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German Pages 270 Year 1997
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 725
Die Verfassungsdurchbrechung Rechtsproblem der Deutschen Einheit und der europäischen Einigung Ein Beitrag zur Dogmatik der Verfassungsänderung
Von
Ulrich Hufeld
Duncker & Humblot · Berlin
ULRICH HUFELD Die Verfassungsdurchbrechung
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 725
Die Verfassungsdurchbrechung Rechtsproblem der Deutschen Einheit und der europäischen Einigung Ein Beitrag zur Dogmatik der Verfassungsänderung
Von
Ulrich Hufeid
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hufeid, Ulrich: Die Verfassungsdurchbrechung : Rechtsproblem der Deutschen Einheit und der europäischen Einigung ; ein Beitrag zur Dogmatik der Verfassungsänderung / von Ulrich Hufeid. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 725) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-08894-8
Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08894-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Für Tiniy Lukas und Niklas
Vorwort Die nachfolgende Untersuchung ist aus meiner Dissertation hervorgegangen, die im Sommer 1996 der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg vorgelegen hat. Nicht wenige der diskutierten Probleme sind noch im Fluß. Rechtsentwicklungen lassen sich kaum auf den neuesten Stand, vielleicht aber auf einen Begriff bringen, der die weitere Beobachtung erleichtert. Darum bemüht, habe ich Rechtsprechung und Literatur bis Ende 1996 berücksichtigt. Für unermüdliche Begleitung und fruchtbaren Zuspruch danke ich meinem Doktorvater und verehrten Lehrer Professor Dr. Reinhard Mußgnug. In seinem Seminar hat er für Rückhalt im akademischen Gespräch gesorgt und die Gelegenheit geboten, Zwischenergebnisse zur Diskussion zu stellen. Seinem historischen Tiefblick verdanke ich die Entschlossenheit, in die Verfassungsgeschichte zurückzugehen und von dort aus aktuelle und prinzipielle Fragen zu erörtern: Rechtsprobleme der Deutschen Einheit und der europäischen Einigung, die Anlaß geben, die Begriffe der Verfassungsänderung neu zu überdenken. Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Jochen Abr. Frowein bin ich für seine kritische Anteilnahme und die Erstellung des Zweitgutachtens verbunden. Die Kollegen Dr. Robert Keller und Dr. Achim Schäfer haben sich früher Entwürfe angenommen und der Überarbeitung mit wichtigen Anregungen vorangeholfen; beiden danke ich in Freundschaft. Herzlichen Dank, nicht zuletzt, meiner Mutter, Christa Hufeid. Heidelberg, im Dezember 1996
Ulrich Hufeid
Inhaltsverzeichnis Erster Abschnitt
Einführung I. Die Verfassungsdurchbrechung als Rechtsproblem
15 15
1. Das formelle Problem
15
2. Das materielle Problem
17
II. Begriff der Verfassungsdurchbrechung und Abgrenzung
24
1. Begriffsbestimmung
24
2. Verfassungsänderung
25
3. Verfassungswandel
28
4. Die Exemtion a priori des Verfassunggebers
31
III. Zum Aufbau der Untersuchung
32
1. Die Weimarer Vorgeschichte
32
2. Der Vorgang der Verfassungsdurchbrechung - leitende Gesichtspunkte
33
3. Das Grundgesetz zwischen Einigungsvertrag und Unionsvertrag
35
Erstes Kapitel Die Verfassungsdurchbrechung in geschichtlicher Perspektive
39
Zweiter Abschnitt
Von der clausula Franckenstein zum Ermächtigungsgesetz I. Die Franckensteinsche Klausel 1. Die Kollision mit der Reichsverfassung
39 39 39
2. Änderungsgesetz - Verfassungsgesetz - Spezialgesetz
40
3. Lex specialis - lex posterior
43
4. Vorrang der Verfassung?
45
II. Verfassungsdurchbrechungen in der Weimarer Republik A. Das Reichstagsbefriedungsgesetz 1. Die Kollision mit Art. 123 WRV
46 47 47
2. Reichsverfassungskräftiges Grundrecht - gesetzeskräftige Verfassungsdurchbrechung
49
Inhaltsverzeichnis
10
3. Art. 123 WRV im Bannkreis - dogmatische Grundpositionen
51
4. Vorrang der Verfassung?
60
B. Das Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923 1. Die Kollision mit Art. 68 Abs. 2 WRV; § 1 Abs. 1 S. 2 ErmächtigungsG
63 63
2. Befristete Ermächtigung - Vollmacht-Verordnung mit Dauergeltung
67
3. Weimars außerordentliche Gesetzgeber
68
4. Vorrang der Verfassung?
74
C. Wiederwahl Hindenburgs durch Parlamentsgesetz?
76
1. Die Kollision mit Art. 41 und 43 WRV
76
2. Gesetzeskräftige Verfassungsdurchbrechung?
77
3. Aufhebung oder Abweichung?
78
4. Vorrang der Verfassung?
81
III. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 und die Kategorie der Verfassungsdurchbrechung 84 1. Durchbrechung - Neubau - Revolution
84
2. Vorrang des Regierungsgesetzes - Vorrang des Führerbefehls
88
Dritter Abschnitt Entwicklungen nach 1945 bis zum „Abhörurteil" des BVerfG
92
I. Verfassungsdurchbrechung und Verfassungstext in Württemberg-Baden und BadenWürttemberg 92 1. Verbot der formellen Verfassungsdurchbrechung
92
2. Art. 93 a LV Bad.-Württ.: Aufschieben fälliger Wahlen
95
II. Das Textänderungsgebot im Grundgesetz A. Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG
97 97
1. Entstehungsgeschichte
97
2. Verbot der Verfassungsdurchbrechung?
98
B. „Kampf um den Wehrbeitrag": Was leistet das Textänderungsgebot?
99
1. Art. 79 Abs. 1 Satz 2 GG - Ausnahme vom Textänderungsgebot?
100
2. Einsatz der Bundeswehr im System gegenseitiger kollektiver Sicherheit: Beteiligungsverbot „aus Versehen" als Problem der Textänderung? 104 3. Zwischenergebnisse und offene Fragen
105
Inhaltsverzeichnis III. Die Rechtsschutzlücke: „Abhörgesetz" und „Abhörurteil"
106
1. Die Kollision mit Art. 19 Abs. 4 GG
106
2. „Zuständig für die Anordnung nach § 1 ist ein Bundesminister"
108
3. Verfassungsänderung oder Verfassungsdurchbrechung?
110
4. Das „Abhörurteil": Rechtfertigung der Ausnahme; Kompensation
111
Zweites Kapitel Die supranationale Verfassungsdurchbrechung
114
Vierter Abschnitt Kompetenzverlagerung und Demokratieprinzip
114
I. Das Integrationsgesetz als Dispensationsgesetz
115
A. Die Mutation der Verfassungslage - insbesondere: Art. K.9 EUV, Art. 23 GG. 115 1. Zwei Kollisionstypen
115
2. Ratsbeschluß und Integrationsgesetzgebung
119
3. Art. 23 Abs. 1 GG als Dispensationsermächtigung
121
4. Vorrang und Nachrang der Verfassung
126
B. Das Problem der Urkundlichkeit 1. Art. 23 Abs. 1 GG: Freistellung vom Textänderungsgebot 2. Urkundlichkeit und offene Staatlichkeit
132 132 136
II. Die Verselbständigung der EZB als Demokratieproblem
138
1. Die Durchbrechung des Ministerialsystems
138
2. Art. 23 GG und dieförmliche Ergänzung von Art. 88 GG
142
3. Die Rechtfertigung des EZB-Status
146
Fünfter Abschnitt Kompetenzverlust und Bundesstaatlichkeit I. Die Betroffenheit der Bundesländer
148 148
1. Betroffenheit der Landesgesetzgebung
148
2. Betroffenheit des Bundesrates
153
II. Kompetenzkompensation
155
1. Verlust und Kompensation
155
2. Exekutivföderalismus?
156
3. Vertikale und horizontale Gewaltenteilung
159
Inhaltsverzeichnis
12
Drittes Kapitel Die normative Kraft der Einheitsverfassung
162
Sechster Abschnitt Art. 143 GG und der Einigungsvertrag
162
I. Sonderrecht auf Zeit (Art. 143 Abs. 1 und 2 GG)
163
1. Sachliche Voraussetzungen und zeitliche Grenzen
163
2. Anwendungsfälle
165
3. Unzulässigkeit der temporalen Verfassungsdurchbrechung?
169
II. Die Bestandsgarantie der sowjetzonalen Enteignungen 1945-1949 A. Art. 143 Abs. 3 GG und Art. 41 EV
171 171
1. Die Kollisionen mit Art. 14 und Art. 3 GG
171
2. Zur Entstehungsgeschichte: Art. 143 Abs. 3 GG als Schutzvorkehrung
174
3. Verfassungsdurchbrechung und Gewaltenteilung
176
4. Vorrang der Verfassung
178
B. Folgefragen
180
1. Die Behandlung der Grundstückszwangsveräußerung bei Ausreise aus der DDR 180 2. Die Doppelenteignungen vor und nach 1945
182
3. Das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz
185
Siebter Abschnitt Sonderrecht im wiedervereinigten Deutschland I. Gesetz und Verfassungsgesetz im Einzelfall A. Die Diskussion um den Termin der ersten gesamtdeutschen Wahl 1. Rechtliche Vorgaben und politische Wünsche
188 188 188 188
2. Die Bestimmungsmacht des Verfassungsgesetzgebers über die Wahlperiode 189 B. Systembrüche: Treuhandanstalt und Investitionsmaßnahmegesetz
191
1. Organisation und Legitimation der Treuhandanstalt 2. Das „Investitionsmaßnahmengesetz"
191 194
3. Kollisionslösung im Grundgesetz?
197
II. Die Sonderoption für Berlin und Brandenburg
200
1. Das Vorbild: Art. 118 GG - lex specialis für den Südweststaat
200
2. Die Vereinigung von Berlin und Brandenburg in der Alleinverantwortung der Länder 202
Inhaltsverzeichnis III. Exkurs: Staatlicher Religionsunterricht zwischen Ausnahme und Regel
204
1. Die „Bremer Klausel"
204
2. Die Geltung von Art. 141 GG in den neuen Bundesländern
205
3. Die Gestaltungsfreiheit der neuen Bundesländer
207
Viertes Kapitel Zulässigkeit und Typologie der Verfassungsdurchbrechung
208
Achter Abschnitt Die Zulässigkeit der Verfassungsdurchbrechung
208
I. Regel und Ausnahme im Verfassungsrecht
208
1. Von der Allgemeinheit des Verfassungsgesetzes
208
2. Die Rechtfertigungsbedürftigkeit der Verfassungsdurchbrechung
212
3. Die Rechtfertigungsfähigkeit der Verfassungsdurchbrechung
216
II. Insbesondere: Die supranationale Verfassungsdurchbrechung
220
1. Rechtfertigungsbedürftigkeit
220
2. Rechtfertigungsfähigkeit
222
III. Ausnahmerecht und Vorrang der Verfassung 1. Weimarer Notlösungen
224 224
2. Die Ausnahme in der „perfekten" Verfassungsordnung des Grundgesetzes.. 227 3. Ergebnis
230 Neunter Abschnitt Typologie der Verfassungsdurchbrechung
231
I. Die temporale Verfassungsdurchbrechung
231
II. Die territoriale Verfassungsdurchbrechung
235
III. Verfassungsdurchbrechung als Verfassungsparzellierung
237
IV. Die Ausnahmen von Art. 79 GG
239
1. Das Textänderungsgebot
239
2. Die qualifizierte Mehrheit
241
3. Die Grundsätze
244
Literaturverzeichnis
247
Sachverzeichnis
266
Erster Abschnitt Einführung I. Die Verfassungsdurchbrechung als Rechtsproblem 1. Das formelle Problem Die Identität von Verfassungsrecht und Verfassungstext ist ein Idealzustand; er ist realiter unerreichbar. Das wird deutlich im Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die knappe und abstrakte Verfassungssätze eindrucksvoll entfaltet, Fundamentalprinzipien konkretisiert oder sich - bei unveränderter Gestalt des Grundgesetztextes - selbst rechtsfortbildend korrigiert. 1 Damit ist der Vorgang der Verfassungsinterpretation angesprochen, sein „schöpferischer Charakter: der Inhalt der interpretierten Norm vollendet sich erst in der Auslegung" 2 . Das Prinzip der Öffentlichkeit und Einsichtbarkeit des staatlichen Lebens ist dann aber, wenn es die Verfassungsurkunde sein soll, die diesen Einblick gewährt 3, selbst für die unverändert bleibende Verfassung zu relativieren. Die Gefahr für die - wünschenswerte - Übereinstimmung von Verfassungsrechtslage und Text der Verfassungsurkunde wächst mit der Zahl der Verfassungsänderungen. Das gilt sogar dann, wenn die Änderung in Form
1
Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 92 ff. Zur Konkretisierung unbestimmter Verfassungsbegriffe, Rechtsfortbildung und „Inhaltsänderung im Gewand der Interpretation" jetzt Böckenförde, in: FS Lerche (1993), S. 3 (8 mit Fn. 17, S. 10 f.). Die Inkongruenz von formeller und materieller Verfassung liegt auf einer anderen Ebene, erscheint aber auch als Problem der Verfassungsinterpretation: Isensee, HStR I, § 13 Rdnr. 142 mit Kritik an der Rspr. des BVerfG („Juristische Textexegese ist das nicht."). 2 Hesse, Grundzüge, Rdnr. 60. Vgl. auch Haverkate, Verfassungslehre, S. 110: „Wir haben im Grunde genommen zweierlei Verfassungsrecht, das der jeweiligen Senatsmehrheiten, die im konkreten Fall obsiegten, und das Verfassungsrecht der jeweiligen Minderheiten im Senat, die unterlagen."; vgl. ferner Haverkate, ebenda S. 409 f.; Böckenförde, in: FS Lerche (1993), S. 3 (11 ff.). 3 Ehmke, AöR 79, S. 385 (396); auch Herzog, in: FS Redeker (1993), S. 149 (152, 154 f., 156); Leisner, Der unsichtbare Staat, S. 40 ff. Vgl. noch BVerfGE 9, 334 (336).
1. Abschn.: Einfuhrung
16
einer Textänderung vorgenommen werden muß: Der positive Inhalt des neuen Rechtssatzes mag sich ohne weiteres ermitteln lassen, negative Auswirkungen auf andere, schon vorhandene Verfassungsregeln bleiben unsichtbar; solche Auswirkungen auf den bisherigen Bestand des Verfassungsrechts durch Zusätze kenntlich zu machen, ist praktisch unmöglich. 4 Vollends illusorisch wird das Ziel der Identität von Verfassungsrecht und Grundgesetztext im Falle der „Verfassungsänderung ohne Textänderung", welches Schlagwort unscharf auf die Staatspraxis unter der Weimarer Reichsverfassung verweist, auf „Reichsgesetze, die ohne Änderung des Wortlautes der Verfassung Abweichungen von ihr enthalten und die in der Form des Art. 76 der Reichs Verfassung beschlossen worden sind" 5 . Die Kommentatoren der Weimarer Reichsverfassung kennzeichneten den Typus als „stillschweigende Verfassungsdurchbrechung" 6; Walter Jellinek reservierte denselben Begriff für ein verfassungsänderndes Gesetz, das - noch schweigsamer - entgegen der üblichen Praxis nicht einmal in seiner Präambel erwähnte, „daß die Erfordernisse verfassungsändernder Gesetzgebung erfüllt sind". 7 Zwar stand in der seinerzeit geführten Diskussion um Art. 76 WRV im Vordergrund die Frage, wie die Verfassungsdurchbrechung sachlich einzuordnen und ob sie als zulässige Erscheinungsform der Verfassungsänderung anzusehen sei (s. sogleich u. 2). Dennoch meint der Begriff „Verfassungsdurchbrechung" heute zumeist nur noch jenen formellen Aspekt; als Alarmzeichen für die „Verfassungsänderung ohne Textänderung" erfüllt er eine historische Warnfunktion. 8
4
Hans Schneider, Liquidation, S. 79 f. sowie u. 3.Abschn. II B 2. So die Kategorie bei Poetzsch-Heffier, JöR 13 (a.F.), S. 1 (227); JöR 17 (a.F.), S. 1 (139); JöR 21 (a.F.), S. 1 (201), der „Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung" ausfuhrlich gehandelt hat. 6 Anschütz, Reichsverfassung, Art. 76 Anm. 2 (S. 401 f.); Triepel, Verhandlungen DJT 1924, S. 47 f.; Schlüter, Das verfassungsdurchbrechende Gesetz, S. 114 ff. 7 Jellinek, HdbDStR II, § 73 S. 188. Die zitierte Formel findet sich letztmals in der Präambel des Gesetzes „zur Behebung der Not von Volk und Reich" vom 24. März 1933, RGBl. I, S. 141. Zu diesem Gesetz u. 2.Abschn. III. 8 S. Hans Schneider, HStR I, § 3 Rdnr. 81, 83; Maunz-Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 79 Rdnr. 2; Badura, HStR VII, § 160 Rdnr. 23; Isensee, HStR VII, § 162 Rdnr. 40; Weber-Fas, Wörterbuch zum GG, Art. „Verfassungsdurchbrechung", S. 328; Rupp, in: FS Carl Heymanns Verlag (1995), S. 499 (507 f.); J. Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rdnr. 1003 ff.; Bernzen/Gottschalck, ZRP 1993, S. 91 (93); v. Braunschweig, Verfassungsentwicklung, S. 82 f. 5
1. Abschn.: Einfhrung Die formelle Frage der Weimarer Zeit hat im Bonner Grundgesetz Beantwortung in Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG erfahren - das Problem ist indessen ungelöst. Es stellt sich neu. Es betrifft jetzt die Unverbrüchlichkeit von Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG selbst. Aus gegebenem Anlaß haben zuletzt Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat 9 die fortbestehende Gefahr für die Urkundlichkeit des Verfassungsrechts ins Bewußtsein gehoben. Verheugen bezeichnete die „Verfassungsdurchbrechung, die Art. 24 Abs. 1 erlaubt und die uns ein Grundgesetz beschert hat, das aus zwei Ebenen besteht" als „ein gefährliches Instrument" 10 . Hans-Jochen Vogel setzte hinzu, es gebe „irgendwo einen zweiten Teil, der sich in mühsamster Arbeit aus den Verträgen, aus den EG-Gerichtshof-Entscheidungen, aus der Praxis der europäischen Institutionen ableiten läßt" 1 1 . Allein die naheliegende und von der SPD zunächst auch geforderte Konsequenz, das Textänderungsgebot wieder zur Geltung zu bringen, mochte die Kommission nicht ziehen. Art. 23 Abs. 1 GG steht jetzt in einer Reihe mit Art. 24 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 S. 2 GG. 1 2 Und Art. 143 GG setzt ohne weiteres voraus, daß die „Abweichungen" im Gebiet der östlichen Bundesländer keinen Niederschlag im Verfassungstext finden müssen. Das Weimarer Formproblem scheint sich nur verlagert zu haben. Erst muß Art. 79 Abs. 1 S. 1 beredt - das heißt unter Beachtung seiner selbst - beiseite geschoben werden, um den Weg für stillschweigende Verfassungsdurchbrechungen wieder frei zu machen. 2. Das materielle Problem a) Die Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) gehört zu den Fundamentalsätzen des Grundgesetzes. Das Gesetz muß sich an der Verfassung messen lassen, darf zu ihr nicht in Widerspruch treten, andernfalls ist es „verfassungswidrig und daher nichtig" 1 3 . Umgekehrt und positiv formuliert heißt das, die vorrangige Verfassung soll dem 9
Konstituiert am 16. Januar 1992; Abschlußbericht vom 28. Oktober 1993. Dazu BT-Drucks. 12/6000 und Berlit, JöR 44 (n.F.), S. 17 (26 ff.). 10 Abg. Verheugen, Sten. Ber. GVK v. 13.2.1992, S. 31 und v. 26.6.1992, S. 9. 11 Abg. Vogel, Sten. Ber. GVK v. 22.5.1992 (Anhörung), S. 29 f. 12 Näher u. 4.Abschn. I B über „die kühne Forderung, daß (Art. 79) Abs. 1 (S. 1) in Zukunft wieder in sein Recht eingesetzt wird" (Vogel, ebenda); zu Art. 79 Abs. 1 S. 2 GG u. 3.Abschn. II A. 13 Zur Herkunft dieser vom BVerfG benutzten Formel J. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 58 mit Fn. 11. Zur (häufigen) Ausnahme vom Nichtigkeitsdogma u. 9. Abschn. I 5. 2 Hufeid
1. Abschn.: Einfhrung
18
politischen Prozeß Verfahrensregeln vorgeben, inhaltlich Vorentschiedenes dem politischen Streit entziehen, der politischen und sozialen Wirklichkeit „Form und Modifikation" geben; sie will die Verrechtlichung der Politik. 1 4 Nach dem Konzept der Vorrangigkeit setzt sich die Verfassung auch und gerade gegen die Legislative durch, indem sie das verfassungswidrige Gesetz zu Fall bringt. Schwierigkeiten entstehen erst daraus, daß die Legislative nicht nur Gegenstand und Adressat der Verfassung ist, sondern zugleich auch Subjekt der Verfassungsgesetzgebung. Die Doppelrolle führt den Gesetzgeber in die Versuchung, nicht etwa das Gesetz der Verfassung, vielmehr die Verfassung dem Gesetz anzupassen. Er mag sich darauf beschränken, das entgegenstehende Verfassungsrecht gerade so weit wie nötig zurückzudrängen. An der Streichung der „störenden" oder Ergänzung der „fehlenden" Norm ist ihm nicht gelegen - abgesehen von der Frage, ob sich dafür eine verfassungsändernde Mehrheit gewinnen läßt. Der kürzere dritte Weg, abseits von Verfassungsrevision und Verfassungsgehorsam, führt über die geltungsbeschränkende Ausnahme. Ihre Folgen sind überschaubar, ihre politische Begründetheit und Notwendigkeit leichter dargetan, und die Mehrheitsbildung findet unter ganz anderen Vorzeichen statt. (1) Der Parlamentarische Rat hatte dem Bundestag das Selbstauflösungsrecht verweigert. Alle späteren Reformansätze, dem Parlament im Wege der Verfassungsergänzung die Auflösung als Recht in eigener Sache anheimzustellen, sind gescheitert. 15 Aber: Hindert das die Zweidrittelmehrheit, die Legislaturperiode vor der Zeit kurzerhand selbst zu beenden und Neuwahlen auszuschreiben? Handelte es sich dabei um eine Verfassungsänderung im Sinne von Art. 79 GG? Die kategorische Verschiedenheit drängt sich auf. Die einmalige Verkürzung der Wahlperiode ist nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ von der abstrakten, auf Dauer berechneten Implementierung des parlamentarischen Selbstauflösungsrechts zu unterscheiden. Auf die Grundsatzdebatte lassen sich nur Verfassungsreformer ein, die eine dauerhafte Ergänzung des Grundgesetzes erwägen. In der konkreten Situation liegen die prinzipiellen Fragen fern. In der konkreten Lage regieren die politischen Interessen des Tages, aktuelle Zweckmäßigkeiten, Plausibilitäten.
14
Grimm, Stichwort „Verfassung", in: Staatslexikon, Sp. 637; Isensee, HStR VII, § 162 Rdnr. 36; Haverkate, Verfassungslehre, S. 23; Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, in: ders., Ausgewählte Schriften, S. 3 (13); ders., Grenzen der Verfassungswandlung, ebenda S. 28 (38). 15 Vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 86 f. zum Vorschlag der Enquete-Kommission Verfassungsreform von 1976 und zum Verfahrensablauf in der GVK 1992/93.
1. Abschn.: Einfhrung Das verfassungskräftig Vorentschiedene steht wieder zur Disposition. 16 Allein die Suche nach dem außerordentlichen Konsens über den Wahltermin stellt den Vorrang der Verfassung in Frage. (2) Deutlicher noch läßt das Szenario einer Grenzsituation staatlichen Lebens die kategorische Eigenheit der Ausnahme hervortreten. In einer Lage terroristischer Bedrohung etwa könnte sich die Politik genötigt sehen, dem Erwartungsdruck der aufgewühlten Bevölkerung nachzugeben und nach dem Prinzip „Not kennt kein Gebot" zu verfahren. Gewiß fänden sich auch in dieser Lage keine Mehrheiten für die Abschaffung der Artikel 101 und 102 des Grundgesetzes. Aber ist es unvorstellbar, daß verfassungsändernde Mehrheiten dennoch ein Ausnahmegericht schaffen und für einzelne Delikte die Todesstrafe zulassen wollen - ausnahmsweise und „nur" für den Einzelfall? Könnten eben diese Mehrheiten über das Verbot des Einzelfallgesetzes (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG) hinweggehen und dem einen „großen Volksfeind" entgegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG die deutsche Staatsbürgerschaft entziehen? Können sie in der exzeptionellen Lage constitutione soluta regieren? (3) Selten freilich wird die Abkehr vom Verfassungsrecht im Wege der Ausnahme so offen zu Tage liegen. Fehlt schon dem Gesetzgeber selbst die Gewißheit, daß sein Vorhaben verfassungsrechtlich Bestand hat, mag er mit einer salvatorischen Generalklausel Vorsorge treffen. Die Bestandsgarantie der sowjetzonalen Enteignungen erinnert an dieses Instrument. 17 Der durch den Einigungsvertrag eingefügte Art. 143 Abs. 3 GG läßt offen, ob er Ausnahmerecht schafft und welche Verfassungssätze eingeschränkt sein könnten. Und im Verein mit der Freizeichnung vom Gebot der Textänderung scheint Art. 23 Abs. 1 GG der ungeschriebenen salvatorischen Generalklausel den Weg zu ebnen. Zumindest bei Zustimmung der Zweidrittelmehrheiten (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG) muß das Integrationsgesetz keine Rechenschaft geben, ob und in welchem Umfang das Recht der Europäischen Union das Grundgesetz verdrängt. 18 Die geltungsbeschränkende Ausnahme, auf den ersten Blick unvereinbar mit dem Konzept der verfaßten Politik, ist das materielle Problem der Verfassungsdurchbrechung. Seine Erörterung stand am Anfang der Begriffsgeschichte.
16 Zur Diskussion um den Termin der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 und die Verkürzung der Legislaturperiode des 11. Deutschen Bundestages s. u. 7.Abschn. I A. 17 Ausführlich dazu u. 6.Abschn. II A. Zur Salvierung des EVG-Vertrages im Jahre 1954 sogleich u. sub c. 18 Ausführlich dazu u. 4.Abschn. I A.
20
1. Abschn.: Einfhrung
b) Der 33. Deutsche Juristentag in Heidelberg und die Staatsrechtslehrertagung in Jena lenkten, im Jahre 1924, den Blick auf die materielle Problemdimension. Erwin Jacobi entfaltete auf der Staatsrechtslehrertagung in seinem Bericht über „Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung" als erster den Begriff „Verfassungsdurchbrechung" als terminus technicus. Er untersuchte, „ob Art. 48 Abs. 2 der Reichsverfassung Maßnahmen des Reichspräsidenten rechtfertigt, die im Widerspruch zu den übrigen Artikeln der Reichsverfassung stehen" 19 . Indem Jacobi diese Frage bejahte 20 , dem Reichspräsidenten aber die „Abänderung oder Aufhebung eines Verfassungsrechtssatzes im Sinne einer Änderung der Verfassungsurkunde" 21 verwehren wollte, war ein eigenständiger Typus geschaffen und mit der Bezeichnung „Verfassungsdurchbrechung" namhaft gemacht: „Der Widerspruch eines Rechtssatzes zu einem der Verfassungsartikel außerhalb des Art. 48 kann darin bestehen, daß sein Inhalt dem betreffenden Verfassungsrechtssatz zuwiderläuft, daß aber der Verfassungsrechtssatz selbst im übrigen nach wie vor in Geltung bleiben soll" 2 2 . Carl Schmitt nahm die Typisierung Jacobis auf und erstreckte sie in seinem Vortrag vor der Vereinigung auf parlamentarische Entscheidungen: „Es führt zu einer ungeheuerlichen Verwirrung, die den Rechtsstaat ebenso auflösen muß, wie ein Mißbrauch des Art. 48, wenn der in Art. 76 R.V. vorgesehene Weg einer Verfassungsänderung für Maßnahmen benutzt wird, welche die Verfassung durchbrechen, ohne sie zu ändern." 23 Insbesondere die Verhandlung auf dem 33. Juristentag 1924 über „Zulässigkeit und Form von Verfassungsänderungen ohne Änderung der Verfassungsurkunde" machte die Erweiterung der Perspektive bewußt. Der erste Referent, Graf zu Dohna, unterschied noch zwischen Gesetzen, die „verfassungsrechtliche Grundsätze bloß beschränken", und solchen, die deren „Geltung ganz oder teilweise aufheben" 24 . Den „Gegensatz, auf den es ankommt", erblickte Graf zu Dohna zwischen einem Gesetz wie dem vom Juli 1870, das die Legislaturperiode des Reichstages bis zum Abschluß des Krieges verlängerte, und dem Gesetz vom März 1888, das die Dauer der Legislaturperiode ganz allgemein auf fünf 19 2 0 21 2 2 23 2 4
VVDStRL 1,S. 105. Ebenda S. 116 ff. Ebenda S. 118. Ebenda S. 109 mit der ersten Verwendung des Begriffs als terminus technicus. VVDStRL 1, S. 63 (98); zur Position Schmitts u. II 2 a und 2.Abschn II A 3 d. Verhandlungen DJT 1924, S. 31 (Leitsatz 1).
1. Abschn.: Einfhrung Jahre festsetzte. 25 Nur für den zweiten Typus, der Verfassungsrecht inhaltlich neufaßt, hielt er die gleichzeitige Änderung der Verfassungsurkunde für geboten. Der zweite Referent jedoch, Heinrich Triepel, wollte dem Vorredner nicht folgen. Die Abschaffung einer Verfassungsregel möchte in den „Text hinein oder in ein besonderes Gesetz daneben" geschrieben werden. „Viel schlimmer sind aber in meinen Augen gerade die, sozusagen heimlichen, unauffälligen Umbiegungen und Durchlöcherungen der Verfassungsgrundsätze durch Gesetze, die nach Wortlaut und Sinn zwar die Regel der Verfassung als solche schonen, aber für einzelne Tatbestände das Gegenteil von dem bestimmen, was die Verfassung verlangt. ... Man will den Grundsatz als Grundsatz aufrechterhalten. Aber man glaubt, daß er aus bewegenden Gründen in einem bestimmten Falle außer acht gelassen werden müsse. ... Es geht z.B. auf die Dauer nicht an, daß man den Grundsatz von der Unverletzlichkeit wohlerworbener Rechte der Beamten alle paar Monate durch stillschweigende Verfassungsänderung in dieser oder jener Beziehung durchbricht, immer natürlich mit der tönenden Versicherung, der Grundsatz als solcher bleibe dabei unangetastet. Bei solcher Methode geht der Glaube an die Unverbrüchlichkeit der Verfassung schließlich verloren." 26 In diesen Sätzen ist das materielle Problem der Verfassungsdurchbrechung erstmals deutlich zum Ausdruck gekommen. Es geht um die normative Kraft der Verfassung. Erst mit dem grundlegenden Urteil des Reichsgerichts vom 4. November 1925 stand der Vorrang der Weimarer Reichsverfassung „gegenüber abweichenden Bestimmungen eines späteren, ohne Beobachtung der Erfordernisse des Art. 76 erlassenen Reichsgesetzes"27 außer Frage, der Weg für die richterliche Prüfung des einfachen Gesetzes am Maßstab der WRV war ausdrücklich freigegeben. Danach mochte sich die von Anschütz bis zur letzten Bearbeitung seines Kommentars im Jahre 1933 vertretene Ansicht, „daß die Reichsverfassung dem einfachen Gesetz gegenüber keine Norm höheren Ranges darstellt" 28 , kaum aufrechterhalten lassen. Aber die Grundannahme von Anschütz, daß die Verfassung „nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben" stehe 29 , hatte auch die reichsgerichtliche Rechtspre25 2 6 2 7 2 8 2 9
Verhandlungen DJT 1924, S. 34. Verhandlungen DJT 1924, S. 52 f. RGZ 111,320 (322). Anschütz, Reichsverfassung, Art. 70 Anm. 4 (S. 371). Anschütz, ebenda Art. 76 Anm. 1 (S. 401).
1. Abschn.: Einfuhrung
22
chung auf ihrer Seite: „Der Gesetzgeber ist selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden als diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung oder in anderen Gesetzen gezogen hat." 3 0 Unter diesen Bedingungen erwies sich das verfassungsdurchbrechende Gesetz als besonders wirksames Instrument, aus der gerade erst anerkannten Gebundenheit des Gesetzgebers 31 jene Selbstherrlichkeit zu machen und das erwünschte Gesetz doch gegen die formell und materiell identisch bleibende Verfassung durchzusetzen. c) Erst das Grundgesetz fand zur Bindung auch des verfassungsändernden Gesetzgebers; mit der Identitätsgarantie in Art. 79 Abs. 3 GG war das Vorrangprinzip umfassend durchgesetzt. Jedoch blieb nach wie vor ungeklärt, ob die geltungsbeschränkende Ausnahme in den Kreis der zulässigen Verfassungsänderungen gehört. Der „Kampf um den Wehrbeitrag" brachte es an den Tag. Nach der Septemberwahl 1953 suchte die Zweidrittelmehrheit der Koalition alle verfassungsrechtlichen Hindernisse für den Beitritt zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu beseitigen. Sie stellte die Verfassung in Art. 142 a unter Geltungsvorbehalt: „Die Bestimmungen dieses Grundgesetzes stehen dem Abschluß und dem Inkraftsetzen der am 26. und 27. Mai 1952 in Bonn und Paris unterzeichneten Verträge (Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten und Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft) mit ihren Zusatz- und Nebenabkommen, insbesondere dem Protokoll vom 26. Juli 1952, nicht entgegen" 2* 2 Der hochbrisante politische Streit spiegelte sich in der dogmatischen Auseinandersetzung um die Zulässigkeit der Verfassungsdurchbrechung. Horst Ehmke verwies auf die Weimarer Vorgeschichte und erneuerte für das Grundgesetz jene Lehre, die die Durchbrechung von der Änderung abschichtet. 3 3 Gleichwohl ist die Zulässigkeit der Verfassungsdurchbrechung, ihr Standort im System der Verfassungsänderung ungewiß geblieben.
3 0 31
RGZ 118, 325 (327). Zur dogmengeschichtlichen Entwicklung u. 2.Abschn. I 4, II A 4 und 8.Abschn.
IV 1. 3 2 Eingefügt durch das ErgänzungsG vom 26.3.1954, BGBl. I S. 45; aufgehoben durch das 17. G zur Ergänzung des GG vom 24.6.1968, BGBl. I S. 709. Ausfuhrlich zu Art. 142 a und Art. 79 Abs. 1 S. 2 GG u. 3.Abschn. II B 1. 33 S. sogleich u. II 2 b.
1. Abschn.: Einfhrung Die Kompetenzausstattung der supranationalen europäischen Gemeinschaften seit den 50er Jahren verkürzte spiegelbildlich den Geltungsbereich des inhaltlich unveränderten - nationalen Verfassungsrechts. Aber nur langsam setzte sich die Erkenntnis durch, daß der supranationale Vorbehalt der Nichtgeltung mehr ist als ein unvermeidlicher, eher faktischer Reflex. Sie hat spät zu dem Versuch geführt, das von Ehmke neu formulierte, von Konrad Hesse tradierte Verbot der Verfassungsdurchbrechung auf die Integrationsgesetzgebung zu erstrecken. So hat Rudolf Streinz einen Wertungswiderspruch darin gefunden, daß Konrad Hesse einerseits der Verfassungsdurchbrechung kritisch gegenüberstehe, andererseits aber der Problematik einer Änderung materieller Vorschriften des Grundgesetzes über Art. 24 Abs. 1 GG ausweiche.34 Vor Inkrafttreten des Europäischen Unionsvertrages sah sich endlich auch der verfassungsändernde Gesetzgeber veranlaßt, mit Art. 23 GG dogmatische Konsequenzen zu ziehen. 35 Innerstaatlich hat jüngst die Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers, zur Herstellung der deutschen Einheit das Grundgesetz zeitlich-territorial und sachlich begrenzt außer Kraft zu setzen, zur Bekräftigung der Verbotslehre geführt. 36 Seit dem 3. Oktober 1990 stellt sich in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen die Frage, ob die Außerordentlichkeit der Einigungspolitik auch exzeptionelles Verfassungsrecht trägt. 37 Der verfassungsdurchbrechende Gesetzgeber denkt nicht „von oben", vom Zweck der Verfassung aus, die Staatsgewalt zu mäßigen und zu binden. Sein Ausgangspunkt ist die politische Tagesordnung, das konkrete Gesetz, dessen Unvereinbarkeit mit der abstrakten Verfassungsregel jene geltungsbeschränkende Ausnahme veranlaßt. Schon der frühen Verwendung des Begriffs (bei Jacobi; Carl Schmitt; Triepel) haftet die pejorative Konnotation an, daß sich die Politik im Wege der Verfassungsdurchbrechung ihrer rechtlichen Gebundenheit entziehe.
3 4
Streinz, Grundrechtsschutz, S. 252 Fn. 196. Daß Hesse (Grundzüge, 17. Aufl. 1990, Rdnr. 699 Fn. 3; anders seit der 18.Aufl.) „für den Fall des Art. 24 Abs. 1 GG das Urteil offenhält", vermerkt auch Badura, DVB1. 1990, S. 1256 (1261 Fn. 34). Näher und weit. Nachw. u. 4.Abschn. I A 3 c a.E., 3 b und 4 a. 35 S. u. 4.Abschn. I A 1 und 3 d. 3 6 Ausführlich u. 6.Abschn. I 3, II A 3. 3 7 S. u. 7.Abschn.
24
1. Abschn.: Einfhrung II. Begriff der Verfassungsdurchbrechung und Abgrenzung /. Begriffsbestimmung
Die folgende Definition Baduras kann als heute vorherrschende Begriffsbestimmung gelten: „Bei der Verfassungsdurchbrechung setzt sich der Gesetzgeber unter Wahrung der Voraussetzungen einer Verfassungsänderung im Einzelfall über einen Verfassungssatz hinweg, ohne daß der Text des Verfassungsgesetzes geändert und ohne daß die Geltung des durchbrochenen Verfassungssatzes im übrigen berührt wird." 3 8 Sie läßt das materielle Problem der geltungsbeschränkenden Ausnahme in der Formulierung „setzt sich der Gesetzgeber über einen Verfassungssatz hinweg" zwar anklingen, beharrt aber auf dem negativen Merkmal der fehlenden Textänderung. Sie verfehlt so die im Verfassungstext verankerte Ausnahmeregelung 39, folglich auch die textlich ausgewiesene Ausnahme vom Textänderungsgebot selbst 40 . Ehmke hat sich in seinem grundlegenden Aufsatz vergeblich bemüht, den Begriff „Verfassungsdurchbrechung" für das materielle Problem zu reservieren und den formellen Aspekt der Verfassungsänderung ohne Textänderung mit dem Begriff der „Verfassungstext-Durchbrechung" zu kennzeichnen.41 Die zitierte Definition Baduras hat sich noch in anderer Beziehung als problematisch erwiesen. Mit der Beschränkung auf die Durchbrechung „im Einzelfall" nimmt sie den vor allem in der Weimarer Zeit unternommenen Versuch auf, dem Verfassungsgesetzgeber allgemein-abstrakte Änderungen zu gestatten, aber konkret-individuelle Durchbrechungen zu verwehren. Dem Abgrenzungsversuch lag die Annahme zugrunde, das allgemeine Änderungsgesetz diene schon kraft seiner Form der Rechtsidee, während die Ausnahme im
3 8
Badura, Stichwort „Verfassung", in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2721. S. u. 2.Abschn. II C 2 (zu Art. 180 S. 2 WRV); 3.Abschn. I 2 (zu Art. 93 a L V Bad.-Würt.) und III (zu Art. 10 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 S. 3 GG); 4.Abschn. II 2 (zu Art. 88 S. 2 GG); 6.Abschn. II A (zur geplanten Durchbrechung von Art. 39 GG); 7.Abschn. II (zu Art. 118 a GG). 4 0 So sieht Isensee, HStR VII, § 162 Rdnr. 40 Fn. 117, in Art. 79 Abs. 1 Satz 2 GG zwar eine „Ausnahmeregelung", aber „keine echte Verfassungsdurchbrechung"; er ist „systemwidriger Fremdkörper". Ausführlich zur Ausnahme vom Textänderungsgebot u. 8.Abschn. III 1 sowie 3.Abschn. II B 1. 41 Ehmke, AöR 79, S. 385 (386 f.). Folgerichtig kann sich nach Ehmkes Begriffsbildung sowohl hinter der Verfassungstext-Änderung als auch hinter der Verfassungstext-Durchbrechung materiell eine Verfassungsänderung oder eine Verfassungsdurchbrechung verbergen: Ehmke, ebenda S. 386 Fn. 3 a.E. 3 9
1. Abschn.: Einfuhrung konkreten Einzelfall, die okkasionell-dezisionistische „Maßnahme", im Widerspruch zur Unverbrüchlichkeit des Verfassungsrechts stehe. Die Bemühungen mußten scheitern, weil die Abgrenzung entweder zu unsicher oder zu formalistisch war. 4 2 Spätestens seit der Stellungnahme von Gerhard Leibholz 43 gibt es keinen Anlaß mehr, die Verfassungsdurchbrechung per definitionem auf den Einzelfall zu reduzieren. So bleibt von der Begriffsbestimmung Baduras eine „korrigierte" Fassung übrig; sie ist der Ausgangspunkt dieser Arbeit: Im Wege der Verfassungsdurchbrechung setzt sich der Gesetzgeber unter Wahrung der Voraussetzungen einer Verfassungsänderung über einen Verfassungssatz hinweg, ohne daß die Geltung des durchbrochenen Verfassungssatzes im übrigen berührt wird.
2. Verfassungsänderung Das Verhältnis, die Beziehung oder Abgrenzung zwischen Verfassungsänderung und Verfassungsdurchbrechung ist das Kernproblem der folgenden Untersuchung. An dieser Stelle sei nur auf die in der Weimarer Staatsrechtslehre bedeutsame Stellungnahme von Carl Schmitt und die in jüngerer Zeit maßgebliche Lehre von Horst Ehmke hingewiesen. Beide gelangten zur Unvereinbarkeit der Begriffe. a) Schmitt behandelte in seiner Verfassungslehre den Begriff der Durchbrechung unter der Überschrift „Verfassungsänderung ist nicht Verfassungsdurchbrechung" 44. Art. 76 der Reichsverfassung diene zwei völlig verschiedenen Zwecken: einmal dem verfassungsgesetzlichen Revisionsverfahren und zweitens der Ermöglichung apokrypher Souveränitätsakte. 45 Hinter dem Souveränitätsakt verbirgt sich eine „abweichende Anordnung", die „Verletzung verfassungsgesetzlicher Bestimmungen für einen oder mehrere bestimmte Einzelfälle" 46 : „Es wird hier also nicht nur keine Änderung des Verfassungsgesetzes vorgenommen, sondern gerade vorausgesetzt, daß das Verfassungsgesetz unverändert weiter gilt. ... Wenn im Interesse der politischen Existenz des Ganzen solche Durchbrechungen und Maßnahmen vorgenommen werden, so zeigt sich darin die Überlegenheit des Existenziellen über die bloße
4 2 43 4 4 4 5 4 6
Ausführlich u. 2.Abschn. II C 4. Die Verfassungsdurchbrechung, in: AöR 22 (1932), S. 1 f f Verfassungslehre, S. 106. Verfassungslehre, S. 109. Verfassungslehre, S. 107 und 99.
1. Abschn.: Einfuhrung
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Normativität. ... Auch für den modernen Rechtsstaat sind diese Durchbrechungen das Kriterium der Souveränität." 47 Carl Schmitt schloß hier an seine frühere Deutung des Art. 48 Abs. 2 WRV an 4 8 und erstreckte die „strenge theoretische Trennung zwischen Maßnahmen und anderen, von Rechtsidee und Rechtsförmigkeit beherrschten Akten oder Normen" 4 9 auf das Handeln der Legislative als rechtsstaatlicher oder politischer Gesetzgeber 50 und rechtsstaatlicher oder politischer Verfassungsgesetzgeber 51 . Nach Art. 48 WRV sei der Reichspräsident nur ermächtigt, Maßnahmen zu treffen, deren Eigenart in ihrer Zweckabhängigkeit von der konkreten Sachlage bestehe. Umgekehrt seien Verfassungsänderungen keine Maßnahmen und deshalb nach Art. 48 WRV auch nicht zulässig. 52 Der Dualismus der Handlungsformen führte nunmehr im parlamentarischen Raum zu der Abschichtung eines „politischen" Gesetzesbegriffs sowohl wie der Verfassungsdurchbrechung von der Verfassungsänderung: „Solche Durchbrechungen sind ihrer Natur nach Maßnahmen, keine Normen, daher keine Gesetze im rechtstaatlichen Sinne des Wortes und infolgedessen auch keine Verfassungsgesetze."53 Die Begriffsbildung beruhte auf der prinzipiellen Unterscheidung „von normalen Rechtserscheinungen und solchen des Ausnahmezustands"54. Die Maßnahme ist das politische Mittel, um aus der abnormen Lage wieder eine normale Situation zu machen, in der Normen gelten können. Carl Schmitt gelangte zu folgendem Ergebnis: „Kommt es nun zu der politischen Notwendigkeit solcher Durchbrechungen, so äußert sich der Respekt vor der Verfassung in der Weise, daß - ohne Änderung des Verfassungsgesetzestextes - das Verfahren einer Verfassungsänderung beobachtet wird. Solange diese Methode nicht mißbraucht wird, darf man annehmen, daß sie dem Geist der Verfassung nicht widerspricht." 55 Es kann nicht wundernehmen, daß diese für den politischen Existenzialismus Carl Schmitts charakteristische Position Kriterien des Mißbrauchs
4 7
Verfassungslehre, S. 107. Die Diktatur des Reichspräsidenten, VVDStRL 1, S. 63 ff. 4 9 VVDStRL 1,S. 63(101). 5 0 Verfassungslehre, S. 146 ff. 51 Verfassungslehre, S. 106 ff. 52 VVDStRL 1, S. 63 (95 ff., 98). Zur Fortschreibung der Stellungnahme zu Art. 48 WRV in späteren Schriften s. u. 2.Abschn. II B 3 d. 53 Verfassungslehre, S. 107. 54 VVDStRL 1, S. 63 (101). Näher dazu u. 2.Abschn. II A 3 d. 55 Verfassungslehre, S. 108. 4 8
1. Abschn.: Einfhrung nicht nennen kann. 56 Ob der Zustand faktisch normal ist oder abnorm, wird mittels absoluter Dezision bestimmt. 57 Für unseren Zusammenhang ist wichtig, daß die Verfassungsdurchbrechung als ein rechtlich ungeformtes, juristisch nicht beherrschbares Instrument des Politischen erscheint, das keinen Platz hat neben den drei rechtsstaatlichen Formen der Verfassungsrevision 58: der Änderung, Beseitigung und Aufnahme verfassungsgesetzlicher Anordnungen. b) In der Schrift „Verfassungsänderung und Verfassungsdurchbrechung" 59 hatte Horst Ehmke verlangt, bei Verfassungsänderungen sei „ - abgesehen vom Problem der Grenzen der Verfassungsänderung - jeweils zu prüfen, ob wirklich eine Verfassungsänderung oder aber eine unzulässige Verfassungsdurchbrechung vorliegt" 60 . Ehmke begründete sein Verdikt „aus dem materialen Zusammenhang der Verfassung", die nicht eine formale Zusammenfassung gesetzlicher Einzelregelungen, sondern ein materiales Ganzes im Sinne der Beschränkung und Rationalisierung der Macht sei. 61 Ehmke suchte die Abgrenzung - anders als Carl Schmitt - selbständig im Begriff der Verfassungsänderung. Danach kommt es entscheidend auf die Trennschärfe der Begriffe an: Die Unterscheidung - so Ehmke - sei „in der Regel einfach", weil „Verfassungsdurchbrechungen meist für einen Einzelfall erfolgen" 62 . Doch Schwierigkeiten der Abgrenzung entstünden, „wenn eine ,Änderung' nicht den ganzen bisherigen Normbereich, aber doch eine Vielzahl von Fällen, einen besonderen Bereich neu regeln w i l l " 6 3 . Hier zeigte sich die offene Flanke der Konzeption. Entgegen dem eigenen Anspruch, die Kategorien allgemein-begrifflich abzugrenzen 64, führte Ehmke materiale Bewertungskriterien ein: „Je nach der Bedeutung einer Norm im Gesamtzusammenhang der Verfassung wird ihre Änderung in engerem oder weiterem Umfange erlaubt und die Abgrenzung der Verfassungsänderung von der Verfassungsdurchbrechung verschieden schwierig sein." 65 Hier hilft die
56
Vgl. die Bsp., Verfassungslehre, S. 109, deren unterschiedliche Bewertung nicht begründet wird. 57 Vgl. dazu H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 68 et passim. 58 S. Verfassungslehre, S. 99. 5 9 AöR 79, S. 385 ff. 6 0 Ebenda S. 404. 61 Ebenda S. 400 sowie S. 401 Fn. 61 a.E. 6 2 Ebenda S. 404. 63 Ebenda S. 404. 6 4 Vgl. ebenda S. 403 f., auch die Bewertung der Begrifflichkeit bei Loewenstein. 65 Ebenda S. 405.
1. Abschn.: Einfuhrung
28
begrifflich-abstrakte Beschränkung auf eine Änderungsbtfugnis offenbar nicht mehr. Umgekehrt erhält erst die „sachlich nicht gerechtfertigte Ausnahmeregelung" im Ergebnis das Abzeichen der unzulässigen Verfassungsdurchbrechung. 66 c) Bei aller Verschiedenheit der Ansätze beziehen sich die Konzepte von Schmitt und Ehmke gemeinsam auf die Allgemeinheit des Verfassungsgesetzes. Wohl sind ihre Begriffe auch der abstrakten Ausnahme zugänglich. 67 Aber der Prototyp der bekämpften Gesetze scheint doch das Ausnahmegesetz im konkreten Fall zu sein. Der verfassungsändernde Gesetzgeber sei befugt, „Verfassungsnormen mit allgemeiner Geltung zu ändern, zu ergänzen, aufzuheben und neu zu setzen, nicht aber dazu, zu bestimmen, daß Verfassungsvorschriften für bestimmte Fälle oder für eine bestimmte Zeit keine Anwendung finden, also durchbrochen werden." 68 Die Forderung lenkt den Blick auf einen erstaunlichen Befund. Die traditionelle Diskussion über die Allgemeinheit des Gesetzes, über das klassische Gesetz, Maßnahmegesetz, Einzelfallgesetz, hat sich nicht der Frage gestellt, ob das Postulat der Allgemeinheit auf der Ebene der Verfassung eigenständig strenger - zu formulieren sei. Erst die Antwort auf diese Frage klärt das Verhältnis zwischen Änderung und Durchbrechung, zwischen Ausnahme und Regel im Verfassungsrecht. 69
3. Verfassungswandel a) Verfassungswandel und Verfassungsdurchbrechung sind verwandte Phänomene im Spannungsfeld zwischen dem normativen Steuerungsanspruch der Verfassung und dem politischen Gestaltungsanspruch von Regierung und Parlament. Sie können zu einer Veränderung des verfassungsrechtlichen status quo führen, die sich gar nicht oder nur mittelbar im Verfassungstext niederschlägt. Zum Verfassungswandel gehören schon per definitionem nur solche Wandlungen des Inhalts von Verfassungsnormen, die sich bei gleichbleibendem Text 6 6
Ebenda S. 405. Näher dazu u. 3.Abschn. III 3. Vgl. Ehmke, AöR 79, S. 385 (404). Carl Schmitt, VVDStRL 1, S. 63 (98): „Auch generelle Anordnungen können als Maßnahme getroffen werden und sind nach Art. 48 (WRV) zulässig. Der Reichspräsident kann eine Maßnahme treffen, indem er eine Verordnung erläßt." 6 8 Ehmke, AöR 79, S. 385 (400 f.). Entsprechend Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 99. 6 7
6 9
S. u. 7.Abschn. I; 8.Abschn. I und III 2.
1. Abschn.: Einfhrung vollziehen. 70 Angesichts dieser Verwandtschaft erstaunt es nicht, daß auch gegenüber dem Verfassungswandel die Revisionsnorm des Grundgesetzes in Stellung gebracht worden ist: Das Textänderungsgebot des Art. 79 Abs. 1 G G 7 1 genauso wie das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit gemäß Art. 79 Abs. 2 GG72. So scheint es, als stünden zwei Techniken in Rede, die auf politische Selbstentfesselung zielen, aber in verschiedenen politischen Situationen in Betracht kommen. Hesse verweist auf Zeiten stärkerer Polarisierung zwischen Regierungsmehrheit und Opposition: Lasse sich für eine Verfassungsänderung eine qualifizierte Mehrheit nicht gewinnen, „so liegt der Rückgriff auf die Behauptung eines Verfassungswandels nahe" 73 . Die Verfassungsdurchbrechung hängt demgegenüber von einer Zweidrittelmehrheit ab. Sind sich also Regierungsmehrheit und Opposition einig, scheint der Weg frei für den „Absolutismus der jeweiligen Zweidrittel-Mehrheit des Parlaments" 74 . b) Schon für die Bismarcksche Reichs Verfassung hatte Georg Jellinek die politische Notwendigkeit als „Verfassungswandlerin" ausgemacht.75 Paul Laband behandelte die durchbrechende Franckensteinsche Klausel 76 in seiner Schrift über „Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung" (1895). Carl Bilfinger schrieb der Verfassungsdurchbrechung den „Charakter einer Verfassungswandlung" zu und hielt sie „als Ganzes für eine Methode der Umgehung der Verfassung" 77 . Konsequenterweise wurden, der methodischen Grundvoraussetzung des Positivismus, der Scheidung von Staatsrecht und Politik, entsprechend, Verfassungswandlung und Verfassungsdurchbrechung dem Gegensatz von „Verfassungszustand und Verfassungsgesetz" zugeschlagen.78
7 0 Böckenförde, in: FS Lerche (1993), S. 3 (6); Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: ders., Ausgewählte Schriften, S. 28 (32); Bushart, Verfassungsänderung, S. 54; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 21. Zur Durchbrechung des Textänderungsgebotes zusammenfassend u. 9.Abschn. IV 1. 71 v. Mangoldt/Klein, GG, Anm. III 2 zu Art. 79. 7 2 Lerche, in: Festgabe für T. Maunz (1971), S. 285 (292). 73 Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, S. 28 (30). 7 4 Ehmke, AöR 79, S. 385 (401). 75 G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. V I I und 21 ff. 76 Dazu u. 2.Abschn. I. 77 Bilfinger, AöR 11 (n.F.), S. 163 (176, 177 f.). 78 Vgl. dazu Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, S. 28 (31 ff.); Böckenförde, in: FS Lerche (1993), S. 3 (4 f.).
1. Abschn.: Einfhrung
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Der Satz von Jellinek, die Entwicklung der Verfassungen biete die große Lehre, „daß Rechtssätze unvermögend sind, staatliche Machtverteilung tatsächlich zu beherrschen" 79 mochte die Verfassungswandlung so gut treffen wie die - später sogenannte - Verfassungsdurchbrechung. „Die realen politischen Kräfte bewegen sich nach ihren eigenen Gesetzen, die von allen juristischen Formen unabhängig wirken." 8 0 c) Hesse hat im Blick auf die VerfassungsWandlung dieser „Kapitulation vor der Macht der Fakten" 81 in den Lehren Labands und Georg Jellineks ein Konzept der „rechtlichen Einbindung der Wirklichkeit" 8 2 entgegengestellt. Es setzt voraus, daß der Text der Verfassung ohne Einschränkung respektiert wird. Verfassungswandlung sei als Wandel „innerhalb" der Verfassungsnorm zu begreifen. Im Anschluß an Schriften von Friedrich Müller 8 3 wird zwischen „Normprogramm" - der Anordnung der Norm - und „Normbereich" - den von der Anordnung betroffenen Gegebenheiten - unterschieden. Veränderungen des Normbereichs müssen und können zu einer Veränderung des Inhalts der Norm führen. 84 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist folgende Schlußfolgerung: „Wenn Veränderungen der sozialen Wirklichkeit nur insoweit als maßgeblich für den Norminhalt angesehen werden dürfen, als sie zum ,Normbereich' gehören, wenn hierfür wiederum das ,Normprogramm' maßgeblich ist und wenn für dieses der Text der Verfassungsnorm von konstituierender Bedeutung ist, dann kann der Inhalt der Verfassungsnorm sich nur innerhalb des durch den Text gezogenen Rahmens wandeln." 85 Von diesem Ausgangspunkt lassen sich der Verfassungswandel und die Verfassungsdurchbrechung scharf voneinander absetzen. Unübersteigbare Grenze der Verfassungswandlung ist jedenfalls 86 der Text der Verfassungsurkunde.
7 9
G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 72. G. Jellinek ebenda. 81 Hesse, Grenzen der Verfassungs Wandlung, S. 28 (40). 8 2 Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, S. 28 (35). 83 Normstruktur und Normativität, S. 114 ff.; Normbereiche von Einzelgrundrechten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 9. 8 4 Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, S. 28 (41). 85 Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, S. 28 (42). Die Frage ist, ob von Verfassungswandel gesprochen werden soll, solange das Normprogramm unberührt bleibt: kritisch Böckenförde, in: FS Lerche (1993), S. 3 (12 f.). 8 6 Zu weitergehenden Begrenzungen des Verfassungswandels aus dem Gebot der Textänderung Bushart, Verfassungsänderung, S. 54 ff., insb. S. 57. 8 0
1. Abschn.: Einfuhrung Die Verfassungsdurchbrechung dagegen setzt sich offen 87 über das bisher geltende Verfassungsrecht hinweg und schafft einen Kollisionstatbestand. Der Text der Verfassung ist hier nicht äußerste Grenze, sondern Anlaß für die Setzung einer anderen, diese Grenze „durchbrechenden" Norm. Die Betrachtung des Verfassungswandels kann somit im Folgenden ausscheiden.
4. Die Exemtion a priori des Verfassunggebers Nur was zuvor ungebrochen gegolten hat, kommt als Gegenstand einer Durchbrechung in Betracht. Deshalb ist das in der Verfassunggebung gesetzte Ausnahmerecht von der Verfassungsdurchbrechung prinzipiell zu unterscheiden. In der verfassungsrechtlichen „Stunde Null" stellt sich die Frage nach uneingeschränkter oder sachlich, zeitlich, örtlich modifizierter Inkraftsetzung, aber nicht das Problem der Außerkraftsetzung, der Selbstentfesselung des verfaßten Gesetzgebers. Eine für die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes charakteristische Exemtion - in Form der salvatorischen Generalklausel - findet sich in Art. 139: „Die zur , Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus' erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt." Historisch fundamental verschieden, aber technisch übereinstimmend formulierte Art. 178 Abs. 2 Satz 2 WRV: »Die Bestimmungen des am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichneten Friedensvertrags werden durch die Verfassung nicht berührt Zum originären Ausnahme- und Kriegsfolgerecht auf Verfassungsebene gehört auch Art. 117 Abs. 2 GG, typischer Fall einer temporären Exemtion in den „Übergangs- und Schlußbestimmungen" einer Verfassung: „Gesetze, die das Recht der Freizügigkeit mit Rücksicht auf die gegenwärtige Raumnot einschränken, bleiben bis zu ihrer Aufhebung durch Bundesgesetz in Kraft" Zu neuem Leben erwachte nach der Wiedervereinigung Art. 141 GG, der unter näher bestimmten Voraussetzungen territorial begrenzt von der Vorgabe exemt stellt, in den öffentlichen Schulen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach anzubieten (Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG). 8 8 Dieser Typus bleibt ebenso außer Betracht wie die sachliche Exemtion nach Art des Art. 44 Abs. 4 S. 1 GG, der die Beschlüsse der Untersuchungsausschüsse entgegen Art. 19 Abs. 4 GG der richterlichen Erörterung entzieht. 87 88
S. aber zur Durchbrechung des Textänderungsgebotes u. 9.Abschn. IV 1. Dazu im Exkurs u. 7.Abschn. III.
1. Abschn.: Einfhrung
32
III. Zum Aufbau der Untersuchung 1. Die Weimarer
Vorgeschichte
Die gegenwärtigen Darstellungen zum Begriff und Problem der Verfassungsdurchbrechung leben von verfassungshistorischen Verweisen auf die Zeit der Weimarer Republik. Das gilt nicht nur für das formelle Problem der Urkundlichkeit (s. o. I 1). Auch in der Auseinandersetzung mit der geltungsbeschränkenden Ausnahme zählt der Hinweis auf die „Erfahrungen der Vergangenheit" 89 , auf die Wiederholung alter Fehler in Art. 24 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 1 G G 9 0 oder den Maßnahmebegriff bei Carl Schmitt 91 . Die begriffsgeschichtliche Vielfalt, die eigentümliche Verflechtung formeller und materieller Aspekte 92 , die Weimarer Diskussion insgesamt hat einen reichhaltigen Argumentationsfundus hervorgebracht. Allerdings lassen sich darin - so scheint es - nur abschreckende Beispiele und Negativlehren finden, und die Linie zurück nach Weimar gilt dann als interpretatorischer Schlußstrich. Das verfassungsgeschichtliche Argument scheint die Beantwortung wichtiger Fragen in der Dogmatik der Verfassungsänderung eher zu blockieren als zu befördern. Die Grundfrage lautet heute wie seinerzeit in der Weimarer Republik: Gehört die geltungsbeschränkende Ausnahme im Verfassungsrecht zu den juristisch beherrschbaren „Erscheinungsformen der Verfassungsänderung" 93 oder zu den letztlich ungebundenen Akten „reiner Politik" in der faktischen Ausnahmelage und im Notstand? Lassen sich spezielle Bindungen entwickeln, über die in Art. 79 Abs. 3 GG gezogenen Grenzen hinaus, oder kann es auf Verfassungsebene überhaupt kein „Ausnahmegesetz", „Maßnahmegesetz" oder „Einzelfallgesetz" geben? Zu diesen Fragen fand in der Staatsrechtswissenschaft der Republik von Weimar, die von Krisenlagen wußte, eine 8 9
Hesse, Grundzüge, Rdnr. 699 und Rdnr. 39. Zuletzt Breuer, NVwZ 1994, S. 417 (422). Breuers Bezugnahme auf die Weimarer Verfassungsdurchbrechungen („haben wesentlich dazu beigetragen, die Weimarer Reichsverfassung zu paralysieren") geht fehl, soweit sie die Durchbrechung als Instrument der einfachen Mehrheit benennt. S. u. 2.Abschn. II A 2. 91 S. Ronellenfitsch, in: Blümel (Hrsg.), Verkehrswegerecht (1994), S. 196, in seiner Ablehnung der „Investitionsmaßnahmengesetze". Dazu u. 7.Abschn. I B 2. 9 2 Ausführlich u. 2.Abschn. II A 2 und 3, 3.Abschn. II A 2 und 8.Abschn. III 1. 93 So der Titel von Karl Loewensteins großer Monographie aus dem Jahre 1932, in der die Verfassungsdurchbrechung in einer allgemeinen Dogmatik der Verfassungsänderung aufgeht. Ausfuhrlich dazu u. 2.Abschn. II A 3 b. 9 0
1. Abschn.: Einfhrung intensive verfassungstheoretische Auseinandersetzung statt. Denn das verfassungsdurchbrechende Gesetz, häufig der kleinste parlamentarische Nenner, überwog auch quantitativ deutlich die idealtypische, allgemeingültige Verfassungsänderung (i.e.S.). Die folgende Untersuchung greift in ihrem verfassungsgeschichtlichen Teil die Debatte noch einmal auf. Gegen die Kommentarliteratur zu Art. 79 GG rückt sie nicht die „Verfassungsänderung ohne Textänderung", sondern das materielle Problem der Ausnahme in den Mittelpunkt.
2. Der Vorgang der Verfassungsdurchbrechung
- leitende Gesichtspunkte
Die unausgewogene Rezeption der Weimarer Vorgeschichte und die entsprechend ungewisse Begrifflichkeit (s. o. II 1) stehen bislang einem festen Topos „Verfassungsdurchbrechung" entgegen. Deshalb empfiehlt sich ein induktives Vorgehen. Am Anfang der Untersuchung stehen jene Fallkonstellationen, die historisch den Begriff hervorgebracht haben, und die Fortwirkung der Weimarer Lehre in der Verfassungsentwicklung nach 1945 (1. Kapitel). Die folgenden Kapitel handeln von aktuellen Konkurrenzen zwischen dem Grundgesetz und der supranationalen Ausnahme (2. Kapitel) sowie jenem Ausnahmerecht, das der Gesetzgeber im Prozeß der deutschen Einheit für erforderlich hält (3. Kapitel). Bis allgemeine Aussagen möglich sind (4. Kapitel), orientiert sich die Darstellung an vier im Folgenden näher bestimmten Gesichtspunkten, die die Verfassungsdurchbrechung von den herkömmlich unterschiedenen Typen der Verfassungsänderung abheben. (1) Kollision. Die Durchbrechung trägt einen Kollisionstatbestand in die Verfassung. Sie ist keine Neuregelung (Ergänzung), Andersregelung {Änderung i.e.S.) und führt auch keine Streichung herbei 94 ; sie ist eine Sonderregelung, ordnet einen Sachverhalt im Widerspruch zu der „eigentlich" einschlägigen Verfassungsnorm. (2) Kreation. Das Stichwort zielt auf das Zustandekommen, auch auf die formelle Gestaltung der Sonderregelung und wirft die Zuständigkeitsfrage auf. Die verfassungsgeschichtlichen Linien des heute maßgeblichen Art. 79 Abs. 1 und Abs. 2 GG reichen zurück bis zu jenem mit der Reichsverfassung von 1871
9 4
Die Unterscheidung zwischen Änderung i.e.S., Ergänzung und Aufhebung findet sich etwa bei Bryde, in: v. Münch, GG, Art. 79 Rdnr. 8. Vgl. auch o. II 2 c. 3 Hufeid
34
1. Abschn.: Einfhrung
konkurrierenden „Spezialgesetz", das, einmal gemäß Art. 78 BRV erlassen, in den Händen der „einfachen Majorität" lag. 95 Die Weimarer Staatspraxis knüpfte an die „aus dem alten Recht übernommene Praxis" 96 der Änderungsgesetzgebung außerhalb der Verfassungsurkunde an, erlaubte der einfachen Mehrheit aber nur noch die Streichung, nicht mehr die Fortschreibung des abweichenden Gesetzes.97 Im Zeichen von Art. 79 Abs. 1, Abs. 2 GG interessieren Konstellationen, in denen sich der Verfassungsgesetzgeber ausdrücklich seiner Zuständigkeit begibt oder das Gebot der Textänderung außer Kraft setzt. 98 (3) Dispensation. Das Stichwort rückt die Sonderregelung auf Verfassungsebene in einen allgemeinen Zusammenhang. In der Gesetzgebungslehre ist der Dispens ein anerkanntes Institut der Einzelfallgerechtigkeit, welches das abstrakte Gesetz für die Besonderheiten des einzelnen Anwendungsfalles öffnet. Er steht im Verwaltungsrecht, beschränkt auf die Ausnahme im konkreten Einzelfall, für die Durchbrechung der allgemeinen Geltungskraft zwingender Normen. 99 Der Gesetzgeber, der die Ausnahmeregelung im konkreten Fall nicht der Verwaltung überlassen will, beschließt ein Einzelfallgesetz - „der reine Typ der Dispens- oder der Privilegien-Erteilung" 100 . Doch läßt sich die Lehre vom Dispens nicht ohne weiteres auf die Verfassungsdurchbrechung übertragen. Denn der „Dispens auf Verfassungsebene" trifft jene Normen, die auch und gerade an die Legislative adressiert sind 1 0 1 ; der Vorrang des Gesetzes macht die Legislative zur steuernden Gewalt, der Vorrang der Verfassung bindet sie selbst. Und den Vorrang der Verfassung stellt nicht nur die Ausnahme im Einzelfall in Frage, sondern auch, vielleicht mehr noch der „generell-abstrakte Dispens". Der Dispensbegriff betont in der Beziehung zwischen Regel und Ausnahme das negative Moment der Nichtgeltung 102 , und entsprechend bezeichnet das dispensatorische Element im Begriff der Verfassungsdurchbrechung die Gefahr für die normative Kraft der Verfassung. Doch die negative Wirkung 95
S. u. 2.Abschn. I 2. Anschütz, Reichsverfassung, Art. 76 Anm. 2 Fn. 1 (S. 402). 9 7 S. u. 2.Abschn. II A 2. 9 8 S. u. 3.Abschn. III 2, 4.Abschn. I B und zusammenfassend 9.Abschn. IV 1,2. 9 9 Mußgnug, Der Dispens von gesetzlichen Vorschriften, S. 60 ff., 77 ff. 100 Hans Schneider, Gesetzgebung, Rdnr. 43. 101 Zur Doppelrolle des Gesetzgebers als Adressat der Verfassung und Subjekt der Verfassungsgesetzgebung o. I 2 a und u. 8.Abschn. I 2 a. 102 Ygj Mußgnug, Der Dispens von gesetzlichen Vorschriften, S. 97. 9 6
1. Abschn.: Einfuhrung fällt zusammen mit der positiven Entscheidung für eine Sonderregelung. 103 So lenkt der Begriff der Dispensation den Blick auch auf die Vorzüge der abweichenden Norm. (4) Vorrang der Verfassung. Das Prinzip der vorrangigen Verfassung ist das Kriterium, an dem sich alle dogmatischen Aussagen über das Handeln der Legislative im Verfassungsrecht messen lassen müssen. Der verfassungsändernde Gesetzgeber bleibt nach dem Grundgesetz jedenfalls an Art. 79 Abs. 3 GG gebunden. Das wäre freilich in den hier untersuchten Konstellationen eine erheblich reduzierte Bindung. Von den einzelnen Ausformungen des Demokratieprinzips, von der Schrankensystematik im Bereich der Grundrechte, von den verfassungsgesetzlichen Vorgaben zur Justizgewährleistung, zur bundesstaatlichen Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern oder auch zum Wahltermin und zur Länderneugliederung bliebe dann nur, was nach Art. 79 Abs. 3 GG schlechthin unantastbar ist. Der Verfassungsgesetzgeber tauscht hier seine Rolle als „stellvertretender Verfassunggeber" ein gegen die des politischen Gesetzgebers, der die Sonderregelung mit der Mächtigkeit der Zweidrittelmehrheiten gegen die Verfassung durchzusetzen sucht. Dagegen nimmt er wieder die Aufgabe eines Verfassunggebers wahr, wenn er Kompensationsnormen an die Stelle der durchbrochenen Regel setzt. 1 0 4
3. Das Grundgesetz zwischen Einigungsvertrag
und Unionsvertrag
Im Zentrum der Untersuchung (Kapitel 2 und 3) stehen jene geschichtlichen Entwicklungen, die das Staatsrecht der Bundesrepublik zumindest in den 90er Jahren prägen. Die Einheit Deutschlands und die Einigung Europas, zur rechtlichen Form gebracht im Einigungsvertrag 105 und im Vertrag über die Europäische U n i o n 1 0 6 , sind Herausforderungen für das Grundgesetz und den Verfassungsgesetzgeber und damit auch für die Verfassungsrechtswissenschaft. Gewiß: Nach seiner Präambel „gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk"; und die Europäische Union „achtet die nationale Identität ihrer
103 104 105 106
S. für den Dispens im Verwaltungsrecht Mußgnug, ebenda S. 97 f. S. u. 3.Abschn. III 4 b, 5.Abschn. II und 9.Abschn. III 1, 2. Vom 31.8.1990, BGBl. II S. 889 ff. Vom 7.2.1992, BGBl. II S. 1251 ff.
1. Abschn.: Einfhrung
36
Mitgliedstaaten, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundsätzen beruhen" (Art. F Abs. 1 EUV). Danach scheint die Geltung des Grundgesetzes unangefochten. Doch schon ein flüchtiger Blick auf Art. 4 und 5 des Einigungsvertrages, auf Art. J.10, K.9 und Art. N Abs. 2 EUV mit dem Zieldatum 1996 zeigt, daß durchaus ungewiß ist, welches Grundgesetz nach „der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents" (Präambel EUV) gelten wird. In dynamischen, kaum vorhersehbaren Prozessen, die die Geltung der Verfassung betreffen, fällt dem Gesetzgeber eine natürliche Verantwortung zu. Von Verfassungsgesetzgebung jedoch wollen die Kommentatoren in der Staatsrechtswissenschaft nicht viel wissen. Sie scheinen dem Wort von Carl Schmitt anzuhängen, der Verfassungsgesetzgeber sei wie der Verfassunggeber dazu da, gute Gesetzgeber und Gesetzgebungsverfahren, und nicht selber Gesetze zu machen. 107 a) Die Analyse von Hans Peter Ipsen, das Übertragungsgesetz nach Art. 24 Abs. 1 GG sei ein Verfassungsgesetz 108, stieß ganz überwiegend auf Ablehnung 1 0 9 ; ebenso die systematische Einordnung des „Integrations-Hebels" 110 : „Das Grundgesetz hat mit dieser Vorschrift einen zusätzlichen, besonderen, neben Art. 79 geregelten Weg der Verfassungsänderung und -durchbrechung eröffnet." Wenn aber mit Blick auf das Grundgesetz nur noch von einer „europarechtlich überlagerten Teil-Grundordnung" 111 die Rede sein kann, stellt sich unvermeidlich die Frage nach dem handelnden Subjekt und der Ermächtigungsgrundlage. Steht der Integrationsgesetzgeber beziehungslos neben dem Verfassungsgesetzgeber? Ist Art. 23 GG ein Sprengsatz im Grundgesetz oder ein „Stein im Gesamtmosaik des Verfassungsrechts, der zwar hell leuchtet, seinerseits aber nicht die Ausgewogenheit des Gesamtgemäldes stören oder gar sein Kompositionsgefüge sprengen d a r f ' 1 1 2 ?
107
Carl Schmitt, Anmerkungen zu „Legalität und Legitimität", in: Verfassungsrechtl. Aufsätze, S. 349, in Abwandlung eines Satzes von John Locke. 108 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht (1972), S. 57 f. 109 S. Tomuschat, Bonner Komm (Zweitb.), Art. 24 Rdnr. 34; Mosler, HStR VII, § 175 Rdnr. 55. Vgl. den Gesamtüberblick bei Streinz, Grundrechtsschutz, S. 218 ff. 110 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 58. Dort auch das folgende Zitat. 111 Hesse, Grundzüge, Rdnr. 106, auch 111. 112 Kirchhof, in: Hommelhoff/Kirchhof, Staatenverbund, S. 11 (14).
1. Abschn.: Einfhrung Der Schlüssel liegt in der Dogmatik der Verfassungsänderung. Eine andere Handlungsform steht dem Gesetzgeber, der die Verfassungsrechtslage ändern will, nicht zur Vefügung; was über sie hinausweist, liegt jenseits der vom Grundgesetz verliehenen Befugnisse. Freilich unterscheidet sich das Integrationsgesetz von jener idealtypischen, statischen Verfassungsänderung, die losgelöst von konkreten politischen Zwecken die zeitlos und allgemeingültige abstrakte Grundnorm schafft. Im Verhältnis zwischen Grundgesetz und europäischem Gemeinschaftsrecht dominiert ein eigentümlicher Typus der Teil-Konkurrenz. Das nationale Verfassungsrecht bleibt regelmäßig formell und materiell unangetastet. Doch der vom Integrationsgesetzgeber vermittelte Vorrang des Gemeinschaftsrechts verkürzt den Geltungsbereich des identisch bleibenden Verfassungsrechts; die Ordnung des Grundgesetzes beschränkt sich auf Teil-Anwendungsbereiche. 113 Die Konkurrenz der Teil-Ordnungen erweist sich als qualitatives und quantitatives Problem. Einerseits führt allein die schiere Quantität der geltungsbeschränkenden Ausnahmen die Möglichkeit der qualitativen Veränderung herauf. 114 Andererseits ist nicht mehr sicher, ob sich die politisch-zweckhafte Abkehr vom parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes wie bislang in Teilbereichen des Wirtschaftslebens (die EGen als „Zweckverbände") verfassungsrechtlich überhaupt noch als Ausnahme deuten läßt. Der in Art. B EUV formulierte Anspruch der Union geht weit über eine wirtschaftspolitische Teilintegration hinaus. Er ist umfassend angelegt für die Wirtschafts- und Währungspolitik; durch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und „auf längere Sicht" auch durch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik strebt die Europäische Union „die Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene" an; die Einführung einer Unionsbürgerschaft und „die Entwicklung einer engen Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres" weist auf eine europäische Innenpolitik hin; bei alledem setzt Art. B EUV „die volle Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstands" voraus. Dieser „Qualitätssprung" 115 war für den verfassungsändernden Gesetzgeber Anlaß genug, auf Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission die Voraussetzungen und Grenzen der Integrationspolitik neu zu formulieren.
113
Ausführlich u. 4.Abschn. I A 3. Dazu u. 4.Abschn. I A 4 b und 8.Abschn. III 2. 115 Scholz, NJW 1992, S. 2593 (2594); Jahn, DVB1. 1994, S. 177 (178). Rupp, in: FS Carl Heymanns Verlag (1995), S. 499 (501). 114
38
1. Abschn.: Einfuhrung
b) Auch im Prozeß der deutschen Einheit stellt sich die Frage, ob die einmalige, die befristete oder die außerordentlich-zweckhafte Entscheidung der Zweidrittelmehrheiten beherrschbar im Begriff der Verfassungsänderung aufgeht - oder nur Hilfsfiguren bleiben („näher am Grundgesetz" 116 ) und das Gebot der Wiedervereinigung als „überkonstitutioneller Rechtfertigungsgrund" 1 1 7 . Manche Bestimmung des Einigungsvertrages, aber insbesondere sein Art. 4 Nr. 5 mit dem thematisch weitreichenden neuen Art. 143 GG, rief und ruft Verfassungsinterpreten zahlreich auf den Plan, nicht nur Junker genannte Verfassungsjuristen und skeptisch gestimmte Verfassungspuristen. Art. 143 GG dokumentiert neu, besonders zugespitzt aus geschichtlichem Anlaß, den unvermeidlichen Konflikt zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungsverantwortung der Politik einerseits, dem Mäßigungs- und Verrechtlichungsanspruch der Verfassung andererseits. Die Konkurrenz solcher Gestalt zwischen der abstrakten Verfassungsregel und der Ausnahmebestimmung in der konkreten historischen Lage steht in einer langen Tradition. Sie ist älter als jene Konstellationen in der Weimarer Republik, in denen krisenhafte Zustände des politischen Lebens zu immer neuem Ausnahmerecht drängten. Die verfassungsdogmatisch aufschlußreiche clausula Franckenstein aus dem Jahre 1879 ist ein früher Vorläufer des verfassungsdurchbrechenden Gesetzes.
116 117
Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 143 Rdnr. 8. Begriff und Kritik bei Maurer, JZ 1992, S. 183 (186, 191).
Erstes Kapitel
Die Verfassungsdurchbrechung in geschichtlicher Perspektive Zweiter Abschnitt Von der clausula Franckenstein zum Ermächtigungsgesetz I. Die Franckensteinsche Klausel 1. Die Kollision mit der Reichsverfassung a) Die Franckensteinsche Klausel findet sich in § 8 des Zolltarifgesetzes vom 15. Juli 18791. Sie geht zurück auf einen Antrag des Abgeordneten Franckenstein 2. „.Derjenige Ertrag der Zölle und der Tabacksteuer, welcher die Summe von 130 000 000 Mark in einem Jahre übersteigt, ist den einzelnen Bundesstaaten nach Maßgabe der Bevölkerung, mit welcher sie zu den Matrikularbeiträgen herangezogen werden, zu überweisen ." Die Bestimmung verhinderte die finanzielle Unabhängigkeit des Reiches, die dank der seit 1879 verfolgten Schutzzollpolitik möglich gewesen wäre, indem sie die Erträge oberhalb der 130 Millionen Mark-Grenze den Einzelstaaten zuwies, und das Reich somit weiterhin auf Matrikularbeiträge angewiesen blieb. 3 Diese Regelung kollidierte mit Art. 38 BRV, der vorschrieb, daß Zolleinnahmen in die Reichskasse fließen; ferner mit Art. 70 S. 1 BRV, wonach Zolleinnahmen zur „Bestreitung aller gemeinschaftlichen Ausgaben dienen" sollten, und mit Art. 70 S. 2 BRV, der Matrikularbeiträge nur als subsidiäres Mittel hinter reichseigenen Einnahmen anerkannte. b) In den Reichstagsdebatten allerdings schien in der Frage des Verhältnisses von Zolltarifgesetz und Reichsverfassung keine Einigkeit zu bestehen. Bismarcks Versuch, die Kollisionen zu bestreiten 4, brachte die Gegner der
1
RGBl. S. 207. Vgl. Ausschußbericht Windthorst, 77. Sitzung RT v. 9.7.1879, Sten. Ber. S. 2177. 3 Zusammenfassend Pagenkopf, Finanzausgleich im Bundesstaat, S. 93 f., 104 f.; Huber, Verfassungsgeschichte Bd. 3, S. 951 f. 4 77. Sitzung des RT v. 9.7.1879, Sten. Ber. S. 2197 f. 2
40
1. Kap.: Die Verfassungsdurchbrechung in geschichtlicher Perspektive
Franckensteinschen Klausel in arge Verlegenheit. Zwar wiesen sie empört Bismarcks Bemühungen zurück, die Vorschrift in ihrer politischen Tragweite herunterzuspielen und die Verfassungsverletzungen zu verneinen; sie geißelten die Revolutionierung der Finanz- und Zollpolitik, die unvereinbar mit Geist und Sinn der Verfassung sei.5 Gleichwohl sollte es sich nicht um eine Verfassungsänderung handeln, die Klausel werde „nicht Teil unseres Verfassungsrechts" 6. So griff der Nationalliberale Lasker den Reichskanzler frontal an, beschrieb die Verfassungsrechtslage und kam zu dem Schluß: „Der Antrag Franckenstein ändert dieses Verhältnis und dieses Recht gänzlich um" 7 . Andererseits wurde Bismarck von Lasker dafür gelobt, daß er den Antrag nicht als einen Verfassungsabänderungantrag betrachte, denn er sei von Bedeutung darin, „daß er das gegenwärig bestehende Verfassungsrecht durchbricht, ich will nicht sagen abändert" 8. Der Abgeordnete Dr. Hänel fand die Frage entscheidend, „ob dieses Amendement dem Geist und Sinn der Verfassung widerspricht, und da sage ich unbedingt: ja! ... Ich bin allerdings nicht der Ansicht von rein formalistischem Standpunkt aus, daß hier eine Verfassungsänderung vorliegt" 9 . Umänderung, aber keine Abänderung, ein Widerspruch, der nichts ändert? Lasker und Hänel machten aus den Absichten der Minderheit kein Hehl. Sie wollten die Franckensteinsche Klausel, wenn sie die Vorschrift nicht verhindern konnten, so doch für die Zukunft dem Zugriff der einfachen Mehrheiten in Reichstag und Bundesrat offenhalten - ohne gem. Art. 78 Abs. 1 BRV von einer beharrenden Sperrminorität im Bundesrat gebremst werden zu können; sie sollte nicht erschwert abänderbares Verfassungsrecht werden. 10
2. Änderungsgesetz - Verfassungsgesetz
- Spezialgesetz
a) Was hatte nun verfahrensrechtlich zu gelten, wenn das ZolltarifG unverkennbar mit Verfassungsrecht kollidierte, aber Gegner und Befürworter sich
5
Vgl. die Rede des Abg. Dr. Hänel, 78. Sitzung des RT v. 10.7.1879, Sten. Ber. S. 2246, 2248. 6
Abg. Lasker, 77. Sitzung des RT v. 9.7.1879, Sten. Ber. S. 2202. Lasker, ebenda S. 2203. 8 Lasker, ebenda S. 2202. 9 Abg. Dr. Hänel, 78. Sitzung des RT v. 10.7.1879, Sten. Ber. S. 2246. 10 Lasker, 77. Sitzung des RT v. 9.7.1879, Sten. Ber. S. 2202; Hänel, 78. Sitzung des RT v. 10.7.1879, Sten. Ber. S. 2246. 7
2. Abschn.: Von der clausula Franckenstein zum Ermächtigungsgesetz
41
darin zusammenfanden, daß kein „Verfassungsgesetz" beschlossen werde? Es scheint, als habe der Gesetzgeber 1879 einen beweiskräftigen Präzedenzfall dafür liefern wollen, wie er durch einfaches Gesetz die Verfassung zu ändern in der Lage ist. Und in der Tat verwies Georg Jellinek in seiner Allgemeinen Staatslehre später auf die Franckensteinsche Klausel und läßt sie als Beleg für die normative Kraft des Faktischen erscheinen: „Wo, wie in den meisten Staaten, ein richterliches Prüfungsrecht der Gesetze auf ihre materielle Übereinstimmung mit der Verfassung nicht existiert, da ist, was immer auch die juristische Theorie behaupten möge, keine Garantie gegeben dafür, daß einfache Gesetze nicht im Widerspruch mit dem Verfassungsrechte die Verfassung rechtsgültig abändern." 11 Die vereinzelt in der Literatur erhobene Forderung, Änderungen in der Verfassung urkundlich auszuweisen12, spielte in der Gesetzgebungspraxis keine Rolle. Deshalb konnte nicht nur im Reichstag offen bleiben, ob die clausula die Verfassung ändert 13 - auch in diesem Fall hätte gem. Art. 78 Abs. 1 BRV die einfache Mehrheit ausgereicht - ; auch die Mitglieder des Bundes im Bundesrat brauchten über den verfassungsändernden Charakter des Gesetzes nicht zu entscheiden, wenn und solange sich keine Sperrminorität mit wenigstens vierzehn Stimmen fand (Art. 78 Abs. 1 S. 2 BRV), die die Verfassungsänderung behauptete, sich durchsetzte und die Zustimmung verweigerte. So blieb es letztlich unentschieden, ob Jellinek das Zolltarifgesetz zu Recht als einfaches Gesetz bezeichnen konnte. Der Bundesrat verhandelte geheim 14 , und nur wenn es dort zum Schwur kam, mußte das einfache Gesetz vom verfassungsändernden abgeschichtet werden. b) Freilich war es gerade diese Ungewißheit über den Charakter des ZolltarifG, die seine Gegner umtrieb. Sie mußten befürchten, daß im Falle künftiger Abschaffung oder Änderung die Franckensteinsche Klausel als ehedem verfassungsändernd behandelt werde und dann ihrerseits nur erschwert abänderbar sein würde. Diese Sorge suchten Befürworter des neuen Gesetzes zu zerstreuen. Ob der Antrag Franckenstein eine Verfassungsänderung enthalte, brauche nicht untersucht zu werden. „Denn es ist juristisch nicht richtig,
11
G. Jellinek, Allg. Staatslehre, S. 538. v. Rönne, Staatsrecht II 1, S. 33. 13 Ausdrücklich offenlassend: Abg. Dr. Volk, 78. Sitzung des RT v. 10.7.1879, Sten. Ber. S. 2242; Abg. v.Hölder, ebenda S. 2245. 12
14 Dazu aufschlußreich G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 13 Fn. 5.
42
1. Kap.: Die Verfassungsdurchbrechung in geschichtlicher Perspektive
und in Bayern ist es dutzend und dutzend mal ausgeführt worden, daß ein Gesetz, welches an die Stelle eines Verfassungsgesetzes tritt, schon von vornherein ebenfalls ein Verfassungsgesetz ist, es müßte erst bei der Emanation des neuen Gesetzes ausdrücklich ausgesprochen werden, daß dasselbe als Verfassungsgesetz mit den damit verbundenen Garantien an die Stelle der betreffenden aufgehobenen oder geänderten Paragraphen trete. Liegt also kein Verfassungsgesetz in Frage, so schwindet schon das eine Bedenken, daß für alle Zeit, oder wenigstens für unabsehbare Zeit hinaus der Franckensteinsche Antrag verderbend und verwirrend im Reich wirken könne." 15 Was sich hier in der Praxis vor handfestem politischen Hintergrund entwickelte, fand in der Staatsrechtslehre theoretischen Rückhalt. Wohl forderte Laband die Beachtung von Art. 78 BRV, wenn ein verfassungsänderndes „Spezialgesetz" ohne Verfassungstextänderung erlassen werde. 16 Für dessen Abänderung jedoch sollte im Bundesrat die einfache Mehrheit genügen, Art. 78 Abs. 1 BRV setze Anordnungen voraus, die Bestandteil der Verfassungsurkunde geworden seien. 17 Mehr noch: „Wenn demnach einmal die Verfassung durch ein Spezialgesetz mittelbar abgeändert worden ist, so können die Bestimmungen dieses Spezialgesetzes fortan durch ein mit einfacher Majorität sanktioniertes Gesetz verändert werden, wenngleich dadurch noch weitergehende Modifikationen der ursprünglichen Verfassungssätze herbeigeführt werden." 18 Damit hatte das Institut des verfassungsändernden Gesetzes ohne Verfassungskraft, das seinerzeit keine geringe Rolle spielte 19 , auch wissenschaftliche Anerkennung gefunden. c) Mit den Verfassungsänderungsgesetzen (mit oder ohne Verfassungskraft), die die Verfassungsurkunde unberührt ließen, war von der Staatspraxis und den maßgeblichen Stimmen in der Literatur 20 nicht nur die „Verfassungsänderung ohne Textänderung" gebilligt. Folge dieser Gesetzgebungstechnik war vor allem, daß die Bismarcksche Reichsverfassung keine steuernde und limitierende Kraft entfalten konnte. Sie mußte gegenüber dem Gesetzgeber machtlos
15 Abg. Dr. Volk, 78. Sitzung des RT v. 10.7.1879, Sten. Ber. S. 2242. Zustimmend Abg. v. Holder, ebenda S. 2245 mit Verweis auf die württembergische Staatspraxis. 16 Laband, Staatsrecht II (5. Aufl.), S. 38 f. 17 Laband, ebenda S. 41. 18 Laband, ebenda S. 41. Vgl. dazu auch G. Jellinek, Allg. Staatslehre, S. 538. 19 S. die Bsp. bei Laband, ebenda S. 40 ff. Darunter auch das StellvertretungsG v. 17.3.1878 (RGBl. S. 7). 2 0 Vgl. noch Meyer/Anschütz, Staatsrecht (7. Aufl.), S. 661 f.; dort S. 662 Fn. 13 zum Meinungsstand.
2. Abschn.: Von der clausula Franckenstein zum Ermächtigungsgesetz
43
bleiben, wenn sie durch „Spezialgesetze" ohne weiteres beiseite geschoben werden konnte. Ob die allgemeine Verfassungsordnung dem speziellen Gesetz weichen muß, in dem eine einfache Reichstagsmehrheit für einen Teilbereich gegenläufige politische Interessen zum Ausgleich gebracht hat 2 1 , war die entscheidende materielle Fragestellung.
3. Lex specialis - lex posterior Das ZolltarifG und speziell sein § 8 schuf Sonderrecht im Verhältnis zum einschlägigen Verfassungsrecht. Aber nur für Zolleinnahmen und Tabaksteuer und erst ab der Ertragsgrenze von 130 Millionen Mark. Art. 38 und 70 BRV blieben prinzipiell in Geltung. Statt umfassender Neuordnung des Finanzverfassungsrechts - Bismarck fand dafür keine Mehrheiten - errichtete der Gesetzgeber auf der Grundlage des alten Rechts ein Regel-Ausnahme-System. Laband bezeichnete die Franckensteinsche Klausel wohl als „verfassungswidrig" 2 2 . Nur folgerte er daraus nicht ihre Nichtigkeit. Zwar sah er den Reichstag in der Pflicht und verlangte von ihm die Aufhebung der Vorschrift 23 , weil sie das Verhältnis des Reichs zu den Einzelstaaten auf dem Gebiete des Finanzwesens verwirre, die finanzielle Ordnung schädige und den Anforderungen der Billigkeit und materiellen Gerechtigkeit widerspreche 24. Doch konstatierte er keine Rechtspflicht, sondern eine politische; der Reichstag - nicht die Regierung - habe die Klausel in die Gesetzgebung eingebracht und so „möge der Reichstag auch wieder gut machen, was er verschuldet hat" 2 5 . Die Position Labands läßt sich erst im Licht ihrer dogmatischen Grundlage richtig einordnen. Laband vermochte der Verfassung gegenüber den Gesetzen 21 Im ZolltarifG hatten sich föderalistische und parlamentarische Interessen zusammengefunden. Das Reich sollte finanziell abhängig bleiben; Matrikularbeiträge mußten - im Gegensatz zu den dauernd wirkenden Zoll- und Steuergesetzen - im Etatgesetz bewilligt werden. Hier war nach der innenpolitischen Wende 1878/79 die Schlüsselstellung der Zentrumspartei ausschlaggebend. Auf sie war Bismarck zur Durchsetzung der Schutzzollpolitik angewiesen. Vgl. Laband, DJZ 1902, S. 1 (3); Huber, Verfassungsgeschichte Bd. 3, S. 951. 2 2 Staatsrecht IV (5. Aufl.), S. 380; DJZ 1902, S. 1, dort auch: „...daß die Franckensteinsche Klausel und die ihr nachgebildeten Bestimmungen der Reichsgesetze über die Besteuerung des Branntweins und Tabaks und über die Stempelabgaben die Grundsätze der Reichsverfassung durchbrechen und verletzen". 23 DJZ 1902, S. 1 (4). 2 4 DJZ 1902, S. 1. 25 DJZ 1902, S. 1 (4).
44
1. Kap.: Die Verfassungsdurchbrechung in geschichtlicher Perspektive
keinen höheren Rang zuzugestehen. „Die in der Verfassung enthaltenen Rechtssätze können zwar nur unter erschwerten Bedingungen abgeändert werden, aber eine höhere Autorität als anderen Gesetzen kommt ihnen nicht zu." 2 6 Die Kollision zwischen Zolltarifgesetz und Reichsverfassung wird nicht nach dem Satz lex superior derogat legi inferiori aufgelöst, vielmehr der Grundsatz lex posterior derogat legi priori für anwendbar erklärt. 27 Selbstverständlich könne das spätere Gesetz, welches, „wie man zu sagen pflegt, »materiell verfassungswidrig 4 ist", nur die Sanktion erhalten, wenn sich im Bundesrat nicht 14 Stimmen gegen dieselbe erklärten. 28 Laband wandte sich polemisch gegen v. Rönne, der verlangte, daß dem Erlaß eines mit der Reichsverfassung unvereinbaren Gesetzes die Änderung der Verfassung vorangehen müsse 29 . Das war kein Streit um Gesetzgebungstechnik. „Die Verfassung des Reiches ist das feierlich verbriefte Staatsgrundgesetz desselben; sie ist mehr als ein gewöhnliches Gesetz, und die Fundamentaleigenschaft des Staatsgrundgesetzes ist die, daß es zur Norm für die Spezialgesetzgebung dienen soll und muß. Die letztere darf daher zu keiner Zeit einen anderen Boden betreten, als den der Verfassung." 30 Wer - wie v. Rönne, der als Hauptvertreter einer Minderheit gelten kann 31 - die Verfassung als Gesetz höheren Ranges ansah, mußte einer Lehre widersprechen, die den Unterschied zwischen Verfassungsgesetz und einfachem Gesetz auf das Merkmal erschwerter Abänderbarkeit reduzierte und im übrigen die Kollisionsregeln im Verhältnis gleichrangiger Gesetze gelten ließ. Kein Raum für den lex posteriorSatz bei Rangungleichheit: „Spezialgesetze müssen stets mit der Verfassung im Einklänge stehen" 32 . Umgekehrt, nur wer der Verfassung höhere Autorität bestritt, konnte - so Laband ausdrücklich gegen v. Rönne - formulieren: „Es ist daher nicht wohl zu begreifen, wie man sich auf den Art. 78 Abs. 1 berufen kann, um darzutun, daß ,der Weg der Gesetzgebung4 nicht genügend sei, sondern, daß er gleich zweimal zurückgelegt werden müsse, das erste Mal, um der Verfassungsurkunde den erforderlichen Wortlaut zu geben, das zweite Mal, um die eigentlich beabsichtigten gesetzlichen Anordnungen zu treffen." 33
2 6 2 7 2 8 2 9 3 0 31 3 2 33
Laband, Staatsrecht II (5. Aufl.), S. 39. Laband, ebenda S. 40. Laband, ebenda S. 38 f. v. Rönne, Staatsrecht II 1, S. 32. v. Rönne, ebenda S. 30 (Hervorhebungen dort). Nachw. bei v. Rönne, ebenda S. 31 ff. v. Rönne, ebenda S. 33. Laband, Staatsrecht II, S. 40.
2. Abschn.: Von der clausula Franckenstein zum Ermächtigungsgesetz
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4. Vorrang der Verfassung? Die herrschende Staatsrechtslehre betrachtete die Ausnahme im Verfassungsrecht, das „Spezialgesetz", nur als Formproblem. Das Verdikt „materiell verfassungswidrig" fiel allein politisch ins Gewicht 34 , wenn die formellen Anforderungen von Art. 78 BRV erfüllt waren. Die materielle Frage nach Verfassungsregel und Ausnahmegesetz stellte sich nicht. Denn die Verfassung und das Gesetz waren ihrer Rechtsqualität nach gleichgeordnet. „Die Verfassung ist keine mystische Gewalt, welche über dem Staat schwebt, sondern gleich jedem anderen Gesetz ein Willensakt des Staates und mithin nach dem Willen des Staates veränderlich." 35 Für die Praxis und die noch zuletzt von Anschütz festgestellte „herrschende Meinung" 3 6 war ein Gesetz wie das ZolltarifG lex posterior mit nicht geringerer Dignität - „ein Gesetz wie ein anderes" 37 . Infolge der Gleichordnung bestand auch kein Anlaß, abweichende Bestimmungen in die Urkunde der Reichsverfassung aufzunehmen und so zumindest den Vorrang des Verfassungstextes zu gewährleisten. 38 Mit jedem anderen Gesetz teilte die Verfassung das Schicksal, in der Zeit allmählich „durchlöchert" 39 werden zu können. Die Gegenansicht v. Rönnes pochte auf die Einhaltung der Formen, die Textänderung eingeschlossen, und glaubte damit auch die „Fundamentaleigenschaft des Staatsgrundgesetzes" erhalten, „daß es zur Norm für die Spezialgesetzgebung dienen soll und muß". Der Vorrang der Verfassung war in seinen Augen gesichert, wenn das gewünschte Gesetz im Verfassungstext eine Grundlage findet. „Tritt aber ein Bedürfnis für die Gesetzgebung ein, welchem
3 4
Die Reichstagsdebatte (s. o. 1 b) und die Stellungnahme Labands in DJZ 1902, S. 1 (s. o. 3) bestätigen die Analyse von Wahl, Der Staat 1981, S. 485 (495 ff.), daß die normative Kraft der Reichsverfassung gegenüber der Legislative in ihrer programmatisch-fordernden Einwirkung, weniger in ihrem rechtlichen Gehalt zu suchen war. 35
Laband, ebenda S. 39. Meyer/Anschütz, Staatsrecht (7. Aufl.), S. 662 Fn. 13. 3 7 Meyer/Anschütz, ebenda S. 743 f. 3 8 Wahl, Der Staat 1981, S. 485 (493), erkennt auch umgekehrt einen Zusammenhang: „Die Anerkennung der stillschweigenden Verfassungsdurchbrechung ... ließ die Vorstellung des materiellen Vorrangs der Verfassung gar nicht erst entstehen. ... Die Verfassungsdurchbrechung hatte Vorrang vor dem Prinzip des Vorrangs der Verfassung, die Identität der geschriebenen Verfassung war nicht gesichert." 3 9 v. Rönne, Staatsrecht II 1, S. 31 f. mit zutreffender Beschreibung der Gefahren. Laband verkannte die Gefahr nicht, war für ihn freilich bedenklich nur „in politischer Hinsicht" (Staatsrecht II, S. 42 Fn. 2). 3 6
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1. Kap.: Die Verfassungsdurchbrechung in geschichtlicher Perspektive
die in der Verfassung gestellten Schranken ein Hindernis bereiten, so muß vorher die Verfassungsänderung herbeigeführt werden." 40 Diese Lehre hatte ihre Bewährungsprobe noch vor sich, denn die „Entdekkung" des Begriffs „Verfassungsdurchbrechung", seine dogmatische Verwendung als Gegenbegriff zur Verfassungsänderung und die Entwicklung materieller Grenzen der Verfassungsgesetzgebung blieben der Weimarer Rechtsentwicklung vorbehalten.
II. Verfassungsdurchbrechungen in der Weimarer Republik Die Weimarer Zeit bietet reiches Anschauungsmaterial für die Betrachtung der Verfassungsdurchbrechung und der mit dem Begriff verbundenen Rechtsfragen. Sie hat den terminus technicus zur Kennzeichnung der materiellen Problemdimension hervorgebracht 41. Mit der systematischen Entfaltung dieses eigentümlichen Typus der verfassungsändernden Gesetzgebung beginnt eine verfassungsdogmatische Diskussion, die die Konkurrenz unterschiedlicher Grundanschauungen über die Normativität der Weimarer Reichsverfassung widerspiegelt. Der Begriff begegnet in widerstreitenden Verfassungslehren mit changierendem Gehalt. Es wird deutlich werden, daß die heute gängige, ausdrücklich an die Weimarer Auseinandersetzung anknüpfende Begriffsbestimmung (Verfassungsdurchbrechung als Verfassungsänderung ohne Textänderung) dem seinerzeit erreichten Diskussionsstand nicht entspricht. Die folgende Darstellung muß sich auf exemplarische Konstellationen und repräsentative Lehrmeinungen beschränken. Das Reichstagsbefriedungsgesetz in seinem Verhältnis zu Art. 123 WRV wird (sogleich unter A) als Modellfall erörtert. Die noch in der Nationalversammlung geführte parlamentarische Debatte über das buchstäblich auf den Bannkreis beschränkte Sonderrecht beleuchtet schlaglichtartig das Spannungsverhältnis zwischen Regel und Ausnahme. In einem bemerkenswerten Kontrast zur (räumlichen) Überschaubarkeit der gesetzlichen Sonderregelung steht die Vielschichtigkeit der wissenschaftlichen Kontroverse; sie dauert an bis in die 30er Jahre.
4 0 41
v. Rönne, Staatsrecht II 1, S. 33 (Hervorhebung dort). Vgl. o. 1.Abschn. 12 b.
2. Abschn.: Von der clausula Franckenstein zum Ermächtigungsgesetz
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A. Das Reichstagsbefriedungsgesetz 1. Die Kollision mit Art 123 WRV a) § 1 des Gesetzes über die Befriedung der Gebäude des Reichstages und der Landtage vom 8. Mai 1920 42 sah vor, daß innerhalb eines von der Regierung (§2) zu bestimmenden befriedeten Bannkreises um die Gebäude Versammlungen unter freiem Himmel und Umzüge nicht stattfinden dürfen. „Ausnahmen" davon wiederum mußten förmlich von Regierung und Parlamentspräsident „zugelassen" werden (§ 1 Abs. 3). 4 3 Die Regelung kollidierte mit Art. 123 WRV, der in Abs. 1 die Versammlungsfreiheit statuierte. Die Einschränkungen des Abs. 2 waren nicht einschlägig. Dem BannkreisG war es nicht um Meldepflichten oder eine Verbotsmöglichkeit zur Gefahrenabwehr zu tun; Versammlungen im Bannkreis sollten vielmehr (vom Dispensationsrecht nach Ermessen gemäß § 1 Abs. 3 abgesehen) schlechthin verboten sein. b) Der USPD-Abgeordnete Koenen hatte - wenn auch in scharfer Polemik bereits im Gesetzgebungsverfahren in der Nationalversammlung (zu deren Zuständigkeit s. u. 2) das problematische Verhältnis zwischen Reichstagsbefriedunggesetz und Art. 123 WRV ins Bewußtsein gehoben. Das fiel Koenen um so leichter, als die Nationalversammlung ihren eigentlichen Auftrag Deutschland neu zu verfassen - gerade erst vollendet hatte, sofort aber die selbst auferlegten Fesseln wieder lockern zu müssen glaubte: „ Werte Anwesende! Das Gesetz, das uns hier vorliegt, ist eine Einschränkung der demokratischen Freiheiten, die die Verfassung uns angeblich im vorigen Jahre gebracht hat. Wir sind gegen dieses Gesetz. ... Wir sind überzeugt, daß eine solche Einschränkung der Volksbetätigung und der Versammlungsfreiheit, wie man sie hier vornehmen will, in späteren Zeiten, in einer sozialistischen Gesellschaft nicht nötig sein würde. (Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) ... Das Gesetz ist nach einer solchen Arbeiterdemonstration entstanden, und es ist gegen etwaige künftige Arbeiterdemonstrationen gerichtet. (Zustimmung bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) ... Die bürgerliche Demokratie will unter sich sein. ... ein ausdrückli-
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RGBl. S. 909. Das ist der klassische Fall einer (ausdrücklichen, unkonkretisierten) Dispensationsermächtigung: Mußgnug, Der Dispens von gesetzlichen Vorschriften, S. 106 ff., 121 ff. - in einem Gesetz, das seinerseits Sonderrecht gegenüber Art. 123 WRV enthält. 43
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1. Kap.: Die Verfassungsdurchbrechung in geschichtlicher Perspektive
ches Verbot, daß der Reichstag und seine Umgebung noch besonders geheiligt werden sollten, hat man selbst im Preußen-Deutschland nicht gekannt. (Sehr gut! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) ... Sie machen hier ein Gesetz, dessen einzelne Bestimmungen Sie in die Hände einzelner Persönlichkeiten geben wollen. Sie machen der Willkür ein Kompliment. ... Das Gesetz ist eine Verfassungsänderung. Das scheint man bemerkt zu haben; denn wir haben eine besondere Einladung bekommen, hier am Freitag über eine Verfassungsänderung abzustimmen. ... Uns ist die Verfassung schon reichlich undemokratisch, aber wir wollen sie in ihrer Jugendblüte nicht gleich verkümmern lassen; das überlassen wir denen, die die Geburtshelfer dieser Verfassung waren. ... Wenn diese ihre Grundsätze in dieser Verfassung niedergelegt worden sind, so sollten sie sie nicht das erste Mal, wo diese Grundsätze angewendet werden und sie ihnen einmal nicht günstig erscheinen, über den Haufen werfen und klägliche Gelegenheitsgesetze schaffen. ... Der würdigste Name für dieses Gesetz ist: lex Lüttwitz. ...Es ist sein Geist, der im Gesetze lebt; es ist in seinem Sinne konstruiert und aus den Tagen geerbt, in denen er neben Noske, Heine und dem Polizeipräsidenten Ernst noch hier in Berlin kommandierte. Aus dieser Zeit haben Sie das Gesetz übernommen und wollen, obgleich es eine traurige Erbschaft der Lüttwitze ist, doch diese Erbschaft antreten und das Gesetz sogar noch gegen Ihre eigene demokratische Verfassung durchdrücken. (Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) Eine klägliche und verächtliche Gesetzesmacherei! (Lebhafte Zustimmung bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) Das Gesetz ist ein ausgemachtes Ausnahmegesetz gegen die proletarischen Schichten der Bevölkerung! Es ist ein ausgemachtes Sondergesetz gegen die Arbeitermassen, die allein für solche wirkungsvollen Demonstrationen in Betracht kommen. Deswegen lehnen wir das Gesetz als reaktionär und konterrevolutionär von Anfang an ab! (Lebhafte Zustimmung bei den Unabhängigen Sozialdemokraten und Zuruf Der Entwurf ist eine parlamentarische Feigheit//