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German Pages 317 Year 2002
PATRICK GÖDICKE
Bereicherungsrecht und Dogmatik
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 260
Bereicherungsrecht und Dogmatik Zur Kritik an der Dogmatik der §§812 ff. BGB aus methodologischer Sicht zugleich ein Beitrag zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Von Patrick Gödicke
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gödicke, Patrick:
Bereicherungsrecht und Dogmatik : zur Kritik an der Dogmatik der §§ 812 ff. BGB aus methodologischer Sicht - zugleich ein Beitrag zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung / von Patrick Gödicke. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum bürgerlichen Recht ; Bd. 260) Zugl.: Gießen, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428- 10627-X
Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 3-428-10627-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier
entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im November 2000 abgeschlossen und im Sommersemester 2001 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-LiebigUniversität Gießen als Dissertation angenommen. Sie entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Mein erster Dank gebührt meinem verehrten akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Jan Schapp, der mich schon frühzeitig mit Dogmatik im besten Sinne dieses Wortes vertraut gemacht hat und die Arbeit stets fördernd begleitete. Die Einbeziehung in seine methodologischen Forschungen hat die Arbeit nachhaltig angeregt. Herrn Professor Dr. Günter Weick danke ich für den Zugang zur Rechtsvergleichung und die äußerst zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Der Studienstiftung des deutschen Volkes schulde ich Dank dafür, daß sie mir auch noch nach Beendigung meines Studiums einen Aufenthalt an der University of Cambridge ermöglicht hat, der die vorgelegte Untersuchung in vielen Punkten inspiriert hat. Dankbar bin ich ferner der Erwin-Stein-Stiftung zu Lahnau für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Herrn Privatdozent Dr. Wolfgang Schur möchte ich für zahlreiche anregende Gespräche danken. Für die Durchsicht des Manuskripts danke ich Frau Marlene Wallmann sowie meinem Schwiegervater. Für ihre Unterstützung möchte ich an dieser Stelle auch meiner Mutter herzlich danken. Mein innigster Dank gilt schließlich meiner Frau, die mir besonders in den letzten Phasen der Bearbeitung die nötige Kraft gegeben hat, und der ich - auch deshalb - dieses Buch widme. Gießen, im Juni 2001
Patrick Gödicke
Inhaltsverzeichnis Einführung
15
Erster Teil
Die Unüberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
23
I. Die heutige Einschätzung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
23
II. Das Spektrum der in der Kritik des Bereicherungsrechts verfolgten Ansatzpunkte
29
1. Das Defizit des gesetzlichen Regelungsinstrumentariums
30
2. Die Komplexität der mit Hilfe des Bereicherungsrechts zu korrigierenden Vermögensmehrungen
35
3. Die zweckmäßige Technik der Rechtsanwendung im Bereicherungsrecht
38
a) Der fallorientierte Ansatz
38
b) Der systemorientierte Ansatz
42
III. Der weitere Gang der Untersuchung
44
Zweiter Teil
Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
47
Erster Abschnitt Die heutige Einschätzung der Funktionen juristischer Dogmatik
I. Der Bedeutungswandel des Begriffs Dogmatik im Laufe der Jahrhunderte 1. Die dogmatische Methode als Methode der Erfahrungswissenschaften seit Plato
48
49 51
2. Die Prägung des Sprachgebrauchs durch Christian Wolff und Immanuel Kant ...
53
8
Inhaltsverzeichnis 3. Die Hinwendung der Jurisprudenz zur Praxis im 19. Jahrhundert
II. Die juristische Dogmatik aus gegenwärtiger Sicht 1. Das Bild einer pragmatischen Jurisprudenz als Bezugspunkt heutiger Dogmatik
57 60 60
a) Die Absage an unumstößliche Dogmen
62
b) Das Erbe der Interessenjurisprudenz und das Vermächtnis der Begriffsjurisprudenz
66
aa) Die Fallentscheidung als Bewertung eines Interessenkonflikts der Lebenswelt
66
bb) Das Streben nach rationaler Lenkung der Fallentscheidung
70
cc) Zur Methodenkoexistenz in der modernen Jurisprudenz
75
2. Die Gewährleistung rationaler RechtsanWendung als Anspruch an die Dogmatik
79
a) Die Ordnung des Rechtsstoffs
79
b) Die Herausarbeitung von Vorschlägen zur Auslegung und Anwendung von Normen
82
3. Die Perspektive der Rechtsprechung auf die Dogmatik III. Dogmatik und juristische Methodenlehre
85 90
Zweiter Abschnitt Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht I. Zur Beschränkung der Betrachtung auf das Zivilrecht II. Der Anspruch als Instrument der Fallösung im Zivilrecht
92 93 97
1. Die Lehre vom Anspruchsaufbau
98
2. Anspruchsnormen und Hilfsnormen
99
3. Horizontaler und vertikaler Verbund von Hilfsnormen III. Verstehen und Anwenden des Rechtssatzes 1. Das Verstehen des Rechtssatzes a) Die Situation des Interpreten als Voraussetzung des Verstehens
100 101 101 102
b) Die Begründung der Rechtsfolge durch den Tatbestand als Gegenstand des Verstehens 104 2. Das Anwenden des Rechtssatzes a) Das Aufstellen der Anspruchshypothese
107 107
Inhaltsverzeichnis b) Die Anwendung des Tatbestandsmerkmals (als Anwendung im engeren Sinne) 108 aa) Das Subsumtionsmodell der Rechtsanwendung
108
bb) Subsumtion aufgrund einfacher Wertung und Subsumtion aufgrund Abwägung von Gründen
111
IV. Auswählen, Verstehen und Anwenden von Rechtssätzen
113
Dritter Abschnitt Das Wirksamwerden der Dogmatik in den einzelnen Stufen der Rechtsfindung
I. Die Ordnungskraft der Dogmatik für das Auswählen von Rechtssätzen
115
118
1. Ordnung und System des Zivilrechts
118
2. Die Ordnung des Auswählens von Anspruchsnormen
122
a) Das rechtsfolgenorientierte System der Anspruchsinhalte
124
b) Das tatbestandsorientierte System der Rechtsverhältnisse im BGB
125
c) Das äußere System der Ansprüche
129
3. Die Ordnung des Auswählens von Hilfsnormen
131
a) Die Lehre vom Anspruchsaufbau
133
b) Die Einteilung in lebensweltlich zusammengehörige Regelungskomplexe ...
134
c) Die Voranstellung allgemeiner Regelungen
134
4. Das Entgleiten einer Ordnungskraft der Dogmatik beim Auswählen außergesetzlicher Hilfsnormen II. Die Bedeutung der Dogmatik für das Verstehen der Rechtssätze
136 140
1. Die in der Rechtsfindung zum Einsatz kommenden Techniken des Verstehens
140
a) Die zentrale Bedeutung der Einbeziehung von Falltypen und Hilfsnormen
141
b) Das Verstehen des Tatbestandsmerkmals, demonstriert am Beispiel des erlangten „etwas" i. S. d. § 8121 1 BGB
143
10
Inhaltsverzeichnis 2. Die Bedeutung der Dogmatik für die Herausbildung und Fortentwicklung von Rechtssätzen 146 a) Das Aufgreifen eines Arbeitens mit Falltypen und Hilfsnormen
147
aa) Das Herstellen von Ahnlichkeitsbeziehungen zwischen Fällen als Ausgangspunkt der Entwicklung von Rechtssätzen 147 bb) Falltyp und Hilfsnorm als unterschiedliche Entwicklungsstufen von Rechtssätzen 152 b) Der Blick der Dogmatik auf den künftigen Gang der Rechtsfindung
155
c) Zur Verbindlichkeit von Dogmatik
156
III. Zur Entwicklung von Dogmatik - „Gute" und „schlechte" Dogmatik?
159
1. Die Entwicklung von Dogmatik im Spannungsfeld deduktiver und induktiver Methoden der Rechtsfindung 159 2. Zum Scheitern von Dogmatik
162
IV. Resümee
164
Dritter Teil
Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
168
Erster Abschnitt Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
171
I. Die Reichweite einer Orientierung bereicherungsrechtlicher Systembildung an den Rechtsfolgen der bereicherungsrechtlichen Anspruchsnormen 173 1. Der primäre Inhalt bereicherungsrechtlicher Ansprüche
173
2. Die Erweiterung und Beschränkung des Inhalts bereicherungsrechtlicher Ansprüche nach §§ 818 ff. BGB 174 II. Die Ausrichtung bereicherungsrechtlicher Systembildung am Tatbestand der ungerechtfertigten Bereicherung 176 1. Zur Tragweite des Versuchs einheitlicher Anspruchsbegründung
177
a) Der Ausgleichsgedanke als oberstes Prinzip des Bereicherungsrechts?
177
b) Das ungerechtfertigte Sich-Bereichern als eigenständiger vom Recht aufgegriffener Interessenkonflikt?
181
Inhaltsverzeichnis 2. Leistung und Eingriff als Leittypen des als „ungerechtfertigte Bereicherung" erfaßten Interessenkonflikts
186
a) Bereicherung durch die Leistung eines anderen
187
b) Bereicherung in sonstiger Weise auf Kosten eines anderen
191
III. Das „Dreipersonenverhältnis" als Erweiterung der rechtlichen Perspektive auf die Bewertung mehrerer Zweipersonenverhältnisse 195 1. Dreipersonenverhältnis und Zweipersonenverhältnisse
197
2. Die Darstellungspraxis zu den Dreipersonenkonstellationen in der Literatur zum Bereicherungsrecht 198 3. Zur Nichtleistung als Interessenkonflikt - Die Dreipersonenkonstellationen und die beiden Grundtypen der Bereicherung 203 IV. Zum gesetzlichen Schuldverhältnis i.w.S. aus ungerechtfertigter Bereicherung als Quelle von Ansprüchen in Zwei- und Dreipersonenkonstellationen 207 1. Zur Vorstellung vom Schuldverhältnis i.w.S. als Quelle schuldrechtlicher Ansprüche bei gesetzlichen Schuldverhältnissen 207 2. Die inhaltliche Ausrichtung auch des Schuldverhältnisses i.w.S. der ungerechtfertigten Bereicherung an den beiden Leittypen der Bereicherung 210
Zweiter Abschnitt Die bereicherungsrechtliche Dogmatik zwischen systemorientierten und fallorientierten Ansätzen einer Konsolidierung
213
I. Die Unüberschaubarkeit des Bereicherungsrechts: Ein bloßes Darstellungsproblem? 214 II. Die Besinnung auf Grundprinzipien und Grundstrukturen des Bereicherungsrechts
217
1. Wielings Plädoyer für eine streng wissenschaftliche Darstellung des Bereicherungsrechts: Wiederbelebung wahrer Dogmatik? 217 2. Prinzipiell-systematische Rechtsfindung nach Bydlinski
219
3. Weitere Ansätze der Literatur
222
12
Inhaltsverzeichnis
III. Die Kontroverse um die bereicherungsrechtliche Dogmatik im Spannungsfeld deduktiver und induktiver Methoden der Rechtsfindung 226 1. Die Ordnungskraft der Dogmatik und die Orientierung des Bereicherungsrechts am Ideal syllogistischer Rechtsfindung 2. Abwendung vom Systemdenken im Bereicherungsrecht?
226 230
a) Fallorientierte Wertungen als Topoi der Argumentation
231
b) Bewegliches Systemdenken im Bereicherungsrecht
234
c) Bereicherungsrecht als Billigkeitsrecht
240
3. Die Öffnung der Dogmatik für eine induktive Bearbeitung des Bereicherungsrechts durch Einbeziehung fallorientierter Wertungen 241 a) Die Distanz gegenüber der alleinigen Einbeziehung fallorientierter Wertungen 241 b) Die Einbeziehung von Wertungsgesichtspunkten in eine Neuordnung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik durch Canaris 244 aa) Die Kritik von Canaris am Leistungsbegriff als dogmatischem Zentralkriterium des Bereicherungsrechts 245 bb) Der kondiktionsauslösende Mangel als neues dogmatisches Zentralkriterium des Bereicherungsrechts nach Canaris 249
Dritter Abschnitt Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden der Rechtsfindung in der Entwicklung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
255
I. Die Bedeutung systemorientierter Methoden der Rechtsfindung für die Anwendung des Bereicherungsrechts 257
II. Die Bedeutung fallorientierter Methoden der Rechtsfindung für die Entwicklung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik 259 1. Zur Schwäche einer systemorientierten Entwicklung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik 260
Inhaltsverzeichnis 2. Zur Orientierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik am Fall als Entwicklungsmoment eines Systems von Rechtssätzen 261 a) Die Fallorientierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik in der Vergangenheit 262 b) Möglichkeiten der Fallorientierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik in der Zukunft 268 aa) Zur Bedeutung der Kritik bewährter Rechtssätze für eine Fortentwicklung der Dogmatik 268 bb) Zur Ergänzung bewährter Rechtssätze durch Hilfsnormen niedrigerer Abstraktionsstufe 272 III. Resümee
278
Ausblick - Juristische Dogmatik und europäische Rechtskultur
285
Literaturverzeichnis
290
Personenregister
306
Sachregister
310
Einführung Bereicherungsrecht und Dogmatik scheinen in den zurückliegenden Jahrzehnten ein unheilvolles Bündnis eingegangen zu sein. Eine immer differenzierter agierende Kritik an dogmatischen Errungenschaften hat mittlerweile eine Unübersichtlichkeit der Materie geschaffen, die im bürgerlichen Recht weithin ihresgleichen sucht. Wird der Literatur vorgeworfen, angesichts der Vielfalt ihrer konstruktiven Ansätze kaum noch einen Minimalkonsens zu ermöglichen, muß die Rechtsprechung mit dem Tadel leben, jeden Versuch einer Systematik bereits im Ansatz zu konterkarieren, indem sie sich für zentrale Fallgruppen jede schematisierende Lösung' verbietet, um auf,Besonderheiten des einzelnen Falles' abzustellen. Der in der Ausbildung befindliche und der später praktizierende Jurist hat in der Konsequenz beträchtliche Schwierigkeiten, sich auch nur einen Überblick über dieses Rechtsgebiet zu erarbeiten, ganz zu schweigen von einer Vertiefung dieses Grundlagenwissens. In einem weitgehend kodifizierten Rechtssystem muß dieser Mangel an Orientierung für die Rechtsanwendung schwer wiegen. Geradezu im methodischen Selbstverständnis getroffen, möchte sich denn auch weder die Rechtsprechung vorwerfen lassen, zu einer bloßen Billigkeitskasuistik verkommen zu sein, noch möchte die Rechtswissenschaft ihre Ergebnisse lediglich als lebensferne akademische Spitzenleistungen qualifiziert sehen, um damit als Wegbereiter einer solchen Rechtsprechung zu erscheinen. Das Bereicherungsrecht bildet in der Konsequenz in Ausbildung und Praxis gleichermaßen ein dunkles Kapitel, obwohl es insbesondere mit der Leistungskondiktion einen ganz zentralen Baustein im Funktionsgefüge des deutschen Zivilrechts darstellt. Wie läßt sich diese Entwicklung erklären, und wo finden sich geeignete Ansätze, sie abzubremsen? Der Idee nach kommt der Dogmatik in einem Rechtssystem wie dem deutschen Zivilrecht, das auf vielen Jahrhunderten Gelehrtenrecht und insbesondere auf dem Gelehrtenrecht des 19. Jahrhunderts basiert, die durchaus positive Bedeutung einer gleichermaßen bewahrenden wie innovativen Kraft der Jurisprudenz zu. Entsprechend versteht man unter Dogmatik die (vorwiegend von der Rechtswissenschaft entwickelte) Lehre vom geltenden Recht. Kann man im Verhältnis von Bereicherungsrecht und Dogmatik aber allen Ernstes noch von einer Bereicherung des Rechts durch Dogmatik sprechen? Hat man es hier nicht inzwischen statt mit einer fruchtbaren, „guten" Dogmatik mit einer „schlechten" Dogmatik zu tun, die vor ihren zentralen Aufgaben versagt und mehr Schaden bringt als Nutzen? Das Unbehagen an den §§ 812 ff. BGB ist nicht neu. Als Motiv für einen theoretischen Ansatz zum Bereicherungsrecht hat es bereits in den Arbeiten von Fritz
16
Einführung
Schulz und Walter Wilburg mitgeschwungen.1 Schulz wandte sich in seinem „System der Rechte auf den Eingriffserwerb" gegen die traditionelle Bereicherungslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die anfänglich auch dem Verständnis der am 1. Januar 1900 in Kraft getretenen §§ 812 ff. BGB zugrunde gelegt wurde. Das Bereicherungsrecht des BGB wurde als eine Fortschreibung der durch Savigny geprägten pandektistischen Kondiktionenlehre begriffen, die in Abwendung vom kasuistischen Denken in kondiktionsrechtlichen Fallgruppen von einem allgemeinen Bereicherungsanspruch ausging, bei dem es „einzig und allein auf das ungerechtfertigte Haben der Bereicherung auf Kosten eines anderen" ankommt.2 Unter dem Einfluß von Strömungen, die man heute der finalen Handlungslehre zurechnen würde, vertrat Schulz den Standpunkt, daß nicht die rechtsgrundlose Vermögensverschiebung im Mittelpunkt des Bereicherungsrechts stehen könne, sondern nur die widerrechtliche Handlung.3 Um es mit Martinek auf einen kurzen Nenner zu bringen, stand für Schulz nicht die Widerrechtlichkeit des Habens, sondern die Widerrechtlichkeit des Nehmens im Vordergrund. So liest man bei Schulz: „Es ist ein schwerer Irrtum, Zustände, Rechte, überhaupt Erfolge von Handlungen als rechtmäßig oder rechtswidrig zu bezeichnen. Es gibt kein rechtswidriges Eigentum, es gibt nur rechtswidrige Handlungen".4 Mit dieser Umdeutung des Bereicherungsanspruchs vom Tatbestand der rechtsgrundlosen Vermögensverschiebung in einen Rechtsverletzungstatbestand war durch Schulz die Grundlage dafür gelegt, die Bereicherungsdogmatik seiner Zeit aus einer Vorstellungswelt zu befreien, die allzu einseitig an der Vermögensverschiebung der römisch-rechtlichen Leistungskondiktion ausgerichtet war. 5 ι Schulz, System der Rechte auf den Eingriffserwerb, AcP 105 (1909), 1 ff.; Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung nach österreichischem und deutschem Recht, Kritik und Aufbau. 2 Plessen, Die Grundlagen der modernen condictio, § 5 (S. 28). Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Fünfter Band, S. 507, war der Auffassung, „daß die Fälle, worin die Condictionen gelten sollen, aus einem einfachen, gemeinschaftlichen Princip abzuleiten sind, welches nur stillschweigend vorausgesetzt, nicht ausgesprochen wird". Zum weiteren Hintergrund der um die Jahrhundertwende verbreiteten Bereicherungslehre ausführlich v. Mayr, Der Bereicherungsanspruch des deutschen bürgerlichen Rechtes, §§ 1 bis 3 (S. 1 ff.) sowie §§ 10 ff. (S. 110 ff.); Krawielicki, Grundlagen des Bereicherungsrechts, S. 1 ff. Auf diese sowie weitere bedeutsame Schriften der frühen Entwicklungsperiode des Bereicherungsrechts nach §§ 812 ff. BGB kann hier nicht weiter eingegangen werden, vgl. insoweit die historische Übersicht bei Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, §§ 1 und 2 (S. 4 ff.). 3 Zur Bedeutsamkeit der finalen Handlungslehre für die heute vorwiegend im Deliktsrecht geführte Kontroverse zwischen den Lehren vom Erfolgsunrecht und vom Handlungsunrecht vgl. Jan Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 226 ff. Dort werden beide Ansätze als sich gegenseitig ergänzende Techniken der Bewertung von Handlungen im Hinblick auf den Rechtsgüterschutz begriffen. Auf das Gebiet des Leistungsstörungsrechts überträgt diesen fruchtbaren Gedanken in jüngster Zeit Schur, Leistung und Sorgfalt, dort insbesondere § 4 III 3. 4 Schulz, System der Rechte auf den Eingriffserwerb, AcP 105 (1909), 1 (438). Hierzu Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 2 I 2 (S. 25). 5 Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 2 12 (S. 26).
Einführung
Schulz dachte freilich noch nicht in den späteren Kategorien von Leistungskondiktion und Eingriffskondiktion, sondern hielt seinerseits, wenn auch mit umgekehrter Zielrichtung, an einem einheitlichen Bereicherungstatbestand fest, indem er auch die Bereicherung durch Leistung noch als einen Fall rechtswidrigen Erlangens begriff. 6 Vielleicht daher nicht als ihr wirklicher Entdecker, sicherlich aber als eigentlicher Begründer der Eingriffskondiktion kann daher erst Walter Wilburg gelten, der sich 1934 in seiner epochalen Schrift zum Bereicherungsrecht für eine strikte Trennung beider Bereicherungsansprüche ausspricht: „Daß die Klagen aus unbegründeter Leistung und aus Bereicherung ohne Leistung in ihrem Fundament zusammengehören, ist nie erwiesen worden; der offenbare Mißerfolg der Bereicherungsdogmatik spricht deutlich dagegen."7 Der Anspruch wegen Bereicherung in sonstiger Weise habe in seiner Entstehung mit den Leistungskondiktionen nichts zu tun. „Er beruht auf dem Zweck eines durch den Erwerb betroffenen Grundrechts, während die Kondiktionen aus einer verfehlten Leistung hervorgehen. Die Bereicherungsklage ist dort eine Rechtsfortwirkung, hier eine Art rechtsgeschäftlicher Anfechtung. Ohne auf die terminologische Frage besonderes Gewicht zu legen, möchte ich, um die fundamentale Verschiedenheit der Grundlagen zum Ausdruck zu bringen, dem Leistungsrückgabeanspruch die Klage wegen Bereicherung in sonstiger Weise als Rechtsfortwirkungsanspruch gegenüberstellen."8 Wilburg hatte damit die Leistungskondiktion bereits im Ausgangspunkt vom Eingriffserwerb gelöst, dessen Grundlagen er im Zweck des verkürzten absoluten Rechts (und anderer rechtlich geschützter Interessen) sah, bestimmte Güter und deren Nutzen dem Berechtigten zuzuweisen.9 Aufgegriffen und fortgeführt wurde diese Position dann 1954 durch Ernst v. Caemmerer, der in seinem berühmten Beitrag über „Bereicherung und unerlaubte Handlung" die folgenreiche These vertrat, daß im Bereicherungsrecht ebenso wie im Deliktsrecht nicht die Aufstellung allgemeiner Kriterien weiterführen könne, 10 sondern sich dem Bereicherungsanspruch „Form und Grenze" nur mittels einer Typologie von Bereicherungsansprüchen geben ließe.11 v. Caemmerer arbeitete von hier aus eine Auffächerung unterschiedlicher Kondiktionstypen aus, die er keineswegs als abschließend verstanden wissen wollte, 12 aus der sich aber vor allem eine Dreiteilung des § 812 I 1 2. Alt. BGB in 6 Als „eine der unnötigen Übersteigerungen, mit denen Fr. Schulz der Anerkennung seines Prinzips mehr geschadet als genutzt hat", bezeichnet Jakobs, Eingriffserwerb und Vermögensverschiebung, S. 155, diese Zurückführung auch der Leistungskondiktion auf ein widerrechtliches Handeln des Leistungsempfängers, auch wenn er sich der Rechtswidrigkeitslehre von Schulz vor allem mit Blick auf die Eingriffskondiktion im Grundsatz angeschlossen hat, vgl. Jakobs, S. 17 ff., 168 f. 7 Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 23. 8 Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 49. 9 Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 27 ff. 10 Seien doch schon historisch betrachtet die Einzeltatbestände auf beiden Gebieten das Ältere, vgl. v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (211 f.). h v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (213). 12 v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (251).
2 Gödicke
18
Einführung
Fälle des Eingriffs, des Rückgriffs und der Verwendung etablierte, und entsprechend die Einteilung einer allgemeinen Nichtleistungskondiktion in Eingriffskondiktion, Rückgriffskondiktion und Verwendungskondiktion. Die Werke Wilburgs und v. Caemmerers hatten für die Folgezeit eine Grundlage geschaffen, an die die weiteren Überlegungen zum Bereicherungsrecht anknüpfen konnten, die allerdings trotz aller Neuerungen, mal mehr in grundsätzlicher Hinsicht, mal mehr i m Hinblick auf Einzelfragen, nach wie vor als unbefriedigende Antworten auf die i m Bereicherungsrecht zu bewältigenden Probleme empfunden wurden. Ende der sechziger Jahre entstanden vor diesem Hintergrund eine ganze Reihe von Schriften mit dem Anliegen eines Neuansatzes zum Bereicherungsrecht. Zu nennen sind insbesondere die Abhandlungen von Batsch, Kellmann, Kaehler und Wilhelm, die heute überwiegend in den Kontext sogenannter neuer Einheitslehren zum Bereicherungsrecht gestellt werden. 1 3 Noch umfangreicher ist freilich das monographische Schrifttum, das Einzelfragen des Bereicherungsrechts immer weiter vertieft und nach griffigen Lösungsansätzen gesucht hat. Es mag genügen, insoweit auf die Problemkreise zum Leistungsbegriff, 14 zur Saldotheorie, 15 zu den Mehrpersonenverhältnissen 16 und zum Subsidiaritätsgrundsatz 17 hinzuweisen. Le13
Batsch, Vermögensverschiebung und Bereicherungsherausgabe in den Fällen unbefugten Gebrauchens bzw. Nutzens von Gegenständen; Kellmann, Grundsätze der Gewinnhaftung - Rechtsvergleichender Beitrag zum Recht der ungerechtfertigten Bereicherung; Kaehler, Bereicherungsrecht und Vindikation; Wilhelm, Rechtsverletzung und Vermögens Verschiebung als Grundlagen und Grenzen des Anspruchs aus ungerechtfertigter Bereicherung. Vgl. hierzu neben ReuterIMartinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 2 V (S. 35 ff.), auch 7. Wolf, Der Stand der Bereicherungslehre und ihre Neubegründung, S. 102 ff., sowie die aktuelle Einschätzung von Loewenheim, Bereicherungsrecht, S. 12 ff. 14 Grundlegend zum Begriff der Leistung i. S. d. § 812 BGB Kötter, AcP 153 (1954), 193 (195 ff.), und Esser, mit dem 1960 die Definition von Leistung als „zweckgerichtete bewußte Mehrung fremden Vermögens" Eingang in die Lehrbücher zum Bereicherungsrecht findet, vgl. ders., Schuldrecht, § 189, 6. (S. 779). Zur Kritik des Leistungsbegriffs vgl. insbesondere Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (857 ff.) (hierzu eingehender unten 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 3. b); Harder, JuS 1979, 76 ff.; Pinger, AcP 179 (1979), 301 ff.; Kupisch, in: Festschrift für Coing, S. 239 ff. Vgl. auch die weiteren Angaben unten 3. Teil (Fn. 162). ι 5 Grundlegend RGZ 54, 137 (141 f.). Vgl. die Auswertung der früheren Rechtsprechung durch Dießelhorst, Die Natur der Sache als außergesetzliche Rechtsquelle verfolgt an der Rechtsprechung zur Saldotheorie. Unter weiterer Einbeziehung der Literatur ferner Flume, AcP 194 (1994), 427 ff.; Koppensteiner ! Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 14 III (S. 136 ff.), sowie aus heutiger Sicht m. w. N. Esser ! Weyers, Schuldrecht I I / 2 , § 51 II 3 (S. 113 ff.). 16
Vgl. v. Caemmerer, JZ 1962, 385 ff., und darüber hinaus nur etwa Lorenz, JuS 1968, 441 ff.; Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), 799 ff.; Kupisch, Gesetzespositivismus im Bereicherungsrecht; Meyer, Der Bereicherungsausgleich in Dreiecksverhältnissen; Hassold, Zur Leistung im Dreipersonenverhältnis; Schnauder, Grundfragen zur Leistungskondiktion bei Drittbeziehungen; Schreiber, Jura 1986, 539 ff. Zur Darstellung der Mehrpersonenverhältnisse in eigenständigen Abschnitten der Lehrbuchliteratur vgl. unten 3. Teil, 1. Abschnitt, III. 2. 17 Vgl. Esser, der 1960 noch darauf abstellt, daß der Bereicherungsschuldner den Vermögensvorteil nicht durch Leistung erlangt haben dürfte, Schuldrecht, § 190, 4. (S. 785), während man später auf die Formulierung trifft, der Bereicherungsschuldner dürfe nicht „Emp-
Einführung
19
diglich angedeutet werden kann schließlich das überaus weit gedehnte Spektrum an einzelnen Aufsätzen, Urteilsanmerkungen und Lehrbüchern, in denen diese Ansätze ihrerseits unter Bezug auf in Rechtsprechung und Praxis neu auftretende Problemkonstellationen aufgegriffen und fortgedacht wurden. Das Bereicherungsrecht entwickelte sich auf diese Weise zu einer derart komplexen Materie, daß Lehre und Schrifttum zunehmend vor der Schwierigkeit standen, dieses Rechtsgebiet überhaupt noch geschlossen abhandeln zu können. Anfang der achtziger Jahre hatten sich Reuter und Martinek dieses mühevollen Anliegens angenommen, und die ambivalente Einschätzung ihres imposanten Werks bringt einen Zwiespalt zum Ausdruck, in dem die Lehre des Bereicherungsrechts auch heute noch steht, wenn sie einerseits einen Uberblick bieten möchte, andererseits aber auch nicht auf die Darstellung der vielfältigen Kritikpunkte und Korrekturen der überkommenen Dogmatik verzichten möchte.18 Neben eine kontroverse Diskussion einzelner Sachfragen, wie sie in jedem Rechtsgebiet geübt wird, hat sich im Bereicherungsrecht damit allmählich eine hiermit zwar zusammenhängende, inhaltlich aber doch andersartige Problematik geschoben. Es ist die Unübersichtlichkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik selbst, die als Problem, nämlich als Hindernis für Ausbildung und Rechtspraxis, in das Bewußtsein der wissenschaftlichen Öffentlichkeit trat. Die hierauf abzielende und seit Anfang der neunziger Jahre verstärkt vorgetragene, nicht selten bissige oder resignative Kritik beschränkt sich nun allerdings fast durchweg auf weitgehend andeutend oder bruchstückhaft bleibende Äußerungen in Einführungen zu bereicherungsrechtlichen Gesamtdarstellungen oder in Beiträgen zu einzelnen bereicherungsrechtlichen Sachfragen in Aufsätzen oder Monographi-
fänger einer Leistung gerade des Betroffenen" sein, die Vermögensmehrung dürfe also „von Seiten des Gläubigers nicht bewußt und zweckgerichtet, also nicht in Form einer Leistung geschehen sein", ders., Schuldrecht II, § 104 (S. 362 f.). Zur Kritik am Subsidiaritätsgrundsatz vgl. insbesondere Thielmann, AcP 187 (1987), 23 ff.; Canaris, JZ 1992, 1114 ff.; MüKo-Lieb, § 812 Rz. 21 f. Wallmann, Die Geltung des Subsidiaritätsgrundsatzes im Bereicherungsrecht, bemüht sich hingegen um den Nachweis, daß der Subsidiaritätsgrundsatz (in seinen unterschiedlichen Formulierungen) nach wie vor seine Geltungsberechtigung hat und ist schließlich der Auffassung, daß eine Aufgabe dieser Grundsätze gleichzeitig „eine Preisgabe der in ihnen enthaltenen Wertungen" bedeuten würde, S. 167. Vgl. auch die weiteren Angaben unten 3. Teil (Fn. 163). 18 Bezeichnend insoweit die umfangreiche Rezension von Schlechtriem, der das Werk einerseits als Ordnungs- und Darstellungsleistung und profunde Vertiefung vieler Einzelprobleme begrüßt, zugleich aber die Befürchtung erkennen läßt, daß das rund 800 Seiten starke Buch allein schon wegen seines Umfangs nur bedingt zu einer Konsolidierung des Bereicherungsrechts beitragen wird, vgl. ders., ZHR 149 (1985), 327 (343), und schärfer MiiKo-Lieb, § 812 Rz. 8a, der im Werk von Reuter ! Martinek überdeutlich gewordene „Gefahren begrifflicher Überspitzung" erkennt. Mit gleicher Stoßrichtung wie Schlechtriem auch die Kritik von Adomeit, Jura 1999, 362, an den Darstellungen von Medicus, Bürgerliches Recht, sowie von LarenzI Canaris, Schuldrecht II/2, und das Plädoyer für kürzere Lehrbücher bei Großfeld, JZ 1992, 22, und bei Wesel, NJW 1994, 2594 (2595) (hiergegen zu Recht Esser I Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 1. f), S. 33). Skeptisch Kupisch, JZ 1997, 213 (222).
2*
Einführung
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en. 19 Als eigenständige Problematik, die neben ihren materiellrechtlichen Aspekten vor allem auch grundlegende methodologische Fragen hinsichtlich des Selbstverständnisses der zivilrechtlichen Jurisprudenz aufwirft, ist die Unübersichtlichkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik bislang hingegen noch nicht eingehender untersucht worden. So sind insbesondere die Überlegungen Kniepers über das „Recht der Kondiktionen: vergebliche Versuche, Bereicherung zu rechtfertigen" sowie diejenigen Flessners über „Bewegliches System und Bereicherungsrecht" vor dem Hintergrund ihrer sehr speziellen soziologischen bzw. systemtheoretischen Ausgangspunkte vereinzelt geblieben.20 Seit langem kritisch gegenüber den Entwicklungen der modernen Bereicherungslehre eingestellt, hatte dann zwar Kupisch bereits 1978 seinen Beitrag über „Gesetzespositivismus im Bereicherungsrecht" als Bemühung um „Transparenz von Dogmatik" verstanden.21 Für den Analogiegedanken im Dreipersonenverhältnis, wie Kupisch ihn aufgeworfen hatte, hat sich die Dogmatik jedoch nicht erwärmen können, die statt dessen darauf beharrt, eine Lehre vom unmittelbar anzuwendenden Gesetzesrecht geben zu können.22 Als die ausgedehnteste Würdigung auch der methodologischen Ebene der Problematik kann heute daher im Grunde nur die Einführung über „Funktion und Systematik des Bereicherungsrechts" gelten, die Weyers seinem Lehrbuch zum Schuldrecht voranstellt. 23 Gerade weil das Bereicherungsrecht eine so unüberschaubare Materie geworden ist, kann es freilich kaum verwundern, daß man Scheu hat, sich der Problematik in einer eigenständigen Abhandlung zuzuwenden. Wer sähe sich schon gerne dem Einwand ausgesetzt, Öl ins Feuer zu gießen, mit einer eigenständigen Würdigung der Problematik den angedeuteten Mißstand also regelrecht auf die Spitze zu treiben? Berechtigt wäre eine solche Kritik freilich nur dann, wenn man erneut versuchen wollte, gewissermaßen die entscheidenden sachlichen Defizite in den bisher vorgetragenen Auffassungen zu entdecken, um auf dieser Grundlage in Teilbereichen oder im Ganzen einen weiteren materiellen Neuansatz zum Bereicherungsrecht zu entwickeln. Dieser Weg hat sich in der Vergangenheit nicht als fruchtbar erwiesen und soll hier gerade nicht verfolgt werden. 24 Wenn es den herausragend19
Vgl. im einzelnen nachfolgend, 1. Teil. 20 Vgl. Knieper, KJ 1980, 117 ff.; Flessner, in: Das Bewegliche System, S. 159 ff. 21 Dogmatik dabei „verstanden als Ökonomie begrifflicher Kürzel, mit deren Hilfe die rechtliche, also generalisierende Bewertung einer Fallkonstellation zusammengefaßt und für die Anwendung auf gleich gelagerte Fälle und Folgeprobleme praktikabel gemacht wird", vgl. Kupisch, Gesetzespositivismus im Bereicherungsrecht, Vorwort (S. 5). 22 Vgl. aus dem jüngeren Schrifttum nur etwa Wilhelm, JZ 1994, 585 (586, Fn. 11). 23 Vgl. Esserl Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 (S. 27 ff.); hierzu näher unten II. 24 Vgl. weniger die sog. neuen Einheitslehren (oben Fn. 13), als vor allem etwa die bereits ihrem Titel nach programmatische Schrift von J. Wolf, Der Stand der Bereicherungslehre und ihre Neubegründung, in der dieser dafür plädiert, die moderne Bereicherungslehre aufzugeben und durch einen von E. Wolf im Anschluß an die traditionelle Bereicherungslehre gesetzten einheitlichen Bereicherungstatbestand zu ersetzen. Vgl. J. Wolf, S. 153 ff., unter Rückgriff auf E. Wolf, Schuldrecht II, § 19 (S. 412 ff.).
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sten Protagonisten des Bereicherungsrechts bis heute nicht gelungen ist, gleichermaßen sachgerechte wie griffige Lösungsformeln für dieses Rechtsgebiet zu entwickeln, 25 ist die Suche nach solchen Antworten doch offenbar ein viel zu hoch gestecktes Ziel. Jeder, der ihr dennoch nachgeht, muß der allemal berechtigten Vermutung ins Auge sehen, nicht zu einer Konsolidierung des Bereicherungsrechts, sondern im Gegenteil zu dessen weiteren Zersplitterung beizutragen. Die vorliegende Untersuchung wählt daher einen anderen Ansatz. Es sei allerdings vorausgeschickt, daß es keineswegs das Ziel ist, die Fortsetzung der inhaltlichen Kontroversen in ihrer Bedeutung für eine Fortentwicklung des Bereicherungsrechts in Frage zu stellen. Die Arbeit greift lediglich die in vielen Stellungnahmen intuitiv mitschwingende Überlegung auf, daß eine auf Sachfragen weitgehend begrenzte Diskussion allein aus der Problematik nicht herausführen wird. Die Vergangenheit legt vielmehr nahe, daß dem Bemühen um eine stringente Ordnung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik in materiellrechtlicher Hinsicht Grenzen gesetzt sind, die auch in der Zukunft schwer zu überwinden sein werden. Die Arbeit verfolgt daher die These, daß die Aufgabe der Dogmatik weniger darin liegen kann, diese Grenzen zu überwinden, als einen rationalen Umgang mit diesen Grenzen in der Rechtsfindung zu ermöglichen. In der heutigen Diskussion werden hierzu vor allem zwei unterschiedliche Techniken der Rechtsanwendung verfolgt, nämlich ein fallorientierter (oder wertungsorientierter) Ansatz auf der einen Seite, und ein begrifflich-systematisch orientierter Ansatz auf der anderen. Soweit hierin ein Gegensatz erblickt wird, bemüht sich die Untersuchung um den Nachweis, daß ein solches Denken in methodischen Dichotomien dem heutigen Selbstverständnis einer pragmatischen Jurisprudenz nicht hinlänglich gerecht wird. Aber auch dort, wo eine Gleichberechtigung beider Ansätze konzediert wird, wird kaum hinreichend deutlich, was unter einer solchen Gleichberechtigung beider Ansätze über ihre bloße Austauschbarkeit hinaus zu verstehen ist. Die Untersuchung ist daher von der Überlegung getragen, beide Ansätze nicht nur als gleichberechtigt anzuerkennen, sondern sie darüber hinaus als unterschiedliche Antworten auf ebenso unterschiedliche Bedürfnisse des Juristen zu begreifen. Insoweit soll die These aufgeworfen werden, daß mit einem systemorientierten Ansatz in erster Linie der Rechtsanwender ins Auge gefaßt wird, der sich in einem kodifizierten Recht wie dem deutschen bürgerlichen Recht an einem System oder einem Ordnungsgefüge der Rechtssätze orientiert, während mit einem fallorientierten Ansatz in erster Linie die Dogmatik ins Auge gefaßt wird, die neue Fallkonstellationen aufgreift, um von hier aus ein bestehendes Ordnungsgefüge von Rechtssätzen fortzuentwickeln. Diese These soll zunächst eingehender entfaltet werden, indem die Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung näher untersucht wird. Dabei soll die Dogmatik allerdings, im Unterschied zu mancher Abhandlung auf diesem Gebiet, bewußt nicht als ein unbefriedigend abstrakt blei25 So, mit Blick auf die Mehrpersonenverhältnisse, die Formulierung von Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 (S. 199).
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bendes wissenschaftstheoretisches Phänomen beleuchtet werden, 26 sondern als eine Instanz, der spezifische Funktionen unmittelbar im Kontext der Rechtsanwendung zukommen. Die hierbei gewonnenen Ergebnisse sollen anschließend für die Problematik einer Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik fruchtbar gemacht werden. Dazu werden die einzelnen in der Kritik vorgetragenen Ansätze den unterschiedlichen Stufen der Rechtsfindung zugeordnet, wie sie in Auseinandersetzung mit der Dogmatik entwickelt wurden. Diese Sondierung soll es ermöglichen, die Gewichtung der einzelnen Lösungsansätze für eine Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik kritisch zu würdigen. Dabei wird sich zeigen, daß die Bedeutung des systemorientierten Ansatzes vorrangig auf der Ebene der Rechtsanwendung selbst liegt, während sich die Dogmatik, als eine der Rechtsanwendung vorgelagerte Instanz, am Fall als Entwicklungsmoment eines Systems von Rechtssätzen orientieren muß. Das bedeutet in der Konsequenz aber auch, daß sich die Bedeutung eines systemorientierten Ansatzes für die Entwicklung von Dogmatik ebenso relativiert wie andererseits die Bedeutung eines fallorientierten Ansatzes für die Rechtsanwendung. Wenn sich die Untersuchung auf eine methodologische Perspektive beschränkt, soll nun allerdings nicht behauptet werden, daß sich die Probleme im Bereicherungsrecht hiermit allein schon in den Griff bekommen ließen. Die Patentlösung für das Bereicherungsrecht kann es auch in methodologischem Gewand nicht geben. Auch kann angesichts der Weite der Problematik nicht der Anspruch erhoben werden, alle oder auch nur alle wesentlichen Facetten der komplexen Thematik voll ausgeschöpft zu haben. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn sich deutlich machen ließe, daß die Bewältigung der Probleme im Bereicherungsrecht jedenfalls auch Hand in Hand mit einer methodologisch angelegten Reflexion ihrer Ursachen erfolgen muß, wie sie in der vorliegenden Untersuchung etwas eingehender skizziert werden soll.
26 Auf einzelne neuere, vorwiegend der Rechtslogik, der Rechtstheorie oder der Rechtssoziologie nahestehende Konzeptionen juristischer Dogmatik wird daher bewußt nicht eingegangen. Für einen Überblick über die jüngere Diskussion zur Dogmatik vgl. jedoch unten 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 1.
Erster Teil
Die Uniiberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik Versuchen wir zunächst, einen etwas tieferen Einstieg in die Problematik zu gewinnen. Zu diesem Zweck soll zunächst (unter I.) ein Blick auf den Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen geworfen werden, also auf den Eindruck einer unüberschaubaren bereicherungsrechtlichen Dogmatik, wie er sich heute dem Leser bereicherungsrechtlicher Literatur und Gerichtsentscheidungen darbietet. Dem wird sich (unter II.) eine Betrachtung der denkbaren Ursachen und probaten Lösungsansätze anschließen, die innerhalb der Literatur - die Rechtsprechung hat insoweit kaum die Möglichkeit zu einer Stellungnahme - zur Überwindung dieses Mißstandes verfolgt werden. Auf dieser Grundlage soll anschließend der weitere Gang der Untersuchung in groben Umrissen skizziert werden (III.).
I. Die heutige Einschätzung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik Ein sicherlich ganz wesentlicher Vorwurf gegen die ,kaum mehr zu überschauende' Dogmatik1 richtet sich gegen eine „unübersehbare Flut" 2 der „bis ins Unangemessene explodierten" 3 Literatur und gegen das damit entstandene „dogmatische Dickicht" 4 des Bereicherungsrechts, das als Rechtsgebiet häufig bereits für sich genommen zu den schwierigsten Gegenständen des gesamten Privatrechts gezählt wird. 5 Hier sei in den letzten Jahrzehnten durch zahllose Bemühungen, dieses Ge1
Vgl. Koppensteiner ! Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 3 I (S. 7). Wieling, Bereicherungsrecht, Vorwort zur zweiten Auflage (S. VII); in gleichem Sinne Flume, AcP 199 (1999), 1; auch Kamionka, JuS 1992, 845. 3 Weitnauer, DB 1984, 2496; im Vorwort zu ihrem Lehrbuch auch Koppensteiner ! Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, S. III. 4 Kupisch, JZ 1997, 213 (222); ders., W M 1999, 2381. Ähnlich Zimmermann ! du Plessis, RLR 1994, 14 (43), die von einem „dogmatischen Labyrinth" („doctrinal maze") des deutschen Bereicherungsrechts sprechen. Von einem „Dickicht" sprach 1977 bereits Larenz im Vorwort zur 11. Aufl. seines Schuldrechts, Besonderer Teil (S. V). 2
5 Vgl. etwa LarenzI Canaris, Schuldrecht II/2, Vorwort (S. VI), und erneut speziell zu den Mehrpersonen Verhältnissen ders., § 70 (S. 199); Erman-//. P. Westermann, Vor § 812 Rz. 6 f.; sowie bereits 1977 Larenz im Vorwort zu seinem Schuldrecht, Besonderer Teil.
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1. Teil: Die Uniiberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
biet zu systematisieren und dogmatisch zu erfassen, 6 so heftig gestritten worden wie in keinem anderen Teil des Zivilrechts. 7 Die Diskussion zu den einzelnen Fragen und zahlreichen Folgeproblemen aller Dimensionen sei in der Folge bereits fast unüberblickbar geworden, es gebe nahezu nichts, was zu den zahlreichen einzelnen Sachfragen nicht vertreten würde. 8 Selbst in einer Gesamtdarstellung lasse sich die Fülle divergierender Theorieansätze und Einzelmeinungen nicht mehr referieren. 9 Das Bereicherungsrecht sei auf diese Weise als Rechtsgebiet unübersichtlich, ja chaotisch geworden, 10 es werde ein Glaubenskrieg 11 in einem Irrgarten von Lehrmeinungen12 geführt, die teils so disparat seien, daß oft nur oberflächlich von einer „herrschenden Meinung" gesprochen werden könne. Symptomatisch sei, daß in Publikationen mehrfach Gegenansichten wechselseitig der „h.M." zugeordnet würden. 13 Wie wohl in keinem anderen Rechtsgebiet des deutschen Zivilrechts sei der Boden fast an allen Ecken und Enden schwankend, wenn nicht gar grundlos, so daß es kaum übertrieben sei, von lediglich Eingeweihten zugänglichen „Mysterien" des deutschen Bereicherungsrechts zu sprechen.14 Speziell anhand der „in der Dogmatik zum Alptraum des Bereicherungsrechts gewordenen" Mehrpersonenverhältnisse habe sich eine nicht abreißende Diskussion über die Grundlagen des Bereicherungsrechts entwickelt, in der die vielschichtigen Positionen in der theoretischen Erörterung kaum noch nachzuvollziehen seien.15 So stünde man schließlich vor einem Fiasko der Lehre zum Bereicherungsrecht, 16 vor einem „hochintelligenten Scheiter6
Loewenheim, Bereicherungsrecht, 1. Teil, I (S. 3). Medicus, Schuldrecht II, Rz. 632; ders., Gesetzliche Schuldverhältnisse, § 23 II (S. 119). Zu dieser weithin geteilten Einschätzung vgl. weiter etwa KoppensteinerI Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 3 I (S. 7); Loewenheim, Bereicherungsrecht, 1. Teil, I (S. 3); Esser/Weyers, Schuldrecht II / 2, § 47 1. c) (S. 30); Erman-H. P. Westermann, Vor § 812 Rz. 6; RGRK-Heimann-Trosien, § 812 Rz. 7; im Ausgangspunkt auch Larenz! Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 70 (S. 199). 7
s Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 235 f. Ähnlich Jakobs, NJW 1992, 2524. 9 Esser/Weyers, Schuldrecht II / 2, § 47 1. f) (S. 32). Ähnlich Koppensteiner / Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, in ihrem Vorwort, die sich auf eine kurzgefaßte Bestandsaufnahme beschränken. Zum Spektrum an Literatur vgl. nur die überaus umfangreichen und dennoch nur ausschnittartigen Literaturangaben etwa bei MüKo-Lieb, § 812, vor Rz. 1; Staudinger-Lorenz, vor Vorbem zu §§ 812 if., oder Reuter /Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, S. 1 ff., 71 ff., 228 ff., 385 f. 10 Schlechtriem, ZHR 149 (1985), 327. h Ein „glaubenskriegartiger Charakter" kennzeichnet aus der Sicht Schlechtriems, 149 (1985), 327 (336), den Streit über den Leistungsbegriff. 12 Zimmermann / du Plessis, RLR 1994, 14 (43). 13 Esser/Weyers, Schuldrecht II / 2, § 47 1. f) (S. 32).
ZHR
14 Koppensteiner/ Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 3 I (S. 7). Bereits 1977 merkt Larenz an, daß es auch dem erfahrenen Juristen schwer fallen dürfe, sich in diesem Dickicht noch zurechtzufinden, vgl. Larenz, Schuldrecht II, 11. Aufl., Vorwort. 15 Schlechtriem, Schuldrecht BT, Vorwort (S. IX); Emmerich, Schuldrecht BT, § 18 Rz. 1. 16 Esser! Weyers, Schuldrecht II, 7. Aufl., § 47 1. e) (S. 421).
1. Teil: Die Uniiberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
häufen der Dogmatik", 17 einer „schlechten" Dogmatik, deren Produktion und Konsumtion nichts anderes sei als eine Fehlleitung knapper intellektueller Ressourcen. 18 Theoretischer Aufwand und sachlicher Ertrag würden sich vielfach nicht dekken. 19 In einem Resümee ausgedrückt: „Unsere Dogmatik hat sich entfaltet, ist aufgeblüht, und der Fortschritt nahm kein Ende. Jetzt sind die Artisten in der Zirkuskuppel ratlos. Wissen nicht, wie sie wieder runterkommen sollen." 20 Entsprechend sei das Bereicherungsrecht in der Lehre seit längerem zum Schrecken der Lernenden, ja zum Teil wohl sogar der Lehrenden geworden. 21 Bei Praktikern nicht weniger als bei Studierenden könnten die oft hochabstrakten Subtilitäten der bereicherungsrechtlichen Dogmatik in der monographischen und der Kommentarliteratur leicht Wut erregen. 22 Die vielschichtigen Positionen in der theoretischen Erörterung seien kaum noch nachzuvollziehen, jedenfalls im Rahmen eines Kurzlehrbuchs nicht darzustellen. 23 So fänden Studenten in Lehrbüchern viele „schwer lesbare Seiten" 24 vor und gerieten leicht in die Gefahr, die Bedeutung der Meinungsverschiedenheiten zu überschätzen, so daß selbst die Lösung einfacher Bereicherungsfälle nur noch mit unverhältnismäßigem Aufwand oder überhaupt nicht mehr gelänge.25 Selbst bei einfachen bereicherungsrechtlichen Fällen verfingen sie sich häufig hoffnungslos im Gestrüpp der Theorien. 26 Aber auch unter den Professoren herrsche Ratlosigkeit,27 die freilich „harsche Attacken gewöhnt [sind], ist es doch nachgerade zu einer Art Sport geworden, sie wegen dogmatischer Hypertrophie anzuprangern". 28 Selbst bei einer Spezialisierung im
17 Wesel, NJW 1994, 2594 (2595). 18
Kötz, in: Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, S. 75 (89). Ihm folgend, freilich unter anderen Vorzeichen, Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 238 (Fn. 252). 19 MüKo-Lieb, § 812 Rz. 8a, in Auseinandersetzung mit dem Werk von Reuter / Martinek. Auf dieser Linie 1977 bereits Larenz im Vorwort zur 11. Aufl. seines Schuldrecht II. 20 Wesel, NJW 1994, 2594 (2595). 21 Larenz! Canaris, Schuldrecht I I / 2 , Vorwort (S. VI). Das Meinungsspektrum bereits zu Beginn der achtziger Jahre fängt Knieper ein, KJ 1980, 117: „Bereicherungsrecht ist eine ärgerliche Materie. Kein Autor, der sich zu ihm äußert, versäumt, es als „verwirrend", „überzüchtet", „mysteriös" darzustellen, kaum eine gerichtliche Entscheidung ergeht, ohne daß sich nicht eine ausgedehnte Kontroverse an sie anschlösse. Beschränkungen auf technischdogmatische Informationsvermittlung versagen". 22 Martinek, NJW 1989, 1851. 23 Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 685, mit Blick insbesondere auf die Mehrpersonenverhältnisse. 24 Adomeit, Jura 1999, 362, mit Blick auf Medicus, Bürgerliches Recht, S. 497-552, und LarenzI Canaris, Schuldrecht I I / 2 , S. 127-348. 25 Medicus, Gesetzliche Schuldverhältnisse, § 23 II (S. 120). 26 Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 V I 5 (S. 252); ähnlich Kötz, in: Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, S. 75 (89). 27 Wesel, NJW 1994, 2594 (2595).
28 Canaris, NJW 1992, 3143 (3145), in seiner Erwiderung auf Jakobs, NJW 1992, 2524, und mit Blick auf Kötz, in: Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, S. 75 (89).
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1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
Kondiktionenrecht seien sie überfordert, den Schwierigkeitsgrad zu überwinden, den die Materie mittlerweile erlangt habe.29 Entsprechend findet sich einerseits mancher eindringlich Appell an die Prüfungsämter, keine Aufgaben mehr zu bereicherungsrechtlichen Mehrpersonenverhältnissen auszugeben,30 andererseits Verständnis dafür, daß das Bereicherungsrecht zu den bevorzugten Lehr- und Prüfungsthemen in der Juristenausbildung zählt 31 und die Beherrschung der bereicherungsrechtlichen Prinzipien daher zu den „unabdingbaren Voraussetzungen für den Erfolg im Staatsexamen" gerechnet werden müsse.32 Angesichts dieser Entwicklung bedürfe die Dogmatik dringend einer gewissen Beständigkeit33 und zwecks einer solchen Konsolidierung sowohl einer didaktischen Aufbereitung 34 wie auch einer methodischen Neuorientierung. 35 Es müsse das Ziél sein, dem Rechtsanwender wieder einen festen Boden unter den Füßen zu verschaffen. 36 Man müsse ein „Erbarmen mit den Jurastudenten" zeigen und von ihnen nicht länger verlangen, exakter zu sein als der Gesetzgeber, der § 812 BGB mit dem Tatbestandsmerkmal ,in sonstiger Weise' geradezu „wurstig" formuliert habe.37 Ein „Übermaß an Theorie" 38 sei zu vermeiden und im Wege einer „Schlankheitskur" 39 zu einfachen und klaren Regeln zurückzufinden, die der Praxis eine rasche und reibungslose Bewältigung der bereicherungsrechtlichen Alltagsfragen ermöglichten. 40 Studenten müßten wieder zur vernünftigen und konse29 Jakobs, NJW 1992,2524. Entschieden gegen Jakobs Martinek, NJW 1992, 3141 (3143), und äußerst zugespitzt die Bemerkung von Canaris, wonach Jakobs „wohl so etwas wie ein bereicherungsrechtliches Publikationsverbot am liebsten" sei, NJW 1992,3143 (3145). 30 Jakobs, NJW 1992, 2524. Auch Großfeld, JZ 1992, 22 (27): „Was wir nicht einfach sagen können, verstehen wir selbst nicht - sollten wir nicht prüfen !" (Kursivdruck im Original). 31 Loewenheim, Bereicherungsrecht, 1. Teil, I (S. 3). 32 So Giesen, Jura 1995, 169. 33 Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 665. 34 Vgl. Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, Vorwort (S. VI). 35 Esser! Weyers, Schuldrecht II, 7. Aufl., Vorwort (S. VI). 36 Wieling, Bereicherungsrecht, Vorwort zur zweiten Auflage (S. VII). Die Einschätzung Martineks, NJW 1998, 967, daß die Lehrbarkeit und Lernbarkeit in den letzten zehn, fünfzehn Jahren zunehmend wiedergewonnen worden wäre, ist bislang weitgehend vereinzelt geblieben (vgl. aber etwa RGRK-Heimann-Trosien, § 812 Rz. 7, der 1989 von einem „Umbruch nunmehr auch in der Rechtsprechung des höchsten Zivilgerichts" spricht). Bereits in NJW 1992, 3141 (3143), war Martinek (gegen Jakobs, NJW 1992, 2524) der Auffassung, daß dem Eindruck einer Regellosigkeit dieser Materie widersprochen werden müsse, weil sich „in den letzten Jahrzehnten [ . . . ] bemerkenswerte Klärungsprozesse vollzogen [haben], die bereits zu einem Fundus von weithin konsentierten und „beherrschbaren" Rechtsregeln geführt" hätten. Selbst sehr viel skeptischer noch hingegen, nur kurze Zeit vorher, Martinek, NJW 1989,1851. 37 Adomeit, Jura 1999, 362. 38 Medicus, Gesetzliche Schuldverhältnisse, § 23 II (S. 120). 39 Kupisch, JZ 1997, 213 (222). 40 So König in seinem überaus fundierten Reformvorschlag zu den §§ 812 ff. BGB, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band II, 1515 (1519). Auf
1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
quenten Lösung von Fällen gelangen,41 und ihre Fähigkeit zum selbständigen Lösen bereicherungsrechtlicher Fälle im klassischen Subsumtionsweg müsse gefördert werden. 42 Ob „bei der generellen Unfähigkeit zur Konsensbildung in diesem Rechtsgebiet ein fester Boden überhaupt geschaffen werden kann", wird freilich in Frage gestellt.43 Neben dem bereicherungsrechtlichen Schrifttum sieht sich dann aber auch die Rechtsprechung der Kritik ausgesetzt.44 Der gegenwärtige Stand der bereicherungsrechtlichen Rechtsprechung des BGH speziell zu den Mehrpersonen Verhältnissen erwecke nicht nur in der Rechtspraxis ein breites Unbehagen.45 Seit langem ist der für diesen Ausschnitt des Bereicherungsrechts eingeführte und immer wieder betonte Gedanke des BGH, daß sich „bei der bereicherungsrechtlichen Behandlung von Vorgängen, an denen mehr als zwei Personen beteiligt sind, jede schematische Lösung verbietet" und stattdessen „in erster Linie die Besonderheiten des einzelnen Falles für die sachgerechte bereicherungsrechtliche Abwicklung zu beachten" seien,46 zu einem ambivalenten Gegenstand der Kritik geworden. So ist man einerseits geneigt, Verständnis dafür aufzubringen, daß der Richter mit einer solchen Formulierung gleichsam einen „Befreiungsschlag" führt, um sich „unter der dogmatischen Überlast Luft zum Atmen zu verschaffen". 47 Die ausgeklügelten Theorien seien allzu weit von der juristischen Praxis entfernt, für deren Aufgaben sie eigentlich entwickelt seien,48 so daß es geradezu naheliegend sei, daß die Rechtsprechung „eine Lehre einfach unbeachtet läßt, die ihre Erkenntnisse von gestern schon heute widerruft". 49 Die ablehnende Haltung der Rechtsprechung bedieser Linie auch Weitnauer, DB 1984, 2496; Jakobs, NJW 1992, 2524 (2529); StaudingerLorenz, Vorbem zu §§ 812 ff. Rz. 5. Eindringlich zur Vereinfachung ruft Wesel auf, NJW 1994, 2594 (2595); zustimmend Adomeit, Jura 1999, 362. 41 Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 665. 42 Martinek, NJW 1998, 967. 43 So Schnauder, JuS 1999, LXII (LXV), in seiner Besprechung der Neuauflage von Wieling, Bereicherungsrecht. Knieper, KJ 1980, 117, hält es gar für vergeblich, auch nur den Versuch zu unternehmen, „die Ergebnisse der Konkurrenz von Privateigentümern nach Kriterien materieller Richtigkeit, gewissermaßen ex ante, zu bewerten". 44 Aus der Sicht von Medicus spielt das Bereicherungsrecht freilich in der Rechtsprechung nur eine untergeordnete Rolle, vgl. Gesetzliche Schuldverhältnisse, § 23 I I (S. 119), während Wieling gleichermaßen von der „unübersehbaren Flut der Literatur und Rechtsprechung zum Bereicherungsrecht" spricht, vgl. ders., Bereicherungsrecht, Vorwort zur zweiten Auflage (S. VII). Die praktische Bedeutung des Bereicherungsrechts betonen auch Loewenheim, Bereicherungsrecht, 1. Teil, I (S. 3), und bereits Weitnauer, DB 1984, 2496, sowie, angesichts der Arbeitsteiligkeit der modernen Wirtschaft speziell für die Mehrpersonenverhältnisse, auch Larenz! Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 70 (S. 199). 4 5 Schnauder, JuS 1994, 537. 4 6 Vgl. etwa aus der jüngsten Rechtsprechung BGH NJW 1999, 1393 (1394), sowie mit umfangreichen Nachweisen Β GHZ 105, 365 (368 f.). 4
? Kötz, in: Rechtsdogmatik und Rechtspolitik (1992), S. 75 (88). « Zimmermann!du Plessis, RLR 1994, 14 (43). 49 Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 665.
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1. Teil: Die Uniiberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
deute somit im Grunde nichts anderes als eine „Bankrotterklärung der Rechtswissenschaft". 50 Andererseits besteht aber doch weitgehend Skepsis, ob auf diese einzelfallorientierte Weise der Entscheidungsfindung nicht „dem Verzicht auf die juristischen Handwerksregeln normgebundenen Entscheidens das Wort geredet oder dem Bereicherungsrecht die Rolle eines amorphen (gar,höheren 4, mängelkorrigierenden) allgemeinen Billigkeitsrechts für alle Fälle von Vermögensverschiebungen zugeschrieben" wird. 51 Gerade ein solches Vorgehen mache die Behandlung des Bereicherungsrechts unübersichtlich und unwissenschaftlich. 52 Genährt wird das Mißtrauen gegenüber dem BGH durch das Gericht selbst, dessen verschiedene Senate wiederholt zum Ausdruck gebracht haben, daß die Bereicherungsansprüche dem Billigkeitsrecht angehören und daher in besonderem Maße unter den Grundsätzen von Treu und Glauben stünden.53 Das Bereicherungsrecht gebiete daher „in besonderem Maße eine wirtschaftliche und nicht rechtsformale Betrachtungsweise", denn es sei „bestimmt, »das Endziel des (objektiven) Vermögensrechts«, eine gerechte und billige Regelung der Vermögensverhältnisse, gerade zu verwirklichen, wenn Gründe der Rechtslogik oder andere Umstände zunächst zu einem anderen Ergebnis geführt haben".54 Angesichts dieser Vielzahl sich teilweise gegenseitig kreuzender Vorwürfe überrascht die häufig im gleichen Atemzug gemachte Feststellung, daß man sich bei allen Kontroversen über die Ergebnisse im Bereicherungsrecht doch weitgehend einig ist. 55 Ein Trostpflaster für den Rechtsanwender kann dies freilich kaum sein. Vielmehr ist für ihn von zentralem Interesse, auf welchem Weg er - allemal in der Ausbildungsphase - zu seinem Ergebnis gelangt, und damit die Auswahl und die Anwendung einer Anspruchsgrundlage mit ihren einzelnen Tatbestandsmerkmalen. Das Beschwören einer Einigkeit über die Ergebnisse kann die hier angestellte Untersuchung daher nicht überflüssig machen, sondern unterstreicht im Gegenteil die These, daß es gerade die Art und Weise der Entscheidungsfindung ist, die im Bereicherungsrecht einer eingehenderen methodologischen Reflexion bedarf. Wie unterschiedlich der Weg der Entscheidungsfindung dabei sein kann, ist in den vorgenannten Stellungnahmen bereits angeklungen. Die beiden sich hier abzeichnenden 50
Wieling, Bereicherungsrecht, Vorwort zur ersten Auflage (S. IX). So die im Ergebnis dann jedoch deutlich relativierende Überlegung von Esserl Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 1. f) (S. 33). An den Begriff des Schemas in einem wörtlichen Sinne (von Gestalt, Figur) knüpft Flume seine versöhnlicheren Überlegungen zur Rechtsprechung des BGH an, AcP 199 (1999), 1 (36 f.) (dazu unten 3. Teil, 2. Abschnitt, II. 3.). 52 Wieling, Bereicherungsrecht, Vorwort zur ersten Auflage (S. IX). 53 Vgl. BGH NJW 1997, 2381 (2383); BGHZ 132, 198 (215); BGH WM 1993, 1765 (1767); BGHZ 111, 308 (312); 36, 232 (234 f.). 54 BGHZ 36, 232 (234 f.). Nach wie vor explizit auf dieser Linie BGHZ 132, 198 (215). 55 Vgl. etwa Esserl Weyers, Schuldrecht II / 2, § 47 1. c) (S. 28), § 47 1. f) (S. 33 f.); Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 665; ders., Schuldrecht II, Rz. 632; Köiz, in: Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, S. 75 (88). Mit Blick auf die Konstanz der Ergebnisse der Rechtsprechung trotz wechselnder dogmatischer Begründung König, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band II, 1515 (1519).
1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
Hauptströmungen lassen sich in eine der Rechtsprechung nahestehende konkretfallorientierte Linie der Begründung einerseits und in eine begrifflich-systematisch orientierte Linie der Begründung andererseits einteilen, oder, wie Wilhelm formuliert hat, in eine „Fallrechts-Linie" und eine „normgebundene Linie". 5 6 Ob hierin ein Gegensatz liegt oder ob beiden Richtungen ihr spezifischer Wert für die Rechtsfindung zukommt und sie daher der Vermittlung bedürfen, wird im einzelnen noch näher zu untersuchen sein. Das darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß beide Linien, indem sie gleichermaßen den Anspruch erheben, eine probate Technik der Rechtsanwendung im Bereicherungsrecht darzustellen, nicht mehr nach den Ursachen des heutigen Mißstandes fragen, sondern bereits zu dessen Uberwindung schreiten. Diese Ansätze sollen daher erst am Ende dieses ersten Teils etwas ausführlicher zur Darstellung gebracht werden, während zuvor der Frage nach den denkbaren Ursachen nachgegangen werden soll, ohne deren Reflexion jeder Lösungsansatz unzulänglich bleiben muß.
II. Das Spektrum der in der Kritik des Bereicherungsrechts verfolgten Ansatzpunkte Innerhalb der denkbaren Ursachen für die geschilderte Entwicklung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik sind es im wesentlichen zwei Gesichtspunkte, die, mit unterschiedlicher Akzentuierung im einzelnen, in den meisten Stellungnahmen angesprochen werden oder doch zumindest mitschwingen, und auf die sich die Überlegungen hier denn auch konzentrieren. So kann man zunächst die §§ 812 ff. BGB selbst und damit das recht dürftig gebliebene Gefüge an gesetzlichen Rechtssätzen betrachten, das dem Rechtsanwender zur Bewältigung bereicherungsrechtlicher Fallkonstellationen genügen muß, und an das die bereicherungsrechtliche Dogmatik anknüpft (1.). Von dieser schmalen Perspektive aus richtet sich der Blick dann auf die außerordentliche Weite zivilrechtlicher Sachverhalte, in denen das Bereicherungsrecht als Korrekturinstanz rechtsgrundloser Vermögensmehrungen eingreift (unter 2.). 57 Wie sich dieser spärliche normative Befund mit den komplexen materiellrechtlichen Anforderungen in der Rechtsanwendung vereinbaren läßt, wird methodologisch schließlich zur Frage nach der probaten Technik der Rechtsanwendung und entsprechend der Stoffdarstellung im Bereicherungsrecht. Hier wird auf die angedeuteten unterschiedlichen Ansätze zur Rechtsanwendung zurückzukommen sein (3.). 56 Wilhelm, JZ 1994, 585 (590). Von der Heranziehung der §§ 812 ff. BGB in anderen Rechtsgebieten, etwa auf dem Gebiet der Leistungsverwaltung, wird in dieser Arbeit abgesehen, weil die anders gelagerte Dogmatik dieser Rechtsgebiete auch einen anders gelagerten Zugriff auf die Dogmatik der §§ 812 ff. BGB erforderlich macht, der zur Bearbeitung des Themas für das Zivilrecht wenig ergiebig wäre. Zu diesem Gedankenkreis aus öffentlich-rechtlicher Perspektive mit Blick auf die Vorschriften der Rechtsgeschäftslehre und des Allgemeinen Schuldrechts vgl. in jüngster Zeit de Wall, Die Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht. 57
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1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
1. Das Defizit des gesetzlichen Regelungsinstrumentariums Geradezu augenfällig ist das spärlich ausgefallene Regelungsinstrumentarium im Bereicherungsrecht, das man mit einer einzigen Doppelseite im Gesetz aufschlagen kann. So versucht das BGB im vorletzten Titel des Abschnitts „Einzelne Schuldverhältnisse", die Ungerechtfertigte Bereicherung in den wenigen Vorschriften der §§ 812 bis 822 BGB zu erfassen, bevor sich hieran das (immerhin gut dreimal so umfangreiche) Deliktsrecht in den §§ 823 bis 852 BGB anfügt, mit dem dann der Siebente Abschnitt und damit zugleich auch das gesamte Zweite Buch des BGB abgeschlossen wird. Wirft man einen ersten Blick auf diese elf Paragraphen, so findet der Rechtsanwender - dem Wortlaut nach - zunächst in dem gleich zu Beginn stehenden § 812 BGB, genauer in den beiden in § 812 I 1 BGB genannten Alternativen, Anspruchsgrundlagen für den Fall der Bereicherung „durch die Leistung eines anderen" sowie für die Bereicherung „in sonstiger Weise". Die sich anschließenden Regelungen der §§ 812 ff. BGB enthalten dann einige Ergänzungen, die sich in Gestalt von Hilfsnormen oder spezielleren Anspruchsgrundlagen inhaltlich bald auf die eine, bald auf die andere, oder gar auf beide Alternativen des § 812 I 1 BGB gemeinsam zu beziehen scheinen. Ist die gesetzliche Regelung damit aber nicht doch facettenreicher als weithin angenommen? Die Frage läßt sich im Grunde nur beantworten, wenn man sich die Aufgliederung der §§ 812 ff. BGB etwas eingehender vor Augen führt. Die hier vorzunehmenden Einteilungen werden allerdings schon bald unsicher. Die Zweifel beginnen bekanntlich bereits bei der Frage, in welchem Verhältnis die beiden in § 812 I 1 BGB genannten Alternativen und damit die Eckpfeiler des Bereicherungsrechts zueinander stehen. Man wird diese Frage, die schon die Redaktoren des BGB bewegte, auch heute kaum als erledigt betrachten können.58 Entsprechend zurückhaltend ist denn auch die Terminologie, mit der man beide Bereicherungsansprüche zu bezeichnen und abzugrenzen versucht. So läßt der Begriff der Leistungskondiktion schon sprachlich die in § 812 I 1 1. Alt. BGB ins Auge gefaßten Sachverhalte kaum anschaulich werden. Deutlicher ist der auch heute noch gängige, einer römischen Klageart entlehnte Begriff der condictio indebiti, der mit dem Gedanken der Rückforderung eines indebitum (also eines Nichtgeschuldeten) immerhin die den § 812 I 1 1. Alt. BGB kennzeichnende Nähe zum Vertragsgeschehen herstellt. 59 Völlig farblos bleibt hingegen die Terminologie zu § 812 I 1 2. Alt. BGB. So greift der Begriff einer condictio sine causa mit dem Begriff der fehlenden causa lediglich die auch für die Leistungskondiktion ja nun 58 Zur Aktualität der Problematik vgl. etwa MüKo-Lieb, § 812 Rz. 1 ff. 59 Nach F. Schwarz konnte eine Gliederung nach Tatbeständen, wie sie dem Begriff der condictio indebiti zugrunde liegt, bei der Darstellung des Kondiktionenrechts für die Klassiker nur didaktischen Wert gehabt haben. Ausgehend vom prozessual geprägten Begriff der condictio für eine Klageformel sei es unwahrscheinlich, daß den einzelnen typischen Anwendungsfällen auch gleichsam verschiedene Klagerubriken zugeschoben gewesen seien. Vgl. F. Schwarz, Die Grundlage der condictio im klassischen römischen Recht, § 7 (S. 46).
1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
keineswegs unwesentliche Ebene der Rechtsgrundlosigkeit auf. Daher vermag dieser Begriff kaum noch den hier in den Blick genommenen Sachverhalten nähere Kontur zu verleihen. 60 Während mit diesem Begriff aber wenigstens noch der Versuch einer positiven Inhaltsbeschreibung unternommen wird, erhebt schließlich der Begriff der „Nichtleistungskondiktion" nur noch die bloße Andersartigkeit gegenüber der ersten Alternative zum Wesensmerkmal der zweiten. Damit wird jetzt - freilich in Anknüpfung an den keineswegs glücklicheren Gesetzeswortlaut („in sonstiger Weise") - nur noch negativ zum Ausdruck gebracht, auf welche Konstellationen sich die Vorschrift gerade nicht bezieht, während das Gesetz zu seinem eigentlichen Anwendungsbereich schweigt. Uber die Frage, inwieweit man in § 812 I 1 2. Alt. BGB denn auch nur einen Auffangtatbestand oder aber eine (in der Formulierung zu weit geratene) Zusammenfassung einzelner Fallgruppen sehen soll, und wie weit die Andersartigkeit beider Alternativen tatsächlich reicht, ist denn auch unter vielen Blickwinkeln seit Inkrafttreten des BGB heftig diskutiert worden. 61 Blickt man nun von der zentralen Ausgangsnorm des § 812 I 1 BGB auf die übrigen Vorschriften des Vierundzwanzigsten Titels, so läßt sich entsprechend der Frage, welche Alternative hier den eigentlichen Kern der Bereicherungsansprüche ausmacht, auch für alle weiteren Einteilungen der §§ 812 ff. BGB fragen, inwieweit man sie als eigenständige Regelungen begreift oder als Anknüpfungen an § 812 I 1 BGB. So werden die in der nachfolgenden Regelung des § 812 I 2 BGB alternativ erfaßten Fallkonstellationen der condictio ob causam finitam und der condictio ob rem überwiegend als eigenständige Kondiktionstypen aufgefaßt, obwohl diese Vorschriften dem Wortlaut nach nur Ergänzungen („Diese Verpflichtung besteht auch dann, wenn ...") zum Tatbestandsmerkmal „ohne rechtlichen Grund" des § 812 I 1 BGB zu treffen scheinen. Dann scheinen beide Alternativen sich auch in unterschiedlicher Weite auf § 812 I 1 BGB zu beziehen. Während § 812 I 2 1. Alt. BGB lediglich eine Modifikation des Fehlens des Rechtsgrundes behandelt und sich folglich offenbar auf beide Alternativen von Satz 1 bezieht, steht § 812 I 2 2. Alt. BGB allem Anschein nach nur im Kontext der Leistungskondiktion des § 812 11 1. Alt. BGB. Allein die Abgrenzung der vier Alternativen des § 812 I BGB wirft somit bereits eine Vielzahl an Auslegungsfragen auf. Geht man in der Betrachtung der nachfol60 In seinem Teilentwurf zum 1. Entwurf des BGB griff v. Kübel den Begriff der condictio sine causa auf, um Fälle einer Bereicherung zu beschreiben, die ohne willentliches Zutun des Bereicherungsgläubigers erfolgten. So heißt es dort in § 27: „Derjenige, aus dessen Vermögen ohne seinen Willen Etwas in das Vermögen eines Anderen gekommen ist, kann, wenn ein rechtlicher Grund hierzu von Anfang an nicht vorhanden war oder derselbe später weggefallen ist, die Rückerstattung von Letzterem fordern." Vgl. v. Kübel, in: Recht der Schuldverhältnisse, Teil 3, BT II, S. 659, und hierzu Schubert, SZ RA 92 (1975), 186 (226 ff.), sowie zur Verwendung des Begriffs in den weiteren Entwurfsarbeiten Mot. I I (S. 851 ff.). 61 Zu der erst von Wilburg begründeten Trennungslehre sowie zu den älteren und neueren Einheitslehren vgl. oben, Einführung.
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1. Teil: Die Uniiberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
genden Vorschriften weiter, stellen sich ähnliche Fragen stets von neuem. So scheinen die §§ 812 II, 813 II, 814, 815, 817 BGB Hilfsnormen in Nähe zur Leistungskondiktion aufzustellen, § 813 I BGB hingegen ähnlich der Formulierung des § 812 I 2 BGB eine mit der Leistungskondiktion verwandte Anspruchsgrundlage, während § 816 I 1, 2 und II BGB Anspruchsgrundlagen in Nähe zur Nichtleistungskondiktion aufzustellen scheint. Die §§ 818 bis 822 BGB scheinen hingegen schließlich Umfang und Reichweite der Haftung für alle Bereicherungsansprüche gleichermaßen ins Auge zu fassen. Scheint das Spektrum an bereicherungsrechtlichen Vorschriften im Gesetz demzufolge doch größer zu sein als auf den ersten Blick angenommen, so relativiert sich die Bedeutung der meisten dieser Vorschriften nun aber beträchtlich, wenn man ihre praktische Relevanz für Rechtsprechung und Ausbildung betrachtet. Hier ist es die Leistungskondiktion nach § 812 I 1 1. Alt. BGB, die als Anspruchsgrundlage völlig unangefochten und in vorderster Reihe den zentralen Platz einnimmt. 62 Im Vergleich zu ihr kommt der Nichtleistungskondiktion gem. § 812 I 1 2. Alt. BGB ein weitaus minderer Rang zu, der ihr zudem von ihren Spezialfällen in § 816 I 1 BGB und § 816 II BGB ernsthaft streitig gemacht wird. 63 Die übrigen Vorschriften der §§ 812 bis 817 BGB spielen dann eine noch weniger bedeutende Rolle, mit Ausnahme von § 817 BGB, dessen häufige Anwendung zumindest in der Rechtsprechung deutlich heraussticht. Innerhalb der für die Rechtsfolgenseite dann oftmals heranzuziehenden Vorschriften der §§ 818 bis 822 BGB ist es dann vorwiegend § 818 BGB, dem eine gesteigerte Bedeutung zukommt. Man kann dies leicht mit dem großen Einfluß dieser Vorschrift auf das wirtschaftliche Ergebnis der Anspruchserhebung erklären. Während insoweit § 818 II BGB den Verlust des herauszugebenden Vermögensvorteils beim Bereicherungsschuldner durch das potentielle Umstellen jedes Bereicherungsanspruchs auf Wertersatz zunächst einmal nivelliert, bringt § 818 I BGB durch Einbeziehung der Nutzungen und sonstigen Ersatzvorteile in die Herausgabepflicht eine wirtschaftlich häufig ganz entscheidende Erweiterung des Anspruchs. Umgekehrt markiert § 818 III BGB dann mit der Frage nach einer fortwährenden Bereicherung des Anspruchsgegners eine Begrenzungslinie, die zugunsten des Bereicherungsgläubigers erst unter den besonderen Voraussetzungen des § 818 IV BGB (bzw. der §§ 819 bis 821 BGB sowie des § 822 BGB) wieder überwunden werden kann. 62 Soweit dies überhaupt einer Erwähnung bedürftig geachtet wird vgl. etwa Esserl Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 3. a) (S. 34 f.); Larenz! Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 67 2. a) (S. 129); Loewenheim, Bereicherungsrecht, 1. Teil, IV (S. 7 f.); Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, Rz. 2, 6 f. 63 Zu dieser Deutung des Spezialitätsverhältnisses Reuter I Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 8, sowie insbesondere zu § 816 I 1 BGB als Spezialfall der Eingriffskondiktion dies., § 8 I 1 (S. 282 ff.), unter Einbeziehung auch der Gegenauffassung, wonach § 816 I 1 BGB eine eigentlich gegenüber dem Erwerber begründete Eingriffskondiktion auf den Verfügenden als Kondiktionsschuldner überleiten soll. Vgl. insoweit MüKo-Lieb, § 816 Rz. 1 ff., mit Hinweis auf die entsprechenden Auswirkungen hinsichtlich der Einschätzung des Subsidiaritätsgrundsatzes .
1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
Damit beschränken sich die bereicherungsrechtlichen Anspruchsgrundlagen nun aber im wesentlichen auf den § 812 I 1 1. Alt. BGB einerseits und auf die ungleich weniger durchschlagenden - §§ 812 I 1 2. Alt., 816 I 1, 816 II BGB andererseits. Die zentrale Anspruchsgrundlage des § 812 I 1 1. Alt. BGB erlangt dabei allerdings nicht einmal ansatzweise den hohen Grad an Anschaulichkeit, mit der in § 823 I BGB als zentraler Anspruchsnorm des Deliktsrechts einzelne Lebenssachverhalte geradezu naturalistisch abgezeichnet werden. 64 Gegenüber den bereicherungsrechtlichen Anspruchsgrundlagen sind dann praktisch nur die Vorschriften des § 818 BGB von gesteigerter Bedeutung. Dabei handelt es sich allerdings lediglich um gesetzliche Hilfsnormen auf der Rechtsfolgenseite, während der Rechtsanwender auf der Tatbestandsseite - von dem Spezialfall des § 817 BGB einmal abgesehen - im Grunde keine nennenswerten gesetzlichen Hilfsnormen vorfindet. Damit fällt das Fazit einer Betrachtung des bereicherungsrechtlichen Normapparats außerordentlich unbefriedigend aus.65 Der Sache nach wird der Rechtsanwender bei einer vagen Anspruchsgrundlage ausgesetzt und bleibt von nun an sich selbst überlassen. Was beinhaltet „etwas [ . . . ] erlangt"? Was bedeutet „Leistung"? Wann erfolgt eine Bereicherung „ohne rechtlichen Grund"? Auf welchen Satzteil bezieht sich „auf dessen Kosten"? In welchem Verhältnis steht das Tatbestandsmerkmal „etwas [ . . . ] erlangt" zu § 818 III BGB (etwa in Fällen der Aufwendungsersparnis)? Blickt man umgekehrt nicht auf das Gesetz, sondern auf die in den einzelnen Sachverhalten anstehenden Interessenbewertungen, so läßt sich das Problem auch in die Frage umkehren, in welchen Tatbestandsmerkmalen die einzelnen Ebenen der Fallbewertung sinnvollerweise anzusiedeln sind. So muß man sich etwa in Mehrpersonenverhältnissen durchgängig fragen, wie sich der Personenkreis abgrenzen läßt, der als Bereicherungsgläubiger, Bereicherungsschuldner und außenstehender Dritter in Frage kommt. 66 Bestimmt sich dies anhand des Merkmals „Leistung"? Oder anhand des Merkmals „in sonstiger Weise"? Oder ist das Merkmal „auf dessen Kosten" entscheidend? In diesem Fragenkreis haben sich bekanntlich die beharrlichsten Diskussionen zum Bereicherungsrecht herausgebildet, Stichworte wie „Leistungsbegriff 4 und „Subsidiaritätsgrundsatz" mögen als Hinweis genügen. Hier spricht es für sich, wenn man beide Begriffe heute längst nicht mehr als Bezeichnungen abschließend zu verstehender oder auch nur konsi64 Ob diese Plastizität im Bereicherungsrecht überhaupt erreicht werden kann, mag man freilich stark bezweifeln. Nach Esserl Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 3. a) (S. 35 mit Fn. 34), bildet § 812 11 2. Alt. BGB aus bewußten rechtspolitischen Gründen eine offene Restkategorie, um jede ungerechtfertigte Bereicherung unabhängig von ihrem Zustandekommen abzuschöpfen, während das Deliktsrecht die Haftung auf die genaue Verwirklichung der Deliktstatbestände beschränken wolle. Vgl. hierzu näher unten 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. b), IV. 65 Das gesetzliche System wird denn auch in der Literatur weitgehend als wenig geglückt eingeschätzt, vgl. etwa KoppensteinerIKramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 1 I (S. 1); auch Loewenheim, Bereicherungsrecht, 1. Teil, I (S. 3 ff.); Erman-//. P. Westermann, Vor § 812 Rz. 6; Jakobs, ZIP 1994, 9 (10). 66 Zu dieser Perspektive Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 685 f.
3 Gödicke
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stent formulierter Regeln versteht, sondern ihnen allenfalls noch den Rang von Schlagwörtern oder „Faustformeln" einräumt. 67 Die dünne Regelungsdichte im Bereicherungsrecht war vom Gesetzgeber nun zwar durchaus nicht beabsichtigt, ging er bei der Verabschiedung des BGB doch noch davon aus, lediglich der Klarheit halber das allgemeine Prinzip an den Anfang gestellt und im übrigen durchaus einzelne Fallgruppen gesetzlich geregelt zu haben.68 Das konnte die praktische Zuspitzung auf die Bedeutsamkeit einiger weniger Regelungen freilich nicht verhindern, so daß es nun der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft oblag, Fallgruppen zu entwickeln, die ihrer Funktion nach die Aufgabe einer fehlenden gesetzlichen Kasuistik übernehmen mußten,69 ohne sich dabei auch nur halbwegs an konkreteren gesetzlichen Vorgaben orientieren zu können. Das Defizit der gesetzlichen Regelung hat damit den ganz entscheidenden Anstoß zur Herausbildung einer auf den §§ 812 ff. BGB aufbauenden bereicherungsrechtlichen Dogmatik gegeben, die sich nicht nur mit Einzelfragen der Auslegung zu befassen, sondern auch ganz wesentliche systematische Grundentscheidungen an der Stelle des Gesetzgebers zu treffen hat. 70 Mit welchen Aufgaben die Dogmatik dabei zu ringen hatte, zeigt allein schon die Tatsache, daß nach heutiger Einschätzung ein „leistungsfähiger und verläßlicher dogmatisch-formaler Bezugsrahmen" 71 für die weitere Konkretisierung der gesetzlichen Regelungen erst mit den (auf der Ebene der Anspruchsnormen ansetzenden) Lehren Wilburgs und v. Caemmerers rund fünfzig Jahre nach Inkrafttreten des BGB hergestellt war. 72 67
Hierzu eingehender unten 3. Teil, 2. Abschnitt, I.
68
So wurde am 1. Entwurf kritisiert, er stelle „bei der ungerechtfertigten Bereicherung nicht, wie bei den unerlaubten Handlungen [ . . . ] , den allgemeinen Grundsatz an die Spitze, sondern behandele im Anschluß an das röm. Recht zunächst vier besondere Fälle, bei denen die ungerechtfertigte Bereicherung ihren Grund in einer Leistung habe, und füge dann im [abschließenden] § 748 eine ergänzende Vorschrift für alle übrigen Fälle hinzu; dagegen mache der Gegenentwurf im Anschluß an das Schweiz. Bundesgesetz Art. 70 die ergänzende Vorschrift des § 748 Abs. 1 zum allgemeinen Grundsatze." Die Vorschriften gewönnen hierdurch „wesentlich an Uebersichtlichkeit und Klarheit. Auch systematisch sei es richtiger, das allgemeine, die ganze Lehre beherrschende Prinzip an die Spitze zu stellen; jedenfalls verdiene dies vom Standpunkte der Gesetzgebungstechnik den Vorzug", vgl. Prot. II, S. 684. Bedenken, „die Entwicklung der aus dem Rechtsgedanken des §. a herzuleitenden Kondiktionsfälle der Wissenschaft und Praxis zu überlassen", könne hingegen ein entscheidendes Gewicht nicht beigemessen werden, vgl. Prot. II, S. 690. 69 So Esser/ Weyers, Schuldrecht I I / 2 , § 47 3. a) (S. 34 f.). 70 Vgl. zu dieser Einschätzung statt vieler etwa Koppensteiner / Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, Vorwort (S. V); ähnlich Weitnauer, DB 1984, 2496; AK-Joerges, vor §§ 812 ff. Rz. 2. 7 1 So erstmals 1980 Esser/ Weyers, Schuldrecht II/2, 5. Aufl., § 47 3. a) (S. 31), und auch heute noch Esser/ Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 3. a) (S. 35). 72 ReuterlMartinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 2 (S. 22 ff.), messen den „durchaus revolutionierenden" Erkenntnissen Wilburgs und v. Caemmerers die Bedeutung einer (nach F. Schulz) zentralen „zweiten Wende" im Bereicherungsrecht bei, die sie gegen Tendenzen einer „dritten Wende" durch neuere Einheitslehren zu verteidigen und fortzuführen suchen.
1. Teil: Die Uniiberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
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Diese Fortschritte sind nun allerdings, und auf diese nüchterne Beobachtung muß sich die hier vorgenommene Betrachtung der normativen Ausgangssituation des Bereicherungsrechts beschränken, dem Gesetz allein nicht zu entnehmen. Sie bleiben sowohl auf einer obersten Ebene wie erst recht auf allen tiefer liegenden Ebenen Errungenschaften der juristischen Dogmatik. Auf die Übersichtlichkeit dieser Dogmatik ist der Rechtsanwender nun folglich auf eine ähnliche Weise angewiesen wie sonst auf die Übersichtlichkeit der gesetzlichen Regelungen. Die spärlichen gesetzlichen Regelungen erweisen sich somit als der zentrale Anstoßgeber, zugleich aber auch als das stetig wiederkehrende Grundproblem aller Bemühungen der bereicherungsrechtlichen Dogmatik.
2. Die Komplexität der mit Hilfe des Bereicherungsrechts zu korrigierenden Vermögensmehrungen Diesem dünnen Befund an Regelungen steht nun andererseits eine außerordentliche Vielzahl sehr unterschiedlicher und teilweise komplexer Lebenssachverhalte gegenüber, die einer bereicherungsrechtlichen Korrektur bedürfen. Es hätte wenig Sinn, hier auch nur eine annähernd vollständige Aufzählung der vielen sich durch Schuld- und Sachenrecht ziehenden, sich auf diese Rechtsgebiete freilich nicht beschränkenden Konstellationen anzustreben, deren Problemschwerpunkte wiederum in anderen Rechtsgebieteii (etwa der Rechtsgeschäftslehre) liegen können. Hinzu kommt, daß nahezu jeder zu beurteilende Sachverhalt auch Anlaß zur Erörterung anderer Abwicklungs- oder Restitutionsregelungen gibt. Die Komplexität des Bereicherungsrechts wurzelt mithin materiellrechtlich darin, daß es, wie Canaris formuliert, „naturgemäß mit nahezu jedem anderen privatrechtlichen Bereich irgendwie verknüpft ist und überdies auch noch der ständigen Abstimmung mit den §§ 346 ff. BGB und den §§ 985 ff. BGB bedarf 4 . 73 Nicht nur das „Ob" der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung, sondern auch deren Richtung und Modalitäten werden somit weitgehend von den Regeln des Gegenstandsbereichs bestimmt, in dem sich das einer bereicherungsrechtlichen Abwicklung harrende Lebensverhältnis eigentlich abspielt.74 Warum dies so ist, kann man damit erklären, daß die gemäß §§ 812 ff. BGB zu bestimmende Rückabwicklung für alle Beteiligten mit spezifischen Risiken verbunden ist. Hierzu zählen in erster Linie die Gefahren einer Insolvenz des Anspruchsgegners und eines Verlusts der im intakten Rechtsverhältnis noch gegebenen Verteidigungsmöglichkeiten. Diese Risiken zu bewerten und den einzelnen Beteiligten zuzuteilen ist nun allerdings, wie sich in den Mehrpersonenverhältnis73 LarenzI Canaris, Schuldrecht II/2, Vorwort (S. VI). 74 Am deutlichsten wird dieser Gedankenkreis von Weyers akzentuiert, der seine einführenden Überlegungen zur Funktion und Systematik des Bereicherungsrechts in der jüngst erschienenen Neuauflage noch deutlicher herausgezeichnet hat, vgl. Esser ! Weyers, Schuldrecht II / 2, § 47 1. c) (S. 28 ff.).
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sen lediglich besonders eindringlich zeigt, eine Frage, über die der Rechtsanwender in erster Linie nicht anhand des Bereicherungsrechts, sondern anhand des „Ausgangsrechtsgebiets" befinden muß. Vielfach enthält dieses Vorgaben, über die im Bereicherungsrecht hinwegzugehen kaum einsichtig wäre: 75 Behält das vertragliche Synallagma ungeachtet einer Störung auch in der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung noch Relevanz? Gilt dies stets oder sind zum Schutz eines Beteiligten unter Umständen, etwa mit Blick auf die §§ 104 ff., 123 BGB, auch Ausnahmen erforderlich? Ist die Perspektive des Empfängers oder des Erbringers der Leistung maßgeblich für deren Beurteilung? Wer hat wessen Insolvenzrisiko ursprünglich übernommen? Hat er es deshalb auch im Bereicherungsausgleich zu tragen? Muß das ehemals innegehabte Eigentum zugunsten des Bereicherungsgläubigers auch noch nach seinem Verlust gewissermaßen als Recht fortwirkend gedacht werden, so daß sich der Anspruch aus §§ 812 ff. BGB im Ergebnis nicht in Widerspruch zu einem hypothetisch gedachten Anspruch aus § 985 BGB setzen darf? Muß sich die Wertung der §§ 932 ff. BGB nicht nur für die bereicherungsrechtliche Abwicklung bei rechtsgeschäftlicher Verfügung eines Nichtberechtigten durchsetzen, sondern in ähnlicher Weise auch bei einem in vertragliche Beziehungen eingebetteten Eigentumsverlust nach §§ 946 ff. BGB? Führt man sich das Nebeneinander von Ausgangsrechtsgebiet und Bereicherungsrecht auf einer abstrakteren Ebene vor Augen, so erscheint das Bereicherungsrecht als eine Materie, in der das Gesetz (Bereicherungs-) Rechtsverhältnisse zu dem Zweck begründet, andere defekte, gestörte oder verfehlte Rechtsverhältnisse einer Rückabwicklung zuzuführen, oder - allgemeiner gesprochen, um auch die Nichtleistungskondiktion miteinzubeziehen - einem Ausgleich zuzuführen. Das Bereicherungsrecht gewinnt so den technischen Charakter eines „Abwicklungsrechtsgebiets", das sich um eine angemessene Abwicklung zu bemühen hat, wenn denn einmal entschieden wurde, daß eine eingetretene Vermögensmehrung keinen Bestand haben soll. Diese Entscheidung selbst ist dagegen nicht seine Aufgabe, sondern Aufgabe des Ausgangsrechtsgebiets, aus dem die Fallkonstellation stammt. Auf dieser Linie führt Weyers aus, die „Rechtsgebiete, die den jeweils betroffenen Gegenstand selbst erfassen und die Grundentscheidungen über Bewertungen, Rechtszuständigkeiten und Zuordnung, Schutzregeln usw. treffen, die aufgezählten ubiquitären Entscheidungstopoi, die rechtspolitisch wichtigen sozialökonomischen Zusammenhänge sind so zahlreich, vielgestaltig und im Zeitablauf wandelbar, daß es aussichtslos - im übrigen auch unrationell - wäre, die nötigen Vorentscheidungen über die Legitimität des Behaltens, die Zuteilung der Rückabwicklungsrisiken usw. noch einmal, nämlich sozusagen auf dem eigenem Holz des Bereicherungsrechts treffen zu wollen. Vollends aussichtslos und methodenunehrlich wäre der Versuch, sie jeweils aus den notwendigerweise abstrakten bereicherungsrechtlichen Begriffen wie Leistung4 oder ,auf dessen Kosten4 abzuleiten44.76 75 Schärfer Weyers: „Das Bereicherungsrecht muß sie respektieren und übernehmen, im übrigen ersatzweise nachvollziehen", vgl. EsserI Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 1. c) (S. 29). 7 6 Esserl Weyers, Schuldrecht III2, § 47 1. c) (S. 30 f.).
1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
Die Beobachtung, daß über die Ergebnisse im Bereicherungsrecht häufig Einigkeit besteht, relativiert Weyers denn auch zurückhaltend dahin, daß unstreitig regelmäßig zumindest sei, „über welches Thema, welchen Interessenkonflikt usw. die Auseinandersetzung zu führen ist, und daß der Ort dieses Themas nicht aus einer bereicherungsrechtlichen Systematik abstrakt ableitbar ist". 7 7 Die Tatsache, daß sich ungerechtfertigte Vermögensmehrungen weit gestreut in unterschiedlichen systematischen Zusammenhängen des Zivilrechts ereignen und die zu berücksichtigenden Entscheidungsgesichtspunkte entsprechend weit gefächelt sind, ist mithin auf einer materiellrechtlichen Ebene Ursache dafür, daß zumindest das deutsche Bereicherungsrecht ganz unabhängig von der Ausgestaltung des gesetzlichen Normapparates zwangsläufig eine weit verzweigte Materie ist. 78 Der Unübersichtlichkeit des Bereicherungsrechts liegt also eine Unübersichtlichkeit der Lebens- und Rechtsverhältnisse zugrunde, auf die das Bereicherungsrecht zugreift, auch wenn mit der durch das Bereicherungsrecht gezogenen Trennlinie zu den Ausgangsrechtsgebieten ursprünglich gerade ein größeres Maß an Übersichtlichkeit beabsichtigt war. Jeder Versuch, diese Unübersichtlichkeit einzudämmen, steht notgedrungen vor großen Anforderungen der Materie selbst. Das gilt allerdings gesteigert, wenn man angesichts einer rudimentären gesetzlichen Regelung im Ergebnis auf ein unbefriedigendes „Gemenge [ . . . ] einerseits sehr allgemeiner Prinzipien und technischer Regeln, wie sie in den §§ 812 ff. Niederschlag gefunden haben, und andererseits der Vorgaben der jeweils betroffenen konkreten Materie, die in zahlreichen Einzelregeln, Bewertungen, Risikozuweisungen, Anspruchssperren, Schutzgrundsätzen usw. liegen" trifft. 79 Während die Rechtsprechung dabei bei manchem den Eindruck erweckt, vor dieser Aufgabe zu resignieren, ist die rechtswissenschaftliche Literatur nicht müde geworden, sich stets von neuem darum zu bemühen, das Bereicherungsrecht mit allen seinen Differenzierungen darzustellen, um so seine Anwendung zu ermöglichen. Welche Technik der Rechtsan77 Esser /Weyers, Schuldrecht II / 2, § 47 1. f) (S. 33 f.). 78 Ähnlich Esser/Weyers, Schuldrecht I I / 2, § 47 1. f) (S. 33 f.). Dagegen wirft AK -Joerges, vor §§ 812 ff. Rz. 2, den Gedanken eines Wandels in der Funktion des Bereicherungsrechts auf. Die dem Bereicherungsrecht heute zufallenden Aufgaben ließen sich mit den Vorstellungszusammenhängen, die bei der Abfassung der gesetzlichen Vorschriften bestimmend waren, nicht mehr bewältigen. In der Folge sei dem Wortlaut der §§ 812 ff. ein grundlegend veränderter Bedeutungsgehalt zugewiesen worden. 79 Esser/Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 1. f) (S. 32). Im Anschluß an Weyers sieht auch Loewenheim, Bereicherungsrecht, 1. Teil, I (S. 3), in diesem Gemenge einen wesentlichen Grund für die Schwierigkeit und Unübersichtlichkeit des Bereicherungsrechts, zu dem auch die schwer verständliche und rudimentäre gesetzliche Regelung beigetragen habe. Auch Weitnauer, DB 1984, 2496, hält die normative und die materiellrechtliche Ebene grundsätzlich gleichermaßen für ursächlich, stellt dem Schwerpunkt nach jedoch auf die materiellrechtliche Perspektive ab, wenn er kritisiert, „daß die Rechtslehre und ihr folgend die Rechtsprechung die Auseinandersetzung über zentrale Probleme des Schuldrechts wie die causaLehre oder die Erfüllungslehren oder das Anweisungsrecht in das Bereicherungsrecht verlagert und so mit Problemen überfrachtet haben, die besser im Rahmen des jeweiligen Sachgebiets zu erörtern wären."
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wendung man dabei ins Auge zu fassen hat, wird indessen seit einigen Jahren kontrovers beurteilt.
3. Die zweckmäßige Technik der Rechtsanwendung im Bereicherungsrecht Die Frage nach einer zweckmäßigen Technik der Rechtsanwendung erhebt sich nun freilich, weil sie methodologischen Ursprungs ist, auch in jedem anderen Rechtsgebiet. Der Grund dafür, weshalb sie sich im Bereicherungsrecht besonders scharf stellt, liegt nach dem gegenwärtigen Stand der Überlegungen in dem Spannungsverhältnis zwischen einer spärlichen gesetzlichen Regelung und deren weitgefächerten materiellrechtlichen Bezugspunkten, wie es in den beiden vorstehenden Abschnitten skizziert wurde. Ein Rechtsgebiet, das sich im wesentlichen allein aus einer Generalklausel heraus konstituieren muß, steht weitaus unmittelbarer vor der Notwendigkeit, sich Rechenschaft über diese Konstituierung zu geben, als Rechtsgebiete, deren Strukturen durch das Gesetz zunächst einmal weitgehend vorgezeichnet sind, wenn viele Einzelfragen und manch prinzipieller Gesichtspunkt dann auch nicht minder kontrovers diskutiert werden mögen. Es hat also seine guten Gründe, wenn in der Kritik an der heutigen bereicherungsrechtlichen Dogmatik zunehmend eine Uneinigkeit über die Frage zum Ausdruck kommt, welche Art der Rechtsanwendung man sinnvollerweise bei der weiteren Durchdringung und Darstellung des Bereicherungsrechts vor Augen haben soll. Hier treten vor allem ein „fallorientierter" (a) und ein „systemorientierter" Ansatz (b) einander gegenüber.80
a) Der fallorientierte
Ansatz
Der Frage nach der angemessenen Technik der Rechtsanwendung nähert sich Weyers auf eine sehr pragmatische Weise. Die bloße Tatsache, daß im Bereicherungsrecht häufig Gesichtspunkte verwendet werden, die aus den einschlägigen Rechtsgebieten stammen (wie vertragliches Synallagma, sachenrechtlicher Gutglaubensschutz) oder die „ubiquitären Charakter" haben (wie Minderjährigenschutz, Gleichbehandlung aller Gläubiger, Vertrauensschutz, Einwendungserhalt und Zuteilung des Insolvenzrisikos), lege es nahe, bereits „empirisch" auch auf die Legitimität solcher Argumente zu schließen. Gerechtfertigt sei dann aber nicht nur das sachliche Argument als solches, sondern vor allem auch die in der Heranziehung derartiger Entscheidungsgesichtspunkte liegende Methodik. Tatsächlich allgemein praktiziert werde der „topische" Ansatz, wie ihn nicht zufällig Wilburg mit 80
Beide Strömungen bilden denn auch das Spannungsfeld, in dem die Bemühungen um eine Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik aus methodologischer Sicht stehen. Eingehender hierzu unten 3. Teil, 2. und 3. Abschnitt.
1. Teil: Die Uniiberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
seinen Überlegungen zu einem beweglichen System inspiriert habe. Wenn man sich daher der besseren Einsicht beugen sollte, daß der sogenannte systematische Ansatz alleine nicht genügt, so sollte man diesem topischen Vorgehen aber auch die verdiente methodologische Dignität zubilligen. 81 Als methodische Grundlage verdiene der „topische" Ansatz daher weitere Ausarbeitung. 82 Während Weyers seine Darstellung des Bereicherungsrechts gleichwohl weitgehend in den Kontext der überkommenen bereicherungsrechtlichen Systematik einbettet, weil sich schlicht nicht leugnen lasse, daß die in den §§ 812 ff. BGB enthaltenen Tatbestandsmerkmale „nun einmal auf einen subsumtionstauglichen Begriff gebracht werden" müßten,83 plädiert Jakobs für eine Rückkehr der deutschen Jurisprudenz zu einer dem englischen case law nahestehenden Technik kasuistischer Rechtsanwendung, wie sie auch in Deutschland bis weit ins 19. Jahrhundert hinein maßgeblich gewesen sei. Zu dieser Zeit habe der angehende Jurist die anzuwendenden Regeln noch anhand von Fällen gelernt. Weil diese Regeln noch in Fällen gegeben waren, habe man die Subsumtion eines Falles unter eine gegebene Regel noch auf die gleiche Weise gelernt, die in England das distinguishing von Fällen heiße.84 Aus der Sicht Jakobs' sollten die Juristen sich auch heute wieder von den römischen Juristen und ihrem Recht „upon the cases" leiten lassen, also von einem allein in Fällen sich fortbildenden Denken in Regeln. 85 Ahnlich beobachtet Kötz, daß das Schrifttum manche Rechtsfragen „als rein dogmatische Fragen aufgeputzt und dann mit einer solchen Lawine rein dogmatischer Antworten zugedeckt hat, daß das einfache Problem rechtlicher Wertung, um das es im Grunde auch hier geht, völlig außer Sicht gerät". 86 Das Bereicherungsrecht werde, so Großfeld, zunehmend „in seinen Ansprüchen isoliert, von Konstruktion zu Konstruktion entwickelt; die Wertungsgrundlagen verdämmern". 87 Weder methodisch noch didaktisch könne es dann aber, so Koppensteiner I Kramer, legitim sein, an die offenen Probleme des Bereicherungsrechts streng deduktiv mit vorgefaßten dogmatischen Konzepten Begriffe gleichsam apriorisch voranzustellen, ohne klarzumachen, daß alle diese Konstruktionen, sofern sie überhaupt sinnvoll sind, nur „ex post Wertentscheidungen in einem Kürzel zusammenfassen", und ohne die von den §§ 812 ff. BGB nur zu oft nicht bereitgestellten und daher erst induktiv aus den jeweiligen Problemzusammenhängen zu gewinnenden Kriterien dieser Entscheidung offen zu nennen sowie
si Esser/Weyers, Schuldrecht II / 2, § 47 1. f) (S. 33). 82 So ausdrücklich noch Esser/ Weyers, Schuldrecht II, 7. Aufl., § 47 1. e) (S. 420 f.). 83 So Esser/Weyers, Schuldrecht I I / 2, § 48 II (S. 43), zu einem der umstrittensten Tatbestandsmerkmale des Bereicherungsrechts („durch die Leistung"). 84 Jakobs, ZIP 1994, 9 (9 f.). 85 Jakobs, ZIP 1994, 9 (14). 86 Vgl. Kötz, in: Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, S. 75 (85), der in seinem Beitrag erst später, dann aber ganz explizit auf das Bereicherungsrecht eingeht. 87 Großfeld, JZ 1992, 22 (27).
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1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
ihre Bewertung auszudiskutieren.88 Verständnis äußern KoppensteinerIKramer daher für Flessner, dessen Überlegungen dahin gehen, daß das im Bereicherungsrecht bestehende Dickicht schwerlich bestehen könne, wenn bewegliches Systemdenken die Bereicherungslehre durchdringen würde, wie es Wilburg vorschwebte. Bewegliches System erfordere, daß „die Doktrin ihren Systemehrgeiz zurücknimmt; sie entwickelt die Elemente, aber deren Zusammenspiel und Gewicht im Einzelfall kann sie abstrakt nicht mehr determinieren, soll das System seinen Charakter als bewegliches4 behalten".89 Als „Betonung der Induktivität und des Fallrechtscharakters des Bereicherungsrechts" kann aus der Sicht von Koppensteiner I Kramer auch das Gutachten von König zu einer Reform der §§ 812 ff. BGB gewertet werden. 90 König hatte im Auftrag des Bundesministers der Justiz die Frage zu beantworten, ob es sich empfiehlt, das Bereicherungsrecht im Hinblick auf seine Weiterentwicklung in Rechtsprechung und Lehre durch den Gesetzgeber neu zu ordnen. 91 Zur Beantwortung dieser Frage hat König eine Analyse der gerichtlichen Praxis auf dem Gebiet des Bereicherungsrechts vorgenommen, soweit sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland veröffentlicht wurde. König schwebt dabei nun allerdings keineswegs, wie die Bemerkung von Koppensteiner / Kramer vermuten lassen könnte, eine kasuistische Technik der Rechtsanwendung für das Bereicherungsrecht vor. Vielmehr möchte er gesicherte Erkenntnisse der Rechtsprechung, im übrigen aber auch der literarischen Diskussion, aufgreifen, um die so herausgearbeitete Kasuistik dann durchaus in einer Neufassung der bereicherungsrechtlichen Vorschriften festzuschreiben. Im Ergebnis unterbreitet König einen umfassenden Reformentwurf zu den §§812 bis 822 BGB, der auf der Typologie der Bereicherungsansprüche aufbaut, wie sie maßgeblich durch seinen Lehrer v. Caemmerer entwickelt wurde. 92 So regelt § 1 des Reformvorschlags die Leistungskondiktion (hauptsächlich als Er88
KoppensteinerIKramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 3 IV (S. 8 f.); ähnlich Großfeld, JZ 1992, 22 (27). Auf dieser Linie vor einer „begriffsjuristisch anmutenden Übersteigerung" des Leistungsbegriffs warnt MüKo-Lieb, § 812 Rz. 5. 89 Flessner, in: Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, S. 159 (161). Vgl. hierzu Koppensteiner ! Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 3 IV (S. 9, Fn. 4). 90 König, Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band II (1981), S. 1515 ff. Das Gutachten basiert auf der 1976 fertiggestellten und 1985 posthum durch v. Caemmerer herausgegebenen Habilitationsschrift von König, Ungerechtfertigte Bereicherung. Tatbestände und Ordnungsprobleme in rechtsvergleichender Sicht. 91 Vgl. Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band II (1981), S. 1515. Der zweiten Frage, welche bereicherungsrechtlichen Vorschriften außerhalb des BGB in die Kodifikation zurückgeführt werden können, kommt demgegenüber nur eine untergeordnete Stellung zu und wird von König denn auch (1520 f.) entsprechend knapp abgetan. Als von der Entwicklung überholt und weithin denn auch keiner Erwähnung mehr würdig gilt hingegen der Reformversuch zur Neugestaltung des Rechts der ungerechtfertigten Bereicherung von Nipperdey, in: Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht 4 (1937), S. 19 ff., vgl. Staudinger-Lorenz, Vorbem zu §§ 812 ff. Rz. 5. 92 Vgl. König, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band II, S. 1515 (1519 ff.).
1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
gänzung des Vertragsrechts), § 2 die Eingriffskondiktion (als Ergänzung des Deliktsrechts), § 3 die Aufwendungskondiktion (als Ergänzung der Geschäftsführung ohne Auftrag), § 4 Drittbeziehungen sowie § 5 schließlich eine Generalklausel, die als subsidiärer Auffangtatbestand Bedeutung behalten soll. 93 Die in den USA und in England aufkommende Systematisierung des law of restitution bestätigt aus der Sicht Königs seinen methodischen Weg, nur im Rahmen eine fallorientierten Typen· oder Fallgruppenbildung zu einer Neuformulierung der bereicherungsrechtlichen Vorschriften zu gelangen.94 Was die Rechtsprechung selbst betrifft, so muß zunächst die Beobachtung genügen, daß sie sich aus Sicht der Literatur von einer begrifflich orientierten Argumentationstechnik weitgehend entfernt hat. So klingt aus der Sicht Schnauders beim BGH mittlerweile gar ein gewisses Mißtrauen oder Unbehagen an, ob die Ableitung von Ergebnissen aus dem Leistungsbegriff allein immer überzeugend erscheint, wenn der BGH es für erforderlich erachte, das bereicherungsrechtliche Ergebnis zusätzlich, wie Schnauder meint fast hauptsächlich und unabhängig von einem bereicherungsrechtlichen Leistungsbegriff, durch Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes und der Risikoverteilung sowie einer ergänzenden Interessenbewertung zu rechtfertigen. 95 Selbst wo der BGH am (Leistungs-) Begriff festhalte, könne das nicht darüber hinweg täuschen, daß er die eigentlichen Begründungen in objektiven Wertungs- und Zurechnungskriterien sehe, die vorgeblich nur zur Uberprüfung der zuvor aus dem Leistungsbegriff abgeleiteten Ergebnisse herangezogen würden. 96 Entsprechend beobachteten 1983 bereits Reuter ! Martinek, daß sich die Judikatur in bereicherungsrechtlichen Dreiecksverhältnissen „von den Formeln der herrschenden Lehre so gut wie vollständig gelöst" habe und stattdessen versuche, „sich durch Präjudizien vergleich und Interessenbewertung im normfreien Raum an das ,interessen- und sachgerechte' Ergebnis heranzutasten".97
93 Vgl. König, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band II, S. 1515 (1521 und 1522 bis 1525). 94 Vgl. König, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band II, S. 1515 (1521) sowie jeweils die rechtsvergleichenden Erläuterungen zu den einzelnen vorgeschlagenen Neuregelungen. Die Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts erhielt bekanntlich nicht den Auftrag, auf der Grundlage des Gutachtens Königs die Überarbeitung des Bereicherungsrechts tatsächlich in Angriff zu nehmen. Vielmehr ließ der damalige Bundesminister der Justiz nach Fertigstellung der gutachtlichen Vorarbeiten verlauten, daß man im Recht der Leistungsstörungen einschließlich seiner Modifizierungen durch unterschiedliche GewährleistungsVorschriften und im Verjährungsrecht besonders drängende Probleme sehe, weil ihnen „zentrale und damit vorrangige Bedeutung für die praktische Brauchbarkeit der Schuldrechtsordnung" zukomme, vgl. Engelhard, NJW 1984, 1201 (1203).
95 Schnauder, JuS 1994, 537 (537 f.). Zurückhaltender Schlechtriem, Rz. 686. 96 Schnauder, JuS 1994, 537 (545). 97 Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, Vorwort (S. V).
Schuldrecht BT,
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1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
b) Der systemorientierte
Ansatz
Den Gegenpol zu einer an Wertungen orientierten Herangehensweise bilden die Auffassungen, die einen systematischen Ansatz zur Rechtsanwendung im Bereicherungsrecht bevorzugen. So begrüßt etwa Martinek eine enge Orientierung an der Systematik des Gesetzes mit seinen einzelnen Tatbestandsmerkmalen, damit „die Fähigkeit zum selbständigen Lösen bereicherungsrechtlicher Fälle im klassischen Subsumtionsweg in besonderer Weise gefördert und eingeübt [ . . . ] und ein Abgleiten in freihändige Wertungen und allgemeine Risikoabwägungen gebremst" wird. 98 Ähnlich bemängelt Knieper eine Rechtsprechung, die mit Billigkeitserwägungen des Einzelfalls hantiere und den Rechtsstreit zum Lotteriespiel mache. Auch in der Lehre beherrschten allerdings Billigkeitserwägungen und Überlegungen zum Vertrauensschutz das Feld. Es herrsche die vom Ergebnis her argumentierende „freihändige" Rechtsschöpfung. 99 Aporetische Lösungsstrukturen würden auf diese Weise die Oberhand gewinnen, die das Ergebnis, wie es der topischen Methode entspreche, nur mehr oder weniger plausibel machen, nicht jedoch auf eine sichere Grundlage stellen könnten. 100 Anläßlich einer Analyse zweier Urteile des BGH bemängelt auch Wilhelm, daß der BGH mit seiner „Fallrechts-Linie" im Bereich der Vielfalt der Leistungszwekke „herumfloate", ohne eine überzeugende Verankerung zu erreichen. 101 Auf diese Weise werde dann aber auch die kondiktionsrechtliche Literatur angetrieben, von den Kriterien der Vermögenszurechnung einer Leistung abzuweichen und frei mit Leistungszwecken und Rechtsverhältnissen zu operieren. 102 Dem Gedanken eines Rechts „upon the cases", wie Jakobs ihn vorträgt, stimmt Wilhelm zwar insoweit zu, als sich jede Rechtsanwendung auf den Fall zu konzentrieren habe, der „selbstverständlich Ausgangs- und Endpunkt und der immer wieder erneute Bewährungsgegenstand unserer Rechtsordnung" sein müsse. Soweit unter einem Recht „upon the cases" hingegen die Alleinherrschaft der Fälle ohne die ordnende und bindende Kraft rationaler Normen verstanden werde, sei ein Appell zur Beruhigung und zur Vorsicht vor Übertreibungen angebracht. 103 Eine solche Fallrechts-Linie sei viel98 Martinek, NJW 1998, 967, in Rezension des Lehrbuchs von Loewenheim, Bereicherungsrecht. Für eine systematische Erfassung des Rechtsstoffs im Bereicherungsrecht - bei allen Zugeständnissen an unverzichtbare Wertungsspielräume - auch Schlechtriem, Schuldrecht BT, Vorwort (S. IX), sowie zuvor bereits ders., Rezension zu ReuterIMartinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, ZHR 149 (1985), 327 (335 f.). Der Grundtendenz nach an einer auf Begriffen aufbauenden Dogmatik ebenfalls festhaltend Kupisch, JZ 1997, 213 (221 f.), der den Gedanken einer Analogie gerade dem Gedanken einer zusammenhanglosen Einzelkasuistik entgegenstellt, vgl. bereits ders., Gesetzespositivismus im Bereicherungsrecht, S. 11 ff. 99 Knieper, BB 1991, 1578 (1582). 100 So Schnauder, JuS 1994, 537 (545).
ιοί Wilhelm, JZ 1994, 585 (590). 102 Wilhelm, JZ 1994, 585 (594). 103 Wilhelm, JZ 1994, 585.
1. Teil: Die Uniiberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
mehr durch eine normgebundene Linie zu ersetzen, in der Entscheidungen aus der maßgeblichen Norm gerechtfertigt würden. 104 Jakobs hatte allerdings, was eine sichere Einschätzung seines Standpunkts erschwert, in einer zuvor veröffentlichten Urteilsanmerkung nun seinerseits noch den „gegenwärtigen Zustand der Regellosigkeit" beklagt, der „durch die richterrechtliche Befolgung der Devise v. Caemmerers, es sei bei Beteiligung von mehr als zwei Personen an einer Zuwendung in erster Linie nach den Umständen des einzelnen Falles zu entscheiden, entstanden ist". Das, was namhafte Theoretiker des Kondiktionsrechts an diesem Urteil auszusetzen gefunden haben, konserviere die Regellosigkeit und stelle der Theorie das schlechteste Zeugnis aus. 105 Im Ergebnis unterstreicht Jakobs an dieser Stelle daher in ganz ähnlicher Weise wie Wilhelm das allseitige Interesse an einem „auf den Universitäten lehrbaren, durch Subsumtion und d.i. im Wege des syllogistischen Schlusses fortzubildenden Regeln bestehenden und darum auch in der Praxis, von den Anwälten und Richtern beherrschbaren Kondiktionsrecht". 106 Auf welche Weise läßt sich das Bereicherungsrecht aber zu einem solchen im Wege der Subsumtion beherrschbaren Rechtsgebiet entwickeln? Nach Franz Bydlinski ist „eine systematisch tiefdringende, nämlich stärker prinzipiell und konsequent denkende Dogmatik" erforderlich, 107 die ihren Ausgangspunkt in einem einstweilen prinzipiell gesicherten Kernbereich sucht und in den diesem Kernbereich entsprechenden klaren Lösungen der einfachen Fälle. Die Dogmatik dürfe die verbindlichen und nachprüfbaren Ausgangspunkte ihrer Argumentation nicht nach Belieben auflösen, sondern habe sie tunlichst systematisch aufzusuchen, zu wahren und weiterzudenken. 108 Ähnlich plädiert Wieling dafür, „streng wissenschaftlich" vorzugehen. Die Darstellung des Bereicherungsrechts müsse streng vom Gesetz und von den tragenden dogmatischen Grundsätzen ausgehen und diese bei allen Entscheidungen zugrunde legen. Nur so ließe sich die Fähigkeit erlernen, ein Problem in den Kontext der vorhandenen Normen und Dogmen einzugliedern. Dabei habe diese Anwendung von Dogmen nichts mit Begriffsjurisprudenz zu tun. Vielmehr seien die Dogmen das Ergebnis von Interessenbewertungen, die hinter ihnen stehen und die jeder wissenschaftliche Bearbeiter zu kennen habe. Bei Beherrschung dieser Technik könne man zumindest in einem Lehrbuch darauf verzichten, den Lehren bis in die äußersten Verästelungen hinein zu folgen. 109 104 Wilhelm, JZ 1994, 585 (590). 105
So Jakobs, NJW 1992, 2524, der hier in ungewöhnlich scharfer Form die Auseinandersetzung mit den Beiträgen von Martinek, JZ 1991, 395, und Canaris, NJW 1992, 868, gesucht hat. Beide sahen sich denn auch bemüßigt, gegen Jakobs zu kontern, vgl. Martinek, NJW 1992, 3141, sowie Canaris, NJW 1992, 3143. 106 Jakobs, NJW 1992, 2524 (2529). 107 Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 238. 108 Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 235 ff. Auch Larenz sprach sich dafür aus, die Grundlinien der Regelung klarer herauszuarbeiten, Schuldrecht II, 11. Aufl., Vorwort (S. V). 109 Wieling, Bereicherungsrecht, Vorwort zur ersten Auflage (S. VIII f.).
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1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
I I I . Der weitere Gang der Untersuchung Hält man an dieser Stelle zunächst einmal inne, so läßt sich vor dem Hintergrund der drei unter II. betrachteten Gesichtspunkte folgende, die Diskussion beherrschende Frage formulieren: Ist die rudimentär gebliebene gesetzliche Regelung im Bereicherungsrecht angesichts der vielen zu berücksichtigenden und materiellrechtlich sehr heterogenen Sachverhaltsgestaltungen zweckmäßigerweise im Wege wertender Einzelfallbetrachtung anzuwenden oder muß die Rechtsanwendung hier erst recht im Wege einer systematisch verankerten Subsumtion erfolgen? Die vorliegende Arbeit ist von der Uberzeugung getragen, daß jede Tendenz, die Wertung und Subsumtion in eine solch scharfe Frontstellung bringt, zu keinen sinnvollen Antworten führen kann. Keiner der beiden Standpunkte läßt sich denn auch für die Abhandlung des Bereicherungsrechts in Lehrbüchern allein konsequent durchhalten. 110 Mit der Frage nach der probaten Technik der Rechtsanwendung im Bereicherungsrecht ist dann aber auch nur ein Teilaspekt der hier ins Auge zu fassenden Problematik getroffen. Jeder Rechtsanwendung muß zunächst einmal die Darstellung des Rechts vorausgehen, also die Vermittlung der entsprechenden Rechtskenntnisse in der Lehre, die es in der Rechtsanwendung dann erst umzusetzen gilt. 1 1 1 Gerade an der fehlenden Möglichkeit dieser Vermittlung krankt das heutige Bereicherungsrecht nun aber, wie der Überblick deutlich gemacht haben dürfte, in ganz besonderem Maße. Dann ist es für eine eingehendere Reflexion der Problematik aber erforderlich, den Aspekt einer Darstellung des Rechts vom Aspekt seiner Anwendung schärfer zu trennen, als dies in der bisherigen Diskussion geschieht. Darstellung und Anwendung des Rechts sind zwar ohne Zweifel notwendig aufeinander bezogen. Das ändert jedoch nichts daran, daß sich die Ordnung des Rechts jedenfalls idealtypisch von der Anwendung des Rechts unterscheiden läßt, und entsprechend die für die Ordnung des Rechts maßgeblichen Techniken von jenen, die für die Anwendung des Rechts von Bedeutung sind. Es ist zumindest in der Perspektive zu unterscheiden, ob man nach der angemessenen Technik fragt, mit der sich bereicherungsrechtliche Anspruchsnormen und Hilfsnormen anwenden lassen, oder ob man die Frage nach der Existenz systematischer Gesichtspunkte stellt, unter denen sich die vorwiegend von der Rechtswissenschaft entwickelten Hilfsnormen (aber auch die von der Rechtsprechung herausgebildeten Präjudizien) in einen geordneten Zusammenhang bringen lassen, der dann auch einen geordneten Weg der Rechtsanwendung sichern kann. Die weiteren Überlegungen verfolgen daher den Gedanken, die beiden Ebenen der Darstellung und der Anwendung des Rechts schärfer voneinander zu trennen, um auf diese Weise auch erst die jeweils zum Einsatz kommenden Techniken präziser betrachten zu können.
110
Hierzu eingehender unten 3. Teil, 2. Abschnitt, III. Diese funktionale Sicht auf Verstehen und Anwenden des Rechtssatzes bildet den Angelpunkt der Methodenlehre des Zivilrechts von Jan Schapp, vgl. dort insbesondere S. 64 ff. 111
1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
Der nachfolgende zweite Teil widmet sich zu diesem Zweck der Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung. Mit der Dogmatik wird dabei nicht nur ein Begriff aufgegriffen, der in der heutigen Diskussion zum Bereicherungsrecht besonders häufig Angriffsfläche der Kritik ist. Der Begriff eignet sich vielmehr schon deshalb als Anknüpfungspunkt der weiteren Überlegungen, weil sein schillernder Gebrauch in der Jurisprudenz zwischen Darstellung und Anwendung des Rechts changiert und daher eine sorgfältige Reflexion seines Bedeutungshorizonts auch Aussagen zum Verhältnis von Darstellung und Anwendung des Rechts erwarten läßt. Dann läßt sich mit dem Begriff der Dogmatik aber auch eine einseitige Betrachtung allein der Rechtswissenschaft, der Rechtslehre oder der Rechtsprechung vermeiden. Das soll nicht dahin mißverstanden werden, daß die Dogmatik nun als isolierte, „vierte Kraft" neben Rechtswissenschaft, Rechtslehre und Rechtsprechung betrachtet werden soll. Als Dogmatik soll vielmehr ganz im Gegenteil das Zusammenspiel aus rechtswissenschaftlicher Fortbildung des Rechts in neuen Hilfsnormen und systematischen Zusammenhängen, didaktischer Aufbereitung und Darstellung des Rechtsstoffs in der Rechtslehre und fallorientierter Problemerörterung in der Rechtsprechung betrachtet werden, anstatt den Blick von vornherein insbesondere auf die Rechtswissenschaft zu verengen. Den Orientierungspunkt für die Überlegungen zur Dogmatik bilden daher nicht diese einzelnen Akteure der Jurisprudenz, sondern der Prozeß der zivilrechtlichen Rechtsfindung selbst, in den Rechtswissenschaft, Rechtslehre und Rechtsprechung gleichermaßen eingebunden sind. Der Dogmatik wird dabei zum einen die Bedeutung beigemessen, ein Ordnungsgefüge für die Auswahl von Rechtssätzen aufzustellen, wie andererseits ein Reservoir von Auslegungsvorschlägen für das Verstehen der Rechtssätze herauszubilden. Der eigentlichen Rechtsanwendung mithin noch vorgelagert, werden diese beiden Tätigkeitsbereiche der Dogmatik maßgeblich durch ein methodisches Ideal der Rechtsanwendung inspiriert, das sich bei aller erkenntnistheoretischen Kritik nach wie vor fest am Syllogismus orientiert, und das seinerseits zu beleuchten sein wird. Auch die Fortentwicklung der Dogmatik wird von dieser Idealvorstellung geprägt, die sich durch Umsetzung neuartiger Fallkonstellationen in Falltypen und Hilfsnormen und deren Einordnung in das bestehende Ordnungsgefüge von Rechtssätzen vollzieht. Während die Überlegungen im zweiten Teil damit noch weitgehend losgelöst vom Bereicherungsrecht angestellt werden, widmet sich der dritte Teil dann speziell der Ordnungskraft der Dogmatik in diesem Rechtsgebiet. Auch wenn sich die Untersuchung dem Schwerpunkt nach als methodologische Reflexion der Problematik begreift, wird es dabei zunächst erforderlich sein, die materiellrechtlichen Ordnungskategorien näher in den Blick zu nehmen, die der Dogmatik im Zivilrecht zur Verfügung stehen. Anknüpfend an den zweiten Teil der Untersuchung wird insoweit nach der Tragkraft zu fragen sein, die vom zivilrechtlichen Anspruchssystem für ein Ordnungsgefüge der bereicherungsrechtlichen Rechtssätze ausgeht. Dabei werden in Übereinstimmung mit der überkommenen bereicherungsrechtlichen Dogmatik, und eher noch schärfer als bei dieser, Leistung und
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1. Teil: Die Unberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik
Eingriff als die beiden zentralen Leittypen für eine Systematisierung des Bereicherungsrechts begriffen, denen gegenüber Einteilungen, wie sie durch Begriffe wie „Nichtleistungskondiktion" oder „Dreipersonenverhältnis" vorgenommen werden, eine weitaus geringere Ausstrahlungskraft besitzen und daher erst auf einer niedrigeren Abstraktionsstufe der Systembildung von Bedeutung sind. Geschärft durch diese Betrachtung der materiellrechtlichen Ordnungsgesichtspunkte im Bereicherungsrecht werden dann die einzelnen Ansätze der Kritik, eingehender als dies hier zunächst erfolgen konnte, zu erörtern sein. Dabei wird sich zeigen, daß die fallorientierten ebenso wie die systemorientierten Ansätze zum Bereicherungsrecht beiderseits zwar zu Konzessionen bereit sind, daß die damit scheinbar relativierte Dichotomie zwischen Fall und System aber sogleich wieder auflebt, soweit die Frage nach der angemessenen Gewichtung beider Ansätze in der Rechtsfindung im Raum steht. Hier wird das Anliegen darin bestehen, die Bedeutung der systemorientierten Methoden der Rechtsfindung dem Schwerpunkt nach der Anwendung des Bereicherungsrechts zuzuweisen, die Bedeutung der fallorientierten Methoden der Rechtsfindung hingegen der Entwicklung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik. In der Konsequenz setzt eine Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik aus methodologischer Sicht voraus, daß die Dogmatik bewährte Rechtssätze ausdrücklich beibehält, die berechtigte Kritik an diesen Rechtssätzen dann aber auch zum Ani aß nimmt, um ausgehend von einzelnen Falltypen ergänzende Hilfsnormen zu diesen bewährten Rechtssätzen zu entwickeln.
Zweiter Teil
Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung Ziel dieses zweiten Teils ist es, die Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung präziser in den Blick zu nehmen. Das soll es zum einen ermöglichen, den Gegenstand der bereicherungsrechtlichen Kritik überhaupt erst klarer zu betrachten. Die Differenzierung nach einzelnen Funktionsbereichen der Dogmatik soll dann zum anderen dazu dienen, prägnanter die unterschiedlichen Ebenen herauszuarbeiten, auf denen die heutige Kritik ansetzt. Erst auf dieser Grundlage wird es im dritten Teil der Untersuchung möglich sein, die einzelnen Ansätze der Kritik ihrerseits kritisch daraufhin zu befragen, welchen Beitrag sie für eine methodische Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik leisten können. Der 1. Abschnitt widmet sich zunächst dem heutigen Verständnis juristischer Dogmatik. Dabei soll allerdings nicht das Anliegen verfolgt werden, vertieft in eine überaus verflochtene und in den letzten Jahren vorwiegend auf wissenschaftstheoretischem Niveau geführte Diskussion zur Dogmatik einzusteigen. Diese Diskussion leidet vielmehr darunter, daß sie sich mit ihrer teilweise allzu abstrakten Reflexion der Dogmatik vom tatsächlich geübten Gang der Rechtsfindung auf eine Weise isoliert, die schließlich dazu führt, daß die Jurisprudenz sie nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Die Darstellung greift daher jedenfalls dem Schwerpunkt nach nicht auf diese jüngere Diskussion zurück, sondern auf eine Diskussion über Dogmatik, wie sie vor allem in den sechziger und siebziger Jahren geführt wurde, und in der deutlicher als heute die Einschätzung der Dogmatik eng mit einer Diskussion des methodischen Selbstverständnisses der heutigen Jurisprudenz verbunden wurde. Die Ausrichtung des Dogmatikverständnisses auf den Prozeß der Rechtsfindung macht es dann in einem 2. Abschnitt erforderlich, diesen Prozeß der Rechtsfindung seinerseits eigenständig zu betrachten, um dadurch das Tätigkeitsgebiet näher zu erfassen, auf das die Bemühungen der Dogmatik nach heutigem Verständnis abzielen. Unter bewußter Beschränkung auf das Zivilrecht soll der Prozeß der Rechtsfindung insoweit in die drei Ebenen eines Auswählens, Verstehens und Anwendens von Rechtssätzen aufgegliedert werden. In einem 3. Abschnitt sollen die Perspektive auf die Dogmatik und die Perspektive auf den Prozeß der Rechtsfindung dann miteinander verbunden werden. Dabei wird die These vertreten, daß der Dogmatik auf den drei Ebenen der Rechtsfindung
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
jeweils eine durchaus unterschiedliche Funktion zukommt. Die zentrale Bedeutung der Dogmatik liegt insoweit auf der ersten Ebene eines Auswählens von Rechtssätzen. Die Aufgabe der Dogmatik besteht hier darin, eine Ordnung von Rechtssätzen zur Verfügung zu stellen, die es dem Rechtsanwender überhaupt erst ermöglicht, im Meer der Rechtssätze eine sinnvolle Auswahl für die Fallösung zu treffen. Auf der zweiten Ebene eines Verstehens der Rechtssätze dient die Dogmatik dann dazu, Auslegungsvorschläge in Form von Falltypen und Hilfsnormen zur Verfügung zu stellen, deren Einsatz es dem Rechtsanwender erleichtert, einen ausgewählten Rechtssatz sinnvoll anzuwenden. Auf die dritte Stufe der Anwendung des Rechtssatzes übt die Dogmatik hingegen keinen unmittelbaren Einfluß mehr aus. Vielmehr werden die Ergebnisse der Rechtsanwendung, wie sie vor allem von der Rechtsprechung veröffentlich werden, umgekehrt erst wieder bedeutsam für die Dogmatik, soweit sie daraus weitere Falltypen und Hilfsnormen entwickelt. Die Rechtsprechung erweist sich mithin einerseits als der entscheidende Prüfstein dogmatischer Arbeit, andererseits aber auch als ihre wesentliche Inspirationsquelle.
Erster Abschnitt
Die heutige Einschätzung der Funktionen juristischer Dogmatik Um die heutige Einschätzung der Funktionen juristischer Dogmatik in den Blick zu nehmen, kann im folgenden lediglich ein Ausschnitt aus einem überaus umfangreichen Schrifttum aufgegriffen werden, dessen erschöpfende Aufarbeitung in dem hier gesteckten Rahmen weder möglich ist noch das eigentliche Anliegen darstellt. Auch kann es nicht im Sinne eines radikalen Begriffsrealismus um eine exakte Definition dessen gehen, was präzise „die Dogmatik" ist, sondern lediglich um das Sprachspiel (im Sinne Wittgensteins), das die Juristen beim Gebrauch des Wortes Dogmatik spielen, und durch das dieses Wort seine bereichsspezifische Bedeutung erhält. Das bringt es mit sich, gelegentlich auch auf andere in diesem Kontext gebrauchte Begriffe (wie Jurisprudenz, juristische Methodenlehre, Rechtsmethodik, Rechtswissenschaft, Rechtslehre, Rechtstheorie u.s.w.) einzugehen. Damit soll das Untersuchungsfeld aber nicht ausgeweitet werden, sondern die Auseinandersetzung mit solchen Begriffen lediglich den Blick auf die Dogmatik weiter schärfen. Es ist ein Aspekt dieses Sprachspiels, daß es auch um historische Anleihen bereichert wird. Da nicht wenige Stellungnahmen zur Dogmatik bewußt auf diese historischen Zusammenhänge eingehen, erscheint es sinnvoll, ihnen eingangs etwas ausführlicher und durchaus kritisch nachzusinnen (I.). Dabei kann freilich auch nicht annähernd der Anspruch einer schulgerechten (rechts-) historischen Analyse erhoben werden. Es kann also weniger um die - begriffshistorisch sicherlich gelegentlich zweifelhafte - Authentizität dieser Anleihen gehen, als allein um die Tat-
1. Abschnitt: Die heutige Einschätzung
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sache ihrer Vornahme. Der Schwerpunkt der Betrachtung soll dann aber auch nicht bei dieser historischen Perspektive gesetzt werden, sondern bei der gegenwärtigen Sicht auf die Dogmatik (II.). Der Dogmatik wird dabei die Rolle eines notwendigen Korrektivs zugewiesen, das eine Weitungsfreiheit in Schach halten soll, wie sie dem Rechtsanwender durch die einflußreichen methodischen Strömungen der Interessenjurisprudenz und der Wertungsjurisprudenz zugestanden worden ist. Damit wird zugleich das Verhältnis von Dogmatik und juristischer Methodenlehre berührt, das daher abschließend in aller Kürze beleuchtet werden soll (III.).
I. Der Bedeutungswandel des Begriffs Dogmatik im Laufe der Jahrhunderte Das im Wort Dogmatik enthaltene Wort dogma (δόγμα) entstammt dem griechischen Verb dokein (δοκειν) und nimmt an dessen doppelter Bedeutung teil als „glauben, meinen, vermuten" einerseits und „beschließen" andererseits. 1 Dogma ist demnach der geglaubte, gemeinte oder vermutete Satz einerseits, der beschlossene Satz andererseits. Heutige Wörterbücher definieren nach wie vor in Anknüpfung an diese wörtliche Bedeutung Dogmen als feste, als Richtschnur geltende (insbesondere religiöse, kirchliche) Lehr- oder Glaubenssätze, Dogmatik als die wissenschaftliche Darstellung der (christlichen) Glaubenslehre. Ein Dogmatiker ist danach ein starrer Verfechter einer Ideologie, Anschauung oder Lehrmeinung oder einfach ein Lehrer der Dogmatik, Dogmatismus das starre Festhalten an Anschauungen oder Lehrmeinungen.2 Das ist jedoch erst eine jüngere Entwicklung. Der Darstellung von Elze zufolge wird der Begriff bis in die Neuzeit hinein im Kontext der Theologie überwiegend für partikulare Schulen und damit für häretische Lehren gebraucht. In der Bibel finde sich das Wort daher nur ganz selten. Im 5. Jahrhundert spricht Vinzenz von Lerinum dann vom dogma catholicum, das, von Gott offenbart, der Kirche anvertraut ist und als Auslegungsnorm der Heiligen Schrift dient. Erst ab dem 16. Jahrhundert finden sich dann alle Elemente der heutigen katholischen Definition von dogma als einem Satz, der Gegenstand derfides divina et catholica ist, den also die Kirche ausdrücklich als von Gott offenbart so verkündigt, daß seine Leugnung als Häresie verworfen wird. Für das protestantische Verständnis von dogma wird hingegen die Schriftgebundenheit und das Formale des Lehrmäßigen konstitutiv. Im 20. Jahrhundert wird dogma ein Begriff der systematischen Theologie, die bei aller Uneinigkeit in der Betonung des kirchlichen Momentes einig ist. Unter dogma wird mithin die Ubereinstimmung der kirchlichen Verkündigung mit der in der Heiligen Schrift bezeugten Offenbarung verstanden.3 1 2 3
Elze, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Sp. 275. Drosdowski, Duden Fremdwörterbuch, S. 194 f. Zum Ganzen Elze, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Sp. 275 f.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Das dogma umgebende Wortfeld ist in seinem heutigen Gebrauch also deutlich von theologischen Konnotationen geprägt. Es ist daher nicht allzu verwunderlich, wenn die Verwendung des Begriffs Dogmatik auch in der Jurisprudenz in enge Beziehung zum theologisch geprägten Sprachverständnis gerückt wird. So liegt für Bydlinski in der ,,'applikativen' Haltung, mit der der Jurist den Texten geltender Normen gegenüberzutreten hat, [ . . . ] eine offenbare Ähnlichkeit zu der, die Angehörige einer Religionsgemeinschaft zu den heiligen Schriften derselben oder Anhänger einer Ideologie zu den Werken ihres Begründers annehmen. Diese Haltung ist, solange die Juristen [ . . . ] in den ihnen vorfrndbaren positiven Rechtsnormen einen verbindlichen Ausgangspunkt ihrer Arbeit besitzen [ . . . ] geboten und daher in keiner Weise überholt". 4 Auf dieser Linie kam bereits 1959 Thul in einer Untersuchung, die explizit nach den Wurzeln des juristischen Sprachgebrauchs fragt, zu dem Ergebnis, „daß der Terminus Dogmatik, welcher eindeutig seine Heimat im theologischen Bereich hat, seit Anfang des 19. Jahrhunderts in der Rechtswissenschaft wachsende Verbreitung fand". 5 In die Rechtswissenschaft ist der DogmatikBegriff nach Auffassung Thuls „im Laufe des 18. Jahrhunderts über Christian Wolff und seine Schüler [ . . . ] gelangt".6 Die Gegenthese zur theologischen Verwurzelung des juristischen Sprachgebrauchs wird heute in erster Linie von Herberger vertreten. 7 Seiner Auffassung nach haben die Juristen ihren Dogmatik-Begriff aus der Wissenschaftstheorie der Erfahrungswissenschaften übernommen. Zwar gebe es zwischen der Entwicklung in der Theologie und der juristischen Dogmatik-Geschichte eine Vielzahl von Entsprechungen. Diese hätten ihren Grund aber vielfach nicht darin, daß die Juristen sich in ihrem Dogmatik-Begriff an den Theologen orientiert hätten. Ausschlaggebend gewesen sei vielmehr eine für alle Fächer maßgebliche „dogmatische" Methodenlehre, die ihren Einfluß auf die hermeneutischen Disziplinen der Jurisprudenz und der Theologie gleichermaßen ausgeübt habe.8 Diese These ist insoweit von Bedeutung, als sie nicht nur auf die Nähe von Dogmatik und Methodenlehre hinweist, sondern auch einer allzu oberflächlichen erkenntnistheoretischen Herabwürdigung der Dogmatik zu einer Disziplin mit überzogenen apodiktischen Ansprüchen den Boden entreißt. Sie soll daher etwas eingehender beleuchtet werden, wobei sich die Darstellung allerdings auf drei markante Entwicklungslinien be4 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 35. Eine Parallele zwischen Jurisprudenz und Theologie stellt auch Meyer-Cording her, Kann der Jurist heute noch Dogmatiser sein?, S. 7 ff., 22 f. Die Kennzeichnung der Dogmatik durch das Ausgehen von unveränderlichen Autoritäten, und zwar zunächst von Texten, streicht Esser, allerdings ohne expliziten Bezug auf die Theologie, heraus, etwa in AcP 172 (1972), 97 (110 f.); ders., Vorverständnis und Methoden wähl, S. 88 f. 5 Thul, Rechtsdogmatik, S. 33. 6
Thul, Rechtsdogmatik, S. 33. Herberger, Dogmatik, stützt seine Überlegungen auf eine umfangreiche Quellenforschung, deren zeitlicher Rahmen von der hellenistischen Antike bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts reicht. 8 Herberger, Dogmatik, S. 5, 127. 7
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schränkt, die, wie sich anschließend zeigen wird, 9 für das heutige Verständnis von Dogmatik in besonderem Maße prägend geblieben sein dürften. Den Ausgangspunkt bildet die aus der Antike überlieferte Kennzeichnung dogmatischer Aussagen als wahrscheinliche Sätze, die in einen bewußten Gegensatz zu den apodiktischen, also sicheren oder gar wahren Sätzen gestellt werden. Dabei wird bereits deutlich, daß der fehlende Wahrheitsanspruch wahrscheinlicher Sätze noch keinen Verzicht auf eine strenge logische Methodik der Argumentation bedeuten muß (1.). Diese geteilte Sicht wird in der Moderne erneut von Kant thematisiert, der in seiner Kritik der reinen Vernunft die kritische oder unkritische Einführung von Prämissen der Argumentation von einer in beiden Fällen möglichen und erforderlichen strengen Beweisführung unterscheidet (2.). Auch auf dem Gebiet der Jurisprudenz hat sich diese geteilte Sicht dann schließlich durchgesetzt, wenn einerseits ein Anspruch der Dogmatik, unumstößliche und wahre Aussagen machen zu können, ganz dezidiert zurückgewiesen wird, gleichwohl sich aber das Ideal einer strengen logischen Argumentationsweise erhalten konnte, wie es vor allem im 19. Jahrhundert zweifelhaften Ruhm erlangt hatte (3.).
1. Die dogmatische Methode als Methode der Erfahrungswissenschaften seit Plato Der Bedeutungsaspekt von dogma (lat. decretum) 10 als ein Terminus der Rechtssprache läßt sich bereits bei Plato erkennen. So wird in den Gesetzen die vernünftige Überlegung, was von verschiedenen Meinungen über die Zukunft das bessere oder schlechtere sei, „wenn sie zur gemeinsamen Uberzeugung eines Staates geworden ist, Gesetz [dogma]" genannt.11 Allgemein gehalten verwendet Plato dann mit Blick auf die Sophisten dogma für einen auf Erfahrung beruhenden, durch Verallgemeinerung gewonnenen wahrscheinlichen Satz: „Es ist so, als wenn jemand sich eine große und gewaltige Bestie aufzieht und mit gutem Bedacht ihre Triebe und Begierden studiert, wie man sich ihr nahen und wie man sie anfassen muß, [ . . . ] durch was für Töne eines anderen sie besänftigt und zur Wut gereizt wird; hat er aber dies alles durch langdauernden Umgang mit ihr erfahren, so [ . . . ] nennt [er] das Weisheit [dogma] und bringt es als ein kunstgerechtes Verfahren [techne] auf wissenschaftliche Regeln und wirft sich zum Lehrer dieser Wissenschaft auf, ohne doch in Wahrheit von diesen Lehren und von diesen Begierden zu wissen." 12 9 Unten 2. Teil. II. 10 Zu dieser Parallele zwischen griechischer und lateinischer Wortbedeutung vgl. Elze, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Sp. 275. 11 Plato, Gesetze I, 644 c,d (ähnlich 645 a,b). Zur schwierigen Frage der Einordnung weiterer Fundstellen bei Plato vgl. Herberger, Dogmatik, S. 14 ff. 12 Plato, Staat, hrsg. v. Apelt, 493 a,b; für den griechischen Text vgl. die von Eigler herausgegebene Übersetzung, 493 a,b.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Den Sophisten wird damit der übersteigerte Anspruch vorgeworfen, daß sie ihre Dogmen als Weisheit und nicht als das bezeichnen, was sie sind, nämlich lediglich Aussagen über Wahrscheinliches.13 Auch für Aristoteles ist dogma eine allgemeine Aussage, die auf einer Anzahl gleichartiger verläßlicher Sinneswahrnehmungen beruht. Solche Dogmen sind für ihn nur wahrscheinliche und keine sicheren Sätze, weil eine bei vielen Gegenständen gemachte Beobachtung auf alle Gegenstände eines bestimmten Bereichs ausgedehnt wird. Daher muß man immer die Wahrscheinlichkeit derartiger Sätze gegeneinander abwägen und darf sich nur die wahrscheinlichsten von ihnen zu eigen machen, die dann in der Topik als Dogmen zu dialektischen Prämissen einer topischen Argumentation werden. Solche zulässigen Prämissen sind Sätze, die „in doxa stehen", wobei Aristoteles dogma und doxa gleichsetzt. Aristoteles kennzeichnet diese Sätze dahin, daß sie entweder allen oder den meisten oder den Weisen glaubwürdig erscheinen.14 Wenn topisches Argumentieren nun auch wegen der geringeren Qualität der Prämissen keine apodiktische Sicherheit erlangen könne, so sei die topische Argumentation gleichwohl von der methodischen Strenge des Argumentierens mit apodiktischen Aussagen nicht dispensiert. Die strengen Regeln der syllogistischen Schlußfolgerung gelten also auch in der Topik. Der Methodenbestand der Topik umfaßt somit das Gewinnen von Begriffen durch Abstraktion (induktives Verallgemeinern), Zerlegen dieser Begriffe in Unterbegriffe, korrektes Definieren des so erarbeiteten begrifflichen Instrumentariums und schließlich syllogistisches Schlußfolgern. Die Vertreter der methodisch richtigen Behandlung von „Dogmen" wurden so allmählich zu einer „dogmatischen" Schule. Das Adjektiv „dogmatisch" charakterisierte damit die Methodenlehre. 15 Als zusammenfassende Bezeichnung für die Regeln der richtigen Lehrmethode geht die Bezeichnung „dogmatisch" dann mit Quintilian in die Lehrbücher ein und bleibt von nun an Bestandteil des rhetorischen Schulbetriebs, in dem dogmatisch als „zum Zwecke des Lehrens verfaßt" definiert wird. Mit dem Anspruch, eine „rationale Methodenlehre" zu vertreten, wird das methodisch richtige Vorgehen bei Aufbau und Lehre einer ars damit ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. „dogmatisch" genannt.16 Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert wird das Wort dogma dann bereits so häufig verwendet, daß nähere Bestimmungen über eine Bedeutung als „Lehrmeinung" hinaus nur schwer auszumachen sind. Dogmen sind hier (erneut lediglich wahrscheinliche) Allsätze, die auf einer Zusammenfassung von Einzelbeobachtungen beruhen. Will man aus den bewährten, also durch Erfahrung kritisch geprüften Dogmen eine techne aufbauen, so benötigt man weitere methodische Regeln, mit deren Hilfe man „methodisch" diese Sätze zu einem System ordnen kann. Als Mindestvoraussetzung muß dabei garantiert sein, daß die Dogmen miteinander verträglich sind. 17 13 So auch Herberger, Dogmatik, S. 14 f. Vgl. Aristoteles, Topik, Erstes Buch, 10. Kapitel, 104a, und hierzu Herberger, tik, S. 29. 15 Vgl. zum Ganzen die eingehende Analyse bei Herberger, Dogmatik, S. 30 ff. 16 Herberger, Dogmatik, S. 79 f. 14
Dogma-
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Die so skizzierte dogmatische Methodenlehre wurde aus der Perspektive Herbergers dann auch für die Jurisprudenz maßgeblich. So erscheint es aus seiner Sicht zwar hinsichtlich der Abfassung des corpus iuris noch zweifelhaft, ob Justinian und die bei der Abfassung des corpus iuris mitwirkenden Rechtsgelehrten mit diesem Dogmatik-Verständnis vertraut gewesen seien.18 Sehr viel wahrscheinlicher ergäben die Quellen jedoch, daß die Bologneser Juristen des 12. Jahrhunderts über entsprechende Kenntnisse einer dialektischen Methodenlehre verfügten, nach der die Argumentation entweder mit Hilfe von Syllogismen deduktiv aus gegebenen Prämissen vorgehe, also vom Allgemeinen zum Besonderen, oder sich der Induktion bediene, also vom Besonderen zum Allgemeinen voranschreite. 19 Die Bedeutung der Induktion für die Regelbildung wird dann nach Herberger unter den Glossatoren vor allem von Azo herausgestrichen. 20 Nach Azo sei es für den Juristen unerläßlich, Ähnlichkeitsvergleiche zwischen Fällen anzustellen. Dies hilft über das Problem hinweg, daß es mehr Sachverhalte als Worte gibt. Die unendliche Zahl von Fällen wird also in Ahnlichkeitsklassen eingeteilt, damit eine unbegrenzte Zahl an Sachverhalten mit einer begrenzten Zahl von Sätzen erfaßbar wird. 21 Der hiermit umrissene methodische Bedeutungsaspekt, den die Dogmatik oder das dogmatische Vorgehen im 13. Jahrhundert erlangt hat, ist in der Einschätzung Wieackers für die folgenden Jahrhunderte prägend geblieben. Durch Exegese, Harmonisierung und Regelbildung sei unter den Glossatoren ein Lehrgebäude von (formal) widerspruchsfreien Sätzen und damit vielleicht die erste autonome juristische Dogmatik der Weltgeschichte überhaupt entstanden. Bis heute sei dieses Lehrgebäude der Ahnherr der Rechtsdogmatik des europäischen Festlandes.22
2. Die Prägung des Sprachgebrauchs durch Christian Wolff und Immanuel Kant Erneut aufgegriffen wird der methodologische Bedeutungszusammenhang des Wortfeldes dogma dann Anfang des 18. Jahrhunderts durch Christian Wolff. Für Wolff besteht fachübergreifend ein Satzsystem aus Dogmen, die nach bestimmten Regeln zu einem dogmatischen System geordnet werden. Der Begriff des Dogmas wird auf diese Weise in eine Nähe zu Fragen der methodologisch angemessenen Beweisführung gerückt, die im Sprachgebrauch zur Dogmatik bis heute prägend 17 Herbergen Dogmatik, S. 83 ff. 18 Herberger, Dogmatik, S. 132 ff. 19
Vgl. Herberger, Dogmatik, S. 163 ff. Zum vielfältigen Begründungsstil bereits der römischen Juristen der Antike Wieacker, in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (322). 20 Zu Azo neben Herberger, Dogmatik, S. 177 ff., auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 59 ff. 21 Vgl. Herberger, Dogmatik, S. 177, der daraufhinweist, daß der Gedanke vermutlich bereits auf Aristoteles zurückgeht. 22 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 59.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
geblieben ist. 23 Indem Wolff unter dogma nun nicht nur Allsätze der Mathematik versteht, propagiert er auch für die Abfassung von Schriften in anderen Fakultäten eine der Mathematik zwar entlehnte, jedoch für die Abfassung einer jeglichen wissenschaftlichen Beweisführung maßgebliche Lehrart. 24 So faßt er in Entgegnung auf den Vorwurf, „mathematische Beweise fänden in der Welt-Weisheit nicht statt, am allerwenigsten aber könte man sie in der Metaphysick verlangen", die Hauptstücke der mathematischen Lehrart wie folgt zusammen: „1. daß alle Wörter, dadurch die Sachen angedeutet werden, davon man etwas erweiset / durch deutliche und ausführliche Begriffe erkläret werden; 2. daß alle Sätze durch ordentlich an einander hangende Schlüsse erwiesen werden; 3. daß kein Förder-Satz angenommen wird, der nicht vorher wäre ausgemacht worden/und solchergestalt die folgenden Sätze mit dem vorhergehenden verknüpfft werden / gleichwie man die folgenden Erklärungen mit den vorhergehenden verbindet, in dem man in ihnen Wörter brauchet, die im vorhergehenden erkläret werden". 25 Für Wolff sind diese Regeln über die Mathematik hinaus allgemeine Regeln, „die man in acht nehmen muß, wenn man etwas gründlich erkennen will"; warum sollte man „sie nun nicht auch ausser der Mathematik brauchen können, wenn man eine Sache gründlich zu erkennen bemüht ist"? 26 So müsse man in jeder Disziplin die Wörter erklären, „weil die Wörter Zeichen der Gedancken sind, wodurch man sich die Sachen vorstellet, und demnach einem jeden Worte sein Begriff zukommen muß, wenn es verständlich seyn soll". Im Begriff sei mithin „dasjenige enthalten [ . . . ] , wodurch eine Sache in ihrer Art determiniert wird, damit man daraus ihre übrige Eigenschafften und was ihr sonst zugeeignet werden mag, erweisen kan". Ebenso bleibe jeder Satz, der aus anderen als einem zuvor ausgemachten Fördersatz geschlossen wird, zweifelhaft und lasse sich nicht völlig erweisen. 27 Der Nutzen der Wolff sehen Methodenlehre bestand für den Juristen darin, daß man mit ihr ebenso Rechtstexte, allen voran das corpus iuris, systematisieren konnte, wie auch ein überliefertes Fallrecht. 28 In nachfolgenden Zeiten ist sie gleichwohl auf teilweise scharfe Kritik gestoßen. So merkt Wieacker aus heutiger Sicht an, daß bei Wolff, indem er in seiner Lehrart den Anspruch einer Strenge des geometrischen Beweises erhebe, der logische Rationalismus des jüngeren Vernunftrechts auf einen äußersten Punkt gelangt sei. Sei in der älteren Gemeinrechtswissenschaft der analytische Schluß aus einem Einzeltext von autoritativer Geltung das methodische Werkzeug gewesen, so werde nun der synthetische, d. h. systemgerecht auf die letzten Obersätze zurückführbare Rechtsbegriff zum letzten wissen23 Elze, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Sp. 276, mißt dem Werk Wolffs denn auch die Bedeutung einer Rückführung des dogma-Begriffs in die Philosophie bei. Näher zum Dogmatik-Begriff bei Wolff Herberger, Dogmatik, S. 330 ff. 24 Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, §§ 22 ff. (S. 52 ff.). 25 Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, § 25 (S. 61 f.). 26 Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, § 25 (S. 64). 27 Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, § 25 (S. 63 f.). 28 Herberger, Dogmatik, S. 332 f.
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schaftlichen Entscheidungsgrund. Zum einzigen Geltungsgrund der Sätze werde gleichsam die Widerspruchsfreiheit der logischen Aussage.29 Nicht gegen die Methode selbst, aber doch gegen ihren Mißbrauch hatte sich auch bereits Wolffs Schüler Pütter gewandt, wenn er kritisierte, man habe die Deduktion aus willkürlich angenommenen Prämissen ganz an die Stelle der Forschung treten lassen.30 Auch Kant sieht bei genauerer Hinsicht wenig Anlaß, an der Wolff sehen Lehrart als solcher zu zweifeln. Kant verfolgt in seiner zentralen kritischen Schrift erklärtermaßen die Absicht, die Denkart in der Metaphysik wenn nicht gar zu revolutionieren, so doch zumindest erste Versuche einer Umänderung zu machen und ihr den sicheren Gang einer Wissenschaft zu geben.31 Die Frage nach der Möglichkeit von Metaphysik aufwerfend, spricht Kant der spekulativen Vernunft alles Fortkommen über die Erfahrungsgrenze hinaus ins Übersinnliche ab. 32 Bei dieser Beschränkung aller nur möglichen spekulativen Erkenntnis der Vernunft auf bloße Gegenstände der Erfahrung wird aber vorbehalten, „daß wir dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können". 33 Kant schafft so das Nebeneinander eines (erweiterten) praktischen Gebrauchs der Vernunft und eines (beschränkten) Gebrauchs spekulativer Vernunft. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit werden zu Postulaten der praktischen Vernunft, nicht zu Gegenständen gültiger Aussagen der spekulativen Vernunft a priori. 34 Für das überkommene Wissen seiner Zeit, das sich überschwenglicher Einsichten anmaßt, anstatt sie den Postulaten der praktischen Vernunft zu belassen, hatte Kant entsprechend keinen Raum mehr: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen".35 29
Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 319 f. Pütter, Teutsches Staatsrecht, Erster Theil, S. 444 f.: „Nur das war gefehlt, das manche jetzt solche Wahrheiten, die man aus ganz anderen Quellen schöpfen muß, bloß philosophisch und am Ende meist nur aus angenommenen Begriffen und Sätzen demonstrieren wollten, indem zu einer gründlichen Wissenschaft es ihnen gnug zu seyn schien, wenn eine Reyhe von Begriffen und Sätzen in gewissen Zusammenhang geknüpft, und in das äusserliche Gewand eines so genannten Beweises eingehüllet wäre. [ . . . ] Und, was das schlimmste war, man fing an, Sprachen, Philologie, Alterthümer, Geschichte, Erfahrungen, Beobachtungen, Gesetze und alle Quellen von der Art, zu denen der Zutritt etwas mühsamer als eine bloß durch Nachdenken herausgebrachte Definition oder Demonstration ist, so zurückzusetzen, daß Teutschland allerdings Gefahr lief, in eine wahre Barbarey zurückzufallen, wenn dieser Geschmack noch allgemeiner geworden wäre." Vgl. hierzu auch Herberger, Dogmatik, S. 343 f. 30
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Vgl. Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Β XXII, Anmerkung, Β XIX. Scharfe Kritik an diesem Anliegen äußert Wilhelm Schapp, Philosophie der Geschichten, S. XVI. In der reinen Vernunft sieht er das Ende aller Geschichten. 32
Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Β XXI, XXIV. Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Β XXVI. 34 Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Β XXIX, XXX. 35 Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Β XXX. Dem Gedanken, daß mit dem richtigen Vernunftgebrauch nicht der Anspruch verbunden sein kann, neben den Bereichen der theoretischen und der praktischen Vernunft zugleich den Glauben zu begründen, geht Schapp weiter nach, ZEE 1999, 174 (179 f.): Die Vernunft vermöge dem Glau33
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Für den Sprachgebrauch des Wortfeldes dogma ist es nun in besonderer Weise erhellend, wie Kant dieses berühmte Dictum enden läßt: „und der Dogmatism der Metaphysik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist." 3 6 Mit dem Dogmatismus greift Kant also in erster Linie die aus seiner Sicht unkritischen und arroganten Ansprüche der philosophischen Schulen an. 37 Seine Kritik richtet sich gegen „die Anmaßung, mit einer reinen Erkenntnis aus Begriffen [ . . . ] , nach Prinzipien, so wie sie die Vernunft längst im Gebrauch hat, ohne Erkundigung der Art und des Rechts, womit sie dazu gelanget ist, allein fortzukommen." 38 Einen wesentlichen Hintergrund des Sprachgebrauchs bei Kant bildet also seine Verurteilung eines unkritischen Dogmatismus. Besonders deutlich wird dies, wenn Kant den Dogmatismus als „das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens" bezeichnet, im gleichen Atemzug aber den Anspruch an die Wissenschaft heranträgt, „jederzeit dogmatisch, d. i. aus sicheren Prinzipien a priori strenge beweisend" zu sein. 39 An der dogmatischen Methode hält Kant damit aber durchaus fest, deren Kern er in der Gewährleistung eines systematischen Vorgehensweise des Denkens sieht, und die er an dieser Stelle denn auch mit der „strengen Methode des berühmten Wolff, des größten unter allen dogmatischen Philosophen" umschreibt, „wie durch gesetzmäßige Feststellung der Prinzipien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei". 40 „Diejenigen, welche seine Lehrart und doch zugleich auch das Verfahren der Kritik der reinen Vernunft verwerfen, können nichts anderes im Sinne haben, als die Fesseln der Wissenschaft gar abzuwerfen, Arbeit in Spiel, Gewißheit in Meinung, und Philosophie in Philodoxie zu verwandeln." 41 Das Vorgehen Kants läßt sich also so deuten, daß er dem Begriff der dogmatischen Methode Woljf scher Prägung zwar eine positive Bedeutung beläßt, sich aber zur Äußerung von Vorbehalten gezwungen sieht, um nicht seinerseits wie die Anhänger des verhaßten Dogmatismus einem unkritischen Akt zu unterliegen. 42 ben höchstens den Platz freizuhalten, was nicht dasselbe sein könne, wie den Glauben begründen. Das Verhältnis von Glaube und Vernunft könnte dann schließlich eine Frage sein, die in die Kompetenz der Lehre vom Glauben und nicht in die Kompetenz der Lehre von der Vernunft fiele. 36
Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Β XXX. Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Β XXXIII. 38 Vgl. Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Β XXXV. 39 Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Β XXXV. 40 Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Β XXXVI. 41 Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Β XXXVII. 42 Noch weitergehend, kann man in dieser Kritik des Dogmatismus auch die implizite Behauptung eines undogmatischen Charakters der Metaphysik erkennen, so Fischer, ThGl 89 (1999), 349 (353). Kant kann sich freilich nur mühsam zu seiner positiven Wortwahl durchringen. Seine Zweifel resultieren aus der Beobachtung, daß die dogmatische Methode ihrer 37
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3. Die Hinwendung der Jurisprudenz zur Praxis im 19. Jahrhundert Trotz dieser differenzierten Sicht Kants auf die Methode Wolffs ließ sich nicht verhindern, daß den Anhängern der in der Tradition Wolffs stehenden Methode immer wieder vorgeworfen wurde, sie wollten das positive Recht aus erdachten Prinzipien deduzieren. So bemerkt etwa Enneccerus, der im kräftigen Aufschwung begriffenen Philosophie sei es leicht gewesen, auf eine im 18. Jahrhundert fast zum Handwerk herabgesunkenen Rechtswissenschaft einen bestimmenden Einfluß auszuüben, doch habe dieser Einfluß „wenn er auch den Sinn für Systematik und Abstraction schärfte, zunächst wenig vorteilhaft gewirkt". 43 „Von Anfang an hätte sich das Unhaltbare dieser ganzen Richtung zeigen müssen, wenn man mit strenger Selbstkritik die vermeintlichen Schlüsse aus Vernunft oder aus der allgemeinen Natur Gottes, der Menschen und der Welt geprüft hätte; allein indem man in unendlich vielen Dingen unbewusst die Ueberzeugung von der absoluten Notwendigkeit der herrschenden Rechtseinrichtungen mitbrachte, also mit andern Worten das Schlussresultat, das doch erst durch wiederholte Deduction hätte gefunden werden sollen, in Wirklichkeit schon fertig in der Tasche trug, so handelte es sich in Wahrheit wesentlich nur darum, das positive Recht mit allgemeinen aus der Vernunft deducirten Wahrheiten und Principien in wirkliche oder scheinbare Uebereinstimmung zu bringen und dasselbe in ein allgemeines abstractes Schema einzuordnen." 44 Der Gegenstand der Rechtswissenschaft wurde nun anstatt durch Abstraktionen des Vernunftrechts oder Befehle des aufgeklärten Gesetzgebers durch die Geschichtlichkeit des gegenwärtigen Rechts vorwegbestimmt begriffen. Für Wieacker trat damit zum ersten Mal die Beziehung der Rechtsnorm auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ins Bewußtsein der Rechtswissenschaft ein, was die alte Autorität des corpus iuris und der zweidimensionale Rationalismus des Naturrechts bisher verwehrt hätten.45 Die Methode der System- und Begriffsbildung sowie die logische Deduktion rechtlicher Entscheidungen aus System und Begriff Herkunft nach der Mathematik entlehnt wird, Mathematik und Philosophie aber so verschieden seien, daß sie das Verfahren niemals voneinander nachahmen können. Schon das Wort Dogma, „welches Wort man vielleicht durch Lehrspruch übersetzen könnte", zeigt aus der Sicht Kants, wie unpassend diese Methode auf dem Gebiet der Philosophie ist, würde man doch „schwerlich die Sätze der Rechenkunst, oder Geometrie, Dogmata nennen." Tut die Philosophie also auch gut daran, sich nicht eine ihrem Gegenstand unangemessene Methode anzumaßen, so hält Kant aber auch hier daran fest, daß die Methode gleichwohl immer systematisch sein könne, vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 754, 762 ff. Diese Gleichsetzung von Dogmatik und Systematik hat sich bis heute erhalten. 43
Enneccerus, Friedrich Carl v. Savigny und die Richtung der neueren Rechtswissenschaft, S. 23. Hierzu Herberger, Dogmatik, S. 343 f. 44 Enneccerus, Friedrich Carl v. Savigny und die Richtung der neueren Rechtswissenschaft, S. 24. 45 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 358, 353 f.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
begreift Wieacker indes nach wie vor als der „demonstrativen Methode" des jüngeren Wolff entlehnt. Am deutlichsten tritt für ihn das Erbe des Woljfschen Rationalismus in Puchtas „Begriffspyramide" hervor, aber auch noch in den Schriften des jüngeren Jhering. 46 Mit Puchta, der als Begründer der klassischen Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts gilt, 4 7 sei nun freilich zunächst „das vom frühen Jhering als ,Konstruktionsjurisprudenz 4 gepriesene und später verhöhnte, von der Interessenjurisprudenz als ,Inversionsmethode' gerügte Verfahren" in die Jurisprudenz eingeführt worden, Lehrsätze und Entscheidungen aus dem Begriff abzuleiten, anstatt vielmehr System und Begriffe durch Induktion aus Rechtsnormen, Urteilen und sozialen Bewertungen zu erarbeiten. Damit sei aber der Formalismus zum Siege geführt, bei dem eine Erneuerung der Wissenschaft anlangte, die einst als Erhebung gegen den formalen Rationalismus des Vernunftrechts aufgebrochen war. 48 Eine Umkehr dieses Rechtsdenkens wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann maßgeblich von Jhering eingeleitet, der damit den Weg für das Entstehen der Interessenjurisprudenz ebnete, wenn auch als deren eigentlicher Begründer dann erst Philipp Heck gilt. 4 9 War Jhering in seiner frühen Schaffensperiode noch der Auffassung, daß sich mit der unter dem Einfluß von Puchta stehenden Methode die praktischen Rechtsprobleme der Zeit lösen ließen, wandte er sich in den späten fünfziger und sechziger Jahren zunehmend von ihr ab und sah schließlich den entscheidenden Gesichtspunkt der Rechtsfindung darin, jede Rechtsnorm als von praktischen Zwecken bedingt zu verstehen. 50 Das heutige Verständnis von Rechtswissenschaft und Dogmatik ist tief von dieser Entwicklung geprägt. Bedeutsam erscheint vor allem, daß Jhering die Dogmatik, bereits 1852 im ersten Band zum Geist des römischen Rechts, auf die Seite des Praktischen und Anwendbaren rückt. Die historischen Rechtstexte werden von ihm als ehemals dogmatische, praktische Absichten erfüllende Texte qualifiziert, woraus für Jhering die Notwendigkeit einer umfangreichen Quellenforschung resultiert: „Die dogmatische Bearbeitung des Rechts irgend einer Zeit von einem Zeitgenossen darf einem spätem bei seiner historischen Darstellung desselben nie als Maßstab oder Vorbild erscheinen, denn sein Vorgänger sagt manches nicht, was er könnte, weil es für seine Leser überflüssig ist - dies muß dieser für sein Publikum aus andern historischen Quellen zu er46
Wieacker y Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 373 f. Hierzu Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 400; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 20 (Fn. 5). Puchta selbst hat seine Lehre freilich nicht selbst als Begriffsjurisprudenz bezeichnet. Die Kennzeichnung der methodischen Denkweise Puchtas, des frühen Jherings und Windscheids als „Begriffsjurisprudenz" wird vielmehr Heck zugeschrieben, vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 49. 47
48
Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 401 f. Coing, in: 375 Jahre Rechtswissenschaft in Gießen, S. 1 (9). 50 Coing, in: 375 Jahre Rechtswissenschaft in Gießen, S. 1 (9), der auf den Titel des großen Alterswerks Jherings verweist, Der Zweck im Recht. Zur frühen Schaffensperiode von Jhering vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 450 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 24 ff. 49
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gänzen suchen".51 Zur Funktionsbestimmung einer praktisch verstandenen Dogmatik wählt Jhering den Begriff des Dogmas, in dem er gleichermaßen die „Gesetze, Rechtssätze und Begriffe" oder noch kürzer „Gesetzgebung und Doktrin" zusammenfaßt. 52 Er hält es dabei für eine Grundkonstante über die Zeiten hinweg, daß „zwischen dem objektiven Recht, wie es tatsächlich herrscht und zur Anwendung gelangt, und seiner Fassung in Form von Rechtssätzen, dem Dogma, keine vollständige Kongruenz besteht".53 Man kann diesen unbefangenen Umgang Jherings mit den Begriffen Dogma und Dogmatik dahin deuten, daß seine an organischen Phänomenen orientierten Theoriemodelle die Dogmatik der Schule Wolffs verdrängt haben, und man von nun an in eine wenig hilfreiche naturhafte Bilderwelt auswich oder resignierend auf eine Weiterentwicklung des logischen Instrumentariums verzichtete. 54 Betrachtet man das Meinungsspektrum der Gegenwart zur juristischen Dogmatik, so erweist sich dieser Standpunkt aber doch als zu eng. Aus heutiger Sicht liegt im Dogmatik-Verständnis Jherings weniger ein Endpunkt, als allenfalls eine Zäsur innerhalb eines fortwährenden Entwicklungsprozesses, innerhalb dessen sich der Standpunkt Jherings schließlich, ebenso wie die anderen beleuchteten Bedeutungsakzente zur Dogmatik, auch nur als ein Aspekt unter anderen erweist. Es wäre daher umgekehrt ebenso verkürzt, diese moderne Entwicklung allein bei Jhering anzusiedeln, der mit seiner Arbeit das heutige Dogmatik-Verständnis auch eher indirekt als bewußt mit eigenständigen Reflexionen beeinflußt hat. Gemeint sein kann lediglich die Fortentwicklung der Rechtswissenschaft, die von Jhering eingeleitet zum Aufkommen einer pragmatischen Jurisprudenz geführt hat, wie sie dann vor allem Heck mit der lnteressenjurisprudenz begründet hat, 55 und als deren radikale Weiterführung man dann die um die Jahrhundertwende einsetzende Freirechtsbewegung deuten kann. 56
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Jhering, Geist des römischen Rechts, Teil 1, S. 57 f. Jhering, Geist des römischen Rechts, Teil 1, S. 47, 55. 53 Jhering, Geist des römischen Rechts, Teil 1, S. 33. Näher zum Ausdruck kommt die Unterscheidung Jherings zwischen einer auf das geltenden Recht bezogenen Dogmatik und der Rechtsgeschichte dann auch in seinem Einleitungsaufsatz mit dem Titel „Unsere Aufgabe" zu den Jahrbüchern für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts, Bd. 1, 1857, S. 22 ff. 52
54 So Herberger, Dogmatik, S. 411 f. 55 Vgl. Jhering, Der Zweck im Recht; Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; ders., Gesetzesauslegung und lnteressenjurisprudenz; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz. Zur älteren Interessenjurisprudenz um Heck, Stoll und Müller-Erzbach vgl. ausführlicher Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 49 ff. 56 Vgl. hierzu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 59 ff., sowie eingehend Kaufmann, JuS 1965, 1 ff.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
II. Die juristische Dogmatik aus gegenwärtiger Sicht Blickt man nun in die Gegenwart, so zeigt sich, daß der Dogmatik auch heute noch die Bedeutung beigemessen wird, eine Ordnung der Rechtsfindung zu ermöglichen. Man kann das dahin deuten, daß das Aufkommen der Interessenjurisprudenz einerseits zu einer Emanzipation der Rechtswissenschaft von den Zwängen eines vernunftrechtlichen Rationalismus oder einer den Systemgedanken übersteigernden Begriffsjurisprudenz führte, daß das methodische Vermächtnis dieser Strömungen andererseits aber zur Zügelung einer allzu großen Wertungsfreiheit des Rechtsanwenders eine, wenn auch abgeschwächte, Bedeutung behielt (1.). Dieser an die Dogmatik herangetragene Anspruch einer Gewährleistung rationaler Rechtsanwendung schlägt sich darin nieder, daß man der Dogmatik die beiden zentralen Funktionen beimißt, den Rechtsstoff zu ordnen und Vorschläge zur Auslegung und Anwendung von Normen herauszuarbeiten. Damit deutet sich bereits der Wirkungsbereich juristischer Dogmatik an, wie er später innerhalb eines dreistufigen Modells der Rechtsfindung auf den Stufen des Auswählens und des Verstehens angesiedelt werden soll (2.). 57 Diese Kennzeichnung der Dogmatik entspringt nun freilich zunächst Stellungnahmen, wie sie allein in der Rechtswissenschaft vorgetragen werden. Ein abschließender Blick auf das Dogmatik-Verständnis der Rechtsprechung zeigt dann aber, daß diese Sichtweise auch in der Praxis der Rechtsanwendung vorherrschend ist (3.).
1. Das Bild einer pragmatischen Jurisprudenz als Bezugspunkt heutiger Dogmatik In der Darstellung des gegenwärtigen Meinungsspektrums soll an eine Diskussion über Dogmatik angeknüpft werden, die innerhalb der deutschen Zivilrechtswissenschaft vor allem Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre entfacht war, und deren Ursachen hier nicht weiter nachzusinnen ist, zu der die aufkommenden soziologischen Strömungen und die vielfältigen Reformpläne zur Justiz und zur Juristenausbildung aber immerhin ihren nicht unwesentlichen Beitrag geleistet haben mögen.58 Aus dieser Diskussion ist schließlich auch der Topos einer „Krise der Rechtsdogmatik" hervorgetreten, der sich bis heute in Beiträgen zur 57 Vgl. unten 2. Teil, 3. Abschnitt. 58 Harsche Kritik an den Methoden und Prämissen dieser Diskussion hat Struck geübt. Indem „gewissermaßen die Methode der Diskussion und der Gegenstand der Diskussion identisch sind, kann es zu keinen Aussagen über den Gegenstand in einem echten Sinne kommen", auf diese Weise werde die Dogmatikdiskussion „in einer typisch dogmatischen Manier geführt"; vgl. Struck, JZ 1975, 84. Wenn man wie Struck demgegenüber einen „langen Marsch" für angebracht hält, „soviel wie mögliche Definitionselemente und Funktionszuschreibungen zu erfassen", so ist es aber gerade deshalb auch nur ein Aspekt neben anderen, die Diskussion als „typisch dogmatisch" zu bewerten. Wieso sollte die Diskussion deshalb aber abzubrechen sein?
1. Abschnitt: Die heutige Einschätzung
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Dogmatik wiederfinden läßt. 5 9 Es soll nun nicht das Anliegen verfolgt werden, diese Debatte in alle, insbesondere soziologischen und systemtheoretischen Verästelungen hinein nachzuzeichnen und eigenständig zu würdigen. Die Auswahl beschränkt sich vielmehr auf einige Standpunkte, die sich als besonders wirkungsmächtig erwiesen haben und damit auch heute noch von Aktualität sind. Auch die jüngeren Beiträge zur juristischen Dogmatik stehen überwiegend unter ihrem Einfluß. 60 Die Ausrichtung des heutigen Dogmatik-Verständnisses in der Jurisprudenz auf die Praxis der Rechtsanwendung läßt sich in zweierlei Hinsicht weiter ausleuchten. Z u m einen wird heute einhellig die Vorstellung zurückgewiesen, daß die Dogmatik unangreifbare apodiktische Aussagen zum Recht macht (a). Damit eng verbunden ist eine pragmatische Auffassung vom Prozeß der Rechtsfindung selbst. A u f dem Gebiet des Zivilrechts leuchtet hier in erster Linie das methodische Erbe der Interessenjurisprudenz durch, ohne daß die Denkweise der Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts deshalb heute keine Bedeutung mehr hätte. Die Dogmatik wird damit i m 20. Jahrhundert auf einen Prozeß der Rechtsfindung bezogen, dem eine Koexistenz induktiver und deduktiver Methoden der Rechtsanwendung zugrunde liegt (b).
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Vgl. zu dieser Tendenz die Darstellung bei Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Rz. 757 ff., sowie zur Dogmatikkritik als Modeerscheinung Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 4. 60 Auf einige Schriften, die im folgenden nicht mehr oder nur am Rande herangezogen werden, sei an dieser Stelle aber doch hingewiesen, so insbesondere auf Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, der mit dem Gedanken der „normativen Produktion" die wesentliche Funktion von Dogmatik darin sieht, „Regeln bereitzustellen, die die Gerichte zum rechtlichen Entscheiden benötigen und die der Gesetzgeber nicht bereitstellt". Im Gegensatz zu einer soziologischen Systemtheorie, die der Dogmatik ihren Rationalitäts- und Erkenntnisanspruch nimmt und stattdessen ihre sozialen Funktionen betont, sucht Harenburg nach einer Lösung, die es erlaubt, gleichermaßen an diesem Anspruch festzuhalten und diese Funktionen zu erfüllen, vgl. ders., Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, S. IX f., S. 5 ff. Eike v. Savigny verfolgt eine wissenschaftstheoretische Klärung des Phänomens Dogmatik unter Einbeziehung logischer Modelle, in: Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, S. 7 ff.; ders., S. 100 ff. Eine wissenschaftstheoretische Analyse der Funktionen von Dogmatik nimmt auch Podlech vor, in: Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, S. 491 ff. Unter Rückgriff auf ein wissenschaftstheoretisches Paradigma, das der Analyse physikalischer Theorien entstammt, hat schließlich Schlapp den Versuch unternommen, ein Bild über die „Mikrostruktur einer Dogmatik" und hiervon ausgehend eine „strukturalistische" Konzeption juristischer Dogmatik zu entwerfen. Nur so ließe sich gegenüber den bisherigen Standpunkten „intensiver" auf die Dogmatik zugreifen, nämlich klären, aus welchen Komponenten sich eine Dogmatik möglicherweise zusammensetzt, welche Relationen zwischen diesen Komponenten bestünden und welche dieser Elemente für welche Funktionen gleichsam verantwortlich seien, vgl. ders., Theorienstrukturen und Rechtsdogmatik, S. 55, 122 ff.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
a) Die Absage an unumstößliche Dogmen Unter Rückgriff auf ein allgemeines Sprachverständnis, das deutlich vom theologischen Sprachgebrauch geprägt ist, distanziert man sich heute nahezu einhellig von der Vorstellung, juristische Dogmatik könne den Anspruch erheben, unumstößliche Wahrheiten verlautbaren zu lassen. So definiert insbesondere Meyer-Cording Dogmen als die jeweils vorgetragenen philosophischen oder theologischen Grundwahrheiten, deren Autorität sich nicht aus einer Ableitung aus Erkenntnissen ergebe, sondern aus der Tatsache, daß sie im gesellschaftlichen Bewußtsein offensichtlich, selbstverständlich, evident seien. Einsichtig würden sie durch göttliche Offenbarung, oder - wie im Fall des corpus iuris - durch „Rechtsoffenbarung". Dogmen erscheinen somit als allgemein gültige ewige Wahrheiten. 61 Der Dogmatik falle nun die Aufgabe zu, die grundlegenden Texte zu sammeln, deren Wortsinn zu ermitteln, sie zu interpretieren, Widersprüche auszuräumen und schließlich die Darstellung in einem harmonischen System zu erreichen. Meyer-Cording gelangt auf diese Weise zu einer zweiphasigen „dogmatischen Methode": Im Ausgangspunkt sei das Denken mit „Denkgeboten und -verboten umstellt". In einer zweiten Stufe der Auslegung und Systembildung erreiche man dann durch rationale Ableitung der Ergebnisse aus den Dogmen, daß sie als deren (logische) Entfaltung an deren Autorität teil haben. Seiner Natur nach sei das dogmatische System mithin formallogisch bzw. axiomatisch-deduktiv.62 Entspricht dieses Bild aber noch der Tätigkeit des heutigen Juristen? Meyer-Cording kommt zu einem nüchternen Ergebnis. Für ihn ist die alte Rechtsdogmatik mit ihren apodiktischen Aussagen tot. Das, was heute mit „guter" Dogmatik beschrieben werde, und dem Meyer-Cording inhaltlich auch durchaus zugeneigt ist, habe mit Dogmatik im eigentlichen Sinne nichts mehr gemein. Die Mehrheit der Zivilrechtslehrer verharre mit dem Aufrechterhalten der Bezeichnung gleichwohl im „dogmatischen Schlummer" und weigere sich, die Leiche zu bestatten.63 Meyer-Cording bemüht sich auf diese Weise um den Nachweis, daß keines der überkommenen oder heute vorgebrachten Merkmale von Dogmatik dem Selbstverständnis der Jurisprudenz in der Gegenwart gerecht wird. So wendet er sich zunächst gegen die Vorstellung, Dogmatik hinge noch mit der Vorstellung einer Autorität von Texten zusammen.64 Zwar erzeuge die Autorität des Staates durchaus im Gesetz einen Handlungszwang. Das Dogma erzeuge demgegenüber zunächst keinen Handlungszwang, sondern als Grundwahrheit einen Denkzwang. Die Richtigkeit des Rechtssatzes habe dann zwar auch einen Handlungszwang zur Folge. Dieser Handlungszwang ergebe sich aber nicht - wie noch im Vernunftrecht - notwendig aus diesem Denkzwang. Vielmehr habe kraft staatlicher Autorität auch der61 Meyer-Cording, S. 22 ff. 62 Meyer-Cording, 63 Meyer-Cording, 64 Meyer-Cording,
Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 7 f., und ausführlicher Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 9. Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 32. Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 14 f.
1. Abschnitt: Die heutige Einschätzung
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jenige das Gesetz zu befolgen, der es inhaltlich anzweifelt. Im übrigen sei aber kaum begreiflich zu machen, weshalb es auch Rechtskulturen gebe, die die Jurisprudenz nicht dogmatisch betreiben, obwohl sie ebenfalls an die Autorität von Texten, und seien es kasuistische Präjudizien, gebunden seien.65 Ebensowenig wie man daher heute in Gesetz und Norm noch Dogmen sehen kann, lassen sich aus der Sicht Meyer-Cordings dogmatische Prämissen aber auch nicht in einer außergesetzlichen Rechtsordnung finden, die aus apriorischen Einsichten allgemeine Rechtsprinzipien ableitet, also etwa aus der Rechtsidee, der Bestimmung des Menschen oder der Natur der Sache. Ebenso weist Meyer-Cording den Gedanken von sich, mit der juristischen Phänomenologie eine „vorgegebene Welt juristischer Grundbegriffe wie Vertrag usw." anzunehmen.66 Aus dem langen Beharrungsvermögen der Zivilrechtsordnung folge noch nicht die völlige Unwandelbarkeit ihrer Rechtsinstitute. Mit Wieacker sieht er in den dogmatischen Vorstellungen, Systemen und Rechtsbegriffen lediglich ein Repertoire von Problemlösungsvorschlägen, die bei wiederholter praktischer Bewährung durch den Konsens der Fachgenossen Verbindlichkeit für die Rechtsprechung gewinnen können.67 Vor dem naheliegenden Schritt, an die Stelle der übergesetzlichen Rechtsordnung den Konsens als dogmatische Autorität zu setzen, verharrt Meyer-Cording dann erneut in Skepsis. Wenn Viehweg die Funktion des dogmatischen Denkens darin sehe, Handlungen und Entscheidungen durch Meinungsbildung zu steuern, innerhalb derer eine Anzahl von Behauptungen als „stabiler gedanklicher Kern" außer Frage gestellt werde, so sieht Meyer-Cording in diesen Konsensen gerade kein dogmatisches, sondern ein pragmatisches Element. Ihnen fehle die Unverbrüchlichkeit und Unabdingbarkeit der dogmatischen Prämissen, wie sie früher aus einer noch ungebrochenen Weltanschauung abgeleitet worden seien. Eine empirische Dogmatik, wie sie Viehweg vorschwebe, sei eine contradictio in adjecto und man pflege sie seit Aristoteles zur undogmatischen Topiklehre zu zählen.68 Meyer-Cording hatte sich mit seinem Standpunkt wohl am pointiertesten gegen jegliche von unumstößlichen Dogmen geprägte Vorstellungswelt juristischer Dogmatik gewandt. Wenn sein Aufruf, den Begriff Dogmatik in der Jurisprudenz auf65 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 14 ff. Auf die historischen Anfangspunkte dieses heutigen autoritätsfreien Dogmatik-Verständnisses weist auch Esser hin, AcP 172 (1972), 97 (98). Mit Savignys Fruchtbarmachung von Geschichte für ein modernes System habe eine Emanzipation der Zivilrechtsdogmatik von der Absolutsetzung des dogmatischen Denkens eingesetzt und sich eine autarke Dogmatik herausgebildet. 66 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 17, bezieht sich auf die erste bei E. Husserl entstandene Arbeit zur Rechtsphänomenologie von Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band I. 67 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 18. Wieacker, Gesetz und Richterkunst, S. 14, hält die Einnahme dieser Sichtweise bereits zum damaligen Zeitpunkt für einen Hauptverdienst Essers, wenn er auf dessen Abhandlung über „Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts" verweist. 68 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 18 f.
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Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
zugeben, in dieser Schärfe auch vereinzelt geblieben ist, so war der Grundtenor seiner Stellungnahme in der damaligen Diskussion aber durchaus angelegt. Skepsis gegenüber dem Begriff der Rechtsdogmatik hatte zuvor bereits etwa Ludwig Raiser geäußert.69 Mit Zielrichtung auf Schneider 70 warnte er davor, einige terminologische Verwirrungen für die Sache selbst zu nehmen. Juristische „Theorien" als Bezeichnung von Vorschlägen zur Auslegung und Anwendung von Normen hätten mit dem, was die modernen Erfahrungswissenschaften zur Erklärung der von ihnen beobachteten Phänomene als Theorien entwickelten, wenig mehr als das Wort gemein. Ähnlich liege es mit der Bezeichnung Rechtsdogmatik. Kein Rechtsdogmatiker nehme die Autorität für seine Lehrsätze in Anspruch, die die Theologie ihren Dogmen beimesse. Zur Vermeidung von Mißverständnissen wäre es aus der Sicht L. Raisers daher klüger, den Begriff „Rechtsdogmatik" durch die Bezeichnung „systematische Rechtswissenschaft" zu ersetzen.71 Auch Larenz zweifelt, ob der Begriff „Dogmatik" für „eine theoretische Jurisprudenz, die für neue Fragen offen ist und die sich nicht so sehr als logisches Folgern aus feststehenden Prämissen, denn als verstehendes und wertorientiertes Denken versteht", überhaupt noch angemessen ist. Soweit man hierunter ein geschlossenes System als feststehend angesehener Lehrsätze und aus ihnen auf logisch-deduktivem Wege gewonnener Schlußfolgerungen verstehe, trifft dies nach Larenz im Anschluß an Meyer-Cording für die heutige praktische Rechtswissenschaft nicht mehr zu. Im Gegensatz zu Meyer-Cording ist für Larenz der Begriff Dogmatik aber nicht zwingend in diesem Sinne zu verstehen.72 So begreift er in der 5. Auflage seiner Methodenlehre unter Dogmatik vielmehr „eine Reihe in sich zusammenhängender ,Lehren4 über das, was geltendes Recht ist, die als solche mitgeteilt, tradiert und zur Grundlage weiterer Überlegungen im Hinblick auf die Lösung konkreter Rechtsfragen genommen werden können, die also eine ,Stabilisierungsfunktion 4 im Sinne Essers ausüben".73 Auch acht Jahre später setzt Larenz in der letzten von ihm persönlich bearbeiteten Auflage die Akzente wenig anders. Dogmatik könne „eine Tätigkeit bezeichnen, die in der Entfaltung inhaltlich bestimmter Begriffe, der weiteren Ausfüllung von Prinzipien und der Rückführung von Normen und Normkomplexen auf diese Grundbegriffe besteht". Daß es sich bei den gefundenen Sätzen um ,Dogmen' handelt, sieht Larenz darin begründet, 69 L. Raiser, DRiZ 1968, 98. 70 Schneider, DRiZ 1968, 47. 71 Lediglich am Rande bemerkt sei die Tatsache, daß diese Gegenüberstellung eine Entsprechung in der heutigen Bezeichnung theologischer Professuren findet. Der Begriff einer „Systematischen Theologie" dient dort überwiegend als Oberbegriff, um einzelne Bereiche zu unterscheiden, zu denen die Dogmatik gezählt wird, aber auch etwa die Fundamentaltheologie und die Moraltheologie. Dabei kann man die Tendenz beobachten, daß katholische Fakultäten ihre Lehrstühle eher als Professuren für „Dogmatik" bezeichnen, während evangelische Fakultäten eher von Professuren für „Systematische Theologie" sprechen. (Für diesen Hinweis danke ich Ulrich Karthaus.) 72 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 229. 73 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., S. 220.
1. Abschnitt: Die heutige Einschätzung
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„daß sie teilhaben an der im Rahmen der Dogmatik eines bestimmten positiven Rechts nicht weiter hinterfragten Autorität des Gesetzes. Der Ausdruck,Dogmatik 4 meint die Bindung des Erkenntnisprozesses an die in diesem Rahmen nicht mehr in Frage zu stellenden Vorgaben im Gesetz."74 Eine versöhnliche Einschätzung der Dogmatik hatte zuvor bereits Wieacker vorgenommen. Auch Wieacker sieht der Dogmatik heute, jedenfalls auf dem Gebiet der Jurisprudenz, eine veränderte Funktion zugewiesen. Zweifel an der Aufrechterhaltung des Begriffs werden von ihm dennoch gar nicht erst ernsthaft in Erwägung gezogen. Nicht die Abwendung heutiger Dogmatik von ursprünglichen Wesensmerkmalen ist sein Thema, sondern ihre Hinwendung zu einer erst in der jüngeren Privatrechtsgeschichte begründeten praktischen Dimension von Dogmatik. 75 In der Zeit des deutschen Idealismus sei die aufkommende Bezeichnung Rechtswissenschaft mit dem Anspruch verbunden gewesen, die klassische Fakultät der Jurisprudenz zu einer wirklichen Wissenschaft zu erheben. In der Folge sei man bestrebt gewesen, von einer Übermittlung des pragmatischen Stoffwissens als einer bloßen techne zu einer Organisation des positiven Stoffs und damit zur Totalität des Erkenntniszusammenhangs zu gelangen, mittels des „logischen Mediums" der Form, d. h. mittels logischer Behandlung und Begründung eines inneren Systems. Das habe sich heute nach dem Aufkommen einer praktisch und sozial engagierten Jurisprudenz, insbesondere aufgrund der von Jhering ausgehenden Schulen der Interessenjurisprudenz, grundlegend gewandelt.76 Wieacker definiert auf dieser Grundlage Rechtsdogmatik als ein kontingentes Gefüge (Lehrgebäude) von juristischen Sätzen und Regeln, die unabhängig vom Gesetz allgemeine Anerkennung und Befolgung beanspruchen.77 Diese Anweisungen für ein praktisches Handeln seien selbstverständlich keine Aussagen über Wahr und Unwahr, sondern an vorher festgestellte und für wahr erklärte Prämissen geknüpft. Wenn nun Dogmatik in anderen Bereichen, insbesondere in der Theologie, ein Lehrsystem darstelle, das seine letzten Voraussetzungen autoritär dem freien wissenschaftlichen Zweifel entziehe, so ist das für Wieacker lediglich Anlaß, die Unterscheidungsmerkmale näher herauszuzeichnen. So sei die Aufgabe der Rechtsdogmatik eine praktische, nicht eine übervernünftige, ihre Prämissen nicht unumstößlich, sondern die Gesetze wandelbar, und ihre Argumente jedenfalls in den modernen Gesellschaften nicht mehr durch Autorität, sondern durch Überzeugungskraft begründet. 78 Ein Zeitalter der Dogmatik ist für Wieacker deshalb aber längst nicht vorüber, im Gegenteil habe das Erstarken des Richterrechts in den sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts den Spielraum der Dogmatik erneut erweitert. 79 74
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 229. 5 Vgl. Wieacker, in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (312 f.).
7
76 77
Wieacker, Wieacker,
in: Festschrift für Gadamer II, S. 314 f. in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (319).
™ Vgl. Wieacker, 5 Gödicke
in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (320 f.).
6 6 2 .
Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
b) Das Erbe der Interessenjurisprudenz und das Vermächtnis der Begriffsjurisprudenz In der angeklungenen Hinwendung der Dogmatik zur Praxis der Rechtsanwendung kommt ein Wandel im Selbstverständnis der Jurisprudenz seit dem 19. Jahrhundert zum Ausdruck, der untrennbar mit dem Aufkommen der Interessenjurisprudenz durch Jhering und Heck verbunden ist, und den man mit Meyer-Cording denn auch in erster Linie am Kampf gegen die Begriffsjurisprudenz und gegen die Vorstellung eines lückenlosen Systems festmachen kann. Die bisher geschilderte ambivalente Einschätzung juristischer Dogmatik bringt denn auch nicht einen grundlosen Begriffswandel zum Ausdruck, vielmehr schlägt sich hierin ein Zwiespalt in der Selbsteinschätzung der Jurisprudenz nieder, der auch heute noch nicht als überwunden gelten kann. Diesem Zwiespalt, der maßgeblichen Einfluß auf die heutige Sicht von juristischer Dogmatik hat, soll in dreierlei Hinsicht noch weiter nachgegangen werden. Wenn man grob vereinfachend die beiden Termini Interessenjurisprudenz und Begriffsjurisprudenz gebrauchen möchte, so begreift die Jurisprudenz heute die Fallentscheidung zunächst einmal in Anschluß an die Interessenjurisprudenz als Bewertung eines Interessenkonflikts der Lebenswelt (aa). Das mit diesem Bewertungsakt notwendig verbundene Zugeständnis eines Bewertungsfreiraums des Richters führt dann andererseits aber auch zu einer Suche nach rationalen Kontrollmaßstäben, mit denen sich ein Abgleiten der Rechtsanwendung in allzu freie Wertungserwägungen verhindern lassen soll. Hier liegt die Ursache für die nach wie vor große Leuchtkraft von Techniken, die im 19. Jahrhundert großes Ansehen genossen, und die in einer als Begriffsjurisprudenz verunglimpften Strömung möglicherweise nur allzu einseitig herangezogen wurden. Sie werden nach wie vor aufgegriffen, wenn heute neben einer Entlastungsfunktion vor allem die Kontrollfunktion juristischer Dogmatik akzentuiert wird (bb). Losgelöst von den Entwicklungen des 19. Jahrhunderts kann man in dem angedeuteten Zwiespalt schließlich auch den Versuch der heutigen Jurisprudenz erkennen, zwei seit jeher konkurrierende Techniken der Begründung in eine fruchtbare Koexistenz zu bringen (cc).
aa) Die Fallentscheidung als Bewertung eines Interessenkonflikts der Lebenswelt Die Interessenjurisprudenz nimmt heute, jedenfalls im Zivilrecht, eine ganz beherrschende Stellung ein. Zwar wird gelegentlich auch von einer Hinwendung der 79
Wieacker nennt beispielhaft Begriffe wie ,positi ve Vertragsverletzung',,Sphärentheorie' oder faktischer Vertrag' und betont im übrigen den bereits in der römischen Jurisprudenz und seit jeher wechselhaften Stellenwert der Dogmatik gegenüber dem Gesetz. Selbst der Sieg der Kodifikation habe die Bedeutung einer autonomen Dogmatik auf Dauer nicht niederhalten können, vgl. ders., in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (318 f.). Schneider sieht im Erstarken des Richterrechts hingegen mehr eine zunehmende Entfernung von der „dogmatischen" Jurisprudenz, vgl. ders., DRiZ 1968,47.
1. Abschnitt: Die heutige Einschätzung
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Interessenjurisprudenz zu einer „Wertungsjurisprudenz" gesprochen.80 Mit dem Begriff der Wertungsjurisprudenz wird allerdings lediglich stärker die Betonung auf die (notwendig subjektive) Wertung des Rechtsanwenders gelegt. Der stattdessen von der Interessenjurisprudenz akzentuierte Konflikt divergierender Interessen der Lebenswelt als Gegenstand dieser Bewertung hat hier also nicht an Bedeutung verloren, sondern wird bereits vorausgesetzt. Damit werden die Perspektiven nun aber leicht verzerrt, geht es in der Jurisprudenz doch nicht um ein Werten schlechthin, sondern um das Be-Werten von Interessen, die im Konflikt stehen, und damit um die Einschätzung der Werthaftigkeit der vorgetragenen Tatsachen im Hinblick auf die vorzunehmende Konfliktentscheidung. 81 Mit dieser deutlicheren Thematisierung des Gegenstands ihrer Überlegungen läßt sich die Interessenjurisprudenz dann aber schärfer als eine Wertungsjurisprudenz der Begriffsjurisprudenz gegenübersetzen. Aus diesem Grund, und weil mit der Rückkopplung zum Gegenstand auch ein höheres Maß an Disziplinierung für den Rechtsanwender verbunden ist, wird der Begriff der Interessenjurisprudenz im folgenden bevorzugt, auch wenn damit über die Lehren von Jhering und insbesondere Heck hinaus eine heute verbreitete methodologische Grundhaltung thematisiert sein soll, in die Strömungen wie die Wertungsjurisprudenz dann durchaus miteinfließen. 82 Mit Blick auf die Dogmatik kommt die nachhaltige Wirkung der Interessenjurisprudenz am deutlichsten zum Ausdruck, wenn Meyer-Cording fordert, den Begriff der Dogmatik für die Jurisprudenz ganz aufzugeben. Schließlich werde seit der Interessenjurisprudenz Hecks, die für Meyer-Cording die nachhaltigste Kraft gegen das dogmatische Begriffsdenken und gegen die Doktrin des Positivismus darstellt, das Gesetz als Zweck- und Kompromißprodukt im Interessenstreit begriffen und nicht als vollkommen und ewig dauernd. 83 Damit gehe aber eine undogmatische Einstellung zum Gesetz einher, wie sie sich darin zeige, daß die Auslegung des Gesetzestextes nicht mehr unantastbar sei, sogar ein Durchgriff auf außerdogmatische, auf vorpositive Wertungen und Prinzipien gefordert werde oder die Lückenfüllung auf Zweckmäßigkeits- und Weitungsgesichtspunkte zurückzugreifen habe.84 80 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 119 ff.; Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, Rz. 171 ff. 81 Die Rechtsanwendung läßt sich somit durchaus als Akt der Be-Wertung, also als Hinzudenken eines Wertes unter dem Aspekt der rechtlichen Entscheidung begreifen, auch wenn die von den Parteien vorgetragenen Tatsachen bereits in die Werthaftigkeit der Lebenswelt eingehüllt sind und daher an sie nicht erst Werte unter dem Gesichtspunkt der Rechtsanwendung herangetragen werden müssen. Hierzu näher Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 103. 82 Ausführlich Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, Rz. 176 ff., der im einzelnen „formale", „materiale", „normative", „objektive" und „soziale" Richtungen der Wertungsjurisprudenz unterscheidet. 83 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 27 ff. 84 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 30 f., mit Verweis insbesondere auf Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. 5*
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Auch die von Esser favorisierte Konzeption der Rechtsanwendung steht in ihrem Angelpunkt in der Tradition des interessenjuristischen Ansatzes Hecks} 5 Wenn Esser ausführt, „auf Systemdoktrinen [könne] ein Recht verzichten, aber nicht auf die Wertungsbasis, aus der sich die dogmatischen Figuren ebenso rechtfertigen wie das Festhalten an der rule oder doctrine of the case im Richterrecht", so bleibt er, trotz mancher Vorbehalte gegen Heck, der interessenjuristischen Grundüberzeugung treu, die begrifflichen Konstruktionsprobleme vom Wertungsdenken her als zweitrangig zu begreifen. 86 Dogmatisches Denken werde daher irrational, wenn es seine Abhängigkeit vom fall- und lebensbedingten Vorverständnis sowohl der Konfliktsfrage als auch der positiven Norm nicht bewußt mache.87 Esser richtet hier seinen Blick vor allem gegen den juristischen Naturalismus des frühen Jhering, der die begriffliche Analyse und Synthese selbst als Ursprung einer Innovation im Sinne einer juristischen Entdeckung begriffen hatte, und gegen den im Bild der Rechnung und der Rechnungsfaktoren zum Ausdruck kommenden rationalistischen Gesetzespositivismus Windscheids. ss Für unbefriedigend hält es Esser nun andererseits aber auch, wenn der „Durchgriff auf Direktwertungen der Lebenssachverhalte" so häufig wird, daß die dogmatische Formulierung nicht mehr Schritt halten kann. Bedenklich sei nicht das Vordringen von sogenanntem Problemdenken schlechthin, sondern nur die allzu große Bereitwilligkeit, relativ gesicherte dogmatische Konsense mit Hilfe solcher Argumente vorschnell preiszugeben oder zu verfremden. 89 Mit seiner Offenheit für induktiv-kasuistisches Denken, für Wertund Interessenabwägungen und für das topische Denken betritt der Jurist aus der Sicht Meyer-Cordings gar die „sozialwissenschaftliche Arena" und verliert dabei den Vorteil der Entlastung und Neutralität, der aus der Anwendung der rein logischen Methode folgte. Der offenen Dogmatik folge dann das offene System, wie sich besonders deutlich in wenig kodifizierten Rechtsgebieten zeige, in denen ein Fallrecht angelsächsischer Prägung entstehe.90 Die mit der Interessenbewertung verbundene Freiheit wird hier geradezu als eine beständig zum Exzeß neigende Wertungsfreiheit des Rechtsanwenders begriffen. Es ist daher ein naheliegender Schritt, eine Mäßigung dieser Wertungsfreiheit zu fordern. Die gesamte Diskussion zur Dogmatik läßt sich im Grunde aus diesem Spannungsverhältnis zwischen Wertungsfreiheit und Mäßigung begreifen. Hierin dürfte auch der tiefere Grund dafür liegen, weshalb der Vortrag Essers über ,Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht' im Jahre 1971 einen so grundlegenden Einfluß auf die aufkom-
85 So auch Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 98. 86 Esser, AcP 172 (1972), 97 (112, 124). E. Wolf, mitgeteilt von Kötz, sieht hierin notwendig eine antidogmatische Haltung, vgl. AcP 172 (1972), 172. 87 Esser, AcP 172 (1972), 97 (101). 88 Esser, AcP 172 (1972), 97 (104 f.). Vgl. hierzu auch unten Fn. 259. 89 Esser, AcP 172 (1972), 97 (116, 125). 90 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 34 f.
1. Abschnitt: Die heutige Einschätzung
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mende Diskussion gehabt hat. 91 Mit außerordentlicher Suggestivkraft sprach Esser von einer „Transformation von Weitungsfragen in Erkenntnis- oder Wahrheitsfragen", von einer „Bewältigung von Wertungsproblemen als Denkproblemen" oder von einer Umsetzung „von Richtigkeitserwägungen in Denkbarkeitsfragen und Denkaufgaben" als eigentlich innerster Bestimmung von Dogmatik. 92 Für Esser stellt Dogmatik damit „den von Savigny erstrebten inneren Zusammenhang aller Begriffe her und bildet damit das positive Entscheidungssystem als das ausschließliche Milieu, in welchem Weitungen und Urteile die Qualität des Subjektiven und den Verdacht des Emotionalen verlieren und objektive Bedeutung gewinnen".93 Die Faszination, die noch heute von dieser durch Esser aufgebauten Vorstellungswelt ausgeht, kann man wohl am ehesten mit dem von den modernen Naturwissenschaften inspirierten Wunsch nach exakter Anwendung auch juristischer Sätze erklären. Die diese Suggestivkraft ausmachende Entgegensetzung Essers von subjektivem Weiten und an objektiven Erkenntniskategorien orientiertem Denken sah sich freilich zwangsläufig allen Vorbehalten ausgesetzt, die man von einem erkenntnistheoretischen Standpunkt aus gegen eine solche Neuauflage der Subjekt-Objekt-Spaltung vorbringen kann. So übt insbesondere Larenz vor dem Hintergrund seiner These, daß der Jurisprudenz sowohl im praktischen wie im theoretischen Teil weithin ein wertorientiertes Denken zugrunde liegt, Kritik am Ansatz Essers. Orientiert an den Vorstellungen, die der dogmatischen Arbeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts zugrunde lagen, knüpfe Esser an einen scientistischen Wissenschaftsbegriff an. 94 Er wolle die Dogmatik im Sinne ,wertungsneutraler' Begriffsarbeit beibehalten, sie aber auf die Funktion beschränken, die anderweit auf vor- oder außerdogmatischem Wege gefundenen Lösungen und Bewertungen in die Sprache rationalen Denkens im Sinne der Objekt-Erkenntnis und das in dieser Sprache gebildete begriffliche System zu 91
Esser, AcP 172 (1972), 97 ff., in Anknüpfung an ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, dort zur Dogmatik insbesondere S. 87 ff. Die Interessenjurisprudenz begriff sich freilich ihrerseits gerade als begrenzende Kraft gegenüber der Begriffsjurisprudenz, die mit ihrer Methode einer „Normgewinnung durch Begriffsvertauschung" eine weitaus ungezügeltere Freiheit als die der Konfliktbewertung in Anspruch nahm, nämlich die Freiheit der Wortwahl. So pointiert Heck, Grundriß des Schuldrechts, Anh. § 2, f. (S. 476 f.). 92 Vgl. Esser, AcP 172 (1972), 97 (101, 103, 113), und zu dem hiermit gemeinten „Entlastungseffekt" sowie insgesamt zur Dogmatik ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 87 ff., wie auch nachfolgend ders., in: Festschrift für L. Raiser, S. 517 ff. In vielen Punkten bereits ähnlich, wenn auch nicht wie in späterer Weise auf die Dogmatik konzentriert, auch Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, etwa S. 47 ff., 93 ff., 223 ff., 302 ff. Aus der Sicht Bydlinskis, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 24, kann Esser damit als Hauptbegründer der zeitgenössischen Dogmatikkritik gelten. 9
3 Esser, AcP 172 (1972), 97 (98). Der vor dem Hintergrund der Schrift Herbergers nicht unzweifelhafte Gesichtspunkt einer Absolutsetzung des dogmatischen Denkens in der Zeit vor Savigny wird von Esser nicht näher beleuchtet. 94
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 224 ff.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
transformieren und dadurch für die Rechtsprechung praktikabler zu machen und zu stabilisieren. 95 Noch pointierter als Larenz sieht Jan Schapp Defizite der Überlegungen Essers in einer fehlenden Auseinandersetzung mit Grundproblemen der Hermeneutik, wenn er Esser mit der Frage konfrontiert, wo denn die Interessenbewertung aufhöre und das Denken beginne. Jede Interessenbewertung enthalte notwendig schon Momente des Denkens, wie jede Interessenbewertung ja auch nur sprachlich bewältigt werden könne.96
bb) Das Streben nach rationaler Lenkung der Fallentscheidung Wie läßt sich dann aber eine rationale Rechtsanwendung überhaupt noch sichern? Esser blickt hierzu auf eine über Heck und Jhering auf Savigny zurückreichende Entwicklungslinie zurück, die die Rechtswissenschaft seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert geprägt hat. Von der bei Savigny verorteten Suche nach einem scheinbar herrschafts- und geschichtsfreien System schlägt Esser insbesondere eine Brücke zum analytisch aufgebauten System im Sinne Jherings, mit dem sich „eine Lebenswelt von Institutionen und von elementaren begrifflichen Kriterien mit verselbständigtem Symbolwert als eigenes Erkenntnisprojekt zwischen den Juristen und die Sachprobleme bzw. -argumente schoben", und schließlich zur Epoche der Auswertung der „Grundgedanken" jener Institutionen, ihrer Struktur und ihres sogenannten Wesensgehaltes.97 Aus der Sicht Essers knüpft die Jurisprudenz im Jahre 1971 nach wie vor an alle die hiermit nur angedeuteten Strömungen des 19. Jahrhunderts an. „Daß wir in der Korrektur von vorgemünzten begrifflichen Formeln schon Richtigkeitsgarantien sehen, liegt immer noch in jener ,analytischen Jurisprudenz' des 19. Jahrhunderts begründet, die wir als ,Begriffsjurisprudenz' überwunden zu haben glauben." Jenes konstruktive Begriffsdenken sei „noch heute vielfach unreflektiert der feste Rückhalt der Vulgärdogmatik und wird eben deshalb auch im Unterricht von heute als methodologischer Prototyp benutzt". 98 Positiver akzentuiert Esser die Begriffsjurisprudenz dann jedoch, wenn er gegen Heck einwendet, dieser habe die begrifflichen Konstruktionsprobleme als Formulierungsfragen hinter die Interessenwertung gestellt und dabei verkannt, daß Formulierung zugleich Kommunikation, d. h. Möglichkeit nachvollziehenden Denkens bedeute. Die Schaffung eigener begrifflicher Denkkategorien behalte auch dann wissenschaftlichen Sinn, wenn man diese Kategorien nicht als autonom und definitiv behandele, sondern als zweckabhängig, durchlässig und erweiterbar. Die Begriffswelt bildet für Esser längst nicht nur den Zugang zu einer Darstellung, 95
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 225 f. Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 99. Kritisch auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 154 ff. 9 ? Esser, AcP 172 (1972), 97 (98 f.). 9 8 Esser, AcP 172 (1972), 97 (99). 96
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sondern bereits zu jeder Vorstellung." Stark verkürzt ausgedrückt, bemüht sich Esser damit um einen pragmatischen Sinnzusammenhang zwischen Interessenbewertung und Begriff, dessen nähere Ausgestaltung er als das eigentliche Betätigungsfeld der juristischen Dogmatik begreift. 100 Damit soll einer doktrinär verstandenen Begriffsarbeit nun ebenso die Absage erteilt sein wie einer freihändigen Wertungsjurisprudenz. Ahnlich wie Esser sieht sich auch Meyer-Cording gezwungen einzugestehen, daß trotz aller Uberwindungen das dogmatische Begriffsdenken nach wie vor vielfach unreflektiert der feste Rückhalt der Vulgärdogmatik geblieben sei. 101 Positiver gewendet bewirkt auch nach Luhmann die begrifflich-klassifikatorische Durcharbeitung des Rechtsstoffs durch die Dogmatik, daß das Hin- und Herwandern des Blicks im Sinne Engischs 102 „nicht ohne Führung bleibt, sich nicht nur der Entscheidungssituation, sondern auch dem Rechtssystem verpflichtet weiß". 103 Die Dogmatik erlangt auf diese Weise die durchaus positiv belegte Bedeutung einer zum Gesetz hinzutretenden Kontrollinstanz für die Rechtsanwendung. So hatte bereits Wieacker die von der Dogmatik erwartete praktische Leistung dahin umschrieben, „intellektuell überprüfbare und öffentlich einsichtige Kriterien für die Handhabung des Bewertungsspielraums anzugeben, den jede Anwendung einer Norm auf einen konkreten Fall erfordert". Dogmatik biete so ein Verfahren zur „rationalen Verifizierung der gewählten Entscheidung".104 Auch für Esser liegt die Bedeutung der Dogmatik ganz dezidiert in der „Gewährleistung von Rationalität". Wenn Esser auf die Grenzen eines starren Systems hinweist, so plädiert er für eine Dogmatik, die sich ihrer Grenzen bewußt ist, auf dieser Basis dann aber doch jene Kontrollinstanz darstellen kann, „welche die Verträglichkeit von Lösungen mit anderweit vorgegebenen Regelungen sichert, mit Lösungsanweisungen von gleichfalls begrifflich fixierter Art, wie in unseren Tatbeständen, aber auch mit Vorbildern, welche Praxis und begriffliche Konstruktion zusätzlich entdeckt und angeboten haben". 105 Die hiermit umschriebene Kontrollfunktion oder Stabilisierungsfunktion von Dogmatik zählt bis heute zum elementaren Kernbereich jeder Funktionsbestimmung juristischer Dogmatik. 106 99 Esser, AcP 172 (1972), 97 (112). 100
Schapp sieht im Spannungsverhältnis von Dogmatik und Einzelfall die Schlüsselthese der Überlegungen Essers, vgl. Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 16; ders., Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 98 ff. 101 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 29. 102 Vgl. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 15. 103
Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 18. 104 Wieacker, in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (316). 105 Vgl. Esser, AcP 172 (1972), 97 (104); ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 91 f. 1 06 Zur Kontrollfunktion von Dogmatik auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 9, 16 f.; Simitis, AcP 172 (1972), 131 (132); Hassemer, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 173; Jahr, in: Rechtstheorie, S. 303; Alexy, Theorie der
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Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Eng verbunden mit dieser Kontrollfunktion wird dann häufig eine weitere wesentliche Aufgabe der Dogmatik in der Entlastung des Rechtsanwenders gesehen. Die Thematisierung einer Entlastungsfunktion bei Esser anläßlich seines Gedankens einer Transformation von Wertungs- in Denkaufgaben zeigt allerdings, wie unterschiedlich man diesen Entlastungseffekt begreifen kann. Während Esser eine Entlastung des Rechtsanwenders vom Werten vorzuschweben scheint, wird von anderer Seite mehr die Entlastung von der eigenen Ordnung von Fallentscheidungen und von der Herstellung von Regelungszusammenhängen betont. Hier soll die Dogmatik also eine Ordnung des umfangreichen Rechtsstoffes ermöglichen, um ihn auf diese Weise überhaupt erst überschaubar und lernfähig zu machen und den Rechtsanwender auf diese Weise zu unterstützen. 107 Das macht zugleich eine Dogmatik erforderlich, die sich als verfestigte Lehre des geltenden Rechts behaupten kann. Diesen Aspekt betont Luhmann, der von der soziologischen Prämisse ausgeht, daß alle menschliche Kommunikation Nichtnegierbarkeiten voraussetzt und auf dieser Grundlage in der vorgeblichen Sichtbegrenzung der Dogmatik die Ermöglichung von Abstraktionsleistungen und Interpretationsfreiheiten erkennt. Der Sinn von Dogmatik liegt für Luhmann damit nicht in einer Fixierung des ohnehin Feststehenden, sondern „in der Ermöglichung kritischer Distanz, in der Organisation einer Schicht von Überlegungen, Gründen, Verhältnisabwägungen, mit denen der Rechtsstoff über seine unmittelbare Gegebenheit hinaus kontrolliert und verwendungsfähig aufbereitet wird". 1 0 8 Der Bedarf für Rechtsdogmatiken resultiert für Luhmann daraus, daß in einem normativ geprägten Rechtssystem Kriterien entwickelt werden müssen, mittels derer sich gegenüber einer unendlichen Vielzahl von Fällen die Vielzahl von Auslegungsmöglichkeiten beschränken läßt. Die Dogmatik übernimmt hier die Funktion einer Einschränkung der Beliebigkeit von Variationen.109 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch bei Esser, wenn aus dessen juristischen Argumentation, S. 331 f. Pawlowski spricht von einer „Stimmigkeitskontrolle" durch dogmatische Theorien, die der Stabilisierung des Rechts dient, vgl. ders., Methodenlehre für Juristen, Rz. 784. Die Stabilisierungsfunktion von Dogmatik betont auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 326 ff. Ahnlich beschreibt Kupisch, JZ 1997, 213 (221), die juristische Dogmatik als „ein ganz unverzichtbares Instrument, mit dessen Hilfe u. a. die Wertungen des Rechts in präzise Begriffe gefaßt werden, um ihre gleichförmige Handhabung zu erleichtern und zu garantieren". 107 Hierzu eingehender unten 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 108 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 15 f. Hierzu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 229 ff. 109 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 19. Im Anschluß an Luhmann betrachtet Krawietz Rechtssetzung und Rechtsanwendung unter dem „übergreifenden Aspekt der Organisation des juristischen Entscheidungsprozesses, der in verschiedenen Phasen der schrittweisen Reduktion komplexer und kontingenter Möglichkeiten dient". Der Dogmatik schreibt er dabei eine der Rechtspraxis vorarbeitende, ihre Entscheidungstätigkeit vorbereitende Funktion zu, vgl. Krawietz, Recht als Regelsystem, S. 7 f., 12. Vor dem Hintergrund der Thesen Luhmanns beklagt Schroth im Kontext der europäischen Rechtsvergleichung weitergehend gar eine ,Unterdogmatisierung' des deutschen Rechts in praktisch wichtigen Rechtsgebieten. Bei aller Gefahr nicht mehr zugänglicher Gedankengebäude gefährdeten die heutige Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur das „dogmatische Niveau durch ihre
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Sicht dogmatisches Denken im Sinne wertungsneutraler Begriffsarbeit, im Sinne einer „Selektion des Positiv-Relevanten in einer eigenen Begriffswelt" ein Entscheidungssystem erst arbeitsfähig macht. 110 Indirekte Bestätigung finden diese Funktionsbestimmungen von Dogmatik selbst durch den wohl schärfsten Gegner dieses Begriffs. Meyer-Cording faßt seine Überlegungen in wenige Worte, wenn er den Zwiespalt der heutigen Rechtswissenschaft dahin umschreibt, man wolle einerseits von Dogmen nichts mehr wissen, fühle sich andererseits aber den dogmatischen Spitzenleistungen verpflichtet und wolle die Vorteile einer alten dogmatisch-logischen Methode nicht aufgeben. 111 Vor dem Hintergrund seines theologisch geprägten Begriffsverständnisses blendet Meyer-Cording die Frage nach Dogmen ganz aus der Betrachtung aus und widmet sich der Dogmatik vielmehr als der dogmatischen Methode rein logischer Interpretation, Schlußfolgerung und Systembildung.112 Logik und rationale Methode seien aber allen Wissenschaften eigen und könnten daher nicht spezifische Kriterien von (Rechts-) Dogmatik sein, arbeite die echte Dogmatik doch nach ihrem Ausgehen von vorgegebenen Prämissen erst in der zweiten Phase logisch. Übrig bleibt nach Meyer-Cording daher nur noch, der Dogmatik eine pragmatische oder praktische Aufgabe zuzuweisen.113 Dogmatik sei dann das, was der Jurist normalerweise tue: Auslegung und Anwendung der Normen. Meyer-Cording sieht hierin lediglich verschleiert zum Ausdruck gebracht, daß man als Jurist heute nicht mehr dogmatisch, sondern pragmatisch arbeiten wolle. Klarheit und Ehrlichkeit geböten es dann aber, den mit dem alten Inhalt befrachteten Begriff Dogmatik aufzugeben, um ihn nicht in sein Gegenteil, Pragmatik, umzukehren. 114
Neigung zu Einzelfallregelung und Interessenjurisprudenz, die ihrerseits einen Hang zur komplexen Rechtfertigungssprache nach sich ziehen", vgl. ders., in: FAZ Nr. 281 vom 2. Dezember 1999, S. 10. An systemtheoretische Erwägungen anknüpfend wird die Dogmatik aus der Sicht Schmidts, JZ 1980, 153 (160), ihrer „Reduktionsaufgabe nur gerecht, wenn sie nicht ihrerseits wieder ein so komplexes Begriffsgebäude errichtet, daß sie die Abnahmefähigkeit ihrer Adressaten, eben der Praxis, überfordert." 110 Esser, AcP 172 (1972), 97 (103). m Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 5 f. n 2 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 20. h 3 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 20. Nach Notwendigkeiten und Grenzen empirischer Arbeit in der Rechtswissenschaft fragt im Kontext von Rechtsdogmatik Starck, JZ 1972, 609 ff. 114 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 20 f. In ähnliche Richtung geht auch der Beitrag Schneiders, der Dogma ebenfalls als unumstößliche Wahrheit definiert und hierfür in der Jurisprudenz keinen Platz sieht. Eine „wirkliche Wissenschaft" brauche indes auch gar keine Dogmatik, vgl. ders., DRiZ 1968,47. Anders Rehbinder, DVB1. 1974, 888 (888 f.), der Dogma von dokein ableitet und in der Folge jede Beweisführung in den Geisteswissenschaften auf Plausibilität ausgerichtet sieht. In diesem Sinne müsse sowohl die Ableitung einer Lösung aus dem Gesetz durch Subsumtion »einleuchtend' sein wie die Vorschläge für eine Anpassung und Fortbildung des Gesetzesrechts. Daher könne der Jurist sowohl in seiner praktischen wie in seiner theoretischen Arbeit - gar nicht anders, als Dogmatiker zu sein.
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Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Weshalb erhält sich der Begriff der Dogmatik aber gleichwohl über die Zeiten? Meyer-Cording führt das darauf zurück, daß man, gewissermaßen aus Angst vor der eigenen Courage, eine Zuflucht in der Dogmatik sucht, die vermeintlich Rationalität für den Prozeß der Rechtsfindung verbürgt. Pars pro toto bezieht sich Meyer-Cording hier auf Essers Redewendung einer Transformation von Wertungsentscheidungen in Denkaufgaben. 115 Für Meyer-Cording ist es indes überflüssig, sich für das Bemühen um logisches Denken und Ableiten oder um einen Entlastungseffekt auf eine „Dogmatik" zu stützen. Die logische Methode könne vielmehr auch der gebrauchen, der nicht dogmatisch im Sinne von vorgegebenen Prämissen verfahre. Und der Entlastungseffekt im Sinne Essers resultiere nicht aus der Dogmatik, sondern stamme in erster Linie vom Gesetzgeber, der durch den von ihm aufgestellten Handlungszwang dem Juristen die Wertentscheidungen abschneide.116 Wenn Meyer-Cording gleichwohl ein Vorherrschen des dogmatischen Begriffsdenkens beobachtet, führt ihn dies jedoch nicht dazu, in einer sich als offen begreifenden Rechtswissenschaft die Dogmatisierungen oder dogmatischen Wahrheiten, Begriffe und Systeme nun doch wieder als verbindliche Vorstellungen zu begreifen. Wenn die Jurisprudenz mit dem Gesetz es mit einem variablen Gegenstand und oftmals mit Wertungen zu tun habe, die nicht logisch und wertfrei gefunden werden könnten, so könne man sie zwar sicherlich nicht unter einen mathematisch-naturwissenschaftlich bestimmten Wissenschaftsbegriff fassen. Die theoretische Jurisprudenz könne gleichwohl wissenschaftlich betrieben werden, soweit man hierunter eine planvolle auf Gewinnung von Erkenntnissen gerichtete geistige Tätigkeit verstünde. Wenn die Praxis noch nie allein mit Logik, Begriffen und System zum Ziel gelangt sei, so müsse man die Jurisprudenz jedenfalls auch als Hermeneutik, als „Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen" begreifen. 117 Die Ablösung von einem Ideal streng logisch-deduktiver Vorgehensweise nach Vorbild der Begriffsjurisprudenz ist aus der Sicht Meyer-Cordings mithin zwar mit einer einhergehenden Einbuße an Berechenbarkeit juristischer, insbesondere richterlicher Entscheidungen verbunden. Diese Einbuße läßt sich aus seiner Sicht aber nicht dadurch kompensieren, daß man die soeben verabschiedete Dogmatik alter Prägung durch die Hintertür wieder einführt. Hierzu bestünde auch gar kein Bedürfnis, weil im übergroßen Vorfeld der Rechtspraxis ohnehin unangefochten die Subsumtion herrsche. Vor Gericht erschiene nur die Spitze des Eisbergs, eine verhältnismäßig kleine Zahl von Streitfällen, die sich mit der einfachen Subsumtion nicht mehr lösen ließen. Im überwiegenden Teil führe die Möglichkeit der Subsumtion hingegen zu einem von Staat und Gesellschaft gewollten Abschneiden einzelner Wertentscheidungen des Juristen. 118 Meyer-Cording sieht hierin die 115
Vgl. Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 36 f. Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 38 f. 117 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 38 ff. 118 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 39 f., 47 f. Ahnlich Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 42, der die Kritik am Subsumtionsmodell denn auch für überzogen hält. 116
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Möglichkeit, die Gefahr einer fehlenden Berechenbarkeit und einer individuellen Beliebigkeit von Entscheidungen entscheidend zu relativieren. Für den verbleibenden Bereich schwieriger Fälle sei die pragmatische Vorgehensweise nicht gefahrvoll, sondern erforderlich. 119
cc) Zur Methodenkoexistenz in der modernen Jurisprudenz Die weitere Entwicklung hat gezeigt, daß sich Meyer-Cording mit seinem Vorschlag, den Begriff der Dogmatik für die Jurisprudenz aufzugeben, nicht durchgesetzt hat. 1 2 0 Sein Beitrag führt jedoch besonders eindringlich die Zerrissenheit des Juristen zwischen zwei Idealvorstellungen vor Augen, nämlich zwischen einem in der Hinführung zum lebensweltlichen Konflikt wurzelnden Erbe der Interessenjurisprudenz auf der einen Seite und einem sich als Ideal einer logisch-rationalen Rechtsfindung erhaltenden Vermächtnis der Begriffsjurisprudenz auf der anderen Seite. Mit dem Weitblick des Historikers hat Wieacker diese Zerrissenheit schon frühzeitig deutlich relativiert. Wieacker begreift die Dogmatik als eine auf die Rechtsanwendung zielende und daher aufs engste mit Fragen der juristischen Methodenlehre verknüpfte Disziplin. Gerade weil die Dogmatik heute keine apodiktisch wahren Aussagen treffen wolle, mache es auch keinen Sinn, nach der einen richtigen Methode der Begründung juristischer Entscheidungen zu fragen. Vielmehr stellt er die These auf, daß in einem Rechtssystem notwendigerweise unterschiedliche Methoden der Rechtsfindung koexistieren. 121 Dabei beobachtet er einen sich über die Jahrhunderte ziehenden Gegensatz von deduktiv-axiomatischen und induktiv-pragmatischen Begründungsweisen. 122 Deduktive Verfahren gründen nach Wieacker die öffentliche Überzeugungskraft ihrer Ableitungen auf die allgemeine Intellegibilität logischer Schlüsse aus angenommenen Prämissen, von denen sich die induktiven Verfahren in unterschiedlichem Ausmaß distanzieren, am weitesten die Topik, die das in einem konkreten Fall gestellte Problem anhand von Gesichtspunkten allgemein anerkannter Probabilität und Überzeugungskraft zu lösen sucht. 123 So verzeichnet er neben einem induktiv-kasuistischen Begründungsstil 119
Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 40. Skeptisch gegenüber Meyer-Cording bereits Schwerdtner, JR 1978, 87 (88), der in dessen Plädoyer, der Dogmatik-Kritik durch die Aufgabe des Dogmatik-Begriffs zu begegnen, eine Selbsttäuschung sieht. Er mahnt eine Auseinandersetzung mit den tieferen Gründen dieser Kritik an und spielt Meyer-Cording den Ball zurück, wenn er fragt, ob der Jurist heute noch Pragmatiker sein darf. 120
121 Wieacker, in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (322). Ahnlich bereits Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, S. 25 ff. 122 Zur frühscholastischen Gegenüberstellung induktiver und deduktiver Argumentationen vgl. bereits oben 2. Teil, 1. Abschnitt, I. 1. 123 Wieacker, in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (323, 326 f.).
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Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
der großen praktischen Juristen Roms ein Hervortreten logisch-deduktiver Ableitungsverfahren. Er weist ferner auf das Zusammenspiel analytischer und synthetischer Figuren in der mittelalterlichen Jurisprudenz hin sowie schließlich auf ein erneutes Auftreten dieses Gegensatzes seit dem 19. Jahrhundert in der Konfrontation der Begriffsjurisprudenz (als Kind der vernunftrechtlichen Axiomatik und des kantischen Formalismus) mit der Interessenjurisprudenz, als deren Ahn er Jherings naturalistisch-pragmatische Zwecktheorie begreift. Im Neopositivismus der Reinen Rechtslehre Kelsens und im ,logischen Empirismus4 der Analytical Jurisprudence einerseits sowie den pragmatischen Theorien des amerikanischen und skandinavischen Realismus und der juristischen Topik andererseits sieht er diese Polarität erneut auftreten. 124 Wieackers Überlegungen gehen nun dahin, daß die beiden vorherrschenden Methoden der Rechtsfindung, die deduktiv-systematischen und die induktiv-pragmatischen, jede für sich allein noch nicht der praktischen Anforderung an die Rechtsdogmatik genügen, anerkannte Entscheidungsregeln zu geben: „die einen verfehlen oft die Fallgerechtigkeit, die anderen die Normgerechtigkeit der Entscheidung". 125 Die Ursache für diese Aporie liegt nach seiner Einschätzung in der rationalen Unaufhellbarkeit der Beziehung zwischen dem Allgemeinen geltender Sätze und dem Individuellen der konkreten Entscheidungssituation.126 Um ihr zu entgehen, betrachtet Wieacker die Rechtsdogmatik als Instrument der Rechtsfindung im Feld der praktischen Vernunft und Moral. Als Kunstlehre (techne) gestatte die Rechtsdogmatik dem Richter, zwischen diskutablen Begründungen zu wählen. Deduktive und induktive Verfahren werden vor der Aufgabe einer praktisch richtigen Lösung somit äquivalent und austauschbar, solange man nicht eine strenge Theorie des Rechts vertritt, deren Gegenstand von der Wirklichkeit unabhängige, allgemeingültige und widerspruchsfreie Sätze sind. Einer ihrerseits apodiktischen Vorentscheidung über die Richtigkeit der einen oder anderen Methode kann sich der Standpunkt Wieackers also entheben.127 Das hindert ihn andererseits nicht, für beide methodische Strömungen unterschiedliche Bedeutungshorizonte anzudeuten. So bricht er insbesondere eine Lanze für die Topik, die er jedoch auf „ihre alte ,inventorische' Funktion" beschränkt, die Auffindung des Problems des Einzelfalls und den Vorschlag von Lösungsgesichtspunkten, die sich auf allgemein angenommene Maximen berufen können. 128 Ähnlich wird auch aus der Sicht Essers vor dem Hintergrund eines überschätzten Systemzwangs leicht übersehen, daß das topische Argument durchaus einen dogmatischen Informationswert besitzt, daß es nur eben nicht nach Art eines geschlossenen axiologischen Systems einbaufähig sei. Gerade hierin liegt nach Esser aber die 124 Wieacker, 125 Wieacker, 126 Wieacker,
in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (322 f.). in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (332 f.). in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (333).
127 Wieacker, 128 Wieacker,
in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (333 f., 336). in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (334 f.).
1. Abschnitt: Die heutige Einschätzung
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Stärke des topischen Arguments. So habe es immer eine Art „Verlegenheitsdogmatik" gegeben, die sich darum bemüht habe, Defekte im Schulsystem begrifflich zu überspielen. Aus der Zeit des gemeinen Rechts nennt Esser etwa die Ausdrücke Quasikontrakt und Quasidelikt, aus jüngerer Vergangenheit die Leerformel vom ,sozialen Kontakt'. Das topische Argument wird für Esser hier zur Vorstufe für dogmatische Formeln, mit denen sich der endgültige Standort für eine neue Konfliktentscheidung im Rahmen der vorhandenen Kategorien aufspüren läßt. 129 Bedeutsam ist für Wieacker neben der inventorischen Funktion der Topik aber auch die durch sie vermittelte Einsicht in die Aporetik jeder individuellen praktischen Entscheidungssituation und die Chance, durch den Argumentenabtausch verbindlich von den Rechtsgenossen akzeptierte praktische Allgemeinwahrheiten „auszufiltern" und auf diese Weise auch jenseits des dogmatischen Formalismus oder des metaphysischen Wertobjektivismus zu allgemein anerkannten und daher sozial verbindlichen Verhaltensregeln der praktischen Moral zu gelangen.130 Darin liegt für Wieacker freilich zugleich der Nachteil der Topik, insoweit sie nur noch bedingt dem Postulat einer allgemeinen rechtlichen Regel gerecht wird, die von der Person und irrelevanten Umständen absieht. Für die Rechtsanwendung wird zudem problematisch, daß die Topik keine Auskunft über die spezifische Problemrelevanz ihrer Gesichtspunkte wie über die Rangordnung widerstreitender Gesichtspunkte gibt. 1 3 1 Das deduktive Verfahren leide seinerseits jedoch an einer Distanz zu Elementen praktischer Richterkunst (wie praktische Angemessenheit4, Judiz' oder ,Rechtsgefühl'), mit der eine Annäherung an die Gerechtigkeit des Einzelfalls erst möglich werde, und damit am Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen als beständiger Crux deduktiven Vorgehens. 132 Wenn mit der deduktiven Methode andererseits aber alle Vorteile einhergingen, die überhaupt ein formalistisches Verfahren gewährleisten kann (Objektivität, abstrakte Gleichbehandlung und formale Gerechtigkeit), so komme der begrifflichen und systematischen Ableitung die Kontrolle topischer Vorschläge auf ihre Kontingenz im allgemeinen Prinzipienund Regelungszusammenhang der Rechtsordnung zu. In diesem Sinne besteht zwischen dem topischen und dem systematischen Argument für Wieacker eine praktische Interdependenz. 133 Von der notwendigen Koexistenz unterschiedlicher Methoden geht auch Kaufmann aus. In einem 1965 erschienen Aufsatz läßt er die Freirechtsbewegung Revue passieren, die er in den Kontext einer um die Jahrhundertwende mit der Phänomenologie Edmund Husserls einsetzenden philosophischen Umbruchzeit rückt, in der 129 Vgl. Esser, AcP 172 (1972), 97 (124 ff.). 130 Wieacker, in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (329). Ähnlich Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 148 ff.; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 149 ff. 131 Wieacker, 132 Wieacker, 133 Wieacker,
in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (331 f.). in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (323 f.). in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (323, 334 f.).
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Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
sich die Philosophie mehr und mehr abwandte vom Abstrakten, Gattungsmäßigen, Apriorischen, Absoluten, hin zum Konkreten, Existenziellen, Seinshaften, Geschichtlichen.134 Aus diesem geistigen Milieu heraus kommend habe die Freirechtsbewegung im Unterschied zur alten Jurisprudenz nicht mehr eine deduktive, scholastische, metaphysische und abstrakte Methode vertreten, sondern eine induktive, moderne, positive und exakte Methode. Die Freirechtsbewegung habe sich auf diese Weise von einer Methodenlehre absetzen wollen, die unter dem Dogma der logisch-systematischen Geschlossenheit der Rechtsordnung und der Lückenlosigkeit des Gesetzes nur unter Zuhilfenahme (schein-) logischer Prozeduren jede Entscheidung aus dem Gesetz habe ableiten können. 135 In der Ubersteigerung des Gedankens einer Lückenhaftigkeit des Gesetzes sieht Kaufmann freilich zugleich die Einseitigkeit der Freirechtsbewegung, die schließlich Anlaß zu ihrer überwiegenden Ablehnung gab. In dieser Einseitigkeit unterscheidet sich nach Kaufmann die Freirechtsbewegung nicht mehr von den logischsystematischen Strömungen, gegen die sich die Freirechtsbewegung einst auflehnte. Begingen die Begriffsjurisprudenz und nahestehende Richtungen den Fehler, den Blick allein auf den „Obersatz" des sogenannten juristischen Schlusses und damit auf den deduktiven Teil des methodischen Prozesses zu richten, so machten die Freirechts-Soziologie und verwandte Strömungen den entgegengesetzten Fehler, allein auf den „Untersatz" und damit auf den induktiven Teil des methodischen Prozesses zu blicken. 136 Mit dem Blick des Rechtsphilosophen erkennt Kaufmann den eigentlichen Kern dieses scheinbar unüberwindbaren Gegensatzes im alten Universalienproblem. Ahnlich wie später Wieacker stellt er so Begriffsjuristen, die glauben, man könne rein deduktiv aus dem Allgemeinen (der Norm) zum Recht gelangen, und Freirechtler, die glauben, man könne rein induktiv aus dem Besonderen (dem Sachverhalt) zum Recht gelangen, gegenüber. 137 Kaufmann selbst vertritt demgegenüber die Linie eines gemäßigten Realismus oder gemäßigten Idealismus, demzufolge das Allgemeine „zwar kein Eigendasein besitzt, aber in den Einzeldingen je und je verwirklicht ist, so daß es wohl der Erkenntnis zugänglich, indessen nur inadäquat und analog erkennbar ist". 1 3 8 Auf dieser Grundlage und in Anlehnung an das dialektische „Hin- und Herwandern des Blicks" nach Engisch entwickelt Kaufmann seine Konzeption von der Rechtsanwendung als einem analogischen Prozeß. 139
134 Kaufmann, JuS 1965, 1 (2 f.). 135 Kaufmann, JuS 1965, 1 (2, 4). 136 Kaufmann, JuS 1965, 1 (6). 137 Kaufmann, JuS 1965, 1 (7). Für die vielen näheren Unterscheidungen innerhalb beider Strömungen muß an dieser Stelle auf den Beitrag Kaufmanns verwiesen werden. 138 Kaufmann, JuS 1965, 1 (7). 139 Hierzu unten 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 2. a) aa).
1. Abschnitt: Die heutige Einschätzung
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2. Die Gewährleistung rationaler Rechtsanwendung als Anspruch an die Dogmatik Wie läßt sich die Bedeutung der juristischen Dogmatik als Gewährleistung rationaler Rechtsanwendung nun aber näher in der Rechtsanwendung umsetzen? Im jüngeren Schrifttum zur Dogmatik vertritt Franz Bydlinski hierzu die These, daß man eine primäre von einer sekundären Funktion der Rechtsdogmatik unterscheiden müsse: Primär bestünde die Verfahrensweise der Rechtsdogmatik in einer Rechtsgewinnung durch Normkonkretisierung. Alle anderen rechtsdogmatischen Tätigkeiten hätten demgegenüber nur eine dienende (sekundäre) Bedeutung, wenn sie auch für das Lösen von Vorfragen wichtig genug seien. Bydlinski blickt insoweit auf die Begriffs- und Systembildung, aber auch auf Sprach-, Interessen-, Struktur- oder Entwicklungsanalysen und auf eine darauf beruhende Theoriebildung. 140 Bydlinski greift dabei aber lediglich eine im Schrifttum bereits präsente zweigeteilte Aufgabenbestimmung zur juristischen Dogmatik auf, auch wenn er sie mit einer anderen Akzentsetzung versieht. Insoweit kann man bereits in dem soeben in den Blick genommenen Meinungsspektrum erkennen, daß der Dogmatik zum einen die Bedeutung zugewiesen wird, eine Ordnung des Rechtsstoffs vorzunehmen (a), wie zum anderen, Vorschläge zur Auslegung und Anwendung von Normen herauszuarbeiten (b). Das soll zunächst noch etwas verdeutlicht werden, bevor später eine eingehendere Funktionsbestimmung der Dogmatik vorgenommen wird, die eine solche Zweiteilung zum Ausgangspunkt nimmt. 1 4 1
a) Die Ordnung des Rechtsstoffs Unter den bei Bydlinski als sekundär begriffenen Aufgaben (oder „Zwischenaufgaben") der Dogmatik, die hier bewußt an den Anfang gerückt werden, gewinnen für ihn vor allem die Gliederung und die Systembildung eine gesteigerte Bedeutung. So nennt Bydlinski die sachgerechte Aufgliederung sowohl der ganzen Rechtsordnung wie der einzelnen Teilgebiete als eine wichtige rechtswissenschaftliche Zwischenaufgabe, da von der Klarheit und Übersichtlichkeit der Einteilung Rechtssicherheit und Ergiebigkeit der systematischen Interpretation abhingen. Dabei müßten als systematische Einteilungskriterien des Rechtssystems in erster Linie die umfassenden Wertungen (Rechtsprinzipien) herangezogen werden, die den Rechtsnormen, Normenkomplexen und ganzen Rechtsgebieten zugrunde lägen, und die die Rechtsinstitute zu den großen Rechtsgebieten zusammenfassen würden. 142 Die systematische Aufgabe der Rechtswissenschaft erstrecke sich dann auch darauf, die von ihr gewonnenen konkreteren Rechtsregeln zusammen mit den 140 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 9 ff. (11 f.), und vorher bereits ders., in: Festschrift für Fioretta, S. 3 ff. 141 Unten 2. Teil, 3. Abschnitt. 142
Bydlinski,
Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 14.
8 0 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
von ihr vorgefundenen positiven in ein möglichst gut überblickbares und die weitere Rechtsgewinnung erleichterndes System zu bringen. 143 Die der Dogmatik hier zugewiesene Funktion einer Orientierungshilfe wird von anderen Autoren selbst dann geteilt, wenn sie mit teilweise deutlichen Vorbehalten versehen wird. So gelangt insbesondere Esser zu einer Relativierung, wenn er betont, daß jede Darstellung von Erkenntnissen nicht Anfang, sondern nur Ende eines gedanklichen Prozesses sein könne. 144 In der Praxis könne man beobachten, daß einerseits dem Bemühen Rechnung getragen wird, eine dogmatisch korrekte und derzeit optimale Einordnung des Problems vorzunehmen, wie die in lehrmäßiger Breite erörterten dogmatischen Inventionen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu erkennen gäben. Mit instinkthafter Orientierung laufe das Urteil des Praktikers dann aber in die Zielgerade einer fallgerechten Entscheidung ein, in der die dogmatische Auseinandersetzung nicht immer überzeugend gelänge oder gar angesichts des Dictums verblasse, es komme trotz allem auf die Umstände des Einzelfalls an. In der Lehre würden die Perspektiven nun leicht dadurch verzerrt, daß man die Einübung in ein funktionierendes Begriffssystem anhand gesicherter Erkenntnisse und Schulfälle vornehme. Objektiv verifizierbar sei die dogmatische Absteckung des Möglichen und Richtigen aber nur hier. Beim „law in action" bedinge hingegen auch die Auslotung des „Vorhandenen" in jedem neuen Grundsatzfall ein Tasten von Merkmal zu Merkmal, begründet durch stetes Zweifeln und Nachprüfen der Tragbarkeit der Formeln und sorgsames Vermeiden unnötig riskanter Festlegungen für den Nachfolger. 145 Esser sieht daher die Gefahr, daß sich die Schuldogmatik von den Bedürfnissen der Praxis unsinnig weit entfernt und stellt die Frage, ob die pädagogischen Bemühungen nicht eher auf die scheinbar so sekundäre kasuistische Einzelbegründung und deren Nachvollziehung zu verwenden seien. 146 Die Dogmatik habe sich aber gleichwohl auf eine Rolle als Vermittlerin zwischen wissenschaftlicher Modellbildung und Praxis zurückzubesinnen, 147 sollten dogmatische Theorien nicht „schulmäßig interessante Sonderleistungen" bleiben oder umgekehrt ein Querschnitt 143 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 16. Zur Ordnungsfunktion von Dogmatik ferner Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Rz. 784, 930 ff. Die Funktion von Dogmatik, eine gewisse Uberschaubarkeit der Materie zu gewährleisten und eine Teilrechtsordnung auf diese Weise überhaupt erst lernbar zu machen, betonen auch Podlech, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band II, S. 491 (492 f.), sowie Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 330 f., der insoweit von einer „technischen Funktion" der Dogmatik spricht. Vgl. ferner Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 17 ff., aus dessen Sicht die Begriffs- und Systembildung es ermöglicht, die Bedingungen des juristisch Möglichen, die Möglichkeiten juristischer Konstruktion von Rechtsfällen, zu definieren.
1 44 Esser, AcP 172 (1972), 97 (124). ms Esser, AcP 172 (1972), 97 (117, 128). *46 Esser, AcP 172 (1972), 97 (127 f.). Dieses durchaus konstruktive Moment der Kritik Essers rückt in der Kritik Pawlowskis, Methodenlehre für Juristen, Rz. 758, zu wenig in den Blick. w Esser, AcP 172 (1972), 97 (129).
1. Abschnitt: Die heutige Einschätzung
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durch repräsentative Entscheidungsreihen der „vulgär-dogmatische Ausbildungsfundus, auf den die Praxis zurückgreift". 148 Noch schärfer blickt L. Raiser auf die Systematisierung des Rechtsstoffs durch die Dogmatik. Drohe die Praxis, in Formeln zu erstarren oder zur Kadi-Justiz zu entarten, wenn sie nicht der kritischen Nachprüfung durch die systematische Rechtswissenschaft ausgesetzt sei, die den Einzelfall und die einzelne Entscheidung in ihre größeren Zusammenhänge einordne, so laufe andererseits alle Rechtswissenschaft Gefahr, zum intellektuellen Spiel zu entarten, wenn sie sich im spekulativen Denken oder der begrifflichen Differenzierung so weit von den praktischen Problemen des Rechtslebens entferne, daß sie „deren Erdgeruch nicht mehr spürt". 149 Dogmatik sei so der spezielle Beitrag, den die Rechtslehrer in das fortdauernde Gespräch zwischen Gesetzgeber, Richtern und Wissenschaft einzubringen hätten. 150 Den dahinter stehenden erkenntnistheoretischen Zusammenhang bringt Larenz auf wenige Worte, wenn er ausführt, daß man Erkenntnisse mit Hilfe von Begriffen, eben weil sie als Nominaldefinitionen Wertungsbezüge abschnitten, nicht erwarten könne. Eine Dogmatik, die sich mit der Bildung derartiger Begriffe und mit der Darlegung logischer Bezüge begnügte, würde nach Larenz so gut wie nichts zur Lösung von Rechtsproblemen beitragen können. Die Dogmatik habe daher nicht begrifflich, sondern typologisch zu verfahren, insbesondere indem sie Falltypen herausarbeite, vor allem aber, indem sie tragende Rechtsprinzipien als allgemeine Wertungsmaßstäbe oder Wertvorzüge zum Verständnis einer Regelung aufsuche. 151 Larenz favorisiert hier ein wertorientiertes Denken, das er scharf einer Kennzeichnung der Dogmatik als einer sich im eigenen System abschließenden Elementarlehre entgegensetzt. Eine solche Charakterisierung treffe auf das abstrakt-begriffliche System der Begriffsjurisprudenz zu, nicht aber auf die heutige Rechtsdogmatik.152 So seien dogmatische Figuren wie etwa das Anwartschaftsrecht nicht aus dem begrifflichen System deduziert, sondern meist, unter Auswertung der Rechtsprechung, im Hinblick auf bestimmte Verkehrsbedürfnisse entwikkelt und durch ihre Ausarbeitung zu einer,Lehre 4 verfestigt worden. Die Dogmatik habe sich dabei jedoch nicht gescheut, das begriffliche System zu modifizieren oder zu durchbrechen. Einzelfallbetrachtung und Systembildung werden bei Larenz also ganz dezidiert nicht als Gegensätze begriffen. Vielmehr sei die Rechtsprechung lediglich „in höherem Maße" einzelfallbezogen, während der Dogmatiker „stärker" auf das Allgemeine blicke, das Typische der Fälle, um aufgrund der 148 Vgl. Essen AcP 172 (1972), 97 (106). 149 L. Raiser, DRiZ 1968, 98. 150 L. Raiser, mitgeteilt von Kötz, AcP 172 (1972), 172 (174). 151 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 226 f. 152 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 228, mit etwas einseitigem Blick auf Esser, AcP 172 (1972), 98 (99), der (124 ff.) mit seinen Ausführungen zum topischen Argument, zur Bedeutung einer „Verlegenheitsdogmatik" und zu dem Bewußtsein der Dogmatik von ihren eigenen Grenzen durchaus wesentliche Einschränkungen vorgenommen hatte. 6 Gödicke
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eingehenden Analyse einer größeren Zahl von Entscheidungen in diesem Zusammenwirken mit der Rechtsprechung zur Entwicklung von Rechtsbegriffen und Entscheidungsmaximen beizutragen. 153 Daß mit der Ordnungsfunktion denn auch nur eine, wenn auch zentrale, Perspektive auf die Dogmatik angeschnitten ist, hat vor allem Schapp betont. 154 Der Gedanke einer Orientierungshilfe juristischer Dogmatik zur Fallösung bilde lediglich einen auf dem Boden der Interessenjurisprudenz stehenden Versuch, das Phänomen eines abstrakten juristischen Begriffssystems und die Art seiner Bildung zu deuten. Die Hinwendung zur Interessenjurisprudenz könne aber nicht die jahrhundertealten Denktraditionen beendet oder überwunden haben, wie sie etwa in der juristischen Konstruktion der gemeinrechtlichen Jurisprudenz und in der im 19. Jahrhundert verbreiteten Vorstellung von einem System der Begriffe zum Ausdruck kommen. Angesichts dieser historischen Dimension eines Denkens in Allgemeinbegriffen weist Schapp die Verabsolutierung des Gesichtspunkts einer Orientierungshilfe von sich. Zuvor müsse man vielmehr nach den Bedingungen des Verstehens eines solchen „Denkens in Allgemeinbegriffen" fragen. 155 Das hindere es andererseits jedoch nicht, unter Dogmatik zumindest auch die Lehre von den das Recht überwölbenden und die Auslegung prägenden systematischen Zusammenhängen zu verstehen; fast jede Rechtsvorschrift werde von den grundlegenden Rechtsgedanken ihres Gebiets her ausgelegt, die ihrerseits wieder ein Ensemble systematischer Zusammenhänge bildeten. 156 Noch deutlicher abgelöst von der Gesetzesauslegung konzediert Schapp der Dogmatik damit auch die Bedeutung einer Bezeichnung für das juristische Begriffssystem in seinen oberen Abstraktionen, die eine gewisse Orientierung in das Meer der Fallösung brächten und damit sowohl das Lernen wie auch die Anwendung des Rechts erleichterten, also vor allem Orientierungswert hätten. Das Moment der Fallbewertung trete in dieser Abstraktion vom Fall freilich kaum noch oder jedenfalls kaum noch bestimmbar in Erscheinung. 157
b) Die Herausarbeitung von Vorschlägen zur Auslegung und Anwendung von Normen Neben der Ordnung des Rechtsstoffs wird der Dogmatik dann als zweite wesentliche Bedeutung die Herausarbeitung von Vorschlägen zur Auslegung und Anwen153
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 235. Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 99 ff. 155 Schapp faßt damit das Denken in Allgemeinbegriffen als einen unserer Kulturgemeinschaft eigenen Denkstil individueller Prägung auf, der nichts Apriorisches ist, sondern neben Denkstilen anderer Kulturen steht, ohne daß man nun versuchen müßte, die Stile aufeinander zurückzuführen, sie in dieselben Elemente zu zerlegen oder sie in irgendeiner Weise miteinander zu harmonisieren. Vgl. ders., Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 100 f. 156 Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 37. 157 Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 99. 154
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dung von Normen zugemessen. Das vorstehend referierte Meinungsspektrum bringt die Bedeutung dieser zweiten Funktion schon dadurch zum Ausdruck, daß hier stets versucht wird, die Ordnung des Rechtsstoffs in ein angemessenes Verhältnis zum Akt der Rechtsanwendung selbst zu setzen mit seinen Einzelfallerwägungen, Falltypen und Fallgruppen. Besonders deutlich angesprochen wird diese zweite Funktion von Bydlinski, wenn er unter der primären Verfahrensweise der Rechtsdogmatik als Rechtsgewinnung durch Normkonkretisierung die Herausarbeitung nachprüfbarer Regeln versteht, mittels derer die Frage, was in bestimmten zwischenmenschlichen Situationen „zu dieser Zeit und in dieser [ . . . ] Rechtsgemeinschaft rechtens ist", rational kontrollierbar beantwortet werden kann. 158 Bydlinski geht es an dieser Stelle also noch nicht um eine Regel für die Bildung einschlägiger materieller Rechtsregeln und damit um eine methodologische Fragestellung, sondern um die Gewinnung von solchen materiellen Regeln für konkrete (reale oder erdachte) Fallgestaltungen selbst. Die Dogmatik ist hier also gleichsam eine Rechtsgewinnungsinstanz. Das Ausgangsmaterial, aus dem diese konkreten Regeln abzuleiten sind, besteht für Bydlinski zum einen im positiven Recht und den allgemein anerkannten ungeschriebenen Rechtsgrundsätzen, zum anderen aber auch in den Rechtssätzen, die von der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung im Wege der Konkretisierung jener Rechtssätze gewonnen wurden, und schließlich auch in den jeweils relevanten Aussagen über Tatsachen.159 Bydlinski siedelt die Rechtsdogmatik damit nun aber auf einer Ebene an, die sich nur noch außerordentlich schwer von dem trennen läßt, was man bereits als die Entscheidung des jeweiligen Konflikts bezeichnen könnte, und die Bydlinski mit dem „Rechts- und Pflichtengehalt der konkreten Rechtsverhältnisse im einzelnen" 158
Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 9 ff., und vorher bereits auf derselben Linie ders., in: Festschrift für Fioretta, S. 3 ff. Sowohl der Begriff der Rechtsgewinnung wie jener der Normkonkretisierung ist dabei allerdings schon im Ansatz unklar. Was die „Normkonkretisierung" als das Mittel zur Rechtsgewinnung betrifft, so wird nicht deutlich, auf welche Schritte der Rechtsfindung sich diese Konkretisierung im einzelnen beziehen soll, oder ob hiermit der Gesamtprozeß der Rechtsfindung ins Auge gefaßt ist. Mit dem Gedanken der Konkretisierung greift Bydlinski denn auch einen in der juristischen Methodenlehre spätestens seit der eingehenden Untersuchung von Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, ebenso vertrauten wie überaus changierenden und damit heiklen Topos auf, mit dem man versucht, eine seit jeher problematische Kluft zwischen Auslegung und Anwendung, zwischen Norm und Fall, zu überbrücken. So spricht etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 213, vom Abstand zwischen der notwendigen Allgemeinheit der Norm und der Besonderheit jedes konkreten Falles als Hauptproblem des Normanwenders, den „zu überbrücken oder vielmehr: zu ermitteln, [ . . . ] die Aufgabe der,Konkretisierung' der Norm" sei. Ahnlich ist es nach der Fallnormtheorie Fikentschers erforderlich, den Obersatz der Subsumtion solange zu konkretisieren, zu verfeinern, bis er gleichliegende Fälle erschöpfend deckt, vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, Kap. 31, VIII 1 E) (S. 207). Nicht minder problematisch ist dann aber auch der Gedanke der „Rechtsgewinnung", die Bydlinski offenbar als das Ergebnis der Normkonkretisierung begreift. Welches Recht wird hier gewonnen: das Recht im Einzelfall? Das Recht im Sinne von Hilfsnormen? Oder das Recht im Sinne von Falltypen oder Präjudizien? 159 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 9 ff. *
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umschreibt. 160 Das erinnert von ferne an die Fallnorm Fikentschers, mit deren Hilfe dieser den Graubereich zwischen Auslegung und Anwendung der Norm noch normativ zu erfassen versucht. 161 Wenn Bydlinski nun auch von anderen Prämissen ausgeht, so bildet doch das Ringen mit der Lehre vom Subsumtionsmodell und mit den vielen daran anschließenden grundlegenden Fragen des Verhältnisses von Regel und Fall, oder, noch abstrakter gewendet, von Allgemeinem und Besonderen, den großen Hintergrund seiner Darlegungen. Die wiederholte Sprechweise Bydlinskis von der von ihm skizzierten Form der Rechtsgewinnung lediglich als einer „Verfahrensweise" der Rechtsdogmatik, als ihrer „Frage- und Aufgabenstellung" oder auch als ihrem „Ziel", 1 6 2 zeigt jedoch, daß er die Rechtsdogmatik gleichwohl nicht mit letzter Konsequenz dem Bereich entweder der Auslegung oder der Anwendung zuordnen möchte, sondern sie in dem seit jeher problematischen Spannungsbogen zwischen Regel und Fall verharren läßt. Dem entspricht es jedenfalls teilweise, wenn unter Dogmatik heute als kleinstem gemeinsamen Nenner die Lehre vom geltenden Recht verstanden wird. 1 6 3 Im Kontext der Rechtsanwendung wird die Lehre vom geltenden Recht etwa aus der Sicht Schapps zur Lehre von der Auslegung und der Anwendung der Gesetze auf den Einzelfall, allerdings nur insoweit, als sie sich bereits derart verfestigt hat, daß sie tatsächlich auch maßgeblich für die praktische Rechtsanwendung ist und damit gleichsam als ein Moment des geltenden Rechts selbst erscheint. 164 Entgegen Meyer-Cording kann dieses auf die Rechtsanwendung bezogene Verständnis von Dogmatik also noch nicht bedeuten, die Dogmatik bereits mit dem gleichzusetzen, was der Jurist normalerweise tut: Auslegung und Anwendung der Normen. 165 Daß diese Perspektive überzeichnet wäre, wird bereits deutlich, wenn auch Meyer-Cording Wieacker zustimmt, die dogmatischen Vorstellungen, Systeme und Rechtsbegriffe seien „ein Repertoire von Problemlösungsvorschlägen, die bei wiederholter praktischer Bewährung durch den Konsens der Fachgenossen Verbindlichkeit für die Rechtsprechung gewinnen können". 166 Die Dogmatik tritt hier also als ein Reservoir guter Gründe auf, deren Tauglichkeit für die Praxis sich durchaus immer erst erweisen muß. Dann darf man den Akt der Rechtsanwendung aber nicht mit dem Akt seiner Vorbereitung gleichsetzen. In der fehlenden Gleichsetzbarkeit beider Bereiche dürfte auch der tiefere Grund dafür liegen, weshalb sich der Begriff 160
Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 13. 161 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, Kap. 31 V I I 6. 162
Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 8 ff. So Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 36; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., S. 220. Ahnlich Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, S. 5 ff., sowie unlängst auch Diederichsen, in: Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, S. 65 (66). 164 Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 36. 163
165
Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 20. 166 Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 18; Wieacker, und Richterkunst, S. 14.
Gesetz
1. Abschnitt: Die heutige Einschätzung
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der Dogmatik bis heute in der Jurisprudenz erhalten hat und nicht durch andere Begriffe ersetzt wurde. Wenn man in dieser Perspektive mit Kaufmann die Rechtsdogmatik als „die Wissenschaft vom normativen Sinn des geltenden positiven Rechts" umschreiben möchte, so läßt sich schließlich sogar ein harter Kern des theologischen Dogma-Verständnisses wiedererkennen, wenn die Dogmatik jedenfalls der Tendenz nach im Rahmen bestehender Voraussetzungen („ex datis") denkt, das geltende Recht also nur systemimmanent kritisiert, um das Verständnis seines Inhalts fortzuentwickeln. 167
3. Die Perspektive der Rechtsprechung auf die Dogmatik Die bisherigen Ausführungen haben die juristische Dogmatik lediglich aus Sicht der rechtswissenschaftlichen Literatur beleuchtet. Die Rechtsprechung wurde zwar bereits in den Blick gerückt - sei es als eigentliches Ziel der dogmatischen Bemühungen in der Rechtsanwendung oder sei es als Prüfstein und anregende Kraft für die Dogmatik selbst. Welche ist aber die Perspektive der Rechtsprechung auf die Dogmatik? Angesichts der Fülle gerichtlicher Entscheidungen kann es auch hier nur um eine Skizze gehen. Die Darstellung beschränkt sich daher auf das Begriffsverständnis, das der BGH in seinen zivilrechtlichen Entscheidungen an den Tag gelegt hat. Der BGH verwendet den Begriff der (Rechts-) Dogmatik zunächst einmal, wenn er die Autorität eines Standpunktes kennzeichnen möchte, wie dies sonst auch mit der Charakterisierung als „herrschende Meinung" geschieht. Eine Festlegung allein auf die Rechtswissenschaft ist dabei noch nicht erkennbar. 168 Inhaltlich zielt der BGH dabei sowohl auf einzelne Rechtsfiguren ab, etwa „dem der Rechtsdogmatik auch sonst vertrauten Begriff der »logischen Sekunde«",169 wie auch auf ganze Sachgebiete, etwa (im Kontext von Enteignungsfragen) auf eine vom Öffentlichen Recht geprägte „neue eigentumsrechtliche Dogmatik". 170 Dabei wird das im Kern schließlich doch auch nur Meinungshafte eines solchen herrschenden Standpunktes deutlich, wenn der BGH das Moment der Wandelbarkeit von Dogmatik betont, indem er etwa rückblickend auf seine eigene Rechtsprechung von einem veralteten Stand der Dogmatik spricht, 171 oder den seitens der Literatur vorgebrachten Gedanken eines Einbruchs in die überkommene Dogmatik referiert, um die Notwendigkeit einer Rechtsfortbildung zu erörtern. 172 167
Vgl. Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S. 9,13. 168 Vgl. etwa BGHZ 79, 259 (261); 28, 16 (19); 21, 52 (57). 169 Vgl. BGHZ 76, 279 (288). i™ Vgl. BGHZ 128, 204 (207). An anderer Stelle spricht der BGH vergleichbar von der strafrechtlichen Dogmatik zum Fahrlässigkeitsbegriff, vgl. BGHZ 24, 21 (27). i 7 i Vgl. etwa BGHZ 70, 374 (376), zu einem früheren Urteil, in dem aus Sicht des BGH „die Verneinung des Haftungszusammenhangs wohl zu Unrecht entsprechend dem damaligen Stand der Dogmatik mit mangelnder Adäquanz begründet" wurde.
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In negativer Hinsicht trägt der BGH dann auch Bedeutungsakzente einer autoritär verstandenen Dogmatik vor, wie die Literatur sie weit von sich gewiesen hat, wenn er unter „dogmatisch" ein unreflektiertes Festhalten an vorgefaßten Standpunkten versteht. 173 Es wäre jedoch vorschnell geurteilt, dem BGH hier ein archaisches Verständnis von Dogmatik im Sinne eines unkritischen Dogmatismus nachzusagen.174 Vielmehr beginnt sich hier lediglich besonders deutlich eine Technik der Abgrenzung niederzuschlagen, die die Rechtsprechung des BGH durchgängig bestimmt. Dabei kann man zunächst einmal durchaus das Bemühen des BGH erkennen, sich personell als Rechtsprechung von der Dogmatik als Theorie (oder auch von der Rechtswissenschaft) abzugrenzen, um die Dignität des eigenen Standpunktes hervorzuheben. Auch hier liegen die Dinge bei näherer Hinsicht aber etwas komplizierter. Hinter der personellen Abgrenzung dürfte sich im Kern der gleiche Zwiespalt verbergen, der auch das Dogmatik-Verständnis der Literatur kennzeichnet. Vor dem Hintergrund der Ausführungen Wieackers und Kaufmanns kann man den Zusammenhang dahin ausdrücken, daß der BGH sehr bedachtsam den Einsatz induktiver und deduktiver Methoden der Rechtsanwendung gegeneinander abwägt. Der Sprachgebrauch des BGH ist insoweit sichtlich geprägt von seinem Selbstverständnis, einen konkreten Fall interessengerecht entscheiden zu müssen. Das hat zur Folge, daß der BGH je nach Übereinstimmung mit Standpunkten der Dogmatik sich das eine Mal mehr von der Dogmatik abgrenzt und das andere Mal die Dogmatik unterstützend für seine Überlegungen heranzieht. So richtet sich der Sprachgebrauch des BGH in einem negativen Sinne etwa gegen Argumentationen, die „zwar dogmatisch konsequent" seien, aber jenseits einer interessengerechten Lösung stünden, um die es dem BGH in seiner Spruchpraxis gehen muß. 175 Formale dogmatische Argumentation und interessengerechte Fallentscheidung werden auf diese Weise also geradezu in einen für die eigene Argumentation des BGH instrumentalisierten Gegensatz gebracht. 176 Entsprechend werden im Schrifttum 172 Vgl. BGHZ 59, 286 (291 f.), zu dem in der Literatur vorgetragenen Gedanken, daß bei Rechtsverletzungen entgegen dem Verschuldensprinzip auch ohne konkreten Schadensnachweis die übliche Lizenzgebühr nach Bereicherungsrecht ersetzt verlangt werden könne. 173 So sieht der BGH etwa in BGHZ 113, 17 (24), eine Regelung des Staatshaftungsrechts an einen in § 839 III BGB niedergelegten Grundsatz anknüpfen, der „flexible Lösungen ohne dogmatische Erstarrung" erlaube. 174 Vgl. zu diesem aufklärerischen Begriff näher oben 2. Teil, 1. Abschnitt, I. 2. 175 So etwa BGHZ 117, 200 (205 f.), zu der Überlegung, bei der Konstruktion über ein Anwartschaftsrecht dem Erwerber ein vom Vermieterpfandrecht freies Volleigentum zu gewähren. Der BGH hält die daraus resultierende Ungleichbehandlung gegenüber einer unmittelbaren Eigentumsübertragung für sachlich nicht gerechtfertigt, weil der Vorbehaltskäufer durch Abtretung des Anwartschaftsrechts mittelbar über das Vollrecht wie ein Eigentümer verfüge und sich damit wirtschaftlich den Wert der Waren zuführe, also die gleiche Vermögensmasse, die nach Vorstellung des Gesetzgebers vorrangig als Pfand für die Ansprüche aus dem Mietverhältnis dienen soll. 176 Umgekehrt betont der BGH etwa in BGHZ 86, 240 (252 f.), daß es „nicht nur eine dogmatische Erwägung" sei, anzunehmen, weder die Ermöglichung noch die Nichtverhinde-
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„vor allem aus dogmatischer Sicht erhobene, zweifellos gewichtige Bedenken nicht für zwingend" gehalten, weil es darum gehe, „in bezug auf ganz bestimmte Sachverhalte und Rechtsfolgen" ein Tatbestandsmerkmal „nicht nach rein formalrechtlichen Kriterien, sondern nach den ihnen innerlich angemessenen funktionalen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu bestimmen". 177 Auf praktisch nicht interessengerechte Argumentationen geht der BGH dann gelegentlich auch ganz bewußt nicht weiter ein, weil sie ihm, wenn auch nicht kontraproduktiv für die eigene Lösung, so doch schlicht als irrelevant für seine Rechtsfindung erscheinen. 178 Umgekehrt wird eine an dogmatischen Erwägungen ausgerichtete Argumentation für den BGH gelegentlich dann von Bedeutung, wenn er einer bereits nicht interessengerechten Lösung nun auch ihre theoretische Fundierung abzusprechen versucht, um sie damit als völlig haltlos zu qualifizieren. So hielt er es etwa hinsichtlich der Frage einer Haftung des Arbeitnehmers gegenüber Dritten bei gefahrgeneigter Arbeit für „dogmatisch vollends unbegründbar", wenn der Arbeitnehmer bei Liquidität des Arbeitgebers gegenüber Dritten hafte, bei Illiquidität hingegen nicht. Der Arbeitnehmer hafte dem Dritten entweder in jedem Fall oder aber überhaupt nicht. 179 Die praktische Notwendigkeit interessengerechter Entscheidung hat der BGH schließlich in äußerster Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, wenn er eingesteht, trotz dogmatischer Bedenken schlicht gezwungen zu sein, überhaupt eine Entscheidung zu fällen. So sah sich der BGH in der überaus kontroversen Frage der zivilrechtlichen Haftung des Arztes für fehlgeschlagene Unfruchtbarmachung („Kind als Schaden") der Frage ausgesetzt, wie ein Unterhaltsaufwand einerseits familienrechtlich geschuldet sein, andererseits haftungsrechtlich als Schaden aufgefaßt werden könne, und bemühte sich um eine gewisse „Einschränkung der grundsätzlich bejahten Ersatzfähigkeit auf den eigentlichen Planungsschaden".180 Im Ergebnis stellte er den Arzt bekanntlich von solchen Aufwendungen frei, die zwar durch seinen Fehler ausgelöst wurden, in ihrer (überdurchschnittlichen) Höhe aber ihre selbständige Grundlage in der wirtschaftlichen Situation der Familie finrung von Leben verletze (anders, soweit die Qualität dieses Lebens durch Tun oder unterlassen erst beeinträchtigt werde) ein nach § 823 I BGB geschütztes Rechtsgut. Diese Erwägung werde „vielmehr dadurch gestützt, daß schon eine ethische Wertung des erlaubten Schwangerschaftsabbruchs in der allgemeinen Meinung keine einheitliche sei". 177 BGHZ 118, 107 (113 f.). Ähnlich ist der BGH in BGHZ 108, 256 (259), der Auffassung, daß § 304 ZPO als dort auszulegende Vorschrift prozeßwirtschaftlichen Erwägungen entspringe und daher dogmatische Erwägungen bei ihrer Auslegung in den Hintergrund treten könnten. Vgl. auch BGHZ 86, 212 (216). 178 So führt der BGH etwa in BGHZ 101, 325 (333), sowie in BGHZ 86, 212 (216), aus, daß der Begriff des Vermögensschadens „in Einzelheiten dogmatisch umstritten" sein möge, ohne Anlaß zu einer Auseinandersetzung mit diesen Kontroversen zu sehen. Auch in BGHZ 86, 240 (245), sieht der BGH keinen Anlaß zum „näheren Eingehen auf diesen dogmatischen Streit". Vgl. auch BGHZ 84, 151 (154); 76, 259 (267 f.). 179 BGHZ 108, 305 (313). 180 BGHZ 76, 259 (267 f.).
8 8 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung den. Der B G H war sich dabei „bewußt, daß diese Lösung des Widerstreits zwischen zwei sich überlagernden Rechtsgebieten dogmatisch nicht zwingend ist". Unumgänglich sei aber „eine Abgrenzung überhaupt, und zu ihr ist in Ermangelung einer wünschenswerten gesetzlichen Regelung die Rechtsprechung [ . . . ] verpflichtet". 1 8 1 Die Dogmatik rückt hier also durchaus auch aus der Sicht der Rechtsprechung als eine Kontrollinstanz für die Rechtsfindung in den Blick, deren Bedeutung sich angesichts des praktischen Entscheidungszwangs dann aber deutlich relativieren k a n n . 1 8 2 In einem positiveren Sinne sind für den B G H dann vor allem solche Erwägungen dogmatisch, die sich um eine Einordnung von Rechtsfragen in das bestehende Rechtssystem bemühen. 1 8 3 Auch hier steht allerdings das praktische Streben nach Fallentscheidungen für den B G H ganz i m Vordergrund, so daß er sich denn auch überwiegend eines eigenen Beitrags zu dieser Frage der Einordnung enthält. Die Redewendung „unbeschadet der dogmatischen Einordnung" wird hier zu einem gängigen Topos, um die Interessengerechtheit der eigenen Lösung zu unterstreic h e n . 1 8 4 Gelegentlich beruft sich der B G H denn auch über alle divergierenden dogmatischen Begründungsversuche hinweg auf die Einmütigkeit der Literatur i m Er-
181 Vgl. BGHZ 76, 259 (270). 182 Vgl. etwa in BGHZ 98, 212 (215), wo der BGH feststellt, daß die Rechtsprechung für den begrenzten Bereich der Kfz-Nutzungsentschädigung „trotz erheblicher dogmatischer Bedenken" gebilligt werde oder in BGHZ 89, 126 (130), wo für den BGH kein „dogmatisch zwingender Grund ersichtlich [ist], der die Anwendung des § 3641 BGB verbieten könne". 183 In diesem Sinne wird der Begriff der Dogmatik denn auch ganz überwiegend von dem weitgefächerten monographischen Schrifttum gebraucht, das sich über das Zivilrecht hinaus um das Herstellen von Regelungszusammenhängen bemüht. Ohne eine weitere Analyse auch dieses Sprachgebrauchs anstellen zu wollen, sei insoweit nur beispielhaft auf die Formulierung folgender Titel hingewiesen: Bolsinger, Dogmatik der Arzthaftung; Fournier, Bereicherungsausgleich bei Verstößen gegen das UWG. Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik des wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutzes; Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht. Recht und Dogmatik materieller Existenzsicherung in der modernen Gesellschaft; Schiette , Die Verwaltung als Vertragspartner. Empirie und Dogmatik verwaltungsrechtlicher Vereinbarungen zwischen Behörde und Bürger; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten; Heimlich, Die Verleihungsgebühr als Umweltabgabe. Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik des allgemeinen Gebührenrechts; Heghmanns, Grundzüge einer Dogmatik der Straftatbestände zum Schutz von Verwaltungsrecht oder Verwaltungshandeln; Krause, Ordnungsgemäßes Wirtschaften und Erlaubtes Risiko. Grund- und Einzelfragen des Bankrotts (283 StGB) - zugleich ein Beitrag zur Dogmatik des Konkursstrafrechts. 184 So etwa BGHZ 125, 334 (338 f.), zur rechtlichen Qualifizierung einer Anwartschaft auf ein Patent; BGHZ 125, 196 (204), zur rechtlichen Einordnung der Einziehungsermächtigung; BGHZ 124, 321 (326), zum Erfüllungsanspruch des Käufers, soweit sich der Verkäufer am verdeckt abgeschlossenen und vollzogenen Geschäft nach Treu und Glauben festhalten lassen muß; BGHZ 122, 23 (24 f.), zur Vorstellung vom Anfechtungsrecht im Konkurs als Gestaltungsrecht oder als Anspruch; BGHZ 108, 200 (206 f.), zu der Frage, ob die Erfüllungspflicht des Versicherers beim Verhaltensfehler eines Versicherungsagenten aus einer Umgestaltung des Versicherungsvertrags aus Vertrauenshaftung resultiere oder ob der Vertrag so zu erfüllen ist, als wenn er in korrigierter Fassung zustandegekommen wäre.
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gebnis. 185 Inhaltlich geht der BGH dann beim Gedanken der dogmatischen Einordnung der Frage nach, wo sich sinnvollerweise eine Rechtsgrundlage für die begehrte Rechtsfolge finden läßt. 186 Besonders plastisch wird dies in einer Entscheidung, in der seitens des BGH verschiedene Haftungstatbestände außerhalb der Konkursantragsvorschriften referiert werden, die von Rechtsprechung und Wissenschaft entwickelt wurden, um dem Bedürfnis nach einem individuellen Schutz der durch Konkursverschleppungen geschädigten Gläubiger Rechnung zu tragen. Hier kritisiert das Gericht etwa „die jedenfalls in diesem Zusammenhang dogmatisch nicht haltbare, an der falschen Stelle ansetzende und die in Betracht kommenden Fälle nicht richtig erfassende Vertreterhaftung wegen wirtschaftlichen Eigeninteresses".187 „Dogmatisch" wird in diesem Kontext der Einordnung von Konfliktentscheidungen denn auch gelegentlich als Synonym gebraucht für eine systematisch ausgerichtete Argumentation. 188 Dieser Ausblick mag deutlich machen, wie bereitwillig die Rechtsprechung die ihr plausibel erscheinenden Problemlösungsvorschläge der Dogmatik aufgreift, wie dezidiert sie dogmatische Erwägungen aber auch zurückweist, wenn sie nicht mehr zu einer interessengerechten Fallentscheidung führen würden. Das bestätigt die Annahme, daß auch innerhalb der Rechtsprechung die Gesichtspunkte einer Ordnung und einer Erarbeitung von Auslegungs- und Anwendungsvorschlägen als Hauptfunktionen der Dogmatik zutage treten. Sehr viel deutlicher als in der Literatur zeigt sich bei der Rechtsprechung dann aber die Bedeutung der Fallbewertung für die Arbeitsweise der Dogmatik. Es ist daher keineswegs weit hergeholt, der 185 Vgl. etwa BGHZ 89, 153 (157), zu der Überlegung, daß der Beauftragte in aller Regel nicht mit dem vollen Risiko der im Interesse des Geschäftsherrn ausgeübten Tätigkeit belastet werden dürfe. 186 So kommt aus Sicht des BGH für die Zurückweisung einer Kontogutschrift als „dogmatische Grundlage" nicht § 333 BGB in Betracht, wie von der Literatur vorgetragen, sondern nur das Giroverhältnis zwischen Bank und Kunden, vgl. BGHZ 128, 135 (138 f.). Geradezu den Charakter einer Entscheidungsinstanz über die richtige Anspruchsgrundlage gewinnt die Dogmatik in der Entscheidung BGHZ 127, 107 (118 f.), in der es nach Auffassung des Gerichts „keiner dogmatischen Entscheidung bedarf', ob der Anspruch des Aktionärs auf Aushändigung von Abschriften einer Aufzeichnung seiner Beiträge auf dem Mitgliedschaftsverhältnis zwischen Aktionär und Gesellschaft beruhe oder aus der Treuepflicht der Gesellschaft herzuleiten sei: „Beide Rechtsgrundlagen tragen einen solchen Anspruch." In BGHZ 111, 364 (367), sieht der BGH, daß die „dogmatischen Grundlagen" der relativen Unwirksamkeit eines gerichtlich erlassenen Veräußerungsverbots und die Wege, diese geltend zu machen, in der Literatur umstritten seien und führt dann die einzelnen Vorschläge auf. 187 BGHZ 126, 181 (198). 188 Besonders deutlich wird dies etwa in BGHZ 123, 394 (400), wo vom BGH für seine ablehnende Haltung hinsichtlich der Frage, ob die Regelung des § 852 II BGB auch auf den Speditions- und Frachtverkehr Anwendung findet, auch der „dogmatische Gesichtspunkt" angeführt wird, „daß die in § 852 Abs. 2 BGB enthaltene Regelung nicht im Allgemeinen Teil (etwa bei §§ 202 bis 205 BGB), sondern im Deliktsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs Aufnahme gefunden hat", weshalb ein von der Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts gemachter gegenteiliger Regelungsvorschlag de lege lata keine Berücksichtigung finden könne.
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Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Rechtsprechung die Rolle zuzuweisen, gleichsam über die streitige Auslegung von Rechtssätzen zu entscheiden.189 Die Rechtsprechung beurteilt hier gewissermaßen die Ergebnisse der wissenschaftlichen Kontroverse und setzt sie im Zuge der Anwendung des Rechtes für ihre Entscheidungen um, die ihrerseits künftige dogmatische Überlegungen beeinflussen.
III. Dogmatik und juristische Methodenlehre Die bislang angestellten Beobachtungen machen deutlich, daß die verschiedenen Tätigkeitsbereiche der Jurisprudenz, die heute für das Verständnis von Dogmatik als elementar begriffen werden, ihrem Selbstverständnis nach keine theoretische, der Praxis fernstehende Provinz darstellen, sondern durchweg auf den Prozeß der Rechtsfindung bezogen sind. Dabei kommt der Dogmatik im Zivilrecht die Hauptbedeutung zu, den von der Interessenjurisprudenz besonders deutlich akzentuierten und heute als unerläßlich empfundenen Bewertungsspielraum des Rechtsanwenders rational kontrollierbar zu machen, um den Rechtssuchenden vor einer zügellosen Beliebigkeitsrechtsprechung zu bewahren. Positiv gewendet soll die Dogmatik dann aber auch einer Entlastung des Rechtsanwenders dienen, der sich anhand einer von der Dogmatik geschaffenen Ordnung des Rechtsstoffs orientieren und auf einzelne AuslegungsVorschläge zurückgreifen können soll. Davon, beides selbst vorzunehmen, soll er also weitgehend entbunden werden. Wie deutlich läßt sich bei dieser funktionalen Sicht aber noch eine Trennlinie zwischen der Rechtsfindung selbst und einer ihr vorgelagert agierenden Dogmatik ziehen? Wie läßt sich andererseits noch eine Trennlinie zwischen der juristischen Dogmatik und der juristischen Methodenlehre ziehen, wenn die Verfahrensweise der Dogmatik in einer rational ausgerichteten Argumentationsweise bestehen soll, wie sie auch von der juristischen Methodenlehre reflektiert wird? Muß man nicht vielmehr von einer dogmatischen Methodenlehre im Gegensatz zu anderen Methodenlehren sprechen und die Dogmatik damit nun doch mehr auf der Ebene der Methodenlehre ansiedeln denn auf der Ebene des materiellen Rechts oder der Rechtsanwendung selbst? Diese Skepsis ist nun ebenso berechtigt, wie es andererseits möglich und angebracht erscheint, der Dogmatik eine eigenständige Bedeutung vorzubehalten. Weshalb die Dogmatik mit der Rechtsanwendung noch nicht identisch ist, sondern sie lediglich vorbereitet, ist im vorangegangenen Abschnitt bereits angeklungen. Die Dogmatik wird hier durchweg als eine die Rechtsanwendung lediglich vorbereitende oder unterstützende Instanz begriffen, von der sich der Akt einer Rechtsanwendung im Einzelfall sehr wohl noch unterscheidet. 190 Weder ein Richter, noch ein Rechtsanwalt, aber auch kein Student oder Referendar, würde seine Tätigkeit denn auch ohne Stirnrunzeln als dogmatische qualifiziert sehen. Zwar kommt der (insbe189
Vgl. näher Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 72 f. 190 Selbst bei Bydlinski, vgl. oben 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 2. b).
1. Abschnitt: Die heutige Einschätzung
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sondere richterlichen) Entscheidung von Einzelfällen ihrerseits eine inspirative Bedeutung für die Dogmatik zu. Indem die Dogmatik auf eine konkrete Fallentscheidung zugreift, hebt sie sie aber bereits aus ihrem individuellen lebensweltlichen Zusammenhang heraus in eine Sphäre abstrakter Betrachtung, in der nur noch das Typische oder Vergleichbare an ihr gegenüber ähnlichen Fällen interessiert. 191 Ist eine Abgrenzung von Dogmatik und Rechtsanwendung mithin in einer durchaus prägnanten Weise möglich, so ist das Verhältnis von Dogmatik und Methodenlehre hingegen nur indirekt beleuchtet worden. Die entscheidende Trennlinie gegenüber der Methodenlehre dürfte an der längst nicht banalen Beobachtung verlaufen, daß die Dogmatik heute ihrem Gegenstand nach auf eine Beschäftigung mit Fragen des materiellen Rechts bezogen ist. Im Gegensatz hierzu fragt die traditionelle juristische Methodenlehre - kantisch gesprochen - nach den Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens, in einem weiteren Sinne auch des Anwendens von Rechtssätzen.192 Sie sucht mithin nach Aussagen, die allgemeingültig sind für das Verstehen und Anwenden aller Rechtssätze oder doch jedenfalls all solcher Rechtssätze, die sich ihrer Struktur nach wesentlich ähneln (wie etwa Anspruchsnormen, Hilfsnormen oder Generalklauseln). Materiellrechtlichen Sachfragen wird dabei allenfalls am Rande, und dann auch nur mit dem Zweck nachgegangen, einzelne methodologische Erörterungen plastischer zu gestalten oder zu demonstrieren. Im Unterschied hierzu beschäftigt sich die Dogmatik stets mit einzelnen Sachfragen zum materiellen Recht. Die Dogmatik strebt also bereits nach inhaltlichen Aussagen zum geltenden Recht, sei es, daß sie sich mit konkreten Auslegungsfragen beschäftigt oder mit der prinzipiellen Erörterung des Regelungsgedankens größerer Normkomplexe oder ganzer Rechtsgebiete und deren Zusammenhänge mit anderen Rechtsgebieten. Ein wesentliches Moment des heute allseits betonten Praxisbezuges der Dogmatik dürfte in dieser Ausrichtung auf das materielle Recht liegen. Von hier aus wird auch erst die Frage begreiflich, inwieweit die in der Dogmatik herausgebildeten Auffassungen selbst als ein Aspekt des geltenden Rechts aufgefaßt werden können. 193 Deutlich dünner werden die Trennlinien zwischen der Dogmatik und der juristischen Methodenlehre hingegen, wenn man unter Methode in Anlehnung an die ursprüngliche Wortbedeutung die Einführung in das Recht selbst versteht. 194 Werden 191 So vor allem Larenz, vgl. oben (Fn. 153). Zu diesem Abstraktionsprozeß näher unten 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 2., sowie mit Blick auf das Bereicherungsrecht unten 3. Teil, 3. Abschnitt. 192 Vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 73 ff. 193 Angeklungen ist diese Frage insbesondere bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 229, und Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 36. 194 Menge, Langenscheidts Groß Wörterbuch Griechisch Deutsch, S. 440, nennt als die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Methode (μέθοδος) das „Nachgehen" (von μετά, nach, und οδός, Weg) daneben aber auch Übersetzungen mit „Gang", „Weg etwas zu erreichen", „Art einer Untersuchung" und schließlich auch „kunstgemäßes" oder „geregeltes Verfahren". Ausführlich zu Bedeutung und Verwendung des Begriffs in der abendländischen Philosophie seit Plato vgl. die Beiträge ab Sp. 1304 in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5.
9 2 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Methodenlehre, Recht und Dogmatik hier nicht doch austauschbar? Tatsächlich bleiben die genannten Differenzierungen auch dann noch von Bedeutung. Auch wenn man unter Methode mit guten Gründen die Einführung in das Recht begreifen kann, so ist im Begriff der Methodenlehre selbst die Unterscheidung angelegt, die Lehre (oder Reflexion) dieser Einführung von der Einführung selbst noch wieder zu unterscheiden. 195 Damit unterscheidet sich die Dogmatik in ihrer Zielrichtung aber weiterhin von der juristischen Methodenlehre, auch wenn sie kein isoliertes Eigenleben neben ihr führt, sondern im Gegenteil auf eine Auslegung und Anwendung des Rechts abzielt, die nach den Kunstregeln der juristischen Methodenlehre vorzunehmen ist. Ist es mithin möglich, im heutigen Dogmatik-Verständnis einerseits eine enge Nähe, andererseits aber auch eine scharfe Trennlinie zwischen der Dogmatik und der juristischen Methodenlehre zu ziehen, so fehlt es bislang aber doch an einer eingehenderen Reflexion der Frage, auf welchen Ebenen die Dogmatik im Prozeß der Rechtsfindung wirksam wird. Mit dem Gedanken einer Koexistenz deduktiver und induktiver Methoden der Rechtsfindung wird dieser Prozeß noch auf einem Abstraktionsniveau ins Auge gefaßt, der einen näheren Zugriff auf diese Frage weitgehend verhindern muß. Bevor ihr weiter nachgegangen werden kann, ist es daher zuvor erforderlich, den Prozeß der Rechtsfindung selbst konkreter ins Auge zu fassen, wobei sich die Überlegungen allerdings bewußt auf das Zivilrecht beschränken sollen.
Zweiter Abschnitt
Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht Wenn der Prozeß der Rechtsfindung lediglich begrenzt auf das Zivilrecht betrachtet werden soll, so ist diese Beschränkung nicht selbstverständlich. Angesichts eines Schrifttums zur juristischen Methodenlehre, das weithin den Anspruch erhebt, methodologische Aussagen zum Recht insgesamt zu treffen, bedarf sie daher zunächst einer Begründung (unter I.). Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht soll dann anhand des Anspruchs als dem zentralen Instrument der zivilrechtlichen Fallösung entwickelt werden (II.). Das Hauptaugenmerk wird dabei auf der Auslegung und Anwendung von Rechtssätzen im Rahmen der Anspruchsprüfung liegen (III.), wobei diese Sichtweise abschließend allerdings um den zusätzlichen Gedanken eines Auswählens von Rechtssätzen ergänzt werden soll (IV.). 195 Die Methode als der Weg, der zur Kenntnis des Rechts und dann auch zur Möglichkeit seiner praktischen Anwendung führt, wird als die Ausbildung leitender Gesichtspunkt bei Schapp, Jura 2001, 217 ff., für ein differenziertes Verständnis der juristischen Methodenlehre fruchtbar gemacht, in dem der (unterschiedlich konzipierbare) allgemeine Teil eines Rechtsgebiets die Methode seiner Anwendung weitgehend vorzeichnet. Schapp knüpft hier sowohl an die Überlegungen in seiner „Methodenlehre des Zivilrechts" an wie auch an die Konzeption seines Lehrbuchs „Grundlagen des bürgerlichen Rechts".
2. Abschnitt: Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht
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I. Zur Beschränkung der Betrachtung auf das Zivilrecht Mit der Beschränkung auf das Zivilrecht wird die Grundthese des Werks aufgegriffen, das die vorliegende Untersuchung in ganz wesentlichem Maße inspiriert hat, nämlich die „Methodenlehre des Zivilrechts" von Jan Schapp. Die hier angestellten Überlegungen zur Bedeutung der Dogmatik im Prozeß der zivilrechtlichen Rechtsfindung knüpfen an diese Ausgangsposition an. 1 9 6 Was ist das Motiv dafür, nicht nur zwischen verschiedenen Rechtsgebieten, sondern auch zwischen Methodenlehren für die einzelnen Rechtsgebiete, insbesondere für das Zivilrecht und für das Öffentliche Recht, zu unterscheiden? Zwei Aspekte dürften hier vor allem zu unterscheiden sein. Zunächst läßt sich beobachten, daß jede juristische Methodenlehre, die ohne eine derartige Beschränkung auszukommen versucht, ihren Autor zu Aussagen auf einer Abstraktionsebene zwingt, die dazu führt, daß viele Methodenlehren eher den Charakter einer Methodenlehre der Geisteswissenschaften überhaupt annehmen, als speziell den einer juristischen Methodenlehre. Wenngleich diese Verbindungslinien auch keineswegs in Frage gestellt werden sollen, 197 so hat dies für die juristische Methodenlehre nun aber weithin die Konsequenz, daß sie sich von den Fragestellungen der juristischen Praxis ebenso weit entfernt, wie umgekehrt die durchaus fachspezifische Literatur zur Methodik der Fallbearbeitung von einer Theorie der damit ins Auge gefaßten Ausbildungspraxis. 198 Die Beschränkung auf ein Fachgebiet verfolgt also durchaus den Hintergedanken, diese Kluft zu verkleinern. 199 Noch schwerer wiegen allerdings die sachlichen Argumente für eine Fachbezogenheit der Methodenlehre. Gegenstand des Rechts als einer Sanktionsordnung, so die These Schapps, ist der Streit über Pflichten. Die Rechtsordnung nimmt gewissermaßen den Charakter einer Unrechtsordnung an. 2 0 0 Die Feststellung eines be196
Aufgegriffen wird die These von einer Fachbezogenheit juristischer Methodenlehre in jüngster Zeit etwa von Stein, Die rechtswissenschaftliche Arbeit, S. 45 ff. Auf Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht beschränkt sich seinem Anliegen nach auch Esser, AcP 172 (1972), 97 ff., der in einem kurzen Beitrag bereits 1959 von einer „Methodenlehre des Zivilrechts" spricht, vgl. ders., in: Studium Generale XII (1959), 97. Die Erörterung von Grundproblemen einer Zivilrechtsdogmatik wird bei Ballerstedt thematisiert, in: Festschrift für Flume, Bd. I, S. 257 (258). 197 Insbesondere nicht von Schapp selbst, der in seinen juristischen Veröffentlichungen durchweg diese Perspektive einnimmt. 198 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 1 ff. Andeutungen einer Ausrichtung der methodologischen Überlegungen am jeweiligen Fachgebiet finden sich bereits in früheren Schriften Schapps, insbesondere ders., Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 38 ff. 199 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 3 und 37 ff. Es wäre freilich verkürzt gedacht, in der These von der Fachbezogenheit juristischer Methodenlehre ein weiteres Plädoyer für eine unnötige Spezialisierung zu erkennen. Im Gegenteil liegt dieser Fachbezogenheit eine Besinnung auf die grundlegenden Zusammenhänge des Rechts zugrunde, die nun allerdings jedes Rechtsgebiet in durchaus unterschiedlicher Weise ausgestaltet. 200 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 28 f., 21 f.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
stimmten Maßes an Unrecht in der Entscheidung des Rechtsstreits setzt damit aber notwendig ein zuvor festgesetztes Maß an Recht voraus, mittels dessen erst bestimmt werden kann, in welchem Umfang der Verletzte Wiederherstellung verlangen kann. Diese notwendige Folge von Recht, Unrecht durch Verletzung des Rechts und Wiederherstellung des Rechts durch Aufhebung des Unrechts findet sich auf einen kürzesten Nenner bei Hegel zum Ausdruck gebracht, wenn er sinngemäß vom Recht als der „Negation der Negation des Rechts" spricht. 201 Instrumenteil umsetzen läßt sich dieser Zusammenhang in eine Unterscheidung von Primärpflichten und Sekundärpflichten. Unter Primärpflichten lassen sich alle rechtlich bedeutsamen Pflichten einer Person zu einem bestimmten Verhalten mit Ausnahme der Sekundärpflichten begreifen, unter Sekundärpflichten hingegen Pflichten, die aufgrund einer Verletzung von Primärpflichten entstehen.202 Die These Schapps geht nun dahin, daß dieser Unterscheidung zwar in allen drei Rechtsgebieten ein beträchlichter Orientierungswert zukommt, daß sich hier aber auch jeweils sehr unterschiedliche Typen von Primärpflichten (und entsprechend Sekundärpflichten) herausarbeiten lassen. Die zentralen Primärpflichten im Zivilrecht liegen in der Pflicht zur Vertragserfüllung und in der Verkehrspflicht zur Achtung der Rechtsgüter des anderen. Sie werden inhaltlich durch die Vertragsschließenden selbst, durch Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte oder durch den Verkehr festgelegt. Bei der Verhängung von Sanktionen für die Verletzung dieser Pflichten kann das Zivilrecht an die so getroffenen Festlegungen nur anknüpfen. 203 Das Strafrecht setzt Primärpflichten des Inhalts, strafbare Handlungen zu unterlassen, zumindest voraus, und 201
Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 22. Ausgehend von der Überlegung, daß „die Erscheinung des gesetzten Rechts im Unrecht zum Schein fortgeht", spricht Hegel davon, daß sich „das Recht durch das Negieren dieser seiner Negation [ . . . ] wiederherstellt, durch welchen Prozeß seiner Vermittelung, aus seiner Negation zu sich zurückzukehren, es sich als Wirkliches und Geltendes bestimmt, da es zuerst nur an sich und etwas Unmittelbares war." Die geschehene „Verletzung des Rechts als Rechts" ist für Hegel mithin „zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist. Die Manifestation dieser ihrer Nichtigkeit ist die ebenso in die Existenz tretende Vernichtung jener Verletzung, - die Wirklichkeit des Rechts, als seine sich mit sich durch Aufhebung seiner Verletzung vermittelnde Notwendigkeit." Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 82 und 97 nebst Zusatz (Kursivdruck im Original). 202
Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 23. 03 Wo dies durch weit gefaßte Generalklauseln geschieht, obliegt es dem Richter, in eigenverantwortlicher Bewertung der Lebensverhältnisse über das Bestehen von entsprechenden Primärpflichten zu entscheiden, vgl. ders., Methodenlehre des Zivilrechts, S. 24 f. Zur Fundierung des Gedankens der Pflicht in einem der abendländischen Philosophie entspringenden ethischen Gebot der Achtung des anderen in seinen Lebensgütern vgl. Schapp, Freiheit, Moral und Recht, S. 187 ff., sowie zuvor ders., Ethische Pflichten und Rechtspflichten. Auf der Grundlage dieser Überlegungen geht Huda der Frage nach, wie sich die Freiheit des rechtsgeschäftlich Handelnden im Rechtsgeschäft verwirklicht, vgl. Huda, Freiheit und Rechtsgeschäft. Auch Schur versteht an die Überlegungen Schapps anknüpfend seine Abhandlung über Leistung und Sorgfalt als einen Beitrag zur Lehre von der Pflicht im Bürgerlichen Recht (vgl. insoweit etwa § 4 II). 2
2. Abschnitt: Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht
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stellt dann eine Ordnung von Sekundärpflichten auf, die angeordnete Strafe zu dulden. 204 Auch im Öffentlichen Recht lassen sich entsprechende Pflichten verorten, etwa in der Eingriffsverwaltung die Pflicht des Bürgers zur Duldung rechtmäßiger Eingriffe oder in der Leistungsverwaltung die Pflicht des Staates zur Leistung. Die vielfältige Statuierung von Primärpflichten durch öffentlichrechtliche Gesetze dient dem Staat zur Regulierung gesamtgesellschaftlicher Interessen. Soweit es im Öffentlichen Recht freilich wenig üblich ist, das Verhältnis von Staat und Bürger unter dem Aspekt der Rechte und Pflichten zu bestimmen, kann dies nur mit den entsprechenden Vorbehalten gelten. Das gilt insbesondere für die weitere Frage einer Bestimmung von Sekundärpflichten im Öffentlichen Recht, für die sich dann aber immerhin eine an die Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten anknüpfende Sanktionsordnung heranziehen läßt. 205 Wie unterschiedlich jedes Rechtsgebiet eine Sanktionsordnung oder eine Unrechtsordnung aufstellt, wird dann auch deutlich, wenn man sich einmal die jeweilige Ordnung des Prozesses in der Zivilprozeßordnung, der Verwaltungsgerichtsordnung und der Strafprozeßordnung ansieht. Das Prozeßrecht muß notwendig die Techniken aufgreifen, mittels derer sich die Verletzung des Rechts nach materiellem Recht bestimmt. Für das Zivilrecht sei hier der Anspruch genannt, dessen Nähe zum Prozeß mit seiner historischen Begründung in der actio auch am deutlichsten auf der Hand liegen dürfte. Mit Techniken sind hier also durchaus noch nicht die methodologischen Techniken der Auslegung und Anwendung des Gesetzes gemeint. Vielmehr unterscheidet sich in den einzelnen Rechtsgebieten vorweg bereits das Instrumentarium an Techniken, das zur Wiederherstellung des Rechts zur Verfügung steht. Damit folgt die Auslegung und Anwendung von Rechtssätzen, mittels derer sich zivilrechtliche Leistungsklagen begründen lassen (Anspruchsnormen), aber notwendig anderen Richtlinien als die Auslegung und Anwendung von Rechtssätzen, mittels derer sich etwa eine Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt begründen läßt oder aber eine Anklage gegen den Beschuldigten im Strafprozeß (wie insbesondere am Analogieverbot des Art. 103 II GG deutlich wird), wenn hier andererseits auch Parallelen auftreten. 206 Als eigentliche Substanz der methodologischen Frage nach der gerechten Anwendung des Gesetzes schält sich damit aber im Grunde die Frage nach der Gerechtigkeit des Gesetzes selbst heraus, die sich in den einzelnen Rechtsgebieten unterschiedlich in den Blick nehmen läßt. 207 Im modernen Gesetzesverständnis 204 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 25. 205 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 25. 206 Zu den materiellen Grundlagen derartiger Parallelen vgl. Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im öffentlichen Recht entwickelt aus dem Zivilrecht, sowie hieran anknüpfend de Wall, Die Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht dargestellt anhand der privatrechtlichen Regeln über Rechtsgeschäfte und anhand des Allgemeinen Schuldrechts. 207 Ausführlich Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 8 ff, sowie, mit Blick auf das Verhältnis von Moral und Recht in der Moderne, ders., Freiheit, Moral und Recht, S. 225 ff.
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Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
treten insoweit zwei Denkweisen zur Gerechtigkeit in ein Spannungsverhältnis, auf der einen Seite das aristotelische System verteilender und ausgleichender Gerechtigkeit, das an die Verletzung eines objektiv bestimmbaren Maßes an Gleichheit anknüpft, und das aufklärerisch-moderne System, das an die Stelle eines objektiven Maßes an Gleichheit die Frage nach dem gerechten Verfahren stellt (,quis iudicabit?'). 20* Das Gesetz, und, wie man ergänzen kann, das diesem entsprechende Verhalten des Bürgers und des Staates, ist jetzt also vor allem gerecht, wenn und weil es als auf dem Willen des Bürgers beruhend gedacht werden kann, also auf seiner Autonomie (Selbstgesetzgebung), wie sie in der berühmten Wendung Kants, „volenti non fit iniuria", 209 zum Ausdruck kommt und sich dann vor allem auch bei Rousseau findet. 210 Damit steht aber der Gedanke, das Gesetz trotz aller soziologischen und systemtheoretischen Vorbehalte nach wie vor als das Hauptinstrument gesamtgesellschaftlicher Steuerung zu begreifen, in der geistigen Tradition erst des modernen Verfassungsstaats seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Für das Zivilrecht hat das zur Konsequenz, daß sich in einer jüngeren Schicht Gesetze in das Zivilrecht einbetten, die ihrem Kern nach auf den Gedanken einer öffentlichrechtlichen Kompensation zurückzuführen sind, wie vor allem an der Verbraucherschutzgesetzgebung deutlich wird. In seiner klassischen Schicht, in der das Bürgerliche Gesetzbuch als reife Frucht der Pandektenwissenschaft erscheint und damit auf eine sich über gut zwei Jahrtausende entwickelnde Rechtsgelehrtheit zurückblickt, 211 enthebt es sich hingegen der Frage einer Steuerung oder Kompensation. In dieser Schicht ist es nach wie auf die Gerechtigkeit von Zwei-Personen-Verhältnissen ausgerichtet und damit (aristotelisch gedacht) an einem Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit, bei dem nun allerdings (aufklärerisch gedacht) die Parteien autonom das Gleichmaß ihres Verhältnisses bestimmen.212
208 Vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 8 f., 16 ff. Zur traditionellen Bezugnahme der aristotelischen Gliederung des Begriffs der Gerechtigkeit auf das Gesetz vgl. ausführlicher auch Dreier, JuS 1996, 580 ff. 209 Kant, Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 46. 210
Rousseau, Du contrat social, 4. Buch, 2. Kapitel (S. 149): „Le citoyen consent à toutes les lois, même à celles qu'on passe malgré lui, et même à celles qui punissent quand il ose en violer quelqu'une. La volonté constante de tous les membres de l'Etat est la volonté générale" (Der Bürger stimmt allen Gesetzen zu, selbst jenen, die man gegen seinen Willen verabschiedet, und selbst jenen, die strafen, wenn er wagt, eines von ihnen zu verletzen). Zur Deutung der Denker der Aufklärung als Verfahrenstheoretiker durch moderne Theoretiker des Gesetzesbegriffs vgl. Schapp, in: Festschrift für Pawlowski, S. 159 ff. 211 Dieser Blick auf die Pandektenwissenschaft findet sich bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, insbesondere §§23 und 25. 212 Hierzu Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 18 f. Den Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit bei Aristoteles greift in jüngerer Zeit insbesondere Wendehorst, Anspruch und Ausgleich, auf, um ausgehend von der Beobachtung eines häufig nicht weiter reflektierten Rechtsinstituts der Vorteilsausgleichung ein „Allokatorisches Modell" schuldrechtlicher Ausgleichsmechanismen zu entwickeln. Schuldrechtlich relevante Sachverhalte werden von ihr
2. Abschnitt: Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht
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Das bedeutet freilich nicht, daß das Zivilrecht heute noch unabhängig vom Öffentlichen Recht und insbesondere dem Verfassungsrecht gar vorgelagert wäre. 213 Es soll lediglich zum Ausdruck gebracht sein, daß sich die Frage nach dem Verhältnis von Öffentlichem Recht und Zivilrecht weder allein aus der jeweiligen geistigen Tradition heraus beantworten läßt, wie sich dieses Verhältnis umgekehrt nicht voll erschließen kann, wenn man diese Perspektive weitgehend ausblendet. Insofern das Zivilrecht selbst keine Stellung nimmt zu Fragen der Eigentumsverteilung und der Wirtschaftsordnung, setzt es die hier vom (Verfassungs-) Gesetzgeber getroffenen Festlegungen mithin ebenso voraus, wie die Rechtsinstitute des Privateigentums und des Vertrags ihrerseits nicht erst durch das Öffentliche Recht entdeckt worden, sondern ihm auch schon als alte Grundphänomene menschlichen Zusammenlebens vorgegeben sind. Das SpannungsVerhältnis, innerhalb dessen der Gesetzgeber diese Eigenständigkeit des Zivilrechts einerseits aufgreift, andererseits Einbruchsteilen zuläßt, schlägt sich begrifflich im modernen Terminus der Privatautonomie nieder. 214
II. Der Anspruch als Instrument der Fallösung im Zivilrecht Betrachten wir im folgenden nun das Instrumentarium an Techniken, das im Zivilrecht zur Wiederherstellung des Rechts zur Verfügung steht, also in erster Linie den Anspruch als Instrument der Fallösung. Sinnvoll eingesetzt werden kann er nur, wenn der Rechtsanwender die vom Gesetz weitgehend vorausgesetzte Lehre vom Anspruchsaufbau kennt (1.) sowie die Unterscheidung von Anspruchsnormen und Hilfsnormen (2.) und ihr Ineinandergreifen im Rahmen des Anspruchsaufbaus, das sich modellhaft als horizontaler und vertikaler Verbund von Hilfsnormen veranschaulichen läßt (3.).
als „Verteilungen und Verteilungsstörungen" und schuldrechtliche Ansprüche als „Mechanismen" begriffen, „eingetretene Verteilungsstörungen [zu] regulieren" (S. 6). 213 Zum Wandel des Vertragsrechts unter dem Einfluß des Grundgesetzes vgl. insbesondere die gleichermaßen differenzierte wie umfassende Analyse der Rechtsprechung bei Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, Zweites Kapitel, I. (S. 123 ff.). 214 Zum System des Zivilrechts als einer Institution, die den Grundrechten als Rechtssätzen und damit auch dem Grundrecht der Privatautonomie vorgegeben ist vgl. Schapp, JZ 1998, 913 ff. Aus öffentlich-rechtlicher Sicht ist die heute (insbesondere angesichts der Entscheidung BVerfGE 89, 214) überaus lebhaft diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Grundgesetz und Zivilrecht in jüngerer Zeit vor allem von Bäuerle aufgearbeitet worden, der die These vertritt, daß sich die zivilrechtliche Vertragsfreiheit nicht einheitlich in die Grundrechtsdogmatik einordnen, sondern sich nur in einzelnen Elementen den verschiedenen Dimensionen der Grundrechte zuordnen lasse. Vgl. hierzu im einzelnen Bäuerle, Drittes Kapitel, III. (S. 321 ff.). 7 Gödicke
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Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
1. Die Lehre vom Anspruchsaufbau Mit dem Anspruch ist die Perspektive des Richters auf den ganz überwiegenden Teil der von ihm geforderten zivilrechtlichen Fallösungen gewählt. 215 Zur Handhabung dieses Instruments wird auch heute noch auf das bereits dem gemeinrechtlichen Juristen vertraute Schema actio - an sit fundata, an sit negata, an sit exceptione elisa zurückgegriffen, wenn die Lehre vom Anspruchsaufbau zwischen anspruchsbegründenden Voraussetzungen, anspruchshindernden Einwendungen, anspruchsvernichtenden Einwendungen und anspruchshemmenden Einreden unterscheidet.216 Der Anspruch wird hier als Gebilde begriffen, das in der Zeit entsteht, dauert und untergeht, und an dessen Entwicklungsphasen sich der Richter in seinen einzelnen gedanklichen Schritten orientieren kann. 217 Die von den Parteien vorgetragenen Tatsachen erfahren auf diese Weise ihre erste Ordnung in positive (anspruchsbegründende) Voraussetzungen des Klägers und negative Voraussetzungen des Beklagten. Die Gegenseite kann nun Tatsachen selbst bestreiten oder lediglich ihre Bewertung als tatbestandausfüllend angreifen, der Kläger eine Replik gegen vom Beklagten vorgebrachte Einwendungen oder Einreden erheben, sich also auf eine Norm berufen, die die Wirkung der vom Beklagten in Anspruch genommenen Norm außer Kraft setzt, der Beklagte seinerseits kann dieser Replik eine Duplik entgegensetzen, der Kläger dieser Duplik wiederum eine Triplik u.s.w. In diesem dialektischen Außerkraftsetzen und Wiederinkraftsetzen der Normen kommt dem Richter die Aufgabe zu, über den Stellenwert der jeweils vorgetragenen Tatsachen zu entscheiden, um auf diese Weise das von den Parteien geführte Streitgespräch gleichsam zu moderieren. 218 Unter diesem Gesichtspunkt einer Ordnung der Anspruchsprüfung wird die Lehre vom Anspruchsaufbau denn auch als „inneres System des Anspruchs" bezeichnet und auf diese Weise einem „äußeren System der
21 5 Eine Ergänzung des Ansatzes über die Leistungsklage hinaus auch auf die Gebiete der Feststellungsklage und der Gestaltungsklage hält Schapp zwar für möglich, mißt ihr aber angesichts des Stellenwertes der Leistungsklage in der Praxis nur marginale Bedeutung bei, vgl. ders., Methodenlehre des Zivilrechts, S. 38 f. Der Anspruch erscheint daher als das entscheidende Instrument zur Anwendung des Zivilrechts als Sanktionsordnung, das auch aus historischer Perspektive als Antwort auf die Probleme des Prozesses erscheint. Vgl. insoweit zur maßgeblich von Windscheid beeinflußten Entwicklung des heutigen Anspruchsbegriffs aus der actio (Klagehandlung) des römischen Rechts auch Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 54, m. w. N. 216
Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 47; ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 65 ff. 2,7 Zum Verhältnis eines Anspruchsdenkens zu einem Rechtswirkungsdenken in den Kategorien von Entstehung, Fortbestand und Untergang von Rechtsgebilden vgl. unter Bezug auf Gmür, Rechtswirkungsdenken in der Privatrechtsgeschichte, Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 100 ff. 218 In dieser Perspektive sieht Schapp am ehesten Anknüpfungspunkte für Ansätze, die einer Methodenlehre des Zivilrechts Anschluß an Theorien der Argumentation oder Kommunikation geben möchten, vgl .ders., Methodenlehre des Zivilrechts, S. 40, 50 ff.
2. Abschnitt: Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht
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Ansprüche" gegenüberstellt, das in übergeordneter Perspektive das Verhältnis der Ansprüche zueinander zum Gegenstand hat. 2 1 9
2. Anspruchsnormen und Hilfsnormen Ist somit die Anspruchsnorm der Ausgangspunkt der richterlichen Fallösung im Zivilrecht, so sind von diesem Rechtssatz die Hilfsnormen zu unterscheiden, die einzelne Tatbestandsvoraussetzungen der Anspruchsnorm spezifizieren. Ebenso wie die Anspruchsnorm gliedern auch sie sich, zum weitaus größten Teil, in Tatbestand und Rechtsfolge. Während die Rechtsfolge der Anspruchsnorm jedoch darin liegt, daß der erhobene Anspruch rechtlich anerkannt wird, besteht die Rechtsfolge der Hilfsnorm vorgelagert nur darin, daß das Vorliegen des gerade geprüften Tatbestandsmerkmals einer Anspruchsnorm rechtlich anerkannt wird. 2 2 0 Das Tatbestandsmerkmal der Anspruchsnorm wird hier also zur Rechtsfolge der Hilfsnorm. Vielfach wird es freilich nicht ausreichen, allein anhand einer Hilfsnorm zu beurteilen, ob ein Tatbestandsmerkmal der Anspruchsnorm vorliegt oder nicht. Dann bedarf es weiterer (Unter-) Hilfsnormen, um das Vorliegen der übergeordneten Hilfsnorm selbst beurteilen zu können. Ist beispielsweise bei der Anspruchsnorm des § 823 I BGB zu prüfen, ob der Anspruchssteller Eigentümer ist, so ist möglicherweise nach § 929 S. 1 BGB zu beurteilen, ob dem Anspruchssteiler die Sache wirksam übereignet wurde. Das Eigentum des Anspruchsstellers ist hier also Tatbestandsvoraussetzung im Rahmen des § 823 I BGB, hingegen Rechtsfolge im Rahmen des § 929 S. 1 BGB. Im Rahmen des § 929 S. 1 BGB ist dann wiederum zu untersuchen, ob eine entsprechende Einigung zwischen Veräußerer und Anspruchssteiler zustande gekommen ist und ob die Sache dem Erwerber übergeben wurde. Hier kann je nach Fallgestaltung, etwa bei der Einschaltung von Mittelspersonen, wieder eine ganze Vielzahl an Hilfsnormen in Betracht kommen. Übergabe und Einigung wären jeweils die Rechtsfolgen dieser weiteren Hilfsnormen, blieben hingegen Tatbestandsvoraussetzungen im Rahmen des § 929 S. 1 BGB. Man braucht das Beispiel nicht weiter fortzuführen, um deutlich zu machen, wie außerordentlich umfangreich das in Betracht zu ziehende Geflecht an Hilfsnormen bereits für eine einzelne Anspruchsprüfung rasch werden kann. Es liegt auf der Hand, daß jeder Rechtsanwender ohne ordnende Gesichtspunkte in diesem Meer der Hilfsnormen verloren wäre. Das in der Lehre vom Anspruchsaufbau zum Ausdruck kommende innere System des Anspruchs ermöglicht insoweit eine erste bedeutsame Ordnung der einschlägigen Hilfsnormen je nach ihrer Eigenschaft als anspruchsbegründende, anspruchshindernde, anspruchsvernichtende oder rechtshemmende Hilfsnormen. 221 219 Vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 46 f. 220 Vgl. hierzu und insgesamt zum folgenden Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 41 ff. 221 Auf dieses Ordnungsschema wird unten ausführlicher zurückzukommen sein, 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 3. a). 7*
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
3. Horizontaler und vertikaler Verbund von Hilfsnormen Die beiden leitenden Gedanken einer inneren Ordnung des Anspruchsaufbaus und einer Spezifikation von Tatbestandsmerkmalen durch Hilfsnormen werden von Schapp durch die Unterscheidung eines „horizontalen" von einem „vertikalen Verbund von Hilfsnormen" in ein Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung gesetzt. 222 Mit dem Begriff der Horizontalen wird dabei die Zeitachse aufgegriffen, die gemäß der Lehre vom Anspruchsaufbau dem dialektischen Inkraftsetzen, Außerkraftsetzen und Wiederinkraftsetzen der Anspruchsbegründung zugrunde liegt. 223 Als vertikal ausgerichtet läßt sich hingegen der Blick auffassen, mit dem der Rechtsanwender bei der Spezifikation von Tatbestandsmerkmalen in die immer tiefer liegenden Ebenen der einzelnen (Unter-) Hilfsnormen sieht. Mit dieser Unterscheidung soll also keineswegs ein Gegensatz zwischen horizontalem und vertikalem Verbund von Hilfsnormen aufgestellt sein. Vielmehr ist auf jeder Stufe der Spezifikation der horizontale Verbund von Hilfsnormen möglich. Die Vielzahl der je nach Tatsachenlage möglichen Kombinationen horizontal und vertikal verknüpfter Hilfsnormen macht damit im Gegenteil erst das große Entscheidungspotential aus, auf das der Richter zurückgreifen kann. 224 Wirft man einen Blick in das Gesetz, so ist denn auch die Anzahl der Hilfsnormen im BGB gegenüber jener der Anspruchsnormen im BGB sehr viel größer. 225 Allerdings ist damit längst noch nicht das gesamte Spektrum an Hilfsnormen abgeschritten. Das liegt zunächst auf der Hand für die kaum übersehbare Masse von Hilfsnormen, die aus einer weiteren Spezifikation von Hilfsnorm-Tatbestandsmerkmalen durch Rechtswissenschaft und Rechtsprechung entwickelt wurden, und die dem Rechtsanwender etwa in Kommentaren und Lehrbüchern entgegentreten. Der Versuch einer Normierung solcher Hilfsnormen wäre derart überfordert, daß daran gar nicht erst ernsthaft gedacht werden kann. Ein historisches Beispiel unübersichtlicher Übernormierung bildet, wenn auch unter den gänzlich anderen Vorzeichen einer Naturrechtskodifikation, das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 mit seinen über 19.000 Paragraphen. Aber auch heute leidet manche gesetzliche Regelung darunter, daß ein geeigneter mittlerer Abstraktionsgrad von Hilfsnormen unterschritten wird.
222 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 44 ff. 223 Vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 44. 224 Vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 42 ff., 84. Noch plastischer zieht Schapp, Jura 2001, 217 (221), eine Parallele zum Alphabet, das, aus wenigen Buchstaben bestehend, eine Vielzahl von Worten und das Erzählen mannigfaltiger Geschichten ermöglicht. 225 Fast alle gesetzlichen Normen, die nicht Anspruchsnormen sind, sind Hilfsnormen zu Anspruchsnormen, vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 42 f.; ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 60.
2. Abschnitt: Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht
101
III. Verstehen und Anwenden des Rechtssatzes Mit der Unterscheidung von Tatsachen und Rechtssätzen und der weiteren Aufgliederung der Rechtssätze in Anspruchsnormen und Hilfsnormen ist nun zwar bereits feiner das Instrumentarium betrachtet, auf das der Rechtsanwender im Rahmen der Anspruchsprüfung zurückgreift. Unter welchen Bedingungen und auf welche Weise läßt sich dieses Instrumentarium im Rahmen der Fallentscheidung nun aber tatsächlich einsetzen? In der klassischen Methodenlehre wird insoweit die Auslegung des Gesetzes von seiner Anwendung unterschieden. Diese Unterscheidung wird heute dann aber verbreitet im Sinne vermittelter Lösungen deutlich relativiert, für die Stichworte wie Konkretisierung, Gleichsetzung und Zuordnung vorerst genügen sollen. Den nachfolgenden Überlegungen liegt stattdessen die Überzeugung zugrunde, daß trotz aller berechtigten erkenntnistheoretischen Vorbehalte eine scharfe Unterscheidung zwischen Auslegung und Anwendung möglich und auch erforderlich ist. Jeder Rechtssatz muß vom Rechtsanwender zunächst einmal verstanden werden (1.), bevor er in einem zweiten Schritt auf den konkreten Sachverhalt angewendet werden kann (2.). Mit dieser zweigeteilten Sicht auf den Prozeß der Rechtsfindung wird ein weiterer zentraler Gedanke der Methodenlehre des Zivilrechts aufgegriffen. Indem Schapp hier jeden Bereich aus seiner notwendigen Beziehung auf den anderen heraus untersucht, bleiben Verstehen und Anwenden allerdings nicht unverbunden nebeneinander stehen. Eine solch isolierte Betrachtung sähe sich nicht weniger Defiziten ausgesetzt wie umgekehrt Abhandlungen, die bereits beim Versuch einer Unterscheidung in einem Graubereich verharren. 226 Die Unterscheidung von Verstehen und Anwenden möchte also durchaus nicht den Blick darauf verstellen, daß sich der Zweck des Verstehens in einem weiteren Sinne erst in der Anwendung des Rechtssatzes erfüllt, wie sie hierdurch aber auch nicht in Frage gestellt werden kann. 227
1. Das Verstehen des Rechtssatzes Das Verstehen des Rechtssatzes wird in der methodologischen Literatur üblicherweise unter dem Begriff der Auslegung des Gesetzes abgehandelt. Wenn im folgenden stattdessen vom Verstehen des Rechtssatzes gesprochen wird, so gehen dem zwei Überlegungen voraus. Zum einen knüpft der Begriff der Auslegung nur mittelbar an den eigentlichen Gegenstand der Auslegung an, also den Sinn des Ge226
Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 64 f., mit kritischem Blick auf das „Hinund Herwandern des Blicks" zwischen Norm und Fall im Sinne von Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 15, auf die Zubereitung der Rohnorm zur subsumtionsfähigen Norm und des Rohsachverhaltes zum subsumtionsfähigen Sachverhalt bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 278 ff., und schließlich auf Fikentschers Bildung der Fallnorm, vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, Kap. 31 VII 6. 227 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 66.
1 0 2 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
setzes, auf den sich der Begriff des Verstehens sehr viel unmittelbarer bezieht. Mit dem Begriff des Rechtssatzes soll stärker ins Bewußtsein gerückt werden, daß Gegenstand des Verstehens ein Satz ist, also ein Text, bei dem es sowohl um das Verstehen des Satzes im Ganzen wie auch um das Verstehen seiner einzelnen Bestandteile geht, also der Tatbestandsmerkmale. Der Begriff des Gesetzes bezeichnet dann aber auch zu eng den Gegenstandsbereich juristischer Auslegung. Zwar sind es ohne Zweifel in erster Linie die Rechtssätze des Gesetzes, die es zu verstehen gilt. Mit den vielen Rechtssätzen (Hilfsnormen und Präjudizien), die Rechtswissenschaft und Rechtsprechung zur Spezifikation gesetzlicher Rechtssätze entwikkelt haben, ist dann aber ein großer Bereich weiterer Texte angeschnitten, der dem Gesetz in der Hierarchie zwar nachsteht, von einem methodologischen Standpunkt aus aber in gleicher Weise Gegenstand eines Verstehens sein muß. 228 Wie läßt sich ein Rechtssatz nun aber verstehen? Aufschlußreich muß hier zunächst die Beantwortung der Vorfrage sein, wer überhaupt einen Rechtssatz verstehen will. Dem liegt ein Gedanke der allgemeinen Hermeneutik zugrunde, daß jeder Interpret eines Satzes diesen Satz nur aus seiner Situation heraus versteht. 229 Im folgenden soll daher zunächst in Kürze die Situation des Interpreten juristischer Sätze beleuchtet werden (a). Das zentrale Augenmerk beim Verstehen des Rechtssatzes muß dann darauf liegen, den Tatbestand als eine kurzgefaßte Begründung zu verstehen, die der Gesetzgeber der von ihm angeordneten Rechtsfolge voranstellt (b).
a) Die Situation des Interpreten als Voraussetzung des Verstehens Wer hat Bedarf daran, Rechtssätze zu verstehen? Wer ist, anders gewendet, Adressat von Rechtssätzen? Im Zivilrecht sind dies vor allem der Richter, der angehende Jurist und der Bürger. 230 Dem Bürger bleibt allerdings bei allen Bemühungen um eine verständliche und klare Abfassung der Gesetze ihr präziser Sinn ohne Heranziehung eines Juristen meist verschlossen. Das läßt sich damit erklären, daß gerade im Zivilrecht das hohe Maß an Differenziertheit einerseits und an Abstraktion andererseits zwangsläufig nur mit dem Charakter eines Gelehrtenrechts erkauft werden konnte. 231 Das bedeutet nicht, daß die Auslegungsbedürftigkeit der zivilrechtlichen Rechtssätze allein schon aus einer juristischen Kunstsprache resul228 Vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 65 f. 229 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 68 f. 230 im Sinne einer Methodenlehre des Öffentlichen Rechts dürfte an dieser Stelle die Verwaltung, aber auch der Gesetzgeber selbst heranzuziehen sein, im Strafrecht neben dem Richter und dem Bürger vor allem auch der Staatsanwalt. 231 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 69 f., der dies (S. 74 f.) am Recht der Grundschuld verdeutlicht, das sich im wesentlichen aus der systematischen Stellung des § 1191 I BGB ergibt, der gegenüber die übrigen Vorschriften der §§ 1192 bis 1198 BGB nur marginale Bedeutung gewinnen.
2. Abschnitt: Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht
103
tiert. 232 Der Begriff des Gelehrtenrechts soll vielmehr zum Ausdruck bringen, daß eigentlicher Adressat des Gesetzes weniger der Bürger selbst ist, als derjenige, der sich diese Rechtsklugheit in Form von Gesetzen aneignen möchte. 233 Bedarf an der Auslegung hat im Zivilrecht folglich in erster Linie der angehende Jurist. Statt allgemein zu fragen, wie juristische Texte - offenbar von jedermann - zu verstehen sind, läßt sich sinnvoller und präziser also fragen, wie der angehende Jurist einen Rechtssatz zu verstehen lernt. Das eigentliche Rätsel besteht hier, worauf vor allem Schapp aufmerksam macht, in der Frage, wie der Auslegende Zugang zu einer Art des Denkens findet, wie es in der Jurisprudenz geübt wird. 2 3 4 Daß sich dieses Denken dann zwangsläufig auch in einer fachspezifischen Sprache niederschlägt, ist aus seiner Sicht selbstverständlich. Die Akzentsetzung auf das Verstehen einer Kunstsprache des Gesetzgebers verdecke nur die große hermeneutische Perspektive, in der dieser Verstehensprozeß eingebettet ist. Im Hintergrund des Verstehens von Rechtssätzen stehe, nicht anders als beim Verstehen anderer Sätze, die Frage, wie Sprache verstanden wird und damit schließlich - als weitester Horizont - die Frage nach einem Verstehen von Welt. 235 Die Gegenüberstellung einer Kunstsprache und einer Alltagssprache kann man dann aber auch als ontologische Aussage für zweifelhaft halten. Schließlich ist die Alltagssprache ebenso Grundlage für ein Eindringen in die juristische Welt wie sie umgekehrt auch die Voraussetzung dafür ist, eine Anschauung der Lebensverhältnisse zu gewinnen, ohne die eine Rechtsanwendung im Einzelfall gar nicht möglich ist. 2 3 6 Gegen eine Antinomie von Kunst- und Alltagssprache hält Schapp daher mit Wittgenstein 237 dafür, daß jeder, der das Gesetz verstehen will, das besondere Sprachspiel lernen muß, das die Juristen spielen. 238 Dazu gehört auch, daß sich der junge Jurist im Laufe der Zeit ein Vorverständnis von den Zusammenhängen bildet, in denen der Rechtssatz steht. Hierzu zählt im Zivilrecht insbesondere die Kenntnis der Lehre vom Anspruch, ein Überblick über das Sy232 In diese Richtung tendiert allerdings Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 320 ff. 233 Vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 84 ff., mit deutlicher Spitze gegen die Entgegensetzung von Kunstsprache und Alltagssprache bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 312 ff. 234 Vgl. aber auch etwa den suggestiven Titel, den Engisch seiner Schrift »Einführung in das juristische Denken' gegeben hat. 235 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 88. Zum Verhältnis von Geschichten und Erkenntnis W. Schapp, Philosophie der Geschichten, S. 15 ff., und näher S. 176 ff. 236 Im Sinne der modernen Geschichtenphilosophie wird die Frage nach unterschiedlichen Sprachen, oder nach einem Gegensatz von Kunst und Alltag, im Ichverstricktsein des Einzelnen aufgehoben und erscheint damit selbst nur noch als Aspekt von Geschichten. Zu dem hiermit angesprochenen Gedankenkreis und zu den unterschiedlichen Ebenen eines Ich-, Mitund Wirverstricktseins vgl. W. Schapp, Philosophie der Geschichten, S. 5 f., 15 ff., und grundlegend ders., In Geschichten verstrickt, S. 1 ff., 85 ff. 237 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. 238 Vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 85 f.
1 0 4 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
stem des Rechts sowie die Beherrschung rechtstechnischer Grundbegriffe. 239 Überspitzt formuliert, läßt sich auf diese Weise schließlich fragen, ob der eigentliche Gesetzgeber des Zivilrechts nicht die Jurisprudenz selbst ist, die zu verstehen dann das Ziel jeder Auslegung sein müßte. 240
b) Die Begründung der Rechtsfolge durch den Tatbestand als Gegenstand des Verstehens Was gegenüber einem Verstehen der Jurisprudenz als Ganzes nun das Verstehen des einzelnen Rechtssatzes betrifft, so werden dem Juristen bekanntlich vor allem vier Auslegungskriterien zur Verfügung gestellt: die Auslegung nach dem Wortsinn, die Auslegung nach dem Bedeutungszusammenhang des Gesetzes unter Einbeziehung der Systematik des Rechts, die Auslegung nach dem historischen Willen des Gesetzgebers und die Auslegung nach objektiv-teleologischen Kriterien, also nach dem vernünftigen Sinn und Zweck des Gesetzes. Als problematisch haben sich dabei in der methodologischen Diskussion weniger die Kriterien des Wortsinns und des Bedeutungszusammenhangs erwiesen, als jene einer Ermittlung des einerseits historischen (subjektiven), andererseits vernünftigen (objektiven) Willens des Gesetzgebers. Hat der Rechtsanwender etwa zu historischen Zeiten allein den Willen des Gesetzgebers zu befolgen, und kann der historische Wille einer objektiven Interpretation in der Gegenwart ernsthaft entgegenstehen? Oder hat nicht bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes der Rechtsanwender auch den objektiv vernünftigen Willen des Gesetzgebers zu ermitteln, und wie verhält sich dieser zu einem erkennbaren gegenläufigen Willen des Gesetzgebers? Aus der Sicht Schapps lädt sich die Auslegungslehre mit der Unterscheidung zwischen dem historischen Willen des Gesetzgebers und der Vernunft des Gesetzes ein altes philosophisches Problem auf, nämlich das des Verhältnisses von Wille und Vernunft. Die Lösung des Problems durch eine gemischte Theorie, wie sie verbreitet geübt wird, entspricht aus seiner Sicht aber nicht dem seit der Aufklärung von der Philosophie erreichten Lösungsstandard. Hier ist es schon der Begriff der Autonomie selbst, der Wille und Vernunft miteinander vereint und damit bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes eine Konfrontation von subjektiver und objektiver Auslegung auflöst. 241 Das eigentliche Problem liege denn auch weniger in dieser Konfrontation, als vielmehr in der Frage, wie der Gesetzgeber überhaupt die spätere (vernünftige) Entscheidung von Fällen durch das Gesetz gewährleisten kann. Wie kann der Gesetzgeber künftige Fälle in seinem Sinne entschieden wissen? 239 Wie etwa Person, Sache, Rechtsgeschäft, Vertrag, Anspruch, Schuldverhältnis, Forderung, Eigentum, Besitz u.s.w., vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 74. 240 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 87. 241 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 87, mit Blick auf den vermittelnden Standpunkt von Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 318 f.
2. Abschnitt: Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht
105
Am fruchtbarsten erscheint hier der Gedanke, daß der Gesetzgeber im Tatbestand einer Norm eine kurzgefaßte Begründung für die Verhängung der Rechtsfolge gibt. 2 4 2 Den Gegenpol hierzu bilden Auffassungen, die den Tatbestand lediglich als eine „Beschreibung" der gemeinten Fälle auffassen, aber auch solche, die eine derartige Beschreibung wegen der Individualität jedes Falles für unmöglich halten und daher nur den „typischen Fall" im Gesetz in Bezug genommen sehen.243 Das Problematische beider Perspektiven liegt aus der Sicht Schapps darin, daß sie die Frage aufwerfen, wie der Gesetzesanwender von einer im Tatbestand des Gesetzes liegenden Abstraktion zu einzelnen Fällen kommen kann, die sich unter dieser Abstraktion möglicherweise fassen lassen.244 Sinnvoller dürfte aber allein die umgekehrte Frage sein, wie der Gesetzgeber von den einzelnen Fällen, die er hat entscheiden wollen, zu der in seinem Tatbestand liegenden Abstraktion gelangt ist. Der Gesetzgeber hat schließlich keine Abstraktion als solche entschieden, sondern wollte nur die beschreibbaren einzelnen Fälle entscheiden.245 Das eigentliche Anliegen dieses methodologischen Standpunktes liegt also darin, die im Tatbestand liegenden Abstraktionen aus der seit jeher unbeantwortet gebliebenen Fragestellung, wie Sein und Sollen, Besonderes und Allgemeines miteinander vermittelt werden können, herauszuführen. 246 Vor dem Hintergrund des antiken Verständnisses von dogma kann man hierin auch die Betonung einer induktiven Verfahrensweise der Gewinnung von Regeln erkennen, der gegenüber jede deduktive Ableitung immer nur nachgeordnet erfolgen kann. 247 Von hier aus ergibt sich dann auch die Berechtigung, Begriffen wie dem Typus oder der Reihe einen sinnvollen Stellenwert einzuräumen. 248 Der Einzelfall wird vom Gesetz erfaßt, weil er den vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Falltypus repräsentiert bzw. sich 242
So der Ansatz von Schapp, der damit zugleich voraussetzt, daß sich jedenfalls die meisten Rechtssätze in dieser Weise in Tatbestand und Rechtsfolge aufspalten lassen. Daß eine solche Aufspaltung bei wenigen Vorschriften, etwa den §§ 133, 157 BGB, auf Schwierigkeiten stößt, steht dieser Grundannahme im Normalfall nicht entgegen, vgl. ders., Methodenlehre des Zivilrechts, S. 76. 243 Ausführlich hierzu Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 48 ff., mit Blick auf Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 111; Larenz, in: Festgabe für H. und E. Glockner, S. 149 ff.; Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 31. 244 In den Augen Schapps würde man damit eine Wirklichkeit, wie sie ist, einer Wirklichkeit gegenüberstellen, wie sie den Juristen interessiert. Es mache aber gerade die Eigenart jedes Falles aus, immer nur in konkreten Bezügen vorkommen zu können, von denen dann der juristische Bezug nur einer unter mehreren ist. Einen „wahren Fall" könne es daher nicht geben. Vgl. ders., Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 52. 245 Vgl. Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 50. 246 So bereits Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 56; vgl. ferner ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 26. 247 Vgl. hierzu oben 2. Teil, 1. Abschnitt, I. 1., II. 1. b) cc). 248 So Schapp heute gegenüber seiner Kritik am Typusbegriff (vgl. hierzu ders., Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 10, 52 ff.): Das Gesetz könne sich sowohl durch die Fallreihe wie auch mittels des „Falltypus" auf den einzelnen Fall beziehen, vgl. ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 10 (Fn. 10).
1 0 6 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
in die von ihm aufgegriffene Fallreihe einreihen läßt. 249 Dabei ist es die Begründung, die der Gesetzgeber im Tatbestand der Norm gibt, die erst darüber urteilen läßt, ob Fälle als „gleich gelagert" begriffen werden können oder nicht. Die bloße Suche nach einer Ubereinstimmung zwischen gesetzlicher Abstraktion und wirklichem Fall muß mit einem solchen Urteil hingegen überfordert sein, weil sie das tertium comparationis ausblendet, anhand dessen sich die Ähnlichkeit von Fällen überhaupt erst feststellen läßt. Dieses tertium comparationis wird hier mit der Begründung der Rechtsfolge durch den Tatbestand hingegen ganz dezidiert in den Blick genommen.250 Die vom Gesetzgeber gemeinten Fälle werden dabei gewissermaßen in seine Motivsphäre verlagert, womit der Kreis der betroffenen Fälle notwendig offen bleiben kann. Damit ermöglicht die Herausarbeitung lediglich der Begründung der Entscheidung aber auch die Einbeziehung künftiger Fälle. Die Bedeutung der Abstraktion im Tatbestand reduziert sich folglich darauf, daß jede Begründung eines konkreten Falles in aller Regel nicht nur für diesen, sondern für mehrere Fälle zutrifft. 251 In der Ausbildung läßt sich dieser Gedanke besonders prägnant an den sogenannten Schulbeispielen wiederfinden. An ihnen soll sich der Sinn des Rechtssatzes, also der Grund dafür, weshalb eine bestimmte Rechtsfolge verhängt wird, auf eine geradezu drastische Weise erschließen, weshalb das Schulbeispiel gerade dadurch gekennzeichnet wird, daß es weitere denkbare Fallkomplikationen rigoros ausblendet.252 Aus dem gleichen Gesichtspunkt wird im weiteren Verlauf der Untersuchung auch der Begriff des Falltypus dem der Fallreihe vorgezogen. Zwar bleibt der Begriff der Fallreihe dem des Falltypus insoweit überlegen, als er bereits dem Wortsinn nach sehr viel pointierter den Entwicklungsprozeß ins Auge faßt, dem jeder Rechtssatz im Laufe der Zeit ausgesetzt ist, wenn sich seine Auslegung angesichts des Auftretens neuer Fälle verändert. Mit dem Begriff der Gestalt, um einmal die wörtliche Bedeutung des Wortes Typus (griechisch τύπος) aufzugreifen, 253 wird jedoch stärker das Moment einer Abstraktion betont, auf das es für die Aufgabe der Dogmatik, nicht nur bestehende Rechtssätze zu ordnen, sondern auch 249
Vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 10. Diese zentrale Bedeutung der gesetzgeberischen Begründung für die Konzeption Schapps vernachlässigt in seiner Kritik Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 275. 251 Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 55 f. 252 Vgl. hierzu Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 66 f. 253 Weitere Bedeutungen sind etwa „Schlag", „Abdruck", „Gepräge", „Umriß", „Bildwerk", vgl. Menge, Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch Deutsch, S. 698. Das mit typos bezeichnete „Umrißhafte" bewegt sich im klassischen Griechisch zwischen dem „Unförmig-Groben" und dem „Grundlegenden". Über die lateinische Entlehnung typus geht der Begriff dann in den europäischen Sprachraum ein und tritt im Deutschen seit dem 16. Jahrhundert zunächst im theologischen Schrifttum auf. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gewinnt der Typusbegriff parallel zur theologischen Bedeutung auch zunehmend Relevanz in den Naturwissenschaften und in der Philosophie. Zum Ganzen eingehend Strenge und Lessing, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, Sp. 1587 ff., 1594 ff. 250
2. Abschnitt: Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht
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neue Hilfsnormen und Präjudizien zu entwickeln, besonders ankommen muß. Der Prozeß dieser Regelbildung ist gleichsam ein Abstraktionsprozeß, der von Fällen über Falltypen zu Rechtssätzen führt. 254
2. Das Anwenden des Rechtssatzes Wie erfolgt nun in einem zweiten Schritt die Anwendung des Rechtssatzes auf den konkreten Fall? Hier lassen sich wiederum zwei Schritte unterscheiden, nämlich zunächst das Aufstellen einer Anspruchshypothese (a) und sodann die Anwendung der einzelnen Tatbestandsmerkmale (b), auch wenn meist nur die Anwendung der einzelnen Tatbestandsmerkmale selbst als Anwendung, also in einem engeren Sinne, bezeichnet wird. 2 5 5
a) Das Aufstellen der Anspruchshypothese Für jede Entscheidung eines zivilrechtlichen Falls wählt der Richter zunächst eine Anspruchsnorm aus, unter der sich seiner Einschätzung nach das klägerische Begehren rechtfertigen läßt, und stellt entsprechend dieser Norm eine Anspruchshypothese auf. Mit dieser Anspruchshypothese wird die in der Klage gestellte Frage, ob der vorgetragene Sachverhalt das erhobene Begehren gerechtfertigt, vom Richter bejaht, allerdings nur unter den einschränkenden Bedingungen, die der Tatbestand in seinen einzelnen Merkmalen aufstellt. Ob sie im konkreten Fall erfüllt sind, ist dann für jede Bedingung in einem zweiten Schritt der Anwendung zu prüfen. 2 5 6 Die Auswahl der Anspruchsnorm wird dabei zunächst durch die Umstände des Lebenssachverhalts vorgezeichnet, die in der Klagebegründung vorgetragen werden. Gleiches gilt dann aber auch für die Auswahl der Hilfsnormen, die zur Spezifikation einzelner Tatbestandsmerkmale dieser Anspruchsnorm herangezogen werden. An welcher Stelle im Anspruchsaufbau dies geschieht, ist dann eine Frage, über die von der Lehre vom Anspruchsaufbau entschieden wird mit ihrer Unterscheidung anspruchsbegründender, anspruchshindernder, anspruchsvernichtender und anspruchshemmender Voraussetzungen. Präziser betrachtet, stellt der Rechtsanwender also nicht nur eine Anspruchshypothese, sondern auch zahlreiche Hilfsnormhypothesen auf. Wenn die Redeweise von Hilfsnormhypothesen weniger verbreitet ist, so weniger aus methodologischen Bedenken, sondern aus der Überlegung heraus, daß die Hilfsnormhypothesen nur sehr viel indirekter an der Fallent-
254
Hierzu eingehender unten 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 2. Zur Unterscheidung von Anwendung im weiteren Sinne und Anwendung im engeren Sinne näher Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 90 f. 256 Weiterführende Fragen der Anspruchskonkurrenz und des streitigen Sachverhaltes seien hier ausgespart. 255
1 0 8 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Scheidung beteiligt sind als die Anspruchshypothese, die in ihrer Rechtsfolge den geltendgemachten Anspruch selbst gewährt oder versagt. 257
b) Die Anwendung des Tatbestandsmerkmals (als Anwendung im engeren Sinne) Wie erfolgt nun die eigentliche Anwendung der einzelnen Tatbestandsmerkmale, also die Anwendung des Rechtssatzes im engeren Sinne? Das Urteil, daß ein Tatbestandsmerkmal vom vorgetragenen Lebenssachverhalt erfüllt wird, wird bis heute in der universitären Ausbildung und im allgemeinen juristischen Sprachgebrauch als Subsumtion bezeichnet. Jede Überlegung zur Anwendung muß daher am Subsumtionsmodell der Rechtsan wendung ansetzen (aa). Andererseits erfordert der Stand der heutigen methodologischen Diskussion auch, einen kritischen Blick auf die Grenzen des Subsumtionsmodells zu weifen (bb).
aa) Das Subsumtionsmodell der Rechtsanwendung Obwohl das Subsumtionsmodell in der Ausbildung nach wie vor in aller Munde ist, sieht es sich seit geraumer Zeit methodologischer, insbesondere rechtslogischer und erkenntnistheoretischer Kritik ausgesetzt.258 Die Vorstellung, Rechtsanwendung als einen gleichsam mechanisch ablaufenden Akt zu begreifen, möchte man weit von sich weisen. 259 Wenn stattdessen insgesamt die Tendenz besteht, die Rechtsanwendung als einen Akt „wertender Zuordnung" aufzufassen, um pars pro toto einmal die Diktion von Larenz zu wählen, 260 so läßt sich eine Frontstellung von Subsumtion und Weitung als der eigentliche Kern der heutigen Kritik am Sub257 Vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 96, 98. Aus diesem Gedankenkreis dürfte sich auch der Begriff der Fallnorm nach Fikentscher erschließen, Methoden des Rechts, Bd. IV, Kap. 31 VIII 1. Der eigentliche Bereich der Anwendung einer Norm findet sich dann erst in dieser Einfügung in die Gesamtheit aller Normen im Rahmen der Anspruchshypothese. 2 58 In reiner Form wird dieses Modell wohl nur noch vertreten von Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, § 12; modifiziert hingegen von Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Systematischer Teil, 2. und 3. Kapitel; Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, Kap. 31 V I I und VIII; durch ein eigenes Modell ersetzt von Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", vgl. hierzu unten 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 2. a) aa). Insgesamt ablehnend etwa Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. 259 Als äußerste Zuspitzung solcher mechanischer Vorstellungen läßt sich die Formulierung Windscheids nennen, wonach „die Endentscheidung [ . . . ] das Resultat einer Rechnung [ist], bei welcher die Rechtsbegriffe die Faktoren sind". Die Rechnung müsse natürlich ein um so sichereres Fazit ergeben, je fester der Wert der Faktoren stehe. Vgl. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, S. 111. 260 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 275.
2. Abschnitt: Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht
109
sumtionsmodell ausmachen.261 Einen pragmatischen Standpunkt in dieser Kontroverse bezieht Schapp. Obwohl er die Kritik am Subsumtionsmodell aufgreift, ihr sogar weitere Konsequenz verleiht, bleibt er ihr als zentraler methodologischer Figur treu. Insoweit die meisten theoretischen Explikationen des Subsumtionsmodells merkwürdig unbefriedigend geblieben sind, ließe sich mit der Subsumtion zwar sicherlich kein spezifischer psychischer Akt treffen, dessen Produkt mit Notwendigkeit eine richtige rechtliche Entscheidung ist. Insoweit verzichte der Begriff der „wertenden Zuordnung" zu Recht auf jede Art eines übersteigerten Psychologismus. Wenn andererseits ein Verzicht auf den Begriff der Subsumtion in der universitären Ausbildung kaum möglich zu sein scheint, so bestehe dessen Hauptverdienst in der fortwährenden Unterscheidung von Regel und Fall, ohne die in einer praktischen Lehre von der Rechtsanwendung schwer auszukommen sei. 262 Diese Sichtweise steht keineswegs im Gegensatz zur Interessenjurisprudenz, sondern kann sich im Gegenteil in Einklang mit ihr wissen. So sah sich etwa Stoll durchaus der Interessenjurisprudenz verpflichtet, wenn er ausführt, daß „das formallogische Subsumptionsverfahren, ,das Rechnen mit Begriffen 4, die Konstruktion in dem Sinne der Unterordnung bestimmter konkreter Tatbestände unter einen Rechtssatz" jedenfalls „aus Gründen der Stetigkeit wie der Schnelligkeit der Rechtspflege [ . . . ] unentbehrlich" sei. Dieses Verfahren werde „in der Praxis nicht nur dauernd geübt, sondern [sei] in richtigen Grenzen gehalten auch unbedenklich und zweckmäßig". 263 Die Arbeit von Juristen seit Jahrhunderten erspare „es uns immer von neuem zu erarbeiten, was schon einmal gedacht wurde, und stets von neuem Ergebnisse zu überprüfen, die schon einmal in einwandfreier Weise gefunden wurden. [ . . . ] Wenn man sich einmal vergegenwärtigt, wie außerordentlich mühevoll die in der Literatur durchgeführten Beispiele der Interessenforschung und teleologischen Auslegung waren, so muß man sich doch fragen, wie der Richter bei der Masse ihm vorliegender Rechtsfälle eigentlich die Zeit zu solchen Untersuchungen finden soll." 2 6 4 Daher könne nach wie vor zwischen „glatter Sachlage", bei der ohne weiteres die formallogische Subsumtion erfolge, und „zweifelhaften oder besonderen Fällen", in denen der Richter von neuem Sinn und Zweck der Vorschriften prüft, unterschieden werden. 265 Entgegen seiner Befürchtung, daß seine Bemerkungen die unwillkürliche Ablehnung anderer Vertreter der Interessenjurisprudenz erführe, fand Stoll schon bald 261
So die Sichtweise Schapps, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 100. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 101 f. Nüchterner das Fazit Essers, in: Festschrift für L. Raiser, S. 517 (520 f.): Tatsächlich werde die vom Rechtsgefühl diktierte Lösung vielfach für so selbstverständlich gehalten, daß Alternativen nicht erst lange ausgebreitet würden. Die gesamte Bemühung gelte dann der Einpassung in das derzeitige Denkgefüge. Bei widerstandsloser Einpassung könne dann sowohl die Wertungs- wie die Begründungsfrage entfallen und sich das Ergebnis als simple Gesetzesanwendung präsentieren. 2 63 Stoll, in: Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt, S. 90. 2 64 Stoll, in: Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt, S. 90 f. 2 65 Stoll, in: Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt, S. 92. 262
1 1 0 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
die nachhaltige Zustimmung vor allem von Heck. So schreibt dieser nur ein Jahr später: „Die Erwartung Stolls erfüllt sich nicht. Ich bin sowohl mit der Feststellung des Verfahrens wie mit seiner Billigung durchaus einverstanden. Dazu werden ja die Gesetze erlassen, um ein solches Verfahren zu ermöglichen. Nur glaube ich eine Beobachtung hinzufügen zu müssen, welche einmal die Grenze des Verfahrens näher bestimmt und außerdem ergibt, daß die Methode der Interessenjurisprudenz auch für dieses Verfahren eine Bedeutung hat und m. E. eine sehr große. Die Fälle, in denen dieses einfache Verfahren angewendet wird, sind nämlich diejenigen, in denen das Ergebnis der logischen Subsumtion mit dem der Interessenprüfung übereinstimmt [ . . . ] und in denen außerdem das interessengemäße Ergebnis ohne weiteres evident ist [ . . . ] . In solchen Fällen fehlt die Interessenprüfung nicht, aber sie vollzieht sich »intuitiv', ohne überhaupt in das Oberbewußtsein des Richters zu treten [ . . . ] . Sie bleibt im Unterbewußtsein. Aber sie ist deshalb noch nicht entfernt bedeutungslos, denn die Verneinung der Interessengemäßheit würde vom Richter als Hindernis der logischen Subsumtion empfunden werden. Die Interessenprüfung wirkt in diesen Fällen als Kontrollapparat, als eine Art Alarmvorrichtung, die den Richter weckt, wenn die Subsumtion nicht genügt, sondern eine weitere Prüfung am Platze ist." 2 6 6 Die Unterscheidung zwischen einer begrifflich-logischen Subsumtion im herkömmlichen Sinne in den einfacheren Fällen und einer interessenvergleichenden teleologischen Subsumtion in schwierigeren Fällen kann damit bereits als eine Leistung der Interessenjurisprudenz begriffen werden. In seiner Unterscheidung einer „Subsumtion aufgrund einfacher Wertung" und einer „Subsumtion aufgrund Abwägung von Gründen" führt Schapp diese Unterscheidung fort, wenn er den in beiden Fällen für bedeutsam gehaltenen Akt einer Wertung nun auch begrifflich hervorhebt. 267 Der Vorstellung, Rechtsanwendung könne - auch in den einfacheren Fällen - ohne jeglichen Akt von Wertung auskommen, wird damit in Anschluß an Heck und in Übereinstimmung mit einer heute herrschenden methodologischen Grundauffassung eine klare Absage erteilt. Kein Tatbestandsmerkmal, so Schapp, beschreibe unbewertete Geschehnisse, an die Werte erst unter dem Gesichtspunkt der Rechtsanwendung herangetragen würden. Jedes Geschehnis sei vielmehr von Beginn an in einer Wertwelt eingehüllt und werde mithin einerseits durch den Tatbestand in seinem Gewicht für die Rechtsfolge bewertet, wie andererseits auch jedes von den Parteien vorgetragene Geschehnis bereits von ihnen bewertet sei. 268 Selbst in Fällen, in denen die bloße Wahrnehmung die Subsumtion unter den Tatbestand zu ermöglichen scheint, liegt daher noch ein (lediglich weniger bewußter) Akt der Wertung vor. 2 6 9 266
Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 115 f. (Textverweise Hecks innerhalb des Zitats ausgespart). 2 67 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 100 ff. 2 *8 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 100, 103. 269
Anhand des Begriffs ,Mensch' exemplifiziert Schapp insoweit die Grundprämisse der Phänomenologie, wonach etwas wahrnehmen immer schon heißt, etwas als etwas wahrzu-
2. Abschnitt: Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht
111
bb) Subsumtion aufgrund einfacher Wertung und Subsumtion aufgrund Abwägung von Gründen Wie läßt sich zwischen einer „Subsumtion aufgrund einfacher Wertung" und einer „Subsumtion aufgrund Abwägung von Gründen" nun aber näher unterscheiden? Wenn das Schlußverfahren nach dem Subsumtionsmodell häufig als Schlußverfahren im Sinne des modus barbara der allgemeinen Logik begriffen wird, bestehend aus Obersatz, Untersatz und Schlußfolgerung, so muß eine solche Unterscheidung an dem Punkt ansetzen, an dem zu beurteilen ist, ob der Untersatz im konkreten Fall im Sinne des Obersatzes gebildet werden kann oder nicht. Ist etwa zu prüfen, ob Sokrates sterblich ist, so lautet der entsprechende Obersatz ,Alle Menschen sind sterblich 4. Läßt sich nun die Frage, ob Sokrates ein Mensch ist, durch einfache Wertung beurteilen oder nur durch eine Abwägung von Gründen? Je nachdem ist es ein kurzer oder ein langer Weg, auf dem man zu dem Untersatz ,Sokrates ist ein Mensch4 gelangt und damit zu der Schlußfolgerung ,Also ist Sokrates sterblich4. Das Beispiel dient nun häufig dazu, auf eine besonders einfache Weise das Subsumtionsmodell zu veranschaulichen. Gesichert wird diese Einfachheit aber nicht durch das Menschsein des Sokrates, unter das hier subsumiert werden soll. Vielmehr ist es die Sterblichkeit des Menschen, die dem Beispiel seine Einfachheit sichert. Das macht aber deutlich, daß die Schwierigkeit der Frage, ob Sokrates ein Mensch (das Tatbestandsmerkmal also erfüllt) ist, sehr von dem Zweck abhängt, zu dem man die Frage stellt. Man fragt ja nicht ohne Hintergedanken nach dem Menschsein von Sokrates, sondern speziell im Hinblick auf die damit verbundene Sterblichkeit. Deutlicher wird der Zusammenhang, wenn man einmal nach dem Menschsein eines Sokrates fragt, um zu beurteilen, ob er vor seiner Geburt bereits zum Erben eingesetzt werden könnte (§ 1923 II BGB) oder ob seine Verletzung zu diesem Zeitpunkt eine Körperverletzung wäre (§ 823 I BGB). Die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens macht die Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal Mensch also sogleich bei weitem komplizierter als die Frage nach dem bloßen Faktum eines Lebensendes. Wie kompliziert die Subsumtion hier auch schnell werden kann, zeigt die große Kontroverse der letzten Jahre über die unterschiedlichen Möglichkeiten, den Todeszeitpunkt des Menschen in einer gesetzlichen Definition festzuschreiben. Zum Schlüsselbegriff einer Subsumtion aufgrund Abwägung von Gründen wird die Kennzeichnung von Tatbestandsmerkmalen als „ausfüllungsbedürftig 4'. Auf welche Weise lassen sich Tatbestandsmerkmale mit Sinn ausfüllen? Angesprochen ist hier erneut der große Bereich der Spezifikation, in dem die Hilfsnormen der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung ihre Bedeutung erlangen. Soweit der nehmen, vgl. ders., Methodenlehre des Zivilrechts, S. 104 f., unter Bezug auf die frühen phänomenologischen Studien seines Vaters, W. Schapp, Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung. Zum Urteilscharakter jeder Wahrnehmung vgl. auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 283 ff.
1 1 2 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Rechtsanwender auf sie zurückgreifen kann und sie zur Beurteilung seines Falls als ausreichend erscheinen, ist ihm nun durchaus eine Subsumtion aufgrund einfacher Wertung möglich. Dabei kann es mitunter freilich ein langer Weg sein, bis ein Tatbestandsmerkmal mittels einer Hilfsnorm auf der untersten Ebene der Spezifikation verstanden werden kann. Ist dieser Weg aber einmal durchschritten, so ist jedenfalls dem Ideal nach - die Subsumtion aufgrund einfacher Weitung möglich. Das eigentliche Gebiet, in dem die Subsumtion aufgrund Abwägung von Gründen bedeutsam wird, muß folglich aber Fälle betreffen, in denen nicht die Möglichkeit besteht, auf eine solche Spezifikation zurückzugreifen, weil entsprechende Hilfsnormen (noch) nicht zur Verfügung stehen, oder weil sich die Momente des Lebenssachverhalts einer Bewertung anhand von Hilfsnormen weitgehend entziehen. 270 Die Formulierung, daß es „auf die Umstände des Einzelfalls" ankommt, legt ein beredtes Zeugnis von dem weiten Spektrum derartiger Tatsachenkonstellationen ab. 2 7 1 Wenn bei der Subsumtion unter Rechtssätze aufgrund Abwägen von Gründen als Akt der Anwendung von der Ausfüllungsbedürftigkeit des Tatbestandsmerkmals gesprochen wird, wird dann aber nicht im Rahmen des Anwendens eine Sphäre des Verstehens gebildet, die die Unterscheidung von Verstehen und Anwendung nivelliert? Mehr eine Umgehung des Problems als eine Lösung wäre es, den Anwendungsbereich einer Subsumtion aufgrund Abwägung von Gründen auf die Anwendung von Generalklauseln zu beschränken. Die Charakterisierung einer Vorschrift als Generalklausel entbehrt selbst ja nicht einer gewissen Beliebigkeit. Vor allem haben die Ausführungen aber auch deutlich gemacht, daß eine Abwägung von Gründen schon sachlich gar nicht auf die Anwendung von Generalklauseln beschränkt werden kann, sondern daß selbst bei so scheinbar einfachen Tatbestandsmerkmalen wie dem Merkmal „Mensch" nur im jeweiligen Kontext entschieden werden kann, ob eine Subsumtion aufgrund einfacher Weitung oder aufgrund Abwägung von Gründen erforderlich ist. Umgekehrt können selbst Generalklauseln, je nach Fallgestaltung und gegebenenfalls dank der Konkretisierungsleistungen von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, mitunter auch im Wege einer Subsumtion aufgrund einfacher Weitung angewendet werden. Mit den Generalklauseln ist somit zwar möglicherweise der zentrale, sicherlich aber nicht der einzige Bereich gekennzeichnet, in dem sich der Rechtsanwender mit der Anwendung ausfüllungsbedürftiger Tatbestandsmerkmale konfrontiert sieht. 272 Das Verhältnis von Verstehen und Anwenden im Rahmen einer Subsumtion aufgrund Abwägung von Gründen läßt sich folglich mit Hilfe des Begriffs der Gene270
Zu dieser scharfen Trennlinie zwischen Spezifikation und Abwägung von Gründen näher Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 108, 115 f.; ders., in: Festschrift für Söllner, S. 973 (975 ff.). 271 Eingehendere Beispiele bei Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 111 f. 272 So auch Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 107, 115.
2. Abschnitt: Der Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht
113
ralklausel nicht weiter aufhellen. Das muß die Unterscheidung von Verstehen und Anwenden aber durchaus nicht konterkarieren. Die abschließend zu diesem Abschnitt zu entwickelnde These geht vielmehr dahin, daß über die Anwendung von Generalklauseln hinaus in der Rechtsfindung stets einzelne Schritte des Verstehens und des Anwendens einander abwechseln, und daß sich diese Schritte noch deutlicher differenzieren lassen, wenn man das Auswählen des Rechtssatzes noch deutlicher von seinem Verstehen und seinem Anwenden unterscheidet.
IV. Auswählen, Verstehen und Anwenden von Rechtssätzen Betrachten wir hierzu die beiden Schritte der Rechtsanwendung, wie sie vorstehend in Anlehnung an die Methodenlehre des Zivilrechts entwickelt wurden, noch etwas genauer. Danach wählt der Rechtsanwender in einem ersten Schritt die Anspruchsnorm aus und stellt entsprechend dieser Norm seine Anspruchshypothese auf, um dann in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die in der Anspruchshypothese enthaltenen Bedingungen erfüllt sind. 273 Konfrontieren wir dieses Bild der Rechtsanwendung einmal mit dem Schema, das Schapp der Anwendung von Generalklauseln im Zivilrecht zugrunde legt. Danach wählt der Richter in einer ersten Stufe - in der Regel im Rahmen der Aufstellung einer Anspruchshypothese - die zu prüfende Generalklausel aus. Die zweite Stufe der Anwendung zerfällt wiederum in zwei Abschnitte. In einem ersten Abschnitt ist der Tatbestand der Generalklausel zu konkretisieren; der Richter kann sich dabei entweder auf eine gelungene Konkretisierung berufen oder selbst eine solche Konkretisierung vornehmen. Erst in einem weiteren Abschnitt erfolgt dann die Anwendung der konkretisierten Generalklausel auf den zu entscheidenden Lebenssachverhalt. 274 Wenn es richtig ist, daß auch mit dem Begriff der Generalklausel in einem materiellen Sinne lediglich die Ausfüllungsbedürftigkeit von Tatbestandsmerkmalen umschrieben wird, muß beiden Schemata dann aber nicht eine einheitliche Modellvorstellung zugrunde liegen? In groben Umrissen könnte man ein solches einheitliches Gefüge der Rechtsfindung wie folgt zeichnen. Ein erster Schritt besteht in der Auswahl des zu prüfenden Rechtssatzes, gleichviel, ob es sich dabei um eine Anspruchsnorm oder eine Hilfsnorm handelt, ob der Wortlaut des Rechtssatzes generalklauselartig weit oder eng gefaßt ist. Die Anwendung dieses Rechtssatzes setzt nun voraus, daß der Rechtsanwender - in einem zweiten Schritt - seinen Sinn ermittelt, ihn also verstanden hat. Für den Prozeß dieses Verstehens stehen im wesentlichen zwei Wege zur Verfügung. Häufig werden Hilfsnormen (des Gesetzes, der Rechtswissenschaft oder der Rechtsprechung) zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe sich der Tatbestand im Wege der Spezifikation erschließen läßt. Auf einer letzten erforderlichen Ebene der Spezifikation kann der Richter diese Hilfsnormen 273 274
Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 90 f. Schapp, in: Festschrift für Söllner, S. 973 (975).
8 Gödicke
1 1 4 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
dann - jetzt bereits in einem dritten Schritt - durch Subsumtion aufgrund einfacher Wertung anwenden. Soweit keine Hilfsnormen zur Verfügung stehen, besteht der zweite Weg des Verstehens hingegen darin, den Tatbestand im Wege der Konkretisierung mit Sinn auszufüllen. Läßt sich auf diese Weise eine konkrete spezifizierende Hilfsnorm entwickeln, wendet der Richter sie erneut in einem dritten Schritt im Wege der Subsumtion aufgrund einfacher Wertung an. Ist die Bildung einer Hilfsnorm dagegen nicht möglich, verbleibt nur die Möglichkeit einer Anwendung im Wege der Subsumtion aufgrund Abwägung von Gründen. 275 Auch Zwischenformen sind denkbar. So kann der Richter etwa eine Reihe ausgewählter Präjudizien nutzen, um dem Tatbestand einer Hilfsnorm Kontur zu verleihen, ohne ihn doch bereits in klare Worte fassen zu können. Mit diesen - ihrerseits allerdings meist schon regelhaft formulierten - Präjudizien ist das Abwägen von Gründen dann immerhin normativ geprägt, wenn es auch noch nicht möglich ist, den ausschlaggebenden Gedanken der Bewertung kurzgefaßt im Tatbestand einer Hilfsnorm zu formulieren. 276 Das Modell der Anwendung von Generalklauseln läßt sich auf diese Weise also zu einem über den Bereich von Generalklauseln hinausgehenden Modell der Rechtsanwendung fortentwickeln. Dieses einheitliche Gefüge einer Anwendung im weiteren Sinne umfaßt nun die Auswahl des Rechtssatzes, sein Verstehen und schließlich seine Anwendung auf den konkreten Fall, wobei sich diese drei Schritte sowohl hinsichtlich von Anspruchsnormen unterscheiden lassen, wie auch wiederum im Hinblick auf die vielen Hilfsnormen, die zur Spezifikation dieser Anspruchsnormen eingesetzt werden. Wenn damit der Auswahl als der ersten Stufe der Rechtsanwendung eine bedeutende Stellung eingeräumt wird, so geht nun freilich auch diesem Akt der Auswahl bei näherem Hinsehen schon ein Verstehen voraus. An diesem Punkt bewahrheitet sich die These, daß sich die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens von Rechtssätzen dahin präzisieren läßt, wie es dem angehenden Juristen gelingt, Zugang zu dem in der Jurisprudenz geübten Denken zu finden. 277 Wie sich nun präzisieren läßt, erweist sich als eigentlicher Kern dieses Einfindens in die Jurisprudenz die Verinnerlichung eines Ordnungsgefüges, das es dem Juristen überhaupt erst ermöglicht, angeregt durch die Momente des Lebenssachverhalts eine Auswahl im Meer der Normen zu treffen. Die Unterscheidung von Verstehen und Anwenden konsequent fortgedacht, setzt die Auswahl 27 5 Nach Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 116, kann der Richter auf die Abwägung von Gründen nur verzichten, wenn er an dieser Stelle eine zur Verfügung gestellte Hilfsnorm einsetzen kann. In der Übernahme einer solchen Hilfsnorm liegt freilich nach wie vor ein verdünnter Akt der Abwägung. 276 Das Auf und Ab der verschiedenen Entwicklungsstufen der Konkretisierung im zeitlichen Kontext einer Reihe von Entscheidungen analysiert Schapp anhand der vom BVerfG erzwungenen Umkehr der Rechtsprechung des BGH in den Fällen der Bürgschaft naher Angehöriger, in: Festschrift für Söllner, S. 973 (980 ff.). 277 Vgl. oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 1. a), und auch Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 67: Die Frage nach dem Verständnis des Rechtssatzes lasse sich nicht losgelöst von der Frage nach dem Verständnis des gesamten Rechtssystems beantworten.
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 115
einer Norm also das Verstehen dieses Ordnungsgefüges voraus. Das Bemühen der Jurisprudenz muß also darin liegen, dem Rechtsanwender ein einsichtiges Ordnungsgefüge für die Auswahl von Rechtssätzen zur Verfügung zu stellen und es gegebenenfalls fortzuentwickeln. Erscheint es damit aber nicht naheliegend, ein dreistufiges Modell der Rechtsanwendung gar durch ein vierstufiges zu ersetzen, bestehend aus Verstehen (des Ordnungsgefüges), Auswahl (des einzelnen Rechtssatzes, als Anwendung dieses Ordnungsgefüges), Verstehen (dieses einzelnen Rechtssatzes) und Anwenden (dieses Rechtssatzes)? Dieser Schritt erscheint zwar naheliegend, soll hier aber bewußt nicht weiter verfolgt werden. Bedenklich erscheint daran vor allem, zwei Ebenen eines Verstehens so scharf voneinander zu unterscheiden. Das trägt schon nicht der Tatsache Rechnung, daß das Verstehen von Ordnungszusammenhängen schon bei dem in der Ausbildung befindlichen Juristen bald hinter das immer wieder problematische Verstehen einzelner Regelungen zurücktritt. Dann trägt das Verstehen einzelner Rechtssätze aber auch seinerseits zum Verstehen eines Ordnungsgefüges der Rechtssätze bei, so daß sich hier kaum eine klarere Grenze ziehen läßt. Das liegt vor allem daran, daß sich das, was als Ordnungsgefüge von Rechtssätzen verstanden werden muß, schon gegenständlich weitaus weniger klar fassen läßt, als der konkrete Text, den es bei einem Rechtssatz zu verstehen gilt. Muß dieses Ordnungsgefüge in den ersten Wochen des Studiums auch noch ganz im Zentrum des Interesses stehen, so tritt es mit wachsendem Ausbildungstand rasch außerhalb des Bewußtseins und wird nur noch mittelbar fortentwickelt. Von dem Standpunkt einer Methodenlehre aus, die sich um eine Theorie der tatsächlich geübten Praxis bemüht, ist es daher sinnvoll, sich auf die vom Rechtsanwender immer wieder abgeschrittenen und immer wieder problematischen Stufen der Rechtsfindung zu konzentrieren. Das ist das Auswählen, das Verstehen und das Anwenden des Rechtssatzes auf den Fall. Für die Bedeutung der Dogmatik hat dies zur Konsequenz, daß sie, indem sie nur auf den ersten beiden Stufen der Rechtsanwendung von Bedeutung ist, 2 7 8 den Rechtsanwender beim Auswählen und beim Verstehen von Rechtssätzen zu unterstützen hat. Wie man sich dieses Wirksamwerden in der Rechtsfindung im einzelnen vorstellen kann, soll nun abschließend zu diesem Teil der Untersuchung in den Blick genommen werden.
Dritter Abschnitt
Das Wirksamwerden der Dogmatik in den einzelnen Stufen der Rechtsfindung Wie der Überblick über die juristische Dogmatik deutlich gemacht hat, wird der Dogmatik heute im Kern die Funktion beigemessen, zur Rationalität der Rechtsanwendung beizutragen. Negativ akzentuiert läßt sich dabei von einer Kontrolle der 278 Siehe hierzu oben 2. Teil, 1. Abschnitt, III. 8'
1 1 6 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Rechtsanwendung sprechen, positiv akzentuiert von einer Entlastung des Rechtsanwenders. Der Aspekt der Kontrolle knüpft an die von der Interessenjurisprudenz entwickelte Vorstellung von der Rechtsanwendung als einem Akt der Bewertung eines lebensweltlichen Interessenkonflikts an, bei dem es die offenbar zum Exzeß neigende Bewertungsfreiheit des Rechtsanwenders zu mäßigen gilt. Der Aspekt der Entlastung steht demgegenüber in der Tradition der Begriffsjurisprudenz und weiter zurückliegend in der Tradition des vernunftrechtlichen Rationalismus. Der Rechtsanwender soll nicht darauf verwiesen sein, eigenständig und in jedem einzelnen Fall von neuem alle Entscheidungsmaximen herauszuarbeiten, die es zu berücksichtigen gilt. Dieser positive Bedeutungshorizont ist auch von den Vertretern der Interessenjurisprudenz ausdrücklich beibehalten worden. Was bedeuten ,Kontrolle' und Entlastung' aber in den einzelnen Stufen der Rechtsfindung? In der oben skizzierten Diskussion läßt sich die Tendenz feststellen, dieser Frage entweder gar nicht weiter nachzugehen und die Dogmatik damit auf der Ebene einer äußerst abstrakten Funktionsbestimmung stehen zu lassen, oder aber so weit zu gehen, Dogmatik mit Rechtsfindung gleichzusetzen. Die Dogmatik ist dann, mit Meyer-Cording gesprochen, das „was der Jurist normalerweise tut: Auslegung und Anwendung der Normen", oder ihre primäre Funktion besteht, mit Bydlinski gesprochen, in einer „Rechtsgewinnung durch Normkonkretisie«< 279
rung . Diese fehlende Verbindung zwischen einer Theorie der Dogmatik und einer Praxis der Rechtsfindung kann auf Dauer nicht befriedigen. Sie zeigt aber auch, wie schwierig es ist, die anerkanntermaßen praktische Dimension von Dogmatik konkreter auszuleuchten. Die folgenden Überlegungen wollen nicht den Anspruch erheben, eine allseits befriedigende Antwort zu geben, aber doch einen Beitrag dazu leisten, diesen Bruch zu relativieren. Dazu soll an die im vorstehenden Abschnitt skizzierten Überlegungen zur Ebene eines Auswählens von Rechtssätzen angeknüpft werden. Ausgewählt werden muß jeder Rechtssatz, ob er inhaltlich eng oder weit gefaßt ist, ob er seinem Charakter nach als Anspruchsnorm oder als Hilfsnorm zu qualifizieren ist. Ausgewählt wird jeder Rechtssatz dann aber nur anhand eines Ordnungsgefüges, das dem Rechtsanwender zu diesem Zweck zur Verfügung steht. Die Leistung der Dogmatik besteht also in erster Linie darin, das Auswählen der Rechtssätze in eine Ordnung zu bringen, wofür im Zivilrecht ein ebenso altes wie differenziertes Ordnungsgefüge bereitsteht (I.). 2 8 0 In zweiter Hinsicht zielt die Dogmatik dann auf die Ebene des Verstehens von Rechtssätzen ab. Hier liegt ihre Funktion darin, einzelne Auslegungsvorschläge in 279
Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 20; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 11. Vgl. zu beiden Autoren bereits oben 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 2. 280 Der Bedeutungsaspekt der Reihe und der Reihenfolge entstammt dem lateinischen Ursprung des Wortes Ordnung, von lat. ordo: Reihe, Linie, Rang, Reihenfolge. Vgl. Pertsch, Langenscheidts Handwörterbuch Lateinisch-Deutsch, S. 440 f.
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 117
Form von Rechtssätzen herauszuarbeiten, meist angeregt durch neuartige Problemstellungen, die in der Praxis auftreten. Zwar kommt auch der einzelne Rechtsanwender im Rahmen des Verstehens von Rechtssätzen zu solchen Auslegungsergebnissen. Als für die Zukunft tragfähig erweist sich ein solches Auslegungsergebnis, sofern es Aufnahme in die fachliche Diskussion gefunden hat, aber erst dann, wenn es sich in die bestehende Ordnung von Rechtssätzen einfügen läßt, also vor allem keine Widersprüche hervorruft, sondern das tradierte Ordnungsgefüge weitgehend intakt läßt. Genauer ausgedrückt, besteht die Funktion von Dogmatik in diesem zweiten Bereich also darin, in einem Gespräch zwischen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, und dann vor allem auch innerhalb der Rechtswissenschaft, die im einzelnen vorgetragenen und überaus vielfältigen Auslegungsvorschläge darauf zu prüfen, welche von ihnen am ehesten mit dem bestehenden Ordnungsgefüge kompatibel sind. Hier dürfte der Kern einer zuweilen anklingenden „Stabilisierungsfunktion" von Dogmatik liegen. Dogmatik und Einzelfallanalyse, so die grundlegende These zu diesem Abschnitt, schließen einander also nicht aus, sondern sind im Gegenteil notwendig aufeinander bezogen. Die Analyse einzelner Fallentscheidungen wird zum zentralen Entwicklungsmoment von Dogmatik (II.). 2 8 1 Beide Perspektiven erlauben es, der Dogmatik eine sinnvolle Funktion im Rahmen der Rechtsfindung zu sichern. Wo bleibt nun aber das Unbehagen an der Dogmatik, wie es mit Blick auf das Bereicherungsrecht zum Ausgangspunkt dieser Untersuchung gewählt wurde? Wenn die Dogmatik die Rechtsfindung entlastet und kontrollierbar macht, wer kontrolliert dann umgekehrt die Entwicklung der Dogmatik? Neigt die Freiheit des Dogmatikers, Theorien zu bilden und zu diskutieren, nicht ebenso beständig zum Exzeß wie die Freiheit des Rechtsanwenders, Interessenkonflikte eigenständig zu bewerten? Und zeigt nicht gerade das Bereicherungsrecht, daß die Dogmatik mitunter auf diese Weise alles andere als eine Entlastung bietet? Es ist eine alte Einsicht, daß die Begierden des Menschen zum Zwecke eines besonnenen Miteinanders der Mäßigung bedürfen. 282 Ob sich in diesem Sinne auch eine gute und eine schlechte Dogmatik entgegensetzen lassen, wird daher abschließend zu erwägen sein (III.), um auf diese Weise auch bereits die Perspektive auf den dritten Teil der Untersuchung zu öffnen, der sich mit den Möglichkeiten der Konsolidierung einer unüberschaubaren Dogmatik auf dem speziellen Gebiet des Bereicherungsrechts auseinandersetzen wird. Eine solche kritische Betrachtung kann aber erst auf der Grundlage einer positiven Funktionsbestimmung der 281 Unter Rückgriff auf den Gedanken Schapps, im Tatbestand als Begründung der Rechtsfolge die zentrale Technik des Gesetzgebers zu erkennen, zukünftige Fälle zu entscheiden, vgl. hierzu oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 1. b), gelangt Henß in seiner Betrachtung der Dogmatik ähnlich zu der Auffassung, daß die Elemente des juristischen Begriffssystems in seinen oberen Abstraktionen, die einzelnen dogmatischen Figuren, immer sowohl ein Moment der Fallbewertung als auch ein Moment der Ordnung in sich tragen, vgl. ders., Obliegenheit und Pflicht im Bürgerlichen Recht, S. 74 ff. (79). 282
Als die Zeiten überdauernde anthropologische Grundaussage verfolgt Schapp diesen Gedanken von Plato über das Christentum, das Zeitalter der Aufklärung bis in die Moderne hinein, vgl. ders., Freiheit, Moral und Recht, S. 1 ff.
1 1 8 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Dogmatik erfolgen, wie sie in den nachfolgenden beiden Abschnitten vorgenommen werden soll.
I. Die Ordnungskraft der Dogmatik für das Auswählen von Rechtssätzen Rational kontrollierbar wird Rechtsfindung dann, wenn jeder Rechtsanwender das Recht auf die gleiche Weise in einem durchaus wörtlichen Sinne findet. Im Mittelpunkt des Interesses muß mithin ein gelungenes Schema für das Auffinden einschlägiger Rechtssätze stehen, also im Zivilrecht ein Schema für das Auffinden von Anspruchsnormen und Hilfsnormen. Die folgenden Überlegungen legen insoweit ein am Anspruch orientiertes System des Zivilrechts zugrunde. Innerhalb der juristischen Systemdiskussion wird damit ein Standpunkt bezogen, der zunächst etwas näher offenzulegen ist (1.). Dem Schwerpunkt nach wird dann allerdings auf die Ordnung eines Auswählens von Anspruchsnormen (2.) und auf die Ordnung eines Auswählens von Hilfsnormen (3.) einzugehen sein. Die Auswahl dieser beiden Arten von Rechtssätzen soll vor allem deshalb unterschieden werden, weil ihnen unterschiedliche Funktionen innerhalb der Anspruchsprüfung zukommen. Die Anspruchsprüfung beginnt nun einmal zunächst mit der Auswahl der Anspruchsnorm, an die sich die zusätzliche Heranziehung von Hilfsnormen erst anschließt, auch wenn sich beide Arten von Rechtssätzen ihrer Struktur nach - beide setzen sich aus einem Tatbestand und einer Rechtsfolge zusammen - nicht unterscheiden. Mit Blick auf den großen Bereich nicht mehr gesetzlich normierter, sondern von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung entwickelter Hilfsnormen sollen abschließend dann aber auch die Grenzen einer Ordnungskraft der Dogmatik für das Auswählen von Hilfsnormen beleuchtet werden (4.).
1. Ordnung und System des Zivilrechts Der Gedanke des Systems wird seit jeher weitgehend mit dem Gedanken einer Ordnung im Sinne eines aus mehreren Teilen zusammengesetzten und gegliederten Ganzen kurzgeschlossen. 283 Die kontroversen Fragen innerhalb der allgemeinen 283 Wörtlich übersetzt bedeutet System (σύστημα) so viel wie Zusammenstellung, Vereinigung, Gesamtheit, Ganzes, vgl. Menge, Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch Deutsch, S. 667. Zum Gebrauch des Wortes System in der Antike im astronomisch-kosmologischen sowie im politischen Kontext (Gestirnsumläufe als System der Zahl bzw. Polis als System im Sinne einer Gemeinschaftsorganisation) vgl. Hager, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, Sp. 824 f. Ausführlich zur Herausbildung des Systembegriffs in der Neuzeit und zu seinem Aufstieg insbesondere seit dem 17. Jahrhundert vgl. die eingehende Darstellung von Strub, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, Sp. 825 ff., der die Bereiche der Musik, der Theologie, der Philosophie, der Jurisprudenz und der Naturwissenschaften gleichermaßen miteinbezieht.
3. Abschnitt: Wirksam werden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 119
Systemdiskussion entzünden sich denn auch weniger an diesem Sprachverständnis als an der - je nach Gegenstand des Systems sehr unterschiedlich zu beantwortenden - Frage, inwieweit eine solche Ordnung überhaupt möglich ist, nach welchen Kriterien sie erfolgen sollte und welchen Grenzen sie unterliegt. Entsprechend finden sich heute überaus vielfältige Inhaltsbestimmungen zum Systembegriff, indem etwa, um nur eine kleine Auswahl zu treffen, von einem geschlossenen, einem offenen, einem beweglichen, einem empirischen, einem konstruierten oder einem autopoietischen System die Rede ist. Diese überaus verästelte und kaum noch zu überblickende Diskussion zur Systemtheorie, auf die im 20. Jahrhundert zahlreiche Disziplinen wesentlichen Einfluß genommen haben (in den letzten Jahren vor allem die Kybernetik, aber auch etwa Physik, Chemie, Biologie, Neurologie, Psychologie und Soziologie), kann hier nicht weiter verfolgt werden. 284 Aber auch dem juristischen Systembegriff soll hier nicht in seinen vielen Facetten nachgegangen werden. Das gilt um so mehr, als die vorliegende Untersuchung mit der Orientierung am Anspruch, und damit am Prozeß der Rechtsfindung, einen pragmatischen Ansatz zur Bedeutung des Systems wählt. Mit den folgenden Überlegungen sollen dem juristischen Systemgedanken also Konturen mehr aus dem Blickwinkel einer tatsächlich geübten Praxis verliehen werden, denn aus einer theoretischen Perspektive. Einer tieferen wissenschaftstheoretischen Reflexion des Systemgedankens soll damit keineswegs ihre Berechtigung abgesprochen werden, sondern lediglich auf die Unterschiedlichkeit der Fragestellung in ihrer Zielsetzung hingewiesen werden. Für den Rechtsanwender liegt die Bedeutung des Systems in erster Linie in seinem Orientierungswert für die Rechtsanwendung.285 Diese Orientierungskraft schöpft sich zu einem großen Teil zunächst einmal aus der Schwerfälligkeit, mit der sich Änderungen des Systems vollziehen. Einem beweglichen System im Sinne von Wilburg 286 ist daher verständlicherweise entgegengehalten worden, daß es mit dem Moment der Beweglichkeit, also der „grundsätzliche[n] Ranggleichheit und wechselseitige[n] Austauschbarkeit der maßgeblichen Gerechtigkeitskriterien bei gleichzeitigem Verzicht auf abschließende Tatbestandsbildung",287 ein dem Systemgedanken nachgerade zuwiderlaufendes Merkmal aufgreift. 288 284
Vgl. insoweit die Literaturhinweise in der vorigen Fußnote (Fn. 283). Vor allem Canaris hat darauf aufmerksam gemacht, daß hierin über alle Differenzen hinweg ein großer gemeinsamer Nenner aller divergierenden juristischen Systembegriffe liegt, vgl. ders., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 19 ff., unter eingehender Betrachtung der auch heute noch als grundlegend geltenden Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 286 Vgl. die aus der Grazer Rektoratsrede vom 22. 11. 1950 hervorgegangene Schrift von Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, und hierzu auch unten 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 2. b). 285
287
Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 75. Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 78, aus dessen Sicht das System des geltenden deutschen Rechts grundsätzlich gerade nicht beweglich, sondern unbeweglich ist. Eine Bedeutung des beweglichen Systems erkennt Canaris daher nur 288
1 2 0 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Mit der Behäbigkeit des Systems ist freilich noch nicht zum Ausdruck gebracht, welche Aspekte es denn nun sind, die ein juristisches System konstituieren. Eine große Ausstrahlungskraft geht insoweit bis heute vom abstrakt-begrifflichen System der Begriffsjurisprudenz aus, das seinen Niederschlag sowohl in der äußeren Anordnung unserer Gesetze wie in zahlreichen begrifflichen Einteilungen gefunden hat, die auch heute noch einen großen Stellenwert besitzen. Der bis heute bedeutsame Aspekt dieses Systems ist die Erleichterung des Auffindens der jeweils einschlägigen Rechtssätze.289 Schon Heck zielte mit seiner Kritik an den Systemvorstellungen der Begriffsjurisprudenz weniger auf den Darstellungsvorgang, von dem auch sein eigener Gedanke eines „äußeren Systems" ausgeht, als auf die ungenügende Unterscheidung der Begriffsjurisprudenz zwischen Darstellung und Erkenntnis. 290 Canaris hat diese Überlegung dahin formuliert, daß, mißt man dem System die Aufgabe bei, eine aus dem Gerechtigkeitsgedanken abgeleitete Sinneinheit des Rechts zu erfassen, diese Sinneinheit zwangsläufig aus Wertungen entsteht, die außerhalb des Bereichs der formalen Logik liegen. 291 Auf der Grundlage einer eingehenden Kritik überkommener juristischer Systembegriffe entwickelt Canaris daher den Gedanken eines Systems als „axiologische oder teleologische Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien", wobei er die Bildung von Untersystemen mit ihrerseits eigenständigen „allgemeinen" Prinzipien aber durchaus vorbehält (also etwa ein System der unerlaubten Handlung, der ungerechtfertigten Bereicherung oder der Leistungsstörungen). 292 Der Ausrichtung des Systems an anderen Gesichtspunkten, also etwa an Normen, an Begriffen, an Rechtsinstituten oder auch an Werten, erteilt Canaris zwar keine klare Absage, läßt aber deutlich erkennen, daß er diese allgemeinen Elemente für wenig geeignet hält, ein System für die Jurisprudenz zu konstituieren. 293 Die Überlegenheit eines an allgemeinen Rechtsprinzipien orienfür Teilbereiche der Jurisprudenz an, in denen es dann jedoch „in sehr glücklicher Weise die Mitte zwischen festem Tatbestand und Generalklausel [halte] und der generalisierenden wie der individualisierenden Tendenz der Gerechtigkeit Raum" gebe; gleichwohl dürfe es aber in seiner Leistungsfähigkeit nicht überschätzt werden. Vgl. ders., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 85. Zu Versuchen, den Gedanken des beweglichen Systems im Bereicherungsrecht fruchtbar zu machen, vgl. unten 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 2. b). 289
Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 165 f. Ahnlich auch Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 99 ff. 290 Vgl. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 142 ff., 163 ff. 291
Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 21 f. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 47 f. Vgl. hierzu auch die Darstellung von Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 168 ff. 293 Einen verbindenden Zusammenhang in Normen zu suchen, hält Canaris schon deshalb für wenig geeignet, weil es um den die Normen erst verbindenden Zusammenhang gehe (vgl. ders., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 48 f.). Ein System von Rechtsbegriffen hält er für wenig zweckmäßig, weil Begriffe die einheitsstiftenden Wertungen lediglich mittelbar enthielten und diese vielmehr nur im Prinzip klar zutage kämen (S. 49 ff.). Gegenüber einem System als Ordnung von Werten seien die Prinzipien dann aber vorzuziehen, weil sie durch ihre charakteristische Zweiteilung in Tatbestand und Rechtsfolge bereits eine Stufe weiter konkretisiert seien (S. 51). 292
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 121
tierten Systems sieht Canaris darin, daß diese Prinzipien nicht den Anspruch der Ausschließlichkeit erheben, sondern zueinander in Gegensatz und Widerspruch treten könnten. Ihren eigentlichen Sinngehalt erhielten sie somit erst im Zusammenspiel wechselseitiger Ergänzung und Beschränkung. 294 Rückt ein System dieser Abstraktionshöhe für die praktische Rechtsanwendung aber nicht in weite Ferne? 295 Canaris bleibt nun zwar nicht auf dieser Ebene stehen, sondern ist der Auffassung, daß die Prinzipien schließlich zu ihrer Verwirklichung „der Konkretisierung durch Unterprinzipien und Einzelwertungen mit selbständigem Sachverhalt" bedürfen. 296 Weiterhin ist Canaris jedenfalls in praktischer Hinsicht bereit, anderen Systembegriffen auch wieder eine gewisse Berechtigung zu konzedieren. Es bedürfe wohl kaum der Hervorhebung, daß „die Begriffsbildung nicht überflüssig ist. Sie ist im Gegenteil zur Vorbereitung der Subsumtion unerläßlich, und daher sollte den Prinzipien ein korrespondierendes System von Rechtsbegriffen zugeordnet werden". Nur dürfe man nie vergessen, daß die Begriffe „teleologischer Natur sind und daß daher im Zweifelsfall immer der Rückgriff auf die in ihnen enthaltene Wertung und das heißt auf das entsprechende Prinzip erforderlich ist". 2 9 7 Damit wird aber auch bei Canaris deutlich, daß das Erwägen und Konkretisieren allgemeiner Rechtsprinzipien, ebenso wie die Bildung von Begriffen, die Entwicklung von Normen und die fallbezogene Analyse von Interessenkonstellationen, nicht der allein maßgebliche Aspekt juristischer Systembildung sein kann. Dem Begriff des Systems lassen sich mithin nicht letzte Konturen abgewinnen. Er dient im Grunde, ähnlich wie der Begriff der Dogmatik, nur dazu, einzelne Seiten der Rechtsfindung aus einer spezifischen Perspektive zu reflektieren, die es daher aber auch jeweils offenzulegen gilt. Es macht bedeutsame Unterschiede, ob man ein System des Rechts mit dem Anliegen verfolgt, den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz zu erörtern oder deren Argumentationstechniken in den Kontext moderner Argumentationstheorien zu stellen, oder ob man - wie hier - mit dem System lediglich eine Ordnung materieller Rechtssätze ins Auge faßt, die den Rechtsanwender bei seiner Tätigkeit leiten. Legt man den Akzent so deutlich auf die Frage nach dem Gegenstand einer Ordnung, die man dann auch als System bezeichnen mag, so zeigt sich aber auch schnell, daß zwischen einer Ordnung von Rechtsprinzipien und einer Ordnung von Normen, Begriffen oder Rechtsinstituten ein Konkurrenzverhältnis sinnvollerweise gar nicht bestehen kann. Wenn der Systemgedanke hier am Anspruch ausgerichtet wird, soll damit der Überlegung Rechnung getragen werden, daß das eigentliche Ziel der juristischen Arbeit im Zivilrecht die Entscheidung von Konflikten durch Gewährung oder Ver294
Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 52 ff. Zur Kritik am idealistischen Systemverständnis Canaris ' vgl. auch Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis, S. 34 (Fn. 131). 29 6 Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 57 f. 295
297
Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 50.
1 2 2 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
sagung von Ansprüchen ist. 2 9 8 Andere Systembegriffe sollen damit also keineswegs ausgeschlossen werden. 299 Hingegen kann dieser pragmatische Blick auf den Systembegriff nicht bedeuten, in den Mittelpunkt der hier angestellten Überlegungen nun anstelle der Dogmatik das System zu rücken. System und Dogmatik scheinen zwar auf den ersten Blick das gleiche zu sein, wenn man die Funktion der Dogmatik darin sieht, ein Ordnungsgefüge von Rechtssätzen zur Verfügung zu stellen. In der Tat tradiert die zivilrechtliche Dogmatik insoweit ein Ordnungsgefüge, ein System, das sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt hat. Dieses bereits bestehende und lediglich tradierte Ordnungsgefüge ist deshalb aber noch nicht mit Dogmatik identisch. Der entscheidende Unterschied dürfte darin liegen, das die Dogmatik dieses System nicht nur für künftige Juristengenerationen fortträgt, sondern daß sie es, wenn auch meist mehr in kleinen als in großen Schritten, fortlaufend weiterentwickelt. Das System wird damit lediglich zu einem - freilich zentralen - Gegenstand dogmatischen Arbeitens. Beide Begriffe gleichzusetzen, hätte mithin zur Konsequenz, die - allemal nur idealtypische - Unterscheidung einer Statik des Gegenstands von der Dynamik seiner Fortentwicklung zu verwischen.
2. Die Ordnung des Auswählens von Anspruchsnormen Auf welche Ordnungskategorien stützt der Rechtsanwender nun aber konkret seine Auswahl zivilrechtlicher Rechtssätze? Der Verlauf dieser Auswahl beginnt zunächst (prozessual gedacht) mit dem Begehren des Klägers. Soweit es feststeht, sucht der Jurist nach Anspruchsnormen, die dieses Begehren rechtfertigen können. Tatsachenvortrag und rechtliche Bewertung treten hier also notwendig in einen Zusammenhang, in dem die vorgetragenen Tatsachen als Begründungen des erstrebten Rechts erscheinen. 300 Den kleinsten Kreis aller in Betracht zu ziehender Be298
Auf dieser Linie deutet Schur seine Beobachtung, daß die Konzeption des rechtlichen Systems bei Savigny wie bei Heck mehr oder weniger bewußt vom Begriff des subjektiven Rechts bzw. der Konfliktentscheidung her erfolgt, nicht zuletzt damit, daß beide das Gespür dafür hatten, daß das eigentliche Ziel der juristischen Arbeit die Entscheidung von Konflikten und damit der Anspruch ist. Nur mit diesem Bezug auf die juristischen Entscheidungen sei letztlich auch der Sinn juristischer Dogmatik gewährleistet. Vgl. Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis, S. 48. 299 So explizit auch Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 53, der Gründe der Praktikabilität als wesentlich für den Gedanken eines Systems ansieht. Zu ihnen gehöre nicht nur das didaktische Interesse, sondern auch das Interesse des Rechtsanwenders an der Übersichtlichkeit und Klarheit der Normen. Kritisch gegenüber einer Orientierung am Anspruch hingegen Schwab, Einführung in das Zivilrecht, Rz. 184; auch Großfeld, JZ 1992, 22 (25). 300 Die Vorgehensweise ist allerdings auch keine andere, wenn das Begehren zunächst noch vom Richter ermittelt werden muß; ausführlicher zum Ganzen Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 48 ff. Ahnlich wie hier setzt auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 281 f., den Prozeß der Rechtsanwendung am Sachverhalt und an der Auswahl der maßgeblichen Rechtssätze an. Der Rechtsanwender probiere gleichsam experimentell die Rechtssätze darauf durch, ob sie sich bei näherem Zusehen als unanwendbar erweisen oder in Betracht kommen. Wenn Larenz von diesem Prozeß als von der Umbildung eines „Roh-
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 123
gehren beschreibt § 194 I BGB, wenn er den Anspruch als das Recht definiert, „von einem anderen ein Tun oder ein Unterlassen zu verlangen". Eine konkretere Auffächerung dessen, was hier mit „Tun" gemeint ist, findet sich dann nicht im BGB, sondern in den besonderen Vorschriften zur Zwangsvollstreckung in den §§ 803 ff. ZPO. Die Zivilprozeßordnung unterscheidet hier die Zwangsvollstrekkung wegen Geldforderungen, die Zwangsvollstreckung zur Erwirkung der Herausgabe von Sachen und die Zwangsvollstreckung zur Erwirkung von (sonstigen) Handlungen und von Duldungen. Hinzu tritt dann schließlich auch die Zwangsvollstreckung zur Erwirkung von Unterlassungen. Diese vollstreckungsrechtliche Unterteilung von Ansprüchen nach ihrem Inhalt lernt der Jurist allerdings erst zu einem verhältnismäßig späten Zeitpunkt der Ausbildung kennen. Das Ordnungsschema, das ihm im Zivilrecht zunächst vermittelt und für seine Prüfungsarbeiten empfohlen wird, besteht hingegen darin, zwischen vertraglichen Ansprüchen, vertragsähnlichen Ansprüchen, Ansprüchen aus Geschäftsführung ohne Auftrag, Ansprüchen aus ungerechtfertigter Bereicherung, deliktischen Ansprüchen und dinglichen Ansprüchen zu unterscheiden - wobei die Reihenfolge dieser Aufzählung freilich zwischen den Universitäten und schon zwischen einzelnen Dozenten variiert. Was unterscheidet beide Ordnungsmuster? Die Unterscheidung nach Anspruchsinhalten dient in der ZPO dazu, sachlich zusammenhängende VollstreckungsVoraussetzungen geschlossen zu erfassen. Indem sich die Ordnung an der Gemeinsamkeit des Anspruchsinhalts in seiner Vollstreckbarkeit orientiert, richtet sich der Blick also gleichsam nur noch auf die Rechtsfolge der Anspruchsnorm. Anders das genannte Ordnungsmuster, wie es dem angehenden Juristen in der Ausbildung entgegentritt. Dieses Schema setzt an der Begründung der Ansprüche an und damit an ihrem Tatbestand.301 Wesentlicher Bezugspunkt dieses Schemas ist die Unterscheidung von (vertraglichen und gesetzlichen) Schuldverhältnissen einerseits und dinglichen Rechten andererseits. Führt man beide Ordnungsmuster zusammen, läßt sich mithin formulieren, daß das Recht, von einem anderen die Zahlung von Geld, die Sachverhalts" zu einem endgültigen Sachverhalt spricht, rückt er den endgültigen Sachverhalt dann allerdings in eine Nähe zum bereits entschiedenen Fall, die den Sinn einer Unterscheidung von Sachverhaltsbildung und Sachverhaltsbeurteilung in Frage stellt. Der endgültige Sachverhalt wird hier gewissermaßen als aufbereitete Einheit begriffen, die noch ihrer abschließenden Beurteilung durch den Rechtsanwender harrt. Wenn Larenz hier ein Stadium der Rechtsfindung ins Auge faßt, in dem es zur endgültigen Beurteilung des Sachverhalts keiner weiteren Rechtssätze bedarf, so ist auf dem Boden des hier vertretenen dreistufigen Modells der Rechtsanwendung mit der Beurteilung der Einschlägigkeit eines letzten Rechtssatzes der Fall aber auch entschieden. Für eine Trennlinie, wie Larenz sie zieht, bleibt also nur Raum, wenn man sie auf einer oberen Abstraktionsebene von Rechtssätzen zieht und nicht alle zur konkreten Fallerörterung heranzuziehenden Rechtssätze (wie Hilfsnormen, Präjudizien etc.) miteinbezieht. Dann ist allerdings genaugenommen weder die Auswahl der Rechtssätze abgeschlossen noch die Bildung des - allenfalls weniger rohen - Sachverhalts endgültig. 301 Zur Auffassung vom Tatbestand als Begründung für die Verhängung der Rechtsfolge eingehender oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 1. b).
1 2 4 2 . Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Herausgabe einer Sache, das Dulden einer Handlung oder das Unterlassen einer Handlung zu verlangen, nur auf ein Schuldverhältnis i.w.S. oder auf ein dingliches Recht gestützt werden kann. Betrachtet man beide Ebenen noch etwas genauer, zeigt sich hingegen, daß einer Ordnung der Anspruchsnormen nach Anspruchsinhalten weitaus weniger Gewicht für das juristische Arbeiten zukommt, als einer Ordnung der Anspruchsnormen nach ihrem Tatbestand. Entsprechend sollen im folgenden ein rechtsfolgenorientiertes System der Anspruchsinhalte (a) von einem tatbestandsorientierten System der Rechtsverhältnisse unterschieden werden (b). Der oben 302 bereits skizzierte Gedanke eines „äußeren Systems" der Ansprüche schließt im Grunde nur noch an eine Ordnung nach Rechtsverhältnissen an (c).
a) Das rechtsfolgenorientierte
System der Anspruchsinhalte
Was zunächst die Ordnung nach Anspruchsinhalten (also nach Rechtsfolgen) betrifft, so ist es für eine umfassende Fallentscheidung sicher unentbehrlich, daß der Rechtsanwender einen Überblick darüber hat, welche Anspruchsgrundlagen des BGB den gewünschten Anspruchsinhalt aufweisen. Der vollstreckungsrechtlichen Unterscheidung von Anspruchsinhalten tritt also eine entsprechende materiellrechtliche Auffächerung gegenüber. Soweit es um die Zahlung einer Geldsumme geht, fragt der Rechtsanwender meist freilich weniger abstrakt nicht nach Geldzahlung, sondern danach, ob die Erfüllung einer vertraglichen Leistungspflicht in Betracht zu ziehen ist (etwa nach § 443 II BGB oder § 535 S. 2 BGB) oder andere Fälle. Unter diesen anderen öffnet sich ihm etwa beim Schadensersatz (stets i.V.m. §§ 249 ff. BGB) zum einen der Horizont der deliktischen Schadensersatzansprüche (insbesondere nach §§ 823 I, 823 II, 826, 831 BGB i.V.m. §§ 249 S. 2, 250 ff. BGB), zum anderen der Bereich der vertraglichen Schadensersatzansprüche (etwa nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 286 I, 280 I, 325 I BGB oder der gesondert geregelten Vorschriften der § 463 S. 1 BGB oder § 635 BGB), wie auch das Gebiet einer Haftung auf Schadensersatz aus culpa in contrahendo, aus positiver Vertragsverletzung oder nach §§ 989 ff. BGB. Denkbar sind aber auch Fälle einer Geldzahlungspflicht aus § 8121 1 1. Alt. BGB (bzw. § 818 II BGB). Wird hingegen dem Ergebnis nach die Herausgabe einer Sache verlangt, so muß der Rechtsanwender mindestens an die Vorschriften des § 985 BGB, an § 812 I 1 1. und 2. Alt. BGB sowie an § 823 BGB i.V.m. § 249 S. 1 BGB denken, möglicherweise auch an § 8611 BGB oder § 1007 I BGB, unter Umständen ferner an die §§ 687 II 1, 681 S. 2, 667 BGB, oder gar einmal an entlegenere Anspruchsnormen wie § 122 I BGB i.V.m. § 249 S. 1 BGB. Was das Erwirken von (sonstigen) Handlungen betrifft, so ist hier vor allem der große Bereich an verbleibenden vertraglichen Hauptleistungspflichten angesprochen. Für das Erwirken eines Duldens wird der Rechtsanwender dann an Vorschrif302 2. Teil, 2. Abschnitt, II. 1.
3. Abschnitt: Wirksam werden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 125
ten wie insbesondere §§ (1192 I,) 1147, 1233 II BGB denken, für das Erwirken eines Unterlassens vor allem an § 1004 I BGB mit seinem kraft analoger Anwendung weit über die Eigentumsstörung hinausreichenden Anwendungsbereich. Beschleicht einen hier aber nicht das flaue Gefühl, daß der Versuch, ein Ordnungsgefüge von Anspruchsnormen nach ihrem Inhalt aufzustellen, mehr Unordnung als Ordnung schafft? Welchem Juristen stehen schon von vornherein alle Anspruchsnormen vor Augen, deren Heranziehung prinzipiell denkbar wäre? Sicherlich wäre es lebensfremd, die lückenlose Ordnung von Anspruchsnormen anhand ihrer Rechtsfolgen als einen abstrakten Kenntnisschatz aufzufassen, der dem Rechtsanwender allgegenwärtig bewußt vor Augen steht. Ein geistiges Abschreiten aller nur denkbaren Anspruchsnormen wäre auch ein langwieriges und völlig unökonomisches Verfahren. Der Rechtsanwender kann also gar nicht darauf verzichten, wesentliche Anregungen für die Frage, welche Anspruchsnormen er abschreitet, bereits aus den Tatsachen des ihm vorgetragenen Falls aufzunehmen, der in ihm die entscheidenden Norm-Assoziationen hervorruft. Das soll die grundsätzliche Bedeutung eines solchen an Rechtsfolgen orientierten Ordnungsschemas andererseits aber nicht in Frage stellen. Auch wenn der Rechtsanwender auf Anregungen angewiesen ist, gelingt ein erster Zugriff auf die Fallösung häufig nur über die Frage, welche Anspruchsnorm ihrer Rechtsfolge nach geeignet ist, das ermittelte Begehren zu gewähren. Unentrinnbare Voraussetzung hierfür ist dann aber die Kenntnis zumindest eines gesicherten Kernbereichs von Anspruchsnormen mit vergleichbarer Rechtsfolge.
b) Das tatbestandsorientierte
System der Rechtsverhältnisse
im BGB
Weshalb hat der Gesetzgeber im BGB dann aber nicht - wie in der ZPO - die Anspruchsnormen von vornherein unter dem Aspekt ihrer Rechtsfolgen angeordnet? Das BGB kennt weder ein „Geldzahlungsrecht", noch ein „Herausgaberecht", ein „sonstiges Handlungsrecht", ein „Duldungsrecht" oder ein „Unterlassungsrecht". Es geht also alles andere als rechtsfolgenorientiert vor, sondern handelt stattdessen, tatbestandsorientiert, miteinander verwandte Problembereiche ab, also etwa die Erfüllungs- und Gewährleistungsrechte beim Kauf, die einzelnen denkbaren Schadensersatzansprüche, die eine unerlaubte Handlung begründen kann u.s.w. Methodologisch betrachtet ist dies freilich alles andere als verwunderlich. Wenn der Tatbestand des Rechtssatzes die Begründung der Rechtsfolge gibt, dann müssen auch die Ähnlichkeiten und die Unterschiede der Rechtssätze nicht an ihren Rechtsfolgen, sondern an ihren jeweiligen Begründungen ansetzen. Besonders deutlich wird dies bei Regelungen, die ein Wahlrecht einräumen, wo also der gleiche Tatbestand unterschiedliche Rechtsfolgen hervorrufen kann. 303 Die Unter303 wie etwa in § 326 I 2 BGB. Hier bewertet der Gesetzgeber bereits den Verzug des Schuldners als eine Pflichtverletzung, die dem Gläubiger sowohl das Recht einräumt, den
2
.
Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Scheidung von Anspruchsnormen und darüber hinaus von Rechtsgebieten nach den jeweils zugrunde liegenden Tatbeständen wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, daß die überwiegende Zahl der Fälle Aspekte mehrerer Rechtsgebiete gleichzeitig aufwirft. Die Unterscheidung der Rechtsgebiete schärft hier im Gegenteil den Blick dafür, die verschiedenen Interessenkonflikte zu unterscheiden, die durch ein einzelnes Geschehen geschaffen werden können. So läßt sich etwa die der Pflichtverletzung eines Vertragspartners zugrunde liegende Handlung nicht selten auch als unerlaubte Handlung im Sinne des Deliktsrechts begreifen. Je nach Ausgestaltung des Lebensverhältnisses beider Parteien ist es dann ebenso denkbar, den Vertragspartner uneingeschränkt als Deliktstäter haften zu lassen, wie auch, den deliktischen Haftungsmaßstab an einen vereinbarten milderen vertraglichen Haftungsmaßstabs anzupassen. Selbst eine solche Anpassung kann nur in eingehender Reflexion der Begründung beider Haftungsmaßstäbe erfolgen. Das gleiche gilt für die Überlegung, für eine präzisere Bestimmung des Inhalts von Sorgfaltspflichten auf das deliktsrechtliche Modell des Güterschutzes zurückzugreifen, womit eine größere Feinzeichnung von Übereinstimmungen und Unterschieden der einzelnen Haftungsordnungen möglich wird. 3 0 4 Die Unterscheidung von Anspruchsnormen nach ihrer Begründung und darauf aufbauend die Unterscheidung einzelner Rechtsgebiete nach Rechtsverhältnissen bleibt mithin selbst - fast ist man geneigt zu sagen: erst recht - in gebietsübergreifenden Fragestellungen bedeutsam. Als die eigentliche große Achse eines tatbestandsorientierten Ordnungsgefüges von Rechtssätzen erweist sich im BGB mithin die Unterscheidung von Schuldrecht und Sachenrecht, und daran anknüpfend von schuldrechtlichen und dinglichen Ansprüchen. 305 Diese Unterscheidung ist alt. Sie knüpft an die bereits in den Institu-
Verzugsschaden zu verlangen, wie die Möglichkeit, durch das Setzen einer Nachfrist den Schuldner der Gefahr auszusetzen, daß das Schuldverhältnis in ein Abwicklungsschuldverhältnis umgewandelt wird, im Rahmen dessen der Gläubiger dann zwischen Schadensersatz wegen Nichterfüllung und Rücktritt vom Vertrag wählen kann. 304 So gibt Schur, Leistung und Sorgfalt, dem Schuldverhältnis einen Ort im Rahmen der durch Vertrag und Delikt konstituierten Haftungsordnung, indem er eine allgemeine Haftungsordnung, die für jedermann gilt und im Deliktsrecht begründet wird, von einer Verhaltensordnung für die Vertragspartner unterscheidet, die sich in eine allgemeine und eine besondere Verhaltensordnung untergliedern läßt (§ 6 II 5). Mit scharfer Kritik am Gedanken der Vermögensverletzung als tauglichem Unterscheidungskriterium für den deliktischen und den vertraglichen Haftungsmaßstab verfolgt Schur dabei die These, daß die Sorgfaltspflichten nicht jedes beliebige Vermögensinteresse schützen (was allenfalls den Leistungspflichten zukomme), sondern daß sich ihr Schutz an konkreten Rechtsgütern orientieren müsse. Ohne Anspruch auf abschließende Typisierung unterscheidet Schur insoweit den Schutz absoluter Rechtsgüter, den Schutz der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit und den Schutz der personalen Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner (§ 6 III und §§7, 8). 305
Vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 70 ff.; ders., Methodenlehre des Zivilrechts, S. 53 ff. Die Besonderheiten des Familienrechts und des Erbrechts sollen hier außer Betracht bleiben. Zu einer damit verbundenen Relativierung der beiden letzten Bücher des BGB für das Anspruchssystem näher Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 70; ders., Methodenlehre des Zivilrechts, S. 56.
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 127
tionen des Gaius getroffene Unterscheidung von res corporalis und res incorporalis an. Unter den res corporalis handelt Gaius die Erwerbsgründe für Eigentum ab, unter res incorporalis die Entstehungsgründe für Obligationen, „deren oberste Einteilung auf zwei Klassen zurückgeführt wird: denn jede Obligation entsteht entweder aus einem Kontrakte oder aus einem Delikte". 306 Dem korrespondiert die von Gaius vorgenommene Einteilung der Klagen in persönliche und dingliche Klagen, in actio in personam und actio in rem: „fragt man, wie viele Gattungen von Klagen es gibt, so gibt es, was das Richtigere zu sein scheint, zwei: dingliche und persönliche. Eine persönliche Klage ist diejenige, mit der wir klagen, so oft wir mit einem uns kontraktlich oder aus Delikt Verpflichteten streiten, d. h. wenn wir ein Geben-, Tun-, Leistenmüssen intendieren. Eine dingliche Klage findet statt, wenn wir entweder intendieren, eine körperliche Sache sei unser, oder es stehe uns irgendein Recht [an der Sache] zu." 3 0 7 Die von Gaius geprägte Unterscheidung hat sich über die Jahrhunderte hinweg erhalten. 308 Der Kern des zivilrechtlichen Anspruchssystems liegt auch heute noch in der Unterscheidung von Schuldrecht und Sachenrecht, 309 auch wenn für die weitere sachliche Einteilung des BGB in einen vorangestellten Allgemeinen Teil und zwei nachgestellte Bücher zum Familienrecht und zum Erbrecht über das römische Recht hinaus dann auch andere Geistesströmungen einflußreich gewesen sind. 310 Der Aufteilung der res in res corporalis und res incorporalis entspricht heute die 306
Gaius, Institutionen, Drittes Buch, § 88 (S. 134 f.). 307 Gaius, Institutionen, Viertes Buch, §§ 1 bis 3 (S. 168). 308 So lehnt sich die entsprechende Formulierung im corpus iuris eng an die Institutionen des Gaius an, vgl. Behrends/Kniitel/Kupisch/Seiler, Corpus Iuris Civilis, Band I, Viertes Buch, Sechster Titel, 1. (S. 228). Auf die weiteren Entwicklungszusammenhänge kann hier nicht weiter eingegangen sein. Mit der Unterscheidung eines ius in rem (Recht an der Sache) und eines ius ad rem (Recht auf die Sache) sieht Kupisch das entscheidende Darstellungsprinzip des justinianischen materiellen Rechts auch im 17. und 18. Jahrhundert aufgegriffen, vgl. ders., in: The Irish Jurist, Volumes XXV-XXVII New Series 1990- 1992, S. 293 (295 f.). Das Pandektensystem knüpft aus seiner Sicht an diese Tradition an, auch wenn es die res als systematischen Oberbegriff aufgegeben hat. So findet sich bei Heise, Grundriss eines Systems des Gemeinen Civilrechts, S. IX f., bereits nahezu die Einteilung des heutigen BGB: „Auf das erste Buch, welches den sogenannten allgemeinen Theil enthält, folgen im speciellen Theile die bekannten vier Haupt-Lehren: dingliche Rechte, Obligationen, Familien-Recht und Erbrecht". 309
Vgl. hierzu Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 70; Schapp, JuS 1992, 537 (542). 310 A. Schwarz, SZ RA 42 (1921), 578 ff., führt sowohl den Gedanken eines Allgemeinen Teils wie auch die Nachstellung von Familienrecht und Erbrecht auf naturrechtliche Lehren unter dem Einfluß von Christian Wolff zurück. Auf diese großen Entwicklungszusammenhänge, die schließlich zur Gliederung des BGB in seine fünf Bücher geführt haben, kann hier jedoch nicht vertieft eingegangen werden. Vgl. hierzu neben A. Schwarz auch Björne, Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert, S. 131 ff., sowie, zur Wirkungsgeschichte der Institutionen, Duhischar, Uber die Grundlagen der schulsystematischen Zweiteilung der Rechte in sogenannte absolute und relative; Flume, SZ RA 79 (1962), 1 ff.; Kupisch, in: Behrends/ Knütel/ Kupisch/ Seiler, Corpus Iuris Civilis, Band I, S. 289 ff.
128
2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Deutung des Verhältnisses dinglicher und schuldrechtlicher Ansprüche im Sinne einer genetischen Verschiedenheit. Auch wenn man beide Arten von Ansprüchen für inhaltlich weitgehend vergleichbar hält, 311 liegen den Tatbeständen ihrer Begründung mit Schuldverhältnis und Eigentum also aus heutiger Sicht unterschiedliche Wertprinzipien zugrunde. 312 Bei den schuldrechtlichen Ansprüchen bewertet der Gesetzgeber einen Fallzusammenhang als Schuldverhältnis, wenn in ihm jemand einem anderen gerade als Person etwas schuldig wird. Die römisch-rechtliche Bezeichnung actio in personam bringt diesen Zusammenhang auf den Begriff. 3 1 3 Die römisch-rechtliche actio in rem richtete sich demgegenüber nicht auf eine durch eine Handlung begründete personale Beziehung zwischen den Parteien, sondern auf die Frage, wem eine Sache gehört. Um es vor dem Hintergrund unserer modernen Sichtweise zu formulieren: wenn mit der Auffassung des Eigentums als eines absoluten Rechts eine Parallele zwischen dem Tatbestandsmodell des § 823 I BGB und dem Eigentumsmodell des § 903 S. 1 BGB gezogen werden kann, so knüpft der Schuldvorwurf im Deliktsrecht an die Rechtsgutsverletzung doch nur an, um die entsprechende Verletzungshandlung als schuldhaft bewerten zu können. 314 Bezugspunkt der juristischen Beurteilung ist also nicht der Verletzungserfolg als solcher, sondern die Schuldhaftigkeit der unerlaubten Handlung. Die tiefere Berechtigung dafür, auch heute noch im Sinne dieser alten römischrechtlichen Tradition zwischen Schuldverhältnis und dinglichem Recht als Quelle von Ansprüchen zu unterscheiden, liegt im Kern also darin, die Unterschiedlichkeit der Bezugspunkte mit aller Schärfe herauszuarbeiten. 315 Die Bedeutung dieser Unterscheidung hat sich auch nicht dadurch nivelliert, daß heute die Anspruchsbeziehung, auch im Fall der Eigentumsstörung, selbst als Rechtsverhältnis begriffen wird. 3 1 6 Die Auffassung von einem Rechtsverhältnis 311
Vgl. die Nachweise bei Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 78. Unter Fortführung der Gedanken Schapps arbeitet Steinbach die Stellung des Eigentumsfreiheitsanspruchs im Anspruchssystem auf der Grundlage einer Unterscheidung von Schuldverhältnis und dinglichem Recht als Wertprinzipien der Anspruchsbegründung heraus, vgl. ders., Der Eigentumsfreiheitsanspruch nach § 1004 im System der Ansprüche zum Schutz des Eigentums, insbesondere S. 128 ff. 313 Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 75. 314 Vgl. Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis, S. 73 f. Zum Begriff der Rechtsgutsverletzung sowie zum Verhältnis von Handlung und Verletzungserfolg vgl. die vermittelnde Position Schapps zur Kontroverse zwischen der Lehre vom Erfolgsunrecht und der Lehre vom Handlungsunrecht, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 205 ff., 226 ff. 315 Zu dieser Einschätzung der Unterscheidung Gaius' zwischen persönlicher und dinglicher Klage vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 56 f.; ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 78. 3 16 Weniger verbreitet ist es hingegen, das Eigentum ebenso wie das Schuldverhältnis i.w.S. als „Quelle" von Ansprüchen aufzufassen. Dem scheint schon entgegenzustehen, daß die zentrale Vorschrift des § 903 S. 1 BGB nicht von Rechtsverhältnissen spricht, sondern mit der Ausschließungsbefugnis den Gedanken der Absolutheit des Eigentums formuliert, der den Eigentümer gerade nicht mit allen anderen verbindet, sondern ihn von allen anderen löst (vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 58). Wenn mit dem Begriff der Befugnis 312
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 129 der Eigentumsstörung ist zunächst einmal lediglich die Konsequenz daraus, daß der Fall der Eigentumsstörung heute - wie jeder andere Fall auch - mit der Kategorie des Anspruchs erfaßt w i r d . 3 1 7 Der Begriff des Rechtsverhältnisses gewinnt hier einen gleichsam instrumentellen Charakter, der auf die Frage nach der inhaltlichen Fundierung von Ansprüchen noch gar keine Antwort geben soll. Schneidet man hinsichtlich des Rechtsverhältnisses eine inhaltliche Perspektive an, so müßte man denn auch zunächst nach der Fundierung eines solchen Denkens in Rechtsverhältnissen fragen. Das Rechtsverhältnis erscheint dann als ein aus moralischen Kategorien heraus entwickelter Begriff, mit dem noch nicht die Frage beantwortet wird, in welchen einzelnen Fällen Rechtsverhältnisse zu statuieren s i n d . 3 1 8 Hier wird vielmehr die Sphäre inhaltlicher Wertprinzipien der Anspruchsbegründung berührt, wie sie nach wie vor i m Schuldverhältnis i.w.S. einerseits und i m Eigentum andererseits zum Ausdruck k o m m e n . 3 1 9
c) Das äußere System der Ansprüche Die Unterscheidung von Schuldverhältnis und Eigentum als zentrale Quellen von Ansprüchen findet ihre Fortführung i m Gedanken eines äußeren Systems der
nun allerdings bereits begrifflich der Andere ins Auge gefaßt ist, demgegenüber eine Befugnis nur sinnvoll ist, so läßt sich die Annahme eines Verhältnisses freilich beim Eigentum ebensowenig von der Hand weisen, wie sich die Bedeutung von Eigentum auch nur in einer Welt des Ichs mit Anderen erschließt. Auch die „Absolutheit" des dinglichen Rechts kann man insoweit bereits als eine bestimmte Perspektive auf die Beurteilung eines Verhältnisses begreifen. So nimmt etwa Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis, S. 94 ff., diese Ausgangsposition zum Anlaß, die Unterscheidung von Schuldverhältnis i.w.S. und i.e.S. auf den abstrakteren Begriff des Rechtsverhältnisses zu übertragen, um sie von hier aus auch für den Gedanken eines Eigentumsverhältnisses fruchtbar zu machen, das nun zur Grundlage für die Gewährung von Ansprüchen im Verhältnis zwischen Eigentümer und Störer wird. Ein anspruchsbegründendes konkretes Störverhältnis i.w.S. läßt sich auf diese Weise sowohl von einem möglicherweise vorgelagerten im Eigentum liegenden allgemeinen Rechtsverhältnis gegenüber jedermann wie von dem nachgelagerten Abwehranspruch als Abwehrverhältnis i.e.S. abgrenzen. 317 Steinbach, Der Eigentumsfreiheitsanspruch nach § 1004 im System der Ansprüche zum Schutz des Eigentums, S. 139. Ausführlich Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis, S. 90 ff. 318 Die Grundlage des heutigen Denkens in Rechtsverhältnissen sieht Schapp in dem aufklärerisch-modernen Bestreben, dem moralischen Gebot der Achtung des anderen rechtliche Wirksamkeit zu verleihen, indem auf seine Verletzung mit der Statuierung von Rechtsverhältnissen reagiert wird. Zum Begriff des Rechtsverhältnisses und seinem Verhältnis zum Prinzip der Privatautonomie vgl. ders., JuS 1992, 537 (544). 319
Zur Anknüpfung des Gesetzgebers an diese beiden Wertprinzipien als Grundlage für seine Entscheidungen vgl. die eingehende Untersuchung Schurs, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis, S. 50 ff. Dem Gedanken eines Schuldverhältnisses i.w.S. wird später mit Blick auf das Bereicherungsrecht noch etwas eingehender nachzugehen sein, unten 3. Teil, 1. Abschnitt, IV. 9 Gödicke
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Ansprüche. 320 Dabei kann es nun freilich nicht der Sinn eines äußeren Anspruchssystems sein, an das je reine Wesen des einen Wertprinzips anzuknüpfen, das die Konfliktentscheidung jeweils allein trägt. Das wird am Beispiel des Eigentums, dessen Charakter als absolutes Recht sowohl für die Gewährung eines deliktischen wie eines dinglichen Anspruchs von jeweils spezifischer Bedeutung ist, deutlich. Der Wert einer solchen Unterscheidung dürfte vielmehr in dem geschilderten Bemühen um eine Abgrenzung verschiedener Gesichtspunkte im Rahmen der juristischen Konfliktbewertung liegen. Wenn man den Gedanken einmal verkürzt ausdrücken möchte, so ist es etwas Unterschiedliches, ob jemand bewußt in die Rechtssphäre eines anderen eindringt, sei es durch Vertragsschluß oder durch unerlaubte Handlung, oder ob jemand bestreitet, überhaupt in einer fremden Rechtssphäre zu agieren. 321 Daß in einer Tiefenschicht des Rechts schließlich dem Eigentum eine Bedeutung auch für die Begründung von schuldrechtlichen Ansprüchen zukommt, soll mit dieser Sichtweise nicht ausgeschlossen sein. 322 Das hat die Jurisprudenz jedoch seit jeher nicht gehindert, trotz dieses Zusammenhangs zwischen schuldrechtlichen und dinglichen Ansprüchen zu unterscheiden. 323 Der Gedanke einer orientierungsstiftenden Abgrenzung kann über die oberste Ebene einer Unterscheidung von Ansprüchen aus dem Eigentum und Ansprüchen aus Schuldverhältnissen hinaus dann aber auch für eine weitere Aufgliederung der schuldrechtlichen und dinglichen Ansprüche herangezogen werden. So lassen sich 320 Damit wird im folgenden an die Überlegungen Schapps angeknüpft, vgl. vor allem ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 70 ff.; ders., JuS 1992, 537 ff.; ders., Methodenlehre des Zivilrechts, S. 38 ff. 321 In Anlehnung an die auf Gaius zurückgehende Tradition sieht Schapp im Anspruch aus § 985 BGB eine in das Gewand eines Anspruchs gekleidete Klage auf Feststellung der dinglichen Rechtslage, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 58. 322 So ist es in dieser Perspektive nicht die dem wirksamen Schuldvertrag entspringende bereicherungsrechtliche causa, sondern die Weggabe des Eigentums, und damit das Eigentum selbst, das den tieferen Grund dafür gibt, weshalb der Eigentümer den an die Stelle des Eigentums tretenden Erlös behalten darf. Mit dem Austauschvertrag erkennt die Rechtsordnung diesen Zusammenhang an, vgl. Schapp, Sachenrecht, Rz. 385; ähnlich ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 170, und zuvor bereits ders., Grundfragen der Rechtsgeschäftslehre, S. 4, 50 ff. Noch weiter gedacht, kann man die Schuldverhältnisse i.w.S. auf dieser Ebene auch unter dem Gesichtspunkt einer Teilung von Eigentum zwischen mehreren Personen begreifen, vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 62 f. Zur Verankerung von Eigentum und Vertrag in der sozialen Wirklichkeit vgl. die Untersuchung Schapps über Eigentum und Vertrag in ders., Sein und Ort der Rechtsgebilde, wo er unter Zugrundelegung der Geschichtenphilosophie W. Schapps die konkreten Rechtsverhältnisse Eigentum und Vertrag als Geschichten auffaßt (S. 53 ff., 115 ff.). 323 So kennzeichnet Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus, § 5 (S. 6), das Recht der Forderungen als ein Recht, das das Verhältnis von zwei Menschen gegeneinander zum Gegenstand hat, „welches sich, wenigstens entfernt, auf Sachen bezieht". Eine historisch angelegte Darstellung zur fundamentalen Bedeutung des Habens im System des bürgerlichen Rechts findet sich bei Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis, S. 85 ff., aus dessen Sicht die vergleichsweise junge Voranstellung des Schuldrechts vor dem Sachenrecht im BGB die elementare Bedeutung des Habens als Grundlage des Bekommensollens nicht in Frage gestellt hat.
3. Abschnitt: Wirksam werden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 131
auf einer ersten Gliederungsebene Schuldverhältnisse i.w.S. in Schuldverhältnisse aus Schuldvertrag, aus unerlaubter Handlung, aus ungerechtfertigter Bereicherung, aus Geschäftsführung ohne Auftrag sowie aus schuldhafter Verletzung von Leistungs- und Sorgfaltspflichten unterscheiden. Auch die Abgrenzungen auf der nächsten Gliederungsebene dienen einer - noch feineren - Orientierung. Hier wird nun differenziert zwischen einzelnen Typen von Schuldverträgen (Kauf, Schenkung, Miete, Leihe, Dienstvertrag, Werkvertrag etc.), von Delikten (in erster Linie Ansprüche aus §§ 823 I, 823 II, 826, 831 BGB), von Bereicherungsansprüchen (in erster Linie Leistungskondiktion und Eingriffskondiktion) sowie von Ansprüchen aus berechtigter und unberechtigter Geschäftsführung ohne Auftrag. Auch bei den dinglichen Ansprüchen wird dieser Gedanke der Abgrenzung wirksam. Im Gesetz selbst wird eine solche Abgrenzung durch das in § 1004 I 1 1. HS. BGB formulierte SpezialitätsVerhältnis des § 985 BGB gegenüber § 1004 BGB zum Ausdruck gebracht. Im Hinblick auf die einzelnen aus dem Eigentum abgespaltenen Befugnisse läßt sich dann aber auch von einem Abgrenzungsverhältnis der beschränkten dinglichen Rechte zueinander sprechen, wie auch, unter erneutem Perspektivenwechsel, von einer Abgrenzung petitorischer und possessorischer Ansprüche. Dem Schwerpunkt nach dürfte sich der Gedanke einer orientierungsstiftenden Abgrenzung allerdings im Schuldrecht entfalten. 324
3. Die Ordnung des Auswählens von Hilfsnormen Erweist sich somit eine Gliederung der Anspruchsnormen entsprechend ihrem Tatbestand als die Basis für ein Auswählen von Anspruchsnormen, so stellt sich nun in zweiter Hinsicht die Frage, welchen Grundsätzen die Ordnung eines Auswählens von Hilfsnormen unterliegt. Wie oben dargestellt, dient die Auswahl von Hilfsnormen dazu, sie zum Zwecke der Spezifikation höhergeordneter Tatbestandsmerkmale einzusetzen. Präziser betrachtet, muß die Auswahl von Hilfsnormen also den Zweck verfolgen, diejenigen Hilfsnormen aufzufinden, deren Rechtsfolge darin besteht, über das Vorliegen des übergeordneten Tatbestandsmerkmals zu entscheiden.325 Die hierbei leitenden Gliederungsgesichtspunkte sind vor allem die Lehre vom Anspruchsaufbau (a), die Einteilung von Hilfsnormen in lebensweltlich zusammengehörige Regelungskomplexe (b) und die Voranstellung allgemeiner Regelungen (c). 3 2 6 324 In seinem Lehrbuch „Grundlagen des bürgerlichen Rechts" bringt Schapp ein solches äußeres System der Ansprüche, durchaus mit dem Schwerpunkt auf die Ansprüche aus Schuldverhältnissen, vor einer Entwicklung der Rechtsgeschäftslehre zur Darstellung, vgl. ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Zweiter Teil (S. 53 ff.). 32 5 Eingehender oben 2. Teil, 2. Abschnitt, II. 2. 326 Zum Gedanken einer Kombination unterschiedlicher Gliederungsgesichtspunkte im BGB vgl. ferner Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 55 ff., sowie die historisch angelegte Ubersicht bei Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 19 ff. (m. w. N.), sowie die Literaturangaben oben (Fn. 310).
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Nehmen wir vorweg ein Beispiel, das in seiner Ausführlichkeit alle drei Gesichtspunkte anspricht. Innerhalb einer Anspruchsprüfung nach § 985 BGB prüft der Rechtsanwender in den meisten Fällen zunächst, ob der Anspruchssteiler Eigentümer der Sache ist. Er muß also Hilfsnormen auffinden, die geeignet sind, über die Eigentümerstellung des Anspruchsstellers zu urteilen. Blicken wir dem Rechtsanwender bei dieser Suche einmal über die Schulter. Meist gar nicht mehr bewußt wird er sich zunächst die Frage stellen, ob der Besitz an einer beweglichen Sache oder an einem Grundstück heraus verlangt wird, weil jeweils höchst unterschiedliche Hilfsnormen über den Eigentumserwerb entscheiden. Handelt es sich um eine bewegliche Sache, ist dann zwischen derivativem (insbesondere §§ 929 ff. BGB) und originärem Eigentumserwerb (insbesondere §§ 946 ff. BGB) zu unterscheiden. Bei derivativem Eigentumserwerb wäre dann erneut nach der Art und Weise zu differenzieren, in der sich die Übergabe der Sache vollzogen haben könnte, während es stets erforderlich bliebe, nach § 929 S. 1, 2. HS. BGB das Vorliegen einer wirksamen Einigung über den Eigentumsübergang zu prüfen. Je nach Modalität der Übergabe findet der Rechtsanwender dann entweder noch im Gesetz selbst die einschlägigen Hilfsnormen (etwa in §§ 868, 870 BGB), oder aber nur noch außerhalb des Gesetzes, indem er - etwa bei einem Besitzwechsel unter Einschaltung von Mittelspersonen - auf eine einschlägige Kommentierung des § 929 S. 1 BGB zurückgreift, um unter Auswertung von Literatur und Rechtsprechung die Frage zu klären, ob im Rahmen des § 929 S. 1 BGB Besitz ζ. B. auch durch Hilfspersonen übertragen werden kann, denen keine der gesetzlichen Besitzpositionen zukommt (wie insbesondere der sogenannten Geheißperson). Ist die Prüfung der letzten Hilfsnorm zum Tatbestandsmerkmal „übergibt" abgeschlossen, verfolgt der Rechtsanwender die Kaskade der Hilfsnormen zurück auf die Ebene des § 929 S. 1 BGB, um von hier aus erneut eine Kaskade von Hilfsnormen hinabzusteigen, mittels derer sich beurteilen läßt, ob das Tatbestandsmerkmal „beide darüber einig sind" i. S. d. § 929 S. 1 BGB vorliegt. Der Rechtsanwender weiß, daß auch das Bestehen eines solchen dinglichen Vertrags das Vorliegen zweier Willenserklärungen erfordert (wie sich zwar nicht unmittelbar aus dem Gesetz, aber doch indirekt insbesondere aus § 151 S. 1 BGB ergibt). Keine der beiden Willenserklärungen darf dann wegen einer anspruchshindernden Einwendung unwirksam sein (also etwa nach § 105 I BGB oder nach § 125 S. 1 BGB). Hat der Rechtsanwender auch diese Voraussetzungen alle abgeschritten, steigt er die von ihm errichtete Kaskade von Hilfsnormen erneut zurück, um schließlich mit § 929 S. 1 BGB auch den fraglichen Eigentumserwerb bejahen oder verneinen zu können. Die denkbaren Variationen, mit denen die Vielzahl von Hilfsnormen zum Einsatz kommen, können hier allenfalls nur angedeutet werden. So erfordert der Eigentumserwerb vom Nichtberechtigten die Heranziehung zusätzlicher Hilfsnormen. Die potentielle Beteiligung einer Mehrzahl von Personen am Eigentumserwerb kann es erforderlich machen, in chronologischer Reihenfolge mehrere Eigentumsprüfungen abzuschreiten (sog. „historische Methode"). Umgekehrt kann die Frage des Eigentumserwerbs auch sehr knapp zu erörtern sein, wenn etwa lediglich ein Eigentumserwerb des Anspruchsstellers durch Erbschaft in Betracht kommt.
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 133
Halten wir an diesem Punkt jedoch inne, um eine Analyse des Beispiels vorzunehmen. Welche Gesichtspunkte lagen also dem Auffinden der einzelnen Hilfsnormen zugrunde?
a) Die Lehre vom Anspruchsaufbau Am Anfang der Prüfung des § 985 BGB stand offenbar die Überlegung, zunächst das Merkmal des Besitzes oder des Eigentums zu prüfen, das Merkmal des mangelnden Rechts zum Besitz nach § 986 I BGB hingegen erst am Ende. Man kann diese Reihenfolge zunächst als logisch bestimmt begreifen, weil ein Recht zum Besitz zu prüfen nur in der Person desjenigen Sinn macht, der überhaupt Besitzer ist. Nähere Ausgestaltung haben diese logischen Gesetzmäßigkeiten dann jedoch in der Lehre vom Anspruchsaufbau erfahren. Indem sie den Anspruch als ein in der Zeit entstehendes, fortbestehendes und untergehendes Gebilde begreift, schafft sie mit einer Zeitachse überhaupt erst den Bezugspunkt, dem gegenüber die Abfolge von Voraussetzungen im einzelnen Logik entfalten kann. Die Lehre vom Anspruchsaufbau ist erneut bedeutsam geworden, um zu prüfen, ob eine wirksame dingliche Einigung nach § 929 S. 1,2. HS. BGB zustandegekommen ist. Das Vorliegen zweier Willenserklärungen als positive Voraussetzung dieser Einigung ist dabei von etwaigen negativen Voraussetzungen wie Geschäftsunfähigkeit oder Formmangel zu unterscheiden gewesen.327 Die Lehre vom Anspruchsaufbau erlaubt es dem Rechtsanwender also, eine Ordnung in die Reihenfolge zu bringen, mit der er einzelne Hilfsnormen auswählt und prüft. Die Lehre vom Anspruchaufbau setzt dabei allerdings bereits voraus, daß der Rechtsanwender in der Lage ist, einzelne Hilfsnormen im Sinne von anspruchsbegründender Voraussetzung, anspruchshindernder Einwendung, anspruchsvernichtender Einwendung und anspruchshemmender Einrede qualifizieren zu können. Das erfordert es mitunter auch, die gleiche Hilfsnorm - je nach dem Ort, an dem sie eingesetzt wird - in unterschiedlicher Weise der Lehre vom Anspruchsaufbau zuzurechnen. So wird § 929 S. 1 BGB im obigen Beispiel zu § 985 BGB als Hilfsnormen zur Prüfung einer anspruchsbegründenden Voraussetzung eingesetzt (nämlich beim Tatbestandsmerkmal „Eigentümer"). Ein anderes Mal kann § 929 S. 1 BGB dann aber auch als Hilfsnorm zur Prüfung einer anspruchsvernichtenden Voraussetzung bedeutsam werden, so etwa bei der Frage, ob gem. § 362 I BGB Erfüllung durch Übereignung des geschuldeten Gegenstandes eingetreten (also beim Tatbestandsmerkmal „die geschuldete Leistung [ . . . ] bewirkt").
327 Von anspruchsbegründenden Voraussetzungen und anspruchshindernden Einwendungen läßt sich auf dieser Ebene freilich nur insoweit sprechen, als ihr Vorliegen schließlich über das Vorliegen des Merkmals Eigentum und damit auch über das Bestehen des Anspruchs entscheidet.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
b) Die Einteilung in lebensweltlich zusammengehörige Regelungskomplexe Indem die Lehre vom Anspruchsaufbau die Reihenfolge einzelner Hilfsnormen reguliert, trifft sie freilich keine Aussagen zu der Frage, welche der vielen Hilfsnormen, die gleichermaßen über eine anspruchsbegründende Voraussetzung oder eine anspruchshindernde Einwendung etc. entscheiden können, im konkreten Fall tatsächlich einschlägig ist. Im obigen Beispiel war dies die Frage nach der Hilfsnorm, die über den Eigentumserwerb entscheidet. Die Unterscheidungen, die hier vorzunehmen waren, kommen durch Gegenüberstellungen wie insbesondere Universalsukzession und singulärer Rechtserwerb, Eigentumserwerb an Grundstücken und Eigentumserwerb an beweglichen Sachen, originärer und derivativer Eigentumserwerb zum Ausdruck. Hier ist also die bereits angedeutete Ebene einer Anregung der Auswahl von Rechtssätzen durch Momente des Tatsachenvortrags angesprochen. Der Rechtsanwender wird sie mal bewußt, mal unbewußt vollziehen. Stets aber schichtet die Entscheidung darüber, welche Hilfsnorm angesichts des Sachverhalts einschlägig erscheint und welche nicht, große Regelungsmassen voneinander ab. Dem versierten Rechtsanwender gelingt es nun in Bruchteilen von Sekunden, den Ort zu bestimmen, an dem er die von ihm auszuwählende Hilfsnorm auffinden wird. So wird mit der Unterscheidung Universalsukzession - singulärer Rechtserwerb nicht das Fünfte, sondern das Dritte Buch als einschlägig befunden. Mit der Unterscheidung Grundstück - bewegliche Sache wird dann das Grundstücksrecht der §§ 873-902, 925-928 BGB liegengelassen und das Mobiliarsachenrecht der §§ 929-984 BGB ins Auge gefaßt. Mit der Unterscheidung originärer Fahrniserwerb - derivativer Fahrniserwerb fällt die Entscheidung dann für die §§ 929-936 BGB (statt etwa für die §§ 937-984 BGB), und mit der Unterscheidung der einzelnen Übergabemodalitäten dann schließlich auch die Entscheidung für die Vorschrift des § 929 S. 1 BGB.
c) Die Voranstellung allgemeiner Regelungen Einen wichtigen weiteren Gliederungsgesichtspunkt bildet dann die Voranstellung allgemeiner Regelungen. Indem insbesondere der Allgemeine Teil Hilfsnormen für die in den weiteren Büchern inhaltlich ausgefüllten Rechtsgeschäfte auf einer sehr hohen Abstraktionsstufe formuliert, ist es dem Rechtsanwender möglich, die Einigung über den Eigentumsübergang nach § 929 S. 1,2. HS. BGB zunächst einmal ebenso als Vertrag im Sinne des Allgemeinen Teils zu deuten wie etwa den Kaufvertrag, und daher auch sein Zustandekommen prinzipiell nach den gleichen Voraussetzungen zu prüfen. Die Abstufung von Regelungsorten unter dem Gesichtspunkt ihres Allgemeinheitsgrades durchzieht dann aber nicht nur das Verhältnis des Ersten Buchs des BGB zu seinen vier weiteren, sondern, wie auch der Begriff der lex specialis verdeutlicht, sämtliche Regelungsgebiete des BGB. Man
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 135
kann sie daher mit einiger Berechtigung als den zentralen formalen Gliederungsaspekt des BGB auffassen. 328 Im Schuldrecht wird diese Technik etwa in der Einteilung in Allgemeines und Besonderes Schuldrecht erkennbar, aber auch anhand des Verhältnisses vieler Einzelregelungen, deren Gliederung in allgemeine und besondere beim Kauf sogar Eingang in das Gesetz gefunden hat (Siebenter Abschnitt, Erster Titel, I.-III). In einer weiter ausgreifenden Dimension kann man in der Voranstellung des Kaufvertrags in §§ 433 ff. BGB vor den weiteren Schuldvertragstypen dann seinerseits eine Allgemeinheitsabstufung erkennen, indem der Kauf geradezu modellhaft den Schuldvertrag verkörpert, von dem die einzelnen Schuldvertragstypen dann nur noch in Einzelpunkten abweichen.329 Das hier zugrunde liegende Denken nach Allgemeinheitsabstufungen prägt den Juristen vom Beginn seiner Ausbildung an ebenso, wie es seit langem die Gesetzesentwürfe, vor allem auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts, beherrscht. Auf der Ebene der Rechtsbegriffe schlägt sich diese Ordnung nach Allgemeinheitsgraden im Gedanken des Oberbegriffs nieder. Der Allgemeinheitsgrad wird hier durch die Abstraktionshöhe des Begriffs erreicht, der es erlaubt, größere Areale der Lebenswelt in einem für die Konfliktbewertung zunächst gleichen Ausgangspunkt zu erfassen. Mit den Begriffen wird damit nicht das Anliegen verfolgt, eine möglichst naturgetreue Abbildung der Lebenswelt zu zeichnen. Vielmehr wird mit ihrer Hilfe die Lebenswirklichkeit für die Konfliktbewertung verfügbar gemacht, indem zentrale Begründungs- und Wertmomente des Konflikts auf den Begriff gebracht werden (wie Vertrag, Anerkenntnis, Erfüllung, Störung u.s.w.). Zugleich ermöglicht es dieser Abstraktionsgrad dem Recht aber auch erst, gegenüber den Wandlungen der Lebenswirklichkeit relativ indifferent zu bleiben. 330 Damit kann über das im Gesetz angelegte System der Rechtssätze hinaus auch auf einer Ebene der Begriffe zu einer Konstanz des Rechtssystems beigetragen werden, was es zugleich erforderlich macht, bei der Herausbildung neuer Rechtsbegriffe und bei der Übernahme von Begriffen in die Jurisprudenz äußerst behutsam vorzugehen. 331 328 Das Vor-die-Klammer-Ziehen der allgemeinen Vorschriften ist nach Auffassung Schapps jedenfalls für die ersten drei Bücher des BGB das durchgehend beherrschende Prinzip, vgl. ders., Methodenlehre des Zivilrechts, S. 46. 329 Indem man den entscheidenden Unterschied der Schenkung etwa vor allem in der Unentgeltlichkeit festmacht oder jenen zum Mietvertrag in der Dauerhaftigkeit der Überlassung. Vgl. zu einer solchen Betrachtung ausführlicher Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 127 ff., 143 ff. 330 So die Überlegungen Schurs, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis, S. 122 f., unter Rückgriff auf die Überlegungen von Nierwetberg, Rechtswissenschaftlicher Begriff und soziale Wirklichkeit, S. 172 ff. 33 1 Zu welchen Problemen es führen kann, wenn ein Begriff weitgehend unreflektiert in der dogmatischen Diskussion verwendet wird, zeigen etwa die Begriffe des „Heilversuchs" oder des „Humanexperiments" im Bereich der klinischen Prüfung. Dem allgemeinen Sprachgebrauch nach stehen die Worte ,Versuch' und ,Experiment' zunächst für Einzelmaßnahmen, auch wenn ihre Ergebnisse erst in einem Vergleich mit anderen bedeutsam werden mögen. Das führt gelegentlich zu dem Mißverständnis, daß auch ärztliche Einzelmaßnahmen den Anforderungen der §§ 40, 41 AMG gerecht werden müssen. Das war aber gerade nicht die
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
4. Das Entgleiten einer Ordnungskraft der Dogmatik beim Auswählen außergesetzlicher Hilfsnormen Die bisherigen Beobachtungen haben sich noch weitgehend an den vom Gesetz zur Verfügung gestellten oder doch wenigstens in ihm zum Ausdruck kommenden Gliederungsgesichtspunkten orientiert. Muß die ordnende Kraft dieser vom Gesetz aufgegriffenen und durch die Dogmatik fortentwickelten Ordnungsgesichtspunkte aber nicht zunehmend schwinden, je mehr der Rechtsanwender sich gezwungen sieht, auf Hilfsnormen zurückzugreifen, die nicht mehr durch das Gesetz, sondern nur noch seitens der Rechtswissenschaft oder Rechtsprechung aufgestellt werden? Wovon läßt sich die Rechtsanwendung hier noch leiten? Setzen wir hierzu noch einmal an unserem Beispiel der Anspruchsprüfung nach § 985 BGB an. Wovon läßt sich der Rechtsanwender leiten, wenn er zu beurteilen hat, ob eine Übergabe i. S. d. § 929 S. 1, 1. HS. BGB auch unter Einschaltung von Mittelspersonen Rechtswirkung herbeiführen kann? Er wird zu dieser Frage zunächst überhaupt nur gelangen, wenn sich zuvor die Übergabe in Form einer Einräumung mittelbaren Besitzes nach § 930 BGB oder einer Abtretung eines Herausgabeanspruchs nach § 931 BGB als nicht einschlägig erwiesen hat. Es liegt dann nahe, zu erwägen, ob die eingeschalteten Mittelspersonen möglicherweise Besitzdiener (§ 855 BGB) oder Besitzmittler (§ 868 BGB) der an der Veräußerung beteiligten Personen sind. Ist beides nicht der Fall, ist im Wege einer Auslegung von § 929 S. 1 BGB zu ermitteln, ob eine Übergabe auch in der Weise stattfinden kann, daß Personen, die weder in einem sozialen Abhängigkeitsverhältnis (§ 855 BGB) noch in einem auch nur noch geachteten Rechtsverhältnis der in § 868 BGB genannten Art zu der veranlassenden Person stehen, gleichwohl der Bitte nachkommen, den Besitz für die veranlassende Person zu übergeben bzw. in Empfang zu nehmen. Der Rechtsanwender sieht sich nun auf Kommentare, Schrifttum und Rechtsprechung zu diesem Fragenkreis verwiesen. Je nachdem, wie konkret ihm die problematische Frage vor Augen steht - ob er mit anderen Worten das einschlägige Stichwort „Geheißerwerb" kennt oder nicht - , wird er nun eine Kommentierung zu der auszulegenden Vorschrift oder ein Lehrbuch heranziehen. In den Kommentaren trifft er dann auf eine in sich wiederum weitgehend geordnete Darstellung aller Auslegungsfragen, die sich üblicherweise bei der Anwendung dieser Norm stellen. Diese Gliederung orientiert sich meist am Satzgefüge der auszulegenden Vorschrift, den einzelnen Satzteilen und schließlich den einzelnen Wörtern, die die Tatbestandsmerkmale des Gesetzes bilden. Die Gliederung zu § 929 BGB lautet demnach etwa, um zunächst auf die geraffte Kommentierung im Palandt zu blicken: 1. Allgemeines, 2. Einigung, 3. Übergabe, 4. Einigung ausreichend, 5. Stellvertretung, 6. Eigentums vorbehält Absicht des Gesetzgebers, der denn auch gut daran tat, beide Begriffe in der gesetzlichen Regelung nicht zu verwenden. Vgl. hierzu Habermann/Lasch/Gödicke, NJW 2000, 3389 (3390 f.). Zur Konstanz als einem Wesensmerkmal eines verläßlichen Rechtssystems vgl. bereits oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 1.
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und Anwartschaftsrecht. Die hier interessierende Ubergabe wird dort weiter untergliedert nach a) Allgemeine Voraussetzungen, b) Einzelfälle, c) Geheißerwerb, d) Strecken- / Kettengeschäft, e) Traditionspapiere, Lieferschein. Geht man zu der Punkt c) zugeordneten Randziffer, so findet sich schließlich eine letzte Aufgliederung in aa) auf Veräußererseite, bb) auf Erwerberseite, cc) auf Veräußererund Erwerberseite. Während unter aa) und bb) zunächst klargestellt wird, daß hier Ubergabe bzw. Entgegennahme auf Geheiß des Veräußerers bzw. des Erwerbers durch einen Dritten erfolgen, der nicht Besitzmittler ist, heißt es unter cc) dann lapidar: „können zustreffen (BGH NJW 99, 425)". 3 3 2 Häufig ist dem Rechtsanwender hiermit schon geholfen. Er weiß, daß die Einschaltung eines Dritten bei der Übergabe auch dann noch als von der Vorschrift des § 929 S. 1, 1. HS. BGB gedeckt begriffen werden kann, wenn der Dritte nicht Besitzmittler ist, und daß insoweit Bassenge und der BGH, also „Literatur und Rechtsprechung gleichermaßen" einer Auffassung sind. Dieser Konsens beider Hauptdisziplinen der Jurisprudenz macht im Kern die Verbindlichkeit aus, auf die er seine Auslegung nun stützen wird. Näher noch könnte man sagen, die Verbindlichkeit begründet sich in der Vermutung, daß sich die vorgebrachten Argumente für alle Beteiligten als überzeugend erwiesen haben oder, zynisch formuliert, in der Überlegung, daß es sich mangels naheliegender Einwände praktisch nicht lohnen wird, gegen die höchstrichterliche Rechtsprechung zu entscheiden. Bleiben hingegen Zweifel, etwa, ob an dieser Stelle mit Geheißperson möglicherweise doch nur der Besitzdiener gemeint ist, wird man einen weiteren, meist nun ausführlicheren Kommentar zu Rate ziehen. Blickt man dazu etwa in den Münchener Kommentar zu § 929 BGB, so trifft man schon angesichts der ausgedehnteren Gliederung auf eine differenziertere Darstellung. So wird auf einer obersten Ebene dreifach unterschieden zwischen Normzweck und Bedeutung, Satz 1, Satz 2 von § 929 BGB. Unter dem hier interessierenden Satz 1 erfolgt sodann eine weitere Untergliederung nach I. Die Einigung, II. Verfügungsberechtigung des Veräußerers, III. Übergabe, IV. Rechtsfolge, V. Prozessuales, Beweislast. Erst auf einer zwei Stufen tiefer gelagerten Gliederungsebene wird man schließlich fündig: 6. Einzelfälle zur Übergabe, b) Übergabe bei Geheißerwerb. Hier wird dann deutlich gesagt, daß nur solche Fallgestaltungen damit gemeint sind, die auf Erwerber- oder Veräußererseite die Einschaltung von solchen Dritten betreffen, die ohne Besitzbeziehung zu Erwerber oder Veräußerer stehen.333 Auf Veräußererseite wird dann „die bloße Möglichkeit zur Disposition über die Verfügungen eines Dritten (sog. „Unterwerfungsmacht")" für ausreichend gehalten. Vor allem sei es nicht zutreffend, daß stets ein Besitzverhältnis des Veräußerers zu dem den Besitz übertragenden Besitzer gegeben sein müsse. Kurzum heißt es in einer Fußnote: „AA aber unzutreffend BGH ZIP 1993, 98; s. hierzu auch
332 Palandt-Bassenge, § 929 Rz. 17 ff. 333 MüKo-Quack, §929Rz.l41.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Hager, ZIP 1994, 1446". 334 Streitig und fraglich ist dann schließlich allein, so Quack , „ob die äußere Möglichkeit der Besitzverschaffung ausreicht, also die Möglichkeit, den Dispositionserfolg zu erreichen, oder ob die Besitzverschaffung wirklich auf der Disposition des Veräußerers beruhen muß, also die Dispositionsmacht tatsächlich gegeben sein muß. Das letztere ist der Fall. Der finale Bezug zwischen Disposition und Besitzerwerb ist überhaupt nur vorstellbar, wenn eben nicht nur die äußere Möglichkeit, sondern auch die tatsächliche Dispositionsmacht des Veräußerers verlangt wird." 3 3 5 Will man nun wissen, warum diese Dispositionsmacht etwas so Entscheidendes ist, daß man sie in der Fallösung über den Gesetzeswortlaut hinaus berücksichtigen soll, blättert man zurück in das Register und wird unter III. 5. fündig: „Disposition des Veräußerers". Noch unter 4. liest man dann zur „Veräußerung als beiderseitiges Motiv", daß der Besitzerwerb gerade durch die Veräußerung motiviert sein muß und daß die Verwirklichung anderer Zielsetzungen für den Besitzerwerb nicht ausreicht. Diese Anforderung bestünde deshalb, weil die Elemente des Rechtsgeschäfts „Übertragung des Eigentums" einen von den Beteiligten geschaffenen Bezug haben müßten und nicht isoliert nebeneinander stehen könnten. 336 Die Übertragung zum Zwecke der Eigentumsübertragung verbindet beide Tatbestandsmerkmale also, um die Rechtsfolge des Eigentumserwerbs auszulösen. Das leuchtet, zumal angesichts des Traditionsprinzips, ein. An diesem Einleuchten kann dann auch der Standpunkt teilhaben, daß die bloße faktische Möglichkeit der Besitz Verschaffung nicht ausreicht. Was bedeutet aber „Macht" über die Disposition? Ist hierzu ζ. B. Geschäftsfähigkeit von Veranlassendem und Geheißperson erforderlich oder umgekehrt entbehrlich, worauf es je nach Fallgestaltung zusätzlich ankommen kann? Hierzu findet sich im Münchener Kommentar keine weitere Stellungnahme. Im Stichwortregister des Staudingers findet sich dort dann in der Tat das Stichwort Geschäftsfähigkeit, das allerdings leider nur auf die Einigung abzielt. 337 Unter dem Stichwort Geheißerwerb findet man zunächst Erörterungen, daß der Geheißerwerb schon seit langer Zeit akzeptiert ist, was einen zwar beiläufig in den eigenen Erwägungen bestärkt, aber wiederum keine Aussage zur Geschäftsfähigkeit. 338 Blickt man daher auf die allgemeinen Ausführungen zur Übergabe, so findet man nun zwar nicht an Ort und Stelle im Staudinger, aber doch wieder im Münchener Kommentar den Hinweis, den man gesucht hatte: Der Besitzerwerb bei der Übergabe sei in der Regel Realakt, also kein Rechtsgeschäft, und erfordere daher keine Geschäftsfähigkeit, sondern nur den natürlichen Übertragungswillen. Anderes gelte bei § 854 II BGB. 3 3 9 Hier ist nun allmählich der Punkt erreicht, an dem man den Eindruck ge334 335 336 337 338 339
MüKo-Quack, § 929 Rz. 143 f. MüKo-Quack, § 929 Rz. 145. MüKo-Quack, § 929 Rz. 124 f. Staudinger-Wiegand, § 929 Rz. 13. Staudinger-Wiegand, § 929 Rz. 50. MüKo-Quack, § 929 Rz. 118.
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winnt, hinlänglich informiert zu sein. Nun läßt sich innerlich in etwa die Hilfsnorm formulieren: „Die Einschaltung Dritter, die weder Besitzmittler noch Besitzdiener sind, bewirkt ebenfalls den Eigentumswechsel vom Veräußerer auf den Erwerber, wenn der Besitzwechsel auf einer Disposition des Veräußerers beruht, wobei auf Seiten des Veräußerers wie auf Seiten der Geheißperson allerdings die Fähigkeit, einen natürlichen Willen zu bilden, vorhanden sein muß." Es ist dieser Satz, von dem man unterschwellig gehofft hatte, ihn in ähnlicher Formulierung in einem Kommentar, einem Lehrbuch, einem Aufsatz oder einem Urteil anzutreffen. Der Sorge, ob der Wille zur Unterordnung unter ein Geheiß vielleicht nicht doch mehr ist als ein bloßer natürlicher Wille, also zumindest ein rechtsgeschäftsähnlicher Wille, wird man dann erst weiter nachgehen, wenn man ernsthaft Veranlassung dazu sieht. Ist dies nicht der Fall, sieht sich der Rechtsanwender hingegen allmählich gezwungen, eine Schlußlinie zu ziehen, um nicht fruchtlos in die Tiefen abzustürzen, die sich bei näherer Betrachtung nahezu bei jeder Auslegungsfrage auftun. Zeigt das Beispiel nun aber nicht, daß der Begriff der Auswahl als Leitgedanke der Rechtsfindung schnell überfordert ist? Wird mit diesem Begriff nicht die stetige Präsenz von Alternativen der Auslegung suggeriert, die, je tiefer man dringt, zunehmend zur Illusion wird? In der Tat kann die Ordnungskraft der Dogmatik, wie sie vorstehend für das Auswählen von Anspruchsnormen und Hilfsnormen entwickelt wurde, nur sinken, je mehr die Rechtsanwendung den gesetzlich vorgegebenen Rahmen verlassen muß. Soweit häufig allenfalls noch die gewünschte Rechtsfolge, selten hingegen ihre Begründung offen liegt, ist der Begriff einer Auswahl von Hilfsnormen auf dieser Ebene auch allmählich überfordert und schließlich gar unpassend. Zwar mag der Rechtsanwender zu guter letzt auch hier zwischen einzelnen Begründungen wählen. Häufig werden sich diese Begründungen jedoch ihrerseits nur mühsam von vornherein klar abgrenzen lassen, so daß der Rechtsanwender in den Prozeß der Begründung sehr viel tiefer verstrickt ist, als mit dem Aspekt einer Wahl noch zum Ausdruck gebracht werden könnte. In zunehmendem Maße muß er die Formulierung einer Hilfsnorm selbst gedanklich vollziehen, um sie auf ihre Eignung hin zu überprüfen. Damit gewinnt auch zunehmend die Frage an Bedeutung, von wie vielen Seiten die gleiche Auffassung vertreten wird, ob man mit den Namen gute oder schlechte Erinnerungen verbindet, ob es sich gar um eine gefestigte Meinung handelt und ob Rechtswissenschaft und Rechtsprechung konform gehen oder nicht. Dann handelt es sich aber kaum noch um ein Auswählen von Rechtssätzen, als vielmehr um ein Qualifizieren einzelner Auslegungsvorschläge. Im Extremfall ist der Gegenstand des Auswählens also gar nicht vorhanden, sondern muß erst noch entwickelt werden. Dann kann die Bedeutung der Dogmatik hier aber auch nicht mehr darin liegen, ein Ordnungsgefüge für bestehende Rechtssätze zur Verfügung zu stellen, um so deren Auffinden und Anwendung zu erleichtern. Mit zunehmend sinkender Abstraktionsstufe und einem wachsenden Spektrum unterschiedlicher Ansätze ver-
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
blaßt die Bedeutung eines Ordnungsgefüges im Gegenteil mehr und mehr. Mit der Dogmatik wird hier daher ein Bereich ins Auge gefaßt, in dem es nicht mehr um die Ordnung von Rechtssätzen geht, sondern um die Erarbeitung und Qualifizierung von einzelnen Auslegungsvorschlägen, auf die der Rechtsanwender bei der Auslegung eines Rechtssatzes zurückgreifen kann. Methodisch betrachtet setzt die Dogmatik hier also nicht mehr beim Auswählen, sondern beim Verstehen des Rechtssatzes an.
I I . Die Bedeutung der Dogmatik für das Verstehen der Rechtssätze Für das Verstehen des Rechtssatzes kommt dem Einsatz von Falltypen und Hilfsnormen eine Schlüsselrolle zu. Wie bereits angedeutet, liegt diesem Verstehen kein passiver Erkenntnisprozeß zugrunde. Bereits für den einzelnen Rechtsanwender ist das Verstehen von Rechtssätzen vielmehr mit der Herausbildung von Rechtssätzen verbunden (1.). Die Vorgehensweise der Dogmatik unterscheidet sich mithin weniger in ihrer Technik von der des Rechtsanwenders, als darin, daß die einzelnen Beteiligten eine ganze Vielzahl von Auslegungsvorschlägen ins Feld führen, mit ihrer Veröffentlichung in Aufsätzen, Monographien oder Urteilen aber auch der künftigen Diskussion zur Verfügung stellen, während dem Rechtsanwender im Normalfall diese Ebene abgeschnitten ist. Damit tritt die Technik der Herausbildung von Rechtssätzen bei der Dogmatik aber auch noch schärfer hervor. Der entscheidende Aspekt liegt dabei darin, Ahnlichkeitsbeziehungen zwischen Fällen herzustellen, um im Wege einer Abstraktion zunächst zu Falltypen und später dann auch zu Hilfsnormen zu gelangen (2.).
1. Die in der Rechtsfindung zum Einsatz kommenden Techniken des Verstehens Gegenstand des Verstehens von Rechtssätzen ist die Begründung für das Verhängen der Rechtsfolge im Tatbestand des Rechtssatzes.340 Die beiden entscheidenden Techniken zum Verstehen dieser Begründung liegen darin, entweder die einzelnen Tatbestandsmerkmale durch Hilfsnormen zu spezifizieren (in denen das Tatbestandsmerkmal der zu spezifizierenden Norm zur Rechtsfolge wird), oder Tatbestandsmerkmale durch ein Abwägen von Gründen mit Sinn zu füllen (so insbesondere bei Generalklauseln und darüber hinaus bei jedem ausfüllungsbedürftigen Tatbestandsmerkmal). Diese Konkretisierung kann dann ihrerseits in eine Hilfsnorm münden, unter die nun subsumiert werden kann. Ist die Formulierung des Abwägungsergebnisses als Satz hingegen (noch) nicht möglich, so wird das Abwägungs340 Vgl. oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 1. b).
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ergebnis in diesem Einzelfall möglicherweise aber gleichwohl in der Zukunft herangezogen, um ähnliche Fälle im gleichen Sinne zu entscheiden. Einen verbreiteten Sprachgebrauch aufgreifend, soll insoweit noch nicht von einer Hilfsnorm, sondern nur von einem Falltyp gesprochen werden. Die These, daß das Verstehen des Rechtssatzes sich im wesentlichen über diese beiden idealtypisch getrennten Ebenen von Hilfsnorm und Falltyp vollzieht, soll im folgenden zunächst etwas näher präzisiert werden (a). Anhand der Auslegung (oder dem Verstehen) des Tatbestandsmerkmals „etwas" i. S. d. § 812 I 1 BGB soll anschließend aber auch versucht werden, sie an einem Beispiel zu verifizieren (b).
a) Die zentrale Bedeutung der Einbeziehung von Falltypen und Hilfsnormen Im Sinne der Methodenlehre des Zivilrechts handelt es sich bei der Frage nach einer Spezifikation von Tatbestandsmerkmalen um die Techniken, die dem Herstellen eines vertikalen Verbundes von Hilfsnormen im Rahmen der Anspruchsprüfung zugrunde liegen. Für die Herstellung eines horizontalen Verbundes von Hilfsnormen stellt hingegen die Lehre vom Anspruchsaufbau die entscheidende Technik dar, die es erlaubt, die Hilfsnormen ihrer Art nach in eine Ordnung zu bringen. 341 In der traditionellen methodologischen Literatur werden beide Techniken nun allerdings kaum eingehender thematisiert. Fachlich nicht auf ein Rechtsgebiet begrenzt, überläßt es die Methodenlehre mithin den einzelnen Darstellungen zum materiellen Recht, Leitlinien vor allem für den vertikalen Verbund von Hilfsnormen, also die Spezifikation von Tatbestandsmerkmalen durch Hilfsnormen, vorzutragen. 342 Innerhalb dieser Darstellungen macht die Ebene der Spezifikation durch Hilfsnormen der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung dann meist allerdings bereits auf einer mittleren Abstraktionsebene halt, um nun, gewissermaßen „von unten", den Sinn des Rechtssatzes anhand von Schulbeispielen zu vermitteln, durch die sich die Anwendung des Rechtssatzes simulieren läßt. Legt dies aber nicht nahe, daß eine Theorie der Spezifikation von Tatbestandsmerkmalen auch gar nicht möglich ist, sondern sich in diesem lockeren Zusammenspiel von Hilfsnormen und Falltypen erschöpft? Mit durchaus skeptischer Grundhaltung und unter Verzicht auf den Anspruch, damit bereits einer vertikalen Verknüpfung von Rechtssätzen als methodologischer Institution ausreichende Kontur zu geben, arbeitet Schapp drei Typen der Spezifikation heraus, denen aus seiner Sicht zumindest didaktisch ein gewisser Wert zukommt. 343 Als ein erster Typ wird dabei die Spezifikation durch einen erläuternden Rechtssatz begriffen, an den sich eine Spezifizierung durch Falltypen anschließt. 341 342 343
Vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 44 ff. Vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 45. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 80 ff.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
So paraphrasiere die Definition „jeder Vermögenswerte Vorteil·' das Tatbestandsmerkmal „etwas erlangt" i. S. d. § 812 I 1 1. Alt. BGB. Falltypen für derartige Vermögenswerte Vorteile seien dann Eigentum an Sachen, Ansprüche, beschränkte dingliche Rechte u.s.w., so daß im Fallaufbau nun die dem Erwerb dieser Vermögenspositionen dienenden Hilfsnormen ihrerseits zu prüfen sind (und als Rechtssätze ihrerseits verstanden sein wollen). In der Ergänzung dieser Falltypen liegt dann die wesentliche Bedeutung der Rechtsprechung. 344 Einen weiteren Typ der Spezifikation erblickt Schapp dann in der Spezifizierung durch einen Begriff höherer Allgemeinheitsstufe, wie er etwa eingesetzt werde, wenn im Rahmen des Tatbestandsmerkmals ,Kaufvertrag' auf die Hilfsnormen der Rechtsgeschäftslehre über das Zustandekommen von Verträgen zurückgegriffen wird. Einen dritten Typ bildet für ihn schließlich die „Veräußererkette", also die ,historische Methode', zur Beurteilung der Eigentumslage die Erwerbsvorgänge bis zu einer Person zurückzuverfolgen, deren Rechtsinhaberschaft unstreitig ist. 3 4 5 Unsere These geht nun dahin, daß die Spezifikation durch Hilfsnormen und Falltypen das eigentliche Herzstück des Verstehens von Rechtssätzen bildet. Die beiden anderen Typen gehören im Kern nicht der Sphäre eines Verstehens von Rechtssätzen an, sondern der vorgelagerten Sphäre eines Auswählens von Rechtssätzen. So bringt der zweite Spezifikationstyp eines Rückgriffs auf Begriffe höherer Allgemeinheitsstufe das Gliederungsprinzip einer Voranstellung allgemeiner Regelungen zum Ausdruck und damit einen Ordnungsgesichtspunkt für das Auswählen von Rechtssätzen, dem oben gleichwertig eine Ordnung von Hilfsnormen nach lebensweltlich zusammengehörigen Regelungskomplexen gegenübergestellt wurde. 3 4 6 Der dritte Typ der Veräußerungskette ist hingegen deutlich der Lehre vom Anspruchsaufbau verpflichtet. 347 Es ist das - nun freilich im gleichen Tatbestandsmerkmal zum Ausdruck kommende - dialektische Verhältnis von Norm und Gegennorm, das den Rechtsanwender jetzt veranlaßt, Erwerb und Verlust von Rechtspositionen in mehrfacher Wiederholung zu prüfen. Am deutlichsten dem Verstehen zuzuschlagen ist daher erst der dritte Typ einer Spezifikation durch einen erläuternden Rechtssatz und durch Falltypen. Der Gedanke einer Auswahl führt hier wegen zunehmender Ermangelung von Alternativen bald nicht mehr weiter. Die Spezifikation durch Hilfsnormen und Falltypen der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung wird also in dem Moment bedeutsam, in dem man, salopp ausgedrückt, nicht mehr im Gesetz blättert, sondern im Kommentar oder in der Rechtsprechung. 348 Diese Nähe zum Fallgeschehen ermöglicht es dann auch erst, im Auftreten neuer lebensweltlicher Fallkonstellationen das entscheidende Potential für die (Fort-) Entwicklung von Rechtssätzen zu erkennen. 344 Vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 81 f. 345 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 82 f. 346 Vgl. oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 3. c), b). 347 Hierzu oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 3. a). 348 Vgl. zu diesem Entgleiten einer Ordnungskraft der Dogmatik näher oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 4.
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b) Das Verstehen des Tatbestandsmerkmals, demonstriert am Beispiel des erlangten „ etwas " L S. d. §81211 BGB Versuchen wir, diese These an einem Beispiel zu verifizieren. Die Frage, was „etwas erlangt" i. S. d. § 812 I 1 BGB bedeuten mag, muß im Anfang am Satzgefüge des § 812 1 1 BGB ansetzen. Abgekürzt steht dort zunächst der Satz „Wer etwas erlangt, ist zur Herausgabe verpflichtet". Dieser Satz schreit förmlich nach einschränkenden Bedingungen, unter denen die hiermit ausgesprochene Herausgabepflicht sinnvollerweise nur bestehen kann. Welche dies im einzelnen sind, ist dann Gegenstand des Satzteils „ohne rechtlichen Grund" und näher „durch die Leistung eines anderen oder auf sonstige Weise auf dessen Kosten". Gerade weil diese Satzteile bedeutsame Einschränkungen der Herausgabepflicht begründen, liegt zunächst einmal die Vermutung nahe, daß umgekehrt die Worte „etwas erlangt" durchaus in einem weiten Sinne verstanden werden können. Der angehende Jurist lernt hierzu bald die auf den ersten Blick wenig erhellende Definition „jeder Vermögenswerte Vorteil". Als Hilfsnorm ließe sich etwa der in Gutachten häufig anzutreffende Satz formulieren: „Erlangtes ,etwas' i. S. d. § 812 I 1 BGB ist jeder Vermögenswerte Vorteil." Das Tatbestandsmerkmal dieser Hilfsnorm, „jeder Vermögenswerte Vorteil", bedarf nun der weiteren Präzisierung. Hier bieten sich vorwiegend zwei Wege an. Um das in dieser Definition gemeinte weite Spektrum an Rechtspositionen aufzuzeigen, lassen sich zunächst schulbeispielhaft die Rechtspositionen anführen, die als Vermögenswerte Vorteile im Sinne des Bereicherungsrechts mittlerweile anerkannt sind. Das gilt etwa für die Innehabung von Eigentum, von einem beschränkten dinglichen Recht an einer Sache oder von einer Forderung, aber auch für den Besitz an einer Sache sowie schließlich auch - das ist freilich schon nicht mehr unproblematisch - für das Erlangen von Diensten. Diese Vorgehens weise hilft aber nicht weiter, wenn keine dieser Konstellationen einschlägig ist, etwa dann, wenn zu entscheiden ist, ob eine Firma einer bekannten Persönlichkeit einen Geldbetrag dafür zahlen muß, daß sie ohne deren Einverständnis ihr Photo in Werbeanzeigen verwendet hat. Dann ist es ratsam, innerhalb der Rechtsprechung nach entsprechenden Präjudizien zu suchen, mittels derer ähnliche Fallkonstellationen bereits einmal entschieden wurden. In einem entsprechenden Urteil stufte der BGH hier als das vom Beklagten erlangte ,etwas' das ersparte Honorar ein, von dem der Kläger seiner Erlaubniserteilung hätte abhängig machen können. Den Einwand, daß der Kläger sein Recht am eigenen Bild nach § 22 KunstUrhG möglicherweise gar nicht verwertet hätte, hielt der BGH für unwesentlich. Entscheidend war für ihn, „daß aus dem Bildnis tatsächlich geldwerte Vorteile gezogen worden sind und daß nach der Verkehrsübung dies nicht hätte geschehen können, ohne den Kläger an ihnen in Form eines Entgelts zu beteiligen". 349 Auf dieser Linie hatte bekanntlich bereits das Reichsgericht 349 BGH NJW 1979, 2205 (2206).
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
in einem Fall entschieden, in dem der Beklagte zwar berechtigt war, auf einem fremden Grundstück eine Gleisanlage zu errichten und zu nutzen, diese Nutzung aber ohne Zustimmung des Klägers erweiterte. Die Erweiterung lag darin, daß der Beklagte nicht mehr nur sein eigenes Industriegrundstück durch Züge beliefern ließ, die das Grundstück des Klägers überquerten, sondern auch die Belieferung weiterer Grundstücke veranlaßte, deren Eigentümer nicht zur Nutzung des Grundstücks des Klägers berechtigt waren. Den Vermögenswerten Vorteil sah das Reichsgericht darin, daß der Beklagte „bei ordnungsgemäßem Vorgehen dem Kläger für die unerlaubte Mehrbenutzung eine angemessene Entschädigung hätte zahlen müssen, diese also erspart und damit zugleich dem Kläger entzogen habe". 350 Der Einwand, daß der Beklagte bei Kenntnis eines Vergütungsanspruch des Klägers die erweiterte Nutzung unterlassen hätte, wurde zur Beurteilung einer Bereicherung des Beklagten für unwesentlich erachtet. Der Beklagte müsse sich gefallen lassen, an der Sachlage, wie er sie selbst geschaffen habe, festgehalten zu werden. 351 Worin unterscheidet sich nun diese Betrachtung zweier Urteile davon, anerkannte Beispiele (wie Eigentum, Besitz etc.) heranzuziehen, um zu bestimmen, welche vermögensweiten Positionen in § 812 I 1 BGB gemeint sind? Eine Abweichung ergibt sich in erster Linie darin, daß sich in den beiden Urteilen die erlangte Vermögensposition nicht in geradezu technischer Weise als Rechtsposition qualifizieren läßt wie die Innehabung von Eigentum oder einer Forderung. Der Rechtsprechung drängte sich in den beiden Fällen aber auf, daß man dem Beklagten keineswegs die Innehabung einer Vermögensposition absprechen konnte. Das entscheidende Motiv hierfür hat bereits das Reichsgericht formuliert: ein Vermögenswert kommt der Position alleine schon deshalb zu, weil man sie sich unter normalen Umständen nur unter Zahlung eines Entgelts verschaffen kann. An dieser Stelle zeigt sich, weshalb die in beiden Urteilen behandelten Positionen in eine Reihe mit den Schulbeispielen zu stellen sind. Auch für das Erlangen von Eigentum, von einem beschränkten dinglichen Recht, von Besitz, einer Forderung oder von Diensten hat man unter normalen Umständen - und darunter ist im Wirtschaftsverkehr eben nicht das unentgeltliche, sondern das entgeltliche Geschäft gemeint - ein Entgelt zu entrichten. Welche Ebenen der Spezifikation enthält dieses Beispiel nun im einzelnen? Zunächst setzt unterhalb des Tatbestandsmerkmals „etwas [ . . . ] erlangt" die Definition „jeder Vermögenswerte Vorteil" an. Die Definition des erlangten ,etwas4 läßt sich also wie folgt als Hilfsnorm formulieren: „(1) Jeder Vermögenswerte Vorteil ist ein erlangtes Etwas im Sinne des § 81211 BGB."
Hieran schließen sich dann einerseits Beispielfälle einzelner Vermögenspositionen an, andererseits Fallkonstellationen, in denen ebenfalls die Erlangung eines
350 RGZ 97, 310 (312). 351 Vgl. RGZ 97, 310 (312), und im Anschluß daran BGH NJW 1956, 1554 (1556).
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 145
Vermögensvorteils angenommen wurde. In der Methodenlehre des Zivilrechts bindet Schapp diese Ebene in die Formulierung einer zweiten Hilfsnorm ein: „(2) Eigentum an Sachen, Ansprüche, beschränkte dingliche Rechte an Sachen und Rechten, Dienste, Befreiung von einer Verbindlichkeit, Besitz, Grundbucheintragung und ähnliche Vermögenswerte Vorteile sind ein vermögenswerter Vorteil im Sinne der Hilfsnorm zu ( l ) " . 3 5 2
Den Tatbestand dieser zweiten Hilfsnorm sieht Schapp nun im Gegensatz zu dem der ersten Hilfsnorm durch einen Aneinanderreihung von Falltypen charakterisiert, die durch das Auffangtatbestandsmerkmal „und ähnliche Vermögenswerte Vorteile" offen gehalten wird. In diesen Auffangtatbestand könne nun die Rechtsprechung einfließen, die Präjudiziencharakter in Anspruch nehme. Auch die Erkenntnisse der Rechtsprechung lassen sich aus der Sicht Schapps dann als Hilfsnorm formulieren, im Sinne der geschilderten Beispiele also etwa: (3) „Wer eine fremde Sache oder ein fremdes Recht unbefugt verbraucht, gebraucht oder sonst benützt, bei ordnungsgemäßem Vorgehen für die Benutzung aber Entgelt hätte bezahlen müssen, erlangt einen ähnlichen vermögensweiten Vorteil im Sinne der Hilfsnorm zu (2)." 3 5 3
Welche Bedeutung kommt innerhalb dieser drei Ebenen nun aber dem Gedanken zu, daß vermögenswerter Vorteil jede Rechtsposition ist, für deren Erlangung man unter üblichen Umständen ein Entgelt zu entrichten hat? Betrachtet man die zu (2) formulierte Hilfsnorm, so kommt in der Formulierung „sind ein vermögenswerter Vorteil" genau genommen nur zum Ausdruck, daß man durch die dort genannten Positionen das Tatbestandsmerkmal „etwas" für erfüllt hält, nicht aber, weshalb man das tut. Hierüber informiert auch noch nicht ausdrücklich Hilfsnorm (3), die lediglich zum Ausdruck bringt, daß man auch in den dort beschriebenen Fällen nach verbreiteter Auffassung die Erlangung eines Vermögensvorteils annimmt. Es ist erst der Gedanke der hypothetischen Entgeltzahlungspflicht, der den Vermögenswert der einzelnen Positionen anschaulich macht, auch wenn er auf Fallkonstellationen beschränkt bleiben dürfte, in denen man sich das Geschehen in einen der gängigen Austauschverträge eingebettet vorstellen kann. Noch abstrakter, zwangsläufig aber auch weniger anschaulich, ließe sich daher vielleicht statt von einem „Entgelt" besser von einem „Vermögensopfer" sprechen. Insoweit bleibt dieser Gedanke den Hilfsnormen zu (2) und (3) aber zwangsläufig vorgeordnet. Als Hilfsnorm könnte man ihn unterhalb der Hilfsnorm zu (1) etwa wie folgt formulieren: (la) Eine rechtliche oder tatsächliche Position, für deren Erwerb man unter normalen Umständen - meist in der Form eines Entgelts - ein Vermögensopfer zu bringen hat, besitzt einen positiven Vermögenswert im Sinne der Hilfsnorm zu (1). 352 353
Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 80 f. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 81 f.
10 Gödicke
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Unter diese Hilfsnorm ließe sich etwa für den Fall des Eigentums subsumieren: ,Für den Erwerb von Eigentum an beweglichen Sachen und Grundstücken hat man unter üblichen Umständen ein Entgelt an den Eigentümer zu zahlen. Also bildet der Erwerb von Eigentum einen Vermögenswerten Vorteil'. Und entsprechend ließe sich in der geschilderten Konstellation des Reichsgerichts formulieren: ,Für die Nutzung eines fremden Grundstücks hat man unter üblichen Umständen ein Entgelt an den Eigentümer zu zahlen. Also bilden die Gebrauchsvorteile eines Grundstücks einen Vermögenswerten Vorteil.' Und schließlich in dem geschilderten Fall des BGH: ,Für die Veröffentlichung und Verbreitung eines Bildnisses von einer Person zu Werbezwecken hat man unter üblichen Umständen ein Entgelt zu zahlen, wenn dieses Bildnis nach § 22 S. 1 KunstUrhG nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet werden darf (mithin kein Ausnahmetatbestand nach § 23 KunstUrhG greift). Also bildet die Verbreitung eines solchen Bildnisses einen Vermögenswerten Vorteil.' Auch die Befreiung von einer Verbindlichkeit läßt sich auf diese Weise als ein den Fällen des Eigentums- oder Forderungserwerbs vergleichbarer Vermögensvorteil auffassen, weil der Schuldner unter normalen Umständen zum Zwecke der Befreiung ein Vermögensopfer zu erbringen hat. Das Beispiel macht deutlich, daß sich Falltyp und Hilfsnorm beim Verstehen von Rechtssätzen wechselseitig ergänzen. So erhellt das Heranziehen anerkannter Falltypen einerseits den Sinn einer anerkannten Hilfsnorm, wie umgekehrt das mehr intuitive Schaffen von Falltypen, wie es die Rechtsprechung vorstehend im Fall der Nutzung fremder Rechte getan hat, mit der Zeit dann auch ermöglicht, die Gemeinsamkeit zwischen einzelnen entschiedenen Fällen zu entdecken und diese Gemeinsamkeit schließlich als Hilfsnorm zu formulieren wie hier unter (la). Dieses Wechselspiel von Falltypen und Hilfsnorm bildet mithin den entscheidenden Entwicklungsmotor für die Herausbildung und Fortentwicklung von Rechtssätzen, wie sie Rechtswissenschaft und Rechtsprechung gemeinsam als zweite Funktion juristischer Dogmatik betreiben.
2. Die Bedeutung der Dogmatik für die Herausbildung und Fortentwicklung von Rechtssätzen Sind Dogmatik und Auslegung des Rechts damit aber nicht das gleiche? Oder überschneiden sich Dogmatik und Auslegung nur insoweit, als man von einer „herrschenden", „geltenden", „allseits konsentierten" oder „anerkannten" Auslegung einer Norm sprechen kann? Im folgenden soll die These vertreten werden, daß sich Dogmatik und Auslegung weniger in ihren Techniken als in ihrer Zielrichtung unterscheiden. Als entscheidende Technik wird dabei weiterhin das Arbeiten mit Hilfsnormen und Falltypen begriffen, wobei die Rechtsanwendung dem Ideal nach ein Arbeiten mit Hilfsnormen anstatt mit Falltypen anstrebt (a). In seiner Zielrichtung unterscheidet sich das Auslegen oder Verstehen eines Rechtssatzes von der Tätigkeit der Dogmatik dann vor allem darin, daß die Dogmatik über die
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Entscheidung eines Einzelfalls hinaus die Fortentwicklung der künftigen Rechtsfindung ins Auge faßt (b). Damit läßt sich nunmehr das Ziel der Dogmatik, ein geordnetes Gefüge von Rechtssätzen für die Rechtsfindung zur Verfügung zu stellen, gedanklich von dem Entwicklungsprozeß trennen, der zu diesem Ziel führt. Das ermöglicht es schließlich auch, auf die Frage einzugehen, inwieweit diesem Ziel, also dem Ordnungsgefüge von Rechtssätzen, eine gewisse Geltungskraft neben der des Gesetzes zukommt (c).
a) Das Aufgreifen eines Arbeitens mit Falltypen und Hilfsnormen Die Überlegung, daß die Dogmatik in der Herausbildung und Fortentwicklung von Rechtssätzen mit der Heranziehung von Falltypen und Hilfsnormen die wesentlichen Techniken für das Verstehen von Rechtssätzen aufgreift, setzt sich nicht in Widerspruch zur These von der eigenständigen Bedeutung der Dogmatik neben der Auslegung im Einzelfall. Im Gegenteil setzt die spätere Übernahme von Auslegungsvorschlägen der Dogmatik durch die Praxis voraus, daß die Dogmatik die gleichen Techniken verwendet, die auch in dieser Praxis eingesetzt werden. Schärfer als bislang angedeutet läßt sich dabei nun der Gedanke formulieren, daß das Entwicklungsmoment für die Herausbildung von Rechtssätzen im Herstellen von Ahnlichkeitsbeziehungen zwischen Fällen liegt (aa), so daß Falltyp und Hilfsnorm lediglich unterschiedliche Entwicklungsstufen im Prozeß einer Herausbildung von Rechtssätzen darstellen (bb). Eine letzte Entwicklungsstufe dieses Entwicklungsprozesses, nämlich die Umsetzung von Rechtssätzen der Dogmatik in Rechtssätze des Gesetzes durch den Gesetzgeber, soll dabei im folgenden bewußt ausgespart bleiben. Das geschieht allerdings weniger, weil mit dem Auftreten des Gesetzgebers im Zivilrecht das problematische Verhältnis zwischen Öffentlichem Recht und Zivilrecht weitere vielschichtige Fragen aufwerfen würde. Indem sich die Untersuchung auf die Bedeutung der Dogmatik im Prozeß der Rechtsfindung beschränkt, liegt die Erörterung dieser weiteren Entwicklungsstufe vielmehr neben dem hier gesteckten Untersuchungsrahmen.
aa) Das Herstellen von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Fällen als Ausgangspunkt der Entwicklung von Rechtssätzen Wenn man jede in die Form eines Rechtssatzes gegossene Konfliktentscheidung als auf einen ursprünglichen lebensweltlichen Konflikt zurückgehend begreift, so sind es im Ausgangspunkt die entschiedenen Fälle, und davon bereits abstrahierend die Falltypen, die überhaupt erst den Weg zur Formulierung von Rechts10*
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
sätzen, ob als Anspruchsnormen oder als Hilfsnormen, bahnen. 354 Wie kann man sich diesen Entwicklungsprozeß vom Falltyp zur Hilfsnorm modellhaft vor Augen führen? Der Zweck einer Hilfsnorm besteht darin, das Verstehen des Rechtssatzes oder seiner einzelnen Teile, der Tatbestandsmerkmale, zu ermöglichen. Wo noch keine Hilfsnorm vorhanden ist, ist der Rechtsanwender zunächst also darauf verwiesen, sich einen Uberblick darüber zu verschaffen, in welchen Fällen der Rechtssatz bislang angewendet wurde und in welchen nicht. Dem anglo-amerikanischen Juristen ist diese Technik als das distinguishing von Fällen vertraut. Der Kern dieses Prozesses liegt im Herstellen von Ahnlichkeitsverhältnissen zwischen „gleichgelagerten " Fällen. Die Gemeinsamkeit dieser Fälle besteht im Ausgangspunkt also zunächst nur darin, daß in ihnen die gleiche Rechtsfolge ausgesprochen wurde. Entscheidend ist aber nicht diese Tatsache, die dem Rechtsanwender ja bekannt ist, sondern die Frage, im Hinblick auf welchen lebensweltlichen Konflikt die Fälle gleichgelagert sind. In der für Art. 3 GG gängigen Diktion gesprochen, ist das der Aspekt des wesentlich Gleichen, also des Gleichen im Hinblick auf einen als wesentlich empfundenen Bezugspunkt. Wie läßt sich also der Kern, der kleinste gemeinsame Nenner einzelner Konfliktsituationen herausschälen? In einem ersten Schritt muß sich der Rechtsanwender hierzu solcher Besonderheiten des Einzelfalls entheben, die ganz offensichtlich für das Eintreten der Rechtsfolge irrelevant waren. Bereits das erste Absehen von einzelnen Umständen setzt bei präziser Beobachtung freilich schon eine Einschätzung dessen voraus, was im Hinblick auf das Verstehen bedeutsam ist und was nicht - und damit ein erstes zumindest grobes Verstehen des Rechtssatzes, etwa seiner systematischen Stellung nach. Wenn man noch einmal in einem sehr ursprünglichen Sinne an den ansonsten überaus problematischen Begriff des Typus anknüpfen möchte, so ist es die „Gestalt" desjenigen Falles, auf den der Rechtssatz abzielt, an deren Konturen sich der Rechtsanwender im Zuge des Verstehens langsam herantasten muß. Dazu läßt sich einerseits auf Kommentare zurückgreifen, in denen die einzelnen Fälle aufgeführt werden, in denen die Rechtsprechung im Sinne der gesuchten Rechtsfolge bislang bejahend oder ablehnend geurteilt hat. In der juristischen Ausbildung sind es dann vor allem die Schulbeispiele, die dem Rechtssatz seine ersten groben Umrisse geben. 355 Indem tatsächliche Fälle und Übungsfälle gleichermaßen den Tatbestand des zu verstehenden Rechtssatzes verwirklichen, wird also zunehmend feiner danach gefragt, welche Aspekte an ihnen es sind, die den Tatbe354 Nach Troller, in: Festgabe für Schönenberger, S. 1 (39), ist dem menschlichen Dasein das erste Wort zuzugestehen, ohne daß dabei der regelgebende Geist in der Auseinandersetzung zwischen der bewegten menschlichen Existenz und der notwendigen Ordnung zu kurz kommen dürfe. Wenn der anglo-amerikanische Jurist - ebenso wie der kontinentaleuropäische Richter beim Aufstellen von Leitsätzen - von dem, was geschehen ist, zu dem, das in ähnlicher Weise geschehen könnte, fortschreite, so sei die Kluft zwischen unserem Rechtsdenken und dem anglosächsischen rechtsdogmatisch zugeschüttet. 355 Vgl. hierzu auch Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 76 f.
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stand des Rechtssatzes gleichermaßen als erfüllt erscheinen lassen. Erst wenn sich diese Momente fassen lassen, wird auch die Herausbildung eines Rechtssatzes möglich. In der Formulierung seines Tatbestands wird dann der zentrale Gedanke aufgegriffen, der die einzelnen Falltypen vergleichbar macht. Im obigen Beispiel zu § 812 I 1 BGB kann man diesen Gedanken etwa dahin bestimmen, die Ähnlichkeit der als erlangtes „etwas" eingestuften Vermögenspositionen darin zu sehen, daß man sich alle diese Vermögenspositionen unter den normalen Umständen des Wirtschaftsverkehrs nur gegen die Zahlung eines Entgelts seinem Vermögen einverleiben darf. Die Hilfsnorm zu (la) begründet also nur dieses Ähnlichkeitsverhältnis, während auf niedrigerer Abstraktionsstufe dann in den Hilfsnormen (2) und (3) Einzelfälle dieses Gedankens genannt werden, die freilich älter sind als die erst später mögliche Abstraktionsleistung in (la). Die Erarbeitung von Hilfsnormen ist also im Kern eine retrospektive Verfahrensweise. Begrifflich kommt dieses Entwicklungsmoment im Streben vom Fallvergleich zur Hilfsnorm darin zum Ausdruck, daß man mit zunehmender Abstraktionsstufe nicht mehr vom einzelnen Fall, sondern vom Falltyp spricht, mit der Typizität der Fälle also zum Ausdruck bringt, daß die Einzelfallbetrachtung zunehmend normativen Charakter annimmt. Nicht von ungefähr treten hier deutliche Parallelen zu der Art von Überlegungen auf, die auch der Gesetzgeber anzustellen hat. Auch der Gesetzgeber muß zu der Überzeugung gelangen, bestimmte Lebensverhältnisse als ähnlich zu begreifen, um sie deshalb einer gemeinsamen Regelung zu unterwerfen. 3 5 6 Wie bereits gesehen, gelingt es dem Gesetzgeber überhaupt nur, mit seinen Regelungen künftige Fälle zu entscheiden, weil die Begründung der Rechtsfolge für mehrere Fälle gleichermaßen zutrifft. 357 Wird mit dieser Perspektive auf das Herstellen von Ähnlichkeitsverhältnissen als Entwicklungsmoment von Rechtssätzen nun aber nicht einer Methode der Rechtsfindung das Wort geredet, wie sie vom BGH im Bereicherungsrecht zum Leidwesen der Literatur geübt wird, wenn er auf die Besonderheiten des einzelnen Falles abstellt? Das wäre nun allerdings ein außerordentlich grobes Mißverständnis der hier angestellten Überlegungen. Die hier verfolgte Grundthese geht umgekehrt gerade dahin, daß der Rechtsanwender in einem kodifizierten Recht wie dem deutschen Zivilrecht dem Ideal nach Rechtsfindung durch Subsumtion anstrebt, und nicht Rechtsfindung durch Kasuistik. Es wäre aber eine weitere Fehleinschätzung,
356 Auf verfassungsrechtlicher Ebene findet diese Technik ihren Niederschlag in dem aus Art. 3 GG entnommenen Gebot, weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich, noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln; vgl. hierzu BVerfGE 4, 144 (155). In seiner weiteren Rechtsprechung prüft das BVerfG dann unter Abkehr von einem reinen Willkürverbot, ob „eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten", vgl. BVerfGE 55, 72 (88). Nach Ipsen, Staatsrecht II, Rz. 759 ff., sollten die Unterschiede beider Formeln jedoch nicht überschätzt werden. 357 Vgl. hierzu oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 1. b).
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zu glauben, daß sich auch Rechtssätze, die im Wege der Subsumtion anwendbar sind, anders als durch Fälle herausgebildet hätten und anders als durch eine Analyse von Fallentscheidungen fortentwickeln ließen. Wie vollzieht sich eine solche Analyse von Fallentscheidungen nun aber genauer? Wertvolle Überlegungen zu dieser Frage hat in der methodologischen Literatur vor allem Kaufmann angestellt, der den Gedanken einer Herstellung von Ahnlichkeitsverhältnissen dann allerdings noch weitergehend zu einem eigenen Modell der Rechtsanwendung als analogischem Prozeß fortgeführt hat. Gegen diese Konsequenz bestehen sicherlich, gerade wegen eines noch heute herrschenden Idealbilds der Subsumtion, durchgreifende Bedenken.358 Hingegen erweist sich eine Skepsis gegenüber dem Ausgangspunkt dieses Modells, also der Annahme, daß es sich bei aller Analogie um eine Gleichsetzung von Ungleichem unter einem sich als wesentlich erweisenden Gesichtspunkt handelt, 359 als weitgehend unbegründet. Mit dieser Einschränkung soll an die Überlegungen Kaufmanns daher durchaus angeschlossen werden. 360 Kaufmann grenzt den Analogieschluß sowohl zur Deduktion ab, bei der vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen werde, wie zur Induktion, bei der vom Besonderen auf das Allgemeine geschlossen werde. Er folgt dabei gängigen Gepflogenheiten, den Analogieschluß als „Niveauschluß" vom Besonderen zum Besonderen aufzufassen, präzisiert diesen Gedanken jedoch dahin, daß der Weg des Analogieschlusses vom Besonderen auch wieder nur über ein Allgemeines zum Besonderen gehen könne. 361 Das eigentliche Herzstück der Analogie ist für 358 Zu einem Modell der Rechtsanwendung als analogischem Prozeß bildet Kaufmann seine erkenntnistheoretische Ausgangsposition für den Gesamtprozeß der Rechtsanwendung um, indem er statt für ein isoliertes Nebeneinander für ein gleichzeitiges Sich-öffnen des Sachverhalts zur Norm und der Norm zum Sachverhalt hin eintritt. In diesem Sich-öffnen sieht er die Grundlage dafür, im Wege der Analogie Rechtsidee und mögliche Lebenssachverhalte sowie Rechtsnorm und wirklichen Lebenssachverhalt in die Entsprechung zu bringen, vgl. ders., Analogie und „Natur der Sache", S. 29 ff. Zur Kritik an dieser Position vgl. vor allem die Auseinandersetzung Kaufmanns selbst mit ihm entgegengehaltenen Einwänden (S. 60 ff.). 359
Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", S. 29. Hingewiesen sei allerdings auch darauf, daß Kaufmann dem Syllogismus im Bewußtsein seiner Grenzen keineswegs völlig den Rücken kehrt, sondern ihn lediglich auf seinen nachgeordneten Platz verweist. Insoweit die Jurisprudenz keine exakten Aussagen machen kann, könne der Syllogismus an zuvor angenommene (wahrscheinliche) Prämissen auch nur anknüpfen. Das zur Aufstellung dieser Prämissen erforderliche analogische, typologische Denken sei dem Syllogismus mithin vorgeordnet. Als vor-logisches Denken sei es zwangsläufig nicht (formal-) logisch, allein deshalb aber noch nicht unlogisch oder gar konfus. Vgl. ders., Analogie und „Natur der Sache", S. 58. 360
361 Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", S. 34, unter Rückgriff auf Klug, Juristische Logik, S. 115 f. m. w. N., und Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 146 ff. Der Deduktion und der Induktion stellt Kaufmann neuerdings die Abduktion gegenüber als unsichere problematische Schlußweise, deren Ergebnis zunächst lediglich im Erbringen einer Hypothese liegt, und die den anderen Schlußweisen daher zeitlich vorangehe, vgl. ders., Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 6 f., 51 ff. Wenn man eine Parallele zu den hier angesteil-
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Kaufmann damit das Herstellen der Ähnlichkeitsbeziehung selbst und das eigentlich Problematische an der Analogie die Wahl des Vergleichsgesichtspunkts, des tertium comparationis, unter dem sich eine Ähnlichkeit herstellen läßt. 362 Der Vergleichsgesichtspunkt stehe nicht fest, sondern sei, wenn auch nicht völlig beliebig, so aber doch dem Prinzip nach auswechselbar, die latente Prämisse jedenfalls im Bereich des Sinn- und Werthaften eine variable Prämisse. Statt Ähnlichkeit könne immer auch Unähnlichkeit festgestellt werden, weshalb an Stelle des Analogieschlusses jedenfalls in logischer Hinsicht immer auch der Umkehrschluß möglich sei. 363 Die Analogie kann mithin notwendig nur zu wahrscheinlichen Urteilen führen. Aus der Sicht Kaufinanns liegt hierin jedoch keineswegs eine Schwäche, sondern im Gegenteil die schöpferische Kraft der Analogie. Insoweit sich neue Erkenntnis fast nie in exakt logischen Schlüssen vollzögen, bilde die latente Prämisse eine wesentliche Technik zur Auffindung eines bis dahin noch Unbekannten.364 Entsprechend begegnet er dem Einwand, daß seine Lehre mit dem Nachteil behaftet sei, logisch nicht darstellbar zu sein, keine syllogistischen Schlüsse zu ermöglichen und immer nur Wahrscheinlichkeitsurteile zu liefern, mit der Gegenfrage, welche juristische Methodenlehre denn überhaupt imstande sei, Recht ausschließlich mittels logischer Verfahren zu gewinnen und mehr als Wahrscheinlichkeitsurteile zu liefern. 365 Es wäre daher allzu vorschnell geurteilt, wollte man die Akzentlegung auf ein im Fallvergleich zum Ausdruck kommendes Entwicklungsmoment von Rechtssätzen als Plädoyer für eine fallorientierte Technik der Rechtsanwendung verstehen. Wenn typologisches Arbeiten und Orientierung am Syllogismus als Gegensätze gedacht werden, vergibt sich jede Seite viel. Bei der Entwicklung von Rechtssätzen findet der Vergleich von Fällen und die Zusammenführung mehrerer gleichgelagerter Fälle über ein tertium comparationis in Falltypen vielmehr eine überaus prägnante Funktion. Ohne diesen Bezug auf Fälle und Falltypen wäre der Entwicklung von Rechtssätzen geradezu ihr Nährboden entzogen. Das läßt sich rückblickend noch einmal anhand des Beispiels zum erlangten „etwas'4 in den Fällen der Nutzung fremder Rechte verdeutlichen. So konnte das Bedürfnis nach einer Hilfsnorm der Abstraktionsstufe zu (la) erst entstehen, als die Rechtsprechung mit Fällen konfrontiert wurde, die sich in die einleuchtende Reihe ten Überlegungen suchen möchte, so dürfte die Abduktion im Sinne Kaufinanns, die dem Aufsuchen einer Hypothese dient, in der Sphäre eines Verstehens von Auswahlzusammenhängen anzusiedeln sein, wie sie oben beleuchtet wurde, 2. Teil, 2. Abschnitt, IV. 362 Ähnlich bettet auch Engisch die Analogie in ein Spannungsverhältnis zwischen Auslegung und Umkehrschluß ein, vgl. ders., Einführung in das juristische Denken, S. 150 ff. 363 Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", S. 36. Zur logischen Alternative des Umkehrschlusses auch Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 149. 364 Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", S. 35. 365 Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", S. 72. Zur Abgrenzung von wahrscheinlichen Sätzen und apodiktischen Sätzen mit Blick auf die Dogmatik bereits oben 2. Teil, 1. Abschnitt, I. 1.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
der bisher entschiedenen Fälle (wie Eigentum, Forderung, Besitz etc.) nicht einordnen ließen. Unter Rückgriff auf den Regelungsgedanken der §§ 812 ff. BGB, ungerechtfertigte Vermögensvorteile abzuschöpfen, konnte eine Ähnlichkeit der Fälle nur über die Frage herzustellen sein, ob die erlangten Positionen den Anspruchsgegner bereicherten, ihm also einen Vermögensvorteil brachten. Weder der BGH noch das Reichsgericht haben dabei die Frage gestellt, ob sich die erlangten Positionen rechtlich als Gebrauchsvorteile, also als Nutzung einer Sache oder eines Rechts im Sinne von § 100 BGB hätten auffassen lassen können. Mit dieser Einordnung wäre ja auch nicht viel geholfen gewesen, weil mit ihr nicht zwangsläufig auch eine Einschätzung der Werthaftigkeit dieser Positionen einher gegangen wäre. Beide Gerichte haben daher unmittelbar die Frage der Werthaftigkeit selbst thematisiert. Der BGH begnügte sich mit der nebulösen Formulierung, daß „aus dem Bildnis tatsächlich geldwerte Vorteile gezogen worden sind' 4 , 366 das Reichsgericht setzte gar noch früher bei der Überlegung an, daß der Kläger durchaus durch eine Gestattung der Mehrbenutzung geldwerte Vorteile ziehen wollte. 367 Wenn es diese Möglichkeit ist, geldwerte Vorteile zu ziehen, die über das Erlangen eines Vermögensvorteils entscheidet, so findet die Werthaftigkeit der erlangten Position ihren eigentlichen Grund in der veränderten Wirtschaftswelt, in der sich die Parteien beider Rechtsstreitigkeiten bewegten. Ein Grundstück ließ sich nun auch durch den Betrieb von Eisenbahnen verwerten, und auch das Recht am eigenen Bild konnte vermarktet werden, hier durch Gestattung zu Werbezwecken. Aufgrund dessen ließ sich eine Bereicherung unabhängig von der Frage annehmen, ob sich diese Vorteile näher als Nutzung einer fremden Sache oder eines fremden Rechts qualifizieren ließen. Die Hilfsnorm zu (la) bringt auch nicht mehr als diesen Zusammenhang zum Ausdruck. Mit der hypothetischen Entgeltzahlungspflicht greift sie den modernen Weg, die Werthaftigkeit von Gegenständen anhand ihres Marktwerts zu bestimmen, lediglich deutlicher und nun auch im Bereicherungsrecht auf.
bb) Falltyp und Hilfsnorm als unterschiedliche Entwicklungsstufen von Rechtssätzen Nicht nur die erstmalige Formulierung von Rechtssätzen, sondern vor allem auch ihre Fortentwicklung muß mithin am Fall ansetzen. Die Entscheidung einzelner Fälle bildet gleichsam den Geburtsort neuer Falltypen und damit auch neuer Rechtssätze.368 Dann stellen Falltypen und Hilfsnormen aber auch keine methodi366 BGH NJW 1979, 2205 (2206). Im vergleichbaren Fall BGHZ 20, 345 (355), spricht der BGH noch davon, daß „das Bildnis des Klägers gewerblich ausgewertet" worden sei. 367 RGZ 97, 310 (312). 368 Vom Geburtsort eines neuen Falltyps zu § 138 I BGB spricht Schapp im Hinblick auf die Entscheidung BVerfGE 89, 214, mit der das BVerfG eine ganze Reihe immer wieder unterschiedlich ansetzender Entscheidungen des BGH im Umfeld der §§ 138 I, 242 BGB ausgelöst hat, vgl. ders., in: Festschrift für Söllner, S. 973 (974), sowie zu der Thematik bereits zuvor ders., ZBB 1999, 30 ff.; JZ 1998, 913 ff.
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 153
sehen Gegensätze dar, sondern lediglich unterschiedliche Entwicklungsstufen. Wenn man es aus der Perspektive eines die Rechtsfindung nach wie vor beherrschenden Spannungsverhältnisses zwischen Fall und Norm formulieren möchte, so verkörpert der Falltyp den einen, die Hilfsnorm den anderen Pol einer Achse, auf der man sich diese Entwicklung jedenfalls der Idee nach vorstellen kann. Dabei ist es allerdings kaum möglich, eine genauere Abgrenzung der einzelnen Entwicklungsstufen vorzunehmen. Man mag insoweit zwar statt von Hilfsnormen auch von Ergänzungsnormen sprechen, 369 statt vom Falltypen auch von Fallreihen oder Fallgruppen, 370 in einer Zwischenebene von , Argumentationsmustern' oder ,Ordnungsschemata' sowie schließlich auch nur noch von einem lockeren ,Ensemble von Gründen'. 371 Eine größere Feinzeichnung dieser Entwicklungsstufen wird damit aber nicht erreicht. Es erscheint dann auch wenig sinnvoll, überhaupt das Anliegen einer solchen Feinzeichnung zu verfolgen. 372 Die gleichen Vorbehalte treffen nun zwar im Ansatz auch die Begriffe Falltyp und Hilfsnorm, da sie ihrerseits nicht in der Lage sind, einen genauen Anfangs- und Endpunkt der Entwicklung zu bezeichnen. Wenn sie gleichwohl im folgenden gebraucht und damit anderen denkbaren Begriffen vorgezogen werden, so lediglich deshalb, um das Spannungsverhältnis zwischen fallbezogenen und normorientierten Momenten des Verstehens zu akzentuieren, das diesem Entwicklungsprozeß notwendig zugrunde liegt. Das Spannungsverhältnis ist dabei durchaus ein wechselseitiges. Ebenso wie jede Fallbetrachtung zu einer Abstraktion strebt, die nach Möglichkeit in eine Hilfsnorm mündet, unter die bestenfalls aufgrund einfacher Weitung subsumiert werden kann, bedarf jede Hilfsnorm immer wieder - didaktisch betrachtet - der Veranschaulichung durch typische Fallgestaltungen oder - analytisch betrachtet - der Überprüfung anhand neuer Fallgestaltungen, die in das Umfeld der Hilfsnorm treten. 373 Damit wird zugleich deutlich, daß es anmaßend wäre, davon auszugehen, jedes Bemühen um das Verstehen eines Rechtssatzes müsse mit Notwendigkeit zur 369 So etwa Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 21 ff., der näher zwischen vervollständigenden, konkretisierenden, erweiternden und einschränkenden Ergänzungsnormen unterscheidet, die über eine Vervollständigung von Kernrechtssätzen mit Hilfe von Legaldefinitionen, Verweisungen und Fiktionen heranzuziehen seien. 370 Zum Begriff der Fallreihe im Verhältnis zu dem des Falltyps vgl. bereits oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 1. b). 371 Vgl. hierzu auch die Überlegungen Schapps, in: Festschrift für Söllner, S. 973 (975 ff.). 372 So auch Schapp, in: Festschrift für Söllner, S. 973 (976). 373
Erst die in der stetigen Relativierung des Konkretisierungsergebnisses deutlich werdenden Grenzen des neu gebildeten Rechts geben der Konkretisierung aus der Sicht Schapps überhaupt Gestalt und schaffen auch lebendiges Recht, vgl. ders., in: Festschrift für Söllner, S. 973 (994). Die konstituierende Bedeutung der Falltypen für die Entwicklung von Rechtssätzen als Aufgabe juristischer Dogmatik kann man dann auch bereits bei Esser angelegt sehen, wonach die Vernünftigkeit der dogmatischen Aussagen „nicht aus Spekulation, sondern aus Bewährung gewonnen und in ein Begriffssystem transformiert wurde, [ . . . ] aber auch weiterhin aus Erfahrung und entsprechender Neubewährung aufgefüllt und aufgefrischt werden muß". Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 90, der allerdings von der Vernünftigkeit „des ursprünglichen Dogmengehalts" spricht.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Formulierung von Hilfsnormen führen. Es gibt nicht wenige Fallgruppen, in denen diese Abstraktionsleistungen auf kurze oder auch sehr lange Zeit nicht möglich sind. Die Vergleichsprüfung einzelner Fälle endet dann in einem bloßen Anschließen an vorherige Falltypen, ohne daß der entscheidende Vergleichsgesichtspunkt sprachlich explizit formuliert werden könnte. Hier macht die Entwicklung von Rechtssätzen also unfreiwillig auf der Ebene von Falltypen halt, so daß sich die Rationalität der Rechtsanwendung im wesentlichen noch aus der Einbindung des konkreten Falles in die Nachbarfälle speist. 374 Methodologisch läßt sich dieses Problem, das sich vor allem bei Hilfsnormen für Generalklauseln oder für sonstige ausfüllungsbedürftige Tatbestandsmerkmale stellt, also sehr scharf erfassen. Indem das zu spezifizierende Tatbestandsmerkmal überaus weit gefaßt ist, ist die Rechtsfolge der spezifizierenden Hilfsnorm mit Notwendigkeit entsprechend weit gefaßt. Wo sich die Rechtsfolge der Hilfsnonn aber bereits kaum überblicken läßt, entzieht sich ihre Begründung, also ihr Tatbestand, ebenfalls einer klaren Erfassung. Der Formulierung von Hilfsnormen ist dann auch eine weitere Grenze gesetzt. Wenn die Ähnlichkeit der Fälle es überhaupt erst ermöglicht, zu Abstraktionsleistungen zu gelangen, so kann die Formulierung von Hilfsnormen auch nicht weiter reichen, als die Ähnlichkeit der einzelnen Fälle reicht. Das kann zur Folge haben, daß man sich mit zunehmender Abstraktion viel vergeben kann, weil man dadurch möglicherweise auch Fallgestaltungen in den Einzugsbereich der Hilfsnorm aufnimmt, für die ihre Begründung bei näherem Hinsehen gar nicht mehr trägt. Ein Beispiel für dieses schwierige, tastende Voranschreiten bildet die Rechtsprechung des BGH zur Bürgschaft naher Angehöriger, in der dieser, gezwungen durch das Bundesverfassungsgericht, 375 von seiner hartherzigen Linie abrückte, Familienangehörige unter Verweis auf den Grundsatz pacta sunt servanda der vollen Bürgschaftshaftung auszusetzen. Der BGH schwankt hier zunächst zwischen einer Anwendung von § 138 I BGB und von § 242 BGB, um eine Bürgschaftshaftung ganz abzulehnen oder zumindest entscheidend zu relativieren, tendiert dann jedoch allmählich zu § 138 I BGB. 3 7 6 Um nähere Konturen bemüht sich der BGH dann, indem er in Nachbildung des Wuchertatbestandes des § 138 II BGB an die Stelle des Mißverhältnisses der Leistungen das Mißverhältnis von Verpflichtungsumfang und Leistungsfähigkeit der Bürgen setzt, wobei allmählich dann das Kriterium der Ausnutzung der emotionalen Beziehung in den Vordergrund tritt. 3 7 7 Angeregt durch die Instanzgerichte werden aber auch vielfältige weitere Begründungserwägungen durch den BGH angestellt (vor allem Wegfall der Geschäftsgrundlage, geltungserhaltende Reduktion, ergänzende Ver-
374 Ähnlich Schapp, in: Festschrift für Söllner, S. 973 (976, 994 ff.). 375 BVerfGE 89, 214. 376 Vgl. zur Chronologie dieser Rechtsprechung im einzelnen Schapp, ZBB 1999, 30 (39 f.), sowie eingehend zum Vergangenheits- und Zukunftshorizont der Entscheidungen des BGH ders., in: Festschrift für Söllner, S. 973 (980 ff.). 377 Vgl. etwa BGHZ 136, 347.
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 155
tragsauslegung, culpa in contrahendo). 378 Deutlich wird dabei stets das Bemühen des BGH, den Einzugsbereich seiner Präjudizien und Hilfsnormen sehr eng zu fassen, um trotz seiner Kehrtwende die ihrerseits zu respektierenden Sicherungsbedürfnisse der Kreditwirtschaft nicht zu konterkarieren.
b) Der Blick der Dogmatik auf den künftigen Gang der Rechtsfindung Der Blick auf die Bürgschaftsrechtsprechung führt besonders plastisch vor Augen, daß die Tätigkeit des einzelnen Rechtsanwenders sich von jener der Dogmatik nicht in ihren Techniken, sondern vor allem in ihrer Zielrichtung unterscheidet. Entwickelt der einzelne Rechtsanwender anläßlich der Auslegung eines Rechtssatzes lediglich vor dem inneren Auge eine geeignete Hilfsnorm, so bleibt die Sorge, ob sich diese Hilfsnorm in der künftigen Rechtsfindung bewähren könnte, mangels Veröffentlichung des Auslegungsergebnisses doch nur eine Frage des individuellen Berufsethos. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zur Dogmatik, die gerade auch darauf bedacht sein muß, über den Erkenntnisfortschritt anläßlich eines Einzelfalls hinaus die Fortentwicklung der künftigen Rechtsfindung ins Auge zu fassen. Dogmatik beginnt also gewissermaßen erst dort, wo Auslegungsergebnisse in die Öffentlichkeit treten. Aus diesem Grund verbindet man seit jeher mit Dogmatik denn auch in erster Linie Rechtswissenschaft und Rechtslehre, die gleichsam nur über Veröffentlichungen leben, in zweiter Hinsicht dann aber auch die Rechtsprechung, soweit sie ihre Auslegungsergebnisse publiziert. Es wäre daher verkürzt gedacht, der höchstrichterlichen Rechtsprechung allein schon wegen ihres hohen Rangs innerhalb des Instanzenzugs eine besondere Rolle zuzuweisen. Sie gibt zu einem guten Teil schon deshalb den Ton innerhalb der Rechtsprechung an, weil ihr mit den amtlichen Entscheidungssammlungen ein einfach zu handhabendes Publikationsmedium zur Verfügung steht, auch wenn diese Tatsache selbst dann wiederum auf den Rang des Gerichts zurückzuführen ist. In ihrer Bedeutung als Akteure der Dogmatik unterscheiden sich Rechtswissenschaft und Rechtsprechung andererseits aber auch. Aufgabe der Rechtsprechung ist es zunächst einmal, einzelne tatsächliche Fälle zu entscheiden. Über längere Sicht betrachtet, liegt der Schwerpunkt ihrer Bedeutung für die Dogmatik mithin darin, ein großes Reservoir an Auslegungsvorschlägen zu erarbeiten, während ihr nur in zweiter Hinsicht die Kapazität bleibt, dieses Reservoir auch eingehenden Analysen zu unterwerfen. Hierin liegt umgekehrt die zentrale Bedeutung der Rechtswissenschaft. Sie bildet einzelne Entscheidungen zu Zusammenhängen von Entscheidungen um und überprüft die Auslegungsvorschläge der Rechtsprechung, indem sie ihnen eigene gegenüberstellt und sie mit systematischen Erwägungen
378 Vgl. zum Ganzen die eingehende Analyse Schapps, ZBB 1999, 30 (40); ders., in: Festschrift für Söllner, S. 973 (985 ff.).
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
und größeren Wertungszusammenhängen konfrontiert. Esser hat diesen Zusammenhang dahin formuliert, daß die Praxis zwar das „Bewußtsein für die Verantwortung an der dogmatisch korrekten oder derzeit optimalen Einordnung des Problems wie auch des Lösungsmusters" aufweise. Jedoch zeige das Dictum, es komme trotz allem auf die Umstände des Einzelfalls an, daß das Urteil des Praktikers schließlich gleichwohl „mit instinkthafter Orientierung in die Zielgerade einer fallgerechten Entscheidung" einlaufe. 379 Diese heute noch gültige Charakterisierung der Rechtsprechung kann vor dem Hintergrund ihrer Aufgabenstellung also kaum verwundern. Dieses Schwergewicht der Rechtswissenschaft in der Analyse von Fallentscheidungen kann aber nicht bedeuten, Dogmatik mit Rechtswissenschaft gleichzusetzen. Auch die Rechtsprechung stellt, freilich in engeren Grenzen, Analysen ihrer eigenen Entscheidungen an, wie allein schon die umfangreichen Referate der eigenen Rechtsprechung zeigen, mit denen die Begründung der höchstrichterlichen Urteile häufig einsetzt. Eine deutlichere Verlagerung der Dogmatik auf die Rechtswissenschaft ergibt sich daher erst im Hinblick auf die Lehre des Rechts, deren Aufgabenstellung sich weniger von der Rechtswissenschaft, als nun aber doch deutlich von jener der Rechtsprechung unterscheidet. Die Lehre widmet sich ganz dezidiert dem Anliegen, Rechtssätze darzustellen, also Ordnungsgefüge zu präsentieren, deren Verinnerlichung dem Rechtsanwender die Auswahl der Rechtssätze in der Rechtsanwendung ermöglicht. Der hiermit eröffnete Blick auf die Dogmatik zieht sich nun allerdings von einer Sphârç des Verstehens wieder auf die Sphäre der Auswahl von Rechtssätzen zurück. Wenn man eine eingehendere Differenzierung zwischen den Funktionen von Rechtswissenschaft, Rechtslehre und Rechtsprechung für notwendig hält, so würde hier also die Tendenz dazu bestehen, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung als weitgehend gleichberechtigte Akteure für die Entwicklung von Rechtssätzen zu begreifen, hingegen Rechtswissenschaft und vor allem Rechtslehre als dem deutlichen Schwerpunkt nach bedeutsame Akteure für die Entwicklung eines Ordnungsgefüges von Rechtssätzen.
c) Zur Verbindlichkeit
von Dogmatik
Damit ist es schließlich auch möglich, die von der Dogmatik ausgehende Verbindlichkeit für die Jurisprudenz etwas näher zu beleuchten. Aufschlußreich ist insoweit zunächst schon die oben bereits angesprochene Wortbedeutung des Begriffs Dogmatik, die im „Meinen" einerseits und im „Beschließen" andererseits liegt. 3 8 0 Mit dem Aspekt des Meinungshaften wird zum Ausdruck gebracht, daß beide Funktionen der Dogmatik, ein Ordnungsgefüge für die Rechtsanwendung zur Verfügung zu stellen wie auch dieses Ordnungsgefüge anhand von Einzelfällen stetig 379 Esser, AcP 172 (1972), 97 (117). 380 Vgl. oben 2. Teil, 1. Abschnitt, I.
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 157
zu revidieren, den freien Wettbewerb der Meinungen, das Qualifizieren der einzelnen Meinungen und schließlich das Herausbilden einer herrschenden Meinung voraussetzen. Dabei gibt es sicherlich auch Unterschiede in der Art und Weise der Meinungsbildung zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung. So spielt bei der Rechtsprechung durchaus der Rang der einzelnen Gerichte im Instanzenzug eine bedeutsame Rolle und damit eine faktische oder gesetzlich (etwa in § 31 BVerfGG) eigens normierte ΒindungsWirkung von Entscheidungen über diejenige inter partes hinaus. Die Unterschiede sollten aber nicht überspannt werden. Auch in der Literatur ist es ja nicht die Überzeugungskraft der Argumente allein, die über ihren Rang entscheidet. Deutlich wird das etwa, wenn mehrere Auffassungen gleichermaßen vertretbar erscheinen. Häufig spielt dann auch das Ansehen des einzelnen Autors in der Fachwelt eine gewisse Rolle. Insoweit läßt sich für die Frage, welche Argumente als maßgeblich anerkannt werden, auch heute noch die Charakterisierung dialektischer Sätze durch Aristoteles heranziehen. Nach Aristoteles sind dies Sätze, „die entweder allen oder den meisten oder den Weisen und von den Weisen entweder allen oder den meisten oder den Angesehensten glaubwürdig erschein[en], ohne (für die gemeine Meinung) unglaubwürdig zu sein. Denn man wird dasjenige als wahr verfechten, was die Weisen dafür halten, falls es nicht den Ansichten der Menge zuwiderläuft". 381 Als eigentlicher Motor der Suche nach einer gemeinsamen Auffassung, einer communis opinio , erweist sich damit das Qualifizieren von Meinungen. Man kann unter diesem Blickwinkel die Umsetzung von Kontroversen der Rechtswissenschaft in die Urteile der Rechtsprechung geradezu als „richterliche Entscheidung streitiger Auslegung von Rechtssätzen" begreifen, 382 wie diese Entscheidung dann ihrerseits erneut den Gegenstand einer nachfolgenden Beurteilung durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft bildet. Die Rechtswissenschaft kann sich, nicht anders als die Rechtsprechung, falsch verstanden fühlen, nachträgliche Fehler bemerken oder die eigene Auslegung schlicht als überholt fallen lassen. Wenn sich andererseits die Fronten zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung verhärten, ist schließlich in beiden Disziplinen gleichermaßen auch eine Entscheidung über die andere Auffassung gefallen. In dieser notwendigen Freiheit der Meinungen dürfte der wahre Kern aller induktiven Strömungen der Rechtsfindung liegen. Jede Entwicklung von Rechtssätzen und daran anknüpfend von Dogmatik stößt dabei freilich zwangsläufig auf den zunehmenden Widerstand bestehender Rechtssätze. Im Ergebnis überzeugend ist damit erst das Argument, das nicht nur eine interessengerechte Lösung ermöglicht, sondern sich auch am überzeugendsten in das bestehende System an Rechtssätzen und Fachbegriffen einfügen läßt, um auf diese Weise für die zukünftige Rechtsfindung offen zutage zu liegen. 383
381 Aristoteles, Topik (Organon V), Erstes Buch, 10. Kapitel, 104a. 382 So mit Einschränkungen Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 72 f.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Wenn Dogmatik somit schließlich zur herrschenden, also von Rechtswissenschaft wie Rechtsprechung gleichermaßen akzeptierten Lehre vom geltenden Recht avanciert, erscheint sie dann auch als ein Moment des geltenden Rechts selbst? Für die großen jahrhundertealten Ordnungszusammenhänge, die sich insbesondere im zivilrechtlichen Anspruchssystem niederschlagen, läßt sich die Frage kaum verneinen. Jede Suche nach ebenso präzisen wie befriedigenden Antworten auf die Frage nach einer Geltung von Dogmatik erscheint aber schon deshalb fragwürdig, weil sie voraussetzen würde, daß sich der Begriff der Geltung seinerseits auf befriedigende Weise klären ließe. Das ist im Hinblick auf eine Geltung des Rechts schon kaum möglich, und im Hinblick auf eine Geltung des Gesetzes auch nur schwer. Auf einer verfassungsrechtlichen Ebene stellt sich etwa die Frage, inwieweit verfassungswidrige Gesetze noch Geltung jenseits eines Richterspruchs nach § 31 BVerfGG beanspruchen können. Dann relativiert sich die Geltung von Gesetzen über längere Sicht aber auch dadurch, daß sich ihre Regelungen nie als abschließend, sondern als potentiell korrekturbedürftig erweisen. Noch gar nicht einbezogen in die Überlegungen sind dann der Geltungsanspruch von Gerichtsentscheidungen wie schließlich auch soziologische Erwägungen, inwiefern die faktische Akzeptanz von Gesetzen deren Geltung tangiert und inwieweit man schließlich für die Frage nach der Geltung nicht nach Rechtsgebieten sowie danach differenzieren muß, ob es sich jeweils um zwingendes oder dispositives Gesetzesrecht handelt. Ob und in welcher Weise Dogmatik gilt, ist folglich schwer zu sagen. Leichter kann man sich schon darüber verständigen, daß Rechtsfindung ohne Dogmatik oder besser, ohne die Wahrnehmung der Funktionen, die hier der Dogmatik zugeschrieben wurden - zumindest in einem kodifizierten Recht wie dem deutschen Zivilrecht kaum vorstellbar ist. Der Dogmatik kommt damit eine Autorität zu, die auf eine nicht weiter hinterfragbare Weise an der Autorität des Gesetzes teil hat, 3 8 4 darüber hinaus aber auch erst die Anwendung des Gesetzes ermöglicht. 385 Ob man diese faktische Autorität auch als Geltung bezeichnen kann, ist dann schließlich nicht mehr von Interesse. 386 383
Ähnlich Diederichsen, der eine einheitliche Verwendung von Begriffen für unausweichlich hält und - allerdings auf das Gesetz beschränkt - das Postulat einer gewissen Abstraktionshöhe aufstellt, um diesen Rechtssatz von einer bloßen Sammlung der Regelungen von Einzelfällen zu unterscheiden, vgl. ders., in: Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, S. 65 (72, 76). 384 So auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 229. 38 5 Auf dieser Linie hat Selb, in: Festschrift für Larenz (1983), S. 605 (613 f.), eine Parallele zwischen juristischer und theologischer Dogmatik gezogen. Ebenso wie die theologische Dogmatik nicht an der Autorität ihres Erkenntnisgegenstandes teilhaben sollte und sich gleichwohl immer wieder verändert habe, habe auch die Dogmatik als wissenschaftliche Disziplin die „unverbietbare Freiheit, autoritär vorgegebene Fundamentalsätze, Grundwertungen des Rechts, eigenständig zu Ende zu denken". Die meisten Vorschläge seien Versuche der Annäherung an die eine, beste Lösung. Sie zu denken, sei aber „der Gesetzgeber so fehlsam wie die Dogmatik seiner Zeit".
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III. Zur Entwicklung von Dogmatik „Gute" und „schlechte" Dogmatik? Die vorangegangenen Abschnitte haben die Ordnung von Rechtssätzen und die Entwicklung von Rechtssätzen als gleichberechtigte Tätigkeitsaspekte von Dogmatik herausgearbeitet. Dieser doppelten Sicht auf eine der Auswahl und dem Verstehen von Rechtssätzen dienende Bedeutung von Dogmatik liegt die Einsicht in eine Koexistenz deduktiver und induktiver Methoden der Rechtsfindung zugrunde. Auf dieser Grundlage läßt sich nun abschließend der Gedanke entwickeln, daß es auch hinsichtlich der Arbeitsweise der Dogmatik keinen Sinn macht, beide Methoden der Rechtsfindung gegeneinander auszuspielen. Vielmehr soll abschließend, und mit Blick bereits auf den nachfolgenden dritten Teil zur Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik, die These aufgestellt werden, daß jeder Maßstab für die Leistungskraft von Dogmatik daran ansetzen muß, beiden methodischen Strömungen eine sinnvolle Bedeutung im Rahmen der beiden Hauptfunktionen juristischer Dogmatik zuzuweisen. Das geschieht in der vorliegenden Untersuchung, indem der für die Auswahl von Rechtssätzen bedeutsame Aspekt einer Ordnung an einem Ideal deduktiver Methoden der Rechtsfindung orientiert wird, der für das Verstehen von Rechtssätzen bedeutsame Aspekt einer fallorientierten Regelbildung hingegen am Ideal induktiver Methoden der Rechtsfindung. Indem sich die Dogmatik sowohl um eine Ordnung der Rechtssätze wie um eine Fortentwicklung von Rechtssätzen bemüht, steht sie also ihrerseits in einem Spannungsfeld deduktiver und induktiver Methoden der Rechtsfindung (1.). Diese Einschätzung erlaubt es schließlich auch, der Frage nachzugehen, wer nun andererseits die Dogmatik kontrolliert und ob sich in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben möglicherweise eine „gute" von einer „schlechten" Dogmatik unterscheiden läßt (2.).
1. Die Entwicklung von Dogmatik im Spannungsfeld deduktiver und induktiver Methoden der Rechtsfindung Das Spannungsfeld, in dem die Dogmatik zwischen deduktiven und induktiven Methoden der Rechtsfindung, zwischen einem Leitbild systematischer Orientierung und einem Leitbild fallorientierter Regelbildung steht, ist bereits in den einzelnen Stellungnahmen zur Dogmatik deutlich geworden, die durchweg zwischen
386 In diesem Sinne bezeichnet etwa Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 36, die Dogmatik in einem weiteren Sinne denn auch als die „Lehre vom Recht [ . . . ] , die gilt". Eine weitere Perspektive auf die Problematik eröffnet sich mit der von Canaris zur Einordnung der UNIDROIT-Principles und der European Principles vorgetragenen Unterscheidung von Rechtsgeltungs-, Rechtserkenntnis- und Rechtsgewinnungsquellen, in: Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht, S. 5 (8 ff.), ohne daß der - im Hinblick etwa auf das englische Recht freilich auch vorwiegend kontinentaleuropäisch gebrauchte Begriff der Dogmatik dort allerdings eigenständig thematisiert würde.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
den Vorzügen eines logisch-systematischen Vorgehens und der Unerläßlichkeit wertender, induktiv-pragmatischer Fallerörterung hin- und hergerissen sind. 387 Als neuralgischer Punkt hat sich dabei die Frage erwiesen, welchen Stellenwert man den scheinbar zu freier Beliebigkeit oder gar Billigkeit neigenden induktiven Techniken der Regelbildung einzuräumen bereit ist. Hingegen konnten sich die am Syllogismus orientierten deduktiven Strömungen angesichts ihrer bis heute großen praktischen Bedeutung gegen alle berechtigte erkenntnistheoretische Kritik behaupten. Wo setzt diese Skepsis an den induktiven Methoden der Rechtsfindung nun aber konkreter an? Nach Wieacker opfern alle „Rechtsfindungsverfahren der individualisierenden Fallgerechtigkeit [ . . . ] jene objektive Sicherheit und intellegible Einsichtigkeit der Urteilsbegründung auf, die zur Integration der Rechtsordnung in einer rationalen Gesellschaft unerläßlich und daher gleichfalls eine eminent praktische Aufgabe der Dogmatik ist". 3 8 8 Ähnlich sieht Esser eine Gefahr von einem allzu häufigen „Durchgriff auf Direktwertungen der Lebenssachverhalte" ausgehen, Meyer-Cording spricht gar davon, daß der Jurist mit seiner Offenheit für induktiv-kasuistisches Denken, für Wert- und Interessenabwägungen und für das topische Denken „die sozialwissenschaftliche Arena" betrete und den Vorteil der Entlastung und Neutralität verlöre, der aus der Anwendung der rein logischen Methode folge. 389 Als Hauptdefizit dieser Strömungen erscheint somit die Erwägung, daß sie - in unterschiedlichem Grade - der Anbindung ihrer Ergebnisse an eine höherrangige Norm entbehren. Besonders heftiger Kritik sieht sich dabei vor allem die juristische Topik ausgesetzt, wie sie in Deutschland insbesondere durch Viehweg bekannt geworden ist. 3 9 0 In einem negativen Sinne, verstanden als ein Einfallstor für ungeordnete argumentative Beliebigkeit, ist sie auf deutliche Ablehnung gestoßen.391 So ist man denn am ehesten dazu bereit, der Topik eine Bedeutung innerhalb einer noch im Fluß befindlichen wissenschaftlichen Diskussion eine Bedeutung zuzugestehen, etwa als ,Vorstufen' für dogmatische Formeln. 392 Wenn man dieser Kritik nun auch durchaus zugestehen muß, daß Strömungen wie die Topik, aber auch eine allzu frei agierende Wertungsjurisprudenz, in der Gefahr stehen, Rechtsanwendung ineffektiv oder gar willkürlich werden zu lassen, so 387 Vgl. oben 2. Teil, 1. Abschnitt. 388 Wieacker, in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (326). 389 Vgl. Esser, AcP 172 (1972), 97 (116, 125); Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 34 f. 390 Die ebenfalls heftig kritisierte Freirechtsbewegung kann heute hingegen außer Betracht bleiben. Zu der 1953 erstmals erschienen Schrift von Viehweg, Topik und Jurisprudenz, eingehender unten 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 2. a), anläßlich einer Kritik topischer Ansätze zum Bereicherungsrecht. 391 Vgl. etwa Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 141 ff.; kritisch auch Wieacker, in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (329 ff.). 392 So explizit Esser, AcP 172 (1972), 97 (126). Vgl. hierzu bereits oben 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. b) cc).
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 161
resultiert diese Gefahr im wesentlichen aber daraus, daß man sie bereits unmittelbar auf den Prozeß der Rechtsfindung selbst bezieht. Das muß unwillkürlich dort auf Ablehnung stoßen, wo das Ideal der Rechtsanwendung gerade nicht im topischen Argumentieren, sondern im syllogistischen Subsumieren liegt. Freier, also weniger normgeleitet, wird die Argumentation erst dort, wo die Auslegung des Rechtssatzes an seine Grenzen stößt, also insbesondere bei Generalklauseln und ausfüllungsbedürftigen Tatbestandsmerkmalen. Zur Vermeidung von Mißverständnissen wird dann insoweit allerdings nicht von topischem Argumentieren, sondern von wertender Abwägung gesprochen. Daß man der Topik eine Bedeutung für die Entwicklung von Dogmatik beimißt, kommt also nicht von ungefähr, stimmt dieser Bereich einer abwägenden Bildung von Falltypen und Suche nach Hilfsnormen doch in methodischer Hinsicht mit dem zweiten Funktionsbereich der Dogmatik überein, Rechtssätze im Sinne von Auslegungsvorschlägen fortzuentwickeln. Nur das mit der Topik und ähnlichen Strömungen verbundene große Maß an Freiheit ermöglicht es überhaupt erst, in der Diskussion den entscheidenden Gesichtspunkt herauszubilden, in dem sich die einzelnen Fallkonstellationen ähneln. Selbst scharfe Kritiker sehen denn auch in dieser Freiheit induktiver Strömungen die Kraft für eine Fortentwicklung des Rechts, etwa Esser, wenn bei ihm das topische Argument zur Vorstufe dogmatischer Formeln wird, mit denen sich der endgültige Standort für eine neue Konfliktentscheidung im Rahmen der vorhandenen Kategorien aufspüren ließe. 393 Ähnlich spricht Wieacker von der „alten inventorischen Funktion" der Topik, 3 9 4 und ähnlich hält selbst Meyer-Cording die pragmatische Vorgehensweise in schwierigen Fällen nicht für gefahrvoll, sondern für unentbehrlich. 395 Dann ist es aber auch durchaus kein Widerspruch, der Dogmatik zum einen eine rationale Kontrollfunktion beizumessen, ihr zum anderen aber auch Freiräume zuzugestehen, wie sie von der Topik möglicherweise nur allzu einseitig ins Auge gefaßt werden. 396 Von zentraler Bedeutung muß es dann aber sein, die beiden Ebenen der Rechtsanwendung und der Dogmatik schärfer zu unterscheiden. Beide Ebenen sind zwar notwendig aufeinander bezogen, indem sich der Rechtsanwender die Dogmatik für die Auswahl und für das Verstehen von Rechtssätzen nutzbar macht, wie die Dogmatik umgekehrt auf die Ergebnisse der Rechtsanwendung zurückgreift, um hieran anknüpfend Rechtssätze fortzuentwickeln und sie in das bestehende Ordnungsgefüge einzupassen, das auf diese Weise einer ebenso trägen wie stetigen Veränderung unterliegt. Die am Syllogismus ausgerichtete deduktive Methode der Rechtsfindung ist aber eine Technik, auf die der Rechtsanwender bevorzugt zurückgreift, und die jede Dogmatik daher auch vor Augen haben muß, wenn sie Rechtssätze in ein Ordnungsgefüge einpaßt. Die induktive Methode der 393 Vgl. Esser, AcP 172 (1972), 97 (124 ff.). 394 Wieacker, in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (334 f.). 395 Vgl. Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 40. 396 Als unbefriedigend empfindet vor allem Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, diese gespaltene Einschätzung. Eingehender hierzu bereits oben 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. b) bb). 11 Gödicke
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
Rechtsfindung ist hingegen eine Technik, die der Rechtsanwender in einem kodifizierten Recht weitgehend scheut, und die er daher nur in unausweichlichen Grenzbereichen einsetzt, während sie für die Dogmatik die entscheidende Entwicklungstechnik ist, um anknüpfend an Fälle zur Entwicklung von Rechtssätzen zu gelangen.
2. Zum Scheitern von Dogmatik Damit kommt schließlich auch dem von Esser so abfällig gebrauchten Begriff einer „Vulgärdogmatik" eine durchaus positive Bedeutung zu. 3 9 7 Geradezu euphemistisch kommt hierin das praktische Anliegen der Dogmatik zum Ausdruck, ihre Ordnungsgefüge und Auslegungsvorschläge der großen Menge (lat. vulgus) 39S der Juristen zu präsentieren, um damit überhaupt erst zum Auswählen und zum Verstehen von Rechtssätzen beitragen zu können. Wo Dogmatik nicht mehr Vulgärdogmatik ist, weil ihre Vorschläge von der überwiegenden Mehrheit der Juristen nicht mehr nachvollzogen und daher abgelehnt werden, ist sie mit der Wahrnehmung ihrer Aufgaben auch gescheitert. Läßt sich mithin eine „gute" von einer „schlechten" Dogmatik unterscheiden? 399 Vor dem Hintergrund der hier getroffenen Funktionsbeschreibung muß Dogmatik „gut" sein, soweit sie ein praktikables Ordnungsgefüge zur Verfügung stellt, an dem sich der Rechtsanwender bei der Auswahl von Rechtssätzen orientieren kann, und soweit es ihr gelingt, Falltypen und möglichst Hilfsnormen herauszubilden, die der Rechtsanwender im Rahmen des Verstehens der ausgewählten Rechtssätzen einsetzen kann. „Schlecht" muß also umgekehrt eine Dogmatik sein, die überkommene Ordnungsgefüge allzu offenherzig beiseite schiebt, und die im Bemühen um die Herausbildung von Rechtssätzen auf einer vergleichsweise niedrigen Abstraktionsstufe von Falltypen stehen bleibt, oder aber so viele unterschiedliche Hilfsnormen entwickelt, daß mit einem hohen Maß an Differenzierung schließlich auch jede Ordnung verfehlt wird. Um einen Gedanken Essers erneut aufzugreifen, wird dem Rechtsanwender dann die „Selektion des Positiv397 Esser, AcP 172 (1972), 97 (99). 398 Als weitere Bedeutungen des Substantivs werden „Volk", „Leute", „das (große) Publikum" genannt. Als Adjektiv wird vulgaris entsprechend mit „allgemein üblich, alltäglich, für jeden zu haben" übersetzt. Vgl. Pertsch, Langenscheidts Handwörterbuch LateinischDeutsch, S. 676. 399 Die Gegenüberstellung von „guter" und „schlechter" Dogmatik wurde bereits von Wieacker getroffen. Vgl. hierzu Kötz, AcP 172 (1972), 172 (173), der sie in den letzten Jahren erneut in die Diskussion gebracht hat, vgl. ders., in: Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, S. 75 (89); zustimmend Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 238 (Fn. 252). Mit der Entgegensetzung von Gut und Böse wird ein die abendländische Philosophie tief prägender manichäischer Gedanke aufgegriffen, der über das Christentum hinaus mit den Denkern der Aufklärung auch das heutige Verständnis der Ethik prägt. Vgl. hierzu Schapp, Freiheit, Moral und Recht, S. 66 f., 97 f., 122 f.
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 163
Relevanten" erschwert, weil sich die Vielzahl an Auslegungsmöglichkeiten nicht beschränken läßt. Die Arbeitsfähigkeit des Entscheidungssystems muß dann zwangsläufig Einbußen hinnehmen.400 Jede Kritik muß dabei allerdings sehr scharf die Ausgangsebene in den Blick nehmen, die sich dem dogmatischen Arbeiten bietet, und die zu weiten Teilen vorgibt, welche Leistungen man von der Dogmatik redlicherweise überhaupt verlangen kann. Wenn etwa der Gedanke einer Auswahl der Rechtssätze auf seine Grenzen stößt, je mehr man sich auf die Ebenen der außergesetzlichen Hilfsnormen begibt, 4 0 1 so präjudiziert bereits der Abstraktionsgrad der gesetzlichen Rechtssätze eines Rechtsgebiets weithin die Ordnungskraft der Dogmatik. Kann sie in einem dicht normierten Bereich schon auf einer mittleren Abstraktionsstufe differenzierter Falltypen und Hilfsnormen ansetzen, so kommt ihr in einem Rechtsgebiet wie dem Bereicherungsrecht, das nur äußerst spärliche gesetzliche Regelungen enthält, zunächst die Funktion zu, ein Ordnungsgefüge von Anspruchsnormen für dieses Rechtsgebiet zu konstituieren, an das sich ein Ordnungsgefüge von Hilfsnormen mit allen tieferen Abstraktionsebenen dann noch anschließen muß. Zur zentralen Frage für die Herausbildung eines solchen Ordnungsgefüges wird dann die Uberlegung, wie ähnlich die hier zu behandelnden Fallkonstellationen tatsächlich sind. Das Ausmaß an Ähnlichkeit bestimmt dann darüber, ob sich die Fallkonstellationen unter wenigen Rechtssätzen abhandeln lassen oder aber nur in einer größeren Anzahl von Rechtssätzen, die den erforderlichen Unterschieden in der Begründung auch Rechnung trägt. Der nunmehr erreicht Stand der Überlegungen ermöglicht es auch, näher zu kennzeichnen, worauf die Kritik von Dogmatik genauer abzielt, die die Rolle einer Kontrolle - und Entlastung? - von Dogmatik ihrerseits einnimmt. In sachlicher Hinsicht zielt die Kritik von Dogmatik angesichts der trägen Veränderung leitender Ordnungsgesichtspunkte in erster Linie auf das zweite Tätigkeitsfeld der Dogmatik ab, also auf das Revidieren überkommener Rechtssätze der Dogmatik und das Entwickeln neuer Falltypen und Rechtssätze, in zweiter Hinsicht aber auch auf ein Überprüfen leitender Ordnungsgesichtspunkte der Dogmatik. In personeller Hinsicht werden mit der Dogmatik im Ausgangspunkt Rechtswissenschaft, Rechtslehre und Rechtsprechung gleichermaßen ins Auge gefaßt, bei näherem Hinsehen dann allerdings doch deutlicher die Rechtswissenschaft und die Rechtslehre als die Rechtsprechung.
400 So der Gedanke Essers, AcP 172 (1972), 97 (103). Im Hinblick auf eine „unaufhaltsame Verfeinerung der Dogmatik" spricht Diederichsen gar von einem Methodenmißbrauch. Sie sei nicht Verbesserung und Fortschritt, sondern gegebenenfalls Rückschritt und Verschlechterung der Dogmatik. Vgl. ders., in: Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, S. 65 (73). 401 Vgl. oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 4. 1
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
IV. Resümee Das Anliegen dieses zweiten Teils war es, den eigentlichen Gegenstand dessen näher zu identifizieren, was heute als „bereicherungsrechtliche Dogmatik" im Kreuzfeuer der Kritik steht, um auf diese Weise überhaupt erst eine Würdigung dieser Kritik und der in ihr verfolgten Lösungsansätze zum Bereicherungsrecht zu ermöglichen. Dabei bezweckte die Einnahme der Perspektive speziell auf die Dogmatik zweierlei. Zum einen wurde damit eine verengte Sicht auf Leistungen allein der Rechtswissenschaft, der Lehre oder der Rechtsprechung vermieden. Zum anderen wurde jede dieser Teildisziplinen dann aber auch nur insoweit beleuchtet, als sie für die Dogmatik bedeutsam ist, womit - bei aller gegenseitigen Beeinflussung - eine scharfe Grenzlinie zwischen Dogmatik und Rechtsanwendung gewahrt bleiben konnte. Unter Dogmatik wird heute - als kleinster gemeinsamer Nenner - die Lehre vom geltenden Recht verstanden, die nicht neben das Gesetz tritt, sondern das Gesetz zum Gegenstand hat und seinem Verständnis dient. Die nähere Bestimmung ihrer Funktionen anhand der Literatur, aber auch anhand der Rechtsprechung des BGH hat dabei ergeben, daß der Dogmatik heute vor allem zwei Funktionen zugewiesen werden, die sich freilich weitgehend als die beiden Kehrseiten einer Medaille erweisen. Zum einen soll die Dogmatik eine rationale Kontrolle der Rechtsanwendung ermöglichen, indem sie ein allseits verbindliches Ordnungsgefüge für eine große Vielzahl von Rechtssätzen zur Verfügung stellt. Zum anderen soll sie der Entlastung des Rechtsanwenders dienen, der nicht darauf verwiesen bleiben soll, von Fall zu Fall stets eigenständig die denkbaren Auslegungsmöglichkeiten der heranzuziehenden Normen erarbeiten zu müssen. Ein Blick in die jüngere Privatrechtsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat gezeigt, daß diese doppelte Funktionszuschreibung deutlich den beiden so gegensätzlich erscheinenden Strömungen der Begriffsjurisprudenz und der Interessenjurisprudenz verpflichtet ist. Mit dem Aufkommen der lnteressenjurisprudenz und verwandter Strömungen, die gleichermaßen die Fallentscheidung als Akt der Bewertung eines Interessenkonflikts begreifen, scheint dem Rechtsanwender seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Bewertungsfreiheit zugestanden zu werden, die es im Interesse einer am Gleichheitsgedanken orientierten Rechtsanwendung zu beschränken gilt. Auf entsprechend scharfe Ablehnung stieß insbesondere die Freirechtsbewegung und stoßen heute Strömungen der juristischen Topik, die nach weit verbreiteter Auffassung beide je auf ihre Weise einem zügellosen Agieren des Rechtsanwenders das Wort reden 4 0 2 Die Sicht auf die Dogmatik wird damit von einem auch heute noch allemal in der Praxis vorherrschenden Idealbild der Rechtsanwendung durch Subsumtion geprägt. Die Dogmatik steht so in einem Spannungsverhältnis methodologischer Strömungen, die bald induktiv am Fall ansetzen, bald deduktiv am bestehenden 402 Oben 2. Teil, 1. Abschnitt, II.
3. Abschnitt: Wirksamwerden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 165
System der Rechtssätze und rechtstechnischen Begriffe. Der Blick in die Historie zeigt nun freilich, daß sich hinter diesem Spannungsverhältnis eine uralte erkenntnistheoretische Kontroverse verbirgt, wie sie vor allem Gegenstand des mittelalterlichen Universalienstreits gewesen ist, und wie sie seit jeher neben anderen Wissenschaften auch die Jurisprudenz begleitet hat. In der Dogmatik tritt dieser Gegensatz erneut auf, wenn ihr heute unter Rückgriff vor allem auf Kant einerseits eine Ausrichtung allein auf deduktive Methoden der Erkenntnis abgesprochen wird, ihr andererseits aber die Bedeutung belassen wird, mit der logisch-systematischen Lehrart das Arbeiten mit induktiv gewonnen Regeln überhaupt erst zu gewährleisten. Um die Dogmatik nun aber nicht in einem bloßen unfruchtbaren Gegensatz induktiver und deduktiver Methoden der Rechtsfindung stehen zu lassen, hat sich die Untersuchung darum bemüht, der Dogmatik unterschiedliche, an beiden methodischen Gegensätzen orientierte Funktionen zuzuweisen und diese Funktionen sinnvoll auf den Prozeß der Rechtsfindung, beschränkt auf das Zivilrecht, zu beziehen. Aufbauend auf der Unterscheidung von Verstehen und Anwenden des Rechtssatzes wurde der Prozeß der Rechtsfindung dabei nach vorne um die Stufe eines Auswählens von Rechtssätzen ergänzt, die sich schließlich als der zentrale Anknüpfungspunkt für das Wirksamwerden der Dogmatik im Zivilrecht erwiesen hat. 403 Der Auswahl von Rechtssätzen, also von Anspruchsnormen und Hilfsnormen, dient dabei im Ausgangspunkt ein auf wenigen Leitlinien basierendes Ordnungsgefüge, das seinerseits eine Leistung juristischer Dogmatik darstellt, indem sich in ihm das Gelehrtenrecht vieler Jahrhunderte sammelt, das sich daher auch mehr bewahren denn fortwährend verändern läßt. 404 Gerade wegen dieser Konstanz erweist sich dieses Ordnungsgefüge dann aber auch als der maßgebliche Orientierungspunkt für die zweite Bedeutung zivilrechtlicher Dogmatik, die nun auf der zweiten Ebene der Rechtsfindung, dem Verstehen des Rechtssatzes, anzusiedeln ist. Der Dogmatik kommt hier die Aufgabe zu, aus403 Oben 2. Teil, 2. Abschnitt. In der Konsequenz einer Beschränkung der Überlegungen zur Dogmatik auf das Zivilrecht liegt es, daß beide herausgearbeiteten Funktionen zivilrechtlicher Dogmatik in anderen Rechtsgebieten zumindest eine andere Gewichtung erfahren. Wenn das Zivilrecht heute auf Ordnungskategorien zurückgreifen kann, die sich über viele Jahrhunderte hinweg bewährt haben, so dürfte eine zentrale Funktion etwa der öffentlichrechtlichen Dogmatik darin bestehen, solche Ordnungsgefüge von Rechtssätzen noch deutlicher herauszubilden. Dabei kann hier lediglich die Vermutung geäußert werden, daß auch insoweit der Fall das zentrale Entwicklungsmoment darstellt, wie vor allem die zentrale Bedeutung der Rechtsprechung des BVerfG für die Herausbildung der Grundrechtsdogmatik belegt. Fast noch deutlicher wird dieser Fallbezug in anderen Bereichen des öffentlichen Rechts, in denen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung unter Reaktion auf die Veränderung der Lebenswelt versuchen, neuartige Regelungsbereiche zu konstituieren. So begreift etwa Karthaus seine Untersuchung über das Recht der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen als Beitrag „zu einer allgemeinen Dogmatik des Rechts im Umgang mit Ungewißheit" im öffentlichen Recht. Vgl. ders., Risikomanagement durch ordnungsrechtliche Steuerung, S. 26. 404 Oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I.
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2. Teil: Zur Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung
gehend von neuen in der Lebenswelt auftretenden Interessenkonflikten die Formulierung von Rechtssätzen zu suchen, die sich in das überkommene Ordnungsgefüge einpassen lassen. In diesem Bereich liegt die in den Kerngebieten des BGB bedeutsamere, gleichsam innovative Funktion juristischer Dogmatik. Als zentrales Entwicklungsmoment von Dogmatik wurde dabei der Fall begriffen. Die Dogmatik sucht ausgehend vom Fall nach dem tertium comparationis, das es rechtfertigt, in den miteinander verglichenen Fällen gleichermaßen eine konkrete Rechtsfolge eintreten zu lassen. Häufig läßt sich dieses tertium comparationis längst noch nicht im Sinne eines konditionalen „wenn... dann.. ."-Schemas erfassen. Lassen sich zunächst häufig nur Falltypen oder Fallgruppen durch Beschreibung einiger Merkmale einschlägiger Fälle beschreiben, wird meist erst allmählich die Formulierung einer Regel, also eines Rechtssatzes möglich. Die Ausrichtung auf den Syllogismus als Ideal rationaler Rechtsfindung treibt die Dogmatik jedoch dazu an, stets an einer solchen Formulierung zu arbeiten. 405 Der dritte Schritt in der Rechtsfindung, die Anwendung des Rechtssatzes auf den Fall, ist dann hingegen eine Ebene, die von der Dogmatik nicht mehr berührt wird. Ihre Aufgaben erschöpfen sich darin, diese Anwendung lediglich vorzubereiten, wie denn auch das Auswählen und das Verstehen des Rechtssatzes stets nur das Ziel haben, die Anwendung des Rechtssatzes zu ermöglichen. 406 Indem damit die jeweilige Bedeutung der Dogmatik für alle drei Ebene der Rechtsfindung bestimmt werden konnte, kann dann schließlich auch den unbefriedigend abstrakt bleibenden Kennzeichnungen der Dogmatik als Instanz der ,Kontrolle' und der ,Entlastung' nähere Kontur verliehen werden. Der Aspekt einer Kontrolle durch Dogmatik ist - jedenfalls der deutlichen Tendenz nach - dem an der Auswahl des Rechtssatzes ansetzenden Gedanken einer Ordnung von Rechtssätzen verpflichtet, während der Aspekt einer Entlastung durch Dogmatik dem Gedanken einer Herausbildung von Rechtssätzen und damit dem Verstehen des Rechtssatzes näher steht. Unter Dogmatik läßt sich somit zum einen die Lehre vom geltenden Recht begreifen, die sich - häufig seit langer Zeit - in der Fachwelt durchgesetzt hat. In einem weiteren Sinne kann man unter Dogmatik - in einem Stadium jüngerer Entwicklung - aber auch die Lehre vom geltenden Recht verstehen, die in der Fachwelt mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit erst vorgetragen und diskutiert wird. Der Erfolg von Dogmatik hängt damit wesentlich davon ab, inwiefern sie bei der Herausbildung von Rechtssätzen und neuen Ordnungsgefügen die überkommenen Ordnungsgesichtspunkte wahrt, und inwiefern es ihr gelingt, neu herausgebildete Rechtssätze auf einer geeigneten Abstraktionsebene zu halten, die einerseits die Ebene von Falltypen verläßt, andererseits aber auch nicht auf der Ebene von 405 Oben 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 406 Zur Möglichkeit einer solchen Trennlinie vgl. im Hinblick auf die Dogmatik oben 2. Teil, 1. Abschnitt, III., im Hinblick auf das Verstehen des Rechtssatzes oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III.
3. Abschnitt: Wirksam werden der Dogmatik in einzelnen Stufen der Rechtsfindung 167
Generalklauseln stehen bleibt. Inwiefern dieser Erfolg erreichbar ist, hängt dann aber nicht nur von der dogmatischen Arbeit selbst ab. Der Ansatz an der Fallentscheidung zeigt vielmehr, daß es zu einem großen Teil das materielle Recht und die hierdurch ins Auge gefaßten lebensweltlichen Konflikte selbst sind, die der Dogmatik die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen einer Ordnung vorgeben. Entsprechend muß jede Kritik von Dogmatik diese materielle Ausgangsebene berücksichtigen. 407 Für die nun in einem 3. Teil der Untersuchung zu behandelnde Frage nach einer methodischen Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik hat dies zur Konsequenz, das eine Reflexion der heute vorgetragenen Kritik zunächst voraussetzt, die materiellrechtliche Ausgangsebene dogmatischer Arbeit im Bereicherungsrecht noch schärfer in den Blick zu nehmen, als dies im 1. Teil der Untersuchung geschehen ist. 4 0 8
407 Oben 2. Teil, 3. Abschnitt, III. 408 Zum Defizit des gesetzlichen Regelungssystems und zur Komplexität der mit Hilfe des Bereicherungsrechts zu korrigierenden Vermögensmehrungen oben 1. Teil, II. 1. und 2.
Dritter Teil
Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik Mit der im ersten Teil der Arbeit dargestellten Kritik an der Unüberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik setzt die Untersuchung an der Funktion juristischer Dogmatik an, Hilfsnormen zur Spezifizierung gesetzlicher Rechtssätze zu entwickeln und die dabei herausgebildeten Falltypen und Rechtssätze in ein Ordnungsgefüge einzupassen, das dem Rechtsanwender zur Auswahl der Rechtssätze dienen kann. Der Leistungskraft der Dogmatik sind dabei mit der Generalklausel des § 812 BGB von vornherein deutliche Grenzen gesetzt, weil der von der Dogmatik zu entwickelnde Apparat an Falltypen und Hilfsnormen an einer bereits im Gesetz angelegten hohen Abstraktionsebene ansetzen muß. Der Erfolg der Dogmatik hängt hier also erst recht entscheidend davon ab, wie weit sie den Bedürfnissen des Rechtsanwenders nach Übersichtlichkeit entgegenzukommen vermag. Die Einfügung der Rechtssätze in ein Ordnungsgefüge an Rechtssätzen bildet gleichsam den Prüfstein juristischer Dogmatik. Die viel gescholtene Bemerkung des BGH, sich jede schematische Lösung zu verbieten,1 kann insoweit als Weigerung der Rechtsanwender begriffen werden, der Dogmatik im Bereicherungsrecht das Gelingen ihrer Aufgaben zu bestätigen.2 In diesem letzten Teil der Untersuchung sollen die Ursachen dieser Entwicklung, aber auch die daraus zu ziehenden Konsequenzen beleuchtet werden. Wie bereits angekündigt,3 soll dies jedoch nicht in der Weise geschehen, daß nun nach dem einen richtigen neuen materiellrechtlichen Konzept für das Bereicherungsrecht zu fragen wäre. Derartige Ansätze haben sich als bedeutsam zur Klärung vieler Einzelfragen erwiesen, sind mit ihrem Anliegen einer „Neubegründung" der Dogmatik hingegen weitgehend fruchtlos geblieben. Wenn hier daher stattdessen Überlegungen zu einer methodischen Konsolidierung des Bereicherungsrechts angestellt werden sollen, so ist also in erster Linie die Abgrenzung von einer überzo-
1
Vgl. die Nachweise oben, 1. Teil, I. Wenn Wieling, Bereicherungsrecht, Vorwort (S. IX), hingegen vernichtend von einer „Bankrotterklärung der Rechtswissenschaft" durch die Rechtsprechung spricht, wird die - im Bereicherungsrecht durchaus weiterhin bestehende - Gesprächsbereitschaft zwischen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft als Entwicklungspotential juristischer Dogmatik allzu sehr vernachlässigt (zu den Gedanken Wielings näher unten 2. Abschnitt, II. 1.). 2
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Vgl. oben Einführung sowie 1. Teil, III.
3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
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genen materiellrechtlichen Ausrichtung der Problematik beabsichtigt.4 Die Untersuchung versucht damit, einer in der Literatur angelegten Tendenz schärfere Konturen zu verleihen, der Reflexion geeigneter Methoden der Rechtsfindung eine zentrale Bedeutung zur Bewältigung der im Bereicherungsrecht bestehenden Probleme beizumessen.5 Dabei geht die zentrale These allerdings nicht dahin, daß im Bereicherungsrecht gleichsam die Frage einer angemessenen „Methodenwahl" für die Rechtsfindung zu lösen ist. Ein fallorientierter und ein systemorientierter Ansatz zum Bereicherungsrecht schließen einander nicht aus, sondern nehmen im Hinblick auf die Dogmatik einerseits und die Rechtsanwendung andererseits lediglich unterschiedliche Funktionen wahr. Während die Dogmatik fallorientiert an einem System von Rechtssätzen arbeitet, greift der Rechtsanwender systemorientiert dieses Ordnungsgefüge auf, um seine Fälle zu entscheiden. Wenn besonders heftig die Maßgeblichkeit „wertungsorientierter" Ansätze zum Bereicherungsrecht diskutiert wird, so resultiert das also nicht daraus, daß sich das Bereicherungsrecht aus welchen Gründen auch immer besser durch eine fallorientierte oder „wertungsorientierte" Methodik der Rechtsfindung anwenden ließe. Vielmehr akzentuieren diese Ansätze zunächst einmal lediglich die Tatsache, daß die bereicherungsrechtliche Dogmatik nicht zum Zweck einer deduktiven Anwendung von Rechtssätzen fertig bereitliegt, sondern sich in einem lebendigen Entwicklungsprozeß befindet, der notwendig am Fall ansetzen muß.6 Der Akzentuierung eines systemorientierten Ansatzes zum Bereicherungsrecht kommt dann andererseits aber die wichtige Bedeutung zu, darauf aufmerksam zu machen, daß sich die Dogmatik in ihrer Arbeit an einem methodischen Ideal deduktiver syllogistischer Rechtsfindung orientieren muß, wenn sie beim Rechtsanwender auf Gehör stoßen möchte. Der fallorientierte 4 Programmatisch der Titel der weitgehend wirkungslos gebliebenen Schrift von J. Wolf, Der Stand der Bereicherungslehre und ihre Neubegründung. Costede, Dogmatische und methodologische Überlegungen zum Verständnis des Bereicherungsrechts, S. 32 ff., mahnt zwar eine bewußtere methodische Reflexion der bereicherungsrechtlichen Dogmatik an, deutet einen eine solche Reflexion notwendig leitenden methodologischen Maßstab aber allenfalls an, wenn er sich einerseits anerkennend zu induktiven Techniken der Rechtsfindung äußert, andererseits „zur widerspruchsfreien Einheit der Rechtsordnung" bekennt, ohne dabei den Prozeß der Rechtsfindung im Zivilrecht konkret ins Auge zu fassen. Ist der methodologische Maßstab insoweit also kaum erkennbar, so unterliegt seine Untersuchung mit ihrer einseitigen sachlichen Ausrichtung auf Kaehler, Bereicherungsrecht und Vindikation (vgl. Costede, S. 41 ff.), dann aber vor allem auch den gleichen materiellen und methodologischen Bedenken wie andere Einheitskonzeptionen zum Bereicherungsrecht (ausführlicher zu diesen Bedenken unten, 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 1., sowie 2. Abschnitt, II.). Trotz ähnlicher Bedenken insbesondere gegen ein Zentralkriterium „Leistungsbegriff 4 weitaus fruchtbarer daher die Kritik und die Neukonzeption der bereicherungsrechtlichen Dogmatik durch Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, §§ 67 ff. (S. 127 ff.). Vgl. hierzu ausführlicher unten, insbesondere 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 3. b). 5
Von einer „dringend notwendigen methodischen Neuorientierung" zum Bereicherungsrecht spricht explizit Esser ! Weyers, Schuldrecht, 7. Aufl., Vorwort (S. VI). Auch neun Jahre später dem Impetus nach unverändert ders., Schuldrecht I I / 2 , § 47 (S. 27 ff.). 6 Vgl. oben 2. Teil, 3. Abschnitt, II. und III.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
und der systemorientierte Ansatz zum Bereicherungsrecht sind hier also in einer bereits oben geschilderten Weise im Sinne von Freiheit und Mäßigung aufeinander bezogen.7 Klarzustellen ist allerdings auch noch einmal, daß mit der Ausrichtung an einer methodologischen Konsolidierung nicht die These verbunden sein kann, daß sich die Frage einer materiellrechtlichen Konsolidierung des Bereicherungsrechts nur in zweiter Hinsicht oder nach Erörterung einer methodischen Konsolidierung gar überhaupt nicht mehr stellen würde. Die materielle Ordnung des Bereicherungsrechts stellt selbstverständlich das eigentliche Problem und damit auch das zentrale Betätigungsfeld der dogmatischen Mühen um eine Konsolidierung dar. Die hier angestellten Überlegungen verstehen sich mithin lediglich als Begleitung einer Entwicklung des materiellen Rechts, in der die konsequente methodologische Reflexion hinter einer vielfältigen Einzelproblemerörterung leicht in die zweite Reihe tritt. Sieht man wie hier eine enge Verbindung zwischen juristischer Methodenlehre und materiellem Recht, so birgt die im folgenden vorgenommene materiellrechtliche Beschränkung zwar die Gefahr, wesentliche Bezüge auch der methodologischen Problematik selbst abzuschneiden. Diese Gefahr kann hier jedoch nur in Kauf genommen werden, weil die Durchführung der Untersuchung sonst an der Unüberschaubarkeit des heutigen Bereicherungsrechts und damit an der von ihr ins Auge gefaßten Problematik selbst scheitern müßte. Der Gedankengang gliedert sich wie folgt. Der 1. Abschnitt greift zunächst die These auf, daß die Ordnungskraft zivilrechtlicher Dogmatik im Ansatz von der normativen und materiellrechtlichen Ausgangsposition eines Rechtsgebiets abhängt. Insoweit soll allerdings weniger auf den bereits oben beleuchteten dünn gesäten Normapparat des Bereicherungsrechts eingegangen werden,8 als vielmehr die Frage gestellt werden, welche materiellrechtlichen Ordnungsgesichtspunkte zur Errichtung eines bereicherungsrechtlichen Ordnungsgefüges von Rechtssätzen zur Verfügung stehen. Die These geht hier dahin, daß das Bereicherungsrecht im Kern auf den beiden von Wilburg herausgearbeiteten Säulen der Leistung und des Eingriffs ruht, und daß sich hierin die das gesamte Anspruchssystem prägende Unterscheidung von Schuldverhältnis und Eigentum niederschlägt. Der Gedanke einer offenen Typologie von Bereicherungsansprüchen, wie ihn vor allem v. Caemmerer entwickelt hat, steht dieser Zweiteilung im Ausgangspunkt entgegen. Soll die entscheidende Systemaussage des BGB nicht in Frage gestellt werden, läßt sich der Gedanke einer Typologie mithin nur halten, wenn man präzise die einzelnen Abstraktionsebenen einer solchen Typologie auseinanderhält und damit das Bereicherungsrecht in der Spitze aber auch auf die Zweiteilung in Leistung und Eingriff ausrichtet. 7
Zum Gedanken einer Begrenzung der Wertungsfreiheit des Rechtsanwenders durch die der analytischen Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts zugrunde liegenden Techniken vgl. eingehender oben 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 8 Vgl. insoweit bereits oben 1. Teil, II. 1.
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
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Der 2. Abschnitt wendet sich dann ausführlicher den einzelnen methodischen Ansätzen einer Konsolidierung des Bereicherungsrechts zu, wie sie vor allem in der Literatur vertreten werden, aber auch in der Rechtsprechung zum Ausdruck kommen. Die These geht hier dahin, daß syllogistische Rechtsanwendung und fallorientierte Wertung im Einzelfall von den meisten Autoren zwar nicht mehr als Gegensatz begriffen werden mögen, daß die Diskussion aber weiterhin von einer methodischen Dichotomie geprägt wird, wenn die Uneinigkeit nun in der angemessenen Gewichtung beider methodischer Ansätze besteht. Im 3. Abschnitt wird auf dieser Grundlage der Standpunkt entwickelt, daß es im Hinblick auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Rechtsfindung alles andere als sinnvoll erscheint, überkommene Rechtssätze der bereicherungsrechtlichen Dogmatik (pars pro toto der bereicherungsrechtliche Leistungsbegriff) aufzugeben oder auch nur zu bloßen Orientierungshilfen herabzuwürdigen. Die Relativierung des eigenen Instrumentariums hat im Gegenteil zur Folge, daß Rechtssätze und Begriffe auch dann nicht mehr Orientierungshilfen sind, wenn sie als solche bezeichnet werden. Zwar ist es ohne Zweifel erforderlich, daß die Dogmatik stets die Grenzen der von ihr entwickelten Rechtssätze reflektiert. Das darf aber nicht dazu führen, daß bewährte Rechtssätze durch Herausarbeiten maßgeblicher Wertungsgesichtspunkte im Ergebnis unterwandert und schließlich gar aufgegeben werden, solange sich diese Wertungsgesichtspunkte nicht ihrerseits als Anknüpfungspunkte für die Formulierung geeigneterer Rechtssätze aufgreifen lassen.
Erster Abschnitt
Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem Das Anspruchssystem als Kernpunkt zivilrechtlicher Dogmatik dient dem Auswählen von Rechtssätzen. Mit Blick auf das Bereicherungsrecht soll insoweit zunächst die oben9 bereits entwickelte These aufgegriffen werden, daß sich dieses Auswählen weniger an den Rechtsfolgen der Anspruchsnormen als an ihren Tatbeständen orientieren muß. Das gilt sowohl für die Auswahl der einzelnen Anspruchsnormen wie auch für die vorgelagerte Auswahl des Bereicherungsrechts als für die Fallösung geeignetes Rechtsgebiet (I.). Mit dem Blick auf die bereicherungsrechtlichen Tatbestände wird dann, anknüpfend an die obigen Überlegungen zur Entwicklung von Dogmatik, 10 die Frage nach der Ähnlichkeit der Fallkonstellationen gestellt, die vom Gesetz als Fälle ungerechtfertigter Bereicherung aufgegriffen werden. Hier wird sich zeigen, daß die 9 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 2. 10 2. Teil, 3. Abschnitt, II.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Bereicherung durch Leistung und die Bereicherung durch Eingriff die beiden zentralen Konflikttypen bilden, über die sich dem Bereicherungsrecht seit den Schriften Wilburgs und v. Caemmerers im Grunde erst eine Struktur geben läßt. Versuche, stattdessen einen einheitlichen „Rechtsgedanken" als Anknüpfungspunkt der bereicherungsrechtlichen Systembildung zu nehmen, sind demgegenüber unbefriedigend abstrakt geblieben. Das hat seine Ursache im wesentlichen darin, daß das Bereicherungsrecht mit Leistung und Eingriff an die Welt des Vertragsgeschehens einerseits und an die Welt der dinglichen Störungsabwehr andererseits anknüpft - oder, wie gelegentlich mit leicht verschobener Akzentsetzung formuliert wird, an die Welt der Güterbewegung und an die Welt des Güterschutzes - und damit an die Institute des Vertrags und des Eigentums als die entscheidenden Mittel für die privatautonome Gestaltung zivilrechtlicher Rechtsverhältnisse (II.). 11 Den eigentlich problematischen Fallbereich nehmen heute freilich nicht die beiden Grundformen der ungerechtfertigten Bereicherung ein, sondern die sogenannten Dreipersonenverhältnisse. Wenn sich die Untersuchung diesen Konstellationen gesondert (unter III.) zuwendet, so soll damit aber nur in zweiter Hinsicht dieser gesteigerten praktischen Bedeutung Rechnung getragen werden. In erster Hinsicht soll damit bereits auf einer strukturellen Ebene die These zum Ausdruck kommen, daß sich in den sogenannten Dreipersonenverhältnissen kein neuer, gleichsam andersartiger Bereich lebensweltlicher Interessenkonflikte öffnet, sondern daß das Recht hier lediglich eine andere Perspektive auf die Beurteilung der gleichen Zweipersonenverhältnisse einnimmt, die in ihrem Konfliktgehalt stets schon Bereicherung durch Leistung oder Bereicherung durch Eingriff sind. Konsequenzen hat dies insbesondere für die Frage, welcher Interessenkonflikt sich in § 812 I 1 2. Alt. BGB über die Eingriffskondiktion hinaus mit dem Begriff einer „Nichtleistungskondiktion" sinnvoll erfassen läßt. Die sich hieran anschließenden Überlegungen sollen dann weitgehend nur ergänzend zu den vorangehenden verdeutlichen, daß sich eine Einheit bereicherungsrechtlicher Anspruchsbegründung auch nicht über den Gedanken des gesetzlichen Schuldverhältnisses i.w.S. konstituieren läßt, mit dem vielmehr erneut an die beiden Leittypen einer ungerechtfertigten Bereicherung schon angeknüpft wird (IV.).
11
Die Gegenüberstellung von Leistungskondiktion und Eingriffskondiktion entsprechend der Gegenüberstellung eines Rechts der Güterbewegung und eines Rechts des Güterschutzes ist heute weit verbreitet, vgl. nur etwa Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 2 III (S. 33); LarenzI Canaris, Schuldrecht II/2, § 67 I 2 b) (S. 130). Überwiegend wird sie auf v. Caemmerer zurückgeführt, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (230), der - jedenfalls mit dem Gedanken des Güterschutzes - an eine bereits vor Erlaß des BGB geführte Kontroverse innerhalb der Jurisprudenz anknüpft, vgl. Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 27 ff.; Hellwig, AcP 68 (1885), 217 ff. Explizit einen Bereich der „Güterbewegung" und einen Bereich des „Güterschutzes" unterscheidet mit Blick auf das Bereicherungsrecht vor v. Caemmerer allerdings auch schon Kreß, Lehrbuch des Allgemeinen Schuldrechts, I § 1 2. b) (S. 3 f. mit Fn. 7) in seinem Abschnitt über „Erwerbansprüche und Schutzansprüche".
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
173
I. Die Reichweite einer Orientierung bereicherungsrechtlicher Systembildung an den Rechtsfolgen der bereicherungsrechtlichen Anspruchsnormen Die Rechtsfolge aller Bereicherungsansprüche besteht darin, von einem anderen die Herausgabe eines Vermögensvorteils verlangen zu können, weil die Rechtsordnung dessen Rechtsposition hinsichtlich des Vermögensvorteils nicht als dauerhaft anerkennt. Mit der fehlenden Anerkennung ist freilich bereits die Perspektive des Tatbestands schon wieder mit ins Auge gefaßt, die bei einer reinen Betrachtung der spezifischen Rechtsfolgen eigentlich noch ausgespart bleiben müßte. So betrachtet liegt die Rechtsfolge jedes bereicherungsrechtlichen Anspruchs primär lediglich in der Herausgabe eines Vermögens Vorteils. Davon läßt sich ein möglicher sekundärer Inhalt abgrenzen, der sich aus dem weiteren Geschehensablauf ergeben kann, wenn der herauszugebende Vermögensvorteil ζ. B. gebraucht oder verbraucht wird, beschädigt oder zerstört. Hier öffnet sich also ein Bereich von akzessorischen Interessenkonflikten, die zu einem Ausgangskonflikt ungerechtfertigter Bereicherung lediglich hinzutreten. Das soll einerseits den Anlaß bilden, die Ebenen eines primären Inhalts (1.) und eines sekundären Inhalts (2.) bereicherungsrechtlicher Rechtsfolgen zu unterscheiden, beide Inhalte andererseits aber auch gleichermaßen noch auf der Ebene der bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen zu betrachten.
1. Der primäre Inhalt bereicherungsrechtlicher Ansprüche Auf der Ebene ihres primären Inhalts handelt es sich bei bereicherungsrechtlichen Ansprüchen um Herausgabeansprüche, nämlich - in der Diktion des Bereicherungsrechts - um Ansprüche auf Herausgabe eines Vermögens Vorteils. In dieser abstrakten Fassung kommt nun freilich eine Kategorie von Ansprüchen in den Blick, die sich von vergleichbaren Ansprüchen außerhalb des Bereicherungsrechts kaum abgrenzen läßt. Seinem bloßen (vollstreckbaren) Inhalt nach unterscheidet sich der Bereicherungsanspruch weder von der Vindikation nach § 985 BGB (und den Ansprüchen, die entsprechend § 985 BGB gewährt werden, etwa in §§ 1065, 1227 BGB) noch von Herausgabeansprüchen, die über § 249 S. 1 BGB unter Gesichtspunkten des (vertraglichen, vorvertraglichen oder deliktischen) Schadensersatzes zu gewähren sind, wie schließlich nicht einmal vom vertraglichen Erfüllungsanspruch selbst. Hier zeigt sich erneut, daß eine völlig isolierte Betrachtung von Anspruchsinhalten wenig geeignet ist, eine Ordnung von Anspruchsnormen zu tragen. 12
12 Ausführlicher oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 2. a).
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Lediglich auf den ersten Blick sinnvoller wird der Blick auf den Anspruchsinhalt, wenn man die Einbeziehung von Nutzungen in die Herausgabepflicht betrachtet (§ 818 I BGB). Angesichts der wenigen Spezialregelungen des BGB über die Herausgabe von Nutzungen13 erweist sich die bereicherungsrechtliche Regelung insoweit zwar schon fast als die allgemeine Regelung zu diesem Themenkomplex. In Wahrheit setzt man mit dem Begriff der Nutzung aber schon erneut am Tatbestand an, weil die Besonderheit der Pflicht zur Herausgabe von Nutzungen ja nicht im Gegenstand selbst liegt, also etwa darin, daß ein Gegenstand gerade Nutzung wäre, sondern in der Begründung, weshalb ein Gegenstand als Nutzung eines anderen herauszugeben ist. In der Perspektive allein des Bereicherungsrechts fragt sich insoweit aber lediglich, weshalb der Gesetzgeber mit § 818 I BGB die Herausgabe von Nutzungen schon der Kondiktion auf die Muttersache folgen läßt, anstatt auch sie jeweils von den Voraussetzungen des § 812 11 BGB abhängig zu machen. Damit wird nun aber ganz explizit die Frage nach der Begründung von Rechtsfolgen gestellt.
2. Die Erweiterung und Beschränkung des Inhalts bereicherungsrechtlicher Ansprüche nach §§ 818 ff. BGB Betrachten wir nun die Rechtssätze, mit denen das Recht auf den weiteren Geschehensablauf reagiert, indem es in den §§ 818 ff. BGB den Inhalt der bereicherungsrechtlichen Ansprüche modifiziert. Treten zumindest in den hier angeordneten Rechtsfolgen möglicherweise Besonderheiten zutage, die dem Bereicherungsrecht seinen spezifischen Stellenwert innerhalb des Anspruchssystems zuweisen und damit auch einem Ordnungsgefüge von Rechtssätzen zugrunde liegen müssen? Am deutlichsten wird die vom Gesetz verfolgte Linie in § 818 III BGB, der die Herausgabepflicht enden läßt, „soweit der Empfänger nicht mehr bereichert ist". Maßgeblich ist in erster Hinsicht also nicht ein Verhalten des Empfängers, sondern der bloße Bestand seines Vermögens. Ebenfalls unerheblich ist für das Gesetz zugleich die Frage, ob der erlangte Vermögensvorteil noch gegenständlich in diesem Vermögen vorhanden ist oder nur noch seinem Wert nach, was bereits für das Fortbestehen der Herausgabepflicht ausreicht (§ 818 II BGB). Zusätzlich einbezogen in die Herausgabepflicht werden dann aber auch andere als die zunächst erlangten 13 So insbesondere in den §§ 987 ff. BGB, deren Verhältnis zu den Vorschriften der §§ 812 ff. BGB freilich überaus umstritten ist, vgl. nur etwa Staudinger-Gursky, Vorbem zu §§ 987-993 Rz. 35 ff.; MüKo-Medicus, § 988 Rz. 6 ff.; Soergel-Mühl, Vor § 987 Rz. 14 ff.; Baur/Stürner, Sachenrecht, § 11 Β I I Rz. 33 ff.; Schapp, Sachenrecht, Rz. 130 ff. Das Gesetz trifft Regelungen zur Nutzungsherausgabe ferner etwa in den Vorschriften über den Rücktritt (§ 347 BGB) und die Hinterlegung (§ 379 BGB), über den Kauf (§§ 446, 487 BGB), über das Pfandrecht (§§ 1213, 1214 BGB), über den Erbschaftsanspruch (§§ 2020, 2023 BGB), über das Vermächtnis (§ 2184 BGB) und über den Erbschaftskauf (§§ 2379, 2380 BGB).
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
175
Vermögensvorteile, soweit davon auszugehen ist, daß sie dem Empfänger gerade wegen der Ausgangsbereicherung zugeflossen sind (§8181 BGB). Auf ursächliche Handlungen des Bereicherungsschuldners oder gar auf dessen Willensrichtung kommt es für das Gesetz hingegen erst in zweiter Hinsicht an, und zwar insbesondere für die Frage, ob die Ausrichtung der Haftung auf den tatsächlichen Vermögensbestand zulasten des Bereicherungsschuldners durchbrochen wird (§§ 818 IV bis 820 BGB). Muß man in dieser Sichtweise des Bereicherungsrechts nun aber nicht ein einzigartiges Charakteristikum im Anspruchssystem des BGB erkennen? In der Tat wird man insoweit gerade § 818 III BGB als spezifische Eigentümlichkeit des Bereicherungsrechts begreifen können, die man freilich je nach Perspektive ebenso als „milden" Haftungsmaßstab verstehen kann (wegen der Abhängigkeit der Entreicherung schon vom bloßen Vermögensbestand) wie umgekehrt auch als „scharfen" Haftungsmaßstab (weil selbst beim Fehlen auch nur einer ursächlichen Handlung des Bereicherungsschuldners eine Haftung ausgelöst wird) 1 4 . 1 5 Das Bereicherungsrecht scheint hier jedenfalls im Ausgangspunkt solche Wertungen außer Betracht zu lassen, die sonst für die Frage der Haftung und ihre Fortentwicklung von grundlegender Bedeutung sind (wie etwa die Gedanken der Pflichtverletzung und des Verschuldens). Es scheint also gewissermaßen ein „Auffangrechtsgebiet" darzustellen, dessen haftungsbegründenden Voraussetzungen zwar schnell eingreifen, fast ebenso schnell durch haftungsbegrenzende Voraussetzungen aber auch wieder außer Kraft gesetzt werden können. Dieser Gedanke wird zwar durch Vorschriften wie die der §§ 818 IV bis 820 BGB relativiert. 16 Ohne Zweifel liegt dem Bereicherungsrecht im Ausgangspunkt aber mit § 818 III BGB ein Gedanke der Risikoverteilung zugrunde, wie ihn das BGB jedenfalls in dieser Schärfe sonst nicht kennt. 17 14
Etwa in den Fällen der Bereicherung durch Naturereignis oder in Fällen, in denen die Bereicherung auf eine Handlung des Bereicherungsgläubigers zurückzuführen ist. Hierauf macht Wilburg aufmerksam, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 27. 15 Beide Perspektiven werden denn auch gleichermaßen genannt, vgl. insoweit Esserl Weyers, Schuldrecht II/2, § 51 II 1 b) (S. 107 f.), m. w. N. Mit Blick auf eine privilegierte Haftung spricht von § 818 III BGB als einem Charakteristikum auch Wendehorst, Anspruch und Ausgleich, S. 208. Mit Blick auf den Irrtum über das Bestehen einer Verpflichtung bei der condictio indebiti rückte bereits v. Tuhr die Frage des Haftungsumfangs in ein Verhältnis zur Haftungsbegründung. Den §§ 812 ff. BGB, die unter erleichterten Voraussetzungen einen Anspruch gewähren, der dann aber in seinem Umfang beschränkt wird, stellte er die römischrechtliche condictio indebiti gegenüber, die bei Rechtsirrtum in der Regel ausgeschlossen gewesen sei, anderenfalls in ihrem Umfang aber nicht beschränkt, vgl. ders., in: Festschrift für Bekker, S. 293 (294). 16 Gar nicht in den Blick genommen werden sollen die von der Dogmatik entwickelten, unmittelbar an § 818 III BGB ansetzenden Modifikationen des Haftungsumfangs, von denen in erster Linie die Saldotheorie für die Fälle der Rückabwicklung synallagmatisch verknüpfter Leistungspflichten genannt sein soll. 17 Zur Entwicklung von § 818 BGB und den vielfältigen Einflüssen der gemeinrechtlichen Praxis und Theorie vgl. die überaus sorgsame Untersuchung von König, Ungerechtfertigte Bereicherung, S. 51 ff.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Welche Orientierung kann von hier aus aber für die Dogmatik des Bereicherungsrechts selbst ausgehen? Insoweit kann die These nur lauten, daß der Prozeß der bereicherungsrechtlichen Rechtsfindung nicht bei § 818 III BGB ansetzt, sondern bei den Anspruchsnormen der §§ 812 ff. BGB. Schließlich bewegt den Rechtsanwender bei der Auswahl einer Anspruchsnorm in erster Hinsicht ja nicht, welche Konsequenz der weitere Geschehensablauf auf den Bestand des zu gewährenden Anspruchs hat, sondern ob sich die Anspruchsnorm zunächst einmal überhaupt eignet, das klägerische Begehren unter Zugrundelegung seines Tatsachenvortrags zu verwirklichen. So betrachtet mag der den §§ 818 ff. BGB zugrunde liegende Wertungszusammenhang ein Spezifikum des Bereicherungsrechts gegenüber anderen Rechtsgebieten darstellen, das insbesondere für die Auswahl der Hilfsnormen der §§ 818 ff. BGB von Bedeutung ist. Der leitende Gesichtspunkt für eine Ordnung der bereicherungsrechtlichen Rechtsanwendung muß aber bei der erstmaligen Begründung bereicherungsrechtlicher Ansprüche ansetzen, an die sich ein in den §§ 818 ff. BGB normiertes bereicherungsrechtliches „Leistungsstörungsrecht" auch nur anschließen kann.
II. Die Ausrichtung bereicherungsrechtlicher Systembildung am Tatbestand der ungerechtfertigten Bereicherung Eine Ordnung der bereicherungsrechtlichen Rechtssätze muß also zunächst am Tatbestand des Rechtssatzes ansetzen, mit dem das Gesetz den zu beurteilenden Interessenkonflikt in seinem Ausgangspunkt aufgreift. Weitere Interessenkonflikte, die bis zur Erfüllung des bereicherungsrechtlichen Anspruchs auftreten können (wie etwa der Gebrauch der Sache oder ihre Beschädigung), ergänzen lediglich diesen Ausgangskonflikt, so daß ihre rechtliche Beurteilung (in den §§ 818 ff. BGB) notwendig auf den durch den Ausgangskonflikt geschaffenen Begründungsrahmen zurückgreift. 18 Das zeigt sich etwa daran, daß man mittels der Saldotheorie Korrekturen am Wertungszusammenhang des § 818 III BGB im Hinblick auf die Leistungskondiktion vornimmt, aber gar nicht ernsthaft den Gedanken verfolgen würde, sie auch auf Fälle der Eingriffskondiktion auszudehnen. Welche zentralen Interessenkonflikte sind es nun aber, die zur Gewährung bereicherungsrechtlicher Ansprüche führen? Als kaum durchführbar erweist sich hier der Gedanke, daß das Bereicherungsrecht Fallkonstellationen regelt, die sich unter 18 Von einem Einfluß der Bereicherungsursache auf den Umfang der Bereicherungshaftung gehen auch ReuterIMartinek aus, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 3 12 (S. 42 ff.), die die Auffassung vertreten, daß „die Verschiedenheit der Kondiktionsarten in den Kondiktionsinhalt zu verlängern" sei, vgl. dies., § 14 I 3 (S. 520). Größte Zurückhaltung gegenüber Versuchen, aus der Verschiedenheit der Kondiktionstatbestände auch auf der Rechtsfolgenseite Unterschiede herzuleiten, mahnt hingegen Canaris an, vgl. LarenzI Canaris, Schuldrecht I I / 2, § 67 IV 2 a) (S. 143). Auf der Rechtsfolgenseite differenzierend dagegen auch bereits v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (252 ff.).
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
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einem einheitlichen Prinzip der Anspruchsbegründung erfassen lassen (1.). Vielmehr muß man dem Gesetz die Bedeutung zumessen, daß es in § 812 I 1 BGB mit der Bereicherung durch „Leistung" und der Bereicherung „in sonstiger Weise" zwei grundverschiedene Interessenkonflikte aufgegriffen hat, ohne deren Regelung das BGB ergänzungsbedürftig geblieben wäre (2.).
1. Zur Tragweite des Versuchs einheitlicher Anspruchsbegründung Wenn die Rechtsfolge aller Ansprüche im Bereicherungsrecht oben dahin bestimmt wurde, Vermögens vorteile demjenigen zu gewähren, dem sie anstelle des derzeitigen Inhabers gebühren, weil dessen Rechtsposition von der Rechtsordnung nicht als dauerhaft anerkannt wird, so faßt das Bereicherungsrecht abstrakt betrachtet Fallkonstellationen ins Auge, die gleichermaßen von einem Rückabwicklungsinteresse oder einem Restitutionsbedürfnis geprägt sind, oder in denen - noch allgemeiner gewendet - die Vornahme eines Ausgleichs angebracht erscheint. Die Begriffe der Rückabwicklung, der Restitution und des Ausgleichs werden dann in einem weiten Sinne verwendet, der auch den erstmaligen Erwerb von Vermögensvorteilen, die einem anderen gebühren, miteinbezieht, insbesondere also die Nutzung fremden Guts. Welcher Gesichtspunkt ist es nun aber, der den unterschiedlichen Rückabwicklungskonstellationen gleichermaßen zugrunde liegt und es daher ermöglicht, sie als bereicherungsrechtliche Fallgruppen gerade eng verwandten Fallgruppen des Vertragsrechts, des Deliktsrechts u.s.w. gegenüberzustellen? In Rechtsprechung und Literatur wird der Rechtsgedanke einer ungerechtfertigten Bereicherung seit langem mit dem Ausgleichsgedanken als einem obersten Rechtsprinzip umschrieben (a). Umgekehrt kann man statt nach einem allgemeinen Rechtsprinzip der ungerechtfertigten Bereicherung dann aber auch danach fragen, ob nicht jede Rechtsordnung auf Fälle trifft, die sich nur über ein Institut der „ungerechtfertigten Bereicherung" angemessen erfassen lassen, dem Recht also geradezu unausweichlich vorgegeben sind (b). Insoweit sei die These aufgeworfen, daß sich eine Einheitlichkeit in der bereicherungsrechtlichen Anspruchsbegründung weder auf die eine noch auf die andere Weise herstellen läßt, sondern daß einzelne Fälle der ungerechtfertigten Bereicherung notwendig unterschieden werden müssen.
a) Der Ausgleichsgedanke als oberstes Prinzip des Bereicherungsrechts? Stellt der Ausgleichsgedanke den zentralen Gedanken zur Begründung bereicherungsrechtlicher Ansprüche dar? Schon die vage Fragestellung muß skeptisch stimmen. Wohnt nicht vielen zivilrechtlichen Ansprüchen, etwa auch § 985 BGB 12 Gödicke
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
als zentraler sachenrechtlicher Anspruchsgrundlage, ein Moment von Ausgleich, von Restitution inne, so daß der Gedanke keine spezifische Aussagekraft im Bereicherungsrecht besitzt? Tatsächlich kann es bis heute nicht als gelungen gelten, ein fundamentales Prinzip oder einen prägenden Rechtsgedanken der ungerechtfertigten Bereicherung zu entwickeln, und es scheint fast so, als sei diesem Gebrechen auch in Zukunft nicht abzuhelfen. Als ältesten Versuch dieser Art deutet man heute den dem römischen Rechtsgelehrten Pomponius zugeschriebenen Satz Nam hoc natura aequum est neminem cum alterius detrimento fieri locupletiorem - Denn es entspricht der natürlichen Gerechtigkeit, daß niemand sich zum Nachteil eines anderen bereichern darf. 19 Dem heutigen Bereicherungsrecht sehr viel näher, gleichsam als Beginn des Bereicherungsrechts der Pandektistik,20 steht dann die allgemeine Formulierung Savignys, daß der „wahre Grund aller regelmäßigen Condictionen" das „Zurückfordern des aus unsrem Vermögen Ausgegangenen" ist. 21 Beide Formulierungen beschreiben keine Charakteristika des Bereicherungsrechts, sondern lediglich ein allgemeines Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit. Damit ist nun zwar das zentrale Gerechtigkeitsprinzip getroffen, das dem Zivilrecht als Ganzem zugrunde liegt, im Unterschied vor allem zum Öffentlichen Recht, 22 das aber gerade nicht allein dem Bereicherungsrecht oder diesem auch nur in besonders reiner Form innewohnt.23 Nicht von ungefähr ist es denn auch bis
19 Pomponius, D. 12, 6, 14. Stattdessen wird auch D. 50, 17, 206 genannt: Iure naturae aequum est neminem cum alterius detrimento et iniuria fieri locupletiorem. Weitere Stellen nennt Käser, der auch weiterführende Literatur zu der Beobachtung angibt, daß neu nicht der Gedanke selbst ist, sondern seine schulmäßige Verallgemeinerung, die er auf moralphilosophische und christliche Vorstellungen zurückführt. Käser verweist insoweit auf den Gedanken der naturalis aequitas, auf das bonum et aequum, die bonafides oder das ius gentium, und ausdrücklich darauf, daß die genannte Regel als allgemeines Prinzip auch außerhalb der Kondiktionen angewandt worden sei, vgl. ders., Römisches Privatrecht, 2. Abschnitt, § 270 II (S. 421 f.). 20 Vgl. zu dieser Einschätzung nur etwa Reuter I Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 1 13 (S. 11 ff.). 21 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Fünfter Band, S. 567. 22 Vgl. bereits oben 2. Teil, 2. Abschnitt, I. 23 An den Gedanken verteilender Gerechtigkeit statt an den ausgleichender Gerechtigkeit knüpft im Bereicherungsrecht hingegen noch Esser an, vgl. Schuldrecht II, 3. und 4. Aufl., jeweils § 100 I (S. 330), und im Anschluß hieran auch BGHZ 68, 90 (94). Insoweit ist der Kritik von Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 67 I 1 d) (S. 129) beizupflichten, daß es im Bereicherungsrecht um die Rückgängigmachung einer Güterzuordnung geht und nicht „um die Zuteilung bisher noch freier Güter und Chancen oder gar um deren Umverteilung". Sinnvoll scheint der Gedanke verteilender Gerechtigkeit aber insoweit zu bleiben, als das Bereicherungsrecht für die Frage der Rückgängigmachung auf Eigentum und Vertrag als Zuteilungsmittel freier Güter zurückgreifen muß (vgl. insoweit etwa Fikentscher, Schuldrecht, Rz. 1042). Dann ist die Perspektive aber zumindest insoweit verzerrt, als das Prinzip verteilender Gerechtigkeit nicht auf die Verwendung dieser Mittel selbst, sondern auf das Gleichmaß in ihrer Verwendung abzielt.
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
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heute nicht gelungen, die Abstraktionshöhe von Aussagen zu einem spezifischen Bereicherungsrechtsprinzip herabzusenken. Bezeichnend ist insoweit die über das Bereicherungsrecht sogar hinausreichende Formulierung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1928, wonach der „den Vorschriften des § 384 Abs. 2 BGB., des § 812 BGB. und in weiterem Sinne auch dem § 281 BGB. zugrunde liegende Rechtsgedanke [dahin geht], Vermögenswerte, die im Laufe wirtschaftlicher Vorgänge Personen zugeflossen sind, welchen sie nach den maßgebenden Wirtschaftsbeziehungen im Verhältnis zu anderen Personen nicht zukommen, denen zuzuführen, denen sie gebühren". 24 Immer noch hoch abstrakt bleibt dann auch der BGH, aus dessen Sicht das Bereicherungsrecht dazu bestimmt ist, „das Endziel des (objektiven) Vermögensrechts [ . . . ] , eine gerechte und billige Regelung der Vermögens Verhältnisse, gerade dann zu verwirklichen, wenn Gründe der Rechtslogik oder andere Umstände zunächst zu einem anderen Ergebnis geführt haben".25 Entsprechend zurückhaltend ist heute die Literatur geworden. Der Rechtsgedanke der ungerechtfertigten Bereicherung wird hier teilweise nur noch negativ durch Abgrenzung insbesondere zum Deliktsrecht bestimmt26, oder es wird bewußt auf eine solche allgemeine Aussage verzichtet. 27 Vor diesem Hintergrund muß es zunächst überraschen, mit welcher Heftigkeit in den letzten Jahrzehnten eine Auseinandersetzung zwischen den Vertretern einer Trennungslehre und den Befürworten neuer Einheitslehren geführt wurde. 28 Sie ist im Grunde nur aus dem von Lieb herausgezeichneten Impetus dieser neuen Einheitslehren verständlich, „Überspitzungen entgegenzuwirken, die sich im Zuge der allzuweit getriebenen Verselbständigung der verschiedenen Kondiktionstypen ergeben haben".29 Die Klarheit, zu der Wilburg das Bereicherungsrecht mit seinem 24 RGZ 120, 297 (299 f.). 25 BGHZ 36, 232 (234 f.). Von dieser Linie ist der BGH seitdem nicht abgewichen, vgl. zum Aufgreifen dieser Kennzeichnung in seiner jüngeren Rechtsprechung nur etwa BGHZ 111, 308 (312); BGH NJW 1997, 2381 (2383). Aufgegriffen wird diese Perspektive von Palandt-Thomas, Einf ν § 812 Rz. 2, aber auch etwa von MuKo-Lieb, § 812 Rz. 1. 26 Vgl. hierzu etwa Fikentscher, Schuldrecht, Rz. 1040 ff.; Koppensteiner ! Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 1 II (S. 1 f.); Soergel-Mühl, Vor § 812 Rz. 3. 27
So erschöpft sich die Kennzeichnung des Bereicherungsrechts in dieser Abstraktionshöhe aus der Sicht von RGRK-Heimann-Trosien, Vor § 812 Rz. 3, darin, von einer „allgemeinen Ausgleichsordnung" zu sprechen; ähnlich Erman-H. P. Westermann, Vor § 812 Rz. 1. Aus eingehend dargestellten Gründen distanziert vor allem EsserI Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 1. (S. 27 ff.), aus dessen Sicht durch den „tatsächlich nahezu trivialen wo nicht tautologischen" Satz des Pomponius „eine Kohärenz und Übersichtlichkeit der Materie vorgetäuscht wird], für die [ . . . ] die Voraussetzungen strukturell fehlen", vgl. dies., Schuldrecht II/2, § 47 1. f) (S. 32). Zustimmend Loewenheim, Bereicherungsrecht, S. 3. Emmerich beschränkt sich darauf, die Funktion der Leistungskondiktion und der Eingriffskondiktion zu erörtern, vgl. ders., BGB-Schuldrecht BT, § 16 Rz. 6 einerseits, § 17 Rz. 2 f. andererseits. 28 Literaturnachweise vgl. oben, Einführung. 29 MüKo-Lieb, § 812 Rz. 5, der sich, indem er diese reflektierende Perspektive auf Trennungs- und Einheitslehren einnimmt, zu Recht gegen eine Zuordnung der von ihm vertretenen Grundauffassung zu den Einheitslehren verwahrt, vgl. MüKo-Lieb, § 812 Rz. 8a. 12*
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Konzept einer Trennungslehre führte, scheint durch den weiteren Ausbau einer Untergliederung, wie sie vor allem in der Typologie der Bereicherungsansprüche nach v. Caemmerer vorgenommen wurde, ihrerseits also dort angelangt zu sein, wo sie einst aufgebrochen war, nämlich erneut an der Unklarheit, wie sich einzelne Alternativen ungerechtfertigter Bereicherung zueinander verhalten. 30 Ob die mit dem Versuch einheitlicher Anspruchsbegründung verwandte Besinnung auf Grundprinzipien und Grundstrukturen des Bereicherungsrechts geeignet ist, zu einer Konsolidierung des Bereicherungsrechts beizutragen, wird noch zu erörtern sein.31 Der Hauptvorwurf der Gegner neuer Einheitslehren geht freilich gerade dahin, daß dies nicht der Fall sei. So ist etwa Lorenz der Auffassung, daß der Erkenntniswert solcher wiederholt unternommenen Bemühungen um ein Einheitskonzept begrenzt und ein praktischer Nutzen nicht erkennbar sei, weil notwendige Differenzierungen, die das Gesetz mit der Andeutung der beiden hauptsächlichen Fallgruppen nahelegt, bei der Behandlung wichtiger Einzelprobleme in veränderter Gestalt wiederkehrten, wie sich besonders beim Bereicherungsausgleich in Dreipersonenverhältnissen beobachten lasse.32 Mit der Erforderlichkeit von Differenzierungen wird hier also zu Recht der Gedanke ausgedrückt, daß die Begründung der rechtlichen Entscheidung an dem im Tatbestand ins Auge gefaßten Interessenkonflikt ansetzen muß. Ein oberstes Prinzip des Bereicherungsrechts setzt hingegen nicht an dem im Fall verkörperten Interessenkonflikt selbst an, sondern an dem tertium comparationis vergleichbarer Fälle. Im Ausgleichsgedanken drückt sich dann aber ein tertium comparationis nicht nur zwischen bereicherungsrechtlichen Fällen, sondern zwischen den meisten zivilrechtlichen Fallgestaltungen aus. Die Suche nach einem obersten Prinzip des Bereicherungsrechts muß so betrachtet zwangsläufig daran scheitern, daß das Anspruchssystem des BGB es nicht nur erschwert, ein tertium comparationis zwischen Schuldvertrag und Eigentum zu finden (zwischen dem Recht der „Güterbewegung" und dem Recht des „Güterschutzes"), sondern daß in der Verweigerung dieses tertium comparationis umgekehrt der zentrale Kern des Anspruchssystems liegt, das in seinem Angelpunkt auf einer Unterscheidung von Schuldverhältnis und Eigentum ruht. 33
30
Überdeutlich wird dies aus der Sicht von MüKo-Lieb, § 812 Rz. 8a, am Werk von Reuter I Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung. 31 Unten, 3. Teil, 2. Abschnitt, II. 32 Staudinger-Lorenz, § 812 Rz. 1. Medicus, Schuldrecht II, Rz. 632, verkürzt den Streit auf die Frage, wie der Wortlaut des § 81211 BGB zu interpretieren sei. 33 Das entscheidende tertium comparationis zu Schuldverhältnis und Eigentum liegt also vielmehr darin, unterschiedliche Wertmomente im Rahmen der Anspruchsbegründung darzustellen. Hierzu eingehender oben, 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 2. b).
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b) Das ungerechtfertigte Sich-Bereichern als eigenständiger vom Recht aufgegriffener Interessenkonflikt? Mit der Unterscheidung von Schuldverhältnis und Eigentum scheint nun auf den ersten Blick aber noch nicht die Möglichkeit ausgeräumt, das Bereicherungsrecht einheitlich vom Gedanken des ungerechtfertigten Sich-Bereicherns als einem eigenständigen und auch in anderen Rechtsordnungen anzutreffenden Geschehen (vergleichbar dem Vertragsschluß, der unerlaubten Handlung oder dem Schaffen und Nutzen von Eigentum) her zu konzipieren. Ereignet sich also nicht ebenso wie das Vertragsgeschehen und die unerlaubte Handlung einerseits, das Schaffen und Nutzen von Eigentum andererseits, auch das ungerechtfertigte Sich-Bereichern? Begrenzt auf das Schuldrecht könnte man auch fragen, ob man sich nicht ebenso rechtsgrundlos auf Kosten eines anderen bereichert, wie man mit einem anderen einen Vertrag schließt oder wie man die Rechtsgüter eines anderen schuldhaft verletzt. Ist das tagtägliche Geschehen eines ungerechtfertigten Sich-Bereicherns nicht überhaupt der Grund dafür, weshalb der Gesetzgeber das Bereicherungsrecht als eigenständigen Titel im Schuldrecht normiert hat? Eine Antwort auf diese Fragen will wohlbedacht sein. Selbstverständlich findet ein Geschehen wie die ungerechtfertigte Bereicherung offenbar statt, sonst gäbe es - so der leicht einzunehmende Standpunkt des kontinentaleuropäischen Juristen die Vorschriften der §§ 812 ff. BGB schließlich nicht. 34 Entsprechend formulierte Weyers lange Zeit seinen ersten Satz zum Bereicherungsrecht: „Bereicherungen des einen auf Kosten des anderen ereignen sich ständig und allenthalben."35 Der bloße Blick auf diese gewiß immense Zahl von Fällen, in denen die §§ 812 ff. BGB eingreifen und von denen, wie stets, auch nur der kleinste Bruchteil vor Gericht getragen wird, sagt über die Existenz eines der ungerechtfertigten Bereicherung vorausgehenden Geschehens in inhaltlicher Hinsicht aber doch nur sehr wenig aus. Nicht die praktische Bedeutung des Anwendungsbereichs von §§ 812 ff. BGB soll daher interessieren, sondern die Frage, inwieweit mit dem tatsächlichen Ereignis, das unter juristischen Gesichtspunkten als ungerechtfertigte Bereicherung zu qualifizieren ist, ein Grundphänomen menschlichen Zusammenlebens berührt wird, das sich in jedem Recht unseres Kulturkreises notwendig wiederfindet. 34 Insbesondere im englischen Recht wird deutlich, daß die Antwort auf diese Frage bei näherer Hinsicht alles andere als selbstverständlich ist. Das englische Recht ringt bekanntlich seit langem mit der Anerkennung bereicherungsrechtlicher Rechtsinstitute. Einen Uberblick über die bisherige Entwicklung geben Goff/ Jones, The Law of Restitution, I 1 (S. 3 ff.), die mit diesem Werk denn auch, nach Dawson, Unjust Enrichment, als die entscheidenden Anstoßgeber innerhalb dieser Entwicklung gelten können. Vgl. ferner auch Burrows, in: Understandig the Law of Obligations, S. 99 ff. Daß auch im englischen Recht die Anerkennung eines allgemeinen Rechtsinstituts ungerechtfertigter Bereicherung notwendig mit einer Konkretisierung in Hauptanwendungsfälle einhergehen muß, hat bereits Martinek zu Recht betont, RabelsZ 47 (1983), 284 (333). 35 So noch in der 5. und 6. Aufl. seines Lehrbuchs. Auch in der neuesten Auflage findet sich der Satz aber noch an vorderster Stelle, vgl. Esser ! Weyers, Schuldrecht I I / 2, § 47 1. b) (S. 27).
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Im beginnenden 20. Jahrhundert ist diese Perspektive auf das Recht von der Phänomenologie eingenommen worden, die sich damit teils berechtigter, teils aber auch überzogener Kritik ausgesetzt hat. Insoweit soll hier bewußt nicht an die Rechtsphänomenologie Adolf Reinachs angeknüpft werden, sondern an die Untersuchungen Wilhelm Schapps über den Vertrag als Vorgegebenheit und über Wert, Werk und Eigentum.36 W. Schapp gelangt hier zu der Auffassung, daß Eigentum und Vertrag als soziale Gegebenheiten Bedeutung haben ohne jedes positive Recht, wie andererseits das positive Recht auf der Ebene der vielgestaltigen positiven Einzelregelungen seinerseits nicht mehr durch die Ebene der Vorgegebenheiten vorgezeichnet ist. 37 Was der Jurist Eigentum nennt, läßt sich in dieser Perspektive sehr viel eindringlicher, notwendig aber auch noch offener, als „Mein" kennzeichnen, enger dann aber auch schon als Gehörensbeziehung zwischen Werk und Ich. 38 Demgegenüber kann der Vertrag als vorrechtliche Gegebenheit erst über das Eigentum erfaßt werden. Im Mittelpunkt des Vertrags steht dabei der Wechsel des Eigentümers. 39 Jeder Eigentumswechsel, ob friedlich oder nicht, ist dabei stets in Geschichten eingebettet und aus diesen heraus auch nur verständlich. 40 Beim friedlichen Eigentumswechsel ist es der vernünftige Vertrag, und dabei vor allem der gegenseitige Vertrag, der den Eigentumswechsel vermittelt. Den Verlauf (oder die Geschichte) dieses Vertragsschlusses kennzeichnet W Schapp dahin, daß beide Vertragspartner jeweils den eigenen Gegenstand und den Gegenstand des anderen in ihrem Wert schätzen und dabei beide zu der Wertung gelangen, daß vom eigenen Standpunkt aus betrachtet das Eigentum am Gegenstand des anderen wertvoller ist als das am eigenen.41 Hierin liegt die Vernunft des Austauschvertrags. 42 36 W. Schapp, Die neue Wissenschaft vom Recht, Erster Band: Der Vertrag als Vorgegebenheit, Zweiter Band: Wert, Werk und Eigentum. Häufig wird die Rechtsphänomenologie allzu einseitig mit dem Werk Reinachs in Verbindung gebracht, insbesondere Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts (erstmals erschienen 1913). Vgl. insoweit etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 112; Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S. 35; Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 17. Mit der Orientierung seiner Untersuchung an Wesensgesetzen fehlt Reinach allerdings die feste Verankerung seiner Untersuchung in der sozialen Wirklichkeit, die W. Schapp von vornherein sucht, wenn er sich auf Vertrag und Eigentum konzentriert. Reinach geht hingegen „gerade den umgekehrten Weg [ . . . ] , d. h. versucht, aus dieser Wirklichkeit in eine Wesenssphäre zu gelangen", so die Gegenüberstellung durch J. Schapp, Sein und Ort der Rechtsgebilde, S. 39. 37 w. Schapp, Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 124 ff., 133 ff.; ders., Wert, Werk und Eigentum, S. 115 ff. 38
W. Schapp, Wert, Werk und Eigentum, S. 80 ff. W. Schapp, Philosophie der Geschichten, S. 45. 40 W. Schapp, Philosophie der Geschichten, S. 46. 41 W. Schapp, Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 2 ff. 42 Auch wenn W. Schapp den Blick auf die Geschichten, die zum friedlichen Eigentumswechsel führen, erst in seiner späteren Geschichtenphilosophie einnimmt (vgl. ders., Philosophie der Geschichten, S. 45 f., sowie grundlegend ders., In Geschichten verstrickt), ist in seinen rechtsphänomenologischen Untersuchungen diese Perspektive also schon weitgehend vorgezeichnet. 39
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
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Mit Blick auf das Abstraktionsprinzip des positiven bürgerlichen Rechts wird der dingliche Verfügungsvertrag von ihm in der Konsequenz als vernunftloser (abstrakter) Vertrag charakterisiert. 43 Die abstrakte Verfügung ist - für sich genommen - aus Sicht beider Parteien stets unvernünftig oder wenigstens unverständlich: „Durch den einseitigen Vertrag wird in den Werten des Einzelnen eine Verschiebung zu seinen Ungunsten vorgenommen. Wer verspricht, nimmt eine lästige Bürde auf sich, wer verzichtet, verzichtet auf etwas Wertvolles, wer etwas überträgt, entäußert sich eines wertvollen Gegenstandes. Alle diese Handlungen können von einem Vernünftigen nicht ohne zureichenden Grund vorgenommen werden. Wenn keine andere Absicht vorliegt, so muß wenigstens eine Schenkungsabsicht vorliegen, welche die Vollziehung des einseitigen Vertrages zu etwas Vernünftigem macht." 44 Die abstrakte Verfügung ist für W. Schapp denn auch gerade keine Vorgegebenheit in dem Sinne, wie es der gegenseitige Vertrag ist. 45 Als Handlung eines Vernünftigen könne sie in der Wirklichkeit nicht vorkommen, sondern sei für sich allein betrachtet stets „etwas Perplexes, Unsinniges, Verrücktes". 46 Zu einem anderen Ergebnis gelangt W. Schapp hingegen hinsichtlich der unerlaubten Handlung. 47 Leitend für ihn ist hier die These, daß auch bei der unerlaubten Handlung stets Wertungen für den Eingriff in eine fremde Wertwelt ausschlaggebend sind. 48 Der Eingriff in die fremde Wertwelt ist vom Standpunkt des Eingreifenden also bereits für sich von einem Wert, mag er im (illegitimen) Erlangen einer Sache liegen oder im Erlangen von Genugtuung.49
43
W. Schapp, Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 69 ff. W. Schapp, Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 71. 45 W. Schapp, Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 78. W Schapp spricht in seinen Ausführungen statt von der Verfügung freilich vom ,abstrakten Vertrag' oder vom einseitigen Vertrag', vgl. ders., Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 70 ff. Diese Diktion soll hier lediglich deshalb vermieden werden, weil sie vor dem Hintergrund heutiger vertragsrechtlicher Dogmatik zu unnötigen Irritationen führen könnte. 46 W. Schapp, Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 73. Die Rechtsgeschäftslehre greift diesen Zusammenhang auf, wenn sie Willensmängel für die Wirksamkeit des Verfügungsgeschäfts regelmäßig für irrelevant hält, so daß sich deren ausnahmsweise Bedeutsamkeit nur außerordentlich schwer begründen läßt. Aus dem jüngeren Schrifttum vgl. insoweit vor allem Grigoleit, AcP 199 (1999), S. 379 ff. 44
47
Die unerlaubte Handlung wird dabei jedoch nur skizzenhaft behandelt, weil sie zuvor eine phänomenologische Untersuchung über das Moralische und Unmoralische erfordere, vgl. W. Schapp, Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 168. 48
W. Schapp, Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 171. Aus der Sicht W. Schapps, Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 171, wird daher „von jedem Menschen bei jeder Handlung" verlangt, „zu werten, zu prüfen, ob er durch sein Handeln in der Wertwelt eines andern Schaden oder Verwirrung anstiftet. Dies ist eine sittliche Pflicht, welche durch die Gesetze in größerem oder geringerem Umfange zu einer Rechtspflicht umgewandelt ist". Die Lehre von den Verkehrspflichten kann als ein Ausdruck dieses Denkens in Pflichten begriffen werden. Von einem Eingriff spricht W. Schapp, S. 171 f., weitergehend sogar noch dann, wenn der Eingreifende Werte verletzt, ohne es zu wissen. Der Eingriff bestehe hier im Nichtwerten. 49
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Gelingt es W. Schapp mithin, Eigentum, Vertrag und unerlaubte Handlung als vorrechtliche Gegebenheiten in der sozialen Wirklichkeit zu verankern, nimmt er gegenüber der ungerechtfertigten Bereicherung eine ablehnende Haltung ein, die dann allerdings nur skizzenhaft, und auch nur im Hinblick auf die Leistungskondiktion ausgearbeitet ist. Die Leistungskondiktion wird von ihm als ein „unzertrennlicher Schatten" des vernunftlosen abstrakten Vertrags bezeichnet.50 Fehlt der Verfügung die vernünftige Verpflichtung, so folgt selbst dem Verzicht auf den hierdurch ausgelösten Bereicherungsanspruch wieder ein Bereicherungsanspruch, wenn der Verzicht seinerseits der causa ermangelt, und dieser Regreß setzt sich unendlich fort. 51 Gerade wegen ihrer überaus technischen Funktion, der Korrektur des Abstraktionsprinzips zu dienen,52 läßt sich die ungerechtfertigte Bereicherung aber auch nicht als vorrechtliche soziale Gegebenheit anerkennen. Wenn nämlich mit der Leistungskondiktion die Folgen rückgängig gemacht werden sollen, die durch die gescheiterte Durchführung eines als vernünftig intendierten Vertrags entstanden sind, so kann dieses Scheitern für sich betrachtet nicht als etwas Vernünftiges oder Wert-volles begriffen werden. Mit der Korrekturfunktion hat die Leistungskondiktion vielmehr zwangsläufig an der Vernunftlosigkeit der Verfügungen teil, deren Rückgängigmachung sie dient, das rechtsgrundlose Sich-Bereichern ist als Handlung des Einzelnen also ebenfalls stets „etwas Perplexes, Unsinniges, Verrücktes". 53 Hier trifft man allenfalls auf den Irrtum (über die Person des Gläubigers oder des Rechtsinhabers) als große Kategorie menschlichen Handelns.54 Entsprechend stellt auch die weitere Überlegung keinen Einwand dar, daß das Scheitern der Vertragsabwicklung mitunter von einer Partei (oder gar von beiden) intendiert sein kann. Der eigentliche Sinn solcher Handlungen liegt ja nicht im Herbeiführen der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung, sondern etwa darin, zum eigenen Vorteil dem anderen oder einem Dritten (insbesondere dem Staat) Schaden zuzufügen. Dann ist diese Handlung für den (oder die) Vertragspartner aber nicht wegen ihrer bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen wertvoll, sondern deshalb, weil sich 50
W. Schapp, Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 73. Vgl. W. Schapp, Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 71 f. 52 Vgl. aus dem heutigen Schrifttum statt aller nur etwa ReuterI Martinek, § 4 I 2 (S. 76 ff.). 53 Um hier noch einmal die Diktion W. Schapps im Hinblick auf den einseitigen Vertrag aufzugreifen, vgl. ders., Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 73. 51
54 Hierin dürfte ein durchaus ernst zu nehmender Anknüpfungspunkt dafür liegen, weshalb andere Länder auch jenseits eines Abstraktionsprinzips Rechtsbehelfe aufweisen, die der deutschen Leistungskondiktion sehr ähnlich sind. Sind Rechtsgrundlosigkeit und Irrtum mithin ursprünglich eng verbunden, so haben sich freilich die Wege insbesondere zwischen dem kontinentaleuropäischen und dem englischen Recht getrennt. Während das kontinentaleuropäische Recht entscheidend auf die Rechtsgrundlosigkeit abstellt, wurde in England der Irrtum „von der Vorstellung einer Leistung ,ohne rechtlichen Grund' gedanklich gelöst und erhielt damit den Status eines eigenständigen Ungerechtfertigtheitsfaktors", so Zimmermann, JB1. 1998, 273 (292). Zum Verhältnis von Irrtum und Anspruchsbegründung mit Blick auf das deutsche Bereicherungsrecht vgl. bereits v. Tuhr, in: Festschrift für Bekker, S. 293 ff. (oben Fn. 15).
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mit ihr anderweitige Vorteile erzielen lassen (insbesondere die steuerlichen Vermögensvorteile aus einem Scheingeschäft). 55 Ein naheliegender Einwand könnte nun lauten, daß immerhin doch der hinter dieser Korrekturfunktion stehende Gedanke einer ausgleichenden Gerechtigkeit Ausdruck einer Wertwelt ist. Das ist zwar ohne Zweifel richtig, nur schlägt sich der Gedanke einer ausgleichenden Gerechtigkeit erst in dem den Konflikt entscheidenden bereicherungsrechtlichen Anspruch nieder und kann daher nicht dem Geschehen zugrunde liegen, dessen Rückgängigmachung es fordert. Die ausgleichende Gerechtigkeit gibt denn auch weniger die Wertwelt des Einzelnen wieder, als die Wertwelt des Rechts schlechthin. Als soziale Gegebenheit wird die ungerechtfertigte Bereicherung dann aber auch in den weiteren Fällen nicht erkennbar, in denen das positive Recht über die Leistungskondiktion hinaus weitere Kondiktionen gewählt. Mit Blick auf die Eingriffskondiktion wird das schon deutlich, wenn man sich die Kennzeichnung bereits der unerlaubten Handlung als „Eingriff in eine fremde Wertwelt" vor Augen führt. 56 Indem der Wert (oder Unwert) deliktischer Handlungen aus einem Einschätzen fremder Werte und aus der schuldhaften Entscheidung für einen Eingriff in diese Werte resultiert, das Bereicherungsrecht vom Verschulden als Vorwurf eines nicht angemessenen Wertens aber gerade abstrahiert, werden auch von der Eingriffskondiktion nicht mehr für den Einzelnen sinnvolle Handlungen betrachtet, sondern bloße Vermögensmehrungen, deren Rückgängigmachung von einer Handlung dann ja auch ganz unabhängig sein kann. Als Ergebnis läßt sich mithin festhalten, daß das Bereicherungsrecht der §§ 812 ff. BGB keine sozialen Gegebenheiten lediglich positivrechtlich ausgestaltet, sondern daß es nur dazu dient, die Folgen von Geschehnissen rückgängig zu machen, deren intendierter Sinn entweder in der rechtsgeschäftlichen Gestaltung gescheitert ist, oder der von der Rechtsordnung nicht anerkannt wird, oder den es wie bei Naturereignissen - gar nicht gibt. Wenn die vorhergehenden Überlegungen zu einem obersten Prinzip des Bereicherungsrechts damit geendet haben, daß die Suche nach einem solchen Prinzip daran scheitern muß, daß in der kategorialen Unterscheidung von Schuldverhältnis und Eigentum die zentrale Systemaussage des zivilrechtlichen Anspruchssystems liegt, so läßt sich dieser Gedanke nun also noch tiefer begründen. Der Abschluß des Schuld Vertrags und die Vornahme einer unerlaubten Handlung einerseits sowie das Schaffen und Nutzen von Eigentum andererseits ist für den Einzelnen stets eine mit Werten verbundene, sinnvolle Handlung. Die ungerechtfertigte Bereicherung ist dies - für sich betrachtet - nie. Sie 55 Noch weiter könnte man daran denken, daß das Recht den geordneten Güteraustausch durch Vertragsschluß dadurch erzwingen möchte, daß Fälle ungerechtfertigten Gütererwerbs rückgängig gemacht werden. Diese Perspektive liegt aber doch quer zu der hier eingenommenen Perspektive, weil dem Recht damit eine dem Zivilrecht grundsätzlich gerade nicht zugrunde liegende Steuerungsfunktion zugewiesen wird. Sie taucht im Bereicherungsrecht jedoch auf, wenn man für die Fälle der Eingriffskondiktion an den Gedanken einer hypothetischen Entgeltzahlungspflicht anknüpft (vgl. oben 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 1. b). 56
W. Schapp, Der Vertrag als Vorgegebenheit, S. 171.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
schließt vielmehr stets an die Wertwelt des Vertrags oder an die Wertwelt des Eingriffs lediglich an. 5 7 Die Einsicht, daß sich diese beiden Kategorien allenfalls noch in ein Verhältnis setzen lassen, nicht mehr aber einem gemeinsamen Prinzip unterliegen, wird also nicht durch das Recht mit seinen Systemvorstellungen vermittelt, sondern wird vom Recht seinerseits nur aufgegriffen. Die Gegensätzlichkeit von Vertrag und Eingriff wird dabei nicht nur vom Anspruchssystem als Ganzem aufgegriffen, sondern greift bis in das Teilgebiet Bereicherungsrecht hinein, wo Leistung und Eingriff nun als Leittypen ungerechtfertigter Bereicherung erscheinen.
2. Leistung und Eingriff als Leittypen des als „ungerechtfertigte Bereicherung" erfaßten Interessenkonflikts Die bislang angestellten Überlegungen machen deutlich, daß Einheitslehre und Trennungslehre auf unterschiedlich gelagerten Perspektiven ansetzen. Die Einheitslehren sind in ihrem Angelpunkt dem Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit verpflichtet, während die Trennungslehre deutlicher bereits die Unterschiedlichkeit der beiden Rechtsinstitute Vertrag und Eigentum als Wertmomente der Anspruchsbegründung ins Auge faßt. Dabei legt die Trennungslehre allerdings ebenso ihrem System ein Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit zugrunde, wie die Einheitslehre ihrerseits i m Hinblick auf das Recht der „Güterbewegung" und das Recht des „Güterschutzes" zu unterschiedlichen Ergebnissen i m einzelnen gelangt. 5 8 Insoweit er57
Drastisch kennzeichnet Knieper das Recht der Leistungskondiktion gar als „Fortsetzung des Vertragsrechts mit anderen Mitteln", vgl. Knieper, KJ 1980, 117 (127), und, diese Formulierung aufgreifend, ReuterIMartinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 4 I 1 (S. 75). In ähnlicher Weise wird im Hinblick auf die Eingriffskondiktion seit langem von einem „Rechtsfortwirkungsanspruch" gesprochen, vgl. dazu bereits Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 27 ff., 49 ff.; AcP 163 (1963), 346 (348 ff.), und aus dem neueren Schrifttum etwa LarenzI Canaris, Schuldrecht II/2, § 69 I 1 b) (S. 170) (der auch von der „Vindikationsersatzfunktion" spricht), oder Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 4 I 1 (S. 76), die den Gedanken der Rechtsfortwirkung auch für die Leistungskondiktion umsetzen und zugleich ( § 1 1 3 , S. 14) darauf hinweisen, daß erstmals Savigny „den folgenreichen Gedanken der condictio als Ersatz für die verlorene Vindikation (Rechtsfortwirkung)" zum Ausdruck gebracht habe: „Überall also erscheint die condictio als der Ersatz, der anstatt der verlornen Vindication eintritt", so Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Fünfter Band, S. 515. 58 Auf die Notwendigkeit einer Differenzierung nach Fallgruppen auch für die Einheitslehren weist insbesondere MüKo-Lieb, § 812 Rz. 4, hin. Die „Erkenntnis, daß zwischen den einzelnen Kondiktionstypen fundamentale Unterschiede bestehen, die einer einheitlichen Analyse entgegenstehen", führt Wendehorst, Anspruch und Ausgleich, S. 316, hingegen erst auf eine von ihr angestellte „allokatorische Betrachtung" zurück: „Nach herkömmlicher Auffassung lassen sich zwar unterschiedliche Kondiktionstatbestände ausmachen, stimmen diese jedoch in Wesen und Rechtsfolgen mehr oder weniger überein." Diese Einschätzung dürfte entgegen dem ersten Eindruck allerdings weniger auf die Kontroverse zwischen Trennungsund Einheitslehre abzielen, als vielmehr auf eine von Wendehorst bemängelte fehlende Differenzierung einzelner Kondiktionen nach ihrer Eigenschaft als Primäranspruch, Sekundäranspruch und „Subanspruch", vgl. dies., S. 207 ff. Ob sich diese Differenzierung (in der die
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scheint es wenig sinnvoll, beide Lehren auf einer grundsätzlichen Ebene gegeneinander ausspielen zu wollen. Wenn man allerdings, wie hier, die Funktion der Dogmatik ins Zentrum rückt, Ordnungskategorien zur Auswahl von Rechtssätzen zur Verfügung zu stellen, so kann man sich der Einsicht nicht verschließen, daß die Trennungslehre dieser Funktion in weitaus höherem Maße entgegenkommt als die Einheitslehre, weil jene mit den zentralen Kategorien Leistung und Eingriff (Vertrag und Eigentum) zugleich die maßgeblichen Ordnungsgesichtspunkte des zivilrechtlichen Anspruchssystems aufgreift und zugrunde legt. 59 Das führt dazu, daß im folgenden Leistung und Eingriff ganz im Sinne der herrschenden Dogmatik als die beiden Leittypen von Interessenkonflikten begriffen werden, die das Gesetz in den §§ 812 ff. BGB als Fälle ungerechtfertigter Bereicherung geregelt hat. 60
a) Bereicherung durch die Leistung eines anderen Der zentrale Leittyp der ungerechtfertigten Bereicherung ist die Leistungskondiktion. Dieser Primat ist alt, wie schon ein flüchtiger Blick auf die Rechtsgeschichte zeigt. Nach Hausmaninger/Selb war bereits die römisch-rechtliche Kondiktion Leistungskondiktion, so daß Gaius auch habe erwägen können, sie unter den Realkontrakten zu behandeln. Sei die Bereicherung ausnahmsweise in sonstiger Weise zustande gekommen, so hätten nur Sondertatbestände wie insbesondere die condictio furtiva (wo der Dieb die Bereicherung herbeiführte) und die condictio de in rem verso die Bereicherung ausgleichen können.61 Den gleichen Gedanken entwickelt Käser, der allerdings mit Blick auf das vorklassische und klassische römische Recht auch auf die Möglichkeit einer gemeinsame Wurzel dieser Einzelkondiktionen hinweist. So sei die condictio im Legisaktionenprozeß eine besondere Verfahrensart gewesen, im Formularverfahren eine strengrechtliche zivile actio in personam auf certam pecuniam dari oder aliam certam rem dari, deren abstrakte' intentio den Verpflichtungsgrund nicht nenne. Sie habe daher sowohl als Klage aus Darlehen, Litteralkontrakt und Stipulation getaugt, wie als Klage in Fälisolierte Leistungskondiktion und die allgemeine Eingriffskondiktion Primäransprüche darstellen, § 816 I BGB hingegen einen Sekundäranspruch, Aufwendungskondiktionen je nach näherer Fallgestaltung Sekundäransprüche oder bloße Subansprüche) durchsetzen wird, muß man allerdings bezweifeln (vgl. auch Fn. 92). 59 Ablehnend gegenüber jedem Versuch, „eine einheitliche Formel zu finden", denn auch bereits v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (213 ff.). 60 Lediglich die zwei Fallgruppen „erbrachter Leistung" und des ,,Eingriff[s] in ein geschütztes Interesse" bilden denn auch in der jüngst (BGBl. 1999 I 1026) in Kraft getretenen Fassung des EGBGB die beiden entscheidenden Anknüpfungsmerkmale des Kollisionsrechts zur Bestimmung der anzuwendenden Rechtsordnung (Art. 38 I und II EGBGB). Nur subsidiär greift in „sonstigen Fällen" Art. 38 III EGBGB ein, wonach nicht der Vorgang der Bereicherung die Anknüpfungsmerkmale dafür liefert, welches Recht anzuwenden ist, sondern vielmehr das Recht des Staates anzuwenden ist, in dem die Bereicherung eingetreten ist. 61 Hausmaninger/Selb, Römisches Privatrecht, S. 347 f. Zur condictio de in rem verso auch unten 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 3. b) aa).
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len von Diebstahl und grundloser Vorenthaltung. 62 Indem das formlose mutuum ursprünglich noch nicht als bindender Vertrag, sondern als frei widerrufliche faktische Überlassung angesehen worden sei, sei die Nichtrückzahlung Unterschlagung gewesen, so daß condictio ex causa furtiva und Klage aus Darlehen in dieser Hinsicht nebeneinander treten. Die Deliktsvorstellung ist aus seiner Sicht dann aber mit dem Aufkommen des Vertragsgedankens und der Gebundenheit des Gebers schon zu einem frühen Zeitpunkt verloren gegangen. Neben der condictio ex causa furtiva , die eine Sonderstellung behielt, stand nun die condictio als Kontraktsklage, bei der das Darlehen als Normalfall galt. Auch dem Literalkontrakt sei dann jedoch eine fingierte Darlehenszahlung unterlegt worden, und auch bei der Stipulation sei die condictio vielleicht nur dann gewährt worden, wenn ihr ein Darlehen zugrunde lag. 63 Der meist behandelte Fall der condictio war aus der Sicht Käsers daher bereits in der klassischen Zeit die Kondiktion einer nicht geschuldeten Leistung (indebitum solutum), deren Zweck in der Schuldtilgung lag. 64 Als ersten Fall der condictio nennt er die condictio indebiti dann aber auch für die nachklassische Zeit, die nicht mehr von der Klage, sondern vom materiellen Privatrecht ausgeht.65 Die systematische Einordnung der Kondiktionen bei den Quasikontrakten stütze sich dabei auf die schon von Gaius erkannte Parallele zwischen indebitum solutum und mutuum datum. 66 Blickt man in die Gegenwart, so begründet sich der Primat der Leistungskondiktion aus der übergewichtigen Bedeutung des Vertragsrechts im modernen Wirtschaftsleben. 67 Zwar haben sich hier auch für die Eingriffskondiktion neue Be62 Käser, Das römische Privatrecht, 1. Abschnitt, § 139, 3 I (S. 496). 63 Eine „innige Verbindung der Condictionen im Allgemeinen mit dem besonderen Vertrag des Darlehens" in den Quellen des römischen Rechts anzunehmen, dient Savigny dann später dazu, das Darlehen „als die Grundlage der Condictionen" anzusehen und „aus ihm das Wesen derselben zu erkennen", vgl. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Fünfter Band, S. 512. Äußerst kritisch hierzu Reuter IMartinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 11 3 (S. 12): Entgegen seinem methodischen Bekenntnis und Selbstverständnis gehe Savigny „nicht rational historisch, sondern morphologisch nachdichtend und teils recht willkürlich", ja „unsorgfältig und pauschal vor". Das habe freilich nicht verhindern können, daß seine Kondiktionslehre ungeachtet ihrer methodischen Fragwürdigkeit in der inhaltlichen Substanz wegweisend gewirkt habe. 64 Käser, Das römische Privatrecht, 1. Abschnitt, § 139, 3 III (S. 498 ff.). 65 Zum Ganzen Käser, Das römische Privatrecht, 1. Abschnitt, § 139, 3 I (S. 496); ders., Das römische Privatrecht, 2. Abschnitt, § 270, III (S. 422 ff.). 66 Vgl. Käser, Das römische Privatrecht, 2. Abschnitt, § 270, III 2 (S. 424); Gaius, Institutionen, Drittes Buch, § 91 (S. 135). Zu den vielfältigen weiteren rechtshistorischen Untersuchungen vgl. nur etwa die bei Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 1 I 1 (S. 4 ff.), genannten Schriften. Bis heute wird das römische Recht denn auch nach wie vor für die Dogmatik der §§ 812 ff. BGB fruchtbar gemacht, vgl. insbesondere Kupisch, Gesetzespositivismus im Bereicherungsrecht; ders., in: Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, S. 431 ff.
67 Wenn hier und im folgenden die Leistungskondiktion vorwiegend in die Nähe zur Vertragserfüllung gerückt wird, so soll damit keineswegs verkannt sein, daß sie auch bei der gescheiterten Erfüllung anderer als vertraglicher Verpflichtungen eingreift (wie etwa aus
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reiche eröffnet, wie insbesondere die Fälle des Eingriffs in fremde Immaterialgüterrechte zeigen.68 Der Bedeutung des Vertrags hat das aber kaum Abbruch tun können. Im Gegenteil hat sich mit einer wachsenden Bedeutung der Nutzung von Immaterialgüterrechten auch ein weiteres Gebiet für den Abschluß entsprechender Verträge eröffnet. Man kann den Gedanken daher auch dahin ausdrücken, daß dem Recht der Güterbewegung im modernen Wirtschaftsleben der Primat vor einem Recht des Güterschutzes zukommt. Das wäre allerdings eine etwas vergröberte Sicht. Der Gedanke eines Güterschutzes ist für das Vertragsrecht schließlich ebenso bedeutsam, wie umgekehrt der Gedanke einer Güterbewegung für das Recht der dinglichen Störungsabwehr. Die vertraglichen Sorgfaltspflichten dienen ebenso dem Schutz der Rechtsgüter Dritter, wie sich etwa aus dem Eigentum auch einzelne Teilbefugnisse abspalten lassen, die dann jeweils Ansprüche auf Güterschutz erzeugen können (vgl. z. B. § 1134 BGB). Ähnlich kann man dann auch den mit dem Güterschutz eng verknüpften Gedanken einer Rechtsfortwirkung nicht nur für die Eingriffskondiktion fruchtbar machen, sondern - wie insbesondere mit der Saldotheorie - auch für die Leistungskondiktion.69 Sehr viel prägnanter als mit der Gegenüberstellung von „Güterbewegung" und „Güterschutz" und mit dem Gedanken einer „Rechtsfortwirkung" läßt sich die eigenständige Bedeutung der Leistungskondiktion daher kennzeichnen, wenn sie als Mittel zur „Korrektur des Abstraktionsprinzips" bezeichnet wird. Die Leistungskondiktion wird dadurch auf eine unmißverständliche Weise in eine Nähe zum Erfüllungsrecht gerückt, die sie im Ansatzpunkt scharf von den Fällen der Eingriffskondiktion unterscheidet. 70 Zugleich hält diese Funktionsbeschreibung auch den unerlaubter Handlung und aus ungerechtfertigter Bereicherung selbst), wie sie auch selbst bei bestehender (aber in der Erfüllung verfehlter) vertraglicher Verpflichtung eingreift. Die vorgenommene Beschränkung soll also lediglich der überwiegenden praktischen Bedeutung dieses Fallbereichs Rechnung tragen. 68 Und hierbei vor allem der Eingriff in gewerbliche Schutzrechte. Einen Überblick über den Fallbereich des Eingriffs in fremde Immaterialgüterrechte geben etwa Esser I Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 4. (S. 40); Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 666 f.; Larenz! Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 69 12 (S. 173 f.). 69 Zum Gedanken der Rechtsfortwirkung vgl. bereits oben (Fn. 57). Mit seiner Heranziehung beim Synallagma i.R.d. Saldotheorie wird der Rechtsfortwirkungsgedanke freilich etwas verzerrt. Immerhin wirkt bei den entsprechenden Fällen der Eingriffskondiktion gedanklich ja ein untergegangenes Recht fort, während mit dem Synallagma lediglich ein Funktionsgefüge „fortwirkt", das gegebenenfalls mangels wirksamen Vertrags zuvor noch gar nicht wirken konnte, sondern lediglich intendiert war. Für Eingriffskondiktion und Leistungskondiktion gleichermaßen verfolgt vor allem Pinger, AcP 179 (1979), 301 (313 ff.), den Gedanken der Rechtsfortwirkung. Während er dabei einer Einheitskonzeption zuneigt - vgl. insoweit auch die Einschätzungen von Loewenheim, Bereicherungsrecht, S. 12 f.; Esser ! Weyers, Schuldrecht I I / 2 , § 47 3. a) (S. 36 mit Fn. 35) - , halten ReuterIMartinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 4 I 1 (S. 76), die den Rechtsfortwirkungsgedanken ebenfalls für die Leistungskondiktion anerkennen, an der Trennungslehre fest. 70 So auch Reuter / Martinek, die die Nähe zum Erfüllungsrecht dann vor allem für die Beurteilung der Dreipersonenverhältnisse fruchtbar machen, vgl. dies., Ungerechtfertigte Bereicherung, § 1012 a) (S. 388 ff.).
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Blick darauf frei, daß die Leistungskondiktion lediglich eine Konsequenz der Entscheidung für das Trennungs- und das Abstraktionsprinzip darstellt, womit Tendenzen zum unbefriedigenden Versuch einer „materiellen" Begründung des Bereicherungsrechts weitgehend hintangehalten werden. 71 Eng verwandt mit dem Abstraktionsprinzip ist der Gedanke der Nichtigkeit, der häufig ja erst zum Fehlen einer Verpflichtung führt. 72 Weshalb, so könnte man fragen, statuiert das Gesetz überhaupt Rückabwicklungsansprüche nach §§ 812 ff. BGB, wenn an anderer Stelle, insbesondere in den §§ 346 ff. BGB, 7 3 ähnliche Ansprüche geregelt werden? 74 Wenn nun beim Rücktritt das ursprüngliche Schuldverhältnis in ein Rückgewährschuldverhältnis umgewandelt wird, im Bereicherungsrecht hingegen gar kein Schuldverhältnis besteht (oder aber von der Leistung verfehlt wird), so ist dieser Unterschied zwar zunächst einmal ein „konstruktiver". 75 Hiermit läßt sich aber nicht erklären, was den Gesetzgeber zu dieser unterschiedlichen „Konstruktion" veranlaßt hat, weshalb er also in manchen Fällen die Umwandlung des Schuldverhältnisses in ein Rückgewährschuldverhältnis angeordnet hat, in anderen hingegen scharf dessen Nichtigkeit. Wäre es nicht ausreichend gewesen, das Schuldverhältnis stets als bestehend beizubehalten und lediglich die Rechtsstellung der Parteien in ihm zu verändern? Auch eine solche „abgefederte" Regelung würde das Schuldverhältnis nun freilich nicht mehr im ursprünglich intendierten Sinne betrachten. Der Gesetzgeber des BGB hat sich für eine solche Handhabung denn auch nicht entschieden, sondern mit der Nichtigkeitsreaktion stattdessen gleichsam ein tabula rasa-Prinzip aufgestellt, das es erlaubt, die Rückabwicklung von Schuldverhältnissen (insbesondere von Schuldverträgen) im Bereicherungsrecht einem gesonderten Rechtsgebiet zu unterstellen. Nicht eingeschlagen hat der Gesetzgeber also auch den Weg, der Regelung jedes einzelnen Schuldvertrags ein eigenständiges Rückabwicklungsrecht anzufügen. Die Nichtigkeitsreaktion kann mithin als ein zentrales ordnungs71 Zur mangelnden Möglichkeit einer materiellen Fundierung des Bereicherungsrechts in Konflikten der Lebenswelt vgl. den vorherigen Abschnitt, 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. 72 Ohne daß damit freilich das gesamte Spektrum an Gründen für das Fehlen von Verpflichtungen abgeschritten wäre. Entsprechend dem inneren System des Anspruchs wäre hier genauer mindestens zwischen Nichtigkeitsgründen für Willenserklärungen und für Verträge zu unterscheiden, dann aber auch zwischen anspruchshindernden und anspruchsvernichtenden Einwendungen. Vgl. oben 2. Teil, 2. Abschnitt, II. 1. 73 Und den Vorschriften, in denen auf §§ 346 ff. BGB verwiesen wird, etwa §§ 467, 634, 636 BGB. 74
Noch weiter nennt v. Caemmerer als „sonstige schuldrechtliche Abwicklungsansprüche" nicht nur Rücktritt (und Wandelung), sondern auch die ,,schuldrechtliche[n] Abwicklungsansprüche bei Darlehen, Leihe, Miete, Verwahrung". Ob die Leistungskondiktion oder diese anderen Ansprüche gewährt werden, sei für den Gesetzgeber „nicht eine Frage der Grundlagenverschiedenheit, sondern allein eine Frage des Haftungsumfanges". Vgl. ders., in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (219). 75 Hierauf stellt Medicus ab, Bürgerliches Recht, Rz. 660, und stellt diesem konstruktiven Unterschied dann einen Unterschied im Haftungsmaßstab gegenüber, Rz. 661.
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
191
stiftendes Element des bürgerlichen Rechts begriffen werden, dessen orientierende Funktion für den Rechtsanwender gar nicht überschätzt werden kann. Wenn in der heutigen Kritik die Unübersichtlichkeit der vielen heterogenen Wertungsaspekte im Bereicherungsrecht beklagt wird, 76 so muß man also andererseits einmal das Maß an Unübersichtlichkeit in den Blick nehmen, das herrschen würde, wenn jedes Rechtsgebiet über sein eigenes Rückabwicklungsrechtsgebiet verfügen würde. Mit dem Aufstellen eines einheitlichen Rückabwicklungsrechtsgebiets in den §§ 812 ff. BGB bleibt das Gesetz ein weiteres Mal seinem Grundgedanken einer Ordnung durch Abstraktion treu, auch wenn man insoweit weniger von einem Vordie-Klammer-Ziehen, denn von einem Hinter-die-Klammer-Ziehen sprechen müßte. Im Hinblick auf die Funktion des Bereicherungsrechts, den Leistungsaustausch (die Güterbewegung) nicht zu vermitteln, sondern rückgängig zu machen, ist diese Nachstellung zum Schuldvertragsrecht dann aber ebenso konsequent, wie andererseits das Bereicherungsrecht in direktem Anschluß zum Schuldvertragsrecht anzuordnen und damit noch vor dem Deliktsrecht. 77
b) Bereicherung in sonstiger Weise auf Kosten eines anderen Betrachten wir nun den zweiten Leittyp der ungerechtfertigten Bereicherung, den Eingriff. „Daß die Klagen aus unbegründeter Leistung und aus Bereicherung ohne Leistung in ihrem Fundament zusammengehören, ist nie erwiesen worden; der offenbare Mißerfolg der Bereicherungsdogmatik spricht deutlich dagegen." Mit diesen berühmten Worten leitet Wilburg 1934 seinen zentralem Abschnitt über „Die selbständige Grundlage der Ansprüche wegen Bereicherung ohne Leistung" ein. 78 Die hiermit zum Ausdruck gebrachte Prämisse der Trennungslehre dient Wilburg dazu, seine These von der „Entstehung des Anspruchs aus dem Zweck eines Grundrechtes" zu entwickeln, mit der er zum Wegbereiter der Eingriffskondiktion wird. Auch heute noch wird sie als der eigentliche Kern der Bereicherung in sonstiger Weise aufgefaßt, der allein imstande ist, die Eigenständigkeit einer zweiten Alternative des § 812 I 1 BGB gegenüber der Leistungskondiktion des § 812 I 1 1. Alt. BGB zu begründen. 79 76 Hierzu oben 1. Teil, II. 2. 77 Die Reihenfolge der heutigen §§ 812 ff. und §§ 823 ff. BGB war im 1. Entwurf zum BGB allerdings mit dessen §§ 737 ff. und §§ 704 ff. noch umgekehrt, vgl. Mot. II, S. 724 ff., 829 ff. 78 Vgl. Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 22 ff. (das Zitat entstammt S. 23). 79 Vgl. Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 27 ff. Die heutige Dogmatik knüpft hieran an, vgl. nur etwa Medicus, Bürgerliches Recht, § 28 (S. 535 ff.); ders., Gesetzliche Schuldverhältnisse, § 25 (S. 131 ff.); LarenzI Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 69 I (S. 168 ff.); EsserI Weyers, Schuldrecht II/2, § 50 I (S. 73 ff.); Schlechtriem, Schuldrecht BT, § 3 I (S. 311 ff.); MüKo-Lieb, § 812 Rz. 191 ff., sowie aus der Rechtsprechung nur etwa BGHZ 40, 272 (278 f.); 67, 75 (80); 69, 186 (189); 82, 299 (306); 87, 296 (301); 87, 393 (398); 94, 160 (165); 99, 385 (387); 107, 117 (120 f.); BGH NJW 1994, 2357 (2358).
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
In das Zentrum der Bereicherung in sonstiger Weise rückt damit „die Verwendung eines Rechtsgutes zu fremdem Nutzen". 80 Von der Geschäftsführung ohne Auftrag wird dieser Fall nicht mehr erfaßt, weil der Bereicherte das Rechtsgut meist für sich selbst nutzen wird. Das Deliktsrecht kann, muß aber nicht parallel eingreifen, weil es an einem Verschulden des Bereicherten fehlen kann oder der Rechtsinhaber selbst das Rechtsgut gar nicht zu diesem konkreten Nutzen verwendet hätte, also die Annahme eines Schadens problematisch wird. Der Begriff der „Verwendung eines Rechtsguts" ist dabei natürlich unscharf, weil er die Vornahme einer Handlung suggeriert, auf die es bei der Eingriffskondiktion gar nicht zwingend ankommt. Wilburgs zentrale These geht denn auch präziser dahin, daß nicht die Entstehungsart des Erwerbs entscheidend sei, sondern der rein sachliche Zweck des verkürzten Rechts, bestimmte Güter und deren Nutzen dem Berechtigten zuzuweisen.81 Als verkürztes Recht kommt für ihn dabei in erster Linie das Eigentum in Betracht. 82 Er knüpft hier an den Gedanken des Eigentums als dinglicher Herrschaftsmacht an, der über die Innehabung des Eigentums hinaus als Zuweisungsgehalt einen Bereicherungsanspruch gegen den erzeuge, dem der Nutzen der Sache zugefallen ist. 83 In gleicher Weise wie aus dem Eigentum könne die Bereicherungsklage dann aber auch aus anderen absoluten Rechten und rechtlich absolut geschützten Interessen hervorgehen. 84 Genannt werden von ihm (in dieser Reihenfolge) Aneignungsrechte an herrenlosen Sachen, das Jagdrecht, Fischereirecht, Bergwerks- und Wassernutzungsrecht, dann aber auch dingliche Rechte an fremden Sachen (also beschränkte dingliche Rechte), wie schließlich „Rechte an immateriellen Gütern", so das Erfinder-, Urheber- und Musterrecht und hilfsweise das Recht an bestimmten Warenzeichen.85 Mußte er sich in dieser letzten Hinsicht noch gegen gewichtige Gegenargumente zur Wehr setzen,86 so hat sich heute freilich gerade dieser Bereich als wirtschaftlich besonders brisantes Anwendungsfeld der Eingriffskondiktion erwiesen. 87 80 So der Standpunkt Wilburgs, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 27 ff., und wörtlich ders., S. 114. 81 Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 27. 82 Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 28 ff. 83 Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 28. Zur Problematik, das Eigentum einseitig unter Aspekten wie dem der dinglichen Herrschaftsmacht zu deuten, vgl. Schapp, Sein und Ort der Rechtsgebilde, S. 1 ff. 84 Die Forderung als relatives Recht nimmt Wilburg hingegen grundsätzlich aus und berücksichtigt sie lediglich ausnahmsweise (unter Verweis auf die Vorschriften der §§ 816 II, 822 BGB) im Dreipersonenverhältnis, vgl. ders., Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 46 f. 85 Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 36 f., 40. Weiter nennt Wilburg die Güter der Persönlichkeit (S. 43 ff.), und hier die Arbeitskraft (S. 43), besonders aber das Recht am eigenen Bild (S. 44). 86 Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 41 ff. S7 Vgl. bereits oben (Fn. 68).
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
193
Wie lassen sich dem vagen Gedanken eines wirtschaftlichen „Zwecks" des Eigentums, eines „Zuweisungsgehalts" oder einer „Rechtsfortwirkung" nun aber prägnantere Kontur verleihen? Den Ausgangspunkt müssen hier die Befugnisse des Eigentümers im Umgang mit seinem Eigentum bilden, wie sie in § 903 S. 1 BGB modellhaft beschrieben werden. Es ist das „Verfahrenkönnen nach Belieben" mit der Sache, das sich der Bereicherte anmaßt, ohne dazu berechtigt zu sein.88 Indem das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung in diesen Fällen an ein rechtsanmaßendes Verhalten anknüpft, ist es also gleichsam ein Recht der „ungerechtfertigten Gewalt". 89 Zu diesem rechtsanmaßenden Verhalten zählt in erster Linie der Gebrauch der Sache und alle hiermit verbundenen Handlungen, also vom bloßen Besitz über den Gebrauch, die Abnutzung und den Verbrauch bis hin zur Zerstörung selbst. Außer diesen tatsächlichen Handlungen sind dann aber auch die rechtsgeschäftlichen Einwirkungsmöglichkeiten gemeint, insbesondere die Verfügung über die Sache, also die Übertragung, Belastung, Inhaltsänderung oder Aufhebung des Eigentums oder beschränkter dinglicher Rechte an der Sache. Wer den Eigentümer in diesen Befugnissen beeinträchtigt, kann nun zwar, je nach Intensität der Beeinträchtigung, nicht nur auf Unterlassung in Anspruch genommen werden (über § 1004 BGB oder, im Spezialfall der Störung durch Vorenthaltung des Besitzes an der Sache, über § 985 BGB), sondern (unter den Voraussetzungen der §§ 823 ff. BGB) auch auf Schadensersatz. Die Herausgabe von Nutzungen ist im Gesetz hingegen nur für, freilich wichtige, Teilbereiche geregelt, so insbesondere in den Vorschriften der §§ 987 ff. BGB, womit die Perspektive aber auf die Nutzung von Sachen verkürzt bleibt. Das Bereicherungsrecht nimmt eine derartige Einschränkung nicht vor, so daß sich die wirtschaftliche Brisanz der Eingriffskondiktion denn auch gerade hinsichtlich der Nutzung fremder Rechte entwickeln konnte, insbesondere fremder Immaterialgüterrechte wie Urheberrechte, Patentrechte und Gebrauchsmusterrechte. Zum zentralen Problem wurde hier die Frage, wie man eine damit allgemein offen zu stehen scheinende Haftung sinnvollerweise begrenzt. 90 Nicht mehr von § 812 I 1 2. Alt. BGB selbst, der insoweit als 88
Bereits v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (229), spricht davon, daß dem Eigentümer das „uti, frui, abuti" zustehe. 89 In einem weiten Sinne läßt sich mit dem Gedanken eines Rechts der ungerechtfertigten Gewalt schließlich auch die Naturgewalt einbeziehen, mit der die verengte Perspektive auf Handlungen des Bereicherungsschuldners verlassen wird. 90 Zur Bedeutsamkeit dieser Fallgruppe vgl. bereits oben (Fn. 68). Der Anwendbarkeit der Eingriffskondiktion im Bereich des Wettbewerbsrechts geht in jüngster Zeit Fournier nach, Bereicherungsausgleich bei Verstößen gegen das UWG. Bereicherungsrechtliche Ansprüche bei einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts untersucht Klaever in ihrer gleichnamigen Schrift. Der Frage nach einer näheren Begrenzung kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Im Ausgangspunkt dürfte aber auch hier die Einsicht Wilburgs stehen müssen, daß es nicht auf die Handlungen des Bereicherten, sondern rein auf den ,Zweck des verkürzten Rechts' ankommen muß oder, plastischer formuliert, auf eine sorgsame Herausarbeitung des ,Verfahrenkönnens nach Belieben', wie es in § 903 S. 1 BGB modellhaft für das Eigentum entwickelt ist und entsprechend für die Immaterialgüterrechte herauszuarbeiten ist. Die Dogmatik der ,Rahmenrechte' im Deliktsrecht liefert hierzu wertvolle Hinweise, wobei
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Tatbestand einer „allgemeinen" Eingriffskondiktion erscheint, wird dann eine Reihe von Eingriffsfällen erfaßt, die in den §§ 812 ff. BGB eigenständig geregelt sind. So hat der Gesetzgeber insbesondere die Verfügung als Eingriff in Befugnisse des Rechtsinhabers tatbestandlich in der Vorschrift des § 816 BGB verselbständigt. Hierin schlägt sich erneut die grundlegende Bedeutung des Vertrags (oder der Güterbewegung) i m modernen Wirtschaftsverkehr nieder, zu dessen Erfüllung Verfügungen vorgenommen werden müssen. Auch in § 816 I BGB bleibt der bestimmende Gedanke freilich die Nutzung fremden Eigentums. 9 1 Damit wird indes auch deutlich, daß der an das Modell des § 903 S. 1 BGB rückschließende Begriff des Eingriffs sehr viel plastischer ist als die völlig inhaltlose Formulierung „ i n sonstiger Weise". Das gesamte Anwendungsfeld der Eingriffskondiktion entspricht gleichsam einer umgekehrten Sicht auf die Befugnisse, wie sie für das Eigentum modellhaft in § 903 S. 1 BGB beschrieben und i m Sachenrecht dann i m einzelnen näher ausgestaltet werden. Versucht man eine Inhaltsbeschreibung, wie sie bei der Leistungskondiktion in der Korrektur des (Trennungs- und) Abstraktionsprinzips liegt, so kann man also für die Eingriffskondiktion formulieren, daß sie der Korrektur einer tatsächlichen oder rechtsgeschäftlichen Beeinträchtigung des Verfahrenkönnens nach Belieben eines Rechtsinhabers dient. 9 2 Bringt man insoweit den wirtschaftlich so zentralen Fall der Verfügung als jedoch der für das Bereicherungsrecht gerade nicht maßgebliche Aspekt einer Bewertung von Handlungen (als unerlaubt) sorgsam abzuschichten ist. 91 Das belegt indirekt auch die Kontroverse darüber, ob in § 816 1 BGB der erzielte Erlös das „Erlangte" darstellt, oder ob der Anspruch auf den objektiven Wert des Gegenstands zu richten ist. Einen Uberblick über den Meinungsstand gibt Medicus, Schuldrecht II, Rz. 705 f., der selbst auf den objektiven Wert abstellt, den erzielten Erlös jedoch als den regelmäßig heranzuziehenden Anhaltspunkt zur Bestimmung des objektiven Werts begreift. Schapp, Sachenrecht, Rz. 247, sieht die „Möglichkeit, über fremdes Eigentum zu verfügen" als das Erlangte an, und stellt damit eine sehr enge Verbindung zu den Eigentümerbefugnissen nach § 903 S. 1 BGB her, wie sie auch hier als Maßstab jeder Eingriffskondiktion begriffen werden. Da diese Möglichkeit nicht herausgegeben werden könne, sei nach § 818 II BGB Wertersatz zu leisten, der in § 816 I 1 BGB nun in der Weise pauschal]siert werde, daß Wertersatz in Höhe des Erlöses zu leisten ist. § 816 I 1 BGB trifft hiernach also hinsichtlich des Haftungsgrundes eine deklaratorische, hinsichtlich des Haftungsumfangs eine konstitutive Bestimmung. 92 Hingegen verfolgt Wendehorst, Anspruch und Ausgleich, S. 209 f., aufbauend auf der Vorstellung von einem vindikationsersetzenden Rechtsfortwirkungsanspruch (vgl. hierzu oben Fn. 58), den Gedanken, daß der Anspruch aus § 816 I BGB, weil er an die Stelle der verlorenen Vindikation trete, einen Sekundäranspruch darstelle. Damit wird das Bild von der Rechtsfortwirkung aber mit einer präzisen dogmatischen Differenzierung konfrontiert, mit der es im Grunde überfordert ist. Die Dogmatik der §§ 812 ff. BGB entspringt gerade nicht einem Denken in Primärpflichten, wie sie nach der Dogmatik des Allgemeinen Schuldrechts notwendige Grundlage einer Gewährung von Sekundäransprüchen sind. Kommt dem Vindikationsschuldner etwa die Rechtspflicht zu, Verfügungen als Nichtberechtigter zu unterlassen? Und führt die Verletzung dieser Pflicht einerseits unabhängig von einem Verschulden, aber abhängig von der Wirksamkeit dieser Verfügung, zur Gewährung des Anspruchs aus § 816 I BGB, wie andererseits abhängig von einem Verschulden, aber unabhängig von der Wirksamkeit dieser Verfügung, zu Gewährung eines Anspruchs aus § 823 I BGB? Im Grunde
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches A n s p r u c h s s y s t e m 1 9 5
Verfahrenkönnen nach Belieben wegen § 816 BGB bei der allgemeinen Eingriffskondiktion nach § 812 I 1 2. Alt. BGB in Abzug, erweist sich von den verbleibenden Beeinträchtigungen schließlich vor allem die Fruchtziehung, der Gebrauch und der Verbrauch fremder Sachen und Rechte als der wirtschaftlich bedeutendste Anwendungsbereich der Eingriffskondiktion.
I I I . Das „Dreipersonenverhältnis" als Erweiterung der rechtlichen Perspektive auf die Bewertung mehrerer Zweipersonenverhältnisse Bislang ist ganz bewußt darauf verzichtet worden, die Eingriffskondiktion als Spezialfall einer allgemeinen Nichtleistungskondiktion zu betrachten, wie dies heute sehr verbreitet ist. Der Grund für diese Zurückhaltung liegt darin, daß der Begriff einer allgemeinen Nichtleistungskondiktion zwar Ausdruck des berechtigten Bemühens ist, ein System der Bereicherungsansprüche zu entwickeln, daß er in seiner Abstraktionshöhe aber gerade nicht mehr den zentralen Anwendungsfall des § 812 I 1 2. Alt. BGB zur Anschauung bringt, also den ungerechtfertigten Eingriff in die Befugnisse eines fremden Rechtsinhabers. Mit dieser Abstraktionsleistung bringt man die Eingriffskondiktion als Hauptanwendungsfall ebenso um ihre orientierende Kraft für § 812 I 1 2. Alt. BGB, wie bei der Leistungskondiktion der Leistungsbegriff zwar auch noch den Sonderfall der condictio ob rem erfaßt, den zentralen Anwendungsfall der Schuldtilgung aber außer Sicht geraten läßt. 93 Als weitere Fälle der Nichtleistungskondiktion werden insoweit vor allem die Verwendungskondiktion und die Rückgriffskondiktion genannt. Die Verwendungskondiktion fügt sich dabei noch insoweit in das Konzept der Eingriffskondiktion ein, wird so das Bild von einem „Vindikationsersatz" um seine Veranschaulichungsfunktion im Bereicherungsrecht gebracht. Auch einen Anspruch aus § 823 I BGB kann man bei dieser Sichtweise als einen Fall von Vindikationsersatz auffassen. Damit besteht zugleich aber auch die Gefahr, daß der gegenüber dem Bereicherungsrecht entscheidende Unterschied des Deliktsrechts, zum Zweck der Haftungsbegründung ein Verhalten zu beurteilen, eingeebnet wird. 93 Vgl. hierzu Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 174 f., der allerdings seinerseits am Oberbegriff der Nichtleistungskondiktion für § 812 I 1 2. Alt. BGB festhält, Rz. 169. Die zentrale Bedeutung der Eingriffskondiktion wird dann freilich nahezu durchweg im gleichen Atemzug wiederhergestellt, vgl. ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 169; Loewenheim, Bereicherungsrecht, 3. Teil, I (S. 75); Schlechtriem, Schuldrecht BT, S. 311 f.; Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 17 Rz. 1 ff.; Staudinger-Lorenz, § 812 Rz. 23 ff. Der hohe Orientierungswert der Eingriffskondiktion veranlaßt soweit ersichtlich nur Medicus, auf einer obersten Gliederungsebene Leistungskondiktion und Eingriffskondiktion gegenüberzustellen, vgl. Medicus, Bürgerliches Recht, § 27 „Die Leistungskondiktion" und § 28 „Die Eingriffskondiktion". Etwas abgeschwächt ders., Gesetzliche Schuldverhältnisse, § 24 „Die Leistungskondiktion in Zweipersonenverhältnissen" und § 25 „Die Eingriffskondiktion" (aber auch § 26 „Andere Nichtleistungskondiktionen"). Vgl. aber auch ders., Schuldrecht II, 1. Abschnitt „Die Leistungskondiktion" (S. 315 ff.) und 2. Abschnitt „Nichtleistungskondiktionen" (S. 342 ff.). 1*
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
als sich die Verwendung auf fremdes Gut noch als ein Eingriff, nun in die Ausschließungsbefugnis als Inhalt des Verfahrenkönnens nach Belieben, auffassen läßt, auch wenn sie in Zusammenhang mit einem Leistungsgeschehen auftreten kann. 94 Die mit der Rückgriffskondiktion erfaßten Fälle, vorwiegend die Tilgung einer fremden Schuld, stehen umgekehrt weitaus enger im Kontext der Leistungskondiktion als in jenem der Eingriffskondiktion. Sieht man mit den Fällen der Leistung und des Eingriffs nun aber das Recht der Verträge einerseits und das des Eigentumsschutzes andererseits in Bezug genommen (Recht der Güterbewegung und Recht des Güterschutzes), so zeigt sich, daß der Begriff der Nichtleistungskondiktion nicht nur hoch abstrakt, sondern auch ambivalent ist. Nicht alles, was nicht Leistung ist, muß deshalb schon Eingriff sein. So steht die bei fehlender Leistungsintention bestehenbleibende Zuwendung nicht der Eingriffskondiktion nahe, sondern der Leistungskondiktion, gewissermaßen als ihr defizitärer Modus. Mit dem abstrakten Begriff der Nichtleistung, der diesen defizitären Modus einer Leistung ebenso erfaßt wie den Fall des Eingriffs, gerät diese Differenzierung aber außer Sicht und damit die im Bereicherungsrecht gerade für so entscheidend gehaltene Unterscheidung von Güterbewegung und Güterschutz. Im folgenden soll daher der Überlegung nachgegangen werden, daß sich neben der Leistung und dem Eingriff kein dritter Leittyp der ungerechtfertigten Bereicherung mit vergleichbarer Durchschlagskraft finden läßt, sondern daß sich nahezu jeder Fall einem Leistungsgeschehen oder einem Eingriffsgeschehen zuordnen läßt. Das gilt vor allem auch für die sogenannten Dreipersonenverhältnisse, die in den meisten Darstellungen des Bereicherungsrechts das dritte Standbein neben Leistungskondiktion und Nichtleistungskondiktion darstellen. Mit ihnen wird keine weitere Art von Interessenkonflikt aufgegriffen, sondern lediglich eine dritte Person in die rechtliche Perspektive miteinbezogen, die Beurteilungsebene also auf mehrere Zweipersonenverhältnisse gleichzeitig eröffnet. Im folgenden soll hierzu zunächst ein kurzer Blick auf diesen Zusammenhang von Dreipersonenverhältnis und Zweipersonenverhältnissen geworfen werden (1.). Dann läßt sich aber auch zeigen, daß die Auffassung von einer Zugehörigkeit jeder Dreipersonenkonstellation zu einem Leistungs- oder einem Eingriffsgeschehen längst in der Darstellungspraxis der Lehrbücher und Kommentare zum Bereicherungsrecht angelegt ist, auch wenn ihr als Strukturelement der Darstellung selten schärfere Konsequenz verliehen wird (2.). In der Konsequenz dieser Überlegungen liegt es vor allem, die geringe Orientierungskraft des Begriffs Nichtleistungskondiktion zum Anlaß zu nehmen, diese Kategorie noch deutlicher in einen dem Leistungsgeschehen und in einen dem Eingriffsgeschehen zugeordneten Fallbereich auf94 Diese Sichtweise wird von Reuter I Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 9 1 (S. 374), aufgegriffen, um Kritik an der h.L. zu üben, die bei allen Nichtleistungskondiktionen „die Gleichung Rechtsgrundlosigkeit gleich Zuweisungswidrigkeit" anstelle. Damit würden die Unterschiede zwischen der Eingriffskondiktion als besonderem Güterschutzinstitut und solchen Fallgruppen eingeebnet werden, die ReuterIMartinek, § 9 III (S. 383 f.), über den eigenständigen Typ einer Abschöpfungskondiktion zu erfassen versuchen.
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
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zugliedern (3.)· Damit wird die oben entwickelte These aufgegriffen, daß die Dogmatik in der Entwicklung von Rechtssätzen und Ordnungskategorien nur dann zur Übersichtlichkeit der Rechtsanwendung beitragen kann, wenn sie die Abstraktionshöhe ihrer Begriffe dem Maß an Ähnlichkeit der jeweiligen Interessenkonflikte anpaßt, es also nicht unterschreitet, es aber auch nicht - wie im Fall einer „Nichtleistungskondiktion" - überschreitet. 95
1. Dreipersonenverhältnis und Zweipersonenverhältnisse Indem die bereicherungsrechtliche Dogmatik einen ganzen Fallbereich als „Dreipersonenverhältnisse" bezeichnet, verwendet sie ein Wort, das für sich genommen eigentlich Irritationen auslösen müßte. Ein Dreipersonenverhältnis ist dem deutschen Zivilrecht als eigenständige Klasse von Rechtsverhältnissen fremd. Die Bewertung eines Konflikts divergierender Interessen setzt vielmehr an einer zweipoligen Beziehung an, und jede Fallkonstellation, die man als drei- oder mehrpoliges Verhältnis kennzeichnen kann, ermöglicht und erfordert für ihre präzise rechtliche Beurteilung doch wieder eine Aufspaltung in zweipolige Rechtsverhältnisse.96 Die Beziehung zwischen zwei Personen ist dann schließlich auch der substantielle Kern des Wortes „Verhältnis" als einem der Moralphilosophie entstammenden Begriff. 97 Das soll nicht dahin mißverstanden werden, daß die gleichzeitige Perspektive auf mehrere Rechtsverhältnisse für die rechtliche Beurteilung irrelevant oder gar unfruchtbar wäre. Tatsächlich wird sie im Gegenteil sogar häufiger praktiziert, als ein auf das Bereicherungsrecht beschränkter Sprachgebrauch den Eindruck erwekken mag. So blickt insbesondere auch das Schadensrecht auf mehrere Zweipersonenverhältnisse, etwa wenn die Frage entgangenen Gewinns zu beurteilen ist. Aber auch das Bereicherungsrecht selbst faßt den Dritten bereits im „bloßen" Zweipersonenverhältnis ins Auge, wenn ζ. B. nach §§ 818, 822 BGB zu beurteilen ist, wie sich der Verlust des Bereicherungsgegenstandes an einen Dritten auf die Haftung des Bereicherungsschuldners auswirkt. In beiden Bereichen handelt es sich allerdings nicht gleichsam um „tripolare" Rechtsverhältnisse, sondern lediglich darum, daß die Konfliktbewertung des einen 95
Zum Verhältnis zwischen der Ähnlichkeit der Fälle und der Abstraktionshöhe der Rechtssätze oben 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 2. 96 Das gilt grundsätzlich auch für das Gesellschaftsrecht, dessen Besonderheiten hier freilich außer Betracht bleiben müssen. Zur Begründung von Ansprüchen aus Rechtsverhältnissen auch im Öffentlichen Recht wird diese Sichtweise zivilrechtlicher Dogmatik von Schur fruchtbar gemacht, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis, S. 178 ff. (199), in Anknüpfung an die Überlegungen von Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung; ders., AcP 192 (1992), 355 ff. (384 ff.). 97 Die Achtung des anderen legt Schapp, Freiheit, Moral und Recht, S. 187 ff., einer Betrachtung verschiedener Sphären der Moral zugrunde.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Zweipersonenverhältnisses Auswirkungen auf die Konfliktbewertung des anderen Zweipersonenverhältnisses haben kann. Die Konfliktbewertung selbst muß dann aber stets am Zweipersonenverhältnis als Begründungsrahmen der Anspruchsgewährung ansetzen, wie jeder Anspruch denn ja auch nur im Zweipersonen Verhältnis von Anspruchssteller und Anspruchsgegner gewährt werden kann. Auch jedes bereicherungsrechtliche Dreipersonenverhältnis bedarf also stets einer Aufgliederung in Zweipersonenverhältnisse, in Kondiktionen. Alle speziell für die Dreipersonenkonstellationen entwickelten ,Wertungen' gewinnen hier also prinzipiell die gleiche Bedeutung, nur stellt sich in Fällen, in denen lediglich zwei Personen beteiligt sind, gar nicht erst die Frage, wie sich die Konfliktentscheidung auf andere Rechtsverhältnisse auswirkt. Um diesen Zusammenhang auch auf einer sprachlichen Ebene zum Ausdruck zu bringen, soll im folgenden der Begriff der Dreipersonenkonstellation dem verbreiteten Begriff des Dreipersonenverhältnisses vorgezogen werden. 98
2. Die Darstellungspraxis zu den Dreipersonenkonstellationen in der Literatur zum Bereicherungsrecht Wie verhält sich diese Einschätzung nun aber zu der Beobachtung, daß die Literatur zum Bereicherungsrecht heute mit den „Dreipersonenverhältnissen" einen scheinbar so außerordentlich eigenständigen Fallbereich neben jenen der Leistungskondiktion und der Eingriffskondiktion behandelt? Liegt das tertium comparationis dieser Fälle möglicherweise nicht doch in einem Interessenkonflikt, der je mit Leistungskondiktion und Eingriffskondiktion alleine nicht mehr erfaßt werden kann? Angesprochen ist damit die Darstellungspraxis der Lehrbücher und Kommentare zum Bereicherungsrecht. Was insoweit zunächst die Eigenständigkeit eines Fallbereichs „Dreipersonenverhältnisse" betrifft, so ist die Literatur zum Bereicherungsrecht in der Tat durchweg davon gekennzeichnet, diese Fallkonstellationen gesondert neben jenen der Leistungskondiktion im Zweipersonenverhältnis und jenen der „Nichtleistungskondiktionen" zu behandeln. Am weitesten geht diese Darstellungspraxis, wenn Abschnitte wie „Der Bereicherungsausgleich im Mehrpersonenverhältnis" sogar auf der gleichen Gliederungsebene abgehandelt werden wie Abschnitte zur »Leistungskondiktion4 und zur »Bereicherung in sonstiger Weise' bzw. »Nichtleistungskondiktion4.99 Ein anderer Teil der Lehrbücher ordnet die Dreiper98
Erst recht gemieden werden soll aus den gleichen Gründen der Begriff eines Mehrpersonenverhältnisses. 99 Vgl. zu dieser Bezeichnung etwa Larenz! Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 68 (S. 145 ff.), § 69 (S. 167 ff.), § 70 (S. 197 ff.); ähnlich einteilend ferner Schlechtriem, Schuldrecht BT, § 2 (S. 298 ff.), § 3 (S. 311 ff.), § 4 (S. 320 ff.); Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 16 (S. 173 ff.), § 17 (S. 188 ff.), § 18 (S. 202 ff.); Wieling, Bereicherungsrecht, § 3 (S. 13 ff.), § 4 (S. 43 ff.), §§ 6 und 7 (S. 79 ff., 97 ff.); auch Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, Kapitel
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
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sonenkonstellationen hingegen als Unterbereich zur Leistungskondiktion ein, der dann aber seinerseits eigenständig behandelt w i r d . 1 0 0 Die Kommentarliteratur ist insoweit gespalten und nahezu durchweg durch das Bemühen gekennzeichnet, die durch das Gesetz nahegelegte Zweiteilung in Leistung und Nichtleistung aufzugreifen. Die Erörterung der Dreipersonenkonstellationen erfolgt dann allerdings sowohl innerhalb der Leistungskondiktion, 1 0 1 wie auch innerhalb des Tatbestandsmerkmals „auf dessen Kosten" als nach heutiger Auffassung ausschließlich für die Bereicherung in sonstiger Weise bedeutsamen Tatbestandsmerkmal. 102 Welche Fallkonstellationen werden in diesen Abschnitten zu den Dreipersonenkonstellationen aber inhaltlich behandelt? Tritt hier auf einmal doch ein dritter Leittyp der ungerechtfertigten Bereicherung in Erscheinung? Überaus häufig an die Spitze der Darstellung gerückt findet sich die besonders plastisch als „abgekürzte Lieferung" bezeichnete Fallgruppe (auch „Anweisungsleistung", „Durchlieferung", „Leistung mittels eines Dritten"). Schon begrifflich wird damit überwiegend an das Recht der Leistungskondiktion angeschlossen. 103
II (S. 71 ff.), Kapitel III (S. 232 ff.), Kapitel IV (S. 385 ff.); Medicus, Schuldrecht II, 1. Abschnitt (S. 315 ff.), 2. Abschnitt (S. 341 ff.), 3. Abschnitt (S. 353 ff.); ders., Gesetzliche Schuldverhältnisse, § 24 (S. 120 ff.), §§ 25, 26 (S. 131 ff., 138 ff.), § 28 (S. 156 ff.); anders jedoch ders., Bürgerliches Recht, §§ 27, 28 (S. 503 ff., 535 ff.). Aus der Kommentarliteratur lediglich Erman-H. P. Westermann, § 812, 3. (Rz. 10 ff.), 8. (Rz. 63 ff.), 4. (Rz. 16 ff.). loo Vgl. Esser! Weyers, Schuldrecht II/2, § 48 III (S. 46 ff.); KoppensteinerIKramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, II. Kapitel, § 6 (S. 24 ff.); Loewenheim, Bereicherungsrecht, 2. Teil, 2. b) (S. 30 ff.); auch Medicus, Bürgerliches Recht, § 27 II (S. 504 ff.), anders freilich ders., Schuldrecht II, und ders., Gesetzliche Schuldverhältnisse, § 24 (S. 120 ff.), §§ 25, 26 (S. 131 ff., 138 ff.), § 28 (S. 156 ff.). Eine Festlegung weitgehend vermeidend Fikentscher, Schuldrecht, § 99 (S. 677 ff.). ιοί Vgl. MüKo-Lieb, § 812 Β II (Rz. 30 ff.); RGRK-Heimann-Trosien, § 812 II 1 c) bb) (Rz. 25 ff.). 102 Vgl. Staudinger-Lorenz, § 812 II 2 (Rz. 36 ff.); Palandt-Thomas, § 812 5) B) c) (Rz. 44 ff.); Soergel-Mühl, § 812 D IV (Rz. 40 ff.). Dem liegt historisch betrachtet zugrunde, daß die sachgerechte Entscheidung von Dreipersonenkonstellationen früher vor allem im sogenannten Unmittelbarkeitsprinzip gesucht wurde. 103 Aber auch auf einer systematischen Ebene, vgl. hierzu etwa die Einordnung bei Medicus, Schuldrecht II, § 133 II („Mehrheit von Leistungsbeziehungen", S. 355), Rz. 727; Esserl Weyers, Schuldrecht II/2, § 48 III 3. („Leistung mittels eines Dritten"), S. 51 ff.; Koppensteiner I Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, II. Kapitel, § 5 II (S. 21 ff.); Loewenheim, Bereicherungsrecht, 2. Teil, I 2 b) bb); Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 182 ff.; MüKo-Lieb, § 812 Rz. 30 ff. Inhaltlich dem Recht der Leistungskondiktion zugerechnet wird der Fall der abgekürzten Lieferung auch bei Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 687 f.; ReuterIMartinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 11 (S. 407 ff.); Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 18 II 1 und 2 (S. 204 f.). Dagegen behandelt Staudinger-Lorenz, § 812 Rz. 49 ff., die Fallgruppe unter dem Merkmal „auf dessen Kosten". Weitgehend ohne systematische Festlegung Erman-H. P. Westermann, § 812 Rz. 19 ff., 25. Einen eigenen Weg geht Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 II (S. 201 ff.), der die abgekürzte Lieferung als „Modell der sachenrechtlichen Anweisungslagen" begreift, und diese den „schuldrechtlichen Anweisungslagen" gegenüberstellt, deren Modell er im ,bargeldlosen Zahlungsverkehr' sieht, vgl. Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 IV (S. 223 ff.). Inhaltlich behandelt Canaris
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Ebenso verhält es sich mit der Anweisung i m technischen Sinne (§§ 783 ff. BGB), die in diesem Kontext freilich meist nur als Anknüpfungspunkt oder als Spezialfall begriffen w i r d . 1 0 4 Nichts anderes gilt dann auch für den Fallbereich der Giroüberweisung oder des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, der sich mit den Problemen der abgekürzten Lieferung dicht überschneidet, deutlicher als diese Fallgruppe aber die Bedeutung der sogenannten Anweisungsmängel oder -defekte ins Bewußtsein gerückt hat, die bei der abgekürzten Lieferung zwar ebenso denkbar, praktisch aber weniger gewichtig s i n d . 1 0 5 Die Ausstrahlungswirkung, die von der abgekürzten Lieferung für die Dreipersonenkonstellationen ausgeht, wird von den weiteren wichtigen Dreiecksfällen nicht mehr erreicht. Zu nennen ist hier zunächst der echte Vertrag zugunsten Dritter, bei dem die Anbindung an das Recht der Leistungskondiktion zwar noch vergleichsweise eng ist, die doppelte Leistungsverpflichtung (und -intention) des Schuldners aber nur mühsam mit der auf Zweipersonenverhältnisse zugeschnitten Definition der Leistung zu vereinbaren i s t . 1 0 6 Deutlich lockerer ist dieser Zusammenhalt dann schon in den sogenannten Zessionsfällen, in denen es um die Rück-
dann weitgehend auch die im folgenden zu nennenden Fallgruppen, die bei ihm jedoch stets den schuldrechtlichen oder den sachenrechtlichen Anweisungslagen zugeordnet werden. Die von den vorstehend genannten Autoren überwiegend der Leistungskondiktion zugerechnete Anweisung wird bei Canaris also zur eigentlichen systemstiftenden Kategorie aller Dreipersonenkonstellationen. Vgl. zu dieser Neukonzeption der bereicherungsrechtlichen Dogmatik durch Canaris eingehender unten 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 3. b) und 3. Abschnitt, II. 2. b). 104 Vgl. etwa ReuterIMartinek, § 12 V (S. 485 f.); Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 18 III 3 (S. 206); Medicus, Schuldrecht II, Rz. 728; MüKo-Lieb, § 812 Rz. 30 ff.; Staudinger-Lorenz, § 812 Rz. 56 ff. Von der „Basiskonstellation der nicht angenommenen Anweisung" sprechen Koppensteiner ! Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 6 I (S. 24). Zu Canaris vgl. soeben (Fn. 103). 105 Vgl. etwa die gleichrangige Behandlung dieser Fallgruppe neben der abgekürzten Lieferung und der Anweisung im technischen Sinn bei Medicus, Schuldrecht II, Rz. 729, der dabei auch schon ihr Hauptkennzeichen hervorhebt, nämlich, wie Medicus formuliert, das »Fehlen einer wirksamen Anweisung'. Ähnlich Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 688 ff.; Wieling, Bereicherungsrecht, § 7 II (S. 100 ff.). In der Unterscheidung von Zurechenbarkeitsmängeln und Gültigkeitsmängeln wird der Anweisungsmangel zum wesentlichen Aspekt des ,kondiktionsauslösenden Mangels4 als neuem dogmatischen „Zentralkriterium" bei Larenz/ Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 IV (S. 223 ff.), V I 3. (S. 249 ff.); hierzu eingehender unten 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 3. b) bb). Vorsichtiger lediglich von „Besonderheiten" im bargeldlosen Zahlungsverkehr sprechen dagegen Reuter/ Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 11IV (S. 440 ff.). Umfassend wird dieser Fallbereich in jüngerer Zeit untersucht von Seiler, Der Bereicherungsausgleich im Überweisungsverkehr. 106 Vgl. hierzu etwa Loewenheim, 2. Teil, I 2 b) ee) (S. 51 ff.); MüKo-Lieb, § 812 Rz. 110 ff.; Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 18 III 5 (S. 207); Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 680 ff. Als Sonderkonstellation der Dreiecksverhältnisse wird der Vertrag zugunsten Dritter etwa behandelt bei Reuter ! Martinek, § 12 IV (S. 478 ff.); Koppensteiner I Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 6 VII (S. 45 ff.); Erman-H. R Westermann, § 812 Rz. 33 ff.; Wieling, Bereicherungsrecht, § 7 III (S. 104 f.). Abweichend auch hier StaudingerLorenz, § 812 Rz. 37 ff., sowie, den Vertrag zugunsten Dritter unter den ,schuldrechtlichen Anweisungslagen' behandelnd, Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 V 2 (S. 240 ff.).
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
201
forderung der Leistung eines Putativschuldners geht, die dieser auf eine tatsächlich nicht bestehende Forderung eines vermeintlichen Zessionars erbracht hat. Was beim echten Vertrag zugunsten Dritter noch eine Doppelverpflichtung des Schuldners ist, verkürzt sich hier also auf eine alternative Leistungsintention des Schuldners. Auch diese Fallgruppe wird dann aber überwiegend in einem der Leistungskondiktion nahestehenden systematischen Kontext behandelt.107 Noch deutlicher schwächen sich die Verbindungslinien zum Recht der Leistungskondiktion dann in der Fallgruppe der Begleichung fremder Schuld ab, in denen der Dritte in keinerlei vertraglicher Beziehung zum Gläubiger und Leistungsempfänger steht. Diese Fallgruppe, deren Darstellung von § 267 BGB überstrahlt wird, läßt denn auch gegenüber den anderen Fallgruppen deutliche Bruchlinien in der systematischen Verankerung erkennen. So wird sie häufig als typische Situation der Rückgriffskondiktion behandelt, die dann als Unterfall einer „Nichtleistungskondiktion" oder der „Bereicherung in sonstiger Weise" begriffen wird, 1 0 8 vermittelt gelegentlich noch durch die Zwischenebene einer (allgemeinen) Aufwendungs- oder Abschöpfungskondiktion. 109 Andere Autoren erwähnen die Fallgruppe dann aber auch gleichermaßen im Kontext der Leistungskondiktion wie im Kontext der Nichtleistungskondiktion. 110 Gegenüber einer Gruppe von „Leistungsdreiecken", deren häufigst genannten Fallgruppen hiermit skizziert sein mögen, 111 läßt sich ein Fallbereich von „Eingriffsdreiecken" abgrenzen. Diese Kennzeichnung ist selbstverständlich grob vereinfacht und ausschließlich von dem Bemühen bestimmt, den Eingriff als den grundlegend andersartigen Bewertungsansatzpunkt zu verstehen, der in den genannten „Leistungsdreiecken" gerade keine vergleichbare Bedeutung hat. Keineswegs soll damit aber die Aussage verbunden sein, daß die „Eingriffsdreiecke" isoliert neben den „Leistungsdreiecken" stünden oder gar mit der Leistungskondiktion 107 Vgl. hierzu Loewenheim, 2. Teil, I 2 b) ff) (S. 54 f.); Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 12 VI, S. 486 ff.; Medicus, Schuldrecht II, Rz. 730; Emmerich, BGBSchuldrecht BT, § 18 IV (S. 209). Vgl. ferner Larenz! Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 70 V 1 (S. 237 ff.), aber auch Staudinger-Lorenz, § 812 Rz. 41. los Vgl. etwa Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 678 ff.; Medicus, Schuldrecht II, Rz. 719 ff.; ähnlich Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 17 III (S. 200 f.). 109 Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 69 III 2 (S. 191 ff.); Koppensteiner ! Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 6 V I (S. 41 ff.). Zurückhaltend lediglich von einem Unterfall der Dreipersonenkonstellationen ausgehend Erman-H. P. Westermann, § 812 Rz. 26 ff., Wieling, Bereicherungsrecht, § 7 I (S. 97 ff.); auch Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 12 III (S. 463 ff.). Am Merkmal „auf dessen Kosten" ansetzend wiederum Staudinger-Lorenz, § 812 Rz. 42. no Vgl. Esser/Weyers, Schuldrecht I I / 2 , § 48 III 4 (S. 59 f.), § 50 III 2 (S. 88); Loewenheim, Bereicherungsrecht, 2. Teil, I 2 b) dd) (S. 47 ff.), 3. Teil, V (S. 121 ff.); MüKo-Lieb, § 812 Rz. 96 ff., Rz. 267. m Auf weitere, entlegenere Fallgruppen, etwa die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung bei akzessorischen Sicherungsrechten, vgl. hierzu etwa Reuter!Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 12 VII (S. 494 ff.); Larenz! Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 70 V 4 (S. 244 f.), soll hier nicht weiter eingegangen werden.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
nichts mehr zu tun hätten. I m Gegenteil tritt in diesen Fällen häufig mindestens in einem der drei Zweipersonenverhältnisse eine Leistungsbeziehung auf, und die Harmonisierung der beiden grundverschiedenen Beurteilungsansätze von Leistungskondiktion und Eingriffskondiktion erweist sich dann meist sogar als das bestimmende Problem für die rechtliche Beurteilung. Gemeint sein muß hier in erster Linie der Fallbereich der Verfügung eines Nichtberechtigten nach § 816 BGB, der einen Eingriff gegenüber dem Berechtigten beinhaltet, 1 1 2 mit der Verfügung aber eine dieser zugrunde liegende Leistungsbeziehung zwischen Nichtberechtigtem und Dritten in den Blick nimmt. In der Literatur wird dabei der Schwerpunkt des Geschehens - man ist fast versucht zu sagen, der Unwertgehalt der Handlung des Nichtberechtigten - auf den Eingriff gelegt. In der Konsequenz wird § 816 BGB dann überwiegend als Spezialfall i m Kontext der Eingriffskondiktion abgehand e l t . 1 1 3 Seine grundlegende Bedeutung als (eingriffsorientierte) Dreipersonenkonstellation wird dann erst in zweiter Hinsicht akzentuiert. 1 1 4 Ahnlich verhält es sich mit der weiterhin überaus bedeutsamen Fallgruppe des Bereicherungsausgleichs bei Rechtsverlust nach §§ 946 ff. BGB, womit dann vor allem die sogenannten Einbaufälle gemeint sind. Auch hier orientiert sich die Literatur überwiegend an der Eingriffskondiktion. 1 1 5 Wie die Heranziehung der 112
So KoppensteinerIKramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 9 III 1 (S. 91 f.); Reuter I Martinek, § 8 I 1 c (S. 287 f.); Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 671; LarenzI Canaris, Schuldrecht II/2, § 69 II 1 a) (S. 180 f.); Erman-H. R Westermann, § 816 Rz. 1; Schapp, Sachenrecht, Rz. 247 (sog. Eingriffstheorie). Dem widerspricht es nicht, wenn von anderer Seite im Eigentumserwerb des Dritten das Eingriffsgeschehen gesehen wird, vgl. MüKoLieb, § 816 Rz. 7 (sog. Ersatzanspruchstheorie). Beide Perspektiven sind im Ausgangspunkt berechtigt und ihre systematischen Einschätzungen, daß das Gesetz gegen den Erwerber nur bei unentgeltlichem Erwerb einen Anspruch (§ 816 I 2 BGB) begründet oder einen solchen Anspruch im Gegenteil belassen und entsprechend einen Anspruch gegen den Nichtberechtigten (§ 8161 1 BGB) konstitutiv begründet hat, auf einer logischen Ebene austauschbar. 113
Im Rahmen der Eingriffskondiktion (bzw. der Nichtleistungskondiktion oder der Bereicherung in sonstiger Weise) wird § 816 BGB abgehandelt von Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 671 f.; Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 17 II (S. 195 ff.); EsserI Weyers, § 50 II (S. 80 ff.); KoppensteinerIKramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 8 III (S. 91 ff.); Loewenheim, Bereicherungsrecht, 3. Teil, III 3 (S. 99 ff.); Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 714, 720 ff.; ders., Schuldrecht II, Rz. 698 ff. Eine Sonderstellung nehmen Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 8 (S. 281 ff.), ein, die schon der Gliederung nach zwischen § 81611 und § 816 II BGB als Eingriffskondiktion und § 8161 2 und § 822 BGB als „Durchgriffskondiktion" unterscheiden. 1 14 Vorwiegend unter dem Aspekt der Dreipersonenkonstellation wird § 816 BGB dagegen bei LarenzI Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 III 1 (S. 211 f.), behandelt. Vgl. ferner Medicus, Schuldrecht II, Rz. 732 (und andererseits ders., Rz. 698 ff., sowie ders., Bürgerliches Recht, Rz. 714, 720 ff.); Wieling, Bereicherungsrecht, § 6 VII (S. 93) (und andererseits freilich ders., § 4 III, S. 54 ff.). 115 Auch in der Systematik ihrer Darstellung etwa Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 17 III (S. 207 ff.); MüKo-Lieb, § 812 Rz. 224 ff.; Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 669 f.; Erman-H. P. Westermann, § 812 Rz. 73; Wieling, § 4 I 4 (S. 50 f.). Esser/ Weyers, Schuldrecht II/2, § 50 III 3 (S. 89), setzt bei der Verwendungskondiktion als Unterfall der Nichtleistungskondiktion an.
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
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§§ 932 ff. BGB zur Lösung dieser Fälle zeigt, wird die Einbettung des Rechtserwerbs in eine Leistungsbeziehung dann aber nahezu einhellig als der eigentliche Problempunkt der Fallerörterung betrachtet. Entsprechend schwankt manche Darstellung dann auch zwischen einer Verortung der Problematik bei der Eingriffskondiktion oder bei den Dreipersonenverhältnissen, 116 wie denn bisweilen sogar der Kontext der Leistungskondiktion als Darstellungsrahmen gewählt wird. 1 1 7 Kein sehr viel anderes Bild zeigt sich schließlich auch bei der letzten hier zu erwähnenden Fallgruppe, den Verwendungen auf fremdes Gut. Dieser (sich häufig mit den §§ 996 ff. BGB überschneidende) Fallbereich steht dem Eingriff zwar einerseits nahe, weil die Verwendung grundsätzlich die Ausschließungsbefugnis des Eigentümers aus § 903 S. 1 BGB berührt. Dem Geschehen nach ist die Verwendung zumindest potentiell aber stets Zuwendung, was besonders augenfällig wird, wenn insoweit von einem „Erlangen durch Gläubigerhandeln" gesprochen wird. 1 1 8 Entsprechend scheut man sich denn auch davor, diese Fälle trotz ihres Eingriffscharakters als Fallgruppe der Eingriffskondiktion zu behandeln, und zieht sich stattdessen auf die inhaltsleere Kennzeichnung als „Nichtleistungskondiktion" zurück oder auf den völlig isoliert stehenden Begriff der Verwendungskondiktion selbst. 119
3. Zur Nichtleistung als Interessenkonflikt Die Dreipersonenkonstellationen und die beiden Grundtypen der Bereicherung Es wäre nun äußerst verkürzt, die Frage nach einer Einordnung der einzelnen Fallgruppen in die Gliederung der Lehrbücher und Kommentare als bloße Darstellungsfrage abzutun. Die genannten Fallgruppen sind durchweg das Ergebnis einer 116
Vgl. Medicus, Schuldrecht II, Rz. 711; ders., Bürgerliches Recht, Rz. 718, sowie ders., Schuldrecht II, Rz. 733 f. Der Sache nach auch KoppensteinerI Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 11 IV. (S. 106 ff.); Staudinger-Lorenz, § 812 Rz. 61. Bewußt im isolierten Kontext einer Dreipersonenkonstellation widmen sich den hier ins Auge gefaßten Fällen hingegen ReuterIMartinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 12 II (S. 458 ff.), und Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 III 2 und 3 (S. 212 ff., 217 ff.). 117
So Loewenheim, der den Fallbereich dann aber sowohl beim Irrtum über den Leistenden (2. Teil, I 2 b) cc), S. 42 ff.) erörtert, wie auch beim Verhältnis von Leistungs- und Nichtleistungskondiktion (3. Teil, II, S. 76 ff.), wie schließlich erneut bei der Verwendungskondiktion als Unterfall der Nichtleistungskondiktion (3. Teil, IV 1, S. 117). 118 So wörtlich etwa MüKo-Lieb, § 812 Rz. 250 ff. 119 Vgl. Medicus, Schuldrecht II, Rz. 716 ff. („Aufwendungskondiktion"); Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 681; Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 69 III 1 (S. 188 ff.); Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 17 III (S. 199 f.); Wieling, Bereicherungsrecht, § 4 II (S. 51 ff.). Von einer isoliert piazierenden Systembildung, wie sie sich in einer „Verwendungskondiktion" niederschlägt, rücken Reuter ! Martinek auf ihre Weise ab, wenn sie eine „allgemeine Abschöpfungskondiktion" in einem „trichotomen Kondiktionensystem" entwickeln, vgl. dies., Ungerechtfertigte Bereicherung, § 9 (S. 371 ff.), insbesondere § 9 III (S. 383 f.). Ähnlich distanziert gegenüber der Verwendungskondiktion auch Staudinger-Lorenz, Vorbem zu §§ 812 ff. Rz. 42, §812 Rz. 2 f.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Analyse der Rechtsprechung insbesondere des BGH, und der Versuch der Literatur, diese Fälle nicht nur in Fallgruppen zu bündeln, sondern in ein Ordnungsgefüge der Kondiktionen einzupassen wie umgekehrt auch ein solches Ordnungsgefüge angeregt durch diese Rechtsprechung zu überprüfen und fortzuentwickeln, entspricht den zwei zentralen Funktionen juristischer Dogmatik, wie sie oben entwikkelt wurden. 120 Wie ist vor diesem Hintergrund nun aber das Bemühen der Dogmatik um die Errichtung eines eigenständigen Regelungsbereichs „Dreipersonenverhältnisse" einzuschätzen? Im folgenden soll insoweit die These vertreten werden, daß die Identifizierung eines eigenständigen Fallbereichs einerseits der Arbeitsweise juristischer Dogmatik entspricht, Ordnungsgefüge ausgehend von Fällen und den in ihnen vorgefundenen Ähnlichkeiten aufzustellen. Gerade wegen der Unterscheidung einzelner Fallbereiche ist dann andererseits aber die Tendenz kritisch zu beurteilen, Oberbegriffe in der Darstellung einzusetzen, mit denen die Unterschiede der Fallkonstellationen dann nur wieder nivelliert werden. Den Schlüsselbegriff in der Beurteilung von „Leistungsdreiecken" und „Eingriffsdreiecken" 121 bildet insoweit die „Nichtleistungskondiktion" als Oberbegriff aller unter § 812 I 1 2. Alt. BGB fallenden Fallgruppen und Kondiktionstypen. Mit dieser inhaltsleeren Bezeichnung122 werden ebenso Fälle erfaßt, die ein gegenüber dem Leistungsgeschehen völlig anders gelagertes Geschehen zum Gegenstand haben, nämlich den Eingriff, wie auch Fälle, in denen lediglich deshalb keine Leistung vorliegt, weil der Zuwendung (erkennbar) die Leistungsintention fehlt, also die das Tatbestandsmerkmal Leistung spezifizierende Hilfsnorm (der Leistungsbegriff) nicht eingreift. Wenn der Begriff der Nichtleistung also Eingriff und Zuwendung in sich aufnimmt, mit der Zuwendung aber gerade die Ausgangsbasis für ein Leistungsgeschehen ins Auge gefaßt wird, so liegt das Defizit des Begriffs „Nichtleistung" darin, daß hier auf rein begrifflicher Ebene ein Zusammenhalt der beiden Leittypen der ungerechtfertigten Bereicherung suggeriert wird, der sich der Systematik des BGB entgegenstellt.123 Es soll hier also durchaus kein vielfach unfruchtbares Denken in Dichotomien propagiert werden. Man muß jedoch der Tatsache ins Auge blicken, daß dem Bereicherungsrecht mit dem Gegensatz von Leistung und Eingriff (von Schuldverhältnis und Eigentum, von Güterbewegung und Güterschutz) ein solches Denken in Dichotomien in weiten Teilen vorgegeben ist. Indem das Anspruchssystem selbst auf einer Dichotomie basiert, ist es wenig ratsam, diese Dichotomie speziell für das Bereicherungsrecht aufzulösen. Soweit die Nichtleistungskondiktion auf Herausgabe einer Zuwendung gerichtet ist, die nicht zugleich Leistung ist, stellt sie mithin das logische Pendant zur Lei120 Vgl. oben, 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 2., sowie dann eingehender 2. Teil, 3. Abschnitt. Zur Kritik an einer Einschätzung der Problematik als bloße Darstellungsfrage unten 3. Teil, 2. Abschnitt, I. 121
Zu dieser verkürzenden Begrifflichkeit vgl. oben, 3. Teil, 1. Abschnitt, III. 2. 122 Vgl. hierzu auch oben 1. Teil, II. 1. ι 2 3 Hierzu oben 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 1.
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
205
stungskondiktion dar. Leistungskondiktion und Nichtleistungskondiktion stehen dann also in einem echten Aiternati ν Verhältnis. Soweit sich die Nichtleistungskondiktion hingegen als Untertyp Eingriffskondiktion auf die Herausgabe eines Erwerbs richtet, der in sonstiger Weise als durch Zuwendung erlangt wurde, steht sie nicht in einem Alternativverhältnis, sondern in gar keinem Verhältnis zur Leistungskondiktion.124 In leichter Variation von Wilburg läßt sich der Gedanke auch dahin formulieren, daß Klagen aus unbegründeter Zuwendung und aus Eingriff in ihrem Fundament nicht zusammengehören.125 Das wird besonders in den sogenannten Einbaufällen deutlich. Selbst hier, wo es mangels einer rechtsgeschäftlichen Übereignung an einem durch die §§ 946 ff. BGB vermittelten Eingriff in das Eigentum des Stoffeigentümers gar nichts zu deuteln gibt, differenziert die Dogmatik in der Lösung der Fälle gleichwohl zwischen einem reinen Eingriffsgeschehen (wie beim Einbau gestohlenen Materials) und einem Zuwendungsgeschehen (wie bei Einbettung des Einbaus in eine Vertragsbeziehung), indem sie die Wertungen der §§ 932 ff. BGB heranzieht. 126 Fast noch zweifelhafter als seine Abstraktionshöhe ist dann die weitere Unterteilung des Begriffs Nichtleistungskondiktion in die Subtypen Eingriffskondiktion, Rückgriffskondiktion und Verwendungskondiktion. Zum einen wird damit nicht nur der zentrale Stellenwert der Eingriffskondiktion relativiert, sondern auch nicht deutlich gemacht, wann insbesondere in den einzelnen Dreipersonenkonstellationen auf die der Leistungskondiktion oder auf die der Eingriffskondiktion zugrunde liegenden Wertungszusammenhänge zurückzugreifen ist. Besonders gravierend aber ist, daß diese Unterteilung nicht den Fall gleichsam der bloßen „Zuwendungskondiktion" erfaßt, also den Bereicherungsanspruch, der zur Abschöpfung einer (bloßen) Zuwendung bei einem Dritten regelmäßig versagt wird, weil man die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung entlang der Leistungsverhältnisse laufen lassen möchte. Vielmehr wird dieser defizitäre Modus der Leistungskondiktion nun mit dem Oberbegriff selbst bezeichnet, also als „Nichtleistungskondiktion", obwohl der Anspruch in diesem Fall weder auf einen Eingriff, noch auf einen
124 Daher kann man zwar wie König, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band II, S. 1515 (1521), die Zahlung fremder Schulden und den Ersatz von Verwendungen auf fremde Vermögensgegenstände „als Ergänzung der Geschäftsführung ohne Auftrag" ansehen. Ein dritter Leittyp ungerechtfertigter Bereicherung läßt sich damit aber nicht aufstellen, wie ja auch das Eingriffsverhalten im Recht der Geschäftsführung ohne Auftrag mit § 687 BGB ein Fremdkörper bleibt. 125
Vgl. Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 23. 126 Vgl. Medicus, Schuldrecht II, Rz. 734; Larenz! Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 70 III 2 (S. 212 ff.); Koppensteiner ! Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 11 IV (S. 107 f.); Loewenheim, Bereicherungsrecht, 3. Teil, II (S. 78 f.); Staudinger-Lorenz, § 812 Rz. 63; MüKo-Lieb, § 812 Rz. 237 (Analogie zu § 8161 BGB); Erman-H. P. Westermann, § 812 Rz. 85 f.; Baur/Stürner, § 53 Rz. 29; Westermann-Gursky, Sachenrecht, § 54, 2. (S. 445); Schapp, Sachenrecht, Rz. 280 ff. A.A. Reuter/Martinek, § 10 I I 2 b (S. 404): „Tatsächlich ist es von Grund auf verfehlt, die Konkurrenz von Leistungs- und Nichtleistungserwerb im Bereicherungsrecht nach den Kriterien des sachenrechtlichen Gutglaubensschutzes zu entscheiden".
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Rückgriff oder eine Verwendung zurückzuführen ist. Andere Bezeichnungen wurden zwar aufgeworfen, werden aber kaum zureichend erörtert. 127 Ist es mithin wenig aussichtsreich, in den Dreipersonenkonstellationen gleichsam die „dritte Spur" zwischen Leistung und Eingriff zu suchen, so besitzt die gesonderte Erörterung solcher Konstellationen freilich einen hohen Erkenntniswert im Hinblick auf eine Analyse der maßgeblichen Wertungsgesichtspunkte bereicherungsrechtlicher Anspruchsgewährung. 128 In der Zusammenfassung als „Dreipersonenverhältnisse" kommt dann aber auch eine bedeutsame Ordnungsentscheidung zum Ausdruck, eine weit verzweigte Kasuistik in ähnlich gelagerten Fällen zu erfassen. Das tertium comparationis der Dreipersonenkonstellationen liegt dabei aber nicht darin, daß sie einen dritten Leittyp ungerechtfertigter Bereicherung neben Leistung und Eingriff repräsentieren. 129 Das - ebenso banale wie gar nicht zu überschätzende - tertium comparationis muß man vielmehr darin sehen, daß hier gegenüber dem Normalfall des Zweipersonenverhältnisses drei oder mehr Personen an einem Geschehen beteiligt sind, und daß die Beurteilung jedes einzelnen Zweipersonenverhältnisses daher nicht losgelöst von den anderen erfolgen darf. Im Fall der abgekürzten Lieferung ist dies etwa die Abstimmung zweier LeistungsVerhältnisse mit einem ZuwendungsVerhältnis, im Fall des § 816 I BGB die Abstimmung eines Leistungsverhältnisses mit potentiell zwei Eingriffsverhältnissen. 130 Wenn die Bedeutung der Dreipersonenkonstellationen in praktischer Hinsicht meist unter Hinweis auf die Arbeitsteiligkeit der modernen Wirtschaft illustriert wird, 1 3 1 kann man den Gedanken auch dahin ausdrücken, daß das Teilen von Arbeit zunächst einmal zur Arbeit des Einzelnen führt und von hier aus zu Zweipersonenverhältnissen zwischen Arbeitnehmer und Hersteller, zwischen Hersteller und Händler sowie zwischen Händler und Endabnehmer - auch wenn jedes dieser Zweipersonenverhältnisse ohne die anderen seine Bezugspunkte verlieren würde.
127 So etwa der Begriff der Abschöpfungskondiktion, vgl. Reuter I Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 9 III (S. 383 f.); § 11 III 4 b) bb) (S. 430). Die Begriffe Direktkondiktion, Durchgriffskondiktion, Direktdurchgriffskondiktion und Aufwendungskondiktion werden bei LarenzI Canaris, Schuldrecht II/2, § 69 III 3 (S. 194 f.), § 70 IVe) (S. 228 f.), näher beleuchtet. 128 Grundlegend Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 ff. Hierzu eingehender unten 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 3. b). 129 Eine Besonderheit der Dreipersonenkonstellationen liegt ferner auch nicht etwa darin, daß sich nur hier das Problem einer Konkurrenz von Bereicherungsansprüchen stellt. Auch in der reinen Zweipersonenbeziehung ist eine derartiger Konkurrenz denkbar, etwa dann, wenn der Käufer von Baumaterial diesen Stoff bereits vor Übereignung selbst einbaut. Zur Konkurrenz von Bereicherungsansprüchen im Zweipersonen Verhältnis eingehender Reuter I Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 41 3 (S. 79 f.). 130 Worin bei § 816 BGB der Eingriff zu erblicken ist, ist freilich umstritten, vgl. hierzu oben (Fn. 112). 131 Vgl. etwa LarenzI Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 70 (S. 199); EsserI Weyers, Schuldrecht II/2, §48 III 1 (S. 46).
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
207
IV. Z u m gesetzlichen Schuldverhältnis i.w.S. aus ungerechtfertigter Bereicherung als Quelle von Ansprüchen in Zwei- und Dreipersonenkonstellationen Wenden wir uns abschließend einer Perspektive zu, die bislang weitgehend ausgespart wurde, die jedoch der Beurteilung bereicherungsrechtlicher Interessenkonflikte in Zweipersonenverhältnissen und Dreipersonenkonstellationen noch tiefere Kontur zu verleihen vermag. Lebensweltlicher Konflikt und schuldrechtliche Anspruchsbeziehung finden einen engen Begründungszusammenhang in der dogmatischen Kategorie des Schuldverhältnisses. Mit dem Schuldverhältnis i.w.S. greift das Recht sowohl das lebensweltliche Verhältnis beider Parteien wie auch das zentrale Wertmoment in diesem Verhältnis auf, das der Begründung der aus diesem Verhältnis entspringenden Ansprüche dient, also der Schuldverhältnisse i.e.S. Ist dieses gedankliche Modell der Anspruchsbegründung aber nicht überfordert, soweit es im Bereicherungsrecht herangezogen wird? Kann man ernsthaft von einem gesetzlichen Schuldverhältnis i.w.S. aus ungerechtfertigter Bereicherung als Quelle bereicherungsrechtlicher Ansprüche sprechen, und würde dies nicht doch eine gewisse Einheitlichkeit der bereicherungsrechtlichen Anspruchsbegründung zur Folge haben? Die Frage läßt sich in zweierlei Hinsicht präzisieren. Zunächst stellt sich losgelöst vom Bereicherungsrecht die Frage, inwieweit es überhaupt sinnvoll ist, bei gesetzlichen Schuldverhältnissen ein Schuldverhältnis i.w.S. als die Quelle von Forderungen zu begreifen (1.). Daran anknüpfend läßt sich fragen, welche Weitmomente der Anspruchsbegründung in einem Schuldverhältnis i.w.S. der ungerechtfertigten Bereicherung überhaupt aufgegriffen werden sollen, wenn die These doch gerade dahin geht, daß dieses Rechtsgebiet keine sinnvollen oder werthaften Geschehnisse der Lebenswelt aufgreift (2.). 132
1. Zur Vorstellung vom Schuldverhältnis i.w.S. als Quelle schuldrechtlicher Ansprüche bei gesetzlichen Schuldverhältnissen Die Vorstellung vom Schuldverhältnis i.w.S. als Quelle schuldrechtlicher Ansprüche findet ihren Anknüpfungspunkt in der vom Gesetz sachlich gemachten Unterscheidung zwischen einem (engeren) Begriff des Schuldverhältnisses, mit dem der schuldrechtliche Anspruch gemeint ist, und einem (weiteren) Begriff des Schuldverhältnisses, der über den einzelnen Anspruch hinaus insbesondere den Schuldvertrag meint, dessen Abschluß anspruchsbegründende Voraussetzung für das Entstehen des schuldrechtlichen Anspruchs ist. 1 3 3 In der Dogmatik wird ent132 Hierzu oben 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. b). 133 Im ersten Sinne wird der Begriff etwa in §§ 243 II, 362 I, 364 I, 397 I BGB verwandt, im zweiten Sinne in den Überschriften des zweiten Buchs („Recht der Schuldverhältnisse"),
208
3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
sprechend zwischen einem Schuldverhältnis im engeren Sinne und einem Schuldverhältnis im weiteren Sinne unterschieden. Vage bleibt dabei vor allem der Begriff des Schuldverhältnisses i.w.S., der nun auch unterschiedlich gedeutet wird. So faßt ein Teil der Literatur das Schuldverhältnis i.w.S. als Quelle schuldrechtlicher Rechte und Pflichten auf, 134 ein anderer Teil hingegen als Inbegriff schuldrechtlicher Ansprüche 135 . Wenn das Schuldverhältnis i.w.S. oben als Begründungsrahmen für die Anspruchsentscheidung charakterisiert wurde, 136 so liegt hierin die Entscheidung für den ersten Standpunkt, der dem Schuldverhältnis i.w.S. im Grunde auch nur Konturen zu verleihen mag, löst die zweite Ansicht scheinbar doch nur das Problem der ausreichenden Bezeichnung einer Mehrheit von Rechtsfolgen. 137 Der zentrale Anknüpfungspunkt für die Anspruchsbegründung ist beim Schuldverhältnis i.w.S. also das Verhältnis zweier Personen zueinander und damit insbesondere nicht, wie beim Eigentum als Wertprinzip der Anspruchsbegründung, das Verhältnis einer Person zu einer Sache. Das wichtigste dieser Schuldverhältnisse bildet dabei schon in praktischer Hinsicht der Schuldvertrag. Das ganze Bild von der „Quelle" speist sich geradezu aus dem Gedanken, daß zum Entstehen von Leistungspflichten und Sorgfaltspflichten stets auf den Schuldvertrag zurückzugreifen ist, in dem der Wille beider Parteien seinen Niederschlag gefunden hat, und der daher für die inhaltliche Ausgestaltung der einzelnen Rechte und Pflichten der Vertragspartner maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist. Dann thematisiert das Bild der „Quelle" auch die positive Dynamik oder den Zukunftshorizont einer Vertragsbeziehung. Jede Leistungspflicht und jede Sorgfaltspflicht kann in der Zukunft verletzt werden, woran sich weitere (Sekundär-) Pflichten anschließen. Mit Veränderung einzelner Umstände werden dann auch erst in der Zukunft Sorgfaltspflichten bedeutsam, deren Wirkungsbereich bei Vertragsschluß möglicherweise noch gar nicht bedacht war. Die tiefer greifende Dynamik des Schuldvertrags liegt dann aber vor allem darin, daß in jedem Abschluß potentiell der Beginn oder der Ausbau einer vertrauensvollen (Geschäfts-) Beziehung liegen kann. Jedes Vertragsgeschehen ist also potentiell auf Entwickdes ersten und des siebenten Abschnitts des zweiten Buchs („Inhalt der Schuldverhältnisse", „Einzelne Schuldverhältnisse") und etwa in §§ 273 I, 292 I, 425 I BGB. Den Hintergrund dieser ambivalenten Ausdrucksweise führt Schapp darauf zurück, daß im gemeinen Recht und bei Schaffung des BGB strittig war, ob das Privatrechtssystem als System der Rechte oder als ein System der Rechtsverhältnisse zu konzipieren sei, vgl. ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 85, mit Verweis auf Staudinger-J. Schmidt, Einl. zu §§ 241 ff. Rz. 199. 134 Vgl. Planck-Siber, II. Band, 1. Hälfte, Vorbemerkungen II 1 (S. 12); E. Wolf, in: Festgabe für Herrfahrdt, S. 197 (202 f.); Enneccerus/Lehmann, Recht der Schuldverhältnisse, § 1 III (S. 5); Fikentscher, Schuldrecht, Rz. 19; Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 263. 135 Vgl. Zepos, AcP 155 (1956), 486 (492); Larenz, Schuldrecht I, § 2 V (S. 26 ff.); Gernhuber, Das Schuldverhältnis, § 2 I 3; Medicus, Schuldrecht I, Rz. 8; MüKo-Kramer, Recht der Schuldverhältnisse, Einleitung, Rz. 12. 136 Vgl. 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 2. b) a.E. 137 So treffend Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 60.
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
209
lung ausgerichtet, egal ob diese Entwicklung die Vermögenswelt des Einzelnen betrifft oder (wie etwa bei unentgeltlichen Verträgen, insbesondere bei Schenkungen) die immaterielle Wertwelt des Einzelnen. Hierin unterscheidet sich das Schuldverhältnis i.w.S. aus Schuldvertrag nun ganz gravierend sowohl vom Schuldverhältnis i.w.S. aus unerlaubter Handlung wie von jenem aus ungerechtfertigter Bereicherung. Diese Geschehnisse sind gerade nicht auf Entwicklung ausgerichtet, sondern auf Abwicklung. 138 Zwar soll auch der Schuldvertrag erfüllt und in diesem Sinne beendet werden. Diese Beendigung hat aber einen positiven Akzent. Eine unerlaubte Handlung soll einem hingegen nicht ein weiteres Mal angetan werden, und ebenso möchte man die auf eigene Kosten gehende ungerechtfertigte Bereicherung eines anderen tunlichst vermeiden. Die Gemeinsamkeit der vertraglichen und gesetzlichen Schuldverhältnisse liegt so gesehen also vor allem darin, daß sie gleichermaßen einer Entwicklung in der Zeit unterliegen. Auch die gesetzlichen Schuldverhältnisse sind damit Entwicklungen ausgesetzt, die auf den Inhalt der aus ihnen entspringenden Rechte und Pflichten Einfluß ausüben. Was dem Schuldvertrag insoweit sein Leistungsstörungsrecht ist, sind der ungerechtfertigten Bereicherung die §§818 ff. BGB, und sind der unerlaubten Handlung die §§ 848 bis 852 BGB. Das Schuldverhältnis i.w.S. erscheint damit als ein in der Zeit bestehenbleibender Bezugsrahmen für die Bewertung zusätzlicher („Sekundär-") Konflikte. Das zeigt nun aber, daß die Zwischenebene eines Schuldverhältnisses i.w.S. auch bei den gesetzlichen Schuldverhältnissen von Bedeutung ist. 1 3 9 Die Ansprüche aus §§ 812 ff. BGB und aus §§ 823 ff. BGB kann man sich ebensowenig als direkt durch das Gesetz angeordnet vorstellen, 140 wie es umgekehrt beim Schuldvertrag nicht der Wille der Vertragspartner allein ist, der ein Schuldverhältnis i.w.S. entstehen zu lassen vermag, sondern nur der vom Gesetz anerkannte Wille. 1 4 1 Noch schärfer kann man den Gedanken dahin formulie138 Löst man den archaischen Gedanken einer Schuld in die beiden modernen Elemente der Freiheit und der (sittlichen oder rechtlichen) Gebundenheit einer Handlung auf, lassen sich ausgehend vom Delikt als Urtyp eines Schuld-Verhältnisses freilich auch Parallelen zum vertraglichen Schuld Verhältnis ziehen. Der Vertrag läßt sich in dieser Perspektive dann als das für den einzelnen zentrale Moment der Bindung seines freien Willens gegenüber einem anderen zur Verfolgung eigener Zwecke begreifen. Vgl. zu diesem Gedankenkreis Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis, S. 68 ff., und zuvor bereits Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 74 f., sowie, zum Gedanken des Vertrags als Abgrenzung von Freiheitssphären, ders., AcP 192 (1992), 355 (375 f.). 139 Vgl. auch Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 121 ff. 140 So aber offenbar die Tendenz bei MuKo-Kramer, Recht der Schuldverhältnisse, Einleitung, Rz. 59, wenn er formuliert, die Schuld Verhältnisse aus ungerechtfertigter Bereicherung „entstehen ohne rechtsgeschäftlichen Willen allein aufgrund der Verwirklichung gesetzlicher Tatbestände". 141 Das kommt bereits in der berühmten Definition des Rechtsgeschäfts zum Ausdruck, wie sie in den Motiven enthalten ist, und wonach die das Rechtsgeschäft zur Entstehung bringende Willenserklärung gerade auch dadurch gekennzeichnet wird, „daß der Spruch der Rechtsordnung in Anerkennung dieses Willens die gewollte rechtliche Gestaltung in der Rechtswelt verwirklicht", vgl. Mot. I, S. 126.
14 Gödicke
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
ren, daß der Vertragsschluß ein gesetzliches Rechtsverhältnis stiftet, auch wenn man dieses nun, vorwiegend aus systematischen Gründen, nicht als gesetzliches Schuldverhältnis begreifen möchte. Kein Schuldverhältnis kommt unabhängig vom Gesetz zustande, wie andererseits keine schuldrechtliche Anspruchsgewährung ohne eine Beurteilungsebene des Schuldverhältnisses sinnvoll ist. 1 4 2 Die Unterscheidung vertraglicher und gesetzlicher Schuldverhältnisse bringt somit lediglich eine unterschiedliche Akzentsetzung zum Ausdruck, mit der das Recht die Perspektive auf verschiedene lebensweltliche Geschehen einnimmt. 143 Überträgt man eine alte Unterscheidung auf die heutige Schuldrechtsdogmatik, kann man vertragliche und gesetzliche Schuldverhältnisse auch als freiwillig und unfreiwillig begründete Schuldverhältnisse gegenüberstellen. 144
2. Die inhaltliche Ausrichtung auch des Schuldverhältnisse i.w.S. der ungerechtfertigten Bereicherung an den beiden Leittypen der Bereicherung Dieser methodisch inspirierte Blick auf die Kategorie des Schuldverhältnisses i.w.S. hat zur Konsequenz, daß sich auch mittels dieser Kategorie keine einheitliche Begründungsebene bereicherungsrechtlicher Ansprüche ausmachen läßt. Wenn als Grundgedanke des Schuldverhältnisses, sowohl bei Schuldvertrag wie bei Delikt, oben im archaischen Gedanken der Schuld gesucht wurde oder, im aufklärerischen Sinne, im Gedanken der Freiheit oder Autonomie sowohl des Vertragschließenden wie auch des Deliktstäters, so sind entsprechende Linien zur ungerechtfertigten Bereicherung vielmehr kaum möglich, weil das Gesetz in den §§ 812 ff. 142 Nach Schur stiftet der Vertragsschluß ein gesetzliches Rechtsverhältnis, das als Schuldverhältnis begriffen wird. Daß sich die Rechtsfolgen des Vertrages in jedem Fall auf den tatsächlichen Willen der Vertragspartner zurückführen lassen, hält Schur für eine grundlegende Fehlvorstellung. Vielmehr entstehe mit dem Vertrag ein Schuldverhältnis, das einen rechtlich ausdeutbaren Rahmen für die beiderseitigen Rechte und Pflichten gebe, vgl. ders., Leistung und Sorgfalt, § 6 II 4 b, mit Verweis auf Larenz, Schuldrecht I, § 6 I; Schapp, Grundfragen der Rechtsgeschäftslehre, S. 58 ff. Wie schwierig hier jede nähere Grenzziehung ist, zeigt sich insbesondere bei der Frage, wie das Schuldverhältnis der Vertragsverhandlungen näher zu qualifizieren ist. Vgl. hierzu eingehend Schur, Leistung und Sorgfalt, § 6 II 4 c) bb). 143 Mit deutlicher Schärfe thematisiert Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, S. 105 ff., zum Gedanken des gesetzlichen Schuldverhältnisses hingegen die Gefahr, vertragliche Schuldverhältnisse in gesetzliche umzudeuten. Angeregt durch ein völkisches Rechtsdenken habe man so vor allem im Dritten Reich vertraglich begründete Schuldverhältnisse immer mehr den Zwecken unterworfen, die der Richter den Parteien setzte. Mit dieser Perspektive wird der hier ins Auge gefaßte methodologische Bezugsrahmen aber nicht in Frage gestellt, sondern lediglich ein Exzeß der rechtlichen Beurteilung von Konflikten zu Recht kritisiert. 144 Bereits Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, 5. Kapitel, 1131 a, hat Vertrag und Delikt als freiwillige und unfreiwillige Verträge gegenübergestellt. Vgl. hierzu Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 9.
1. Abschnitt: Bereicherungsrecht und zivilrechtliches Anspruchssystem
211
BGB von einer Schuld und sogar schon von Handlungen gänzlich absieht. 1 4 5 Die Wertwelt des Einzelnen, die sich i m Vertragsschluß regelmäßig entwickelt, regelwidrig dagegen in der unerlaubten Handlung, wird hier nur noch zum Zwecke der Rückabwicklung in Bezug genommen, kann dieser Rückabwicklung aber nicht aus sich heraus einen Sinn geben. 1 4 6 Indem das Bereicherungsrecht stattdessen einmal, mit der Leistung, an der (gescheiterten) vertraglichen Fortentwicklung einer Wertwelt des Einzelnen ansetzt, ein anderes M a l hingegen am Eingriff in eine fremde Wertwelt, kann auch die Entstehung des gesetzlichen Schuldverhältnisses i.w.S. der ungerechtfertigten Bereicherung notwendig nur zweigeteilt ansetzen. Es ist vor diesem Hintergrund kaum verwunderlich, wenn in der heutigen Dogmatik eine deutliche Unsicherheit schon hinsichtlich einer Qualifizierung der ungerechtfertigten Bereicherung als gesetzliches Schuldverhältnis i.w.S. zu verzeichnen ist. Blickt man etwa in die Lehrbücher zum Schuldrecht, so wird das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung vorwiegend in Anknüpfung an die gesetzliche Gliederung auf einer Ebene neben den vertraglichen Schuldverhältnissen und den Schuldverhältnisse aus unerlaubter Handlung behandelt. 1 4 7 Weniger verbreitet ist hingegen schon die Darstellung des Bereicherungsrechts als Unterabschnitt zu einem Abschnitt über „Gesetzliche Schuldverhältnisse' 4 , also neben etwa dem Recht der Geschäftsführung ohne Auftrag und dem Recht der unerlaubten Handlung. 1 4 8 145
Die bloße Tatsache eines Eingriffs in Befugnisse eines fremden Rechtsinhabers legt im Gegenteil fast schon näher, eine Parallele zur dinglichen Anspruchsbegründung zu ziehen. Den Weg, die Eingriffskondiktion als dinglichen Anspruch zu konzipieren, ist der Gesetzgeber aber gerade nicht gegangen. Wie hätte man auch die Gewährung eines dinglichen Anspruchs begründen sollen, wenn der Störungstatbestand in einer Entziehung des Rechts (§816 BGB) liegt? Das sollte aber nicht den Blick darauf verstellen, daß sich der Gedanke eines „Schuld"-Verhältnisses im Bereicherungsrecht im Grunde nur aus der historischen Perspektive erklären läßt, insbesondere mit dem römisch-rechtlichen Begriff der Obligation, also der „Gebundenheit" des Schuldners. Vgl. hierzu Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 73 f., sowie bereits zuvor 3. Teil, 1. Abschnitt, IV. 1. mit Fn. 138. 146
Zu dieser rechtsphänomenologisch inspirierten Auffassung eingehender oben, 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. b). 147 So stellt etwa Canaris den Abschnitt „Schuldverhältnisse aus ungerechtfertigter Bereicherung" in Anlehnung an Larenz zwischen den Abschnitt über „Schuldverhältnisse des Rechtsverkehrs" und den Abschnitt zum Deliktsrecht, den Canaris „Die außervertragliche Schadensersatzhaftung" nennt. Die vertragliche und gesetzliche Schuldverhältnisse umfassende Gliederungsebene lautet dann nach wie vor „Einzelne typische Schuldverhältnisse", vgl. Larenz, Schuldrecht II, S. 1; Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, S. 1, 127, 349. Das gleiche Gliederungsprinzip verwenden Emmerich, Schuldrecht BT, S. 1, 173, 225; Brox/ Walker, Schuldrecht BT, S. 313, 294, 354; ähnlich auch Medicus, Schuldrecht II, S. 310, 298, 362. Vgl. femer Müller, Schuldrecht BT, S. 347, 333, 407, der freilich in der Einleitung alle drei Bereiche als Unterfälle der gesetzlichen Schuldverhältnisse begreift, S. 4. Kittner gliedert ähnlich, nennt in seiner Oberkategorie jedoch in einem Atemzug „Schuldverhältnisse aus Vertrag, Verletzungshandeln und ungerechtfertigter Bereicherung", vgl. ders., Gesamtsystem Schuldrecht, S. 157 ff. Wie Larenz! Canaris dann wieder, jedoch mit Blick lediglich auf Bereicherungsrecht und Deliktsrecht, während die Geschäftsführung ohne Auftrag im Abschnitt „Schuldverhältnisse über Tätigkeiten" behandelt wird, auch Fikentscher, Schuldrecht, S. 671, 727. 14*
212
3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Mit einer systematisch einleuchtenden Einordnung der Bereicherungsfälle ist die Jurisprudenz dann aber auch seit jeher überfordert gewesen. Hingewiesen sei insoweit vor allem auf alte römisch-rechtliche Kategorie des Quasikontrakts, 149 wobei es allerdings unbedacht wäre, hierin in einem abwertenden Sinne eine dogmatische „Verlegenheitslösung" zu erblicken. 150 Im Grunde läßt sich dem Begriff heute noch eine hohe Plastizität abgewinnen, und man kann sogar die These wagen, daß bis heute kein anderer rechtlicher Begriff mit vergleichbarer Deutlichkeit den tragenden Gedanken der Leistungskondiktion als ein sublimes Zusammenspiel aus vermeintlicher Existenz und tatsächlicher Abwesenheit einer Verpflichtung kennzeichnet. Es ist der Vertrag, der einerseits nicht existiert, andererseits aber durch die Erfüllungsintention doch als quasi existent an den anderen herangetragen wird. Selbst bei der Eingriffskondiktion wird der Gedanke eines Quasikontrakts sinnvoll, jedenfalls in solchen Fällen, in denen die fiktiv vereinbarte Gegenleistung eines tatsächlich gar nicht geschlossenen Vertrags herangezogen wird, um die Höhe des Weitersatzes orientiert an einer „angemessenen Lizenzgebühr" auszufüllen. 1 5 1 Als systematische Kategorie wird der Quasikontrakt noch in der historisch orientierten Zivilrechtswissenschaft Anfang des 19. Jahrhunderts aufgegriffen. 152 Das BGB hat hierauf zwar verzichtet. Die im Begriff des Quasikontrakts besonders plastisch werdenden Bruchlinien, die der Versuch einer Einordnung des Bereicherungsrechts in ein Anspruchssystem hervorruft, sind durch die Entscheidung des BGB für das Abstraktionsprinzip im Grunde aber nur verschärft worden, weil man die Bereicherung damit konsequenterweise um jeden Bezug auf eine sinnvolle Handlung der Lebens weit bringen mußte. 153
148 So bei Esser/Weyers, Schuldrecht I I / 2 , S. 27, 1, 129; ebenso Schlechtriem, Schuldrecht BT, S. 281, 295, 282, 343. 149 Vgl. hierzu bereits den auf Käser zurückgreifenden historischen Überblick zur Leistungskondiktion, oben 3. Teil, 1. Abschnitt, I I 2 a). 150 Mit durchaus positivem Unterton denn auch Esser, AcP 172 (1972), 97 (124 ff.). 151 Vgl. zu diesen Fällen oben 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 1. b). 152 So teilt Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus, seine Darstellung in I. Personenrecht, II. Sachenrecht III. Recht der Forderungen ein (§ 5, S. 6), und unterscheidet innerhalb des Rechts der Forderungen dann „die Forderungen als eigene Rechtsverhältnisse (obligationes) nach ihrer Entstehung ex contractu, ex delicto, ex variis causarum figuris, und die Forderungen als Folgen irgend eines andern bestrittenen Rechtsverhältnisses (actiones) de statu, in rem, in personam " (§ 8, S. 8; Kursivdruck im Original). Die „vermischten Fälle (variae causarum figurae), woraus noch Forderungen entstehen können", sind für Hugo dann „äußerst mannichfaltig, und wenn man auch für einige darunter den gemeinschaftlichen Ausdruck, daß die Forderung dabey gleichsam aus einem Vertrage (quasi ex contractu), für andere, daß sie gleichsam aus einer Vergehung (quasi ex delicto) entstehe, brauchen will, so bleiben doch noch ihrer weit mehr übrig" (§ 174, S. 153). 153 Uber das deutsche Recht hinaus ist auch die englische Kontroverse über einen sinnvollen Ort der ungerechtfertigten Bereicherung innerhalb des Schuldrechts von der Überlegung gekennzeichnet, daß das Schuldrecht neben Vertrag und Delikt im Grunde kein drittes Standbein einer ungerechtfertigten Bereicherung erfordert. Für das englische Recht stellt sich das
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
213
Zweiter Abschnitt
Die bereicherungsrechtliche Dogmatik zwischen systemorientierten und fallorientierten Ansätzen einer Konsolidierung Wie oben zunächst nur skizziert, ist die heutige Kritik an der bereicherungsrechtlichen Dogmatik von dem Zwiespalt geprägt, einerseits ein verläßliches System der Bereicherungsansprüche und der bereicherungsrechtlichen Hilfsnormen zu errichten, andererseits einer Vielfalt von Interessengesichtspunkten Rechnung zu tragen. 154 Beide Ansätze, die hier lediglich der Anschaulichkeit halber vergröbert als systemorientierter und als fallorientierter Ansatz gegenübergestellt werden sollen, scheinen nicht miteinander vereinbar zu sein. Die These dieses und des nachfolgenden abschließenden Abschnitts der Untersuchung geht nun dahin, daß beide Ansätze zu Recht Beachtung beanspruchen, daß sie aber jeweils auch Antworten auf unterschiedliche Fragen darstellen. Das bedeutet umgekehrt, daß sich beide Ansätze auch berechtigte Kritik entgegenhalten lassen müssen. So wird die Dogmatik ihrer Funktion, eine zum Exzeß neigende Wertungsfreiheit des Rechtsanwenders zu begrenzen, 155 nicht mehr gerecht, wenn sie ihrerseits der Interessenbewertung im Einzelfall ausdrücklich das Wort redet oder zwar noch verbal an ihrer Ordnungsfunktion festhält, in der Sache dann aber ohne jede Aussicht auf Konsens eine solche Vielzahl von Rechtssätzen und Ordnungskonzepten darbietet, daß jede Übersichtlichkeit verloren geht. Andererseits macht der Blick auf das Bereicherungsrecht aber auch deutlich, daß jedes Ordnungsgefüge bereicherungsrechtlicher Rechtssätze bereits auf einer obersten Gliederungsebene auf einen gravierenden Bruch trifft, nämlich den zwischen Leistung und Eingriff. Dieser Bruch kann zwar seinerseits auf eine entscheidende Aussage des zivilrechtlichen Anspruchssystems zurückgeführt werden. 156 Für das Bereicherungsrecht hat er aber zur Konsequenz, daß gleichsam schon auf oberster Ebene die Herausbildung eines „geschlossenen" oder gar „harmonischen" Systems verhindert wird. 1 5 7
Problem einer Einordnung des Bereicherungsrechts mangels Abstraktionsprinzip also noch sehr viel schärfer. Vgl. hierzu Burrows , Law Quarterly Review 99 [1983], S. 217 ff.; ders., Understandig the Law of Obligations, S. 1 ff. Auch im englischen Recht bildete lange Zeit denn auch nicht das Rechtsinstitut einer ungerechtfertigten Bereicherung, sondern der QuasiContract die entscheidende Kategorie zur Behandlung vergleichbarer Fälle, vgl. Goff/ Jones, The Law of Restitution, 11 (S. 5 ff.). 154 Vgl. oben 1. Teil, II. 3. 155
Zu dieser Funktion der Dogmatik oben 2. Teil, 1. Abschnitt, II., 3. Abschnitt, III. 156 Vgl. hierzu oben, 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. a) und b), jeweils a.E. Zum Systemgedanken näher bereits oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 1. 157
Ausführlicher zum Systemgedanken oben, 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 1.
214
3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Im folgenden soll nun an die oben entwickelte These angeknüpft werden, daß mit einem systemorientierten Ansatz weniger die Arbeitsweise der Dogmatik, als die Arbeitsweise des Rechtsanwenders ins Auge gefaßt wird, während mit einem fallorientierten Ansatz weniger die Arbeitsweise des Rechtsanwenders, als die der Dogmatik in den Blick genommen wird. Der Rechtsanwender greift das System auf, um Fälle zu entscheiden, die Dogmatik greift Fälle auf, um ein System zu entwickeln. 158 Diese These soll im folgenden als Leitmotiv dienen, um die einzelnen methodischen Ansätze zu würdigen, die in der Kritik der bereicherungsrechtlichen Dogmatik aufgeworfen werden. Insoweit soll zunächst darauf eingegangen werden, weshalb sich auf der Grundlage des oben entwickelten Standpunkts zur Dogmatik die Unüberschaubarkeit des Bereicherungsrechts längst nicht auf ein bloßes Darstellungsproblem reduzieren läßt (I.). Ausführlicher eingegangen werden soll dann auf die Tendenz, dem Problem in methodischer Hinsicht durch eine Besinnung auf „Grundprinzipien" und „Grundstrukturen" des Bereicherungsrechts beizukommen (II.). Eingehend gewürdigt werden müssen dann aber vor allem die einzelnen systemorientierten und fallorientierten Ansätze zum Bereicherungsrecht. Sie produzieren ein Spannungsfeld deduktiver und induktiver Methoden der Rechtsfindung, das sich wenn auch nicht auflösen, so doch zumindest etwas entschärfen läßt, wenn man zwischen der methodischen Ausrichtung von Dogmatik und Rechtsan wendung im oben entwickelten Sinne schärfer unterscheidet (III.).
I . Die Unüberschaubarkeit des Bereicherungsrechts: Ein bloßes Darstellungsproblem? Den Gedanken, daß im Bereicherungsrecht keine evidente Kehrtwende erforderlich sei, sondern sich lediglich das Problem stelle, wie man die Ergebnisse der bereicherungsrechtlichen Fallbewertung am besten „verallgemeinerungsfähig darstellen" könne, hat insbesondere Medicus aufgeworfen. Gegen eine Kehrwende spräche zum einen, daß man sich über die Ergebnisse weitgehend einig sei, dann aber vor allem auch, daß die Dogmatik des Bereicherungsrechts „dringend einer gewissen Beständigkeit" bedürfe. 159 Vor allem die letztgenannte Einschätzung ist ohne Zweifel berechtigt. 160 Läßt sich die Problematik des Bereicherungsrechts deshalb aber tatsächlich als ein - gar mindergewichtiges - Darstellungsproblem qualifizieren? Und was folgt aus dieser Qualifizierung für den künftigen Gang des Bereicherungsrechts?
158 Vgl. bereits oben 2. Teil, 3. Abschnitt, III. Zu den Konsequenzen dieser These für eine Konsolidierung des Bereicherungsrechts unten 3. Abschnitt. 159 160
Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 665. Zum Konsens in den Ergebnissen vgl. oben 1. Teil, I. (Fn. 55).
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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Bereits oben wurde die These verfolgt, daß die Einigkeit über die Ergebnisse kaum ein Trostpflaster für den Rechtsanwender sein kann, der essentiell auf die Kenntnis eines Weges zu seinem Ergebnis angewiesen i s t . 1 6 1 M i t der Vermittlung dieses Wissens ist nun zwar in der Tat die Darstellung des Rechts angesprochen. M i t der Frage lediglich nach der sinnvollsten Art und Weise einer Darstellung weithin konsentierter Ergebnisse gerät aber die notwendig vorgelagerte Frage, ob das Bereicherungsrecht überhaupt über sinnvolle Ordnungsgesichtspunkte einer Darstellung verfügt und welche dies sind, aus dem Blick. Das muß gerade i m Bereicherungsrecht schwer wiegen, wo nicht nur zwischen der spärlichen, sehr abstrakt gefaßten gesetzlichen Regelung und den vielen wichtigen Einzelfällen eine große Lücke klafft, sondern auch zwischen den einzelnen Fallgruppen der ungerechtfertigten Bereicherung selbst, die sich mal an der Leistung, mal am Eingriff orientieren. Die hierfür erforderliche Ebene von Hilfsnormen wird dann zudem, soweit sie überhaupt existiert, in ihrer Maßgeblichkeit für die Rechtsanwendung bewußt in Frage gestellt, so insbesondere der bereicherungsrechtliche Leistungsbeg r i f f 1 6 2 und der sogenannte Subsidiaritätsgrundsatz. 163 Dann fehlt i m Grunde aber schon der Gegenstand, um dessen Darstellung es erst in einem zweiten Schritt gehen kann.
161 Oben 1. Teil, I. a. E. 162 So insbesondere von Canaris, vgl. hierzu eingehender unten 2. Abschnitt, III. 3. b). Vgl. ferner Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 686: „Kurzformel"; Koppensteiner ! Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 4 I 3 (S. 11 ff.). Auch der BGH gelangt nunmehr zu einer Relativierung, so in BGH NJW 1993, 1578 (1579): „Daß E und nicht die Bekl. Bereicherungsschuldner ist, wird bestätigt durch Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes und der Risikoverteilung, die mitberücksichtigt werden müssen, da die Ableitung aus dem Leistungsbegriff nicht immer überzeugend erscheint". Umgekehrt bereit, über den Rückgriff auf Wertungen hinaus auch den Leistungsbegriff als „Faustregel" zu akzeptieren, nunmehr Larenz / Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 V I 5 a) (S. 252). Seine „Verabsolutierung" nach wie vor ablehnend hingegen insbesondere MüKo-Lieb, § 812 Rz. 27a: „Irrweg". Vgl. femer auch die oben bereits in der Einführung gemachten Angaben (Fn. 14). 163 Medicus, Schuldrecht II, Rz. 734; ders., Bürgerliches Recht, Rz. 730: Die „Faustregel" des Subsidiaritätsgrundsatzes stehe „unter dem Vorbehalt, daß nicht besondere Gründe zu einem abweichenden Ergebnis führen". Schärfer noch ders., Gesetzliche Schuldverhältnisse, S. 164: Daß im Fall unberechtigten Einbaus unter Eigentumsvorbehalt gelieferten Baumaterials die Nichtleistungskondiktion gegen den Erwerber ausgeschlossen sein soll, „läßt sich nicht einfach mit einem (unkodifizierten) Dogma begründen." Das Ergebnis folge „also nicht aus einem Subsidiaritätsdogma, sondern aus den gesetzlichen Wertungen in den §§ 932, 935, 816 1. Dementsprechend wäre S nicht geschützt, wenn der Einbau unentgeltlich erfolgt, das Material abhanden gekommen oder S bösgläubig wäre. In diesen Fällen erweist sich zugleich das Subsidiaritätsdogma auch im Ergebnis als unrichtig." Vgl. ferner H. P. Westermann, JuS 1972, 18 (22); Hager, JuS 1987, 877 (878 f.); EsserI Weyers, Schuldrecht II/2, § 50 IV (S. 91): „eine (mehr oder weniger grobe, empirische) Faustregel [ . . . ] , nützlich zur vorläufigen Orientierung"; Loewenheim, Bereicherungsrecht, 3. Teil, II (S. 79): „nicht mehr als eine Faustregel, von der es zahlreiche Ausnahmen gibt"; Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 17 Rz. 19: „Faustformel". Ablehnender KoppensteinerI Kramer, § 11 V (S. 109), die der Auffassung zuneigen, „daß für die Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips alles auf die einzelnen Fallgruppen ankomme". Vgl. auch Staudinger-Lorenz, § 812 Rz. 64, und auch Larenz! Cana-
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Die von Medicus thematisierte Frage nach einer Darstellung berührt mithin das zentrale Problem der bereicherungsrechtlichen Dogmatik, nämlich das Ausmaß ihrer Ordnungskraft, um dem Rechtsanwender auf der Ebene einer Auswahl von Rechtssätzen zu dienen. 164 Damit stellt sich aber keineswegs - und das ist nun freilich auch schon eine Uberzeichnung des Standpunkts von Medicus - die Frage nach der übersichtlichsten Abfassung entsprechender Lehrbücher. Wenn sich die heutige Kontroverse nach Medicus darauf bezieht, „wie man diese Ergebnisse am besten verallgemeinerungsfähig darstellen kann", 165 würden wir den Akzent in dieser Kontroverse also lediglich weniger auf das Wort „darstellen" legen als auf das Wort „verallgemeinerungsfähig". Das sollte allerdings nicht als belanglose Wortklauberei mißverstanden werden. Mit der Verallgemeinerung wird nichts anderes als die Frage nach einer vom Fall abstrahierenden Entwicklung von Hilfsnormen im Bereicherungsrecht gestellt, die noch längst nicht als abgeschlossen gelten kann. Die tiefere Berechtigung des von Medicus aufgeworfenen Gedankens liegt mithin darin, daß er auf die enge Verbindung hinweist, die zwischen der Entwicklung von Rechtssätzen und der Darstellung von Rechtssätzen besteht. Im Sinne der oben angestellten Überlegungen berührt Medicus, indem er auf die Ergebnisse blickt, die Ebene der Fälle und Falltypen. Mit dem Konsens in den Ergebnissen wird nichts anderes als ein Konsens im Herstellen von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen diesen Falltypen thematisiert, der den Ausgangspunkt für eine Entwicklung von Hilfsnormen bildet. 166 Nur kann es erst in zweiter Hinsicht um eine Darstellung der zunächst zu entwickelnden Hilfsnormen gehen. 167
ris, Schuldrecht I I / 2 , § 70 V I 5 b) (S. 253). Außerhalb des Bereicherungsrechts wird am Subsidiaritätsgrundsatz hingegen auch ohne Abschwächungen festgehalten. So spricht etwa Westermann-Gursky, Sachenrecht, § 54, 2. (S. 445) von „der (zu Unrecht neuerdings vielfach in Zweifel gezogenen) Subsidiaritätsregel". Ahnlich Baur/Stürner, Sachenrecht, § 53 Rz. 29. Im Bereicherungsrecht halten vor allem Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 10 II 3 (S. 406), an dem von der Rechtsprechung, vgl. BGHZ 40, 272 (278); 56, 228 (239 ff.), verfolgten Subsidiaritätsgrundsatz fest: „Dieser Subsidiaritätsgrundsatz ist uneingeschränkt richtig. Er ist nicht nur - wie Medicus meint - eine Faustregel". Gegenteilig Thielmann, AcP 187 (1987), 23 (59): „Das Subsidiaritätsdogma ist somit weder als innerlich wahr noch als didaktisch - im Sinne eines dogmatischen Kürzels - nützlich oder rechtspolitisch erwünscht zu rechtfertigen"; MüKo-Lieb, § 812 Rz. 22: „schon im Ansatz verfehlt und insbesondere verantwortlich für manche Irrwege der neueren bereicherungsrechtlichen Entwicklung". Vgl. ferner auch die oben bereits in der Einführung gemachten Angaben (Fn. 17). 164
Ausführlich hierzu oben, 2. Teil, 3. Abschnitt, I. Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 665 (Hervorhebung im Original). 166 Ausführlich hierzu oben 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 2. 167 Allemal zu kurz greift daher die (freilich bewußt überpointiert vorgetragene) Überlegung Wesels, die Darstellungen zum Bereicherungsrecht müßten einfacher und zu diesem Zweck auch kürzer werden, vgl. ders., NJW 1994, 2594 (2595). Hier droht das inhaltliche Problem der Darstellung auf ein Problem des Umfangs verkürzt zu werden. 165
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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II. Die Besinnung auf Grundprinzipien und Grundstrukturen des Bereicherungsrechts Von der inhaltlichen Ebene konkreterer Hilfsnormen oder Falltypen weitgehend ab wenden sich Ansätze, die für eine Besinnung auf die „Grundprinzipien" und „Grundstrukturen" des Bereicherungsrechts plädieren. In ihnen kann die von Larenz geäußerte Sorge als aufgegriffen gelten, das Streben nach Entscheidungsgerechtigkeit für einzelne, oft recht entlegene Fallgruppen führe mehr und mehr dazu, daß die Grundlinien der Regelung im Ungewissen verschwömmen. 168 Konzeptionell zugrunde gelegt ist dieser Blick auf die „Grundlinien" des Bereicherungsrechts heute vor allem in dem Lehrbuch von Wieling (1.) und in der Darstellung von Bydlinski (2.). Darüber hinaus läßt er sich aber auch in anderen Darstellungen wiederfinden, insbesondere bei Flume (3.).
1. Wielings Plädoyer für eine streng wissenschaftliche Darstellung des Bereicherungsrechts: Wiederbelebung wahrer Dogmatik? Wieling, der den Blick auf die Grundstrukturen des Bereicherungsrechts gleichsam zum Programm seines Lehrbuchs macht, schwebt eine „streng wissenschaftliche" Vorgehensweise in der Art vor, daß „die Darstellung streng vom Gesetz und von den anerkannten dogmatischen Grundsätzen ausgehen und diese bei allen Entscheidungen zugrunde legen muß". Dogmatischer Grundsatz, Dogma und Rechtssatz werden dabei von Wieling synonym gebraucht. 169 Diese Anwendung von Dogmen habe nichts mit Begriffsjurisprudenz zu tun, vielmehr gälte es, die hinter dem Dogma (bzw. dem Rechtssatz) stehende Interessenbewertung zu verstehen, die jeder wissenschaftliche Bearbeiter auch zu kennen habe. Diese Arbeitsweise erlaube es dann auch, darauf zu verzichten, den Lehren bis in die äußersten Verästelungen zu folgen und viele Einzelheiten darzustellen. Insbesondere ließen sich überflüssige Ausnahmen von den allgemeinen Dogmen vermeiden, da dort, wo solche Ausnahmen diskutiert würden, regelmäßig zugunsten des allgemeinen Rechtssatzes zu entscheiden sei. Im Gegenteil sei vielmehr gegen die h.M. zu entscheiden, wo sie ihrerseits grundlos gegen anerkannte allgemeine Dogmen „verstößt". Eine bemerkenswerte Konsequenz dieser Position liegt darin, daß Wieling in seinem Lehrbuch bewußt und nahezu durchgängig auf Literaturhinweise verzichtet. Alles, was man zur Vorbereitung auf Klausuren und mündliche Prüfung wissen müsse, sei dargestellt. 170 168 Larenz, Schuldrecht II, 12. Aufl., Vorwort (S. V). Larenz selbst hat sich in seiner Darstellung freilich alles andere als vom Bemühen um konkretere Hilfsnormen abgewandt, vgl. ders., §§ 68 ff. (S. 520 ff.). 169 Allerdings ohne die Hintergründe dieser Verbindungslinien näher zu beleuchten. Vgl. insoweit oben 2. Teil, 1. Abschnitt.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Als Plädoyer für eine Darlegung allgemeingültiger Prinzipien und Strukturen des Bereicherungsrechts ist dieses Konzept namentlich von Schnauder begrüßt worden. Schnauder bemängelt freilich, daß der „kleine Ratgeber" von Wieling gerade kein in allen Punkten tragfähiges Konzept mehr vorlege, wenn er in manchen Bereichen die deutliche Absage der Rechtsprechung an eine Sichtweise der Literatur außer acht lasse.171 Der Einwand scheint nun insoweit fehlzugehen, als Wieling sich gerade darüber hinwegsetzt, Sichtweisen zur Kenntnis nehmen zu sollen, die grundlos gegen „anerkannte Dogmen" verstoßen, und hierzu dürfte das von Schnauder angesprochene Beispiel der Leistungsbestimmung durch den BGH nach Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes und der Risikoverteilung gerade zählen. 1 7 2 Tatsächlich wiegt der Einwand Schnauders aber schwerer. Was Schnauder hier anmahnt, ist das Gespräch mit der Rechtsprechung, das nicht - wie scheinbar aus der Sicht Wielings - einzustellen, sondern fortzuführen ist. Das gleiche gilt dann auch für die Auseinandersetzung mit der Literatur, der Wieling ebenso eine Absage erteilt. Er begründet dies im wesentlichen mit der Überlegung, daß die vielen vorgetragenen Lösungskonzepte häufig lediglich Ausnahmen von den „allgemeinen Dogmen" machten, und daß diese Ausnahmen überflüssig seien und nur zu unnötigen Schwierigkeiten führten. 173 Nun soll die große Zahl der Lösungsansätze sicherlich nicht in Abrede gestellt werden. Daß all diese Lösungsansätze allerdings so überflüssig seien, daß man sie dem in der Ausbildung befindlichen Juristen gleichsam verschweigen kann, dürfte ein vereinzelter Standpunkt sein. 174 Soll man dem jungen Juristen etwa nahelegen, in zivilrechtlichen Übungsarbeiten, und sei es auch nur in Klausuren, auf die Verarbeitung von Rechtsprechung und Literatur zu verzichten, soweit bereicherungsrechtliche Probleme zu erwägen sind? 175 Mit seiner Absage an eine Auseinandersetzung mit Literatur und Rechtsprechung suggeriert Wieling zudem auch, daß die
170
Zum Ganzen Wieling, Bereicherungsrecht, in seinem erneut abgedruckten und ausdrücklich in Bezug genommenen Vorwort zur ersten Auflage (S. VII ff.). 171 So Schnauder, JuS 1999, LXII, LXV, in seiner Rezension des Lehrbuchs von Wieling. Die Kritik Schnauders zielt hier auf eine ausschließliche Ausrichtung des Leistungsbegriffs an der Zweckbestimmung ab (so in der Tat Wieling, Bereicherungsrecht, § 3 I 1). 172 Das geschieht etwa in BGH NJW 1993, 1578 (1579); hierzu Schnauder, JuS 1994, 537 ff. In der Entscheidung BGH NJW 1992, 2084, auf die Schnauder in seiner Rezension von Wieling Bezug nimmt, vgl. ders., JuS 1999, LXV, hatte der BGH eine Leistung hingegen bereits mangels Zuwendung abgelehnt, so daß es dem BGH schon deshalb auf den erklärten Leistungszweck nicht anzukommen brauchte. 173
Wieling, Bereicherungsrecht, S. VIII. i™ Die Einschätzung berührt sich allerdings mit der von Wesel, NJW 1994, 2594 (2595). Vgl. hierzu bereits oben, Einführung (Fn. 18). 175 Weitsichtiger Koppensteiner I Kramer, die zwar „auf Vollständigkeit der Dokumentation, [ . . . ] dem Lehrbuchcharakter des Buches gemäß, durchgängig verzichtet" haben, es zum anderen aber auch für notwendig halten, um „dem Leser nicht nur Steine statt Brot zu geben", „Stellung zu beziehen, also unsere Auffassung über eine möglichst plausible Lösung kontroverser Fragen mitzuteilen", vgl. dies., Ungerechtfertigte Bereicherung, Vorwort (S. V).
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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bereicherungsrechtliche Dogmatik gleichsam an ihrem Ende angekommen ist, oder jedenfalls an einer Stelle, an der weitere Bemühungen aussichtslos zu sein scheinen. Indem Wieling also gewissermaßen mit der Dogmatik ernst macht, bringt er sie mit seiner strikten Ausrichtung an „Dogmen" um das, was Dogmatik ausmacht und was auch erst zu den von Wieling gebilligten „Dogmen" geführt hat, nämlich um das gemeinsame Gespräch zwischen Rechtswissenschaft, Rechtsprechung und Lehre. In dieses Gespräch muß sich auch der junge Jurist allmählich eingewöhnen, und das muß in der Tat bedeuten, in einem Anfängerlehrbuch manche Kontroverse zu vereinfachen oder auszublenden. Diese Eingewöhnung kann aber nicht bedeuten, daß man die Kontroversen auch noch gegenüber Examenskandidaten völlig ausblendet und damit auch den ausgebildeten Juristen im Hinblick auf das Bereicherungsrecht stets auf seinen Anfängerstatus verweist. „Dogma" ist eben nicht nur die eine, herrschende, sondern auch die Meinung, die mit dem Anspruch auf Richtigkeit in die Diskussion eingeführt wird. 1 7 6 Hierzu zählt dann zwar auch wieder ein Standpunkt, wie Wieling ihn vorträgt. Die Besonderheit dieses Standpunkts liegt jedoch darin, daß Wieling die Diskussion jedenfalls in didaktischer Hinsicht für beendet erklären möchte. Das ist aber kein dogmatischer, sondern ein apodiktischer Standpunkt.177
2. Prinzipiell-systematische Rechtsfindung nach Bydlinski Ebenfalls an Grundprinzipien orientiert, aber sich in der Sache deutlich von dem Standpunkt Wielings unterscheidend, plädiert Bydlinski über das Bereicherungsrecht hinaus für eine „prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht". 178 Er greift dabei die Wertschätzung auf, die große Teile der Literatur einem systematischen Ansatz entgegenbringen, wenn er geradezu plakativ „System und Konsistenz als Mittel gegen konturenlose Billigkeitsjurisprudenz" im Bereicherungs176
Als ein Prozeß des Qualifizierens von Meinungen wird die Entwicklung von Dogmatik oben 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 2. c), in den Blick genommen. 177 Zur Unterscheidung wahrscheinlicher und apodiktischer Sätze mit Blick auf die Dogmatik oben 2. Teil, 1. Abschnitt, I. 1. Wieling sieht sich durch seinen Standpunkt freilich nicht gehindert, und hierin liegt zweifellos die Fruchtbarkeit seines Ansatzes, dem Leser die historische Entwicklung des heutigen Kondiktionensystems nicht nur einführend vor Augen zu führen, sondern sie stets als Verständnisstütze heranzuziehen, weil die traditionsgemäße Unterscheidung der Kondiktionen „nur aus der Geschichte des Bereicherungsrechts verständlich" sei, vgl. ders., Bereicherungsrecht, S. 2. 178 So zunächst Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht. Ausführlicher dann ders., System und Prinzipien des Privatrechts, dort zum Bereicherungsrecht S. 233 ff. Lösungen mit Hilfe „bestimmter allgemeiner Rechtsprinzipien wie dem Gedanken der Risikozurechnung und dem Abstraktionsprinzip" statt wie die h.L. „mit Hilfe von Begriffen wie dem der Leistung und des Leistungsverhältnisses" verfolgt auch Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 ff. (857) (Kursivdruck im Original). Auf die damit verfolgte Einbeziehung von Wertungsgesichtspunkten soll jedoch erst unten eingegangen werben, 2. Abschnitt, III. 3. b).
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
recht bezeichnet.179 Was hat man sich hierunter aber mit Blick auf die Rechtsfindung näher vorzustellen? Bydlinski schwebt ein prinzipiell-systematisches, von verbindlichen normativen Grundlagen ausgehendes Denken vor, eine „systematisch tiefdringende, nämlich stärker prinzipiell und konsequent denkende Dogmatik [ . . . ] , die die verbindlichen und nachprüfbaren Ausgangspunkte ihrer Argumentation systematisch wahrt und weiterdenkt". 180 Mit Blick auf das Bereicherungsrecht demonstriert er die von ihm präferierte Art der Rechtsfindung am Beispiel des viel erörterten Flugreise-Falls, in dem es einem beschränkt geschäftsfähigen Minderjährigen, der regulär von München nach Hamburg geflogen war, gelang, sich in Hamburg unerkannt unter die Transit-Passagiere einer nicht ausgebuchten Lufthansa-Maschine zu mischen, um auf diese Weise weiter nach New York geflogen zu werden. 181 Hier habe man zunächst von der Regel auszugehen, daß insbesondere ein unredlich Bereicherter den objektiven Wert des in Anspruch genommenen Gebrauchs fremden Guts zu zahlen habe. Diese Regel folge aus den bereicherungsrechtlichen Grundgedanken des Güter- und Leistungsschutzes sowie der Tragung zurechenbar selbst geschaffenen Risikos. Bei einem Minderjährigen sei die undifferenzierte Anwendung dieser Regel aber alles andere als selbstverständlich. Mangels einer bereicherungsrechtlichen Regelung sei insoweit angesichts der Tatsache, daß die Bereicherung ,in sonstiger Weise' eines Unredlichen im Raum stünde, eine analoge Heranziehung des deliktischen Haftungsmaßstabs naheliegend, der nun allerdings im Ergebnis dazu führen würde, den Minderjährigen so haften zu lassen, als hätte er einen wirksamen Vertrag geschlossen. Das würde aus der Sicht Bydlinskis nun aber zu einem deutlichen Widerspruch zum Geschäftsfähigkeitsrecht führen. Er hält daher zwar an der primären Heranziehung der Deliktsfähigkeitsregeln als geeignetem Lösungsweg fest, jedoch „Korrekturen" für angebracht, damit die Zwekke und Grundwertungen des Geschäftsfähigkeitsrechts nicht schlechthin durchkreuzt werden. Insoweit müsse man die Handlungsfähigkeit ungeachtet bestehender Deliktsfähigkeit als gemindert beurteilen. Das lege nun aber die analoge Anwendung von § 829 BGB nahe. Mithin sei die bereicherungsrechtliche Ausgleichspflicht des Minderjährigen „nach Billigkeit, insbesondere nach den beidseitigen Vermögensverhältnissen, zu bestimmen". Diese Lösung sei nicht etwa „bloß begrifflich", sondern im Ergebnis wesentlich befriedigender als die volle Haftung auf das, wozu er sich willentlich gar nicht selbst verpflichten könne. 182 Betrachten wir die hier beispielhaft vorgetragene Lösungstechnik prinzipiellsystematischer Rechtsfindung im Bereicherungsrecht genauer. „Systematisch" 179
So Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 238 (Fn. 252). Zum Meinungsspektrum der Literatur vgl. insoweit oben 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 180
Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 237 f. 181 BGHZ 55, 128. 182 Vgl. z u m Ganzen Bydlinski, Uber prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 41 ff.
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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setzt die Lösung mit der Parallele zum Deliktsrecht an, „prinzipiell" setzt sie an, indem Bydlinski den analog herangezogenen deliktischen Maßstab durch den Gedanken der Privilegierung Minderjähriger nach §§ 104 ff. BGB korrigiert. Gelingt Bydlinski mit dieser Vorgehensweise nun aber tatsächlich das, was er mit dieser Art der Rechtsfindung bezweckt, nämlich „das rationale, argumentative Element in der Rechtsfindung [ . . . ] tunlichst zu verstärken und damit das irrational-volitive Element, das realistischerweise nicht geleugnet werden sollte, auf den Restbereich des Unvermeidlichen zu beschränken"? Schlägt sich hier noch das Bestreben nieder, „gegebene Rechtsfälle und Rechtsfragen durch möglichst wohlbegründete konkrete Regeln zu lösen"? 183 Welche wohlbegründete konkrete Regel ist es, die in rational nachvollziehbarer Weise die analoge Anwendung von § 829 BGB fordert? Oder liegt die von Bydlinski gemeinte konkrete Regel in dem Rechtssatz des § 829 BGB selbst? Das Beispiel des Flugreise-Falls mag vielleicht unglücklich gewählt sein, kann man es doch gerade an der Schwelle zu dem von Bydlinski mißmutig in Kauf genommenen Restbereich irrational-volitiver Rechtsfindung ansiedeln. Das gilt aber, wenn man der heutigen Kritik glauben darf, nahezu für die größte Zahl bereicherungsrechtlicher Fälle. Tatsächlich schweben Bydlinski unter ,irrational-voliti ven' Elementen in der Rechtsfindung dann auch ganz andere Fragen vor, nämlich solche, die in der Methodenlehre üblicherweise im Kontext normativer Tatbestandsmerkmale abgehandelt werden. So nennt Bydlinski als Beispiel die Wertung einer bestimmten Leistungsstörung als „schwere" Vertragsverletzung und damit als wichtigen Grund für die Auflösung eines Dauerschuldverhältnisses. 184 Das Beispiel führt vor Augen, und das mag seine breitere Darstellung rechtfertigen, wie schwierig es ist, eine Fallösung dem Schwerpunkt nach auf einer einzelnen methodischen Ebene zu halten, hier auf jener der Rechtsprinzipien. Was anderes als eine fallorientierte Wertungsentscheidung liegt der analogen Heranziehung von § 829 BGB zugrunde, die zwar mehr oder minder plausibel auf die Wertungsprinzipien des Delikts- und Geschäftsfähigkeitsrechts gestützt werden kann, sich aber eben gerade weder zwingend rational noch gänzlich frei vom persönlichen Wollen und Meinen eines Autors aus diesen Prinzipien ergibt? Und wie anders als fallorientiert soll sich vor allem die Generalklausel des § 829 BGB schließlich anwenden lassen? Beizupflichten ist Bydlinski nun zwar in der Tat, wenn er das Ausgehen der Dogmatik „von einem einstweilen prinzipiell gesicherten Kernbereich und die schrittweise, systematische Stellung der verbliebenen Fragen im Ausgang von diesem Kernbereich" fordert. 185 Mehr als ein Ausgangspunkt kann hierin aber in den meisten Fällen auch nicht gesehen werden, und dieser Ausgangspunkt ist 183
Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 5. Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 5. 185 So Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 235. Den Bereich der Prinzipienentwicklung bezeichnet Bydlinski auch als „Makrodogmatik", vgl. ders., JB1. 1996, 683 (686 f.). 184
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
gerade im Bereicherungsrecht alles andere als deutlich ausgeprägt. Indem Bydlinski die Begriffe System und Konsistenz zur Kennzeichnung seines Ansatzes heranzieht, bringt er im Grunde auch nur den an die Dogmatik herangetragenen Anspruch zum Ausdruck, eine rationale Rechtsan wendung zu gewährleisten. 186 So tiefgreifend die kontinentaleuropäische, und vor allem die Rechtswissenschaft des deutschen Rechtskreises von diesem Idealbild geprägt ist, lassen sich damit aber doch nicht die Zweifel ausräumen, ob sich das von Bydlinski propagierte Ideal der Rechtsfindung jedenfalls im Bereicherungsrecht verwirklichen läßt. Indem Bydlinski in dem von ihm erörterten Beispiel schließlich über § 829 BGB auf die Vermögensverhältnisse der Beteiligten als Argumentationselemente zurückgreift, neigt er vielmehr dem beweglichen Systemdenken seines Lehrers Wilburg zu, dessen Zweckmäßigkeit in der Rechtsfindung aber durchaus in Frage gestellt wird. 1 8 7
3. Weitere Ansätze der Literatur Ohne einen vergleichbaren Anspruch zu erheben, Ausdruck eines eigenständigen methodischen Konzepts zu sein, finden sich in der Literatur einige weitere Ansätze, die eine Orientierung an den Grundstrukturen und Grundprinzipien des Bereicherungsrechts vorschlagen, so in jüngster Zeit vor allem der von Flume. Mit Blick auf den „Bereicherungsausgleich in Mehrpersonenverhältnissen" trägt er den Gedanken vor, die Probleme im Bereicherungsrecht ließen sich lösen, „wenn man nur auf die Rechtsfigur - auf das recht verstandene ,Schema' - der ungerechtfertigten Bereicherung" zurückgehe. 188 Zwar sollten rechtliche Entscheidungen niemals „schematisierend" oder „schematisch" in jenem abwertenden Sinne getroffen werden, wie der BGH die Worte gebrauche. 189 Die Fälle würden aber nun einmal die rechtliche Lösung nicht von sich aus aufgrund ihrer „Besonderheiten" selbst ergeben. Der zu entscheidende Fall sei vielmehr nach dem geltenden Bereicherungsrecht, zugleich in Uberprüfung der bisherigen Rechtsprechung der „ähnlichen" Fälle zu lösen. 190 In Anlehnung an die wörtliche Bedeutung des Terminus „Schema" schwebt Flume daher durchaus vor, die Bereicherungsfragen ,schematisch' zu behandeln, allerdings in dem Sinne, daß man auf die „Gestalt", die (Rechts-) „Figur" der ungerechtfertigten Bereicherung zurückzugehen habe. Diese Rechtsfigur 186 Hierzu oben, 2. Teil, 1. Abschnitt. 187 Wenn Bydlinski sich vom beweglichen Systemdenken distanziert, indem er die Überzeugung äußert, daß „auch eine bewegliche Gestaltung und Anwendung des Rechts den Anhalt in festeren Regeln nicht entbehren kann", so liegt in § 829 BGB gerade das Gegenteil einer festeren Regel. Vgl. ders., in: Das Bewegliche System, S. 21 (30). Zu Ansätzen eines beweglichen Systemdenkens im Bereicherungsrecht eingehender unten 2. Abschnitt, III. 2. b). 188 Flume, AcP 199 (1999), 1 (37). 189
Erstmals unter Rückgriff auf die Formulierung v. Caemmerers, JZ 1962, 385 (386), daß sich „jede schematisierende Lösung" verbietet, BGHZ 61, 289 (292). Der Sache nach v. Caemmerer zuneigend bereits zuvor BGHZ 50, 227 (229); 58, 184 (187). 190 Flume, AcP 199 (1999), 1 (1 f.).
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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der ungerechtfertigten Bereicherung konturiert Flume unter Rückgriff auf die abstrakte Formulierung des Bereicherungsprinzips durch Savigny: „Alle diese Fälle also haben mit einander gemein die Erweiterung eines Vermögens durch Verminderung eines andern Vermögens, die entweder stets ohne Grund war, oder ihren ursprünglichen Grund verloren hat." 1 9 1 Flume betont die hierin zum Ausdruck kommende „Vermögensorientierung" des Bereicherungsanspruchs, von der auch in Mehrpersonenverhältnissen auszugehen sei. 192 Schulfall sei insoweit die Anweisungsleistung der Bank aufgrund des Bankauftrags des Kunden. Die zentrale Frage besteht für ihn in der Festlegung der Kriterien, unter denen eine Zuwendung jemandem als Leistung zugerechnet wird. Zum Hauptkriterium wird für ihn dabei das Bestehen einer wirksamen Anweisung, während sich Besonderheiten bei Sachleistungen lediglich aus den „sachenrechtlichen Regelungen" ergeben würden sowie „für die Beteiligung eines Minderjährigen". 193 Kann man in dem Plädoyer Flumes für eine Hinwendung zum recht verstandenen „Schema" der ungerechtfertigten Bereicherung den Versuch erkennen, das Bereicherungsrecht gleichsam aus einem Prinzip heraus aufzubauen, wie Savigny selbst dies vorschwebte? In der Tat legen die Thesen Flumes diese Konsequenz nahe. Diese Mutmaßung kann auch noch nicht dadurch entkräftet werden, daß sich Flume ausdrücklich nur den Mehrpersonenkonstellationen zuwendet. Allerdings hält Flume diese Linie, so sie ihm tatsächlich vorschweben sollte, in seinem Beitrag gar nicht durch. Vielmehr schreitet er einzelne Fallgruppen ab, sucht nach Übereinstimmungen und Unterscheidungsmerkmalen. So betrachtet, unterscheidet sich dieses Konzept aber gar nicht von den sonst zu den Mehrpersonenkonstellationen üblichen Darstellungsweisen. Wenn Flume seine Arbeitsweise als „schematisch" in einem positiven Sinne beschreibt, so kann man mit einem gängigeren altgriechischen Terminus, der ebenfalls soviel wie „Gestalt", „Figur" bedeutet, auch von einer den „Typus" zugrunde legenden Methode sprechen oder von einer typologischen Betrachtungsweise. 194 Nun mag es durchaus sein, daß Flume mit dem Begriff des Schematischen nicht nur bereits dem Wortlaut nach an die durch v. Caemmerer entfachte Methodenkontroverse um den BGH anschließen, sondern auch die Untiefen des Begriffsfeldes zum Typus umgehen wollte. Der Sache nach ändert das aber nichts daran, daß sich die Unterschiede zwischen einer Typologie im Sinne v. Caemmerers und einem Schematismus im Sinne Flumes nivellieren. Welche Zielrichtung demgegenüber 191 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Fünfter Band, S. 525; Flume, AcP 199(1999), 1 (36 f.). •92 Flume, AcP 199 (1999), 1 (35).
1 93 Flume , AcP 199 (1999), 1 (35 f., 2 ff., 15 ff.). Das Kriterium sei hingegen nicht geeignet bei der Leistung eines vermeintlichen Schuldners aufgrund der Zessionserklärung an den vermeintlichen Zessionar, weil die Gleichsetzung von Anweisung und Zessionserklärung hier nicht möglich sei. Die Zessionserklärung einer nicht bestehenden Forderung sei schlicht gegenstandslos, vgl. ders., AcP 199 (1999), 1 (21). i 9 * Zum Begriff des Typus vgl. oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 1. b) (Fn. 253).
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
das Beschwören einer Vermögensorientierung der ungerechtfertigten Bereicherung in der durch Savigny umschriebenen Weise haben soll, bleibt schließlich unklar. Es mag die abstrakteste Gestalt der Fälle sein, um deren Behandlung es im Bereicherungsrecht geht. In dieser Abstraktion präjudiziell: dieses „Schema" aber keinerlei Fallösung, sondern greift im Gegenteil dem Wortlaut nach viel zu weitgreifend auch solche Fallkonstellationen auf, die nach dem klaren Willen des Gesetzgebers in den §§ 812 ff. BGB gar nicht erfaßt sein sollen, also insbesondere die im Gemeinen Recht noch anerkannte Konstellation der actio de in rem verso. Aber auch als Spitze einer schematischen oder typologischen Arbeitsweise ist die bei Savigny entliehene „Rechtsfigur" der ungerechtfertigten Bereicherung so verdünnt, daß ihr gerade jene Plastizität fehlt, durch die sich eine verschwommene Erscheinung von einer „Figur" unterscheidet, die durch diese Plastizität erst „Gestalt" annimmt. Mit ihr mag sich allenfalls noch die Unterschiedlichkeit des Bereicherungsrechts gegenüber anderen Rechtsgebieten des Zivilrechts erkennen lassen. Die unentbehrliche Einteilung des Bereicherungsrechts läßt sich durch sie hingegen nicht vorzeichnen.195 Auch wenn Stellungnahmen wie die von Flume also zunächst suggerieren, die Probleme des Bereicherungsrechts ließen sich mittels einer Orientierung an obersten Prinzipien bewältigen, aus denen sich die einzelnen Lösungen deduktiv ableiten ließen, so setzt die Orientierung an Grundprinzipien und Grundstrukturen des Bereicherungsrechts bei näherem Hinsehen doch anders an. Im Kern geht es hier nicht um grundlegende Prinzipien, sondern um Fälle, allerdings nicht um irgendwelche, sondern um einfache Fälle, um Grundfälle oder Schulbeispiele, deren rechtliche Bewertung innerhalb der Jurisprudenz noch weitgehend unstreitig ist, und von deren Betrachtung ausgehend man sich dann erst in zweiter Hinsicht das Entdecken von Grundprinzipien und Grundstrukturen erhofft. So bezweckt etwa auch Bydlinski mit seinem Plädoyer für eine prinzipiell-systematische Rechtsfindung durchaus, „die erkennbaren Prinzipien und Regeln und die ihnen entsprechenden klaren Lösungen zunächst der einfacher gelagerten Fälle festzuhalten und als Ausgangspunkt und Rahmen für konsistente Theorien und damit auch als Ausgangspunkt für die Lösung schwieriger Fälle [ . . . ] zu benutzen". 196 Ähnlich fordert Kupisch von der Dogmatik, den Maßstab zu wahren, der für gute Gesetzgebung kennzeichnend sei: „aus den Regelfällen Grundstrukturen und Grundlehren auszuarbeiten". 197 Solche „maßgeblichen Lösungsgesichtspunkte und tragenden Grundgedanken" herauszuarbeiten, ist dann schließlich auch aus der Sicht von Canaris der geeignete Weg, um das Bereicherungsrecht wieder überschaubar werden 198
zu lassen. 195 Zur begrenzten Tragweite eines einheitlichen Prinzips des Bereicherungsrechts näher oben 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. Zur actio de in rem verso unten 2. Abschnitt, III. 3. b) aa). 196 Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 237. 1 97 Kupisch, JZ 1997, 213 (222). M Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, Vorwort (S. VI).
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
225
Damit wird nun aber deutlich, daß sich hinter dem Plädoyer für Grundprinzipien und Grundstrukturen des Bereicherungsrechts keineswegs das Ideal verbirgt, die bereicherungsrechtliche Fallösung aus einem Prinzip heraus zu regieren. Im Gegenteil erweist es sich - ganz im Sinne der eingangs genannten Bemerkung von Larenz - als eine Absage an die Vorstellung, auch noch „Extremfälle" nahtlos in ein Gesamtsystem des Bereicherungsrechts integrieren zu können. 199 Nun kann man freilich darüber streiten, wo die Extremfälle im Bereicherungsrecht beginnen und wo sie aufhören. Beschäftigt sich - so könnte man überspitzt fragen - das Bereicherungsrecht überhaupt mit „Normalfällen"? Ist nicht schon das bloße Verfehlen des Leistungszwecks im Zweipersonenverhältnis ein Extremfall im Funktionsgefüge des Vertragsrechts? Und ist nicht das gesamte Bereicherungsrecht nur eine Ansammlung solcher Extremfälle unterschiedlicher Rechtsgebiete, innerhalb derer es sich kaum lohnt, nach besonders krassen Extremfällen zu suchen? Mit der Absage an die Behandlung von „Extremfällen" kommt nun allerdings eine für die Dogmatik sehr weitreichende Prämisse zum Ausdruck, nämlich die überaus gravierende Einschätzung, daß eine umfassende Konsolidierung des gesamten Bereicherungsrechts gar nicht möglich ist. 2 0 0 In ihrer Konsequenz liegt es zum einen, daß bereits der Ansatz fragwürdig ist, eine weitreichende Konsolidierung des Bereicherungsrechts überhaupt anzustreben. Dann wird aber auch jede Kritik unglaubwürdig, die vor dem Hintergrund eines solchen überzogenen Anspruchs der Dogmatik vorwirft, im Bereicherungsrecht auf der ganzen Linie zu versagen. Vor allem fragt man sich jedoch, von wem der Rechtsanwender in „Extremfällen" nun überhaupt noch Hilfe erwarten kann, wenn nicht von der Dogmatik. Soll man ihn mit diesen Fällen allein lassen? Auf die damit angesprochene Problematik wird daher zurückzukommen sein. 201 Zuvor sollen jedoch zwei weitere Ansätze der Kritik beleuchtet werden, die bereits ihrem Umfang nach die Diskussion weitgehend beherrschen, und die sich daher - bei allen erforderlichen Differenzierungen - gegenüberstellen lassen: die systemorientierte Befürwortung syllogistischer Rechtsanwendung und das fallorientierte Plädoyer für eine auf Wertungsgesichtspunkte zurückgreifende Methode der Rechtsanwendung.
199
Ausdrücklich gegen das Ansetzen bei Extremfällen Kupisch, JZ 1997, 213 (221 f.), mit Verweis auf Celsus, D. 1.3.4, 1.3.5: „Nach dem, was in irgendeinem Fall vielleicht einmal geschehen kann, wird Recht nicht geschaffen; denn das Recht muß eher auf das ausgerichtet sein, was häufig und leicht einmal vorkommt, als auf das, was nur sehr selten geschieht.". Auch Flessner sieht das Problem des heutigen Bereicherungsrechts darin, daß die Dogmatik fälschlicherweise „gerade die nichtalltäglichen, die schwierigen Fälle durch ihre Systeme zu determinieren versucht", vgl. ders., in: Das Bewegliche System, S. 159 (170). Ausführlich zu Flessner unten 2. Abschnitt, III. 2. b). 200
Paradigmatisch insoweit der Titel, den Knieper bereits vor zwanzig Jahren seinem Beitrag in KJ 1980, 117 gab: „Recht der Kondiktionen: vergebliche Versuche, Bereicherung zu rechtfertigen". 201 Unten 3. Abschnitt, II. 2. b) und zuvor bereits unten 1. Abschnitt, III. 3. b) bb). 15 Gödicke
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
I I I . Die Kontroverse um die bereicherungsrechtliche Dogmatik im Spannungsfeld deduktiver und induktiver Methoden der Rechtsfindung Mit einer Entgegensetzung systemorientierter und fallorientierter Ansätze wird die Kontroverse um die bereicherungsrechtliche Dogmatik hier bewußt in ein Spannungsfeld deduktiver und induktiver Methoden der Rechtsfindung gestellt, das die Dogmatik seit jeher, und auch heute nicht nur im Bereicherungsrecht, beherrscht. 202 Im folgenden soll daher zunächst die Orientierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik an einem Ideal syllogistischer Rechtsfindung in den Blick gerückt werden (1.), anschließend aber auch die weitgehende Abwendung von deduktivem Systemdenken zugunsten eines induktiven Problemdenkens (2.). Soll die Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik vom unfruchtbaren Gegensatz beider Ansätze nicht verbaut werden, ist dann ausführlicher aber auch die Öffnung einer systemorientierten Dogmatik für eine induktive Bearbeitung des Bereicherungsrechts durch Einbeziehung fallorientierter Wertungen zu betrachten (3.).
1. Die Ordnungskraft der Dogmatik und die Orientierung des Bereicherungsrechts am Ideal syllogistischer Rechtsfindung Vor dem Hintergrund einer eingehenden Kritik wird ein systemorientierter Ansatz zum Bereicherungsrecht heute nicht mehr rein, sondern weitgehend nur noch abgeschwächt vorgetragen. 203 Es muß daher als bewußte Überzeichnung aufgefaßt werden, wenn die Ausrichtung der bereicherungsrechtlichen Rechtsanwendung am Syllogismus als Begriffsjurisprudenz kritisiert wird. So sieht etwa Weyers „das für die kontinentaleuropäische Rechtskultur besonders kennzeichnende Streben nach der Ableitung von Einzelentscheidungen aus hierarchisch strukturierten Begriffspyramiden" als eine der Hauptursachen für den heutigen Zustand des Bereiche202 Ausführlicher oben 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 1.; 3. Abschnitt, III. 1. 203 Vgl. ReuterI Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, Vorwort (S. V), die mit ihrem Handbuch das Anliegen verfolgen, „neben umfassender Information über Rechtsprechung und Schrifttum auf dem Boden der herrschenden Lehre ein System zu entwickeln, das eine in sich konsistente bereicherungsrechtliche Praxis ermöglicht" (Kursivdruck im Original). Für ein „institutionelles Rechtsdenken" plädiert Reuter angesichts eines Ordnungsauftrags des Rechts auch in: Festschrift für Mestmäcker, S. 271 (272 ff.). Vergleichsweise markant auch noch die Stellungnahme von Martinek, NJW, 1998, 967, der für das Bereicherungsrecht fordert, „die Fähigkeit zum selbständigen Lösen bereicherungsrechtlicher Fälle im klassischen Subsumtionsweg" zu fördern und einzuüben. Jakobs, NJW 1992, 2524 (2529), beschwört das „Interesse an einem auf den Universitäten lehrbaren: aus anwendbaren, durch Subsumtion und d.i. im Wege des syllogistischen Schlusses fortzubildenden Regeln bestehenden und darum auch in der Praxis, von den Anwälten und Richtern beherrschbaren Kondiktionsrecht". Zur Ambivalenz dieses Standpunkts vgl. freilich bereits oben 1. Teil, II. 3. b).
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
227
rungsrechts. Der methodische Ansatz vieler „Theorien" bestünde darin, „nach bekanntem Muster die Detailregeln aus Prinzipien, Definitionen und Obersätzen höherer Abstraktionsstufe ableiten zu wollen". 2 0 4 Ähnlich spricht Lieb von begrifflichen Überspitzungen und speziell mit Blick auf den Leistungsbegriff von einer ,begriffsjuristisch anmutenden Übersteigerung'. 205 Auch Wesel greift den Leistungsbegriff auf, weil hiermit „der" Fehler der bereicherungsrechtlichen Dogmatik „leicht zu benennen" sei: „Es war ein Rückfall in die Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts". 206 Mit Blick auf diese zentrale Kategorie wiederholt ebenfalls Kupisch seine freilich noch tiefer in die Historie blickende Kritik, daß die moderne Lehre „samt ihrem Leistungsbegriff konzeptionell in der Logik einer anscheinend unausweichlichen, rein juristischen Anschauung der Anweisungslage befangen ist: in der Logik des Rechtspositivismus, wie man auch sagen kann". 207 Man versuche, Rechtsfiguren zu entwickeln, die geeignet sein sollen, jeden denkbaren Fall zu erfassen. Das erinnere aber an die unrealistische Idee des 18. Jahrhunderts, mit Gesetzbüchern ein für allemal die Lebenswirklichkeit einzufangen. 208 Dem pflichtet Harder bei, aus dessen Sicht aus dem Leistungsbegriff „in einer Art und Weise deduziert" wird, „die vielleicht der Begriffsjurisprudenz der Pandektenwissenschaft zur Ehre gereicht hätte, wäre er nicht aus unwahren Elementen zusammengesetzt". 209 Nun hat der Sog der Interessenjurisprudenz die zivilrechtliche Jurisprudenz heute freilich so grundlegend erfaßt, daß man auch dem härtesten Vertreter einer systematisch-syllogistischen Bearbeitung des Bereicherungsrechts kaum ernsthaft wird vorwerfen können, ihm schwebe eine Behandlung des Rechts nach dem Vorbild Puchtas oder des frühen Jhering vor 2 1 0 Der Kern der Kritik dürfte vielmehr im Vorwurf überzogener Abstraktion liegen, mit der man einzelne Tatbestandsmerkmale, insbesondere das Merkmal Leistung, und die sie spezifizierenden Rechtssätze trotz ihrer begrenzten Aussagekraft auf alle Fallbereiche ausdehnen möchte. 211 Der durchaus konstruktive Hintergedanke hinter dieser Abstraktion ist freilich methodologisch betrachtet nichts anderes als der Versuch der Dogmatik, 204 Esser/Weyers, Schuldrecht II / 2, § 47 1. f) (S. 32). 205 MüKo-Lieb, § 812 Rz. 8a, 5. 206 Wesel, NJW 1994, 2594 (2595). 207 Kupisch, JZ 1997, 213, mit Blick auf seine bereits 1978 erschienene Schrift über Gesetzespositivismus im Bereicherungsrecht. 208 Kupisch, JZ 1997, 213 (222). 209 Harder, JuS 1979, 76 ff., mit Blick auf Kupisch, Gesetzespositivismus im Bereicherungsrecht. 210 Entsprechend führt Schlechtriem, Schuldrecht BT, Vorwort (S. IX), die „Aufgabe der Vorstellung, ein geschlossenes Rechtssystem mit scharf definierten, subsumtionsfähigen Begriffen ohne Wertungsspielräume für die Rechtsanwendung schaffen zu können", geradezu als einen methodologischen Allgemeinplatz an. 211 So insbesondere Kupisch, JZ 1997, 213 (222): die Dogmatik werde zu immer größeren Abstraktionen gezwungen, die zum Schluß selbst dem Fachmann nur noch schwer verständlich seien. 1
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
im Zuge einer Ordnung der Rechtsfindung die Auswahl von Rechtssätzen zu vereinfachen, indem eine zu große Variationsbreite einschlägiger Rechtssätze vermieden wird. 2 1 2 Es bedarf kaum näherer Ausführung, daß dieses Bedürfnis nach Abstraktion, die Notwendigkeit, „zu einfachen und klaren Regeln zurückzufinden, die der Praxis eine rasche und reibungslose Bewältigung der bereicherungsrechtlichen Alltagsfragen ermöglichen", 213 ohne Zweifel unabhängig von aller Skepsis gegenüber einem systematischen Ansatz anzuerkennen ist. 2 1 4 Indem einem systematischen Ansatz vorgeworfen wird, zu „Ungereimtheiten", „Inkonsistenzen" und „Konzessionen" gezwungen zu sein, 215 ist man sogar fast versucht zu fragen, ob nicht mancher Kritiker in der Tiefe seines Herzens noch nachhaltiger vom Ideal systematisch-syllogistischer Rechtsfindung geprägt ist, als ein Vertreter dieses Standpunkts, der sich mit den Defiziten dieser Art der Rechtsfindung abzufinden bereit ist. 2 1 6 Was im Kern kritisiert wird, ist mithin nicht das in der Dogmatik zum Ausdruck kommende Bedürfnis nach Abstraktion und Ordnung, sondern die einseitige Übersteigerung dieses Anliegens im Zuge einer Fixierung auf den Syllogismus als auch im Bereicherungsrecht aufrechtzuerhaltendes Modell der Rechtsanwendung. Es geht mithin, wie Weyers formuliert hat, um die realistische Einschätzung der „Leistungsgrenze" deduktiv-dogmatischen Vorgehens. 217 Diese Leistungsgrenze läßt 212 Zu diesem vor allem von Luhmann aufgeworfenen Gedanken vgl. bereits oben 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. b) bb). 213 So König, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band II, 1515 (1519); zustimmend Staudinger-Lorenz, Vorbemerkung zu §§ 812 ff. Rz. 5. 214 So fällt es Weyers schwer, Appellen zur,Vereinfachung' zu widersprechen, vgl. Esserl Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 1. f) (S. 33); Kupisch erkennt in der Dogmatik ein unverzichtbares Instrument, die Wertungen des Rechts in präzise Begriffe zu fassen, um ihre gleichförmige Handhabung zu garantieren, JZ 1997, 213 (221); Canaris spricht von einem „Bedürfnis nach griffigen Lösungsformeln", vgl. LarenzI Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 (S. 199); Schlechtriem, Schuldrecht BT, Vorwort (S. IX), nennt das Ziel, „die ständig wachsende Fülle des Rechtsstoffes zu ordnen, systematisch zu erfassen und so zugänglich wie auch lehrbar zu halten". 2 15 Kupisch, JZ 1997, 213 (222); etwas distanzierter Esser/Weyers, Schuldrecht I I / 2 , § 47 1. f) (S. 32). Wieling, Bereicherungsrecht, S. VIII f., brandmarkt den Verstoß gegen allgemeine Dogmen. 216 Vgl. insoweit die Kritik Bydlinskis, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 237, am ,freien Werten', mit der er bemängelt, es werde „jeder theoretisch-grundsätzliche Ansatz sogleich voll verworfen, wenn er nicht mechanisch zu einer allseits befriedigenden Lösung aller Einzelfragen führt (also stets!)". 2 17 Esser/Weyers, Schuldrecht II, 7. Aufl., Vorwort (S. VI). Auch Schlechtriem, Schuldrecht BT, Vorwort (S. IX), mahnt gegenüber einem allzu großen Ideal der Subsumtion mit Blick auf das gesamte Schuldrecht eine Besinnung von Wissenschaft und Lehre „auf das ihnen Mögliche" an. Ahnlich bereits Koppensteiner/ Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 3 IV (S. 8 f.), aus deren Sicht es weder methodisch noch didaktisch legitim sei, an die offenen Probleme des Bereicherungsrechts „streng deduktiv mit vorgefaßten dogmatischen Konzepten heranzugehen, etwa den herrschenden Leistungsbegriff quasi apriorisch voranzustellen".
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
229
sich freilich nur grob bestimmen.218 Sie beginnt in einem Bereich, in dem der Rechtsanwender sich zunehmend auf das Arbeiten mit Rechtssätzen der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung verwiesen sieht. Hier steht ihm zwar die Rechtsfolge eines solchen Rechtssatzes vor Augen, also das Tatbestandsmerkmal der Norm, um deren Spezifikation er sich bemüht. Der Tatbestand dieses Rechtssatzes, unter den nun zu subsumieren wäre, verliert mit größerer Distanz vom Gesetz und seinen Ordnungsgesichtspunkten hingegen zunehmend an Konturen. Gerade im Bereicherungsrecht mit seiner spärlichen und generalklauselartig gehaltenen gesetzlichen Regelung wäre zur Uberwindung dieser Distanz also die Herausbildung konkreter, anwendbarer Rechtssätze erforderlich. Wenn man den Tenor der Kritik einmal als Kritik an einer »Fixierung auf Begriffe 4 zusammenfassen darf, so wird an den herrschenden Begriffen und Definitionen (also an den anerkannten spezifizierenden Rechtssätzen) mithin bemängelt, daß sie gerade das nicht leisten, was eigentlich ihre Aufgabe wäre, nämlich dem Rechtsanwender eine Brücke zwischen Falltyp und Gesetz zu bauen. Die zur Verfügung stehenden Rechtssätze sind offenbar noch bei weitem zu abstrakt. Die mit den beiden Leittypen Leistung und Eingriff im Kern zweigeteilte Verankerung des Bereicherungsrechts legt nun freilich den Schluß nahe, daß die Herausbildung von Rechtssätzen geeigneter Abstraktionshöhe angesichts der Notwendigkeit immer weiterer Differenzierungen gar nicht erreichbar ist. 2 1 9 Insoweit ist es bezeichnend, wenn ζ. B. Martinek durch das Lehrbuch von Loewenheim seine Forderung eingelöst sieht, „die Fähigkeit zum selbständigen Lösen bereicherungsrechtlicher Fälle im klassischen Subsumtionsweg" in besonderer Weise zu fördern und einzuüben,220 während ein anderer Protagonist des Bereicherungsrechts, Canari s, eingesteht, nicht in der Lage zu sein, bereicherungsrechtliche Regeln „durch Subsumtion und d.i. im Wege des syllogistischen Schlusses" zu bilden und einen allgemeinen Konsens darin ausmacht, daß niemand hierzu in der Lage sei. 221 Aus methodologischer Sicht liegt der Grund hierfür darin, daß die im Bereicherungsrecht behandelten Konflikte so verschiedenartiger Herkunft sind, daß sie sich erst auf einer äußersten Ebene der Abstraktion vereinen lassen. Was insoweit für die geringe Aussagekraft eines allgemeinen „Prinzips der ungerechtfertigten Bereicherung" gilt, 2 2 2 gilt nicht minder auch für die einzelnen Tatbestandsmerkmale der §§ 812 ff. BGB. Bereits das Tatbestandsmerkmal „Leistung" in § 812 I 1 1. Alt. BGB ist eine solche (vom Gesetzgeber selbst geschaffene) Abstraktionsleistung, 218 Vgl. eingehender oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 4., II. 219 Zu Leistung und Eingriff als Leittypen der ungerechtfertigten Bereicherung oben 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 2. 220 Martinek, NJW 1998, 967.
221 Canaris, NJW 1992, 3143 (3145), in seiner scharfen Reaktion auf die Vorwürfe Jakobs', NJW 1992, 2524 (2529). In der Absage an die Erfassung der vielfältigen Probleme in einfachen Subsumtionsformeln dürfte auch die zentrale These Weyers' liegen, vgl. Esser/ Weyers, Schuldrecht I I / 2 , § 47 1. f) (S. 33 f.). 222 Hierzu oben 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 1.
230
3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
die es erlaubt, nicht nur die Fälle der Erfüllung einer Verbindlichkeit zu erfassen, sondern auch Fälle, in denen der Zuwendung eine den Bereicherungsschuldner nicht verpflichtende Zweckabrede zugrunde liegt. Der von der Dogmatik entwikkelte Rechtssatz „Jede bewußte und zweckgerichtete Vermehrung fremden Vermögens ist eine Leistung i. S. d. 812 I I I . Alt. BGB" knüpft in seiner Abstraktion also bereits an eine Abstraktion an, die ihm vom Gesetz her vorgegeben ist. 2 2 3 Ähnlich ist es mit der Formulierung „in sonstiger Weise" in § 812 112. Alt. BGB, mit der der Gesetzgeber die Abstraktion gewählt hat, um einen bereicherungsrechtlichen Auffangtatbestand zu schaffen. 224 Tatsächlich greift diese Abstraktion dann aber auch auf Fallgestaltungen im Kontext von Leistungsbeziehungen zu, in denen es um die Frage geht, wo eine Leistungsbeziehung und wo nur eine Zuwendungsbeziehung (eine „Nichtleistungsbeziehung") besteht.225 Wenn weitgehend Einigkeit darüber herrscht, daß es vor allem dieser hohe Abstraktionsgrad der gesetzlichen und außergesetzlichen Rechtssätze des Bereicherungsrechts ist, der einer sinnvollen Ordnung dieses Rechtsgebiets entgegensteht, wie läßt sich dieser Abstraktionsgrad dann aber vermindern und gleichwohl weitgehend noch das Bedürfnis nach „rationaler Lenkung der Rechtsfindung" befriedigen? Oder ist es aussichtslos, rational kontrollierbare Wertungsgesichtspunkte mit griffigen Lösungsformeln zur Deckung bringen zu wollen? 226
2. Abwendung vom Systemdenken im Bereicherungsrecht? Seit dem Siegeszug der Interessenjurisprudenz im Zivilrecht ist es längst keine neue methodologische Einsicht, daß alle »Begriffe', »Definitionen', Konstruktionen' oder ,Theorien' nur, wie KoppensteinerIKramer formulieren, ex post Wertungsentscheidungen „in einem Kürzel zusammenfassen". 227 Es wäre daher auch nicht vertretbar, im Bereicherungsrecht oder in anderen Teilgebieten des Zivilrechts der Einbeziehung fallorientierter Weitungen schlechthin eine Absage zu erteilen. Wo gelegentlich der Eindruck einer solchen Absage erweckt wird, 2 2 8 dürfte 223 Zu diesem Zweck der Abstraktionsleistung vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 175. 224 Zur Entstehungsgeschichte der §§ 812 ff. BGB vgl. bereits oben 1. Teil, II. 1. 225
Vgl. oben 3. Teil, 1. Abschnitt, III. 3. Daß dem Gesetz hingegen „auch nicht ansatzweise" zu entnehmen sei, welche die Regeln „für die Kondiktion in den Fällen der Zuwendung mit Beteiligung von mehr als zwei Personen sind", so Jakobs, ZIP 1994, 9 (10), ist angesichts der Regelungen der §§ 816, 822 BGB doch etwas überzogen. 226 So mit Blick auf die bisherige Entwicklung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik tendenziell Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 (S. 199). 227 Koppensteiner ! Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 3 IV (S. 8 f.), § 6 I 2 (S. 25), unter Rückgriff auf Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (802 ff.). Zum methodologischen Hintergrund ausführlicher oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 1. b). 22 8 Vgl. etwa Martinek, NJW 1998, 967, der von einem „Abgleiten in freihändige Wertungen" spricht; ferner Wilhelm, JZ 1994, 585 (590), der dem BGH vorwirft, er „floate" in der
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
231
dies eher in bewußter Überzeichnung, denn im Bekenntnis zu einem veralteten methodologischen Standpunkt geschehen. Zur eigentlichen Crux der bereicherungsrechtlichen Dogmatik wird mithin nicht die Frage, ob fallorientierte Wertungen in die Rechtsfindung einzubeziehen sind, sondern in welcher Weise dies geschehen kann, und mit welcher Gewichtung. Die Ausrichtung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik auf Probleme und fallorientierte Wertungen statt auf systematische Ableitungszusammenhänge kommt insoweit am deutlichsten bei Autoren zum Ausdruck, die der juristischen Topik oder der Lehre vom beweglichen System zuneigen und sich damit in weiten Punkten von einem überkommenen Systemdenken distanzieren. Beide Richtungen vollziehen diese Loslösung allerdings in unterschiedlicher Deutlichkeit. Am weitestgehenden bricht die Topik mit einem Systemdenken, wenn sie ihr Problemdenken scharf als Gegensatz zum Systemdenken begreift (a). Die Lehre vom ,beweglichen System' hält demgegenüber im Ansatz am Systemgedanken gerade fest (b), während die Konturen weitgehend zu zerfließen scheinen, wo Bereicherungsrecht als Billigkeitsrecht gekennzeichnet wird (c).
a) Fallorientierte
Wertungen als Topoi der Argumentation
Wo die Rechtswissenschaft auf topische Argumentationsweisen zu sprechen kommt, geschieht dies nahezu durchweg in Anlehnung an die erstmals 1953 erschienene Schrift von Viehweg über „Topik und Jurisprudenz". 229 Eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Schrift, geschweige denn mit ihren vielfältigen historischen Implikationen, kann hier weder angestrebt noch geleistet werden. Die Würdigung des topischen Ansatzes zum Bereicherungsrecht setzt jedoch voraus, daß man sich zumindest die tragenden Grundgedanken in Erinnerung ruft, die Viehweg in seiner Schrift niederlegt. Viehweg vertritt den Standpunkt, daß die Bemühungen der Neuzeit, die Jurisprudenz durch eine deduktive Systematisierung mit exakten Mitteln zur Rechtswissenschaft zu entwickeln, „nur zu einem sehr geringen Teil geglückt" seien. Es sei eine Fehleinschätzung anzunehmen, daß sich auf diese Weise schon die Probleme der Jurisprudenz hinreichend erledigen ließen. Sein Ziel ist es daher, die Topik als eine von der Rhetorik entwickelte „Techne des Problemdenkens" zu entfalten, deren Einbeziehung in die Jurisprudenz es ermöglichen soll, diese Disziplin lediglich als Vielfalt der Leistungszwecke „herum"; schließlich auch Knieper, BB 1991, 1578 (1582), aus dessen Sicht „die vom Ergebnis her argumentierende, »freihändige 4 Rechtsschöpfung" herrscht. 229 Die folgenden Zitate beziehen sich allerdings auf die 5. Aufl. aus dem Jahre 1974. Zur grundlegenden Bedeutung dieser Schrift für die juristische Topik vgl. nur etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 124; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Rz. 143; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 141; Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 13.
232
3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
ein besonderes Verfahren der Problemerörterung zu begreifen, das als solches dann durchaus auch Gegenstand einer Rechtswissenschaft sein kann. 230 Topisches Problemdenken und Systemdenken werden von Viehweg dabei trotz nicht zu verkennender Verflechtungen in einen Gegensatz gebracht. 231 Entsprechend bezeichnet Viehweg selbst sein Verfahren mit Blick auf die überkommene Zivilistik als eine „für das logische Verständnis [ . . . ] ärgerliche Angelegenheit", stelle es doch „eine Deduktionsstörung" dar, „vor der man in keinem Augenblick sicher ist". Was für das logische Verständnis höchst störend ist, sei aber gerade das Grundelement der Topik, 232 die sich bewußt am Problem orientiere, das überhaupt erst jenes „Erwägungsspiel" auslöse, „welches man Topik oder die Kunst des Findens nennt". 233 Viehweg konzediert freilich, daß dieses Verfahren eine große Unsicherheit birgt, soweit es gestattet, angesichts eines Problems mehr oder weniger zufällige Gesichtspunkte in beliebiger Auswahl versuchsweise aufzugreifen. Diese unsichere Topik ist für ihn aber auch nur „Topik erster Stufe". 234 Viehweg schwebt demgegenüber eine - offenbar sicherere - „Topik zweiter Stufe" vor, in der „Topoikataloge" als Stütze fungieren und ein stets bereites „Repertoire von Gesichtspunkten" zur Verfügung stellen. 235 Die Herrschaft des Problems fordert aus seiner Sicht aber freilich, daß derartige Topoikataloge nicht systematisiert werden dürfen, sondern elastisch bleiben müssen, eventuell zu vergrößern oder zu verkleinern sind. 236 Für ein allgemeines Bekenntnis zu einem topischen Ansatz im Bereicherungsrecht setzt sich vor allem Weyers ein. 2 3 7 Dabei nimmt er freilich schon die zentrale Akzentsetzung entscheidend anders als Viehweg vor, wenn er Problemdenken und Systemdenken gerade nicht gegeneinander ausspielt, sondern den topischen Ansatz lediglich als Ergänzung des systematischen Ansatzes in Bereichen begreift, in de230
Viehweg, Topik und Jurisprudenz, Einleitung, III (S. 14). Viehweg, Topik und Jurisprudenz, § 3 I (S. 32). 232 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, § 8 III (S. 105). 233 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, § 3 I (S. 31 f.). 234 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, § 3 I (S. 35). 235 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, § 3 I (S. 35). 236 Vgl. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, § 3 V (S. 42). In der Elastizität des Topoikatalogs liegt für Viehweg denn auch die Parallele zum beweglichen Systemdenken Wilburgs, vgl. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, § 8 IV (S. 105 ff.). Für fragwürdig hält diese Parallele Bydlinski, in: Das Bewegliche System, S. 21 (32 f.). Wenn Wilburg induktiv am Recht ansetze, um eine von hier aus begrenzte Zahl der „Elemente" eines beweglichen Systems zu ermitteln, so stünde dies gerade im Gegensatz zur Topik, deren Wesen in der grundsätzlich endlosen Aneinanderreihung beliebiger antinomischer Gesichtspunkte bei der Diskussion eines Problems liege. 231
237 Erstmals in der 7. Aufl. erörtert Weyers eingehend die möglichen methodischen Ursachen für eine Unüberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik, vgl. Esserl Weyers, Schuldrecht II, 7. Aufl., § 47 1. (S. 415 ff.). Die 6. Aufl. enthält hingegen noch weitgehend verhaltene Andeutungen. Dort heißt es vorsichtig, die neuere Entwicklung bei Leistungs- wie bei Eingriffskondiktion ließe es ratsam erscheinen, „in monographischer Vorarbeit die Dogmatik des jeweiligen Bereicherungsausgleichs noch enger an das konkrete Problemfeld anzukoppeln", vgl. Esserl Weyers, Schuldrecht II, 6. Aufl., § 47 3. b) (S. 367).
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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nen dieser allein nicht genügt. Wo dies der Fall sei, müsse man dann aber auch die Konsequenz aufbringen, dem stattdessen tatsächlich allgemein praktizierten Vorgehen „die verdiente methodologische Dignität" zuzubilligen. Das sei aber nun einmal „der - nicht zufällig durch einen der Beweger unseres Bereicherungsrechts inspirierte -,topische' Ansatz". 238 Die Gesichtspunkte für die Entscheidung des Falles lägen eben nicht, und schon gar nicht in ihrem Verhältnis zueinander, stets im voraus wohlgeordnet vor. Vielmehr würden sie unvermutet bei der Diskussion über die Lösung eines neuen Falls auftauchen, ohne daß der systematische Ort des Interessenkonflikts, über den die Auseinandersetzung zu führen ist, abstrakt aus einer bereicherungsrechtlichen Systematik abzuleiten wäre. 239 Wer hier von einem „Strauß von Zurechnungsgesichtspunkten" spräche, aus dem sich der Richter im Konfliktfall nach Ermessen bedienen darf, gäbe den vorgeschlagenen Ansatz vergröbert wieder und verweigere sich einem naheliegenden Fazit sowohl aus dem Fiasko der Lehre zum Bereicherungsrecht wie aus dem heutigen Stand der allgemeinen Systemdiskussion.240 Weyers' Bekenntnis zur Topik als ergänzender Methode der Rechtsfindung im Bereicherungsrecht ist, auch wenn er den Ausgangspunkt der Viehweg*sehen Topik gerade nicht teilt, in dieser Deutlichkeit vereinzelt geblieben. Die Gefahr, daß man die Rechtsfindung auch nur durch Anklänge an die Topik dem freien Ermessen des Richters überlassen könnte, berührt das Selbstverständnis der heutigen Jurisprudenz nach wie vor so empfindlich, daß jede auch nur begriffliche Nähe zur Topik durchweg gemieden wird. Kritisch spricht Schnauder etwa mit Blick auf den BGH davon, daß „aporetische Lösungsstrukturen die Oberhand" gewönnen, die das Ergebnis, „wie es der topischen Methode entspricht, nur mehr oder weniger plausibel machen, nicht jedoch auf eine sichere Grundlage stellen können". 241 Worin die von Schnauder bei der Topik vermißte sichere Grundlage des Ergebnisses liegt, läßt sich augenfällig an dem von ihm verwendeten Begriff der,Aporie' verdeutlichen, wörtlich übersetzt also der ,Weglosigkeit'. 242 Es ist insoweit nicht das auch in der Literatur ja weithin praktizierte problemorientierte Denken selbst, das man der Topik vorwirft. Vielmehr stört man sich an dem zentralen Stellenwert, den die Topik diesem Denken unter Ablehnung eines systematischen Denkens zubilligt. Die Weglosigkeit, so die wohl unterschwellige Befürchtung, könnte bei einem Bekenntnis zur Topik nicht die Ausnahme bleiben, sondern im Gegenteil den Ausgangspunkt juristischen Arbeitens darstellen. Das muß für eine zivilrechtliche Dogmatik aber inakzeptabel sein, deren Selbstverständnis seit Jahrhunderten darin 238 Esserl Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 1. f) (S. 33). 239 Vgl. Esser / Weyers, Schuldrecht I I / 2, § 47 1. f) (S. 33 f.). 240 Esser/ Weyers, Schuldrecht II, 7. Aufl., § 47 1. e) (S. 420 f.), mit Blick auf die Kritik von Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 17 II 4 (S. 588), an dem auf Wilburg zurückgeführten Ansatz von Flessner, Wegfall der Bereicherung (1970), S. 112 ff. 241 Schnauder, JuS 1994, 537 (545). 242 Aus griechisch d, „nicht, ohne", und πόρος, „Weg, Durchgang, Brücke", vgl. Menge, Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch Deutsch, S. 1, 573.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
wurzelt, Wege und Zugänge zum materiellen Recht zu entwickeln, die der Rechtsfindung ein ebenso rationales wie rationelles Auswählen von Rechtssätzen ermögl i c h e n . 2 4 3 Die Dogmatik sieht sich gleichsam der Forderung ausgesetzt, das eigene Ideal einer Disziplinierung der Rechtsfindung zu verabschieden, um nun ihren Gegenpart, ein zum Exzeß neigendes Wertungsdenken, in diesen Rang zu erheben. Daß diese Forderung kein Gehör findet, kann angesichts der geistesgeschichtlichen Tradition, mit der die Dogmatik einem deduktiven Systemdenken verhaftet ist, kaum verwundern. 2 4 4 Der Rechtsanwender, den die Dogmatik unterstützen soll, betreibt dem deutlichen Schwerpunkt nach eben gerade keine „Techne des Problemdenkens", selbst wenn die Grenzen systematischen Denkens in manchen Rechtsgebieten, wie dem des Bereicherungsrechts, noch so deutlich werden. 2 4 5
b) Bewegliches Systemdenken im Bereicherungsrecht A u f zumindest etwas größere Zustimmung konnte daher der Vorstoß Flessners hoffen, die Überlegungen von Wilburg über die „Entwicklung eines beweglichen Systems i m bürgerlichen Recht" in dessen berühmten Grazer Rektoratsrede für das Bereicherungsrecht fruchtbar zu machen. 2 4 6 Den Ausgangspunkt der Überlegun243 Zur Bedeutung der Dogmatik für das Auswählen von Rechtssätzen oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. Wenn die Topik für Cicero, Topik, Kapitel II, § 6, mit der Einsicht verbunden ist, daß jede sorgfältige Methode des Vortrags zwei Teilaspekte besitzt, einmal den des Auffindens, zum anderen den des Beurteilens, so liegt die Bedeutung des Systems - und hieran anknüpfend der Dogmatik - also darin, ein solches Auffinden zu ermöglichen. Die Kritik an der Topik geht folglich dahin, daß sie die Bedeutung einer Rangordnung widerstreitender Gesichtspunkte in Frage stellt. Vgl. Wieacker, in: Festschrift für Gadamer II, S. 311 (331 f.); ferner bereits oben 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. b) cc). 244 Zum bedeutsamen Einfluß der Aufklärung auf das heutige Dogmatik-Verständnis vgl. die Darstellung zum Sprachgebrauch Ch. Wolffs und Kants, oben 2. Teil, 1. Abschnitt, I. 2. 245 Vgl. etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 125: „Tatsächlich verfährt die Rechtswissenschaft auch heute, selbst da, wo sie streckenweise ,topisch' argumentiert, durchweg systematisch." Ähnlich Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, S. 27, aus dessen Sicht man ebensowenig das historisch überkommene privatrechtliche System einfach weiterführen wie andererseits darauf verzichten kann, das Privatrecht zum System zu entwickeln. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 142 f., hält im Ausgangspunkt denn auch die scharfe Entgegensetzung von Problem- und Systemdenken für das eigentliche Problem der Topik. Durch die überzeichnete Alternative beider Denkweisen werden aus seiner Sicht die eigentlichen Fragestellungen der Rechtsgewinnung verfehlt. Auf dieser Linie auch bereits Diede richsen, NJW 1966, 697 (704 f.), aus dessen Sicht „die Topik das System bisweilen ergänzen, aber auf keinen Fall ersetzen kann". 246 Vgl. Flessner, Wegfall der Bereicherung, insbesondere S. 156 ff. Für eine methodische Ausrichtung des Bereicherungsrechts am beweglichen System ist dieser Ansatz jedoch ebenso wie der Wilburg'sehe Ansatz für das gesamte Zivilrecht - nicht wirkungskräftig geworden. Etwas größere Resonanz löste Flessner hingegen mit seinem Beitrag in: Das Bewegliche System, S. 159 ff., aus. So sieht Weyers Verbindungslinien zum Ansatz Flessners, auch wenn er ihn als ,topisch' qualifiziert, und sieht ihn faktisch auch durch Canaris vertreten, vgl. Esser ! Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 1. f) (S. 33). Distanzierter Koppensteiner ! Kramer,
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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gen Wilburgs bildet, ähnlich wie später auch bei Viehweg, der Gegensatz „zwischen der überlieferten Ordnung und der Tendenz zur freien Rechtsfindung" als „ein tiefgreifendes, ernstes Problem" der Jurisprudenz seiner Zeit. Der Erlaß neuer, zeitgemäßerer Gesetze zur Uberwindung dieses Gegensatzes kommt für Wilburg nicht ernsthaft in Betracht, läuft aus seiner Sicht eine Flut neuer Gesetze doch nur hoffnungslos „mit der Wirklichkeit um die Wette". Vielmehr müsse die Lösung von der Rechtswissenschaft ausgehen, sie habe „eine beweglichere Gestaltung des Rechts" vorzunehmen und „überall dort, wo nicht der Geschäftsverkehr formale Sätze, so ζ. B. im Grundbuchs- oder im Wechselrechte, fordert, elastischere Normen als bisher zu entwickeln". 247 Wilburg demonstriert sein Anliegen an der Lehre vom Schadensersatz, die aus seiner Sicht das „Nervenzentrum des Privatrechts" bildet und zum „Tummelplatz einander widerstreitender Ideen" geworden ist. 2 4 8 Gegenüber den vielseitigen Bemühungen, das Schadensrecht im Verschuldensprinzip oder im Gefährdungsprinzip oder in einer Kombination aus beiden zu verankern, versucht Wilburg, eine „innere Ordnung" des Schadensrechts in der Annahme zu finden, „daß die Haftung sich nicht auf einen einheitlichen Gedanken, sondern auf ein Zusammenspiel von Gesichtspunkten zurückführen läßt, die als Elemente, oder, wie ich nunmehr formulieren möchte, als bewegende Kräfte wissenschaftlich und gesetzlich erfaßt werden können". 249 Als derartige Elemente unterscheidet Wilburg den für das Schadensereignis kausalen Mangel, eine Gefährdung, die der Schädiger geschaffen hat und die zum Eintritt des Schadens führte, die Nähe des Kausalzusammenhangs zwischen Ursachen und Schaden und schließlich die soziale Abwägung der Vermögenslage des Beschädigten und des Beschädigers. Diese Kräfte versteht Wilburg dabei nicht als starre, sondern als variable Größen, die in unterschiedlicher Stärke auftreten können und bei denen erst die Würdigung ihres Zusammenspiels durch den Richter darüber entscheidet, ob die Haftung voll oder teilweise begründet, oder aber auszuschließen ist. 2 5 0 Der Ansatz Wilburgs sieht sich vor allem der Kritik ausgesetzt, sich mit der Suche nach »beweglichen Elementen4 zu weit von der Ebene anwendbarer Rechtssätze zu entfernen. Flessner bringt diesen Zusammenhang zum Ausdruck, wenn er Ungerechtfertigte Bereicherung, § 3 IV (S. 9, Fn. 4), die bei Flessner lediglich den auch von ihnen verfolgten Gedanken einer sich gegen induktive Methodik wehrenden Dogmatik erörtert sehen. 247 Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, S. 3 f. Mit der Entgegensetzung von überlieferter Ordnung und freier Rechtsfindung steht auch Wilburg ganz unter dem Eindruck einer pragmatischen Jurisprudenz, in der die Dogmatik eine rationale Rechtsanwendung gewährleisten soll, vgl. hierzu ausführlicher oben, 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 248
So Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, S. 11. Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, S. 12. 250 Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, S. 13 f.; fortgeführt wird diese Linie von Wilburg, AcP 163 (1963), 346 ff. 249
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
das bewegliche Systemdenken dahin charakterisiert, daß „die Doktrin ihren Systemehrgeiz zurücknimmt; sie entwickelt die Elemente, aber deren Zusammenspiel und Gewicht im Einzelfall kann sie abstrakt nicht mehr determinieren, soll das System seinen Charakter als »bewegliches4 behalten". 251 Im Vorgriff auf die sich hier aufdrängenden Einwände hatte Wilburg freilich bereits in seiner Rektoratsrede den Gedanken weit von sich gewiesen, daß er dem Richter die Freiheit zugestehen wolle, gestützt „auf Billigkeit, auf jeweiliges Rechtsempfinden, auf gute Sitten oder ähnlich inhaltlose Begriffe" seine Entscheidung zu fällen. Der Richter könne gerade nicht frei, sondern lediglich „nach gelenktem Ermessen" vorgehen. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Wilburg dem Richter schon mit dem Begriff des Ermessens einen im Ansatz großen Freiraum an Bewertungsfreiheit gewährt. Sollen zur Lenkung dieser Freiheit nun aber tatsächlich die induktiv zu entwickelnden „Elemente" und bewegenden „Kräfte" ausreichen, wie der Gesetzgeber sie beispielhaft an typischen Fällen zum Ausdruck bringen könne? 252 Es dürfte nicht von ungefähr kommen, daß das Wilburg'sehe Systemdenken einen größeren Einfluß auf Disziplinen wie die Rechtsvergleichung ausgeübt hat als auf die richterliche Rechtsfindung im nationalen Recht, setzt die Rechtsvergleichung doch notwendig die Bereitschaft zur Relativierung nationaler Regeln voraus. 253 Die Kritik am beweglichen System muß aber noch tiefer ansetzen. Wenn das Charakteristikum jedes Systems darin gesehen werden kann, daß es sich nur sehr träge entwickelt, so kann man die These aufstellen, daß ein System, das beweglich ist, gerade kein System mehr ist. 2 5 4 Das hinter dem Gedanken vom beweglichen System stehende Anliegen kann denn auch nur sein, mit Flessner die Frage aufzuwerfen, wie weit die systematische Ambition reichen soll. Diese Frage wohnt aber seit jeher auch noch dem unbeweglichsten System inne und findet in der Lehre vom „beweglichen System" lediglich ein neues Gewand. Erkennt man zudem im Systemgedanken den Gegenpart zu einer augenscheinlich zum Exzeß neigenden Rechtsfindung der Interessenbewertung, so liegt in der Kennzeichnung des Systems als „beweglich" schließlich nichts anderes als die denkbar deutlichste Relativierung dieses Gegenparts und damit allen Bestrebens, Rechtsfindung weitgehend 251
Flessner, in: Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, S. 159 (161). Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, S. 22, und bereits ders., S. 3, wo er nicht ohne kritische Grundhaltung Stimmen erwähnt, „die an Stelle einer Rechtsprechung nach Grundsätzen die freie Entscheidung juristisch unbelasteter Richter fordern". 253 Zu Wilburg als Rechtsvergleicher Posch, in: Das Bewegliche System, S. 253 ff., der den Wert des beweglichen Systemdenkens für die Rechtsvergleichung in einer Hinwendung zur „Elementevergleichung" erkennt und ihm daher heute vor allem maßgebliche Bedeutung für eine Vereinheitlichung des materiellen Privatrechts zuerkennt (S. 255). Dieser Ansatz wird im Hinblick auf die Ausarbeitung von „Principles" eines einheitlichen europäischen Schadensrechts von Koziol aufgegriffen, JB1. 1998, 619. Für geeignet, die internationale Verständlichkeit des deutschen Bereicherungsrechts zu fördern, erachtet Flessner das bewegliche Systemdenken, in: Das Bewegliche System, S. 159 (175). 2 54 Vgl. hierzu bereits oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 1. 252
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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rational kontrollierbar zu machen. Da hilft es auch wenig, wenn Wilburg diesem Bestreben eine Provinz retten möchte, indem er mühsam versucht, gelenktes Ermessen und zügellose Billigkeit zu unterscheiden. Wenn mit der Zügelung der systematischen Ambition also auch ohne Zweifel ein berechtigtes Anliegen verfolgt wird, indem ein Ausschließlichkeitsanspruch deduktiver Rechtsfindung in seine Schranken gewiesen wird, so kann diese Zügelung aber doch nicht in der Weise erfolgen, den Systemgedanken der Beweglichkeit preiszugeben und auf diese Weise gleichsam das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wo das Systemdenken aufgegeben wird, wird die Frage nach seinen Grenzen vielmehr sinnlos. Gegen jede Kritik, das bewegliche System könne keine Rechtssicherheit gewährleisten, hat freilich vor allem Flessner den Ansatz Wilburgs verteidigt. Mit Blick auf das Bereicherungsrecht hat er die These aufgeworfen, daß sich das bewegliche System gerade in der Mitte zwischen den beiden Extremen der Begriffsjurisprudenz und der Topik „anbieten" würde. 255 Vergleichbares Gewicht ist er lediglich dem typologischen Methodenkonzept v. Caemmerers einzuräumen bereit, das er dahin beschreibt, „Fälle entweder einem bekannten Typus zuzuordnen oder als untypische zu behandeln oder als Beispiele eines neuen Typus zu nehmen, für den dann Wertungsgesichtspunkte aus dem Vergleich mit den Lösungsansätzen für die übrigen Typen zu ermitteln sind". 2 5 6 Die Methodenkonzepte „der beiden Väter unseres heutigen Bereicherungssystems" sieht Flessner dabei so eng beieinander liegen, daß sie aus seiner Sicht „vielleicht gar nur verschiedene Seiten ein und derselben Medaille sind". Aber auch in ihrem Schicksal würden sich beide Methodenkonzepte berühren: während die Arbeitsergebnisse von Wilburg und v. Caemmerer das Bereicherungsrecht in Deutschland beherrschen würden, könne man sowohl mit dem beweglichen System wie auch mit dem typologischen Denken nichts anfangen. 257 Diese Einschätzung entspricht nun allerdings - soweit sie auf v. Caemmerer abzielt - schon zu der Zeit, in der Flessner seinen Beitrag veröffentlicht, nicht der tatsächlich geübten Handhabung des Bereicherungsrechts in Rechtsprechung und Literatur. Man muß zunächst einmal der Tatsache ins Gesicht sehen, daß v. Caemmerer, ebenso wie später sein Schüler König, größeres Interesse an der materiellrechtlichen Ausarbeitung einer Typologie der Bereicherungsansprüche hatte, denn an einer methodologischen Reflexion dieses typologischen Vorgehens. Insofern kann es auch kaum verwundern, daß die Zustimmung zu seiner Methodik spärlicher ausfallen muß als vergleichbare Bekenntnisse zum beweglichen Systemdenken Wilburgs. Wenn das Bereicherungsrecht entgegen der Einschätzung Flessners im Gegenteil seit langem überwiegend typologisch behandelt wird, so trifft seine Einschätzung aber auch sachlich nicht zu, mag diese typologische Behandlung zuweilen auch nicht immer nur in Zusammenhang mit der Arbeitsweise v. Caemmerers stehen. 255 Flessner, in: Das Bewegliche System, S. 159 (163 f.). 256 Flessner, in: Das Bewegliche System, S. 159 (165). 257 Vgl. Flessner, in: Das Bewegliche System, S. 159 (165 f.).
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Ist es so betrachtet nicht die Typologie v. Caemmerers, sondern vielmehr das bewegliche System Wilburgs, das sich nicht durchgesetzt hat, so mag hierfür auch gerade der Gedanke ursächlich sein, den Flessner selbst als den wesentlichen Unterscheidungspunkt zur typologischen Denkweise v. Caemmerers herausstellt. Wilburgs »Elemente4 oder ,bewegende Kräfte 4 seien Rechtsgedanken, die er in oder hinter positiven Rechtssätzen finde, sammle und systematisiere, aber gerade durch ihre Zusammenführung auch relativiere; „die Beweglichkeit erhält das System dadurch, daß in concreto jeweils neu die richtige Kombination der Elemente nach Zahl, Maß und Gewicht zu finden oder herzustellen ist 4 4 . 2 5 8 Mit der stetigen Relativierung maßgeblicher Ordnungsgesichtspunkte muß ein nach rationaler Lenkung strebendender Rechtsanwender überfordert sein. Entsprechend muß sich aber auch eine Dogmatik, die sich diesen Bedürfnissen widmet, diese stetige Verunsicherung verbieten. Im Grunde wird mit dem beweglichen Systemdenken deutlich unterschätzt, welche tiefgreifende Relativierung überkommener Systemvorstellungen bereits darin liegt, deduktive und induktive Methoden der Rechtsfindung nicht mehr als Gegensatz zu denken, sondern gleichermaßen anzuerkennen. Mit dem Gedanken der Typologie wird diese Relativierung geradezu auf den Begriff gebracht, weil sich der Blick mit dem Typus bereits weg vom besonderen einzelnen Fall hin zur Konturierung der „Gestalt44 des typischen Falls, des Schulbeispiels wendet. Das bewegliche Systemdenken nimmt hierüber hinaus nun aber noch eine weitere Relativierung vor, durch die das so bereits deutlich relativierte System zusätzlich noch seine „Beweglichkeit44 erhält. Das führt zwangsläufig zu großen Unsicherheiten, weil die Notwendigkeit dieser zusätzlichen Relativierung im Dunkeln bleibt. Was hier unter naturalistischen Anklängen als eine „richtige Kombination der Elemente nach Zahl, Maß und Gewicht44 beschrieben wird, läßt dann aber auch den methodischen Ort dieser Relativierung offen, die nun offenbar sowohl am Fall wie auch am Falltyp, am Rechtssatz, am Rechtsprinzip, oder am Rechtssystem ansetzen kann. Entsprechend vage bleibt denn auch die beispielhafte Fallerörterung bei Flessner, der seinerseits am sogenannten Flugreise-Fall des BGH ansetzt, aber nicht einmal noch die Nähe zu (auch nur analog anzuwendenden) Rechtssätzen sucht. 259 Soll mit Beweglichkeit hingegen nur gemeint sein, daß die „Rechtssätze, Lehrsätze und Wertungskriterien 44 nicht festgelegt, sondern beweglich gehalten sind, 260 so wird damit nur eine andere Terminologie für die alte Einsicht verwendet, daß Falltyp, Rechtssatz und System keine unumstößlichen Dogmen darstellen, sondern stets - in unterschiedlicher Intensität - einer Fortentwicklung in der Dogmatik unterliegen. 261 258 Flessner, in: Das Bewegliche System, S. 159 (165). 259 Vgl. Flessner, in: Das Bewegliche System, S. 159 (171 ff.). Zum Aufgreifen dieses Beispiels durch Bydlinski vgl. oben 3. Teil, 2. Abschnitt, II. 2. 260 Vgl. Flessner, in: Das Bewegliche System, S. 159 (167). 261 Zum Arbeiten der Dogmatik mit Falltypen und Rechtssätzen vgl. oben, 2. Teil, 3. Abschnitt, II.
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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Von der überkommenen Dogmatik versucht Flessner denn auch das bewegliche Systemdenken vor allem darin abzugrenzen, daß die Dogmatik nicht nur Hilfe, sondern „Anweisung für die Lösung des Einzelfalls" geben wolle, sie verstehe sich gleichsam als „präskriptive" Wissenschaft. Die Jurisprudenz des beweglichen Systems wolle der Praxis hingegen nicht Gesetzgeber, sondern Ratgeber sein, konsultative Jurisprudenz. 262 Daß diese Entgegensetzung von präskriptiver Dogmatik und konsultativer Lehre des beweglichen Systems schief ist, zeigt bereits der Blick auf die heutige Funktionszuweisung für die juristische Dogmatik. Natürlich ist jeder Vorschlag der Dogmatik, sei es in Form der systematischen Verortung eines Interessenkonflikts oder in der Herausarbeitung eines Rechtssatzes, als Anweisung für die Lösung des Einzelfalls gedacht. Denn jeder Vorschlag muß den Anspruch erheben, zu einer interessengerechten Lösung zu führen. Aber natürlich ist jedermann klar, daß es sich hier immer nur um einen von im Zweifel vielen Vorschlägen handelt, so daß der Rechtsanwender stets nur beraten wird, indem unterschiedliche Vorschläge um seine Anerkennung wetteifern. Und schließlich ist die Dogmatik, gerade wegen der Offenheit der ihrer Entwicklung zugrunde liegenden fachlichen Diskussion, auch gerade nicht Gesetzgeber der Praxis, auch wenn sie dem Verständnis dessen dient, was der Gesetzgeber der Praxis vorschreibt. 263 Das Verhältnis präskriptiver und konsultativer Elemente juristischer Dogmatik ist also weitaus subtiler, als eine Entgegensetzung präskriptiver Dogmatik und konsultativer Lehre vom beweglichen System zum Ausdruck bringt. Das bedeutet zugleich, daß die Funktionen, die Flessner der Lehre vom beweglichen System zuschreiben möchte, von der Dogmatik längst verinnerlicht sind. Dieser Zusammenhang wird freilich verdeckt, wenn man der Dogmatik ein nicht mehr zeitgemäßes, eng an das 19. Jahrhundert angelehntes Verständnis zugrunde legt und so künstlich ein Defizit konstruiert, das dann durch die Lehre vom beweglichen System kompensiert werden kann. 264 Wenn Flessner den Gewinn der von ihm vorgezogenen Lehre gegenüber einer präskriptiven Dogmatik letztlich dahin kennzeichnet, daß die Gründe auch „ohne Kenntnis von Ableitungszusammenhängen einleuchten" könnten und „praktisch jeder Verständige [ . . . ] mitreden" könne, so wird am Ende schließlich auch unklar, zu wem die Dogmatik - aber auch die Lehre vom beweglichen System - aus seiner Sicht überhaupt sprechen soll. Ist das tatsächlich ein ver-
262 Flessner, in: Das Bewegliche System, S. 159 (169), mit zweifelhaftem Verweis auf Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 8 ff., der sich mit Blick auf das Bereicherungsrecht vielmehr statt für „eine besonders Consultative' oder gar besonders frei wertende" Dogmatik für „eine systematisch tieferdringende, nämlich stärker prinzipiell und konsequent denkende Dogmatik" ausspricht. Vgl. insoweit Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 238, und in Auseinandersetzung mit Flessner vermittelnd ders., S. 236 f. Eingehender zum Standpunkt Bydlinskis oben 3. Teil, 2. Abschnitt, II. 2. 263 Zur Verbindlichkeit von Dogmatik und zur Problematik einer „Geltung" von Dogmatik vgl. oben, 2. Teil, 3. Abschnitt, III. 2. b). 264 Zum zeitlichen Bedeutungswandel des Begriffs Dogmatik eingehender oben 2. Teil, 1. Abschnitt.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
ständiger Jedermann? Oder ist das nicht der Jurist, der auch noch für den unverständigsten Jedermann das Recht zu finden hat? 265
c) Bereicherungsrecht
als Billigkeitsrecht
Ganz offen schließlich als Billigkeitsrecht wird das Bereicherungsrecht seit langem vom BGH bezeichnet: „Die Bereicherungsansprüche gehören dem Billigkeitsrecht an und stehen daher in besonderem Maße unter den Grundsätzen von Treu und Glauben [ . . . ] , und zwar nicht nur zugunsten, sondern auch zu Lasten des Bereicherungsgläubigers." 266 Was die geringe Aussagekraft eines solchen Rekurses auf den Ausgleichsgedanken zur Charakterisierung speziell des Bereicherungsrechts betrifft, kann zunächst auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. 267 Das Zurückgreifen auf die Grundsätze von „Treu und Glauben" im Bereicherungsrecht ist dann aber seinerseits bedenklich. Immerhin dient dieser Maßstab in § 157 BGB, soweit man sich auf den Schuldvertrag beschränkt, zur Begründung nicht eines gesetzlichen, sondern eines rechtsgeschäftlichen Schuldverhältnisses, wie § 242 BGB dann bereits die Ermittlung des genaueren Inhalts eines bereits entstandenen Schuldverhältnisses i.w.S. betrifft, nicht seine Begründung. 268 Diese Unterscheidungen sind heute zwar vielfach eingeschliffen, wenn z. B. § 242 BGB auch zur sogenannten Inhaltskontrolle von Verträgen herangezogen wird, 2 6 9 oder wenn vielfach die beiden Bestimmungen der §§157 und 242 BGB gleichzeitig genannt werden, um die Frage offen zu lassen, ob bestimmte Rechtsfolgen (etwa Sorgfaltspflichten) aus dem Rechtsgeschäft selbst oder erst aus dem durch das Rechtsgeschäft begründeten Schuldverhältnis i.w.S. abzuleiten sind. 270 Insoweit erscheint die Heranziehung von Treu und Glauben im Bereicherungsrecht dann im Grunde aber auch nur im Kontext der Leistungsrückabwicklung schlagkräftig, wo Rechtsverhältnisse ins Auge gefaßt werden, deren Begründung und Ausgestaltung immerhin selbst dem Maßstab von Treu und Glauben unterliegen. Das Gesetz greift den Maßstab von Treu und Glauben im Bereicherungsrecht denn auch lediglich im Kontext der Leistungskondiktion auf (§815 BGB). Diese entlegene Vorschrift erlaubt es allerdings kaum, den Maßstab von Treu und Glauben gleichsam zum prinzipiellen Rahmen des gesamten Bereicherungsrechts avancieren zu lassen. 265 Zur Situation des Interpreten zivilrechtlicher Rechtssätze oben, 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 1. a). Zur schiefen Entgegensetzung von Jurisprudenz und Alltag insbesondere Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 85 f. 266 BGHZ 36, 232 (235). Vgl. in jüngerer Zeit BGHZ 111, 308 (312); BGH NJW 1997, 2381 (2383). Dem folgend Palandt-Thomas, Einf ν § 812 Rz. 2. Unter Umgehung des Wortes „Billigkeitsrecht" auch MüKo-Lieb, § 812 Rz. 1. 267 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. a). 268 Vgl. n u r Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 336.
269 Vgl. zu dieser Entwicklung in den besonders brisanten Fällen der Bürgschaft naher Angehöriger Schapp, ZBB 1999, 30 (34 ff.). 270 Vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Rz. 336.
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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Das eigentliche Anliegen des BGH ist denn wohl auch eher getroffen, wenn man es nicht in einer systematisch-prinzipiellen Ebene verortet, als in seinem ohne Zweifel anzuerkennenden praktischen Bestreben, jenseits systematischer Zwänge und vorgeprägter Begrifflichkeiten den Blick auf das sachgerechte Ergebnis frei zu halten. Dazu braucht man aber nicht auf den Grundsatz von Treu und Glauben zurückzugreifen. Mit dem im Schrifttum überwiegend bewußt gemiedenen Wort „Billigkeit" bringt der BGH im Grunde denn auch nur die Ablehnung gegenüber einer bereicherungsrechtlichen Dogmatik mit Schärfe zum Ausdruck, die ihm fast möchte man sagen, entgegen Treu und Glauben in der Jurisprudenz - keine anwendbaren bereicherungsrechtlichen Rechtssätze anbietet.
3. Die Öffnung der Dogmatik für eine induktive Bearbeitung des Bereicherungsrechts durch Einbeziehung fallorientierter Wertungen Die bereicherungsrechtliche Dogmatik wehrt sich bis heute dagegen, so deutlich mit einem überkommenen Systemdenken zu brechen, wie das von der Topik und von einem beweglichen Systemdenken gefordert und vom BGH offenbar praktiziert wird. Insoweit läßt sich, wie einzelne bereicherungsrechtliche Stellungnahmen zeigen, lediglich von einer Öffnung der Dogmatik für die induktive Bearbeitung des Bereicherungsrechts sprechen, deren deutliche Grundhaltung systemorientiert bleibt (a). Inwieweit sich beide methodische Perspektiven vereinbaren lassen, soll dann anhand der 1994 erschienenen Neubearbeitung des Larenz'sehen Schuldrechtslehrbuchs durch Canaris untersucht werden, der seit langem besonders nachdrücklich für ein Arbeiten mit Wertungen im Bereicherungsrecht plädiert und dabei einerseits auf breite inhaltliche Zustimmung zu den von ihm dargestellten Wertungsgesichtspunkten stößt, wie andererseits aber auch auf deutliche Zurückhaltung in seiner methodischen Konsequenz, systematische Begriffe der überkommenen Dogmatik ganz aufzugeben (b).
a) Die Distanz gegenüber der alleinigen Einbeziehung fallorientierter Wertungen Am deutlichsten zeigt sich die Distanz gegenüber einer alleinigen Maßgeblichkeit fallorientierter Wertungen für die Fallösung dort, wo sich die Literatur kritisch mit der Methodik der Rechtsprechung auseinandersetzt. Der Grundtenor dieser Kritik geht dahin, daß die Rechtsprechung weitgehend nur noch formal an Begriffen und systematischen Einteilungen festhält, sich vor allem in problematischen Fallbereichen dann aber weitgehend von diesen Vorgaben löst, um unter Rückgriff auf Wertungsgesichtspunkte im Wege des Präjudizienvergleichs vorzugehen und 16 Gödicke
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
damit, schärfer gefaßt, „konturenlose Billigkeitsjudikatur" zu betreiben. 271 Der gleiche Vorwurf wird dann freilich auch an das Schrifttum gerichtet, soweit es das Ergebnis der Fallösung zunächst ausgehend von der herrschenden Begrifflichkeit sucht, dann jedoch je nach Bedarf „wertungsmäßig korrigiert". 272 Hingegen hat Schlechtriem schon vor längerer Zeit darauf aufmerksam gemacht, daß der positive Sinn einer schematischen Lösung darin liegt, „eine Vielzahl von Sachfragen und Wertungen in einen subsumtionsfähigen Zentralbegriff zu codieren und damit Lösungen für vielfältige Fallsituationen berechenbar vorprogrammieren". Bei komplexen Fragen reiche die „Speicherkapazität" der Begriffe dann allerdings schlicht nicht aus, so daß auch ihre ständige Änderung und Neudefinition nicht viel weiterhelfe. Die Speicherkapazität einer zentralen Kategorie wie die der „Leistung" ließe sich vielmehr nur dann erweitern, wenn ihre Definition unbestimmte Rechtsbegriffe aufnehme, die Weitungen in Ansehung des konkreten Einzelfalls ermöglichen. Die Formel des BGH sei daher als ein solcher „Versuch verständlich, Bewertungsspielräume gegenüber einer als abschließend konzipierten Formel freizuhalten". 273 Explizit aufgegriffen und der Rechtsfindung im Bereicherungsrecht empfohlen wurde der vom BGH praktizierte Präjudizienvergleich, trotz weithin abfälliger Äußerungen, der BGH versuche, sich „mit Hilfe des Präjudizienvergleichs durch das Dickicht zu schlagen", 274 vor allem von Jakobs. Sein Vorschlag geht dahin, der angehende Jurist „sollte dahin gebracht werden, wie in England - oder sogar dort zu studieren, an den leading cases und im distinguishing der Fälle sich ausbilden zu lassen und so das Recht upon the cases zu lernen, oder besser noch, statt in eine 271
So die geringschätzige Ausdrucksweise von Reuter / Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, Vorwort (S. V). Vgl. ferner Martinek, NJW 1989, 1851; Knieper, BB 1991, 1578 (1582); Wilhelm, JZ 1994, 585 (590, 594); Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 685 f.; Schnauder, JuS 1994, 537 (537 f., 541, 545). Vgl. im übrigen, auch zum Nachstehenden, bereits die Literatur oben, 1. Teil, I., II. 3. b). 272
Vgl. Kupisch, JZ 1997, 213 (222). Von einer „unheiligen Allianz zwischen Begriffsjurisprudenz und Topik" spricht Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (858); ähnlich Wilhelm, Rechtsverletzung und Vermögensentscheidung, S. 132 („Verbindung von doktrinärem Begriffsdenken und bloßer Billigkeitsentscheidung"); Pinger, AcP 179 (1979), 301 (305 ff.). Vgl. ferner Jakobs, NJW 1992, 2524 (2524, 2529), sowie kritisch gegenüber einer „freien Wertung" auch Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 237. 273 Schlechtriem, ZHR 149 (1985), 327 (335). Beipflichtend Esser/ Weyers, § 47 1. f) (S. 32). Schärfer Kötz, in: Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, S. 75 (85, 88), der von Rechtsfragen spricht, die das Schrifttum „als rein dogmatische Fragen aufgeputzt und dann mit einer solchen Lawine rein dogmatischer Antworten zugedeckt hat, daß das einfache Problem rechtlicher Wertung, um das es im Grunde auch hier geht, völlig außer Sicht gerät". Die Vielzahl unterschiedlicher Ansätze habe die Aufnahmekapazität der Richter und erst recht der Studenten daher längst überschritten, so daß die Rechtsprechung einen „Befreiungsschlag" führe, wenn sie sich jede schematische Lösung verbiete. Hiergegen Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 238 (Fn. 252), aus dessen Sicht die Position von Kötz „zu gar nichts" führt. 274 Schnauder, JuS 1994, 537 (541); ReuterIMartinek, Vorwort (S. V).
Ungerechtfertigte Bereicherung,
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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andere Welt des Rechts zu gehen, in der eigenen zu bleiben und wieder in die Schule zu gehen, in die man in Europa auf dem Kontinent seit dem Mittelalter gegangen ist. Er sollte sich wieder leiten lassen - statt von Larenz' Methodenlehre von den römischen Juristen und ihrem upon the cases: allein in Fällen sich fortbildendem Denken in Regeln". 275 Der Vorschlag Jakobs' hat prompte Ablehnung erfahren. Selbstverständlich, so die Kritik Wilhelms, müsse der Fall „der Ausgangs- und Endpunkt und der immer wieder erneute Bewährungsgegenstand unserer Rechtsordnung" sein. Das dürfe aber gerade nicht eine „Alleinherrschaft der Fälle ohne die ordnende und bindende Kraft rationaler Normen" zur Folge haben. 276 Nun ist es sicherlich überspitzt gewesen, wenn Jakobs die Methodenlehre von Larenz in einen so scharfen Gegensatz zum case law gerückt hat. Nicht minder überpointiert ist es jedoch, das case law, wie es in England praktiziert wird, mit einer Alleinherrschaft von Fällen gleichzusetzen. Schließlich wird die Herrschaft der Fälle dort, insbesondere durch die Doktrin der stare decisis , entscheidend relativiert. Danach geht (nur) von der ratio decidendi eines Urteils eine im einzelnen personell und sachlich differenzierende Bindungswirkung aus, die es erforderlich macht, äußerst sorgsam diese ratio decidendi im Sinne einer Regel zu entwickeln. 277 Damit ist das englische Recht aber sehr viel weiter davon entfernt, ohne eine ordnende und bindende Kraft auszukommen, als weithin der Eindruck besteht, mag diese ordnende und bindende Kraft nun auch nicht auf kodifizierten Normen beruhen. Mit ihrer Kodifizierung entbehren die englischen Präjudizien also noch nicht ihrer Rationalität. Es ist diese Maßgeblichkeit von Regeln auch im case law, auf die Jakobs hinweist, wenn er davon spricht, der angehende Jurist lerne hier „die Rechtsfindung: die Subsumtion eines Falles unter eine gegebene Regel, weil diese Regel selbst in Fällen gegeben war, auf die Weise, die in England das distinguishing von Fällen heißt". 278 Etwas undifferenziert ist dann aber ihrerseits die Konsequenz, die Jakobs für das deutsche Recht zieht. „Hundert Jahre Gesetzesrecht, hundert Jahre Ausrichtung der juristischen Arbeit auf abstrakte: der Kasuistik entleerte Regeln" hätten diese Kunst in Deutschland in Verfall gebracht und dazu geführt, daß selbst die Richter des höchsten deutschen Zivilgerichts „was Methodologie angeht - offenbar nur von Larenz sich belehren lassen". Sicherlich ist es zutreffend, ein wichtiges Ausgangsproblem des Bereicherungsrechts darin zu sehen, daß jedenfalls die tatsächlich maßgeblichen Normen der §§ 812 ff. BGB einer gesetzlichen Kasuistik ent275 Jakobs, ZIP 1994, 9 (14). 276 Wilhelm, JZ 1994, 585. 277 Womit die Lehre der stare decisis freilich entscheidend relativiert wird. Vgl. ausführlicher Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 18 II (S. 253 ff.). 278 Jakobs, ZIP 1994, 9 (9 f.). In dieser Perspektive ist es dann entgegen dem ersten Eindruck auch kein Widerspruch, wenn Jakobs an anderer Stelle, NJW 1992, 2524 (2524, 2529), den Zustand einer Regellosigkeit im Bereicherungsrecht kritisiert (vgl. insoweit oben 1. Teil, II. 3. b). 16*
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
behren. 279 Das zentrale Problem der bereicherungsrechtlichen Dogmatik dürfte aber weniger darin bestehen, daß die Dogmatik nicht in der Lage wäre, ausgehend von Fällen Entscheidungsregeln oder Präjudizien zu entwickeln, als vielmehr darin, daß die materielle Ausgangsbasis dafür, solche Entscheidungsregeln zu entwikkeln und in ein übersichtliches Ordnungsgefüge zu ordnen, im Bereicherungsrecht außerordentlich schwach trägt. 280 Insoweit unterscheidet sich die deutsche Rechtskultur aber entscheidend von der englischen, die dem systematischen Denken traditionellerweise eine weitaus schwächeren Stellenwert beimißt. 281 Auf deutscher Seite wird das deutlich, wenn Wilhelm die Forderung an den BGH richtet, seine „Fallrechts-Linie" durch eine „normgebundene Linie" zu ersetzen. 282
b) Die Einbeziehung von Wertungsgesichtspunkten in eine Neuordnung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik durch Canaris Das Anliegen, Wertungsgesichtspunkte stärker, und durchaus normgebunden, in die Dogmatik des Bereicherungsrechts zu integrieren, dürfte in den vergangenen Jahren am prägnantesten von Canaris verfolgt worden sein. Gleichsam als methodische Ausgangsposition legt er die Einbeziehung von Wertungsgesichtspunkten denn auch durchgängig der neuen Konzeption des Larenz'sehen Lehrbuchs zum besonderen Schuldrecht zugrunde, 283 das damit sowohl als der umfassendste Versuch einer Neuordnung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik seit der großen Darstellung von Reuter ! Martinek wie auch durchaus als deren methodischer 279 Kupisch, W M 1999, 2381 (2386, Fn. 32), faßt ferner die pandektistische Ausblendung wirtschaftlicher Bezüge als eine Ursache für das „Dickicht" des Bereicherungsausgleichs im Anweisungsverhältnis auf. 280 Vgl. oben die einleitenden Bemerkungen zum 3. Teil, 1. Abschnitt. 281 Vgl. Legrand, International and Comparative Law Quarterly 45 [1996], 52 (66): „Unlike the civil law, which seeks to apprehend the dispute through a complex categorial design of hierarchical norms purportedly comprehending all eventualities, the common law awaits the interpretive occasion. It is reactive and not, like the civil law, proactive or projective" (Kursivdruck im Original), mit zahlreichen Zitaten für eine aus der Sicht Legrands antisystematische und gar bewußt unlogische Geisteshaltung im englischen Recht (65 ff.). 282 Wilhelm, JZ 1994, 585 (590). Ganz auf dieser Linie Martinek, NJW 1998, 967, und zuvor freilich bereits Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, Vorwort (S. V); beipflichtend Weitnauer, DB 1984, 2496; ferner Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 238 (Fn. 252) (vgl. hierzu bereits oben, 3. Teil, 3. Abschnitt, II. 2.). Vgl. aber auch etwa Schlechtriem, Schuldrecht BT, Vorwort (S. IX), und EsserI Weyers, Schuldrecht II/2, §47 1. f) (S. 33), die beide keineswegs System und Ordnung als Ziel dogmatischen Bemühens aufgeben. 283 Vgl. nur LarenzI Canaris, Schuldrecht I I / 2 , Vorwort (S. VI), wo er mit Blick auf das Bereicherungsrecht sein Anliegen schildert, seinen Teil „zur dogmatischen Konsolidierung und didaktischen Aufbereitung dieses Gebiets durch klare Herausarbeitung der maßgeblichen Lösungsgesichtspunkte und der tragenden Grundgedanken sowie durch Zurückdrängung unnötiger Komplizierungen beizutragen".
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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Gegenpart gelten kann. Diese Einschätzung kann hier freilich nur exemplarisch anhand einer ausgewählten Problematik entwickelt werden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher auf eine Betrachtung des bereicherungsrechtlichen Leistungsbegriffs, mit dem nun allerdings nicht nur aus der Sicht von Canaris der zentrale Punkt innerhalb der Kontroverse zu den Mehrpersonenkonstellationen getroffen ist, deren Handhabung wiederum den Hauptgegenstand der heutigen Kritik bildet. Der Leistungsbegriff erscheint dann aber vor allem auch deshalb als geeigneter Anknüpfungspunkt, weil Canaris mit seiner Anfang der siebziger Jahre vorgetragenen und bis heute aufrechterhaltenen Kritik (aa) einerseits dem Leistungsbegriff ein Arbeiten mit fallorientierten Wertungsgesichtspunkten gegenübergestellt hat, nun aber auch selbst Ansätze zur Entwicklung anderer dogmatischer Kriterien vorträgt (bb). Die Problematik des Leistungsbegriffs versinnbildlicht also geradezu das hier ins Auge gefaßte Spannungsfeld der Dogmatik zwischen fallorientierten und systemorientierten Methoden der Rechtsfindung.
aa) Die Kritik von Canaris am Leistungsbegriff als dogmatischem Zentralkriterium des Bereicherungsrechts Seine Kritik am Leistungsbegriff entwickelt Canaris an der Anweisungslage, genauer an einem Fall, in dem Deckungsverhältnis und Valutaverhältnis defekt sind, die Anweisung zur Leistung an den Dritten hingegen intakt. 284 Hier geht das erste Anliegen in der Fallösung dahin, die Personen festzulegen, die am Bereicherungsausgleich beteiligt sind. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob der Angewiesene Bereicherungsgläubiger gegenüber dem Dritten oder gegenüber dem Anweisenden ist, ob er also direkt beim Dritten kondizieren kann, oder ob der Bereicherungsausgleich stattdessen den Kausalbeziehungen zu folgen hat. Die Antwort hierauf lautet im Ergebnis heute einhellig, daß sich die Abwicklung im Sinne der zweiten Lösung vollziehen muß. Die Begründung für diese Antwort liegt aus der Sicht von Canaris allerdings nicht schon in der bewußten Entscheidung des Gesetzgebers gegen die Aufnahme der Versionsklage in das BGB, also jener dem Preußischen Allgemeinen Landrecht und dem gemeinen Recht noch vertrauten Klage, mittels derer sich - in die hier gewählte Terminologie übersetzt - der Angewiesene wegen einer nicht bezahlten Leistung direkt an den Dritten halten konnte, dem sie zugeflossen war. 285 Auch wenn Canaris diese Entscheidung des Gesetzgebers durchaus nicht unerwähnt läßt, 286 so kann sie doch nicht selbst schon eine Be-
284 Vgl. Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (801 ff.). 285 Das ist freilich eine überaus vereinfachte Beschreibung. Eingehend zum alten Rechtszustand vgl. v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (245 ff.), der auf die Beschränkung dieser Klageart durch v. Tuhr, Actio de in rem verso, S. 293 ff., auf den Fall der Zahlungsunfähigkeit des Anweisenden hinweist. Zur Ablehnung durch den Gesetzgeber vgl. Mot. II, S. 871 ff., sowie auch Soergel-Mühl, Vor § 812 Rz. 5. 286 Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (804).
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
gründung liefern, sondern verweist ihrerseits auf die Motive, die den Gesetzgeber dazu bewogen haben, sich gegen die Aufnahme der Versionsklage zu entscheiden. Die Frage der Begründung wird damit also nur verlagert, aber noch nicht beantwortet. Als Begründungsversuch eher geeignet ist aus der Sicht von Canaris vielmehr der Vergleich der abgekürzten Lieferung mit dem Fall der Lieferungskette, also dem Fall einer linearen Weiterübertragung des Leistungsgegenstandes statt seiner abgekürzten Lieferung. Die Gleichbehandlung der regulären mit der abgekürzten Lieferung gebiete es, daß hier wie dort ein Zugriff der Ausgangsperson auf den Letztempfänger ausgeschlossen werden müsse.287 Die Begründung der Regel, daß der Bereicherungsausgleich bei intakter Anweisung aber beiderseits defekten Kausalverhältnissen entlang diesen Kausalverhältnissen zu erfolgen habe, läßt sich aus der Sicht von Canaris in ihrem Kern dann aber schließlich nur durch sorgfältige Analyse der Interessen aller am Bereicherungsausgleich beteiligten Personen ermitteln. Versuchen wir, den Ausgangspunkt dieser Interessenanalyse zu erfassen, die Canaris erst an einem späteren Punkt einsetzen läßt. Die Beteiligten verfolgen je nach ihrer Rolle als Gläubiger oder als Schuldner wechselnde Interessen. Als Schuldner wollen sie davor geschützt sein, Einwendungen zu verlieren, mit denen sie sich gegen die Rechtsverfolgung ihres Gläubigers wehren können, als Gläubiger möchten sie an ihrer Rechtsverfolgung hingegen nicht gehindert werden. Ein potentielles Hindernis besteht dabei in der Erhebung von rechtlich begründeten Einwendungen gegen die Geltendmachung des Anspruchs, ein anderes Hindernis in der faktischen Nichteinbringlichkeit des Anspruchs wegen Insolvenz. Ein wesentlicher Gewinn der von Canaris vorgenommenen Analyse liegt nun bereits darin, sich auf die wirklich problematischen Interessen zu konzentrieren, anstatt alle acht potentiellen Interessenperspektiven gleichrangig zu behandeln. So liegt es auf der Hand, daß der Gläubiger insoweit keinen Schutz verdient, als sich die genannten Hindernisse aus der Beziehung zu seinem eigenen Vertragspartner ergeben. Dessen begründete Einwendungen muß er sich von Rechts wegen entgegenhalten lassen, dessen Insolvenz ist nach unserer Wirtschaftsordnung sein Risiko, gegen das er sich anderweitig schützen mag. Die Frage eines zu berücksichtigenden Schutzinteresses der Beteiligten reduziert sich damit auf die Reichweite von Einwendungen gegenüber anderen Gläubigern als dem ursprünglichen Vertragspartner einerseits und auf die Zumutung von Einwendungen und Insolvenzrisiken anderer Schuldner als dem ursprünglichen Vertragspartner andererseits. 288 287 Vgl. Canaris , in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (804). 288 Eine Untersuchung über den Zusammenhang von „Zuwendungsrisiko und Restitutionsinteresse" hat unlängst L-Ch. Wolff in seiner gleichnamigen Schrift vorgelegt. Er geht von der Beobachtung aus, daß jeder mit der Zuwendung eines Vermögensvorteils an einen anderen das Risiko eingeht, daß sich dieser Einsatz für ihn nicht auszahlt, und untersucht hieran anknüpfend die Regelungsstrukturen des Synallagmas und der Leistungskondiktion als Instrumente der Rechtsordnung für die Rückübertragung des Zuwendungsobjekts. Vgl. ders., Zuwendungsrisiko und Restitutionsinteresse, S. 22 ff., 100 ff.
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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Canaris nennt daher folgende drei Gesichtspunkte. Es seien a) „den Parteien des fehlerhaften Kausalverhältnisses ihre Einwendungen gegen den anderen Teil zu erhalten", es müßten b) „die Parteien vor den Einwendungen aus dem Rechtsverhältnis ihres Vertragspartners zu dem Dritten geschützt werden", und schließlich sei c) das Insolvenzrisiko „den Partnern des fehlerhaften Kausalverhältnisses aufzuerlegen" und der Dritte hingegen davon nach Möglichkeit freizuhalten. 289 Diese Überlegungen stellen nun freilich keine Rechtssätze im Sinne von Tatbestand und Rechtsfolge dar, sondern werden von Canaris lediglich als „Gesichtspunkte" oder „Wertungskriterien" für die Fallösung verstanden. 290 Man könnte auch von Zielvorgaben sprechen, insoweit die von Canaris genannten Gesichtspunkte lediglich das Ziel optimaler Interessenverwirklichung für jeden Beteiligten nennen, aber doch weder den Weg, wie sich dieses Ziel verwirklichen läßt, beschreiben, noch den Grund, warum dieses Ziel überhaupt zu verwirklichen ist. Der Endpunkt dieses Weges liegt dann darin, die Kondiktion nicht im Zuwendungsverhältnis zwischen Angewiesenem und Dritten zu gewähren, sondern jeweils den Angewiesenen auf den Anweisenden und den Anweisenden auf den Dritten als Bereicherungsschuldner zu verweisen. Wie lassen sich die drei Zielvorgaben aber inhaltlich begründen? Weshalb sind, wie in den Kriterien a) und b) ausgesprochen, Einwendungen gegenüber dem eigenen Vertragspartner zu erhalten und solche eines Dritten abzuwehren? Und wonach bestimmt sich, ob man vom Insolvenzrisiko eines Dritten im Sinne des dritten Gesichtspunktes c) freizuhalten ist? Was zunächst die Frage der Einwendungen betrifft, so ist der für Canaris leitende Gedanke, daß sich die bereicherungsrechtliche Lösung am Abstraktionsprinzip als einer „systemprägenden Grundentscheidung des deutschen Privatrechts" orientieren müsse, dessen Ziel es gerade sei, die Auswirkungen der Nichtigkeit eines Kausalverhältnisses grundsätzlich auf dessen Parteien zu beschränken und Dritte vor ihnen zu bewahren. Die Versagung des Durchgriffs bei Veräußerungsketten sei daher „das folgerichtige bereicherungsrechtliche Korrelat zum sachenrechtlichen Abstraktionsprinzip". 291 Aber auch andere Gesichtspunkte, die für eine gerechte Risikoverteilung herkömmlicherweise als maßgeblich angesehen würden, wie die Frage nach dem Ursprung des „Mangels" aus der „Sphäre" des Betroffenen oder nach der „Beherrschung" des Risikos sprächen dafür, den am Kausalverhältnis unbeteiligten Dritten außen vor zu lassen.292 Ähnliches gilt aus der Sicht von Canaris dann wiederum für das Insolvenzrisiko. Die Vertragspartei sei insoweit „näher daran" als der Dritte, habe sie doch durch den Abschluß des Vertrages selbst „die Gefahr geschaffen und auf dessen Kreditwürdigkeit vertraut" und beherrsche sie doch auch eher das Risiko als der Dritte, der gar nicht die Möglichkeit habe, die Vermö289 Canaris , in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (802 f.). 290 Vgl. die Diktion von Canaris , in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (802). 291 Canaris , in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (804). 292 Canaris , in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (802 f.).
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
gensverhältnisse rechtzeitig zu überprüfen und gegebenenfalls Sicherheitsmaßnahmen einzuleiten. 293 Die Kritik Canaris ' am Leistungsbegriff zielt nun darauf ab, daß diese tragende Wertung des Abstraktionsprinzips und die diesem zugrunde liegende Wertung des Verkehrs- und Vertrauensschutzes im Leistungsbegriff mitnichten „eine in jeder Hinsicht adäquate dogmatische Einkleidung" erfahren hätten. Die Schwierigkeiten entstünden dadurch, daß die herrschende Lehre die Lösung vorwiegend in der richtigen Fassung des Leistungsbegriffs suche und teleologischen Gesichtspunkten demgegenüber zu wenig eigenständige Bedeutung beimesse.294 Canaris begründet seine These mit der - für seine Konzeption ganz zentralen - Beobachtung, daß der Leistungsbegriff in solchen Fällen versage, in denen der Angewiesene einer eigenen Rechtspflicht zur Leistung gegenüber dem Dritten nachkommt. Die wörtliche Anwendung des Leistungsbegriffs führe hier zwangsläufig zur Annahme von zwei Leistungsbeziehungen.295 Zur Konkurrenz dieser beiden Leistungsbeziehungen enthält der Leistungsbegriff nun selbstverständlich keine Aussage mehr. Seine Rechtsfolge beschränkt sich schließlich allein darauf, darüber zu befinden, ob eine Leistungsbeziehung vorliegt, nicht jedoch darüber, wie sich das Vorliegen mehrerer Leistungsbeziehungen zur Frage der Anspruchsgewährung verhält. Dann ist es, so die Sicht Canaris aber auch eine „willkürliche Begriffsmanipulation", wenn in der Literatur (unter weiterer Differenzierung nach dem Bestehen einer wirksamen Anweisung) bald der Anweisende, bald der Angewiesene als Leistender qualifiziert würde. Auf dem Boden des Leistungsbegriffs lasse sich vielmehr in Fällen eigener Rechtspflicht des Angewiesenen gegenüber dem Dritten das Bestehen zweier Leistungsbeziehungen nun einmal nicht leugnen. 296 Dann leiste der Leistungsbegriff aber auch gerade nicht das, wozu er eigentlich dienen solle, nämlich die Person des Bereicherungsschuldners festzulegen. Sei der Leistungsbegriff deshalb aber als zentrales dogmatisches Kriterium ungeeignet,297 so könne in der Konsequenz nur der „Abschied vom Leistungsbegriff' gefordert werden. 298 Ausschlaggebend seien vielmehr die von ihm dargestellten Wertungsgesichtspunkte, und es bliebe in der weiteren Konsequenz „nur die Möglichkeit, auf die einschlägigen Wertungsgesichtspunkte unmittelbar zurückzugreifen". 299
293 Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (803). 294 Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (805). 295 Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (805 ff.). 296 Vgl. Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (807). 297 Vgl. Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (859); sowie nun auch Larenz! Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 70 V I 2 (S. 248 f.). 298 Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (857). 299 Vgl. Canaris , in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (859) (Kursivdruck im Original).
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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bb) Der kondiktionsauslösende Mangel als neues dogmatisches Zentralkriterium des Bereicherungsrechts nach Canaris Die von Canaris dargestellten Weitungsgesichtspunkte sind in der bereicherungsrechtlichen Dogmatik auf eine überaus breite Zustimmung gestoßen, die Mehrzahl der heutigen Darstellungen zu den bereicherungsrechtlichen Mehrpersonenkonstellationen legt sie - mindestens zu einer ersten Orientierung - zugrunde. 3 0 0 Ein ganz anderes Bild zeigt sich hingegen, was den Aufruf Canaris 4 zu einem „Abschied vom Leistungsbegriff 4 betrifft. 301 Die Dogmatik hat sich diesem Aufruf bis heute verweigert. Zumindest als Ausgangspunkt der Fallösung hält sie ganz entgegen Canaris am Leistungsbegriff fest. 302 Die Kritik am Leistungsbegriff durch Canaris wiegt also schwer, das Festhalten an diesem Begriff durch die herrschende Dogmatik aber nicht minder. Wie läßt sich dieses Festhalten am Leistungsbegriff erklären? Es wäre verkürzt gedacht, der Dogmatik hier ein unreflektiertes Festhalten an begriffsjuristischen Techniken der Rechtsfindung vorwerfen zu wollen. Es wäre aber ebenfalls zu einfach, Canaris mit dem Vorwurf zu konfrontieren, das ganze System nur wegen einiger Sonderfälle in Frage zu stellen. Zum einen handelt es sich, wie insbesondere der Bereich des bargeldlosen Zahlungsverkehrs verdeutlicht, keineswegs einfach um Sonderfälle, und schließlich kommt der Dogmatik 300 Vgl. etwa Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 686; Esser ! Weyers, Schuldrecht I I / 2, § 48 III 1 b) (S. 47); Loewenheim, Bereicherungsrecht, S. 28 ff.; Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 667 f.; ders., Schuldrecht II, Rz. 725; Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 18 Rz. 2 ff.; KoppensteinerIKramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 6 (S. 24 ff.); ebenso, wenn auch distanzierter, Fikentscher, Schuldrecht, Rz. 1084. Anders allerdings Reuter/Martinek, die den Wert der Ausführungen von Canaris in erster Linie darin sehen, daß er „wichtige Vorarbeiten" zur Beurteilung der Frage geliefert habe, wie in Bereichen zu verfahren ist, in denen die Prämissen des Leistungsbegriffs fehlen oder zweifelhaft werden, vgl. dies., Ungerechtfertigte Bereicherung, § 10 I 2 b) (S. 395). Diese Einschätzung ist deutlich geprägt von der These, daß die Lösung der bereicherungsrechtlichen Mehrpersonenkonstellationen in Parallele zum Erfüllungsrecht zu erfolgen habe, die Leistungskondiktion „als Rückgewährschuldverhältnis den Weg der fehlgeschlagenen Erfüllung zurückgehen" müsse, vgl. dies., § 101 2 a) (S. 388 ff.). 301 Vgl. auch Harder, JuS 1979, 76 (76 f.). Vergleichbar wird eine „Aufgabe des Subsidiaritätsgrundsatzes" von Thielmann gefordert, AcP 187 (1987), 23 (58). 302 Vgl. etwa unmittelbar nach Erscheinen des Beitrags von Canaris BGHZ 61, 289 (291); ferner BGHZ 66, 362 (363); 72, 316 (319); 87, 393 (395); 111, 382 (386); 122, 46 (50 f.); 142, 284 (287), aber auch BGH NJW 1993, 1578 (1579). Für eine Beibehaltung des Leistungsbegriffs (jedenfalls für einfachere Fälle) EsserI Weyers, Schuldrecht I I / 2 , § 48 III 1 c) (S. 47 ff.); Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 686; Loewenheim, Bereicherungsrecht, S. 28 ff.; Fikentscher, Schuldrecht, Rz. 1085; Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 18 Rz. 3; Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 686. Vgl. ferner Palandt-Thomas, § 812 Rz. 3; Soergel-Mühl, § 812 Rz. 3; Staudinger-Lorenz, § 812 Rz. 5. A.A. freilich nach wie vor MüKo-Lieb, § 812 Rz. 27a, der den Leistungsbegriff allerdings, worüber häufig hinweggegangen wird, auch nur „jedenfalls in seiner häufig anzutreffenden Verabsolutierung" als „Irrweg" bezeichnet.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
durchaus die Ordnungsaufgabe zu, sich zumindest in zweiter Hinsicht auch um eine Einbeziehung entlegenerer Fälle in ein System der Rechtssätze zu bemühen. Den zentralen Ansatzpunkt dafür, der Aufrechterhaltung des Leistungsbegriff einen Sinn zu geben, muß vielmehr die Überlegung bilden, daß die von Canaris aus seiner Kritik gezogene Konsequenz, der Leistungsbegriff sei untauglich, seine Zwecke zu erfüllen, aus Sicht der Dogmatik nicht zwingend war. Schließlich lenkt die Anwendung des Leistungsbegriffs im Normalfall ja durchaus auf das gewünschte Ergebnis, nämlich auf den Bereicherungsausgleich des Angewiesenen lediglich im Deckungsverhältnis. Weshalb sollte man den Leistungsbegriff dann aber vor allem deshalb aufgeben, weil seine Anwendung in den entlegeneren Fällen doppelter Rechtspflicht des Angewiesenen zur Annahme von zwei Leistungsverhältnissen führt? Wäre es nicht weniger einschneidend gewesen, den Leistungsbegriff beizubehalten und stattdessen das unmittelbare Zurückgreifen 4 auf Wertungsgesichtspunkte lediglich für die Fälle zu propagieren, in denen ein Konkurrenzverhältnis zweier Leistungskondiktionen aufzulösen ist? Tatsächlich begründet die Dogmatik ihre ablehnende Haltung denn auch vorwiegend damit, daß die Schlußfolgerung von Canaris , den Leistungsbegriff ganz fallenzulassen, überzogen war. 303 Unter dem Eindruck dieses für die juristische Dogmatik geradezu charakteristischen Beharrungsvermögens 304 ist Canaris heute, rund zwanzig Jahre nach seinem Beitrag in der Festschrift für Larenz, denn auch zu Konzessionen bereit. Sie liegen entgegen mancher Auffassung allerdings noch nicht darin, daß nun auch Canaris den Leistungsbegriff als „Faustregel" zu Zwekken der Didaktik und der Darstellung billigt. 3 0 5 Die sehr viel tiefer greifende Konzession dürfte darin liegen, daß Canaris nun selbst einem Bedürfnis der Dogmatik nach einem „Zentralkriterium" entgegenkommt und nicht mehr propagiert, „auf die einschlägigen Wertungsgesichtspunkte unmittelbar zurückzugreifen". 306 Dieses dogmatische Zentralkriterium ist aus der Sicht von Canaris dann freilich nicht der (von ihm nach wie vor als untauglich verworfene) Leistungsbegriff, sondern der sogenannte „kondiktionsauslösende Mangel". 307 Werfen wir einen kurzen Blick auf dieses „Zentralkriterium", diesen „Begriff oder - methodologisch prägnanter - diese bereicherungsrechtliche Hilfsnorm. Nach Canaris ist zu unterscheiden, ob der kondiktionsauslösende Mangel „nur auf der Ebene der Kausalverhältnisse liegt oder ob er die dingliche Ebene bzw. die Anweisung als solche betrifft". Liege der Mangel auf der Ebene der Kausalverhältnisse, so erfolge der Bereicherungsausgleich (abgesehen von der Ausnahme des 303 Vgl. hierzu die Literaturangaben soeben (Fn. 302). 304 Hierzu oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 1. 305 Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 V I 5 (S. 252 f.). Zum Gedanken der Faustregel vgl. die ausführlicheren Nachweise oben (Fn. 162). 306 So noch Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (859) (Kursivdruck im Original). 37Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 V I 3 (S. 2 .
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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§ 822 BGB) zwischen den Parteien desjenigen Kausalverhältnisses, dem der kondiktionsauslösende Mangel entstammt. Liege der Mangel hingegen auf der dinglichen Ebene oder beträfe er die Anweisung als solche, so laute der Grundsatz nun umgekehrt, daß der Bereicherungsausgleich zwischen den Parteien zu suchen ist, zwischen denen sich die Vermögensverschiebung unmittelbar vollzogen hat. Der Leistungsempfänger werde hingegen vor einer Direktkondiktion geschützt, soweit die Voraussetzungen gutgläubigen Erwerbs vorliegen (analog §§ 932 ff. BGB, 366 I HGB oder analog §§ 170 ff. BGB). Bei Mängeln auf der dinglichen Ebene könne also zwischen solchen Mängeln unterschieden werden, die über den Rechtsscheinschutz überwunden werden könnten (Gültigkeitsmängel), und solchen, bei denen dies nicht möglich ist (Zurechenbarkeitsmängel), während es bei bloßen Mängeln des Kausal Verhältnisses auf eine Überwindung dieser Mängel nicht ankomme. 308 Kommt das Zentralkriterium eines kondiktionsauslösenden Mangels nun aber tatsächlich deutlicher den Bedürfnissen des Rechtsanwenders entgegen als ein unmittelbares Zurückgreifen auf Wertungsgesichtspunkte? In beiden Perspektiven stellt sich dem Rechtsanwender die Frage, wie er einen innerhalb der Dogmatik vorgeschlagenen Lösungsweg für die Rechtsanwendung nutzbar machen kann. Vergleichen wir insoweit einmal beide Lösungswege. Die entscheidende funktionelle Schwäche der Wertungsgesichtspunkte dürfte darin liegen, daß sie methodologisch betrachtet noch keine Rechtssätze darstellen, sondern in einer Sphäre rechtlicher Prinzipien verankert sind, 309 weshalb man sie, wie bereits angedeutet, auch als Zielvorgaben optimaler Interessenverwirklichung bezeichnen kann. Indem Canaris den Wertungsgesichtspunkten nun aber so ausdrücklich die zuvor vom Leistungsbegriff innegehabte Funktion zuweist, die Rechtsfindung zu leiten, muß man an sie die gleichen methodologischen Fragen richten dürfen. Wie hat man sich also einen Prozeß der Rechtsfindung vorzustellen, an dessen Ende der Rechtsanwender zu dem Ergebnis gelangt, daß in Einklang mit diesen Wertungsgesichtspunkten der direkte Zugriff des Angewiesenen auf den Dritten ausscheidet (oder ausnahmsweise zu gewähren ist)? Wie greift man in der Fallösung „unmittelbar" auf Wertungsgesichtspunkte zurück? Bei welchem Tatbestandsmerkmal der bereicherungsrechtlichen Anspruchsnorm soll der Rechtsanwender also statt auf Hilfsnormen auf Wertungsgesichtspunkte zugreifen? Und nach welchem Ordnungsgefüge wählt man dann den oder die ausschlaggebenden Wertungsgesichtspunkte aus? Wie ermittelt man ihren Sinn und wie wendet man sie an, um das zu spezifizierende Tatbestandsmerkmal im Ergebnis zu bejahen oder zu verneinen? Im Grunde ist das „unmittelbare" Zurückgreifen auf Wertungsgesichtspunkte mit einer sinnvollen Einbettung in die Methodik zivilrechtlicher Rechtsfindung überfordert. Die Ursache hierfür liegt aber nicht in einer einseitigen Orientierung der Rechtsfindung am Syllogismus, wie man dem hier zugrunde gelegten methodologi308 LarenzI Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 V I 3 a) (S. 249 f.). 309 Zum entsprechenden Systemverständnis von Canaris vgl. oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 1.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
sehen Konzept bei oberflächlicher Betrachtung vorzuwerfen geneigt sein könnte. 310 Vielmehr wird mit einem Abschied vom Leistungsbegriff zugleich auch der Abschied vom entscheidenden gesetzlichen Bezugspunkt für die Fallösung vollzogen, gleichviel ob man das Tatbestandsmerkmal „Leistung" (bzw. seine spezifizierende Hilfsnorm) im Wege des Syllogismus oder im Wege der Weitung anwenden wollte. Welches Tatbestandsmerkmal prüft man unter unmittelbarem Zurückgreifen auf Weitungsgesichtspunkte also? Wie formuliert man die einleitende Hypothese? Und wie verteilt sich die grundsätzlich von der positiven und negativen Formulierung von Rechtssätzen ausgehende Darlegungs- und Beweislast im Prozeß? Die Kritik an einem von Canaris geforderten Abschied vom Leistungsbegriff ist von Beginn an davon bestimmt gewesen, weiterhin dem Bedürfnis des Rechtsanwenders nach einem normativen Ansatzpunkt für die Fallösung durch Orientierung am Leistungsbegriff Rechnung zu tragen. So betont etwa Weyers gegenüber dem Vorschlag Canaris 4 schon in der ersten von ihm fortgeführten Auflage des Esser'sehen Schuldrechtslehrbuchs, daß natürliche keine Rede davon sein könne, „ohne weiteres von einem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal Abschied zu nehmen". Zu Recht überwiege daher die Meinung, daß dem Rechtsanwender mit dem Leistungsbegriff eine „verhältnismäßig einfache (,griffige') dogmatische Figur an die Hand gegeben ist, die es ermöglicht, in der täglichen Rechtsanwendung eine relativ hohe Zahl von Fällen durch mechanische Subsumtion von Sachverhalten unter diesen Begriff abschließend und angemessen zu entscheiden, ohne jedesmal alle entstehenden Zurechnungsprobleme ab ovo zu durchdenken". 311 Die Verwendung dieses auf die Masse der Durchschnittsfälle gemünzten Kriteriums sei „rationeller, als die ständige Anwendung eines komplizierten, auch in Ausnahmefällen selbst dies ist bestritten - ausreichenden Instrumentariums". Im Streit um den Leistungsbegriff habe man denn auch vielleicht teilweise übersehen, daß er gegenüber dem früheren Zustand noch ungleich größerer Rechtsunsicherheit einen Fortschritt gebracht habe. 312 „Daß [der Leistungsbegriff] nicht das non plus ultra ist", tut auch aus der Sicht von Reuter ! Martinek „seinem rechtspraktischen und übrigens auch akademisch-didaktischen Wert als ein ,kaum zu entbehrendes Hilfsmittel in der Darstellung und Argumentation4 kaum Abbruch 44 . 313 310 Die Tatsache, daß die Rechtsfindung am Syllogismus als einem Ideal der Rechtsfindung festhält, bedeutet gerade noch nicht, daß sich die Rechtsfindung losgelöst von Interessenbewertungen vollzieht, sondern daß in praktischer Hinsicht lediglich zwischen einfachen und schwierigen Interessenbewertungen unterschieden werden kann. Wo der Syllogismus praktiziert wird, zielt er auf die einfache Interessenbewertung. Vgl. hierzu und zu der verbreiteten Fehleinschätzung, die lnteressenjurisprudenz habe die Subsumtion verworfen, bereits oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 2. b). 311 Diese Beobachtung dient Stoll, in: Festgabe für Heck, Rümelin und Schmidt, S. 90 ff., dazu, auch auf dem Boden der Interessenjurisprudenz am Gedanken der Subsumtion festzuhalten. Vgl. hierzu oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 2. b) bb). 312 Zum Ganzen EsserI Weyers, Schuldrecht I I / 2 , 5. Aufl., § 48 I I (S. 39 f.); auf der gleichen Linie nach wie vor Esserl Weyers, Schuldrecht I I / 2 , § 48 III 1 c) (S. 47 f.). Zustimmend Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 4 II 5 c) (S. 115 f.).
2. Abschnitt: Systemorientierte und fallorientierte Ansätze einer Konsolidierung
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Der Blick in die heutige Literatur, vor allem in die Lehrbücher zum Bereicherungsrecht, bestätigt, daß diese Einschätzung realistisch war. So möchte etwa Medicus, auch wenn er durchaus unter dem Einfluß der Canaris' sehen Interessenanalyse bewußt darauf verzichtet, die richtigen Lösungen aus dem Leistungsbegriff selbst abzuleiten statt wertungsbestimmte Argumente zu verwenden, die Frage „vorsichtig bejahen", ob dieser Begriff gleichwohl nicht die erwünschte „Kurzformel" für die anders begründeten Ergebnisse sein könne. In den weitaus meisten Fällen träfen die Konsequenzen aus dem Leistungsbegriff zu. Zwar könne der Begriff die Lösung nur für diejenigen Fälle angeben, die bei seiner Formulierung berücksichtigt worden seien. Das sind aus der Sicht von Medicus aber weitaus die meisten Fälle. 314 Auch Loewenheim ist für eine Beibehaltung des Leistungsbegriffs, der jedoch dort, wo er nicht mehr zu eindeutigen und befriedigenden Ergebnissen führe, „durch materielle Wertungsgesichtspunkte ergänzt werden" müsse. 315 Wie ist vor diesem Hintergrund nun aber der neue Vorstoß Canaris ' zu beurteilen, mit dem Leistungsbegriff nicht ein dogmatisches Zentralkriterium überhaupt aufzugeben, sondern es lediglich durch ein anderes, nämlich das des kondiktionsauslösenden Mangels zu ersetzen? Tatsächlich werden die geschilderten methodologischen Bedenken hier nicht entkräftet. 316 Zunächst kann man nicht an der einfachen Beobachtung vorbeigehen, daß das Gesetz von „Leistung" spricht und nicht von einem kondiktionsauslösenden Mangel. Das ist durchaus nicht nur eine äußerliche Betrachtung. Vielmehr faßt sie das wohl grundlegende Problem dieses Ansatzes ins Auge, nämlich die fehlende Anbindung der Fallösung an die ohnehin bereits wenigen bereicherungsrechtlichen Tatbestandsmerkmale des Gesetzes. Ebenso wie beim unmittelbaren Zugriff auf Wertungsgesichtspunkte ist auch bei einem „kondiktionsauslösenden Mangel" nicht erkennbar, an welcher Stelle im Prozeß der Rechtsfindung dieses Kriterium anzuwenden ist. Das zeigt sich erneut, wenn man die Rechtssatzqualität des dogmatischen Zentralkriteriums „Leistungsbegriff 4 und die Rechtssatzqualität des dogmatischen Zentralkriteriums „kondiktionsauslösender Mangel" gegenüberstellt. Der Leistungsbegriff zerfällt in den Tatbestand „Jede bewußte und zweckgerichtete Ver313 ReuterIMartinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 4 I I 5 c) (S. 116), mit Verweis auf Wieling, JuS 1978, 801 (806). 314 Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 686. 315 Loewenheim, Bereicherungsrecht, S. 28; ähnlich Emmerich, BGB-Schuldrecht BT, § 18 Rz. 3; Schlechtriem, Schuldrecht BT, Rz. 685 f.; Fikentscher, Schuldrecht, Rz. 1081 ff. Weitgehend unter Zugrundelegung von Wertungsgesichtspunkten verfahren hingegen Koppensteiner I Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 6 (S. 24 ff.). 316 Worauf denn auch Canaris selbst einen Hinweis gibt, wenn er betont, daß die aus diesem neuen Zentralkriterium fließenden Hauptentscheidungsregeln „nicht lediglich eine rein deskriptive Verallgemeinerung von Ergebnissen darstellen], die unabhängig von ihnen gewonnen worden sind", vielmehr stünden sie „in genauer Entsprechung zu den zugrundeliegenden Wertungsgesichtspunkten", vgl. LarenzI Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 70 V I 3 b) (S. 250). Zu Canaris ' Vorschlag eines Ansetzens am Tatbestandsmerkmal „ohne rechtlichen Grund" vgl. unten 3. Abschnitt, II. 2. b) bb) (Fn. 380).
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
mehrung fremden Vermögens" und in die Rechtsfolge „ist eine Leistung i.S.v. § 812 I 1 1. Alt. BGB". Wie liegen die Dinge beim „kondiktionsauslösenden Mangel"? Die erste Beobachtung muß hier dahin gehen, daß Canaris den kondiktionsauslösenden Mangel selbst noch gar nicht als Regel bezeichnet, sondern stattdessen weitere „drei Hauptentscheidungsregeln" aus ihm entspringen läßt: „Bei Mängeln eines Kausal Verhältnisses findet die Leistungskondiktion zwischen dessen Parteien statt; bei Zurechenbarkeitsmängeln ist eine Direktkondiktion zwischen denjenigen Parteien gegeben, zwischen denen sich die Vermögens Verschiebung unmittelbar vollzogen hat; bei Gültigkeitsmängeln greift ebenfalls diese Direktkondiktion Platz, es sei denn, es liegen die Voraussetzungen für einen Rechtsscheinschutz analog §§ 932 BGB, 366 I HGB oder analog §§ 170 ff. BGB zugunsten des Erwerbers bzw. Zahlungsempfängers vor." 3 1 7 Die Rechtsfolge dieser drei Regeln liegt also darin, daß die Direktkondiktion zu versagen bzw. zu gewähren ist. Das ist nun allerdings durchaus eine andere Rechtsfolge als die des Leistungsbegriffs. Auf die Ebene der Hauptentscheidungsregeln nach Canaris gehoben, müßte der vergleichbare Rechtssatz zum Leistungsbegriff lauten: „Derjenige, der in einem Leistungsverhältnis zum Anspruchssteller steht, ist Bereicherungsschuldner". Auf der Ebene des kondiktionsauslösenden Mangels selbst müßte man hingegen formulieren: „Derjenige, der in einem vom kondiktionsauslösenden Mangel geprägten Verhältnis zum Anspruchssteller steht, ist Bereicherungsschuldner." Weshalb sollen die Sichtweise des Leistungsbegriffs und die Sichtweise des kondiktionsauslösenden Mangels aber einander ausschließen? Miteinander verbunden, könnte man die Hilfsnorm etwa wie folgt fassen: „Derjenige, der in einem Leistungsverhältnis zum Anspruchssteller steht, ist Bereicherungsschuldner, soweit der kondiktionsauslösende Mangel nicht im Verhältnis zu einem anderen liegt". Leistungsbegriff und kondiktionsauslösender Mangel übernehmen dann gleichermaßen die Funktion, die zugrunde liegenden Wertungsgesichtspunkte normativ zu erfassen. Der Leistungsbegriff würde dabei den Grundsatz aufstellen, während den drei Hauptentscheidungsregeln nach Canaris die Bedeutung zukäme, den zweiten Halbsatz des Rechtssatzes zu spezifizieren, also Ausnahmen zu dem Grundsatz aufzustellen, daß der Bereicherungsausgleich den Kausalverhältnissen folgt. Das würde auch der längst üblichen Praxis entsprechen, den Leistungsbegriff als „Faustformel" voranzustellen, um ihn ausnahmsweise unter Rückgriff auf Wertungsgesichtspunkte zu durchbrechen. Diese Zurückdrängung einer stetigen Bewußtmachung aller maßgeblichen Wertungsgesichtspunkte ist nun allerdings nicht die Linie von Canaris . Leistungsbegriff und kondiktionsauslösender Mangel bleiben bei ihm unverbunden nebeneinander stehen. Damit ist die Grundtendenz der Neukonzeption von Canaris keine andere als die seines berühmten Festschriftbeitrags für Larenz. Vermutlich wird diese Neukonzeption ihrerseits die Fortentwicklung der bereicherungsrechtlichen 317 Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 V I 3 a) (S. 250).
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
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Dogmatik nachhaltig inspirieren. Jedoch wird auch diese Inspiration vermutlich nur mittelbarer Natur sein. Wenn man denn eine Prognose wagen darf, so wird die Dogmatik den Leistungsbegriff auch nicht zugunsten eines Kriteriums „kondiktionsauslösender Mangel" verabschieden. Vielmehr dürfte sie versuchen, die von Canaris dargestellte Unterschiedlichkeit der kondiktionsauslösenden Mängel als Anknüpfungspunkte für eine Revision ihrer Ordnungsgefüge fruchtbar zu machen. Wenn Canaris daher abschließend betont, „daß auch der Student mit den - ζ. T. leider überaus komplexen und schwierigen - Problemen der Mehrecksverhältnisse nur zu Rande kommen kann, wenn er sich hinreichend in die maßgeblichen Wertungen hineingedacht und mit den wesentlichen Argumentationsmustern vertraut gemacht hat", 3 1 8 so soll mithin keineswegs die Erforderlichkeit eines solchen Hineindenkens in Wertungsgesichtspunkte bestritten werden. Dem Studenten wird dies aber nur gelingen, soweit die ihn hierbei unterstützende Dogmatik nach wie vor bemüht ist, ihn an geeigneten Stellen vom bewußten Nachvollziehen rechtlicher Wertungen durch geeignete Hilfsnormen zu entlasten. Es ist eben durchaus die Funktion der Dogmatik - um die Worte Stolls noch einmal aufzugreifen - , es dem Rechtsanwender zu ersparen, immer von neuem zu erarbeiten, was schon einmal gedacht wurde. Die Stärke des Leistungsbegriffs liegt darin, daß er in einer übergroßen Zahl von Fällen diese Funktion erfüllt, ohne ein Arbeiten mit Wertungsgesichtspunkten in den Prozeß der Rechtsfindung integrieren zu müssen.
Dritter Abschnitt
Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden der Rechtsfindung in der Entwicklung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik Die Betrachtung der einzelnen methodischen Ansätze zum Bereicherungsrecht macht deutlich, daß die Kritik der bereicherungsrechtlichen Dogmatik zu zwei unterschiedlichen Fragenkreisen Stellung nimmt. Zum einen widmet sie sich der Frage, wie der Rechtsanwender angesichts einer unüberschaubaren bereicherungsrechtlichen Dogmatik noch rationale Rechtsfindung im Bereicherungsrecht betreiben kann - wozu man der Intention nach auch die Absage der Rechtsprechung an schematische Lösungen zählen muß - , zum anderen stellt sie Überlegungen an, wie sinnvollerweise eine Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik zu erreichen ist. Damit widmet sich die Kritik aber zwei sehr unterschiedlichen, wenn auch eng zusammenhängenden Themen, nämlich zum einen den Fragen, die sich der Rechtsanwender stellt, und zum anderen den Fragen, die der Dogmatiker an sich selbst richten muß.
318 Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 VI 5 (S. 253).
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Die Fragen des Rechtsanwenders könnte man wie folgt formulieren: Wo finde ich eine Anspruchsnorm, die das Begehren des Anspruchsstellers rechtfertigt, und wo finde ich Hilfsnormen und Falltypen, die mir die einzelnen Tatbestandsmerkmale der in Erwägung gezogenen Anspruchsnorm verständlich und damit anwendbar machen? Die Dogmatik versucht Antworten auf diese Fragen zu geben, indem sie ein Ordnungsgefüge der Rechtssätze aufstellt und dem Rechtsanwender weiter dann auch die erforderlichen Hilfsnormen und Falltypen präsentiert. Um zu diesen Antworten zu gelangen, stellt sich die Dogmatik aber ihrerseits zuvor Fragen: Wie ist ein Ordnungsgefüge zu gestalten, das übersichtlich die Auswahl von Rechtssätzen ermöglicht? Zwischen welchen (neuartigen) Fallgestaltungen besteht ein Zusammenhang ähnlicher Begründung, so daß sich von einem Falltyp sprechen läßt, und läßt sich dieser Begründungszusammenhang möglicherweise sogar regelhaft als Rechtssatz neben anderen eines bestimmten Rechtsgebiets formulieren? In der gleichen Berechtigung beider Fragestellungen liegt der tiefere Grund für die ebenfalls gleiche Berechtigung auch der beiden methodischen Ansätze zum Bereicherungsrecht, die hier idealtypisch als systemorientierter und fallorientierter Ansatz gegenübergestellt wurden. Versteht man den Begriff der Methode in seiner ursprünglichen Bedeutung als das „Nachgehen" 319 , so stellt sich also nicht die Frage nach einem einzigen Weg, sondern die Frage, welchen Weg man an welchem Punkt einschlägt, um zu unterschiedlichen, aber je für sich bedeutsamen Zielen zu gelangen. Das zeigt nun aber, daß nicht schon der Gedanke einer Koexistenz unterschiedlicher Methoden der Rechtsfindung allein ausreichend für eine Bewältigung der hier ins Auge gefaßten Problematik sein kann, 320 sondern daß das Anliegen vor allem darin bestehen muß, eine zweckmäßige Gewichtung der einzelnen methodischen Ansätze für eine Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik zu skizzieren. Damit zielt aber auch der Begriff der Rechtsfindung auf zwei unterschiedliche Bereiche ab. Zunächst ist hier ohne Zweifel die Tätigkeit des Rechtsanwenders angesprochen, Rechtssätze auszuwählen, zu verstehen und anzuwenden. Als Rechtsfindung läßt sich dann aber auch die durchaus schöpferische Tätigkeit der Dogmatik begreifen, neue Rechtssätze zu entwickeln und in das tradierte Ordnungsgefüge einzupassen (das auf diese Weise selbst fortentwickelt wird). 3 2 1 Die abschließend zu entwickelnde These geht dahin, daß systemorientierte und fallorientierte Methoden der Rechtsfindung zwar sowohl für Rechtsanwender wie für die Dogmatik von Bedeutung sind, aber jeweils mit entgegengesetztem Schwerpunkt. Vereinfacht ausgedrückt, versucht der Rechtsanwender (jedenfalls in einem kodifizierten Recht wie dem deutschen Zivilrecht), über das System zum 319 Zu dieser Wortbedeutung näher oben 2. Teil, 1. Abschnitt, III. (Fn. 194). 320 Hierzu oben 2. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. b) cc). 321 Zur Qualifizierung von Rechtsfindung als schöpferischer Tätigkeit vgl. Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 120, mit Blick auf die in der Abwägung von Gründen liegende eigenverantwortliche Mitwirkung des Richters.
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
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Einzelfall vorzudringen, während die Dogmatik sich bemüht, vom Falltyp zum System bzw. dessen Verbesserung zu gelangen. Daraus lassen sich für die Frage einer Konsolidierung der Dogmatik zwei Schlüsse ziehen. Zum einen wird die auch heute noch grundlegende Systemorientierung der Rechtsanwendung außer acht gelassen, wenn die Dogmatik dem Rechtsanwender eine fallorientierte Methode der Rechtsfindung empfiehlt (I.). Umgekehrt ist es aber auch wenig zweckmäßig, der Dogmatik nun ihrerseits zu empfehlen, den Schwerpunkt ihrer Arbeitsweise von einer fallorientierten auf eine systemorientierte Methode zu verlagern. Rechtssätze, ebenso wie ein System von Rechtssätzen, können sich nicht aus sich heraus entwickeln, sondern nur über Fälle und Interessenanalysen (II.).
I. Die Bedeutung systemorientierter Methoden der Rechtsfindung für die Anwendung des Bereicherungsrechts Blickt man zunächst auf die Arbeitsweise des Rechtsanwenders, so beharren die systemorientierten Ansätze zum Bereicherungsrecht auf der Maßgeblichkeit eines Ordnungsgefüges für das Auswählen von Rechtssätzen, während die fallorientierten Ansätze dafür plädieren, angesichts eines als untauglich oder gar als fehlend empfundenen Ordnungsgefüges bereicherungsrechtlicher Rechtssätze Rechtsfindung als Interessenabwägung im Einzelfall zu betreiben. Die Frage, ob der Rechtsanwender systemorientiert vorgeht, oder ob er sich im Gegenteil jede „schematische Lösung" verbietet, ist nun eigentlich aber keine Frage juristischer Dogmatik, sondern eine Frage der juristischen Methodenlehre und kann für das deutsche Zivilrecht auch als auf längere Sicht entschieden gelten. 322 Wie hier nicht erneut darzulegen ist, steht das moderne Zivilrecht unter einem deutlichen Einfluß der Interessenjurisprudenz. Das ändert jedoch nichts daran, daß in der zivilrechtlichen Rechtsfindung auch während des gesamten 20. Jahrhunderts nicht darauf verzichtet wurde, an geeigneter Stelle deduktiv mit Ableitungszusammenhängen zu arbeiten, und daß zu diesem Zweck auch heute nach wie vor systematische Einteilungen und Begriffe aufgegriffen werden, deren Tradition über die Epoche einer Begriffsjurisprudenz oder einer analytischen Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts sehr viel tiefer in die Historie zurückreicht. 323 Auch wenn also das erkenntnistheoretische Argument berechtigt ist, daß im bloßen Ableitungszusammenhang gerade nicht die eigentliche substantielle Begründung zur Entscheidung eines Interessenkonflikts gefunden werden kann, 324 so setzt 322 Daß eine Beschränkung auf das deutsche Recht erforderlich ist, lehrt der Blick auf die englische Rechtskultur, die einen anderen Weg geht, vgl. unten, Ausblick. Zu den Möglichkeiten einer Abgrenzung juristischer Methodenlehre und juristischer Dogmatik näher oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 323 Zur Historie insbesondere eines äußeren und inneren zivilrechtlichen Anspruchssystems vgl. oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. Zur historischen Dimension speziell des Bereicherungsrechts oben 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 32 4 Ausführlicher oben 2. Teil, 1. Abschnitt, I. 3., II. 17 Gödicke
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
die zivilrechtliche Anspruchsprüfung doch bis heute unausweichlich an einer Anspruchsgrundlage an. Den Studienanfänger lehrt man dabei nicht, seinen Blick zwischen den einzelnen Tatbestandsmerkmalen dieser Anspruchsnorm und dem Sachverhalt „hin- und herwandern" zu lassen.325 Vielmehr lehrt man ihn im Ausgangspunkt Definitionen, mit denen er die Prüfungsschritte im Wege einer Subsumtion aufgrund einfacher Wertung vollziehen kann. 326 Das gelingt freilich nur deshalb, weil in den meisten Fällen Prüfungsschritte überwiegen, die aufgrund ihrer Einfachheit dem Rechtsanwender häufig schon gar nicht ins Bewußtsein dringen. Selbstverständlich stößt diese Methode der Rechtsanwendung also auf ihre Grenzen, wo eine Ordnung von Rechtssätzen zweifelhaft wird, auszuwählende Rechtssätze nur noch in sehr abstrakter Gestalt oder schließlich auch gar nicht mehr existieren. Das ändert aber nichts daran, daß diese Art der Rechtsanwendung als Ideal weiterhin bestehen bleibt und mit dieser notwendigen Relativierung auch bestehen bleiben kann. Das hat jedoch zur Konsequenz, daß umgekehrt das interessenabwägende fallorientierte Vorgehen, ebenfalls freilich nur dem Ideal nach, zur methodischen Ausnahme der Rechtsfindung wird. Gemeint sind Fälle, in denen der Rechtsanwender auch nach Konsultation von Rechtswissenschaft, Rechtslehre oder Rechtsprechung (also der juristischen Dogmatik) keine passenden Falltypen und Hilfsnormen für die Fallösung findet. Er muß nun selbst passende Falltypen oder Hilfsnormen entwickeln, und man kann ihn in dieser Perspektive vereinfacht geradezu als einen Notgeschäftsführer der Dogmatik begreifen, die ihn mit entsprechenden Vorschlägen im Stich läßt. Die gesamte Kritik am Bereicherungsrecht speist sich im Grunde aus dem Unbehagen, daß man dem Rechtsanwender nicht die Rolle beläßt, Dogmatik anzuregen und kritisch zu prüfen, sondern ihm selbst Tätigkeiten aufbürdet, die eigentlich von der Dogmatik zu verrichten wären, zu denen diese sich aber ihrerseits außerstande sieht. Das berechtigte Anliegen der systemorientierten Ansätze zum Bereicherungsrecht besteht mithin darin, stets von neuem darauf aufmerksam zu machen, daß die Dogmatik die Idealvorstellung einer Rechtsanwendung durch Subsumtion nicht aus dem Blick verlieren darf. Wenn diese Ansätze auch fallorientierten Methoden der Rechtsfindung eine Bedeutung konzedieren, so ist dies also nicht inkonsequent, sondern geschieht unter Betonung eines Ausnahmecharakters dieser Methoden. Auch der Weg, sich über einen Rechtssatz (einen „Begriff 4 ) an ein Ergebnis heranzutasten, um es möglicherweise noch in einem zweiten Schritt durch Heranziehung 325 Um noch einmal - pars pro toto für die vielen vermittelnden Lösungen zum Subsumtionsmodell - die besonders plastische Formulierung Engischs aufzugreifen, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 15. 32 6 Ausführlicher oben, 2. Teil, 2. Abschnitt. Anschaulich Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 101: „Nach dem die - theoretische - Unmöglichkeit der Subsumtion dargetan ist, ergeht an den Studenten fast ohne Anstandsfrist die Aufforderung: Subsumieren Sie!'". Die gleiche Beobachtung zum akademischen Unterricht schildert Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 2.
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
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von Wertungen zu korrigieren, betont zunächst lediglich dieses Regel-AusnahmeVerhältnis von systemorientierter und fallorientierter Rechtsfindung. 327 Der BGH verbietet sich eine schematische Lösung eben erst in zweiter Hinsicht, nachdem er festgestellt hat, daß das begrifflich ermittelte Ergebnis unbefriedigend bleibt. 328 Auch der Qualifizierung von Hilfsnormen als „Faustformeln" liegt die Überlegung zugrunde, in einem zweiten Schritt eine fallorientierte Vorgehensweise für erforderlich zu halten. Hier wird die Notwendigkeit ergänzender Interessenerwägungen bereits auf einer sprachlichen Ebene zum Ausdruck gebracht. 329 Kann ein systemorientierter Ansatz zum Bereicherungsrecht mithin auf der Ebene der Rechtsanwendung das Hauptgewicht beanspruchen, so kehrt sich dieses Verhältnis nun mit Blick auf die Dogmatik um. Die Dogmatik muß das tradierte System der Rechtssätze zwar stets vor Augen haben. Die Entwicklung der Dogmatik kann aber nicht aus dem System selbst heraus erfolgen, sondern muß am Fall als Entwicklungsmoment ansetzen.
II. Die Bedeutung fallorientierter Methoden der Rechtsfindung für die Entwicklung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik Werden die Dinge nun aber nicht auf den Kopf gestellt, wenn man von einer Systemorientierung der Rechtsanwendung spricht und von einer Fallorientierung der Dogmatik? Ist es nicht der Rechtsanwender, der sich mit Fällen beschäftigt, und die Dogmatik, die sich mit einem rechtlichen Ordnungsgefüge auseinandersetzt? In der Tat bedarf der Gedanke noch schärferer Konturen. Zu einer ersten Orientierung kann man ihn dahin präzisieren, daß sich die Rechtsanwendung selbstverständlich dem Fall als ihrem Gegenstand widmet, wie sich umgekehrt die Dogmatik dem System der Rechtssätze zuwendet. So wie dem Rechtsanwender eine rationale Fallösung aber nur gelingt, wenn er sich dem Fall über das System nähert, gelingt der Dogmatik eine Rationalisierung rechtlicher Konfliktentschei327
Kritisch vor allem Kupisch, JZ 1997, 213, der diesem Ansatz vorhält, mit seinen Inkonsistenzen zu leben, anstatt dem Übel auf den Grund zu gehen. Ausführlicher zum gesamten Meinungsspektrum oben 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 328 Bei näherer Hinsicht erfolgen dann aber auch die sich daran anschließenden Fallerwägungen des BGH kaum in einer wirklich „freien" Weise. Der BGH stellt seinen Erwägungen vielmehr häufig ein umfangreiches Referat seiner bisherigen Rechtsprechung voraus, um aus diesen Präjudizien gleichsam ein eigenständiges Ordnungsgefüge zu entwickeln, aus dem sich dann auch die Lösung des vorgelegten Falles ergeben kann. Diese Technik kann im Bereicherungsrecht unter methodologischen Gesichtspunkten noch nicht als hinreichend gewürdigt gelten. Ein prägnantes Beispiel für eine derartige „Präjudizienerzählung" gibt BGHZ 111, 382 (384 ff.), wo der BGH die Frage aufwirft, wie der Bereicherungsausgleich vorzunehmen ist, wenn von vornherein eine wirksame Anweisung fehlt. Die gleiche Technik läßt sich in nahezu jedem der dort genannten Urteile wiederfinden. 32 9 Vgl. oben (Fn. 162 f.). 17*
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
dung nur dann, wenn sie sich dem System über den Fall nähert. 330 Man sollte das Ziel also nicht mit dem Weg verwechseln. Der Gedanke läßt sich - mit Blick auf das Bereicherungsrecht - verdeutlichen, wenn man zunächst versucht, der Gegenthese etwas weiter nachzugehen, wonach die Dogmatik das bestehende Ordnungsgefüge (zumindest auch) auf systemorientierte, begrifflich-deduktive Weise fortbilden kann (1.). Intensiver eingegangen werden soll dann aber vor allem auf die hier aufgestellte These von einer dem Schwerpunkt nach fallorientierten Entwicklung bereicherungsrechtlicher Dogmatik (2.).
1. Zur Schwäche einer systemorientierten Entwicklung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik Das wohl bedeutendste Beispiel einer systemorientierten Fortbildung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik liegt in der Gliederung der Kondiktionen in Leistungskondiktion und Nichtleistungskondiktionen. Mit dem Begriff der Nichtleistungskondiktion wird das logische Pendant zur Leistungskondiktion gebildet, so daß hierunter nun alle Fallgestaltungen fallen, in denen keine Leistungskondiktion gewährt werden kann. Wie problematisch dieser Gliederungsversuch ist, indem der Begriff der Nichtleistungskondiktion nun sowohl auf Fallgestaltungen zugreift, die einem Zuwendungsgeschehen entspringen, wie auf Fallgestaltungen, die ein Eingriffsgeschehen darstellen, ist oben bereits näher ausgeführt worden. Inhaltliche Substanz findet der Begriff im Grunde nur als Gegenbegriff zur Leistungskondiktion. Mit dem „oder" in § 812 I 1 BGB wird dann eine echte Alternative beschrieben (nämlich die zwischen Zuwendung nebst Leistungsintention und Zuwendung ohne Leistungsintention), während der Begriff, soweit er auf die Eingriffskondiktion zugreift, auf Fallkonstellationen abzielt, die zu einem Zuwendungeschehen nicht in einem Alternativverhältnis stehen, sondern in gar keinem Verhältnis. 331 Ebenfalls zunächst eine logische Aussage ist es, daß derjenige, der einen Gegenstand durch Leistung weggegeben hat, ihn nicht sowohl im Wege der Leistungskondiktion wie auch im Wege einer Nichtleistungskondiktion soll zurückverlangen 330 Auf dieser Linie bereits Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 267 ff. Esser zitiert (S. 267) eine alte Einsicht aus den Digesten, D. 50, 17, 1: non ex régula ius sumatur, sed ex iure quod régula est fìat - aus der Regel wird nicht das Recht abgeleitet, sondern aus dem vorhandenen Recht wird eine Regel gebildet. 331 Vgl. oben 3. Teil, 1. Abschnitt, III. 3. Sprechen hingegen nicht bereits die sogenannten Einbaufälle möglicherweise doch gegen eine solche These? Tatsächlich stehen Zuwendungsgeschehen und Eingriffsgeschehen in diesen Fällen aber nicht in einem alternativen, sondern gegebenenfalls lediglich in einem kumulativen Verhältnis. Ahnlich wie hier Esser ! Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 3. a) (S. 35), der ebenfalls von einer „Zweiteilung" des Bereicherungsrechts ausgeht, seine Gegenüberstellung von Leistungskondiktion und Nichtleistungskondiktion aber nicht dahin mißverstanden wissen möchte, „als gehe es um zwei gleichrangige einander gegenüberstehende und jeweils in sich homogene Teile eines Systems".
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
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können. Umgekehrt darf ein Empfänger nicht sowohl einem Bereicherungsgläubiger aus Leistungskondiktion haften wie zugleich einem weiteren Bereicherungsgläubiger aus Nichtleistungskondiktion. Abstrakter gewendet, soll der Bereicherungsgläubiger den Gegenstand nur einmal fordern können, der Bereicherungsschuldner ihn auch nur einmal zurückgewähren müssen. Läßt sich daraus aber bereits die verbindliche Regel ableiten, daß derjenige, der einen Gegenstand durch Leistung weggegeben hat, den Gegenstand nicht im Wege der Nichtleistungskondiktion heraus verlangen darf bzw. daß derjenige, der einen Gegenstand durch Leistung erlangt hat, den Gegenstand auch nur im Wege der Leistungskondiktion herausgeben muß? Tatsächlich wird eine solche zunächst stringent erscheinende Hilfsnorm seit langem unter Heranziehung von Wertungsgesichtspunkten beträchtlich relativiert. 332 Der heuristische Wert einer am bestehenden System der Rechtssätze selbst sowie an den sprachlich-logischen Verknüpfungsmöglichkeiten einzelner Tatbestandsmerkmale ansetzenden Technik der Fortentwicklung von Dogmatik soll nun durchaus nicht gänzlich abgestritten werden. Es wird aber deutlich, daß jede Systembildung, Gliederung oder Ordnung von Rechtssätzen ohne Bezug auf die dahinter liegenden Fälle keinen Sinn erhält. Schon das Bedürfnis, einen weiteren Oberbegriff wie den der Nichtleistungskondiktion zu bilden, entspringt ja der Einsicht, daß die mit den herkömmlichen Begriffen bezeichneten Fallgruppen so unterschiedlich sind, daß sie sich erst auf einer weiteren Abstraktionsstufe vereinen lassen. Damit wird aber in Wahrheit auch hier die Unterschiedlichkeit von Fallgruppen zum eigentlichen Antriebsmotor der dogmatischen Begriffsbildung. Dann inspiriert aber nicht diese Begriffsbildung selbst die Fortentwicklung von Dogmatik, vielmehr kann diese Begriffsbildung Entwicklungen der Dogmatik lediglich widerspiegeln, die stets vom Fall her inspiriert sind.
2. Zur Orientierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik am Fall als Entwicklungsmoment eines Systems von Rechtssätzen Mit der These einer notwendigen Fallorientierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik wird der oben noch losgelöst vom Bereicherungsrecht entwickelte Gedanke aufgegriffen, daß der Fall das zentrale Entwicklungsmoment juristischer Dogmatik darstellt. 333 Mit der Betrachtung von Fällen und daran anknüpfend von Falltypen und Schulbeispielen steht man gewissermaßen in der Kinderstube der Dogmatik. Die Technik dieser Entwicklung liegt dabei zunächst im Herstellen von Ahnlichkeitsbeziehungen zwischen Fällen, um auf diese Weise allmählich einen typischen Fall (oder Falltyp) herauszubilden. In einem zweiten Schritt wird dann 332 Vgl. oben, Fn. 163, sowie bereits oben, Einführung, Fn. 17. Diese logische Alternative legt Wallmann ihren Überlegungen zugrunde, Die Geltung des Subsidiaritätsgrundsatzes im Bereicherungsrecht, S. 32 ff. 333 Hierzu eingehend oben 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 2.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
angestrebt, die gleiche Entscheidung dieser ähnlichen Fälle als Rechtsfolge einer Hilfsnorm zu begreifen, die in ihrem Tatbestand dann schließlich kurzgefaßt das Eintreten der Rechtsfolge begründet. Um noch einmal das Beispiel zum erlangten „etwas" aufzugreifen: 334 Die Fälle der unbefugten Nutzung fremder Grundstücke oder eines fremden Bildes wurden gleichermaßen dahin entschieden, daß Bereicherungsausgleich in Höhe eines angemessenen vertraglichen Entgelts verlangt werden konnte. Die Rechtsfolge einer von diesem Falltyp aus für das Tatbestandsmerkmal „etwas" zu bildenden Hilfsnorm mußte also lauten „ist ,etwas' i. S. d. § 812 I 1 BGB". Als Begründung konnte schließlich der Satz formuliert werden: „Eine rechtliche oder tatsächliche Position, für deren Erwerb man unter normalen Umständen - meist in der Form eines Entgelts - ein Vermögensopfer zu bringen hat, besitzt einen positiven Vermögenswert", deshalb ist sie also „etwas" i. S. d. § 812 I 1 BGB. Diese Abstraktionsleistung ist unausweichlich ein fall vergleichender Prozeß. Dem Juristen wird diese Technik nahegebracht, indem man ihn den Sinn eines Rechtssatzes zunächst am Schulfall lehrt, der gar nicht plastisch genug sein kann, um die Grenzen zu zeichnen, an denen sich die Ab-Grenzung von Sonderfällen zu reiben hat. Diese Fallorientierung wird auch in der Zukunft der bereicherungsrechtlichen Dogmatik von Bedeutung bleiben. Zu welchen inhaltlichen Ergebnissen dies im einzelnen führen wird, läßt sich hier freilich nicht voraussagen, sondern muß der materiellrechtlichen Diskussion überlassen bleiben. In der hier angestellten methodologischen Reflexion kann es nur darauf ankommen, die Bedeutung dieser Fallorientierung für die Vergangenheit etwas deutlicher zu beleuchten (a), um von hier aus ihre behauptete Bedeutung für die zukünftige Entwicklung des Bereicherungsrechts, insbesondere für die Dogmatik der Dreipersonenkonstellationen, in möglichen Umrissen zu skizzieren (b).
a) Die Fallorientierung der bereicherungsrechtlichen in der Vergangenheit
Dogmatik
Eine fallorientierte Methode der Regelbildung dürfte in der Vergangenheit am konsequentesten in den von v. Caemmerer inspirierten und geförderten Untersuchungen Königs zum Bereicherungsrecht verfolgt worden sein. So nennt König, gemeinsam mit v. Caemmerer, die Grundidee für einen rechtsvergleichenden Band zum Bereicherungsrecht, „das Bereicherungsrecht im Wege einer Typologie der Anwendungsfälle zu erfassen". Angeknüpft wird insoweit ausdrücklich nicht nur an die vorangegangen Untersuchungen v. Caemmerers, sondern auch an die Schriften von Wilburg und Dawson zum Bereicherungsrecht. 335 Jeder Typ sei 334 Vgl. hierzu oben 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 1. b). 335 v. CaemmererI König, in: Internationale Enzyklopädie der Rechtsvergleichung, Band X, Restitution, Ungerechtfertigte Bereicherung und Geschäftsführung ohne Auftrag, Gliederungsvorschlag und Memorandum, Vorwort, S. 2, unter Verweis insbesondere auf v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 ff.; Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung; Dawson, Unjust Enrichment. A Comparative Analysis.
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
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durch die besonderen Gründe charakterisiert, die das Urteil über die Ungerechtfertigtheit der Bereicherung tragen, so daß „die Lebensverhältnisse (factual situations) und deren rechtliche Beurteilung" im Mittelpunkt stehen müßten. 336 Die umfangreichen Vorarbeiten zu dieser Studie haben König dann angeregt, in seiner Habilitationsschrift rechtsvergleichend (aber mit deutlichem Schwerpunkt auf dem deutschen Recht) eine umfassende Untersuchung über die Tatbestände und die Ordnungsprobleme der ungerechtfertigten Bereicherung anzufertigen. 337 König spricht hier offen von der „Erkenntnis der fallrechtlichen Natur des heutigen Bereicherungsrechts" 338 und belegt dies durch eine schon in ihrem zeitlichen Rahmen seither nicht mehr übertroffenen Analyse der Rechtsprechung des zwanzigsten und neunzehnten Jahrhunderts. Noch bewußter in den Vordergrund rückt König die Judikatur (vor allem des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs) dann in seinem Gutachten über eine Neuordnung des Bereicherungsrechts, das er im Auftrag des Bundesministers der Justiz erstellt hatte, und in dessen Rahmen er schließlich in Abstraktion von einzelnen Falltypen auch einen ausführlichen Gesetzesvorschlag unterbreitet. 339 Blickt man sehr viel weiter in die Vergangenheit zurück, so zeigt sich freilich, daß das Bereicherungsrecht seit jeher immer wieder unterschiedlichen Akzentsetzungen ausgesetzt gewesen ist, die mal mehr am Fall, mal mehr am Rechtssatz ansetzten. Nur ganz wenige, besonders markante Entwicklungspunkte seien herausgegriffen. So ist bereits das römische Recht zunächst von der condictio als einer besonderen Verfahrensart ausgegangen, um in der nachklassischen Zeit dann einzelne materiellrechtliche Kondiktionen herauszubilden, denen dann allerdings wiederum eine schulmäßige Verallgemeinerung folgte, wie sie heute vor allem mit dem Satz des Pomponius in Verbindung gebracht wird. 3 4 0 Nach dem erneuten Vorherrschen von Einzeltatbeständen kehrte man dann unter dem Einfluß des Naturrechts des 18. Jahrhunderts wieder zu einem allgemeinen Anspruch wegen nützlicher Verwendungen und wegen ungerechtfertigter Bereicherung zurück, indem die Maxime des Pomponius nun an die Spitze gestellt wurde. 341 Erneut war es dann 336
v. CaemmererI König, in: Internationale Enzyklopädie der Rechtsvergleichung, Band X, Restitution, Ungerechtfertigte Bereicherung und Geschäftsführung ohne Auftrag, Gliederungsvorschlag und Memorandum, Vorwort, S. 2 f. Fortgeführt wird dieses Werk in jüngster Zeit durch Schlechtriem, Restitution und Bereicherungsausgleich in Europa, der sich allerdings gegenüber seinem Lehrer v. Caemmerer bewußt auf eine rechtsvergleichende Betrachtung der europäischen Rechtskreise beschränkt. 337 Vgl. König, Ungerechtfertigte Bereicherung. Die Schrift wurde bereits 1976 fertiggestellt, erschien aber erst 1985, ein Jahr nach dem Tod Königs. 338 König, Ungerechtfertigte Bereicherung, S. 15. 339 König, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band II, S. 1515 (1525 ff., 1522 ff.). 34
0 Vgl. hierzu bereits oben Teil 3, 1. Abschnitt, II. 2. a) und 1. a). Das Vorherrschen einzelner Tatbestände oder eines Generaltatbestands in der Zeit zuvor läßt sich allerdings schwer näher aufhellen. Weitgehend dürfte hier aber angesichts der Unbrauchbarkeit eines abstrakten Bereicherungsgedankens mit einer Konkretisierung in Fall341
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
das Ziel Savignys, das Pandektenrecht seiner Zeit von dem kasuistischen Denken in kondiktionsrechtlichen Fallgruppen zu befreien. 3 4 2 I m Teilentwurf v. Kübels zum 1. Entwurf des BGB überwiegen dann jedoch wiederum einzelne Tatbestände für ein Bereicherungsrecht; 343 noch der erste Entwurf zum B G B baute wesentlich hierauf a u f . 3 4 4 Unter dem Eindruck der Kritik v. Gierkes und Lenels kehrt der Gesetzgeber dann allerdings i m 2. Entwurf das Verhältnis von Einzeltatbeständen und allgemeinem Grundsatz wieder um, woraus die heutige Voranstellung der allgemein gehaltenen Vorschrift des § 812 I 1 B G B resultiert. 3 4 5 Bemühte man sich in der Folgezeit in den älteren Einheitslehren dann zunächst um eine allgemeine Erfassung des Bereicherungsgedankens, wandte sich die Dogmatik mit den Schriften Wilburgs und v. Caemmerers wieder Einzeltatbeständen oder Typen der Bereicherungsfälle zu. Die „neuere" Einheitsbewegung nahm das zum Anlaß, sich erneut für ein einheitliches Verständnis des § 812 I 1 BGB einzusetzen und sieht sich damit ihrerseits wieder, bis heute, der Kritik ausgesetzt. 346 gruppen gearbeitet worden sein. Vgl. insoweit Reuter I Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 1 I 2 (S. 10 f.); Kupisch, in: Unjust enrichment (1995), S. 237 ff.; Zimmermann/du Plessis, RLR 1994, 14 ff. 342 Vgl. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Fünfter Band, S. 511: „Betrachten wir die Fälle, in welchen Condictionen unzweifelhaft anwendbar sind, so erscheinen uns diese auf den ersten Blick höchst mannichfaltig; dennoch lassen sich dieselben auf ein sehr einfaches Princip zurück führen, welches sich durch bloße organische Bildungskraft zu jener Mannichfaltigkeit entfaltet hat, fast ohne Eingriff der Gesetzgebung. Es finden sich nur sehr wenige, aus dem Princip nicht abzuleitende, also ganz positive Zusätze; diese aber sind nicht nur so unbedeutend, sondern auch als bloße Ausnahmen so bestimmt und deutlich in unsren Rechtsquellen anerkannt, daß sie die Wahrheit des Princips vielmehr bestätigen, als zweifelhaft machen." Vgl. hierzu auch ReuterIMartinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 1 I 3 (S. 11 ff.). 343 Unter Voranstellung der condictio indebiti als zentralem Bereicherungsfall in § 1. Vgl. v. Kübel, in: Recht der Schuldverhältnisse, Teil 3, BT II, S. 655 ff. Ganz entgegen der Auffassung Savignys ist v. Kübel der Auffassung, man solle sich „davor hüten, diese Fälle unter eine allgemeine Regel etwa des Inhalts bringen zu wollen, daß diese Kondiktion [Rückforderung wegen grundlosen Habens, §§ 23 ff. im Entwurf v. Kübels] überall da stattfinde, wo der Erwerb oder die Bereicherung des Rechtsgrundes entbehre, aber im einzelnen Falle keiner der anderen Kondiktionsgründe stattfinde." Eine solch allgemeine Regel wäre zudem „von so zahlreichen Ausnahmen durchbrochen, daß mit ihr für die Rechtsanwendung nur Verwirrung und Unsicherheit geschaffen würde." Vgl. v. Kübel, in: Recht der Schuldverhältnisse, Teil 3, BT II, S. 655 (738). Auf die Bedeutung Windscheids in den Arbeiten der 1. Kommission weist Schubert hin, SZ RA 92 (1975), 186 ff., der in einer Synopse dem Teilentwurf v. Kübels den Gegenentwurf Windscheids gegenüberstellt. 344 Vgl. Mot. II, S. 829 ff. 345 Vgl. zur Begründung dieser Umstellung durch den Gesetzgeber bereits oben, 1. Teil (Fn. 68). Der versuchte gesetzliche Kompromiß zwischen Generalklausel und Einzeltatbeständen gilt heute freilich weitgehend schon angesichts der praktisch geringen Bedeutung der geregelten Einzeltatbestände als mißlungen, vgl. insbesondere Esser I Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 3. a) (S. 34 f.), sowie bereits oben 1. Teil, II. 1. 346 Entgegengestellt haben sich dieser neuen Einheitsbewegung insbesondere Reuter/ Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, mit ihrem trichotomen Kondiktionensystem (vgl. oben Fn. 119), aber auch die fallorientierte Analyse und Ordnung des Bereicherungsrechts in
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
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Inhaltlich betrafen die immer wiederkehrenden Einzeltatbestände dabei weitgehend nur die Fälle der Leistungskondiktion. Die Eingrenzung sachlicher Entscheidungskriterien zur Eingriffskondiktion ist hingegen eine Leistung, die in dieser Deutlichkeit erst erfolgen konnte, nachdem sich das BGB mit seinen einzelnen Anspruchsnormen auch systematisch festgelegt hatte. Was sich durch Deliktsanspriiche und Vindikation, aber auch durch einzelne Regelungen der Surrogation oder des Verwendungsersatzes nicht mehr erfassen läßt, gibt der Eingriffskondiktion im Grunde erst ihren sinnvollen Anwendungsbereich vor. Dazu gehörte dann auch, einzelne Gesichtspunkte für die Eingriffskondiktion auszuscheiden, so trotz Nähe vieler Fälle zum Deliktsrecht insbesondere das Erfordernis der Widerrechtlichkeit einer Handlung oder das Erfordernis einer Handlung überhaupt. Mit der Widerrechtlichkeit einer Handlung war also schon unter systematischen Gesichtspunkten das falsche tertium comparationis zu den Eingriffsfällen herausgegriffen, weil damit der deliktische Haftungsmaßstab in das Bereicherungsrecht hinein verlängert wurde. Ließen sich dem Recht der Leistungskondiktion und dem der Eingriffskondiktion damit für wichtige Fallbereiche Konturen verleihen, so bildeten schließlich vor allem die Dreipersonenkonstellationen den Hauptgegenstand der dogmatischen Arbeit. Mit der Heranziehung von „drei Personen" als Charakteristikum hat die Dogmatik dabei das denkbar abstrakteste tertium comparationis einer Fallkonstellation gewählt, mit dem eigentlich jeder Bezug zum Bereicherungsrecht abgeschnitten wäre, hätte man sich nicht stillschweigend darauf verständigt, den Begriff ausschließlich im Bereicherungsrecht zu verwenden. Mit der Annahme eines eigenständigen Fallbereichs war dann auch die Methodik der Vorgehensweise für die Dogmatik schon weitgehend vorgezeichnet. So wie die oberste Einteilung als Problemgebiet typologischer Natur war, wurden nun auch alle weiteren Unterfallgruppen und Entscheidungsregeln im Wege einer Typologie gebildet. Dieser Ansatz, den vor allem v. Caemmerer fruchtbar gemacht hat, 3 4 7 hat sich dann allerdings für die Folgezeit durchaus nicht nur als segensreich erwiesen. Problematisch einzuschätzen dürfte vor allem die Reichweite sein, die v. Caemmerer einer Typologie von Bereicherungsfällen beigemessen hat und an der sich auch das heutige Schrifttum weithin orientiert. 348 So betont v. Caemmerer, er wolle nicht behaupten, „daß mit den geschilderten Typen [ . . . ] der Umfang der Bereicherungsklage ausgeschöpft sei, und zwar auch dann nicht, wenn man die Spezialisierungen jener Grundtypen hinzunimmt". 349 Auch wenn die von ihm aufgeführten Typen den genannten Schriften Königs (oben Fn. 336 ff.). Vgl. zum Ganzen auch bereits oben, Einführung, sowie 1. Teil, II. 1. 347 v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 ff. Mit seiner grundlegenden Unterscheidung zweier Fallbereiche praktizierte allerdings auch schon Wilburg (in den Zweipersonenverhältnissen) eine Typologie von Bereicherungsfällen, vgl. hierzu bereits oben 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 2. 348 Vgl., mit Blick auf die Darstellungspraxis zu den Dreipersonenkonstellationen, oben 3. Teil, 1. Abschnitt, III. 2. 349 v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (251).
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
den Kreis der in der Praxis anerkannten Fälle wohl im ganzen vollständig umschrieben, so sei es doch „das Wesen eines Generaltatbestandes, wie wir ihn in § 812 BGB vor uns haben, daß er für neue Sachverhalte, die das Leben bietet, offen bleibt, wobei sich freilich neue Typen, wie das bei der Fortbildung des Deliktsrechts nicht anders ist, gegenüber den bestehenden Tatbeständen und den in ihnen liegenden Wertungen und auch Begrenzungen des Bereicherungsanspruchs zu legitimieren haben würden 4 '. 350 Läßt sich aber tatsächlich „nur mit einer solchen Typologie [ . . . ] dem Bereicherungsanspruch Form und Grenze geben"? 351 Das Hauptdefizit einer weiten Typologie zum Bereicherungsrecht besteht aus methodologischer Sicht darin, daß sie, bei allen subtilen Einzelbeobachtungen, die beiden Leittypen einer Bereicherung durch Leistung und durch Eingriff - die auch bei v. Caemmerer in diesen Rang gehoben werden - 3 5 2 gerade nicht mehr in ein praktikables Verhältnis zu den Einzeltypen weiterer Bereicherungsfälle setzt. So werden nicht nur mit den Typen Rückgriff und Verwendung zwei Falltypen niedrigerer Abstraktionshöhe auf eine gleiche Stufe mit den beiden Leittypen Leistung und Eingriff gerückt. 353 Vielmehr ist v. Caemmerer offenbar bereit, eine prinzipiell unbegrenzte Zahl weiterer Falltypen unterschiedlicher Abstraktionshöhe gleichrangig einzureihen. 354 Wenn die Bedeutung jeder Typologie aber gerade darin liegt, von einzelnen Fällen zu abstrahieren, um auf diese Weise zunächst zu typischen Fällen, dann aber auch möglichst zu Rechtssätzen und Ordnungsgefügen zu gelangen, dann wird dieser Abstraktionsgedanke in einer Typologie, wie v. Caemmerer sie praktiziert, zumindest deutlich relativiert, wenn nicht konterkariert. Vereinfacht ausgedrückt, werden hier nicht einzelne Typen der ungerechtfertigten Bereicherung betrachtet, sondern Typen und Fälle auf der gleichen Ebene. 355 Auf dieser Linie liegt es auch, wenn zur Kenn350
v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (252). Entsprechend ist es ein abschließendes Anliegen v. Caemmerers, zu verdeutlichen, daß eine je nach Falltypen differenzierende Behandlung weiterer Fragen erforderlich sei, so in bezug auf das Maß des Bereicherungsanspruchs, den unterschiedlichen Gegenstand der Bereicherung bei der Leistungskondiktion und bei der Bereicherung in sonstiger Weise, das Ersparen von Aufwendungen, den Vertrag mit einem Dritten als Rechtsgrund und die Saldotheorie. Vgl. ders., S. 252 ff. 351 v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (213). 3
52 v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (217, 228).
3 3
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v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 (237, 241). v. Caemmerer, in: Gesammelte Schriften I, S. 209 ff., erwägt als weitere Falltypen etwa die „Bereicherung kraft gesetzlicher Vorschrift" (S. 240 f.), die „Actio Pauliana", also die Anfechtung eines Erwerbs wegen Gläubigerbenachteiligung (S. 243 ff.), sowie die „Unentgeltliche Bereicherung zum Schaden eines anderen" (S. 245). 355 Unterschiedliche Abstraktionsebenen werden auf einer Stufe der Systembildung andererseits aber auch vereint, wenn Reuter / Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 9 III (S. 383 f.), eine Abschöpfungskondiktion gleichrangig der Leistungskondiktion und der Eingriffskondiktion gegenüberstellen. Kritik an diesem „trichotomen Kondiktionensystem" übt daher etwa Esser ! Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 3. a) (S. 36 f.), der allerdings seinerseits von ,,beispielhafte[n], also auch nicht erschöpfend aufzuzählende[n], Fallgruppen" spricht. Vgl. auch Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70IV 2 b) (S. 197). 354
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
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Zeichnung einzelner Bereicherungsansprüche allzu eng fallgeprägte Begriffe eingeführt werden, so etwa Bezeichnungen wie „Naturvorgangskondiktion", „Zeitablaufskondiktion" 356 , „Hoheitserwerbskondiktion", „Legalerwerbskondiktion" 357 oder „Gegenleistungskondiktion".358 Die große Bedeutung der Lehre Wilburgs liegt so betrachtet darin, daß sie lediglich zwei Typen der Bereicherung aufstellt, mit denen dann allerdings auch die zwei zentralen Fragenkreise des Schuldvertragsrechts und des Eigentumsschutzes als die beiden Grundpfeiler des zivilrechtlichen Anspruchssystems aufgegriffen werden. Wenn sich jede bereicherungsrechtliche Beurteilung an diesen beiden Leittypen zu orientieren hat, so kann es aber gerade keinen dritten Leittyp geben, der ihnen im Rang vergleichbar wäre. Vielmehr kann sich die rechtliche Beurteilung weiterer Fälle nur jeweils im Verhältnis zu diesen beiden Leittypen erschließen. Die weitere Ausdehnung einer Typologie bei v. Caemmerer faßt also Typen niedrigerer Abstraktionsstufe ins Auge, die stets nur in ein Verhältnis zum Recht der „Güterbewegung" (Leistungskondiktion) und zum Recht des „Güterschutzes" (Eingriffskondiktion) treten, 359 nicht aber ein drittes Recht aufdecken können. 360 Die hier verfolgte These von einer auch in der Zukunft bestimmenden Fallorientierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik ist mithin von dem Gedanken einer offenen Typologie von Bereicherungsfällen oder -ansprüchen scharf zu unterscheiden. In dem Bekenntnis zu Falltypen einerseits und einer Absage an eine allzu offene Typologie von Fällen liegt also durchaus kein Widerspruch. Es wird ja nicht die Bildung weiterer Falltypen abgelehnt, im Gegenteil befürwortet, sondern methodologisch lediglich bemängelt, daß sich eine Typologie im Sinne v. Caemmerers 356 Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 69IV 1 b), c) (S. 196). 357 Nachweise bei Reuter / Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 9 I (S. 377). 358 Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 73 III 7 a) (S. 337). 359 Zu den Vorbehalten gegenüber einer allzu scharfen Gegenüberstellung von Güterbewegung und Güterschutz vgl. freilich bereits oben 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 2. a) sowie Fn. 11. 360 Völlig zu Recht kritisieren daher Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 3 III (S. 56 ff.), daß die herrschende Lehre von einer prinzipiell offenen Zahl der möglichen Kondiktionstatbestände ausgeht. Wenn König, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band II, S. 1515 (1521), lediglich einen dritten Typ, nämlich die Aufwendungskondiktion als Ergänzung der Geschäftsführung ohne Auftrag aufstellt, so mögen dies zwar die von ihm (S. 1564 ff.) herangezogenen rechtshistorischen und rechts vergleichenden Aspekte nahelegen. Schon der Systematik des BGB nach wird das Recht der Geschäftsführung ohne Auftrag aber innerhalb der vertraglichen Schuldverhältnisse abgehandelt, und inhaltlich knüpfen diese Regelungen auch weitgehend an das Vertragsrecht (und damit den zentralen Fallbereich der Leistungskondiktion) an, während sie nur in einem Randbereich (§ 687 BGB), und dort auch wieder nur für den Unterbereich der nichtberechtigten Verfügungen, Parallelen zum Eigentumsschutz (und damit zur Eingriffskondiktion) ermöglichen. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Überlegungen Königs nicht fruchtbar wären für die Konstituierung eines eigenen Falltyps. Nach dem hier entwickelten Verständnis ist dieser Falltyp in seinem Rang aber nicht den Leittypen Leistung und Eingriff gleichzustellen, sondern bildet einen Untertyp innerhalb der Dreipersonenkonstellationen, die ihrerseits jeweils nur auf Leistung und Eingriff als Leittypen zurückgreifen.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
nicht an einer obersten Zweiteilung von Leistung und Eingriff orientiert, mit dem im Bereicherungsrecht eine das gesamte zivilrechtliche Anspruchssystem prägende Unterscheidung aufgegriffen wird. Die Dogmatik wird also auch in Zukunft Falltypen herausbilden, die aber nicht als gleichrangig, sondern als Unterfalltypen zu den Konstellationen der Leistung und des Eingriffs zu begreifen sind. Auch die Lösung jedes Unterfalltyps wird im wesentlichen nur auf Gesichtspunkte zurückgreifen können, die für die Beurteilung von Leistungsgeschehnissen einerseits und von Eingriffsgeschehnissen andererseits ausschlaggebend sind.
b) Möglichkeiten der Fallorientierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik in der Zukunft Die Notwendigkeit einer Fallorientierung hat für die Fortentwicklung des heutigen Instrumentariums an bereicherungsrechtlichen Rechtssätzen Konsequenzen. So erscheint es unausweichlich, überkommene Hilfsnormen mit Hilfe von fallorientierten Interessenerwägungen zwar einerseits eingehend zu kritisieren, sie andererseits aber auch weitgehend beizubehalten (aa). Die Kritik und die Beibehaltung bedeutender überkommener Hilfsnormen macht aber auch die Entwicklung und den tatsächlichen Gebrauch zusätzlicher Rechtssätze erforderlich, deren Aufgabe darin besteht, Korrekturen anzuordnen, um die seitens der Kritik zu Recht bemängelten Ergebnisse zu verhindern, die sich bei uneingeschränktem Gebrauch der überkommenen Rechtssätze ergeben würden (bb). Damit wird die gelegentlich kritisierte Technik aufgegriffen, sich begrifflich an ein Ergebnis heranzutasten, um es im Wege der Wertung zu korrigieren. Angesichts der berechtigten Kritik an dieser Technik wird allerdings dafür plädiert, diese „wertungsmäßige Korrektur" nicht auf einer Stufe normativ nicht mehr geleiteter Interessenabwägung stehen zu lassen. Die abschließenden Überlegungen gehen vielmehr dahin, daß sich die künftige dogmatische Arbeit darum bemühen muß, stärker als bislang die Ebene einer „wertungsmäßigen Korrektur" in einzelne Rechtssätze umzusetzen. Wo dies möglich erscheint, treten bereicherungsrechtliche Hilfsnormen und korrigierende Unterhilfsnormen dann in ein echtes Regel-Ausnahme-Verhältnis.
aa) Zur Bedeutung der Kritik bewährter Rechtssätze für eine Fortentwicklung der Dogmatik Die Kritik von Rechtssätzen setzt meist an der Beobachtung an, daß ein Rechtssatz ein Ergebnis zur Folge hat, das für diesen Fall „unter Wertungsgesichtspunkten" nicht tragbar erscheint. Hier werden mithin Fälle von einem Ergebnis erfaßt, obwohl sie, so die Kritik, nicht ähnlich sind, oder es werden Fälle gerade nicht gleichermaßen erfaßt, obschon sie durchaus ähnlich sind. Im ersten Fall setzt die Kritik also an einem zu weiten Anwendungsbereich des Rechtssatzes an, im zwei-
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
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ten Fall an einem zu engen Anwendungsbereich. Ein Beispiel für die Kritik an einem zu engen Anwendungsbereich ist die Kritik von Canaris am Leistungsbegriff. Im Fall einer doppelten Leistungsverpflichtung des Schuldners, also im Fall der angenommenen Anweisung, führt der Rechtssatz „jede zweckgerichtete Vermehrung fremden Vermögens ist eine Leistung" zu dem Ergebnis, daß (auch) zwischen dem Angewiesenen und dem Dritten eine Leistungsbeziehung besteht. Hat das zur Folge, daß dem Angewiesenen unmittelbar gegen den Dritten eine Leistungskondiktion zu gewähren ist, so steht dies - so die berechtigte Kritik von Canaris - im Widerspruch zum Fall abgekürzter Lieferung. Diese Fälle sind aus der Sicht von Canaris nicht nur ähnlich, vielmehr dürfe im Fall angenommener Anweisung erst recht kein „Durchgriff 4 auf den Dritten möglich sein, da der Anweisende dann nur deshalb schlechter stünde, weil der Angewiesene sogar eine eigene Rechtspflicht zur Leistung übernommen hätte. Das sollte die Rechtsposition des Anweisenden gegenüber dem Fall der abgekürzten Lieferung aber gerade nicht schwächen, sondern im Gegenteil stärken. 361 Die Kritik von Canaris geht im Ergebnis also dahin, daß die Anwendung des Leistungsbegriffs dazu führt, einen Fall unterschiedlich zum Normalfall zu behandeln, ihn also nicht in die Rechtsfolge „Ausschluß des Durchgriffs" einzubeziehen, obwohl er ebenso wie dieser zu lösen ist. Das Fundament für dieses Gleichbehandlungsgebot liegt dann tiefer jedoch in den von Canaris im einzelnen herausgearbeiteten Wertungsgesichtspunkten, also im Bemühen, die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung in ihrem Ergebnis einer gerechten Verteilung der Einwendungsrisiken und Insolvenzrisiken aller Beteiligten anzupassen. Noch tiefer liegt diesem Bemühen die weitere Erwägung zugrunde, daß der Mangel eines Kausalverhältnisses nicht auch die im Kausalverhältnis intendierte Risikoverteilung hinfällig mache, weil der Akt, durch den die Risikoordnung geschaffen werde und an den die Zurechnung daher anzuknüpfen habe, keineswegs mit dem Abschluß der zugrunde liegenden Verträge identisch sei. 362 Die große Bedeutung der bereicherungsrechtlichen Kritik liegt mithin darin, immer tiefere Schichten von Wertungsgesichtspunkten zu ergründen, um so überhaupt erst die interessengerechte Entscheidung der einzelnen Fallkonstellationen zu ermöglichen. 363 Darin liegt dann auch durchaus die tiefere Berechtigung solcher Ansätze zum Bereicherungsrecht, die eine Besinnung auf Prinzipien des Privatrechts an361 Vgl. Canaris , in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (805 f.). 362 Canaris , in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (814 f.). Die Risikoordnung wird aus der Sicht von Canaris vielmehr erst durch „die fragliche Vermögensverfügung - also die Leistungserbringung oder die Anweisung" geschaffen, vgl. Canaris , S. 814 f.; Larenz/ Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 70 V I 1 c) (S. 247 f.). 363 Das gilt um so mehr angesichts der Vielzahl von gesetzlichen Rechtssätzen, die auf das Bereicherungsrecht verweisen, vgl. etwa aus dem Allgemeinen Schuldrecht die §§ 323 III, 327 S. 2 BGB, aus dem Besonderen Schuldrecht die §§ 557a I, 628 I 3, 682, 684 S. 1, 687 II, 852 III BGB, aus dem Sachenrecht die §§ 951 I 1, 977 S. 1, 988, 993 I 1. HS. BGB, aus dem Familienrecht die §§ 1301 S. 1, 1390 I 1, 1434, 1457, 1487 I 1. HS. BGB, sowie aus dem Erbrecht die §§ 1973 II 1, 1989, 2021, 2196 I, 2287 I, 2329 I 1 BGB. Auch § 816 BGB war noch im 1. Entwurf zum BGB in den Fällen der §§ 932 ff. BGB (und auch der §§ 892, 893
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
mahnen. 3 6 4 Den neuralgischen Punkt bildet dabei stets die Frage, ob Wertungsgesichtspunkte, die normalerweise für die Konfliktentscheidung von Bedeutung wären (also etwa §§ 104 ff. BGB, §§ 133, 157 BGB, §§ 350, 351 BGB, §§ 362 ff. BGB, §§ 827 ff. BGB, §§ 932 ff. BGB u.s.w.), i m Bereicherungsrecht nicht mehr, oder durchaus noch von Bedeutung sein müssen. 3 6 5 Das kann heute zwar i m Hinblick auf die Risikoverteilung in der Dreipersonenkonstellation ebenso wie i m Hinblick auf die Rückabwicklung synallagmatischer Leistungen weithin als entschieden gelten. 3 6 6 Die Frage gleichsam nach einer Rechtsfortwirkung von Wertungsgesichtspunkten i m Bereicherungsrecht ist damit aber sicherlich noch nicht abschließend gelöst. 3 6 7 Diese fallorientierte Kritik muß nun aber keineswegs, wie man befürchten mag, zwangsläufig mit einer Aufgabe von Rechtssätzen verbunden sein, die sich in der Rechtsfindung bewährt haben. Besonders augenfällig wird dies an dem von Canaris propagierten, von der Dogmatik aber abgelehnten „Abschied vom Leistungsbeg r i f f 4 . 3 6 8 Wie läßt sich diese Ablehnung erklären? Zum einen entwickelt sich Dogmatik nur sehr träge. Ein Ordnungsgefüge, das auf Veränderungen reagieren soll, BGB) als Verweisungsvorschrift äquivalent zum heutigen § 951 BGB konzipiert, vgl. § 880 (und § 839) des Entwurfs, hierzu Mot. III, S. 350 (und S. 224 f.). 364 So insbesondere die inhaltliche Ausrichtung des Ansatzes von Bydlinski, auch wenn dieser Ansatz unter methodischen Aspekten für sich allein unbefriedigend bleibt, vgl. hierzu oben 3. Teil, 2. Abschnitt, II. 2. 365 So werfen etwa Reuter ! Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 3 I (S. 39), einerseits die griffige These „Integriertes Ausgleichsrecht statt autonomes Billigkeitsrecht" auf, weisen den Einfluß des „rechtlichen Umfelds" aber auch durchaus in seine Schranken. Die Entscheidung darüber, welche außerbereicherungsrechtlichen Regelungen analog in das Bereicherungsrecht hineinwirkten, erschöpfe sich nicht „im technischen Vollzug anderwärts vorgenommener Bewertungen", sondern erfordere ihrerseits wertende Überlegungen, so daß es nicht selten notwendig sei, außerbereicherungsrechtliche Wertungen für das Bereicherungsrecht „weiterzudenken", was dann nicht nur für die Festlegung der Personen des Bereicherungsausgleichs von Bedeutung ist, sondern insbesondere auch für den Umfang der Haftung. Vgl. dies., § 3 III 1 (S. 53), mit einzelnen Beispielen. Hieran anknüpfend etwa ErmanH. P. Westermann, Vor § 812 Rz. 3. Ähnlich auch Esser ! Weyers, Schuldrecht II/2, § 47 1. c) (S. 29). 3 66 Noch deutlicher als beim intendierten Synallagma wird dies, wenn der Eingriffskondiktion eine „Vindikationsersatzfunktion" zugeschrieben wird. Zum Gedanken der Rechtsfortwirkung, auch mit Blick auf das Synallagma, vgl. bereits oben 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 2. a) (mit Fn. 69). 367 Wenn etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, zur Lehre von der „Doppelkondiktion" in der Dreipersonenkonstellation überaus kontrovers ist, wie man den Gegenstand des erlangten „etwas" im Deckungsverhältnis bestimmt, so liegt dem die kontroverse Weitungsfrage zugrunde, in welcher Reichweite man den Anweisenden gegenüber dem Angewiesenen haften läßt: auf den Wert des Gegenstands oder auf den Wert der Kondiktion. Bei rein begrifflicher Ausrichtung der Fragestellung wird diese fallorientierte Wertungsfrage weitgehend verdeckt, so die berechtigte Kritik Kupischs, Gesetzespositivismus im Bereicherungsrecht, S. 14 ff., 19 ff.; ders., JZ 1997, 213 (218 ff.). Zur Eigenständigkeit einer Risikoverteilung in den §§ 818 ff. BGB vgl. bereits oben 3. Teil, 1. Abschnitt, I. 2. 3 68 Vgl. Canaris, in: Festschrift für Larenz (1973), S. 799 (857), und hierzu oben Fn. 302.
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
271
wäre bald schon kein Ordnungsgefüge mehr, wenn diese Reaktionen allzu rasch vorgenommen würden. Dann muß sich jede Reaktion auf Veränderungen, also jeder eingebrachte Vorschlag, einen Konflikt anders oder mittels anderer Rechtssätze zu beurteilen, in der Diskussion auch erst bewähren, so daß die Langsamkeit der Entwicklung auch die Gewähr dafür bietet, daß die vorgenommenen Veränderungen wirklich sinnvoll sind. 369 Die notwendige Trägheit dogmatischer Veränderungen erklärt aber natürlich nicht, weshalb ein Rechtssatz wie der Leistungsbegriff trotz jahrzehntelanger vehementer Kritik nicht verabschiedet wird, sondern nach wie vor fester Bestandteil der Ausbildung ist. Der inhaltliche Grund hierfür liegt in der Tatsache, daß die Dogmatik weitgehend in der Beobachtung übereinstimmt, daß dieser Begriff zwar möglicherweise für den „Extremfall" (wie die oben behandelte angenommene Anweisung) keine oder gar falsche Aussagen liefert, im „Normalfall" aber überaus verläßlich das richtige Ergebnis ermöglicht. Auch das ist jedoch schon eine sehr abgekürzte Betrachtungsweise. Im Grunde werden in der Kritik am Leistungsbegriff zwei unterschiedliche Schritte im Prozeß der Rechtsfindung vermischt, nämlich zum einen die Frage, zwischen welchen Beteiligten eine Leistungsbeziehung besteht, und zum anderen die Frage, ob bei Vorliegen einer Leistungsbeziehung zwangsläufig auch eine Leistungskondiktion zu gewähren ist. Im Zweipersonenverhältnis gehen beide Schritte nahtlos ineinander über. Liegt hier eine Leistungsbeziehung vor, so ist es selbstverständlich, daß die nun in Betracht kommende Leistungskondiktion auch, vorbehaltlich der weiteren Voraussetzungen, gewährt wird. In den Dreipersonenkonstellationen ist dies nur solange selbstverständlich, wie es sich um Fallgestaltungen handelt, in denen die Gewährung von Leistungskondiktionen entsprechend den Leistungsbeziehungen auch mit den maßgeblichen Wertungsgesichtspunkten übereinstimmt. Der Leistungsbegriff trifft nun allerdings keine Aussage zu dieser Übereinstimmung, sondern lediglich zum Ort der Leistungsbeziehung. Folglich „versagt" er auch nicht in den Fällen, in denen der Schuldner (wie bei der angenommenen Anweisung) auch gegenüber dem Dritten eine eigene Leistungsverpflichtung hat, sondern wird seiner Funktion, den Ort von Leistungsbeziehungen zu beschreiben, im Gegenteil auch hier voll und ganz gerecht. Hier „versagt" vielmehr eine andere Regel, nämlich die, daß die Leistungskondiktion stets im Leistungsverhältnis zu gewähren ist. Sie wird nun dahin korrigiert, daß in begründeten Ausnahmen eine Leistungskondiktion auch versagt werden kann, wie in anderen Fällen (etwa fehlender Anweisung) umgekehrt die Regel eingreifen kann, daß ausnahmsweise auch ein Bereicherungsanspruch im bloßen Zuwendungsverhältnis zu gewähren ist. Man spricht dann freilich nicht, was nur konsequent wäre, von einer Zuwendungskondiktion, sondern leider sehr abstrakt von einer Nichtleistungskondiktion.370
369
Vgl. eingehender oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 1. Oder auch von einer Abschöpfungskondiktion, vgl. insbesondere ReuterIMartinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, § 9 (S. 371 ff.). 370
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Damit wird aber deutlich, daß unter der Bezeichnung Leistungsbegriff etwas völlig anderes kritisiert wird, nämlich die Regel, den Bereicherungsausgleich stets den Leistungsbeziehungen folgen zu lassen.371 Daß diese Regel in vielen Fällen zu unter Wertungsgesichtspunkten richtigen Lösungen führt, in anderen nicht, ist also nicht die Folge einer Untauglichkeit des Leistungsbegriffs, sondern lediglich des Bemühens, im Leistungsbegriff die Definition der Leistung und die Definition der Richtung des Bereicherungsausgleichs in eins zu fassen. Canaris macht das deutlich, wenn er den Leistungsbegriff stets als „zentrales dogmatisches Kriterium" kritisiert, also als Kriterium zur Beantwortung von beiden Fragen, des Orts der Leistungsbeziehung ebenso wie der Richtung des Bereicherungsausgleichs. Methodologisch betrachtet werden hier einem Rechtssatz also zwei Rechtsfolgen zugeschrieben, obwohl sich hinter zwei Rechtsfolgen auch zwei Rechtssätze verbergen müssen. Das Bemühen Canaris ' besteht somit darin, deutlich zu machen, daß der Rechtssatz zunächst nur den Ort der Leistungsbeziehung begründet, während der Tatbestand (also die Begründung) für die Richtung des Bereicherungsausgleichs nicht im Leistungsbegriff gegeben werden kann, sondern nur in Wertungszusammenhängen, wie er sie herausgearbeitet hat. Diese außerordentlich präzise Unterscheidung ist nun zwar, wie Canaris mit seinem Abschied vom Leistungsbegriff fordert, prinzipiell in jedem Fall vorzunehmen, also auch im „Normalfall" einer abgekürzten Lieferung. Wer sich hier zur Abwicklung des Bereicherungsausgleichs über die Leistungsbeziehungen allein auf den Leistungsbegriff stützt, arbeitet also in logischer Hinsicht ohne Zweifel nicht schlüssig. Der Einwand der herrschenden Dogmatik läßt sich nun aber dahin formulieren, daß dies zwar logisch nicht präzise ist, daß sich dieser Mangel an Präzision im „Normalfall" aber nicht auswirkt. Dann nimmt man aber, um mittels einfacher Begriffe zum richtigen Ergebnis zu gelangen, lieber mangelnde Präzision in Kauf, als die Ausnahme eines Arbeitens mit Wertungsgesichtspunkten auch für anerkanntermaßen völlig unproblematische Fälle zur Regel zu erheben. Der Bruch, der hier zwischen einer präzise logisch-systematischen Jurisprudenz und einer Jurisprudenz verläuft, die sich bedeutungslos bleibender Präzision im Interesse geordneter Rechtsanwendung enthebt, kann als die zentrale Gratwanderung gelten, die einen großen Anteil am Erfolg und am Mißerfolg juristischer Dogmatik hat.
bb) Zur Ergänzung bewährter Rechtssätze durch Hilfsnormen niedrigerer Abstraktionsstufe Die Dogmatik sah mithin trotz aller Kritik keinen ernsthaften Anlaß dafür, mit dem Leistungsbegriff einen Rechtssatz zu verabschieden, der - bei allen Zusatzfra371 Man mag insoweit auch von der Regel der Subsidiarität der Nichtleistungskondiktion sprechen, doch ist diese Bezeichnung schon sprachlich nicht mehr geeignet, in dem erörterten Problemfall doppelter Leistungsverpflichtung des Schuldners die Konkurrenz zweier Leistungsbeziehungen als das zu lösende Problem zu erfassen.
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
273
gen im Hinblick auf fehlende Geschäftsfähigkeit und Empfängerhorizont - überaus verläßlich das Tatbestandsmerkmal Leistung spezifiziert. Auch in den Dreipersonenkonstellationen hält die Dogmatik schon zu diesem Zweck an dem Rechtssatz fest. Wenn er nun nur noch als „Faustformel" bezeichnet wird, so trägt das zum einen der von Canaris herausgearbeiteten Differenzierung Rechnung, daß der Leistungsbegriff über die Richtung des Bereicherungsausgleichs im Grunde keine Aussage trifft. Zum anderen wird damit aber auch zum Ausdruck gebracht, daß man in den einfachen Fällen der Dreipersonenkonstellationen gleichwohl unter Rückgriff vorgeblich auf diesen Leistungsbegriff zu den unter Wertungsgesichtspunkten gewünschten Ergebnissen gelangen kann. Man kann diese Handhabung auch so deuten, daß es der Dogmatik im Grunde bis heute nicht gelungen ist, einen für alle Dreipersonenkonstellationen gleichermaßen geltenden Rechtssatz zu entwickeln, der einschränkungslos über die Richtung des Bereicherungsausgleichs die auch unter Weitungsgesichtspunkten allseits befriedigende Antwort ermöglicht. Auch der Subsidiaritätsgrundsatz, der diesem Anliegen entgegenkommen sollte, hat sich bei näherer Hinsicht als ergänzungsbedürftig erwiesen und wird ebenfalls denn nur noch als „Faustformel" begriffen. 372 Damit entspringt das Festhalten an anerkanntermaßen defizitären Rechtssätzen aber weniger inhaltlichen Überzeugungen, als dem Anliegen, dem Bedürfnis des Rechtsanwenders nach Abstraktion und Regelleitung seiner Rechtsanwendung so weit wie eben möglich entgegenzukommen, um ihn nicht dem freien Fall der Interessenwertungen im Einzelfall zu überlassen. Die Dogmatik wird auf dieser Stufe der Entwicklung jedoch auf Dauer nicht stehenbleiben.373 Die erkannten Defizite beider „Faustformeln" machen Ergänzungen erforderlich, die ihrerseits rational gehandhabt werden wollen. Es ist mit anderen Worten also dem Rechtsanwender zwar im Normalfall geholfen, wenn man an überkommenen und bewährten Rechtssätzen festhält. Das kann aber nicht bedeuten, daß man den Rechtsanwender gleichwohl, wenn auch erst an späterer Stelle, dem Arbeiten mit fallorientierten Wertungen überläßt. Mag der „Extremfall" also auch in der Tat kein geeigneter Anknüpfungspunkt sein, um Regeln für „Normalfälle" aufzustellen, 374 so muß die Herausforderung für die Dogmatik aber doch darin bestehen, ausgehend vom „Extremfall" auch Falltypen herauszubilden, in denen unter Wertungsgesichtspunkten entgegen den bewährten Rechtssätzen zu entscheiden ist. Nur über diese Falltypen ist es in der Konsequenz möglich, auch Rechtssätze zu entwickeln, die dann jeweils in ein Ausnahmeverhältnis zu einem bewährten Rechtssatz treten und den Rechtsanwender auf diese Weise unterstützen können.
372 Vgl. z u r Qualifizierung des Leistungsbegriffs und des Subsidiaritätsgrundsatzes als „Faustformeln" oben (Fn. 162 f.). 373
Vgl. insoweit insbesondere das differenzierte methodologische Plädoyer von Esserl Weyers, Schuldrecht II/2, § 48 II (S. 43 ff.), für einen besonnenen Umgang mit dem durch den Leistungsbegriff erreichten Fortschritt der bereicherungsrechtlichen Dogmatik. 374
1
Insoweit berechtigt die bereits oben 3. Teil, 2. Abschnitt, II. 3., erörterten Einwände.
Gödicke
274
3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Für die Herausbildung korrigierender Rechtssätze ist der „Extremfall" also kein ungeeigneter, sondern im Gegenteil der notwendige Anknüpfungspunkt. In der Lehrbuchliteratur zum Schuldrecht der vergangenen Jahre dürfte diesem Bedürfnis erneut am weitesten durch Canaris entgegengekommen worden sein. Das soll nicht dahin mißverstanden werden, daß die Neukonzeption von Canaris hier gleichsam als eine ,Dogmatik der Extremfälle' eingeschätzt wird. Das überaus Bemerkenswerte an seiner Darstellung ist vielmehr, daß sie durchweg von dem Bemühen gekennzeichnet ist, auch zwischen „Extremfällen" Ahnlichkeitsverhältnisse herzustellen, um damit vor allem auch diesen Problembereich dem Rechtsanwender nahe zu bringen. Von den drei von ihm entwickelten „Hauptentscheidungsregeln" 375 betrifft entsprechend die erste den bereicherungsrechtlichen „Normalfall", die beiden weiteren hingegen bereicherungsrechtliche „Extremfälle". Als „Normalfall" wird bei ihm der bloße Mangel des Kausalverhältnisses begriffen, und die hierzu gebildete Regel lautet, daß die Bereicherungsabwicklung grundsätzlich zwischen den Parteien desjenigen Kausalverhältnisses erfolgt, dem der kondiktionsauslösende Mangel entstammt, also vor allem „nicht in einem davon u. U. verschiedenen »Leistungsverhältnis«". 376 Die zweite und dritte Regel betreffen hingegen den „Extremfall", daß eine Direktkondiktion im Zuwendungsverhältnis gewährt wird, nämlich zunächst für den Fall, daß ein „Zurechenbarkeitsmangel" vorliegt, dann aber auch für den Fall, daß der Mangel „auf der dinglichen Ebene" liegt. Mit den Zurechenbarkeitsmängeln erfaßt Canaris nun sämtliche Fallgestaltungen, in denen der Bereicherungsausgleich ausnahmsweise auf das Zuwendungsverhältnis verlagert wird, weil mangels Zurechenbarkeit der Zuwendung als Leistung der Anweisende nicht in den Bereicherungsausgleich involviert werden soll. Mit den „Gültigkeitsmängeln" werden hingegen die Fallgestaltungen erfaßt, in denen der Dritte ausnahmsweise nicht schutzwürdig erscheint, etwa wegen Abhandenkommens des Leistungsgegenstandes oder wegen Bösgläubigkeit des Empfängers. „Zurechenbarkeitsmängel" wirken sich also stets aus, „Gültigkeitsmängel" können hingegen über den Rechtsscheinschutz überwunden werden. 377 Canaris illustriert diese Zweiteilung von „Extremfällen" in Zurechenbarkeitsmängel und Gültigkeitsmängel zunächst an der abgekürzten Lieferung, bei der prinzipiell beide Probleme auftreten können. Die übrigen von der Dogmatik besonders häufig behandelten Fallkonstellationen ordnet er dann je nachdem, ob sie der Tendenz nach eher (schuldrechtliche) Zurechenbarkeitsmängel oder eher (sachenrechtliche) Gültigkeitsmängel aufweisen, den schuldrechtlichen bzw. sachenrechtlichen Anweisungslagen zu. Das ermöglicht es Canaris , alle „MehrpersonenVerhältnisse" als Anweisungslagen zu begreifen und unter Rückgriff auf die große systematische Einteilung des BGB dann näher zwischen schuldrechtlichen und sachenrechtlichen Anweisungslagen zu unterscheiden. 378 375 Vgl. Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 V I 3 (S. 249 ff.), und hierzu oben 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 3. b) cc). 376 Larenz! Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 70 V I 3 a) (S. 249). 377 Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 V I 3 a) (S. 249 f.).
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
275
Man mag gegen diesen Ordnungsversuch vielerlei einwenden können. So enthält ja jede der schuldrechtlichen Anweisungslagen ebenso sachenrechtliche Erwägungen, wie jede sachenrechtliche Anweisungslage ihrerseits nicht ohne schuldrechtliche Überlegungen auskommt. Dann sind auch die Begriffe Zurechenbarkeitsmängel und Gültigkeitsmängeln für sich betrachtet sehr unspezifisch. Wenn § 932 BGB einen Gültigkeitsmangel betreffen soll, § 935 BGB einen Zurechenbarkeitsmangel, so hat § 935 BGB doch ebenso Einfluß auf die Gültigkeit des Rechtserwerbs, wie der Vorschrift des § 932 BGB der Gedanke der Zurechenbarkeit eines Rechtsscheins zugrunde liegt. 3 7 9 Insoweit mag die Dogmatik in ihrer weiteren Entwicklung diese Begriffe möglicherweise nicht aufgreifen. Für eine Dogmatik, die sich um eine möglichst regelhafte Formulierung von Begründungen der Ausnahmefälle bemüht, wird es aber unausweichlich sein, ein weiteres Mal einer neuen Wegstrecke nachzugehen, wie Canaris sie einst mit der Analyse maßgeblicher Wertungsgesichtspunkte eingeschlagen hat, und wie er sie nun mit seiner Suche nach einer typisierten Erfassung auch der „Extremfälle" aufgedeckt hat. Betrachtet man die von Canaris ausgehenden Anregungen für die bereicherungsrechtliche Dogmatik über einen längeren Zeitraum, so liegt die Fruchtbarkeit seiner Erwägungen zunächst also darin, im Leistungsbegriff zwei Ebenen von Rechtssätzen zu differenzieren, nämlich zum einen den Ort des Leistungsverhältnisses und zum anderen die Richtung des Bereicherungsausgleichs. Sie liegt dann aber auch darin, die zweite Ebene der Richtung des Bereicherungsausgleichs heute nicht mehr allein auf Wertungsgesichtspunkte zurückzuführen, sondern sie in eine höhere Ebene der Abstraktion hineinzuführen, um von hier aus zwischen unterschiedlich gelagerten Ausnahmebegründungen differenzieren zu können. Mit dieser Abstraktionsleistung ist also eine wesentliche weitere Strecke auf dem Weg induktiver Regelbildung abgeschritten. Noch nicht faßbar erscheint nun allerdings umgekehrt der Berührungspunkt, an dem der Rechtsanwender im Rahmen der Rechtsfindung auf diese induktiv ermittelten Rechtssätze stoßen kann. An welchem Punkt innerhalb des Prozesses der Rechtsanwendung hat der Rechtsanwender die durch Canaris entwickelten Hauptentscheidungsregeln also anzuwenden? Welches Tatbestandsmerkmal einer bereicherungsrechtlichen Anspruchsnorm (oder Hilfsnorm) wird durch die von Canaris entwickelten Hilfsnormen eigentlich spezifiziert? Wenn die Rechtsfolge dieser Hilfsnormen lautet, daß eine „Direktkondiktion" im Zuwendungsverhältnis zu gewähren ist, so müßte dem also ein Tatbestandsmerkmal höherer Ebene zuzuordnen sein, das durch diese Rechtsfolge überhaupt erst spezifiziert werden muß. Ist das nun aber (für die Entscheidung über die Leistungskondiktion) das Tatbestandsmerkmal Leistung? Oder ist es (für die Ent378 Im einzelnen Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 I I bis V (S. 201 ff.). Zwischen Störungen auf schuldrechtlicher und auf sachenrechtlicher Ebene unterscheidet auch Fikentscher, Schuldrecht, Rz. 1128, ohne dieser Differenzierung aber auch nur einen annähernd vergleichbaren systematischen Rang zu verleihen. 379 Zur Unterscheidung beider Mangelarten anhand dieser beiden Vorschriften vgl. Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 III 5 (S. 222 f.). 18'
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Scheidung über eine Nichtleistungskondiktion) Rechtsgrund, wie Canaris m e i n t ? 3 8 0
gar das
Tatbestandsmerkmal
Tatsächlich dürften die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte nahelegen, daß diese Perspektive auf die Tatbestandsmerkmale des Gesetzes überfordert ist. Das Problem der Richtung des Bereicherungsausgleichs hat das Gesetz, außer in den wenigen Vorschriften der §§ 816, 822 BGB, j a gar nicht in den Blick genommen. Dann erscheint es aber auch wenig aussichtsreich, die Lösung dieses Problems in eines der Tatbestandsmerkmale der §§ 812 ff. B G B einzukleiden. M i t einem isoliert hinzutretenden Subsidiaritätsgrundsatz hat sich die Dogmatik schon weitgehend von dieser engen Anlehnung an die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale gelöst, und dieser methodische Schritt scheint auch für die Zukunft am geeignetsten, um Regeln für die Richtung des Bereicherungsausgleichs zu erarbeiten. 381 Ob man die Regel,
380 So bemängelt Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 II 1 c) (S. 203 f.), daß bei der Subsidiaritätsfrage das Merkmal der Rechtsgrundlosigkeit nicht hinreichend vertieft werde. Für eine Nichtleistungskondiktion im Zuwendungsverhältnis könne nämlich mit Hilfe von Erwägungen zur Kondiktionsfestigkeit des gutgläubigen Erwerbs ein Rechtsgrund angenommen werden. So könne bei Anfechtung der Übereignung im Deckungsverhältnis wegen arglistiger Täuschung ein Durchgriff auf den Dritten gleichwohl an § 8161 BGB scheitern. Eine Nichtleistungskondiktion dürfe aber - argumentum a fortiori - erst recht nicht gewährt werden, wenn eine (direkte) Übereignung fehlerfrei sei. Nun könne man für die Annahme eines Rechtsgrundes für die Nichtleistungskondiktion in diesem Fall freilich nicht mehr auf den gar nicht einschlägigen § 816 I BGB zurückgreifen (und auch nicht auf das durchaus vorliegende Merkmal „auf dessen Kosten"). Canaris ist nun der Auffassung, daß auch „aus dem Abstraktionsprinzip eine rechtliche Wertung zu entnehmen ist, die einen Rechtsgrund enthält und demgemäß eine Nichtleistungskondiktion ausschließt". Damit zeigt sich aber, wie problematisch es ist, das Tatbestandsmerkmal „ohne rechtlichen Grund" mit der Frage der Richtung des Bereicherungsausgleichs zu befrachten. Dagegen spricht noch nicht der Wechsel von der Hilfsnormebene auf die Prinzipienebene, wie sie mit der Heranziehung des Abstraktionsprinzips vollzogen wird. Ist die Orientierung des Rechtsanwenders aber nicht zumindest gefährdet, wenn er in einem einzigen Fall einerseits den Rechtsgrund für eine Leistungskondiktion verneinen, gleichzeitig aber einen Rechtsgrund für eine Nichtleistungskondiktion bejahen muß? Und wie ist zu verfahren, wenn ausnahmsweise ein Durchgriff gerade zu gestatten ist? Dann fehlt es konsequenterweise sowohl (nach wie vor) an einem Rechtsgrund für eine Leistungskondiktion wie nun aber auch an einem Rechtsgrund für eine Nichtleistungskondiktion. Hier kann also gar nicht mehr das Merkmal der Rechtsgrundlosigkeit über die Richtung des Bereicherungsausgleichs entscheiden, sondern erneut nur ein weiterer Rechtssatz, der nun bestimmt, welche Rechtsgrundlosigkeit von beiden ausschlaggebend ist. 381 Insoweit mag man also auch von einem „kondiktionsauslösenden Mangel" sprechen können, vgl. hierzu oben 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 3. b) bb). Dieser Begriff bezeichnet aber schon gar nicht die stets gesuchte Rechtsfolge, nämlich Gewährung oder Nichtgewährung des Durchgriffs. Das klingt mit dem Begriff einer „Subsidiarität" deutlicher an. Überwiegend schon gar nicht mehr zur Kenntnis genommen wird leider der Gesetzesvorschlag Königs, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band II, S. 1515 (1522 bis 1525), und hierzu oben 1. Teil, II. 3. a), 3. Teil, 1. Abschnitt, III. 3. (Fn. 124), und 3. Abschnitt, II. 2. a). Obwohl er zumindest an zentralen Punkten, etwa was Hilfsnormen in „Drittbeziehungen" betrifft, für die Herausbildung von Hilfsnormen durch die Dogmatik inspirativ wirken könnte, wird ihm als nicht weiter verfolgtem Gesetzgebungsvorschlag meist nur noch rechtshistorische Bedeutung zugemessen.
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
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daß der Bereicherungsausgleich grundsätzlich durch Leistungskondiktionen entlang der Leistungsbeziehungen vorzunehmen ist, dann noch als Bestandteil eines Leistungsbegriffs begreift (der damit in einem weiteren, über die Definition der Leistungsbeziehung hinausreichenden Sinne verstanden wird), oder ob man die Regel über die Richtung des Bereicherungsausgleichs aus dem Leistungsbegriff herauslöst (womit der Leistungsbegriff auf ein enges Verständnis reduziert wird), so daß nun einerseits ein (Subsidiaritäts-) Grundsatz aufzustellen und andererseits korrigierende Ausnahmen nachzustellen sind, erscheint unter methodologischen Gesichtspunkten fast belanglos. Die lange Übung innerhalb der Dogmatik mag also durchaus dazu führen, den Leistungsbegriff nicht nur überhaupt, sondern auch im genannten weiten Sinne beizubehalten. Unabhängig von der Weite dieser Hilfsnorm wird es aber in jedem Fall erforderlich sein, die von Canaris inspirierte Diskussion über abstraktere Kriterien zur Erfassung der Ausnahmen fortzuführen. Eine große orientierende Kraft dürften hierzu die auch von Canaris stets herangezogenen Prinzipien des Rechtsscheins und der Veranlassung ausüben.382 Der für die Dogmatik entscheidende Gesichtspunkt dürfte dann darin liegen, daß Canaris insoweit nicht auf einer Ebene prinzipieller Erwägungen stehen bleibt, etwa um einzelne Begründungselemente eines beweglichen Systems zum Bereicherungsrecht zu entwickeln. Vielmehr greift er eine in der bisherigen Dogmatik bereits seit längerem angelegte Technik auf, einzelne Vorschriften des BGB, die Ausdruck dieser beiden leitenden Prinzipien sind (also insbesondere die §§ 932 ff. BGB und die §§ 170 ff. BGB), zur Beurteilung der Frage heranzuziehen, ob ausnahmsweise ein Durchgriff im Bereicherungsausgleich zu gewähren ist oder nicht. 383 Durchgesetzt hat sich diese Technik bislang allerdings nur in einzelnen Teilbereichen. Am breitesten praktiziert wird sie, mit Blick auf die §§ 932 ff. BGB, bei den sog. Einbaufällen. 384 Ähnlich wird dann aber auch, unter Rückgriff nun eher auf die §§ 170 ff. BGB als auf die §§ 932 ff. BGB, beim bargeldlosen Zahlungsverkehr verfahren. Methodologisch betrachtet liegt die Fruchtbarkeit des von Canaris verfolgten Ansatzes darin, daß er nicht bei diesen einzelnen Fallgruppen stehen bleibt, sondern die dort verwendeten Techniken der Konfliktentscheidung als Modelle begreift, deren Tauglichkeit er nun auch in den weiteren gängigen Falltypen von Dreipersonenkonstellationen überprüft. Ob sich dieser Ansatz für die Vielzahl dieser Falltypen tatsächlich flächendeckend als durchführbar erweist, kann hier nicht weiter untersucht werden. Ein solcher Blick in die Ebene einzelner Falltypen bildet nicht den geeigneten Gegenstand einer methodologischen Untersuchung, sondern muß der materiellrechtlichen Diskussion überlassen bleiben. Mit einem Fragezei382 Vgl. zu diesen beiden Prinzipien Schapp, Sachenrecht, Rz. 219 f., der ihr Ineinandergreifen zunächst für den Eigentumserwerb an beweglichen Sachen entwickelt. 383 Vgl. insbesondere Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 IV 5 (S. 235 f.), § 70 V I (S. 246 ff.). 384 Vgl. den Überblick oben 3. Teil, 1. Abschnitt, III. 2.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
chen versehen sei insoweit lediglich die Vorgehensweise von Canaris, mittels der überaus abstrakten Kategorien von Zurechenbarkeits- und Gültigkeitsmängeln zu Ergebnissen und Entscheidungsregeln zu gelangen, die sich nicht unmittelbar in den Prozeß der Rechtsfindung einbinden lassen. Es ist daher mehr als ein didaktisches Zugeständnis, wenn Canaris zum Abschluß seiner Darstellung dem Studenten nun selbst pragmatisch rät, sich an den herkömmlichen Tatbestandsmerkmalen und Hilfsnormen des Bereicherungsrechts zu orientieren. 385 Wenn die bereicherungsrechtliche Dogmatik also in der Vergangenheit keine guten Erfahrungen mit (zu) hohen Abstraktionsebenen der Begriffs- und Systembildung gemacht hat, so wird sich ein Ordnungsgefüge für den heutigen Hauptproblembereich der Dreipersonenkonstellationen gleichwohl nur im Wege einer konsequent fortgeführten Abstraktion entwickeln lassen. Hierfür ein Modell schuldrechtlicher Anweisungslagen und ein Modell sachenrechtlicher Anweisungslagen zu bilden, wie Canaris vorschwebt, ist ein konstruktiver Vorschlag, stellt aber auch nur eine Möglichkeit (ein Modell) dar, wie ein solcher Abstraktionsprozeß von den heute gängigen Falltypen hin zu übereinstimmend anwendbaren Hilfsnormen und zu einem deren Auswahl leitenden Ordnungsgefüge aussehen könnte. Damit gelangt die Untersuchung schließlich allerdings bei einer anderen Fragestellung an - die ihrer Substanz nach nicht mehr methodologischer, sondern dogmatischer Natur ist.
I I I . Resümee Die heutige Kritik an der bereicherungsrechtlichen Dogmatik zielt darauf ab, daß die Dogmatik in einem normativ äußerst spärlich ausgestatteten Rechtsgebiet nicht ihre Aufgabe erfüllt, dem Rechtsanwender ein Ordnungsgefüge von Rechtssätzen zur Verfügung zu stellen, das ihm bei der Auswahl geeigneter Rechtssätze dienlich ist. Der 1. Abschnitt dieses dritten Teils hat zunächst deutlich zu machen versucht, daß ein solches Ordnungsgefüge auch im Bereicherungsrecht nicht an den Rechtsfolgen der Anspruchsnormen ansetzen kann, sondern daß es die Ebene der Tatbestände ungerechtfertigter Bereicherung ins Auge fassen muß. 3 8 6 Wenig aussichtsreich ist insoweit allerdings der Versuch, zu einem einheitlichen Tatbestand ungerechtfertigter Bereicherung zu gelangen. Zum einen ist der Bereicherungsausgleich nur eine von vielen Formen der Restitution im Zivilrecht, so daß das hier wirksame Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit kein bereicherungsrechtliches Charakteristikum bildet. Dann liegt der ungerechtfertigten Bereicherung aber auch kein dem Vertragsschluß, dem Delikt oder der Eigentumsstörung vergleichbarer eigenständiger 385 Vgl. Larenz! Canaris, Schuldrecht II, § 70 V I 5 (S. 252 f.). Zu den Zweifeln daran, das Merkmal der Rechtsgrundlosigkeit als gesetzlichen Anknüpfungspunkt für die Durchgriffsproblematik zu wählen, vgl. bereits oben (Fn. 380). 386 Oben 3. Teil, 1. Abschnitt, I., sowie zuvor, noch losgelöst vom Bereicherungsrecht, oben 2. Teil, 3. Abschnitt, I. 2. a).
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
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lebensweltlicher Konflikt zugrunde, der sie spezifisch prägen könnte. Das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung schließt vielmehr, vereinfacht ausgedrückt, stets nur an Konflikte aus dem Bereich des Vertragsschlusses, des Delikts oder der Eigentumsstörung an. Die fehlende Möglichkeit einheitlicher bereicherungsrechtlicher Anspruchsbegründung ist so betrachtet eine Konsequenz aus der Konzeption des zivilrechtlichen Anspruchssystems, das in den ersten drei Büchern gerade keine dritte Begründungsebene neben Schuldverhältnis und Eigentum kennt. 387 Um diese Zweiteilung des Anspruchssystems nicht zu überspielen, sondern noch schärfer als Grundlage eines bereicherungsrechtlichen Ordnungsgefüges herauszuarbeiten, wurden Leistung und Eingriff als die beiden großen Leittypen des in den §§ 812 ff. BGB behandelten Interessenkonflikts begriffen. 388 In den heute vor allem problematischen sogenannten Dreipersonenverhältnissen kommt demgegenüber kein dritter Leittyp vergleichbaren Rangs zum Ausdruck, sondern lediglich eine Ausweitung der rechtlichen Perspektive von der Beurteilung einzelner Zweipersonenverhältnisse auf eine Beurteilung mehrerer Zweipersonenverhältnisse gleichzeitig. 389 Wenn in der heutigen Darstellungspraxis zum Bereicherungsrecht gleichwohl die Dreipersonenkonstellationen einen eigenständigen großen Bereich einnehmen, so schlägt sich hierin die für die Dogmatik entscheidende Technik nieder, vom einzelnen Fall als zentralem Entwicklungsmoment der Dogmatik auszugehen. 390 Der Andersartigkeit der Beurteilungsperspektive wird hier auf der Ebene der Falltypen Rechnung getragen. 391 Diese Zusammenhänge werden allerdings verdeckt, wenn mit einem abstrakten Oberbegriff „Nichtleistungskondiktion" zu § 812 I 1 2. Alt. BGB die Unterscheidung zwischen den auch in Dreipersonenkonstellationen bedeutsam bleibenden Leittypen der Leistung und des Eingriffs nivelliert wird. Es ist durchaus ein Unterschied, ob ein Anspruch aus § 812 I 1 2. Alt. BGB Nichtleistungskondiktion ist, weil einer Zuwendung die Leistungsintention fehlt, oder ob ein Anspruch aus § 812 11 2. Alt. BGB Nichtleistungskondiktion ist, weil jemand in die Befugnisse eines fremden Rechtsinhabers eingreift. Das Einschleifen dieser Differenzierungen in einem abstrakten Oberbegriff bildet eine ganz entscheidende Ursache für die Unübersichtlichkeit dieses Fallbereichs. 392 Die stattdessen vorgeschlagene Besinnung auf eine Differenzierung lediglich nach Leistung und Eingriff als Leittypen der Bereicherung bleibt hingegen selbst dann noch bedeutsam, wenn man, letztlich vorwiegend aus historischen Gründen, alle Bereicherungsansprüche als aus einem gesetzlichen Schuldverhältnis der ungerechtfertigten Bereicherung i.w.S. entspringen sieht. 393
387 388 389 390
Oben 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 1. Oben 3. Teil, 1. Abschnitt, II. 2. Oben 3. Teil, 1. Abschnitt, III. 1. Hierzu bereits oben 2. Teil, 3. Abschnitt, II. 2.
391 Oben 3. Teil, 1. Abschnitt, III. 2. 392 Oben 3. Teil, 1. Abschnitt, III. 3. 393 Oben 3. Teil, 1. Abschnitt, IV.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Um der Unübersichtlichkeit des Bereicherungsrechts Herr zu werden, finden sich in der Literatur unterschiedliche Ansätze, denen sich der 2. Abschnitt zugewendet hat. Insoweit wurde zunächst deutlich zu machen versucht, daß es sich bei der Frage nach einer Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik keineswegs um ein minderrangiges Darstellungsproblem handelt, sondern daß mit der Frage nach der geeigneten Darstellung zugleich die nach der geeigneten Abstraktion gestellt ist, und daß damit das Problem einer Abstraktion von Fällen über Falltypen hin zu Rechtssätzen und einem Ordnungsgefüge von Rechtssätzen berührt wird. 3 9 4 Andere Ansätze bestehen darin, sich auf Grundprinzipien und Grundstrukturen des Bereicherungsrechts zu besinnen. Das damit verfolgte Anliegen, eine große Übersichtlichkeit zu erreichen, ist ohne Zweifel berechtigt. Wenig überzeugend ist es allerdings, zu diesem Zweck die bereicherungsrechtliche Dogmatik gewissermaßen zu didaktischen Zwecken auf dem Stand einer - kaum noch auszumachenden - „herrschenden Meinung" stehen zu lassen, um eine Auseinandersetzung mit der Vielzahl von Kontroversen schlicht abzuschneiden.395 Überzeugender ist insoweit der Ansatz einer prinzipiell-systematischen Rechtsfindung, der allerdings darunter leidet, daß er im Arbeiten mit einzelnen Rechtsprinzipien zu einseitig eine überaus abstrakte Ebene im Prozeß der Rechtsfindung betont, ohne noch zu der für den Rechtsanwender unentbehrlichen Ebene anschaulicher Falltypen und Hilfsnorm zu vermitteln. 396 Den Hauptanteil innerhalb der Diskussion nehmen dann jedoch die Ansätze zum Bereicherungsrecht ein, die hier idealtypisch als fallorientierte und systemorientierte Ansätze gegenübergestellt wurden. Sind die Vertreter beider Ansätze auch bereit, den jeweils entgegengesetzten Ansatz dem Grunde nach anzuerkennen, so bietet die Diskussion doch eine offene Flanke, soweit es um eine angemessene Gewichtung beider Ansätzen zum Zwecke einer Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik geht. So wurde zunächst deutlich zu machen versucht, daß der systemorientierte Ansatz ein Ideal der Rechtsanwendung propagiert, das auch heute noch als maßgeblich begriffen werden kann, nämlich die deduktive Rechtsanwendung durch Subsumtion.397 Die erkenntnistheoretische Kritik am Subsumtionsmodell hat dann aber auch im Bereicherungsrecht zur Folge, daß man sich von einem isolierten deduktiven Systemdenken zugunsten induktiver Methoden der Rechtsfindung distanziert. 398 Am weitesten reicht diese Distanz bei der Topik, die sich ihrem Grundanliegen nach als Gegensatz zum Systemdenken begreift und daher bei näherer Hinsicht denn auch im Bereicherungsrecht nicht in ihrer eigentlichen Gestalt vertreten wird. 3 9 9 Aufrechterhalten, aber entscheidend relativiert wird 394 Oben 3. Teil, 2. Abschnitt, I. 395 Oben 3. Teil, 2. Abschnitt, II. 1. 396 Oben 3. Teil, 2. Abschnitt, II. 2. und 3. 397 Oben 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 1. 398 Oben 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 2. Zur historischen Entwicklung bereits oben 2. Teil, 1. Abschnitt. 399 Oben 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 2. a).
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
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der Systemgedanke dann von den Vertretern des beweglichen Systemdenkens, das im Bereicherungsrecht jedoch ebenfalls nicht als etabliert gelten kann. 400 Völlig aufgeweicht wird der systemorientierte Ansatz dann, wenn man das Bereicherungsrecht ganz dezidiert als Billigkeitsrecht bezeichnet. Tatsächlich wird hiermit allerdings mehr eine Technik der Abgrenzung gegenüber einer als unzureichend empfundenen Dogmatik betrieben als tatsächlich die freie Beliebigkeit in der Rechtsfindung propagiert. 401 Entgegen dem Eindruck einer Unüberschaubarkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik bricht der überwiegende Teil der Dogmatik denn auch nicht mit einem systemorientierten Ansatz und seiner Ausrichtung an Systemvorstellungen, Rechtssätzen und Begriffen. Insoweit läßt sich besser von einer Öffnung der Dogmatik für eine induktive Bearbeitung des Bereicherungsrechts durch Einbeziehung fallorientierter Wertungen sprechen. Zur eigentlichen Problematik wird damit aber die Frage, mit welcher Gewichtung sich diese Einbeziehung vollziehen kann. Am Leistungsbegriff, der innerhalb der umfangreichen Diskussion zu den Dreipersonenkonstellationen gleichsam das Zentrum der Kontroverse bildet, ließ sich insoweit zeigen, daß die bereicherungsrechtliche Dogmatik zwischen zwei Ebenen steht, die keinen ausreichenden Bezug mehr aufweisen. Zum einen hat die Kritik dieser zentralen Hilfsnorm im Laufe der Jahrzehnte vielschichtige Interessenerwägungen zutage gefördert, die sich für die Beurteilung zahlreicher bereicherungsrechtlicher Fallentscheidungen als überaus fruchtbar erwiesen haben. Soweit aus dieser Kritik heraus jedoch ein Abschied vom Leistungsbegriff gefordert wurde, hat die Kritik zu einer massiven Verunsicherung des Rechtsanwenders geführt, der mitansehen mußte, wie sein zentrales Instrumentarium an Hilfsnormen immer stärker relativiert und schließlich zu „Faustformeln" degradiert wurde. 402 Vor dem Hintergrund dieses unbefriedigenden Befundes wurde schließlich im 3. Abschnitt die eingangs bereits aufgestellte These noch eingehender entwickelt, daß sich die fallorientierten und die systemorientierten Ansätze zum Bereicherungsrecht nur in einen sinnvollen Zusammenhang bringen lassen, wenn man sie als Antworten auf unterschiedliche Bedürfnisse begreift. Die Untersuchung hat insoweit jeweils eine entgegengesetzte Gewichtung beider Ansätze für die Bedürfnisse des Rechtsanwenders und für die Bedürfnisse der Dogmatik vorgenommen. So beanspruchen die systemorientierten, am Syllogismus ausgerichteten Methoden der Rechtsfindung bis heute eine tragende Bedeutung für den unmittelbaren Prozeß der Rechtsanwendung, also insbesondere für das Auswählen und das Anwenden des Rechtssatzes, während der fallorientierte Ansatz hier nach wie vor als die methodische Ausnahme gehandhabt wird. 4 0 3 Umgekehrt gewinnen für die Fortentwicklung der Dogmatik nicht die systemorientierten Methoden der Rechtsfindung 400 401 402 403
Oben 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 2. b). Oben 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 2. c). Oben 3. Teil, 2. Abschnitt, III. 3. Oben 3. Teil, 3. Abschnitt, I.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
eine zentrale Bedeutung, sondern die fallorientierten Methoden. Das System der Rechtssätze ist zwar das Ziel und der Bezugspunkt dogmatischen Arbeitens. Das System bildet sich aber nicht aus sich selbst heraus, sondern nur über Fälle fort. 4 0 4 Für das Bereicherungsrecht ist diese Fallorientierung der Dogmatik in der Vergangenheit vor allem in den Arbeiten Wilburgs, v. Caemmerers und Königs deutlich geworden. 405 Auch für die Frage einer Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik wird diese Fallorientierung von entscheidender Bedeutung sein. So hat im Grunde erst die vielschichtige Erörterung fallorientierter Interessengesichtspunkte den Blick auf die Defizite der überkommenen Rechtssätze, Begriffe und systematischen Einteilungen eröffnet. Fallorientierte Entwicklung von Dogmatik muß dann aber auch bedeuten, dort geeignete Ersatzinstrumentarien aufzustellen, wo herkömmliche Mittel unzureichend erscheinen. Wenn die Dogmatik insoweit aus guten Gründen die Forderung zurückgewiesen hat, klassische Hilfsnormen wie den Leistungsbegriff oder den Subsidiaritätsgrundsatz aufzugeben, so reicht es also auch nicht, bei der Qualifizierung von Hilfsnormen als „Faustformeln" stehen zu bleiben, um den Rechtsanwender damit zwar nicht gleich von Beginn an, aber doch schon kurze Zeit später (nämlich nach Anwendung dieser „Faustformeln") dem unsicheren Terrain der Interessenerwägungen zu überlassen. Die Literatur verbietet sich hier im Grunde nun ihrerseits „jede schematische Lösung", um auf Weitungen des Einzelfalls abzustellen.406 Die Qualifizierung mancher Rechtssätze als „Faustformeln" täuscht dann auch über die Tatsache hinweg, daß jeder Rechtssatz, nicht nur ein bereicherungsrechtlicher, zwangsläufig nur eine Faustformel sein kann, weil die Anwendung von Rechtssätzen stets keine sicheren, sondern nur wahrscheinliche Schlüsse ermöglicht. 4 0 7 Will man einzelne Rechtssätze beibehalten, die sich zur Beantwortung mancher dem Wortlaut nach einschlägigen Fallgestaltungen als unzureichend erwiesen haben, ist es aber notwendig, die Gründe für diese Defizite nicht nur abstrakt anhand von Interessenerwägungen oder Weitungsgesichtspunkten darzulegen oder in entsprechenden Falltypen zu veranschaulichen. Das Anliegen muß vielmehr darin bestehen, zunächst einmal Rechtssätze ausdrücklich beizubehalten, die sich im „Normalfall" bewährt haben, und sie dabei möglicherweise sogar noch schärfer auf ihren eigentlichen Anwendungsbereich zu beschränken (also etwa im Fall des Leistungsbegriff auf die bloße Bestimmung des Vorliegens einer Leistungsbeziehung). Erforderlich ist es dann aber auch, Ausnahmen von diesen Rechtssätzen nun ebenfalls regelhaft zu erfassen. Die Dogmatik hat also zwar ohne Zweifel vom „Normal404 Oben 3. Teil, 3. Abschnitt, II. 1. 405 Oben 3. Teil, 3. Abschnitt, II. 2. a). 406 Vgl. etwa Esser ! Weyers, Schuldrecht II/2, § 48 III 1 d) (S. 49 f.), der es für erforderlich hält, die „privatautonome Zwecksetzung der Parteien" in vielen Fällen „durch »nachempfundenen' Vollzug der Privatautonomie" zu ergänzen, aber auch „durch individuell-pragmatische Argumente (, Vertrauensschutz 4) oder schließlich [ . . . durch] ,policy'-Erwägungen aus dem ökonomisch-sozialen Kontext". 407 Vgl. hierzu bereits oben 2. Teil, 1. Abschnitt, I.
3. Abschnitt: Zur Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Methoden
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fall" auszugehen, muß darüber hinaus aber auch bestrebt sein, Regeln zur Behandlung von „Extremfällen" aufzustellen, in denen der Rechtsanwender zu seiner Entlastung erst recht auf die Vorschläge der Dogmatik angewiesen ist. In der Lehrbuchliteratur der vergangenen Jahre hat Canaris sich darum bemüht, auch die Lösung von „Extremfällen" in seine Neukonzeption zum Larenz'sehen Schuldrechtslehrbuch miteinzubeziehen. Unter methodologischen Gesichtspunkten bleibt zu hoffen, daß der dort verfolgte Ansatz, die Ausnahmen der Fallösung vom „Normalfall" regelhaft zu erfassen, die künftige Entwicklung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik nachhaltig beeinflussen wird. Bezweifeln mag man hingegen, ob die Dogmatik der von Canaris variiert vorgetragenen Forderung folgen wird, den Leistungsbegriff als dogmatisches „Zentralkriterium" zu verabschieden und ihn nun durch ein dogmatisches „Zentralkriterium" des kondiktionsauslösenden Mangels zu ersetzen. Zum einen ist schon der Begriff eines dogmatischen „Zentralkriteriums" unter methodologischen Gesichtspunkten zweifelhaft, wenn man, wie Canaris selbst, die Schwäche des Leistungsbegriffs zu Recht gerade darin sieht, daß er „zentral" sowohl die Rechtsfolge des Bestehens einer Leistungsbeziehung wie die Rechtsfolge der Richtung des Bereicherungsausgleichs aussprechen soll. Es ist dann aber auch ein bedeutsamer Unterschied, ob man sich den Prozeß der Rechtsfindung mit Canaris so vorstellt, daß der Rechtsanwender sich in erster Linie an die maßgeblichen Wertungen zu halten hat, um die so gewonnenen Ergebnisse lediglich darstellungsmäßig mit Hilfe der herkömmlichen (am Leistungsbegriff orientierten) Terminologie wiederzugeben, 408 oder ob man seitens der Dogmatik tiefschürfende Überlegungen zu bereicherungsrechtlichen Wertungsgesichtspunkten anstellt, um sie in einem Lehrbuch zur Darstellung zu bringen. Die eine Darstellung hat ihrer Funktion nach mit der anderen kaum etwas gemein. Der Student schildert in seiner gutachtlichen Darstellung die Entscheidung eines Falles, die Darstellung in einem Lehrbuch soll diese Entscheidung hingegen erst ermöglichen. Wenn sich der Rechtsanwender damit über das System dem Fall widmet, die Dogmatik hingegen über den Fall dem System, so ist es keineswegs nur „pragmatisch", dem Studenten zu raten, sich an den überkommenen Begriffen und Rechtssätzen zu orientieren. 409 Soll die Dogmatik ihrem Anspruch, Rechtsfindung rational zu lenken, gerecht werden, muß sie vielmehr einen Prozeß der Rechtsfindung ins Auge fassen, der nicht fallorientiert auf Wertungsgesichtspunkte zurückgreift, sondern der zunächst systemorientiert nach dem Ordnungsgefüge mit allen seinen Rechtssätzen und Begriffen fragt, das ihm die Dogmatik zur Verfügung stellt. 410
408 So der Blick von Canaris auf die Fallösungstechnik des Studenten, vgl. Larenz! Canaris, Schuldrecht II/2, § 70 V I 5 a) (S. 252) (Kursivdruck im Original). 409 So aber Larenz! Canaris, Schuldrecht I I / 2 , § 70 V I 5 (S. 252). Andererseits ist diese Orientierung an bewährten Rechtssätzen aber auch nicht nur Ausdruck eines unreflektierten „Rechtspositivismus", sondern bewußte Orientierung an Begriffen oder Rechtssätzen, die sich im Normalfall bewährt haben. Vgl. insoweit die Kritik von Kupisch, der freilich auch seinerseits den Normalfall als Bezugspunkt dogmatischer Regelbildung ins Auge faßt, ders., JZ 1997, 213 (221 f.), und hierzu bereits oben 3. Teil, 2. Abschnitt, II. 3.
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3. Teil: Ansätze zu einer methodischen Konsolidierung
Damit zeigt sich aber ein weiteres Mal, daß die Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik allemal einen Meinungsaustausch über die Frage voraussetzt, wie man sich den Prozeß der zivilrechtlichen Rechtsfindung vorstellt, welche Bedeutung man den einzelnen methodischen Ansätzen zum Bereicherungsrecht in diesem Prozeß der Rechtsfindung beimißt, und welche Funktionen man der Dogmatik in diesem Prozeß zuweist. Diese Fragen sind ihrer Substanz nach nicht materiellrechtlicher, sondern methodologischer Natur und stellen sich über das Bereicherungsrecht hinaus auch in jedem anderen Teilgebiet des Zivilrechts. Die vorliegende Untersuchung kann nicht den Anspruch erheben, die Frage nach der angemessenen Gewichtung dieser methodischen Strömungen und die Frage nach der Funktion von Dogmatik im Prozeß der zivilrechtlichen Rechtsfindung in einer allseits befriedigenden Weise beantwortet zu haben. Es wäre allerdings schon viel gewonnen, wenn deutlich gemacht werden konnte, daß eine Konsolidierung der bereicherungsrechtlichen Dogmatik jedenfalls auch eine eingehendere Berücksichtigung dieses methodologischen Fragenkreises voraussetzt.
410 3. Teil, 3. Abschnitt, II. 2. b).
Ausblick - Juristische Dogmatik und europäische Rechtskultur Die Untersuchung hat für das deutsche Zivilrecht die These verfolgt, daß die beiden Hauptfunktionen juristischer Dogmatik darin liegen, ein Ordnungsgefüge für die Auswahl von Rechtssätzen aufzustellen und durch die Entwicklung von spezifizierenden Falltypen und Hilfsnormen zum Verstehen der Rechtssätze beizutragen. Beide Funktionen knüpfen an eine idealtypische Einteilung der zivilrechtlichen Rechtsfindung in die Stufen eines Auswählens, Verstehens und Anwendens von Rechtssätzen an. Diese abschließenden Ausführungen sind vom dem Gedanken bestimmt, daß diese drei Stufen der Rechtsfindung nicht nur in einem kodifizierten Recht, sondern auch in einem scheinbar so gegensätzlichen Präjudizienrecht von Bedeutung sind. Auf dieser Grundlage läßt sich dann die weitere Hypothese aufstellen, daß ein Wirkungsbereich der Jurisprudenz, der hier als Dogmatik untersucht wurde, auch in anderen Rechtsordnungen seine Bedeutung hat, und daß eine eingehende Reflexion dieses Wirkungsbereichs in jedem nationalen Recht unverzichtbar ist, wenn man das Ziel einer Annäherung an eine europäische Rechtskultur verfolgt, wie dies heute, angeregt durch Vorgaben der Europäischen Union, immer stärker geschieht.1 Diese These kann am Ende dieser Untersuchung freilich nur noch als Frage aufgeworfen und nicht in ihrer notwendigen Differenzierung untersucht werden. Es kann also lediglich darum gehen, einen Ausblick auf die Bedeutung nationaler juristischer Dogmatik im Rahmen einer europäischen Harmonisierung des Privatrechts zu eröffnen. Beschränkt man sich auf das englische Präjudizienrecht als den methodisch scheinbar schärfsten Gegensatz zum weitgehend kodifizierten kontinentaleuropäischen Recht, so läßt sich der für das deutsche Zivilrecht entwickelte Gedanke dahin übertragen, daß auch Präjudizien zunächst aufgefunden und verstanden sein wollen, bevor der Richter sie seiner Fallentscheidung zugrunde legen kann. Damit bedarf aber auch der englische Jurist eines Ordnungsgefüges und seiner Vermittlung, um von hier aus eine sinnvolle Auswahl von Präjudizien vornehmen zu können, auch wenn Begriffen wie „Ordnung" und „System" in der englischen Rechtskultur aus vielschichtigen geistesgeschichtlichen Gründen ohne Zweifel längst nicht der gleiche Stellenwert wie etwa im deutschen Recht zukommt.2 Die Aus1
Vgl. statt umfangreicher Nachweise den Überblick bei Basedow; AcP 200 (2000), 445 ff., der ähnlichen Überlegungen nachgeht, vgl. auch ders., in: Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, S. 79 ff. 2 Wenn mithin jeder angehende Jurist zunächst Zugang zu einem spezifischen juristischen Denken oder in eine individuelle (heute noch weithin nationale) Rechtskultur finden muß,
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Ausblick
richtung auf den Richter als zentrale Recht sprechende Autorität bringt es dann auch mit sich, daß jeder Äußerung eines Rechtsgelehrten von vornherein weniger Bedeutung beigemessen wird als in Deutschland. Nicht von ungefähr zog man in England lange Zeit aus der Skepsis, ein Rechtsgelehrter könne seinen Standpunkt jederzeit wieder ändern, die Konsequenz, daß man Autoren erst nach ihrem Tod zitieren durfte. 3 Das hat sich heute zwar, immerhin auch erst seit dem beginnenden 20. Jahrhundert, geändert, aber noch immer gelten lediglich die meist mehrere Jahrhunderte alten sogenannten Books of Authority als dem Richterrecht ebenbürtige Rechtsquellen, und dies in erster Linie auch wiederum nur wegen ihres Anspruchs, eine authentische Darstellung von Präjudizien in einer Zeit zu geben, in der nahezu noch keine Entscheidungssammlungen existierten. 4 Es wäre nun allerdings eine sehr oberflächliche Betrachtung, anzunehmen, der angehende Jurist in England lerne das Recht allein über Fälle und Präjudizien. Auch aus der englischen Juristenausbildung ist eine differenzierte Lehrbuchliteratur zu einzelnen Teilgebieten des Rechts nicht mehr wegzudenken. Die Darstellung des Fallrechts erfolgt also stets bereits unter Gesichtspunkten, die man von deutscher Seite aus als systematisch bezeichnen würde, auch wenn diese Gliederungssystematik schon mangels einer einheitlichen Vorgabe in einem Gesetz notwendig weniger streng ausfällt als im deutschen Recht.5 Auch hier trifft man also auf ein Ordnungsgefüge, nun weniger vgl. oben 2. Teil, 2. Abschnitt, III. 1. a), so ist es zwar richtig, daß das Recht schon aus ontologischen Gründen keine kulturelle Integration oder Konvergenz bewirken kann, vgl. insoweit Legrand, International and Comparative Law Quarterly, 45 (1996), 52 (62) (und bereits oben Fn. 281). Ebenso wie dieser Zugang heute im jeweiligen nationalen Rahmen gefunden wird, ist dann aber andererseits die These überzogen, die Unterschiede in der Mentalität der englischen und der kontinentalen Rechtskultur ließen sich nicht überwinden. So aber Legrand, International and Comparative Law Quarterly, 45 (1996), 52 (61 f.): „Indeed, if one forgoes a surface examination at the level of rules and concepts to conduct a deep examination in terms of legal mentalités, one must come to the conclusion that legal systems, despite their adjacence within the European Community, have not been converging, are not converging and will not be converging. It is a mistake to suggest otherwise." Weniger kritisch etwa Collins, Review of Private Law [1995], 353 (362 ff.). Den Ausgangspunkt zweier unterschiedlicher Rechtskulturen Englands und des Kontinents sieht v. Caenegem aus historischer Sicht im 12. Jahrhundert, in dem die englische Zivilisation dem Kontinent näher gestanden habe als zu jeder anderen Zeit, vgl. ders., The Birth of the English Common Law, S. 85 ff. 3
Vgl. Zander, The Law-Making Process, S. 388. So Ward, Walker & Walker's English Legal System, S. 88. Als Books of Authority gelten insbesondere Glanvill, The treatise on the laws and customs of the realm of England (ca. 1187); Bracton, on the Laws and Customs of England (ca. 1250); Coke, Institutes of the Laws of England (1628); Blackstone, Commentaries on the Laws of England (1765-1769). Vgl. hierzu auch Shears / Stephenson, James' Introduction to English Law, S. 20 f.; Zander, The Law-Making Process, S. 387 ff. 4
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Um ein Beispiel zu nehmen, unterteilt etwa Smith, Smith and Thomas, a Casebook on Contract, seine Darstellung der einzelnen Urteile in I. The formation of a Contract (S. 1 ff.), II. Consideration and privity of Contract (S. 197 ff.), III. Obligations arising from the contract and its formation (S. 331 ff.), IV. Rights and remedies of the injured party (S. 563 ff.), V. Vitiating Factors (S. 651 ff.).
Ausblick
von Rechtssätzen als von Präjudizien, das der Jurist verinnerlichen muß, und das ihm durch eine gegliederte Darstellung grundlegender Entscheidungen nahegebracht wird, denen nun die gleiche Funktion zukommt wie im deutschen Zivilrecht den sogenannten Schulbeispielen. Von juristischer Dogmatik spricht man insoweit freilich nur in Deutschland.6 Damit zeichnet sich aber ab, daß man weder das englische case law allein von einer fallorientierten Methode der Rechtsfindung geprägt sehen kann, wie umgekehrt das deutsche kodifizierte Recht allein von einer systemorientierten Methode der Rechtsfindung. Sehr unterschiedlich und möglicherweise gar gegensätzlich mag die Gewichtung beider methodischer Ansätze sein, insofern das englische case law gerade nicht von einem verbindlichen systematischen Rahmen von Rechtssätzen oder auch nur Präjudizien ausgeht. Die deutsche Jurisprudenz ringt gleichsam mit der Induktion, das englische Recht mit der Deduktion, ohne daß beide Seiten deshalb aber auf das jeweilige methodische Gegenstück verzichten würden. Für das Projekt einer Harmonisierung des europäischen Privatrechts hat diese Beobachtung zur Konsequenz, daß zwar weiterhin nach der Ähnlichkeit von Problemlösungen in den unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen zu fragen sein wird, um von hier aus Ubereinstimmungen und Unterschiede von nationalen Begründungstechniken differenziert zu ermitteln. 7 Wenn Rechtsfindung in einem sehr wörtlichen Sinne dann aber auch von der Ordnung und Darstellung von Rechtssätzen bzw. Präjudizien abhängig ist, dann muß ein wesentliches weiteres Anliegen zum Zwecke einer europäischen Privatrechtsharmonisierung auch darin bestehen, die Unterschiedlichkeit der nationalen Ordnungsgefüge und die methodische Ausrichtung der Rechtsfindung in den Blick zu nehmen.8 Das gilt um so mehr, als ein
6 Vgl. zum Sprachgebrauch im angelsächsischen Recht Kötz, in: Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, S. 75 (78 ff.). Deutlich in die Nähe kontinentaleuropäischen Rechtsdenkens wird die englische Rechtskultur hingegen bei Sugarman gerückt, in: Legal Theory and Common Law, S. 26: „law is an internally coherent and unified body of rules. This coherence and unity stem from the fact that law is grounded in, and logically derived from, a handful of general principles [ . . . ] . The exposition and systematization of these general principles, and the techniques required to find and to apply them and the rules that they underpin, are largely what legal education and scholarship are all about". 7 Den ersten Band eines umfassenden Ländervergleichs speziell zum Bereicherungsrecht der europäischen Staaten hat in jüngster Zeit Schlechtriem vorgelegt, Restitution und Bereicherungsrecht in Europa. Vgl. aber auch bereits Zweigert I Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, §§ 38, 39 (S. 538 ff.). Über eine rechtsvergleichende Betrachtung der einzelnen Zivilrechte hinaus wird es aber auch erforderlich sein, rechtsvergleichende Studien über das Verhältnis von Zivilrecht und öffentlichem (Unions-) Recht anzustellen. So wird etwa von Preedy, Review of Private Law 1 (2000), 125 (131 f.), der Gedanke verfolgt, den im deutschen Recht entwickelten Gedanken mittelbarer Drittwirkung von Grundrechten auch für die europäische Ebene fruchtbar zu machen. Preedy bemüht sich insoweit um den Nachweis, daß die deutsche Drittwirkungslehre keine unnötige akademische Verkomplizierung ist, sondern ein überaus geeignetes Instrumentarium darstellt, auch auf europäischer Ebene zwischen der rechtlichen Beurteilung von Akten staatlicher Gestaltung und von Akten der Ausübung von Privatautonomie substantiell zu differenzieren.
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allzu früh erlassenes einheitliches Regelwerk maßgeblich vor dem Hintergrund der jeweiligen nationalen Rechtskultur gehandhabt und damit gerade nicht auf eine weitgehend einheitliche Weise umgesetzt würde. Das soll nun nicht bedeuten, daß sich ein einheitliches europäisches Zivilrecht nur über Jahrhunderte entwickeln kann, weisen die einzelnen nationalen Rechtsordnungen doch eine Vielzahl gemeinsamer Entwicklungslinien auf. 9 Es soll lediglich die Vermutung geäußert werden, daß sich die Fragen, die eine europäische Rechtsvereinheitlichung aufwirft, nicht allein auf der Ebene des materiellen Rechts beantworten lassen. 10 Wenn es i m Gegenteil richtig ist, daß Aussagen zur juristischen Methodenlehre wie auch zur juristischen Dogmatik um so substantieller werden, je fachbezogener sie erfolgen, dann könnte diese Aussage auch über das deutsche Recht hinaus für jede andere nationale Rechtsordnung unseres Kulturkreises gelten. Auch innerhalb der juristischen Methodenlehre und innerhalb eines hier als Dogmatik bezeichneten Funktionsbereichs der Jurisprudenz bestehen mithin Unterschiede, die der Harmonisierung bedürfen, was aber zuvor entsprechende methodologische Betrachtungen zu jeder nationalen Rechtskultur voraussetzt.
8 Auf dieser Linie warnt etwa Weick davor, die methodischen Instrumente des eigenen Rechts ohne vorherige kritische Reflexion auf ausländisches oder internationales juristisches Material zu übertragen, und entwickelt hierauf aufbauend Ansatzpunkte für eine Herausbildung allgemein akzeptabler Auslegungsgrundsätze für internationale juristische Texte. Vgl. Weick, in: Freundesgabe für Söllner, S. 607 (608 f., 612 ff.). 9 Hierauf weisen vor allem die Ansätze hin, die die gemeinsame Tradition des ius commune für eine europäische Rechtsharmonisierung fruchtbar machen möchten. Vgl. insbesondere Zimmermann, JZ 1992, 8 ff.; ders., ZEuP 1993, 3 ff.; ders., JB1. 1998, 273 ff., aber auch etwa Schulze, in: Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, S. 3 ff. 10 Vgl. insoweit die Kritik Dölles, RabelsZ 34 (1970), 403 (406 f.), an Zweigert, in: Festschrift für Bötticher, S. 443 ff., der aus seiner Sicht zu Unrecht Dogmatik und Rechtsvergleichung in das Verhältnis antithetischer Rechtsbehandlung rückt. Während die Dogmatik mit rationalen Sinnbezügen arbeite, erschließe die Rechtsvergleichung durch ein erweitertes Blickfeld entsprechend erweiterte Lösungs- und Erkenntnismöglichkeiten, auch für die Dogmatik. Die Rechtsvergleichung öffne damit aber auch die Augen für „Zusammenhänge (auch systematische, dogmatische!) und Lösungen", die bisher nicht vertraut gewesen seien. Mithin konkurriere sie nicht mit der Rechtsdogmatik, sondern geselle sich ihr „als methodischer Partner im Streben nach sozialer Gerechtigkeit". Auf die Aktualität dieser Sichtweise macht Kötz aufmerksam, wenn er sich - ganz entgegen dem Eindruck mancher seiner Kritiker (vgl. etwa Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 238 f., Fn. 252, mit Blick allein auf die Äußerungen Kötz' zur deutschen bereicherungsrechtlichen Dogmatik) - um den Nachweis bemüht, daß juristische Dogmatik unentbehrlich ist, um „den ständig neu produzierten Rechtsstoff - es handele sich um neue gesetzliche Vorschriften oder auch um Gerichtsentscheidungen - daraufhin zu prüfen, ob er sich in die gegebene Ordnung einfügt oder die Ergänzung oder den Ausbau dieser Ordnung erfordert". Dogmatik suche mithin „in der verwirrenden Vielfalt des Bestandes an rechtlich erheblichen Regeln eine Ordnung zu stiften", vgl. Kötz, in: Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, S. 75 (78). Aus der Sicht Kötz' mag die Gewichtung dogmatischer Bemühungen in den einzelnen Rechtskulturen zwar unterschiedlich ausfallen. Jede Rechtsordnung bedürfe jedoch dogmatischer Anstrengungen im Sinne einer „Handlichmachung des Rechtsstoffs", ganz unabhängig davon, welcher Stellenwert in ihr dem Gesetz oder dem case law als Rechtsquelle beigelegt werde (ders., S. 79).
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Der hohe Erkenntniswert, der zu diesem Zweck von einer eingehenden methodischen Analyse der jeweiligen Lehrbuchliteratur eines Landes ausgeht, kann noch nicht als angemessen eingeschätzt gelten. Die vorgelegte Untersuchung läßt sich insoweit auch als ein Modell verstehen, wie man sich in einem nationalen Recht der Beurteilung einzelner Ordnungskräfte und Methodiken für die Rechtsfindung zuwenden kann. Die hier für das deutsche Recht erarbeitete Analyse einer Bedeutung der Dogmatik in der zivilrechtlichen Rechtsfindung mag in dieser Perspektive auch als ein Beitrag zu einer solchen europäischen Diskussion über die Bedeutung juristischer Dogmatik und juristischer Methodik für die zivilrechtliche Rechtsfindung gelten, und damit als ein Beitrag zur Annäherung an eine gemeinsame europäische Rechtskultur.
19 Gödicke
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20 Gödicke
Personenregister Adomeit 19, 25 ff. Alexy 71 f., 80 Aristoteles 52, 63, 157, 210 Azo 53 Ballerstedt 93 Basedow 285 Bassenge 137 Batsch 18 Bäuerle 97 Baur/Stiirner 185, 205,216 Behrends / Knütel / Kupisch / Seiler 127 Björne 127 Blackstone 286 Bolsinger 88 Bracton 286 Brox/Walker 211 Burrows 181,213 Bydlinski 24 f., 43, 50, 61, 70 f., 74, 79 f., 83 f., 90, 116, 131, 162, 217, 219 ff., 224, 228, 231 f., 234, 238 f., 242, 244, 270, 288 Caemmerer, v. 17 f., 34, 40, 170, 172, 176, 180, 187, 190, 193, 222 f., 237 f., 245, 262 ff., 282 (s. auch v. Caemmerer/König) Caemmerer, v. / König 262 f. Caenegem, v. 286 Canaris 18 f., 25 f., 35,43,77,119 ff., 159 f., 206, 211, 215, 219, 224, 229 f., 234, 242, 244 ff., 269 f., 272 ff., 283 (s. auch Larenz/Canaris) Celsus 225 Cicero 234 Coing 58,75, 234 Coke 286 Collins 286 Costede 169
Dawson 181, 262 Diederichsen 84, 158, 163, 234 Dießelhorst 18 Dolle 288 Dreier 96 Dubischar 127 Elze 49,51,54 Emmerich 24, 32, 179, 195, 198 ff., 211, 215, 249, 253 Engelhard 41 Engisch 71, 78, 83, 101, 103, 105, 150 f., 258 Enneccerus 57 Enneccerus / Lehmann 208 Esser 18 f., 50, 63 f., 68 ff., 76 f., 80 f., 93, 108 f., 153, 156, 160 ff., 178, 212, 260 (s. auch Esser / Weyers) Esser/Weyers 18 ff., 24, 26, 28, 32 ff., 38 f., 169, 175, 179, 181, 189, 191, 199, 201 f., 206, 212, 215, 227 ff., 232 ff., 242, 244, 249, 252, 260, 264, 266, 270, 273, 282 Fikentscher 8 f., 101, 108, 178 f., 199, 208, 211,249, 253, 275 Fischer 56 Flessner 20,40, 225, 233 ff. Flume 18, 23, 28, 127, 217, 222 ff. Fournier 88, 193 Fuchs 88 Gaius 127 f. Gernhuber 208 Gierke, ν. 264 Giesen 26 Glanvill 286 Gmür 98 Gödicke s. Habermann / Lasch / Gödicke Goff/ Jones 181,213 Grigoleit 183
Personenregister Großfeld 19, 26, 39 f., 122 Gursky 174, 205, 215 Habermann / Lasch / Gödicke 136 Hager 118,215 Harder 18, 227, 249 Harenburg 61, 84 Hassemer71 Hattenhauer 210 Hausmaninger/Selb 187 Heck 58 f., 66 ff., 110, 120, 122 Hegel 94 Heghmann 88 Heimann-Trosien 24, 26, 179, 1999 Heimlich 88 Heise 127 Hellwig 172 Henß 117 Herberger 50 ff. Huda 94 Hugo 130, 212 Husserl 63, 77 Ipsen 149 Jakobs 17, 24 ff., 33, 39, 42 f., 226, 229 f., 242 f. Jhering, v. 58 f., 65 ff., 70, 76, 227 Joerges 34, 37 Justinian 53 Kaehler 18, 169 Kamionka 23 Kant 51, 53 ff., 96, 165, 234 Karthaus 64, 165 Käser 178, 187 f., 212 Kaufmann 59, 77 f., 85, 108, 150 f., 182, 258 Kellmann 18 Kelsen 76 Kittner 211 Klaever 196 Klug 150 Knieper 20, 25, 27,42, 186, 225, 231, 242 Koch/Rüßmann 108 König 26, 28, 40 f., 175, 205, 228, 237, 262 f., 265, 267, 276, 282 (s. auch v. Caemmerer / König) 20*
307
Koppensteiner/Kramer 18, 23 f., 33 f., 39 f., 179, 199 ff., 205, 215, 218, 228, 230, 234 f., 249, 253 Kötter 18 Kötz 25, 27 f., 39, 68, 81, 162, 242, 287 f. (s. auch Zweigert/Kötz) Koziol 236 Kramer 208 f. (s. auch Koppensteiner/Kramer) Krause 88 Krawielicki 16 Krawietz 72 Kreß 172 Kriele 77 Kübel, v. 31, 264 Kupisch 18 ff., 23, 26, 42, 72, 127, 188, 224 f., 227 f., 242, 244, 259, 264, 270, 283 Larenz 23 ff., 43, 58 f., 64 f., 67, 69 f., 72, 81 ff., 91, 101, 103 ff., 108, 111, 120, 122 f., 158, 182, 208, 210 f., 217, 225, 231, 234, 241, 243 f. (s. auch Larenz/Canaris) Larenz/Canaris 19, 21, 23 ff., 32, 35, 169, 172, 176, 178, 186, 189, 194, 198 ff., 205 f., 211, 215, 224, 228, 230, 245, 248, 250 f., 253 ff., 266 f., 269, 274 ff., 283 Lasch s. Habermann/Lasch/Gödicke Legrand 244, 286 Lenel 264 Lerinum, v. 49 Lessing 106 Lieb 19, 24 f., 32, 40, 179 f., 186, 191, 199 ff., 205, 215 f., 227, 240, 249 Loewenheim 18, 24, 26 f., 32 f., 37,42, 179, 189, 195, 199 ff., 205, 215, 249, 253 Lorenz 18, 24, 27, 40, 180, 195, 199 ff., 203, 205, 215, 249 Luhmann 71 f., 80, 228 Martinek 25 ff., 42 f., 181, 226, 229 f., 242, 244 (s. auch Reuter/Martinek) Mayr, v. 16 Medicus 19, 24 ff., 174, 180, 190 f., 194 f., 199 ff., 205, 208, 211, 214 ff., 249, 253 Meyer 16, 18
308
Personenregister
Meyer-Cording 50, 62 ff., 66 ff., 71, 73 ff., 84, 116, 160 f., 182 Mühl 174, 179, 199, 245,249 Müller 211 Müller-Erzbach 59 Nierwetberg 135 Nipperdey 40 Pawlowski 61, 67, 72, 80, 231 Pinger 18, 189, 242 Plato 51,91, 117 Plessen 16 Podlech 61 Pomponius 178 f., 263 Posch 236 Preedy 287 Puchta 58, 227 Pütter 55 Quack 137 f. Quintilian 52 Raiser 64, 81 Rehbinder 73 Reinach 63, 182 Reuter 226 (s. auch Reuter/Martinek) Reuter/Martinek 16, 18 f., 24 f., 32, 34, 41 f., 172, 176, 178, 180, 184, 186, 188 f., 196, 198 ff., 205 f., 216, 226, 233, 242, 244, 249, 252 f., 264, 266 f., 270 f. Rousseau 96 Savigny, E. v. 61 Savigny, F. C. v. 16, 63, 69 f., 122, 178, 186, 188, 223 f., 264 Schapp, J. 16, 44, 55, 67 f., 70 f., 82, 84, 90 ff., 108 ff., 117, 120, 122, 126 ff., 135, 141 f., 145, 148, 152 ff., 157, 159, 162, 174, 182, 192, 194 f., 197, 199, 202, 205, 208 ff., 230 f., 240, 256, 258, 277 Schapp, W. 55, 103, 111, 130, 182 ff. Schlapp 61 Schlechtriem 19, 24 f., 33, 41 f., 189, 191, 195, 198 ff., 212, 227 f., 242, 244, 249, 253,263, 287 Schiette 88 Schmidt, E. 73
Schmidt, J. 208 Schnauder 18, 27, 41 f., 218, 233, 242 Schneider 64, 66, 73 Schreiber 18 Schroth 72 f. Schubert 31, 264 Schulz 16 f., 34 Schulze 288 Schur 94 f., 121 f., 126, 128 ff., 135, 197, 209 f. Schwab 122 Schwarz, A. 127 Schwarz, F. 30 Schwerdtner 75 Seiler 200 Shears / Stephenson 286 Siber 208 Simitis 71 Smith 286 Starck 73 Stein 93 Steinbach 128 f. Stoll 59, 109 f., 252 Strenge 106 Strub 118 Struck 61 Sugarman 287 Thielmann 19, 216, 249 Thomas 179, 199, 240, 249 Thul 50 Troller 148 Tuhr, v. 175 Unruh 88 Viehweg 63, 160, 231 ff., 235 Wall, de 29, 95 Wallmann 19, 261 Wank 153 Ward 286 Weick 288 Weitnauer 23, 27, 34, 37, 244 Wendehorst 96, 175, 186,194 Wesel 19, 25, 27,216,218, 227 Westermann, H. P. 23 f., 33, 179, 199 ff., 205, 215, 270
Personenregister Weyers s. Esser/Weyers
Wolf, E. 20, 68, 208
Wieacker 53, 55, 57 f., 63, 65 f., 71, 75 ff., 84, 86, 96, 160, 234 Wiegand 138 Wieling 23, 26 ff., 43, 168, 198, 200 ff., 217 ff., 228, 253 Wilburg 16 ff., 31, 34, 38, 40, 119, 170, 172, 175, 179, 186, 191 ff., 205, 222, 232 ff., 262, 264 f., 267, 282 Wilhelm 18, 20, 23, 29,42 f., 230, 242 ff. Windscheid 68, 98, 108, 264 Wittgenstein 48, 103
Wolf, J. 18, 20, 169 Wolff, Ch. 50, 53 ff., 57 ff., 127, 234 Wolff, L.-Ch. 246 Zander 286 Zepos 208 Zimmermann 184, 288 Zimmermann / du Plessis 23 f., 27, 264 Zweigert 288 Zweigert/Kötz 243, 287
Sachregister Abschöpfungskondiktion 201, 203, 266 Abstraktionsprinzip 183 f., 212, 219 - u. Dreipersonenkonstellation 247, 276 - u. Leistungskondiktion s. dort Analogie s. Entwicklung von Rechtssätzen, Rechtsfindung Anspruch 97 ff. - Anspruchsaufbau 98 f., 133 ff. - Anspruchsnormen und Hilfsnormen 99 ff., 107 ff. - Auswählen von Anspruchsnormen 122 ff. Anspruchssystem - äußeres A. 98 f., 129 ff. - Dichotomie von Schuldverhältnis u. Eigentum 126 ff., 170, 180, 185 f., 204, 267 f. - inneres A. 98, 190 - u. Bereicherungsrecht 171 ff. Anwendung s. RechtsanWendung Ausgleichsgedanke s. Gerechtigkeit Auslegung s. Verstehen Auswählen - Α., Verstehen u. Anwenden 113 ff. - von Rechtssätzen s. Ordnung Begrifflich-systematischer Ansatz s. Systemorientierter Ansatz Begriffsjurisprudenz 43, 58, 60 ff., 66 ff., 70, 76, 120, 217, 227, 249, 257 Bereicherung durch Leistung s. Leistungskondiktion Bereicherung in sonstiger Weise 191 ff. - Dreiteilung s. Nichtleistungskondiktion - s. auch Ungerechtfertigte Bereicherung Bereicherungsansprüche - fallgeprägte Begrifflichkeit 266 f. - praktische Relevanz der einzelnen B. 32, 181 - primärer Inhalt von B. 173 f. - sekundärer Inhalt von B. 174 ff.
- Trennung der B. 17 - Typologie von B. 17, 40 f., 170, 223, 237 ff., 265 ff. - vergleichbare Rückabwicklungsansprüche 190 ff. Bereicherungsrecht - als Abwicklungsrechtsgebiet 36 - als Billigkeitsrecht 28,240 ff. - Dichotomie von Leistung und Eingriff als Säulen des B. 170 ff., 180, 186 ff., 204 f., 267 f. - Einheitslehren s. dort - „etwas [ . . . ] erlangt" 143 ff. - Gesetzliches Regelungsinstrumentarium 30 ff, 170,215 - Grundprinzipien und Grundstrukturen des B. 180, 214, 217ff, 224 f., 269 f. - Güterbewegung und Güterschutz s. jeweils dort - Historische Perspektive 15 ff., 31, 34, 175, 178 f., 187 ff., 219,263 ff. - im öffentlichen Recht 29 - Komplexität der Vermögensmehrungen 35 ff. - Normalfälle u. Extremfälle 225 ff., 249 f., 270 ff. - Reformbestrebungen 40 f., 263 - Systembildung s. Bereicherungsrechtliche Systembildung - Trennungslehre s. dort - u. Deliktsrecht s. dort - u. Geschäftsführung ohne Auftrag 41, 192, 205, 267 - u. zivilrechtliches Anspruchssystem 171 ff. - s. auch Ungerechtfertigte Bereicherung Bereicherungsrechtliche Dogmatik - begrifflich-systematischer Ansatz s. Systemorientierter Ansatz
Sachregister - Einbeziehung von Wertungsgesichtspunkten in eine Neuordnung der b. D. 244 ff., 269 f. - Entwicklung 15 ff., 259 ff., 268 ff. - fallorientierte und systemorientierte Ansätze s. Fallorientierter Ansatz - Konsolidierung 21 ff., 168 ff. - materiellrechtliche Perspektive 20 ff., 168 ff. - methodische Konsolidierung 20 ff., 168 ff. - Regel-Ausnahme-Verhältnis von Hilfsnormen im Bereicherungsrecht 268 ff. - systemorientierter Ansatz s. dort - Unübersichtlichkeit der Dogmatik s. dort - wertungsorientierter Ansatz s. Fallorientierter Ansatz - Zurechenbarkeitsmängel und Gültigkeitsmängel 274 f., 277 f. Bereicherungsrechtliche Systembildung - Orientierung am Tatbestand der ungerechtfertigten Bereicherung 176 ff. - Orientierung an den Rechtsfolgen der bereicherungsrechtlichen Anspruchsnormen 173 ff. - schuldrechtliche und sachenrechtliche Anweisungslagen 274 ff. - trichotomes Kondiktionensystem 203, 264, 266 - u. Nichtleistungskondiktion s. dort Bewegliches System - im Bereicherungsrecht 222, 231,234 ff. - u. Rechtsvergleichung 236 - u. Topik 232, 237 - u. typologische Verfahrensweise 237 ff. - s. auch Rechtsfindung Books of Authority 286 case law 39, 242 f., 285 ff. - s. auch Englische Rechtskultur, Präjudizien corpus iuris 53 f., 57, 62 Deduktive Rechtsfindung - Deduktion und Induktion 39 f., 53, 64, 75 f., 86, 105, 150,159 ff. - Ideal für die Auswahl von Rechtssätzen 159 ff., 226 ff.
311
- im Bereicherungsrecht s. Systemorientierter Ansatz - u. induktive Rechtsfindung im Bereicherungsrecht 169 f., 226 ff., 241 ff. - u. induktive Rechtsfindung im englischen Recht 287 - u. logischer Rationalismus 54 ff., 60 - u. Topik 231 ff. - s. auch Subsumtion, Systemorientierter Ansatz Deliktsrecht - Delikt als vorgegebener Interessenkonflikt der Lebenswelt 183 f. - u. Bereicherungsrecht 17, 33, 41, 177, 179, 181, 192 ff., 220 f. - s. auch Güterschutz, Schuldverhältnis i.w.S. distinguishing von Fällen 39, 148, 242 f. Dogmatik - als Lehre vom geltenden Recht 15, 84 - apodiktische und wahrscheinliche Sätze 51 ff. - Autorität von D. 65, 156 ff. - Bedeutung der D. für die Herausbildung und Fortentwicklung von Rechtssätzen 146 ff. - Bedeutung der D. in der zivilrechtlichen Rechtsfindung 47 ff. - Bedeutungswandel in historischer Perspektive 49 ff. - Entlastungsfunktion 69, 72 ff., 90, 116 f. - Entwicklung von D. 159 ff., 255 ff., 259 ff. - Fall als Entwicklungsmoment von D. 22, 71,83,146ff, 159 ff., 261 ff. - Funktionen juristischer D. aus gegenwärtiger Sicht 60 ff. - „gute" und „schlechte" D. 15, 25, 159 ff., 162 f. - im Bereicherungsrecht s. Bereicherungsrechtliche Dogmatik - im Spannungsverhältnis von Wertungsfreiheit und Mäßigung 68, 117, 159 ff., 169 f. - konsultative u. präskriptive D. 238 f. - Kontrollfunktion 71 ff., 88 ff., 115 ff. - Rechtsanwender als Notgeschäftsführer der D. 258 - Scheitern von D. 162 ff.
312
Sachregister
- Stabilisierungsfunktion 64, 71 f. - systemtheoretischer Ansatz 72 - theologische Konnotationen 49 ff., 85, 158 - Übersichtlichkeit der D. und Rechtsanwendung 35 - u. Ähnlichkeitsverhältnisse von Fällen 91 - u. Auslegung 146 ff. - u. Auswählen von Rechtssätzen 122 ff., 233 f., 256 - u. deutscher Idealismus 53 ff., 65 - u. europäische Rechtskultur s. dort - u. Methodenlehre 90 ff. - u. Öffentlichkeit 155 ff. - u. Ordnung des Rechts 79 ff., 118 ff. - u. Praxis 58 f., 65 - u. Rechtsanwendung 90 f., 155 ff. - u. Rechtsprechung 155 ff. - u. Rechtswissenschaft 155 ff. - u. Verstehen von Rechtssätzen 140 ff. - u. Vorschläge zur Auslegung und Anwendung des Rechts 82 ff. - Verlegenheitsdogmatik 77, 212 - Vulgärdogmatik 70 f., 81, 162 - wissenschaftstheoretische Diskussion zur D. 21 f., 47, 61 Dreipersonenkonstellationen 172, 195 ff., 265 ff. - Aufspaltung in Zweipersonenverhältnisse 172, 197 f. - Darstellungspraxis der Literatur 198 ff. - Entwicklung der D. als typologische Verfahrensweise 203 ff. - Harmonisierung von Wertungen der Leistungs- und der Eingriffskondiktion 202 f. - im Kontext der Eingriffskondiktion 201 ff. - im Kontext 199 ff.
der
Leistungskondiktion
- Interessengesichtspunkte 245 ff., 269 ff. - „Leistungsdreiecke" und „Eingriffsdreiecke" 201 f., 203 f. - u. Grundtypen der Bereicherung 204 ff. - u. Nichtleistungskondiktion s. dort - s. auch Leistungsbegriff
Eigentum - als Wertprinzip der Anspruchsbegründung 127 f., 129 ff., 180, 208 - u. Vertrag 129 ff., 182 ff., 196 Eingriff - u. Leistung als Leittypen bereicherungsrechtlicher Konflikte s. Leistung Eingriffskondiktion 185, 188 f., 191 ff. - historische Entwicklung der heutigen E. 191 ff., 265 - u. Eigentümerbefugnisse 193 ff. - u. Güterschutz 172, 267 - u. Immaterialgüterrechte 143 ff., 189, 192 ff. - u. Leistungskondiktion 17 - u. Rechtsfortwirkung 17, 186, 192 ff., 270 - s. auch Bereicherung in sonstiger Weise, Dreipersonenkonstellation, Nichtleistungskondiktion Einheitslehren 17 f. - u. Trennungslehren 179 f., 186, 262 ff. Englische Rechtskultur 242 ff., 257, 285 ff. - englisches Bereicherungsrecht s. law of restitution - Ordnung von Rechtssätzen u. Lehrbuchliteratur 285 ff. - Stellenwert des Systemgedankens 148, 285 f. - u. Schulbeispiele 287 - u. Wirkungsbereich der Dogmatik 159, 285 ff. - s. auch case law Entwicklung von Rechtssätzen - Bedeutung der Dogmatik 146 ff. - Bedeutung der Kritik bewährter Rechtssätze 268 ff. - durch Herstellen von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Fällen 53, 147 ff. - Spannungsverhältnis von Falltyp und Hilfsnorm 152 ff. - u. Analogieschluß 150 ff. - u. Falltypen 147 ff., 261 ff. - u. Wertungsgesichtspunkte 247, 261, 269 ff. Europäische Rechtskultur 285 ff. - Bedeutung nationaler Dogmatik für eine Harmonisierung des Privatrechts 285 ff. - u. ius commune 288
Sachregister - u. traditionelle Rechtsvergleichung 287 - Vergleichung nationaler Ordnungsgefüge und Methoden 287 f. Fall - Entwicklungsmoment von Dogmatik s. Dogmatik, Entwicklung von Rechtssätzen - Normalfall u. Extremfall 225 ff., 270 ff. Fallorientierter Ansatz - Ausnahmecharakter für die Rechtsanwendung 258 f. - Distanz gegenüber alleiniger Ausrichtung am fallorientierten Ansatz 241 ff. - distinguishing von Fällen 39, 148 - Gewichtung ggü. systemorientiertem Ansatz im Bereicherungsrecht 255 ff., 259 ff., 261 ff. - im Bereicherungsrecht 38 ff., 231 ff.,
241 ff. - Regelcharakter für die Entwicklung von Dogmatik 259 ff. - Stellenwert im englischen Recht 287 - u. Dogmatik 21 f. - u. Entwicklung von Rechtssätzen 22, 46, 261 ff. - u. Rechtsan wendung 21, 151 - u. systemorientierter Ansatz 21, 29, 38 ff., 45 f., 169 f., 213 ff., 226 ff., 231 ff., 241 ff., 255 ff. - u. Topik 38 f., 160 f., 231 ff. - zum Bereicherungsrecht in der Vergangenheit 262 ff. - zum Bereicherungsrecht in der Zukunft 268 ff. - s. auch Bereicherungsrechtliche Dogmatik Falltyp 81, 83, 105 ff. - u. Fortentwicklung des Rechts 146 ff. - u. Hilfsnorm als unterschiedliche Entwicklungsstufen von Rechtssätzen 152 ff. - u. Schulbeispiele 148 f., 224, 238, 261 f. - u. Verstehen des Rechtssatzes 141 ff. Faustregel 34, 215 f., 250, 252 ff., 259, 272 ff. Gerechtigkeit - ausgleichende G. im Bereicherungsrecht 178, 185
313
- ausgleichende u. verteilende G. 95 f. - des Gesetzes 95 ff. Güterbewegung und Güterschutz 126, 172, 180, 186, 189, 196, 204, 267 Hilfsnormen - Auswählen von H. 131 ff., 136 ff. - der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung 102, 111, 142 - Horizontaler und vertikaler Verbund von H. 100 ff., 141 - Regel-Ausnahme-Verhältnis von H. im Bereicherungsrecht 268 ff. - u. Falltyp als unterschiedliche Entwicklungsstufen von Rechtssätzen 152 ff. - u. Fortentwicklung des Rechts 146 ff. - u. Verstehen des Rechtssatzes 141 ff. Induktive Rechtsfindung 39 ff., 53, 157 - als Ideal für das Verstehen von Rechtssätzen 159 ff. - im Bereicherungsrecht s. Fallorientierter Ansatz - u. deduktive Rechtsfindung s. dort - s. auch Fallorientierter Ansatz Interessenjurisprudenz 58, 60 ff., 66 ff., 76, 82, 109 f., 227, 230, 257 - u. Wertungsjurisprudenz 66 f., 160 Kodifikation 15, 21, 162, 243, 256 Kondiktionsauslösender Mangel s. stungsbegriff
Lei-
law of restitution 41, 181, 184, 262 - Kontroverse über systematischen Ort 213 - u. Quasikontrakt 213 Leistung und Eingriff - als Leittypen bereicherungsrechtlicher Konflikte 45 f., 170, 186 ff., 210 ff., 213, 229, 266 ff. - u. Dichotomie von Schuldverhältnis u. Eigentum 45 f., 170, 180, 187, 204 f., 267 f. Leistungsbegriff 18, 33, 41, 215, 217, 219, 227, 229 f., 245ff, 249ff, 269ff. - Abschied vom L. 248, 252, 270 - Ergänzung durch Hilfsnormen niedrigerer Abstraktionsstufe 272 ff. - u. kondiktionsauslösender Mangel 249 ff.
314
Sachregister
- u. Wertungsgesichtspunkte 245 ff., 261, 269 ff. - Unterscheidung zweier Ebenen im L. 275 Leistungskondiktion 187 ff. - als Korrektur des Abstraktionsprinzips 184, 189 f., 194 - Begriff 30 - historische Entwicklung 187 ff., 263 ff. - u. Eingriffskondiktion 17 f., 188 f. - u. Güterbewegung 172, 267 - u. Nichtigkeit als ordnungsstiftendes tabula rasa-Prinzip 190 f. - u. Nichtleistungskondiktion s. dort - u. Rechtsfortwirkung 186, 189, 270 Mehrpersonenkonstellation 18, 24, 26 f., 33, 35 f., 46, 223, 245 ff. - s. auch Dreipersonkonstellationen Methodenlehre - Methodenkoexistenz 75 ff., 159, 256 - und Dogmatik 90 ff. Nichtleistungskondiktion - als Beispiel systemorientierter Fortbildung von Dogmatik 260 ff. - als defizitärer Modus der Leistungskondiktion 196, 205 f. - Begriff 31, 195 ff. - Dreiteilung in Eingriffs-, Rückgriffs- und Verwendungskondiktion 18, 195, 205, 266 - erfaßter Interessenkonflikt der N. 172, 203 ff. - Suggestion eines Zusammenhalts von Zuwendung und Eingriff 205, 260 f. - Ungeeignetheit der N. als Ordnungsbegriff für Dreipersonenkonstellationen 45 f., 203 ff., 230, 271 f. Ordnung - des Auswählens von Rechtssätzen 103 ff., 118ff, 131 ff., 234 - des Rechts 44 ff., 79 ff. - Entgleiten einer O. bei der Auswahl außergesetzlicher Hilfsnormen 136 ff., 228 f. - Ordnungsgefüge von Anspruchsnormen 124 ff. - u. System des Zivilrechts 118 ff.
Phänomenologie 63, 77, 181 ff. Präjudizien - Auswählen, Verstehen und Anwenden von P. im case law 285 ff. - Präjudizienerzählung als Argumentationstechnik der Rechtsprechung 259 - Präjudizienvergleich s. distinguishing von Fällen Quasikontrakt 77, 188, 212 f. Rechtsanwendung 44, 101 ff., 107 ff. - im engeren Sinne 108 ff. - u. Gleichsetzung, Konkretisierung, Zuordnung 101 ff. - s. auch Ordnung, Rechtsfindung Rechtsfindung - Auswählen, Verstehen und Anwenden von Rechtssätzen 113 ff. - deduktive R. s. dort - durch den Rechtsanwender und R. durch den Dogmatiker 256 - induktive R. s. dort - kasuistische R. im Bereicherungsrecht 38 ff., 231 ff. - prinzipiell-systematische R. im Bereicherungsrecht 43, 219 ff., 224, 269 f. - Prozeß der R. im Zivilrecht 92 ff. - Regel-Ausnahme-Verhältnis von systemorientierter und fallorientierter R. 258 f. - streng wissenschaftliche R. im Bereicherungsrecht 43, 217 ff. - u. analogisches Verfahren 78, 150 - u. bewegliches System 40, 119 f., 234 ff. - u. Normkonkretisierung 83 f. - u. Zurückgreifen auf Wertungsgesichtspunkte 250 ff. Rechtsfortwirkung s. Eingriffskondiktion, Leistungskondiktion Rechtsprechung - Kritik der R. im Bereicherungsrecht 27 ff., 240 f. - u. Dogmatik 155 ff. - u. Rechtslehre, Rechtswissenschaft 45, 219 Rechtsvergleichung - u. Bereicherungsrecht 262 f., 287 - u. Bewegliches System 236
Sachregister - u. europäische Rechtskultur s. dort Rückgriffskondiktion 195 f., 201, 266 - s. auch Nichtleistungskondiktion Saldotheorie 18, 175 f., 189 Schema - schematisierende Lösung 15, 27, 168, 222 f., 255, 257, 259 - S. der ungerechtfertigten Bereicherung 222 ff. Schuldverhältnis - Abwicklungsintention gesetzlicher Schuldverhältnisse i.w.S. 209 - als Wertprinzip der Anspruchsbegründung 127 f., 129 ff., 180, 208 - i.w.S. als Quelle von Ansprüchen bei gesetzlichen Schuldverhältnissen 207 ff. - i.w.S. der ungerechtfertigten Bereicherung s. dort - i.w.S. u. Schuldvertrag 208 - i.w.S. und i.e.S. 128 f., 207 f. - u. Autonomie 209 - u. Eigentum als Kern des zivilrechtlichen Anspruchssystems 126 ff., 185 f. - u. Geschäftsführung ohne Auftrag 211, 267 - u. Schuld 209 - u. unerlaubte Handlung 210 f. - Zukunftshorizont vertraglicher Schuldverhältnisse i.w.S. 208 f. Subsidiaritätsgrundsatz 18, 33,215 f., 260 f., 271,277 Subsumtion - als Ideal der Rechtsan wendung 45,149 ff., 226 ff., 257 ff. - aufgrund Abwägung von Gründen 111 ff. - aufgrund einfacher Wertung 111 ff. - Frontstellung zwischen S. und Wertung 44, 74 f. - im Bereicherungsrecht 27, 43, 226 ff. - Subsumtionsmodell der Rechtsanwendung 84, 108 ff. - u. Herstellen von ÄhnlichkeitsVerhältnissen 151 - s. auch Deduktive Rechtsfindung Syllogismus s. Subsumtion System 118 ff. - Ausrichtung am Anspruch 119, 121 ff.
315
- rechtsfolgenorientiertes S. der Anspruchsinhalte 124 ff. - tatbestandsorientiertes S. der Rechtsverhältnisse 125 ff. - s. auch Bewegliches System Systemorientierter Ansatz - Ausnahmecharakter für die Entwicklung von Dogmatik 260 f. - Gewichtung ggü. fallorientiertem Ansatz im Bereicherungsrecht 255 ff. - im Bereicherungsrecht 42 ff., 226 ff., 257 ff. - Regelcharakter für die Rechtsanwendung 257 ff. - Stellenwert im englischen Recht 287 - u. Anwendung des Bereicherungsrechts 257 ff. - u. Dogmatik 22 - u. fallorientierter Ansatz s. dort - s. auch Bereicherungsrechtliche Dogmatik, Rechtsfindung Tatbestand - als Begründung der Rechtsfolge 104 ff. - u. Rechtsfolge bei Anspruchsnormen und Hilfsnormen 99 tertium comparationis - bei der Entwicklung von Rechtssätzen 151 - beim Verstehen des Rechtssatzes 106 - bereicherungsrechtlicher Fälle 180, 265 Topik 63, 75 ff., 160 f. - im Bereicherungsrecht 231 ff. - u. Bewegliches System 232, 237 Trennungslehre 186 f., 191 - u. Einheitslehren s. dort Typologie - Herstellen von Ahnlichkeitsbeziehungen zwischen Fällen 148 f., 262 ff. - Relativierung des Gegensatzes von deduktiver u. induktiver Rechtsfindung 238 - typologische Verfahrensweise 81, 237 ff., 262 ff. - u. Bewegliches System s. dort - u. Schematismus 223 f. - von Bereicherungsansprüchen s. dort - s. auch Dreipersonenkonstellationen, Falltyp
316
Sachregister
Typus s. Falltyp Ungerechtfertigte Bereicherung - als gesetzlich geregelter Interessenkonflikt 176 ff. - als vorgegebener Interessenkonflikt der Lebens weit 181 ff. - einheitlicher Rechtsgedanke der u. B. 172, 177 ff. - gesetzliches Schuldverhältnis i.w.S. der u. B. 172,207 ff. - u. Darlehen 188 - u. Quasikontrakt s. dort Unübersichtlichkeit der bereicherungsrechtlichen Dogmatik - als Darstellungsproblem 214 ff. - als eigenständige Problematik 23 ff., 168 ff., 191
19 ff.,
- Ansätze einer methodischen Konsolidierung 168 ff. - Gewichtung systemorientierter und fallorientierter Ansätze 255 ff. Verstehen - u. Anwenden des Rechtssatzes 101 ff. - u. Hermeneutik 102 ff. - von Tatbestandsmerkmalen durch Hilfsnormen und Falltypen 141 ff. Vertragsrecht - u. Bereicherungsrecht 40 f., 177, 180 f. - s. auch Güterbewegung Verwendungskondiktion 195 f., 203, 205,
266 - s. auch Nichtleistungskondiktion Wertungsjurisprudenz s. Interessenjuris-prudenz