahlemer Biologischen Abende" machten den stillen Villenvorort mit seiner einzigartigen, geistig stimulierenden, allein dem wissenschaftlichen Erkenntnisstreben verpflichteten „scientific Community" an der Peripherie der Weltstadt zu einem Mekka für Vortragende und Teilnehmer aus aller W e l t . D e r Gleichschaltung und der Einführung des Führerprinzips konnte sich die Gesellschaft als „privater Verein" dank des hinhaltenden und mutigen Widerstands von Planck und Glum bis zu beider Ablösung 1937 leichter entziehen als die Hochschulen. V o n den 55 nicht-arischen Mitarbeitern (von 1036 Mitarbeitern im Jahre 1930 insgesamt, darunter 19 Direktoren sowie 44 Abteilungsleiter und Wissenschaftliche Mitglieder) wurden 29, unter ihnen vier Direktoren und sechs Abteilungsleiter, noch 1933 entlassen. Bis H e r b s t 1938 mußten bis auf ganz wenige alle Nichtarier, insgesamt acht Direktoren, davon drei Nobelpreisträger (Einstein, Haber, Meyerhof), und acht Abteilungsleiter, ihre Stellungen räumen neben weiteren Wissenschaftlern und Mitarbeitern, denen man Mitgliedschaft in der S P D , Eintreten für jüdische Kollegen

Berlin als Wissenschaftszentrum

193

und die Entlassung nationalsozialistischer Untergebener vorwarf.34 Im vorletzten Kriegsjahr wurden die Generalverwaltung nach Göttingen und viele Berliner Institute nach Süddeutschland verlagert. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aufgrund eines Kontrollratsbeschlusses aufgelöst werden. An ihrer Stelle entstand als Neugründung in den Jahren 1946 bis 1948 die Max-PlanckGesellschaft mit Sitz in Göttingen, seit 1961 in München. Von ihren 64 Instituten und Forschungseinrichtungen befinden sich gegenwärtig nur noch vier in West-Berlin, aber 13 in München. 35 Das 1945 von der amerikanischen Besatzungsmacht beschlagnahmte unzerstörte HarnackHaus dient noch heute der amerikanischen Armee als Klubhaus. VI Forschung

und industrieller

Fortschritt

Im März 1927 begründete in der Haushaltsdebatte des Reichstags der kulturpolitische Sprecher der Zentrumspartei und Etatsberichterstatter des Haushaltsausschusses für die Wissenschaftsausgaben des Reiches, der Münsteraner Theologieprofessor Prälat Georg Schreiber, die Mehranforderungen für die Förderung der Forschung mit den Worten: Wir sind von außerordentlichem Dank erfüllt.. .für die naturwissenschaftlichen Fragestellungen, die die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Laufe der Jahre mit gesteigertem Erfolg aufwirft. Wir denken mit Stolz daran, daß führende naturwissenschaftliche Kräfte, wie Geheimrat Haber auf dem Gebiete des Stickstoffs, wie Fischer im Kohlenforschungsinstitut in Mülheim, wie Bergius mit seinem Verfahren zur Verflüssigung der Kohle der deutschen Wissenschaft und damit auch der deutschen Wirtschaft den Weg an den Weltmarkt und an den Völkerverkehr bahnen. Freilich ... sind jene Summen, die das Reich zur Förderung der Forschung auswirft, immer noch sehr gering. Die Erkenntnis möge mehr und mehr wachsen, daß diese Summen, die für die Forschung angewendet sind, werbendes Kapital, eine Erhöhung der wirtschaftlichen Leistung unsers Landes, eine Steigerung der Produktion und zum gewissen Teile

34

Helmuth Albrecht/Armin Hermann, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft

Reich (1933—1945),

in: R . Vierhaus/B. v. Brocke (Hrsg.), Forschungim

(wie Anm. 25), S. 356—406. 35

Max-Planck-Gesellschaft.

Jahrbuch

1987, Göttingen 1987.

im Dritten

Spannungsfeld

...

194

Bernhard vom Brocke

eine Besserung der Lage des werktätigen Volkes bedeutend „Forschung und industrieller Fortschritt" lautete das Rahmenthema. Wir wollen uns die Bedeutung der Grundlagenforschung für die industrielle und wirtschaftliche Entwicklung an vier Beispielen abschließend verdeutlichen. Aus dem Londoner Laboratorium am Royal College of Chemistry und dem Berliner Universitätsinstitut des Chemikers und LiebigSchülers August Wilhelm von Hofmann (1818—1892) in der Georgenstraße stammt die moderne Teerfarbenindustrie. Nach zwanzigjähriger Tätigkeit in London hatte Hofmann in den weiteren 27 Jahren seines Berliner Wirkens von 1865 an weit über zweihundert eigene Doktoranden, die später führende Stellungen als Hochschulprofessoren und Industriechemiker einnahmen. Von ihnen kamen über vierzig aus dem Ausland, die meisten aus den USA, die anderen aus Großbritannien, Rußland, Rumänien, Osterreich, Ungarn, Serbien, Italien und Japan. Sein Assistent Carl Alexander Martius gründete mit einem anderen Hofmann-Schüler, Paul Mendelssohn-Bartholdy, 1867 eine Anilinfabrik in Rummelsburg bei Berlin, an der Hofmann beteiligt war; aus ihr ging 1873 die Aktiengesellschaft für Anilinfarbenfabrikation (AGFA) hervor.37 Hofmanns Berliner Nachfolger Emil Fischer (1852—1919), der auf Vorschlag der Fakultät von Althoff gegen heftiges Widerstreben aus Würzburg berufene38 vielleicht größte organische Chemiker unseres

36 Georg Schreiber in: Verhandlungen des Reichstags, Bd. 392, Berlin 1927, 288. Sitzung, 17. 3. 1927, S. 9632—9640, hier S. 9635. Vgl. zum folgenden auch: Thomas Nipperdey, Die Organisation der Wissenschaften im Wilhelminischen Berlin und ihre Beziehungen zur Wirtschaft, in: Berlin und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft — Lehren und Erkenntnisse, hrsg. von der Industrie- und Handelskammer zu Berlin, Berlin-New York 1987, S. 113—131. 37 William H. Perkin [Londoner Schüler Hofmanns], The Origin of the Coal-Tar Colour Industry, and the Contributions of Hofmann and his Pupils, in: Journal of the Chemical Society 69 (1896), S. 596—637; Monika Müller, Aus dem Lehen undWirken des Chemikers undHochschullehrers August Wilhelm von Hofmann (1818—1892) (= Beiträge zur Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin, Nr. 4), Berlin [Ost] 1981. 38 Fischers Berufung nach Berlin ist ein gutes Beispiel für die Schnelligkeit der preußischen Wissenschaftsverwaltung bei der Besetzung vakanter Lehrstühle und ihre unkonventionellen Methoden, wenn es darum ging, Spitzenkräfte für Berlin und Preußen zu gewinnen: Am 5. Mai 1892 starb Hofmann. Schon einen Monat später, an einem strahlenden Junimorgen, erschien Althoff unangemeldet in Fischers gemietetem Landhaus bei Würzburg, um den ahnungslosen Chemiker für die ehrenvolle Nachfolge zu gewinnen. Dazu Fischer in seinen Memoiren: Nun stand ich vor der Notwendigkeit,

Berlin als

Wissenschaftszentrum

195

Jahrhunderts und große Brückenbauer zwischen Wissenschaft und Industrie, wurde durch das erste brauchbare Barbiturat, das Veronal, zum Millionär. Seine Ideen und Pläne fanden in mindestens elf der achtzehn ersten Kaiser-Wilhelm-Institute Verwirklichung. Aus Fischers I. Chemischen (Universitäts-)Institut in der Hessischen Straße sind neben zahllosen Industriechemikern sieben Direktoren von Kaiser-WilhelmInstituten hervorgegangen: Franz Fischer (KWI für Kohlenforschung in Mülheim) und Emil Abderhalden (Forschungsstelle in Halle), Max Bergmann (KWI für Lederforschung in Dresden), O t t o Hahn (KWI für Chemie in Dahlem), Carl Neuberg ( K W I für Biochemie in Dahlem), Reginald Oliver Herzog (KWI für Faserstoffchemie in Dahlem) und O t t o Heinrich Warburg ( K W I für Zellphysiologie in Dahlem). Die Ammoniak-Synthese aus den Elementen Stickstoff und Wasserstoff bei 500° C unter hohem Druck, die der Hofmann- und Carl Liebermann-Schüler Fritz Haber (1868—1934) im Jahre 1908 an der Karlsruher Technischen Hochschule entdeckte und für die er 1920 (für 1918) den Nobelpreis erhielt, und ihre großindustrielle Durchführung durch Carl Bosch (Nobelpreis 1931) und Alwin Mittasch (HaberBosch-Verfahren) machte mit der unbegrenzten Möglichkeit, Ammoniak als Kunstdünger und Grundstoff der für die Herstellung von Schieß- und Sprengstoffen erforderlichen Salpetersäure aus der Luft herzustellen, Deutschland im Ersten Weltkrieg vom Chilesalpeter unabhängig. Sie ermöglichte, nachdem die Einfuhr aus Chile durch die britische Seeblockade gesperrt war, überhaupt erst die Fortführung des Krieges. Schon 1913 wurde mit der fabrikmäßigen Erzeugung von synthetischem Ammoniak als Kunstdünger durch die BASF in Oppau bei Ludwigshafen begonnen, aber erst nach der zu Kriegsbeginn entstehenden „Munitionskatastrophe" und fieberhaften Anstrengungen, einen wirksamen Katalysator zu finden, konnte im Mai 1915 die Groß-

zwischen Würzburg,

wo ich mich so glücklich fühlte, und Berlin, wovor mir graute, zu

entscheiden. Nachdem ihm Althoff wenigstens das Versprechen abgenommen hatte, sich die Verhältnisse in Berlin an O r t und Stelle anzusehen, wurde Fischer 8 Tage später sonntagmorgens um 8 U h r von Kultusminister Bosse im Ministerium empfangen und ihm die Erfüllung aller Wünsche, vor allem der Neubau eines Instituts, versprochen. A m 17. Juli gab Fischer seine endgültige Zusage, um zum W S 1892/93 mit den Vorlesungen zu beginnen. Der für 1,5 Mill. Goldmark errichtete Institutsneubau wurde 1900 eingeweiht und galt als einer der modernsten der Welt. Emil Fischer, Aus meinem Berlin 1922, S. 140 f.; Kurt Hoesch, Emil Fischer. Sein Lehen und sein Werk. Im

Lehen, Auftrage

der Deutschen Chemischen Gesellschaft dargestellt (= Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, Jg. 54, Sonderh.), Berlin-Leipzig 1921, S. 117 f.

196

Bernhard vom Brocke

Produktion von Salpetersäure aufgenommen werden, die wiederum einen steilen Anstieg der Ammoniakerzeugung voraussetzte. Ab Mai 1916 wurde zu diesem Zweck in Zusammenarbeit der Farbenfabriken BASF, Bayer und Hoechst in Leuna bei Merseburg eines der größten und modernsten Chemiewerke Europas errichtet. Im Jahre 1926/27 wurden nach dem Haber-Bosch-Verfahren, größtenteils von den 35 000 Arbeitern in Oppau und Leuna, 479000 Tonnen Ammoniak hergestellt, das waren 88 Prozent der geschätzten Weltproduktion. 39 Nicht minder eindrucksvoll als Georg Schreiber und mit visionärem Blick in die Zukunft argumentierte Max Planck, als er in seiner Jungfernrede als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Frühjahr 1931 vor dem Haushaltsausschuß des Reichstags auf das ungeheuer wichtige Problem der Zertrümmerung der Atome hinwies, an dem in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gearbeitet werde. Die Frage wird in Zukunft, wenn unsere Kohlenschätze ausgehen, eine ungeheure Bedeutung erlangen; denn in den Atomen schlummern gewaltige Energien. Die Zusammenarbeit zwischen dem Chemiker Otto Hahn (1879—1968) und der Physikerin, Boltzmann-Schülerin und Planck-Assistentin Lise Meitner (1878—1968) begann 1907 in den Kellerräumen des Chemischen Instituts unter Emil Fischer. Am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem entdeckten im Dezember 1938 Otto Hahn und Fritz Straßmann (1902—1980) zu ihrer größten Überraschung eine „neuartige Kettenreaktion" (Meitner, Januar 1939), fünf Monate, nachdem Lise Meitner, durch den Anschluß Österreichs zur Reichsdeutschen geworden, Deutschland hatte verlassen müssen. Sie hatte Hahn im Herbst 1934 zur gemeinsamen Wiederaufnahme der Versuche auf dem Gebiet der künstlichen Radioaktivität überredet — ein Jahr später kam noch Straßmann hinzu —, sie lieferte, in den entscheidenden Tagen im täglichen Briefwechsel, die richtige Deutung. Von 1924 an war sie fast jährlich, stets mit Hahn zusammen, für den ChemieNobelpreis nominiert worden, 1937 auch für Physik durch Heisenberg und Max von Laue. 1946 erhielt Hahn den Chemiepreis für das Jahr 1944 für die Entdeckung der Atomkernspaltung. Es war die Geburtsstunde der Atomindustrie, die wir heute, auch in ihrer friedlichen

Ludwig-Fritz Haber [Sohn Fritz Habers], The Chemical Industry 1900—1930. International Growth and Technological Change, Oxford 1971, S. 96, 285 und passim; Johannes Jaenicke, Fritz Haber (1869—1934). Beiträge zu einer Biographie, in: Fridericiana. Zeitschrift der Universität Karlsruhe 35 (1984), S. 3—30. 39

Berlin als

Wissenschaftszentrum

197

Form, aufgrund der Sicherheitsrisiken und Entsorgungsprobleme nicht mehr so positiv einschätzen wie noch vor zwanzig Jahren. 40 Ich fasse in drei Thesen zusammen: 1. Berlin verdankte seinen Aufstieg zum deutschen und europäischen Wissenschaftszentrum nicht zuletzt der weitsichtigen, zukunftsorientierten Wissenschaftspolitik des Preußischen Kultusministeriums und dem bürokratischen Liberalismus eines Humboldt, Altenstein, Althoff, Schmidt-Ott und C. H. Becker und ihrer Mitarbeiter und Berater. 2. Der Niedergang Berlins als Wissenschaftszentrum begann mit der Vertreibung, Emigration, Ermordung vieler Wissenschaftler ab 1933, den massiven Eingriffen des Staats in die Freiheit der Wissenschaft und mit der Gleichschaltung der Universität, Technischen Hochschule, Akademie, schließlich auch der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Verlagerung und Demontage ihrer Institute. 3. Gegenwärtig hat München Berlin als Wissenschaftszentrum abgelöst, ohne die Liberalität des alten Berlin zu besitzen, ohne seine jüdischen Gelehrten und Mäzene. Die Teilung Deutschlands und Berlins heute ist sicher eine schlimme Hypothek. Aber könnte man sie nicht auch als Herausforderung und Chance für die Zukunft am Schnittpunkt konkurrierender Wissenschafts- und Gesellschaftssysteme nutzen? Dazu gehört sicher Geld, und Berlin in West und Ost hat Geld. Wichtiger jedoch sind Personen, Ideen und ein langer Atem. Wie pflegte Friedrich Althoff zu sagen: Im goldenen Käfig singt der Vogel nicht.

40 Max Planck in: Verhandlungen des Ausschusses für den Reichshaushalt. Reichstag V. Wahlperiode 1930, Berlin 1932,48. Sitzung vom 23.2.1931, S. 646; Ernst H. Berninger, Otto Hahn, Lise Meitner und Fritz Straßmann. In Berlin wird die Kernspaltung entdeckt, in: Wilhelm Treue/Gerhard Hildebrandt (Hrsg.), Naturwissenschaftler (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 60) (= Berlinische Lebensbilder, Bd. 1), Berlin 1987, S. 245—261; Fritz Krafft, An der Schwelle zum A tomzeitalter. Die Vorgeschichte der Entdeckung der Kernspaltung im Dezember 1938, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988), S. 227—251; Peter Brix, Die folgenreiche Entdeckung der Uranspaltung— und wie es dazu kam. Festvortrag, gehalten am 2. Dezember 1988 in der Kongreßhalle Berlin auf der gemeinsamen Feier der Max-Planck-Gesellschaft, der Gesellschaft Deutscher Chemiker und der Deutschen Physikalischen Gesellschaft aus Anlaß der Entdeckung der Kernspaltung vor 50 Jahren, in: Physikalische Blätter 45 (1989), in: Naturwissenschaftliche Rundschau 42 (1989), S. 1—9, und in: MPG Spiegel 1 (1989), S. 41—48.

Berlin als preußisches und deutsches Finanzzentrum und seine Beziehungen zu den anderen Zentren in Ost und West RICHARD TILLY Münster

Dieser Beitrag berichtet über die Entwicklung Berlins zum führenden Finanzzentrum Deutschlands im 19. Jahrhundert und vor allem in der Periode des zweiten Kaiserreiches. Der Bericht ist in zwei Abschnitte geteilt. Im ersten Teil geht es um die Frage nach dem zeitlichen Verlauf dieser Entwicklung und dessen Erklärung: A b wann und aus welchen Gründen darf man von einer Dominanz Berlins als Finanzzentrum sprechen? Im zweiten Teil geht es um den Charakter und die S t r u k t u r der Finanzaktivitäten des Berliner Marktes, letztlich um seinen volkswirtschaftlichen Beitrag. I Die W u r z e l n der finanziellen Expansion Berlins historisch zu analysieren, heißt unter anderem, die Anregungen aufzugreifen, die vor Jahren Charles Kindleberger in seiner vergleichenden Studie über die Herausbildung von nationalen Finanzzentren gegeben hat. 1 Dort werden sowohl ökonomische als auch politische Faktoren für die Entstehung derartiger Zentren verantwortlich gemacht. Als rein ökonomische Faktoren sind die Skalenerträge („Economies of Scale") und positive externe Effekte anzuführen, die sich dort ergeben, wo mit wachsendem Transaktionsvolumen an einem Ort die Durchschnittskosten einer Transaktion fallen und wo zunehmende Kontakte und Interaktionen zwischen Finanzunternehmungen am gleichen Ort ebenfalls zu 1 Charles Kindleberger, The Formation Economic History, Princeton 1974.

of Financial Centers. A Study in

Comparative

200

Richard Tilly

allgemeinen, privatwirtschaftlich nicht expropriierbaren Kostensenkungen finanzieller Aktivitäten führen. Die Entfaltung solcher ökonomischer Prozesse kann aber durch historische Besonderheiten und insbesondere durch politische Ereignisse erst ausgelöst oder auch abgeblockt werden. Im deutschen Falle muß der Aufstieg Berlins im Zusammenhang mit der Entwicklung des preußischen Staates gesehen werden. Durch den seit 1790 aufkommenden Kriegsfinanzierungsbedarf Preußens entstand erstmalig in Berlin ein nennenswerter Kapitalmarkt. Bei Abschluß des napoleonischen Krieges war ein vorläufiger H ö h e p u n k t erreicht. T r o t z einer schrumpfenden Staatsverschuldung Preußens nach 1815 wuchs dieser Markt dennoch weiter, hauptsächlich durch den Handel mit Pfandbriefen der preußischen Landschaften und mit ausländischen Staatspapieren. 2 D e r eigentliche Aufstieg Berlins zum nationalen Finanzzentrum begann jedoch erst mit der rascher werdenden Industrialisierung der vierziger Jahre. In dieser Zeit war der Aufstieg von zwei Faktoren getragen: 1. von dem schlagartig auftretenden und weiter steigenden Finanzbedarf preußischer Eisenbahnen — zunächst ausschließlich Aktiengesellschaften, über deren Konzessionen, Wertpapieremissionen und — last not least — Subventionsbedürftigkeit in Berlin durch die preußische Bürokratie entschieden wurde; 2. von der Etablierung einer zentralen Notenbank, der Preußischen Bank, im Jahre 1846, deren faktisches Papiergeldmonopol und wachsendes N e t z von Filialen den Zahlungsverkehr Preußens stärker nach Berlin zogen und damit zugleich den dortigen Geldmarkt stützten. Damit war die Dominanz Berlins in Preußen gesichert. Sie stützte die bereits früher steigende Bedeutung der preußischen Talerwährung in Norddeutschland und trug zur Dominanz dieser Währung auch in Süddeutschland bei. 3 D a n k des zunehmenden wirtschaftlichen Ubergewichts Preußens in Deutschland war schon vor der Reichsgründung die nationale Führungsrolle Berlins als Finanzzentrum vorgezeichnet. Berlins wachsende Bedeutung als Finanzmarkt läßt sich aber nicht nur auf politische Faktoren zurückführen. Berlin war auch eine Industrie- und Handelsstadt und entwickelte allein dadurch einen erheblichen Finanzbedarf. Zudem sammelte sich hier ein beträchtliches

2 Noch wertvoll: Bernard Brocklage, Zur Entwicklung des preußisch-deutschen Kapitalexports, in: Gustav Schmoller/Max Sering (Hrsg.), Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, Heft 148, Leipzig 1910. 3 Richard Tilly, Financial Institutions and Industrialization 1870, Madison-Milwaukee (Wisc.)-London 1966, Kap. 3.

of the Rhineland.

1815—

Berlin als

201

Finanzzentrum

Geldvermögen an, das nach lukrativer Anlage suchte. Die hierdurch und durch den Staatsbedarf hervorgerufene Kapazität vermehrte sich, differenzierte sich, spezialisierte sich. Bankiers schufen neue Bankiersfirmen, Aktienbanken, Bankdirektoren, Wertpapierhändler, Börsenmakler. Die Zahl der im Finanzsektor Beschäftigten stieg von einigen Hunderten im Jahre 1849 auf über 16000 im Jahre 1907. (Hierzu siehe TABELLE 1 . ) TABELLE 1

Indikatoren

der Entwicklung

Berlins als

Finanzzentrum

Anzahl der Betriebe und deren Erwerbstätige im Bereich des Geldund Kredithandels

1849

Betriebe

Erwerbstätige

107 439

330 1.303

Betriebe*

Erwerbstätige

80 66 280 31 513

1.529 1.305 4.737 569 8.554

Betriebe

Erwerbstätige

841 156 4.046 484

16.943 2.673 39.294 3.873

Berlin Preußen

1875 Berlin Regierungsbezirk Wiesbaden Preußen Hamburg Deutsches Reich

* mit mindestens 5 Beschäft gten

1907 Berlin Frankfurt a. M. Preußen Hamburg

Der Finanzsektor blieb jedoch auch von „Economies of Scale" geprägt. Als mit der Eisenbahnfinanzierung das Transaktionsvolumen stark anstieg, konnte Berlins politisch bedingter Vorsprung weiter ausgedehnt werden. Emissionskosten sanken, und dies zog Kapitalsuchende an. Auch Anleger wurden von der wachsenden Breite des Marktes angezogen, nicht zuletzt durch die steigende Liquidität der hier gehandelten Objekte. Die Entwicklung der Reichsbankzentrale seit 1876 stützte^natürlich den Berliner Markt, obwohl sie in dieser Hinsicht die frühere Arbeit der Preußischen Bank eigentlich nur fortsetzte.

202

Richard Tilly TABELLE 1 ( F o r t s e t z u n g )

Indikatoren der Entwicklung Berlins als Finanzzentrum

Geschäftsentwicklung bei der Preußischen Bank bzw. Reichsbank: Berlin, Frankfurt a. M. und Hamburg Preußische Bank, 1852, in Mill. Taler

Preußische Bank, 1875, in Mill. Mark

Geschäftsumsatz

Geschäftsumsatz

Berlin

250,5

Berlin Frankfurt a. M.

Insgesamt

586,5

Insgesamt

4.817,9 864,4 17.458,1

Reichsbank, 1880, in Mill. Mark Geschäftsumsatz

Giroverkehr Einnahmen I Ausgaben

Berlin Frankfurt a. M. Hamburg

12.502,8 6.386,4 8.586,0

1.634,4 775,3 647,3

1.473,9 718,0 524,4

Insgesamt

52.193,5

6.117,7

5.098,2

Reichsbank, 1913, in Mill. Mark Geschäftsumsatz

Giroverkehr Einnahmen 1 Ausgaben

Berlin Frankfurt a. M. Hamburg

165.750,6 18.603,8 30.217,0

15.767 1.820 2.942

15.491 1.865 2.861

Insgesamt

422.339,7

52.475

51.336

Der Aufstieg des Berliner Kapitalmarktes berührte die Position anderer Finanzzentren in Deutschland, und besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang haben die Städte Frankfurt/Main und Hamburg. Das sind Finanzmärkte, die zeitgenössische Kenner der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wahrscheinlich noch vor Berlin eingestuft hätten. 4 Der Schwerpunkt des Frankfurter Marktes war seit etwa 1800 das Geschäft mit Staatsanleihen, insbesondere mit Obligationen der Habsburger Monarchie und der süddeutschen Staaten. Hierzu kam seit den fünfziger Jahren zunehmend das Geschäft mit ausländischen Eisen-

4 Vgl. Hans Pohl, Das deutsche Bankwesen (1806—1848), in: Deutsche Bankengeschichte, hrsg. im Auftrag des Instituts für bankhistorische Forschung e. V. von seinem wissenschaftlichen Beirat, Bd. 2, Frankfurt/Main 1982, S. 13—140, hier S. 18 ff., 39— 42.

Berlin als

203

Finanzzentrum

bahnpapieren und in weit geringerem Umfang als in Berlin das Geschäft mit einheimischen Eisenbahn- und Industriewerten. Als Preußens Sieg über Osterreich 1866 den Entwicklungschancen des Frankfurter Finanzmarktes einen Schlag versetzte — nicht zuletzt, weil damit die Durchsetzung der Taler-Währung und die Schrumpfung der süddeutschen Gulden-Währung gesichert war —, hatte er gegenüber Berlin schon an Boden verloren. 5 Doch blieb der Frankfurter Markt wichtig für Auslandswerte. Wahrscheinlich war er auf diesem Gebiet in Deutschland noch bis in die siebziger Jahre führend. Viele Auslandsgeschäfte liefen auf der Basis einer Kooperation zwischen Berlin und Frankfurt in diesem Zeitraum ab, auch nach 1866. Zur Beurteilung des deutschen Kapitalexportes vor 1914 sind Kenntnisse des Frankfurter Marktes jedenfalls unerläßlich. Auch die Konzentrationstendenzen zugunsten der Berliner Großbanken seit den siebziger Jahren stützen diese Feststellung, da diese Großbanken mittels Ubernahmen und Interessengemeinschaften in Frankfurt wegen des dortigen Geschäftspotentials Fuß fassen wollten. 6 Nach Charles Kindleberger gehören auch der Devisenmarkt und die Außenhandelsfinanzierung zu den Kennzeichen eines wahrlich nationalen Finanzzentrums. In dieser Hinsicht war Berlin vor Ende des 19. Jahrhunderts kein Finanzzentrum ersten Ranges, denn einen wesentlichen Teil der Außenhandelsfinanzierung besorgte in dieser Periode noch die Hansestadt Hamburg, soweit das Geschäft nicht im Ausland, vor allem in London, abgewickelt wurde. Hamburg war schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein bedeutendes Zentrum für die Finanzierung des deutschen Außenhandels geworden, wichtig unter anderem wegen der Vermittlung britischer Handelskredite. 7 Interes5

Manfred Pohl, Die Entwicklung

in: Deutsche Bankgeschichte Wilhelm Treue, Normale

...

des deutschen Bankwesens zwischen 1848 und 1870,

(wie Anm. 4), Bd. 2, S. 143—220, hier S. 149—153;

leiten

gibt es nicht. 200 Jahre

Bankgeschichte,

in: Johann

Philipp Freiherr von Bethmann (Hrsg.), Bankiers sind auch Menschen. 225 Jahre haus Gehrüder

Bethmann,

Boehme, Frankfurt

Bank-

Frankfurt/Main 1973, S. 11—76, hier S. 31 ff.; Helmut

und Hamburg.

Des deutschen Reiches Silber- und Goldloch und die

allerenglischste Stadt des Kontinents, Pohl, Deutscher Kapitalexport

Frankfurt/Main 1968, S. 164 f. u. S. 188; Manfred

im 19. Jahrhundert.

Emission, Banken, Anlagen bis 1914,

Frankfurt/Main 1977, S. 42 ff. 6

Vgl. Manfred Pohl, Konzentration

im deutschen Bankwesen (1848—1980)

(= Schrif-

tenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung, Bd. 4), Frankfurt/Main 1982, S. 201 ff. 1

Richard Tilly, Los von England.

Wirtschaftsgeschichte,

Probleme

des Nationalismus

in der

deutschen

in: Richard Tilly, Kapital, Staat und sozialer Protest in der deut-

204

Richard Tilly

santerweise zählten Hamburger Bankiers und Handelsunternehmer auch zu den frühen Kritikern der Abhängigkeit des deutschen Handels von britischer Vermittlungshilfe, einer Hilfe, die bedingt war durch die weltweite Anerkennung des Pfund Sterlings als internationales Zahlungsmittel. Die Befürwortung einer deutschen Alternative zu dieser Abhängigkeit vom Pfund Sterling war wohl ideologisch-nationalistisch geprägt, aber man dachte auch an die großen Summen, die britische Kreditvermittler an dem deutschen Uberseehandel mitverdienten. 8 In dieser Hinsicht waren die Bestrebungen deutscher, besonders H a m burger Banken teilweise recht erfolgreich. Seit den achtziger Jahren wurde die Mark zu einer Leitwährung der Weltwirtschaft, aber durch die gleichzeitig sich verstärkenden Konzentrationstendenzen im deutschen Bankwesen kamen die Früchte dieses Erfolges in erheblichem Maße besonders dem Berliner Finanzmarkt zugute. Vielleicht war Berlin am Vorabend des Ersten Weltkrieges sogar schon bestimmend für den deutschen Devisenmarkt geworden, denn die Position der Mark und Wechselnotierungen in Berlin wurden seit 1900 zunehmend als Synonyme betrachtet. 9 So siegte Berlin auch über Hamburg. Aber zum Abschluß dieser Betrachtung sei auf folgenden Gedanken hingewiesen: Möglicherweise ist der Aufstieg Berlins zum Finanzzentrum Deutschlands nur im weiteren internationalen Rahmen zu erklären. Durch die Entwicklung Londons nämlich zum W e l t z e n t r u m für die internationalen Staatsanleihen und Außenhandelsfinanzierungen waren Frankfurt am Main und Hamburg mit ihren jeweiligen Geschäftsschwerpunkten einer wesentlich stärkeren Konkurrenz ausgesetzt als Berlin, dessen Schwerpunkt ja zunächst in doch schwer zu internationalisierenden Geschäften mit einheimischen Eisenbahn- und Industriegesellschaften gelegen hat. Berlins Sieg in Deutschland lag also Auslandshilfe mit zugrunde. Vielleicht ist es eine Ironie der Geschichte, daß in einer späteren Phase der Geschichte — in der Geschichte der Bundesrepublik — die einst ge-

schen Industrialisierung.

Gesammelte

Aufsätze (= Kritische Studien zur Geschichtswis-

senschaft, Bd. 41), Göttingen 1980, S. 197—206 u. S. 2 9 0 — 2 9 5 . 8

Vgl. Maximilian Müller-Jabusch, Franz Urbig (= Männer der deutschen Bank und

der Disconto-Gesellschaft), Düsseldorf 1954, S. 73; Richard Rosendorff, Die deutschen Banken im überseeischen Verkehr, in: Jahrbuch für Gesetzgebung,

Verwaltung

und

Volks-

wirtschaft im Deutschen Reich 28 (1904), H . 4, S. 9 3 — 1 3 4 , hier S. 101. 9

Peter Lindert, Key Gurrendes

and Gold. 1900—1913

national Finance, No. 24), Princeton 1969, S. 16 ff.

(= Princeton Studies in Inter-

Berlin als

205

Finanzzentrum

schädigte Stadt Frankfurt am Main — ebenfalls durch Auslandshilfe — zum Finanzzentrum der westdeutschen Wirtschaft nach 1945 aufstieg. II Der Aufstieg Berlins zum dominierenden Finanzzentrum Deutschlands im 19. Jahrhundert provoziert die Frage nach den volkswirtschaftlichen Ergebnissen dieser zum Teil durch nichtökonomische Einflüsse bewirkten Dominanz. Man kann behaupten, daß diese Ergebnisse die historische „Wahl" des Standortes Berlin als Finanzzentrum sozusagen ökonomisch rechtfertigen. Zumindest sind sie mit der These der höheren Effizienz Berlins zu vereinbaren. In diesem Zusammenhang können drei Beiträge des Berliner Finanzmarktes zur deutschen Wirtschaftsentwicklung angeführt werden. 1. Ein Entwicklungsbeitrag der Berliner Banken bestand darin, Kapital zur Finanzierung risikoreicher Investitionen von Großunternehmen zu mobilisieren. Dieser Beitrag des Berliner Finanzmarktes beziehungsweise der Berliner Banken läßt sich gut belegen. Ihre Finanzhilfe floß in Industriebranchen mit hohen, aber stark schwankenden Wachstumsraten. Einzelne Beispiele aus den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren sind bekannt: der Bochumer Verein, der Hörder Verein, die Phönix, die Heinrichshütte und Krupp. 1 0 Und die Rolle der Berliner Großbanken bei dem Wachstum und der Konzernbildung der deutschen elektrotechnischen Industrie seit den achtziger Jahren ist fast sprichwörtlich: Das war ein recht profitables Engagement, aber zugleich ein Engagement voller Risiken." Man kann aber auch für die Periode zwischen etwa 1880 und 1913 als Maß für die sektorale oder branchenmäßige

10

Vgl. Jacob Riesser, Die deutschen Großbanken

menhang mit der Entwicklung

der Gesamtwirtschaft

Paul Model, Die großen Berliner Effektenhanken.

und ihre Konzentration

im Zusam-

in Deutschland, Jena 1912, S. 60 ff.;

Aus dem Nachlaß des Verfassers hrsg.

und vervollständigt von Ernst Loeb, Jena 1896, S. 13 ff.; Wilfried Feldenkirchen, Die Eisen- und Stahlindustrie Struktur

des Ruhrgebietes

ihrer Großunternehmen

1879—1914.

Wachstum,

Finanzierung

(= Zeitschrift für Unternehmensgeschichte,

und

Beih. 20),

Wiesbaden 1982, S. 33 f., 42, 270 ff. 11

Vgl. hierzu Jürgen Kocka, Unternehmensverwaltung

Beispiel Siemens 1847—1914. deutschen Industrialisierung, 1900ff,

Leipzig 1903, S. 77—155.

und Bürokratie

am

in der

Stuttgart 1969, S. 3 1 9 — 3 3 5 und Literatur dort; oder Josef

Loewe, Die elektrotechnische Industrie, während der Jahre

und Angestelltenschaft

Zum Verhältnis von Kapitalismus

in: Die Störungen im deutschen

Wirtschaftsleben

Bd. 3 (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 107),

206

Richard Tilly TABELLE 2

Emissionsanteile der Wirtschaftsbranchen im Deutschen Kapitalmarkt, 1883—1913, in Prozent (Nominalwerte)

Branche 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Bergbau Steine und Erden Metalle Metallverarbeitung (Maschinenbau) Chemie Textil Holz und Leder Nahrungs- und Genußmittel Gas, Elektrizität und Wasser Bau Verkehr Handel, Finanz, Versicherung Miszelle

14. Gesamtemissionen in Mill. Mark

1883—1897

1898—1913

7,45 1,50 10,30 8,40 4,70 3,60 2,10 7,90 7,00 5,00 9,70 30,50 1,70

5,2 1,0 17,1 11,3 4,9 1,6 2,2 1,9 19,7 2,6 10,4 19,6 2,3

2.738

9.865

Verteilung der Finanzhilfe der Banken die Neuemissionen einheimischer Industriepapiere auf der Berliner Börse nehmen. Das Ergebnis ist eindeutig (siehe TABELLE 2). Zwei Drittel der für die Industrie mobilisierten Finanzmittel flössen in vier schnell wachsende Branchen in dem Zeitraum von 1880 bis 1913: Bergbau und Hüttenwesen, Maschinenbau, Verkehr und den Infrastrukturbereich Gas und Elektrizität. Gegen Ende der Periode stieg der Anteil dieser Branchen an dem Kapitalmarktportfolio auf über 70 Prozent. Das Portfolio dieses Kapitalmarktes insgesamt entspricht einer Wachstumsrate, die fast doppelt so hoch war wie die der Gesamtwirtschaft. 1 2 Demnach haben die Berliner Banken die deutsche Wirtschaft in dieser Periode kräftig unterstützt. 2. Da die Berliner finanziellen Institutionen nicht ausschließlich Industriefinanzierung betrieben haben, stellt sich die Frage nach dem Charakter der weiteren von ihnen unterstützten Bereiche und überhaupt die Frage nach der Effizienz der Allokation von Finanzmitteln im Berliner Kapitalmarkt vor 1914. Zur Beurteilung der Frage der Kapitalmarkteffizienz steht uns als Hilfsmittel eine Zusammenstellung von geschätzten Ex-Post-Daten über die privaten Renditen finanzieller Anlagen auf dem Berliner Markt zur Verfügung. In TABELLE 3 sind sie

12 Richard Tilly, German Banking 1850—1914. Development Assistance for the Strongin: Journal of European Economic History 15 (1986), S. 113—152, bes. S. 134 f.

Berlin als

207

Finanzzentrum

TABELLE 3

Mittelwerte

und Standardabweichungen

der Wertpapierrendite,

Deutschland

(Berlin),

1871 bis 1913

Branche Kohlenbergbau Eisen und Stahl Maschinenbau Chemie Textilien Nahrungs- und Genußmittel Gas-, Wasser- u. Elektrizitätswerke Bau Verkehr Miszellec Banken d Staat e Pfandbriefe' Auslandsanlagen8 Gesamtportfolio a) b) c) d)

1871—1913 M . W . | S.A. | Anteil 1

1871—1893 M . W . | S.A. | Anteil

1894—1913 M . W . | S . A . ] Anteil

12,7 10,2 8,9 8,2 5,8

32,6 31,6 22,6 21,0 14,1

1,1 3,0 2,2 0,8 1,6

16,6 12,0 7,5 11,2 5,5

43,4 41,7 26,8 27,1 17,0

2,2 2,1 1,2 0,3 0,8

9,0 9,1 11,7 5,2 7,0

8,9 12,0 16,8 9,5 9,9

1,1 3,0 2,2 0,8 1,6

8,2

9,8

2,7

8,2

12,0

0,5

9,0

6,3

2,7

8,6 7,0 6,2 14,1 6,7 3,9 4,2 6,4 5,7

9,2 19,1 11,4 53,8 10,5 2,6 1,9 9,9 5,8

2,0 0,8 2,4 2,4 6,3 27,1 17,7 29,9 100,0

10,0 8,1 8,2 18,7 7,4 4,9 5,1 7,2 6,7

10,2 24,3 11,4 72,7 12,5 2,5 1,3 13,1 7,1

0,3 0,4 0,7 0,2 6,0 42,7 12,8 29,9 100,0

7,7 6,4 4,4 9,8 6,9 3,1 3,5 6,2 5,1

7,5 10,7 11,5 10,4 7,4 2,2. 1,7 7,8 3,3

2,0 0,8 2,4 2,4 6,3 27,1 17,7 29,9 100,0

Nominalwerte, 1900. Nominalwerte, 1880. Papier, Eis, Glas, Spielkarten. Aktienbanken.

e) Preußische Console. f) Hypothekenbanken. g) 48 Wertpapiere (8 Aktien)

M. W. = Mittelwerte. S. A. = Standardabweichungen.

zusammengefaßt worden. Unter der Annahme, Kapitalanleger seien Risikovermeider, und unter der weiteren Annahme, das Risiko könne durch Varianz der Rendite über Zeit gut repräsentiert werden — Annahmen, die zur modernen Theorie des Kapitalmarktes gehören —, 13 zeigen diese Daten, daß Differenzen in den durchschnittlichen Renditen der Anlagen weitgehend durch Varianz der Renditen, das heißt durch den Risikograd der Anlagen erklärt werden können. Die historischen Daten sprechen also gegen die Hypothese der systematischen Marktverzerrung als Erklärung der Kapitalzuteilung in Deutschland. Demnach könnten einerseits Auslandsinvestitionen durch die relativ

13 Vgl. hierzu William Sharpe, Portfolio Theory and Capital Markets (= Mc GrowHill Series in Finance), New York usw. 1970.

208

Richard

Tilly

hohe Renditeerwartung, andererseits die Finanzierung der Wohnungsbauinvestitionen, oder genauer gesagt, Kauf von Pfandbriefen der Hypothekenbanken, durch das relativ geringe Risiko erklärt werden. Von besonderem Interesse sind natürlich die Auslandsinvestitionen. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß die ausländischen Wertpapiere im Durchschnitt eine wesentlich höhere Rendite hatten als vergleichbare einheimische Wertpapiere. Das zeigt auch die ABBILDUNG. Mit einigen Geschätzte jährliche Rendite der in Berlin inländischen und ausländischen Wertpapiere,

gehandelten 1871—1913

Einschränkungen können unsere Daten als Indiz verstanden werden, daß die Auslandsinvestitionen nicht so sehr auf Kosten des Wachstums der deutschen Wirtschaft getätigt worden sind, wie manche Zeitgenossen glaubten. Generell scheinen ja die Ex-Post-Renditeergebnisse in Einklang zu stehen mit der Hypothese eines gut funktionierenden Kapitalmarktes. Aus Platzgründen kann hier auf die Grenzen dieser Aussage nicht eingegangen werden. Es muß genügen, darauf hinzuwei-

Berlin als

209

Finanzzentrum

sen, daß die Adressaten der Berliner Großbanken in erster Linie Großunternehmen und Großvermögen waren. Die Vernachlässigung aller anderen Geldgeschäfte war eben der Preis für die Erfolge einer solchen Konzentration, wie sie der Berliner Finanzmarkt vor 1914 darstellte. 14 3. Wie bereits gesagt, haben Berliner Banken relativ frühzeitig die Bedeutung von kurzfristigen Kapitalanleihen und der internationalen Geldmärkte für ihren eigenen Geschäftserfolg erkannt, und diese Banken haben die Verbindungen zu den genannten Märkten auch gepflegt, besonders durch den Aufbau enger Beziehungen zu auswärtigen Banken in Hamburg oder im Ausland durch Gründung von ausländischen Filialen oder Tochtergesellschaften. Zwei Ergebnisse dieser Bemühungen sind besonders erwähnenswert. a) Die Berliner Banken sahen sich häufig vor die Situation gestellt, kurzfristiges Kapital vor allem in London und Paris zur Finanzierung deutscher Exporte und Importe und auch zur Finanzierung einheimischer Geschäfte heranziehen zu müssen, Kapital, das wesentlich billiger war als in Berlin oder auf sonstigen deutschen Geldmärkten. Nach einigen Quellen handelt es sich bei diesen Kapitalimporten um beträchtliche Summen. 1913 zum Beispiel spricht man von 1,4 Milliarden Mark in London allein, von zeitweise über einer Milliarde Mark in Paris im Zeitraum von 1914, also von mehr als einer trivialen Hilfe für die Finanzierungsaufgaben des Berliner Marktes. 15 b) Diese Mobilisierung ausländischer Kredite war nicht nur ein Indiz starker Nachfrage und Kapitalknappheit in Deutschland, sondern reflektierte auch die zunehmende Attraktivität des deutschen Geldmarktes für ausländische Bankiers. Die Etablierung des Goldstandards, die Expansion des deutschen Außenhandels und Kapitalexports machten die Mark zu einer vielerorts respektierten und verwendungsfähigen

H

Ein erheblicher Teil der Finanzierungsgeschäfte der deutschen Wirtschaft im

Zeitraum 1870 bis 1914 wurde von Industrieunternehmen selbst, von Sparkassen und von Kreditgenossenschaften — um die wichtigsten zu nennen — bestritten. Vgl. hierzu R . Tilly, German 15

Banking ...

(wie Anm. 12), S. 146—148.

Vgl. P. Lindert, Key Currencies

Short-term

Capital Movements

...

(wie Anm. 9), S. 52; auch Arthur Bloomfield,

under the Pre-1914

Gold Standard (= Princeton Studies

in International Finance), Princeton 1963, S. 77 f., auch: Manfred Pohl, 100 Deutsche Bank London Agency, in: Beiträge zu Wirtschafts- und Währungsfragen Bankgeschichte rungsfragen

10 (1973) S. 19—31. J e t z t auch in: Beiträge zu Wirtschafts- und

und zur Bankgeschichte

Wäh-

1 bis 20, hrsg. von der Deutschen Bank A G , Mainz

1984, S. 2 4 5 — 2 6 5 ; Knut Borchardt, Währung Main 1976, S. 33.

Jahre

und zur

und Wirtschaft 1876—1975,

Frankfurt/

210

Richard

Tilly

Währung. Eine Kapitalanlage in Berlin konnte als relativ sichere und liquide Anlage gelten, eine Anlage, die zudem ihrem Anleger mehr einbrachte, als er in der Regel in London oder Paris hätte verdienen können. So wurde die Mark zu einer internationalen Leitwährung, so arbeiteten die Berliner Banken als Finanzintermediäre, die kurzfristige Kapitalanleihen aufnahmen und langfristige Kapitalanleihen ins Ausland oder an die einheimische Industrie ausgaben. Dabei verdienten die Banken an dem Zinsgefälle zwischen diesen beiden Geschäftspolen, allerdings nicht ohne Inkaufnahme eines gewissen und von Zeitgenossen stark problematisierten Risikos — des Risikos einer unzureichenden Liquidität und einer zu starken Abhängigkeit vom Ausland. 16 Es spricht viel für die Vermutung, daß dieses Arrangement nicht nur ein gutes Geschäft für Berliner Banken brachte, sondern Teil eines die internationalen und insbesondere die intereuropäischen Wirtschaftsbeziehungen stabilisierenden Systems darstellte, das 1914 auseinanderfiel. Das ist zumindest eine bedenkenswerte Hypothese. Denn unser Quellenmaterial, das sei zum Abschluß gesagt, und damit unser Betrachtungszeitraum bricht mit dem Jahre 1913 abrupt ab. Es stellt sich also die Frage, wie sich die Lage entwickelt hätte, wenn der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen wäre, und wie stark unser historisches Bild der Zeit bis 1914 von ihm geprägt wird.

Vgl. Johann Plenge, Von der Diskontpolitik zur Herrschaft über den Geldmarkt, Berlin 1913, bes. S. 2 5 5 f f . Auch K. Borchardt, Währung und Wirtschaft... (wie Anm. 15), S. 47 ff. 16

Berlin als Verkehrsknotenpunkt und Handelszentrum M I C H A E L ERBE Mannheim

Hauptstadtstatus und Bedeutung eines Ortes als Verkehrsknotenbeziehungsweise Handelsmittelpunkt stehen sicherlich in einer engen Wechselbeziehung zueinander. Denn zur Hauptstadt wählt man in aller Regel einen Platz mit günstiger Verkehrslage, sei es, daß man eine Residenz beziehungsweise einen Verwaltungsmittelpunkt in einer solchen Lage gründet, sei es, daß man sie in eine entsprechende Ortschaft verlegt. Die Wechselwirkung führt aber noch weiter. Denn eine Hauptstadt ist in jeder Hinsicht eine Stätte der Attraktion für das Umland wie für weiter entfernte Gebiete eines Landes, und dies muß Handel wie Verkehr dorthin verstärken, ebenso wie es umgekehrt schwerfällt, einen Ort der Hauptstadtfunktion zu entkleiden, wenn er erst einmal zum Zentrum des Warenaustausches und des Verkehrs in einem Staatsgebiet geworden ist. Vor allem in zentralisiert verwalteten Staaten kann damit der Hauptstadt — die ja im allgemeinen auch auf kulturellem Gebiet meistens die größte Bedeutung besitzt — eine so überragende Rolle zuwachsen, daß alle anderen Städte dahinter verblassen. Handelt es sich bei dem betreffenden Staatswesen überdies noch um eine größere Macht, so kann die Rolle der Hauptstadt in Handel und Verkehr auch weit über das eigene Land hinausragen. Was Berlin in diesem Zusammenhang betrifft, 1 so verdankt die Stadt bereits ihre Gründung — auch wenn wir darüber nichts Genaues Ich verweise allgemein auf die einschlägigen Stellen in den jüngsten Veröffentlichungen zur Gesamtgeschichte Berlins: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 1 u. 2, durchges. Aufl., München 1988, sowie Wolfgang Ribbe/Jürgen Schmädeke, Kleine Berlin-Geschichte, Berlin 1988 (vgl. hier die Karten auf S. 30,90 f., 114 f., 143,162,166); ferner auf Berlin und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft. Lehren 1

212

Michael

Erbe

wissen — der günstigen Verkehrslage an der Kreuzung wichtiger Handelswege im Gebiet um die Spreeniederung zwischen Barnim und Teltow. Auch der Aufstieg der Doppelstadt Berlin-Cölln im späten Mittelalter beruhte hauptsächlich auf der verkehrsgünstigen Situation sowohl im System der Land- als auch in dem der Wasserwege. Die endgültige Wahl Berlin-Cöllns zur Hauptstadt der Mark Brandenburg durch die Hohenzollern hatte allerdings nicht allein diesen Grund, sondern vor allem den, daß man der Unabhängigkeit und Unbotmäßigkeit am besten durch ständige Anwesenheit des Landesherrn begegnen konnte. Seit dem 15. Jahrhundert aber lag den brandenburgischen Kurfürsten das Wohlergehen ihrer Hauptstadt besonders am Herzen. Berlin vollzog nach dem Westfälischen Frieden den Aufstieg des brandenburgisch-preußischen Staates von einer mittleren Macht im Reich zu einem der bedeutenderen Staaten des Kontinents und schließlich zur europäischen Großmacht mit. Was die Verkehrs- und Handelsgeschichte Berlins anlangt, so ist der Ausbau des Wasserstraßennetzes in der Mark Brandenburg seit dem späten 17. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung gewesen. Durch den 1662 fertiggestellten Müllroser Kanal zwischen Spree und Oder gelang es, einen erheblichen Teil des schlesischen Handels, der sonst über Frankfurt und Stettin lief, nach Berlin zu ziehen, von wo aus die Waren in Richtung Elbe nach Hamburg verschifft wurden. Da Havel und Spree im Gegensatz zum Nord-SüdVerlauf der meisten norddeutschen Flüsse im Gebiet um Berlin von Ost nach West fließen, lag es nahe, durch weitere Kanalbauten, die hier anschlössen, die bisher fehlenden Querverbindungen in diesem Teil der norddeutschen Tiefebene weiter auszubauen. Dies geschah durch den Havelländischen Hauptgraben und den Hohenneuendorfer Kanal (1725), durch den Finowkanal zwischen Havel und Oder nördlich von Berlin (1746) sowie durch den Plauener Kanal zwischen Havel und Elbe (1747). Dieses Wasserstraßensystem wurde bis ins 20. Jahrhundert stetig ausgebaut beziehungsweise erweitert und größerem Lastkahnverkehr angepaßt, wobei im Raum Berlin die Anlage von West-OstKanälen im Vordergrund stand. Freilich war die Spree selbst erst seit 1894 durchgehend befahrbar, was zeigt, daß man noch lange an dem Gedanken des Stapels von durchgehenden Waren festhielt, obgleich die Schleusentechnik eine Umgestaltung des Flußlaufs zwischen Köpenick und Charlottenburg bereits im 18. Jahrhundert erlaubt hätte. und Erkenntnisse, York 1987.

hrsg. von der Industrie- und Handelskammer zu Berlin, Berlin-New

Berlin als

Verkehrsknotenpunkt

213

Seit der letzten Jahrhundertwende galt Berlin als einer der bedeutendsten Binnenhäfen Europas. Der Transport von Waren zu Schiff hatte aber längst nicht mehr den klassischen Handelscharakter, sondern er diente der Versorgung der ständig expandierenden Stadt mit Massengütern, die sich zu Wasser besonders preiswert heranschaffen ließen. Im noch vor dem Ersten Weltkrieg an der oberen Spree großzügig ausgebauten Osthafen und im während der Weimarer Zeit nördlich von Moabit inmitten eines Systems älterer und neuerer Kanäle angelegten Westhafen wurden vor allem Baumaterialien, Kohle und Getreide umgeschlagen. Daneben diente das Wasserstraßennetz der Industrieansiedlung. Die Unternehmen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts und noch bis zum Zweiten Weltkrieg weiter außerhalb des eng besiedelten Stadtareals im Zuge der sogenannten Randwanderung neue Standorte suchten, legten vor allem Wert auf Wasserstraßen- und Eisenbahnanschluß. Wenn man an Berlin als Verkehrsknotenpunkt denkt, so verfällt man sofort auf die zahlreichen Eisenbahnlinien, die hier zusammenliefen. 2 Für das 19. Jahrhundert ist dies sicherlich richtig. Doch darf man nicht vergessen, daß die brandenburgische und preußische Hauptstadt lange vorher bereits Knotenpunkt eines recht weit verzweigten Straßennetzes gewesen ist. 3 Es handelt sich dabei um durchweg recht alte Verbindungen in die nähere und weitere Umgebung, die allmählich zu durchgehenden Poststraßen und im frühen 19. Jahrhundert zu befestigten Chausseen ausgebaut wurden. Anfang des 18. Jahrhunderts führten zehn Postrouten von Berlin nach Hannover über Tangermünde, nach Hamburg, nach Rostock über Ruppin, nach Stettin und Anklam über Oranienburg und Prenzlau, nach Stargard und Danzig über Bernau, ebendorthin über Werneuchen und Freienwalde, nach Küstrin und Frankfurt mit einer Gabelung bei Müncheberg, nach Cottbus über Storkow sowie nach Dresden, Leipzig und Magdeburg. Die Postroutenkarte von 1802 weist noch eine weitere Verbindung nach Frankfurt 2 Z u r frühen Eisenbahngeschichte immer noch am instruktivsten das offiziöse W e r k Berlin und seine Eisenbahnen, 1846—1896, hrsg. im A u f t r . des Kgl. Preuß. Ministers der

öffentliche Arbeiten, Bd. 1 u. 2, Berlin 1 8 9 6 (Ndr. 1982), Bd. 1, ab S. 129 (dazu Karten zwischen den Seiten 1 1 2 und 1 1 3 sowie 1 3 6 und 137). 3 Vgl. f ü r die Zeit um 1 8 0 0 die General-Karte — zugleich Postkarte — von sämtlichen Preussischen Staaten, 1802, und geographisch-statistisches Repertorium

den von

Adam Christian Gaspari. N e u bearb. und erläutert v o n W o l f g a n g Scharfe (= Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin) (= K a r t e n w e r k zur Preußischen Geschichte, Lief. 1), Berlin 1 9 8 1 .

214

Michael Erbe

(und von dort aus sowohl nach Posen und Warschau als auch nach Schlesien) über Fürstenwalde aus. Im wesentlichen entspricht dieses Straßennetz dem heutigen System der übergeordneten Autoverkehrswege (früher Reichs-, jetzt Fernstraßen), die von Berlin ins Umland führen. Es ist in unserem Jahrhundert lediglich durch die Autobahnen, von denen noch zu sprechen ist, ergänzt worden. In der Forschung wird die Meinung vertreten, der gute Ausbau der Chausseen im frühen 19. Jahrhundert habe den Beginn des Eisenbahnbaus in Preußen über Gebühr verzögert, so daß das wirtschaftlich mit am weitesten fortgeschrittene und sicherlich finanzkräftigste Land im Deutschen Bund erst 1838 seine erste Eisenbahnlinie in Betrieb nahm. 4 Damit begann — hier wie anderswo — jene Revolution des Verkehrswesens, ohne welche die Industrialisierung und der mit ihr verbundene durchgreifende Wandel auf allen Lebensgebieten kaum denkbar wäre. Bereits in den Plänen von Friedrich List für die Schaffung eines deutschen Eisenbahnsystems bildete Berlin einen der Hauptknotenpunkte. Gleich mit der ersten großen Welle des Eisenbahnbaus in den vierziger Jahren wurde die preußische Hauptstadt zu dem Ort in Deutschland, wo die meisten Eisenbahnlinien zusammenliefen. Wie anderswo auch wurden zunächst von der Stadt her ausstrahlende Linien gebaut, die vor den Toren endeten. Mit zunehmendem Transportaufkommen wurden sie zu immer größeren Kopfbahnhöfen ausgebaut, die zudem für die erforderlichen Abstellanlagen große Flächen beanspruchten. In zeitlicher Reihenfolge waren dies die Potsdamer (später Potsdamer-Magdeburger) Bahn (1838 eröffnet), die Anhalter Bahn mit der Verbindung nach Halle und Leipzig (1841), die Stettiner Bahn mit weiterer Verbindung nach Hinterpommern und von dort nach West- und Ostpreußen (1842/43), die Frankfurter Bahn mit weiterer Verbindung nach Niederschlesien (1844/45) und die Hamburger Bahn (1846). Später kamen die Ostbahn über Küstrin (1867), die Görlitzer Bahn (1867), die Lehrter Bahn (1871), die Dresdner Bahn (1875), die Nordbahn (1877) und die Wetzlarer Bahn (1882) hinzu. Auch wenn die Hamburger Bahn bald vom Anhalter und die Nordbahn vom Stettiner Bahnhof aus betrieben wurde, so hatte sich doch ein verwirren-

4

Vgl. etwa Hans Friedrich Gisevius, Z « r Vorgeschichte

Eisenbahnkrieges. schen Bund

Verkehrspolitische

des

Preußisch-Sächsischen

zwischen Preußen und Sachsen im

Deut-

(= Verkehrswissenschaftliche Forschungen, Bd. 24), Berlin 1971, S. 26 f.

Anders Wolfgang Klee, Preußische 1982, S. 15.

Differenzen

Eisenhahngeschichte,

Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz

Berlin als

Verkehrsknotenpunkt

215

des System von rings um das alte Berlin errichteten Kopfbahnhöfen gebildet, in die auch mehr und mehr Vorortlinien mündeten und die dringend einer Verbindung untereinander bedurften. Deren Realisierung wurde nicht zuletzt deshalb erschwert, weil die meisten dieser Linien als Vorhaben privater Kapitalgesellschaften geplant und durchgeführt wurden. Eine Verbindung der verschiedenen Linien untereinander bedurfte des Drucks und der Mithilfe durch den Staat. Dabei ist die Idee einer Berliner Verbindungsbahn schon recht früh entstanden. Bereits 1845 hat man daran gedacht, die bereits bestehenden und die noch im Planungsstadium befindlichen Bahnlinien miteinander zu verknüpfen, und interessant ist dabei, daß man schon damals an eine Ringbahn dachte. Sie sollte als Umwallung der Stadt dienen und die einzelnen Kopfbahnhöfe berühren. 5 Die Revolution von 1848 verhinderte die Realisierung dieses Gedankens, aber die außenpolitische Krise, in die Preußen 1850 geriet, und die in ihr erforderliche militärische Mobilmachung deckte mit einem Schlag die Mängel des Fernverkehrsknotenpunktes Berlin auf, als die Truppenverschiebungen hier ins Stocken gerieten. Aufgrund dieser Erfahrung hat der preußische Staat das Unternehmen selbst in die Hand genommen und 1851 in der Form eines eingleisigen und zu ebener Erde angelegten Dreiviertelringes vom Schlesischen Bahnhof in Richtung Südwesten über den Anhalter, Potsdamer und Hamburger zum Stettiner Bahnhof verwirklicht. Die Ringbahnidee blieb aber bestehen. Man wollte lediglich die endgültige Lage des Kopfbahnhofs der künftigen Ostbahn nach Küstrin abwarten, um dann den unvollendeten Ring zu schließen. Mittlerweile gingen aber die Erfordernisse der Zeit über die Leistungsfähigkeit der ersten Verbindungsbahn (an die in Berlin-Kreuzberg nahe der Oberbaumbrücke noch die „Eisenbahnstraße" erinnert) hinweg. Wieder waren es militärische Ereignisse, die zum Umdenken und zur energischen Inangriffnahme eines einmal gefaßten Plans zwangen. Die Truppenverschiebungen des Jahres 1866 offenbarten, daß man ein besser ausgebautes Verbindungsbahnsystem benötigte, und so entschloß man sich, vor allem wegen der Grundstückskosten eine Ringbahn weit um die Stadt herumzuführen. 6 Dabei bezog man die Trassenführung der Hamburger und der gerade entstehenden Lehrter Bahn mit ein, und ebenso führte man die Bahn um das Tempelhofer Truppen-

5 6

Berlin und seine Eisenbahnen ... (wie A n m . 2), Bd. 1, S. 236f. A. a. O., S. 304—313.

216

Michael

Erbe

Übungsgelände herum. Der Ostteil dieser heute noch bestehenden — wenn auch seit 1961 nicht mehr als solche genutzten — Ringbahn war zum Teil bereits im August 1870 befahrbar und wurde zwischen Moabit (über den Osten Berlins) bis nach Schöneberg im Juli 1871 dem Verkehr übergeben. Der restliche Teil war 1877 fertiggestellt. Wichtig war, daß man diese Bahn sogleich zweigleisig ausbaute und die Möglichkeit für eine viergleisige Erweiterung vorsah. Diese mußte denn auch bald in Angriff genommen werden, so daß der Ring schließlich durchgehend aus jeweils einem Gleispaar für den Güter- und für den Personenverkehr bestand. 7 Die Eröffnung zahlreicher Stationen machte die neue Bahn bald zu einem wichtigen Nahverkehrsmittel zwischen Berlin und seinen näher gelegenen Vororten, so daß der ursprünglich militärische Charakter der Ringbahn bald in Vergessenheit geriet. Ahnlich großzügig dachte und plante man auch, als es sich als notwendig erwies, eine direkte Ost-West-Verbindung innerhalb des Rings zu schaffen, nämlich als man 1873 mit der Planung der Wetzlarer Bahn begann und sich entschloß, sie nicht schon in Charlottenburg enden zu lassen, sondern sie bis an den Schlesischen Bahnhof heranzuführen, um eine durchgehende Ost-West-Eisenbahnstrecke zu schaffen. Auch dieses Verbindungsstück plante man von Anfang an viergleisig, wobei je ein Gleispaar für den Vorort- und den Fernverkehr vorgesehen wurde. Der Bau der „Stadtbahn" zog sich zwischen 1875 und 1882 hin und gestaltete sich wegen der gewundenen Trassenführung im Bereich der dicht bebauten Berliner Innenstadt recht schwierig. 8 Auf eine weiter südlich verlaufende Trasse — über den Spittelmarkt, parallel zur Leipziger Straße, südlich des Tiergartens und des Zoologischen Gartens entlang — mußte man von vornherein verzichten: Sie wäre zwar um 20 Prozent kürzer, weniger kurvenreich und damit schneller befahrbar gewesen, wegen der zu erwerbenden Grundstücke aber unverhältnismäßig teuer geworden. 1882 verfügte der Raum Berlin also über ein entlang den Fernbahnlinien ins Umland ausstrahlendes System von Vorortbahnen, einen die

7 Zur zunächst verwundernden unterschiedlichen Anordnung dieser Gleispaare a. a. O., S. 310 (mit Karte). 8 Hierzu Erika Schachinger, 2 u m Bau der Stadtbahn in der alten Innenstadt, in: Die Berliner S-Bahn. Gesellschaftsgeschichte eines industriellen Verkehrsmittels. Katalog der Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) 28. November 1982 —12. Januar 1983, Berlin 1982, S. 27—48.

Berlin als

Verkehrsknotenpunkt

217

eigentliche Stadt sowie den am meisten bebauten Teil Charlottenburgs umfassenden Ring und eine Ost-West-Verbindung, die jeweils zum Nord- und zum Südring hin Anschlüsse besaß. Uberall dort, wo es sich auf diesen Linien als notwendig herausstellte, Haltepunkte einzurichten, war dies geschehen, so daß eine leidliche Erschließung der Vororte und des weiteren Umlandes mit der Eisenbahn erreicht war. Was den Güterverkehr 9 anlangt, so war hier vor allem das Erfordernis der Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln zu berücksichtigen. Da diese zum großen Teil aus den östlichen Provinzen kamen, wurde der Zentralviehhof wie der Magerviehhof in den achtziger Jahren am Ost-Stadtrand angelegt. Für Obst und Gemüse lag lange Zeit ebenfalls der Schwerpunkt im Osten der Stadt: Der Verkauf erfolgte über die Markthalle am Alexanderplatz, zu der bald weitere Hallen traten, bis man in den zwanziger Jahren eine neue zentrale Markthalle im Bereich des Westhafengebietes errichtete. Die Feinverteilung von Massengütern geschah durch die zahlreichen kleineren Güterbahnhöfe der Ringbahn- und der verschiedenen Vorortbahnlinien. Mit dem Wachstum des besiedelten Areals um Berlin zu einem Ballungsraum mit mehreren Millionen Einwohnern war aber das um 1900 bestehende Bahnsystem überlastet. Weitere Planungen sahen seitdem einen Güteraußenring weit um die bewohnte Fläche Berlins und seiner Vororte mit mehreren Großgüter- und Verschiebebahnhöfen vor, von denen einige später auch realisiert werden sollten. 10 Auch das Fernverkehrssystem war bereits vor 1914 völlig überlastet. 11 Täglich verkehrten hier in alle Richtungen rund 500 Züge. Der heute nostalgisch wieder herbeigesehnte Anhalter Bahnhof zum Beispiel konnte den Erfordernissen des nach Süden gehenden Verkehrs mit täglich etwa 90 Zügen längst nicht mehr gerecht werden. Die Planungen im Zusammenhang mit dem großen Städtebauwettbewerb von 1910 sahen denn auch die Aufgabe der Kopfbahnhöfe und eine durchgehende Nord-Süd-Fernbahnverbindung vor, die sich in der Höhe des Lehrter 9 Hierzu vor allem Berlin und seine Eisenbahnen ... (wie Anm. 2), Bd. 2,S. 133—378. Kurz Michael Erbe, Berlin im Kaiserreich (1871—1918), in: W. Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins... (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 691—793, auf S. 716. 10 Näheres in: Wilhelm Hoff/M. Kumbier/Richard Anger (Hrsg.), Das Deutsche Eisenhahnwesen der Gegenwart, unter Förderung des Reichsverkehrsministers in Beiträgen hervorragender Mitarbeiter hrsg., Bd. 2, Berlin 1911, S. 44 und 50 f. Tecklenburg, Wirtschaftlichkeit im Betriebe, in: A. a. O., S. 42—50, hier S. 44; Gustav Hammer, Betriebsmaschinendienst, in: A. a. O., S. 51—57. " A. a. O., S. 47. Vgl. auch die Tafeln zwischen den Seiten 44 und 45.

218

Michael Erbe

Bahnhofs mit der Stadtbahn kreuzen sollte. 1 2 Die Planungen der H i t lerzeit endlich wollten die letztere Linie für den Fernverkehr ganz aufgeben und diesen über den dann weiter auszubauenden inneren Ring leiten, der mit mehreren Haltestationen ausgestattet werden und vor allem zwei große Hauptbahnhöfe bekommen sollte, einen im Norden in der H ö h e der Beusselstraße und einen im Süden zwischen Papestraße und Tempelhof. Hier waren außerdem Gleise für Hitlers Lieblingsidee, die Breitspurbahn von Paris nach Südrußland, vorgesehen. 1 3 Zu dieser Zeit zeichnete sich längst ab, daß es mit der Vorherrschaft der Eisenbahn im Fernverkehr bald vorbei sein würde. Einerseits hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg das Automobil seinen Siegeszug angetreten, und 1921 wurde in Berlin die erste deutsche Autoverkehrsstraße neuen T y p s , die A V U S (Auto-Verkehrs- und Uebungsstraße), eröffnet — zuerst für Autorennen, aber dann auch als Vorbild für die bereits vor 1933 geplanten und danach mit großem Propaganda-Aufwand gebauten Reichsautobahnen. Deren unter der Nazi-Herrschaft konzipiertes und zum T e i l verwirklichtes N e t z hatte ebenfalls Berlin zum Mittelpunkt: die Hauptstadt sollte ein — erst lange nach 1945 fertiggestellter — Autobahnring umgeben, einzelne Straßen sollten weit ins Stadtinnere führen, eine O s t - W e s t - und eine Nord-Süd-Achse sich nahe dem Reichstagsgebäude kreuzen. 1 4 N o c h heute bildet Berlin im gesamtdeutschen Autobahnnetz einen bedeutenden Knotenpunkt. Auf der anderen Seite machte der Eisenbahn zunehmend das Flugzeug Konkurrenz, und auch im Luftverkehr erhielt Berlin seit den zwanziger Jahren eine immer größere Bedeutung. 1 5 1925 wurde das

12 Vgl. bei M. Erbe, Berlin im Kaiserreich... (wie Anm. 9), S. 742 f., sowie ders., Probleme der Berliner Verkehrsplanung und Verkehrsentwicklung seit 1871, in: Dietrich Kurze (Hrsg.), Aus Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. Festschrift für Hans Herzfeld zum 80. Geburtstag (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 37), Berlin-New York 1972, S. 209—235, auf S. 217. Siehe auch Rudolf Wolters, Stadtmitte Berlin. Stadtbauliche Entwicklungsphasen von den Anfängen bis zur Gegenwart, Tübingen 1978, S. 152 f. 13 A. a. O., S. 154 f. Vgl. auch die Karte in: Die Berliner S-Bahn ... (wie Anm. 8), S. 130, und Anton Joachimsthaler, Die Breitspurbahn. Das Projekt zur Erschließung des groß-europäischen Raumes 1942—1945, 3. Aufl., München-Berlin 1985, S. 310—316. 14 Vgl. Lars Olof Larsson, Die Neugestaltung der Reichshauptstadt. Albert Speers Generalbebauungsplan für Berlin, Stuttgart 1978, sowie Albert Speer, Architektur. Arbeiten 1933—1942, Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1978, S. 104. 15 Allgemein hierzu Helmut Conin, Gelandet in Berlin. Zur Geschichte der Berliner Flughäfen, Berlin 1974.

Berlin als

Verkehrsknotenpunkt

219

Tempelhofer Feld, das bisher als Truppenübungsgelände gedient hatte, zivilen Zwecken zugeführt und seitdem als Flughafen genutzt. Für einen solchen besaß es, weil die Innenstadt nicht weit entfernt war, eine ausgezeichnete Lage, auch wenn man die geringe Zahl der Nebeltage bedenkt, die kaum ein Großflughafen der W e l t sonst aufzuweisen hatte. M i t seinen in den dreißiger Jahren großzügig gestalteten Empfangs- und Verwaltungsgebäuden sowie seinen Wartungshallen und weiten Verkehrsverbindungen war der Flughafen Tempelhof, den man nicht zu Unrecht als „Luftkreuz Europas" bezeichnete, sicherlich der bedeutendste Flugplatz des alten Kontinents. Berlin war vor dem Zweiten Weltkrieg, was seine Stellung im Verkehr betraf, sicherlich über das M a ß nur nationaler Bedeutung längst hinausgelangt. Im internationalen Eisenbahnverkehr war es vor allem für die Ost-West-Verbindungen einer der wichtigsten Knotenpunkte. Das gleiche galt für den Verkehr zwischen dem östlichen Mitteleuropa und Skandinavien, der über die Fährschiffe von Rügen und Warnemünde aus lief. Im Autostraßennetz, vor allem in seiner modernsten Ausformung durch die neuen Autobahnen, schickte die Stadt sich an, zu einem der Schwerpunkte des Verkehrs mit diesem zukunftsträchtigen Massentransportmittel zu werden. Und was den Luftverkehr anlangt, so zeigen die Planungen von mehreren neuen Flughäfen am Autobahnring in der Nazi-Zeit, mit welchem Wachstum und welcher Stellung Berlins man hier rechnen konnte. M i t dem Ausgang des Zweiten Weltkriegs brach dies alles ab. Berlin behielt zwar auch als geteilte Stadt eine gewisse Bedeutung im nationalen wie internationalen Verkehr, aber dies galt mehr für die „Hauptstadt der D D R " , die freilich auf den Status einer Provinzhauptstadt mit gewissen Verbindungen zum Ausland zurückfiel, als für Berlin West, dessen Verkehr sich in seiner Verbindung zum Bundesgebiet gewissermaßen erschöpfte. Es zeigte sich hier das bereits eingangs Betonte: Die Bedeutung eines Ortes als Verkehrsknotenpunkt hängt viel weniger von seiner geographischen Lage als von seiner politischen Situation ab. U n d diese gereichte der Stadt insgesamt in ihrer Rolle im deutschen wie europäischen Verkehr lange ebenso zum Nachteil, wie sie für die Verkehrsentwicklung in der Vergangenheit förderlich war. M i t der Öffnung der Mauer im Herbst 1989 und der Perspektive auf eine neue Rolle in einem vereinigten Deutschland dürfte Berlin ein Teil seiner Bedeutung im nationalen wie internationalen Verkehr wieder zuwachsen, gleichgültig, ob es deutsche Hauptstadt werden sollte oder nicht.

Berlins Wirtschaft und der Kolonialismus C O R N E L I A ESSNER Berlin

Die volkswirtschaftlichen Effekte des deutschen Kolonialismus, das heißt der Zeit deutscher Kolonialherrschaft von 1884 bis 1914, waren gering. Noch zu Beginn der neunziger Jahre betrug der Handel mit den deutschen Kolonien nur 0,2 Prozent des deutschen Außenhandels und nahm auch in den beiden folgenden Jahrzehnten nur unwesentlich zu. Dieser Befund wird stets als Argument gegen eine ökonomische Interpretation deutscher Kolonialpolitik angeführt. Es soll hier nicht näher auf die Vielzahl von Theorien zum Phänomen des Imperialismus im 19. Jahrhundert respektive des deutschen Kolonialismus eingegangen werden, Theorien, die das gesamte Spektrum des historischen Erklärungsarsenals umfassen. Bei allen Überlegungen zur deutschen Kolonialpolitik steht die Person des Reichskanzlers Bismarck im Zentrum, dessen überraschende Kehrtwendung im Jahre 1884 vom Kolonialgegner zum Befürworter von sogenannten Schutzgebieten es jeweils zu untersuchen galt. Insoweit aber besteht Konsens in der neueren Forschung, daß der deutsche Kolonialismus nicht ohne Bezug zur tiefgreifenden Strukturwandlung des Deutschen Reiches zu sehen ist, der Wandlung vom Agrarstaat mit starker Industrie zum Industriestaat mit stark agrarischer Basis.1 Der geringe volkswirtschaftliche Profit des deutschen Kolonialismus schließt nicht aus, daß einzelne deutsche Firmen aus der Kolonialpolitik Nutzen zogen. Hier wären vor allem Kaufleute der norddeutschen Hansestädte Hamburg und Bremen zu nennen. Eine andere Frage ist wiederum, inwieweit Wirtschaftskreise überhaupt als treibende Kräfte

' Klaus J. Bade, Friedrich Fabri und der Imperialismus in der Bismarckzeit. Revolution, Depression, Expansion (= Beiträge zur Kolonial- und Uberseegeschichte, Bd. 13), Freiburg 1975, zit. in: Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, PaderbornMünchen 1985, S. 27.

222

Cornelia Essner

der nach der Reichsgründung einsetzenden deutschen Kolonialbewegung zu bezeichnen sind. Bismarcks Konzept der Chartergesellschaften, das er im Anfang deutscher Kolonialherrschaft nach englischem Vorbild durchsetzen wollte, scheiterte jedenfalls rasch am mangelnden Interesse'der erforderlichen Kapitalgeber. Erst nach der Kolonialkrise von 1907, als der deutsche Kolonialismus zu einer festen politischen Größe wurde, änderte sich der Antikolonialismus des Finanzkapitals allmählich. Welche Rolle spielte nun die Berliner Wirtschaft innerhalb der deutschen Kolonialpolitik? Im Binnenland gelegen, verfügte die Reichshauptstadt über keine Tradition im Uberseehandel. So wie in der französischen Kolonialpolitik nicht etwa Handelshäuser aus Paris, sondern aus den Hafenstädten Bordeaux und Marseille am Kolonialhandel interessiert waren, waren es im Deutschen Reich Firmen der norddeutschen Hansestädte H a m b u r g und Bremen. In der Forschung ist umstritten, ob eine Verflechtung zwischen diesen Unternehmen und der ostelbischen Agrarwirtschaft, ein auf Kolonialerwerb gerichtetes Solidaritätskartell ... zwischen den Hamburger Spiritus-Fabrikanten und Exportfirmen und den Kartoffelschnaps und Weizen produzierenden ostelbischen Junkern angenommen2 werden kann. Im Rahmen des nationalen Hochgefühls nach 1870/71, aber auch der zunehmenden wirtschaftlichen Krisenstimmung, entstand im Deutschen Reich eine buntscheckige Kolonialbewegung, die auch in Berlin Widerhall fand. 1873 wurde in der Reichshauptstadt die „Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des äquatorialen Afrikas" gegründet — wohl eher ein Versuch, der noch wenig anerkannten Disziplin der Geographie Hilfe zur Institutionalisierung zu leisten, als eine Vereinigung mit einem gezielten Kolonialprogramm. Bezeichnenderweise zeigte sich die Berliner Kaufmannschaft völlig desinteressiert, so daß sich die Afrikanische Gesellschaft schließlich an den Staat mit der Bitte um finanzielle U n t e r s t ü t z u n g wandte. Aber erst 1878, gleichermaßen Z e i t p u n k t einer Stabilisierung der Kolonialagitation sowie des konjunkturellen Tiefs, stimmte der Reichstag einer regelmäßigen Subventionierung der Afrikanischen Gesellschaft zu. 3

2

H. Gründer, Geschichte ... (wie Anm. 1), S. 28. Vgl. Cornelia Essner, Deutsche Afrikareisende im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte des Reisens (= Beiträge zur Kolonial- und Uberseegeschichte, Bd. 32), Stuttgart 1985, S. 28. 3

Berlins Wirtschaft und der

Kolonialismus

223

Ebenfalls 1878 wurde in Berlin die erste überregionale Organisation der deutschen Kolonialbewegung gegründet, der „Centraiverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Ausland". Seiner Intention nach nahm dieser Interessenverband eine Mittlerposition zwischen den älteren Auswanderungsvereinen, den geographischen Gesellschaften und den kolonialen Propagandaorganisationen der achtziger Jahre ein. 4 In all diesen kolonialagitatorischen Vereinigungen rekrutierten sich die Mitglieder vor allem aus dem Bildungsbürgertum und der Beamtenschaft. Es läßt sich allerdings kaum davon sprechen, daß die deutsche Kolonialbewegung ausgesprochen schichtenspezifisch fundiert gewesen sei. Denn der koloniale Konsens umfaßte — die Arbeiterschaft ausgenommen — das ganze gesellschaftliche Spektrum, war Ausdruck der starken nationalistischen Komponente des deutschen Kolonialismus und untrennbar verbunden mit den Ängsten des Bürgertums vor der Bedrohung durch die „soziale Gefahr". Im übrigen fehlten in den Kolonialvereinen auch nicht die einschlägigen Namen aus der Bank- und Industriewelt, und zwar im wesentlichen aus der Fertigwarenindustrie des Rheinlands und Süddeutschlands sowie der norddeutschen Reedereien. 5 Der einzige dezidierte kolonialistische Vorstoß des Finanzkapitals vor 1884 kam aus Berlin. Adolph von Hansemann, Direktor der Berliner Disconto-Gesellschaft, einer der führenden Großbanken des Kaiserreichs, war Initiator der sogenannten Samoa-Vorlage von 1879/80. Es handelte sich um den Versuch, ein bankrottes Handelsunternehmen — die Hamburger Südseehandels-Firma Godeffroy — mit Hilfe staatlicher Garantien zu sanieren. Bismarck, der 1879 gegen die Opposition der freihändlerischen Liberalen den Schutzzoll durchgesetzt hatte, zeigte sich nicht abgeneigt, in der fernen Inselwelt einen weiteren Schritt in Richtung Staatsinterventionismus zu wagen und den Südseehandel als Interessensphäre des Deutschen Reiches zu deklarieren und damit gegen englische Konkurrenz zu schützen. Die Samoa-Vorlage erlitt dann 1880 im Reichstag eine Abstimmungsniederlage, und Bismarck hatte Anlaß, dies als Rache der freihändlerischen Liberalen für das Schutzzollgesetz von 1879 zu interpretieren. Weitere kolonialpolitische Vorstöße des Bankiers von Hansemann in die ferne Südsee wies der Reichskanzler deutlich zurück: Die Sache müßte kaufmännisch

4

Vgl. K. J . Bade, Friedrich Fabri ...

5

Hans-Ulrich Wehler, Bismarck

(wie Anm. 1), S. 103.

und der Imperialismus,

S. 165, und K. J . Bade, Friedrich Fabri...

4. Aufl., München 1976,

(wie Anm. 1), S. 174, 198.

224

Cornelia

Essner

entstehen ... Kolonisten und Kaufleute gehen aber nicht hin. Es liegt das nicht in der preußischen Erziehung, höchstens in den Hansestädten, und die gehen eigene Wege.6 Daß besagter Großbankier Hansemann ein Schwiegersohn Kusserows war, des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, um den sich seit Ende der siebziger Jahre eine Kolonialclique scharte, bildete im übrigen einen Baustein in Hallgartens Imperialismustheorie, der die Ursachen nicht nur deutscher Kolonialpolitik in einer engen Verflechtung zwischen Personen der Wirtschaft und der Politik sieht.7 1882 wurde in der Bankmetropole Frankfurt am Main die zweite überregionale Organisation der deutschen Kolonialbewegung gegründet: der Deutsche Kolonialverein. Er sollte sich als Konkurrenz zum Centraiverein in Berlin erweisen und entwickelte sich überdies zum Dachverband der untereinander zerstrittenen deutschen Kolonialbewegung. Unterschiedliche Interessen rheinländischer Industrieller und hanseatischer Uberseekaufleute, die den Kolonialplänen der Binnenländer eine abschätzige Skepsis entgegenbrachten, bedingten unter anderem die Rivalität zwischen den verschiedenen Kolonialorganisationen, zu denen sich im Frühjahr 1884 eine weitere Neugründung gesellte, diesmal wiederum in Berlin. Anfang April, wenige Tage bevor Bismarck weite Küstenstriche in West- und Südwestafrika unter deutschen Reichsschutz stellen sollte, gründete der Historiker und Philosoph Carl Peters die „Gesellschaft für deutsche Kolonisation", die ein buntes Spektrum unterschiedlichster Interessenten anzog. Diese Vereinigung setzte sich — im Gegensatz zu den eher handelspolitisch motivierten älteren Organisationen — explizit den Erwerb von Siedlungskolonien in Afrika zum Ziel und erreichte in einer eigenmächtigen Aktion schließlich die Gründung der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Nach einem lähmenden Konkurrenzkampf zwischen dem Kolonialverein und der Gesellschaft für deutsche Kolonisation fand Anfang 1888 in Berlin eine Fusion beider Organisationen zur „Deutschen Kolonialgesellschaft" statt, die dann in der Folgezeit zur einflußreichsten kolonialpolitischen „Pressure-group" wurde. Mittlerweile war die Aufnahme des Deutschen Reichs in den Kreis der Kolonialmächte auf der sogenannten Berliner Kongo-Konferenz im 6

H . - U . Wehler, Bismarck ... (wie Anm. 5), S. 225.

7

George W . F. Hallgarten, Imperialismus

vor 1914. Die soziologischen

Grundlagen

der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg, Bd. 1 u . 2 , 2 . Aufl., München 1963.

Berlins Wirtschaft und der Kolonialismus

225

Winter 1884/85 international bestätigt worden. Dort vertrat Bismarck sein Konzept der Chartergesellschaften für die deutschen „Schutzgebiete" — ein von ihm eigens kreiertes Wort, um nicht von „Kolonien" sprechen zu müssen. Dieses kolonialpolitische Programm eines freihändlerischen, kommerziellen Expansionismus, das Bismarck bis zu seinem Rücktritt 1890 vertrat, erwies sich allerdings als Fehlschlag. Hatte die Reichshauptstadt 1884/85 ihre Bedeutung als Konferenzort für das koloniale Konzert und ihre neue Rolle als koloniale Metropole illustriert, so wurde nun Berlin über das Auswärtige Amt und den Reichstag der Ort, an dem alle kolonialpolitischen Entscheidungen fielen. 1890 wurde eine Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt errichtet, aber erst 1907 ein eigenständiges Kolonialamt: Signal einer entschiedeneren Kolonialpolitik, die nach der blutigen Niederschlagung der Kolonialaufstände einsetzte. Das Haupthindernis für eine gezielte Kolonialpolitik lag darin, daß der Reichstag sich das Budgetrecht in kolonialen Angelegenheiten erobert hatte und dieses benutzte, um seinen parlamentarischen Handlungsspielraum zu erweitern. So dürfte der Reichstag bei kolonialpolitischen Fragen in besonderem Maße für lobbyistische Einflußnahme empfänglich gewesen sein. Deutlichstes Beispiel ist der nationalliberale Reichstagsabgeordnete aus Hamburg, Adolph Woermann, der den westafrikanischen Handel dominierte und bei der Errichtung der deutschen „Schutzherrschaft" in Kamerun eine große Rolle gespielt hatte. Typischer Fall eines weniger deutlichen Lobbyismus ist die Person des Ethnologen Adolf Bastian. Der Direktor des 1873 gegründeten Berliner Völkerkunde-Museums wußte die Entstehung eines konkurrierenden Kolonial-Museums, an dem die Berliner Wirtschaftskreise durchaus Interesse zeigten, zu verhindern.8 Die wichtigste kolonialpolitische „Pressure-group" stellte seit der Jahrhundertwende das Berliner Kolonialwirtschaftliche Komitee dar, das in enger Zusammenarbeit mit der Deutschen Kolonialgesellschaft eine institutionalisierte finanzielle und personelle Kooperation zwischen Privatwirtschaft und Staat9 bildete.

8

Vgl. Cornelia Essner, Berlins Völkerkundemuseum

gen zum Verhältnis

von Ethnologie

Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch

und Kolonialismus des Landesarchivs

in der Kolonialära. in Deutschland,

Betrachtunin: Berlin in

Berlin 1986, hrsg. von Hans J .

Reichhardt, Berlin 1986, S. 6 5 — 9 4 . ' Karin Hausen, Deutsche Kolonialverwaltung

Kolonialherrschaft

in Kamerun

in Afrika.

Wirtschaftsinteressen

und

vor 1914 (= Beiträge zur Kolonial- und Überseege-

schichte, Bd. 6), Zürich-Freiburg 1970, S. 41.

226

Cornelia

Essner

1907, als Reichskanzler Bülow die Kolonialpolitik zu einem Instrumentarium seiner innenpolitischen Ziele zu machen wußte, begann sich auch das privatwirtschaftliche koloniale Ausbeutungsinteresse zu organisieren. Derartige Vereinigungen, wie zum Beispiel die „Kameruner Pflanzergesellschaften", hatten natürlich ihren Sitz in der KolonialMetropole Berlin. Darüber hinaus hatten sich Einflüsse auf die Gewerbestruktur der Stadt ergeben, die aus einer Art Multiplikatoreffekt der Kolonialverwaltung resultierten: Eine Fülle von Kleinbetrieben entstand, angefangen vom Bekleidungshaus für die Tropen bis hin zur Verlagsbuchhandlung für Kolonialliteratur. Auch die zahlreichen Naturalien- und Kuriositätenhandlungen gehören hier hin, die einem allgemeinen Bedürfnis nach Kolonial-Exotik seit dem „fin de siecle" entsprachen. So war die spezifische Rolle Berlins in der Kolonialwirtschaft, wenn man überhaupt davon sprechen kann, im wesentlichen auf die wirtschaftlichen Folgewirkungen der in der Reichshaüptstadt konzentrierten Kolonialverwaltung begrenzt.

Dritte Sitzung Leitung: Wolfgang Ribbe, Berlin

Berlin als Zentrum des deutschen Nationalstaats LOTHAR

GALL

Frankfurt am Main

In einem bemerkenswerten Vortrag aus Anlaß der Eröffnung der zentralen Ausstellung zur 750-Jahr-Feier Berlins hat der Verleger Wolf Jobst Siedler die Bedeutung der Stadt in erster Linie auf ihre geistige Existenz zurückgeführt, auf die Tatsache, daß sie wiederholt zum Träger eines auf ganz Europa ausstrahlenden geistigen Aufbruchs geworden ist. Nicht als Residenz der Hohenzollern, nicht als Hauptstadt der preußischen Staaten und schließlich des Königreichs Preußen, sondern als Metropole des Geistes habe Berlin im 18. und 19. und bis tief ins 20. Jahrhundert hinein weit über Mitteleuropa hinaus sein spezielles Gesicht und Gewicht erlangt. Zwar habe es auch hier von Seiten des Staates gewichtige Anstöße gegeben, so vor allem durch die Gründung der Akademie der Wissenschaften zu Beginn des 18., der Universität zu Beginn des 19. und der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu Beginn unseres Jahrhunderts. Aber eben doch nur Anstöße. Im Kern habe es sich um eine eigenständige Entwicklung gehandelt, und in diesem Sinne sei auch die Entwicklung der Stadt insgesamt zu verstehen: als die Selbstentfaltung eines von autonomen geistigen Potenzen gesteuerten Organismus. Daran ist sicher viel Bedenkenswertes, gerade auch im Hinblick auf die Gegenwart und Zukunft der Stadt und auf manche, zum Teil sehr künstliche Pläne, ihre Metropolenrolle zu erhalten oder wiederzubeleben. Blickt man freilich auf das Berlin des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, 1 so bedarf die These, wie mir scheint, doch mancher Einschränkungen und Modifikationen. Daß sich das Berlin Allgemein zur Geschichte Berlins jetzt mit ausführlicher Bibliographie Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 1 u. 2, München 1987, hier bes. die Beiträge in (1871—1918), S. 691—793, u. Henning Bd. 2 von Michael Erbe, Berlin im Kaiserreich Köhler, Berlin in der Weimarer Republik (1918—1933), S. 797—923. 1

230

Lothar

Gall

dieser Jahre innerlich und äußerlich grundlegend von dem Berlin um 1700 oder um 1800 unterschied und nun tatsächlich einen hervorragenden Platz unter den Hauptstädten Europas einnahm — wovon hundert oder gar zweihundert Jahre vorher kaum die Rede sein konnte —, war nur zum Teil und begrenzt das Ergebnis eines sich gleichsam aus eigener Kraft vollziehenden Aufstiegs zu einer geistigen Metropole. Entscheidend war vielmehr, daß die Stadt inzwischen zum politischen und zunehmend auch zum wirtschaftlichen Zentrum eines nationalen Staates geworden war, eines Staates, der diese Nation und ihre Kräfte in einem bisher unbekannten Ausmaß mobilisierte und organisierte. Sie war jetzt die deutsche Hauptstadt in einem nicht bloß metaphorischen Sinne, auch wenn die Deutschen der Habsburger Monarchie ausgeschlossen blieben. 2 Das bedeutete zunächst einmal: Berlin war nun der Sitz fast aller zentralen Institutionen des neuen Reiches und zugleich des preußischen Staates, 3 Mittelpunkt eines großen Teils der gesetzgeberischen, exekutiven und mit ihnen vieler strategischer Entscheidungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die allesamt gerade in dieser Zeit an Zahl und Dimension ständig zunahmen. Gleichzeitig war es das Zentrum der auswärtigen Politik der neuen Staatsnation, einer Politik, die nicht

2 Vgl. dazu und zum folgenden Hans Herzfeld, Berlin als Kaiserstadt und Reichshauptstadt 1871—1945, in: Das Hauptstadtproblem in der Geschichte. Festgabe zum 90. Geburtstag Friedrich Meineckes (= Jahrbuch für Geschichte des deutschen Ostens 1 [1952]), Tübingen 1952, S. 141—170; ders., Berlin auf dem Wege zur Weltstadt, in: Richard Dietrich (Hrsg.), Berlin. Zehn Kapitel seiner Geschichte, 2. Aufl., Berlin 1981, S. 239—271; Gerhard Brunn, Die deutsche Einigungsbewegung und der Aufstieg Berlins zur deutschen Hauptstadt, in: Theodor Schieder/Gerhard Brunn (Hrsg.), Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten (= Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 12), München-Wien 1983, S. 15—33; Walter Schmidt, Berlin in der bürgerlichen Umwälzung. Von der feudalen preußischen Residenz zur kapitalistischen Hauptstadt des Deutschen Reiches, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 35 (1987), S. 508—516; Michael Stürmer, Berlin als Hauptstadt des Reiches, Industriemetropole und Finanzplatz, in: Berlin und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft — Lehren und Erkenntnisse, hrsg. von der Industrie- und Handelskammer zu Berlin, Berlin 1987, S. 79—94. Allgemein zum Hauptstadtproblem neben den bereits genannten Sammelbänden auch noch Alfred Wendehorst/Jürgen Schneider (Hrsg.), Hauptstädte. Entstehung, Struktur und Funktion. Referate des 3. interdisziplinären Colloquiums des Zentralinstituts (= Schriften des Zentralinstituts für Fränkische Landeskunde und Allgemeine Regionalforschung an der Universität Erlangen, Bd. 18), Neustadt a. d. Aisch 1979. 3 Nur das Reichsgericht, das seinen Platz nicht in Berlin, sondern in Leipzig erhielt, machte bekanntlich eine Ausnahme.

Berlin als Zentrum des deutschen

Nationalstaats

231

zuletzt in wirtschaftlicher Hinsicht von ständig wachsender Bedeutung war, nicht mehr als traditionelle Machtpolitik eines monarchischen Staates verstanden und geführt werden konnte. Diese Zentrierung eines bisher in Mitteleuropa in jahrhundertealter Tradition auf viele Orte verteilten Entscheidungsprozesses 4 hatte weitreichende Konsequenzen. Alle diejenigen, die von diesem Prozeß jeweils unmittelbar betroffen waren und ihn demgemäß zu beeinflussen strebten, errichteten binnen kurzem Agenturen in der neuen Hauptstadt, wenn sie nicht schon bald ihre jeweiligen Zentralen dorthin verlegten: die großen Wirtschaftsunternehmen und ihre sich seit den siebziger Jahren auf breiter Front bildenden Verbände, die Banken, 5 die sich gleichfalls in jenen Jahren formierenden speziellen Interessenvertreter einzelner sozialer Gruppen und bestimmter Berufe und Berufszweige und selbstverständlich auch die, zumindest hinsichtlich der Gesetzgebung, unmittelbar an jenem Entscheidungsprozeß beteiligten Parteien. Mit all dem aber zentrierte und konzentrierte sich auch das gesamte Informationswesen, also Nachrichtenagenturen, Presse und Publizistik, zunehmend auf Berlin. Dies aber hatte die weitere Folge, daß es alle, die die nationale Öffentlichkeit suchten, nach Berlin zog, und zwar schon bald weit über Politik und Wirtschaftsleben hinaus. Hier versammelten sich in wachsendem Maße alle meinungsbildenden Kräfte der Nation, hier entstand zugleich ein breites Publikum für alle Bereiche der Kultur. So wurde hier denn auch mehr und mehr über Aufstieg und Erfolg in Theater und Literatur, in Architektur, Musik und Bildender Kunst — die freilich neben Wien weiterhin sehr stark auch ihre regionalen Zentren behielten — und nicht zuletzt in der Wissenschaft entschieden. Eine gewaltige und ständig wachsende Sogwirkung ging von dieser Entwicklung aus. Menschen und Kapital, Erfindungskraft und Talent strömten in die neue Metropole und ließen sie in wenigen Jahrzehnten

4

Vgl. dazu Karl O t m a r Freiherr von Aretin, Das Reich ohne Hauptstadt? Die Multi-

zentralität

der Hauptstadtfunktionen

(Hrsg.), Hauptstädte deutsche Hauptstadtin: kertages. Frankfurt

im Reich bis 1806,

in: T h . Schieder/G. Brunn

... (wie Anm. 2), S. 5 — 1 3 ; siehe auch L o t h a r Gali, Frankfurt Dieter Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen

als

Rechtshistori-

a. M., 22. bis 26. September 1986, Frankfurt/Main 1987, S. 1—18, hier

S. 11. 5

Vgl. dazu im einzelnen Erich Achterberg, Berliner Hochfinanz.

Millionäre um 1900, Frankfurt/Main 1965.

Kaiser,

Fürsten,

232

Lothar Gall

förmlich explodieren. R u n d 8 2 6 0 0 0 Einwohner zählte die Stadt im J a h r der Reichsgründung, bereits 1877 überschritt sie die Millionen-, 1905 die Zweimillionengrenze. N o c h dramatischer war die Entwicklung im unmittelbaren Umfeld der S tadt, in jenen Gebieten, die von 1920 an zu Groß-Berlin gehören sollten, das 1930 über 4,3 Millionen Einwohner zählte. H i e r lebten 1871 105 000 Menschen und vierzig Jahre später, 1910, in oft erbärmlichen Behausungen 1,7 Millionen. 6 Die Zahl der „gewerblichen Niederlassungen" stieg von rund 9 0 0 0 0 im Jahre 1875 auf nahezu 300 000 fünfzig Jahre später, 7 die Zahl der Großbetriebe mit über 50 Arbeitern erreichte nach der Jahrhundertwende annähernd 2000, 1928 über 3300. 8 16 Tageszeitungen im Jahre 1870 standen ein Menschenalter später 38 gegenüber. 9 Sie waren am Vorabend des Ersten Weltkrieges auf 90 angewachsen 10 und erreichten 1928 schließlich 1 4 7 . " Die Zahl der T h e a t e r schnellte von sechs in den Jahren nach der Reichsgründung auf 59 im Jahre 1914 empor, 1 2 1927 gab es in der Hauptstadt nicht weniger als 35 000 Theaterplätze. 1 3 Die Anzahl der Studenten der Friedrich-Wilhelms-Universität vervierfachte sich bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges, von 2208 im Sommersemester

6 Reinhard Rürup, Berlin — Umrisse der Stadtgeschichte, in: Gottfried Korff/Reinhard Rürup (Hrsg.), Berlin, Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt, Berlin 1987, S. 27—54, hier S. 39. Die Zahlen im einzelnen bei Ingrid Thienel, Verstädterung, städtische Infrastruktur und Stadtplanung. Berlin zwischen 1850 und 1914, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 4 (1977), S. 55—84. 7 Statistik des Deutschen Reichs, 1. Reihe, Bd. 34; Zählung vom 1. 12. 1875; N F Bd. 415: Zählung vom 16. 6. 1925. 8 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 32 (1913), sowie Statistisches Taschenbuch der Stadt Berlin 6 (1930). 9 Gustav Dahms (Hrsg.), Das literarische Berlin. Illustriertes Handbuch der Presse in der Reichshauptstadt, Berlin o. J . [1895]. Allgemein Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, 2. Aufl., Frankfurt/ Main-Berlin-Wien 1982. 10 Einschließlich der in Berlin gedruckten ausländischen und fremdsprachlichen Zeitungen waren es mehr als 120: Gerhard Muser, Statistische Untersuchungen über die Zeitungen Deutschlands 1885—1914 (= Abhandlungen aus dem Institut für Zeitungskunde an der Universität Leipzig, Bd. 1, H. 1), Leipzig 1918, S. lOff. 11 Artikel „Presse", in: Walter Krumholz u.a., Berlin-ABC, hrsg. im Auftrag des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 505—510. 12 Vgl. Almanach der Genossenschaft deutscher Bühnen-Angehöriger 1 (1873) bis 15 (1887); Gettke's Bühnen-Almanach 1888—1889; Neuer Theater-Almanach 1 (1890) bis 25 (1914); von da an Deutsches Bühnen-Jahrbuch 26 (1915) ff. 15

H . Köhler, Berlin ... (wie Anm. 1), S. 852.

Berlin als Zentrum des deutseben Nationalstaats

233

1871 auf 9059 im Wintersemester 1913/14, 14 die Zahl der Professoren und Dozenten wuchs im gleichen Zeitraum von 180 auf 521. 15 Uberall bot sich dabei in den verschiedenen Bereichen eine Fülle von Chancen, von Aufstiegsmöglichkeiten, von Erfolgsperspektiven. Neben den Hoffnungen freilich, die sich erfüllten, standen auf allen Ebenen die Enttäuschungen, die Niederlagen, die Katastrophen, das gleichfalls ständig wachsende Heer der Unterlegenen, der Gescheiterten, der Zerbrochenen, sprich die düstere Gegenwelt zu dem Glanz, zu der Erfolgsgeschichte der Metropole, die Talente und menschliche Energien mit beispiellosem Heißhunger fraß, um sie ebenso rasch zu verdauen, kleinzumahlen und wieder auszuspucken,16 Was sich hier nach 1871, nach der Reichsgründung, in der verspäteten Metropole17 abspielte, war in aller bisherigen Geschichte fast ohne Beispiel. Die meisten anderen Hauptstädte Europas waren in ganz anderen Zeiträumen gewachsen. Im Falle Berlins aber verbanden sich, einander jeweils verstärkend, drei Faktoren zeitlich auf das engste: ein bisher unbekanntes Bevölkerungswachstum im Lande insgesamt, der nun auf breiter Front voranschreitende Prozeß der Industrialisierung und Urbanisierung — der Berlin bereits vor 1871 zur größten deutschen Industriestadt werden ließ, mit Schwerpunkten zunächst in der Bekleidungsindustrie und im Metall- und Maschinenbau — und die Etablierung und der Ausbau der politischen Metropole eines neuen Großstaates. Die Entwicklung, die damit in Gang kam, überrollte schon bald alle Versuche der Planung, der Steuerung. Sie erwies sich stets aufs neue als dramatischer, als spontaner, als unberechenbarer, als man vorsichtshalber bereits in Rechnung gestellt hatte. Daraus resultierte, neben aller Faszination, die dieser gewaltige und scheinbar ganz selbstläufige Prozeß ausstrahlte, ein ständig wachsendes Gefühl der Hilflosigkeit, der Eindruck einer für die moderne Welt charakteristischen Verbindung von Teilrationalität und abgrundtiefer Irrationalität des Ganzen,

14 Nach der preußischen Statistik der Landesuniversitäten für die einzelnen Studienjahre bzw. dem Statistischen Jahrbuch für die Stadt Berlin. 15 Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1—4, Halle a.d. Saale 1910—1918, hier Bd. 3, Halle 1910, S. 490ff., bzw. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 34 (1920), S. 703. 16 Carl Zuckmayer, Als wär's ein Stück von mir. Hören der Freundschaft, Frankfurt/ Main 1966, S. 311. 17 René König, Leben im Widerspruch. Versuch einer intellektuellen Autobiographie, München-Wien 1980, S. 63, zitiert nach G. Brunn, Deutsche Einigungsbewegung ... (wie Anm. 2), S. 24.

234

Lothar Gall

die mit der Grundeinschätzung des Vorgangs auch die Interpretationen entscheidend bestimmt haben, und dies nicht nur unter den Zeitgenossen, sondern vielfach bis heute. Aber trifft eine solche Interpretation die Wirklichkeit? Handelte es sich in der T a t und nicht nur von außen her betrachtet in wesentlichen Elementen um einen gleichsam naturwüchsigen und spontanen Prozeß? Mir scheint, das Gegenteil ist der Fall. D e r unübersehbaren Irrationalität mancher Entwicklung im einzelnen stand, betrachtet man es näher, eine weitgehende Rationalität des Prozesses insgesamt gegenüber. Dieser war und blieb, wie Bismarck es schon 1866 bei seiner Entscheidung für das von ihm an sich wenig geschätzte Berlin als Sitz aller Zentralbehörden nüchtern vorausgesetzt hatte, 1 8 eindeutig machtgesteuert oder besser gesagt machtorientiert. E r wurde an der Spitze bestimmt von dem W u n s c h nach Anteil an der sich immer mehr ausprägenden und zentralisierenden, immer weitere Bereiche erfassenden staatlichen Macht beziehungsweise nach Teilhabe am Entscheidungsprozeß, und er wurde an der Basis bestimmt von den Folgen, von den Chancen, die sich von hier aus für das berufliche Leben weiter Kreise eröffneten. M i t anderen W o r t e n : Fast jede Standortentscheidung mit all ihren von Fall zu Fall oft sehr weitreichenden Konsequenzen war im Falle Berlins direkt oder indirekt politisch bestimmt oder motiviert, war orientiert an der politischen Hauptstadtfunktion und dem, was sich daraus für die Struktur des Landes, nicht zuletzt in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht, ergab. Damit aber entstand, von der Seite der Politik und des Staates her betrachtet, in einem durch eine Fülle von Einzelentscheidungen gesteuerten, aber stets machtorientierten Prozeß zugleich ein Grundmodell für die Durchformung, die Durchorganisation der Gesellschaft. U n d dieses Modell ließ sich, wie sich dann im weiteren zeigte, schließlich in einem einzigen, den bisherigen Tendenzen konsequent folgenden Zentralisierungsakt auf das ganze Land übertragen — und das bekanntlich nicht nur im Falle Berlins: Alle totalitären Bewegungen unseres Jahrhunderts, von derjenigen Lenins über die Mussolinis bis zu der Hitlers und Francos, haben bezeichnenderweise mit der Eroberung der Hauptstadt das Spiel gewonnen. 18 Vgl. Otto Becker, Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung, Heidelberg 1958, S. 158. Preußen könne nur der die Entwicklung beherrschende Kern bleiben, so hat er

seine darauf gestützten machtpolitischen Motive und Perspektiven umschrieben, wenn

Berlin Hauptstadt werde: Denkwürdigkeiten des Generals und Admirals Albrecht von Stosch, ersten Chefs der Admiralität. Briefe und Tagebuchblätter, hrsg. von Ulrich von Stosch, Stuttgart-Leipzig 1904, S. 105 f.

Berlin als Zentrum

des deutschen

Nationalstaats

235

Das heißt nicht, daß diese Hauptstädte per se illiberal und freiheitsfeindlich gewesen seien. Das Gegenteil ist der Fall, eine gewisse Oppositionshaltung der hauptstädtischen Bevölkerung fast durchgängig die Regel; Bismarck sprach immer wieder voller Erbitterung von dem „Fortschrittsring", der die Stadt beherrsche. 19 Aber in ihrer Struktur, in der Machtorientiertheit eines großen Teils ihrer führenden sozialen Gruppen und in den Chancen, die hieran für weite Kreise geknüpft waren, steckte sozusagen ein Mechanismus, den jeder, der, mit welchen Mitteln auch immer, die Macht gewann, erfolgreich nutzen konnte: J e eindeutiger — man könnte auch sagen, je brutaler — er die Bedingungen formulierte, desto erfolgreicher war er. In diesem Sinne ist Berlin ein entscheidendes objektives Verbindungsglied zwischen 1871 und 1933, zwischen der Bismarckschen Reichsgründung und der Hitlerschen Machtergreifung, geworden. Objektiv meint dabei die Bedingungen, die, jenseits von individueller Schuld und Verantwortung, in den Grundtendenzen des historischen Prozesses lagen. Eine dieser Grundtendenzen war die fortschreitende Konzentration und Ausdehnung staatlicher Macht. Sie vollzog sich in den unterschiedlichsten Formen, stützte sich auf sehr verschiedenartige Begründungen, benützte in sich sehr heterogene Ansprüche und Erwartungen der jeweiligen Gesellschaft. Als solche aber war — und ist — sie sehr eindeutig, und eindeutig waren auch ihre Ergebnisse. Zu ihnen zählte regelmäßig die Errichtung und der immer weitläufigere und intensivere Ausbau einer Hauptstadt, wobei sich der Staat freilich im einzelnen sehr weitgehend auf die skizzierten Zentrierungskräfte verlassen konnte. Die Hauptstadt war also eine entscheidende Agentur für die Konzentration und Ausdehnung seiner Macht, und alle Versuche, die Hauptstadtfunktionen aufzuteilen etwa in der Art, wie dies sich im Alten Reich zwischen Aachen und Frankfurt, Wien und Regensburg, Wetzlar und Nürnberg historisch ergeben hatte, trafen und treffen üblicherweise auf den entschiedenen Widerstand all jener, die an "

Dem „Fortschritt" auf der kommunalen entsprach die Sozialdemokratie auf der

Ebene des Reiches: Bei den Stichwahlen der sechs Berliner Reichstagswahlkreise hatte die Sozialdemokratie unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts bereits 1878 52,6 % erreicht und erzielte, nach starken Schwankungen vor allem in den 80er Jahren, 1912 nicht weniger als 75,3 %: Gerhard Albert Ritter/Merith Niehuss,

Wahlgeschichtli-

ches Arbeitsbuch.

(= Statistische

Materialien

zur Statistik des Kaiserreichs

1871—1918

Arbeitsbücher zur neueren deutschen Geschichte), München 1980, S. 69. Für die Zeit der Weimarer Republik siehe H . Köhler, Berlin ... (wie Anm. 1); bes. charakteristisch die Wahl des Reichspräsidenten 1925, vgl. a. a. O., S. 847 ff.

236

Lothar Gall

jener Konzentration und Ausdehnung interessiert sind, so sehr sie sich ansonsten in ihrer politischen Zielrichtung unterscheiden mögen. So versteht es sich fast von selbst, daß der Staat, welche politische Couleur er auch jeweils haben mochte, stets bestrebt war, seine Hauptstadt politisch zu mediatisieren. Das gilt für Wien ebenso wie für Rom, für Paris ebenso wie für London, auch wenn der Erfolg jeweils sehr unterschiedlich war. Einer der ersten Schritte der Revolutionäre von 1789 bestand darin, Paris von der Vormundschaft des bourbonischen Staates zu befreien und eine revolutionäre Stadtverwaltung zu errichten — und einer der ersten der Jakobiner, diese wieder gleichzuschalten. Dem wilhelminischen Staat ist eine solche Mediatisierung Berlins nicht gelungen, von einer Gleichschaltung ganz zu schweigen: sicher kein Ausdruck seiner Stärke, eher ein zusätzliches Indiz dafür, wie sehr er gegen entscheidende Tendenzen seiner Zeit stand. Aber wenn auch die Berliner mehrheitlich oppositionell wählten, Berlin auch eine Metropole der Opposition (M. Erbe) war und die Berliner Stadtverwaltung mit ihren linksliberalen Oberbürgermeistern, den Seydel, Hobrecht und Forckenbeck, an der Spitze sich über weite Strecken bewußt als Gegengewicht gegen den Hof und die Regierung, die preußische wie die Reichsregierung, verstand, so darf das noch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Stadt von ihnen sehr weitgehend abhängig war und diese Abhängigkeit sich laufend verstärkte. In den führenden Kreisen der Berliner Wirtschaft, in Universität und Akademie, in großen Teilen der Presse, bei den Vertretern der einflußreichen Verbände hatte das wilhelminische System denn auch, bei mancher Kritik im einzelnen, durchaus feste Stützen 20 — der Physiologe Emil Du Bois Reymond, Rektor der Universität im Reichsgründungsjahr, sprach nicht ohne Grund von Akademie und Universität als geistigem Leibregiment der Hohenzollern. Das, was man die wilhelminische Gesellschaft nennt, war vor allem in der Gesellschaft der Reichshauptstadt 21 verkörpert, in ihrem — oft parvenuhaften — Lebensstil und ihren Grundvorstellungen, ihren Uberzeugungen und ihren Vor-

20

U m den Kern, die Schicht des ländlichen, militärischen und bürokratischen

Adels, so

die Beschreibung Walther Rathenaus aus intimer Kenntnis der Verhältnisse, lagerte sich das plutokratische Bürgertum, gen, für

alles einzutreten:

Einlaß fordernd

um jeden Preis und bereit, alles zu verteidi-

zitiert nach H . Herzfeld, Berlin als Kaiserstadt...

(wie

Anm. 2), S. 148. 21

Vgl. dazu im einzelnen auch Walther Kiaulehn, Berlin. Schicksal einer

München-Berlin 1958, hier bes. S. 111 ff.

Weltstadt.

Berlin als Zentrum

des deutschen

Nationalstaats

237

urteilen, nicht zuletzt in dem von ihr mehrheitlich bevorzugten Baustil mit seinem Tamtam der Gipsorgien und Stucktrompeten und seinen entsetzlichen Frühgeburten polytechnischer Bierphantasien, wie Walther Rathenau höhnte. 22 Das gilt, unter ganz anderen Vorzeichen, auch für die Gesellschaft der Republik von Weimar, für ihre tiefe politische und soziale Zerissenheit, für ihre Neigung zur Flucht in die — vorwärts- und rückwärtsgewandte — Utopie. Auch hier spiegelte Berlin, stärker als jede andere Stadt des Reiches, die vorherrschenden Tendenzen der Zeit wider, nicht zuletzt jener Kultur der, wie Peter Gay es genannt hat, outsider as insider,23 Die Stadt zog damit über ihre Attraktion als politisches und als wirtschaftliches Zentrum hinaus diejenigen an, die, wie auch immer sie sie im einzelnen interpretieren mochten, auf den Fortschritt, auf die Moderne, auf die Zukunft setzten — und damit zugleich auch programmatisch auf Abkehr von der Vergangenheit, von der Tradition, auf Bewegung und Veränderung.24 Eine ungeheure Beschleunigung aller Entwicklung und damit des Lebens selber, das war der Eindruck, der sich schon vor 1900, vor allem aber dann in den zwanziger Jahren, dem Besucher aufdrängte, ein Eindruck, den er je nachdem als Faszination oder als tödliche Bedrohung aller Ordnung, als Entwurzelung aller individuellen und gesellschaftlichen Existenzformen empfand. Hier entstand nun auch in Mitteleuropa der — positiv oder negativ besetzte — Hauptstadtmythos, wie ihn England oder Frankreich seit Jahrhunderten kannten, die Vorstellung, daß das eigentliche Leben hier stattfinde und der Rest des Landes nur ein abgeleitetes und von der Zentrale überformtes und denaturiertes Dasein führe.25 Wie — ohne sonstigen Vergleich — Paris Frankreich war, so hatte Rudolf Mosse schon im Dezember 1871 in der Probenummer des

Zitiert nach G. Korff/R. Rürup, Berlin, Berlin ... (wie Anm. 6), S. 259. Peter Gay, Weimar Culture. The Outsider as Insider, New York 1968. 24 Dem entsprach auch das spezielle Interesse an Amerika und seinem Lebensstil, das für das Berlin der 20er Jahre charakteristisch war: H. Köhler, Berlin ... (wie Anm. 1), S. 880 ff. Zu Berlin als Hauptstadt in der Weimarer Republik vgl. auch Otto Büsch/ Wolfgang Haus, Berlin als Hauptstadt der Weimarer Republik 1919—1933. Mit einem statistischen Anhang zur Wahl- und Sozialstatistik des demokratischen Berlin 1919— 1933, hrsg. von der Arbeitsgruppe Berliner Demokratie am Fachbereich Geschichtswissenschaften der FU Berlin (= Berliner Demokratie, Bd. 1) (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 70/1), Berlin-New York 1987. 22 23

25 Zum Verhältnis von Anspruch und Realität im Bereich der Kultur vor allem Walter Laqueur, Weimar. A Cultural History 1918—1933, London 1974.

238

Lothar Gall

„Berliner Tagblatt" prophezeit, 50 will und wird Berlin Deutschland und die Großstadt Weltstadt werden.26 Wenn in der Umgangssprache Land und Hauptstadt zunehmend miteinander identifiziert wurden, so schien das weit über den Bereich der Politik hinaus mehr und mehr in der Sache seine Begründung zu finden: Die Provinz zählte nicht oder nur in dumpfem Protest — und auch er hatte zumeist seinen Ort zugleich in der Hauptstadt selber. Dieser Prozeß der Mediatisierung des Landes durch seine Hauptstadt hat im Falle Berlins in den zwanziger Jahren fraglos einen Höhepunkt erreicht. Er war freilich, was die Hauptstadt selber anging, nicht mit Uniformität, sondern mit Vielfalt, mit einer geradezu erschreckenden und verwirrenden Vielfalt verbunden. Sie erst vermittelte den Eindruck einer unerschöpflichen Lebendigkeit, einer alles durchdringenden Vitalität. Aber auch hier sollte man sich nicht täuschen lassen. Der Kern war und blieb das politische und wirtschaftliche Machtzentrum, und der Berliner Gauleiter der NSDAP seit 1926, der nachmalige Minister für Volksaufklärung und Propaganda, hat es nach der Machtergreifung noch jahrelang meisterhaft verstanden, den Schleier kultureller Vielfalt, der Pluralität der Lebensformen zumindest für den inund ausländischen Besucher optisch zu erhalten, zu erhalten in einer Zeit, in der sich eben von Berlin aus die brutale Uniformierung allen Lebens der Nation bereits weitgehend durchgesetzt hatte. Und gerade die Macht- und Erfolgsorientierung, die ein Signum der Hauptstadt war, hat ihm, der in dieser Hinsicht ebenso kühl wie erfolgreich zu kalkulieren verstand, dabei die besten Dienste geleistet. Nicht der Geist, so läßt das noch einmal ganz deutlich werden, formt die moderne Metropole, formte auch und vor allem die Hauptstadt Berlin, sondern die Macht — und der Verlust der Macht läßt sie unvermeidlicherweise verfallen. Was bleibt, ist dann bestenfalls eine Hauptstadt im Wartestand, eine Hauptstadt der Erwartungen — oder auch der Illusionen.

26

Zitiert nach P. de Mendelssohn, Zeitungsstadt

Berlin ... (wie Anm. 9), S. 99.

Berlin im Spiegel britischer diplomatischer Berichte und Erinnerungen FRANCIS

L.

CARSTEN

London

Die außerordentlich umfangreichen Berichte der britischen Botschafter und des Botschaftspersonals aus Berlin in den zwanziger und dreißiger Jahren befassen sich ausschließlich mit politischen und wirtschaftlichen Fragen; über Berliner Kunst oder Theater ist nichts in ihnen zu finden, und auch Beschreibungen der Stadt oder der allgemeinen Atmosphäre fehlen in diesen amtlichen Dokumenten. Näher kommt dem das persönliche Tagebuch der Lady D'Abernon, der Frau des langjährigen britischen Botschafters, das uns gelegentlich über allgemeinere Vorgänge in Berlin unterrichtet. So heißt es im Oktober 1920: Berlin besitzt nicht den Charme und die Romantik von Städten, die sich langsam im Verlauf von Jahrhunderten entwickelt haben. Es besitzt keine engen Straßen, keine verschiedenen Niveaus, keine winkeligen Passagen, keine überraschenden Höfe und Winkel. A uf der Plusseite besitzt es unzählige, riesige Marmorstatuen, die meisten von sehr schlechter Qualität. Die Architektur hat keine bestimmte Tendenz oder besonderen Charakter ... Die meisten öffentlichen Gebäude sind nicht sehr groß und nicht besonders auffallend, mit Ausnahme von einigen aus dem 18. Jahrhundert, die von französischen Architekten — von Friedrich dem Großen nach Berlin gelockt — gebaut wurden. Dazu gehören das Charlottenburger Schloß, das Zeughaus und das Auswärtige Amt. Das Brandenburger Tor stammt aus späterer Zeit, aber an einem Herbstabend gegen die untergehende Sonne gesehen, ist sein dunkler, drohender Umriß eindrucksvoll und nicht unschön, während der Tiergarten, obgleich ganz flach, voll von Charme ist..Und um die gleiche Zeit schrieb sie nach 1

Viscountess d'Abernon, Red Cross and Berlin Embassy 1915—1926. Extracts from

240

Francis L. Carsten

einem Besuch in einem Berliner Arbeiterviertel: Vor allem gibt es hier keine wirklichen Slums. Die Häuser sind meist moderne Gebäude, gut gebaut, sanitär und offen, sie haben keine dunklen, krummen Gänge, keine sich windenden Treppen, keine Hinterhöfe [!] und keine unterirdischen Keller — und vor allem fehlen der Nebel, der Rauch und die Dunkelheit, die monatelang über den Slums unserer Großstädte hängen ... Alle Arbeiterwohnungen werden regelmäßig inspiziert, und durch ein System von Geldstrafen werden sie in relativ sauberem und sanitärem Zustand erhalten .. .2 Bis zu den Hinterhöfen und Kellern war Lady D'Abernon auf ihrer Besichtigungsreise in einem Berliner Armenviertel offenbar nicht vorgedrungen. Aber im Prinzip hatte sie recht: Auch nach meiner Erinnerung gab es in Berlin keine wirklichen Slums wie in London oder Glasgow. Aus der gleichen Zeit jener Nachkriegs- und Inflationsjahre nach dem revolutionären Umsturz vom November 1918 gibt es eine Reihe interessanter Berichte über die sozialen Zustände in Berlin. Im April 1919 berichtete ein britischer Offizier nach seiner Rückkehr aus Berlin: Unter den ärmeren Klassen, vor allem den kleineren Geschäftsleuten und unteren Beamten, deren Einkommen und Gehälter nicht gestiegen sind, gibt es ein Gefühl apathischer Verzweiflung. Die ärmeren Schichten Berlins hungern buchstäblich; sie haben zur Zeit keine Hoffnung auf eine Besserung der Lebensmittel- oder Arbeitsmarktlage, abgesehen davon, was ihnen die bolschewistische Propaganda verspricht, der durch Verteilung gefälschter Geldscheine nachgeholfen wird ... Die allgemeine Meinung ist: „Schlimmer, als es schon ist, kann es nicht werden, und jeder Wechsel kann nur ein Wechsel zum besseren sein" .. .3 Ein anderer britischer Offizier schrieb im Februar 1920: Berlin scheint auf das Niveau einer größeren Provinzstadt herabgesunken zu sein. Pferde sieht man nur selten, und sie sind unterernährt. Autos, Lastwagen und Taxis haben Seltenheitswert und sind in schlechtem Zustand ... Mit Ausnahme einiger besserer Gegenden sehen die Straßen aus, als ob sie seit Wochen nicht gereinigt worden sind, und die Häuser sind seit Jahren weder angestrichen noch repariert worden. In den Geschäften gibt es mit wenigen Ausnahmen weder Waren noch Käufer; und die Preise — 3000 Mark für einen A nzug, 300 Mark für ein Paar Schuhe — beweisen nur zu the Diaries of Viscountess d'Abernon, London 1946, S. 69 f. (Alle Ubersetzungen der Zitate aus dem Englischen in diesem Beitrag stammen vom Verfasser.) 2 A. a. O., S. 76. 3 Public Record Office (im folgenden P. R. O. zitiert), Cab. 24, Band 77.

Berlin im Spiegel britischer diplomatischer Berichte

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deutlich die Schwierigkeiten, mit denen die wenigen Wohlhabenden zu kämpfen haben. Ein Taxifahrer erklärte, er verdiene nur 150 Mark im Monat, trüge noch immer seine Vorkriegskleider und -schuhe und wisse nicht, wie er sie ersetzen könne, wenn sie einmal in noch schlechterer Verfassung seien als im Augenblick .. . 4 Und Lady D'Abernon notierte im November 1920: Einige der Härtefälle, die ich sah, glichen denen, die man überall antrifft. Andere waren pathetischer, typisch für das Berlin von heute. Menschen, die vor dem Krieg zu den anständigen und besseren Mittelschichten gehörten, sind ohne eigene Schuld in eine Unterschicht herabgesunken .. . 5 In einem anderen Bericht heißt es: Die Preise steigen täglich, und die A rmen sind außerstande, auch nur das Allernötigste zum Leben zu erhalten. Die Mittelschichten verkaufen ihre Möbel und sind bei ihrem letzten A nzug angelangt, den sie bei den jetzigen Preisen unmöglich ersetzen können, und Unterwäsche sei in den Berliner Bezirken, in denen die Quäker arbeiteten, fast unbekannt.6 Diese Berichte stammen aus dem Jahre 1920, und natürlich verschlimmerte sich die Lage während der Inflationsjahre weiter. Im Mai 1922 schrieb eine Frau, die Hilfsarbeit unter den Berliner Studenten leistete: Für mich war es ein wirklicher Schock zu sehen, wie die Mittelschichten leben, was es an fürchterlicher Armut hinter verschlossenen Türen gibt. In gut möbilierten Wohnungen sieht man Stühle ohne Leder, das man für Schuhe verwendet hat, Gardinen ohne Futter, das für Kinderkleider herhalten mußte, und eine Studentin, die zum Glück noch ein oder zwei Nachthemden besaß, hat sie zerschnitten, um Hemdchen daraus zu nähen und die übriggebliebenen Stücke zu Taschentüchern zu machen. Solche Dinge sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Ich kenne Familien, die vor dem Krieg zwei Dienstboten hatten und jetzt die Hausarbeit selbst tun, statt des Abendessens einfaches Graubrot und schwachen Tee ohne Milch oder Zucker zu sich nehmen und nur einmal die Woche Fleisch essen ...7 Um noch einmal Lady D'Abernon zu zitieren, so schrieb sie über die andere Seite des Berliner Lebens Anfang der zwanziger Jahre: Die Hotels sind voll von „Schiebern"; sie essen, trinken und leben wie die

4 Documents on British Foreign Policy 1919—1939, hrsg. von Ernest Llewellyn Woodward u. Rohan Butler, Ser. 1, Bd. 9: German Affairs. 1920, hrsg. von Rohan Butler u. John Patrick Tuer Bury, London 1960, S. 91. 5 6 7

Viscountess d'Abernon, Red Cross and Berlin Embassy... P . R . O . , F O 371, Bd. 3780. P . R . O . , F O 371, Bd. 7514.

(wie Anm. 1), S. 76.

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Kampfhähne. Ihre Frauen tragen Pelzmäntel und auf ihnen Perlen und andere Juwelen, und die Wirkung wird noch verstärkt durch die überraschende Zugabe von hohen gelben Stiefeln. Die „ Schieber" sind die Säulen, auf denen die Tanzpaläste und andere, anrüchigere Lokale ruhen. Und auf dem Höhepunkt der Inflation, im Oktober 1923: Manchmal erblickt man auf der Straße und noch öfter im Tiergarten versteckt hinter Bäumen das erschütternde Bild von Leuten guten Herkommens [gentlefolk], die schüchtern die Hand ausstrecken und um Hilfe bitten; und was mir jetzt auffällt, ist der wirkliche Haß, mit dem die Arbeiter jeden ansehen, der warm angezogen ist, und besonders die, die gute Schuhe oder Stiefel tragen. Vor den Lebensmittelgeschäften stehen lange Schlangen, und ab und zu kommt es zu Unruhen oder Plünderungen, die von der „Grünen Polizei" rasch unterdrückt werden .. .8 Ende 1923 berichtete ein Attaché der britischen Botschaft über die sozialen Hilfsmaßnahmen in Berlin, vor allem über die Volksspeisung: A uf den ersten Blick scheint sie eine rein deutsche Einrichtung zu sein, aber bei näherem Zusehen ergibt sich, daß sie von der Heilsarmee organisiert wird, d. h. schließlich und endlich großenteils mit amerikanischem und englischem Geld. Wie wenig das deutsche Publikum zu diesen wohltätigen Einrichtungen beiträgt, läßt sich daran demonstrieren, daß das „ Berliner Tageblatt" in einem Monat nur die Summe von 15 Billionen Mark gesammelt hat oder etwa 750 Pfund. Das einzige andere Beispiel von Wohltätigkeit der Berliner Wohlhabenden gegenüber ihren unglücklichen Mitbürgern besteht in dem Geschenk von zwei Tonnen Erbsen, die von der Berliner Börse zur Verteilung an bedürftige Arzte gestiftet wurden ... Kurz, man muß den Schluß ziehen, daß von Deutschen fast nichts getan wird, um anderen Deutschen zu helfen .. .9 Kommen wir zum politischen Teil, der natürlich in den Berichten aus Berlin die Hauptrolle spielte. So berichtete ein britischer Agent schon im Dezember 1918: Lage ist jetzt völlig befriedigend. Regierung im Sattel und Unruhen ganz unwahrscheinlich — bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung — dann scheint Neubildung [der Regierung] mit Einschluß von nichtsozialistischen Elementen sicher. Spartakusgruppe in Berlin völlig diskreditiert und machtlos, und das ist der einzige Ort, wo sie nach ihrer eigenen Behauptung über einigen Einfluß verfügt. Ihr Mißerfolg beim Kongreß [der Arbeiter- und Soldatenräte] war vollständig, und ihre Demonstrationen draußen waren ganz leblos und wirkungslos; 8

Viscountess d'Abernon, Red Cross and Berlin Embassy...

9

Bericht vom 2 2 . 1 2 . 1 9 2 3 : P . R . O., F O 371, Bd. 9761.

(wie Anm. 1),S. 7 3 , 1 1 2 .

Berlin im Spiegel britischer diplomatischer

Berichte

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sie wurde offensichtlich von Tag zu Tag schwächer ... Die einmarschierenden Truppen, die außerordentlich gute Diziplin zeigen, sind alle gegen Spartakus trotz Liebknechts Gefolgsleuten [meist Deserteure] und brennen darauf, ihre Waffen zu gebrauchen. Wirtschaftliche Lage ist viel ernster, nicht so sehr, was die Lebensmittel b e t r i f f t , sondern die Rohstoffe und die Schwierigkeiten der Demobilisierung .. . 10 Das wurde teilweise von einem Leutnant bestätigt, der deutscher Kriegsgefangener gewesen war: Die Truppen, vor allem die von der Front heimkehrenden, sind nach meiner Meinung ein Element der Sicherheit und Ordnung. Ihre Einstellung ist im allgemeinen, sie hätten viereinhalb Jahre an der Front gestanden und wünschten keine Kämpfe in der Heimat. Was sie wollen, ist Friede, Ruhe und Ordnung. Sie können allgemein als loyale Stützen der Regierung Ebert-Haase und scharfe Gegner der Spartakusgruppe angesehen werden ... Die Soldatenräte ... arbeiten im allgemeinen ordentlich und tragen zur Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung bei.. .u Ein Vertreter des britischen Roten Kreuzes, Abrahamson, erlebte Anfang Januar 1919 den Spartakusaufstand in der britischen Botschaft in Berlin in der Wilhelmstraße und berichtete darüber: Den Spartakusleuten war klar, daß sie zum Erfolg das Regierungsgebäude in die Hand bekommen müßten, bevor die Regierung von Truppen unterstützt wurde. Gestern [8. Januar] fanden die Kämpfe vor allem in der Wilhelmstraße und am Brandenburger Tor statt. Dazu hatten die Spartakusleute mehrere Bahnhöfe im Besitz und hielten sich im Polizeipräsidium, den Zeitungsgebäuden usw. Sie unternahmen mehrere Angriffe auf das Reichskanzlerpalais, aber sie wurden zurückgeschlagen und erlitten schwere Verluste ... Gestern schien die Regierung zum ersten Mal stark genug, um den Spartakusleuten aktiv entgegentreten zu können, so war ab 2 Uhr nachmittags die Wilhelmstraße frei von Angreifern. Am frühen Morgen Tores im Besitz der Regierung, aber war das Dach des Brandenburger etwa um 11 Uhr nahmen es die Spartakusleute, und spät am Abend wurde es von der Regierung zurückerobert... Ich glaube nicht, daß Spartakus über eine große Zahl von Kämpfern verfügt, alles in allem vielleicht 4—5000 ...n Dazu kamen schon 1919 mehrere Berichte hoher britischer Offiziere, die in Berlin stationiert waren, über ein mögliches Erstarken der Reaktion./ So schrieb Generalleutnant Haking im März: General Ewart 10

" 12

P . R . O . , FO 371, Bd. 3776. Ebda. Ebda.

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berichtet mir, es gebe in Berlin A nzeichen des Wiedererstarkem der Macht der Offiziere, und er glaubt sogar, daß die Offiziersklasse den vorherrschenden Einfluß in der Regierung gewinnen und einen Handstreich zur Wiedererrichtung der Monarchie versuchen könnte; aber selbst wenn ein solcher erfolgreich wäre, würde er sofort zum Ausbruch des Bürgerkriegs führen, weil es zu einem vollständigen Bruch zwischen den einander feindlichen Ideen auf beiden Seiten führen würde .. , n Und im November 1919 hieß es in einem Bericht von Generalmajor Malcolm über den Besuch Hindenburgs in Berlin: Es ist nur natürlich, daß sich Massen ansammelten, um den Mann zu sehen, der Deutschlands größter lebender Held war und ist, und sie hatten natürlich Sympathie für die Ideale, die er verkörpert. Es war ebenso natürlich, daß die Leute riefen: „ Komm zurück als Präsident". „Nieder mit Erzberger und den Juden" und dergleichen. Aber all das bedeutet nicht viel. Die größte Demonstration kann nicht mit den Massen verglichen werden, die Herrn Haases Sarg zwei Stunden lang durch die Berliner Straßen das Geleit gaben .. .H Vom Herbst 1920 an berichtete dann der neuernannte britische Botschafter, Lord D'Abernon, aus Berlin, und sein Tagebuch enthält eine Reihe interessanter Eintragungen. So im Februar 1922: Wir stehen mitten in einer großen Streikwelle — Eisenbahn, Städtische Werke usw. Aber die Berliner fangen an, Streiksachverständige zu werden. Gestern, bevor das Wasser abgeschnitten wurde, war der Wasserverbrauch in der Stadt dreimal so groß wie normalerweise, weil alle Leute ihr Bad und alle nur möglichen Gefäße mit Wasser gefüllt hatten .. . 15 Und vier Monate später, nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau: Hier in Berlin gibt es einen 24stündigen Generalstreik, aber das ist ganz normal. Der gegenwärtige soll eine Demonstration und Warnung an die Rechte sein, daß die A rbeiterklasse keinen monarchistischen Putsch dulden wird. Die allgemeine Stimmung zeigt sich anscheinend in tiefem Abscheu vor dem Mord. Sogar in antisemitischen Kreisen wird Entrüstung gezeigt, wenn auch nicht gefühlt. Die Arbeiterdemonstrationen in den Großstädten waren eindrucksvoll, obgleich die starke Respektabilität und das nüchterne Auftreten der deutschen Arbeiter die Demonstrationen eines dramatischen Charakters berauben .. . 16 Nach den Streiks, die zum 13

P . R . O . , W O 144, Bd. 12.

14

P . R . O . , F O 371, Bd. 3778. Der USPD-Vorsitzende H u g o Haase war am 7. N o -

vember 1919 in Berlin an den Folgen eines Attentats gestorben. 15

Edgar Vincent d' Abernon,

An Ambassador

London 1929—1930, bes. Bd. 1, S. 257. " A. a. O., Bd. 1, London 1929, S. 48 f.

of Peace. D'Abernon

s Diary, Bd. 1—3,

Berlin im Spiegel britischer diplomatischer Berichte

245

Sturz der Regierung Cuno führten, meinte der Botschafter: Die unglückliche Hausfrau ... muß nicht nur Millionen von Mark für ihre Ware bezahlen, die sie früher für ein paar Mark oder höchstens einige Zehner erstehen konnte, sondern sie muß sich auch stundenlang anstellen, um bestimmte Sachen wie Butter zu erhalten. Die Entrüstung, die durch diese Umstände in der Masse der arbeitenden Bevölkerung entstanden ist, hat sehr viel mit dem Sturz der Regierung Cuno zu tun ... Die Leute haben das Gefühl, jemand muß einen schweren Fehler begangen haben, daß solche Zustände eingerissen sind. Die öffentliche Meinung verlangt einen Sündenbock, und Cuno und Havenstein wurden geopfert: in letzterem Fall sicher mit sehr gutem Grund, denn etwas Inkompetenteres zu ersinnen als die Leitung der Reichsbank während der letzten zwei Jahre wäre völlig unmöglich ...17 Anfang 1923 berichtete Lord D'Abernon über eine antifranzösische Demonstration in Berlin: Der Haß auf alles, was mit dem Namen Franzose zusammenhängt, hat ein Ausmaß erreicht, das man nicht übertreiben kann und das nicht kontrollierbar ist, und Hunger und Entbehrung werden den Zündstoff liefern, der eine Explosion unvermeidlich machen kann.ls Schon im Mai 1922 schrieb die bereits erwähnte Frau, die unter den Berliner Studenten Hilfsarbeit leistete: Wenn man hier lebt und unter diesen Leuten arbeitet, glaubt man, auf dem Abhang des Ätna zu leben; man fühlt, es gibt einen Geist, der, wenn er zu sehr provoziert wird, einmal ausbrechen und die Zivilisation verschlingen wird ... Die Tatsache, daß Deutschland noch immer weitgehend als Paria und Ausgestoßener behandelt wird, erzeugt eine immer bitterere und feindlichere Stimmung, die sich unter Alt und Jung ausbreitet, und die Saat der Rache wird ausgestreut, die zu einem furchtbaren Vergeltungskrieg, viel schlimmer als der letzte, führen wird .. .19 Anfang der dreißiger Jahre, als die letzte parlamentarische Reichsregierung durch ein „Präsidialkabinett" abgelöst wurde und die Weltwirtschaftskrise Berlin erfaßte, berichtete die britische Botschaft ausführlich über den Aufstieg der Nationalsozialisten, aber nur selten über örtliche Berliner Vorgänge. Doch verzeichnete Sir Horace Rumbold, der inzwischen den Botschafterposten übernommen hatte, im September 1931:. .. sobald es dunkler wurde, also etwa um halb neun am 12. September, am jüdischen Neujahrstag, wurde der Kurfürstendamm ... von P . R . O . , F 0 371,Bd. 8795. A. a. O., Bd. 8704. 19 A. a. O., Bd. 7514.

17

18

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mehr als tausend Nationalsozialisten in kleinen Gruppen überfallen, die unter lauten Schreien wie „Juda verrecke!" über alle Passanten herfielen, die jüdisch aussahen. Bald war die ganze Straße in Aufruhr, und ungefähr um 9 Uhr stürmte eine Gruppe von etwa 80 „Hitlerjungen" das Kaffee Reimann, das hauptsächlich von Filmstars und Schauspielern frequentiert wird, unter denen sich viele Juden befinden ... Sporadische Versuche zu Gewalttaten gab es bis Mitternacht, aber nach der ersten halben Stunde hatte die Polizei die Lage fest in der Hand. Es fanden etwa 60 Verhaftungen statt, aber über die Hälfte der Verhafteten wurde am folgenden Tag wieder entlassen; 27 sind zu schweren Gefängnisstrafen verurteilt worden .. . 20 Uber die Straßenkämpfe und Zusammenstöße in Berlin vor 1933 wurde in den Botschaftsberichten nur sehr wenig berichtet. Doch im März 1933 gab es wieder eine Reihe von Berichten über nationalsozialistischen Terror in Berlin; etwa den folgenden: Da die Kommunisten untergetaucht sind, kam es zu Repressalien vor allem gegen Sozialdemokraten, Demokraten, Juden und Zentrumsleute. Sogar Dr. Brüning hielt es für geraten, sein Quartier zu wechseln, als er hörte, daß ein ihm ähnlich sehender Mann auf der Straße überfallen wurde ... Es ist durchaus möglich, daß die Gerüchte von Entführungen, Auspeitschungen und anderen persönlichen Heimsuchungen, die hier umgehen, übertrieben sind, aber daß es eine Masse von Ungerechtigkeiten gegeben hat, kann man nicht leugnen ... Die Trupps unverantwortlicher junger Menschen, die Privatleute verhaftet, Juden überfallen, Druckmaschinen zerstört und Rechtsanwälte und Journalisten ausgepeitscht haben, verschwinden jetzt von der Straße, und die dem Recht treu gebliebenen Teile der Bevölkerung haben etwas mehr Vertrauen. Die Abreise so vieler Schriftsteller, Künstler, M usiker und Politiker aus Deutschland hat momentan eine Art Vakuum erzeugt. Denn was auch immer die Fehler der demokratischen Parteien gewesen sein mögen, ihre A nhänger haben das intellektuelle Leben Berlins beherrscht und fast alles erzeugt, was in der Welt von Kunst und Literatur originell und anregend war .. ,21 Drei Wochen später heißt es: Mein polnischer Kollege hat mir eine lange Liste von Fällen von Mißhandlungen polnischer Juden gezeigt, deren Beweismaterial oft durch Photographien ergänzt und bestätigt wird. Zweifellos sind solche Mißhandlungen nicht nur an polnischen, sondern an Juden im allgemeinen verübt worden ... Es ist nur fair zu berichten, daß die Judenverfolgung sogar in Nazikreisen nicht allgemein 20 21

A.a.O., Bd. 15215. A.a.O., Bd. 16719.

Berlin im Spiegel britischer diplomatischer Berichte

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gebilligt wird, während sie in allen anderen Kreisen, mit denen ich oder meine Angestellten in Berührung kommen, scharf verurteilt wird ... Ich bin davon überzeugt, daß ein großer Teil der Bevölkerung diese Auffassung teilt, und in Privatgesprächen haben manche von ihnen kein Geheimnis aus ihrer Scham darüber gemacht, daß ihr Land zu solchen mittelalterlichen Methoden gegriffen habe .. .n Im Gegensatz dazu hatte die britische Botschaft nach der „Reichskristallnacht" nicht über Ablehnung der Zerstörungen unter der Zuschauermenge zu berichten: Ich selbst und Angestellte der Botschaft waren Zeugen der späteren Ausschreitungen in Berlin, die sich bis spät in die Nacht zum 10. [November] ausdehnten ... An ein oder zwei Stellen starrte die Menge in schweigender Neugier auf die Bemühungen der Eigentümer, unter den Trümmern aufzuräumen. Ich habe speziell das Verhalten der Gruppen beobachtet, die den Abteilungen der Plünderer folgten. Ich habe keinen Ausdruck von Scham oder Entrüstung gehört, aber trotz der völligen Passivität der vielen Zuschauer ist mir das blöde Grinsen aufgefallen, das oft unabsichtlich ein schlechtes Gewissen andeutet. Mit der einzigen Ausnahme des Geschäftshauses Israel [das britischer Besitz war] glänzt die Polizei die ganze Zeit durch Abwesenheit, und die Feuerwehr erschien nur, um das Überspringen des Feuers von den brennenden Synagogen und anderen Gebäuden auf arisches Eigentum zu verhindern ... Aber später in dem gleichen Bericht heißt es dann: Ich habe keinen einzigen Deutschen getroffen, gleichgültig zu welcher Klasse er gehört, der nicht in irgendeiner Form seine Ablehnung dessen, was er da gesehen hat, ausgedrückt hätte .. P So kommentierte die Berliner britische Botschaft auch die Vorgänge in der Stadt Berlin, aber mehr am Rande, denn das war natürlich nicht ihre eigentliche Aufgabe. Immerhin ergeben auch die kurzen Auszüge ein anschauliches Bild aus einer sehr bewegten Zeit, in der es in Berlin furchtbare soziale Not, viele Streiks, und politische Gewalttaten gab. Als politisches Zentrum erschien im übrigen den damaligen britischen Diplomaten Paris — und zum Teil Genf — wesentlich wichtiger als Berlin.

A.a. O., Bd. 16720. Documents on British Foreign Policy 1919—1939... 1938/39, London 1950, S. 275 ff. 22

23

(wie Anm. 4), Ser. 3, Bd. 3:

Berlin und der europäische Westen: Der Fall Paris-Berlin DOMINIQUE BOUREL Paris

Wer Berlin hatte, dem gehörte die Welt Carl Zuckmayer

Als man dem französischen Schriftsteller Chateaubriand im Januar 1821 eine Stelle als Botschafter in Berlin anbot, antwortete er lapidar: Ich würde auch zum Teufel gehen.1 Hundert Jahre danach schrieb Joseph Roth: Wer in aller Welt kommt freiwillig nach Berlin? Berlin ist eine Durchgangsstation, in der man nur aus zwingenden Gründen länger verweilt! Auch heute mag es schwer zu begreifen sein, daß gerade eine Stadt, die durch eine Mauer geteilt ist, eine Brückenfunktion ausüben sollte. Ist Berlin also etwas anderes als la ville de la défaite?2 Andererseits ist schon oft auf die Integrationsfähigkeit Berlins hingewiesen worden: Hugenotten, Juden, Katholiken und später viele Verfolgte oder Deklassierte fanden in Berlin Zuflucht. Wenn Berlin politisch die „verspätete Metropole" war, so hatte es sich längst kulturell profiliert und galt als „capitale des sciences et des arts". In Frankreich bestand eine Tradition von Berliner Lehrjahren. 1882 bis 1883 kam Camille Jullian nach Berlin, um Mommsen zu hören. 3 Zwischen Er war ministre de France in Berlin zwischen dem 10. Juni 1820 und dem 19. April 1821. 1

2 Paul Colin, Allemagne 1918—1921, Paris 1923. C'est la ville, jusqu'à maintenant au moins, dont le nom se crie au début et à la fin des guerres, les commence et les achèves ... (März 1945), in: Alexandre Arnoux, Contacts allemands. ]ournal d'un demi-siècle, Paris 1950, S. 297. 3 Uber Jullians zweideutige Haltung Olivier Motte, Camille Jullian, élève de Mommsen à l'université de Berlin, in: Jus Commune 9 (1980), S. 315—453, und ders., Camille

Dominique Bourel

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dem letzteren und Renan existierte eine echte Freundschaft, auch nach 1871.4 Die französischen Gelehrten, die mit Mommsen korrespondierten, bewiesen die Brückenfunktion Berlins und seiner Universität. Übrigens gehörte auch die Deutschland- beziehungsweise Berlinreise, um die Wissenschaftsorganisation zu beobachten, zu einer alten Tradition, wie es die Beispiele von Victor Cousin und Victor Duruy belegen. 5 Auch ist bekannt, daß der französische Dichter Jules Laforgue von Ende 1881 bis September 1886 als Lektor der Kaiserin Augusta in Berlin weilte. 6 Anfang 1894 studierte Célestin Bougie, der Begründer der französischen Soziologie, in Berlin, weil er die Professoren Wagner und Schmoller hören wollte. Vom Echo der französischen Kultur in Berlin war er stark beeindruckt: A Berlin surtout, l'enseignement du français est très développé. Ilyaun lycée fondé par les soins des réfugiés français, dont toutes les hautes classes se font en langue française. Il y a un Verein de conférences françaises. C'est un cercle de professeur qui s'est fait donner par la municipalité de Berlin une subvention de quatre mille mark; il fait faire des conférences aux jeunes français qui viennent étudier à Berlin. Beaucoup de femmes, des o f f i c i e r s , des étudiants y assistent. L'année dernière on a fait des conférences sur Renan, Sully Prud'homme, Musset, Richepin, Ludovic H alévy. J'en ai fait une, cette année, sur Pierre Loti. Il est presque aussi lu que Zola, dont les romans paraissent quelque fois en feuilletons, le jour même qu'en France7 Im Jahre 1904 studierte hier auch einer der wichtigsten Vermittler überhaupt: Im alten Westen Berlins gab es vor fünfzig Jahren die Pension Jullian. Les années de formation Paris I, 1 9 8 4 , S. 2 0 6 — 3 1 2 .

1880—1890,

Thèse, 3 e cycle: Histoire, Université de

4 Die Briefe Renans liegen im Mommsen-Nachlaß, Deutsche Staatsbibliothek, Berlin [Ost], 5 Paul G e r b o d , Voyageurs et touristes français à la découverte de l'Allemagne sous le Second Empire, in: R a y m o n d Poidevin/Heinz O t t o Sieburg (Hrsg.), Aspects des relations franco-allemandes à l'époque du Second Empire 1851—1866. Deutsch-französische Beziehungen im Zeitalter des Second Empire 1851—1866. Actes du Colloque d'Otzenhausen, 5.—8. Octobre 1981 (= Publications du C e n t r e des recherches pour Relations internationales de l'Université de M e t z , No. 14), M e t z 1982, S. 8 7 — 9 5 ; J e a n R o h r , Victor Duruy, ministre de Napoléon III. Essai sur la politique de l'instruction publique au temps

de l'empire libéral (= Bibliothèque constitutionelle et de science politique, N o . 28), Paris 1967. 6

Jean Murât, Un poète français à la cour de Berlin. Jules Laforgue, in: Revue

magne 14 (1982), S. 2 6 7 — 2 7 6 , und James Hiddleston (Hrsg.), Laforgue Paris 1988.

d'Alle-

aujourd'hui,

1 Jean Breton [= Célestin Bouglé], Notes d'un étudiant français en Allemagne, Heidelberg-Berlin-Leipzig-München 1895, S. 86 f.

Paris

Der Fall Paris-Berlin

251

B. ... Die Atmosphäre war international. 1904 traf man dort einen reizenden jungen Franzosen. Er hatte etwas von einem Prinzen aus Tausendundeiner Nacht an sich. Er hiess Charles Du Bos. Er musste sehr gute Empfehlungen haben und bewegte sich in der Finanzaristokratie der Mendelssohns so natürlich wie in den Intellektuellen-Salons vom Westend, die nicht exklusiv waren. Nur mächtiger Zauber öffnete den Zugang zu den Teenachmittagen bei Georg und Gertrud Simmel und zu dem Hause von Reinhold und Sabine Lepsius.8 In Simmeis Seminar war er, gemeinsam mit Margarete Susmann, Martin Buber und Bernhard Groethuysen, ein willkommener Gast. Als Du Bos nach Paris zurückging, war er eine Art Vorposten Berlins, besonders wenn es darum ging, Gäste nach Pontigny einzuladen. 9 Eine ähnliche Position hatte auch der in Berlin geborene Guy de Pourtalès. 10 In den „Goldenen Zwanziger Jahren" gab es keine Stadt, in der das Interesse an Frankreich und eine betonte Frankophilie so stark verwurzelt gewesen sind, wie das im Berliner Westen der Fall war.11 Ich werde einige Franzosèn erwähnen, die vor dem Nationalsozialismus nach Berlin gekommen waren, als man keine zehn Schritte [laufen konnte], ohne jemand zu begegnen, der berühmt war.12 Auf die Franzosen jener Zeit übte Berlin Abscheu und Faszination zugleich aus; man sagte: Benutzt man ein Flugzeug von Paris nach Berlin, dann kommt man innerhalb weniger Stunden vom 19. ins 20. Jahrhundert/" 8

Ernst Robert Curtius, zitiert nach Herbert und Jane Dieckmann (Hrsg.), Deutschfranzösische Gespräche 1920—1950. La correspondance de Ernst Robert Curtius avec André Gide, Charles Du Bos et Valéry Larbaud, Frankfurt/Main 1980, S. 16; Charles Dedeyan, Le cosmopolitisme littéraire de Charles Du Bos, Bd. 1—3, Paris 1965—1971. 9 Eckehard Blattmann, Heinrich Mann und Paul Desjardins. Heinrich Manns Reise nach Pontigny anno 1923 (-Europäische Hochschulschriften, R. 1, Bd. 830), Frankfurt/ Main 1985. Nach 1933 kümmerte er sich um das Schicksal junger Wissenschaftler wie Siegfried Kracauer, Paul Oskar Kristeller u. a. Sein umfangreicher Nachlaß liegt in der Bibliothèque littéraire Jacques Doucet, Paris. 10 Suzanne Aline l'Hôpital, La formation d'un esprit européen au début du XXème siècle. Guy de Pourtalès, Paris 1975, S. 47. 11 Henning Köhler, Berlin in der Weimarer Republik (1918—1932), in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 2, München 1987, S. 797—923, hier S. 880. 12 Elias Canetti, Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921—1931, München 1980, S. 298. Siehe auch Hermann Hagspiel, Verständigungzwischen Deutschland und Frankreich. Die deutsch-französische Außenpolitik der zwanziger Jahre im innenpolitischen Kräftefeld beider Länder (= Pariser Historische Studien, Bd. 24), Bonn 1987; Georges Roche, Rathenau et les relations franco-allemandes. Entre le prophétisme et le pragmatisme, in: Recherches Germaniques 17 (1987), S. 65—84. 13 Lionel Richard, Ténébreuses années trente, in: Magazine littéraire 190 (1982), S. 38—

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Als Anatole de Monzie, der französische Staatsminister für Instruction publique (Bildung), 1925 nach Berlin kam, schrieb der „Montag Morgen" vom 14. September: Der erste Pariser Gast in Berlin, der nicht nach vergrabenen Waffen sucht.14 Er wurde von seinem Amtskollegen Carl Heinrich Becker sehr herzlich empfangen. Mit Pierre de Margerie, dem französischen Botschafter, begegnete er Einstein, Harnack sowie Schmidt-Ott und anderen Prominenten. Der Dekan der Sorbonne, Ferdinand Brunot, gehörte auch zu der Delegation. Diese Begegnung, die noch vor Locarno stattfand, war eine Folge der Verbesserung der Stimmung zwischen Deutschland und Frankreich nach 1923. 1 5 1927 wurde in Frankreich die „Revue d'Allemagne et des pays de langue allemande" gegründet; in Berlin erschien ihre Schwesterrevue, die „Deutsch-französische Rundschau" von Januar 1928 an unter Leitung von O t t o Grautoff. 16 In demselben Jahr kam es zu einem Vertrag zwischen der Stadt Berlin und dem Office National des Universités. 40, hier S. 39, nach Gudrun Klatt, Berlin-Paris bei Walter Benjamin, in: Peter Wruck (Hrsg.), Literarisches Leben in Berlin 1871—1933, Bd. 2, Berlin [Ost] 1987, S. 279—321, hier S. 280. 14 Das ganze Material liegt im Nachlaß Becker, Geheimes Staatsarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Rep. 92, Sachakten 1, 1790—1793, und 3, 6979, wo auch die Presse über Monzies Besuch sowie geheime Berichte über Mitglieder der Delegation gesammelt sind. Zu Becker siehe auch Wolfgang W. Wittwer, Carl Heinrich Becker, in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Berlinische Lebensbilder, Bd. 3: Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, hrsg. von Wolfgang Treue und Karlfried Gründer (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 60), Berlin 1987, S. 251—267. Die deutsch-französische Verständigung war ein Hauptanliegen Beckers (siehe auch Geheimes Staatsarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Rep. 92, Sachakten Nachlaß Becker 3, 1644, 1794, 6999). 15 Michael Grunewald, L'année 1923 et le débat des relations franco-allemandes dans Die Neue Rundschau, in: Jacques Bariéty/Alfred Guth/Jean Marie Valentin (Hrsg.), La France et l'Allemagne entre les deux Guerres Mondiales (= Actes du colloque tenu en Sorbonne [Paris IV], 15.—17. 1.1987), Nancy 1987, S. 159—175; ders., Deutsche Intellektuelle als Vorläufer des „ Geist von Locarno". Die Neue Rundschau und Frankreich zwischen 1919 und 1925, in: Recherches Germaniques 18 (1988), S. 67—88. 16 Louis Gillet, Paris vu de Berlin ou les aveux d'un jeune allemand, in: Revue des Deux Mondes, 7. Periode, 17 (1923) vom 15. September, S. 453—465, eine Besprechung des Buches von O t t o Grautoff, Die Maske und das Gesicht Frankreichs in Denken, Kunst und Dichtung, Gotha-Stuttgart 1923; siehe Lionel Richard, Aspects des relations intellectuelles et universitaires entre la France et l'Allemagne dans les années vingt, in: J . Bariéty/A. Guth/J. M. Valentin (Hrsg.), La France et l'Allemagne... (wie Anm. 15), S. 111—124; Les arrière-plans idéologiques des relations franco-allemandes entre le deux guerres, Sonderheft von Allemagne d'aujourd'hui 105 (1988) mit Aufsätzen über Viénot, Curtius, Sieburg usw.

Der Fall

Paris-Berlin

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1929 waren sechs französische Professoren für ein Jahr in Berlin. Pierre de Margerie spielte — mit seinem Sohn Roland und seiner Schwiegertochter J e n n y (geborene Fabre-Luce) — eine sehr wichtige Rolle in Berlin zwischen 1922 und 1931, genau so tyie André François-Poncet nachher. Für ihn war die intellektuelle Verständigung zwischen Berlin und Paris die Voraussetzung für gute politische Beziehungen. Befreundet war er mit Wassermann, Gundolf, Kerr, Sternheim und so weiter. Die Liste der Franzosen, die in Berlin zu Gast waren, ist sehr beeindruckend, denn es wurde langsam Mode, sich in Berlin sehen zu lassen. Ausstellungen über die französische Buchkunst oder die Impressionisten waren stark besucht. Die Premiere der musikalischen Tragödie „Christoph Colomb" von Paul Claudel 1 7 war ein Ereignis, wie auch „Amphitryon 38" — mit Elisabeth Bergner — von Jean Giraudoux 1 8 ein Kassenerfolg war. Auch Frivolität fehlte nicht: Die Semaine française von 1929 wurde unter anderem mit dem Casino de Paris, dem Moulin Rouge und den Folies Bergères organisiert! Die Akademiker, die nach Berlin pilgerten, sind mehr oder weniger bekannt: nicht nur Germanisten — so auffallend war es in diesem Fall nicht —, sondern auch Philosophen und Mathematiker wie Albert Lautmann und Jean Cavaillès, 1 9 von Schriftstellern wie André Gide oder Paul Valéry gar nicht zu reden. U b e r den Aufenthalt von Pierre Bertaux 2 0 sind wir sehr gut unterrichtet, denn er hat die Briefe, die er

Zuletzt Gerald Antoine, Paul Claudel ou l'enfer du gé nie, Parisl988,S. 255 f.,362. Jean Giraudoux, Berlin ( - Ceinture du monde, Bd. 13), Paris 1932; Jaques Body, Giraudoux et l'Allemagne (= Etudes de littérature étrangère et comparée, No. 74), Paris 1975; Bernard Auffray, Pierre de Margerie et la vie diplomatique de son temps, Paris 1976. Die Zeugnisse sind zahlreich, siehe Jean-Louis Vaudoyer, D'Athènes à la Havane via Berlin (-Choses vues, No. 3), Paris 1931, S. 117—169, sowie Nicolaus Sombart,/«gewi/ in Berlin 1933—1943. Ein Bericht, München-Wien 1984, S. 91. " Gabrieüe Ferneres, Jean Cavaillès. Un philosophe dans la guerre 1903—1944, Paris 1950(2. Aufl. 1982),S. 61—87; Catherine OnevzWey, Albert Lautman et le souci logique, in: Revue d'Histoire des Sciences 40 (1987), S. 49—77. Die beiden wurden von Nazis ermordet, siehe François George (Hrsg.), Portraits de la résistance (= La liberté d l'esprit, No. 16), Lyon 1987. Zu den „normaliens" im Ausland siehe die Liste générale des élèves boursiers en voyage d'étude à l'étranger, in: AN. 61 A J 202, wo auch andere Mathematiker auftauchen wie Ille, Brelot, Possei. 20 Pierre Bertaux, Un étudiant français à Berlin (Hiver 1927—1928), in: Revue d'Allemagne 14 (1982) [Frédéric Hartweg (Hrs%.), Hommages à Pierre-Paul Sagave], S. 337— 350, deutsch in: Sinn und Form 35 (1983), S. 314—327, und auch in: Klaus Kandier/ Helga Karolewski/Ilse Siebert (Hrsg.), Berliner Begegnungen. Ausländische Künstler in Berlin 1918—1933. Aufsätze, Bilder, Dokumente, Berlin [Ost] 1987, S. 239—254. 17 18

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seinen Eltern schickte, wiedergefunden. Als Sohn des berühmten Germanisten Felix Bertaux und Student der Ecole Normale Supérieure (rue d'Ulm) wollte er zwei Jahre in Deutschland verbringen. Der renommierte Germanist Charles Andler riet ihm, die Schule der Weisheit in Darmstadt zu besuchen: Ich stellte mir vor — und wohl nicht zu Unrecht —, daß er sich als vom Krieg geschockter und verfolgter Elsässer sagte, daß im Fall eines Konflikts ich von Darmstadt immer noch zu Fuß nach Hause gelangen könnte, während von Berlin .. . 21 Er folgte schließlich dem Rat von Henri Lichtenberger und ging nach Berlin: Pierre war ein gewaltiger Erfolg — erinnert sich Golo Mann —, die Leute rissen sich geradezu um ihn; meist wurde er als „ der einzige französische Student in Berlin" vorgestellt. Eine seiner bedeutendsten Gönnerinnen war Frau Antonina Vallentin, eine Dame von Welt und literarischen Talenten, von der es hieß, sie sei die Maitresse des Außenministers Stresemann wie auch des langjährigen Oberbefehlshabers der Reichswehr, General von Seeckt, gewesen. Auch der Preußische Kulturminister Professor Carl Heinrich Becker, der noch die Allüren eines königlich-preußischen Ministers besaß, gehörte zu seinen Protektoren ... Der Romancier Joseph Roth träumte von einer Reise nach Krakau, einer Wanderung nach alter Art der fahrenden Scholaren, die er mit Pierre unternehmen wollte. Siegfried Kracauer, der Essayist, nannte ihn eine „ Figur von Stendhal"; es ist nicht unmöglich, daß diese Worte einen bleibenden Einfluß auf den so Charakterisierten behielten ... Kamen berühmte französische Gäste nach Berlin, André Gide, Jules Supervielle, dessen Tochter Pierre später heiratete, oder der junge Politiker Pierre Viénot, Verfasser des berühmt gewordenen Buches „Incertitudes allemandes" [1931], so durfte er den Fremdenführer spielen.22 Bertaux, der in Grunewald lebte, wurde Assistent von Professor Wechßler, dem begabten Direktor der romanistischen Abteilung der Universität: Die A tmosphäre, in der ich mich bewege, ist gespenstisch. Es ist nur die Rede von politischen Attentaten (das erste, was mir Titti [Brigitte Bermann-Fischer, Bertaux' enge Freundin] gezeigt hat, war die Stelle in Grunewald, wo Rathenau ermordet wurde), von Gefängnis, von Festungshaft, vom Krieg, von Verrückten und Irrenärzten, politischen und sozialen Skandalen2} In dem oben genannten Salon traf er 21 22

A.a.O., S. 314. G o l o Mann, Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland, Frankfurt a.

Main 1986, S. 234 f. U b e r die Beziehung der Familie Beckersiehe Geheimes Staatsarchiv, Nachlaß Becker (wie A n m . 14), R e p . 92, N r . 2616,6406—6407, und die schönen Briefe R a y m o n d A r o n s an Pierre Bertaux, bes. v o m 11. Februar 1933. 23

G . Mann, Erinnerungen ... (wie A n m . 22), S. 315 f.

Der Fall Paris-Berlin

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Nachkommen von Bleichröder, Montgelas und Helene von Nostitz, und dann einen gewissen Walter Benjamin, Ubersetzer von Proust. Am 13. November 1927 schrieb er: Pierre Viénot findet, es gibt ein bisschen viel Referenten in Berlin, zwei oder drei pro Woche: Georges Duhamel, François Porche, Anatole de Monzie, Champetier de Ribes, Benjamin Crémieux ... Angekündigt sind Bernard Fay und Jacques Maritain. In Frankreich gibt es kein Gegenstück dazu. Unausgeglichenheit der Wissbegierde. Die Brückenfunktion bedeutete also nicht Symmetrie und Reziprozität. 30. Januar 1928: Vorgestern am Sonnabend. Empfang bei Tilla Durieux (im Frack) zusammen mit Gide. Was in Berlin Rang und Namen hat, jedenfalls die ich kenne. Die Sternheims, Wedderkopp, Piscator mit Frau, George Grosz mit Frau, einer der Sympathischsten, Ernst Toller, der sich immer, wenn man ihn in der Gesellschaft trifft, dafür entschuldigt: „ Dieses Jahr habe ich mich entschlossen, in die Gesellschaft zu gehen, obwohl ich einen Graus davor empfinde. Aber ich will ein bisschen die Welt kennenlernen!" René Grevel, der schreckliche Flechtheim, der aufreizende Mendelssohn ... an die dreissig Leute ... Sonntag vormittag, Gide-Rilke Veranstaltung in Charlottenburg. Im Saal immer dieselben, dazu Walter Benjamin, Franz Blei, Franz Hessel.. . 24 Im Oktober 1930 wurde in Berlin von Oswald Hesnard25 und mit Hilfe Aristide Briands ein „Französisches Akademikerhaus" gegründet: Il s'agit avant tout d'aider les chercheurs auxquels les milieux scientifiques d'Allemagne o f f rent ou bien des éléments de documentation (histoire de l'Allemagne et des pays de l'Europe centrale, évolution politique, économique, sociale de ces pays, histoire de l'art, de la civilisation) ou bien une vue directe des efforts faits par ce pays dans le domaine des sciences naturelles, des sciences exactes, et de leur application technique.26 Die „Maison académique de Berlin" lag in Wilmersdorf, Landhausstraße 14 (und später nach dem 1. Oktober 1937 Budapester Straße 25—27). Der „spiritus rector" wurde sehr schnell Henri Jourdan, 27 ehemaliger Lektor in Heidelberg (1925—

A.a.O., S. 325f. Siehe den Aufsatz Jacques Bariétys, Un artisan méconnu des relations francoallemandes: le Professeur Oswald Hesnard, in: Media in Francia. Recueil de mélanges offert à Karl Ferdinand Werner, Paris 1989, sowie Oswald Hesnard, Friedrich Theodor Vischer, Paris 1921, und ders., Les partis politiques en Allemagne, Paris 1923. 26 Information universitaire, 14. Juni 1930, Une fondation universitaire française à Berlin. Ich stütze mich hier auf persönliche Mitteilungen von Frau Roland de Margerie, den Professoren Henri Brunschwig und Maurice de Gandillac und von seiner Exzellenz, Minister a. D. Jean Sauvagnargues. 27 Henri Jourdan, Souvenirs d'un français en poste à Berlin de 1933 à 1939, in: 24

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256

Dominique Bourel

1928), Übersetzer von Curtius' „Balzac" (Paris 1933). Fünf oder sechs „Boursiers" wurden also pro Jahr (Verlängerung war möglich) nach Berlin geschickt. Diese Bastion der französischen Gelehrsamkeit in Berlin wurde auch von Deutschen (René König, Fritz Erler) oder von „Rockefeller-Fellows" (François Perroux, René Capitant) besucht. Raymond Aron kam von 1931 bis Sommer 1933 nach Berlin, nach einer Assistentenzeit bei Leo Spitzer, un professeur romanique allemand,28 an der romanistischen Abteilung der Universität Köln. In Berlin arbeitete der Philosoph sehr viel und vertiefte sich in die deutsche Philosophie; er erteilte Max Reinhardt Französischunterricht (und gab einem Sohn François-Poncets Stunden in Latein und Griechisch!). Aron las Husserl, Heidegger und Weber, die noch nicht sehr bekannt waren, obwohl der aus Berlin stammende Pariser und Diltheyschüler Groethuysen 29 schon etwas darüber veröffentlicht hatte. Als Mitglied der „Maison académique" wurde er Zeuge des Zusammenbruchs der Weimarer Republik und der Machtergreifung. Aron stand auch mit Becker in Verbindung 30 und kam durch Bertaux in Kontakt mit sehr vielen Leuten. Daß er die deutsche Soziologie nach Frankreich importiert hat, ist wohl bekannt. 31 Durch Aron kam Jean Paul Sartre in Berührung mit der Phänomenologie, die trotz der Dissertation von Emanuel Lévinas 32 —seinerzeit Assistent bei Husserl —, beinahe unbekannt war. Die Stelle Arons in der „Maison académique" erhielt Sartre im

Mémoires de l'Académie

des Sciences, Belles-lettres et Arts de Lyon, Lyon 1975, S. 1 2 5 —

137. 28

Raymond Aron an Pierre Bertaux, 15. Mai 1930, im Besitz von Frau Raymond

Aron, der ich für ihre Mitteilungen sehr herzlich danke. Raymond Aron, Le spectateur engagé, Paris 1981, S. 3 0 — 3 2 , 3 8 , 4 2 ; ders., Mémoires, Paris 1983, S. 53—83. Siehe auch Jean François Sirinelli, Génération

intellectuell Khâgneux

et normaliens dans l'entre deux

guerres, Paris 1988, S. 440ff.: Die Reise nach Berlin als Ende des Pazifismus. 29

Hannes Böhringer, Bernhard

Groethuysen.

Vom Zusammenhang

(= Canon, Bd. 5), Berlin 1978; Bernard Groethuysen, Introduction

seiner

à la pensée

Schriften allemande

depuis Nietzsche (- La culture moderne, N o . 3), Paris 1929. 30

Ein Brief Arons an Becker vom 12. Dezember 1932 wurde abgedruckt bei Ray-

mond Aron, Sur l'histoire, in: Commentaire

44 (1988/89), S. 9 4 9 — 9 5 4 , hier S. 953.

Briefe von Aron an Bertaux finden sich bei Raymond Aron, Lettres d'Allemagne Bertaux

(1930—1933),

in: Commentaire

à Pierre

28/29 (1985) (= Sonderheft Raymond Aron

1905—1983), S. 281—283. 31

Michael Pollak, Max

Weher en France.

L'itinéraire

d'une

oeuvre (- Cahiers de

l'Institut d'histoire du temps présent, N o . 3), Paris 1986. 32

Emmanuel Lévinas, La théorie de l'intuition dans la phénoménologie

bliothèque de philosophie contemporaine), Paris 1930.

de Husserl (= Bi-

Der Fall Paris-Berlin

257

Jahre 1933/1934. D o r t begegnete er den Germanisten Eugene Susini, Jean Jacques Anstett und Robert Minder. In Berlin lebte und wirkte damals auch Pascal Copeau, der die Berliner Berichte für „Le petit journal" und „Les nouvelles littéraires" ins Leben rief. Es ist bekannt, daß Sartre kaum etwas gesehen hat! Er war bereits in seiner Welt. 33 Daß eine Stadt, in der man fünfzig Theater und drei Opern zählte und die eine der besten — wenn nicht die beste — Universität der Welt hatte, wie ein Magnet wirkte, 34 liegt auf der H a n d . Sie war also mehr als eine immense kleine Stadt.35 Für junge Franzosen bedeutete sie nicht nur eine Brückenfunktion zwischen Frankreich und Deutschland, sondern auch die Entdeckung eines anderen Deutschlands überhaupt, sei es die neue Gesellschaft von Weimar oder das ewige totalitäre Reich. Die Reise nach Berlin half ihnen auch, ihre eigene Identität neu zu entdecken; denn es gibt, was man in Berlin sieht, und es gibt, was man aus Berlin sieht.36 Das gilt auch heute noch.

33 34 35

36

Annie Cohen-Solai, Sartre, Paris 1985, S. 144—152. Siehe das Sonderheft Berlin der Revue d'Allemagne 4 (1930), Februar. Henri Béraud, Ce que j'ai vu à Berlin, Paris 1926, S. 14. A. a. O., S. 232.

Berlin und Osteuropa KLAUS MEYER Berlin

Im Jahre 1923 schrieb der russische Dichter Viktor Schklowskij in Berlin einen Roman mit dem Titel: „Zoo oder Briefe nicht über die Liebe". 1 Den etwas merkwürdigen Titel begründete Schklowskij auf die folgende Weise: Ursprünglich hatte ich einige Skizzen über das russische Berlin im Sinn; dann kam mir der Gedanke, die Skizzen durch irgendein allgemeines Thema zu verbinden. Ich nahm das Tiergehege (den Zoo), schon war der Buchtitel geboren.2 Das russische Berlin: eine Formel, die noch genauer zu erörtern sein wird. In seinem Roman von 1923 beschreibt Schklowskij exakt das Berlin aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg aus der Sicht eines heimwehkranken Russen: Es ist schwer, Berlin zu beschreiben. Berlin läßt sich nicht greifen.3 Die Russen wohnen in Berlin bekanntlich um den Zoo herum.4 Es folgt die Schilderung einer U-Bahn-Fahrt nach Kreuzberg: Winter gibt es nicht. Mal schneit es, mal taut es. In der Feuchtigkeit und in der Niederlage rostet das eiserne Deutschland.5 Und weiter über die U-Bahn: Der Zug rast aus dem U-Bahnhof Wittenbergplatz und jault dabei wie eine schwere Granate auf steigender Flugbahn ... Der Zug schlüpft hinter der roten Kirche durch ein Loch zwischen den Häusern, wie durch einen Triumphbogen. — Dann kommt das Forum aller Berliner Züge: Das Gleisdreieck. Für die inmitten der Deutschen wie zwischen Ufern lebenden Russen ist das Gleisdreieck der Umsteigebahnhof6

1 Viktor Schklowskij, Zoo oder Briefe nicht über die Liebe, deutsche Ausgabe, Frankfurt/Main 1965. 2 A.a.O., S. 7. 3 A. a. O., S. 72. 4 Ebda. 5 A. a. O., S. 73. 6 Ebda.

260

Klaus

Meyer

Aus diesen Zitaten deutet schon manches darauf hin, daß Berlin die Funktion einer besonderen Brücke nach Osteuropa, vor allem nach Rußland, und später Sowjetrußland, wahrnahm. Freilich ist Schklowskijs Roman zeitgebunden und verfügt daher nur über eine beschränkte Aussagefähigkeit. Berlins Funktion als Brücke nach Osteuropa hatte ihre Tradition, die in das 18. Jahrhundert zurückreichte. Neben den Beziehungen zu Rußland hatten daran auch die Polen ihren gebührenden Anteil, auch und gerade dann, als Polens Staatlichkeit aufgehört hatte zu bestehen. Auch die Baltischen Provinzen des Russischen Reiches gehören in diesen Zusammenhang; doch würde die Darstellung dieser Beziehungen ein eigenes Kapitel erfordern, das hier nicht berücksichtigt oder gar geschrieben werden kann. Schließlich müssen auch die Beziehungen zu Südosteuropa erwähnt werden, in denen Berlin zwar in der Brückenfunktion hinter Wien zurücktrat; dennoch liefen manche Fäden, so zum Beispiel aus Prag, auch über die preußische und später deutsche Hauptstadt. Was Rußland betrifft, so wurden die Grundmuster für Berlin als O r t einer Brücke bereits unter Friedrich Wilhelm I. geschaffen, dem Peter der Große eine ganze Anzahl „langer Kerls" aus Rußland zum persönlichen Geschenk machte. Allzu wohl mögen sich die hochgewachsenen Russen in Potsdam nicht gerade gefühlt haben. Dennoch entstand in der Folgezeit in Potsdam die russische Siedlung Alexandrowka, sogar mit einer eigenen orthodoxen Kirche, die noch heute gut erhalten ist. Neben der dynastischen Verbindung wurde auf dem wissenschaftlichen Gebiet ein weiteres Beziehungsmuster entworfen, das für Jahrhunderte Bestand hatte. Hier ist zu Beginn der Name Leibniz zu nennen, der, aus der Erfahrung der Einrichtung der Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften, dem Zaren Peter präzise Vorschläge für die Errichtung der Russischen „Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften" unterbreitete. Ebenso wichtig war das Eindringen der Aufklärung in Rußland. 7 Auf wissenschaftlichem Gebiet ist noch der Name Leonhard Eulers zu nennen, der in der praktischen wissenschaftlichen Verbindung den Grund legte für eine langandauernde wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Berlin und St. Petersburg. 8 Schließlich kam

7 Auf die reichhaltige Literatur zu diesem Thema kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. 8 Vgl. dazu: Adolf Pavlovic Juskevit/Eduard Winter (Hrsg.), Die Berliner und die Petersburger Akademie der Wissenschaften im Briefwechsel Leonhard Eulers, Teil 1 u. 2, (= Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. 3), Berlin [Ost] 1959—1961.

Berlin und Osteuropa

261

auch die Kultur ins Spiel. Andreas Schlüter, der bekannte Berliner Baumeister, ging 1714 nach Petersburg. Dort baute er am Sommerpalast für Peter mit; dann aber verliert sich seine Spur. Ein neuer Höhepunkt ergab sich ein Jahrhundert später, auch im Zusammenhang mit den napoleonischen Kriegen. Die 1810 gegründete Friedrich-Wilhelms-Universität entwickelte in den folgenden Jahrzehnten eine leuchtende Ausstrahlungskraft, die besonders auf die russische Intelligenz einwirkte. Es war der große Hegel, bei dem die russischen Intellektuellen, Westler wie Slawophile, sich Auskunft holen wollten über die Rolle Rußlands in der Weltgeschichte und über das zwiespältige Verhältnis zwischen Rußland und Europa. 9 Hier wurde auch ideengeschichtliches Material akkumuliert, welches später unter dem Einfluß marxistischer Ideen seine bedenkenswerten Folgen zeitigte. Die Erhebung Berlins zur Hauptstadt des Deutschen Reiches setzte neue Akzente. Sie begründete eine neue Qualität. Berlin, das ja zunächst als Hauptstadt Preußens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast familiäre Beziehungen zu Petersburg unterhalten hatte, beanspruchte nun als Residenz einer kaiserlichen Monarchie eine Art Gleichberechtigung mit dem Russischen Imperium. Das überhebliche Urteil der Petersburger (konservativen) „Nowoje wremja", die Preußen als Parvenü in Europa bezeichnete, hatte jetzt neuen Bewertungen zu weichen. 10 Schon zu Beginn der sechziger Jahre war Bismarck als preußischer Gesandter in der russischen Hauptstadt darum bemüht gewesen, die traditionellen Beziehungen der beiden Mächte aufrechtzuerhalten. Als Reichskanzler hat er dann alles darangesetzt, diese Linie, auch über dynastische Verbindungen hinaus, fortzusetzen. 11 U m die Wende zum 20. Jahrhundert kann man zwar ein Überwiegen der politischen Beziehungen zwischen Berlin und Osteuropa feststellen; doch wurde das offizielle Spektrum durch mancherlei Verbindungslinien gebrochen, die auch andere Aspekte zum Vorschein brachten. Bleibt man zunächst bei dem kulturellen Sektor, so erwies es sich, daß zuweilen nicht Berlin, sondern Petersburg die Gebende war: Die

' Dmitrij Tschiievskij (Hrsg.), Hegel bei den Slaven, 2., verb. Aufl., Darmstadt 1961. 10 Klaus Meyer, Rußland und die Gründung des Deutschen Reiches. Zum Gedenken an Professor H orst Jablonovski, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 22(1973), S. 176—195. 11 Das Problem „Bismarck und Rußland" ist in der wissenschaftlichen Forschung bislang noch nicht hinreichend untersucht worden.

262

Klaus

Meyer

Aufführung von Gorkijs „Nachtasyl" im Berliner Osten war ein Durchbruch nicht nur für den genialen russischen Dichter, sondern auch für die Wirkung des russischen Theaters in ganz Westeuropa. Wiederum hatte Berlin seine Brückenfunktion unter Beweis gestellt. Auf der anderen Seite liefen die Fäden aus Berlin nach dem Osten. Es war Peter Behrens, der das monumentale Gebäude der Deutschen Botschaft am Isaak-Platz in St. Petersburg errichtete, welches bis 1914 genutzt wurde und das heute noch erhalten ist. Die auffallende Gliederung des Baus zeigt sich in der Betonung der Senkrechten, mit der Behrens seinen Berliner Industrie-Bauten (AEG) einen unverwechselbaren Akzent verliehen hatte. Damit war die ökonomische Komponente ins Blickfeld gerückt. Auf diesem Felde war allerdings Berlin ausschließlich der gebende Teil. Stellvertretend für alle industriellen Aktivitäten genügt es, den Namen Siemens zu nennen. Die renommierte Elektrofirma hatte nicht nur in der russischen Residenz, sondern auch in anderen Teilen des Zarenreiches ihre arbeitsrelevanten Filialen, so in Südrußland und sogar im Kaukasus. 12 Ein anderer Fall war Polen. Die politische Situation im 19. Jahrhundert hatte es mit sich gebracht, daß die konservativen Kreise in Preußen/Deutschland und in Rußland sich zusammen mit ÖsterreichUngarn im Einvernehmen in der Herrschaft über das unterdrückte Volk befanden. Dennoch führte gerade diese politische Konstruktion dazu, daß nach 1871 polnische Abgeordnete im Deutschen Reichstag saßen, die eine rege politische Aktivität entwickelten. Entstehende politische Kontroversen wurden noch verschärft durch das Verhalten polnischer Studenten an der Friedrich-Wilhelms-Universität, wofür es manche Beispiele gibt. 13 Noch spannungsreicher war die Tätigkeit polnischer Sozialdemokraten oder ultralinker Politiker, unter denen Rosa Luxemburg und Leo Jogiches wohl die bekanntesten waren und die sich der ständigen Aufmerksamkeit von preußischen Behörden und Polizeiorganen erfreuten. 14

12 Wolfgang Ribbe/Wolfgang Schäche, Die Siemensstadt. Geschichte und Architektur eines Industriestandortes, Berlin 1985. 13 Klaus Meyer, Theodor Schiemann als politischer Publizist, Hamburg 1956, hier bes. S. 60. 14 Botho Brachmann, Russische Sozialdemokraten in Berlin 1895—1914. Mit Berücksichtigung der Studentenbewegung in Preußen und Sachsen (= Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. 11), Berlin [Ost] 1962.

Berlin und

Osteuropa

263

Eine echte, wenn auch in der späteren Beurteilung nicht unumstrittene Brückenfunktion übte Berlin schließlich auch den aus polnischen Regionen stammenden Juden gegenüber aus. Nach dem Regierungsantritt Alexanders III. im Jahre 1881 stand eine so große Anzahl von in Rußland angesiedelten Polen unter politischem Druck, ja unter Terror, daß ihnen keine andere Wahl als die Auswanderung blieb. Viele verließen das Land illegal. Die preußischen Behörden, vor allem in Berlin, befürchteten eine Assimilierung dieser Flüchtlinge mit den im „Scheunenviertel" wohnenden Glaubensgenossen. Daher organisierten sie ein feingesponnenes Netz, das die Auswanderer bereits an der Grenze abfing, sie in Berlin registrierte und weiter nach Hamburg oder Bremen verfrachtete, wo die Mehrheit der Emigranten im Zwischendeck in die Neue Welt abgeschoben wurde. Berlin war so zu einem perfekt organisierten Nadelöhr für Zehntausende von Ostjuden geworden; eine traurige Berühmtheit hat dabei der damals noch außerhalb Berlins gelegene Bahnhof Ruhleben erlangt, von dem aus die Weiterreise in die Hafenstädte erfolgte. 15 Der Historiker erinnert sich an die Verladerampe des Bahnhofs Grunewald, die für viele deutsche Juden im Zweiten Weltkrieg den Beginn des Weges in den sicheren T o d bedeutete. Auch diese Funktion Berlins im Hinblick auf Osteuropa darf nicht vergessen werden. Nach dem Ersten Weltkrieg zeigte sich die Funktion Berlins als Brücke nach Sowjetrußland in hellstem Licht. Es entstand das, was man das „Russische Berlin" genannt hat. 16 Die Reichshauptstadt wurde nicht nur zum Zentrum einer großen russischen Kolonie, sondern bildete wiederum eine Brücke für diejenigen Emigranten, die von Berlin aus weiter emigrierten, etwa nach Paris und später dann in die Vereinigten Staaten. Die Zahl der Russen in Berlin wird auf mehrere Hunderttausend geschätzt; dabei gab es durchaus nicht nur intellektuelle oder adelige Emigranten, sondern auch „linientreue" Kommunisten gehörten diesem eigenartigen Konglomerat an. Topographisch läßt sich das „Russische Berlin" noch im nachhinein relativ genau bestimmen. Es lag etwa zwischen Wilmersdorf, dem Kurfürstendamm und Schöneberg; der über den Kurfürstendamm führende Autobus wurde im Volks-

15

Vgl. die Kurzbeschreibung der bevorstehenden Ausstellung im Rahmen der III. Jü-

dischen Kulturtage 1989, Berlin 1989. 16

Thomas R . Beyer/Gottfried K r o t z / X e n i a Werner, Russische Autoren und

Verlage

in Berlin nach dem Ersten Weltkrieg (= Veröffentlichungen der Osteuropa-Abteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Bd. 7), Berlin 1987.

264

Klaus Meyer

mund gelegentlich sogar die „Russenschaukel" genannt. Es gab russische Schulen, Kirchen und andere Kommunikationszentren, die sich vor allem in Cafehäusern entwickelten. S o war ein berühmtes Zentrum das Cafe am Nollendorfplatz, wo etwa Jessenin und Andrej Belyj zu verkehren pflegten. Gleichzeitig hielt im Romanischen Cafe an der Gedächtniskirche Ilja Ehrenburg „cercle" und belehrte ein wißbegieriges Publikum nicht nur über die Kunst des Pfeiferauchens, sondern auch über die neuesten Erscheinungen der revolutionären russischen Literatur. Es gab eine ganze Anzahl von Verlagen, die russische Dichter teils in der Originalsprache, teils in deutscher Ubersetzung publizierten. Hier setzte eine Vermittlungsfunktion ein, die für die Aufnahme russischer Dichtung in ganz Deutschland von großer Wichtigkeit war und ihr zu bedeutenden Erfolgen verholfen hat — unter anderem wurde dadurch das „Dostojewskij-Fieber" ausgelöst, welches weite Kreise der literarischen W e l t ergriff, und das nicht nur in Deutschland. Auch Vladimir Nabokov hat seine literarische Karriere in Berlin begonnen. Vielleicht sind in diesen Nachkriegsjahren die vermittelnden Funktionen Berlins im Hinblick auf Osteuropa, vor allem natürlich auf Sowjetrußland, am deutlichsten zur Auswirkung gekommen. Eine solche Vermittlung hatte in dieser Intensität bis dahin nicht stattgefunden; sie ist seitdem auch nie wieder erreicht worden. U b e r den Zweiten Weltkrieg bedarf es in diesem Zusammenhang nur einer kurzen Bemerkung; auch wenn die Einzelheiten noch einer aufhellenden Untersuchung bedürfen. 1 7 Auf die unheilvolle Verladerampe im Bahnhof Grunewald wurde bereits hingewiesen; es waren die Spitzen der deutschen Wehrmacht, die in Berlin die verbrecherischen Planungen für das „Unternehmen Barbarossa" ausarbeiteten. H a t t e das noch mit einer „Brückenfunktion" zu tun? Die Verwüstungen, die die deutsche Wehrmacht bei ihrem Uberfall auf die Sowjetunion nach 1941 anrichtete, sollten 1945 in hundertfacher Weise auf die Reichshauptstadt zurückschlagen. Die letzten der für beide Seiten äußerst verlustreichen Gefechte spielten sich gerade auch im Reichstag ab, also in dem Gebäude, in dem heute Bilanz gezogen wird. Zum Schluß ein Blick auf den gegenwärtigen Befund. Wegen seiner besonderen politischen und regionalen Situation scheint es, daß West17 Christian Engeli/Wolfgang Ribbe, Berlin in der NS-Zeit (1933—1945), in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 2, München 1987, S. 927—1024.

Berlin und Osteuropa

265

Berlin auf dem Wege ist, eine neue Funktion als Brücke nach Osteuropa, das heißt nun nach der Sowjetunion, zu übernehmen. Listet man alle Institutionen, Vertretungen und Agenturen auf, so ergibt sich eine ganz erstaunliche Fülle von sowjetischer Präsenz in dieser Stadt: — politisch führend das Generalkonsulat in Dahlem, das die Interessen der Bewohner, Reisenden usw. wahrnimmt; — die gemeinsame Luftkontrolle, in der sowjetische Offiziere ihren Dienst, im Rahmen der Vier-Mächte-Verantwortung für ganz Berlin, gemeinsam mit den Vertretern der drei westlichen Alliierten verrichten; — das Ehrenmal der Roten Armee im West-Berliner Bezirk Tiergarten, das ständig von Soldaten der Sowjetarmee bewacht wird; — ständige Vertretungen des staatlichen Reisebüros „Intourist" und der sowjetischen Fluggesellschaft „Aeroflot"; — schließlich die Vertretung der Nachrichtenagentur „Nowosti" sowie eine eigene Filmagentur. Bei dieser — zusammenfassenden — Ubersicht über die Präsenz sowjetischer Dienststellen in West-Berlin soll aber auch die Funktion Berlins im Eisenbahnverkehr nach Osteuropa nicht vergessen werden. V o r über sechzig Jahren hatte Viktor Schklowskij in den Titel seines Romans den Berliner Z o o aufgenommen, worauf in diesem Vortrag einleitend hingewiesen wurde. Heute verkehren die Eisenbahnzüge aus dem Bundesgebiet, ja aus Frankreich und anderen westeuropäischen Staaten, immer noch über den Bahnhof Zoo, sei es der LeningradExpress aus Paris oder die Verbindung nach Moskau (täglich), die über Warschau führt. Sicherlich liegt in diesen Verhältnissen eine Änderung der Qualität, was Berlin und Osteuropa anbetrifft. In nur wenigen Jahren hat sich Berlins Brückenfunktion entscheidend gewandelt. Der Historiker konstatiert diesen Funktionswechsel und er bedenkt seinen Zweifel für die Zukunft.

Warschau und Berlin im 19. Jahrhundert* Einige

Anmerkungen

zu den Beziehungen

Verflechtungen

zwischen den beiden

und

wirtschaftlichen

Hauptstädten

RYSZARD K O L O D Z I E J C Z Y K Warschau

Diese Skizze befaßt sich mit einer besonderen Epoche in der Geschichte der beiden hauptstädtischen Zentren Polens und Deutschlands. Geht man davon aus, daß das 19. Jahrhundert mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende gegangen war, so standen sowohl die Anfänge als auch das Ende der hier zu analysierenden Epoche in der Geschichte Warschaus im Zeichen preußischer Herrschaft über die Weichselmetropole. In den Jahren 1795 bis 1806 war Warschau nach der dritten Teilung Polens die Regierungsbezirksstadt des sogenannten Südpreußen, 1 und am Ende des untersuchten Zeitraums, von August 1915 bis November 1918, war die Stadt Sitz des Generalgouvernements in dem von der deutschen Armee besetzten Teil Polens. Diese beiden Okkupationen werden in der polnischen Historiographie als die erste und die zweite bezeichnet. Die Beziehungen zwischen den beiden Städten waren jedoch keineswegs nur auf erzwungene Untertänigkeit und politische Abhängigkeit beschränkt. Sie haben trotz der wechselnden staatlichen Zugehörigkeit Warschaus (das sich in den hundert Jahren von 1815 bis 1915 in Abhängigkeit von der zweiten Teilungsmacht, Rußland, befand) die ganze Zeit über Bestand gehabt und waren das natürliche Ergebnis der Nachbarschaft und der sich kontinuierlich entwickelnden Zusammenarbeit zwischen den Wirtschaftseliten der beiden Städte.

* Aus dem Polnischen übertragen von Dolores Müller. 1 Vgl. Jan Kosim, Pod pruskim zaborem. Warszawa w latacb 1796—1806 [Unter preußischer Besatzung. Warschau in den Jahren 1796—1806] (= Biblioteka Wiedzyo Warszawie), Warszawa 1980.

268

Ryszard

Kolodziejczyk

Die Beteiligung Berlins und seiner Bank- und Handelskreise an der Initiierung verschiedener wirtschaftlicher Unternehmungen in Polens Hauptstadt war bereits früher, in den letzten Jahrzehnten der Existenz der Adelsrepublik, sehr lebhaft. Zuwanderer aus der Hauptstadt Preußens, Deutsche und Juden, ließen sich hier zahlreich nieder, angelockt von den Verdienstmöglichkeiten, welche die Geschäftsbeziehungen zum Milieu der polnischen Aristokratie sowie zum H o f König Stanislaw August Poniatowskis eröffneten. U m genau zu sein: Dies war auch im 18. Jahrhundert keine neue Erscheinung; ihre Ursprünge reichten vielmehr bis in die Zeit der Sachsenkönige zurück. Berlin und seine Kaufmannschaft profitierten in ihren Aktivitäten an der Weichsel aber wesentlich davon, daß durch königliches Patent am 14. Oktober 1772 die Preußische Seehandlung gegründet wurde. Bald darauf wurde die Gesellschaft auch in Warschau lebhaft tätig. Das Kontor der Seehandlung befand sich in einem speziell für diesen Zweck erworbenen palastartigen Gebäude in der Bielanska-Straße. Von dort aus entwickelte sie eine rege Aktivität im nahen Masovien und Podlachien, also in den zentralpolnischen Landschaften. Das Kontor war im 18. und 19. Jahrhundert aber auch an vielen landesweiten Unternehmungen beteiligt. Es zog beträchtliche Gewinne aus dem Salz- und Zinkhandel und wickelte breitangelegte Kreditgeschäfte mit der polnischen Aristokratie und Großgrundbesitzerschaft ab. Diese haben bekanntlich in den Jahren 1795 bis 1806 von der Möglichkeit, sich bei preußischen Gläubigern zu verschulden, verschwenderischen Gebrauch gemacht. Die Kaufmannschaft Warschaus, Krakaus und anderer polnischer Städte gehörte ebenfalls zu den Geschäftspartnern dieses Kreditinstituts. Allein schon die Aktenbestände des Berliner Staatsarchivs in Dahlem machen hinreichend deutlich, welch imponierenden Umfang die Geschäftstätigkeit der Seehandlung in Warschau hatte. 2 Unter den zahlreichen Geschäftspartnern begegnen wir den Namen vieler bedeutender Kaufleute und Bankiers aus Warschau (Fraenkiel, Noffock, Anthonin) und Krakau (Steinkeller, Bochenek, Wenzel, Kirchmeyer). Nach 1816 wurde wegen der Änderung des politischen Status Warschaus, aber auch infolge der inneren Reorganisation der Berliner Zentrale der Seehandlung der Palast in der Bielanska-Straße veräußert. Der Käufer war S. A. Fraenkiel, ein langjähriger Geschäftspartner der Ge-

2 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, N r . 2598, 4689, 4688 und andere Volumina.

Berlin-Dahlem,

Rep. 109,

Warschau

und Berlin im 19. Jh.

269

sellschaft, der vielfältige Beziehungen zu Berlin unterhielt und der das Gebäude nun zum Sitz seiner eigenen Bankfirma machte. 3 Allgemein aber zog Warschau zu jener Zeit die Aufmerksamkeit von Bank- und Handelskreisen auf sich. Viele Angehörige des Kaufmannsstandes von der Spree, Deutsche und vor allem deutsche Juden, die an der Weichsel günstige Bedingungen für ihre vielfältigen Geschäftsaktivitäten fanden, zogen in die Stadt und siedelten sich dort an. Die Archive in Berlin-Dahlem, Merseburg und Warschau selbst bewahren umfangreiches Aktenmaterial über die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Bankiers und Kaufleuten der beiden Hauptstädte auf. Ein anderes Kapitel dieser Geschichte bildet die Periode von 1815 bis 1830, die Zeit des konstitutionellen Königreichs Polen, in der es eine enge, durch familiäre Bindungen begünstigte Zusammenarbeit zwischen den Bankhäusern Warschaus und Berlins gab. So war zum Beispiel Samuel Antoni Fraenkiel mit der bekannten Bankiersfamilie Magnus verschwägert. Neben den engen Beziehungen zu den größten Bankunternehmen Berlins hat es sicher auch dieser Umstand Fraenkiel erleichtert, aufgrund eines Vertrags vom 15. Januar 1829 eine große Anleihe für die Polnische Bank zu begeben. Auf diese Weise erhielt das junge, erst 1828 gegründete Bankinstitut „Bank Polski" von den Finanzkreisen Berlins Kredite für sein umfangreiches wirtschaftliches Engagement. 4 Derartige Transaktionen waren keineswegs selten. Polnische Kaufleute waren trotz der aufeinanderfolgenden politischen Erschütterungen und des infolgedessen schwankenden Schicksals von Warschau ständig in der preußischen Hauptstadt präsent. Für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ist allerdings augenfällig, daß die Deutschen selbst einen gleichbleibend hohen Anteil an der Warschauer Bevölkerung hatten; im Laufe der Zeit jedoch haben die Zuwanderer aus Berlin und den deutschen Ländern ihre nationale Eigenart verloren und sich an die polnische Bevölkerung assimiliert. Ein Warschauer Chronist schrieb nach der Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Szlenkers, Templers, Schweden, Pfeifers, Spiessens, Brunos, Werners, Herbsts, Simlers, Lilpops, Straßburger sind schon Bein aus

3

A. a. O., Nr. 2598. Ryszard Koiodziejczyk, Burzuazja polska w XIX i XX wieku. Szkice historyczne [Die polnische Bourgeoisie im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Skizzen], Warszawa 1979. 4

270

Ryszard Kolodziejczyk

unserem Bein und Blut aus unserem Blut mit einem Zusatz deutscher Bedächtigkeit, Arbeitsamkeit, Sparsamkeit und Ausdauer.5 Der deutsche Journalist und Reisende Fritz Wernick hat von seinem Aufenthalt in Warschau im Jahre 1876 über andere Beobachtungen berichtet. In seiner Charakteristik der deutschstämmigen Kaufleute in Warschau heißt es, daß diese ihrer Solidarität und ihrem Fleiß Erfolg und Wohlstand an O r t und Stelle verdankten. Er schreibt darüber: Es gibt fast kein Unternehmen, das ohne das deutsche Element auskommen könnte, das bislang der Verbreiter der Handels- und Industriezivilisation ist. Lodz Fabryczna ist eine fast deutsche Stadt, in der bis vor kurzem die Buchhaltung in deutscher Sprache geführt wurde. Die Großindustrie, vor allem die vielen Zuckerfabriken, die Metall- und Maschinenindustrie, ja sogar die Seifenherstellung werden rationell und vorbildlich betrieben. Auch der überwiegende Teil der kleinen handwerklichen Produktion verbleibt vielerorts in den Händen der Deutschen oder zumindest unter ihrerfachmännischen Leitung... Weiter bemerkt er, daß die Präsenz des deutschen Elements im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben keine Entsprechung in der kulturellen Sphäre habe. Auf das geistige Leben, lesen wir, übt der deutsche Kaufmann keinen beziehungsweise einen sehr unbedeutenden Einfluß aus. Seitdem das deutsche Gymnasium geschlossen wurde, besteht die deutsche Kolonie fast ausschließlich aus Kaufleuten, die nur an ihren Profit denken und weder Zeit noch Lust zu anderen Nebenbeschäftigungen haben. Und wenn sich einer von ihnen hier für immer einnistet, wenn ihn die feurigen und tiefen Augen einer Polin bezaubern, dann wächst er oder sein Sohn in die polnische Gesellschaft hinein, er lebt sich in das hiesige Geistes- und Gesellschaftsleben ein und unterliegt der Polonisierung. Man begegnet oft Menschen, die deutsche Namen tragen, die noch deutsch sprechen und verstehen, die aber schon polnisch denken und fühlen .6 Derselbe Autor teilt in seinem Bericht auch sehr charakteristische Beobachtungen über die seit der preußischen Zeit in Warschau ansässi-

5 Antoni Zaleski, Towarzystwo Warszawskie. Listy do przyjaciolki przez Baronowtf XY2 [Die Warschauer Gesellschaft. Briefe an eine Freundin der Baronin X Y Z ] , bearb. von Ryszard Kolodziejczyk, Warszawa 1971, S. 266. 6

Fritza Wernicka opis Warszawy z 1876 r. Opracowanie i tlumaczenie Ireny i Jana Kosimowie [Fritz Wernicks Beschreibung Warschaus. Bearbeitung und Übersetzung von Irena und Jan Kosim], in: Studia Warszawskie 6 (1970). Warszawa XIX wieku 1795—1918, Heft 1, Warszawa 1970, S. 297—338, hier S. 321 f. Die Zitate sind aus dem Polnischen rückübersetzt.

Warschau und Berlin im 19. Jh.

271

gen deutschen Juden mit, über die wir aus anderer Quelle wissen, daß sie überwiegend aus Berlin stammten. Nach Fritz Wernicks Kenntnis waren die Juden aus Deutschland zugewandert. Sie gehören fast ausnahmslos zur Gruppe der deutschen Juden, tragen deutsche Namen, neueren Datums natürlich; sie reichen nicht weiter zurück als die Zeit der preußischen Herrschaft in Warschau. Unter den Juden herrscht die Überzeugung, daß sie in Polen ihr Gelobtes Land gefunden haben, das ihnen Freiheit und die Teilnahme am politischen Leben gewährt. Seinen Bericht schließt er mit einer bezeichnenden Betrachtung ab: Das Leben, das Reisen wären in Polen äußerst beschwerlich, wenn es nicht die Alttestamentarischen gäbe, die man überall und immer zu allen Dienstleistungen in den von Polen vernachlässigten Bereichen bereit findet... Gefährliche Folgen würden aber dann eintreten, wenn die bisherigen gesellschaftlichen Strukturen infolge einer Aufteilung des nationalen Reichtums umgestaltet werden sollten. Der materielle Teil des Reichtums käme dann zu den Deutschen und Juden, der kulturelle würde den Polen zuteil werden. Die Situation zeichnet sich jedoch als nicht so gefährlich ab, weil das polnische Element über eine große A nziehungskraft verfügt, die die Vertreter anderer Nationalitäten absorbiert. Die jüdische Bevölkerung polonisiert sich weniger reibungslos als die deutsche Minderheit. Das ist eine Frage der Religion, die dem Juden gewaltige Hindernisse in den Weg stellt; er ist den Polen aber treu und fühlt sich als einer von ihnen.7 Am besten lassen sich die Beziehungen zwischen Berlin und Warschau durch die Geschichte der Freimaurerlogen in diesen beiden Städten belegen. Der polnische Historiker Ludwik Hass hat dieser Frage vor einigen Jahren eine eigene Monographie gewidmet.8 Das Warschauer Freimaurertum kam unter dem starken Einfluß Berlins zu voller Blüte. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beteiligte sich die Warschauer Kaufmannselite sehr aktiv an der Arbeit der örtlichen deutschsprachigen Loge „Zur Halle der Beständigkeit"; über ein Drittel der Logenmitglieder trug polnische Namen. Die aktivste unter den mit Berlin organisatorisch verbundenen Logen war die „Zum goldenen Leuchter"; ihre gemischte deutsch-polnische Zusammensetzung bot gleichsam ein Abbild der fortschreitenden Annäherung der beiden nationalen Milieus. Die Warschauer Freimaurerlogen hatten in der Zeit

A.a.O., S. 323. Ludwik Hass, Sekta farmazonii schaft], Warszawa 1980. 7 8

warszawskiej

[Sekte der Warschauer Freimaurer-

272

Ryszard Kolodziejczyk

des Großfürstentums Warschau und des Königreichs Polen etwa tausend Mitglieder. Es handelte sich um Angehörige der politischen und intellektuellen Elite der Hauptstadt und einen nicht unwesentlichen Teil des Bürgertums. 9 Letzteres repräsentierten die wirtschaftlich eng mit Berlin verbundenen Bankiers Fraenkiel, Epstein, Noffock, Dückert und andere. Der bereits genannte Jan Antoni Noffock war unter preußischer Herrschaft Ältester der örtlichen Kaufmännischen Brüderschaft (Konfrateria Kupiecka) und Stadtrat; er war auch in der patriotischen Bewegung aktiv, und seine Söhne dienten als Offiziere in der Armee des Großfürstentums Warschau und des Königreichs Polen. Nach 1815 wurde N o f f o c k Vorsitzender des Handelsrates in Warschau; der Freimaurerloge „Göttin von Eleusius" stand er bis zur Auflösung der nationalen Freimaurerei im Jahre 1821 als Logenmeister vor. 10 Zum Abschluß meiner Anmerkungen über die Beziehungen zwischen Warschau und Berlin möchte ich auf einige Erscheinungen im späten 19. Jahrhundert eingehen. Bekanntlich war Berlin zu dieser Zeit ein bedeutendes akademisches Zentrum; viele Polen studierten hier. Es war auch Sitz vieler polnischer Aristokraten und Großgrundbesitzer, darunter Jozef Ko'scielskis, der in den Jahren 1884 bis 1894 Reichstagsabgeordneter und Mitglied des preußischen Herrenhauses war. Verheiratet mit der Tochter des größten Warschauer Bankiers und Pazifisten Jan Gottlieb Bloch, unterhielt er einen Salon, in dem sich Vertreter der gesellschaftlichen Elite, darunter auch Prinzen von Geblüt, mit dem Thronfolger, dem späteren Kaiser Wilhelm II., trafen. Ich habe darüber vor einigen Jahren in meinem Buch über Bloch berichtet. 11 Aufgrund der Aufzeichnungen von Konstanty Maria Gorski über seine Berliner Studienzeit gewinnt man Einblicke in das Gesellschaftsleben der deutsch-polnischen Elite der Hauptstadt: Dienstag Abend, den 19. Februar 1884, bei dem Ehepaar Fürst Antoni Radziwill. Eine Menge Uniformen, einige Fracks, Botschafter-Uniformen, bezaubernde Damenroben. Unter den Gästen: Kaiser Wilhelm, der deutsche Thronfolger,

' Stanislaw Malachowski-Lempicki (Hrsg.), Wykaz polskich löz wolnomularskich

oraz ich czlonköw w latach 1738—1821

[Aufstellung der Freimaurerlogen und ihrer Mitglieder in den Jahren 1738—1821], Krakow 1929.

R. Kolodziejczyk, Burzuazja polska... (wie Anm. 4), S. 108. '1 Ryszard Kolodziejczyk, Jan Bloch (1836—1902). Szkic do portretu „ kröla polskich 10

kolei" [Jan Bloch (1836—1902). Eine Skizze zum Porträt des „Königs der polnischen Eisenbahnen"] (= Biblioteka Syrenki), Warszawa 1983, S. 286.

Warschau und Berlin im 19. Jh.

273

Prinz Wilhelm von Preußen, die Thronfolgerin, der Hof usw., usw. ... Eine andere Aufzeichnung lautet: 22. Januar — nach dem Kirchgang — im Kunstgewerbemuseum, Kegeln bei Frau Koscielska, bei den Kostaneckis. 23. Januar — abends zum Jahrestag der Polnisch-Katholischen Gesellschaft. 25. Januar — beim Ehepaar Roy, das Ehepaar Fernow, das Ehepaar v. Buhl, das Ehepaar Ko'scielski, Herr von Steinbeck, Herr von Plessen, Frau v. Klopared, Fräulein v. Schack, Fräulein v. Ketten, Graf Wassfeld, Graf Lüttichau usw.u Jan Bloch besuchte seine älteste Tochter Maria Koscielska oft in Berlin. Von dort aus korrespondierte er mit vielen bedeutenden Pazifisten, die der Idee, 1899 im Haag den I. Pazifistischen Kongreß zu veranstalten, anhingen. Das damalige Berlin war schließlich auch Zentrum einer deutsch-polnischen Künstlerboheme, ein wichtiger Mittelpunkt des polnischen Kulturlebens um die Jahrhundertwende. Alle diese Tatsachen sind in der Literatur an sich bekannt, ihre nähere Untersuchung erfordert jedoch weitere Quellenstudien. Eine intensive Beschäftigung der Forschung mit diesen Problemen würde sich lohnen.

12

A. a. O.,

S. 287.

Zwei Gesichter Berlins im neuzeitlichen tschechischen Nationalbewußtsein Jim

KORALKA Prag

Gegenüber der politisch und kulturell aktiven Öffentlichkeit bei den Westslawen, hauptsächlich bei den Polen und den Tschechen, von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1945, zeigte die preußische Hauptstadt Berlin beinahe durchlaufend zwei Gesichter, ein freundliches und ein bedrohliches Gesicht. Einerseits wirkte sich die aufklärerische, kulturfördernde, manchmal ausgesprochen slawenfreundliche Linie des in Berlin konzentrierten norddeutsch-protestantischen Bildungsbürgertums, später auch der von Berlin ausstrahlenden modernen Strömungen in Literatur und Kunst aus. Für die Tschechen kam noch der wichtige Umstand dazu, daß Berlin entfernter war als die deutschböhmischen Zentren und zum Unterschied von der österreichischen Kaiserstadt Wien immer durch eine Staatsgrenze getrennt. Andererseits trat Berlin jahrzehntelang als Symbol und Verkörperung des preußisch-deutschen Eroberungswillens, der unbarmherzigen Germanisierung und des Strebens nach einer deutschen Vorherrschaft über Mitteleuropa oder sogar über den ganzen europäischen Kontinent hervor. Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahmen die tschechischsprachigen Böhmen den zweitwichtigsten Platz nach den französischen Hugenotten unter den arbeitsamen nichtkatholischen Flüchtlingen und Einwanderern ein, die die preußischen Könige nach Berlin und Umgebung eingeladen hatten. 1 Eine kleine böhmische Kolonie gab es in Berlin seit 1729, und eine größere Gruppe von Exulanten aus den ostböhmischen Herrschaften erreichte die Berliner Friedrichstadt

1 Vgl. Manfred Motel, Das Böhmische Dorf in Berlin. Die Geschichte eines Phänomens, Berlin 1983; Hans J . Reichhardt, Die Böhmen in Berlin 1732—1982. Eine Ausstellung

276

Jifi

Kofalka

Ende 1732 und Anfang 1733. Mit den 750-Jahr-Feiern in Berlin 1987 fällt ein bescheideneres, aber für das deutsch-tschechische Verhältnis wichtiges Jubiläum der 250 Jahre von Böhmisch-Rixdorf in BerlinNeukölln zusammen. 2 Auf Kosten der preußischen Staatskasse wurden an der von Berlin nach Köpenick führenden Straße neun Doppelhäuser mit Scheunen und Ställen errichtet und am 15. Juni 1737 von den böhmischen Exulanten übernommen. Andere Flüchtlinge ließen sich in der Nähe des Halleschen Tores nieder. Nach einer Zählung von 1737 lebten in Berlin damals insgesamt 1119 Böhmen. 3 Es ist wahrscheinlich, daß sich unter den böhmischen Neusiedlern in Berlin neben der Mehrheit von Religionsflüchtlingen auch solche befanden, die ihre Heimat mit dem Ziel verlassen hatten, dem Militärdienst zu entgehen oder ihre soziale Lage zu verbessern. 4 Für die in Böhmen und Mähren verfolgten Nichtkatholiken wurde Berlin allerdings zu einem bedeutenden Anziehungspunkt, wo seit 1735/37 die nach der Wirkungsstätte des böhmischen Reformators Jan Hus benannte Bethlehemskirche stand 5 und wo ihre Glaubensgenossen entsprechend den Lehren der alten BöhmischMährischen Brüder-Uni tät frei leben durften. Bis in die achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts wurden etwa 4500 Glaubensflüchtlinge aus Böhmen und Mähren im Berliner Raum angesiedelt. 6

des Landesarchivs Berlin, 9 . 1 2 . 1 9 8 2 — 3 0 . 4 . 1 9 8 3 (= Ausstellungskataloge des Landesarchivs Berlin, Bd. 1), 2., verb. Aufl., Berlin 1986. Vgl. auch Gottfried Korff/Reinhard Rürup (Hrsg.), Berlin, Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt, Berlin 1987, S. 102—112. 2

Werner Korthaase (Hrsg.), Das Böhmische Dorf in Berlin-Neukölln 1737—1987. Dem Kelch zuliebe Exulant (= Stätten der Geschichte Berlins, Bd. 20), Berlin 1987. 3 Manfred Motel, 2 um Böhmischen Dorf in Berlin-Neukölln (Rixdorf), in: W. Korthaase (Hrsg.), Das Böhmische Dorf in Berlin-Neukölln... (wie Anm. 2), S. 11—24, hier S. 15. 4 Das zeigte zunächst Gustav A. Skalsky, Der Exulantenprediger Johann Liberda, in: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Osterreich 31 (1910), S. 117—379, hier S. 132. 5

Dazu Rudolf Rican, KancionalJana Theofda Elsnera. K dvoustemu vyroci „Berlinskeho kancionalu" [Das Gesangbuch Jan Theophil Eisners. Zum 200. Jahrestag des „Berliner Gesangbuchs"], in: Kreslanska revue 20 (1953), Theologicka priloha, S. 65— 74. In breiteren Zusammenhängen vgl. Rudolf Rjcan, Das Reich Gottes in den böhmischen Ländern. Geschichte des tschechischen Protestantismus, Stuttgart 1957, S. 143—145; Jitt Koralka, Husitsky odkaz ve spolecenskem a kulturnim zivote ceskych krajanu v zahranici [Vermächtnis der Hussiten im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Auslandstschechen], in: Husitsky Tdbor 4 (1981), S. 177—185.

277

Zwei Gesichter Berlins

Dagegen teilte die überwiegende Mehrheit der tschechischen Öffentlichkeit zur Zeit der Schlesischen Kriege zwischen 1740 und 1763 mit den Österreichern die Uberzeugung, daß Preußen der gefährlichste Feind auch der Böhmen und Mähren sei.7 König Friedrich II. wurde als ein grausamer und gottloser Heide dargestellt, als ein Schelm, der den mährischen Bauern alles Vieh wegnahm.8 Nur selten wurden um die Mitte des 18. Jahrhunderts das Königreich Preußen (noch öfter: Brandenburg) mit der Stadt Berlin identifiziert. Der mährische Ordenspriester Alanus, mit eigenem Namen Ignac Plumlovsky (1703—1759), erwähnte jedoch Berlin an zwei oder drei Stellen seiner volkstümlichen, im tschechisch-hannakischen Dialekt verfaßten Singspiele.9 Die Fabel des ersten Spiels „Pargamoteka" (verstümmelte Benennung der Pragmatischen Sanktion) von 1747 besteht darin, daß vier hannakische Bürgermeister als Sonderlegaten der böhmischen und ungarischen Königin Maria Theresia an die vier Höfe der Könige von Spanien, Frankreich und Preußen und des Herzogs von Bayern (des späteren Kaisers Karl VII.) reisen, um dort die diplomatische Anerkennung ihrer Königin durchzusetzen. Nach Berlin, die Stadt, wo die Spree fließt, wurde Mikulas Chetre (Nikolaus der Kluge) entsandt, der nach seiner Rückkehr nichts Erfreuliches zu berichten wußte. Man zeigte ihm in Berlin das Geld, mit dem der preußische König Ladenbork (das heißt Brandenburg) seine Anhänger in Böhmen bestochen hatte. Herr Ladenbork, selbst ein Ungläubiger, vermehrt die Ketzer am meisten,10 sangen die Hannaken über König Friedrich II. Das zweite Singspiel Plumlovskys heißt ausdrücklich „Ladenbork" und entstand offensichtlich in der Atmosphäre der Zeit um die preußische Niederlage bei Kolin im Juni

6

M. Motel, Zum Böhmischen Dorf...

1

Vgl. JiFi Rak, Soudobe ohlasy pruskeho oblezeni Prahy roku 1757 [Der zeitgenössi-

(wie Anm. 3), S. 18.

sche Nachhall der preußischen Belagerung Prags im Jahre 1757], in: Documenta

Pragen-

sia 6 / 1 (1986), S. 2 7 4 — 2 8 5 . Meinem Freund Dr. Jiri Rak danke ich für die Bereitstellung einiger Quellenbelege zu diesem Thema aus dem 18. Jahrhundert. 8

Aus böhmischen und mährischen Bauernchroniken zitiert von Frantisek Kutnar,

Socidlne myslenkovä jako pfispivek

tväfnost obrozenskeho

k jeho duchovnim

lidu. Troji pohled na iesky obrozensky

lid

dejinam [Soziale Mentalität des Volkes der Wiederge-

burtszeit. Dreifacher Anblick des tschechischen Volkes der Wiedergeburtszeit als Beitrag zu seiner Geistesgeschichte], Praha 1948, S. 9 5 — 9 7 . 9

Eduard Petrü (Hrsg.), Copak to ale za mozeka hrajef Hanacke

zpivohry 18. stoleti

[Was für eine Musik spielt das? Hannakische Singspiele des 18. Jahrhunderts], Ostrava 1985. 10

Pan Ladenbork

pak pfe zadne vife rozmaha nejvice kacife, a. a. O., S. 52.

278

Jifi

Kofalka

1757. Die Stadt Berlin wird als der Sitz Ladenborks genannt, wohin dieser preußische cezozemec a kacef (Ausländer und Ketzer), zbonik a rabif (Bandit und Räuber) im Chaos aus Böhmen gejagt wird.11 Es fehlt hier auch nicht das später übliche Klischee, daß der Preuße (Brandenburger) ganz Europa auffressen wolle.12 Eine ähnliche Einstellung zu Preußen und den tschechischen Nichtkatholiken, vorzugsweise zu Berlin als Verkörperung aller Ungläubigkeit und Schlechtigkeit, tritt aus den mehrbändigen Lebensaufzeichnungen von Frantisek Jan Vavak (1741—1816), einem außergewöhnlich belesenen Landwirt und Dorfrichter aus Milcice auf der mittelböhmischen Herrschaft Pod&brady, hervor. 13 Im September 1774, also sieben Jahre vor dem Toleranzpatent Kaiser Josephs II., bezeichnete Vavak die illegalen Nichtkatholiken in Mittelböhmen, die sich in die Bruderschaft des Allerheiligsten Sakraments nicht einschreiben lassen wollten, als Perlincane (das heißt Berliner),14 da sie angeblich nach Berlin hinstrebten und von dort Unterstützung erwarteten. Während des Bauernaufstandes im März 1775 auf der Herrschaft Podebrady trieben es (nach Vavak) am ärgsten diejenigen, denen Berlin mehr als Rom und Zittau mehr als Prag gefällt.15 Die in Berlin ansässigen und tätigen tschechischen Exulanten waren dem katholischen Dorfgelehrten Vavak ein Dorn im Auge. Er versicherte, daß er mehr als fünfzig verbotene Ketzerbücher, darunter die von Jan Theofil Eisner in Berlin 1748 nachgedruckte Konfession der Brüder-Unität 16 oder das in Berlin 1773 wiederaufgelegte Gesangbuch „Cithara sanctorum" von Jiri Tra-

" A. a. O., S. 68. — Z Cech k Berleno,

domo tvemo, pudes jako po zmeti

[„Aus

Böhmen bis nach Berlin, in deine Heimat, wirst du wie im Wirrwarr gehen"], a. a. O., S. 70. 12

On se domnival

na sv6 potopo, ie zezere bned celo Evropo

[„Er nahm zu seiner

Schande an, daß er gleich ganz Europa auffrißt"], a. a. O., S. 73. 15

Vgl. Frantisek Kutnar, Frantisek Jan Vavak,

kovd tvdfnost... 14

Praha 1941; ders., Socidlne

myslen-

(wie Anm. 8), S. 73 f. u. S. 121—125.

Jindrich Skopec (Hrsg.), Pamhi Frantiska J. Vavdka, souseda a rychtdfe

ho z let 1770—1816

milcicke-

[Denkwürdigkeiten von F. J . Vavak, Bauer und Dorfrichter von

Miltice] (= Knihy D&dictvi Svatojanskeho, Bd. 9 5 — 1 8 4 ) , Bd. 1—5, Praha 1907—1938, Bd. 1/1, S. 42. 15

Nejhu fe ale ddli ti, jimzto se Perlin vice nezli Rim a vice Zitava nezli Praha libi,

a. a. O., S. 48 f. "

Diese Berliner Ausgabe sei derart geschönt und ausgeschmückt, daß mancher

schlichte Katholik dadurch verführt werden könnte, J . Skopec (Hrsg.), Pamhi ka J. Vavdka...

Frantis-

(wie Anm. 14), Bd. 1/2, Praha 1908, S. 145. Vgl. auch a. a. O., S. 140.

Zwei Gesichter Berlins

279

novsky, 17 in der Hand gehabt und wirklich gelesen habe, und zwar vor mehreren Jahren, als die protestantischen Neulinge von 1782 noch mehr dem Rosenkranz als den Berliner Verführern geglaubt hätten; Vavák selbst will durch alle diese Bücher nur in seinem katholischen Glauben gestärkt worden sein.18 Bezeichnenderweise rief er sogar Jan Hus gegen die Brüder-Unität in Berlin herbei, 19 und im ganzen recht zutreffend schilderte er die geistige Atmosphäre in Norddeutschland zu Beginn der achtziger Jahre, die mit der tiefen Religiosität tschechischer Protestanten gar nicht übereinstimmte: Hierher nach Böhmen sendet man uns aus Halle, aus Zittau, aus Berlin, aus Dresden eine große Menge von Bibeln, Testamenten, Psalmen, und in Vorreden kitzelt man schön das Gemüt der Menschen, aber zu Hause läßt man das unbeachtet; man hat dort politische, höfische und spaßige Bücher, über lustige Sachen und die Epheser Diana, man hat auch Zeitungen, Arithmetik, Alchimie, Anatomie und andere Spaße dieser Welt, in denen man liest und sich übt.20 Diese Charakteristik des wohl bedeutendsten tschechischen Dorfgelehrten aus der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert zeichnet die in den folgenden Jahrzehnten bei gebildeten Tschechen sehr verbreitete, wenn auch meist zurückhaltende Bewunderung des Berliner Geisteslebens vor. In der preußischen Hauptstadt verbrachte der seit 1823 an der Universität Breslau tätige und später weltberühmte tschechische Naturwissenschaftler Jan Evangelista Purkyné (1787—1869) das ganze Wintersemester 1826/27, wie er seine Prager Freunde von Berlin aus informierte, teils um die hiesige literarische Welt und andere Zustände kennenzulernen, teils um verschiedene wissenschaftliche Arbeiten bequemer auszuführen.21 Der bedeutendste tschechische Historiker des 19. Jahrhunderts, Frantisek Palacky (1798—1876), verhehlte bei seiner

17

A.a.O.,

18

A. a. O., S. 40.

S. 42.

19 Co Jan Hus ucil, tobol nyni v Perlini Jednota bratrska ani za mak nedrzi... [„Was J a n H u s lehrte, daran hält sich nun die Brüder-Unität in Berlin nicht im geringsten"], a. a. O,, S. 49. 20

A.a.O.,

S. 104.

Frantisek X . Halas, K podilu Jana Evangelisty Purkyne na ceskem narodnim obrozeni. Edice korespondence J . E. PurkynS s Vaclavem H a n k o u a Pavlem Josefem Safaftkem [Zum Anteil v o n J . E. Purkyne an der tschechischen nationalen Wiedergeburt. Edition des Briefwechsels v o n J . E. P u r k y n i mit V . Hanka und P. J . Safarik], in: Acta Universitatis Carolinae, Historia Universitatis Carolinae Pratensis 2 7 (1987), S. 1 7 1 — 2 3 2 , h i e r S . 182. 21

280

Jifi

Kofalka

ersten Ankunft in Berlin im Juni 1843 nicht seine freudige Überraschung: Diese Stadt hat auf mich einen besseren Eindruck gemacht, als ich erwartet hatte; meine Vorstellungen waren nämlich lange nicht so günstig gewesen, als ich die Wirklichkeit finde, schrieb Palacky am zweiten Tag seines Berliner Aufenthaltes. Das wohlwollende Entgegenkommen, das er im Geheimen Staatsarchiv antraf, spielte dabei eine wichtige Rolle: Man zeigt sich sehr gefällig gegen mich, und läßt mich alles sehen, was ich bis jetzt nur wünschen mochte; auch steht der Benützung des Gesehenen nichts im Wege.22 Hochinteressant ist allerdings Palackys Bemerkung über die gesellschaftliche Stellung der Berliner Wissenschaft: Man ist im allgemeinen sehr freundschaftlich gegen mich, und da die Gelehrten überhaupt in Berlin eine weit bedeutendere Rolle spielen als bei uns, und ich auch zu ihrer Zunft gehöre, so zeichnet man mich mitunter sehr ausP Diese positive Einschätzung von Frantisek Palacky erstreckte sich auch auf die Stadtanlage Berlins (jedoch weniger auf die Umgebung) und die öffentliche Bautätigkeit: Diese Stadt ist, trotz ihrer Weitläufigkeit, doch so regelmäßig angelegt, daß man sich darin sehr bald orientieren kann. Ich habe im Gasthofe einen Plan der Stadt und den Adreßkalender mir vorlegen lassen, und darnach bis jetzt alles gefunden, was ich nur immer brauchte, als wenn ich hier zu Hause wäre, ohne ein einziges Mal in den Fall zu kommen, nach einer Gasse, einem Hause usw. fragen zu müssen. Zu gleicher Zeit wie Palacky war auch ein anderer Fachmann aus Prag zu Besuch in Berlin, Architekt Schöbl, der aus eigener Initiative nach Berlin reiste, um die dortigen Bauten zu studieren. In der Tat, bemerkte Palacky, gibt es hier mehr neue Prachtgebäude, als in irgend einer mir bekannten deutschen Stadt; Wien und München stehen hierin nach. Dagegen ist die Lage und Umgebung von Berlin fast trostlos, eine einförmige unfruchtbare Ebene, mit kümmerlicher Vegetation, außer wo sie künstlich getrieben wird.24 Einige Tage später schrieb Palacky noch mehr über die Berliner Bautätigkeit, wobei er einen interessanten Vergleich zwischen der preußischen und der österreichischen Hauptstadt und deren Bewohnern vornahm: Von den Merkwürdigkeiten der Stadt habe ich übrigens noch immer nicht viel gesehen. Da ist unser Landsmann Schöbl, dem ich

22 Frantisek Palacky an Terezie Palackä, Berlin, 16.—17. Juni 1843, in: Archiv Närodniho muzea [Archiv des Nationalmuseums] Praha, Frantisek Palacky, Inv. N r . 826, Kart. 22. 23 Frantisek Palacky an Terezie Palacka, Berlin, 22. Juni 1843, a. a. O. 24 Frantisek Palacky an Terezie Palacka, Berlin, 16.—17. Juni 1843, a. a. O.

Zwei Gesichter

Berlins

281

öfter begegne, viel fleißiger als ich. Ein Architekt hat hier allerdings viel zu lernen — nur nicht Solidität des Bauens. Es ist merkwürdig, wie verschieden sich diesfalls Wien und Berlin, der Wiener und der Berliner, benimmt und ausnimmt. Der leicht in den Tag hinein lebende Wiener baut nicht gerade schön, aber beinahe für die Ewigkeit, solide, zum Teil schwerfällige Häuser; der Berliner dagegen, der kaum lustig werden kann, baut leicht, ja leichtsinnig, elegant, luftig, aber nur fast über seine Lebensdauer. Die Häuser steigen hier in allerlei, größtenteils sehr gefälligen Formen, wie Pilze aus dem Boden auf; aber ihre Dauer ist gleichfalls diesem Bilde angemessen, mit Ausnahme einiger Regierungsgebäude, die freilich ein Vorwurf dieser Art nicht treffen kann.25 Palackys Briefe und Tagebuchaufzeichnungen über seine Studienaufenthalte in Berlin legen Zeugnis von seinen ausgedehnten Kontakten mit vielen berühmten Berliner Gelehrten ab. Besuch bei Herren Pertz, Neander (wo auch Geizer), und schließlich abends bei Pertz, wo auch Köpke, Wattenbach, Homeyer, Lachmann, Enke, Kortüm, verzeichnete Palacky für den 17. Juni 1843. Abends führte mich Herr Pertz in die Gesellschaft bei Minister Eichhorn, wo ich mit Graf Sedlnitzky, gewesenem Bischof von Breslau, usw. bekannt wurde, lautete die Aufzeichnung vom 21. Juni 1843. Für den folgenden Tag notierte Palacky neben seinen üblichen Archivstudien: Bei Herren Förster und Ledebour, von denen der erstere mich ins Museum führte und mit Olfers bekannt machte. Nach dem Mittagessen führte mich Herr Pertz in die Sitzung der Akademie ein, wo ich Raumer, Ehrenberg usw. vorgestellt wurde. Abends eine große Gesellschaft bei Pertz, wo ich Ehrenberg, Bo[e]ckh, Frau Besser usw. kennenlernte. Und für den 23. Juni 1843: Morgens war ich beim Historiker Raumer, dann im A rchiv, nach dem Mittagessen in der Bibliothek. Abends bei Förster und mit ihm in der Gesellschaft bei Olfers, wo Varnhagen, Dr. Julius usw. Oder für Sonntag, den 25. Juni 1843: Zu Hause gearbeitet, dann besuchte ich Jakob Grimm und Schelling.2b In der ersten Juliwoche 1846 war Palacky nur drei Tage lang in Berlin, am Ende seiner zweieinhalb Monate dauernden Reise durch Deutschland, aber es gelang ihm, die Archivare Raumer und Höfer, Wilhelm und Jakob Grimm, August Neander, August Boeckh und noch einige an-

Frantisek Palacky an Terezie Palackä, Berlin, 22. Juni 1843, a. a. O. Frantisek Palacky, Denik [Tagebuch] 1843, pag. 4—7, in: Literarni archiv Pamatn'iku närodniho pisemnictvi [Literaturarchiv der Gedenkstätte des tschechischen Schrifttums], Praha. 25

26

282

Jiri Koralka

dere Berliner Wissenschaftler zu sprechen.27 Sehr hoch schätzte Frantisek Palacky seine Wahl zum Korrespondierenden Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin ein.28 Mehrmonatige Studien in Berlin empfahl er Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl seinem engsten Mitarbeiter Vaclav Vladivoj Tomek (1818—1905) mit dem Ziel, die Kenntnisse und Erfahrungen großer Meister vom Fach zu seiner Ausbildung auf kürzerem Wege zu benützen,29 als auch seinen Sohn Jan Palacky (1830—1908), dem er die Berliner Universität als die Metropole der geographischen Wissenschaft30 bezeichnete. Als sich die machtpolitischen Gegensätze zwischen Preußen und Osterreich in bezug auf die führende Rolle in deutschen Angelegenheiten seit 1859 immer mehr zuspitzten, traten die eingangs erwähnten zwei Gesichter Berlins für die tschechische politische Öffentlichkeit klar zutage. Einerseits konnten die politisch aktiven Tschechen in Berlin gleichgesinnte und verbündete Kräfte in ihrem Kampf gegen die Einbeziehung der österreichischen und böhmischen Länder in den künftigen deutschen Nationalstaat suchen. Es war kein Zufall, daß Jan Palacky, Sohn des berühmten Historikers, seinen Aufsatz gegen eine „deutsche Sendung" Österreichs und für einen föderalistischen Umbau des Habsburgerreiches im Juni/Juli 1859 in der konservativen „Berliner Revue" und anschließend als selbständige Broschüre in Berlin veröffentlichte. 31 Das Stichwort „Berlin" im ersten Band des von Frantisek Ladislav Rieger (1818—1903) herausgegebenen tschechischen Konversationslexikons von 1860 war von hoher Anerkennung erfüllt. Als Verfasser des Aufsatzes im Lexikon hatte neben Jilji Vratislav Jahn (1838—1902) auch Chefredakteur Rieger selbst gezeichnet. Es wurden darin der Fleiß der Einwohner Berlins, die große Bedeutung der Industrie und hervorragende Fabriken erwähnt, aber die größte Hochschät-

Frantisek Palacky, Denik [Tagebuch] 1846, pag. 23 f., a. a. O. Frantisek Palacky an Georg Heinrich Pertz, Prag, 21. August 1845, in: Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg, Rep. 92, Pertz, L 293, Bl. 9f. 27

28

Frantisek Palacky an Georg Heinrich Pertz, Prag, 24. April 1850, a. a. O., Bl. 11 f. Frantisek Palacky an Georg Heinrich Pertz, Prag, 19. Mai 1855, a. a. O., Bl. 13. 31 Die Politik der Zukunft für Ostreich. Von einem Alt-Ostreicher, Berlin 1859. Zum Inhalt der Broschüre vgl. Hans Rosenberg, Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands. Vom Eintritt der Neuen Ära in Preußen bis zum Ausbruch des deutschen Krieges. Eine kritische Bibliographie (= Veröffentlichungen der Historischen Reichskommission), Bd. 1 u. 2, München-Berlin 1935, Bd. 1,S. 205 f.; Jiri Koralka, Palacky, Sybela poldtky Historische Zeitschrift [Palacky, Sybel und die Anfänge der Historischen Zeitschrift], in: Husitsky Tdbor9 (1986/1987), S. 199—248, hier S. 217. 29 30

283

Zwei Gesichter Berlins

zung gebührte der Berliner Wissenschaft und Kunst: Die (1810 gegründete) Berliner Universität genießt besondere Berühmtheit... Auch jetzt hält sich in Berlin eine große A nzahl ausgezeichneter Gelehrter und Künstler auf... Im Hinblick auf die Königliche Akademie der Wissenschaften und eine riesige Menge von wissenschaftlichen Instituten und Lehranstalten wird Berlin als Sitz der deutschen Kultur und Bildung nicht selten Spree-Athen genannt; die einzige kritische Bemerkung im Artikel von 1860 bezog sich auf die unbedeutende Rolle der Musik im Leben der Stadt. 32 Doch wirkte bei den Tschechen auch noch immer der preußische Komplex,33 und Berlin wurde als Symbol der preußischen Expansionslust und der größten Bedrohung für die Integrität der Länder der böhmischen Krone angesehen. So überwog das bei den Alt- und Jungtschechen allgemein verbreitete Mißtrauen gegenüber Preußen während des preußisch-österreichischen Krieges von 1866 alle Versuche, von Berlin aus eine österreichfeindliche Stimmung zu entfesseln. Tschechischerseits war der bis Juni 1866 in Paris wirkende demokratische Emigrant Josef Vaclav Fric (1829—1890) in dieser Richtung tätig.34 Es ist zweifelhaft, ob Fric selbst Verfasser oder Ubersetzer des vom Preußischen Oberkommando zwischen dem 5. und 11. Juli 1866 herausgegebenen Aufrufs an die „Einwohner des glorreichen Königreichs Böhmen" war.35 Jedenfalls nutzte er die vom Krieg geschaffene außergewöhnliche Situation dazu aus, die Schaffung eines selbständigen Königreichs Böhmen als neutraler Staat zwischen dem germanischen Westen und dem slawischen Osten als die beste Lösung sowohl für Preußen als auch für die Tschechen zu fordern. Es geht mir hier gut!, schrieb Josef Vaclav Fric aus Berlin am 2. August 1866 an seine Frau. Ich bahne hier den Weg für uns in der Journalistik — und tatsächlich beginnt man schon hie und da

32

Jilji Vratislav Jahn/Frantisek Ladislav Rieger, Berlin, in: Frantisek Ladislav Rieger

(Hrsg.), Slovnik naucny [Konversationslexikon], Bd. 1, Praha 1860, S. 644. 33

In diesem Sinne O t t o Urban, Vzpominka

na Hradec Krälove. Drama roku

1866

[Erinnerung an Königgrätz. Drama des Jahres 1866], Praha 1986, S. 70. 34

Vgl. Vaclav Zacek, Josef

Vaclav

Fric (= Odkazy pokrokovych osobnosti nasi

minulosti 52), Praha 1979, S. 210 f. Vgl. auch Ernst Birke, Frankreich ropa im 19. Jahrhundert.

und

Ostmitteleu-

Beiträge zur Politik und Geistesgeschichte (- Ostmitteleuropa in

Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 6), Köln-Graz 1960, S. 269 f. 35

Dazu Hans Raupach, Bismarck und die Tschechen im Jahre 1866 (= Mitteleuropäi-

sche Schriftenreihe, Bd. 3), Berlin 1866, Neudruck in: Bohemia 7 (1966), S. 2 3 1 — 2 5 9 ; O. Urban, Vzpominka

na Hradec Kralove...

(wie Anm. 33), S. 292—295.

Jifi Koralka

284

günstig über uns zu schreiben.36 Während der vier W o c h e n zwischen dem Nikolsburger Waffenstillstand vom 26. Juli und dem Prager Friedensvertrag vom 23. August 1866 war auch der nationalradikale Fürst R u dolf von T h u m und T a x i s wenigstens zweimal zu Besuch in Berlin und veröffentlichte in einer führenden Berliner Zeitung einen Brief „Aus B ö h m e n " , in dem er die Bedeutung tschechischer nationalpolitischer Bestrebungen erläuterte. 3 7 Durch Vermittlung einiger in Berlin lebender Tschechen, in erster Linie des Sekretärs der Biblischen Gesellschaft, Martin Pribil (1805—1891), wurde nach dem 9. August 1866 in der Berliner Druckerei T r o w i t s c h und Sohn die von dem ehemaligen R e dakteur der bedeutendsten tschechischen Tageszeitung „Narodni listy", A n t o n i n K o t i k (1840—1919), verfaßte Broschüre „Plä£ Koruny ceske" (Wehklagen der böhmischen Krone) gedruckt und in Böhmen verbreitet. 3 8 Die veraltete tschechische Frakturschrift, in der seit dem 18. Jahrhundert die Gesang- und Gebetbücher der Böhmischen BrüderU n i t ä t in Berlin und j e t z t auch die Broschüre K o t i k s gedruckt wurden, hieß im tschechischen Volksmund „berlinka" (Berliner Schrift); sie war jedoch in keiner Prager Druckerei mehr vorhanden. 3 9 Die gesamte politische Führungsspitze der tschechischen Nationalbewegung lehnte es im S o m m e r 1866 entschieden ab, mit Preußen als Bundesgenossen in ihrem Kampf für eine föderative Umgestaltung des österreichischen Kaiserstaates zu rechnen. Erst nach dem Zustandekommen des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867, als die demokratisch-nationale Opposition der Tschechen gegen diesen „zweifachen Zentralismus" immer mehr an Ausdehnung gewann, wurde Berlin vorübergehend zum wichtigsten ausländischen Zentrum der nationalradikalen Tschechen. Ohne R ü c k sicht auf gut gemeinte, aus Prag kommende Warnungen übersiedelte J o s e f Vaclav Fri£ im O k t o b e r 1867 nach Berlin, wo er als Dolmetscher der tschechischen Sprache beim Berliner Magistrat angestellt wurde

36

Karel Cvejn (Hrsg.), J. V. Fric v dopisech a denicich [J. V. Fric in Briefen und

Tagebüchern], Praha 1955, S. 149. 37

Vgl. Vladimir Z a p l e t a l , / [ / D r . Rudolf knize Thum-Taxis

[Dr. jur. Rudolf Fürst

von T h u m und Taxis], Brno 1933, S. 52; K. Cvejn ( H r s g . ) , / . V. Fric...

(wie Anm. 36),

S. 151. 38

Z u m Inhalt der Broschüre vgl. H . Raupach, Bismarck und die Tschechen...

Anm. 35), S. 2 3 6 — 2 4 1 ; V. Zacek, Josef Vaclav Fric... Urban, Vzpominka 39

na Hradec Kralove...

O. Urban, Vzpominka

(wie Anm. 33), S. 347—350.

na Hradec Kralove...

(wie

(wie Anm. 34), S. 2 1 6 — 2 1 8 ; O .

(wie Anm. 33), S. 345.

Zwei Gesichter

Berlins

285

und gleichzeitig als Zeitungskorrespondent tätig war. 40 Mit finanzieller Unterstützung der polnischen und ungarischen Emigranten begann Fric vom 1. November 1868 an, in Berlin eine radikaldemokratische Zeitschrift in tschechischer Sprache mit dem symbolhaften Titel „Blanik" als „Wochenschrift der böhmisch-mährischen Jugend" herauszugeben. 41 Das sofortige Verbot in Osterreich und die mangelnde finanzielle Unterstützung verursachten die baldige Einstellung der Zeitschrift mit der Nummer 7 vom 11. Dezember 1868. Im Einverständnis mit dem führenden alttschechischen Journalisten Jan Stanislav Skrejsovsky (1831—1883) trat Fric ein Vierteljahr später mit einer neuen Initiative hervor, in einer hektographierten, in französischer Sprache herausgegebenen „Correspondance Tchèque" das Ausland über die tschechische nationale Opposition zu informieren. Dieses Korrespondenzblatt erschien in Berlin zwei- bis dreimal wöchentlich vom 2. März bis zum 29. Dezember 1869, zum Teil unregelmäßig noch in den ersten Monaten von 1870, und bot Anlaß zu österreichischpreußischer Pressepolemik. 42 Eine zeitweilige Zuflucht fanden damals in Berlin auch andere tschechische Zeitungsleute, die vom österreichischen Bürgerministerium wegen Pressedelikten gemaßregelt worden waren, wie der spätere Führer der Olmützer Tschechen, Josef Cernoch (1838—1882), 43 oder einer der bedeutendsten tschechisch-amerikanischen Journalisten aus den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts,

40

V . Z a c e k , J o s e f V a c l a v Fric...

(wie A n m . 34), S. 2 4 7 — 2 4 9 .

Die drei wichtigsten A u f s ä t z e Fries aus dem Blanik wurden von Karel K o s i k (Hrsg.), Ceskd radikdlni demokracie. Vybor politickych stati [Die tschechische radikale 41

Demokratie. Eine Auswahl v o n politischen Aufsätzen], Praha 1953, S. 4 0 7 — 4 2 0 , nachgedruckt. Vgl. V . Zacek, / o « / Vaclav Frit... (wie A n m . 34), S. 2 5 6 — 2 5 8 . D e r sagenumwobene Berg Blanik im südöstlichen Mittelböhmen symbolisierte die H o f f n u n g nationalbewußter Tschechen auf eine bessere Z u k u n f t . 42 Vgl. Eberhard Naujoks, Bismarcks auswärtige Pressepolitik und die Reichsgründung, Wiesbaden 1 9 6 8 , S. 2 1 8 f., 2 2 7 f., 4 0 4 u. a. Noch Anfang 1 8 7 0 berichtete der als Gesandter des Norddeutschen Bundes in W i e n tätige preußische General Schweinitz über sein Gespräch mit dem zisleithanischen Innenminister Karl Giskra, daß der Minister glaube, wir begünstigten den czechischen Widerstand; die Correspondance Tcbeque —

jetzt deutsch — erscheine in Berlin und man habe dort auf eine Anfrage geantwortet, man wisse nicht, wo Herr Fritsch, dieser mit preußischem Gelde subventionierte Redakteur, wohne, Schweinitz an Bismarck, W i e n , 14. Februar 1 8 7 0 , Politisches A r c h i v des A u s wärtigen A m t e s Bonn, Österreich 59, Bd. 1, A 512/1870. 43 Vgl. den A r t i k e l Cernoch v o n Fr. Aug. Urbanek in: Ottuv slovnik naucny [ O t t o s Konversationslexikon], Bd. 6, Praha 1893, S. 629 f.

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Vaclav $najdr (1847—1920). 4 4 Auch in Böhmen selbst war eine zahlenmäßig schwächere Strömung unter denjungtschechischen Demokraten, von den Raudnitzer Zeitschriften „Rip" und „Podripan" unter der Redaktion von Ervin Spindler (1843—1918) repräsentiert, von einer preußenfreundlichen Haltung im Sommer und Herbst 1870 nicht weit entfernt. 45 Der durchschlagende Erfolg der preußisch-deutschen Waffen gegen Frankreich und der damit verbundene Aufstieg des militaristischen Denkens in Deutschland machten auch jene zaghaften Ansätze von anerkennenden Kommentaren gegenüber Preußen und Berlin zunichte, die im Kampf gegen den Wiener Zentralismus abwechselnd von der jungtschechischen Tageszeitung „Narodni listy" im August 1869 46 und von den alttschechischen Organen „Pokrok" und „Politik" im Oktober 18 70 47 veröffentlicht wurden. Symptomatisch waren eher die zehn 44 Zivotopisy ceskych redaktoru v Americe [Lebensläufe tschechischer Redakteure in Amerika], in: Amerikdn. Prostonärodni kalendaf [Der Amerikaner. Volkstümlicher Kalender], Bd. 1, Chicago 1878, S. 121 f.; Heinz Vilem, VaclavSnajdrin: Ottuv slovnik naucny nove doby [Ottos Konversationslexikon der Neuzeit], Bd. 6/2, Praha 1943, S. 806 f. 45 Vgl. Jiri Koralka, Tschechische Briefe aus Dresden und Braunschweig 1870—1871. Ein Beitrag zur internationalen Rolle der tschechischen Demokratie, in: Archiv für Sozialgeschichte 5 (1965), S. 319—362, bes. S. 335 f. 46 In Polemik gegen eine regierungsfreundliche Broschüre (Zur Lage in Böhmen, Prag 1869) lehnte ein Leitartikel der Narodni listy die Politik der Angst vor Preußen ab: Erstens: Es steht nirgends geschrieben, daß uns entweder der Preuße oder der Russe bekommen müßte. Könnte Europa nicht aus unseren Ländern einen neutralen, selbständigen Staat machen, wie es das kleinere Belgien, das kleinere Holland, das kleinere Rumänien sindf ... Zweitens: Nehmen wir an, daß uns der Preuße in einem Krieg erobert und daß man uns ihm nicht mehr wegnehmen kann. Was könnte in diesem Fall geschehenf Das, was heutzutage auch anderswo geschieht und was im Jahre 1866 in Nikolsburg und in Prag geschah. Bei den Friedensverhandlungen wird Europa dafür sorgen — wie es 1866 für Sachsen, für Süddeutschland gesorgt hat — und wir auch werden dafür sorgen, daß uns Preußen nicht wie Frankfurt oder Holstein annektiert; es wird uns unter gewissen Bedingungen übernehmen, und da könnte es leicht geschehen, daß diese besser als die zisleithanischen wären. Drittens:... Nehmen wir an, daß uns Preußen bedingungslos annektiert. Das wäre ein Zustand, wo sich wenigstens der materielle Wohlstand der Nation bessern würde. Dann würde ein Gulden bei uns wieder einen Gulden gelten, während er seit dreihundert Jahren bei uns nur 75 Kreuzer, manchmal noch weniger gilt; Pozor: vldda mluvi [Achtung: Die Regierung spricht], in: Narodni listy, Nr. 226 vom 17. August 1869, S. 1. 47 Der Kriegserfolg Preußens sollte — einem Leitartikel des Pokrok zufolge — nicht dazu dienen, daß wir irgendwie das Vertrauen in die demokratische Befreiungsströmung unseres Jahrhunderts verlieren, daß wir uns aus Angst vor Preußen an der Spree in die Arme Preußens an der Donau werfen; Ohlas pruskych vttezstvi u nas [Widerhall der

Zwei Gesichter Berlins

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Feuilletons „Aus Berlin", die der aus Hannover gebürtige Zeitungskorrespondent Gustav Rasch (1825—1878) im Laufe von mehr als vier Monaten für die deutschsprachige Prager Tageszeitung „Politik" schrieb. Wenn man jetzt in Berlin lebt, muß man seine tägliche Existenz ordentlich mit einer gewissen Kunstfertigkeit einrichten, wenn man diesem wüsten Kriegslärm und Kriegsgespräch entfliehen will,4* so kennzeichnete Rasch die Atmosphäre der Zeit in der preußischen Hauptstadt. Mit kritischem Blick schilderte er seine Vorweihnachtseindrücke aus den Berliner Straßen, 49 aber kurz danach sah er ein schwaches Hoffnungslicht darin, daß trotz aller Hetzereien unter der Berliner Bevölkerung die Krankheit, welche ich die „ Preußensucht" getauft habe, im Abnehmen begriffen war. „ Wir sind des Krieges satt und müde", hört man seit den letzten Wochen in allen gesellschaftlichen Kreisen.50 Scharf kritische Töne überwogen jedoch dermaßen in allen seinen Berliner Briefen bis Mitte April 1871,51 daß er nach einer Schilderung der Kriegsgreuel und des rücksichtslosen Benehmens der Preußen in Frankreich einen Seufzer nicht unterdrücken konnte: Und ich muß eine außerdeutsche Zeitung suchen, um meine Entrüstung über solche schändlichen Niederträchtigkeiten auszusprechen! Mit tiefem Bedauern muß ich sagen: Keine in Deutschland erscheinende Zeitung würde mir dazu ihre Spalten öffnen Seit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde Berlin auch im tschechischen Nationalbewußtsein immer mehr zur Verkörperung und

preußischen Siege bei uns], in: Pokrok 267 vom 1. Oktober 1870, S. 1. Die Autonomie, die eigene Wehrkraft, die Finanzen, das seien die Lebensbedingungen eines Volkes, die wir durch eine Annexion an Preußen nicht verlieren können, weil wir sie nicht haben, faßte Politik, Nr. 275 vom 6. Oktober 1870, S. 1 f. die ausführliche Argumentation des Pokrok zusammen. Aus Berlin I, in: Politik, Nr. 332 vom 2. Dezember 1870, S. 1—3, hier S. 1. Die Schaufenster der Bilderläden und Buchhändler sind mit illustrierten Verherrlichungen der Gräuel des Krieges bedeckt; alle belletristischen Blätter und alle Zeitungsfeuilletons füllen sich täglich mit Berichten von „glänzenden Waffentaten" und „glorreichen Siegen"; für das Elend und den Jammer des Krieges haben deutsche Zeitungen und Journale kein Wort mehr; Aus Berlin II, in: Politik, Nr. 352 vom 22. Dezember 1870, S. 1—2, hierS. 1. 48

49

Aus Berlin III, in: Politik, Nr. 4 vom 4. Januar 1871, S. 1 f. Aus Berlin IV—X, in: Politik, Nr. 19 vom 19. Januar, S. 1 f.; Nr. 26 vom 26. Januar, S. 1 f.; Nr. 38 vom 7. Februar, S. 1—3; Nr. 55 vom 24. Februar, S. 1 f.; Nr. 56 vom25. Februar, S. l f . ; N r . 67 vom 8. März, S. l f . ; N r . 88 vom29. März, S. 1—3; und Nr. 104 vom 15. April 1871, S. 1 f.; alle von Gustav Rasch unterzeichnet. 50 51

" Aus Berlin VI, in: Politik, Nr. 38 vom 7. Februar 1871, S. 1—3, hier S. 3.

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zum Symbol der preußisch-deutschen Effektivität und Machtvergrößerung. In der politischen Publizistik war es sehr schwer, zwischen dem Ganzen und dem Teil zu unterscheiden: Es exemplifizierte sich das preußisch-deutsche Reich in Berlin.53 Den Berliner Staatsmännern wurde tschechischerseits ein noch größerer Einfluß bei der Vereitelung des böhmischen Ausgleichsversuchs von 1871 beigemessen, als es der Wirklichkeit entsprach, 54 und seit dem Zustandekommen des Zweibundvertrags zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn von 1879 waren die meisten tschechischen Politiker mit Recht von der Uberzeugung durchdrungen, daß Berlin jeden Schritt zu einer Föderalisierung des Habsburgerreiches verhindern wolle. 55 Der Führer der alttschechischen Partei, Frantisek Ladislav Rieger, erklärte im Januar 1886, daß der Dualismus das Unglück der Vielvölkermonarchie sei, daß Bismarck uns kommandiere und daß man in Wien vor lauter Angst nichts wage, sich verstelle und über Freundschaft mit Berlin lüge.5b Ende August 1889 sprach sich Rieger im Freundeskreis dahingehend aus, daß der Akademische Leseverein tschechischer Studenten in Prag wegen einer Sympathiekundgebung für Frankreich mit Rücksicht auf Berlin aufgelöst werden sollte. 57 Ahnliche Beispiele, die man für die folgenden Jahrzehnte vervielfachen könnte, geben davon Zeugnis, daß Berlin auf eine ähnliche Weise mit Deutschland seit 1871 gleichgesetzt wurde wie Paris mit Frankreich oder Budapest mit Ungarn beziehungsweise mit der französischen oder ungarischen Regierungspolitik. Das spezifisch Berlinische kann man von dem Gesamtbild und von den mit der Stadt selbst nur lose zusammenhängenden politischen Schlagworten am ehe-

53 In diesem Sinne Hans Lemberg im Diskussionsbeitrag auf der Konferenz Berlins Platz im Europa der Neuzeit am 17. November 1987. Professor Hans Lemberg (Marburg) danke ich für die freundliche Erlaubnis, wesentliche Teile seines unveröffentlichten, z. T. nicht vorgetragenen Beitrags aufnehmen zu dürfen. 54 Ausgewogen dazu vgl. Jan Kien, Die böhmischen Länder in der Krise 1870/71, in: Bohemia 28 (1987), S. 312—330, bes. S. 322—324. 55 Vgl. Jir'i Koralka, Nemecko-rakouske spojenectvi z roku 1879 a vztah k Cechum [Das deutsch-österreichische Bündnis von 1879 und seine Beziehung zu den Tschechen], in: Ceskoslovensky casopis historicky 18 (1970), S. 237—264; ders., Diplomacie Nemecke fise na konci 19. stoleti o ceske svehytnosti a stdtnosti [Die Diplomatie des Deutschen Reiches am Ende des 19. Jahrhunderts über die tschechische Eigenständigkeit und Staatlichkeit], in: Ceskoslovensky casopis historicky 15 (1967), S. 121—132. 56 Jan Heidler/Josef Susta (Hrsg.), Prispivky k listafi Dra Frant. Lad. Riegra [Beiträge zur Briefsammlung von Dr. Frantisek Ladislav Rieger] (= Historicky archiv 45), Bd. 2, Praha 1926, S. 270. 57 A.a.O., S. 408.

Zwei Gesichter Berlins

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sten trennen, wenn man Eindrücke und Erlebnisse einiger tschechischer Studenten an den Berliner Hochschulen heranzieht, die später bedeutende Positionen eingenommen haben. 58 Der führende jungtschechische Reichsratsabgeordnete und spätere erste Ministerpräsident der Tschechoslowakischen Republik, Karel Kranial- (1860—1937), verbrachte in Berlin das Wintersemester 1879/80 und mehr als vier Jahre später, nach der juristischen Promotion in Prag, auch das Sommersemester 1884. Den Neuankömmling Kramär beeindruckte die Schärfe des konfessionellen Problems (in Auswirkung des Kulturkampfes), die moralische Verkommenheit Berlins, die damit in unerklärlicher Weise kontrastierte, vor allem aber die enorme Bautätigkeit: Ungeheuer ist Berlin, doch es Uberzeugt einen mit jedem Schritt davon, daß sein Ruhm noch nicht lange dauert, daß es in der Zeit sich erhob, da die Berliner, trunken vom Siegesruhm, begeistert vom Ruhm ihrer Soldaten, alles in „ Reih und Glied"59 zu messen begannen. In den riesig langen, großartigen Straßen, wie der Friedrichstraße oder der Leipziger Straße, zeichneten sich die Häuser nicht durch architektonische Schönheit aus: Entweder sind sie im gewöhnlichsten Kasernenstil, oder sie sind wieder mit Verzierungen überhäuft, und so bewirkt wieder das Übermaß keinen ästhetischen Eindruck. Es ist an allem zu sehen, daß man überstürzt gebaut hat.ba Von den politischen Eindrücken aus seinen Studienjahren in Berlin erwähnte Kramär mehrmals seine Enttäuschung über die rednerische Leistung Fürst Bismarcks in den Reichstagsdebatten. Zehn Jahre später, im Sommersemester 1894, inskribierte sich der später wohl bedeutendste tschechische Historiker des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, Josef Pekar(1870—1937), für ein Semester an der Berliner Universität. Im Briefwechsel mit seinem akademischen Lehrer, dem Prager Professor Jaroslav Göll (1846—1929), beschrieb Pekar seine ersten Erlebnisse von den Berliner Hauptstraßen: Ich war weder geblendet noch betäubt, und zunächst bemächtigte sich meiner der Eindruck einer kleinen Enttäuschung — erst gestern abend in der Königstraße unter dem ungeheueren Viadukt der Stadtbahn riß mich die unerhörte, sozusagen wahnsinnige Bewegung des riesenhaften Verkehrs aus der gleichgülti-

58 Für Karel Kramai und Josef Pekar folge ich den für die Berliner Tagung vorbereiteten Ausführungen von Hans Lemberg.

Im tschechischen Original deutsch. Karel Kramai" an seine Eltern, zit. nach Hans Lemberg, Studien zur Geschichte des tschechischen Konservativismus. Karel Kramär als Schlüsselfigur (unveröffentlichte Habil.-Schrift), Köln 1970, S. 123. 59

60

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gen Ruhe. Menschen und Wagen drängen sich herum in der ganzen Breite der Straße in ununterbrochenem Strom und fieberhafter Hast, und oben über dem Kopf schlagen in die eisernen Bögen jede Weile hohle Schläge der fliegenden Züge.61 Anders als die Berliner Briefe Karel Kramafo an seine Eltern, die das politische Interesse des Schreibers hervorkehrten, handeln Pekars Briefe an Göll meist von Berliner Universitätsangelegenheiten. Hie und da schimmert leise Ungeduld über die umständliche Immatrikulationsbürokratie oder die zeremoniellen Verfahren bei der Bücherausleihe in der Berliner Universitätsbibliothek durch, doch nach einiger Zeit ist auch die wachsende Verliebtheit in die Berliner Atmosphäre zu spüren.62 Auch der ältere Partner in diesem Briefwechsel, Jaroslav Göll, der Begründer der modernen tschechischen Geschichtswissenschaft, der als promovierter Historiker zwei Semester bei den Professoren Georg Waitz und Reinhold Pauli in Göttingen verbrachte und anschließend im Sommer und Herbst 1872 in Berlin als Privatsekretär des amerikanischen Gesandten George Bancroft tätig war,63 antwortete positiv: Den Eindruck, den Berlin auf Sie macht, halte ich (ich kenne Berlin seit zwanzig Jahren) für objektiv richtig, und es ist gut, daß Sie sich nicht auf die übliche Weise gegen die Preußen64 haben einnehmen lassen. Es ist dort nicht so „ g'mitlich", aber solide, und deshalb haben sie es weit gebracht und bringen es weit. Das gilt von den Norddeutschen überhaupt. Preußen hat die besten Beamten auf der Welt.6i Wahrscheinlich war es ein Nachhall des Berliner Semesters, wenn Josef Pekar im Dezember 1897 in sein leidenschaftliches und doch so besonnenes Antwortschreiben auf Theodor Mommsens Angriff gegen die Tsche-

61

Josef Pekar an Jaroslav Göll, Berlin, 18. Mai 1894, in: Josef Klik (Hrsg.),

a pfdtelstvi. Vzâjemnâ korespondence Jaroslava

Listyücty

Golla a Josefa Pekafe [Briefe der Vereh-

rung und Freundschaft. Der Briefwechsel zwischen Jaroslav Göll und Josef Pekar] (= Ceské letopisy 1), Praha 1941, S. 35 f. 62

Besonders Josef Pekavr an Jaroslav Göll, Berlin, 5. Juli 1894, in: A. a. O., S. 50.

63

Vgl. Karel Kazbunda, Stolice déjin na prazské université. Od obnoveni stolice déjin

do rozdèleni university (1746—1882)

[Lehrstuhl der Geschichte an der Prager Universi-

tät. Von der Wiederherstellung des Lehrstuhls der Geschichte bis zur Teilung der Universität 1746—1882], Bd. 1 u. 2 (= Prâce z déjin University Karlovy, 2 u. 3), Praha 1964—1965, Bd. 2, S. 2 1 0 f . 64

Im tschechischen Original „proti Prusâkâm". Die Endung ,,-ak" hat hier einen

pejorativen Beigeschmack, ähnlich wie „RakuSak" bei der Bezeichnung eines Österreichers gegenüber dem wertneutralen „Rakusan". 65

Jaroslav Göll an Josef Pekayr, Holoubkov, 26. Mai 1894, in: J . Klik (Hrsg.), Listy

ücty a pfdtelstvi...

(wie Anm. 61), S. 40.

291

Zwei Gesichter Berlins

chen66 in die Erinnerung an die positiven deutsch-tschechischen Beziehungen in der Geschichte auch Berliner Ortskenntnisse einfließen ließ: Besuchen Sie, ich bitte, einmal den Kirchhof von Rixdorf bei Berlin, fragen Sie, wo in Berlin die „ böhmische Gasse", die böhmische Schule und Kirche gewesen ist.b7 Nur wenige Jahre später findet sich eine ähnliche Mischung von Bezauberung durch die Berliner Atmosphäre und Abscheu gegen die preußische Bürokratie 68 in den Briefen des tschechischen Studenten der Jurisprudenz Kamil Zeman (1882—1952), der später unter seinem Schriftstellernamen Ivan Olbracht bekannt wurde. Ich bin gesund, Berlin gefällt mir gehörig .. ., 69 schrieb der kaum neuzehnjährige Student nach einem Vierteljahr. Das Beste von dem ganzen Weihnachten allerdings war Silvester. Wer die Friedrichstraße in der Neujahrsnacht nicht gesehen hat, kann sich vom Berliner Silvester keinen Begriff machen. Es sind hier nicht Tausende, sondern Hunderttausende von Menschen, nicht Hunderte, sondern Tausende von Polizisten. Wenn solche Dinge in Paris geschehen würden, könnte ich nichts sagen, aber im preußischen Berlin? Die ganze Menschenmenge schreit volle zwei Stunden: „Prosit Neujahr, prosit Neujahr!" Barone umarmen sich dort mit Schneidern, Antisemiten mit Juden, Anarchisten und Sozialisten mit Polizisten, Deutsche mit Franzosen, und wir umarmten uns mit irgendwelchen Trautenauern, die voll Begeisterung mit uns riefen: „Nastar, nastär!"70 ...

66

Vgl. Berthold Sutter, Theodor Mommsens

Brief „An die Deutschen in Österreich"

(1897), in: Ostdeutsche Wissenschaft 10 (1963), S. 152—225. 67

Josef Pekar, Die Böhmen als Apostel der Barbarisierung.

Theodor Mommsen ge-

widmet, in: Politik, N r . 345 vom 14. Dezember 1897, S. 1; auch selbständig gedruckt (Prag 1898). 68

Auf der Polizeidirektion

Zeremonien

bin ich auch schon angemeldet.

damit. Sie mußten alle unsere Familiengeheimnisse

geboren, wie heißt der Großvater,

Sie machen

schreckliche

wissen. Wo ist der Vater

wie alt ist er, wo ich in Königinhof

wohnte, wie hieß die

Mutter vorher, usw. usw. Es scheint mir, daß ich mich beim Alter der Mutter etwa um ein Jahr verrechnet habe (ich füge gleich hinzu, zu ihren Gunsten, ich habe nämlich 42 gesagt), und deshalb habe ich Angst, wegen dieser Irreführung

der kaiserlichen Behörden

auf dem Schub nach Semil befördert zu werden. Diesen Namen nicht imstande auszusprechen.

vielleicht

war man auf der Polizei

Man sagte nämlich Zemil und Stand (Stanov);

Havel/Jaroslava Olbrachtova (Hrsg.), Z rodinne korespondence

Rudolf

Ivana Olbrachta [Aus

dem Familienbriefwechsel von Ivan Olbracht] (= Pamiti, korespondence, dokumenty 38), Praha 1966, S. 27. 69

Kamil Zeman an seinen Vater, Berlin, 22. Dezember 1900, a. a. O., S. 34.

70

Verstümmelte deutsche Aussprache des tschechischen nationalbewußten Grußes

„Nazdar".

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Kurz und gut, eine fürchterliche Komödie!n Nicht gerade sympathisch waren dem jungen tschechischen Jurastudenten die Militärparaden oder die Polenhetze, 72 aber sonst war er von der Hauptstadt des Deutschen Reiches tief beeindruckt: Berlin ist doch eine ungeheuer schöne Sache, und ich bin schrecklich froh, daß ich hier einige Zeit verbringen kann,73 Nachdem sich Kamil Zeman entschlossen hatte, seine Studien an der Juristischen (später an der Philosophischen) Fakultät in Prag fortzusetzen, schrieb er an seine Eltern: . . . und daher Adieu, mein schönes Berlin, „ es war zu schön gewesen"74 — eigentlich so schön, daß er noch mehr als vier Monate lang in Berlin blieb und sich vor allem aktiv an der Tätigkeit des tschechischen Auslandsvereins „Ceskoslovanska beseda" beteiligte. Was Kamil Zeman in bezug auf Militarismus und Bürokratie eher nur beiläufig und humorvoll kritisierte, wurde für einen anderen, politisch viel bedeutenderen tschechischen Jurastudenten an der Berliner Universität 1907/08, den späteren Außenminister und Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik Edvard Benes (1884—1948), zum deutschen Verhängnis. Der entsprechende Passus in Benes' Kriegsmemoiren sollte offenbar ein düsteres Bild der Vorkriegsatmosphäre in Europa vermitteln: Die tiefsten Eindrücke empfing ich in dieser Beziehung allerdings in Berlin. Eine Militärparade, der ich im Sommer 1908 zufällig beiwohnte, überwältigte mich geradezu. Die Entfaltung des Handels und der Industrie, des Eisenbahnwesens und aller Technik, der preußischen Militär- und Seemacht, die Mechanisierung des ganzen öffentlichen Lebens unter der preußischen Disziplin, die Atmosphäre der U nfreiheit und der überall fühlbare, entscheidende Einfluß der Militärkaste, des Adels und der Bürokratie — all dies rief in mir schmerzliche Empfindungen hervor, denn ich vermochte damals keinen genügend klaren Schluß daraus zu ziehen, und fühlte instinktiv, daß es zu einem bösen

71 Kamil Zeman an seinen Vater, Berlin, 5. Januar 1901, in: R. Havel/J. Olbrachtovà (Hrsg.), Z rodinné korespondence... (wie Anm. 68), S. 35. 72 Die Berliner Zeitungen ... wüten fürchterlich gegen die Polen in Posen. Diese waren nämlich so frech, dagegen zu protestieren gewagt zu haben, daß die Postbeamten alle Briefe und Karten mit polnischen Adressen wegschmeißen, Kamil Zeman an seine Mutter, 8. Februar 1901, a. a. O., S. 37.

Kamil Zeman an seinen Vater, Berlin, 5. Januar 1901, a. a. O., S. 35. Kamil Zeman an seine Eltern, Berlin, 1. März 1901 , a . a . O., S. 38. Der letzte Teil des Satzes (in Anführungszeichen) im tschechischen Original deutsch. 73 74

293

Zwei Gesichter Berlins

Ende führen werde. A uf mich als Tschechen wirkte das beklemmend.75 In der T a t hatte Edvard Benes gleich bei seiner Einreise aus Frankreich nach Deutschland im Herbst 1907 schlechte Erfahrungen mit der preußisch-deutschen Grenzkontrolle und später auch mit der Berliner Polizei gemacht. Von seinen in zwölf Kisten untergebrachten Büchern wurden alle Schriften über Sozialismus und Anarchismus konfisziert, obwohl er diese Literatur für sein Studium benötigte, und in Berlin selbst wurde er unter polizeiliche Aufsicht gestellt; man verlangte von ihm eine deutsche Ubersetzung der in seinem Besitz befindlichen tschechischen Manuskripte. 76 Edvard Benes blieb in Berlin mit kleinen Unterbrechungen bis zum September 1908 und setzte von dort aus seine Berichterstattung für die sozialdemokratische Tageszeitung „Pravo lidu" und das nationalsoziale Organ „Ceske slovo" fort. 77 Einige tschechische Handwerker, Gewerbetreibende und Arbeiter lebten und arbeiteten in Berlin, jedoch nicht nur vorübergehend, wie die Universitätsstudenten, sondern jahrzehntelang und fanden dort ihren ständigen Lebensunterhalt. Die tschechische Kolonie in Berlin gehörte zu den am besten organisierten Auslandszentren der Tschechen, und es war kein Zufall, daß die Redaktion der Monatsschrift der tschechischen Auslandsvereine, „Vlast", am Ende der siebziger Jahre und wieder von Neujahr 1890 an ihren Sitz in Berlin hatte. 7 8 Auch die Monatsschrift tschechischer Turnvereine im Ausland „Zahranicni Sokol" wurde vom Herbst 1906 an in Berlin herausgegeben. 79 Als der tschechische Turnverein „Sokol" in Berlin im Juni 1908 sein fünfzehntes Gründungsjubiläum feierte, fehlte es nicht an Anerkennungsworten für die Berliner Bevölkerung, mit der die dortigen Tschechen in gutem Einvernehmen lebten. 80 Es ist interessant, wie sich der Unterschied zwischen Berlin

75

Edvard Benes, Der Aufstand

sche Revolution,

der Nationen,

der Weltkrieg und die

tschechoslowaki-

Berlin 1928, S. 2 f.

76

Edward B. Hitchcock, Benes. The Man and theStatesman,

77

Vgl. Jaroslav Papousek, Dr. Edvard Benes. Sein Leben, Prag 1937, S. 9 f.

78

Vlast, 13. Jg., N r . 8 vom 1. Februar 1890 war die erste Nummer der Monatsschrift,

London 1940, S. 75—77.

die wieder nach mehr als zehn Jahren in Berlin redigiert wurde. 79

Als Eigentümer und Herausgeber zeichnete der Verein Sokol in Berlin S. W . 13,

Simeonstraße 23. 80

Der deutschböhmische Landtagsabgeordnete und österreichische Minister a. D.

Gustav Schreiner beschwerte sich in einem Brief an den sächsischen Gesandten in Wien vom 2. Januar 1916: Wir haben es stets als unsere Pflicht angesehen, diesem Eindringen czechischen Sokolbrüder

Einhalt zu tun ...

der

Ich erinnere mich sehr genau, daß damals in

294

J i f i Kofalka

und Prag im Jahre 1908 einem tschechischen Beobachter, dem Vertreter der Prager Sokolzentrale bei der Berliner Gründungsfeier, Dr. Urban, darstellte: Die Hauptstadt des „Schwester"-Reiches kann vom Leben nicht genug bekommen. Sie stürmt Tag und Nacht, ja nachts vielleicht noch mehr! Wie idyllisch erschien mir unser goldenes Prag, das nach zehn Uhr abends in tiefem Schlaf eines Aschenbrödels schlummert, und mittlerweile bereitet sich hier Berlin, die reiche Dame der großen Welt, erst für das Nachtleben vor, das vielleicht nicht einmal in den Morgenstunden unterbrochen wird. Hier die Selbständigkeit, der Reichtum und die germanische Eroberungspose, bei uns Sorge und Kampf um die wirtschaftliche und politische Existenz — und dazu noch unsere berüchtigte taubenartige Natur! Dem offenbar ruheliebenden Prager schien die Friedrichstraße in Berlin infolge zahlloser Automobile, Omnibusse, „Autobusse", dieser wegen ihres Ausmaßes und Lärms ungeheuerlichen Vehikel und Fuhrwerke aller Art, lebensgefährlich zu sein.81 Im Vergleich zur böhmischen Landeshauptstadt Prag, sogar im Vergleich zur historischen Kaiserstadt Wien wirkte Berlin nach 1871 im tschechischen Nationalbewußtsein eindeutig als die modernste Metropole in Mitteleuropa, die man zugleich bewundern konnte und fürchten mußte. Diese Furcht ergab sich nicht nur aus dem ungewohnten großstädtischen Verkehr oder dem Nachtleben Berlins, sondern vielmehr aus den von Berlin aus immer stärker ertönenden Parolen der preußischdeutschen Weltmachtpolitik. Die Mehrheit der tschechischen Öffentlichkeit vor 1914 betrachtete das wilhelminische Deutsche Reich als den größten Störenfried in Europa, und es wurde wiederholt gesagt, daß die Tschechen als die ersten einem deutschen „Drang nach Osten"

allen czecbischen Blättern unendlich viel darüber geschrieben wurde, in welch entgegenkommender Weise die Kaiserlich deutschen Behörden in Dresden, Berlin etc. die dortigen Sokolvereine behandeln und ihnen sogar die bei uns wegen ihrer aufreizenden Tendenz verbotenen Festzüge gestatten. Wir hatten uns schon damals über das wirklich unglaubliche Entgegenkommen der Kaiserlich deutschen Verwaltungsbehörden gewundert ...; Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn, Österreich 101, Bd. 38, ad A 2867/1916. Diese Beschwerde bot Anlaß zum Verbot der Sokolvereine in Deutschland, obgleich es dazu keinen innenpolitischen Grund gab. Vgl. Jiri Koralka, Vznik Ceskoslovenske republiky v oficidlni politice Nimecke fise [Die Entstehung der Tschechoslowakischen Republik in der offiziellen Politik des Deutschen Reiches], in: Ceskoslovensky casopis historicky 16 (1968), S. 819—848, hier S. 824. 81 J. Urban, Vzpominka na slavnost berlinskeho Sokola [Erinnerung an das Gründungsfest des Berliner Sokolvereins], in: Zahranicni Sokol, 2. Jg., Nr. 8 vom 1. Juli 1908, S. 6.

Zwei Gesichter

Berlins

295

zum Opfer fallen würden.82 Dieses Neben- und Gegeneinanderwirken der zwei Gesichter Berlins im tschechischen Nationalbewußtsein könnte in verstärktem Maße bis zum Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Jahre 1945 verfolgt werden: Einerseits wurden der großartige Stadtausbau, die vorbildliche Organisation des öffentlichen Massenverkehrs in der Stadt und ihrer Umgebung, das weltoffene Theater- und Kunstleben, wurde Berlin sozusagen als die Verkörperung der Modernität hoch geschätzt, 83 andererseits wurde die reichsdeutsche Metropole nach 1933 — unvergleichlich stärker als früher — zum Sitz und Zentrum des nicht nur die Tschechoslowakische Republik, sondern die gesamte europäische Kultur und die menschliche Würde bedrohenden Feindes. Jedenfalls ist Berlin für die tschechische Politik und Kultur niemals gleichgültig geblieben.

82 Vgl. Wolfgang Wippermann, Der „deutsche Drang nach Osten". Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes (= Impulse der Forschung, Bd. 35), Darmstadt 1981, S. 50—52 u. S. 85—104. 83 Nachdem Urteil fast aller Besucher, besonders aus dem Ausland, ist das heutige Berlin eine der modernsten und interessantesten Städte der Welt, A. Pribyl, Berlin. Prvni cesky pr&vodce Berlinern [Berlin. Der erste tschechische Stadtführer von Berlin], 2. Aufl., Berlin 1930, S. 49. Ähnlich vgl. den Artikel Berlin, in: Ottuv slovnik naucny nove doby, Bd. 1/1, Praha 1930, S. 564—566.

Berlin zwischen Obrigkeitsstaat und Diktatur: Demokratische Tradition und Hauptstadtfunktion in der Weimarer Republik OTTO

BÜSCH

Berlin

In diesem sehr kurzen Referat geht es gleichsam um eine Innenansicht der nationalen gesellschafts- und verfassungspolitischen Funktionen Berlins, um die Aufgabe, mit knappen Worten das Gesicht jenes demokratischen Berlin als politisches und gesellschaftliches Zentrum des republikanischen Deutschland im Weimarer Nationalstaat zu zeichnen — als ein Zentrum, das in einem Wandlungsprozeß aus der obrigkeitsstaatlichen Tradition des deutschen Kaiserreichs hervorging, rund eineinhalb Jahrzehnte um eine ebenso spektakuläre wie ambivalente Form der demokratischen Bewältigung seiner metropolitanen Aufgaben rang, dann zunächst für weitere zwölf Jahre, wie alles andere gesellschaftlich-politische Leben in Deutschland, auch seinerseits in den Strudeln der Hitlerdiktatur versank. Dabei ergibt sich ferner der A u f t r a g , die Beantwortung der Frage zu leisten nach der Vorbildfunktion Berlins, der Frage, wie weit Berlin das Grundmodell abgegeben hat zur Durchformung der Gesellschaft im deutschen Nationalstaat in der Mitte Europas. Das sind die Themen, denen die folgenden Ausführungen in der gebotenen Kürze gewidmet sein werden."' Als nach Beendigung des Ersten Weltkriegs die Bevölkerung der Hauptstadt des preußischen König- und deutschen Kaiserreichs mit den Anforderungen der parlamentarischen Demokratie im republikanischen Freistaat Preußen und in der Weimarer Republik des Deutschen Reiches konfrontiert wurde, galt es für sie, sich auf mehreren Ebenen zu bewähren in einer gleichsam unausweichlichen Situation, die noch an* Belege für die folgenden Ausführungen sind den Bibliographischen Hinweisen im Anhang zu diesem Referat zu entnehmen.

298

Otto Büsch

dauernd dadurch verschärft wurde, daß schon 1920 jener Zusammenschluß von Alt-Berlin mit den 93 Nachbarstädten beziehungsweise Vororten und Gutsbezirken seines Raumes zur neuen Stadtgemeinde Groß-Berlin stattfand, ein Zusammenschluß, der bekanntlich alsbald eine für damalige Zeit riesenhafte Metropole von schnell über vier Millionen Einwohnern auf dem zu jener Zeit größten städtischen Areal der Welt entstehen ließ. Als erstes brachte die Erteilung finanzieller Selbstverantwortung im Rahmen einer im neuen Staat parlamentarischdemokratisch weitgehend eigenverantwortlichen städtischen Selbstverwaltung für dieses neue kommunale Gebilde politisch-administrative und gemeinwirtschaftliche Versorgungsaufgaben und politische Funktionen, die es in dieser qualitativen Verknüpfung und diesen quantitativen Dimensionen zu einer im nationalen Rahmen der Weimarer Demokratie einzigartigen politischen Erscheinung machten. Das neue Groß-Berlin war Austragungsort des Geschehens von preußischer Staats- und deutscher Reichsgeschichte, darüber hinaus ein Platz, an dem europäischer Kulturaustausch und weltwirtschaftliche Verflechtung demonstriert wurden. Zugleich hatten die verantwortlichen Repräsentanten dieses nach dem Gesetz über die Bildung der neuen Stadtgemeinde Berlin vom April 1920 geschaffenen, demokratisch verfaßten Groß-Berlins die unter Nachkriegsnot und Inflation, weltstädtischen Aufbau- und großstädtischen Kommunikationsproblemen entstehenden Versorgungsbedürfnisse der Berliner Millionenbevölkerung auf gesamtstädtischer wie auf bezirklicher Ebene zu lösen. Es war diese Mischung von einer den gemeinnötigen Bedürfnissen des täglichen Lebens der Bürger in dieser Stadt, vor allem im Bezirksrahmen, direkt gewidmeten Großstadtorganisation und einer hauptstädtisch ausgerichteten, national und international wie weltwirtschaftlich eingebundenen Metropole mit Zentralitätsfunktionen für die ganze Nation, die das Besondere dieser neuen repräsentativen Berliner Selbstverwaltungsdemokratie im Weimarer Staat ausmachte. Um diese Feststellungen zu substantiieren, wird sich die folgende Darstellung auf zwei Linien von Darstellung und Argumentation konzentrieren: zum einen auf die interessanten und unleugbar großen Leistungen der Berliner Demokratie in den Jahren zwischen Kaiserreich und Diktatur mit der Demonstration ihrer politischen Haltung in den Krisenpunkten der nationalen Geschichte mit jenem Vorreitereffekt, der den Berlinern im Positiven wie im Negativen vorgehalten wurde. Zum anderen sollen die Gründe ihres Verfalls im Rahmen der tragischen Auflösung der nationalen Demokratie der Weimarer Repu-

Berlin zwischen Obrigkeitsstaat

und Diktatur

299

blik betrachtet werden. Die Vortragszeit wird leider nicht ausreichen, um auch noch auf die Kulturmetropole der „goldenen" zwanziger Jahre einzugehen — auf eine Funktion, die freilich ohnehin bekannter ist als die politische und die Selbstverwaltungsgeschichte der Stadt. Die europäische Bedeutung ist von anderer Seite schon betont worden, und wenn wir nun nach dem Vorbild oder der Abschreckung beziehungsweise der Vorbildfunktion oder der Abschreckungsfunktion der deutschen Reichshauptstadt fragen, so liegt sie ohnehin sehr weitgehend doch vor allem in der politischen Haltung, mit der die Berliner ihre sozialen, wirtschaftlichen, politischen und administrativen Probleme lösten und die nun in der Tat gewirkt haben — es sei hier wiederholt — im Positiven wie im Negativen. Beginnen wir mit den drei Oberbürgermeistern der neuen Stadt: mit Adolf Wermuth, dem anpassungsfähigen parteilosen Beamten aus monarchisch-konstitutioneller Vorkriegs- und Kriegszeit, rätedemokratischer Ubergangs- und beginnender parlamentarisch-republikanischer Nachkriegsperiode; dann vor allem mit Gustav Böß, dem liberaldemokratischen Pragmatiker der Aufbauphase, und schließlich mit dem Verwalter der präsidialdemokratischen Schlußphase der sich auflösenden Berliner Demokratie, Heinrich Sahm. Für die Oberbürgermeister und den Magistrat, für eine Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung und für die zentralen Deputationen von Bürgern auf Groß-Berliner Ebene ebenso wie für die entsprechenden Vertreter auf bezirklicher Ebene und genauso für die sie tragenden politischen Kräfte, Parteien und Verbände gab es ein vorrangiges Ziel: Es galt, die Belastung einerseits einkommensschwacher, andererseits wohlhabender Bevölkerungsschichten und sogenannter armer und reicher Bezirke in Steuer-, Verkehrs- und versorgungspolitischer Hinsicht nach dem Prinzip des Ausgleichs und möglichst der Gleichbehandlung sowie Chancengleichheit zu gestalten. Der hohe Anteil wirtschaftlich schwacher Schichten an der Gesamtbevölkerung führte die Mehrheit der verantwortlichen Politiker und Beamten in Parlament und Verwaltung dazu, daß eine billige Versorgung der Bevölkerung mit den Bedarfsgütern des täglichen Lebens, mit Wasser, Energie, Transport und anderen Leistungen zur Aufrechterhaltung der städtischen Infrastruktur, daß aber auch insgesamt der ganze sozialpolitische Aufgabenkreis, Wohlfahrtsfürsorge und Arbeitslosenunterstützung für die Hunderttausende von Unterstützungsempfängern aller Art, die diese Riesenstadt notorisch belasteten, das Wohnungswesen und Verkehrsprobleme etc., etc. im Vordergrund und Mittelpunkt ihrer politischen Anstrengungen

300

Otto Büsch

standen. Für den zuletzt genannten Verkehrsbereich steht, für jederman erinnerlich, der Name Ernst Reuter. Bei alledem hatten Politik und Verwaltung Groß-Berlins mit Einschränkungen und Erschwerungen zu kämpfen, die in dem Verhältnis der Kommunen und besonders der Großstädte überhaupt zum Staat Preußen und zum Deutschen Reich der Weimarer Republik begründet lagen und vor allem auf den Gebieten von Finanzen und Steuern wirksam wurden. Die Reichsfinanzreform von 1920 bewirkte, daß die Steuereinnahmen der Stadt, etwa aus der Einkommensteuer, sich gegenüber früher prozentual erheblich verminderten. Fehlbeträge im städtischen Haushalt und damit für die Versorgungsaufgaben der Stadt konnten entweder nur durch Gemeindezuschläge zur Grund- und Gewerbesteuer oder durch einen Rückgriff auf die Einnahmen aus den Kommunalbetrieben für Wasser, Gas und Elektrizität gedeckt werden, die das damals noch hergaben. Die Funktionsfähigkeit der demokratischen Selbstverwaltung im Berlin der Weimarer Zeit war insoweit also stark eingeschränkt. Man muß es daher hoch einschätzen, wenn unter solchen politischen beziehungsweise finanzpolitischen Vorbedingungen der demokratischen Existenz der Groß-Berliner Selbstverwaltung im Weimarer Staat festgestellt werden kann, daß auf allen genannten Feldern sozial- und versorgungspolitischen Wirkens besonders im Interesse der einkommensschwachen Bevölkerungsschichten die N o t dieser Jahre erheblich gelindert werden konnte. Und um die Beziehung zum nationalen und internationalen Umfeld bei alledem nicht aus dem Auge zu verlieren, müssen wir uns daran erinnern, daß die Berliner Probleme und Erfahrungen teils symptomatisch und exemplarisch, teils aber auch lehrhaft spezifisch für die anderen im Deutschen Städtetag vertretenen deutschen Städte, lehrhaft aber auch im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstädten gewesen sind. Von eben den spezifischen Existenzformen und Existenzsorgen des demokratischen Berlin der Weimarer Zeit, die hier kurz angedeutet worden sind, soll als nächstes kurz die Rede sein. Der Sieg der repräsentativen Demokratie in Deutschland unter der Weimarer Verfassung hatte auch in der Reichshauptstadt die Demokratisierung der Politik durch die politische Mitbestimmung der Bevölkerung über Parteien und Wahlen gebracht. Nach dem schon im Januar 1919 für Männer und Frauen über 20 Jahre eingeführten allgemeinen und gleichen Verhältniswahlrecht waren rund 72 Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt. Als Kommune und Hauptstadt hatte die Wahlbevölkerung Groß-Berlins politische Funktionen auf vier Ebenen wahrzunehmen: der bezirkli-

Berlin zwischen Obrigkeitsstaat und Diktatur

301

chen, der gesamtstädtischen, der einzelstaatlich preußischen und der nationalen, also bei den Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung und zu den Bezirksversammlungen, zum Preußischen Landtag und zum Deutschen Reichstag. Überdies waren auch die Berliner zur Beteiligung an mehreren Plebisziten auf Staats- und Reichsebene aufgerufen. Es waren so nicht weniger als 21 Wahlen und elf Abstimmungen, 32 Wahlgänge, denen sich der Wähler in Alt-Berlin und GroßBerlin zwischen 1919 und 1933 zu stellen hatte. Der T r e n d des Berliner Wählerverhaltens von 1919/20 bis 1932/33 auf diesen verschiedenen Ebenen der demokratischen Mitbestimmung der Bürger spiegelte in der Reichshauptstadt tendenziell gewiß das Wechselspiel der parteipolitischen Kräfte um die politische Macht in Deutschland wider, wie es der Rolle Berlins als primäres Experimentierfeld der sich befehdenden politisch-ideologischen Strömungen in dieser Demokratie entsprach. Zugleich bewahrte sich die Wählerbewegung in Berlin eine eigene N o t e . Zwischen den Parteien der Mitte gab es im Stadtparlament eine sogenannte Etatsmehrheit, auf die sich der Magistrat wenigstens noch unter der Leitung des liberal-demokratischen Oberbürgermeisters Böß bei parlamentarischen Abstimmungen bis 1929 stützen konnte. Später und wesentlich schwächer als im Reich und im Reichsdurchschnitt konnte hier die rechtsradikale N S D A P erst 1930 und dann 1932 zu den später sich als so verhängnisvoll erweisenden Erfolgen bei Wahlen kommen. Sie und die seit 1920/21 auftretende K P D bildeten die radikalen Flügel einer Republikfeindschaft von rechts und links, an der freilich auch weite Kreise der Deutsch-Nationalen teilhatten. Demokratiefeindschaft wie Republikfeindschaft von links und rechts konnten in diesem Berlin auch den sinnfälligsten Ausdruck f ü r ihren H a ß gegen die demokratische Republik von Weimar und ihr politisches System finden. Den ersten Anstoß zur Auflösung der gemeindlichen Demokratie des Berliner Modells von 1920 sollten dann allerdings die demokratischen Kräfte selbst geben. Korruptionsskandale, wie die berüchtigte Sklarek-Affäre, dazu wiederholt auftretende organisatorische und personelle Unzulänglichkeiten und die zum Ausgang der zwanziger Jahre sich immer mehr verstärkenden, durch die Weltwirtschaftskrise sich verschärfenden finanziellen Schwierigkeiten der städtischen Verwaltung wurden von den Gegnern der Demokratie als zwangsläufige Zusammenbruchserscheinungen des bestehenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systems hochstilisiert. Hier haben wir einmal mit der negativen Vorbildfunktion Berlins in dieser Zeit zu tun! Die erwähnten Korruptionsskandale und die Wirtschafts- und Finanzkrise in

302

Otto Büsch

Berlin, verbunden mit einer im Verhältnis zum Reichsdurchschnitt erschreckend hohen Arbeitslosenziffer, führten dazu, daß die Situation in der Reichshauptstadt nicht mehr länger nur als eine rein Berliner Frage behandelt wurde. Nach langen öffentlichen Diskussionen wurde im März 1931 im preußischen Landtag zu Berlin eine Gesetzesnovelle zur Berliner Verfassung verabschiedet, durch die die Stellung des Oberbürgermeisters gegenüber der Stadtverordnetenversammlung und dem Magistrat einschneidend verstärkt und das Stadtparlament durch die Schaffung eines Stadtgemeindeausschusses unter Vorsitz des Oberbürgermeisters weitgehend eingeschränkt wurde. Die Parteien der Weimarer Koalition in Preußen — Sozialdemokratie, Liberale, Zentrum —, die das Gesetz annahmen, gingen mit dieser Änderung der Berliner Verfassung in Richtung auf eine autoritäre Verstärkung der politischen Macht des Stadtoberhauptes aus Gründen der Reinigung des Ansehens dieser Berliner Stadtdemokratie, der Verbesserung ihrer Funktionsfähigkeit — wie sie sagten — und der Hebung des Vertrauens in Berlin bei staatlichen und Reichsinstanzen ebenso wie in den Augen der Berliner Wählerschaft allerdings einen Kompromiß ein, dessen Tragweite ihnen vielleicht erst später klar geworden ist, als auch die gemeindliche Demokratie schrittweise in die allgemeine Auflösung der Demokratie in Deutschland um 1933 hineingerissen wurde. Das nationalsozialistische Regime hat, als es später die Stellung des Oberbürgermeisters im Sinne des Führerprinzips umgestaltete, auf dem Umbau der Berliner Verfassung durch die Novelle des Jahres 1931 aufbauen können. Oberbürgermeister und Magistrat mit den demokratischen Kräften der Stadtverordnetenversammlung mußten, zumal angesichts der seit Juli 1931 ihrem Höhepunkt entgegengehenden Weltwirtschaftskrise mit ihren schweren finanziellen Konsequenzen für die Stadt aus der wachsenden Zahl von Hunderttausenden von Arbeitslosen und Unterstützungsempfängern in der Reichshauptstadt, schwere Angriffe der politischen Gegner von links und rechts, aber auch Behinderungen durch eine autoritäre Staatsführung erleben. War Berlin schon während der ganzen Weimarer Epoche Tummelplatz politischer Leidenschaften aus nationalen wie kommunalen Anlässen, etwa in Form von Putschen, Streiks, Ausschreitungen und Demonstrationen gewesen, so verschärften zum Ausgang der Epoche Ereignisse wie der BVG-Streik oder gar nun die Auswirkungen des „Preußenschlages" von 1932 auf Berlin mit der Aussetzung von Grundrechten, Notverordnungen und kommissarischen Eingriffen der Staatsaufsicht die politische und gesellschaftliche

Berlin zwischen Obrigkeitsstaat und Diktatur

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Situation. So blieb auch das System der autoritär angelegten Selbstverwaltungsdemokratie, das mit der Verfassungsänderung von 1931 in Berlin seinen Einzug hielt und das dem System der Präsidialdemokratie auf Reichsebene weitgehend entsprach, von der Krise und dem schließlichen Untergang nicht verschont, in den die Berliner ebenso wie die ganze Weimarer Demokratie bis 1933 hineintaumelten. Es ist üblich geworden, zu erwähnen, daß bei den letzten freien Wahlen des Jahres 1932 und selbst bei den Wahlen vom März 1933, die bereits unter den Behinderungen durch die Regierung Hitler standen, sich noch rund 30 % der Berliner Wähler, nämlich die der SPD, des Zentrums und der Liberalen Parteien, zur Demokratie der Weimarer Republik bekannten, und nur 34 % der Berliner gegenüber einem Reichsdurchschnitt von 44 % wählten die N S D A P Adolf Hitlers und ihres Berliner Gauleiters Joseph Goebbels. Es war dieser Traditionsrest einer republikanischen Berliner Stadtdemokratie, der sich aus dem allgemeinen Zusammenbruch der Demokratie in Deutschland über die Gleichschaltung des politischen und gesellschaftlichen Lebens und die Ausschaltung der demokratischen Selbstverwaltung in der Reichshauptstadt Berlin des NS-Reiches über den Zweiten Weltkrieg und die „deutsche Katastrophe" von 1945 in das neue Groß-Berlin der Zeit des demokratischen Wiederaufbaus im Nachkriegs-Berlin rettete und auf dem eine zweite Berliner Demokratie sich gründen konnte, die Europa heute nähersteht als je zuvor in der Geschichte dieser Stadt.

Bibliographische Hinweise Die wegen der Kürze dieses viertelstündigen Referats hier nur angedeuteten Probleme der Berliner Geschichte zwischen dem Obrigkeitsstaat des deutschen Kaiserreichs und der Diktatur des NS-Staates, der Entstehung einer demokratischen Tradition in der deutschen Reichshauptstadt und ihren zentralen Funktionen für Deutschland und Europa sind breiter ausgeführt in dem Werk von O t t o Büsch/Wolfgang Haus, Berlin als Hauptstadt

der Weimarer

Republik

1919—1933

(= Berliner Demokratie 1919—1985,

Bd. 1) (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 7 0 / 1 ) . Mit einem statistischen Anbang 1919—1933,

zur Wahl- und Sozialstatistik

des demokratischen

Berlin

hrsg. von der Arbeitsgruppe Berliner Demokratie am Fachbereich Ge-

schichtswissenschaften der F U Berlin, Berlin-New Y o r k 1987. Vgl. außerdem Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 2, München 1987. Siehe jetzt auch O t t o Büsch (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Berliner Demokratie

1919—1933/1945—1985

(= Ein-

zelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 65), Berlin 1988. Die genannten Sammelwerke enthalten umfassende Bibliographien zum Thema dieses Vortrags mit allen wichtigen Titeln zu der behandelten Epoche der Berliner Geschichte und ihrer Deutung.

Berlin in der Weltwirtschaftskrise WOLFRAM FISCHER Berlin

Über Berlin in der Weltwirtschaftskrise in fünfzehn Minuten zu sprechen, ist nicht möglich. Ich gehe daher nicht auf die politische Geschichte, die Geschichte der Skandale, der Straßenkämpfe, der Wahlen und auch den BVG-Streik ein und beschränke mich auf eine einzige Frage: Wie wirkte sich die Weltwirtschaftskrise auf Berlin aus? Diese Frage ist freilich nicht zu beantworten, ohne die kommunalen Finanzen und Betriebe miteinzubeziehen, und insofern berühre ich auch die politische Geschichte der Stadt. Nach dem Urteil von Henning Köhler brach die Krise in Berlin nicht in der Weise aus, daß die „ Weltwirtschaftskrise" zu irgendeinem näher datierbaren Zeitpunkt die Stadt erreicht hätte. Es gab keine Stockungen der Produktion, Firmenzusammenbrüche und Massenarbeitslosigkeit, womit erste Zeichen der Krise gesetzt wurden, sondern die „ Sünden" der Stabilisierungsphase, die Schulden, die man vor sich herschob und die zu verlängern immer schwieriger wurde, beschworen die Krise herauf. Nun entstand ein Teufelskreis. Die Ausgaben wurden scharf gedrosselt, das Bauprogramm wurde zusammengestrichen, der U-Bahnbau gestoppt... Im Schulbereich fanden ebenfalls erhebliche Einsparungen statt. Die so ermöglichten Ausgabensenkungen wirkten aber krisenverschärfend. Auf der anderen Seite mußten die Einnahmen erhöht werden, das bedeutete die A nhebung der Tarife und Steuern. Dies geschah aber in erster Linie nicht, um die Folgen von Krise und A rbeitslosigkeit zu mildern, sondern um die Zinsen zu zahlen und die Tilgung der Schulden in Angriff zu nehmen, die in besseren Zeiten gemacht worden waren.1

1 Henning Köhler, Berlin in der Weimarer Republik (1918—1932), in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 2, München 1987, S. 797—923, hier S. 901.

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Wolfram Fischer

Nach diesem Urteil war die Krise also selbstverschuldet. O b das zutrifft, kann man sich leicht durch die Gegenfrage klarmachen: H ä t t e die Krise Berlin nicht betroffen, wenn es 1929 konsolidierte Finanzen, einen ausgeglichenen Haushalt gegeben hätte? Die A n t w o r t muß wohl „Nein" lauten. Gewiß — sie wäre leichter zu bewältigen gewesen — wie auch in Deutschland insgesamt oder in jedem anderen Land. Aber auch Städte und Länder, die eine solide Finanzpolitik betrieben hatten, zum Beispiel die Schweiz, sind von der Weltwirtschaftskrise hart getroffen worden, obwohl hier die binnenwirtschaftlichen Antriebskräfte bis 1930 noch fortwirkten, ja der Wohnungsbau sogar bis 1932 unvermindert weiterlief. Der exportinduzierte Rückgang der Gesamtnachfrage ist daher während der ersten Phase der Depression [in der Schweiz] etwas gemildert worden. Entscheidungen über die Kapitalbildung scheinen sich zu A nfang der dreißiger Jahre noch an den Entwicklungsperspektiven orientiert zu haben, die im Selbstverständnis der schweizerischen Wachstumsgesellschaft der zwanziger Jahre fest verankert waren.1 H a b e n wir hier möglicherweise einen entscheidenden Unterschied festgehalten? War die Krise in der Schweiz und in anderen kleineren Ländern von außen gekommen, in Deutschland und seiner H a u p t s t a d t Berlin aber von innen, war sie hier selbstverschuldet? Für eine A n t w o r t kann ich hier nur einige Argumente zusammentragen. Auch in Berlin stieg der Wohnungsneubau von 1929 auf 1930 noch um 82 Prozent an (von 23 952 auf 43 667 Wohneinheiten) und fiel zwar 1931 auf 31 026 ab, lag damit aber noch immer deutlich über den Jahren 1927 und 1928, als nur um 19 500 Wohnneubauten fertiggestellt worden waren. Erst 1932 sank er katastrophal ab auf 9315, und seinen Tiefstand erreichte er erst 1933 mit 7970 Einheiten. 3 Zunächst also gab es auch in Berlin noch binnenwirtschaftliche Antriebskräfte. Doch deuten andere Indikatoren darauf hin, daß, wenn auch der Beginn der Krise nicht binnenwirtschaftlich oder finanzpolitisch verursacht war, die einheimische Wirtschaft doch sehr schnell ihre Aktivitäten verminderte: So schnellte die E x p o r t q u o t e der deutschen Industrie in der Krise in die H ö h e , das heißt, die Binnennachfrage verringerte sich

2 H a n s j ö r g Siegenthaler, Die Schweiz 1914—1984, in: W o l f r a m Fischer (Hrsg.), Handbuch der europäischen Wirtschaftsund Sozialgeschichte, Bd. 6: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, S t u t t g a r t 1987, S. 482—512, hier S. 498.

' Statistischesjahrbuch 10 (1934), S. 52.

der Stadt Berlin 6 (19Í0),S.

41;7(1931), S. 26; 8 (1932), S. 28;

Berlin in der

Weltwirtschaftskrise

307

stärker als die des Auslands. Deutlich ist dies zum Beispiel in Berlins zweitwichtigster Industrie, der Elektrotechnik. Die Exportquote der gesamten deutschen Elektroindustrie stieg nach den Angaben des Instituts für Konjunkturforschung von 19 Prozent 1928/29 auf 23,2 Prozent 1931 und fiel erst 1932 leicht auf 22,2 Prozent ab (nach internen Aufzeichnungen eines Siemens-Direktors stieg sie sogar von 22,2 Prozent auf 28,8 Prozent 1932 ununterbrochen an), und noch viel stärker war der Anstieg bei den beiden Berliner Großunternehmen: Bei Siemens & Halske stieg sie von 29 Prozent 1928/29 auf 45 Prozent 1931/32 und bei der AEG von 38 Prozent auf 49 Prozent (noch stärker bei den Siemens-Schuckert-Werken von 36 Prozent auf 54 Prozent). Dabei sank die Produktion um rund die Hälfte — der Verfall der Binnennachfrage hatte also katastrophalen Umfang angenommen —, und entsprechend sank auch die Beschäftigtenzahl in der Berliner Elektroindustrie und Feinmechanik auf knapp die Hälfte des Höchststandes von 1928. In der gesamten Berliner Investitionsgüterindustrie lag sie 1932 sogar nur noch bei reichlich einem Drittel (36,2 Prozent) des Standes von 1928. Die Kapazitäten der Berliner Elektroindustrie waren nur noch zu 42 Prozent ausgelastet, die der gesamten Investitionsgüterindustrie nur noch zu 35 Prozent. Und da ein Teil der verbliebenen Arbeiter kurzarbeiten mußte, sank der Auslastungsgrad, wenn man ihn in Arbeitsstunden berechnet, noch stärker — im ganzen Deutschen Reich bei der Elektroindustrie auf 38,3 Prozent und in der Investitionsgüterindustrie auf gerade noch reichlich ein Drittel (33,9 Prozent). 4 Bei allem Respekt vor dem Kommunalhaushalt der größten Stadt in Mitteleuropa mit einer Summe von einer Milliarde im Jahr 1929/30 — diesen Rückgang kann seine Einschränkung um rund ein Fünftel (auf 816 Millionen für 1932/33) nicht ausgelöst haben. Einen erheblichen Teil der „Schuld" kann man ihm zwar bei dem katastrophalen Rückgang der Beschäftigten im Baugewerbe zuweisen, wo noch im Sommer 1933 knapp zwei Drittel der Beschäftigten ohne Arbeit waren, kaum aber für die Arbeitslosigkeit bei den Musikinstrumenten und Spielwaren, die die gleiche Höhe erreichte, oder bei der Möbelindustrie, wo sie schon 1930 etwa 80 Prozent betrug. 5

4

Peter Czada, Die Berliner Elektroindustrie in der Weimarer Zeit. Eine regionalstatistisch-wirtschaftshistorische Untersuchung (- Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 4), Berlin 1969, S. 137 u. S. 196 f. 5 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Berlin für 1930, S. 14.

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Insgesamt gab es — bezogen auf die Bevölkerung — in Berlin 1932 mehr als doppelt so viele Arbeitslose wie im Deutschen Reich, nämlich 194 pro tausend Einwohner im Vergleich zum Reichsdurchschnitt von 93. Vergleicht man Berlin jedoch mit anderen deutschen Großstädten, so zeigt sich, daß es zwar meist in der Spitzengruppe, aber nie an der Spitze der Arbeitslosigkeit stand. Schon am 31. Dezember 1929 hatten von den Städten mit mehr als 100000 Einwohnern acht (nämlich Braunschweig, Bremen, Breslau, Chemnitz, Dresden, Kiel, Lübeck und Stettin) höhere Arbeitslosenquoten als Berlin. Ein Jahr später, als die Arbeitslosenquote Berlins sich knapp verdreifacht hatte, ging es neun Großstädten — außer Breslau, Chemnitz, Dresden, Lübeck nun auch Hagen i. W., Harburg-Wilhelmsburg, Leipzig und Mannheim — noch schlechter; am Jahresende 1931 sogar 14 Städten (Breslau, Chemnitz, Dresden, Duisburg-Hamborn, Erfurt, Hagen, Harburg-Wilhelmsburg, Karlsruhe, Leipzig, Lübeck, Nürnberg, Plauen, Solingen und Stettin). Im Jahresdurchschnitt 1933 hatten hingegen nur noch fünf, nämlich Breslau, Chemnitz, Harburg-Wilhelmsburg, Solingen und Plauen, das nun mit 170,8 Arbeitslosen auf 1000 Einwohner die einsame Spitze hielt, höhere Quoten als Berlin (Berlin 137,3). Im Verlaufe der Krise wurden also immer mehr reine Industriestädte von besonders hoher Arbeitslosigkeit betroffen. Die geringsten Arbeitslosenquoten aller deutschen Großstädte wiesen hingegen durchweg reine Verwaltungsstädte wie Münster i. W. (1933 = 38) und Königsberg (1933 = 58,2) auf, und unter den gemischten Industrie- und Verwaltungsstädten hielt sich Stuttgart stets besonders gut. 6 Wenn Berlin sich in dieser Hinsicht eher in die Reihe der Industrieais der Verwaltungsstädte einreiht, so gibt das einen Hinweis auf seine Erwerbsstruktur. So sehr es preußische und deutsche Hauptstadt und Sitz zahlreicher Verwaltungen und Verbände war, so lebte es doch noch stärker von der Kraft seiner Industrie und der privaten Dienstleistungen sowie vom Handel. Nach der gewerblichen Betriebszählung des Jahres 1933 gab die Reichshauptstadt... in der gewerblichen Wirtschaft — also ohne öffentliche Dienstleistungen, Verwaltung, Post, Bahn und kommunale Dienste — etwa ebenso vielen Personen A rbeit und Brot wie

6 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 49 (1930) — 58 (1939), insbesondere 49 (1930), S. 32; 50 (1931), S. 311; 51 (1932), S. 303; 53 (1934), S. 310.

Berlin in der

Weltwirtschaftskrise

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Württemberg und Baden zusammen.7 (Heute sind es dagegen in WestBerlin nur noch ein Fünftel der Zahlen dieses Bundeslandes.) 8 Berlin ging in die Weltwirtschaftskrise also vornehmlich als eine Industriestadt, war aber auch das größte deutsche Großhandels- und Bankenzentrum und ein Verkehrsknotenpunkt ersten Ranges. Diese Feststellung relativiert die These, die Lothar Gall heute morgen vorgetragen hat, daß Berlin seine Größe allein der Tatsache verdanke, daß es Zentrum der deutschen Politik und der preußischen Verwaltung gewesen sei. Dies ist gewiß richtig für sein Wachstum vom 17. bis in das 19. Jahrhundert hinein. Mit dem Ausbau der Industrie, erst des Maschinenbaus, dann der Bekleidungs- und Elektroindustrie, der Chemie und vieler anderer Branchen, auch dem Ausbau des Verkehrsnetzes und der Übernahme der zentralen Funktion in Handel und Finanz erhält der gewerbliche Sektor jedoch ein eigenes Gewicht. Spätestens seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist Berlin nicht mehr nur das Zentrum der deutschen Politik. Das kann man sich auch mit Hilfe eines kleinen Gedankenexperiments klarmachen. Hätte nämlich die Nationalversammlung 1919 entschieden, die Hauptstadt des Reiches nach Weimar zu verlegen, was ja durchaus in der Diskusion war, so wäre Berlin trotzdem das Zentrum der deutschen Elektro- und Bekleidungsindustrie und ein bedeutender Verkehrs- und Großhandelsknotenpunkt geblieben. Die Verbände wären allmählich in die neue Reichshauptstadt umgezogen, vielleicht auch einige Hauptquartiere von Versicherungen und Banken. Aber es ist ganz undenkbar, daß dies die vielen Industrien und Handelsbetriebe hätten tun können. In der Weimarer Zeit war Berlin also eine Zusammenballung von Bevölkerung und Wirtschaft, und als solche wurde es von der Weltwirtschaftskrise überdurchschnittlich getroffen. Wäre es noch vorwiegend ein preußisches Verwaltungszentrum gewesen, hätte es sich in bezug auf die Arbeitslosigkeit ebenso gut wie Münster oder Königsberg halten müssen. Berlin verlor aber nun in der Krise — auch im Unterschied zu diesen Städten — an Bevölkerung. 1929 und 1930 hatte es 4,33 Millionen überschritten — eine Zahl, die es nur im Zweiten Weltkrieg vorübergehend wieder erreichen sollte. 1931 bis 1933 ging die Bevölkerung Berlins jedoch zurück, nicht nur wegen des 7 Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 466: Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Junil933. Gewerbliche Betriebszählung. Das Gewerbe im Deutschen Reich, Textband, Berlin 1937, S. 113. 8 Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1987, S. 102.

310

Wolfram Fischer

schon vorher vorhandenen Sterbeüberschusses, sondern nun auch, weil die Zahl der Abwandernden die der Zuwandernden überstieg. 1931 gab es den ersten Wanderungsverlust von 7772 Personen, 1932 betrug er schon 28 562 und 1933 38 585 Personen. Am Ende des Jahres 1933 lag die Bevölkerung der Reichshauptstadt mit 4,22 Milllionen um 111 000 = 2,6 Prozent niedriger als Ende 1930. 9 Das ist zwar nicht sehr viel, bedeutete aber die U m k e h r eines jahrzehntelangen Trends. W i e auch aus anderen Städten, so wanderten nun Menschen zurück auf das Land, wo es wenigstens genug zu essen und meist auch Arbeit gab, wenn auch keine sehr lohnende. U n d von den in der Stadt Bleibenden ging weniger wirtschaftliche Aktivität aus. Das spürten auch die städtischen Verkehrs- und Versorgungsbetriebe, die Umsatzverluste (bei Unterschieden im einzelnen) in der Größenordnung von 40 Prozent hinnehmen mußten, und das spürte der Stadtkämmerer — und damit komme ich am Schluß an den Ausgangspunkt zurück, die Berliner Kommunalwirtschaft. Sie hat sich — wie hätte es anders sein können — den neuen Zwängen anzupassen versucht und nicht gegengesteuert, wie das spätere Keynesianer gern gesehen hätten. Die Ausgaben wurden zurückgeschraubt, die Gebühren und Tarife erhöht, der Betrieb rationalisiert. Die B V G entließ bis 1932 mit 6700 Mann 26,4 Prozent ihrer Belegschaft von 1929 und rutschte trotzdem immer tiefer in rote Zahlen. Die Stadtentwässerung reduzierte ihre Belegschaft im gleichen Umfang (26,8 Prozent), blieb aber rentabel, ebenso wie die Wasserwerke, die durch Erhöhung der Gebühren sogar Mehreinnahmen erzielten und ihre Belegschaft nur um 4,2 Prozent reduzierten. Die B E W A G verringerte ihren Personalbestand um 18 Prozent, obwohl sie in der Gewinnzone blieb. Sie erbrachte außerdem durch Teilprivatisierung — sie wurde nicht einfach verkauft, sondern in komplizierter Weise umstrukturiert — der Stadt Berlin eine höchst willkommene Entlastung in H ö h e von rund 200 Millionen R M , was die schwebende Schuldenlast um rund ein Drittel verminderte und der Stadt ermöglichte, wenigstens die Fälligkeitstermine einzuhalten. Auch die G A S A G blieb in der Gewinnzone und führte 1932 noch immer 15 Millionen R M an die Stadt ab. 1 0 Insgesamt halfen also die Berliner öffentli-

' Statistisches Jahrbuch

der Stadt Berlin 10 (1934), S. 27.

O t t o Büsch, Geschichte der Berliner Kommunalwirtschaft in der Weimarer Epoche ( - Veröffentlichungen der Berliner Historischen Kommission beim Friedrich-Meinecke10

Institut der Freien Universität Berlin, Bd. 1), Berlin i 9 6 0 , S. 157—185. — H . Köhler, Berlin in der Weimarer Republik... (wie Anm. 1), S. 904.

Berlin in der

Weltwirtschaftskrise

311

chen Betriebe der Stadt, die Krise finanziell zu meistern — bis auf die B V G , die Subventionen in der Größenordnung von 30 Millionen R M erhielt, dafür aber den U-Bahn-Bau entgegen der Behauptung Köhlers nicht einstellte, sondern das Schnellbahnnetz von 61 km 1929 auf 81 km 1932, also um 31 Prozent, verlängerte — eine nicht unbeträchtliche Investitionsleistung in dieser Zeit. Die Stadt Berlin mag mit 1,2 Milliarden R M 1929 (davon etwa 400 Millionen kurzfristig) „überschuldet" in die Krise gegangen sein. In ihr hielt sie sich jedoch besser als andere Städte, wenn auch zuletzt nur noch mit Hilfe des Reichs, das verhindern wollte, daß die Reichshauptstadt, wie das in Dresden, Frankfurt oder Köln der Fall gewesen war, ihre Zahlungen einstellen mußte. Das Thema „Berlin in der Weltwirtschaftskrise" umfaßt jedoch mehr als die Finanzkrise der Stadt Berlin, es umfaßt vor allem den wirtschaftlichen Niedergang seiner Industrien. Diese größere Krise brach über Berlin herein — wenn auch nicht über Nacht, so doch Schritt für Schritt. Eine vorsichtigere kommunale Finanzpolitik in den zwanziger Jahren hätte die Stadt höchstens instandgesetzt, sie etwas abzumildern; verhindern hätte sie sie nicht können.

Vierte Sitzung Leitung: Herbert A. Strauss, Berlin/New York

Berlin unter dem Nationalsozialismus PETER STEINBACH Passau

Berlins Zeitgeschichte kann auch mehr als fünfzig Jahre nach Hitlers Regierungsübernahme wegen ihrer Vielfältigkeit und Ambivalenz ratlos machen 1 — nicht zuletzt, weil wichtige Studien zur städtischen Zeitgeschichte fehlen 2 und die Stadtgeschichte auch politisch umstritten bleibt. In einem Punkt jedoch dürfte unter den Historikern der Stadt Berlin, hüben wie drüben, Einmütigkeit erzielt werden: Die Jahre 1933 bis 1945 brachten den schwersten Rückschlag in der Geschichte der Stadt. Sein Ergebnis wird durch zerstörte Symbole Berliner Stadt-, Berliner Staats- und Reichsgeschichte angedeutet: den zerstörten Führerbunker, die zerschossenen Kulturzentren, den Rotarmisten mit einer roten Fahne auf Quadriga und Reichstagsgebäude. Am Ende der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht stand mehr als die Befreiung vom Nationalsozialismus. Das Ende des deutschen Nationalstaats in der Gestalt, die Berlin als Reichshauptstadt auf den Gipfel seiner Entwicklung und seiner öffentlichen Reputation geführt hatte, wurde bald als die Vorgeschichte der deutschen Teilung gedeutet, die sich besonders sinnfällig in der Spaltung der Stadt verkörperte. 3

1 Vgl. etwa Olaf Groehler, Berlin als Opfer der Kriegspolitik des deutschen Imperialismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 35 (1987), S. 521—525, und den Arbeitskreisbericht von Joachim Petzold, Berlin während der Weimarer Republik und der faschistischen Diktatur, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 35 (1987), S. 548 f.; Gottfried Korff/Reinhard R ü r u p (Hrsg.), Berlin, Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt, Berlin 1987, S. 513 ff. 2 Eine wichtige Grundlage für die Berliner Stadt- und Zeitgeschichte liegt jetzt mit Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 1 u. 2, München 1987, vor. 3 Vgl. die einzelnen Beiträge zu Hannelore H o r n (Hrsg.), Berlin als Faktor und internationaler Politik (- Wissenschaft und Stadt, Bd. 7), Berlin 1988.

nationaler

316

Peter

Steinbach

In den vergangenen Monaten ist mehrfach die Forderung erhoben worden, auch zeitgeschichtliche Entwicklungen müßten historisiert werden. 4 Der Sinn dieses Verlangens bleibt dunkel, und vielleicht hatte gerade deshalb diese Forderung alle Chancen, zum wissenschaftlichen und politischen Selbstläufer zu werden. Wenn damit gemeint wurde, gleichsam eine klinische, emotionsfreie und sich über moralische Gesichtspunkte erhebende Geschichtsschreibung der nationalsozialistischen Zeit betreiben zu können, so stand zu dieser Empfindung der wenige Monate nach Broszats prononciertem Plädoyer 5 für die Historisierung auch der nationalsozialistischen Zeit aufbrechende Streit im eklatanten Gegensatz. Diese Kontroverse über die Singularität nationalsozialistischer Gewaltverbrechen und ihre Bedeutung für die Gegenwart, ihre Nachwirkung in unserer Zeit war eine extrem moralische Kontroverse und beweist noch einmal die Bedeutung der Zeitgeschichte für die Fixierung von Koordinaten politischer Verantwortung und wissenschaftlicher Praxis. Historisierung der Zeitgeschichte kann nicht bedeuten, emotionsund moralfreie, gleichsam „vorurteilslose" historische Forschung zu betreiben — und dies gilt allemal für die Geschichte Berlins unter dem Nationalsozialismus. Gerade wer die Geschichte bedenkt, die zu Hitler führte und unter dem Nationalsozialismus sich ereignete, wird niemals

4 Diese Forderung wird dabei stärker von Historikern und Sozialwissenschaftlern erhoben, die ihr Medium in der Tages- und Wochenpresse gefunden haben, als von Historikern, die gerade die Historisierung als Grundlage der geschichtswissenschaftlichen Forschung reflektiert haben. Besonders engagiert wird die Historisierungsforderung von dem Trierer Politikwissenschaftler Eckhard Jesse und dem Berliner Sozialwissenschaftler Rainer Zitelmann erhoben, nicht selten, indem geradezu Rezensionsgemeinschaften gebildet werden. Das jüngste Beispiel bieten Eckhard Jesse, Der sogenannte , Historiker streit': Ein deutscher Streit, in: Thomas M. Gauly (Hrsg.), Die Last der Geschichte. Kontroversen zur deutschen Identität, Köln 1988, S. 9ff., und die Besprechung von Rainer Zitelmann, Geschichtsschreibung, A ufklärung und Politik, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 31 vom 7. 2.1989, S. 9. Beide haben gemeinsam eine Betrachtung über die Bundestagsrede von Philipp Jenninger zum 9.11.1938 zum Anlaß genommen, die Tabus der Tabubrecher zu beleuchten (Rheinischer Merkur/Christ und Welt, Nr. 47 vom 18.11.1988, S. 3) und mit einer Kritik der Zeitgeschichtsschreibung zu verbinden. 5 Martin Broszat, Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, in: Merkur 39 (1985), S. 373—385, jetzt auch ders., Zur Kritik der Publizistik des antisemitischen Rechtsextremismus, in: ders., Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, hrsg. von Hermann Graml und Klaus-Dieter Henke, München 1986, S. 262—270; ders., Was heifit Historisierung des Nationalsozialismusin: Historische Zeitschrift 247 (1988), S. 1—14.

Berlin unter dem

Nationalsozialismus

317

verdrängen können, weshalb sie so schwer über ihn hinausführen wird und uns bis heute in den Bann der nationalsozialistischen Zeit schlägt. Wer immer sich mit nationalsozialistischer Verwaltungs- und Entscheidungs-, mit Verfolgungs- und Widerstands-, mit Kriegs- und Alltagsgeschichte dieser Zeit befaßt hat — er kann kaum durch die Straßen der Stadt gehen, ohne sich an Ereignisse, historische Orte und im Raum städtischer Beziehungen sich entwickelnde Alltagswirklichkeiten zu erinnern. Und der mit der Historisierungsforderung verbundene Versuch, eine Art Fortschrittsgeschichte des Dritten Reiches zu versuchen, stößt sich in wohl keiner Stadt so sehr an den Folgen wie in Berlin. Es war der Widerstandskämpfer Axel von dem Bussche, der in einem langen Filminterview mit Jürgen Engert das Berlin diesseits und jenseits der Mauer mit seinen zeitgeschichtlichen Erfahrungen im Widerstand verknüpfte. 6 Die Geschichte des Nationalsozialismus in Berlin stand deshalb stets im Schatten der Nachkriegszeit. Vielleicht erklärt sich daraus der relativ desolate Forschungsstand, der bei einem Vergleich mit früheren Zeiten ins Auge fällt. Wir sind über die Sozial- und Alltags-, die Parteiund Verbandsgeschichte des Kaiserreiches ungleich besser informiert als über die Geschichte des Dritten Reiches in Berlin,7 vielleicht, weil sich die Politikgeschichte lange Zeit auf der Berliner Bühne zu Ereignissen entwickelte, die immer mehr an die Inszenierungen nationalsozialistischer Macht als an realgeschichtliche Lebensbezüge geknüpft waren. Fackelzug, Olympiade, Paraden und Einweihungen der Bauten Speers, Braunes Band und Führergeburtstag bestimmten als bildlich gut dokumentierte Ausdrucksformen einer inszenierten und ästhetisierten Politik das Bild der Stadt weit über die Kommunalgrenzen hinaus. Wenn Berliner Stadtgeschichte jemals zur allgemeinen Geschichte wurde — dann zwischen 1933 und 1945. Und auch in dieser Hinsicht brennen die Bilder im Bewußtsein: der auflodernde Reichstag, die bis auf die Grundmauern zerstörten Synagogen, die von Bomben getroffene Hedwigskirche auf der einen, monumentale Bauwerke, monumentalere Baupläne, Verwaltungsgebäude, in denen Pläne zur Umgestal-

6

A R D , 19. 7.1988, 20.15 Uhr (SFB). Wichtige Beiträge zur städtischen Zeitgeschichte Berlins stellen die von Wolfgang Ribbe herausgegebenen Berlin-Forschungen bereit, die inzwischen mit Band 5 fest institutionalisiert sind: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Berlin-Forschungen I—V (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 54, 61, 66, 70, 71), Berlin 1986—1990. 7

Peter Steinbach

318

tung der Gesellschaft von unvorstellbarer Zügellosigkeit entwickelt, umgesetzt und in ihren Ergebnissen erfaßt wurden, auf der anderen Seite. 8 So betrachtet, ist die Geschichte der nationalsozialistischen Reichshauptstadt ein Exempel moderner Politik, die noch den Begriff sucht, auf den sie gebracht werden kann. Sicherlich gab es technokratische Elemente, planwirtschaftliche Ansätze — ebenso aber auch Unübersichtlichkeit, hemmungslosen Präsentismus, Korporatismus und immer wieder sichtbare Elemente einer totalitären Herrschafts- und Gesellschaftsauffassung, die darauf abzielte, zukünftige Geschichte mit endzeitlicher Rigidität zu gestalten. Kaum jemals sind die Intentionen zentraler Dienststellen und ihr Agieren vor der Öffentlichkeit klarer analysiert worden als in Hannah Arendts großartigem Buch über Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft. 9 Der Wille zur Herrschaft des Gesetzes schwindet — damit werden Konturen humaner Orientierung vernichtet und Handlungsmöglichkeiten des Menschen, die seine Freiheit ausmachen, zerstört. Die Beseitigung des Schutzcharakters, der Recht im Verfassungsstaat auszeichnet, steht am Beginn der nationalsozialistischen Stadtepoche. Dieses Ziel wird konkret erreicht durch ein Fanal, in das Berliner Institutionen, nicht zuletzt die Feuerwehr, einbezogen werden. Der Berliner Reichstagsbrand ist zumindest als Ereignis und in seinen Wirkungen unbestritten, so kontrovers noch immer die Konstruktion der Abläufe ist: Mit ihm gelingt den Nationalsozialisten zum ersten Male die Ausschaltung einer hauptstädtischen, scharf oppositionellen Gegenelite. Sie ist in weiten Teilen identisch mit der deutschen politischen Elite schlechthin, sieht man von einzelnen regionalen Schwerpunkten der Parteien und Verbände mit ihrer spezifischen Publizistik ab. Der Verlust trifft Berlin und das Reich gleichermaßen. Nach der frühen Ausschaltung der Gegner nationalsozialistischer Politik setzt die weltanschauliche Homogenisierung ein. Ihre Wirkungen sind zuerst und am stärksten in Berlin, im Zentrum des deutschen Judentums, zu greifen. Politische und rassenpolitische Verfolgungen

8

J o s e f Paul Kleihues (Hrsg.), 750 Jahre

Internationale

Architektur

und Städtebau

in Berlin.

Die

Bauausstellung im Kontext der Baugeschichte Berlins, Stuttgart 1987, darin

vor allem Wolfgang Schäche, Bauen im Nationalsozialismus

— Dekoration

der Gewalt,

S. 183—212. 9

Hannah Arendt, Elemente

Main-Berlin-Wien 1975.

und Ursprünge

totaler Herrschaft,

Bd. 1—3, Frankfurt/

Berlin unter dem Nationalsozialismus

319

vermengen sich rasch — dabei wird nicht mit dem „Archipel Gulag", sondern mit den Erfahrungen der Novemberrevolution und der „Systemzeit" argumentiert. Berlin ist das Symbol von Revolution und Weimarer Kultur, es wird überdies zum nationalsozialistischen Sinnbild der verabscheuten westlichen Zivilisation. Hitler hat sich in seiner Kampfschrift über viele der Städte geäußert, die er mit seinem Leben in Verbindung brachte. Berlin gehört zu den am stärksten verabscheuten Städten Hitlers. Deshalb wurde die Stadt niemals mentales Zentrum des nationalsozialistischen Regimes. Berlin blieb den Nationalsozialisten unheimlich, denn es bewahrte auch nach der „Machtergreifung" Gegensätze, Entwicklungstendenzen und Traditionen in sich, die den Nationalsozialisten fremd waren und verräterisch, ja gefährlich vorkommen mußten. Berlin und Reich, Bevölkerung und Nation waren niemals deckungsgleich — vielleicht floß aus der politischen Differenz ein guter Teil jener Widerstandskraft, die Berlin bald zu einem Zentrum des nationalsozialistischen Maßnahme- und Uberwachungsstaates machte. Seit Hitlers Scheitern beim Novemberputsch 1923 konzentrierte sich sein Herrschaftswille auf Berlin und verband sich dabei unzweifelhaft mit Rachegefühlen. Die Hauptstadt repräsentierte das erstrebte und bis in die frühen dreißiger Jahre durchaus widerstandsfähige Zentrum der Macht und damit eine Lebens- und Denkform. Berlin verkörperte zugleich Widerspenstigkeit, Unübersichtlichkeit, vielleicht sogar Unregierbarkeit — und dies lag nicht nur am Raum, sondern auch an seinen Menschen, den Berlinern. Die Stadt symbolisierte die Vielschichtigkeit, die sich dem hegemonialen und homogenisierenden Zugriff einer totalitären Bewegung entzog — um so überraschender ist, daß dann aus den Berliner Zentren nicht ein ernstzunehmender Umsturzversuch erfolgte, weshalb sich Anpassungsbereitschaft und Nachfolgewillen so deutlich greifen lassen. Winfried Becker sprach einmal von einer Demokratie im Untergrund10 — in Berlin ist sie zumindest nicht in manifester, regimebedrohender Weise anzutreffen gewesen. Berlin mußte von den Nationalsozialisten zwar von außen erobert werden — es ließ sich aber überraschend willig schleifen und suchte Zuflucht in Lebensgefühlen und Stimmungen, in Gleichgültigkeiten, die nicht allein Ausdruck eines zwiespältigen Bewußtseins, sondern 10 Winfried Becker, Politische Neuordnung aus der Erfahrung des Widerstands. Katholizismus und Union, in: Peter Steinbach (Hrsg.), Widerstand. Ein Problem zwischen Theorie und Geschichte, Köln 1987, S. 261—292.

320

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vielleicht eines spezifisch hauptstädtischen Gefühls der Leichtigkeit waren. Es gibt auch Gegenbeispiele. Inge Deutschkron hat sie eindrucksvoll beschrieben" und konnte damit jüngst in Israel große Aufmerksamkeit finden: wenn schon nicht „Demokratie im Untergrund", so doch wenigstens bemerkenswerte Mitmenschlichkeit. Andererseits: Der nationalsozialistische Terror errichtet innere Fronten und erleichtert so in manchen Fällen Scheidung und Entscheidung. Damit fordert er den Widerspruch, schließlich Widerstand heraus und schafft in der Frühzeit durch die indirekten Folgen des Schreckens die Voraussetzungen dafür, daß die Gegner des NS-Regimes ihre Deckung verlassen. Sie wurden so häufig schutzlos. Berlin ist unter dem Nationalsozialismus deshalb mehreres gleichzeitig. Es bleibt das politische, wirtschaftliche und verwaltungsmäßige Entscheidungszentrum und erlangt einen neuen Gipfel seiner Macht. Hier werden entscheidende Weichen wirtschaftlicher Mobilisierung, militärischer Aufrüstung, außenpolitischer Expansion mit kriegerischen Mitteln und schließlich der rassenpolitisch motivierten Verfolgung und Menschenvernichtung gestellt. In seiner Kampfschrift hatte Hitler gegen Berlin polemisiert als „Ausdruck der Zeit" — daran änderte sich auch nach 1933 nichts. Das Berlin als „Ausdruck moderner Kultur" zerstörte er, zumindest aus einer Perspektive, die nichthistorisch die Modernität des Nationalsozialismus zum Movens des Fragens und Deutens aus revisionistischer Absicht macht. In einem Punkt hatte er allerdings nicht recht, wenn er wie folgt spekulierte: Würde das Schicksal Roms Berlin treffen, so könnten die Nachkommen als gewaltigste Werke unserer Zeit dereinst die Warenhäuser einiger Juden und die Hotels einiger Gesellschaften als charakteristischen Ausdruck der Kultur unserer Tage bewundern.12 Berlins Platz im Europa der Neuzeit erhält nach 1933 und insbesondere nach dem Angriff auf Polen rasch eine schreckliche Bedeutung. Berlin steigt von der Reichshauptstadt zur Weltstadt in einer ganz spezifischen Prägung auf: Kein Winkel der Erde bleibt unbeeindruckt und unbeeinflußt von dem, was in Berlin geschieht, und fast ganz Europa spürt mit seinen Hauptstädten, die an Glanz Berlin in langer Geschichte übertrafen, die Degradierung zum Vasallen. Man sollte nicht vergessen, daß in Berlin Entscheidungen zur Degradierung von Metropolen — Wien, schließlich durch systematische Zerstörung von 11 12

Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, Köln 1978. Adolf Hitler, Mein Kampf, 10. Aufl., München 1942, S. 291.

Berlin unter dem

Nationalsozialismus

321

Warschau als Paris des Ostens — fallen. Berlin wird Weltstadt, obwohl die Nationalsozialisten durch die rassisch, politisch und kulturell motivierte Vertreibung ungezählter Deutscher die Voraussetzungen für einen bis heute nicht aufgeholten wissenschaftlichen und kulturellen Niedergang schaffen. Mario Rainer Lepsius hat einmal die „Kosten" der Vertreibung von Juden, Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten, von Liberalen, von Wissenschaftlern und Künstlern zu bestimmen gesucht als eine Hypothek für diejenigen, die im Lande geblieben sind und die nach 1945 Verluste an Ansehen und Tradierung, an Leistung und Anregung verschmerzen mußten. 13 Keine Wissenschaftspolitik, keine noch so glanzvolle Berufungspolitik hätte den „Schaden" beheben können. Hitlers Pläne, Berlin zum Zentrum eines deutschen Weltreiches zu machen, bestimmen ebenso das Schicksal der Stadt wie die unmittelbaren Eingriffe in Kultur, Verwaltung und Politik. Keine Macht der Welt hätte nach übersteigerten, nach hybriden Vorstellungen nationalsozialistischer Geschichtsplaner Berlin unbeschädigt lassen können, mochten auch die auf die Zerstörung des deutschen Nationalstaates gerichteten Ziele der Alliierten ganz unabhängig von den Wirklichkeiten des nationalsozialistischen Herrschaftsstrebens und Völkermords an den Juden formuliert worden sein. Die Bedeutung Berlins lag aber nicht nur in der projektierten Stellung, sondern auch in seiner Rolle als militärisches Entscheidungszentrum. Uberall waren in der Stadt zentrale Dienststellen der Wehrmacht verstreut, zunehmend darauf abgestellt, die infrastrukturellen und logistischen Voraussetzungen für eine Hitler auf den Gipfel seiner Erfolge treibenden militärischen Expansion zu schaffen. Das Oberkommando der Wehrmacht folgte der Front, blieb aber stets von dem Berliner Militärzentrum abhängig. Deshalb war es durchaus realistisch, hier den Versuch zu wagen, das Regime zu stürzen. Klaus Bonhoeffer konnte in diesem Sinne zu seiner Frau Emmi sagen: Eine Diktatur ist eine Schlange. Wenn Du sie auf den Schwanz trittst, beißt sie Dich ins Bein. Du mußt den Kopf treffen. Und das kannst Du nicht, und das kann ich nicht. Das kann nur das Militär. Darum ist das einzige, was Sinn hat, die Militärs zu überzeugen, daß sie handeln müssen.1*

13

Sein Vortrag wird demnächst von M. Röder und J. Petersen veröffentlicht. Emmi Bonhoeffer, Licht aus altem Graun, in: Der 20. Juli 1944. Reden zu einem Tag der deutschen Geschichte, hrsg. vom Informationszentrum Berlin, Bd. 1, Berlin 1984, S. 179—185, hierS. 181. 14

322

Peter

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Das einzig Mögliche bedeutet nicht das allein Wirkliche. Berlin wird nicht allein deshalb zum Umsturzzentrum, weil hier der Umsturz gewagt wird. Berlin bleibt über alle Unterdrückungs-, Kontroll- und Terrorbestrebungen der Nationalsozialisten hinweg das Zentrum des Widerstands schlechthin. Wir haben uns in den vergangenen Jahren in der modernen Widerstandsforschung bemüht, den Widerstand in seiner sozialen Breite und politischen Vielfalt, in seiner zeitlichen Entwicklung und graduellen Steigerung zu erkennen und zu erfassen. Dies war nur möglich, weil sich unsere Wertmaßstäbe ausgeweitet und verändert haben. Die Fähigkeit, sich weltanschaulich, innerinstitutionell, politisch und schlicht mitmenschlich gegen den totalitären Anspruch des Regimes zu behaupten, sie erschien uns nicht nur als Leistung an sich, sondern als Ausdruck menschlicher Selbstbehauptungskraft. Diese Kraft war in allen Gruppen, Lagern und Konfessionen anzutreffen. Wir haben auch gelernt, neben die Würdigung der Ziele des Widerstands ein Gespür für die Methoden seiner inneren Auseinandersetzungen und Angleichungen, für die Verläufe von Diskussionen und Zielfindungen zu entwickeln. Dies führt keineswegs zu einer Relativierung des Widerstands oder sogar zur Rechtfertigung des Widerstandes an sich, sondern zur Entwicklung von Kriterien, die den ganzen Gehalt von Protest, Nonkonformität, Opposition, Zivilcourage, von Konspiration und dem schließlich letzten entscheidenden Wurf angemessen zu erfassen gestatten.15 In Berlin herrschte sicherlich ebenso wie in allen anderen Teilen Deutschlands verbreitete Anpassungs- und Folgebereitschaft, vor allem dann, wenn man die Handlungsbereitschaft und das konkrete Verhalten zum Bewertungsmaßstab eines bewußt Risiken eingehenden Handelns macht. Dennoch sind die kommunistischen und sozialistischen, die sozialdemokratischen und kirchlichen Widerstandsgruppen, aber auch die liberalen, von Theodor Mommsen beschworenen, von Dolf Sternberger später erneut revitalisierten moralischen Ansprüche der aufgeklärten politisch-bürgerlichen Widerstandskreise zu greifen. Sie verbinden sich in einzelnen Fällen auch mit dem Wunsch, den verfolgten Juden zu helfen. Allerdings zeigt auch die Berliner Widerstandsgeschichte jene Forschungsdefizite, die nur allgemeine Aussagen

Peter Steinbach, Der Widerstand als Thema der politischen Zeitgeschichte. Ordnungsversuche vergangener Wirklichkeit und politischer Reflexionen, in: Gerhard Besier/ Gerhard Ringshausen (Hrsg.), Bekenntnis, Widerstand, Martyrium. Von Barmen 1934 bis Plötzensee 1944, Göttingen 1986, S. 11—74. 15

Berlin unter dem

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gestatten, denn wir sind weit davon entfernt, einen Überblick über die Leistungen und Gefährdungen, die Erfolge und Nachwirkungen der Regimegegner geben zu können. Manche Spuren verlieren in der Emigration ihr Licht, manche in Gefängnissen und Lagern. Mancher Gegner wird innerlich gebrochen und kann sich nach 1945 lange Zeit nicht zu seiner Geschichte bekennen. Andere wollen von ihren Taten kein Aufhebens machen — mit Folgen für die Erinnerung: Es ist mühsam, eine Liste der „Unbesungenen Helden", der „Gerechten", der von Sondergerichten wegen ihrer Mitmenschlichkeit Verfolgten zusammenzustellen. Wir wissen oft mehr über die Täter, die in den Zentren der nationalsozialistischen Verfolgungsapparate ihr Handwerk ausübten und ihren, wie sie es empfanden, „Dienst erledigten", als über die Opfer, deren Angehörige und Umfeld. Ich befürchte, die Chancen, hier aufzuklären und zu bewahren, sind vertan. Hier rächt sich der desolate Zustand der modernen zeitgeschichtlichen Forschung. Dies gilt in mancher Beziehung auch für die kommunale Verwaltungsgeschichte, die für die Zeit nach 1933 in der großen BerlinGeschichte, die in diesem Jahr erschienen ist, die sicherlich wichtigsten Voraussetzungen für die weitere Erforschung erhalten hat. Wie nötig dies ist, zeigt ein Vergleich der Beurteilung des Berliner Bürgermeisters Sahm. Während Ribbe und Engeli Sahm nur mangelnde Einsicht vorwerfen und ihm dabei Moralität bescheinigen, die schließlich in die verspätete Resignation führte, macht ein anderer Beiträger 16 ohne Beleg und Zögern Sahm zu einem charakterlosen Konservativen. Wenn wir doch statt derartiger Aussagen Klarheit über das kommunalpolitische Verhandlungsverhalten, über Handlungs- und Entscheidungsspielräume hätten — wir wären weiter. An der Einschätzung von Sahm, der in seinen Fehlern und seinen Illusionen kaum weit entfernt ist von späteren Widerstandskämpfern, die ihre Zeit zur Entscheidungsfindung brauchten, macht sich zugleich der wohl schwerwiegendste Nachteil der Berliner Stadtgeschichte bemerkbar: Sie ist nicht aus ihren eigenen Möglichkeiten und Bezügen, sondern nur aus Reichs- und Staatenperspektive zu betreiben. Vielleicht führt das zu den konkreten Forschungs- und Darstellungsdefiziten im Vergleich zu Hauptstädten wie London, Paris, Wien und Rom. Die Geschichte der Stadt Berlin erscheint auf diese Weise als Reflex einer in dieser Stadt, zugleich aber über sie verfügten Geschichte. Die Verfolgung der Juden, die sehr früh einsetzt und keineswegs im zeitli16

Es handelt sich dabei um Henning Köhler.

Peter Steinbach

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chen Umkreis des Angriffs auf die Sowjetunion als Ausdruck einer Abwehr unterstellter Bedrohung — „asiatische T a t " gegen asiatische Tat — gedeutet werden mag, geschieht in der Stadt, prägt sie aber nicht. Zwiespältige Zufluchten lassen denjenigen, die nicht unmittelbar betroffen sind, viele Nischen — Coca-Cola, Dixie- und sogar Jazzmusik sind Ausdruck der Privatheit und zugleich Beruhigungsmittel.17 Insofern beschrieb Wolfgang Menge in seinem ganz privat getönten Hauptstadtbild sicherlich Wirklichkeitsphänomene, nicht aber Realität. Es ist überraschend, daß das Leben zwischen Bomben und Gestapo ausgehalten wird und sogar die Unterstützung des Regimes in der Stadtbevölkerung verstärkt. Man sollte die einzelnen Widerstandsakte und Widerstandshaltungen nicht überbewerten — was können sie bedeuten angesichts der Tatsache, daß das Berliner Judentum eingeschüchtert, vertrieben, schließlich deportiert und ermordet worden ist — bis auf ganz wenige Einzelfälle, die uns in allen Erinnerungen an die Helfer für Verfolgte stets unwichtiger waren als etwa den Israelis, die jeden Helfer eines Geretteten ehren? Berlin ist niemals nur Zentrum des Widerstands in seinen vielfältigen Richtungen gewesen, die anzuerkennen uns bis heute schwerer fällt, als man jemals vermutet hätte — es war unter anderem Koordinierungszentrum für die Vernichtung eines Volkes. Auch dies muß derart scharf gesagt werden, denn den Nationalsozialisten gelingt es lediglich nicht, das Judentum in der westlichen Welt und damit als Volk auszurotten — die Welt des Stettl, des Ostjudentums mit seiner reichen sprachlichen, literarischen, musikalischen Kultur, mit seinen Lebensformen und seiner Lebenskraft — sie ist verbrannt und vergangen ganz und gar.ls Die Entscheidungen Berliner Dienststellen liegen vielfach im dunkeln und damit ihre Verantwortlichkeiten. Dabei gibt es heute noch Zeitgenossen, die aussagen können und aussagen wollen. Sekretärinnen, Sonderkommandoleiter, Offiziere, Nationalsozialisten mittlerer Ebenen — sie alle werden nicht befragt; dabei kann nicht nur Oral History die Methode sein, mit der die Verarbeitung der Lebenswirklichkeit von Opfern historischer Entwicklungen erforscht und reproduziert wird. Welche Möglichkeiten stünden uns für die Berliner Stadtgeschichte offen, wenn wir bewußt und zielgerichtet Lebenserin-

17

Hans Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein. Uber deutsche Kultur und Lebens-

wirklichkeit 1933—1945,

München-Wien 1981.

Hannah Arendt, Juden in der Welt von gestern, in: dies., Die verborgene Acht Essays, Frankfurt/Main 1976, S. 74—87, hier S. 76. 18

Tradition.

Berlin unter dem

Nationalsozialismus

325

nerungen wie die von Ursula von Kardorff, Margret Boveri, von Stahlberg, Bielenberg und anderen befragt hätten. Die Amerikaner sind in dieser Hinsicht weiter — und das Feld der Berliner Stadtgeschichte bleibt abhängig von forschen Urteilen wie jene über Sahm und Goerdeler oder aber eingefangen in Vorurteile wie jenes, die Widerstandsgruppen um Harnack und Schulze-Boysen seien kommunistisch gewesen, die Widerstandsgruppen um Herbert Baum hätten Hunderte von Geiseln auf dem Gewissen (was nun erwiesenermaßen nicht stimmt), der Widerstand im Umkreis des 20. Juli 1944 hätte sich erst in letzter Sekunde zum Handeln aufgerafft. 19 Mythen blühen, werden weitergetragen — und die sich mit den Gedenktagen bietenden historischen Chancen für Forschung und Aufklärung werden vertan. Das Thema „Berlin unter dem Nationalsozialismus" läßt sich nicht in enzyklopädischer Dichte beschreiben, denn uns fehlen die grundlegenden Kenntnisse: über Verwaltungsstrukturen und Entscheidungswege, über Ereignisketten und ihre gegenseitige Verknüpfung über Disziplinen hinweg. Oder uns plagt das schlechte Gewissen. Wenn etwa ein Beitrag über den NS-Architekten Albert Speer sich gleichsam dafür entschuldigt, 20 daß er in einem Band über Berliner Stadtplaner aufgenommen worden ist, dann bin ich geneigt, die Historisierungsforderung nachdrücklich zu unterstreichen. Wenn ich andererseits in einem seriös wirkenden Buch über den „Europäischen Bürgerkrieg" wissenschaftlich anmutende Bemerkungen über die äußere Gestalt des Protokolls über die Koordinierung der „Endlösung" im Rahmen der Wannsee-Besprechung in der Villa am Kleinen Wannsee 56/58 lese,21 Bemerkungen, die mehr als nur die seriöse Zeitgeschichte diskreditieren, dann kann ich nur sagen: Zeit- und stadtgeschichtliche Forschung bedarf schon des Blicks auf potentielle Umfelder und Wirkungen. Zu dieser Verantwortung haben sich Historiker, die stets auch ein wenig Politologen ihrer Zeit waren, immer bekannt. Diese Hinweise geben letztlich aber keine befriedigende Antwort auf die Fragen, die bei einem Thema wie dem mir gestellten eigentlich " Weil es mir im Zusammenhang dieses Essays auf die grundsätzliche Dimensionierung der Forschungssituation ankommt, verzichte ich hier auf Einzelbelege. 20 Wolfgang Schäche, Albert Speer, in: Wolfgang Ribbe/Wolfgang Schäche (Hrsg.), Baumeister — A rchitekten — Stadtplaner. Biographien zur baulichen Entwicklung Berlins (= Veröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin. Berlinische Lebensbilder), Berlin 1987, S. 511—528. 21 Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917—1943. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt/Main-Berlin 1987, S. 513.

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Peter

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behandelt werden könnten und müßten. Quellen sind vorhanden, bestenfalls verstellt durch Datenschutzdiskussionen und Ausflüchte, die sich auf den falsch verstandenen Datenschutz berufen. Einzelne der Schätze, die bei Lastenausgleichsämtern liegen, sind bekannt. Nicht zu beschreiben, was ihre Erfassung und Auswertung für ein Thema wie die Geschichte der Juden unter dem Nationalsozialismus bedeuten könnten. Auch die Akten nationalsozialistischer Gerichtsverfahren geben für die Geschichtsschreibung ebensoviel her wie die Unterlagen über den Volksgerichtshof, die im Zuge eines Ermittlungsverfahrens gesammelt worden sind. Im Verlauf der Arbeit an der Berliner Widerstandsausstellung wurde ein Ausstellungsfundus angelegt, der durchaus zu einer Dokumentationsstelle des Widerstandes ausgebaut werden könnte und viele berlinspezifische Bezüge erschlösse. Das zeithistorische Ereignis dieses Jahres ist auf lange Sicht nicht der gewiß wichtige, in wesentlichen Grundzügen aber nur inszenierte Historikerstreit, sondern die Erschließung des Geländes in der Prinz-Albrecht-Straße. Auch sie schafft Voraussetzungen für weiteres Befragen und angemessene Antworten ebenso wie die Ausgestaltung der Wannsee-Villa, mit deren Umgestaltung sich das Lebensziel des großen Joseph Wulf, des beharrlichsten Berliner Zeithistorikers, erfüllt. Berlin unter dem Nationalsozialismus — dieses Thema bezeichnet so auch eine verlorene Chance der Nachkriegszeit, die versäumt hat, die städtische Zeitgeschichte nach intensiver Ausforschung in die nationalgeschichtlichen, europäischen und weltgeschichtlichen Zusammenhänge einzuordnen. Ein Blick in die Bibliographien zeigt, wieviel einzelnen Initiativen zu verdanken ist, etwa dem Bericht von Ball-Kaduri über das Schicksal der Berliner Juden 1942/43, etwa den Arbeiten von Schoenberner oder der nur nach langer Zeit mit Hilfe der Seehandlung publizierten Studie von Rudolf Schottlaender 22 über die aus Berlin emigrierte Wissenschaft, etwa den Lebenserinnerungen von Joel König und Inge Deutschkron. Auch die Widerstandsgeschichte liegt im argen. Wenn man bedenkt, daß in Berlin neben dem Freundeskreis um Moltke und Yorck sich ein intellektuell sicherlich ebenso anregender wie vielfältiger Kreis um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen bildet, dem sich Studentenund Schülerkreise, Künstlerkreise, Psychiater und Film- und Kulturschaffende anschließen, die Verbindungen zur Gruppe um Herbert

22 Rudolf Schottlaender, Verfolgte Berliner Wissenschaft. Ein Gedenkwerk der Geschichte Berlins, Bd. 23), Berlin 1988.

(= Stätten

Berlin unter dem

Nationalsozialismus

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Baum haben und wegen der Beteiligung am Brandanschlag auf die Ausstellung „Das Sowjetparadies" hingemordet werden, und wir kaum etwas über sie wissen, was über die Ermittlungen nationalsozialistischer Staatsanwälte hinausgeht — dann bleibt wirklich zu fragen, ob wir jemals angemessen die Geschichte der Stadt Berlin unter dem Nationalsozialismus erfassen können. Dies gilt auch für die vergleichende Kirchenkampfforschung. Berlin ist ein Zentrum kirchlicher Selbstbehauptung mit Bischof von Preysing und den Kristallisationskernen in Dahlem, in der Gestalt Bonhoeffers, Werner Syltens, der christlichen Mitglieder des Kreisauer Kreises. Auch hier fehlten die Integration der Fragestellungen und der Forschungen, sieht man von Zipfels großartiger Studie 2 3 ab. Berlin ist eine Stadt, die gerade durch den Nationalsozialismus schwere Narben davongetragen hat. Wie kaum eine andere Stadt macht sie Geschichte in ihren Folgen spürbar. Die Gefahr für das Geschichtsverständnis dieser Stadt sind das ritualisierte Erinnern, die Fixierung auf Jahrestage, Gedenkstätten, Erinnerüngstafeln. Die regelmäßig gehaltenen Reden suggerieren, wir wüßten wirklich über die Ereignisse und Entwicklungen Bescheid — wo Fragen gestellt werden könnten, drängen sich Antworten auf, die mehr oder minder gefällig sind und die deshalb auch jene entmutigen und entmotivieren, die vielleicht neue Beiträge zur Geschichte der Stadt, etwa über die Kommunalverwaltung unter Lippert, die Zusammenhänge zwischen Bombenkrieg und Deportationsbereitschaft, die Entwicklung der stadtspezifischen politischen Propaganda und die Widerständigkeit aus regionalspezifischen Gründen der Resistenz, über die Auswirkungen des totalen Krieges auf Stimmung und Industriestruktur, über die Lage von Bevölkerungsgruppen erarbeiten wollen. Man mag einwenden, daß auch andere Großstädte über keine breite zeitgeschichtliche Stadtförschung verfügen. Dies stimmt sicherlich für München, es gilt aber wesentlich weniger für Frankfurt nach einer mehrbändigen Dokumentation durch Wolfgang Wippermann, 24 und es gilt schon gar nicht für das Ruhrgebiet, für Bremen und Stuttgart, für Nürnberg und Kassel. Es wäre zu hoffen, daß eine moderne städtische Zeitgeschichte der Reichshauptstadt in Angriff genommen wird —

23

Friedrich Zipfel, Kirchenkampf

und Selbstbehauptung

in Deutschland

1933—1945.

der Kirchen in der nationalsozialistischen

Religionsverfolgung

Zeit (= Veröffentlichun-

gen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 11), Berlin 1965. 24

Wolfgang Wippermann, Das Leben in Frankfurt

furt/Main 1986.

in der NS-Zeit,

Bd. 1—4, Frank-

328

Peter Steinbach

denn es ist unglaublich, daß nicht einmal ganz zuverlässig bekannt ist, welche der Stadtverordneten Opfer nationalsozialistischer Gewalt wurden. Auch Quellen sind zu sichern, die sonst aus Wiedergutmachungs- und Lastenausgleichsämtern in das Dunkel verschwinden — und nicht zuletzt sind die Gedenkstätten nicht einmalig oder alljährlich in das Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit zu rücken, sondern als Möglichkeiten intensiver zeitgeschichtlicher Forschung zu begreifen 2 5 — zum N u t z e n unserer Kenntnisse auch über Berlin unter dem Nationalsozialismus. Berlin war nach dem Kriege ein Zentrum zeitgeschichtlicher Forschung: Studien wie die Arbeit von Bracher über die Auflösung der Weimarer Republik sind hier erarbeitet worden. Hans Herzfeld hat hier ebenso wie Walther H o f e r die wissenschaftliche Zeitgeschichte mitgeschrieben, die allgemein durch Friedrich Meinecke auch in Berlin gute Rahmenbedingungen erhalten hatte. Im Lehrkörper des O t t o Suhr-Institutes verkörperte sich erlittene, gestaltete und überwundene Zeitgeschichte. Namen wie Löwenthal, Neumann, von der Gablentz stehen auch für Berliner zeitgeschichtliche Erfahrungen. Berlin hat hier eine Verpflichtung; sie zu erfüllen, liegt nicht nur in der Macht der Historiker.

25 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die beiden Arbeiten, die als Vorstudien im Rahmen der Erschließung des Geländes Prinz-Albrecht-Straße 8 entstanden sind: Johannes Tuchel/Reinold Schattenfroh, Zentrale des Terrors. Prinz-Albrecht-Straße 8. Das Hauptquartier der Gestapo, Berlin 1987; Reinhard Rürup (Hrsg.), Topographie des „Prinz-Albrecht-Gelände". Terrors. Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt auf dem Eine Dokumentation, Berlin 1987.

Die Zerstörung der internationalen Geltung Berlins auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet und die Wirkung der Berliner Emigranten auf die Gastländer ALFONS SÖLLNER Berlin

Nimmt man das Jahr 1933 als eine Zäsur der deutschen Kulturgeschichte, so stößt man auf eine Konstellation, die in sich nicht nur die Spannung zwischen Nationalkultur und kulturellem Internationalismus enthält, sondern eine neue Intensität der modernen Verflechtung von Kultur und Politik anzeigt: Während es außer Zweifel steht, daß der nationalsozialistische Eingriff in das Kulturleben der Weimarer Republik rein machtpolitisch motiviert war und kurzfristig einen neuen Provinzialismus beförderte, bewirkte derselbe Eingriff langfristig eine neue Autonomie der Kultur und verstärkte die internationalen Zusammenhänge, die in der deutschen Kunst und Wissenschaft bereits seit dem 19. Jahrhundert vielfältig am Wachsen gewesen waren. Ob die Renaissance des Geschichtsbewußtseins, wie sie sich derzeit in der Bundesrepublik zeigt, dazu beiträgt, dieses komplexe Ineinander von Kontinuität und Diskontinuität in der kulturellen Zeitgeschichte analytisch zu bewältigen, ist durchaus noch offen. Zweifel sind zum Beispiel angebracht gegenüber der in Jubiläumsreden beliebten Metapher von den „Emigrationsverlusten", die die Nationalsozialisten der deutschen Gesellschaft zugefügt hätten, weil in ihr ein neidischer Blick auf die Fluchtländer nur allzu deutlich durchscheint: Deutschlands Verluste waren anderer Länder Gewinne! Sicherlich ist es richtig, daß der Exodus der Kultur (Horst Möller), der seit 1933 in Gang kam, für Deutschland als eine Verlustrechnung zu betrachten ist. Doch schleicht sich bei solcher Bilanzierung leicht ein nationalistischer Eigentumsbegriff ein, der kulturellen Leistungen ins-

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Alfons Söllner

gesamt nicht angemessen ist, am wenigsten aber der avancierten Kunstund Wissenschaftsproduktion der Weimarer Republik. Schon die Erforschung des literarischen Exils, die in der Bundesrepublik zu einem wichtigen Fortschritt an kritischem Geschichtsbewußtsein geführt hat, zeigte eine problematische Tendenz: Sie dramatisierte die Erfahrung der Fremde ausgerechnet am Beispiel der Exilprominenz, die deren Schattenseiten weniger zu spüren bekam als die vielen, die anonymes Treibgut im Meer einer Massenflucht blieben. Umgekehrt droht die neuerdings intensivierte Erforschung der Wissenschaftsemigration, die eher mit einer Erfolgsgeschichte aufwarten kann, das Einzelschicksal aus den Augen zu verlieren, zumal wenn sich ihr Objektivitätsideal in quantitativen Methoden erschöpft. Die dazu passende Akkulturationshypothese darf nicht dazu führen, über dem langfristigen positiven Resultat der Emigration den Preis zu vergessen, den sie existentiell hatte: Die Flüchtlinge wurden um Heimat, Anerkennung und die Früchte ihrer Arbeit betrogen, während sowohl die ausgrenzenden wie die aufnehmenden Kollektive sich eigentümlich blind dafür zeigten, was sich an menschlichen Tragödien zwischen ihnen abspielte.1 Der wirklichen Bedeutung, die die Vertreibung der Künstler und Gelehrten in Deutschland hatte, wird man nur auf die Spur kommen, wenn man als Bezugsrahmen die Destruktivitätssteigerung wählt, die im Genozid an den Juden kulminierte. Nicht so sehr der archaische Kulturchauvinismus, sondern die Vorwegnahme einer unerhörten Zukunft war es daher, was der Bücherverbrennung vom Frühjahr 1933 ihre Fanalwirkung verlieh: Die in Rauch aufgehenden Schriften kündigten die verbrannten Menschenleiber an. In seiner Definition des Politischen durch den Gegensatz zwischen Freund und Feind hatte Carl Schmitt 1927 den modischen Existentialismus Heideggers in die folgenreichere Sphäre des Machthandelns transponiert: Der Feind sei eben der andere, ' Zur neueren Forschungsentwicklung vgl. u. a.: Wolfgang Frühwald/Wolfgang Schieder (Hrsg.), Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933—1945 (= Historische Perspektiven, Bd. 18), Hamburg 1981; die diversen Einleitungen in: Werner Röder/Herbert A. Strauss (Bearb.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. International Biographical Dictionary of Central European Emigres 1933—1945, Bd. 2, München-New York-London 1983; Horst Möller, Exodus der Kultur. Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler in der Emigration nach 1933, München 1984; Jarrel C. Jackman/Carla M. Borden (Hrsg.), The Muses Flee Hitler. Cultural Transfer and Adaption 1930—1945, WashingtonD. C. 1983; Lewis A. Coser, Refugee Scholars in America. Their Impact and their Experiences, New Häven-London 1984.

Die Zerstörung

der internationalen

Geltung

Berlins

331

der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensivem Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist.2 Wenn die nationalsozialistische Kulturpolitik einerseits nur exekutierte, was in dieser Definition vorweggenommen war, so ist andererseits auch die Umkehrung dieses Gedankens bedenkenswert: Die Kulturpolitik des Nationalsozialismus erhielt ihre einschneidende Schärfe nicht zuletzt dadurch, daß für die Kultur die Ausgrenzungskategorie erst wieder eingeführt, daß ihr mit Gewalt aufgezwungen werden mußte, was sie bereits hinter sich gelassen hatte. Von Walter Benjamin stammt das Aperçu, daß Paris die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts gewesen sei. Folgt man den von Faszination geprägten Darstellungen der „Weimar Culture" von Peter Gay und Walter Laqueur, bei denen die Retrospektive der Emigranten noch zu spüren ist, 3 so war Berlin dazu prädestiniert, die kulturelle Hauptstadt des 20. Jahrhunderts zu werden. Es wäre vermessen, den modernen Konflikt zwischen Provinz und Metropole hier ausloten zu wollen, doch scheint die Anziehungskraft Berlins seit dem Ersten Weltkrieg zunächst einmal darin bestanden zu haben, daß es, wie eine Generation vorher das Wien des „fin de siècle", eine Lebenswelt anbot, in der die epochentypischen Krisenerfahrungen ausgelebt werden konnten. Voraussetzung dafür war die Ausdifferenzierung einer Subkultur, deren unerhörte intellektuelle und künstlerische Produktivität unter anderem daraus resultierte, daß sie sich auf eine „konstruktive" Perspektive, auf ein Positivum jenseits der Widersprüche nicht festlegen mußte. Alfred Döblins Stadtroman „Alexanderplatz" steht dafür ebenso ein wie der brutale Realismus eines George Grosz, die beißende Satire eines Kurt Tucholsky ebenso wie die fruchtbare Zeitschriftenkultur der Epoche insgesamt. Dabei war es besonders die prekäre, teilweise sogar verächtliche Haltung der Linksintelligenz zur Weimarer Demokratie, woran man den Preis ermessen kann, den eine freischwebende Schicht zu zahlen hatte, die — vielleicht das erste Mal in der deutschen Geschichte — zu einer politischen Instanz „sui generis" geworden war. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Wendet man diesen Satz aus Benjamins Thesen „Zum 2

Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und 3 Corollarien, Berlin 1963, S. 27. 3 Walter Laqueur, Weimar. Die Kultur der Republik, Frankfurt/Main-Berlin 1976; Peter Gay, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit. 1918—1933, Frankfurt/Main 1970.

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Alfons

Söllner

Begriff der Geschichte", die zum kulturtheoretischen Vermächtnis des Exils überhaupt wurden, 4 zurück auf den Scheitelpunkt der Weimarer Krise, so zeigen sich weitere Ambivalenzen, die eine Kulturgeschichte Berlins im 20. Jahrhundert auszuloten hat: Einmal ist offensichtlich, daß die Nationalsozialisten den Gegensatz zwischen Metropole und Provinz glänzend für sich zu nutzen verstanden. Sie mobilisierten das „gesunde Volksempfinden" gegen den „Sittenverfall" und konnten so die Vertreibung der „Asphaltliteraten" als eine populäre Bedingung für die Herstellung der „Volksgemeinschaft" legitimieren. Die Kulturpolitik, die in der Münchner Ausstellung der sogenannten „Entarteten Kunst" einen gewissen Abschluß erreichte, fand so wenig Widerstand, weil sie die Versöhnung eines Konfliktes versprach, in dem sich der moralische Skandal der Moderne zu kristallisieren schien. Benjamins Kulturtheorie artikulierte aber noch eine andere, tiefergreifende Einsicht, das neue Verhältnis von Kultur und Politik betreffend: Die ästhetische Moderne hatte tatsächlich eine Kulturentwicklung von fundamentaler Zweideutigkeit auf den Weg gebracht. Die Auflösung der bürgerlichen Kunstautonomie durch die Avantgarde wirkte mit an der Freisetzung einer technisch reproduzierbaren Massenkunst, die sich zur ästhetischen Inszenierung der Politik anbot. Benjamins bekannte Forderung von 1936, daß die kritische Intelligenz auf die nationalsozialistische Asthetisierung der Politik mit der Politisierung der Kunst zu antworten habe, 5 entsprang aus einer richtigen Analyse der Situation und zeigte doch nur, wie hilflos die künstlerische Avantgarde den nationalsozialistischen Erfolgen gegenüberstand, zumal sie von der stalinistischen Kulturpolitik alsbald zusätzlich in die Zange genommen wurde. Das letztere ist ablesbar an der Ermordung Willi Münzenbergs, des einfallsreichsten der kommunistischen Kulturfunktionäre, durch den russischen Geheimdienst und an den Beschränkungen, denen selbst die parteinahen Hitler-Flüchtlinge in der Sowjetunion, auch schon vor dem Hitler-Stalin-Pakt, unterworfen wurden. Die ästhetische Kultur der Weimarer Republik war sicherlich ein Universum, und der „genius loci" Berlins trug zu ihrer Eigenart allenthalben bei. Für eine kritische Kulturgeschichte jedoch, die von zurück4 Walter Benjamin, Uber den Begriff der Geschichte, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften (Werkausgabe), hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 2, Frankfurt/Main 1980, S. 691—704, hier S. 696. 5 Walter Benjamin, L 'oeuvre d'art a l'epoque de sa reproduction mecanisee, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften... (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 709—739, hier S. 736ff.

Die Zerstörung

der internationalen

Geltung

Berlins

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projizierten Hegemonieträumen Abschied nimmt, wird vieles davon abhängen, daß sie den von den Nazis erzwungenen neuen Provinzialismus als die Durchtrennung jener feinen und durchaus disparaten Fäden analysiert, die die Weimarer Republik an einen kulturellen Internationalismus knüpften. Die großen Kunstausstellungen der letzten zehn Jahre 6 haben unübersehbar gemacht, daß Dada Berlin und Novembergruppe, daß Bauhaus und neuer Konstruktivismus, ja daß der epochale Ubergang vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit Teil einer Kulturrevolution waren, die sich lange vor 1918 vorbereitet hatte und die den europäischen Kulturraum insgesamt erfaßte. Der russische Formalismus und die amerikanische Technikfaszination, die intensiv rezipiert wurden, machen sogar die Annahme einer Weltkunst plausibel. Der antreibende Faktor der Kulturrevolution, die in der Weimarer Epoche ihre ganze Vitalität und ihre Breite an den Tag brachte, ist im Begriff der ästhetischen Moderne zu suchen. 7 In dieser größeren Perspektive erscheint es als eine der großen Ironien des 20. Jahrhunderts, daß der vom Nationalsozialismus durchgesetzte Zivilisationsbruch den Elan der Weimarer Moderne zwar zu bremsen vermochte, ihre internationale Vernetzung aber nur noch beschleunigte. Die Resultate des Umschichtungsprozesses, den die Emigration nach der Art eines kulturgeschichtlichen Erdrutsches in Gang setzte, waren vielfältiger Natur, eines aber ist an den meisten versprengten Vertretern der Weimarer Moderne zu studieren und insofern zu verallgemeinern: Aus den Aufrührern von einst wurden, häufig unfreiwillig, die „Klassiker der Moderne", wobei hier unentschieden bleiben muß, wie groß die Selbsterosion einer unter Aktualitätszwang stehenden Kunstbewegung von sich aus war.8 Hält man sich an eine exemplarische Schriftstellerbiographie wie die von Bert Brecht, so erscheint der Weg

' Vgl. z. B. Stephan Waetzold/Verena Haas (Bearb.), Tendenzen der Zwanziger Jahre. Katalog der gleichnamigen Ausstellung in Berlin vom 14.8. bis 16.10.1977 (= Europäische Kunstausstellung, Bd. 15), Berlin 1977; Dawn Ades, Dada and Surrealism Reviewed, London 1978; Ingo F. Walther (Bearb.), Paris, Berlin. 1900—1933. Übereinstimmungen und Gegensätze Frankreich — Deutschland. Kunst, Architektur, Graphik Literatur, Industriedesign, Film, Theater, Musik, München 1979. 7 Gérard Raulet (Hrsg.), Weimar ou l'explosion de la modernité. Actes du Colloque »Weimar ou l'explosion de la modernité«, organisé par la groupe de recherche sur la culture de Weimar, Paris 1984; Peter Bünger (unter Mitarbeit von Christa Bürger), Prosa der Moderne, Frankfurt/Main 1988. 8 Vgl. dazu Anthony Heilbut, Exiled in Paradise. German Refugee Artists and lectuals in America, from the 1930s to the Present, N e w York 1983, S. 469 ff.

Intel-

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Alfons Söllner

aus der literarischen Provinz in die kulturelle Hauptstadt fast nur als ein politisierender Umweg, der dann in der Emigration seine klassische H ö h e erst erreichte. Das epische T h e a t e r schuf ein internationales stilistisches Niveau, dessen Verbindung mit dem Kommunismus sicherlich nicht zufällig, dessen dialektische F o r m aber eine davon ablösbare Verarbeitung der „Epoche des Faschismus" (Ernst N o l t e ) war. Andere Beispiele der Weimarer Moderne, etwa der Surrealismus eines Max Ernst oder die Bauhaus-Architektur, nahmen zwar eine andere Richtung und verweisen insofern auf das Konzept einer „pluralistischen M o d e r n e " , das sowohl die interne Radikalisierung der Ausdrucksmittel als auch ihre Verknüpfung mit politischen und sozialen Bedürfnissen als vieldeutig erscheinen läßt; doch war es die perverse Genialität der nationalsozialistischen Kulturpolitik, wenn man so will: ihre instinktive Modernität, daß sie das Gemeinsame am Vieldeutigen erkannte und, wenngleich nur negativ, zur Nivellierung beitrug. Die Kampfformel vom „jüdischen Kulturbolschewismus" war dementsprechend ein Pseudo-Begriff, gerade seine charakteristische U n scharfe aber machte ihn zum geeigneten Instrument, um neben dem rassistisch identifizierten „jüdischen Erbfeind" alle jene zu stigmatisieren, die vom Autonomie- und Negationsprinzip der ästhetischen Moderne nicht lassen wollten. Es wäre interessant, diese qualitative These an den über 2000 schriftstellerischen und künstlerischen Emigranten quantitativ zu überprüfen, die der „International Biographical Dictionary of Central European Emigres" verzeichnet. D e r T e s t würde für Berlin vermutlich positiv ausfallen, aber er würde auch ergeben, daß man sich nach zwei Seiten weiter umzusehen hat: D e r antisemitische und antimoderne Kulturkampf zerstörte auch beträchtliche Teile des eher traditionellen Kunstschaffens, und er machte nicht Halt vor der Unterhaitungs- und Massenkultur, deren Bedeutung die intelligenteren Nationalsozialisten rasch erfaßt hatten. So steht außer Zweifel, daß Berlin in den dreißiger Jahren — vor allem in Film und Rundfunk, aber auch in der Architektur — zu einem neuen Zentrum der Kulturproduktion wurde. Die großartige Inszenierung der Olympischen Spiele von 1936 war die Probe aufs Exempel. Daß die gelenkte Massenkultur für die totalitäre Herrschaftsausübung so vorzüglich instrumentalisierbar war, hatte die Vertreibung der kritischen Intelligenz zur Voraussetzung, beweist aber gleichzeitig auch, daß die Willfährigkeit der verbliebenen Intelligenz ihrer Kreativität nicht automatisch Abbruch tun mußte. Vielleicht sind die aus Berlin vertriebenen Musiker eine geeignete Berufsgruppe, um den kulturellen Pluralismus der Weimarer Republik

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335

von der Wirkung in den Gastländern her zu erläutern; 9 er wurde dort nämlich, den diversen Rezeptionsbedingungen entsprechend, noch deutlicher und setzte die bereits angelegte Tendenz zur Internationalisierung nur fort. Sprechend ist der Vergleich zwischen Erich Wolfgang Korngold und Arnold Schönberg einerseits und der zwischen Kurt Weill und Hanns Eisler andererseits: Während der kompositorische Traditionalist eine rasche Hollywood-Karriere als Filmmusiker machte, lebte der Protagonist der 12-Ton-Komposition in der californischen Nachbarschaft zeitweilig von Privatstunden, bestimmte aber auf lange Sicht doch die Entwicklung der musikalischen Avantgarde; und von den Schönberg-Schülern, die in Weimar beide mit Brecht kooperiert hatten, wurde der eine die zentrale Figur des amerikanischen Musicals, während der andere Elegien auf Hollywood schrieb, zu McCarthys Zeiten aus Amerika ausgewiesen wurde und schließlich das Musikleben der D D R maßgeblich gestaltete — musikalischer Pluralismus über dem Generalbaß eines Internationalismus, ein Eindruck, der sich vermutlich noch verstärken würde, wenn man die fast 150 von Berlin ausgehenden Emigrantenkarrieren auswerten würde, die kürzlich verzeichnet worden sind. 10 Für die frühe Bundesrepublik aber scheint es symptomatisch zu sein, daß sich ihre Musikkultur auf einer mittleren Ebene einpendelte, bei der gemäßigten Moderne eines Paul Hindemith und eines Boris Blacher. Die Kunst- und Kulturproduktion im Berlin der Weimarer Republik hatte — das erste Mal in der deutschen Geschichte — den unüberschaubaren und gleichzeitig hochorganisierten Charakter einer „Kulturindustrie", wie Horkheimer und Adorno es später angesichts amerikanischer Verhältnisse nannten. Der von den Nationalsozialisten verursachte Zivilisationsbruch wird sich daher auch nach intensiverer Forschung nicht schnell auf ein einfaches, gar quantitativ erfaßbares Muster bringen lassen. Etwas günstiger liegen die Dinge im Bereich von Wissenschaft und Forschung, die fast ausschließlich staatlich organisiert waren und deren „Säuberung" von vornherein so effizient betrieben wurde, wie es nur in einem rechtlich und administrativ kontrollierten Beamtenstaat geschehen konnte. An erster Stelle ist hier das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 zu nennen, dessen harmloser Titel ein frühes Beispiel für die 9

Habakuk Traber/Elmar Weingarten (Hrsg.), Verdrängte Musik. Berliner Komponisten im Exil, Berlin 1987. 10 H. Möller, Exodus der Kultur... (wie Anm. 1), S. 40 ff.

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Sprachungeheuer ist, die die bürokratische Vernichtung später einleiten und gleichzeitig verdecken sollten. Das Gesetz bestimmte die Pensionierung oder Entlassung aller Beamten, also auch der Universitätsprofessoren, soweit sie „nicht-arischer" Abstammung waren oder aus anderen Gründen nicht die Gewähr zu bieten schienen, hinreichend für den neuen Staat einzutreten. Die noch bestehenden Lücken, zum Beispiel die „nicht-arischen Frontkämpfer" des Ersten Weltkrieges betreffend, wurden durch spätere Ausführungsverordnungen und schließlich das Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 geschlossen. In den Entlassungen, die mit diesen pseudo-gesetzlichen Maßnahmen durchgesetzt wurden, wird der Kontinuitätsbruch der deutschen Wissenschaft in seinen quantitativen Dimensionen greifbar. N i m m t man mit H o r s t Möller an, daß die Gesamtzahl der in Deutschland habilitierten und in der Lehre aktiven Hochschullehrer im Wintersemester 1930/31 5744 betrug und bezieht sie auf die Schätzung Julius Gumbels, der bis 1938 1500 entlassene Hochschullehrer zählte, so liegt der Anteil der Entlassungen bei mehr als einem Viertel. 1 1 Speziell für Berlin ermittelte Kurt Düwell bereits bis 1934 einen deutlich höheren Prozentsatz, nämlich 32 Prozent, wobei in dieser Zählung die Assistenten mit eingeschlossen sind; bis zum J a h r 1941 nennt er für die KaiserWilhelm-Institute 39 und für die Friedrich-Wilhelms-Universität 134 Entlassungen, die sich folgendermaßen auf die Fakultäten verteilen: 49 Mediziner, 34 Geisteswissenschaftler, 31 Naturwissenschaftler, 13 J u risten, 7 Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Das ganze Ausmaß aber wird erst sichtbar, wenn man sich an den „International Biographical Dictionary" hält: V o n den hier dokumentierten 8600 Emigranten sind ungefähr 2500 als Wissenschaftler ausgewiesen, wobei diese Zahlen einerseits eine Elitenauswahl aus einem Gesamtarchiv von 25 000 Personen sind, andererseits aber die erst in der Emigration hervortretende „zweite Generation" mitberücksichtigt wird, die an den deutschen Universitäten nicht mehr oder nur temporär ausgebildet wurde. Die Anzahl der unter diesen Bedingungen als Berliner Wissenschaftler firmierenden Emigranten beläuft sich auf 490.

11

Kurt Düwell, Berliner Wissenschaftler in der Emigration. Das Beispiel der

Hochschul-

lehrer nach 1933, in: Tilmann Buddensieg/Kurt Düwell/Klaus-Jürgen Sembach (Hrsg.), Wissenschaften

in Berlin.

Begleitbände zur Ausstellung „Der Kongreß denkt" vom

1 4 . 6 . — 1 . 1 1 . 1 9 8 7 in der wiedereröffneten Kongreßhalle Berlin, Bd. 3, Berlin 1987, S. 126—134, hier S. 128 ff.

Die Zerstörung der internationalen Geltung

Berlins

Diese Zahlen sind schon für sich eindrucksvoll, sie berechtigen zu der Annahme, daß der nationalsozialistische Eingriff in das Universitätsleben der Weimarer Republik erheblich war. Aber was bedeuten sie für die Berliner Wissenschaftsproduktion in größerer Perspektive, und das heißt im Horizont einer internationalen Wissenschaftsgeschichte? Klar ist zunächst, daß die Parameter des Vergleichs, um in der statistischen Terminologie zu bleiben, deutlich verschieden sein werden, je nachdem um welches Fach es sich handelt. Noch am einfachsten scheint eine Antwort zu sein in den naturwissenschaftlichen Disziplinen, solange man deren Entwicklungsniveau durch die Leistungen hervorragender Entdeckerpersönlichkeiten definiert. Nimmt man zur Kenntnis, daß unter den Entlassenen insgesamt acht Nobelpreisträger waren und elf weitere es noch werden sollten, so ist die Annahme berechtigt, daß die deutsche Naturwissenschaft ihrer Spitzenkräfte verlustig ging. Dies war ohne Zweifel der Fall in der Berliner Physik, die mit Einstein und Schrödinger zwei Nobelpreisträger und mit Leo Szilard einen wichtigen Mitarbeiter des späteren „Manhattan-Projekts" aus Deutschland abwandern sah. Exaktere Aussagen erlaubt eine soeben erschienene Zitationsanalyse, die den Anteil der Emigranten an der physikalischen Literatur auf etwas über zehn Prozent festlegt. 12 Eine ähnliche Situation ist im Bereich der Chemie, vor allem der Biochemie, anzunehmen, während die Medizin aus einem anderen Grund hervorzuheben ist, der zum Fortschrittsmodell der naturwissenschaftlichen Medizin in gewisser Weise quersteht: Die Berliner Ärzteschaft war ein Experimentierfeld der Sozialmedizin und wies gleichzeitig einen hohen Anteil jüdischer Ärzte auf — die antisemitischen Entlassungen trafen somit, ablesbar etwa am Krankenhaus Moabit, am Psychoanalytischen Institut und an Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft, die verwundbaren Vermittlungspunkte von Sozialpolitik, Psychologie und humanitärer Krankenpflege, eine innovative Konstellation, die sich in der Emigration nicht wieder herstellen ließ. Was an ihre Stelle trat, sollte sich rasch als der Inbegriff wissenschaftlich angeleiteter Inhumanität erweisen: Die sogenannte Eugenik verschmolz Biologie, Medizin, Anthropologie und Völkerrecht auf der Basis der Rassenlehre und fand ihren folgerichtigen Ausdruck in einer bislang unvorstellbaren Eskalation der Vernichtungspraxis: in Menschenver-

12

Klaus Fischer, Der quantitative

Beitrag der nach 1933 emigrierten

schaftler zur deutschsprachigen physikalischen Forschung, in: Berichte zur schichte 11 (1988), S. 83—104.

NaturwissenWissenschaftsge-

338

Alfons Söllner

suchen, in der Euthanasie, im Genozid an den Juden und schließlich im rassenimperialistischen Angriffskrieg überhaupt. 1 3 Damit die Wissenschaften für die „germanischen Welteroberungspläne" genutzt werden konnten, bedurfte es einer Veränderung der Wissenschaftsorganisation. Dazu gehörte unter anderem der Ausbau Berlins zum Koordinationszentrum der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. S o entstand mit dem Reichserziehungsministerium im Jahre 1934 das erste staatliche Gesamtmonopol für Schule und Wissenschaft in der deutschen Geschichte überhaupt, die „Richtlinien zur Vereinheitlichung der Hochschulverwaltung" vom 1. April 1935 ersetzten das traditionelle Selbstverwaltungsprinzip durch das „Führerprinzip", und die von R u d o l f H e ß initiierte und geleitete H o c h schulkommission steht von 1934 an für den Versuch, vermittels des NS-Dozentenbundes institutionellen Einfluß auf die Besetzung der Lehrstühle zu erlangen. Sicherlich blieb der Erfolg zum Beispiel der Berufungspolitik hinter den Erwartungen zurück, überhaupt wurde in der Wissenschaftspolitik, wie in vielen anderen Bereichen auch, der unablässig wiederholte Anspruch des Regimes auf totalitäre Gleichschaltung zu keiner Zeit wirklich eingelöst — die Gründe dafür lagen in der Inkohärenz der rassistischen Weltanschauung ebenso wie in der sich steigernden Kompetenzanarchie des Parteiapparates, in den K o n flikten mit der weitgehend intakt gebliebenen Ministerialbürokratie ebenso wie in der relativen Unberechenbarkeit und Instabilität der Hochschulgremien selber. 14 Das aber bedeutet umgekehrt nicht, daß zutraf, worauf die deutsche Professorenschaft ihr Selbstbewußtsein nach 1945 von neuem zu gründen versuchte: Die Hochschulen hätten im großen und ganzen der totalitären Versuchung widerstanden. Für die Entwicklung der deutschen Universitäten nach 1933 wurde schon in den sechziger Jahren der Begriff der „Selbstgleichschaltung" geprägt (Karl Dietrich Bracher). Aber erst seit kurzem, seitdem sich die Forschung auf das detaillierte Studium einzelner Fächer eingelassen hat, wissen wir genauer, was

13

Zum weiteren wissenschaftsgeschichtlichen Kontext vgl. jetzt Peter Weingart/

Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und giene in Deutschland, 14

Rassenhy-

Frankfurt/Main 1988.

Vgl. dazu Manfred Heinemann (Hrsg.), Erziehung und Schulung im Dritten Reich,

Bd. 2: Hochschule,

Erwachsenenbildung

(= Veröffentlichungen der Historischen Kom-

mission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Bd. 4/2), Stuttgart 1980.

Die Zerstörung der internationalen Geltung Berlins

339

darunter zu verstehen ist: nicht etwa nur Verbeugungen vor dem neuen Staat, eine breite, wenngleich häufig passive Parteimitgliedschaft der Hochschullehrer oder die Personalunion von Parteifunktion und Hochschulposition, wie sie als Resultat der Hochschulpolitik immerhin möglich war, sondern eine Politisierung der Wissenschaft in eigener Regie, die Instrumentalisierung der internen, kognitiven Entwicklung für die Zwecke des Nationalsozialismus. Diese Politisierung verlief je nach Fach und ideologischer Dringlichkeit verschieden rasch, sie konnte verschiedene Formen annehmen und erreichte im Extremfall die unmittelbare institutionelle Verschmelzung von rassistischer Vernichtungspraxis und wissenschaftlicher Forschung. 1 5 Ich möchte beispielhaft diejenige Disziplin anführen, die mit der H a u p t s t a d t f u n k t i o n Berlins insofern in besonderer Weise verbunden war, als sie die Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols immer schon zum Gegenstand hatte, unter dem Nationalsozialismus aber zu ihrem direkten Ziel machte: das Staatsrecht. Dieser Disziplin kam gleich nach der Machtergreifung die wichtige Rolle zu, die Rechtfertigungsbedürfnisse eines Regimes abzudecken, das auf legalem Weg an die Macht gekommen war, aber die Weimarer Legalität rasch hinter sich ließ und sich dabei auf eine höhere Legitimität stützen mußte. Die Staatstheorie brauchte dabei das antidemokratische Denken, das im Weimarer Staatsrecht bis weit in die positivistische Schule hinein Fuß gefaßt hatte, nur fort- und in positive Modelle umzusetzen. Statt vieler anderer genügt es hier, die Theoriebildung von Carl Schmitt zu zitieren, dessen Unterscheidung von positivistischer und dezisionistischer Methode beziehungsweise zersetzendem und konkretem Ordnungsdenken ebenso scharfsinnig wie opportunistisch darauf hinauslief, den Führerstaat in den Sattel zu heben. Für diese Legitimationsarbeit wurde Schmitt p r o m p t mit einem Ruf nach Berlin belohnt, in ein staatsrechtliches Kollegium, das seine jüdischen Mitglieder soeben hinauskomplimentiert hatte. An seiner berüchtigten Rechtfertigung der R ö h m - M o r d e läßt sich ablesen, wie konsequent und wie rasch die Auflösung der rechtsstaatlichen Tradition, hier der Gewaltenteilung, in die nackte Rechtfertigung des Terrors einmündete: In Wahrheit war, schrieb Schmitt 1934 in der von ihm übernommenen repräsentativen

15 Zur Entwicklung ausgewählter Fächer vgl. Peter Lundgreen (Hrsg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt/Main 1985.

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„Deutschen Juristenzeitung", die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern ist selbst höchste Justiz,16 Mit dem Anpassungseifer einer so traditionsreichen Disziplin ist lehrreich zu vergleichen das Schicksal eines jungen Faches, das in der Berliner Hochschule für Politik einen vielversprechenden Anfang genommen hatte. 1920 aus dem Spektrum der sogenannten Weimarer Parteien entstanden, aber überparteilich konzipiert, war diese private Institution eine bislang unbekannte Mischung aus Volkshochschule, Pflanzstätte für den demokratischen Staat und Wissenschaftsdiplomatie. In wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive ist das Bemerkenswerteste an ihr der Versuch, die Grenzen der universitären Fächer, also von Staatsrecht, Nationalökonomie und Philosophie, zu sprengen und eine integrierte Wissenschaft von der Politik zu schaffen, die für die Bildungsarbeit nutzbar war. Dies war es auch, was die Hochschule rasch zu einem Ort internationaler Wissenschaftskommunikation werden ließ, zum Beispiel 1926 die Carnegie-Foundation zur Finanzierung einer Austauschprofessur und die Rockefeller-Foundation zu Anfang der dreißiger Jahre zur Unterstützung von Forschungsprogrammen bewegte. Als die Hochschule sich im April 1933 der Umwandlung in eine NS-Parteihochschule widersetzte und selber auflöste, waren die Beziehungen zu England und Amerika bereits soweit gefestigt, daß nicht wenigen ihrer haupt- und nebenamtlichen Dozenten eine Fortsetzung ihrer interdisziplinären Interessen möglich wurde: an der London School of Economics, der New Yorker New School for Social Research und anderen amerikanischen Colleges.17 Die weitere Geschichte der Hochschule für Politik steht beispielhaft für die Alternativen, vor die die deutsche Wissenschaft durch den Nationalsozialismus gestellt war. Die von den Nazis wiedereröffnete Hochschule für Politik wurde 1940 der neuen Auslandswissenschaftliche Fakultät der Berliner Universität eingegliedert. Die hier betriebene Wissenschaft erschöpfte sich teils in Sprachunterricht, teils in einer

Vgl. dazu Volker Neumann, Der Staat im Bürgerkrieg. Kontinuität und Wandlung des Staatsbegriffes in der Politischen Theorie Carl Schmitts (- Campus Forschung, Bd. 136), Frankfurt/Main 1980; Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehrer und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988, S. 99 ff. 16

Vgl. die Dissertation von Steven Kornblat, The Deutsche Hochschule für Politik: Public Äff airs Institute for a New Germany, 1920—1933, Chicago 1978; Antonio Missiroli, Die Deutsche Hochschule für Politik (= Schriften der Friedrich-Naumann-Stiftung. Liberale Texte), St. Augustin 1988. 17

Die Zerstörung

der internationalen

Geltung

Berlins

341

situations- und anwendungsbezogenen Auslandskunde für die neu eroberten Gebiete, die, zusammen mit den Grenzlands- und Osteuropainstituten, als pseudo-wissenschaftliche Propädeutik des Expansionskrieges fungierte und sich — wohlgemerkt in relativer Autonomie — der Vernichtungs- und Eroberungspolitik assimilierte. Sie fand ihr Pendant in der Entwicklung des Staats- und Völkerrechts zur imperialistischen Großraumtheorie, in der Ausrichtung der Psychologie auf Wehrkunde, der Umwandlung der Geographie in die Geopolitik, der Verbindung von Anthropologie und Biologie zur Eugenik und so fort. Daß all diese Disziplinen letzten Endes in der Vernichtungspraxis des Aggressionskrieges zur Verschmelzung kamen, macht die Annahme plausibel, daß die Wissenschaftsentwicklung unter dem Nationalsozialismus auf einen perversen Internationalismus hinauslief, der sich jedes zivilisierten Maßstabes entledigt hatte. 18 Blickt man von hier aus auf die Institutionalisierung der westdeutschen Politikwissenschaft, so erscheint die Wiederbegründung der Berliner Hochschule für Politik, die 1958 als „Otto-Suhr-Institut" Teil der Freien Universität wurde, als das Nachholen eines Internationalisierungsprozesses, das sicherlich nicht frei von Interessen war, aber doch, wie die Bundesrepublik insgesamt, für einen rationalen und humanen Lernprozeß steht. Beispielhaft greifbar wird hier die Bindeglied-Rolle, die die Emigration im Gewebe längerfristiger Wissenschaftskontinuität spielte: Sie war der rote Faden, an den ein demokratisches Deutschland anknüpfen konnte. So diffus und schwierig die Wege der Emigranten im einzelnen auch verliefen — ihre gelungene Integration in der amerikanischen Kultur wurde bei Männern wie Franz L. Neumann, Ernst Fraenkel, Ossip K. Flechtheim und anderen zur Bedingung dafür, daß sich die Politikwissenschaft gegen den erheblichen Widerstand der juristischen Fakultäten, in denen die Assimilation an den NS-Staat größer gewesen sein dürfte als anderswo, durchzusetzen vermochte. 19

18 Vgl. nach wie vor Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933—1945, hrsg. und mit einem Nachwort „Franz Neumanns Behemoth und die heutige Faschismusdiskussion" von Gerd Schäfer (= Studien zur Gesellschaftstheorie), Köln-Frankfurt/Main 1977, S. 169 ff. " Vgl. dazu jetzt Gerhard Göhler/Hubertus Buchstein (Hrsg.), Kontinuitäten und Brüche in der Politikwissenschaft, Berlin 1990.

Berlin in den Plänen Hitlers als Zentrum des neuen nationalsozialistischen Großreiches MARIE-LUISE RECKER Münster

Berlin, seit 1871 Hauptstadt des nun nationalstaatlich geeinten Deutschen Reiches und seit dieser Zeit als Verwaltungs-, Industrieund Kulturmetropole wie als politisches Zentrum einem rapiden Wachstum und vielfachen Umformungen innerstädtischer Strukturen unterworfen, hätte durch Hitlers Neugestaltungsplanungen sein Gesicht abermals ganz wesentlich verändert. Aus der einstigen kurmärkischen Residenz wäre die Hauptstadt eines Reiches geworden, das sich über große Teile des eurasischen Doppelkontinents erstreckt und seinen Hegemonialanspruch nicht zuletzt durch die repräsentative Umgestaltung seiner nun in „Germania" umgetauften Metropole unterstrichen hätte. Der Fehlschlag dieser Vorhaben nimmt ihnen nichts von ihrer historischen Realität. Erste Pläne Hitlers zur baulichen Umgestaltung Berlins lassen sich bis Mitte der zwanziger Jahre zurückverfolgen. 1936, so berichtet Speer, 1 habe dieser ihm zwei Skizzen, die Entwürfe zu einer Kuppelhalle und zu einem Triumphbogen, übergeben mit der Bemerkung, er, Hitler, habe diese Zeichnungen vor nunmehr zehn Jahren gemacht in der Gewißheit, sie eines Tages verwirklichen zu können. Dies solle nun geschehen. Noch in der Nacht dtfs 30. Januar 1933 kündigte der neue Reichskanzler umfassende bauliche Maßnahmen für mehrere deutsche Städte, darunter Berlin, 2 an. Die daraufhin anlaufenden Überlegungen und Planungen in Verbindung mit den Berliner Kommunalpolitikern und Baubehörden führten aber zu keinem im Sinne Hitlers befriedi1

A l b e r t Speer, Erinnerungen,

Berlin 1969, S. 88.

Erwähnt bei J o s t Dülffer/Jochen Thies/Josef Henke, Hitlers Städte. Baupolitik Dritten Reich. Eine Dokumentation, K ö l n - W i e n 1978, S. 21. 2

im

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Marie-Luise Recker

genden Ergebnis, so daß dann am vierten Jahrestag der „Machtergreifung", am 30. Januar 1937, Speer als Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt (GBl) 3 mit dieser Aufgabe betraut wurde. Von ihm erwartete Hitler, daß er mit Ideenreichtum und Elan, losgelöst von bisherigen langwierigen kommunalen Entscheidungsprozessen und ungeklärten Finanzierungs- und Rechtsfragen, seine Vorstellungen von einer repräsentativen Umgestaltung Berlins in die Tat umsetzen werde. Mit der Bildung dieser Sonderbehörde waren die Mitspracherechte der Stadtverwaltung oder auch entsprechender Reichs- und preußischer Behörden rigoros ausgeschaltet und die Neugestaltungsmaßnahmen in die Hände des neuen GBl und des „Führers" selbst gelegt worden. Die mit diesen Plänen verbundenen Absichten gab Hitler bei seiner Ansprache anläßlich der Grundsteinlegung für das erste dieser Bauvorhaben am 27. November 1937 deutlich zu erkennen. Dies war das Hauptgebäude der Wehrtechnischen Fakultät der Technischen Hochschule, die im nördlichen Teil des Grunewalds im Rahmen einer neuen Hochschulstadt errichtet werden sollte. Die ehemalige Residenz Hohenzollernscher Fürsten, Könige und Kaiser, so führte er bei dieser Gelegenheit aus,4 soll nunmehr zur ewigen Hauptstadt des ersten deutschen Volksreiches werden. M it ihr wird für alle Zukunft jene Not behoben sein, die einen großen Historiker zu der erkenntnisreichen Feststellung führte, daß es stets das Unglück der Deutschen gewesen sei, Wahlhauptstädte, aber niemals eine wahre Hauptstadt besessen zu haben ... Es ist daher mein unabänderlicher Wille und Entschluß, Berlin nunmehr mit jenen Straßen, Bauten und öffentlichen Plätzen zu versehen, die es für alle Zeiten als geeignet und würdig erscheinen lassen werden, die Hauptstadt des Deutschen Reiches zu sein. Es soll dabei die G röße dieser A nlagen und Werke nicht bemessen werden nach den Bedürfnissen der Jahre 1937, 1938, 1939 oder 1940, sondern sie soll gegeben sein durch die Erkenntnis, daß es unsere Aufgabe ist, einem tausendjährigen Volk mit tausendjähriger geschichtlicher und kultureller Vergangenheit für die vor ihr liegende unabsehbare Zukunft eine ebenbürtige tausendjährige Stadt zu bauen. Deutlich wird aus diesen Worten bereits die Funktion, die diese Baumaßnahmen haben sollten. Die repräsentative Umgestaltung Berlins (wie auch anderer „Neugestaltungsstädte") sollte der sozialen Inte3 Erlaß über einen Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt vom 30. ] anuar 1937, in: Reichsgesetzblatt, Teil I, 1937, S. 103. 4 Max Domarus (Hrsg.), Hitler. Reden und Proklamationen 1932—1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd. 1, München 1965, S. 765.

Berlin in den Plänen Hitlers

345

gration der Bevölkerung dienen, zur Identifikation mit den hieraus sprechenden politischen Absichten aufrufen und dazu auffordern, diese Symbole deutscher Größe und Überlegenheit als vorweggenommenes Wahrzeichen und Beweis realer Weltmachtstellung zu interpretieren. Gerade auf diese, das deutsche Machtbewußtsein steigernde Wirkung der geplanten Baumaßnahmen hat Hitler bei verschiedenen Anlässen hingewiesen, also auf die Überlegung, daß man nur durch solche gewaltigen Werke einem Volk das Selbstbewußtsein geben kann und daß sie ein Mittel seien, um auf vielen Gebieten die Nation allmählich zu der Überzeugung zu bringen, daß sie nicht etwa einen zweitklassigen Wertfaktor darstellt, sondern daß sie ebenbürtig ist jedem anderen Volk der Welt, auch Amerika.5 Gerade der letzte Vergleich unterstreicht die enge Verzahnung von Neubauplänen und Weltmachtanspruch in Hitlers Konzeption. Der vom GBl ausgearbeitete Neugestaltungsplan,6 wie er bis 1942/43 Gestalt annehmen sollte, sah als Grundriß und Rückgrat zugleich ein Achsenkreuz vor, dessen Schnittpunkt das Brandenburger T o r war. Von hier aus verliefen die Achsen jeweils in Nord-Süd- beziehungsweise Ost-West-Richtung und mündeten in einen um die Stadt geplanten Autobahnring ein. Vier konzentrische Ringstraßen innerhalb dieser peripheren Autobahntrasse sowie eine Zahl von Radialstraßen ergänzten dieses Grundgerüst. Hierbei nahmen die Stadtplaner zum Teil Rücksicht auf bereits vorhandene Straßenzüge, die in den neuen Stadtgrundriß einbezogen und für diese Zwecke verbreitert und umgestaltet werden sollten. Eine völlige Neuanlage würde dagegen die Nord-SüdAchse bilden, die Stadtbild und städtebauliche Struktur Berlins am einschneidendsten verändert hätte. Ihr etwa sieben Kilometer langer Mittelabschnitt — begrenzt und architektonisch markiert durch zwei neue Zentralbahnhöfe — sollte das Kernstück der Neugestaltungsabsichten bilden und nahezu sämtliche relevanten Staats- und Parteibau5 Rede vom 10.2.1939, zitiert nach J. Dülffer/J. Thies/J. Henke, Hitlers (wie Anm. 2), S. 297.

Städte...

Vgl. hierzu und zum folgenden Lars Olof Larsson, Die Neugestaltung der Reichshauptstadt. Albert Speers Generalbebauungsplan für Berlin, Stuttgart 1978, passim; Stephen D. Helmer, Hitler's Berlin. The Speer Plans for Reshaping the Central City (= Architecture and Urban Design, Bd. 14), Ann Arbor (Mich.) 1985, passim, sowie Hans J. Reichhardt/Wolfgang Schäche, Von Berlin nach Germania. Über die Zerstörungen der Reichshauptstadt durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen. Eine Ausstellung des Landesarchivs Berlin vom 7.11.1984 bis 30.4.1985 (= Ausstellungskataloge des Landesarchivs Berlin, Bd. 2), Berlin 1984, passim. 6

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Marie-Luise

Recker

ten sowie die Hauptverwaltungen verschiedener Wirtschaftsverbände und -unternehmen, Kinos, Warenhäuser, Theaterbauten und anderes mehr aufnehmen. Als Fertigstellungstermin war das Jahr 1950 ins Auge gefaßt, in dem im Rahmen einer Weltausstellung diese Anlage ihrer Bestimmung übergeben und Berlin feierlich in Germania um[ge]tauftt]7 werden sollte. Dieser neuen „Prachtstraße" mit einem neuen Führerpalais, dem Oberkommando der Wehrmacht, Görings Reichsmarschallamt sowie weiteren Ministerien und anderen staatlichen und nichtstaatlichen Gebäuden galt auch Hitlers besonderes Augenmerk. Dieses Ensemble sollte — wie Speer betonte — die in Architektur übersetzte Zusammenfassung der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht Deutschlands demonstrieren ... Zumindest in der Planung war Hitlers Satz verwirklicht, daß „Berlin sein Antlitz ändern müsse, um sich seiner großen neuen Mission anzupassen".8 Markanteste Bauwerke, Blickfang und dominierende Baukörper zugleich sollten die Große Halle und ein überdimensionaler Triumphbogen sein, also die Projekte, die bereits in den frühesten Plänen Hitlers faßbar sind. Beide würden ihre Vorbilder, das Pantheon in Rom und den Are de Triomphe in Paris, um ein Vielfaches übertreffen. Trotz mancher bautechnischer und architektonischer Einwände Speers hat Hitler mit bemerkenswerter Starrheit an seinen Vorstellungen gerade für diese beiden Gebäude festgehalten. In ihrer letzten Fassung sollte die Große Halle, als größtes Bauwerk der Welt entworfen, einen quadratischen Unterbau mit je 315 Metern Seitenlänge und einer Höhe von etwa 290 Metern haben. Der Innenraum würde 150 000 bis 180000 Menschen fassen, der Platz vor der Großen Halle, der von ihr beherrscht sein würde, war für Großkundgebungen mit etwa einer Million Teilnehmern konzipiert. An der Spitze der Kuppel war eine mehrere Meter hohe gläserne Laterne in Metallkonstruktion vorgesehen, über der ein Adler auf einem Hakenkreuz saß. Auf Verlangen Hitlers wurde dies dann im Frühsommer 1939 abgewandelt: Das hier wird geändert. Hier soll nicht mehr der A dler über dem Hakenkreuz stehen, hier wird er die Weltkugel beherrschen! Die Bekrönung dieses größten Gebäudes der Welt muß der Adler über der Weltkugel sein.9 7 Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941—1942, hrsg. von Percy Ernst Schramm u. a., Stuttgart 1963, S. 398, Eintragung vom 8.6.1942. 8 A. Speer, Erinnerungen... (wie Anm. 1), S. 153. Der letzte Teil des Zitats bezieht sich auf Hitlers Ansprache zum Richtfest der Neuen Reichskanzlei am 2. 8.1938. 9 A.a.O., S. 175.

Berlin in den Plänen Hitlers

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Dieses Sinnbild des Adlers, der die Weltkugel in seinen Fängen hält, weist erneut auf die enge Verknüpfung dieser Planungen mit Herrschaftsfunktionen und Herrschaftssymbolik hin. Alle Architekturhistoriker betonen die Monumentalität und Strenge der geplanten Repräsentationsbauten. Allein das Ausmaß dieser Gebäude — Zahlen und Größen von inflatorischem Charakter, wie Speer dies in einem selbstkritischen Rückblick genannt hat 10 — mußte jeden Betrachter beeindrucken. Reisende, die an einem der beiden neuen Bahnhöfe ankommen und vor das Gebäude treten würden, sollten von der ungeheuren, die Macht des Reiches verkörpernden Wucht der Architektur überwältigt, ja buchstäblich „erschlagen" werdend Die Größe der Gebäude, die monumentalen Außenfassaden, die Ausgestaltung der neuen, 120 Meter breiten „Prachtstraße" mit Ehrenmälern, Beutewaffen und anderen Standbildern — all dies war dazu bestimmt, Größe und Macht des Dritten Reiches zu symbolisieren. Funktionale Aspekte im üblichen Sinne, also die Verwendbarkeit der neuen Bauten etwa für Verwaltungszwecke, traten dahinter völlig zurück, während repräsentative Absichten im Inneren wie in der Außengestaltung dominierten. Nichts zeigt dies so deutlich wie die Anweisung,12 daß die neuen Ministerien, die an der Nord-Süd-Achse entstehen würden, nicht etwa die gegenwärtig teils über die ganze Stadt verteilten Verwaltungsstellen und Behördenapparate aufnehmen, sondern vielmehr nahezu ausschließlich der Repräsentation dienen sollten. Dies zeigen auch die uns erhalten gebliebenen Baupläne für einzelne dieser Gebäude. Und nicht zuletzt waren sie monumentale Kulisse für Aufmärsche und Massenversammlungen, die auf der „Prachtstraße" und dem Platz vor der Großen Halle stattfinden würden. In der Tendenz, wenn auch nicht im Ausmaß, wiederholten sich diese Charakteristika bei den anderen Bauvorhaben im Zuge der Neugestaltung Berlins. Hinsichtlich der Ost-West-Achse nahmen die Planungen größere Rücksicht auf gewachsene Stadtstrukturen, insbesondere hinsichtlich des historischen Stadtkerns östlich des Brandenburger Tores. Hier (wie auch in der westlichen Verlängerung) blieb es im wesentlichen bei einer Verbreiterung der Fahrbahnen und der Errichtung einiger markanter Neubauten. Die umfangreichsten Änderungen im alten Berliner Zentrum galten der Neugestaltung der Museumsinsel und der 10 11 12

A. a. O., S. 168. A.a.O., S. 149. Dies berichtet Speer, a. a. O., S. 150.

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erheblichen Erweiterung des gesamten Museumskomplexes, durch die alte, überquellende Sammlungen eine neue repräsentative Bleibe und zusätzliche, für die neuen weltanschaulichen Grundsätze des Nationalsozialismus richtungweisende Sammlungen — so Speers Bemerkungen zum neuen Völkerkundemuseum 13 — einen angemessenen Rahmen erhalten würden. Am westlichen Ende dieser Achse war die Errichtung einer neuen Hochschulstadt geplant, deren Grundsteinlegung im November 1937 oben bereits angesprochen worden ist. Auch in anderen Teilen der Stadt — vornehmlich an markanten Punkten der neuen oder verbreiterten Radialstraßen — sollten entsprechende Bauten und Platzanlagen errichtet werden. Insgesamt wird man aber nicht von einem städtebaulich durchdachten und aussagekräftigen Gesamtkonzept für die Neugestaltung Berlins sprechen können. Dies verhinderte schon Hitlers ausschließliches Interesse an der repräsentativen Ausgestaltung des Stadtkerns, während Fragen der zukünftigen innerstädtischen Strukturen, der Verkehrsplanung, der Neuordnung der Industrieflächen oder der Errichtung neuen Wohnraums für die projektierte Zehnmillionenstadt vernachlässigt wurden. Auch Speer selbst und seine Mitarbeiter bewältigten diese Aufgabe nur unzureichend, und die Ausschaltung städtischer Behörden verhinderte, daß von dieser Seite entsprechende Anregungen gekommen wären. Zwar werden aus ersten Plänen und Projektskizzen des G B l wie auch aus seinen Entwürfen zur Ausarbeitung eines Generalbebauungsplans für Berlin Ansätze zu einer solchen Gesamtplanung deutlich, doch waren auch sie nach wie vor von den monumentalen innerstädtischen Bauvorhaben und den hieraus abgeleiteten Bedürfnissen dominiert. Nichts zeigt diese Hintansetzung kommunaler Belange deutlicher als die Vernachlässigung des Wohnungsbaus für die wachsende hauptstädtische Bevölkerung. Bereits in den ersten Jahren nach der „Machtergreifung" war die Bilanz des Wohnungsbaus in Berlin, gemessen an der Bautätigkeit in den zwanziger Jahren, eher negativ, 14 und auch nach 1937 änderte sich hieran nichts. Im Gegenteil, die Umgestaltungsmaßnahmen im Bereich der Nord-Süd- und Ost-West-Achsen wie auch

13

Zitiert bei H . J . Reichhardt/W. Schäche, Von Berlin nach Germania...

(wie

Anm. 6), S. 56. 14

Dies betonen Christian Engeli/Wolfgang Ribbe, Berlin in der NS-Zeit

(1933—

1945), in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 2, München 1987, S. 9 2 5 — 1024, hier S. 988 ff.

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anderer innerstädtischer Räume machten zunächst einmal den Abriß von Wohnungen nötig, ein Vorhaben, mit dem bereits 1938 begonnen wurde. Neue Wohnviertel zur Unterbringung der hiervon betroffenen Bewohner sowie zur Schaffung von Wohnraum für neu hinzugezogene Familien entstanden weitgehend nur auf dem Papier; allein auf dem sogenannten Schöneberger Südgelände wurden bis Kriegsbeginn ca. 2000 Wohneinheiten errichtet, die Ersatzwohnraum für die von innerstädtischen Abrißarbeiten betroffenen Bewohner bieten sollten. Andere Bauvorhaben — Charlottenburg-Nord, die Südstadt oder auch weitere südliche und östliche Vorstädte — verblieben im Stadium der Planung oder des Entwurfs; ähnliches läßt sich für den Aufweis von Industriegebieten, den Ausbau der städtischen Infrastruktur etc. sagen. Hauptaugenmerk und Hauptarbeitskraft des G B l galten nach wie vor den Staats- und Parteibauten im Zentrum der Stadt. Die enge Verzahnung von Neubauplänen und Weltmachtanspruch, die oben 1 5 schon hervorgehoben worden ist, läßt sich auch aus den zeitlichen Vorgaben für die Umgestaltungsmaßnahmen ablesen. Bis zum Frühjahr 1939 waren die Rahmenplanungen für das Stadtzentrum und die Entwurfsarbeiten für einzelne Gebäude weitgehend abgeschlossen, und als Fertigstellungstermin war das J a h r 1950 festgelegt worden. Aus dem J a h r 1939 stammt auch die bereits zitierte Anweisung Hitlers, die G r o ß e Halle nun mit einem Adler zu krönen, der nicht mehr das Hakenkreuz, sondern die Weltkugel in seinen Fängen hält. Dies lief parallel 16 mit militärischen Planungen, die ja — in einem ersten Schritt — das Deutsche Reich zur dominierenden Macht auf dem europäischen Kontinent machen sollten. In dieser Zielperspektive würde die neugestaltete Reichshauptstadt dann nach Abschluß dieser militärischen Unternehmungen etwa im J a h r 1950 ein angemessenes

15 Es ist hier nicht der Raum, um alle im Zusammenhang der Neugestaltungsplanungen relevanten Probleme zu behandeln, also etwa die Frage nach der architektonischen Konzeption Speers und seiner Mitarbeiter, nach den hierbei deutlich werdenden städtebaulichen Leitbildern und der Vorbildfunktion dieser Baumaßnahmen für andere „Führer-" und Neugestaltungsstädte, nach Finanzierungs- und Durchführungsproblemen etc. Vgl. hierzu die in Anm. 6 genannte Literatur sowie zudem Joachim Petsch, Baukunst und Stadtplanung im Dritten Reich. Herleitung, Bestandsaufnahme, Entwicklung, Nachfolge, München-Wien 1976, passim, und Angela Schönberger, Die Neue Reichskanzlei von Albert Speer. Tum Zusammenhang von nationalsozialistischer Ideologie und Architektur, Berlin 1981, passim. 16 Dieser Zusammenhang ist am besten ausgeleuchtet bei Jochen Thies, A rchitekt der Weltherrschaft. Die „Endziele" Hitlers, Düsseldorf 1976, passim.

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politisches Zentrum für die neue Hegemonialmacht Deutschland bilden. Mit Kriegsbeginn wurden die Bauarbeiten dann zunächst eingestellt, im Sommer 1940 aber wieder aufgenommen. Auf den Tag, an dem der Waffenstillstand mit Frankreich geschlossen wurde, datierte Hitler den Erlaß zurück,17 der Speer mit der Weiterführung dieser Arbeiten beauftragte. Berlin, so hieß es dort, muß in kürzester Zeit durch seine bauliche Neugestaltung den ihm durch die Größe unseres Sieges zukommenden Ausdruck als Hauptstadt eines starken neuen Reiches erhalten. In der Verwirklichung dieser nunmehr wichtigsten Bauaufgabe des Reiches sehe ich den bedeutendsten Beitrag zur endgültigen Sicherstellung unseres Sieges. Auch hier wird der enge Bezug von politischen Zielen und Neugestaltungsplanungen für Berlin deutlich. Zur Verwirklichung dieses Bauprogramms (wie auch ähnlicher Maßnahmen in anderen Städten) waren bereits erste konkrete Vorkehrungen18 getroffen worden, die ein Schlaglicht auf ganz andere als die bisher angesprochenen Dimensionen der nationalsozialistischen Herrschaft werfen. Im Zuge dieser Planungen waren zahlreiche Konzentrationslager in Zulieferbetriebe für Hitlers Bauten umgewandelt worden und andere neu in der Nähe von Natursteinvorkommen entstanden. Auch hatte die SS bereits 1938 Lieferverträge mit der Baubehörde des GBl abgeschlossen. Schon bald nach der Wiederaufnahme der Baumaßnahmen im Sommer 1940 bereisten dann Mitarbeiter Speers verschiedene europäische Nachbarstaaten, um sich die benötigten Baumaterialien — Granit, Marmor, Travertin — für die Berliner Bauten zu sichern. Eine von Speer aufgebaute Transportflotte schaffte noch 1941 gegen Devisen Baumaterial aus Skandinavien herbei, das in großen Materialdepots gestapelt wurde. Parallel hierzu sollte ein Heer von Fremdarbeitern helfen, diese Baumaßnahmen voranzubringen. Das Jahr 1941 bildete dann Höhepunkt und Peripetie dieser Umgestaltungspläne. Der schnelle Vormarsch der deutschen Armeen in Rußland nährte die Hoffnung auf Realisierung von Hitlers Zielvorstellungen und erleichterte — gleichsam als Nebenprodukt — die Beschaffung neuen Baumaterials sowie die Rekrutierung weiterer ausländischer Bauund Bauhilfsarbeiter. Auf dem Höhepunkt dieser Erwartungen, im Frühherbst 1941, äußerte Hitler die Uberzeugung, daß Berlin eines 17

Dies ist beschrieben bei A. Speer, Erinnerungen...

18

Vgl. hierzu und zum folgenden J . Dülffer/J. T h i e s / J . Henke, Hitlers Städte...

Anm. 2), S. 14 ff.

(wie Anm. 1), S. 188. (wie

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Hitlers

351

Tages die Hauptstadt der Welt sein werde. Wenn man die Reichskanzlei betritt, soll man das Gefühl haben, den Herrn der Welt zu besuchen.19 Das Steckenbleiben der deutschen Offensive vor Moskau bedeutete dann aber das Ende der Baumaßnahmen in Berlin und anderen „Führerstädten"; bis auf wenige Ausnahmen wurden sie nach und nach eingestellt. Zwar konnte Hitler angesichts des erneuten deutschen Vormarsches im Juni 1942 noch einmal mit dem Gedanken spielen, Berlin in „Germania" umzutaufen 20 und so den Anspruch der germanischen Rasse auf Weltherrschaft zu dokumentieren, doch blieb diese Äußerung Episode. An eine Weiterführung der Baumaßnahmen in größerem Umfang war nun angesichts der militärischen und rüstungswirtschaftlichen Lage nicht mehr zu denken. Die — zeitlich gesehen — letzten Maßnahmen des GBl im Rahmen seiner Berliner Tätigkeit waren Abrißarbeiten 21 auch und besonders von Wohnhäusern, die die ohnehin drängenden Wohnungsprobleme in der Reichshauptstadt noch vergrößerten. Die ersten, die ihre Wohnungen oder Häuser zu räumen hatten, waren jüdische Mitbürger, für deren Belange eine besondere Abteilung „Judenwohnungen" eingerichtet worden war. Hierbei sollten deren Bewohner vorerst bei anderen Juden eine Bleibe finden oder in Notunterkünften Platz suchen, bevor der Beginn der Deportationen in die Vernichtungslager diese Vorkehrungen nicht mehr nötig machte. Ihre Wohnungen (sofern sie nicht selbst anschließend abgerissen wurden) wurden dann nicht selten denjenigen (nichtjüdischen) Familien zur Verfügung gestellt, die ihre eigenen Räume hatten aufgeben müssen. Auch in dieser Hinsicht waren die Neugestaltungsmaßnahmen für Berlin also eng mit der politischen und sozialen Realität des Dritten Reiches verbunden. Auch wenn von den hier skizzierten Planungen — bis auf einzelne Objekte — nichts in die Realität umgesetzt wurde, so ist doch der Einschätzung zuzustimmen, daß sie zu den aufschlußreichsten Kapiteln aus der Geschichte Berlins in der NS-Zeit gehören. 22 Bei ihrer Realisierung wäre der historisch gewachsene Charakter der Stadt stark verändert, wenn nicht zerstört worden. Nicht die Bedürfnisse Berlins standen im Vordergrund, sondern die Demonstration nationaler Größe

" Albert Speer, Spandauer Tagebücher, Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1975, S. 84. Vgl. Anm. 7. 21 Vgl. hierzu H. J. Reichhardt/W. Schäche, Von Berlin nach Germania... (wie Anm. 6), S. 77 f. 20

22

Ch. Engeli/W. Ribbe, Berlin in der NS-Zeit...

(wie Anm. 14), S. 988.

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Marie-Luise

Recker

und weltpolitischen Anspruchs. In Gesprächen des dilettierenden Architekten und Stadtplaners Adolf Hitler mit den Verantwortlichen in der Stadtverwaltung, so ein treffendes Urteil, 23 ging es allein um Straßen, Plätze, Hallen und Denkmäler, und unter der Ägide Speers setzte sich diese Hinwendung zu staatlicher Repräsentationsarchitektur unvermindert fort. In ihrem Anspruch, das neue nationalsozialistische Reich würdig zu repräsentieren, ließen diese Planungen überkommene städtebauliche Maßstäbe weit hinter sich. Ihr Scheitern hat Berlin vor vielem bewahrt.

23

Ebda.

Berlin als Zentrum der Vorbereitung auf Hitlers „Lebensraum-Krieg" JÜRGEN

SCHMÄDEKE Berlin

Was hat mich in Berlin bedrücktf1 Wenn man den Begriff„ Geruch" ins Psychologische übertragen könnte, würde ich vielleicht sagen, daß mich. .. ein unangenehmer, beklemmender Geruch gestört hat. In der Luft dort fiel mir das Atmen schwer. Alles — die Gesichter der Menschen, der Klang der Sprache, die Fassaden der Häuser, die Blumenbeete im Tiergarten — alles war wie durch einen Dunst oder einen Schleier, durch eine Erinnerung verhüllt, die einen nicht losließ... Die Berliner Luft... Vielleicht geht es hier tatsächlich um die Luft, um den Himmel, der derselbe geblieben ist über demselben Ort. Von diesem Ort hat es schließlich seinen Ausgang genommen. Unser Glaube an die Vorsehung, an die unüberschreitbare Grenze des Bösen begann zusammenzubrechen... Es geht hier nicht um die Deutschen, sondern um den Ort, um das seismische Zentrum der Katastrophe, die unsere Vorstellungen von der Welt zusammenbrechen ließ. (Kazimierz Brandys, „Warschauer Tagebuch".)

I Knapp fünf Wochen waren seit dem 30. Januar 1933 vergangen, als am 5. März 1933 inmitten der ersten großen Terrorwelle der neuen Machthaber zum letztenmal Reichstagswahlen stattfanden, die eine Auswahl zwischen verschiedenen Parteien erlaubten. Berlin gehörte zu den Städten, in denen die Nationalsozialisten deutlich unter dem Durchschnitt blieben: Statt der rund 44 Prozent des Reichsergebnisses erreichten sie hier kaum 35 Prozent der Stimmen. Doch auch die Tatsache, daß rund zwei Drittel der Berliner, die zu den Wahlurnen gingen, nicht für Hitler stimmten, hat nicht verhindert, daß „Berlin" als Hauptstadt des Reiches zugleich zum Synonym für das millionenfache Unheil geworden ist, das seit 1938 mit Waffengewalt auch über die

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Jürgen

Schmädeke

Grenzen Deutschlands hinausgetragen worden ist. Daß die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges primär dem Willen Hitlers zuzuschreiben ist, seine schon in „Mein Kampf" nachzulesenden Ziele des Rassenkrieges um deutschen Lebensraum im Osten zu realisieren, macht nicht ungeschehen, daß die Planungen und Entscheidungen, die diesen Krieg militärisch möglich machten, zum größten Teil in Berlin zustande gekommen sind und daß viele, die hier in verantwortlichen Positionen tätig waren, daran ihren Anteil hatten. Die Erinnerung daran läßt sich aus der Geschichte Berlins nicht auslöschen. Das belegen eindrücklich auch die eingangs zitierten Worte aus dem „Warschauer Tagebuch" von Kazimierz Brandys, in dem ein Abschnitt einem Nachkriegs-Aufenthalt in Berlin gewidmet ist.1 Wie kam es dazu, daß Berlin diese unheilvolle Rolle gespielt hat, und wie ist es insbesondere Hitler gelungen, in wenigen Jahren die militärische Führung seinem diktatorischen Willen unterzuordnen? Schon vier Tage nach seiner Ernennung zum Reichskanzler suchte Hitler am 3. Februar 1933 die Zentrale der Militärmacht des Reiches auf, die sich seit 1920 unter dem Chef der Heeresleitung Hans von Seeckt und dessen Nachfolgern die Sonderstellung eines „Staates im Staate" geschaffen hatte, einer effektiven parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogen geblieben war und zugleich immer wieder versucht hatte, die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages zu umgehen und sich der alliierten Militärkontrolle zu entziehen.2 Der große Gebäudekomplex an der damaligen Kaiserin-Augusta-Straße (später: Tirpitzufer, heute: Reichpietschufer) und Bendlerstraße (heute: Stauffenbergstraße) nahe dem Landwehrkanal, in dem das Reichs-

1 Kazimierz Brandys, Warschauer Tagebuch. Die Monate davor. 1978—1981 (=Polnische Bibliothek), Frankfurt/Main 1984, S. 42—44. 2 Siehe dazu u. a. Francis L. Carsten, Reichswehr und Politik 1918—1933, Köln-Berlin 1964; Jürgen Schmädeke, Militärische Kommandogewalt und parlamentarische Demokratie. Zum Problem der Verantwortlichkeit des Reichswehrministers in der Weimarer Republik (- Historische Studien, Heft 398), Lübeck-Hamburg 1966; mit bezüglich Seeckts meist gegensätzlicher Wertung Hans Meyer-Welcker, Seeckt, Frankfurt/Main 1967; Rudolf Absolon, Die Wehrmacht im Dritten Reich, Bd. 1 u. 2 (= Schriften des Bundesarchivs, Bd. 16/1, 2), Boppard am Rhein 1969—1971. Vgl. auch Jürgen Schmädeke, Die Blomberg-Fritsch-Krise. Vom Widerspruch zum Widerstand, in: Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach (Hrsg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler (= Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin), München-Zürich 1986.

Vorbereitung

auf Hitlers „

Lebensraum-Krieg"

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wehrministerium mit der Heeres- und Marineleitung seinen Sitz hatte, 3 war so ein durchaus eigenständiges Entscheidungszentrum, das Hitlers kriegerischen Zielen nützlich, aber zugleich seinen diktatorischen Machtbestrebungen hinderlich sein konnte. Geschickt stellte der neue Kanzler beides in Rechnung, als er bei seinem ersten Treffen mit den führenden Repräsentanten der Reichswehr an jenem 3. Februar 1933 — in der Dienstwohnung des damaligen Chefs der Heeresleitung Kurt von Hammerstein, der als kompromißloser NS-Gegner bald darauf zurücktrat — den Militärs eine forcierte Aufrüstung und die Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie versprach und zugleich der Reichswehr ihre Überparteilichkeit und damit scheinbar ihre Selbständigkeit garantierte. Fünf Jahre später, nachdem die Aufrüstung größtenteils vollzogen war, verkündete Hitler hingegen in seinem Erlaß über die Führung der Wehrmacht vom 4. Februar 1938: Die Befehlsgewalt über die gesamte Wehrmacht übe ich von jetzt an unmittelbar persönlich aus. Nochmals fast vier Jahre später, als sich nach den triumphalen militärischen Anfangserfolgen in der Krise des Rußlandfeldzuges die Wende zur Niederlage ankündigte, übernahm Hitler mit der Absetzung des Feldmarschalls von Brauchitsch im Dezember 1941 auch noch das direkte Kommando über die kämpfende Truppe und hielt sich seitdem vornehmlich im ostpreußischen Führerhauptquartier „Wolfsschanze" auf. Die Realisierung des „Führerstaates" war damit auf die militärische Spitze getrieben. Erst das Scheitern der „ Ardennenoffensive" und der Beginn der letzten sowjetischen Großoffensive im Januar 1945 trieben ihn ins zerbombte Berlin zurück, und hier wurde noch der Selbstmord des „Führers" am 30. April 1945 im Bunker unter der Berliner Reichskanzlei mit der propagandistischen Formel verbrämt, er sei an der Spitze der Truppe kämpfend gefallen.

3 Zu den Dienstsitzen der verschiedenen Militärbehörden in Berlin 1933/34 siehe Das Deutsche Führerlexikon 1934/35, T . 2, Berlin 1934, S. 30f. — Zahlreiche Detailangaben über militärische Behörden- und Truppenstandorte in und um Berlin enthält Martin Zippel, Untersuchungen zur Militärgeschichte der Reichshauptstadt Berlin von 1871 bis 1945, Phil. Diss. (masch. vervielf.), Münster 1981. Zum „Bendlerblock" Berthold Grzywatz, Die obersten Marinebehörden, das Reichswehrministerium und das Oberkommando der Wehrmacht, in: Helmut Engel/Stefi Jersch-Wenzel/Wilhelm Treue (Hrsg.), Geschichtslandschaft Berlin. Orte und Ereignisse, Bd. 2: Tiergarten, T . 1: Vom Brandenburger Tor zum Zoo, Berlin 1989, S. 277—298. Aus DDR-Sicht Richard Lakowski, Berlin als Sitz der Wehrmachtführung und Zentrum der militärischen Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges, in: Militärgeschichte 26 (1987), S. 335—337.

356

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Schmädeke

Auf Details dieser Entwicklung von einer eigenständigen, quasi konventionelle deutsche Großmachtziele anstrebenden Reichswehr, die sofort die Chancen zur Wiederaufrüstung ergriff, bis zur Unterwerfung der Wehrmacht unter den rassistischen Weltmachtanspruch Hitlers sollen im folgenden einige Schlaglichter geworfen werden. Zentrum dieser Entwicklung war Berlin. Hier, in der Reichshauptstadt mit ihren zentralen Behördenapparaten, diplomatischen Vertretungen und den trotz „Gleichschaltung" noch lange mächtigen und für die Rüstungsplanungen unerläßlichen zentralen Industrieorganisationen, wurden auch die innen-, außen- und wirtschaftspolitischen Weichen für den Weg in den Krieg gestellt. 4 II Als Hitler 1933 die Regierungsführung übernahm, gebot ihm das innen- wie das außenpolitische Kalkül zunächst, an die Politik der Revision des Versailler Vertrages anzuknüpfen, die schon am Ende der Weimarer Zeit erste positive Ergebnisse gebracht hatte, und sich dabei die schon vor 1933 in der Reichswehr ausgearbeiteten geheimen militärischen Planungen für eine deutsche Wiederaufrüstung zu eigen zu machen. Beides blieb zwar hinter Hitlers eigenen Zielen weit zurück, fügte sich aber als erste Etappe in sie ein. Außerdem war die Reichs-

4 Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination (= Truppe und Verwaltung, Bd. 16), Hamburg 1969. Zum Verhältnis zwischen militärischer Führung und NS-Regime im hier interessierenden Zeitraum siehe ferner vor allem Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 1: Wilhelm Deist u. a., Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, Stuttgart 1979, wobei hier vor allem der folgende Aufsatz interessiert: Wilhelm Deist, Die Aufrüstung der Wehrmacht, in: A. a.O., S. 371—532; Klaus-Jürgen Müller, Das Heer und Hitler. A rmee und nationalsozialistisches Regime 1933—1940 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd. 10), Stuttgart 1969; ders., General Ludwig Beck. Studien und Dokumente zur politisch-militärischen Vorstellungswelt und Tätigkeit des Generalstabschefs des deutschen Heeres 1933—1938 (= Schriften des Bundesarchivs, Bd. 30), Boppard am Rhein 1980; ders., Armee und Drittes Reich 1933—1939. Darstellung und Dokumentation. Unter Mitarbeit von Ernst Wilhelm Hansen (= Sammlung 9chöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn 1987; Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich (= Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 17), 3. Aufl., München 1987, mit ausführlicher Bibliographie insbes. S. 267—281 (Außenpolitik und Kriegführung); Bernd-Jürgen Wendt, Großdeutschland. Außenpolitik und Kriegsvorbereitung des Hitler-Regimes (= Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 18), München 1987.

Vorbereitung auf Hitlers „ Lebensraum-Krieg"

357

wehr, deren verfassungsmäßiger Oberbefehlshaber damals noch der greise Reichspräsident und Generalfeldmarschall von Hindenburg war, in der Tat ein innenpolitischer Machtfaktor, den Hitler vorerst respektieren mußte. Das fiel ihm um so leichter, als sein Ziel der Wiederwehrhaftmachung des deutschen Volkes im Offizierkorps auf breite Zustimmung rechnen konnte. Mit der Ernennung des bisherigen Wehrkreisbefehlshabers in Ostpreußen, Generalleutnant Werner von Blombergs, hatte Hindenburg zwar schon vor der Berufung Hitlers in das Kanzleramt einen Mann seines Vertrauens an die Spitze des Reichswehrministeriums geholt; aber dieser stand dem Nationalsozialismus durchaus positiv gegenüber und glaubte, die Eigenständigkeit des Militärs am besten dadurch bewahren und die NS-Partei dadurch vor den Kasernentoren halten zu können, daß er die „weltanschauliche" Schulung im Geiste des Nationalsozialismus zur Sache der Wehrmacht selbst machte. Diese Art „Uberparteilichkeit" mochte konservativer eingestellten Offizieren wie dem Freiherrn von Fritsch, der dem resignierenden Hitlergegner von Hammerstein ins Amt des Chefs der Heeresleitung im „Bendlerblock" folgte und mit Recht die durch General von Seeckt in den zwanziger Jahren geprägte weltanschauliche Geschlossenheit des Offizierkorps gefährdet sah, zu weit gehen; bei ihm wie bei dem neuen Chef des Truppenamtes (des noch heimlichen Heeres-Generalstabes), General Beck, überwog aber doch das fachliche Interesse am militärischen Ausbau, für den Hitler politisch den Weg freigab. Außerdem sollten Blombergs Loyalitätsbekundungen, die bis zur Einführung des Hakenkreuzes als Hoheitszeichen und zur Übernahme des „Arierparagraphen" gingen, Hitler gegen den Anspruch der SA und ihres Stabschefs Röhm abschirmen, den Kern eines neuen Volksheeres zu bilden und den grauen Fels (der Wehrmacht) in der braunen Flut (der SA) untergehen zu lassen. So wurde am 30. Juni 1934 auch die von Hitler und Himmler in Süddeutschland, von Göring in Berlin gesteuerte Mordaktion gegen den angeblich drohenden „Röhmputsch" von der militärischen Führung eher wohlwollend hingenommen. Wir können Politik nicht ändern, [müssen] unsere Pflicht tun, war Fritschs knapper Kommentar. 5 Auch daß neben konservativen Regimekritikern die Generale von Schleicher (immerhin zugleich auch Hitlers unmittelbarer Vorgänger 5 Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Nationalsozialismus, 5. Aufl., Köln 1976, S. 260.

Entstehung,

Struktur,

Folgen des

358

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Schmädeke

als Reichskanzler!) und von Bredow zu den Opfern gehörten, verhinderte dieses Diktum nicht. Als Hindenburg einen Monat später starb und Hitler durch ein von ihm selbst erlassenes Gesetz zu seinem Nachfolger als Staatsoberhaupt und damit auch als Oberbefehlshaber wurde, glaubte Blomberg mit der handstreichartigen Vereidigung der Soldaten auf die Person des Führers diesen noch enger an die Wehrmacht zu binden. Er legte zugleich aber die Wurzel für einen Loyalitätskonflikt, der den späteren Widerstand gegen Hitler schwer behindern sollte. III Inzwischen hatte Hitler in der Abkehr von dem seit 1919 mühevoll entstandenen kollektiven Vertrags- und Sicherheitssystem, in dessen Rahmen die Weimarer Politik seit Stresemann die Revision von „Versailles" betrieben hatte, damit begonnen, auch außenpolitisch den Weg für die Aufrüstung freizumachen. Im Oktober 1933 sorgte die Berliner Politik, durchaus mit Unterstützung der Militärführung, für internationale Schlagzeilen, als kurz nacheinander das Verlassen der Genfer Abrüstungskonferenz und der Austritt aus dem Völkerbund verkündet wurden; dessen Satzung war Bestandteil des Versailler Vertrages. Militärische Konsequenz war der im Dezember 1933 gefaßte Grundsatzbeschluß, bis 1938 ein Heer von 300000 Mann Friedensstärke (21 Divisionen) zu schaffen,6 also das in Versailles erlaubte Heer zu verdreifachen. In Gang gesetzt wurde damit von Berlin aus in den nächsten Jahren eine allgemeine europäische Rüstungsdynamik, die wiederum Hitler zum Anlaß nahm, die deutschen Planzahlen immer wieder zu erhöhen. Die militärischen Planer sahen sich dadurch in den Zielkonflikt zwischen einer technisch soliden, aber zeitaufwendigen Tiefenrüstung oder einer schnelleren Breitenrüstung gestellt, die ein quantitativ großes Heer von fraglicher Qualität hervorbringen und das Offizierkorps in unkontrollierbarer Weise aufblähen mußte. Beck meldete hiergegen im Mai 1934 energischen Widerspruch an — ohne freilich das Aufrüstungskonzept an sich in Frage zu stellen. Die militärischen Fachleute trieben so ungeachtet mancher Bedenken von Berlin aus die Aufrüstung, zunächst noch unter einem freilich dünner werdenden Schleier der Geheimhaltung, voran. Dazu gehörte auch eine verstärkte Marinerüstung mit einem umfangreichen Bauprogramm, das der Chef

6

K.-J. Müller, Armee und Drittes Reich...

(wie Anm. 4), S. 97.

Vorbereitung auf Hitlers „ Lebensraum-Krieg"

359

der Marineleitung, Admiral Raeder, bei dem zunächst vor allem auf die Landrüstung fixierten Hitler dennoch durchzusetzen verstand. 7 IV Gefährlicher als die quasi traditionelle Konkurrenz zwischen Heer und Marine war für den Autonomieanspruch der Reichswehr-Führung der militärische Ehrgeiz der beiden in der NS-Partei nach Hitler mächtigsten Männer, Hermann Görings und Heinrich Himmlers, der nach der von ihnen in vorderster Linie betriebenen Ausschaltung der SA um so deutlicher wurde. Hermann Göring hatte 1933 den Aufbau einer deutschen Luftwaffe sogleich zu seiner Sache gemacht. Seine Ernennung zum „Reichskommissar für den Luftverkehr" am 30. Januar 1933 — neben seinen Hauptfunktionen als kommissarischer preußischer Innenminister beziehungsweise von April an als preußischer Ministierpräsident mit Sitz im Reichskabinett — und schon am 5. Mai 1933 zum „Reichsminister der Luftfahrt" boten dem ehemaligen Jagdflieger des Ersten Weltkrieges die organisatorische Basis einer konkurrierenden Militärgewalt. Auch wenn die zunächst ebenfalls im geheimen entstehende Luftwaffe später (1935) als dritter Wehrmachtsteil neben Heer und Marine gestellt und damit formal dem Wehrminister untergeordnet wurde, blieb sie doch durch das Schwergewicht der Göringschen Position weitgehend selbständig und auf dem Gebiet der Beschaffung des nötigen Rüstungsmaterials eine den Heeresaufbau direkt berührende Konkurrenz. Außerdem lag hier der Ansatzpunkt für Görings späteren Aufstieg zum Wirtschaftsdiktator und Beauftragten für den Vierjahresplan im Herbst 1936. Nicht zuletzt der Bau des monumentalen Reichsluftfahrtministeriums an der Leipziger und Wilhelmstraße (des heutigen Hauses der Ministerien in Ost-Berlin), der auf dem weitläufigen Parkgelände des ehemaligen preußischen Kriegsministeriums im selben Jahre 1936 abgeschlossen wurde, demonstrierte den Machtanspruch des „zweiten

7 Siehe dazu im einzelnen Jost Dülffer, Weimar, Hitler und die Marine. Reichspolitik und Flottenbau 1920—1939, Düsseldorf 1973, S. 204 ff.; W. Deist, Die Aufrüstung der Wehrmacht... (wie Anm. 4), S. 449—473; Gerhard Schreiber, Revisionismus und Weltmachtstreben. Marineführung und deutsch-italienische Beziehungen 1919 bis 1944 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd. 20), Stuttgart 1978.

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360

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Mannes" nach Hitler in der Reichshauptstadt unübersehbar.8 Ausgesprochen politischen Charakter hatte auch, daß Hitler sogleich nach seinem Schlag gegen die SA am 30. Juni 1934 seine SS-Leibstandarte „Adolf Hitler" in den Rang eines selbständigen, modern ausgerüsteten und bewaffneten Regiments außerhalb der Reichswehr erhob und sich wenige Tage später die SS direkt unterstellte. Die Reichswehr stand demnach am Tage ihres Triumphes über die SA vor der Tatsache, daß das ihr zugestandene Waffenträgermonopol erneut — und zwar aufgrund einer ausdrücklichen Entscheidung Hitlers — durchbrochen worden war.9 Entstanden aus der Mitte März 1933 gebildeten SS-Stabswache zum Schutze Hitlers, die damit eine Reichswehrkompanie ablöste, hatte die schnell auf eine Stärke von fünf Kompanien anwachsende „Leibstandarte" schon bald ihr Quartier aus der ehemaligen Kaserne des Alexander-Garderegiments am Bahnhof Friedrichstraße in eine andere Stätte preußischer Militärtradition verlegt: die ehemalige Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde (wo dann ein Großteil der im Zusammenhang mit dem 30. Juni 1934 in Berlin vollzogenen Exekutionen stattfand). Stahlhelm, Karabiner und Patronentasche zur schwarzen Uniform gaben den Männern der SS-Formation auch äußerlich ein militärisches Aussehen.10 Während Blomberg das am 30. Juni 1934 geschaffene fait accompli sofort und widerspruchslos akzeptierte und den Reichswehrbefehlshabern die Aufstellung von drei SS-Regimentern, von insgesamt Divisionsstärke, ankündigte, erkannten Fritsch und Beck sofort die militärpolitische Bedeutung und setzten durch, daß zumindest die Ausbildung der Inspektion des Heeres unterstellt und die Ausrüstung mit Artillerie verhindert wurde. Hitler sanktionierte schließlich die Vorbe-

8

Zu Göring siehe jetzt zwei neue Biographien: Stefan Martens, Hermann

Göring.

„Erster Paladin des Führers" und „Zweiter Mann im Reich" (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn 1985; Alfred Kube, Pour le mérite und kreuz. Hermann

Haken-

Göring im Dritten Reich (= Quellen und Darstellungen zur Zeitge-

schichte, Bd. 24), München 1986. 9

10

(wie Anm. 4), S. 147ff.

Zur Konkurrenz zwischen SS und Heer zusammenfassend W . Deist, Die

stung der Wehrmacht... gen...

4 ) , S . 516; vgl. K.-J. Müller,

W.Deist,DieAufrüstungderWehrmacht...(wieAnm.

Das Heer und Hitler...

(wie Anm. 4), S. 516ff.; vgl. auch M. Zippel,

(wie Anm. 3), S. 4 5 8 — 4 7 2 ; George H .

Stein, Geschichte

Aufrü-

Untersuchun-

der

Waffen-SS,

Königstein/Ts.-Düsseldorf 1978; Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Geschichte der SS, Gütersloh 1967; H o r s t Scheibert, Panzergrenadier-Division deutschland"

und ihre Schwesterverbände,

Dorheim 1973.

Die

„Groß-

Vorbereitung

auf Hitlers „

Lebensraum-Krieg"

361

reitung der SS-Einheiten auf ihre Kriegsverwendung im Frieden unter der Verantwortung des Reichswehrministers, verfügte jedoch zugleich für den Kriegsfall ihre Eingliederung als Divisionsverband in das Heer, während Beck eine solche geschlossene Übernahme lieber verhindert hätte. Nach dem Kriegsbeginn wurde aus der SS-„Verfügungstruppe" und den zur Bewachung der Konzentrationslager gebildeten SS-„Totenkopfverbänden" schließlich die „Waffen-SS". Aus dem SS-Wachregiment Berlin wurde im Kriege die Elitedivision „Großdeutschland". Die wenigstens anfängliche Blockierung des militärischen Ehrgeizes der SS hat sicher dazu beigetragen, daß Fritsch und Beck sich den „Reichsführer S S " Heinrich Himmler zum unversöhnlichen Feind machten. Dessen Einfluß aber war seit 1933 ständig im Wachsen: als Chef auch der Gestapo und des Sicherheitsdienstes, Herr über die Konzentrationslager und seit 1936 „Chef der Deutschen Polizei". In diesem Jahr 1936 soll H i t l e r — nach dessen eigener Bekundung 1938 — von Himmler zum ersten Mal eine Gestapo-Akte vorgelegt worden sein, in der Fritsch (fälschlicherweise, wie die kriegsgerichtliche Untersuchung dann 1938 schließlich ergab) homosexueller Verfehlungen beschuldigt wurde.11 V Unterdessen setzte Hitler in seiner Doppelrolle als politischer Staatschef und militärischer Oberbefehlshaber, der die konkrete Ausübung der Kommandogewalt freilich noch den militärischen Führern überließ, zunächst hinter einem Schleier wiederholter Friedensbeteuerungen 12 seine Strategie der innen- wie außenpolitischen Uberraschungscoups zur Absicherung der Aufrüstung fort. Schon vor dem Bruch mit dem Völkerbund war es im Juni 1933 auf Initiative Mussolinis zu einem Vierer-Gewaltverzichtsvertrag zwischen Deutschland, Italien, England und Frankreich gekommen, der dann allerdings nicht mehr ratifiziert wurde. Die Gefahr, die andererseits von dem stark gerüsteten

"

Z u r Beschuldigung Fritschs 1936 Harold C . Deutsch, Das Komplott

Entmachtung

der Generale. Blomberg-

und Fritsch-Krise.

oder die

Hitlers Weg ¿um Krieg, o. O.

[Zürich] 1974, S. 121 ff. 12

Siehe dazu Gerhard L. Weinberg, Friedenspropaganda

und Kriegsvorbereitung,

in:

Wolfgang Treue/Jürgen Schmädeke (Hrsg.), Deutschland 1933. Machtzerfall der Demokratie und nationalsozialistische „Machtergreifung"

(= Einzelveröffentlichungen der Hi-

storischen Kommission zu Berlin, Bd. 42), Berlin 1984, S. 119—135.

362

Jürgen

Schmädeke

Polen ausging, versuchte Hitler ein gutes halbes Jahr später (im Januar 1934) durch einen Nichtangriffspakt mit dem autoritär regierenden Marschall Pilsudski zu bannen und nahm dafür die vorübergehende Abkehr von Berlins bisheriger eher moskauorientierter außen- und militärischen Ostpolitik in Kauf, für die Polen seit 1919 ein erstrangiges Revisionsziel gewesen war. Dieser taktischen Volte folgte allerdings im März 1935 ein neuer Coup gegen die Reste des Systems von Versailles: die Verkündung der 1919 verbotenen allgemeinen Wehrpflicht und des offiziellen Aufbaues einer deutschen Luftwaffe. Damit einher ging nicht nur eine Heraufsetzung der Zahl der für das „Friedensheer" zu schaffenden Divisionen von 21 auf 36, sondern auch eine verbale Radikalisierung: Die Reichswehr wurde zur „Wehrmacht", der Reichswehrminister zum „Reichskriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht" (und Hitler dafür zum „Obersten Befehlshaber"), die Chefs der Heeres- und Marineleitung wurden zu „Oberbefehlshabern des Heeres" beziehungsweise der „Kriegsmarine", das Truppenamt wurde „Generalstab des Heeres". Wie brüchig die europäische Solidarität gegen Hitler inzwischen geworden war, zeigte sich darin, daß England kurz darauf ein Flottenabkommen mit dem Reich schloß, daß Sanktionen gegen diese Serie demonstrativer Akte aber ebenso ausblieben wie ein Jahr später, im März 1936, nach der ersten militärischen Veränderung des territorialen Status quo: Gegen den dringenden Rat, aber dann doch mit Hilfe seiner militärischen Führer ließ Hitler die Wehrmacht in das seit dem Versailler Vertrag entmilitarisierte Rheinland einmarschieren. Das Versailler System war jetzt so tot wie die Friedensordnung des Völkerbundes, die durch Mussolinis Eroberung Abessiniens und den durch Franco in Spanien mit Unterstützung Hitlers und Mussolinis ausgelösten und geführten Bürgerkrieg den letzten Stoß erhielt. Die „Achse Berlin— R o m " und der „Antikominternpakt", der in interkontinentalem Ausgreifen diktatorische Regime in Berlin, Tokio und R o m verband, ließen die deutsche Hauptstadt endgültig zu einem der Hauptzentren internationaler zerstörerischer Energieentfaltung werden. 13

Zu den verschiedenen Aspekten der NS-Außenpolitik siehe den Sammelband Manfred Funke (Hrsg.), Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches {- Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte, Bd. 12), durchges. Nachdr., Düsseldorf 1976. 13

Vorbereitung

auf Hitlers „

Lebensraum-Krieg

363

VI Ungeachtet dieser Erfolgsbilanz war die „Wehrmacht" keineswegs ein monolithischer Machtblock. Blomberg als „Reichskriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht" war alles andere als ein von den Oberbefehlshabern des Heeres, der Kriegsmarine und der Luftwaffe widerspruchslos akzeptierter militärischer Chef. Was sie einte und auch mit Hitler verband, war der Wille, die „Fesseln von Versailles" so schnell wie möglich abzustreifen, und als die finanziellen und materiellen Mittel hierfür zur Mangelware wurden, scheute sich keine der Teilstreitkräfte, dieses Ziel notfalls auf Kosten der jeweils anderen zu erreichen. Weit mehr als Blomberg und sein Wehrwirtschaftsstab unter General Georg Thomas nahm schließlich Hermann Göring, seit 1936 auch Beauftragter für den (nach zwei Jahren scheiternden) Vierjahresplan, die Stellung eines politisch-militärischen „Wirtschaftsdiktators" ein. Mehr und mehr wurde die ganze Volkswirtschaft zur „Wehrwirtschaft", hatten sich „Wirtschaftsführer" im ganzen Reich den aus Berlin kommenden Anforderungen der oft wechselnden und sich steigernden Rüstungsplanungen unterzuordnen. 14 So war jede Teilstreitkraft auf das Ziel ihrer möglichst weitgehenden Aufrüstung fixiert, und schon vor 1938 blieb letztlich Hitler die oberste Appellationsinstanz, die bis dahin aus guten Gründen allerdings die eigentlichen, weit über die „Revision von Versailles" hinausreichenden Ziele noch im Vagen ließ und nach dem Fortfall des Schleiers der Friedensbeteuerungen Anfang 1935 die zunehmende militärische Stärke auf das Ziel einer Wiedererringung der früheren deutschen Großmachtposition konzentrierte, gegen das prinzipieller Widerspruch der Militärs ausgeschlossen erschien. Noch war für Hitler das Ziel einer möglichst effektiven Aufrüstung vorrangig, die freilich, nachdem ihr ganzes Ausmaß sichtbar geworden war, auch die Rüstungsbemühungen der potentiellen Gegner und Opfer stimulierte und damit eines nicht mehr fernen Tages an den Punkt

14 Zu den wirtschaftlichen Aspekten der Aufrüstung siehe Hans-Erich Volkmann, Die NS-Wirtschaft in Vorbereitung des Krieges, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg... (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 177—368; B.-J. Wendt, Großdeutschland... (wie Anm. 4), passim; generelle Aspekte der Aufrüstung bis 1939 behandelt einleitend auch Ludolf Herbst, Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939—1945 (- Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 21), Stuttgart 1982.

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kommen mußte, an dem das Reich, wenn es sich nicht in ein neues System kollektiver Sicherheit einordnen wollte, vor der Alternative stand, in eine Situation militärischer Unterlegenheit zu geraten oder die Wehrmacht zugunsten deutscher Großmachtziele einzusetzen — wofür neben dem „Anschluß" Österreichs auch die Tschechoslowakei und Polen Ziele durchaus auch im Sinne einer konservativen Großmachtpolitik sein konnten. Es gehörte zu den Konsequenzen der Teilidentität der Ziele (M. Messerschmidt), daß die in Kategorien eines quasi normalen Imperialismus denkenden Militärs nicht oder doch erst spät bemerkten, daß ihre Ziele für Hitler nur Vorstufe eines räumlich und qualitativ ganz anderen, rassistisch motivierten Eroberungs- und Vernichtungsprogramms zur Schaffung von „Lebensraum im Osten" waren. Im Sinne Hitlers hingegen war die „Teilidentität" durchaus ein Element einer erwünschten konzeptionellen „Parallelschaltung", aus der schließlich eine „Gleichschaltung" werden mußte. Insbesondere Blomberg war es, der diese Entwicklung lange unterstützte. Wie Müller und Deist mit Recht bemerken, war in seinen militärischen „Weisungen" von einem defensiven Einsatz und einer politisch-militärisch-wirtschaftlichen Gesamtschau — wie noch in Groeners Aufgaben der Wehrmacht von 1930 — schließlich nichts mehr zu spüren. Vielmehr kam in der ersten im Text überlieferten „Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht" vom 24. Juni 1937 ein rein instrumentaltechnisches Denken zum Ausdruck, das jederzeitfür jeden Zweck manipulierbar war und Becks Empörung auslöste. 15 Sowohl gegenüber dem Verfassungsverständnis der Weimarer Republik als auch gegenüber der Realität ihrer Reichswehr, die ihr eigenes politische Schwergewicht im Staate besaß, zeigt sich hier der i n z w i schen eingetretene politische Identitätsverlust der Wehrmacht im NSStaat. So blieb der lange andauernde Streit der Heeresführung mit Blomberg um die Führung bei der operativen Planung letztlich ein Kampf um wichtige, aber politisch sekundäre Fragen, die Hitler, soweit er damit in Berührung kam, auch nicht sonderlich interessierten. 16

15

K . - J . Müller, Das Heer und Hitler...

stung der Wehrmacht... 16

(wie A n m . 4), S. 237; W . Deist, Die

Aufrü-

(wie A n m . 4), S. 521 f.

Siehe dazu den A b s c h n i t t „Die Auseinandersetzung um die Wehrmachtspitzen-

gliederung", in: W . Deist, Die Aufrüstung

der Wehrmacht...

(wie A n m . 4), S. 5 0 0 — 5 1 2 .

Vorbereitung auf Hitlers „

Lebensraum-Krieg"

365

VII So war es nur konsequent, daß Hitler am 5. November 1937 in der durch das „Hoßbach-Protokoll" überlieferten Geheimkonferenz mit Kriegsminister Blomberg, den Oberbefehlshabern Fritsch, Raeder und Göring und Außenminister von Neurath den konkreten Zeitplan für die Realisierung seiner in diesem Kreise nie ganz verborgenen, aber in ihrer Ernsthaftigkeit sträflich unterschätzten „Lebensraum"-Eroberungspläne enthüllte. Und ebenso konsequent war es, daß er sich bei der nächsten Gelegenheit mit den inszenierten Moral-Affären um Blombergs unziemliche Heirat und Fritschs konstruierte homosexuelle Kontakte der beiden Generale und dazu des Außenministers, die ihm die Risiken dieser Politik vorzuhalten wagten, entledigte und sich — wie eingangs beschrieben — selbst zum militärischen Oberkommandierenden der gesamten Wehrmacht ernannte. 17 Dies bedeutete endgültig das Ende einer eigenständigen, von Hitlers Zielen unabhängigen militärischen Planung. Am 20. Februar 1938 verkündete Hitler bei einem seiner seltenen dramatischen Auftritte in der zum Reichstags-Sitzungssaal umfunktionierten Berliner Kroll-Oper, daß es in Deutschland kein Problem nationalsozialistische Partei und nationalsozialistische Wehrmacht gebe und daß die deutsche Wehrmacht diesem Staat des Nationalsozialismus in blinder Treue und blindem Gehorsam ergeben sei.18 Knapp fünf Monate später formulierte General Ludwig Beck, noch Chef des Generalstabes des Heeres, zu diesem von Hitler postulierten Soldatentyp das exakte Gegenbild (Deist): Die Geschichte wird diese militärischen Führer mit einer Blutschuld belasten, wenn sie nicht nach ihrem fachlichen und staatspolitischen Wissen und Gewissen handeln. Ihr soldatischer Gehorsam hat dort eine Grenze, wo ihr Wissen, ihr Gewissen und ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbietet,19 Becks Vortragsnotiz vom 16. Juli 1938 war einer der letzten vergeblichen Versuche des Generalstabschefs, dem verhängnisvollen Weg zur

17 Neuester Text-Abdruck des „Hoßbach-Protokolls" in: B.-J. Wendt, Großdeutschland... (wie Anm. 4), S. 191—202, dazu S. 11—37; Friedrich Hoßbach, Zwischen Wehrmacht und Hitler 1934—1938, 2. Aufl., Göttingen 1965, S. 181 — 192. Zur „Blomberg-Fritsch-Affäre" siehe zusammenfassend meinen oben (Anm. 2) erwähnten Aufsatz mit weiteren Literaturangaben. 18 Zit. nach W. Deist, Die Aufrüstung der Wehrmacht... (wie Anm. 4), S. 512. 19 Zit. nach: A.a.O., S. 518.

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Entfesselung des Zweiten Weltkrieges sozusagen auf dem Dienstwege entgegenzutreten. Einen Monat später, am 21. August, nahm er resignierend seinen Abschied, als er, der den „Anschluß" Österreichs im März 1938 noch militärisch mit vollzogen hatte, erkennen mußte, daß er angesichts der Vorbereitungen für die Zerschlagung der Tschechoslowakei mit seiner Meinung über die Deutschlands Existenz bedrohenden Folgen dieses von Hitler befohlenen Aggressionsaktes in der hohen Generalität so gut wie allein dastand. Es war nur konsequent, daß solche erst nach Jahren der tatkräftigen Mitwirkung an der deutschen Aufrüstung schließlich herangereifte ethische Rigorosität Ludwig Beck in den folgenden Jahren zu einem der Anführer des Widerstands gegen das N S - R e g i m e werden ließ; doch das gehört, bis hin zum 20. Juli 1944, zur T h e m a t i k des nächsten Referats. S o war angesichts der realen innenpolitischen, militärischen und internationalen Situation letztlich der 4. Februar 1938 der entscheidende Punkt, nach dem es gegenüber den alle konventionellen G r o ß macht-Träume sprengenden Zielen Hitlers keine politischen Alternativen, sondern nur noch Zwangsläufigkeiten der Gewalt gab. V o m Anschluß Österreichs bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war militärische Planung, soweit sie sich überhaupt noch in Berlin abspielte, jetzt nur noch technischer Vollzug, und als im Bombenkrieg das Pendel der Gewalt zurückschlug, wurde Berlin wie viele andere deutsche Städte schließlich selbst zum O b j e k t der Zerstörung, deren Beginn von hier ausgegangen war.

Berlin als Zentrum des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates JOHANNES

TUCHEL

Berlin

Berlin besaß als preußische Hauptstadt und von 1871 an auch als Hauptstadt des deutschen Nationalstaates schon immer eine besondere und herausragende Rolle bei der Verfolgung und Ausschaltung der politischen Opposition. 1 Hier saßen nicht nur das Reichs- und das Preußische Justizministerium, hier saß auch — dem Berliner Polizeipräsidium zugeordnet — die größte politische Polizei des deutschen Reiches. In der nationalsozialistischen Diktatur aber erhielt auch die Überwachung und Verfolgung der politischen Opposition eine völlig neue und todbringende Qualität. Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft ist aber auch der Begriff des Verfolgungsapparates völlig neu zu definieren. Hatte es sich bisher um die politische Opposition gehandelt, die von den Regierenden argwöhnisch und oft außerhalb der Legalität durch die Polizei überwacht und durch die Justiz verurteilt wurde, so wurde durch die Ausweitung des nationalsozialistischen Gegnerbegriffs auf alles „Nicht-Nationalsozialistische" eine Vielzahl neuer Verfolgungsinstrumente geschaffen. Die rassistische und eugenisch orientierte NSIdeologie führte zur Ausgrenzung und Verfolgung aller Personengruppen, die nicht in das Bild der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft hineinpaßten. Hier sind nicht nur die rassisch verfolgten Juden, Sinti und Roma zu nennen, sondern auch die psychisch Kranken und diejenigen Gruppen am Rande der Gesellschaft, die zu „Asozialen" und

1 Siehe dazu: Wolfram Siemann, „ Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung". Die Anfänge der politischen Polizei 1806—1866 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 14), Tübingen 1985, besonders S. 340ff.

Johannes Tuchel

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„Berufsverbrechern" gestempelt wurden, hier sind die Homosexuellen ebenso zu nennen wie die Opfer der verbrecherischen Zwangssterilisationen. Später, von 1938/39 an, weitete sich der nationalsozialistische Terror über ganz Europa aus. Alle diese Verbrechen wurden in Berlin geplant, alle diese Verbrechen wurden in Berlin koordiniert und von Berlin aus überwacht. Im Mittelpunkt dieser Gedanken sollen daher diese beiden oft ineinander übergehenden Teile des Verfolgungsapparates stehen: die politische und die ideologisch-rassistisch begründete Verfolgung. I Gestapo

und

Reichssicherheitsbauptamt

Die politische Polizei, die „Gestapo", ist zum Synonym für den politischen Terror unter dem Nationalsozialismus geworden.2 Hermann Göring, der für die Nationalsozialisten den Terror nach der Machtergreifung in Preußen organisierte, schuf unter Mithilfe des jungen und ehrgeizigen Rudolf Diels aus der Berliner Politischen Polizei 1933 eine Sonderbehörde, die aus kleinen Anfängen zur Mammutbehörde wuchs: 250 Mitarbeiter 1933 — 50 000 in ganz Europa 1944. Die Adresse der Geheimen Staatspolizei — Prinz-Albrecht-Straße 8 — wurde zum Synonym für Terror und Verfolgung. Hier gab es nicht nur das berüchtigte Hausgefängnis, das während der nationalsozialistischen Herrschaft für mehrere tausend Widerstandskämpfer eine der letzten Stationen ihres oft langen und konsequent geführten Kampfes war, hier wurde auch die Überwachung und Verfolgung des politischen Gegners geplant und koordiniert. Im April 1934 übernahm der „Reichsführer-SS" Heinrich Himmler von Göring die Gestapo und baute sie systematisch im gesamten Reich aus. Die Prinz-AlbrechtStaße 8 blieb bis 1945 Anschrift für sämtliche Briefe, Akten und Vorgänge, die Heinrich Himmler erreichen sollten. Hier wurden — zumindest für Berlin — die Morde des 30. Juni 1934 vom Arbeitszimmer von Himmlers engstem Mitarbeiter Reinhard Heydrich aus, veranlaßt und überwacht. Zu den Opfern gehörten etwa auch der ehemalige Reichskanzler Kurt von Schleicher mit seiner Frau und Franz von

2

Vgl. zur Gestapo vor allem: Johannes Tuchel/Reinold Schattenfroh, Zentrale des Terrors. Prinz-Albrecht-Straße 8. Das Hauptquartier der Gestapo, Berlin 1987, sowie Reinhard R ü r u p (Hrsg.), Topographie des Terrors. Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt auf dem „Prinz-Albrecht-Gelände". Eine Dokumentation, Berlin 1987.

Zentrum

des nationalsozialistischen

Verfolgungsapparates

369

Papens herausragender Mitarbeiter Herbert von Bose. Im Keller der Prinz-Albrecht-Straße 8 wurde am selben Tage Hitlers innerparteilicher Rivale Gregor Strasser ermordet. 3 Nachdem die Gestapo ihr Uberwachungsnetz im Zuge der nationalsozialistischen Kriegsvorbereitungen bis 1938 ausgeweitet hatte, wurde von hier aus — als „Unternehmen Tannenberg" — die Ermordung der polnischen Führungsschicht und der polnischen Juden im September und Oktober 1939 organisiert. 4 Am 27. September 1939 entstand das „Reichssicherheitshauptamt", eine Zusammenfassung von Staats- und Parteiorganen. Der Parteinachrichtendienst „ S D " (Sicherheitsdienst des Reichsführers SS) wurde zum Amt III, die Gestapo zum Amt IV, das Reichskriminalpolizeiamt zum Amt V. 5 Räumlich getrennt, aber innerhalb des Amts IV, arbeitete in der Kurfürstenstraße 115/116 das „Judenreferat" unter Adolf Eichmann. Von hier aus wurden die Vorbereitungen für die Entrechtung, Deportation und schließlich Ermordung der Juden in ganz Europa getroffen. II Die Justiz als Instrument

des

Terrors

Berlin als Zentrum des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates — dies sind nicht nur Gestapo und Reichssicherheitshauptamt. Fast vergessen ist heute der Ort jenes „Volksgerichtshofes", den Hitler nach dem — aus seiner Sicht — Versagen des Leipziger Reichsgerichts beim Reichstagsbrandprozeß als besonderes Gericht für politische Straftaten 1934 gründete. 6 Zuerst im „Preußenhaus" in der Prinz-AlbrechtStraße 5, direkt gegenüber der Gestapo residierend, später im Hinterhaus des ehemaligen Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums in der Bellevue-

Zu den Morden am 30. Juni 1934 siehe J. Tuchel/ R. Schattenfroh, Zentrale des Terrors... (wie Anm. 2), S. 84f. 4 Vgl. dazu: Bundesarchiv Koblenz (im folgenden: BA), R 58/241. 5 Stand von 1940. Daneben gab es noch das Amt I (Personal), das Amt II (Organisation), VI (SD-Ausland), VII (Weltanschauliche Forschung und Auswertung). Ausführlich siehe dazu: J. Tuchel/R. Schattenfroh, Zentrale des Terrors... (wie Anm. 2), S. 103 ff. 6 Vgl Walter Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 16/3), Stuttgart 1974, sowie als Einführung Bernhard Jantz/Volker Kähne, Der Volksgerichtshof. Darstellung der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hei dem Landgericht Berlin gegen ehemalige Richter und Staatsanwälte am Volksgerichtshof 2. Aufl., Berlin 1987. 3

370

Johannes Tuchel

Straße 15 untergebracht, entwickelte sich der Volksgerichtshof zu einem der wichtigsten Terrorinstrumente des nationalsozialistischen Staates. Etwa sechstausend Todesurteile wurden in den Jahren 1934 bis 1945 gefällt und vollstreckt; die letzten noch unter dem Donner sowjetischer Kanonen in der dritten Aprilwoche 1945. Kommunisten wie Liselotte Hermann, Anton Saefkow und Robert Uhrig gehörten ebenso zu den Opfern des Volksgerichtshofes wie die Verschwörer des 20. Juli 1944, über die allerdings nach der Zerstörung der Bellevuestraße durch Bomben im heutigen Gebäude der Alliierten Luftsicherheitszentrale am Kleistpark verhandelt wurde. Unter den Präsidenten O t t o Thierack, der bezeichnenderweise 1942 das Reichsjustizministerium übernahm, und Roland Freisler entwickelte sich hier vor allem in den vierziger Jahren eine hemmungslose Mordmaschine. Bezeichnend ist, daß Freisler 1943 in einem Urteil nicht einmal mehr den Namen des Beschuldigten behalten konnte und so die Urteilsgründe einen anderen Angeklagten zu betreffen scheinen als der Urteilstenor. 7 Am 21. März 1933, der pompös als „Tag von Potsdam" in die nationalsozialistische Propaganda und in das Bewußtsein der Bevölkerung eingehen sollte, wurden auch die Sondergerichte als Elemente der neuen politischen Rechtsprechung installiert. Allein aus der Kriegszeit sind für das Sondergericht Berlin über 12 000 Angeklagte und rund 1000 Todesurteile zu nennen. 8 Seinen Sitz hatte das Sondergericht Berlin im Gebäude des Moabiter Landgerichts. An seine Tätigkeit erinnert heute dort nichts. Uber das Kammergericht und seine Aufgaben bei der Verfolgung der Gegner des Nationalsozialismus liegen nur fragmentarische Informationen vor. Wir wissen von den großen Massenprozessen gegen Sozialdemokraten und Kommunisten in den dreißiger Jahren, aber über die Zahl der Todesurteile können keine genauen Angaben gemacht werden. Auch hier ist Forschung dringend notwendig. Aber nicht nur die zivilen Gerichte hatten ihren Sitz hier in Berlin. Von 1939 an erhielten das Reichskriegsgericht in der Charlottenburger Witzlebenstraße und das Gericht der Wehrmachtstandortkommandantur sowie das Gericht der Kriegsmarine besondere Bedeutung. Erste Schritte zur Erforschung des Gerichts der Wehrmachtsstandortkom7

Vgl. BA, Bestand R 60/11. Vgl. Bernd Schimmler, Recht ohne Gerechtigkeit. gerichte im Nationalsozialismus, Berlin 1984. 8

Zur Tätigkeit der Berliner

Sonder-

Zentrum des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates

371

mandantur Berlin hat Norbert Haase unternommen. 9 Aber die Zahlen der Todesurteile dieser Gerichte sind auch nach der neuen Arbeit von Messerschmidt und Wullner, die für die gesamte deutsche Militärjustiz von über 4 0 0 0 0 Todesurteilen ausgehen, nicht festzulegen. 10 Als es Ende 1942 zu mehreren Prozessen gegen die Mitglieder der Harnack/ Schulze-Boysen-Widerstandsorganisation kam, wurden allein in diesem Komplex über fünfzig Menschen vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt, darunter viele Zivilisten, die überhaupt nicht der „Rechtsprechung" des Reichskriegsgerichts unterstanden. 11 Die Berliner Hinrichtungsstätten waren in Plötzensee und in Brandenburg. In Plötzensee wurden rund 2500 Menschen hingerichtet, die Zahl der in Brandenburg Ermordeten soll über 3000 betragen haben. 12 Alle Todesurteile aus dem gesamten Deutschen Reich wurden hier in Berlin bestätigt; das Reichsjustizministerium in der Wilhelmstraße nahm hier seine „Aufsichtspflicht" wahr. Begnadigungen, über die nicht mehr wie früher das Staatsoberhaupt entschied, sondern nur noch das Reichsjustizministerium, gab es fast nicht mehr. 13

III

Massenmord und

Völkermord

Neben der Verfolgung des politischen Gegners stand der Terror gegen die rassisch Verfolgten und die, die aus der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft" ausgegrenzt wurden. Nachdem im Sommer 1941 von Hitler die Grundsatzentscheidung zur Ermordung der europäischen Juden im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage" getroffen worden war, 14 organisierte Eichmann von der Kurfürstenstraße

9 10

Norbert Haase, Deutsche Deserteure,

Berlin 1987.

Manfred Messerschmidt/Fritz Wüllner, Die Wehrmachtsjustiz

im Dienste des Na-

tionalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987. 11

Siehe dazu: Johannes Tuchel, Weltanschauliche Motivationen in der

ze-Boysen-Organisation

HarnackJSchul-

(„Rote Kapelle"), in: Kirchliche Zeitgeschichte 1 (1988), S. 2 6 7 —

292. 12

Vgl. Ehrenbuch

der Opfer von Berlin-Plötzensee,

hrsg. vom V V N Westberlin,

Berlin 1974. 13

Vgl. W . Wagner, Der Volksgerichtshof...

14

Siehe dazu: Wolfgang Scheffler, Wege zur „Endlösung",

N o r b e r t Kampe (Hrsg.), Antisemitismus.

(wie Anm. 6), S. 805 ff. in: Herbert A. Strauss/

Von der Judenfeindschaft

zum

Holocaust

(= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 213), Bonn 1984, S. 186—214. Den Stand der Diskussion über den „Endlösungsbefehl" dokumentieren

372

Jobannes

Tuchel

115/116 aus die Transporte in die Vernichtungslager. Er gab Vorschläge und Berichte an seine Vorgesetzten Heinrich Müller und Reinhard Heydrich in der Prinz-Albrecht-Straße 8 weiter, diese wiederum trafen die Absprachen mit Heinrich Himmler, der seit 1939 seinen Sonderzug „Heinrich" im jeweiligen Führerhauptquartier bevorzugte. Von der Prinz-Albrecht-Straße 8 aus wurden auch die „Einsatzgruppen des Chefs der Sicherheitspolizei und des S D " nach dem deutschen Uberfall auf die Sowjetunion ausgeschickt, die den hunderttausendfachen Mord an Sowjetbürgern und an sowjetischen Juden durchführten. Hier liefen auch die „Meldungen" dieser Einsatzgruppen ein, für die der Mord zum Tagesgeschäft gehörte. 15 Eher am Rande der Stadt lag der O r t der „Wannseekonferenz", Am Großen Wannsee 56—58. Hier informierten Heydrich und Eichmann am 20. Januar 1942 die Verwaltungselite des „Dritten Reiches" ohne jeden Widerspruch über die Durchführung des Völkermordes an den Juden. 1 6 Ein Nebensatz zur Stadtgeschichte: Sowohl die Kurfürstenstraße 115/116 als auch die Prinz-Albrecht-Straße 8 waren nach 1945 nicht so stark zerstört wie der benachbarte Martin-Gropius-Bau, in dem heute viele große Ausstellungen zu sehen sind. Beide Gebäude aber wurden — ihrer Bausubstanz zum T r o t z — nach 1945 gesprengt und abgetragen. Erst 1986 wurden die Reste des Hausgefängnisses in der Prinz-Albrecht-Straße 8 freigelegt; erst seit 1987 gibt es die Dokumen-

Eberhard Jäckel/Jürgen Rohwer (Hrsg.), Der Mord an den Juden im Zweiten Entschlußbildung 15

und Verwirklichung,

Vgl. Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des

ungskrieges, Die Einsatzgruppen

Weltkrieg.

Stuttgart 1985. Weltanschau-

der Sicherheitspolizei und des SD 1938—1942

(- Quellen

und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 22), Stuttgart 1981. 16

Original des Protokolls der Wannsee-Konferenz in: Politisches Archiv des Aus-

wärtigen Amts (PAAA), Bonn, Bestand Inland II g, 177. Zur Konferenz ausführlich: Hans-Jürgen Döscher, Das Auswärtige der Endlösung, Komplizen, 1917—1945.

Amt im Dritten Reich, Diplomatie im Schatten

Berlin 1987, S. 213 ff., und Robert M. W . Kempner, Eichmann

Zürich-Stuttgart-Wien 1961; Ernst Nolte, Der europäische Nationalsozialismus

und

Bolschewismus,

Frankfurt/Main-Berlin 1987,

führt auf S. 592 aus: So sind nicht nur gegen das Protokoll, Tatsache der „ Wannsee-Konferenz"

und

Bürgerkrieg

sondern sogar gegen die

ernste Zweifel vorgebracht worden, die meines Wis-

sens nirgendwo in der Literatur gründlich erörtert werden. Nicht nur fehlt in der heitsliste die wichtigste Person, nämlich Reinhard Heydrich,

Anwesen-

sondern es ist weder die Zeit

des Beginns noch diejenige des Endes vermerkt. Selbst wenn Nolte die Arbeit von Döscher bei Fertigstellung seines Manuskripts noch nicht gekannt haben sollte, so hätte er zumindest die über fünfundzwanzig Jahre alte (!) ausführliche Arbeit von Kempner zur Kenntnis nehmen können.

Zentrum

des nationalsozialistischen

Verfolgungsapparates

373

tation „Topographie des Terrors", die an die unheilvollen Taten erinnern soll, die von der Gestapo hier vorbereitet und koordiniert worden sind. 17 An den O r t der „Wannseekonferenz" soll bald ein internationales Begegnungszentrum erinnern. Spät, manche sagen zu spät, besinnt sich Berlin auf diese Stätten. An der Ausrottung des europäischen Judentums war aber nicht nur die Gestapo als Amt I V des Reichssicherheitshauptamtes beteiligt, sondern auch eine Vielzahl anderer Institutionen: Die Staatspolizeileitstelle in der Grunerstraße am Alexanderplatz und ihre Dependance in der Burgstraße veranlaßten die Abholung und die Deportation der Betroffenen, die Plünderung des Eigentums der aus Berlin deportierten Juden übernahm der Oberfinanzpräsident von Berlin-Brandenburg, den Transport in die Vernichtungslager von den Berliner Güterbahnhöfen an der Putlitzstraße und im Grunewald übernahm dann die Reichsbahn. 18 In Berlin-Neukölln entwickelte die Firma Gaubschat ihren mörderischen „Gaswagen", der dann vor dem „Einsatz an der Front im Osten" in der Prinz-Albrecht-Straße 8 geparkt wurde. 19 Das Kriminaltechnische Institut des Reichskriminalpolizeiamtes verfeinerte die Techniken des Mordens: Im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg wurden sowohl Giftgeschosse als auch Vergasungsmethoden erprobt. 2 0 Und nicht nur auf der oberen Ebene spielte Berlin eine Rolle, sondern auch bei der Ausführung der T a t : Viele Angehörige der Berliner Polizei, auch der Ordnungspolizei, nahmen in den Polizeibataillonen an den Massenmorden in der Sowjetunion teil.

R. Rürup (Hrsg.), Topographie des Terrors... (wie Anm. 2). Zum Gesamtzusammenhang der Deportationen in Berlin siehe jetzt auch: Inka Bertz, „Ein Karteiblatt für jeden abgeschobenen Juden erleichtert die Übersicht." Zur Praxis der „ Entjudung" der Vermögen bei den Berliner Finanzbehörden, in: Dorothea Kolland (Hrsg.), Zehn Brüder waren wir gewesen... Spuren jüdischen Lebens in BerlinNeukölln ( = Stätten der Geschichte Berlins, Bd. 29), Berlin 1988, S. 372—386. Eine wissenschaftliche Gesamtaufarbeitung der Berliner Deportationen, die auf reichhaltiges Material beim Archiv der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin zurückgreifen könnte, steht noch aus. 17 18

19 Vgl. Mathias Beer, Die Entwicklung der Gaswagen beim Mord an den Juden, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 35 (1987), S. 403—417, und Helmuth F. Braun, Produktionfür den Massentod am Beispiel der Firma Gaubschat in Neukölln, in: D. Kolland (Hrsg.), Zehn Brüder waren wir gewesen... (wie Anm. 18), S. 426—430. 20 Vgl. Eugen Kogon u. a. (Hrsg.), Nationalsozialistische gas. Eine Dokumentation, Frankfurt/Main 1983, S. 83 f.

Massentötungen durch Gift-

374

Johannes

Tuchel

Die Verfolgung der Sinti und Roma wurde hauptsächlich von der Kriminalpolizei durchgeführt. 21 Im Reichskriminalpolizeiamt am Werderschen Markt, das 1939 mit viel Pomp als neuer zweiter Dienstsitz von Reinhard Heydrich eingeweiht wurde, wurden die Maßnahmen für das gesamte Reich koordiniert; für die Maßnahmen im Lager bei Berlin-Marzahn, das bereits in den dreißiger Jahren errichtet wurde, war die Berliner Kripo im Polizeipräsidium am Alexanderplatz zuständig. Bei der Deportation der Berliner Sinti und Roma in die Vernichtungslager arbeitete dann der Chef des Reichskriminalpolizeiamtes, Arthur Nebe, eng mit Adolf Eichmann zusammen. Das Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) war auch zuständig für die Verfolgung der Homosexuellen. Nachdem Himmler und Heydrich Mitte der dreißiger Jahre der Gestapo eine „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung" angegliedert hatten, in der der ideologisch-rassistische Anspruch schon im Namen zum Ausdruck kam, wurden diese Sachgebiete Ende der dreißiger Jahre wieder der Kripo zugeschlagen. 22 Vorher hatte es zum Beispiel in Berlin Razzien gegeben, bei denen ein Sonderkommando der Gestapo zusammen mit der in Lichterfelde-West stationierten „Leibstandarte SS Adolf Hitler" die Homosexuellentreffpunkte durchsuchte. 23 Die Masseneinweisungen der Homosexuellen in die Konzentrationslager wurden nach dieser Zeit aber vom Reichskriminalpolizeiamt veranlaßt. Hier wurden Akten geführt über alle, die wegen angeblicher Homosexualität oder nach einer Strafverbüßung wegen § 175 StGB in Konzentrationslager kamen und dort eine besonders hohe Sterblichkeit hatten. Auch die willkürliche KZ-Einweisung der Frauen, die — oft ohne Grund — einfach als „Prostituierte" abgestempelt wurden, führte das RKPA durch.

21 Siehe dazu: Reimar Gilsenbach, Die Verfolgung der Sinti — ein Weg, der nach A uschwitz führte, in: Wolf gang Ayaß u.a., Feinderklärung und Prävention. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialenpolitik ( - Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 6), Berlin 1988, S. 11—41. Zum Lager BerlinMarzahn vgl. ders., Marzahn — Hitlers erstes Lager für „ Fremdrassige". Ein vergessenes Kapitel der Naziverbrechen, in: pogrom 17 (1986), Nr. 122, S. 15—17; Ute BruckerBoroujerdi/Wolfgang Wippermann, Das „Zigeunerlager" Berlin-Marzahn 1936—1945. Zur Geschichte und Funktion eines nationalsozialistischen Zwangslagers, in: pogrom 18 (1987), Nr. 130, S. 77—80.

Vgl. J. Tuchel/R. Schattenfroh, Zentrale des Terrors... " Vgl. BA, NS 17 LSSAH/57. 22

(wie Anm. 2), S. 146 ff.

Zentrum des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates

375

Andere Gruppen am Rande der Gesellschaft, Nichtseßhafte und Gelegenheitsverbrecher, Kleinkriminelle und Bettler, wurden schon von 1933 an durch die Kriminalpolizei als „Asoziale" und „Berufsverbrecher" in die Konzentrationslager eingewiesen.24 Kleinste Vorstrafen waren ausreichend, um aus der „Volksgemeinschaft" ausgestoßen zu werden und lange Zeit in einem Konzentrationslager zu verbringen. Die Zahl derer, die wegen dieser Bagatellen dann zu Tode kamen, ist unbekannt und wird wohl auch unbekannt bleiben. Selbst durch eine heute vermutlich zu spät eingeleitete Forschung wird eine Gesamtgeschichte der Verbrechen, an denen das Reichskriminalpolizeiamt beteiligt war, nur schwer geschrieben werden können. Untrennbar mit Berlin verbunden sind auch die Mordaktionen an den psychisch Kranken. In der Tiergartenstraße 4 saß die Verwaltungszentrale der sogenannten „Aktion T 4", die direkt der „Kanzlei des Führers" und dem Reichsinnenministerium zugeordnet war. Götz Aly hat in seiner Arbeit über dieses Thema die Organisation T 4 als ein sich wandelndes Konglomerat staatlicher und quasistaatlicher Institutionen bezeichnet. 25 Die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten", die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege", die „Gemeinnützige Krankentransport-GmbH (Gekrat)" und die „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten" hatten eine einzige Aufgabe: Die Koordination der Mordaktionen an den von den Nationalsozialisten als „unnütze Esser" bezeichneten psychisch Kranken. Bis zum offiziellen vorläufigen Ende der Aktion wurden 70 273 Menschen ermordet; die „Gutachter" und „Techniker" von T 4 setzten ihre Arbeit allerdings noch als „Aktion 14 f 13" in den Konzentrationslagern fort; aus ihren Reihen stammt die erste Führungsmannschaft der Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka. 26 Insgesamt sind den Mordaktionen an den psychisch Kranken, die auch nach dem Sommer 1941 in anderen Formen weitergeführt wurden, rund 200000 Menschen zum Opfer gefallen.27 Und wieder wird das Vorhandensein der zentralen 24

Vgl. J . Tuchel/R. Schattenfroh, Zentrale des Terrors...

(wie Anm. 2), S. 149 ff.,

sowie Wolf gang Ayaß, „ Ein Gebot der nationalen A rbeitsdisziplin ". Die A ktion „ A rbeitsscheu Reich" 1938, in: Wolfgang Ayaß u. a., Feinderklärung

und Prävention...

(wie

Anm. 21), S. 43 ff. 25

G ö t z Aly (Hrsg.), Aktion T 4. Die „Euthanasie"-Zentrale

in der Tiergartenstraße

4

(= Stätten der Geschichte Berlins, Bd. 26), Berlin 1987. 26

gas... 27

Vgl. E. Kogon u. a. (Hrsg.), Nationalsozialistische

Massentötungen

(wie Anm. 20), S. 147 ff. Vgl. G. Aly (Hrsg.), Aktion T 4...

(wie Anm. 25), S. 4.

durch

Gift-

376

Johannes

Tuchel

Ebene und der Durchführungsebene in Berlin deutlich: In der Tiergartenstraße 4 wurde geplant und koordiniert, in den Wittenauer Heilstätten, der heutigen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, 28 wurden die Patienten zum Transport in die Mordanstalten vorbereitet, später selbst dort ermordet. Viele Institutionen des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates in Berlin sind hier nicht erwähnt worden: Dazu gehörte etwa die „Reichsstelle für Sippenforschung" am Schiffbauerdamm 26, die als oberste Instanz über die „arische Abstammung" und damit über Menschenleben entschied; 29 dazu gehörte etwa das „SS-WirtschaftsVerwaltungshauptamt" in Berlin-Lichterfelde, Unter den Eichen 125— 136, in dessen Steinbrüchen die Häftlinge in Buchenwald, Flossenbürg und Mauthausen zu T o d e kamen, 30 und dazu gehörte die Vielzahl von Dienststellen, die noch an der Überwachung und Verfolgung beteiligt waren, der „Sicherheitsdienst des Reichsführer-SS" ebenso wie das „Forschungsamt", von dem die Berliner Telefongespräche abgehört wurden. Berlin als Zentrum des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates — ein nur zu berechtigter Titel. Hier waren die Zentralen der Verfolgung und des Terrors unscheinbar in Bürogebäuden und Wohnhäusern untergebracht, von hier aus breitete sich der Terror über Berlin, dann über Deutschland, später über halb Europa aus. Uberall in Berlin waren Dienststellen der Gestapo untergebracht, überall in Berlin waren Polizei und SS präsent. Auch dies ist ein Teil der Stadtgeschichte, der nur zu lange übersehen wurde und der doch noch stark der Forschung bedarf. „Berlins Platz im Europa der Neuzeit" — so das Tagungsthema — wird immer von Berlin als dem Zentrum des nationalsozialistischen Terrors mitdefiniert werden. Die Gestapo an der Prinz-AlbrechtStraße, der Volksgerichtshof in der Bellevuestraße, „ T 4" in der Tiergartenstraße, das Haus der „Wannseekonferenz" — wir sollten diese Orte der Mahnung nicht vergessen.

28 Totgeschwiegen. 1933—1945. Die Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, hrsg. von der Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-BonhoefferNervenklinik. Wissenschaftliche Beratung: G ö t z Aly (= Stätten der Geschichte Berlins, Bd. 17), Berlin 1988. 29 Vgl. H o r s t Seidler/Andreas Rett, Das Reichssippenamt entscheidet. Rassenbiologie im Nationalsozialismus, Wien-München 1982. 30 Vgl. Enno Georg, Die wirtschaftlichen Unternehmungen der SS (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nr. 7), Stuttgart 1963.

Berlin als Zentrum des deutschen Widerstandes 1933 bis 1945 WILHELM ERNST WINTERHAGER Berlin

Für die Beschäftigung mit der Geschichte Berlins sind von der 750Jahr-Feier der Stadt 1987 wichtige Impulse ausgegangen, und eine Reihe der aus diesem Anlaß vorgelegten Publikationen hat für die künftige Erforschung der Stadtgeschichte neue Grundlagen geschaffen. 1 Dennoch wird eine Bilanz, die nach dem historiographischen Ertrag des Jubiläumsjahres fragt, nicht ungeteilt positiv ausfallen können, und diese Feststellung gilt insbesondere für den Bereich der Zeitgeschichte, speziell für die Geschichte Berlins in der Epoche des Nationalsozialismus. T r o t z einer Fülle von Veröffentlichungen und Gedenkreden gerade zu dieser Phase der Stadtgeschichte kann von einer systematischen und umfassenden Erforschung der Berliner Zeithistorie zwischen 1933 und 1945 bisher kaum oder nur in Ansätzen die Rede sein.2 So ist das Bild der Geschichte Berlins in den Jahren der NS-Herrschaft, und gerade auch des Widerstandes in jener Zeit, in vieler Hinsicht noch

1 So vor allem das große, durch die Historische Kommission zu Berlin veröffentlichte Werk zur Stadtgeschichte: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 1 u. 2, München 1987, 2. Aufl. 1988. Der hier im zweiten Band enthaltene Abschnitt von Christian Engeli und Wolfgang Ribbe bildet zugleich den wichtigsten Beitrag des Jubiläumsjahres zur Geschichte der Stadt im Dritten Reich: Christian Engeli/Wolfgang Ribbe, Berlin in derNS-Zeit (1933—1945), in: A. a. O., Bd. 2, München 1987, S. 925— 1024. 2 Vgl. zur Kritik daran den Beitrag von Peter Steinbach in diesem Band sowie mit ähnlichem Urteil schon Johannes Tuchel, Berlin im Nationalsozialismus — Ergebnisse und Defizite 50 Jahre danach, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen A rbeiterbewegung (im folgenden 1WK zitiert) 22 (1986), S. 79— 83. Siehe ferner Gerd Heinrich, Hauptstadt Berlin. Geschichte und Stadtjubiläum, in: Das Historisch-Politische Buch 35 (1987), S. 305—309, hier S. 305 f.

378

Wilhelm

Ernst

Winterhager

immer eher von politischer Pädagogik, von Klischees und Idealbildern geprägt als von den festen Grundlagen fundierter Forschungsergebnisse. In den allgemeinen Darstellungen zur Geschichte Berlins wird die Tatsache, daß die Stadt als Regierungssitz des Dritten Reiches zum Ausgangspunkt unsagbaren Terrors und einer ganz Europa überziehenden Kriegspolitik wurde, keineswegs geleugnet. Aber im Blick auf die eigentliche Stadtgeschichte, die Geschichte der Berliner und ihrer politischen Einstellung, ist doch ein anderes Motiv vorherrschend, die Lesart nämlich, wonach die Stadt als solche ihrem Wesen nach vielmehr im Gegensatz zur NS-Herrschaft und deren Ideologie gestanden habe und im ganzen eher ein O r t des Widerstandes als eine Stütze des Systems gewesen sei. Tatsächlich spielt der Anspruch Berlins, ein Zentrum, mehr noch: das Zentrum schlechthin des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gewesen zu sein, im Geschichtsbild und der Selbstdarstellung der Stadt eine ganz besondere Rolle, ja, er bildet in gewisser Hinsicht den Eckstein für das Bemühen, der Geschichte der Stadt durch Heraushebung der „guten" Traditionen eine identitäts- und gemeinschaftsstiftende Funktion im Sinne heutiger demokratischer Ideale zuzuweisen. Berlin, so hat es schon 1978 der damalige Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe formuliert, war die Hauptstadt des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus; alles andere habe dagegen nur den Rang von Nebenorten.3 Berlin, so lautet die gängige These, sei nie im eigentlichen Sinne eine Nazistadt gewesen, und nicht ohne Grund hat mit dem gleichen Tenor auch der Bundeskanzler Helmut Kohl beim Auftakt zum Stadtjubiläum 1987 betont, daß in Berlin, dem späteren Zentrum des Widerstandes, die NSDAP nie eine Mehrheit gefunden habe. 4 Wohl am eindrucksvollsten hat schon Hans Herzfeld 1960 die Auffassung dargelegt, nach der Berlin gegen allen von außen sprechenden Schein niemals eine wirklich nationalsozialistische Stadt gewesen sei. Dabei geht Herzfeld aus von der Lage im März 1933, als bei den letzten annähernd freien Reichstagswahlen die Nationalsozialisten in Berlin

3

Dietrich Stobbe, Berlin war die Hauptstadt

des Widerstandes

gegen den

Nationalso-

zialismus. Rede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin zum 20. Juli 1 9 7 8 , in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, N r . 87 v o m 8 . 8 . 1 9 7 8 , S. 8 2 1 — 8 2 3 . 4 Rede H e l m u t Kohls zur Eröffnung der 750-Jahr-Feier Berlins am 3 0 . 4 . 1 9 8 7 , abgedruckt in: Der Tagesspiegel, Nr. 1 2 6 4 6 v o m 1 . 5 . 1 9 8 7 , S. 6.

Zentrum des deutschen Widerstandes

379

deutlich hinter dem vereinigten Stimmenanteil der linken und bürgerlichen Parteien zurückgeblieben seien. Auch in der Folgezeit habe — allen Usurpationen des Nationalsozialismus zum T r o t z — diese Lage, vielleicht von besonderen Schwankungen abgesehen, sich niemals grundsätzlich verändert, wie die Geschichte von Verfolgung und Widerstand in Berlin beweise. Die zwölf Jahre des Nationalsozialismus, so die Schlußfolgerung bei Herzfeld, seien für Berlin nur eine Episode und damit zugleich eine Unterbrechung seiner echteren Geschichte gewesen, deren tieferen Triebkräften es in diesen Jahren durch Zwang entfremdet worden sei.5 Von dieser Sicht her erscheint es nur folgerichtig, wenn in einer zum Jubiläumsjahr von offizieller Seite an auswärtige Berlin-Besucher verteilten Stadtgeschichte die Jahre 1933 bis 1945 abgehandelt werden unter der Uberschrift „Berlin unter dem Terror des Nationalsozialismus" — ausgehend von der Prämisse, daß der Nationalsozialismus als eine von außen kommende Bewegung dem republikanisch und demokratisch orientierten Berlin aufgezwungen worden sei.6 Berlin wird bei solcher Darstellung nur als Objekt, nicht als Subjekt nationalsozialistischen Handelns gesehen, als ein von den Herrschenden und namentlich von Hitler selbst ungeliebter Fremdkörper im Dritten Reich und ein Opfer seiner Politik. Am stärksten zugespitzt findet sich dieser Grundgedanke in dem zur 750-Jahr-Feier erschienenen Buch des Berliner Alternativ-Historikers Berat Engelmann mit dem Titel „Berlin — eine Stadt wie keine andere". Mit erstaunlicher Konsequenz vertritt Engelmann hier den Standpunkt, daß die in Berlin errichtete Unrechtsherrschaft der Nazis im Grunde ausschließlich (fast ausnahmslos) von Nicht-Berlinern, von Leuten aus anderen Gegenden Deutschlands organisiert und gelenkt worden sei, die ihrerseits alteingesessene Berliner in großer Zahl unterdrückt und vertrieben hätten. Zugleich sei dagegen nirgendwo der Widerstand aus dem Volke so stark und hartnäckig geblieben wie hier. So habe die Mehrheit der Berliner Hitler stummen Haß entgegengebracht und die Stadt sich dem Nazi-Regime beharrlich verweigert.7 5

Hans Herzfeld, Berlin auf dem Berlin. Zehn Kapitel seiner Geschichte, S. 263 (1. Aufl.: 1960). 6

Wege zur Weltstadt, in: Richard Dietrich (Hrsg.), 2. Aufl.,Berlin-New York 1981, S. 239—271,hier

Wolfgang Bethge, Berlins Geschichte im Überblick 1237 — 1987, Berlin 1987 (in hoher Auflage kostenlos vertrieben vom Informationszentrum Berlin), S. 110—128, ZitateS. l l l f . 7 Bernt Engelmann, Berlin. Eine Stadt wie keine andere, München 1986, bes. S. 248, 250—252, 256.

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Gemeinsam ist den zitierten Stimmen die Tendenz, den Widerstand und seine behauptete außerordentliche Stärke in Berlin als Beleg zu verwenden für die Auffassung, wonach der alte, vor allem in der Weimarer Zeit bewährte Geist der toleranten, weltoffenen Stadt jedenfalls bei der Mehrzahl der Bevölkerung auch in den Jahren des Dritten Reiches ungebrochen geblieben sei. Die politischen Implikationen dieser These liegen auf der H a n d , wenn man sich die nach 1945 (und latent bis heute) gerade gegen Berlin als Zentrum der NS-Herrschaft gerichteten Schuldzuweisungen vor Augen hält. Hiergegen mußte es als legitim erscheinen, sich auf die Traditionen des anderen, besseren Berlin zu berufen, auf die gerade hier konzentrierte Gegnerschaft gegen das Regime hinzuweisen und dabei generell den Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten herauszustellen. Verbunden aber mit der in jüngster Zeit fast inflationären Ausweitung des Widerstandsbegriffs hat dies dazu geführt, daß die historischen Proportionen überzogen zu werden drohen und das andere Berlin — so wie das andere Deutschland allgemein, aber hier noch schärfer pointiert — in einer Weise in den Vordergrund tritt, die den Eindruck erwecken kann, als habe hierzulande kaum einer bei den Nazis „mitgemacht", als seien außer einer kleinen verbrecherischen Führungsschicht in Berlin fast alle nur Opfer und Gegner gewesen. Man wird sich hier vor einer Mythenbildung und allzu einfachen Lösungen hüten müssen, zumal wir heute wissen, daß mit einem vordergründigen Schwarz-Weiß-Schema: Hier die Nationalsozialisten — dort die Gegner des Systems, die tatsächlichen komplexen Verflechtungen nicht faßbar werden; vielmehr ist von einem breiten Spektrum der Verhaltensweisen auszugehen, das von der überzeugten NS-Gesinnung über Mitläufertum und partiellen Dissens, N o n k o n formität und Verweigerung bis hin zu bewußter Oppositionshaltung und aktivem Widerstand reicht und eine entsprechend differenzierte Analyse notwendig macht. 8 Zwei Argumente sind es, die — wie angedeutet — immer wieder auftauchen zur Untermauerung des Anspruches, daß Berlin stets in kritischer Spannung zur NS-Herrschft gestanden habe: zum einen die Tatsache, daß unter den Führungsgestalten des Dritten Reiches kaum

8 Vgl. zu Terminologie und Fragestellungen der neueren Widerstandsforschung vor allem den Sammelband Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach (Hrsg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler (= Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin), 2. Aufl., München-Zürich 1986.

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ein Berliner gewesen sei, zum anderen der Befund, daß in den Wahlen bis 1933 die NSDAP hier immer in der Minderheit geblieben sei. Doch beide Argumente haben nur begrenzten Wert. Zum einen gab es im dritten und vierten Glied der NS-Hierarchie genügend Berliner, die sich vor allem nach der Machtergreifung dem System willig zur Verfügung stellten und den alten Kämpfern aus den Kernprovinzen der Bewegung an die Seite traten. 9 Die Bereitschaft zur Anpassung entsprach der strukturellen Machtorientiertheit, wie sie traditionell in Hauptstädten und Regierungssitzen bei breiten Schichten anzutreffen ist;10 man ging eben wie eh und je auch diesmal mit den neuen Machthabern. Und auch der Blick auf die Wahlergebnisse berechtigt kaum zu der Annahme einer ganz exzeptionellen Berliner Widerstandskraft gegen die Versuchungen des Nationalsozialismus. Tatsächlich erreichte die N S D A P in den Reichstagswahlen von 1932 und 1933 in Berlin nie mehr als ein gutes Drittel der Stimmen und lag damit eindeutig (zwischen sieben und neun Prozentpunkten) unter dem Reichsdurchschnitt. 11 Aber gerade der hier immer wieder isoliert vorgebrachte Vergleich zu den Wahlziffern auf Reichsebene sagt im Grunde wenig aus. Daß Berlin nicht den gleich hohen NSDAP-Anteil wie die agrarisch-kleinbürgerlichen Hochburgen der Partei aufweist, stellt von der Struktur der Stadt als Industriemetropole her keine Besonderheit dar und gilt im Prinzip für andere Großstädte ebenso. Zu einer echten Standortbestimmung kann hier nur der Vergleich mit den übrigen deutschen Großstädten beitragen, der so eindeutig zugunsten Berlins nicht ausfällt. 12 Gewiß lag 9

Zur lokalen NS-Führungsschicht in Berlin jetzt Christian Engeli, Die nationalsozialistischen Kommunalpolitiker in Berlin, in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Berlin-Forschungen II (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 61), Berlin 1987, S. 111—139. 10 Vgl. dazu den Beitrag von Lothar Gall in diesem Band. 11 Die Berliner Wahlergebnisse der Weimarer Zeit jetzt ausführlich bei O t t o Büsch/ Wolfgang Haus, Berlin als Hauptstadt der Weimarer Republik. 1919—1933. Mit einem statistischen Anhang zur Wahl- und Sozialstatistik des demokratischen Berlin 1919—1933, hrsg. von der „Arbeitsgruppe Berliner Demokratie" am Fachbereich Geschichtswissenschaften der FU Berlin (= Berliner Demokratie 1919—1985, Bd. 1) (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 70/1), Berlin-New York 1987, hierS. 104—106. 12

Die im folgenden verwerteten Vergleichsdaten vor allem nach Friedrich Kästner, Wahlergebnisse der Reichstagswahlen 1928—1933, in: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden 37 (1949), S. 437—477. Vgl. ferner Richard F. Hamilton, Who Votcd for Hitler?, Princeton 1982, passim, bes. S. 485.

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der prozentuale Schnitt an NSDAP-Stimmen in manchen Städten wie Hamburg und Leipzig höher, in Frankfurt am Main, Nürnberg und Breslau sogar erheblich höher als in Berlin. Aber zugleich ist festzustellen, daß in den ausgesprochenen Arbeiterstädten sowie den katholisch geprägten Orten der Anteil an NSDAP-Wählern oft deutlich unter dem in Berlin lag: Dortmund, Essen und Duisburg, Köln und Aachen sind dafür Beispiele. Am wenigsten Resonanz fand dabei die N S Bewegung im überwiegend protestantischen Dortmund und im katholischen Aachen, wo die Ergebnisse für die Partei bis zu 19 Prozentpunkte unter dem Reichsdurchschnitt lagen. Kennzeichnend für Berlin in Relation zu anderen Städten ist nicht ein singulär geringer Stimmenanteil für die N S D A P , sondern vielmehr die Tatsache, daß hier parallel zum Aufstieg der Nationalsozialisten zugleich die K P D und (auf geringerem Niveau) die D N V P , also die beiden anderen den Weimarer Staat bekämpfenden Parteien, außergewöhnlich hohe Stimmenanteile erzielen konnten. So hatten in Berlin — anders als fast überall sonst im Reich — die demokratischen Parteien (von der S P D bis zur rechten Mitte) schon bei der Reichstagswahl im September 1930 gegenüber den drei genannten Flügelparteien von links und rechts eindeutig die Mehrheit verloren, im Juli und November 1932 dann stimmte nur noch etwa ein Drittel der Berliner für die demokratischen Parteien, und im März 1933 waren diese auf unter 30 Prozent der Stimmen abgesunken. All dies sind Zahlen, die in kaum einer anderen deutschen Stadt erreicht worden sind und die Berlin wahrlich nicht als Festung der demokratischen Kräfte ausweisen, sondern im Gegenteil als die größte Hochburg der militanten Gegner der Weimarer Republik von beiden Seiten des politischen Spektrums, als Zentrum der Anti-Demokraten. In der Wählergunst für die N S D A P nahm Berlin unter den fünfzehn größten deutschen Städten eine mittlere Position ein mit Prozentzahlen, die 1932/33 etwa gleich hoch lagen wie in München, der sogenannten Hauptstadt der Bewegung, und höher zum Beispiel als in Stuttgart oder in Bremen. Dabei kann gerade Bremen als Beispiel dafür stehen, daß ein zunächst relativ geringer Stimmenanteil für die Nazipartei eine Stadt nicht dazu prädestinieren mußte, in der Folge zu einem herausragenden Zentrum des Widerstandes zu werden. 13 Und so kann auch Berlin mit

13 Vgl. das Urteil bei Herbert Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 1—4, Hamburg 1975—1985, Bd. 4, Hamburg 1985, S. 456—465; ferner

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seinen am 5. März 1933 immerhin 34,6 Prozent Stimmen für die N S D A P und 11 Prozent für die Deutschnationalen kaum schon von daher als Bollwerk des Widerstandes bezeichnet werden. Bei den Berliner Kommunalwahlen am 12. März 1933 haben die beiden Parteien der nationalen Regierung mit 50,3 Prozent sogar die absolute Mehrheit errungen. Gewiß war der Nationalsozialismus keine „typisch" Berliner Bewegung und ist schon gar nicht von dieser Stadt ausgegangen. So wie in anderen Urbanen Zentren hat vielmehr die NS-Ideologie erst relativ spät in Berlin Fuß gefaßt, schließlich aber auch hier erhebliche Erfolge erringen können. Beides — aktiver Widerstand und Begeisterung für das Regime — steht hier nebeneinander, wobei es schwer ist, für die Zeit nach März 1933 die wirklichen Kräfteverhältnisse zu ermessen und eindeutig die Frage nach Mehrheiten und Minderheiten in der Einstellung zum NS-Staat zu beantworten. Jedenfalls: Wenn Goebbels immer wieder behauptete, man habe das ehemals rote Berlin nach langem Widerstreben eben doch für die eigene Ideologie erobert,14 und wenn er 1937 die Stadt als eine der treuesten in der Gefolgschaft des Führers und seiner Bewegung belobigte, 15 so kann der Gegenbeweis dazu und der Nachweis über die tatsächliche Stärke und Qualität des Widerstandes in Berlin nicht mit Pauschalurteilen, sondern nur in exakter historischer Detailarbeit angetreten werden. Eben diese, notwendig umfassende Forschungsarbeit über den Widerstand in Berlin, seine Ausdehnung und seine Grenzen, ist bisher aber nur ganz unzureichend geleistet worden. Zwar ist in den letzten Jahren eine Vielzahl von Publikationen zu dem Thema erschienen, darunter offiziöse, vom Berliner Senat geförderte Schriften über den Widerstand in einzelnen Gruppierungen und Bezirken 16 sowie zahlreiche von Ge-

dazu Inge Marßolek/Rene O t t , Bremen Verfolgung, Bremen 1986.

im Dritten

Reich.

14 So etwa die Tendenz in: Joseph Goebbels, Das erwachende S. 15—17 u. S. 21 f.

Anpassung,

Widerstand,

Berlin, München 1934,

15 So Goebbels in einer Rede aus Anlaß der 700-Jahr-Feier der Stadt 1937, zitiert bei Heiner Kreiling,/uhiläum eines Juhiläumscoups. Überlegungen zur 700-Jahr-Feier Berlins.

Die Propagandashow 16

der Nazis, in: Der Tagesspiegel,

Nr. 12734 vom 16. 8. 1987, S. B4.

Siehe die beiden vom Informationszentrum Berlin und der Gedenkstätte Deut-

scher Widerstand herausgegebenen Schriftenreihen: 1. „Beiträge zum Thema Widerstand", bisher Heft 1—32 (Berlin 1970—1988), von Bedeutung für den lokalen Berliner Widerstand hier vor allem die Zeitzeugenberichte in Heft 3 , 6 , 1 4 , 1 5 , 2 0 , 2 1 u. 24. — 2. „Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945": eine Reihe zum Widerstand in den einzelnen Berliner Bezirken, bisher erschienen die Hefte 1—3:

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schichtswerkstätten und politischen Vereinigungen erstellte Broschüren und Sammelbände. 1 7 Manche wertvolle Quellen aus W e s t und O s t sind auf diese Weise erschlossen und unser Wissensstand ist zweifellos erweitert worden. Was aber Methodik und Quellenkritik betrifft, handelt es sich meist hier um weniger anspruchsvolle, eher populär gehaltene Darstellungen, die oft nur additiv bestimmte Erscheinungsformen von „Widerstand" aneinanderreihen — ohne nähere Analyse, begriffliche Klärung, sachliche Gewichtung und vergleichende Einordnung. N u r wenige der vorliegenden Studien gehen in ihren Fragestellungen und Ergebnissen über diesen Rahmen hinaus. 18 So zeigt sich am Beispiel des T h e m a s Widerstand in Berlin, daß alle fleißige Sammelarbeit und noch so viele gutgemeinte und aufwendige Veröffentlichungen keinen Ersatz bieten können für eine grundlegende wissenschaftliche Aufarbeitung des Gegenstandes — eine Forschungsarbeit, wie sie im übrigen für andere Regionen Deutschlands längst geleistet worden ist. Man denke etwa an das große, in vieler Hinsicht wegweisende Projekt „Widerstand und Verfolgung in Bayern" , 19 an das methodisch vorbildliche W e r k über den Widerstand in Mannheim 2 0 oder die schon in den sechziger Jahren erstellten Bände über D o r t m u n d und Essen. 21 Ähnliches ist in den letzten Jahren für viele andere bunHans-Rainer Sandvoß, Widerstand in einem Arbeiterbezirk. Wedding (= Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945, Heft 1), Berlin 1983; ders., Widerstand in Steglitz und Zehlendorf (= Schriftenreihe . . . , Heft 2), Berlin 1986, sowie ders., Widerstand in Spandau(- Schriftenreihe..., Heft 3), Berlin 1988. Bei den Arbeiten von Sandvoß handelt es sich zweifellos um wichtige Beiträge, die aber eine breitere stadtgeschichtliche Behandlung des Themas von übergreifenden Fragestellungen her nicht ersetzen können. 17 Uberwiegend kritisch dazu mit einer Ubersicht über die einschlägigen Publikationen J. Tuchel, Berlin im Nationalsozialismus... (wie Anm. 2). — Auf die Nennung der einzelnen Titel muß hier schon aus Platzgründen verzichtet werden. 18 Von besonderem Wert, auch für das Thema Widerstand, die quellenerschließenden Publikationen von Hans Dieter Schäfer, Berlin im Zweiten Weltkrieg. Der Untergang der Reichshauptstadt in Augenzeugenberichten, München-Zürich 1985, und Bernd Schimmler, „Stimmung der Bevölkerung und politische Lage". Die Lageberichte der Berliner Justiz 1940—1945, Berlin 1986. Als populäre, materialreiche Darstellung Gerhard Kiersch u. a., Berliner Alltag im Dritten Reich, Düsseldorf 1981. 19 Martin Broszat/Elke Fröhlich/Falk Wiesemann (Hrsg.), Bayern in der Bd. 1—6, München 1977—1983.

NS-Zeit,

20 Erich Matthias/Hermann Weber (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Mannheim, Mannheim 1984. 21 Kurt Klotzbach, Gegen den Nationalsozialismus. Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1930—1945. Eine historisch-politische Studie (= Schriftenreihe des For-

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desdeutsche Großstädte erarbeitet worden. 22 Geht man von diesen Ergebnissen als Maßstab aus, so nimmt sich dagegen der bisher über Berlin zu diesem Thema erreichte Forschungsstand mager aus. Dabei war Berlin in der Frühzeit der Widerstandsforschung einmal als Vorreiter auf diesem Gebiet zu bezeichnen. Schon vor über zwanzig Jahren gab es beim Berliner Senator für Inneres und der Historischen Kommission zu Berlin eine Arbeitsgruppe, die sich die Erforschung des Widerstandes in der Stadt zum Ziel gesetzt hatte. Wichtige Studien wurden seinerzeit vorgelegt — doch über Teilergebnisse ist man nicht hinausgekommen. 23 Schon damals, in den fünfziger und sechziger Jahren, bot nach Auskunft der Beteiligten die komplizierte und höchst unbefriedigende Quellenlage das größte Problem, und dies Problem besteht bis heute in ähnlicher Weise fort. Denn das in Frage kommende Material ist nicht nur aufgesplittert in zahlreichen Sammlungen in Ost und West, sondern teilweise für die Forschung überhaupt unerreichbar oder nur bedingt zugänglich. Das gilt einerseits für die Archive in Ost-Berlin, Merseburg und Potsdam, aber auch bekanntlich für das „Document Center" in Berlin (West) und die noch immer umfangreichen Bestände, die bei den West-Berliner Behörden, der Justiz, Innenverwaltung und anderen Stellen, einbehalten und damit der Forschung vorenthalten werden — im Unterschied zu der sehr viel großzügigeren und forschungsfreundlichen Archivpolitik etwa in Bayern und NordrheinWestfalen. Solange hier, in der Verfügbarkeit der Quellen, sich nicht ein grundlegender Wandel vollzieht, wird der Anreiz für die historische Wissenschaft, sich intensiver dem Thema Widerstand in Berlin zuzuwenden, in engen Grenzen bleiben. schungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung. B. Historisch-politische Schriften), Hannover 1 9 6 9 ; Hans-Josef Steinberg, Widerstand und Verfolgung in Essen 1933—1945 ( - Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung. B. Historischpolitische Schriften), Hannover 1 9 6 9 (2. A u f l . , Bonn-Bad Godesberg 1973). 22 Vgl. als Uberblick Peter Steinbach, Beiträge zur Geschichte der Stadt unter dem Nationalsozialismus, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 22 (1983), S. 1 — 2 7 , sowie Klaus Bästlein, Regionalspezifische Aspekte des Widerstands gegen den Nationalsozialis-

mus. Bericht über ein Forschungskolloquium IWK

in Berlin am 10. und 11. November

1986, in:

22 (1986), S. 5 4 8 — 5 5 6 .

23 A l s umfangreichste Untersuchung ging aus der A r b e i t der Forschungsgruppe hervor das Buch von Friedrich Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland 1933—1945. Reli-

gionsverfolgung und Selbstbehauptung der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 11), Berlin 1965. Vgl. zur A r b e i t der G r u p p e d o r t die Einleitung von Hans Herzfeld, S. V — I X .

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Von der Sache her liegt eine besondere Schwierigkeit für die Darstellung des Widerstandes in Berlin darin, daß auch in diesem Punkt (wie generell im 20. Jahrhundert) am Schauplatz Berlin Lokal- und Nationalgeschichte so eng ineinandergreifen, daß es nur schwer möglich ist, den spezifischen Berliner Beitrag herauszustellen gegenüber jenen Formen des politischen und militärischen Widerstandes, die mit Berlin im wesentlichen nur durch seine Hauptstadtrolle verknüpft waren. Natürlich war Berlin insoweit per se „Hauptstadt des Widerstandes", als es Hauptstadt des Deutschen Reiches war, und die Kräfte der konspirativen Opposition mit dem Ziel eines Staatsstreiches waren geradezu darauf angewiesen, ihre Mitarbeiter und Mitverschworenen nach Berlin zu ziehen, um hier in Positionen des Machtapparates einzudringen und den Umsturz vorzubereiten. Neben einzelnen Ministerien und anderen Behörden steht vor allem das militärische Amt Ausland/ Abwehr als herausragendes Beispiel dafür, wie die aktiven Gegner des Systems ihre Vertrauten und Mitkämpfer aus allen Teilen Deutschlands nach Berlin holten, um hier wichtige Stellungen zu besetzen und ein Netz an Oppositionszellen für die Stunde X aufzubauen. Die Mehrzahl der führenden Köpfe des Widerstandes ist so im Laufe der Zeit (zunehmend seit 1938) nach Berlin gekommen — vor allem Vertreter der bürgerlichen und Militäropposition, aber auch ein Großteil der alten Arbeiterführer, die zum Teil direkt nach der Haftentlassung aus dem K Z bewußt nach Berlin gingen, um hier gegen das Regime wirken zu können. Uberhaupt sind fast alle zentralen Gruppenbildungen des Widerstandes von Berlin ausgegangen: Der Goerdeler-Kreis und ebenso der Kreisauer Kreis waren dem Schwerpunkt nach Berliner Kreise, und auch die Führungsgruppen der Militäropposition waren überwiegend in Berlin verankert. So selbstverständlich wurde Berlin in seiner Funktion als Zentrum des Reiches akzeptiert, daß in den politischen Planungen des Widerstandes (bei aller Tendenz zu einer stärker föderativen Gliederung Deutschlands) Berlin als künftige Hauptstadt — nach allem, was wir wissen — nie auch nur ansatzweise in Frage gestellt wurde. Für die Konzentrierung der Oppositionskräfte auf Berlin war neben seiner Hauptstadtfunktion der Charakter der Stadt als Metropole und Arbeiterzentrum entscheidend. Hier, in der Anonymität der Millionenstadt, war es trotz aller Überwachung noch immer eher möglich als andernorts, sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun und konspirative Treffen und Aktionen durchzuführen. V o r allem im politisch

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linken Spektrum konnte man sich dabei auf ein Milieu und auf Kräfte stützen, die von jeher in Berlin vorhanden waren — ein Widerstandspotential, das die Stadt aus sich selbst hervorbrachte und das auf alten, schon vor 1933 bestehenden Strukturen und personellen Verbindungen ruhte. Die Nahtstellen zwischen der lokalen Opposition und dem zentralen konspirativen Widerstand werden hier mancherorts sichtbar. Wilhelm Leuschner etwa mit seiner kleinen Metallfabrik in Kreuzberg und Julius Leber mit seiner Kohlenhandlung in Schöneberg — zwei prominenten Begegnungsstätten des Widerstandes — sind Beispiele dafür, wie die an der Spitze der Verschwörung tätigen Arbeiterführer in ein Beziehungsgeflecht vor O r t eingebunden waren, das eine gewisse Sicherheit bot gegen staatliche Infiltrierung und zugleich eine begrenzte Rückkopplung zur Basis der Arbeiterschaft ermöglichte. Hier bestand unter den alten Mitkämpfern der Arbeiterbewegung noch immer ein Umfeld des Vertrauens, eine Art Infrastruktur der Systemgegner, die von den Machthabern nie völlig zerschlagen werden konnte. Dabei hatte der Terror der Nationalsozialisten schon 1933 gerade die Linksparteien wohl nirgends mit so maßloser Härte getroffen wie in Berlin und ihnen hier ungeheure Verluste durch physische Vernichtung, Haft und Emigration zugefügt. Um so bemerkenswerter ist die relative Stärke, die sich trotz allem der Arbeiterwiderstand in Berlin bewahren konnte. Nimmt man die fortlaufenden SD-Berichte und die Zahl der Verhafteten zum Maßstab, so blieb Berlin stets ein herausragender Schwerpunkt des kommunistischen und sozialistischen Widerstandes, auch wenn die Zahlen im Vergleich zur Bevölkerungsgröße wohl im ganzen nicht höher lagen als für Hamburg oder die Industriezentren an Rhein und Ruhr. Angesichts der schweren Verfolgungen war jener Widerstand dabei im wesentlichen dezentral organisiert; doch wann immer — wie etwa durch Leuschner mit der illegalen Reichsleitung der Gewerkschaften oder von Seiten der K P D in den Kriegsjahren — der Versuch gemacht wurde, wieder zusammenhängende, reichsweite Strukturen aufzubauen, wurde Berlin dafür als das natürliche Zentrum gewählt. Und doch ist zugleich nicht zu leugnen, daß wie überall, verbunden mit der Einschüchterung durch den Terror, die Propagandamaschine der Nationalsozialisten auch in den Arbeiterschichten Berlins erhebliche Erfolge erzielen konnte. Schon vor 1933 war in manchen Arbeiterbezirken der Stimmenanteil für die N S D A P ähnlich hoch gewesen wie im bürgerlichen Berlin, und die Anfangserfolge des Regimes, namentlich der Rückgang der Arbeitslosigkeit, trugen wesentlich zur Minde-

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rung des Oppositionsgeistes bei. Besonders aus den Reihen der KPD ging überdies schon bald ein nicht geringer Teil der Anhänger direkt oder auf Umwegen zur S A über, so daß die Zahl verläßlicher Genossen rasch zusammenschmolz. Arbeiterführer aus Berlin berichten von W o chen bitterer Enttäuschung, als 1933 ehemalige Freunde und Genossen sich von einem Tage zum anderen abwandten und aus Angst und Opportunismus der N S D A P beitraten. 2 4 H i n z u kam die systematisch von den neuen Machthabern betriebene Durchsetzung der Arbeiterkieze mit eigenen Gefolgsleuten, um so die alten, sozialistisch geprägten Milieus aufzubrechen. Spitzel und Denunzianten schufen ebenso wie die ständige Bedrohung durch Razzien und Verhaftungen eine Atmosphäre des Mißtrauens und der Verunsicherung, so daß bald die große Mehrzahl der noch treu gebliebenen Anhängerschaft der Linken sich beschränkte auf eine eher passive Gesinnungspflege, den Versuch, Zusammenhalt zu wahren, und auf gegenseitige Hilfeleistung in der Bedrängnis der Zeit. O b dabei für die Mehrheit der Berliner Arbeiterschaft nach den sozialstaatlichen Maßnahmen des Regimes und den politischen Erfolgen Hitlers seit der M i t t e der dreißiger Jahre noch von bewußtem Oppositionsgeist gesprochen werden kann, scheint zweifelhaft. Noch weniger als im Blick auf die Arbeiterschaft kann für das bürgerliche Berlin von einer breiten Oppositionsfront gegen Hitler die Rede sein. Gerade in der Mittelschicht konnte vielmehr die neue Bewegung von Anfang an auf die größte Gefolgschaft rechnen. In den vom Bürgertum geprägten Stadtbezirken errang die N S D A P bis 1933 im allgemeinen die höchsten Stimmenanteile, in Steglitz sogar Werte deutlich über dem Reichsdurchschnitt. Hier sind in Berlin selbst gleichsam die Gegenkräfte emporgewachsen gegen den Geist, der die Stadt in der Weimarer Zeit geprägt hatte. Die tiefe Abneigung gegen das politisch wie moralisch als haltlos empfundene „rote Berlin" der zwanziger Jahre verband sich hier mit der Sehnsucht nach einem Führer, der die Stadt aus dem Chaos von Wirtschaftskrise und politischen Unruhen herausführen würde. Nach der Machtergreifung und den Märzwahlen 1933 trat dann gerade im Bürgertum zu der großen Schar der ehrlich Begeisterten die Vgl. etwa Karl Retzlaw, Spartakus. Aufstieg und Niedergang. Erinnerungen eines Parteiarbeiters, Frankfurt/Main 1971, S. 363—365, sowie G. Kiersch u. a., Berliner Alltag... (wie Anm. 18), S. 95. Dazu Horst Duhnke, Die KPD von 1933 bis 1945, Köln 1972, S. 101—105. 24

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wohl noch größere derer, die in der Hauptstadt sich rasch arrangierten und auch bereit waren, Rechtsbrüche und staatliche Willkür hinzunehmen, ja, oft genug für die eigene Karriere daraus Vorteile zogen. Beispielhaft mag hier erinnert werden an die Haltung der Beamtenschaft und der Berliner Universität, die sich — während der Aderlaß durch Emigration und Berufsverbote erfolgte — in der Regel beflissen gleichschalten und es an Linientreue nicht fehlen ließen. 25 Im akademischen Bereich waren kleine Zirkel wie die „Mittwochsgesellschaft" Ausnahmeerscheinungen, und etwas Vergleichbares wie die „Weiße R o s e " unter den Studenten in München und Hamburg ist in Berlin nicht bekannt geworden. Nachdem der Exodus des liberalen Geistes Berlin wie keine andere Stadt Deutschlands getroffen hatte, dominierten nicht nur im Kleinbürgertum, sondern auch in den gebildeten Führungsschichten der Stadt Anpassung und Willfährigkeit. Auf der anderen Seite freilich gab es gerade in dezidiert konservativen Kreisen Berlins eine seit den Ereignissen von 1938 zunehmend sich verschärfende Gegnerschaft zum Regime, und die Männer des 20. Juli haben in dieser Umgebung Rückhalt gefunden. V o r allem im vornehmen Berliner Westen entwickelte sich hier (mitunter in unmittelbarer Nähe zu den Wohnungen der Nazi-Größen) das Verbindungsnetz derer, die oft nach anfänglicher Bejahung des Regimes nun in fundamentale Opposition zum N S - S t a a t gerieten und bald zur wichtigsten Stütze und Rekrutierungsbasis wurden für die aktiven Widerstandskämpfer. U n t e r der Tarnung privater Familienfeiern und des standesgemäßen gesellschaftlichen Umganges war es dabei in dieser Sphäre des gehobenen Bürgertums und des Adels leichter möglich als etwa im Arbeitermilieu, das Zusammenwirken auch in größeren Gruppen zu organisieren. Zwar blieb die eigentliche Konspiration abgeschottet im innersten Bereich, zu dem nur wenige zählten; doch an vielen Punkten gab es Nahtstellen zwischen dem Zentrum der Verschwörung und dem äußeren lokalen Umfeld, die in Kreisen wie etwa der Gruppe „Onkel E m i l " und dem Solf-Kreis zu finden sind. 26 Auch wenn die Vielzahl der Mithelfer, Freunde und Sympathisanten in der Regel nur eine vage Ahnung hatte von den konkreten Plänen der Hauptakteure, so wäre doch ohne sie die jahrelang unentdeckt gebliebene Vorbereitung des

25

Dazu vor allem Hans-Norbert Burkert/Klaus Matußek/Wolfgang Wippermann,

„Machtergreifung" 26

Berlin 1933 (= Stätten der Geschichte Berlins, Bd. 2), Berlin 1982.

Zur Gruppe „Onkel Emil" R u t h Andreas-Friedrich, Der Schattenmann.

buchaufzeichnungen

1938—1945,

Neuausgabe Frankfurt/Main 1986.

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Umsturzversuches vom Juli 1944 unmöglich gewesen. So erwuchsen aus den führenden Schichten der Stadt sehr wohl Ansätze zum aktiven Widerstand, doch im ganzen ging dies nicht hinaus über bestimmte, in sich begrenzte Freundeskreise, und es spricht nichts dafür, daß sich die Stimmung im breiten Berliner Bürgertum in der zweiten Hälfte der NS-Zeit etwa entscheidend zugunsten einer Oppositionshaltung gewandelt hätte. Wenn überhaupt, dann konnten am ehesten noch die Kirchen — nach der Zerschlagung der Parteien und anderen politischen Organisationen — den „legalen" Ausgangspunkt bilden für einen breiter angelegten, weltanschaulich fundierten Dissens gegenüber dem herrschenden System, und in der T a t sollte in überraschendem Maße auch in der gemeinhin als religiös indifferent geltenden Metropole Berlin den Kirchen diese Rolle zukommen. Auf evangelischer Seite lag bekanntlich in Berlin — neben Württemberg, Bayern, Hannover und Rheinland-Westfalen — eines der Zentren der Bekennenden Kirche, und mit Bonhoeffer und der Führung des Pfarrernotbundes um Niemöller waren hier die in der Ablehnung des Regimes entschiedensten Kräfte tätig. Im Kirchenvolk allerdings war das Bekenntnislager zunächst weniger stark verankert. 27 Schon bei den Kirchenwahlen der Altpreußischen Union im November 1932, als die „Deutschen Christen" (DC) zum ersten Mal den Ansturm zur Eroberung der Kirche unternahmen und auf Anhieb etwa ein Drittel aller Stimmen errangen, lag das Ergebnis in Berlin nur geringfügig unter dem Gesamtdurchschnitt: Auch hier kamen die Deutschen Christen auf über 30 Prozent der Sitze. Berlin lag damit zwar deutlich unter den hohen DC-Ergebnissen in den kirchlichen Ostprovinzen, doch dem steht auf der anderen Seite das Resultat im Rheinland und Westfalen gegenüber, wo die deutschchristliche Bewegung nur etwa 20 Prozent der Stimmen verbuchen konnte. Und dieser Trend setzte sich fort. So brachten die auf staatlichen Druck hin angesetzten reichsweiten Kirchenwahlen vom Juli 1933, soweit nicht Einheitslisten aufgestellt wurden und überhaupt noch eine halbwegs freie Abstimmung zustande kam, in aller Regel triumphale Mehrheiten für die Listen der DC; auch in Berlin war dies fast durchweg der Fall, wohingegen im rheinischwestfälischen Raum die bekenntnistreuen Kräfte sich als bedeutend 27 Zu den Kirchenwahlen von 1932/33 neben Einzelquellen zusammenfassend Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1 u. 2, Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1977—1985, Bd. 1, S. 272 f., 560—570, 791 f., 835—837.

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stärker erwiesen. Das vielzitierte Dahlem war die einzige Gemeinde Berlins, in der sich bei der Juliwahl 1933 das Bekenntnislager knapp durchsetzen konnte, während zumeist damals in den Gemeinden der nationale Aufbruch freudig begrüßt und mit kirchlichen Feiern begleitet wurde. Immerhin ging schon von Ende 1933 an, seit dem Sportpalast-Skandal mit der Selbstentlarvung der Berliner DCFührung, der Einfluß der sich bald spaltenden deutschgläubigen Bewegung spürbar zurück. Viele, die anfangs den D C zugelaufen waren, wandten sich nun wieder den sogenannten Neutralen oder den Bekenntniskräften zu. In der Folgezeit wuchs die Bekennende Kirche unter den Pfarrern, aber auch den Laien zu einer geistig wie auch zahlenmäßig beachtlichen Größe heran, obschon sie in den meisten Gemeinden Berlins wohl in der Minderheit blieb. 28 Erstaunlicher noch als die Vorgänge im evangelischen Bereich ist die Tatsache, daß auch für die katholische Kirche Berlin zu einem Zentrum des Protestes gegen das staatliche Unrecht geworden ist. Obwohl oder gerade weil die Katholiken Berlins, in der Diaspora lebend, nur eine kleine Minderheit bildeten, gelang es ihnen, ihre Identität in größerer Geschlossenheit zu wahren, als dies der evangelischen Kirche möglich war. Bis zum Sommer 1934 kam das katholische Eigenleben noch in verschiedenen Großveranstaltungen zum Ausdruck, getragen vor allem von der Laienbewegung „Katholische Aktion" unter ihrem Berliner Leiter Erich Klausener, der noch im Juni 1934 vor 60000 Menschen im Hoppegarten sprach, bis kurz darauf der Mord an Klausener durch SS-Leute dieser Form der Manifestationen ein Ende machte. Von nun an konnten die Katholiken Berlins nur noch in den großen Prozessionen zu Fronleichnam öffentlich ihren Zusammenhalt demonstrieren oder später noch einmal 1943 bei dem Menschenzug zur Trauerfeier für den Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg, der wegen seines Einsatzes für deportierte Juden selbst Gefängnis und Tod erlitten hatte. Wenn in Berlin die katholische Kirche eine so feste Haltung einnahm, so war dies außer den Blutzeugen wie Klausener und Lichtenberg vor allem dem Ortsbischof Konrad Graf von Preysing zu verdanken, der 1935 aus Bayern nach Berlin gekommen war und unter den katholischen Bischöfen von Anfang an am klarsten gegen den Nationalsozia28 Siehe dazu besonders F. Zipfel, Kirchenkampf... (wie Anm. 23), S. 121—130, vgl. S. 85 f. Ferner jetzt Detlef Minkner, Christuskreuz und Hakenkreuz. Kirche im Wedding 1933—1945 (= Studien zu jüdischem Volk und christlicher Gemeinde, Bd. 9), Berlin 1986.

392

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lismus Stellung bezog. In vielfachen Eingaben suchte Preysing dem Lauf des Unrechts entgegenzutreten. Sein großer „Hirtenbrief über das Recht" vom Dezember 1942, ein fundamentaler Angriff auf die Rechtsbrüche des Staates, fand auch im Ausland starke Beachtung und wurde als mutige Stimme aus Berlin vom Londoner Rundfunk nach Deutschland zurück ausgestrahlt. Dabei wandte Preysing alle Energie auf, auch seine Mitbrüder im Bischofsamt zu einer ähnlich kompromißlosen Haltung zu bewegen — wie man weiß, nur mit begrenztem Erfolg. 29 Für Preysing brachte seine exponierte Stellung große Gefahren mit sich. Von Goebbels wurde er schon im Februar 1942 als übler Hetzer gegen die deutsche Kriegsführung notiert, mit dem man nach dem Kriege abrechnen müsse.30 Weit hinausgehend über die übliche Selbstbeschränkung der Kirchenführer, unterhielt Preysing persönliche Kontakte zu prominenten Vertretern des politischen Widerstandes, vor allem im Kreisauer und im Goerdeler-Kreis. Kein anderer evangelischer oder katholischer Bischof hat den Verschwörerkreisen des 20. Juli so nahegestanden wie er. Das Bild, das hier von der Stimmung in Berlin nur in knappen Strichen gezeichnet werden kann, ist notwendig unvollkommen und widersprüchlich. Mehr denn je war während der NS-Zeit Berlin ein Ort krasser Gegensätze: in vieler Hinsicht ein Zentrum des Widerstandes, aber auch eine im vermeintlichen Glanz des Dritten Reiches sich sonnende Stadt. Die großen Aufmärsche und Jubelfeiern, die in den dreißiger Jahren das Bild Berlins nach außen hin prägten, sind zweifellos nicht einfach als Fassade und Inszenierung abzutun (so wie später der von Goebbels organisierte Jubel für den totalen Krieg im Sportpalast). Nicht nur die fanatischen Anhänger des Systems, auch die „normalen", angeblich so kritischen Berliner haben sich in den Aufbaujahren des Dritten Reiches von dessen außen- wie innenpolitischen Erfolgen ganz offensichtlich blenden lassen. Auch sie haben, jedenfalls solange es aufwärts ging, in großer Zahl mitgejubelt und dabei Unrecht und Verfolgung, solange es nur andere betraf, schweigend hingenommen. Mehr denn je erwies sich die Begeisterungsfähigkeit der Bevölkerung im olympischen Sommer 1936. Man war stolz darauf, als Haupstadt des 29

Eingehend dazu Walter Adolph, Kardinal

Widerstand 30

Preysing und zwei Diktaturen.

Sein

gegen die totalitäre Macht, Berlin 1971.

Joseph Goebbels, Tagebücher aus den Jahren 1942—1943

mit anderen

Dokumenten,

hrsg. von Louis P. Lochner, Zürich 1948, S. 97, 118 ( 2 1 . 2 . und 1 1 . 3 . 1 9 4 2 ) .

Zentrum des deutschen Widerstandes

393

neuen Deutschland zum Schauplatz so glänzender Spiele und zum Treffpunkt der ganzen Welt geworden zu sein, und dieses Hochgefühl hatte bewußt oder unterschwellig die verstärkte Identifizierung mit dem Staat, der dies geschafft hatte, zur Folge. Hier war der Höhepunkt der Machtfestigung des Hitlerstaates in Berlin erreicht, und so wie überall in jener Phase höchster Stabilität und Integrationskraft des Regimes um 1936 bis 1938 war auch in Berlin damals jeder breiteren Opposition der Nährboden entzogen. Erst nach der Wende von 1938/39 trat das alte Unmuts- und Widerstandspotential wieder stärker hervor. Als Stadt der Gegensätze erscheint Berlin auch, wenn man die Berichte von Zeitgenossen jener Jahre, die selbst der Opposition angehörten oder nahestanden, zu Rate zieht: Auch sie vermitteln ein widersprüchliches Bild. Berlin ist fürchterlich, urteilte Helmuth James von Moltke im Blick auf die Nazistimmung der Stadt — nicht nur während der Olympiade.31 Daneben stehen, vor allem für die spätere Zeit, aber auch ganz andere Zeugnisse. George Kennan etwa, bei Kriegsbeginn als US-Diplomat nach Berlin gekommen, war beeindruckt von der inneren Distanziertheit der Berliner gegenüber den Parolen des Regimes, die er als ebenso undemonstrative wie unverkennbare Haltung beschreibt. Die einfachen Leute Berlins, fand Kennan, seien von allen Bevölkerungsteilen in Stadt und Land am wenigsten vom Nazismus angesteckt.32 Aus anderen Tagebüchern und Memoiren ergibt sich als typischer Zug gleichsam das Nebeneinander von zwei verschiedenen Welten: auf der einen Seite Fanatismus, Anpassung und Denunziantentum — auf der anderen Seite Skepsis, Mißstimmung und Sarkasmus, der sich über die Propaganda des Staates lustig macht. Daß dabei in Berlin die sozialen Freiräume und die Neigung zu abweichendem Verhalten größer waren als in der Provinz, wird immer wieder betont. Als Beleg für die Reserviertheit vieler Berliner gegenüber der NSIdeologie läßt sich in gewissem Maße auch ihre Haltung angesichts der Judenverfolgung anführen. Schon bei dem ersten SA-Boykott gegen

31

Briefe Moltkes an seine Frau vom 2 7 . 7 . 1 9 3 6 , 4 . 8 . 1 9 3 6 und ähnlich vom 3 1 . 1 . 1 9 3 8

(Berlin ist widerlich): Michael Balfour/Julian Frisby/Freya von Moltke, Helmuth von Moltke 1907—1945.

Anwalt der Zukunft,

von Moltke, Briefe an Freya 1939—1945,

James

Stuttgart 1975, S. 75 f.; Helmuth James

hrsg. von Beate Ruhm von Oppen, München

1988, S. 32 f. 32

George F. Kennan, Memoirs 1925—1950,

B o s t o n - T o r o n t o 1967, hier zitiert nach

der deutschen Ubersetzung: Memoiren eines Diplomaten,

Stuttgart 1968, S. 116.

Wilhelm Ernst Winterhager

394

jüdische Geschäfte im April 1933 notierte ein tschechischer Diplomat in Berlin: Man merkt, daß die Mehrzahl des Volkes nicht mittut, Beschämungfühlt,33 Allerdings: Schon damals wird die Masse als neugierigabwartend beschrieben; von Protesten ist keine Rede. Ahnlich verhielt es sich später in der sogenannten Kristallnacht. Man kennt die Berichte, wonach der Pogrom gegen die jüdischen Mitbürger in der Bevölkerung Berlins eher Beklemmung als Begeisterung auslöste. Aber wieder blieb man passiv: Auf den Straßen eine stumme Menge, die umherging wie auf einem Jahrmarkt, so wird die Reaktion der Menschen geschildert.34 Als die Deportationen begannen, waren nicht wenige bestürzt, aber meist wurden die Vorgänge ignoriert oder verdrängt; man hatte im Kriege eigene Sorgen und auch selbst Angst vor den Fängen der Gestapo. Immerhin waren in Berlin die öffentlichen Unmutsbekundungen beim Abtransport von Juden so häufig, daß Goebbels sich wiederholt darüber erregte. 35 Zu einer offenen Demonstration gegen die Verschleppungen kam es indes nur einmal: bei jener Aktion 1943 in der Rosenstraße, als einige hundert nichtjüdische Frauen lautstark die Freilassung ihrer jüdischen Ehemänner verlangten.36 Die Aktion hatte Erfolg, doch die Umstände sind gerade hier bezeichnend: Offenen Protest wagte man erst, wenn der ureigenste, privateste Bereich vom staatlichen Terror betroffen war. Vergleichbare entschlossene Aktionen zugunsten der Großzahl von Juden ohne „arische" Angehörige hat es nicht gegeben. Was freilich die individuellen, konkreten Hilfeleistungen betraf, so fanden sich in Berlin noch relativ viele, die bedrohten Juden beistanden und dabei das eigene Leben riskierten. Mehr als in jeder anderen deutschen Stadt sind hier untergetauchte Juden von einzelnen oder Gruppen versteckt und vor dem Massenmord gerettet worden,37 obschon es

33

Johann Wilhelm Brügel/Norbert Frei (Hrsg.), Berliner Tagebuch 1932—1934.

zeichnungen des tschechoslowakischen Diplomaten Camill Hoffmann,

in:

Auf-

Vierteljahrshefte

für Zeitgeschichte 36 (1988), S. 131—183, hier S. 170 ( 1 . 4 . 1 9 3 3 ) . 34

Ursula von Kardorff, Berliner Aufzeichnungen

1942—1945,

Neuausgabe München

1976, S. 65 f. Vgl. zu dem Ganzen auch die britischen Diplomatenberichte aus Berlin, zitiert in dem Beitrag von Francis L. Carsten in diesem Band. 35

J . Goebbels, Tagebücher...

36

Kurt Jakob Ball-Kaduri, Berlin wird judenfrei.

(wie Anm. 30), S. 237f., 251 f., 267f. Die Juden

in Berlin in den

1942143, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands

Jahren

22 (1973), S. 1 9 6 —

241, hier S. 212—214. 37

Manfred Wolfson, Der Widerstand

(Rescuers)

von Juden

in Deutschland,

gegen Hitler. Soziologische Skizze über

in: Aus Politik und Zeitgeschichte.

Retter

Beilage

zur

395

Zentrum des deutschen Widerstandes

auch hier, wie wir wissen, eine Vielzahl von Denunziationen gab. Im ganzen stieß der antijüdische Terror in Berlin wohl auf stärkere Ablehnung als andernorts, und zum Gemeingut der Berliner ist der fanatische Rassenhaß nie geworden. Kennzeichnend für die Haltung der Berliner ist schließlich auch, daß hier von Anfang an kaum so etwas wie Kriegsbegeisterung aufkommen wollte. 38 Nur nach der Einnahme von Paris im Juni 1940 wird auch aus Berlin berichtet, daß die Stadt einen echten Siegestaumel, einen kurzen Rausch erlebte. Später dann sank die Stimmung immer tiefer ab, und mit zunehmender Dauer wuchs die Ernüchterung über den Krieg und der Unmut gegen die Machthaber. Seit 1940/41 nahm die Zahl der Strafverfahren wegen regimekritischer Äußerungen und ähnlicher Delikte ständig zu; daß aber aus der Mißstimmung ein bewußtes politischoppositionelles Handeln sich entwickelte, blieb die Ausnahmeerscheinung. 39 Typisch als Folge des Krieges mit seinen Nöten und Schrecken war eher die wachsende Abgestumpftheit, Apathie und Indifferenz als eine politische Aktivierung der Menschen, und diese Tendenz wurde durch den sich verschärfenden Bombenkrieg noch erheblich verstärkt. In den Vordergrund traten allein die privaten Dinge, der natürliche Uberlebenswille und Selbsterhaltungstrieb; das Politische dagegen wurde mehr denn je verdrängt. Bei vielen hatten die Belastungen des Bombenkrieges neben der physischen Ermattung eine Art Emotionslähmung und seelische Blockierung zur Folge, die, verbunden mit der steten Furcht vor der Gestapo, auch jetzt dazu führte, daß man sich eher anpaßte als aufbegehrte. Der Schriftsteller Horst Lange schrieb Anfang 1945 über die müden, gleichgültigen Menschen in Berlin im Angesicht von Gewalt und Zerstörung: Man nimmt es hin, man bedenkt nicht die Ursachen, man bäumt sich nicht auf und empört sich nicht

Wochenzeitung

„Das Parlament" vomlO. 4 . 1 9 7 1 , B 1 5 ( 1 9 7 1 ) , S . 3 2 — 3 9 , h i e r S . 34—36.

Unter den zahlreich gedruckten Erlebnisberichten der Opfer wie der Helfer besonders eindrucksvoll Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, 3. Aufl., Köln 1980. 38

Z u m ganzen Folgenden grundlegend H . D. Schäfer, Berlin im Zweiten

Welt-

krieg. .. (wie Anm. 18). Zur Stimmung in Berlin in den ersten Kriegsjahren (bis Ende 1941) besonders aufschlußreich die Berichte zweier amerikanischer Korrespondenten: William L. Shirer, Berlin Diary. The Journal

of a Foreign Correspondent

New Y o r k 1941, und Howard K. Smith, Last Train from

deutscher Ubersetzung: Feind schreibt mit. Ein amerikanischer Nazi-Deutschland, 39

1934—1941,

Berlin, London 1942, in Korrespondent

erlebt

Berlin 1982.

B. Schimmler, „Stimmung

der Bevölkerung..."

(wie Anm. 18), S. 39 passim.

396

Wilhelm

Ernst

Winterhager

dagegen. Auf alles würden die Menschen nur noch reagieren mit der widerwärtigen Gestikulation des Achselzuckens.40 Auch am 20. Juli 1944 sollen die Berliner nach den Berichten eines norwegischen Journalisten stumpf und passiv, apathisch und äußerlich unberührt reagiert haben auf die Nachricht vom Umsturzversuch. Das deutsche Volk, so notierte er damals, sei eben doch das gehorsamste und unrevolutionärste in Europa. 41 Nach internen SD-Berichten soll das Attentat, ähnlich wie schon der Bombenkrieg, zum Teil sogar — in Berlin wie andernorts — eine neue Solidarisierung mit dem Staat und dem „Führer" bewirkt haben.42 Die Bereitschaft der Massen, der NSFührung zu folgen, so fand auch der Berliner Journalist Hans-Georg von Studnitz damals, sei durch den 20. Juli nicht gebrochen worden.43 Oft war es das Gefühl der nationalen Pflichterfüllung im Kriege, oft aber auch nur die nackte Furcht vor dem staatlichen Terror, die die Menschen weiter bis zum Ende zum Mitmachen trieb. Selbst in den allerletzten Kriegswochen44 beherrschten Kraftlosigkeit und Angst, Lethargie und Fatalismus das Bild, und der Gedanke an aktive Selbstbefreiung kam in dieser Atmosphäre kaum auf. So bleibt als Fazit die Feststellung, daß auch in Berlin der Widerstand stets nur ein begrenztes Ausmaß erreichte. Gewiß gab es hier von Anfang an ein relativ starkes Oppositionspotential und ein vergleichsweise hohes Maß an Skepsis, Nonkonformität und — zumindest partiellem — Dissens gegenüber dem herrschenden System. Doch bei nur wenigen führte dies zur Konsequenz politischen Handelns und bewußter Arbeit gegen das Regime. Dominierend blieben Anpassung und Unterordnung, und auch die negative Grundstimmung, die in den

40 H o r s t Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, hrsg. v o n Hans Dieter Schäfer (= Die Mainzer Reihe, Bd. 46), Mainz 1 9 7 9 , S. 197, 207.

T h e o Findahl, Undergang. Berlin 1939—1945, O s l o 1 9 4 5 , hier zitiert nach der deutschen Übersetzung: Letzter Akt. Berlin 1939—1945, Hamburg 1946, S. 1 1 9 — 1 2 2 (Aufzeichnungen v o m 2 0 . — 2 2 . 7 . 1 9 4 4 ) . 41

42 Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), „Spiegelbild einer Verschwörung". Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Geheime Dokumente aus dem Reichssicherheitshauptamt, Bd. 1 u. 2, Stuttgart 1984, Bd. 1 , S . 1 — 7 ,

vgl. Bd. 2, S. 9 1 8 — 9 2 1 . 43 Hans-Georg v o n S t u d n i t z , Als Berlin brannte. Diarium Stuttgart 1963, S. 192, vgl. S. 2 0 3 — 2 0 6 .

der Jahre

1943—1945,

44 Besonders eindringlich dazu J a c o b K r o n i k a , Berlins Undergang, Kopenhagen 1945, in deutscher Ubersetzung: Der Untergang Berlins, Flensburg-Hamburg 1946.

Zentrum des deutschen

Widerstandes

397

Kriegsjahren um sich griff, darf nicht in eine Art „Volkswiderstand" umstilisiert werden. Der entschlossene Widerstand unter Risiko für Leib und Leben blieb wie überall auch in Berlin das Werk einzelner; man würde ihren Einsatz und ihre Leistung schmälern, wollte man diese Tatsache verwischen. So sehr am Ende gerade in der Hauptstadt der Unmut gegen das Regime wuchs, so hat es auch hier doch nie Ansätze gegeben für den Durchbruch zu einer breiten Volksopposition. In Berlin, wo der Widerstand im Juli 1944 das größte Fanal setzte und zugleich scheiterte, war insofern die Situation nicht grundlegend anders als im übrigen Deutschland.

Krieg und Kriegsfolgen in Berlin im Vergleich zu anderen Großstädten CHRISTIAN ENGELI Berlin

Der Erkenntniswert vergleichender Betrachtung ist evident. Die vergleichende Städtegeschichte stellt sich als Kontrapunkt zur Lokalgeschichte dar, auf den nicht verzichtet werden kann, von dem diese erst ihren Stellenwert zugewiesen bekommt. Natürlich wissen wir um den Sonderstatus Berlins und die damit verbundene Sonderentwicklung der Stadt nach Kriegsende. Ihr Niederschlag in beliebigen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft wird bei entsprechenden Vergleichen Berlins mit anderen — westdeutschen — Großstädten deutlich. Eine gewisse Sonderstellung nahm Berlin übrigens schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein, war sie doch seit der raumgreifenden Eingemeindung von 1920 zu einem Koloß geworden, der aus der Vielfalt der Großstädte in mancherlei Hinsicht herausragte. Da bei Vergleichen jedoch nicht nur absolute Zahlen, sondern häufiger noch relative Werte gefragt sind, war Berlin auch zu dieser Zeit keine „unvergleichliche" Stadt. Ein Beispiel: Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise 1932 gab es in Berlin mehr als eine halbe Million Arbeitslose — eine ungeheure Zahl. Die entsprechende Arbeitslosenquote war zwar auch hoch, fiel aber durchaus nicht aus dem Rahmen; eine ganze Reihe reichsdeutscher Großstädte hatten vergleichbare, andere durchaus höhere Werte (siehe hierzu TABELLE 5).

Der Städtevergleich beschränkt sich in dem hier gestellten Rahmen auf wenige Beispiele. Für die Kriegszeit sind sie dem Kapitel „Bombenkrieg" entnommen, für die unmittelbare Nachkriegszeit illustrieren sie Aspekte aus der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung. Verglichen werden lediglich quantifizierbare Sachverhalte. Selbstredend braucht sich die vergleichende Geschichtsbetrachtung im Prinzip keineswegs auf zahlenmäßig erfaßbare Verhältnisse und Entwicklungen zu

400

Christian Engeli

beschränken. Doch ist die Präsentation statistischer Angaben wohl als ein Mittel der Wahl anzusehen, wenn es darum geht, auf begrenztem Raum möglichst viele Informationen zusammenzustellen. Dabei wissen wir alle, daß Zahlen oft eine Präzision der Aussagen vortäuschen, die der historischen Realität nicht entspricht. Nicht zuletzt gilt dies für die Tabellen des vorliegenden Beitrages, deren Zahlenangaben zu einem nicht geringen Teil auf Schätzungen und Hochrechnungen beruhen. In den Städtevergleich wurden Großstädte mit mehr als 200000 Einwohnern einbezogen — eine gewisse Mindestzahl von Vergleichsstädten ist notwendig, um im Vergleich nicht irreführenden Besonderheiten des Einzelfalles zu erliegen, andererseits darf sich ein auf Berlin bezogener Städtevergleich nicht allzu sehr von der Größenordnung und den damit verbundenen Strukturmerkmalen einer Millionenstadt entfernen. Je nach zeitlichem und thematischem Bezug und nach Quellenlage sind in den Tabellen die heutigen DDR-Städte Dresden, Halle, Leipzig und Magdeburg berücksichtigt, im Einzelfall darüber hinaus auch Breslau, Danzig, Königsberg und Stettin. I Die Städte im

Bombenkrieg

In seiner materialreichen Darstellung „Berlin. Ein Kampf ums Leben" schreibt Kurt Pritzkoleit, der Krieg habe tiefere Spuren in der Reichshauptstadt hinterlassen als im westlich oder im sowjetisch besetzten DeutschlandSicher eine problematische Aussage — man spürt es im Umgang mit statistischen Angaben über Bombentonnage, Luftkriegstote, Trümmerschuttmengen und zerstörten Wohnraum. Mit geschätzten 50 000 Bombenopfern liegt Berlin an der Spitze aller Städte im Reich. 2 Setzt man diese Zahl jedoch in Beziehung zur Einwohnerzahl, so fällt die Reichshauptstadt weit zurück hinter andere Städte,

Kurt Pritzkoleit, Berlin. Ein Kampf ums Leben, Düsseldorf 1962, S. 61. In einer Darstellung über Aufbau und Einsatz des Luftschutzes in der Reichshauptstadt 1939 bis 1945 ist von 49600 Luftkriegsopfern die Rede; nach Berechnungen des Volksbundes deutscher Kriegsgräberfürsorge gab es in Berlin 56 100 zivile Kriegsopfer (einschließlich der nicht bei Bombenangriffen umgekommenen Opfer). Beide Angaben nach: Dokumente deutscher Kriegsschäden. Evakuierte, Kriegsgeschädigte, Währungsgeschädigte. Die geschichtliche und rechtliche Entwicklung, hrsg. vom Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Bd. 4/2: Berlin. Kriegs- und Nachkriegsschicksal der Reichshauptstadt, Bonn 1967, S. 77 f. 1

2

Krieg und Kriegsfolgen

in Berlin

401

vor allem auch Klein- und Mittelstädte — so etwa Heilbronn, das nach einem einzigen verheerenden Bombenangriff 7500 Tote zu beklagen hatte: zehn Prozent seiner Einwohner. Dagegen schnitt Berlin mit wenig mehr als einem Prozent Luftkriegstoten vergleichsweise günstig ab. N u r mit Unbehagen stellt man Rechnungen dieser Art an. Schon allein die Tatsache, daß die Zahl der Bombenopfer in den meisten Fällen nur geschätzt werden kann, ist bedrückend. Für die Städte mit den größten Massierungen an Toten sind seit jenem schrecklichen Geschehen höchst unterschiedliche Zahlen im Umlauf. Das Beispiel Dresden ist bekannt und viel diskutiert. Die Schätzungen bewegten sich zwischen 30 000 und 300 000 Opfern. Eine neuere DDR-Darstellung nennt die Zahl 35000. 3 Für Hamburg ist von etwa 37500 beurkundeten Luftkriegsopfern auszugehen, denen schätzungsweise 17 000 Vermißte hinzuzurechnen sind4 — die genaue Zahl wird man nie erfahren. Dasselbe gilt für Köln und gilt vor allem auch für Berlin. Für die anderen betroffenen Großstädte, in denen die mutmaßliche Gesamtzahl der Bombenopfer deutlich geringer ist, sind auch die Angaben vermutlich genauer. 5 Die tabellarische Zusammenstellung der Zahlen ist dennoch nicht geeignet, eine Rangfolge der Städte hinsichtlich ihrer im Krieg erlittenen Heimsuchungen aufzustellen 6 (siehe hierzu T A B E L L E 1). Vor den angloamerikanischen Bombengeschwadern waren alle Städte gleich. Zwar wurden die im Nordwesten des Reiches gelegenen Städte früher und insgesamt häufiger ins Visier genommen, jedoch lagen seit 1943 zunehmend auch die mitteldeutschen Städte im Ein5

Waltraud Volk, Dresden. Historische Straßen und Plätze heute, 4., erw. Aufl., Berlin 1984, S. 22. Vgl. auch Götz Bergander, Dresden im Luftkrieg Köln-Wien 1977, S. 152 ff. 4 Vgl. die Angaben bei Hans Rumpf, Das war der Bombenkrieg. Deutsche Städte im Feuersturm. Ein Dokumentarbericht, Oldenburg 1961, S. 58. 5 Für einzelne Städte gibt es präzise Angaben, vgl. etwa Tabelle 1: „Kriegseinwirkungen im Ruhrgebiet", in: Hartmut Pietsch, Militärregierung. Bürokratie und Sozialisierung. Zur Entwicklung des politischen Systems in den Städten des Ruhrgebiets 1945 bis 1948 (= Duisburger Forschungen, Bd. 26), Duisburg 1978, S. 298. Die Stadt Kassel kennt 4012 identifizierte Gefallene, geht dabei gleichzeitig von annähernd 10 000 Toten aus, die der Luftangriff vom 3. Oktober 1943 insgesamt gekostet hat. Vgl. hierzu Werner Dettmar, Die Zerstörung Kassels im Oktober 1943. Eine Dokumentation, Fuldabrück 1983. 6 Vgl. stellvertretend für die vielen Darstellungen zum Inferno des Bombenkrieges die Erlebnis- und Erfahrungsberichte zu Dresden, Hamburg, Köln und anderen Städten in: Dokumente deutscher Kriegsschäden... (wie Anm. 2), 1. Beiheft: Aus den Tagen des Luftkrieges und des Wiederaufbaus. Erlebnis- und Erfahrungsberichte, Bonn 1960.

402

Christian

Engeli

TABELLE 1 Bombenlast

und Bombenopfer

in Städten

mit über 200.000

Einwohnern

Bombenlast in t

Städte

Bombenopfer

40.000—50.000 30.000—40.000

Berlin Essen Köln Bremen Dortmund Düsseldorf Duisburg Frankfurt Gelsenkirchen Hamburg Hannover Kiel Mannheim Nürnberg Stuttgart Bochum Braun schweig Chemnitz Dresden Kassel Leipzig Königsberg Lübeck Magdeburg München Oberhausen Wuppertal Breslau Danzig Halle Wiesbaden

50.000 7.500 20.000 4.000 6.000 5.800 6.000 5.500 3.000 55.000 5.100

15.000—30.000

2.000—15.000

Keine schweren Bombenangriffe

1

2.000 5.500 4.500 4.000 35.000 9.200 4.000 3.000 500 6.100

Angaben zu Bombenlast und Bombenopfern nach Hans Rumpf, Das war

Bombenkrieg.

Deutsche Städte im Feuersturm.

Ein Dokumentarbericht,

der

Oldenburg 1961,

und nach lokalen Quellen.

zugsbereich d e r B o m b e r s t a f f e l n (siehe hierzu TABELLE 2). Selbst das ferne K ö n i g s b e r g blieb nicht v e r s c h o n t . E n t s p r e c h e n d ihrem S y m b o l w e r t h a t t e die R e i c h s h a u p t s t a d t die g r ö ß t e A n z a h l an L u f t a n g r i f f e n z u v e r z e i c h n e n . 3 6 3 n e n n t die Statistik, H a m b u r g folgt m i t 2 1 4 Angriffen. 4 0 d i e s e r „ R i d e s " n a c h B e r l i n w e r d e n als s c h w e r b e z e i c h n e t , d a s h e i ß t , sie w u r d e n m i t j e w e i l s m e h r als 1 0 0 0 F l u g z e u g e n g e f l o g e n . 7 D i e i n s g e -

7

Angaben bei H . Rumpf, Das war der Bombenkrieg...

(wie Anm. 4), S. 87.

403

Krieg und Kriegsfolgen in Berlin TABELLE 2

Luftkriegswirkung nach Angriffsräumen vom Oktober 1940 bis Januar 1945 Anteil in % an der Gesamtzahl der Gebäude- Bombenopfer schäden

Angriffsraum

Nordwest Nord West Berlin Mitte Mittel-Süd Süd Nordost Südost

(Köln, Düsseldorf, Münster, Bremen) (Hamburg, Kiel, Hannover) (Koblenz, Wiesbaden, Karlsruhe, Stuttgart, Saarbrücken) (Dresden, Magdeburg, Weimar, Reichenberg) (München, Fürth, Kassel) (Wien, Linz, Salzburg) (Königsberg, Danzig, Stettin) (Breslau, Kattowitz)

Zahl der Monate, in denen der Angriffsraum den höchsten Anteil aufwies, an der Gesamtzahl der BombenGebäudeopfer schäden

39,8

33,6

32

29

17,9

20,9

8

8

17,3

14,5

6

5

5,9 6,7

4,9 4,8

1 1

3 2

8,8

12,0

3

3

1,4 2,1

5,6 3,0

1

0,2

0,7



Quelle: Hans Sperling, Die deutschen Luftkriegsverluste im Zweiten Wirtschaft und Statistik, Jg. 1962, S. 141 (vereinfachte Tabelle).



2



Weltkrieg,

in:

samt abgeworfene Bombenlast wird für Berlin auf 45 000 Tonnen berechnet; für Köln ist von 35 000, für Essen von 36 000 Tonnen auszugehen. Mit deutlichem Abstand folgt Hamburg mit „nur" 23 000 Tonnen. Die Luftangriffe haben jedoch in Hamburg sicher nicht weniger Unheil angerichtet als in Köln oder Essen, wie aus dem Vergleich der Zahlen über Tote, Trümmerschutt und Wohnungsverluste hervorgeht (siehe hierzu TABELLEN 1 und 3). Bekanntlich hing die Zerstörungswirkung der Bomben nicht nur von ihrem Gewicht ab. Brandstäbe von geringstem Gewicht, aber zu Hunderttausenden bei einem einzigen Angriff abgeworfen, und Phosphorbrandbomben konnten unvergleichlich mehr Schaden anrichten als tonnenschwere Sprengbomben. Der grauenvolle Feuersturm, der Ende Juli 1943 bei dem Großangriff auf Hamburg entfesselt wurde, hatte dies erstmalig deutlich gemacht. 8 8 Vgl. hierzu H . Brunswig, Flächenbrände und Feuerstürme, in: Dokumente deutscher Kriegsschäden, 1. Beiheft: Aus den Tagen des Luftkrieges... (wie Anm. 6), S. 387—397.

404

Christian

Engeli

Dieser Angriff bewirkte eine Intensivierung der Luftschutz- und Evakuierungsmaßnahmen in den Großstädten, die sich insgesamt als segensreich erwiesen. 9 In Berlin führten drei noch nicht allzu schwere Angriffe Ende August und Anfang September 1943 der Bevölkerung die auch der Reichshauptstadt drohende Gefahr vor Augen. Binnen eines Monats verließen rund 500 000 Berliner die Stadt, darunter etwa 200 000 Kinder und Jugendliche; um eine weitere halbe Million sank die Einwohnerzahl bis zum Frühjahr 1944 — die Versorgungsbevölkerung Berlins zählte nun nur noch 2,8 Millionen. 10 Diese war dann vom November 1943 bis März 1945 den erwähnten schweren Bombenangriffen ausgesetzt. Dabei blieb die Stadt vor einem Inferno vergleichbar demjenigen von Hamburg und Dresden verschont. 11 In der Darstellung „Das war der Bombenkrieg" trägt eines der Berlin gewidmeten Kapitel die Uberschrift „Warum brannte Berlin nicht?" 12 Der Verfasser, seit 1942 Generalinspektor des Feuerlöschwesens, stellt darin also die Frage, warum in Berlin nicht in gleichem Maße wie in Hamburg und Dresden, aber auch etwa in Kassel, Magdeburg, Leipzig und Bremen zusammenhängende Flächenbrände entstanden sind. Zur Erklärung führt er städtebauliche Merkmale an: Berlin war eine verhältnismäßig junge Stadt, in den Hauptgebieten erst um die Jahrhundertwende entstanden; es fehlten Fachwerkbauten, es gab keine Slums, die Hinterhäuser waren genauso solide gebaut wie die Vorderhäuser, als ganzes war die Stadt durchgrünt und durch breite Straßenzüge gegliedert. Außerdem hatte man in Berlin die zahlreichen kleineren Luftangriffe der ersten Kriegsjahre zum Anlaß genommen, einen wirksamen Luftund Brandschutz zu organisieren, so daß man beim Einsetzen der Großangriffe im November 1943 verhältnismäßig gut gerüstet war. Neben der Zahl der Bombenopfer ist das Ausmaß an Zerstörung der städtebaulichen Substanz ein Gradmesser für die Schäden, die der 9 Der Erfolg ist indirekt abzulesen an der Verhältniszahl der Bombenopfer je Wohngebäudetotalschaden; sie sank von 1,8 (1942) über 0,9 (1943) auf 0,5 (1944/45). Vgl. hierzu Hans Sperling, Die deutschen Luftkriegsverluste im Zweiten Weltkrieg, in: Wirtschaft und Statistik, Jg. 1962, S. 139—141, hier S. 140. 10 Spezifizierte Ubersichten zur Bevölkerungsbewegung in Berlin während der Kriegsjahre bei K. Pritzkoleit, Berlin... (wie Anm. 1), S. 45ff. 11 Pläne, einen vergleichbaren Schlag auch gegen die Reichshauptstadt zu führen, hatte es offensichtlich gegeben, vgl. Olaf Groehler, Berlin im Bombenvisier. Von London aus gesehen. 1940—1945 (= Miniaturen zur Geschichte, Kultur und Denkmalpflege Berlins, Nr. 7), Berlin [Ost] 1982. 12 H. Rumpf, Das war der Bombenkrieg... (wie Anm. 4), S. 92 ff.

405

Krieg und Kriegsfolgen in Berlin

Luftkrieg angerichtet hat. Dabei entziehen sich die Einzelbauwerke, unter ihnen die kulturellen Schätze einer jeden Stadt, der Bewertung in vergleichender Perspektive, da sie durch Zahlen nicht adäquat erfaßbar sind. Quantifizierbar ist hingegen die Wohnsubstanz. Seit es die Statistik gibt, werden Wohngebäude gezählt, werden Zu- und Abgänge an Wohnraum ermittelt. Dies geschah auch nach Kriegsende. Neu war dagegen die Vermessung der Schuttmassen, die in den betroffenen Städten abgeräumt werden mußten. Auch sie eignen sich für den Städtevergleich, da sie — in Beziehung zur Größe der Stadt gesetzt — ein Indiz für den jeweiligen Zerstörungsgrad abgeben. Statistische Erhebungen über Trümmermengen und Wohnraumverluste wurden 1945/46 von allen deutschen Städten durchgeführt. 1 3 Die Zahlen wurden von den Städten unter anderem benötigt zur Anmeldung der Ansprüche aus dem Finanzausgleich für die Baustoffzuteilungen und für die Bemessung der aufzunehmenden Flüchtlingskontingente. 1 4 In Berlin entstand die höchste Erhebung nach dem Zweiten Weltkrieg: Achtzig Meter hoch wölbt sich der Teufelsberg über die Umgebung empor; weitere Wahrzeichen dieser Art sind der Insulaner und der im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichshain gelegene Bunkerberg. Die drei Lagerplätze enthalten die Hauptmasse des in Berlin angefallenen Trümmerschutts von 55 Millionen Kubikmeter. An zweiter Stelle unter den Städten folgt in der entsprechenden Zusammenstellung Hamburg mit 35 Millionen Kubikmetern (siehe hierzu TABELLE 3). Die ehemalige Reichshauptstadt hält also auch hier die Spitzenposition. Setzt man die Trümmermenge jedoch in Relation zum Gebietsumfang, oder, wie in der Gemeindestatistik geschehen, zur Einwohnerzahl, so nimmt Berlin unter den Großstädten eine Position im unteren Drittel ein, schneidet also verhältnismäßig günstiger ab als viele andere G r o ß städte. An der Spitze der Tabelle liegen dann Dresden, Köln, D o r t mund und Nürnberg, und es macht angesichts dieser Maßstabsverhältnisse wenig Sinn, von Berlin als der Reichstrümmerstadt zu sprechen. 15 13

Vgl. die Zusammenstellung in: Statistisches Jahrbuch

deutscher Gemeinden

37

(1949), S. 374—391. Angaben für die einzelnen Städte finden sich meist auch im jeweiligen lokalen Schrifttum. Vgl. etwa für Frankfurt/Main die 1946/47 von Oberbürgermeister Kurt Blaum herausgegebene Schriftenreihe Wiederaufbau ter Heft 5 von Martin Arndt, Wiederaufbau 14

zerstörter Städte, darun-

und Bauwirtschaft,

Frankfurt/Main 1947.

Vgl. die Erläuterungen zum Kapitel „Kriegsschäden" in: Statistisches

Jahrbuch...

(wie Anm. 13), S. 361—373. 15

Vgl. Sylvia Conradt/Kirsten Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt.

1945—1961.

In Berichten und Bildern erzählt, Darmstadt 1987.

Leben in Berlin

Christian

406

Engeli

TABELLE 3

Wohnungsverluste und Trümmermengen in Städten mit über 200.000 Einwohnern

Städte 1

Zerstörte W o h n u n g e n in % des 1 insgesamt Bestandes

T r ü m m e rmenge m ' pro Ew. in M i o . m J

Köln Dortmund Duisburg Kassel Dresden Kiel Hamburg Bochum Braunschweig Bremen

70,0 65,8 64,8 63,9 60,0 58,1 53,5 51,9 51,9 51,6

176.000 105.500 82.000 40.443 132.000 44.700 295.654 47.500 27.000 65.000

24,1 16,7 5,6 5,8 25,0 4,1 35,8 3,7 2,2 7,9

31,2 30,9 12,9 26,7 39,7 15,1 20,9 12,1 11,5 17,6

Hannover Gelsenkirchen Düsseldorf Essen Magdeburg Nürnberg Mannheim Frankfurt/M. Wuppertal Berlin

51,6 51,0 50,9 50,5 50,0 49,0 48,7 45,0 39,0 37,0

75.378 47.400 86.500 100.000

8,4 3,8 10,0 14,9 5,2 10,7 4,3 11,7 7,5 55,0

17,8 12,2 18,5 22,4

München Oberhausen Stuttgart Leipzig Chemnitz Wiesbaden Lübeck Halle

33,0 31,8 29,8 25,0 25,0 22,3 19,6 5,0

82.000 16.400 42.126

5,5 1,3 4,2 5,0

6,5 6,8 8,5 7,1

12.355 8.930

0,6 0,7 0,4

3,1 4,5

1

61.319 41.850 80.575 54.400 556.500

25,3 15,1 21,1 18,9 12,7

S t ä d t e in d e r R e i h e n f o l g e d e s r e l a t i v e n Z e r s t ö r u n g s g r a d e s .

Quelle: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden 1949. Der alternativ zur Verfügung stehende Schadensindex führt die Wohnraumverluste der einzelnen Städte auf. In Berlin waren bei Kriegsende rund 550 000 Wohnungen zerstört (das heißt vernichtet oder so stark beschädigt, daß sie nicht wieder instandgesetzt werden konnten). Zu Beginn des Jahres 1943, also vor dem Einsetzen der massiven Bombenangriffe, hatte es in Berlin rund 1,5 Millionen Wohnungen gegeben. Am stärksten waren — wie in den meisten Städten — die dicht besiedelten Innenstadtbezirke in Mitleidenschaft gezogen. Die Wohnraumverluste betrugen in den Bezirken Mitte 61 Prozent, in Tiergarten 59

Krieg und Kriegsfolgen in Berlin

407

Prozent und in Friedrichshain 54 Prozent. Aber auch in den südwestlichen Bezirken waren die Verluste überdurchschnittlich hoch: in Charlottenburg 47 Prozent, in Wilmersdorf 54 Prozent, in Steglitz 53 Prozent und in Schöneberg 47 Prozent. Vergleichsweise glimpflich kamen entsprechend mit Verlustanteilen um 20 Prozent die nördlichen und östlichen Randbezirke davon (Spandau, Reinickendorf, Pankow, Weißensee, Köpenick, Treptow und Neukölln). 16 Im Städtevergleich liegt Berlin, gemessen an den absoluten Zahlen der Wohnungsverluste, an erster Stelle, nicht jedoch bei Berücksichtigung des relativen Zerstörungsgrades (siehe hierzu TABELLE 3). Hier ist es mit den genannten 37 Prozent sogar ziemlich weit von den Spitzenwerten entfernt. Für zwölf Großstädte wird die Zahl der zerstörten Wohnungen mit über 50 Prozent des Vorkriegsbestandes angegeben. Sie liegen alle im Nordwesten des ehemaligen Reichsgebietes. Die Namensliste wird von Köln angeführt, gefolgt von Dortmund und Duisburg. Für Hamburg sind 53 Prozent, also immer noch wesentlich mehr als für Berlin, ermittelt. Noch höhere Zerstörungsquoten weisen einige Mittelstädte aus. Zehn Städte liegen über 70 Prozent, Paderborn hat einen Wert von 95 Prozent und Düren erreicht gar die extreme Verlustquote von 99 Prozent. 17 Angesichts dieser Relationen läßt sich doch wohl die eingangs erwähnte Ansicht von Pritzkoleit nicht halten, der Krieg habe tiefere Spuren in der Reichshauptstadt hinterlassen als im westlich oder im sowjetisch besetzten Deutschland,18 Die tabellarischen Zusammenstellungen führen nur deutsche Städte auf. Deshalb sei an dieser Stelle immerhin daran erinnert, daß nicht nur das massive Städtebombardement aus der Luft im Zweiten Weltkrieg von deutscher Seite eröffnet wurde — mit der Bombardierung der von der polnischen Armee verteidigten Hauptstadt Warschau bei Kriegsbeginn und mit der Zerstörung des Stadtkerns von Rotterdam am 14. Mai 1940 19 —, sondern daß dem Bombenkrieg gegen die deutschen

16 Zahlen nach einer Übersicht: „Wohnungen und Wohnräume in Groß-Berlin am 1.1.1943 und am 13.4.1946", in: Berliner Statistik (1947), S. 31. 17 Vgl. hierzu die Ubersicht „Kriegsschäden" in: Statistisches Jahrbuch... (wie Anm. 13), S. 374—391. 18 K. Pritzkoleit, Berlin... (wie Anm. 1), S. 61. 19 Die Bombenlast, unter der am 25. September 1939 Warschau in Flammen aufging, betrug etwa 6001, auf Rotterdam fielen rund 1001. Vgl. zu beiden Ereignissen Cajus Bekker, Angriffshöhe 4000. Ein Kriegstagebuch der deutschen Luftwaffe, OldenburgHamburg 1964.

Christian

408

Engeli

Städte auch die sogenannte Luftschlacht um England vorausging. 2 0 Der von September 1940 bis Mai 1941 von der deutschen Luftwaffe praktizierte Versuch eines strategischen Einsatzes der Bomben zur Niederzwingung des Gegners reichte allerdings in seiner Vernichtungswirkung nicht annähernd an die dann von den Engländern und später auch US-Amerikanern über die deutschen Städte ausgeschüttete Bombenlast heran. Von US-amerikanischen Bombenangriffen wurden mit dem Vorrücken der Front im übrigen auch einzelne oberitalienische Großstädte wie Bologna, Mailand, T u r i n und Verona heimgesucht. II

Veränderungen der Bevölkerungsstruktur

nach

Kriegsende

Bei Kriegsende lagen die Großstädte nicht nur in T r ü m m e r n , sondern sie hatten sich auch geleert; es fehlten die zur Wehrmacht einberufenen Männer und die evakuierten Frauen und Kinder. Berlin war auf 65 Prozent der 1939 registrierten Einwohnerzahl geschrumpft, von 4,3 auf 2,8 Millionen. Eine ganze Reihe anderer Großstädte hatte mehr als die Hälfte der Einwohner des Vorkriegsstandes verloren (siehe hierzu T A B E L L E 4). Im Städtevergleich fällt Berlin zu diesem Zeitpunkt nicht auf. Eine Sonderstellung nimmt Lübeck ein, die einzige Großstadt, die bei Kriegsende mehr Einwohner zählte als bei Kriegsbeginn. Sie war zwar 1942 in einem der ersten schweren Luftangriffe gegen Deutschland heimgesucht worden, blieb dann aber als respektierter Umschlagplatz für Hilfsgüter des Internationalen Roten Kreuzes von weiteren Bombardierungen verschont; die Bewohner brauchten deshalb ihre Stadt nicht zu verlassen. Außerdem führte die mit dem Zurückweichen der Ostfront einhergehende Fluchtbewegung zu einem großen Teil über die Ostsee und den Zielhafen Lübeck; hierdurch mußte die Stadt schon vor Kriegsende Flüchtlinge in großer Zahl aufnehmen. 2 1 An den Einwohnerzahlen vom Jahresende 1945 ist bereits erkennbar, wie einerseits die weniger stark zerstörten Städte schneller wieder bevölkert werden (Halle, Leipzig, Wiesbaden) und wie andererseits der generelle Rückstrom in die Städte von der Ost-West-Wanderungsbewe-

2 0 Ü b e r England wurden insgesamt etwa 58 0 0 0 1 Bomben abgeworfen, über Deutschland etwa 1,5 Mill. t. Vgl. hierzu T h e o W e b e r , Die Luftschlacht um England, Wiesbaden

1956. 21 Vgl. hierzu Lübecker Notzeit in Zahlen. 1945—1948, der Hansestadt Lübeck, Lübeck 1949.

hrsg. v o m Statistischen A m t

Krieg und Kriegsfolgen

in Berlin

409

TABELLE 4

Wohnbevölkerung

Städte1

1939 Einwohner

in Städten mit über 200.000

bei Kriegsende EinDifwohferenz ner zu 1939 geschätzt2 in %

4.338.756 2.600.000 Berlin 1.711.877 1.100.000 Hamburg 840.586 München Leipzig 707.365 666.743 Essen 285.000 772.221 Köln 45.000 Frankfurt/M. 553.464 240.000 542.261 Dortmund 541.410 235.000 Düsseldorf 630.216 Dresden Stuttgart Bremen Hannover Duisburg Wuppertal Nürnberg Gelsenkirchen Chemnitz Bochum Halle

458.429 354.109 470.950 434.646 401.672 423.383 317.568 337.657 305.485 220.092

Magdeburg Kiel Mannheim Lübeck Braunschweig Wiesbaden Oberhausen Kassel

336.838 273.735 284.957 154.811 196.068 170.354 191.842 211.624

-40,0 -35,8 -57,3 -91,2 -56,7 -56,6

266.000

-42,0

217.000

-54,0

150.000

-52,8

161.000

-52,7

135.000

-50,7

190.000

+15,1

123.000 96.000 35.000

-27,8 -50,0 -83,5

Ende 1945 EinDifwohferenz ner zu 1939 in %

Einwohnern

Einwohner

1950

Differenz zu 1939 in %

3.064.629 1.350.270 674.154 607.655' 488.035 453.554 357.737 433.156 392.316 467.966'

-29,4 -21,2 -19,8 -10,5 -26,8 -41,3 -35,4 -20,2 -27,6 -25,8

3.335.435 1.604.600 831.017 617.574 605.125 590.825 523.923 500.150 498.347 494.187

-23,2 - 6,3 - 1,2 -12,7 - 9,3 -23,5 - 5,4 - 7,8 - 8,0 -21,6

359.319 366.427 325.841 322.301 318.209 286.833 249.162 250.188' 227.769 222.505'

-21,7 + 3,4 -30,9 -25,9 -20,8 -32,3 -21,6 -25,9 -25,5 + 1,1 -29,9 -27,1 -34,7 +41,3 -17,0 + 1,0 -22,4 -45,2

481.845 444.196 441.615 408.877 362.125 360.017 310.108 293.373 290.406 289.119

+ 5,1 +25,4 - 6,3 - 6,0 - 9,9 -15,0 - 2,4 -13,2 - 5,0 +31,4

260.305 253.857 244.000 237.860 223.263 218.255 202.343 162.132

-22,8 - 7,3 -14,4 +53,6 +13,9 +28,1 + 5,4 -23,4

236.326' 199.579 186.810 218.804 162.855 172.083 168.206 116.099

Städte geordnet nach Einwohnerzahl 1950. Zusammengestellt nach lokalen Quellen. 3 Einwohnerzahl am 29.10.1946. Quelle: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden 1940, 1949 und 1951; Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1955. 1

2

Statistisches

gung überlagert wird — abzulesen besonders deutlich an den Zahlen für Bremen, das trotz stärkster Kriegszerstörungen Ende 1945 bereits mehr Bewohner beherbergt als vor dem Krieg. Fünf Jahre später, 1950, ist dann deutlich zu sehen, wie stark Berlin infolge des Verlustes der Hauptstadtfunktion und aufgrund seiner besonderen politischen Ent-

410

Christian

Engeli

wicklung von der allgemeinen Aufwärtsentwicklung abgekoppelt ist. Drei Viertel aller Großstädte zählen zu dieser Zeit ungefähr wieder soviel Einwohner wie vor dem Krieg — einige bereits erheblich mehr. Berlin aber steht jetzt am Ende der Skala, zusammen mit Dresden, Kassel, Köln und Magdeburg, mit Städten also, deren Rückstand gegenüber der Vorkriegsbevölkerungszahl auf den hohen Zerstörungsgrad zurückzuführen ist — für Berlin trifft dies bekanntlich nicht im selben Ausmaß zu.22 Nun lag ein wesentlicher Grund für den relativen Bevölkerungsrückstand Berlins in der für diese Stadt geltenden Zuzugssperre, die die Wanderungsströme an der alten Reichshauptstadt vorbeilenkte. 23 N u r die Rückkehr, nicht der Neuzuzug nach Berlin war möglich. Angesichts des sich abzeichnenden politischen und wirtschaftlichen WestOst-Gefälles zog es zudem viele Berliner nach dem Westen; die einsetzende Abwanderung neutralisierte damit einen Teil des Rückkehrerstromes. Beunruhigender als die Entwicklung der Gesamteinwohnerzahl war dabei die zu beobachtende Verschiebung in der Zusammensetzung der Berliner Bevölkerung. Der Anteil der Einwohner im erwerbsfähigen Alter (18 bis unter 65 Jahre) ging vom 71,1 Prozent im Jahre 1939 auf 65,8 Prozent im Jahre 1945 zurück und lag 1950 bei 66,6 Prozent. Dieser Rückgang war zwar, verursacht in erster Linie durch die Kriegstoten, überall zu verzeichnen. 24 Innerhalb der Gruppe der Erwerbsfähigen war jedoch der Anteil der Jüngeren (20 bis 39 Jahre) in Berlin deutlich geringer geworden als anderenorts. Er betrug hier 1950 nur noch 22,4 Prozent der Gesamtbevölkerung gegenüber 26,0 Prozent in Hamburg, 27,5 Prozent in Bremen oder 27,7 Prozent im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Dagegen lauteten die Zahlen für die Altersgruppe 40 bis 64 Jahre für West-Berlin 42,4 Prozent, für Hamburg 37,8 Prozent, für Bremen 34,6 Prozent und für die Bundesrepublik 32,2 Prozent. Ebenso deutlich läßt sich die Uberalterung Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg am Vergleich der jeweiligen Altersgruppe

22

Vgl. dazu TABELLE 4. Vgl. das Stichwort Zuzugsbeschränkung, in: Walter Krumholz, Berlin ABC. Unter Mitarbeit von Wilhelm Lutze, Oskar Krüss, Richard Höpfneru.a., hrsg. im Auftrag des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin, Berlin 1965, S. 585. 23

24

Vgl. hierzu die Ubersicht „Veränderung des Altersaufbaus der städtischen Bevölkerung 1939/46", in: Statistisches Jahrbuch... (wie Anm. 13), S. 153—155. Siehe auch das Kapitel „Bevölkerungsschicksal West-Berlins" bei K. Pritzkoleit, Berlin... (wie Anm. 1), S. 66—87.

Krieg und Kriegsfolgen

in Berlin

411

ab 65 Jahre ablesen. In Berlin war ihr Anteil von 8,8 Prozent im Jahre 1939 auf 12,6 Prozent im Jahre 1945 und auf 12,3 Prozent im Jahre 1950 angestiegen (12,4 Prozent für West-Berlin). Die entsprechenden Zahlen lauteten 1950 für Hamburg 10,9 Prozent, für Bremen 10,1 Prozent, für das Bundesgebiet 9,3 Prozent. Auch das Verhältnis der Geschlechter hatte sich in Berlin stärker als in den anderen Städten beziehungsweise im Bundesgebiet zuungunsten der Männer verschoben. 25 Eine deutliche Abweichung hatte — als Erblast aus dem Ersten Weltkrieg — schon vor dem Kriege bestanden; 1939 kamen hier auf 100 Männer 118 Frauen, während das Zahlenverhältnis im Durchschnitt der übrigen Großstädte 100 zu 112 betrug. Im Jahre 1947 aber kamen in Berlin auf 100 Männer 143 Frauen, während sich für die übrigen Großstädte das Verhältnis auf 100 zu 117 berechnete, mit Einzelwerten zwischen 100 zu 106 (für Gelsenkirchen) und 100 zu 128 (für Wuppertal). Am extremsten war das Geschlechterverhältnis in Berlin in der Altersgruppe 20 bis 39 Jahre gestaltet: hier standen im Jahr 1947 den 250000 Männern 500000 Frauen gegenüber. Die krasse Bevölkerungsdisproportion in Berlin ist Indiz für die prekäre Situation, in die die Stadt geraten war. Verlust der Hauptstadtfunktion, wirtschaftliche Demontage, politische Instabilität und fehlende Anbindung an den Aufschwung im Westen stellten die Lebensfähigkeit der Stadt infrage. Wer konnte — und das waren von ihrem Alter her vor allem die Jüngeren unter der erwerbsfähigen Bevölkerung —, verließ die Stadt. Dies um so mehr, als es selbst für die zahlenmäßig so stark geschrumpfte Bevölkerung viel zu wenig zu tun, viel zu wenig Arbeitsplätze gab. Jedoch waren die Lebens- und Uberlebensbedingungen in den Jahren bis 1948/49 auch in vielen westdeutschen Städten kritisch. 2 6 Der Rückstrom der Evakuierten und Heimkehrer und der Zustrom von Flüchtlingen überforderte die erst wieder behelfsmäßig funktionierende Stadtwirtschaft. Die Bevölkerung konnte nicht ausreichend ernährt werden und lebte in großer materieller Not. In einer teilweise noch stagnierenden Wirtschaft fehlte es an Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten. Die Arbeitslosigkeit stieg deshalb auch in den

25 Vgl. die Übersicht „Stand der Bevölkerung", in: Statistisches Jahrbuch... (wie Anm. 13), S. 103—106, hier S. 103. 26 Vgl. hierzu Bernd Klemm/Günter J. Trittel, Vor dem „ Wirtschaftswunder": Durchhruch zum Wachstum oder Lähmungskrise? Eine Auseinandersetzung mit Werner Abelshausers Interpretation der Wirtschaftsentwicklung 1945—1948, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 35 (1987), S. 571—624, insbes. S. 603 ff.

412

Christian

Engeli

TABELLE 5

Arbeitslose

1932 und 1950 in Städten

mit über 200.000

Einwohnern1

Städte2

Arbeitslose in % der in % der Einwohner Arbeitnehmer3 1932 | 1950 1932 | 1950

Berlin Lübeck Kiel Braun schweig Hamburg Kassel Bremen Hannover München Essen Nürnberg Köln Duisburg Wiesbaden Mannheim Gelsenkirchen Frankfurt/M. Bochum Wuppertal Dortmund Düsseldorf Stuttgart

13,4 16,3 13,5 12,8 12,2 11,5 14,9 12,7 10,6 12,5 14,4 11,3 14,7 12,4 12,9 11,2 11,8 12,3 13,3 14,1 11,3 10,4

13,3 10,3 8,7 6,3 5,9 4,7 4,3 3,3 2,9 2,4 2,2 2,0 1,8 1,8 1,7 1,7 1,5 1,2 1,1 1,0 0,8 0,5

30 40 36 30 28 31 33 29 23 33 30 28 37 33 30 31 28 32 32 36 28 21

27,94 (21,6) (18,2) (13,2) (12,3) ( 9,8) ( 9,0) ( 6,9) ( 6,0) ( 5,0) ( 4,6) ( 4,2) ( 3,7) ( 3,7) ( 3,5) ( 3,5) ( 3,1) ( 2,5) ( 2,3) ( 2,1) ( 1,6) ( 1,0)

1

Stichtage 31.5.1932 und 31.12.1950. Städte nach Höhe der Arbeitslosenquote 1950 geordnet. 3 Der Bezug zur Gesamtzahl der Arbeitnehmer entspricht der heute üblichen Berechnungsmethode; für 1932 Annäherungswerte aus: Arbeitsbeschaffung ... (s. u.), für 1950 Hochrechnung der Verhältniszahlen für Berlin. 4 Vgl. Am Abend der Demontage, Bremen 1951, S. 66. 2

Quelle: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden 1951; Arbeitsbeschaffung. Gemeinschaftsarbeit, Berlin 1933, S. 64.

Eine

westdeutschen Großstädten an — allerdings bei weitem nicht auf die Höhe des Berliner „Niveaus" (siehe hierzu T A B E L L E 5). Mit einem Spitzenwert von 28 Prozent lag die Arbeitslosenquote 1950 in WestBerlin nur wenig unter dem Höchstwert aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise, während sie in den westdeutschen Großstädten meistenteils unter 10 Prozent blieb, vielerorts unter 5 Prozent — dies bemerkenswerterweise auch in einigen Industriestädten des Ruhrgebiets. Die gegenüber den westdeutschen Städten größere und vor allem länger anhaltende Notlage Berlins fand ihren Niederschlag auch in der

Krieg und Kriegsfolgen in Berlin

413

Statistik der Sozialhilfeempfänger. Mit einem Anteil an Sozialunterstützten von 7,3 Prozent der Gesamtbevölkerung lag Berlin 1947 in der „Spitzengruppe"; im Durchschnitt der westdeutschen Städte betrug der Anteil 5,2 Prozent. Während er jedoch infolge des in Westdeutschland einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwungs in diesen Städten kontinuierlich sank — auf über 4,3 Prozent im Jahre 1949 auf 3,2 Prozent im Jahre 1950 —, stieg er in West-Berlin wieder an: 1948 auf 8,6 Prozent, 1949 auf 8,1 Prozent und auf 9,6 Prozent im Jahre 1950. Er lag damit in einer Größenordnung, die von keiner anderen Stadt mehr erreicht wurde. Die besonders prekäre Situation im Westteil der Stadt wird anhand der Vergleichszahlen für den Ostsektor deutlich: hier nahmen 1948, im Jahr der Blockade, nur 4 Prozent und 1949 nur 5,2 Prozent Sozialhilfe in Anspruch. 27 Die ungünstige Situation Berlins in der unmittelbaren Nachkriegszeit führte zu schichtenspezifischen Veränderungen. Der Anteil der Arbeiter an der Gesamtzahl der Beschäftigten hätte 1939 bei 52 Prozent gelegen, 1946 war er um 4 Prozent gestiegen, auf 56 Prozent. Entsprechend war der Anteil der Angestellten und Beamten gesunken: von 35,6 Prozent auf 29,5 Prozent, also um 6 Prozent. Vergleichszahlen aus den westdeutschen Städten zeigen, daß Berlin damit aus einem längerfristigen Trend in die gegenteilige Richtung ausscherte. Im Durchschnitt der westdeutschen Städte ist ein deutlicher Rückgang des Arbeiteranteils von 55,6 Prozent auf 52,3 Prozent zu verzeichnen, gleichzeitig ein Anstieg des Anteils der Angestellten und Beamten von 31,3 Prozent auf 32,9 Prozent. 28 Die Berliner Zahlen deuten darauf hin, daß der Bevölkerungsrückgang dieser Stadt vor allem die bürgerlichen Mittelschichten betraf, ein Befund, der sich durch zahlreiche weitere Indizien erhärten läßt. 29 Die Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebedürftigkeit waren Spiegelbild deranhaltenden desolaten wirtschaftlichen Lage in der Stadt. Dabei ist die Rede von West-Berlin; und es liegt auf der Hand, daß ein Großteil der Schwierigkeiten aus der Isolierung der Teilstadt herrührte. Doch

27

Vgl. Berlin in Zahlen 1948—1949, Berlin 1950 f. Berechnung nach Angaben in: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden 35 (1940), S. 257—262, und 37 (1949), S. 146—166. 29 Vgl. hierzu Harold Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Bd. 1 u. 2, Köln 1983—1985, Bd. 1: Die politische Kultur der Bevölkerung und der Neuheginn konservativer Politik, darin Kapitel 1: „Materielle und strukturelle Folgen von Krieg, Niederlage und Besetzung in Berlin nach 1945", S. 21 ff. 28

414

Christian

Engeli

galten schon für die unmittelbare Nachkriegszeit, als die Teilung noch nicht vollzogen war, für die ehemalige Reichshauptstadt besonders ungünstige Startbedingungen. Die Beschäftigungsstatistik von 1946 weist für Groß-Berlin nur noch 2,5 Millionen Erwerbspersonen (mit Angehörigen) aus, gegenüber 3,6 Millionen im Jahre 1939; dies bedeutete eine Minderung um 31 Prozent. 30 Dabei waren die Verluste in den einzelnen Zweigen unterschiedlich: geringer im öffentlichen Dienst (20 Prozent), besonders auffällig im Handel und Verkehr (40 Prozent). Dies führte in Berlin zu Verschiebungen im Anteil der einzelnen Wirtschaftsabteilungen an der Gesamtzahl der Beschäftigten (siehe hierzu TABELLE 6).

Auch in den westdeutschen Städten ergaben sich Verschiebungen. Im Durchschnitt aller Großstädte ist für 1946 ein Rückgang im Wirtschaftsbereich Industrie und Handwerk von 2,4 Prozent und im Bereich Handel und Verkehr ein solcher von 3,1 Prozent zu verzeichnen; dem steht ein Zuwachs des Bereiches öffentlicher Dienst von 3,8 Prozent gegenüber. Dieser Zuwachs existiert jedoch nur zum Schein — auch im öffentlichen Dienst waren die Beschäftigtenzahlen zurückgegangen. Die relative Zu- beziehungsweise Abnahme in den drei Hauptbereichen zueinander war lediglich eine Folge des ungleich stärkeren Beschäftigtenrückganges in Industrie und Handel. In dem Maße, wie sich die Verhältnisse normalisierten, näherten sich auch die Anteilswerte wieder den Vorkriegsverhältnissen an (siehe hierzu TABELLE 6). In Berlin war allerdings der Rückgang in der Abteilung Handel und Verkehr auch ein Reflex des Funktionsverlustes der Stadt als Wirtschaftszentrale des ehemaligen Deutschen Reiches. Bemerkenswerterweise war der öffentliche Dienst nicht im selben Maße betroffen, da die große Berliner Kommunalverwaltung fortbestand und an die Stelle der aufgelösten Reichs- und preußischen Behörden im Ostteil der Stadt neue Zentralverwaltungen traten. Stark war dagegen Berlin auch als Industriestandort in Mitleidenschaft gezogen. Neben den Kriegszerstörungen hatten umfangreiche Demontagen die Ausgangslage nach 1945 geprägt. Die der Industrie verbliebene Kapazität betrug noch etwa ein Drittel derjenigen von 1936, für West-Berlin galt sogar ein noch deutlich schlechterer Wert von 25 Prozent. 31 10

Berechnung nach A n g a b e n zu Beschäftigten nach Wirtschaftsabteilungen in:

stisches Jahrbuch 1948—1949..., "

deutscher

Gemeinden

35 (1940), S. 257—262, und in: Berlin in

S. 4 1 2 f .

Vgl. G u s t a v Wilhelm H a r m s s e n , Am Abend

tionspolitik,

StatiZahlen

Bremen 1951, S. 21 ff.

der Demontage.

Sechs Jahre

Repara-

Krieg und Kriegsfolgen

415

in Berlin

TABELLE 6

Erwerbsstruktur

1939, 1946 und 1950 in Städten mit über 200.000 Wichtigste Hauptwirtschaftsabteilungen in % Industrie/Handwerk 1939 | 1946 | 1950

Handel/Verkehr 1939 | 1946 | 1950

21,2 20,1

20.7 29,4

18,4 13,6 21,0 9,0 14.1

32.2 18,9 26.5 28.5 36.6

28,1 19.4 24.8 24.9 28.5

27.2 18,9 25.3 22,9 30,9

14.4 9,7 13.6 14,9

24.8 10,7

12,6

22,2

16,6

48,2 65,2 65,0 58,2 77.4

28.7

26,7 23.5 25,4

16,9

22.3 10,7 12,7 16,3

18,6 8,6

12,2

15,0

26,5 21.5 21.8 24.7 12.3

66,9 46,5 44.3 50,3 50,2

71.5 43,0 44,0 55.6 49,2

15.8 18.9 26,6 26,8 25,1

17,4 24,0 23.6 22.7 25,6

15.8 26,2 28.4 25,1 24,7

8,3 34.3 17.5 12.4 17.6

10,3 24,3 21,7 20.5 18,1

8,5 22,6 19,3 15,9 16,7

41,1

25.7 15.3 28,9

20.3

22.6

18,2 26,2

14.6 19.7

22,0 6,9

28.6

44,1

42,0 73,4 50,6

20.2

9,8 22.9

30.5 7.8 22,3

48,2

51,8

28,9

25,8

25,2

15,7

19,5

17,9

24,8 33.2

48.4

29.2 39,4 32,6 18.4 30.3

48,6 66,8 55,2 50.6 46.2

41.5 63.8 49.2 46.7 41.9

47.2 66,0 52.3 56,9 46,9

Hannover Duisburg Wuppertal Nürnberg Gelsenkirchen

50.0 68.1 62,5 56.7 76.9

45,9 60.3 56.2 52.4 69.5

Bochum Kiel Lübeck Mannheim Braunschweig

70,4 43,0 49,9 56.3 52.8

Wiesbaden Oberhausen Kassel

44,2 73.9 46,2

66,1

Städte über 200.000 Einwohner insgesamt

50,6

48.6 42,0 41,2 68.7 47.8

47.6 40.0 41,4

Frankfurt Dortmund Düsseldorf Stuttgart Bremen

1

Öffentlicher Dienst1 1939 | 1946 | 1950

21,7 33,2 28.7 19,9 29.6

46,2 42,2 43,2 64,5 52,4

Berlin2 Hamburg München Essen Köln

2

Einwohnern

62.1

20,2

23.6 26,6

28,8

26,1

8,0

10,0 12.7 7,3

23,8 12,0 16.4

20,2

19.2

10,2

26,8

19,4 21,4 11,1

13,4 20,6

9.6 17.4 14,9

9.7 13,9 6,2

Für 1939 und 1950 ausgewiesen als öffentlicher und privater Dienst. Zahlen von 1950 für West-Berlin.

Quelle: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden 1940, 1949, 1951.

Trotz der schwierigen Ausgangslage und der nachteiligen Strukturmerkmale in den ersten Nachkriegsjahren sollte schließlich auch Berlin am allgemeinen Aufwärtstrend teilhaben. Während die östliche Teilstadt jedoch auf natürliche Weise in den Wirtschaftsverbund der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR integriert wurde, war die westliche Teilstadt auf Hilfe aus dem Westen angewiesen, um überleben zu können. Die Luftbrücke der westlichen Alliierten als Antwort auf die Blockade im Jahre 1948 wurde zum Symbol für den politischen Willen, diese Einbindung West-Berlins in das wirtschaftliche System

416

Christian

Engeli

Westdeutschlands vorzunehmen. Im Laufe weniger Jahre gewann West-Berlin wieder Anschluß an die Entwicklung der westdeutschen Städte, wenngleich deren Vorsprung noch lange bestehenblieb und spürbar war. 32 So lag etwa 1952 die West-Berliner Industrieproduktion bei 50 Prozent des Wertes von 1936, dagegen die der westdeutschen Wirtschaft bei 130 Prozent. 33 Entscheidend aber war der Trend nach oben. Allerdings gilt bis auf den heutigen Tag, daß die Stadt ohne Ausgleichsmaßnahmen für ihre wirtschaftlichen Standortnachteile nicht lebensfähig wäre.

32 Vgl. hierzu: Die Wirtschaft Westberlins. Entwicklung — Probleme — Aufgaben (= Schriftenreihe, hrsg. v o n der Berliner Zentralbank, H e f t 2), Berlin 1950; Rudolf Heimberg, Die wirtschaftliche Entwicklung in Westberlin und in der sowjetischen Zone

Schriftenreihe, hrsg. v o n der Berliner Zentralbank, H e f t 3), 2. A u f l . , Berlin 1952, und ders., Wirtschaft und Währung Westberlins zwischen Ost und West (= Schriftenreihe, hrsg. v o n der Berliner Zentralbank, H e f t 1), Berlin-München 1950. Siehe auch zahlreiche tabellarische Ubersichten zur wirtschaftlichen Entwicklung West-Berlins in den Jahren 1 9 5 0 — 1 9 6 0 bei K. Pritzkoleit, Berlin...

(wie A n m . 1), S. 8 8 f f .

Zahlen nach R. Heimberg, Die wirtschaftliche S. 13. 33

Entwicklung...

(wie A n m . 32),

Berlin in den Plänen der Alliierten des Zweiten Weltkrieges HELMUT WAGNER Berlin

Was haben die Alliierten des Zweiten Weltkrieges mit Berlin eigentlich vorgehabt? Die Frage liegt allein schon deshalb nahe, weil es schwer vorstellbar ist, daß sie wirklich gewollt haben, was sie sich da — von heute her gesehen — „eingebrockt" haben: die Teilung der Stadt und die Insellage West-Berlins. Sind sie, als sie noch in der Kriegszeit die Weichen für die Z u k u n f t Berlins gestellt haben, von allen guten Geistern verlassen gewesen? Was haben sie sich damals gedacht? Es ist zwar anzunehmen, daß sie ursprünglich ganz andere Ziele verfolgt haben. Aber welche Pläne sie genau hatten, das ist heute, nur zweiundvierzig Jahre nach dem Ende des Krieges, den meisten schleierhaft. Es muß erst mühsam rekonstruiert werden. G o t t sei Dank sind wir nicht auf Vermutungen und Spekulationen angewiesen. Die heute zugänglichen Akten und Memoiren vermitteln bis auf ein paar „weiße Flecken" ein einigermaßen klares Bild von den unterschiedlichen Absichten, welche die Kriegsalliierten in bezug auf Berlin hatten, und davon, wie sie diese, wenn auch nur kurzfristig und deklaratorisch, von Zeit zu Zeit auf einen gemeinsamen Nenner gebracht haben. Das soll hierfür den Zeitraum von 1943 bis 1945 nachgezeichnet werden. Was daraus dann, nach der Potsdamer Konferenz vom Juli / August 1945, geworden ist, das zu verfolgen, ist hier nicht der O r t . Das ist ein anderes T h e m a , ein neues, weites Feld. Aber hinzuweisen ist an dieser Stelle doch darauf, daß alles, was während dieser Zeit, während der letzten Kriegsjahre, die Zukunft Berlins betrifft, eingebettet ist in die Nachkriegskonzeptionen der Alliierten für Deutschland und Europa. Das gilt vor allem für die Politik, welche damals in Moskau und in Washington gemacht worden ist. Die Interessen und Planungen der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten verdienen deshalb besondere Beachtung, während von den Haltungen und Erwartungen der

418

Helmut Wagner

Berliner und Deutschen abgesehen werden kann. Sie waren zu der Zeit, als die uns interessierenden Pläne geschmiedet wurden, reine Objekte; sie kamen erst später, nach der bedingungslosen Kapitulation vom 8. Mai 1945, langsam wieder ins Spiel. Es spricht insofern alles dafür, daß die alliierten Kriegspläne für Berlin als „pars pro toto" angesehen werden können: für den Versuch der Alliierten, die Geschicke Europas auf ihre Weise zu bestimmen. In dieser kurzen Darstellung, die wegen der Fülle des vorhandenen Materials nicht anders denn kursorisch ausfallen kann, soll ein Dreifaches unternommen werden. Zunächst werden, erstens, die Vereinbarungen von 1943/45 vorgestellt werden, welche den Status quo Berlins bis heute bestimmen. Sodann möchte ich, zweitens, auf einige Teilungspläne näher eingehen. Noch auf der Konferenz von Jalta, im Februar 1945 also, ist das „dismemberment" Deutschlands zum offiziellen Kriegsziel der daran beteiligten Großmächte erklärt worden; aber schon fünf Monate später, im Juli / August 1945, als es in Potsdam zum Schwüre kam, haben sie davon partout nichts mehr wissen wollen. Die neue Parole hieß: Restdeutschland und Berlin werden als Einheit betrachtet und gemeinsam verwaltet. Davon ist hier, drittens, nur ganz kurz insofern zu handeln, als zu zeigen ist, daß auch dieses Vorhaben mißlang. Das Resümee dieser Untersuchung läßt sich vielleicht am besten in die Worte fassen: Berlin, genauer gesagt, West-Berlin ist heute faktisch ein Relikt aus der Besatzungszeit, nachdem die ursprünglichen Pläne, Deutschland in mehrere Staaten zu teilen, aufgegeben worden waren und nachdem auch das Experiment, Deutschland von Berlin aus gemeinsam zu verwalten, sich als undurchführbar erwiesen hatte. Es ist dies denn auch die These dieser Abhandlung, daß die vor Kriegsende entstandenen Pläne der Alliierten für Berlin nach Kriegsende allesamt gescheitert sind. Der heutige Zustand von Berlin ist so, wie er ist, zwar von den Alliierten nicht gewollt worden, aber doch ihr Werk, für das sie nicht nur die Verantwortung tragen, sondern das ohne ihre Präsenz auch keinen Bestand hätte. Die Absurdität kommt nicht von ungefähr, sie hat ihre Gründe — und ihre Väter. I Die Berlin-Bestimmungen

der alliierten

Kriegskonferenzen

Die Vaterschaft der Alliierten für den Status quo von Berlin ist notorisch, unwiderruflich festgehalten in ihren gemeinsamen Erklärungen während der Kriegszeit. Berlin ist zwar auf keiner der großen

Berlin in den Plänen der Alliierten

419

Kriegskonferenzen ein Thema gewesen, das die „Großen Drei" besonders ausgiebig beschäftigt hat; es ist, wenn auch stets gegenwärtig, nur am Rande erwähnt worden. Aber es ließ sich natürlich nicht vermeiden, daß, wenn immer über Deutschland und Europa entschieden wurde, auch Berlin direkt und indirekt betroffen war. Wir sichten zunächst einmal, welche für Berlin relevanten Verlautbarungen es auf den drei gemeinsamen Kriegskonferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam gegeben hat. In den sehr sparsamen, ganze zwei Seiten füllenden offiziellen Erklärungen der Teheraner Konferenz vom 28. November bis 1. Dezember 1943 ist über die Zukunft Deutschlands und Berlins weder direkt noch indirekt etwas gesagt worden.1 Diese mit Spannung erwartete erste Kriegskonferenz der „Großen Drei", an welcher der amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt, der britische Premierminister Winston S. Churchill und der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der UdSSR, Marschall Joseph Wissarionowitsch Stalin, teilnahmen, hatte vor allem den Sinn, nach außen hin Einigkeit und Entschlossenheit zu demonstrieren. In diesem Sinne hieß es in der Schlußerklärung: Wir kamen voller Hoffnung und Entschlossenheit hierher. Wir scheiden von hier als echte Freunde in Geist und Ziel.2 Auf den internen Beratungen jedoch ist auf der vierten Vollsitzung am 1. Dezember 1943 kurz auch über die deutsche Frage gesprochen worden. Roosevelt erläuterte dabei, wie er sagte, um unsere Diskussion in dieser Frage anzuregen, seinen Plan einer Aufteilung Deutschlands in fünf Staaten. Churchill entwickelte seinerseits den Plan einer Zweiteilung Deutschlands in ein Restpreußen mit Berlin als Hauptstadt und in eine Donauföderation mit Wien als Zentrum. Stalin hielt sich bei dieser Diskussion merklich zurück. Als Churchill ihn direkt fragte: Zieht Marschall Stalin ein zerstückeltes Europa vor? antwortete er: Was hat Europa damit zu tun? Ich weiß nicht, ob es notwendig ist, 4, 5 oder 6 selbständige deutsche Staaten zu schaffen. Diese Frage muß erörtert werden,3 Man einigte sich darauf, alle Deutschland unmittelbar betreffenden Fragen von der einen Monat zuvor, am 30. Oktober 1943, am Ende der Moskauer Außenministerkonferenz beschlossenen Europäischen

1 Vgl. Alexander Fischer (Hrsg.), Teheran, Jalta, Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der „Großen Drei" (= Dokumente zur Außenpolitik, Bd. 1), 3. Aufl., Köln 1985, S. 89ff. 2 A. a. O., S. 90. 3 A.a.O., S. 89ff.

420

Helmut

Wagner

Beratenden Kommission (European Advisory Commission) prüfen zu lassen. Diese Kommission ist am 14. Januar 1944 zum ersten Male in London zusammengetreten. In ihr wurden eine Reihe jener Entscheidungen vorbereitet, die dann auf der zweiten Kriegskonferenz getroffen worden sind.4 Auf der Konferenz von Jalta, die vom 4. bis 11. Februar 1945 auf der Krim stattfand, stand die Behandlung Deutschlands — nun, da seine Niederlage als besiegelt galt — naturgemäß im Zentrum der Verhandlungen. Im offiziellen Kommunique vom 11. Februar hieß es nicht nur: Nazi-Deutschland ist dem Untergang geweiht; es wurde auch verkündet: Dem vereinbarten Plan entsprechend, werden die Streitkräfte der drei Mächte separate Zonen in Deutschland besetzen. Eine koordinierte Verwaltung und Kontrolle ist nach diesem Plan durch eine Zentrale Kontrollkommission vorgesehen, die sich aus den Oberbefehlshabern der 5 Mächte mit Sitz in Berlin zusammensetzt. Nicht im offiziellen Kommunique selbst, sondern im geheimen Protokoll der Krim-Konferenz war dann unmißverständlich festgehalten, was die Alliierten mit Deutschland nach der „bedingungslosen Kapitulation" vorhatten: Es wurde beschlossen, daß Art. 12a der Kapitulationsurkunde für Deutschland geändert werden und wie folgt lauten soll: „Das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden die oberste Autorität gegenüber Deutschland innehaben. In Ausübung dieser Autorität werden sie solche Schritte einschließlich der völligen Entwaffnung, Entmilitarisierung und Aufgliederung Deutschlands unternehmen, die sie für den zukünftigen Frieden und die Sicherheit für erforderlich halten." Die Untersuchung des Aufgliederungsverfahrens für Deutschland wurde einem Ausschuß übertragen .. . 6 Damit war ausgesprochen, was die Alliierten mit Deutschland zu tun gedachten, sobald der Krieg gewonnen war: Kurzfristig sollte es besetzt und kontrolliert, langfristig aber in mehrere Staaten aufgeteilt werden. Wie die Kontrolle im einzelnen ausgeübt werden sollte, also die Einrichtung von Zonen und Sektoren und die Schaffung gemeinsamer alliierter Institutionen in Berlin, darüber hat man sich in Jalta geeinigt, dagegen blieb die Frage der Auftei-

4 Vgl. Ernst Deuerlein, Die Einheit Deutschlands, Frankfurt/Main-Berlin 1961, S. 60 ff. 5 6

Vgl. A. Fischer (Hrsg.), Teheran... A.a.O., S. 191.

Bd. 1, 2., durchges. u. erw. Aufl.,

(wie Anm. 1), S. 184.

Berlin in den Plänen der

Alliierten

421

lung am Ende der Konferenz ungeklärt. Es war nicht zu erwarten, daß der gebildete „ Ausschuß für die deutsche Teilungsfrage", das Dismemberment Committee, das am 7. März zum ersten und bereits am 9. März 1945 zum zweiten und letzten Male in London zusammengetreten ist, eine für alle Seiten akzeptable Lösung finden würde, wozu sich die „Großen Drei" selbst außerstande gezeigt hatten. Die Probe kam schon fünf Monate später, als der neue amerikanische Präsident Harry S. Truman, Stalin und Churchill beziehungsweise der neue britische Premierminister Clement R. Attlee sich im Cecilienhof bei Potsdam trafen. Auf dieser letzten Kriegskonferenz erklärten die neuen „Großen Drei", daß es ihnen um die Durchführung der KrimErklärung über Deutschland gehe, aber während im Text des Abschlußkommuniques davon die Rede war, daß der deutsche Militarismus und der Nazismus ausgerottet werden würden, wurde die ja kurz zuvor ebenfalls proklamierte Aufteilung Deutschlands, das dismemberment, nicht mehr erwähnt. Statt dessen hieß es jetzt: Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven. Die Alliierten wollen dem deutschen Volk die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, in Zukunft seine Existenz auf demokratischer und friedlicher Grundlage wiederaufzubauen. Wenn die eigenen A nstrengungen des deutschen Volkes unablässig auf die Erreichung dieses Zieles gerichtet sein werden, dann wird es ihm möglich sein, im Laufe der Zeit seinen Platz unter den freien und friedlichen Völkern der Welt einzunehmen.7 Das waren ganz andere Töne, als sie noch in Jalta zu hören gewesen waren. Es hieß jetzt plötzlich kurz und bündig: Während der Besatzungszeit ist Deutschland als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten.8 Was danach, nach der Besatzungszeit geschehen werde, blieb freilich offen. Darüber hatte man sich auch in Potsdam nicht verständigen können. Von Berlin selbst war, soweit ich sehe, weder in der offiziellen Mitteilung noch im Protokoll der „Berliner Konferenz" auch nur ein einziges Mal die Rede. Es galt offenbar als selbstverständlich, daß Deutschland als Ganzes, wie es im Text hieß, von den Alliierten von Berlin aus kontrolliert und verwaltet werden sollte. Mit welchen gemischten Gefühlen die Alliierten des Zweiten Weltkrieges sich auf den Kriegskonferenzen begegneten, läßt sich aus den Tagebüchern derer entnehmen, die dabeigewesen sind. Harry Hop-

7 8

A. a. O., S. 393. A. a. O., S. 396.

422

Helmut Wagner

kins, der außenpolitische Berater des amerikanischen Präsidenten, hat die Stimmung in einem Teil von Roosevelts Umgebung nach der ersten gemeinsamen Konferenz in Teheran wie folgt beschrieben: Wir waren absolut überzeugt, den ersten großen Friedenssieg gewonnen zu haben — und wenn ich sage „ Wir", dann meine ich uns alle, die ganze zivilisierte Menschheit. Die Russen hatten bewiesen, daß sie vernünftig und weitblickend sein konnten, und weder der Präsident noch irgendeiner von uns zweifelte im geringsten daran, daß wir mit ihnen leben und friedlich auskommen könnten bis in unabsehbare Zukunft.9 Demgegenüber hat Admiral Leahy, der zur damaligen Zeit Vorsitzender der „Joint Chiefs of Staff" war und ebenfalls eng mit Roosevelt zusammengearbeitet hat, seine Meinung über die neuen Verbündeten, nämlich die Sowjets, beim Abschluß der gleichen Konferenz in dem folgenden, gegenüber Hopkins geäußerten Satz zusammengefaßt: Well, Harry, all I can say is, nice friends we have now.10 Die vorhandenen Interessengegensätze und unterschiedlichen Zielvorstellungen konnten, solange der Zweite Weltkrieg währte, verbal überbrückt werden. Danach erwies sich das schon bald als ein Ding der Unmöglichkeit. II Die alliierten

Teilungspläne

Was Deutschland und Berlin zugedacht war, das kommt am besten in den unabhängig voneinander entstandenen Plänen der Kriegsalliierten zum Ausdruck. Auf sie alle einzugehen, ist hier nicht der Ort. Um aber die Intentionen der einzelnen Mächte besser ermessen zu können, genügt es, denke ich, einige der interessantesten vorzustellen. Das Kriterium dafür ist, in welcher Weise Berlin davon direkt oder indirekt betroffen wurde. In der Literatur geistert immer noch die Vorstellung herum, daß Stalin der Urheber der Teilungspläne für Deutschland sei." Anlaß

' Robert E. Sherwood, Roosevelt und Hopkins, Hamburg 1950, S. 712f. 10 Charles E. Bohlen, Witness to History. 1929—1969, London 1973, S. 152. 11 So etwa bei E. Deuerlein, der, soweit ich sehe, die These von der Urheberschaft Stalins in die Welt gesetzt und dazu sogar noch eine eigene Kartenskizze mit dem Untertitel „Stalin — Deutschland" entworfen hat. Vgl. E. Deuerlein, Die Einheit Deutschlands... (wie Anm. 4), S. 24 ff. Vgl. auch Hermann Graml, Die Alliierten und die Teilung Deutschlands. Konflikte und Entscheidungen 1941—1948, Frankfurt/Main 1985, S. 17.

Berlin in den Plänen der

Alliierten

423

dafür ist ein Bericht des britischen Außenministers Anthony Eden, der Stalin im Dezember 1941 besuchte und von Moskau aus seinen in den Vereinigten Staaten weilenden Premierminister informierte.12 Der Plan, welcher da als von Stalin stammend ausgegeben wird, hat jedoch soviel Ähnlichkeit mit den Vorstellungen, welche Churchill selbst zu dieser Zeit entwickelte, und er steht so sehr im Widerspruch zu Stalins sonstigen Äußerungen, daß die Urheberschaft sehr zweifelhaft, mehr, daß sie überaus unwahrscheinlich erscheint. Es spricht eigentlich alles dafür, daß Stalin entweder aus vorheriger Kenntnis oder durch seine Zustimmung zu dem ihm in Moskau vorgetragenen britischen Plan den Eindruck erwecken wollte, daß er sich in Ubereinstimmung mit den Briten befand, was Eden in seiner großen Freude sofort Churchill übermittelte. Stalin hat bekanntlich auch später noch einmal, auf der Konferenz von Jalta, im Februar 1945, durch seine Unterschrift unter das Abschlußkommunique der Konferenz Anlaß zu der Annahme gegeben, daß er für die Zerstückelung Deutschlands gewesen sei.13 Diese Annahme steht jedoch nicht nur im Gegensatz zu einer Reihe von öffentlichen Erklärungen Stalins, in denen er seit dem 23. Februar 1942 wiederholt erklärt hat: Es wäre eine dumme Lüge, der Sowjetunion zu unterstellen, daß sie den deutschen Staat vernichten wolle. Solche idiotischen Ziele hat die Rote A rmee nicht und kann sie nicht haben... Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt,14 Die These ist vor allem deshalb unglaubwürdig, weil eine Aufteilung Deutschlands gar nicht ins Weltbild Stalins paßt. Weshalb Churchill sich dafür eingesetzt hat, ist klar: Er wollte auf diese Weise die Gefahr einer deutschen Hegemonie in Europa ein für allemal bannen, weil er an die heilsame Wirkung des europäischen Gleichgewichts glaubte. Von Stalin sind

Vgl. Winston S. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Bd. 1—6, Stuttgart 1950—1954, Bd. 3/2, Stuttgart 1951, S. 294. 13 Vgl. dazu insbesondere auch Foreign Relations of the United States. Diplomatie Papers. The Conferences at Malta and Yalta 1945 (= Department of State Publication, Bd. 6199), Washington 1955, S. 611—623. 14 Befehl des Volkskommissars für Verteidigung Nr. 55 vom 23. 2.1942, in: Josef W. Stalin, Uber den großen vaterländischen Krieg der Sowjetunion, 3. Ausg., Moskau 1946, S. 43—52, hier S. 49 f.; Rede des Genossen J. W. Stalin heider Unterzeichnung des Vertrags zwischen der Sowjetunion und der polnischen Republik über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit nach dem Kriege vom 21. 4. 1945, in: A. a. O., S. 205—208, hier S. 206 f.; Befehl des obersten Befehlshabers Nr. 20 vom 1. 5.1945, in: A.a. O., S. 211—216, hier S. 213 ff. 12

424

Helmut Wagner

derlei Anwandlungen nicht bekannt. Er dachte in anderen Kategorien. In seinen Zukunftsvorstellungen hatte die Teilung Deutschlands in mehrere Staaten schwerlich einen Platz. Er ist in seinen Überlegungen stets vom deutschen Volk als einer Einheit und von Berlin als seiner Hauptstadt ausgegangen.15 Relativ leicht nachzuvollziehen sind dagegen die Pläne von Winston Churchill, zumal er sie selbst ausführlich kommentiert hat. 16 Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte es schon bald nach Kriegsende zwei deutsche Staaten gegeben: einen preußischen Staat mit Berlin als Hauptstadt und eine „Donauföderation" entlang der Donau, einschließlich Badens, Württembergs, Bayerns, Österreichs und am liebsten auch Ungarns mit dem Freihafen Triest. Wenn man genauer hinsieht, erweist sich, daß es das Deutschland zwischen 1866 und 1871 war, das ihm vorschwebte, also ein Norddeutscher Bund und ein erweitertes Österreich-Ungarn, die er mit dem europäischen Gleichgewicht gerade noch für vereinbar gehalten hat. Erst später, genau: am 14. Mai 1947, hat er angesichts der sowjetischen Bedrohung Abschied vom europäischen Gleichgewichtsdenken genommen und sich zu der Einsicht durchgerungen: Except within the framework and against the background of a United Europe, this problem [the German problem] ts incapable of Solution.17 Es gibt Anlaß, noch auf einen zweiten, erst kürzlich entdeckten britischen Plan aufmerksam zu machen, der im Gegensatz zu allen anderen, die hier vorgestellt werden, kein reines Phantasieprodukt geblieben ist, sondern wirklich „Geschichte" gemacht hat. Ich meine den von Robert G. Webb 1979 in den Akten des britischen Foreign Office gefundenen „Dismemberment Plan", der etwa im März 1943 entstanden ist. 18 Im Kommentar zu diesem vom Research Department des 15

Vgl. etwa Alexander Fischer, Antifaschismus und Demokratie. Zur Deutschlandplanung der UdSSR in den Jahren 1943—1945, in: Ernst Deuerlein u. a., Potsdam und die deutsche Frage, Köln 1970, S. 6—33. — Für zweifelhaft halte ich allerdings die darin vertretene These, daß Stalin nicht nur taktisch, sondern auch strategisch immer wieder neue Ziele hinsichtlich Deutschlands verfolgt hat, gewissermaßen von einem „Schwenk" zum anderen. 16

W. S. Churchill, Der Zweite

Weltkrieg...

(wie Anm. 12), Bd. 5/2, Stuttgart 1953,

S. 46 ff. und 96 sowie S. 101, wie auch Bd. 6/1, Stuttgart 1954, S. 284 f. 17

Vgl. Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik.

streit der außenpolitischen

Konzeptionen

in den Jahren

Deutschland

im

der Besatzungsherrschaft

Wider-

1945—

1949, Neuwied-Berlin 1966, S. 153. 18

Robert G. Webb, Britain and the Future of Germany.

Dismemberment

and Reparations

British Flanning

for

German

1942—1945, Ann Arbor, Michigan 1980, S. 39 ff.

Berlin in den Plänen der

425

Alliierten

ABBILDUNG 1

Britischer Dismemberment

WORT«

Plan

(1943)

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