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German Pages 186 [188] Year 1993
Buchheim • Beiträge zur Ontologie der Politik
Hans Buchheim
Beiträge zur Ontologie der Politik
R. Oldenbourg Verlag München 1993
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Buchheim, Hans: Beiträge zur Ontologie der Politik / Hans Buchheim. München : Oldenbourg, 1993 I S B N 3-486-56008-5 © 1993 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Volendorf Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe G m b H , München I S B N 3-486-56008-5
Inhalt
Einführung I. Person und Politik II. Wie der Staat existiert
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III. Von der Föderation zur Republik souveräner Staaten
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IV. Die Ethik der Macht
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V. Aurelius Augustinus' Friedensbegriff als Konzept einer modernen Theorie des Friedens VI. Rationales politisches Handeln bei Thukydides VII. Anmerkungen zu Machiavellis „II Principe" VIII. Politische Kriterien der Schuld an der NS-Herrschaft und deren Verbrechen
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IX. Normentheoretische Bemerkungen zu den Bestrebungen, den §216 StGB zu ändern X. Sozialstaat und Freiheit
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Nachweis der ersten Veröffentlichungen
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Register
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Einführung
Politik ist ein Sonderfall menschlicher Sozialität. Mithin ist eine Ontologie der Politik Sozialontologie, angewandt auf die Eigenart dieses Sonderfalls sowie auf die für ihn spezifischen Gegebenheiten, wie z.B. Macht und Frieden. Sozialontologie wird hier aufgefaßt als Beschäftigung mit der Seinsqualität personaler Interaktion und den aus ihr hervorgehenden Gegebenheiten wie etwa Vereinbarungen, Regeln und Institutionen aller Art. Nur wenige Autoren bezeichnen ihre eigenen Studien oder die anderer als „Sozialontologie". Zu ihnen gehört z.B. Michael Theunissen, er nennt sein Werk „Der Andere" im Untertitel „Studien zur Sozialontologie der Gegenwart". Er schreibt, er suche darin „einen gangbaren Weg zur Konstitution des Gesellschaftlichen", und stellt zutreffend fest, daß man einen Akt schon dann als „sozial" bezeichnen kann, wenn „er sich in ursprünglicher Weise an den Anderen wendet". René König1 bemerkt, das eigentliche Interesse Dürkheims an der Ethnologie habe einer „Fundamentalontologie des Sozialen" gegolten. Georg Lukàcs hat eine Studie über Hegel unter dem Titel „Ontologie des gesellschaftlichen Seins" veröffentlicht, weil dessen Philosophie „wesentlich auf die Erkenntnis von Gesellschaft und Geschichte orientiert" sei; auf diese „Seinssphäre" seien Hegels Kategorien angelegt. Menschliche Sozialität, personale Interaktion also und die aus ihr hervorgehenden Gegebenheiten sind ausnahmslos teils gewolltes Produkt, teils unwillkürlich sich einstellender Effekt der Aktualisierung von Intentionen der jeweils Beteiligten. Deshalb wirkt sich noch die ganz vage Veränderung der Intention eines einzigen dieser Beteiligten, wenn er sie in seinen Beziehungen zu den anderen aktualisiert, verändernd auf die gesamte Interaktion aus. Doch ist dies nur die eine Seite des „gesellschaftlichen Seins". Die andere besteht darin, daß jede Intention eines Beteiligten, indem er sie aktualisiert, seiner Verfügung mehr oder weniger entgleitet, dabei jedoch nur teilweise und bedingt den anderen verfügbar wird. So gewinnt das, was alle sprechen und tun, zu einem großen Teil ihnen gegenüber objektives Vorhandensein. Alle Vereinbarungen, Regeln und Institutionen sind demnach einerseits den Beteiligten so vorgegeben, daß wer beteiligt bleiben will, sie beachten muß; andererseits sind sie dem Einfluß jedes einzelnen wie auch aller Beteiligten gemeinsam ausgesetzt. Die Bestimmungen eines Vertrags oder Gesetzes, die Kompetenz einer Institution können innerhalb eines gewissen Spielraums verschieden ausgelegt 1 Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 26/1984, S. 18.
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Einführung
werden, ja, ihr Sinn kann sich objektiv verändern, wenn diesbezüglich alle Beteiligten zu einer neuen Auffassung gelangen. Das muß nicht einmal ausdrücklich geschehen und ihnen sogleich bewußt werden. „Alle soziale Realität ist also als Interferenz aller aktualisierten Intentionen im Grunde fluent. Die einzelne Gegebenheit entsteht im Wege einer partiellen und relativen Stabilisierung dieses fluenten Grundzustandes ... Mithin ist die Konsistenz der einzelnen sozialen Gegebenheit als relativ stabilisierte Labilität zu qualifizieren. Das bedeutet nicht, daß sie sich teils aus Momenten, die ganz stabil, und teils aus solchen, die ganz labil sind, zusammensetzte. Sie ist vielmehr im Grunde durch und durch labil, ebenso aber auch durch und durch relativ stabil ... Soweit man den Einfluß des labilen Grundzustandes der sozialen Realität auf die tägliche Praxis ignoriert, gewinnt die Interaktion zwar an Eindeutigkeit der Orientierung, doch bleibt sie durch die Auswirkungen der Labilität irritiert; infolgedessen weicht der Effekt der einzelnen aktualisierten Intentionen mehr oder weniger von dem, was man erwartet hatte, und damit vom gemeinten Sinn ab. Will man das kompensieren, so muß man die Momente der Labilität nach Möglichkeit im Kalkül seiner Dispositionen berücksichtigen." 2 Alle sozialen Gegebenheiten sind, da sie auf Intentionen zurückgehen, Objektivierungen gemeinten Sinnes. Deshalb ist ihnen ein normatives Moment eigen: Sie selbst sind es, die bestimmen, wie man mit ihnen umgehen muß, wenn dieser Umgang sinnvoll sein und zu brauchbaren Ergebnissen führen soll. Das bedeutet dann auch, daß alle Normen sozialer Interaktion aus dieser hervorgehen, zumindest aber durch sie vermittelt sind und insoweit an deren fluenter Natur teilhaben. Es ist eine der elementaren Einsichten der Sozialontologie, daß die Normen, an denen sich unser Zusammenleben orientiert, sich gerade nicht von ewig gleichbleibendem wesenhaftem Sein ableiten und entsprechend unverrückbar gültig wären. Daß Politik ein Moment der personalen Existenz des Menschen ist und warum und auf welche Weise sie primär nicht sachlich, sondern personal orientiert ist, wird im ersten der hier vorgelegten Beiträge erläutert. Mancher Leser mag spontan meinen, hier [wie auch in den anderen Beiträgen] werde der Politik zu viel Ehre erwiesen, werde eine idealistische, wirklichkeitsfremde Auffassung von Politik vertreten. Die Wirklichkeit zeige sich in den Niederungen des politischen Alltags, nämlich Egoismus, Machtmißbrauch, Habgier, Heuchelei, Korruption, Unfähigkeit usw. usw. - D a ß es dies alles reichlich gibt, wird keineswegs geleugnet; wohl aber wird bestritten, daß damit der politische Alltag erschöpfend erfaßt und das, was Politik ist, zutreffend umschrieben sei. Politik ist im Kern rational kalkulierterer Umgang zwischen Menschen. Der Mensch aber hat, da er Person 2
Hans Buchheim: Theorie der Politik. - München 1981, S. 26 ff.
Einführung
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ist, an sich ethische Qualität. Dies muß das Kalkül, wenn es dauerhaft erfolgreich sein will, in Rechnung stellen, und insofern eignet der Politik notwendigerweise ein ethisches Moment. Das gilt auch dann, wenn die Motive unseres Tuns fragwürdig sind und wir auf das Person-Sein des anderen nur gezwungenermaßen Rücksicht nehmen. Mithin ist auch schlechte, von vielerlei Unzulänglichkeit und Mißbrauch entstellte Politik noch Politik, und das heißt: Interaktion, deren Beteiligte einander als Personen akzeptieren. Selbst unmoralisch motivierte Berücksichtigung des Person-Seins anderer ist etwas grundlegend anderes, als wenn man deren personale Natur mit roher Gewalt verletzt, sie zum Objekt sozial-darwinistischer Manipulation herabwürdigt oder sie - z. B. durch Terror oder öffentliche Bloßstellung - gezielt kränkt. Wenn solches geschieht, findet Politik - einschließlich mieser Politik - nicht mehr statt. So gilt für Politik das gleiche, was Hegel in seiner „Rechtsphilosophie" [§ 258, Zusatz] über den Staat schreibt: „Jeder Staat, man mag ihn auch nach den Grundsätzen, die man hat, für schlecht erklären, man mag diese oder jene Mangelhaftigkeit daran erkennen, hat immer, wenn er namentlich zu den ausgebildeten unserer Zeit gehört, die wesentlichen Momente seiner Existenz in sich ... übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren. Aber der häßlichste Mensch, der Verbrecher, ein Kranker und ein Krüppel ist immer noch ein lebender Mensch; das Affirmative, das Leben, besteht trotz des Mangels, und um dieses Affirmative ist es hier zu tun." - Das, wie gesagt, gilt auch für die Politik. Mit ihr sich affirmativ befassen bedeutet nicht, nur das Positive sehen und das Negative nicht zur Kenntnis nehmen wollen; sondern es heißt danach fragen, wie sie elementar gegeben ist vor den Möglichkeiten, sie entweder positiv oder negativ zu treiben. Der Frage, wie der Staat existiert, ist der zweite Beitrag gewidmet. Der eigentliche Sinn des Staates ist die Stiftung und Gewährleistung des innergesellschaftlichen Friedens, verstanden als ein Zustand, in dem alle Mitglieder einer Gesellschaft im öffentlichen Leben auf eine ihrer personalen Natur angemessenen Weise miteinander umgehen. Diesen Zustand zu schaffen, ist das politische Problem schlechthin, und der Staat ist die Lösung dieses Problems. Als solche ist er im Kern ein politischer [und kein rechtlicher] Tatbestand, nämlich derjenige Aggregatzustand der gesamtgesellschaftlichen Interaktion, in dem diese an einem umfassenden, für alle verbindlichen Konzept des Zusammenlebens orientiert ist. Der nächste Beitrag „Von der Föderation zur Republik souveräner Staaten" befaßt sich mit der aktuellen Tatsache, daß unser Staat als Bundesstaat ein solches Ausmaß an Unitarisierung erreicht hat, d a ß seine Ordnung kaum noch das Prädikat „bündisch" verdient. Es wird die These vorgetragen, daß die Bundesrepublik nach ihrer „bundesstaatlichen" Seite nicht mehr föderal, und das heißt: genossenschaftlich geordnet, sondern
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Einführung
daß sie ein Staatenstaat geworden ist, ein Staat, eine Republik, deren „Bürger" die Länder sind. Wichtig ist dabei, sozialontologisch das Gemeinsame wie auch die Unterschiede der Interaktion von Staaten [die ja nicht-personale Subjekte sind] und von natürlichen Personen zu bestimmen. Das Entstehen von Macht und der Umgang mit ihr sind nicht auf Politik beschränkt, doch spielen sie in der Politik eine besonders wichtige und auffallende Rolle. Sozialontologisch erweist Macht sich als dasjenige Potential eines Menschen, etwas sozial zu bewirken, das ihm aus der Interaktion mit anderen Personen zuwächst. Daraus ergeben sich bestimmte Regeln für den Umgang mit Macht. Wichtig ist vor allem, daß das Machtkalkül nur dann rational und entsprechend dauerhaft erfolgreich ist, wenn es das Person-Sein derer mit in Rechnung stellt, denen man seine Macht verdankt bzw. gegenüber denen man Macht ausübt. Da aber personale Existenz an sich ethische Qualität hat, sind in den rationalen Machtgebrauch mit Notwendigkeit ethische Gesichtspunkte einbezogen. Mithin muß das ethisch Gebotene nicht lediglich „von außen her" ans Machtkalkül herangetragen werden, sondern dieses enthält, soll es wirklich rational sein, durch sich selbst eine ethische Komponente. Es gibt also eine Ethik der Macht. Die wenigen Abschnitte, die Augustinus in seinem Werk „Vom Gottesstaat" dem irdischen Frieden widmet, regen dazu an, den Frieden nicht nur als einen erfreulichen Zustand und nicht bloß als Gebot und Aufgabe unseres Zusammenlebens zu verstehen, sondern zu begreifen, daß er Moment personaler Interaktion überhaupt ist, daß es also personale Interaktion ohne Frieden gar nicht gibt. Alles, was existiere, existiere zunächst in Frieden, schreibt Augustinus; daher sei Frieden die „Struktur" jeglichen Lebewesens wie auch jeglicher menschlicher Gemeinschaft. Dies wird hier aufgegriffen und auf seine sozialontologischen Konsequenzen hin untersucht. Sollen personale Interaktion überhaupt und politische Interaktion im besonderen gelingen, so muß das Handeln der Beteiligten deren Eigenart gerecht werden; es bedarf dazu einer speziellen „ G a n g a r t " der Ratio. Die dem sozialontologisch ermittelten Befund gemäße rationale Praxis ist Gegenstand der nächsten Beiträge. Als Klassiker rationaler Politik findet Thukydides in unserer Zeit nicht die Beachtung, die er verdient. In seiner auf die Beobachtung des politischen Handelns konzentrierten Geschichte des Peloponnesischen Krieges demonstriert er an vielen Beispielen, welche Erkenntnisvermögen den Menschen befähigen, spezifisch politische Tatbestände zu erfassen. Diese sind z.T. von Menschen gewollt herbeigeführte Situationen, z.T. ist es der von niemandem absichtlich herbeigeführte und deshalb auch nur bedingt
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vorhersehbare und beeinflußbare objektive „Lauf der Dinge". Vor allem in den berühmten, in das Werk eingestreuten Reden zeigt Thukydides, wie die politisch Handelnden im Hinblick auf solche Art von sozialer Wirklichkeit Wege suchen, die eigenen Absichten zu verwirklichen und gesteckte Ziele zu erreichen. D a ß Machiavelli kein Verächter der Moral war, beweisen seine „Discorsi" über die erste Dekade des Titus Livius. Wenn trotzdem in seiner Schrift über den Fürsten der Eindruck entsteht, das Gegenteil sei der Fall, so hat das seinen im Text nachweisbaren Grund. Dort nämlich erörtert Machiavelli das von der Eigenart der politischen Gegebenheiten geforderte rationale Kalkül so, als sei es bar jeglicher ethischen Momente, als gäbe es also keine „Ethik der Macht". Wenn er dann das so berechnete Handeln mit den von ihm abstrakt belassenen Geboten der Moral konfrontiert, muß der Eindruck entstehen, daß erfolgreiches und moralisches Handeln in scharfem Gegensatz zueinander stehen. Die gleichen von ihm vorgeführten Fälle ergäben jedoch ein ganz anderes Bild, wenn er gezeigt hätte, daß einerseits alles Kalkül personaler Beziehung an sich schon ethische Gesichtspunkte in Rechnung stellen muß, wenn es wirklich rational sein soll, und daß andererseits die Gebote der Moral situationsgerecht angewandt werden müssen, wenn sie ethische Wirkung entfalten sollen. In bezug auf unsere nationalsozialistische Vergangenheit setzt eine ethisch zureichende Erörterung der vielen Facetten der Schuldfrage voraus, daß man die relevanten politischen Kriterien in die Feststellung der Tatbestände mit einbezieht. So hängt z. B. der Anteil an Verantwortung, der jemandem zuzumessen ist, davon ab, welche Möglichkeiten der Einflußnahme er besaß oder sich gegebenenfalls schaffen konnte. Die Frage, ob von Kollektivschuld gesprochen werden kann, läßt sich nicht einfach damit abtun, daß angeblich nur der einzelne individuelle Mensch schuldig werden kann. Denn wenn Kollektive sich als handlungsfähige Subjekte konstituieren, wie das beim Staat als einen „moi commun" oder bei jeder juristischen Person der Fall ist, dann stehen sie auch in der Gefahr, schuldhafte Entscheidungen oder Maßnahmen zu treffen. Das gilt um so mehr, als es zur Eigenart der Politik als Verfahren gehört, daß in der Sache falsche Entscheidungen ethisch verwerfliche Folgen haben können. Befaßt man sich unter sozialontologischem Aspekt mit der Frage, ob ethisch vertretbare, vielleicht sogar gebotene Fälle von Euthanasie auch rechtlich geregelt und damit erlaubt werden könnten, so zeigt sich, daß dies nicht möglich ist. Denn da allen positiv gesetzlichen Normen eine Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gesetzt ist, kann man mit ihnen Grenzfälle nicht regeln, ohne daß neue Grenzfälle entstehen. Deshalb läuft jeder Versuch, innerhalb einer Grenzzone zwischen noch Erlaubtem und schon Verbotenem zu unterscheiden, nur darauf hinaus, daß der Bereich des Er-
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laubten erweitert und manches bisher eindeutig Verbotene zum Grenzfall wird. Der Staat kann Tötung nur unter allen Umständen verbieten; er kann keine Grenze zwischen verbotener und erlaubter Tötung ziehen. Der letzte Beitrag wurde in den vorliegenden Band mit aufgenommen, weil er der aktuellen Frage gewidmet ist, wie der Sozialstaat zu definieren sei. Das Sozialstaatsprinzip muß so begründet werden, daß es nach Art und Rang den drei anderen in Artikel 20 GG niedergelegten Grundsätzen des Rechtsstaates, des Bundesstaates und des demokratischen Staates ebenbürtig ist. Mit Ausnahme des stark gekürzten und in einigen Formulierungen geänderten Beitrags „Die Ethik der Macht" sind alle Texte völlig unverändert geblieben. Infolgedessen gibt es eine Reihe von Wiederholungen [vor allem zu den Begriffen „Macht" und „Souveränität"]. Sie wurden in Kauf genommen, damit jeder der Beiträge für sich allein gelesen werden kann.
I.
Person und Politik1
Politik ist eine Variante des Umgangs mit einem elementaren Tatbestand menschlichen Zusammenlebens. Fragen wir zunächst, um welchen Tatbestand es sich handelt: Wer im Rahmen einer Interaktion eine Absicht verfolgt, für den erweisen sich die Absichten, Interessen, Vorstellungen und Eigenheiten der anderen Beteiligten als Konditionen der Verwirklichung dieser seiner Absicht. Mit diesem Tatbestand muß der Betreffende, will er seinen Zweck erreichen, auf eine bestimmte Weise umgehen. Und zwar m u ß er die Absichten, Interessen, Vorstellungen und Eigenheiten der anderen in Rechnung stellen, muß ihnen Rechnung tragen. Er muß also die eigene Absicht gewissermaßen im Modus der Absichten etc. der anderen Beteiligten verfolgen. Man kann sich das an der charakteristischen Denkweise der Politiker veranschaulichen. Wenn man mit einem von ihnen über eine Sache spricht, die realisiert werden soll, z. B. über den Bau eines Krankenhauses, eine Studienreform, die Beschaffung neuer Arbeitsplätze, so kommt er alsbald auf Personen zu sprechen, die tatsächlich oder möglicherweise mit der Sache zu tun haben. Ihn beschäftigt, mit wessen Unterstützung zu rechnen ist und mit wessen Gegnerschaft; wie der Widerstand bestimmter Leute zu überwinden wäre; welches die Eigenheiten der Personen sind, mit denen man wird verhandeln müssen usw. Derartige Überlegungen muß man anstellen, weil jede Sache jemandes Sache ist, jede Sache die Interessen bestimmter Personen berührt. Wer eine Sache fördern will, muß die Leute fördern, die sich ihrer annehmen; wer eine Sache kritisiert oder verhindert, bereitet unvermeidlich denen Ärger, die damit zu tun haben. Jede Sache ist mit personalen Belangen so verwoben, daß diese die auf die Sache gerichtete Absicht konditionieren. Deshalb muß die Absicht im Modus jener Belange verfolgt werden. Hobbes bemerkt in seinem Leviathan (cap. 19) es gehöre zu den „true rules of Politiques" „to make government digestible". Über Adenauer schrieb 1953 eine amerikanische Zeitung, seine staatsmännische Kunst habe die notwendige Wiederbewaffnung Deutschlands genießbar gemacht. - Ich nenne diese Kunst, die eigene Absicht im Modus der Absichten und Vorstellungen anderer erfolgreich zu betreiben, „situatives" Denken und Handeln. Das ist für Politik besonders charakteristisch, erfüllt jedoch nicht schon den Begriff der Politik, da es in allen anderen Bereichen menschlichen Zusammenlebens ebenfalls vorkommt. 1 D i e hier nur knapp skizzierten theoretischen Grundlagen sind ausführlich entwikkelt in meinem Buch Theorie der Politik, München 1981.
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I. Person und Politik
Eine Variante dieser Weise, zu denken und zu handeln, wird erforderlich, wenn nicht bloß eine Person die konditionierenden Absichten, Interessen, Vorstellungen und Eigenheiten anderer für sich in Rechnung stellt, sondern wenn alle an einer Interaktion Beteiligten der allseitig-wechselseitigen Konditionierung ihrer individuellen Absichten Rechnung tragen müssen. Sie erfahren diese komplexe Konditionierung als gemeinsames Problem. Um es zu lösen, müssen sie eine Definition ihrer gemeinsamen Situation vornehmen. Das heißt: Sie unterwerfen den Komplex der vielfältigen Konditionierungen einer von jedem Beteiligten zu beachtenden Orientierung. Diese kann für ein und dieselbe Interaktion verschieden ausfallen. So können z. B. die gleichen Leute ihre Interaktion als kollegiales Verhältnis, als Kameradschaft, als Freundschaft, als Teamwork etc. definieren. Auf jeden Fall aber gilt der berühmte Satz aus W. I. Thomas' Werk The unadjusted girl: wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, dann sind sie in ihren Folgen wirklich. Jetzt können wir in einem weiteren Gedankenschritt bestimmen, was Politik und wieso sie eine Variante dieser Definition der Situation ist (welche sich ihrerseits als Variante des Umgangs mit einem elementaren Tatbestand menschlichen Zusammenlebens erwies). Politik ist zunächst die Definition der gemeinsamen Situation nicht mehr bloß einer bestimmten G r u p p e von Personen, sondern aller Mitglieder einer Gesellschaft zur Bewältigung der hochkomplexen allseitig-wechselseitigen Konditionierungen ihrer gesamtgesellschaftlichen Interaktion, mithin zur Stiftug und Gewährleistung des innergesellschaftlichen Friedens. Die Definition der gesamtgesellschaftlichen Situation erfolgt durch Einführung eines für alle Gesellschaftsmitglieder verbindlichen Konzepts der Orientierung des öffentlichen Lebens. Dieses Konzept, das zu einer mehr oder weniger detaillierten Verfassung ausgefaltet wird, ist zwar nicht das einzige Element des politischen Verbandes, wohl aber dasjenige, das ihn zum politischen Verband macht. Politik ist darüber hinaus die Definition der gemeinsamen Situation von zwei oder mehr politischen Verbänden (also Staaten) zur Herstellung und Pflege friedlicher Beziehungen. Das ist Außenpolitik oder internationale Politik. Weil diese zweite Variante von Politik zwischen politischen Verbänden, mithin zwischen nichtpersonalen Subjekten stattfindet, kann die korrekte Bestimmung des Begriffs „Politik" nicht auf Personen bezogen werden, sondern muß für Subjekte überhaupt gelten. Mit anderen Worten: zur Begriffsbestimmung von „Politik" muß man nicht - wie das meist geschieht - das Person-Sein in der Fülle aller seiner Momente und der dazugehörigen Werte bemühen, sondern es genügen die beiden Momente der Subjekt-Qualität und der Intentionalität. Ja, man darf gar nicht das Person-Sein in seinem vollen Umfang als Definiens verwenden, weil dann
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der Begriff der Politik nicht auf nicht-personale Subjekte, insbesondere also nicht auf Staaten und politische Parteien anwendbar wäre. Außenpolitik, internationale Politik und die dieser ähnelnde Politik zwischen politischen Parteien könnte es nicht geben. Im vollen Umfang ihrer Momente dagegen gehört die Person zur Wirklichkeit der Politik, wenn diese erstens zwischen personalen Subjekten stattfindet oder - zweitens - personale Gegebenheiten in Rechnung stellen muß. Weil damit teils das Person-Sein Voraussetzung der Politik ist, teils Politik sich auf die Eigenarten des Person-Seins einlassen muß, kehren diese als typische Erscheinungen praktizierter Politik wieder. Und insoweit lassen sich - umgekehrt - typische Erscheinungen der Politik als Auswirkungen des Person-Seins auf die Politik erklären. Wenn man sich mit solchen typischen Erscheinungen der Politik befaßt, muß man allerdings den Unterschied zwischen personalen und nicht-personalen Subjekten im Auge behalten. Man muß beachten, daß manche Erscheinungen auf Politik zwischen Subjekten überhaupt und damit auf Merkmale des Begriffs der Politik zurückgehen, während andere Erscheinungen aus dem Person-Sein als Voraussetzung oder Gegenstand der Politik folgen. - Zum Begriff der Politik gehört, daß jegliches Subjekt - das personale wie das nicht-personale - erstens souverän und zweitens intentional ist, also die Gegebenheiten, die es vorfindet, auf sich bezieht. Diese beiden Momente des Begriffs werden, wenn Politik speziell zwischen personalen Subjekten stattfindet, durch Spezifika des Person-Seins modifiziert. - Davon soll nun die Rede sein. Daß jedes Subjekt souverän ist, kann niemals bedeuten, daß es von all und jedem absolut unabhängig wäre und keinerlei Bedingungen unterläge. Denn das gibt es nicht. Wohl aber heißt „Souveränität", daß das bewußt über sich selbst verfügende Subjekt im Prinzip und letztlich absolut frei ist, wie es auf Bedingungen reagiert. Das Subjekt hat also die Möglichkeit der letzten Willkür. So heißt es bei Hegel über das personale Subjekt (RPh § 5, Zusatz). 2 „In diesen Elementen des Willens liegt, daß ich mich von allem losmachen, alle Zwecke aufgeben, von allem abstrahieren kann. Der Mensch allein kann alles fallen lassen, auch sein Leben." Entsprechendes gilt aber auch für das nicht-personale Subjekt, insbesondere also für den politischen Verband, den Staat, und es sind darin alle Staaten gleich. Während bei der inneren Souveränität des Staates das Machtpotential hinzukommen muß, welches ihm die Letztentscheidung in jedem Fall ermöglicht, genügt für seine äußere Souveränität die Subjekt-Qualität. Luxemburg ist daher genauso souverän wie die USA. 2 Die Authentizität dieses Zusatzes ist belegt durch die von Dieter Henrich herausgegebene Vorlesungsnachschrift (Ffm. 1983), S. 58 f.
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Während aber das nicht-personale Subjekt im Prinzip autark ist, zum Begriff des Staates also nicht die Interaktion mit seinesgleichen gehört, ist die Person auf Interaktion mit ihresgleichen angelegt und angewiesen. Sie lebt und bildet sich aus im Modus der Interaktion. Infolgedessen enthält die Existenz des personalen Subjekts eine Antinomie. Einerseits ist ihm im Kern seiner Existenz eine Souveränität eigen, durch die es alle Sozialität transzendiert, andererseits ist es ihm unmöglich in einem Zustand jenseits der Sozialität zu verharren. Vielmehr muß es jederzeit dazu zurückkehren, im Modus der Interaktion zu leben. Aus dieser Antinomie ergibt sich das Grundproblem der Konstituierung jedes politischen Verbandes. Denn einerseits erfordert die Stiftung und Gewährleistung des innergesellschaftlichen Friedens eine für alle Mitglieder der Gesellschaft unbedingt verbindliche gemeinsame Orientierung; andererseits aber behält jeder einzelne Beteiligte die subjektive Möglichkeit, sich an diese Orientierung nicht zu halten. Dieses Problem wird um so akuter, je mehr sich die Angehörigen eines politischen Verbandes der Qualität ihres Person-Seins bewußt werden. Dieses Bewußtsein hat in der Geschichte seine volle Ausbildung durch das Christentum erfahren. Zwar kannte auch die Antike bereits die Person-Qualität des Menschen und das Gewissen als moralische Instanz, aber dominierender Maßstab des rechten Verhaltens des einzelnen blieben doch Herkommen und Sitte, das Ethos der Gesellschaft. Ethisch war sein Tun und Lassen, wenn es dem Ethos der Gesellschaft entsprach, wenn es „fraglos in der Eindeutigkeit von Kult und Sitte aufgehoben" war (Gadamer). Dagegen muß sich nach christlichem Glauben jeder einzelne Mensch im Jüngsten Gericht als Person vor dem persönlichen Gott für sein Verhalten und seine Taten verantworten. Damit ist der einzelne prinzipiell vom Ethos der Gesellschaft freigestellt. Jetzt kann die gebotene Entscheidung darin bestehen, diesem Ethos gerade nicht zu folgen, gegen dieses Ethos zu handeln. Damit findet die Tatsache, daß die Person im Kern ihrer Existenz alle Sozialität transzendiert, ihre volle Ausprägung. „Den Menschen in seinem Recht als unendliche Person zu begreifen", schreibt Hegel (Enzyk. § 482), „hat uns erst das Christentum gelehrt... Piaton und Aristoteles haben es nicht gewußt." Der Mensch in diesem seinem Recht als unendliche Person läßt das Grundproblem der Konstituierung jeglichen politischen Verbandes in voller Schärfe hervortreten und stellt damit die Rätselfrage der europäischen Staatstheorie: Wie lassen sich miteinander vereinbaren die Souveränität der Person, ihre Selbstbestimmung und ihr entsprechender Freiheitsanspruch einerseits und eine für alle Bürger verbindliche Sinnorientierung andererseits, die Voraussetzung des innergesellschaftlichen Friedens ist? Der neuzeitliche Verfassungsstaat hat das Rätsel dadurch gelöst, daß er nur eine Sinnorientierung, nur den einen Wert für absolut verbindlich er-
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klärt, der seinerseits das Recht und den Freiheitsanspruch der unendlichen Person überhaupt erst begründet: das Prinzip „Person". Niemand kann unter Berufung auf seinen Freiheitsanspruch als Person die Verpflichtung auf das Prinzip „Person" verweigern, denn der Freiheitsanspruch entstammt dem Person-Sein und ist allein dadurch legitimiert. Auch kann sich niemand weigern, die Konsequenzen und Werte zu beachten, die sich denknotwendig und unmittelbar aus dem Prinzip „Person" herleiten. Wenden wir uns nun der zweiten Eigenart jedes Subjekts - des personalen wie des nicht-personalen - zu, daß es die Gegebenheiten, die es vorfindet, auf sich bezieht. Soweit es sich um ein personales Subjekt handelt, nenne ich den Sinn, den diese Bezugnahme entstehen läßt, „persönlichen Sinn", im Gegensatz zum „inhaltlichen" Sinn, den jede Gegebenheit an sich selbst hat. Persönlicher Sinn liegt z.B. vor, wenn eine Person denkt: „das ist mein", „das ist mir vertraut", „das will ich haben", „das stört mich" usw. Solche Bezugnahmen haben einen Sinn für die Person, selbst wenn diese die Gegebenheit, die sie auf sich bezieht, nicht benennen kann, womöglich gar nicht weiß, was das ist. Der persönliche Sinn betrifft also den Belang, den eine Gegebenheit für eine Person hat, während der inhaltliche Sinn an der Gegebenheit selbst hängt. Persönlicher Sinn ist nicht eine besondere Sorte von inhaltlichem Sinn, sondern von fundamental anderer Art. Er kann deshalb weder durch inhaltlichen Sinn wiedergegeben, noch in inhaltlichen Sinn transformiert werden. Indem man dies doch versucht, verliert er schon seine persönliche Qualität und das Ergebnis ist ein inhaltliches Surrogat persönlichen Sinnes. Persönlicher Sinn entsteht auch dann, wenn jemand mehrere Gegebenheiten, die als solche sachlich-inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, dadurch verknüpft, daß er sie gleichzeitig auf sich, bzw. sich auf sie bezieht. Wer z. B. eine Verhandlung führt, der orientiert sich nicht nur an deren Gegenstand und an seinen Gesprächspartnern, sondern er bezieht den Vorgang auch auf seine persönlichen Dispositionen und verknüpft ihn auf diese Weise mit anderen Gegebenheiten, die zwar weder mit der Verhandlung noch miteinander etwas zu tun haben, für ihn selbst aber gerade im gleichen Augenblick aktuell sind. So denkt er etwa daran, wie ein erfolgreicher Abschluß des Gesprächs seinem Ansehen und seiner Karriere dienlich wäre; oder er nimmt darauf Rücksicht, daß er auf einem anderen Feld bald ebenfalls mit seinem jetzigen Verhandlungspartner zu tun haben wird - und daß er dann vielleicht auf ihn als Verbündeten zählen kann, wenn er ihm heute entgegenkommt. Vielleicht steht er auch unter dem Einfluß eines Pressekommentars, den er morgens gelesen hat, oder er führt das Gespräch so, daß er auf alle Fälle um 17 Uhr noch eine private
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Besorgung machen kann. - Diese verschiedenen Gegebenheiten kommen dadurch, daß sie in ein und dieselbe persönliche Disposition einer Person einbezogen werden, untereinander in eine aktuelle, sinnvolle Beziehung. Es handelt sich aber um keinen inhaltlichen, sondern um einen durch die Existenz und Identität der Person gestifteten, also ausschließlich persönlichen Sinn. Die Person ordnet alle Inhalte, die sie weiß, und alle Erfahrungen, die sie macht, letztlich nicht nach sachlichen, sondern nach persönlichen Kriterien: nach ihrer Biographie, ihren Absichten, ihren Sorgen, ihrem körperlichen Befinden etc. Mithin ist die im Bewußtsein der Person präsente Gesamtordnung der Gegebenheiten letztlich nicht sachlich, sondern persönlich organisiert. Man muß diese persönliche Organisation der Gegebenheiten mit in Rechnung stellen, um auf eine Person in bezug auf eine Sache mit Erfolg Einfluß zu nehmen. Das hatten wir an der für die Politiker charakteristischen Denkweise bereits gezeigt. Wenn die Person nicht eine Gegebenheit, sondern eine andere Person auf sich, bzw. sich auf sie bezieht, dann entsteht eine Variante persönlichen Sinnes, die ich „intentionalen Konsens" nenne. Damit ist folgendes gemeint: Personen, die einander zufällig begegnen, nehmen unwillkürlich voneinander Notiz, nehmen damit aufeinander Bezug und nehmen dies auch wechselseitig voneinander wahr. Auf diese Weise befinden sie sich unwillkürlich in Interaktion, ohne daß es dafür auch nur den geringsten von ihnen gemeinsam gemeinten inhaltlichen Sinn gäbe. Im Gegenteil: Wenn beide nicht sogleich sich wieder trennen (Eugen Roth charakterisierte den intentionalen Konsens mit dem Vers: „Man begrinst sich hohl und heiter und geht seines Weges weiter"), sondern wenn sie die zunächst zufällig entstandene Interaktion fortsetzen wollen, müssen sie einen dafür geeigneten Inhalt erst suchen. Deshalb fangen die Leute an, vom Wetter oder von ihren Krankheiten zu reden. Aber es geht ihnen dabei in erster Linie gar nicht um das, wovon sie sprechen, sondern darum, einander als Personen Referenz zu erweisen bzw. geht es ihnen um das personale Moment der Interaktion, mit dem allein diese aber nicht zu bestreiten ist. Hier wird die Tatsache sozial akutell, daß die Person im Modus der Interaktion mit ihresgleichen existiert, daß sie also der Interaktion bedarf, auch wenn dafür kein sachlicher Grund besteht. Außerdem wird erkennbar, daß personale Interaktion zwar irgendeines inhaltlichen Stoffes, nicht jedoch des sogenannten Minimalkonsenses über inhaltlichen Sinn bedarf. Die Dominanz des persönlichen Sinnes über den inhaltlichen Sinn ist also nicht darauf beschränkt, wie die einzelne Person die Gegebenheiten bei und für sich organisiert, sondern sie besteht auch interpersonal im Bereich der Interaktion. Selbst für die nicht erst nachträglich, sondern primär an inhaltlichem Sinn orientierte, weil wegen eines solchen Sinnes
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überhaupt nur eröffnete Interaktion ist persönlicher Sinn der Beteiligten der letztlich tragende Grund. Denn kein inhaltlicher Anlaß für eine Interaktion löst diese kausal-notwendig aus; vielmehr bedarf es immer einer Entscheidung der Beteiligten, ob sie einen gegebenen Anlaß aufgreifen oder nicht, ob sie an ihrer Interaktion festhalten oder nicht; und diese Entscheidung wird nach Maßgabe persönlichen Sinnes getroffen. Edith Stein bezeichnet das an persönlichem Sinn sich orientierende Subjekt als „reines Ich" und schreibt: 3 „Aber das Vorhandensein der Motive zwingt das Ich nicht, die betreffenden Akte zu vollziehen ... Das Ich kann die Motive haben und anerkennen und kann die Akte trotzdem unterlassen." Zu jedem Tun gehöre ein „fiat", mit dem es in Gang gesetzt wird, ein „innerer Ruck", von dem ausgehend es abzulaufen beginnt. Wenn Edith Stein allerdings meint, dieser notwendige „Impuls" sei „selber nicht motiviert", so muß man ihr entgegenhalten, daß auch der „ R u c k " von einem Sinn bestimmt ist. Nur eben ist dieses Motiv kein inhaltliches, es kann nicht mit einer inhaltlichen Aussage angegeben werden, sondern es ist persönlich, also z.B. ein elementares Bedürfnis, sich zu betätigen, oder der Eindruck von einem unmittelbar erlebten Ereignis. Es ist übrigens diese inhaltlich nicht mehr erfaßbare, weil persönliche Qualität des Motivs, welche der Dezision den Schein reiner Willkür verleiht. Bei Interaktionen, die keinem inhaltlich bestimmten Zweck, sondern allein der Gestaltung der personalen Beziehungen der Beteiligten dienen, ist persönlicher Sinn nicht lediglich der letztlich tragende Grund; sondern sie sind von persönlichem Sinn beherrscht. Das aber bedeutet, daß aller in einer solchen Interaktion enthaltene inhaltliche Sinn für die Gestaltung der personalen Beziehung, z.B. für die notwendige Definition einer gemeinsamen Situation prinzipiell zur Disposition steht. Insbesondere können alle Inhalte innerhalb der Grenzen ihrer Interpretierbarkeit so ausgelegt werden, wie es unter dem personalen Aspekt am dienlichsten erscheint. Damit sind wir an einer der Stellen angelangt, wo eine Eigenart des Person-Seins, in diesem Fall das Element „persönlicher Sinn", als typische Erscheinung der Politik wiederkehrt, bzw. eine typische Erscheinung der Politik sich aus einer Eigenart des Person-Seins erklärt. Denn Politik ist, wie wir sahen, eine Interaktion, die allein der Gestaltung personaler Beziehungen dient, nämlich die Definition der gemeinsamen Situation aller Mitglieder einer Gesellschaft, mithin die Stiftung und Gewährleistung des innergesellschaftlichen Friedens. Dafür steht wie für jede allein der Gestaltung personaler Beziehungen dienenden Interaktion aller inhaltliche 3
Edith Stein: Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften. In: E. Husserl (Hg.). Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Bd. 5, Halle 1922, S. 48.
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Sinn zur Disposition: Es gilt nicht das, was ist, sondern wie das, was ist, ausgelegt wird; z.B. werden die Gegebenheiten so ausgelegt, wie es der Beilegung eines Konflikts am besten dient. Um zu gebotenen Kompromissen zwischen Personen zu gelangen, werden von dem, was die Sache an sich erfordert, die notwendigen Abstriche gemacht. Bei Verhandlungen mit dem Ziel, sich politisch zu arrangieren, werden im Geben und Nehmen Dinge, die sachlich nichts miteinander zu tun haben, in Zusammenhang gebracht und gegeneinander abgewogen. So verfährt man auch bei Koalitionsverhandlungen zwischen Parteien und bei diplomatischen Verhandlungen zwischen Staaten. Über den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion und die Behandlung der Berlinfrage hat Außenminister Genscher einmal gesagt: „Man muß beides auch in einem zwar nicht sachlichen, wohl aber politischen Zusammenhang sehen." Diese Relativierung und Funktionalisierung von sachlich-inhaltlichem zugunsten von personalem Sinn erfolgt in jeder allein der Gestaltung personaler Beziehung dienenden Interaktion und ist deshalb tägliche Praxis in allen Lebensbereichen. Sie wird aber von denen, die so verfahren, kaum als etwas Besonders wahrgenommen. Nur in der Politik fällt sie auf und wird deshalb auch als für Politik charakteristisch angesehen - nicht zu Unrecht allerdings, da sie in der Politik primärer Modus, in denen anderen Lebensbereichen dagegen im Vergleich zur sachlich-inhaltlichen Orientierung nur von sekundärer Bedeutung ist. Für die Politik hat Carl Schmitt das in seiner Schrift „Der Begriff des Politischen" treffend beschrieben: 4 „Die reale Freund-Feindgruppierung (bei ihm das Kriterium des Politischen) ist seinsmäßig so stark und ausschlaggebend, daß der nichtpolitische Gegensatz in demselben Augenblick, in dem er diese Gruppierung bewirkt, seine bisherigen „rein" religiösen, „rein" wirtschaftlichen, „rein" kulturellen Kriterien und Motive zurückstellt und den völlig neuen, eigenartigen und von jenem „rein" religiösen oder „rein" wirtschaftlichen und anderen „reinem" Ausgangspunkt gesehen, oft sehr inkonsequent und „irrationalen" Bedingungen und Folgerungen der nunmehr politischen Situation unterworfen wird." Eben diese „Inkonsequenz" und „Irrationalität" ist das Skandalon der Politik für alle, die sich dem Primat, ja, der Alleinherrschaft des Sachlichen verschrieben haben. Sie halten es für unerträglich, daß sich Politik, wo immer es deren personalem Sinn dient, über den ausschließlichen Geltungsanspruch sachlich-inhaltlichen Sinnes hinwegsetzt; daß kein inhaltlicher Sinn davor sicher ist, so interpretiert und modifiziert zu werden, wie es die politische Lage geraten scheinen läßt. Dieser Kritik gegenüber gilt es jedoch zu begreifen, daß Politik im Bereich der gesamtgesellschaftli4
Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Berlin 1963 (Neuauflage), S. 39.
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chen Interaktion der Anwalt des Vorranges der Person vor der Sache und Voraussetzung des innergesellschaftlichen Friedens ist - und daß der Vorrang der Person vor der Sache letztlich in allen Lebensbereichen gewahrt bleiben muß. Mit Recht hat Bernard Willms bemerkt, es sei Kultur, den Frieden mehr zu lieben als die Wahrheit. 5 Und Carl Schmitt hat in seiner Schrift „Römischer Katholizismus und politische Form" treffend die humane personale Rationalität der Politik hervorgehoben gegen die inhumane Versachlichung aller Lebensbereiche. Betrachten wir den Zusammenhang von Eigenarten der Politik mit Eigenarten des Person-Seins an einem weiteren Beispiel. Die ursprüngliche Wirklichkeit, das „Inwendige" der individuellen Person existiert jenseits aller Eigenschaftswörter, jenseits des sprachlichen Ausdrucks überhaupt, der ja erst im Wege personaler Interaktion entsteht. „Das Höchste, das Vorzüglichste am Menschen ist gestaltlos", bemerkt Goethe in den Maximen und Reflexionen (Cotta 6, 497). Dieses nicht-inhaltliche Substrat personaler Existenz läßt sich nicht unverfälscht in Worte übertragen, und es sind deshalb alle auf die individuelle Person angewandten Aussagen deren Wirklichkeit mehr oder weniger nicht angemessen. Hinzu kommt, daß Wörter und Begriffe auch deshalb das Einmalig-besondere des Individuums nur annäherungsweise treffen, weil sie ihrer Natur nach allgemein, jeweils auf eine Gruppe sich gleichender Gegebenheiten bezogen sind. Aus beiden genannten Gründen können alle auf eine bestimmte Person bezogenen sprachlich-inhaltlichen Aussagen nur unter Vorbehalt gelten. Für den politischen Verband entsteht daraus die Schwierigkeit, daß es einerseits im Interesse des innergesellschaftlichen Friedens allgemein gültiger politischer Feststellungen und allgemein verbindlicher Normen bedarf, daß diese aber andererseits, soweit sie auf einzelne Angehörige des politischen Verbandes und deren partikularen Verhältnisse angewandt werden, deren Wirklichkeit mehr oder weniger verfehlen, wenn nicht sogar vergewaltigen. Diese Schwierigkeit wird vermieden, soweit die Ordnung des politischen Verbandes aus formalen Prozeduren und Regeln besteht, denn deren Inhaltslosigkeit entspricht in idealer Weise der Tatsache, daß die Wirklichkeit der individuellen Person jenseits von allem sprachlich-inhaltlichen Sinn liegt. Es ist deshalb abwegig, die Formalisierung der staatlichen Ordnung als „mechanistisch" abzulehnen oder deren Mangel an Inhalt als Mangel an Substanz zu kritisieren. Wer sich über die „Formaldemokratie" mokiert und eine irgendwie substantielle Demokratie fordert, wer formale Vorschriften als Hindernis betrachtet, das „eigentlich" Richtige und Gebotene zu tun, verkennt, daß gerade deren formale Qualität am besten 5
Bernard Willms: Die Antwort des Leviathan. Neuwied 1970, S. 131.
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der nicht-inhaltlichen Substanz der individuellen Person entspricht und damit die denkbar beste Voraussetzung für deren freie Entfaltung bietet. Dabei ist zu beachten, daß die Formalität eines Aktes nicht die Allgemeinheit des abstrakten Begriffs „Person" repräsentiert, sondern das „Inwendige" der konkreten Person respektiert. Allerdings ergibt sich aus dem formalen Element des neuzeitlichen Verfassungsstaates in der Praxis ein Dilemma. Im Interesse der Freiheit des Bürgers ist die Tätigkeit der Staatsorgane möglichst formalisiert und objektiviert, mithin dem persönlichen Einfluß der Amtsinhaber entzogen. So sind z.B. die Entscheidungen des „Bundesministers des Innern" weitgehend unabhängig davon, wer gerade dieser Minister ist, und alle Ämter des Staates unterliegen der Pflicht, „ohne Ansehen der Person" tätig zu werden. Auf diese Weise ist der Bürger vor Zumutungen geschützt, die von einem Amtsinhaber persönlich motiviert sind, aber mit staatlicher Exekutivmacht durchgesetzt werden. Gerade wegen seiner Unpersönlichkeit entfremdet sich der Staat aber auch seinen Bürgern. Sein Handeln „ohne Ansehen der Person" hat für die Betroffenen auch etwas Kränkendes, weil sich der einzelne in seiner Besonderheit nicht gewürdigt sieht. Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu, die hier nicht eingehend erörtert werden kann, aber doch erwähnt werden sollte. Soweit die Ordnung u n d Tätigkeit des Staates formalisiert und objektiviert ist, wird das personal-persönliche Element aus dem öffentlichen Leben verdrängt und in den Bereich des Privaten verwiesen. Auf diese Weise wird das Persönliche auf das Private beschränkt und damit identisch. Wenn dann, wie wir es heute erleben, versucht wird, dem personalen Element im öffentlichen insbesondere im Staatsleben wieder Geltung zu verschaffen, so läuft das auf eine Anwendung privater Kategorien auf politisch-staatliche Angelegenheiten hinaus. Die Institution des neuzeitlichen Verfassungsstaates erschöpft sich nicht in formalen Prozeduren und Regeln. Seine Normen und seine Tätigkeit müssen sich, da sie letztlich am Prinzip „Person" orientiert sind, auch auf entsprechende Inhalte und Werte beziehen. Mithin ist es in vielen Fällen unumgänglich, von Staats wegen verbindliche Feststellungen zu treffen, welche Attribute der Person zukommen, welche Werte das einschließt, welche Ansprüche und Pflichten daraus folgen usw. Dabei gilt zunächst, was generell für Prinzipien und deren Anwendung zutrifft, d a ß bei jeder Konkretisierung in die Entfaltung ihres Sinngehaltes so viel vom Sinngehalt des jeweiligen Falles mit eingeht, d a ß es keine für alle denkbaren Fälle gültige nähere und detaillierte Bestimmung eines Prinzips geben kann. Es ist deshalb auch nicht möglich, aus einem Prinzip ein ein für allemal gültiges System von Werten zu entwickeln und für verbindlich zu erklären. Im speziellen Fall des Prinzips „Person" kommt hinzu, was oben über die Unmöglichkeit gesagt wurde, über die Einmaligkeit des Einzelfal-
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les gänzlich angemessene Aussagen zu machen. Aus beiden Voraussetzungen ist die Konsequenz zu ziehen, daß alle näheren Bestimmungen über Attribute, Werte, Ansprüche und Pflichten der Person, wie unumgänglich sie von Fall zu Fall auch sind, so unter Vorbehalt vorgenommen werden müssen, daß nicht im Namen einer aus dem Prinzip „Person" entwickelten Dogmatik der jeweils betroffenen wirklichen Person Gewalt angetan wird. Das Bestreben, aus dem Prinzip „Person" bzw. den daraus sich unmittelbar ableitenden Grundrechten der Verfassung ein „Wertesystem" oder eine „Rangordnung von Werten" zu entwickeln, birgt deshalb die Gefahr der Errichtung einer „Tyrannei der Werte"; zumindest wird die Freiheit unnötigerweise beschränkt. Wir haben gesehen, daß der neuzeitliche Verfassungsstaat die Rätselfrage der europäischen Staatstheorie dadurch löst, daß er das Prinzip „Person" zum Konzept des politischen Verbandes macht. Dies soll zum Schluß im Hinblick auf den Zusammenhang von Person und Politik noch etwas genauer betrachtet werden. Für die Aufgabe, innergesellschaftlichen Frieden zu stiften und zu gewährleisten, gibt es auch eine nicht-politische Lösung: die Despotie. Man denke, an Aristoteles' Unterscheidung von politischer und despotischer Herrschaft, aber z.B. auch an Hannah Arendts zutreffende Bemerkung, totalitäre Herrschaft sei unpolitisch. Doch abgesehen davon, daß die despotische Lösung ethisch unzureichend ist, ist sie auch unrealistisch, weil sie dem Person-Sein und den Gegebenheiten personaler Interaktion nicht gerecht wird. Realistisch ist dagegen die politische Lösung der Aufgabe: der politische Verband. Denn in seine Konstituierung sind die Ansprüche mit einbezogen, die die Gesellschaftsmitglieder an die Ordnung über deren friedenstiftende Leistung hinaus nach Maßgabe ihres Selbstverständnisses stellen. Diese Ansprüche sind je nach den Umständen und dem Bewußtsein einer Gesellschaft verschieden. Je wacher aber im Laufe der Menschheitsgeschichte das Selbstverständnis der Person wurde, je mehr es sich geltend machte, desto mehr mußte der politische Verband dem Rechnung tragen, desto mehr ging davon in seine Ordnung ein. Wir haben das an dem vom christlichen Glauben veränderten Verständnis von Freiheit gesehen. Als weiteres Beispiel sei an den Schritt erinnert, den Rousseau dadurch über Hobbes hinaus tat, daß er die Freiheit des einzelnen als unabtrennbar schon in die Konstituierung des Staates hineinnahm, weil „auf seine Freiheit verzichten, hieße auf sein Mensch-Sein verzichten". Am Ende der Entwicklung steht, daß das Person-Sein, welches das politische Problem entstehen läßt und wegen dem dieses Problem gelöst werden muß, zum Konzept dieser Lösung gemacht wird. Damit ist wirklich ein Nonplusultra der Konzipierung des politischen Verbandes erreicht, von Karl Marx treffend als das „aufgelöste Rätsel aller Verfassungen" be-
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zeichnet - wobei mit der Vollendung des Konzepts selbstverständlich noch nicht über die Qualität der Praxis seiner Ausfaltung und Anwendung entschieden ist. Gegenwärtig wird nicht nur bei uns in Deutschland, sondern weltweit aus dem Ganzen des Person-Seins ein Moment besonders hervorgehoben, ja nicht selten allein als Prinzip des neuzeitlichen Staates aufgefaßt: die Menschenwürde. Das ist aus folgendem Grund problematisch: Wenn man die Menschenwürde als „unantastbar" bezeichnet, so ist damit die Tatsache gemeint, daß die Person im Kern ihrer Existenz für ihresgleichen unerreichbar ist, daß sie infolgedessen zwar desavouiert, nicht jedoch wirklich verletzt werden kann. Darauf allein abzuheben aber heißt, aus dem antinomischen Ganzen der personalen Existenz das Moment zu isolieren, daß die Person einerseits alle Sozialität transzendiert. Die spezifische Leistung des politischen Verbandes, also die Stiftung und Gewährleistung des innergesellschaftlichen Friedens bezieht sich jedoch gerade darauf, daß die Person andererseits auf Interaktion angelegt und angewiesen ist. Das gerät aus dem Blick, wenn man allein auf das Moment der Menschenwürde abhebt. Nur wenn man daran festhält, das ganze Prinzip „Person" zum Konzept zu machen, bleibt die Antinomie unverstellt, daß die Person alle Sozialität transzendiert und doch nur im Modus der Sozialität leben und sich ausbilden kann. Und nur diese Antinomie läßt das eigentliche Problem der Politik und des politischen Verbandes erkennen. Beschränkt man dagegen das Konzept auf die Menschenwürde, so wird das politische Problem verharmlost und seine Lösung verfehlt. Es ist die typische Folge der Fixierung auf die Menschenwürde, daß man in den Grundrechten den allein erheblichen Teil einer Verfassung sieht und die institutionellen Bestimmungen für Anweisungen zur Organisation des Staatsapparates hält. Erst wenn man vom vollen Umfang des Prinzips „Person" ausgeht, begreift man, welche existentielle Bedeutung die Institution des Staates für den einzelnen hat, weil sie allein - und nicht die Grundrechte - den innergesellschaftlichen Frieden unter der Bedingung der Freiheit stiftet und gewährleistet. Die Heraushebung der Menschenwürde erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg in Reaktion auf deren ungeheuerliche Verletzung vor allem, wenn auch nicht allein durch die nationalsozialistische Despotie, und sie hat daher den Sinn, daß so Schreckliches nie wieder geschehen darf. Damit aber bleibt diese Heraushebung in der Abwehr der Despotie befangen; und die Menschenwürde an die Spitze einer Verfassung stellen, bedeutet deshalb, etwas als deren Angelpunkt erscheinen zu lassen, was das Problem des neuzeitlichen Verfassungsstaates gar nicht trifft. Denn es geht ja nicht darum, die Verletzung der Menschenwürde abzuwehren, sondern das Problem stellt sich überhaupt erst, wenn die personale Qualität des Menschen
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- einschließlich seiner Würde - anerkannt ist. N i c h t die Achtung u n d der Schutz der M e n s c h e n w ü r d e ist das spezifische Problem der Politik, sondern das friedliche Z u s a m m e n l e b e n der im v o l l e n antinomischen U m f a n g ihres Person-Seins anerkannten Menschen. 6
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Ein Beispiel dafür, zu welchen Mißverständnissen die Fixierung auf die Menschenwürde führt, ist ein Aufsatz von Dieter Dirk Hartmann im „Archiv des öffentlichen Rechts" (1970, S. 567 ff.). Dort heißt es, der eigentliche Sinn des Grundgesetzes sei, zu verhindern, daß es noch einmal zu solchen Unmenschlichkeiten kommt wie unter der nationalsozialistischen Herrschaft. Es sei aber die Institution des Staates, die eine permanente Gefährdung der Menschlichkeit darstelle: „Für die Grundrechte verkörpert der Staat die stets mögliche Unmenschlichkeit." Deshalb bestehe der Sinn von Art. 18 G G nicht darin die bestehende Ordnung, sondern die mögliche Menschlichkeit vor dem Staat zu schützen. - So sehr der Verfasser den Sinn des neuzeitlichen Verfassungsstaates verfehlt, so folgerichtig hat er doch in die Richtung gedacht, in die die Heraushebung der Menschenwürde aus dem antinomischen Ganzen des Person-Seins weist.
II.
Wie der Staat existiert
1. Manche Autoren juristischer Abhandlungen scheinen sich, wenn sie auf die Elemente des Staates zu sprechen kommen, nicht recht bewußt zu sein, wie die Gegenstandsbereiche, die sich hinter einigen wichtigen Begriffen erstrecken, nach Eigenart und Umfang beschaffen sind. Was z.B. ist Macht? Wie sollte die Rolle, die sie im Staat spielt, befriedigend zu bestimmen sein, falls sie wirklich einerseits für ihn charakteristisch, andererseits aber ethisch zumindest fragwürdig wäre? Und wie unterscheiden sich die Gewohnheiten des öffentliche Lebens vom gesetzten Recht, wenn ihnen einerseits ein geringerer normativer Rang als diesem zugebilligt wird, sie andererseits aber offenkundig eine stärkere Bindewirkung besitzen? Was - ferner - ist die Qualität jenes „Faktischen", das man als Gegenteil des „Normativen" aufzufassen pflegt? Läßt sich im Sinne dieses Gegensatzes das Verhältnis von sozialer Realität und Norm als Unterschied von Sein und Sollen begreifen? Wenn schließlich Einigkeit darüber besteht, daß der Staat im Kern politisch ist, kann dann das Recht sein Fundament sein und kann seine Einheit in seiner Rechtsordnung bestehen? Einige Überlegungen zu diesen Fragen werden hier zur Diskussion gestellt in der Absicht, etwas über die Existenzweise des Staates zu ermitteln. Dabei wird die Bezeichnung „Staat" in der alltagssprachlichen, ganz allgemeinen Bedeutung benutzt, in der sie politische Verbände aller Art umfaßt, wie sie aus der Geschichte bekannt sind. Als spezifisch staatliche Leistung wird die Stiftung und Wahrung des innergesellschaftlichen Friedens angesehen. 1 Dies ist das politische Problem schlechthin; seine Lösung ist der wesentliche Sinn des Staates - genauer: der Staat ist die Lösung des politischen Problems. Das gilt auch für den Staat unserer Zeit: Mag er weitgehend unter das Diktat technisch und wirtschaftlich erforderlicher Organisation geraten sein, die politische Aufgabe, die ihn unentbehrlich macht, und deren 1
So z.B. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, 1978, Böckenförde schreibt (S. 12), der Staat stelle für die in ihm lebenden Menschen eine Friedenseinheit dar, und verweist (FN 7) für den Zusammenhang der staatlichen Friedenseinheit mit dem Staat als politischer Einheit auf Carl Schmitts „Begriff des Politischen". Vgl. auch Ulrich Scheuner, in: FS Smend, 1962, S.252: „Die Staatstheorie hat doch zu allen Zeiten, wenn auch unter wechselndem Namen, polis, res publica, regnum, civitas, status doch immer das gleiche vor Augen gehabt, die politische Einheit, in der dem Menschen Ordnung und Frieden gewährleistet wird." Siehe auch Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 110.
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Lösung ihn eigentlich legitimiert, bleibt die Stiftung und Wahrung des innergesellschaftlichen Friedens. Das Besondere des Staates entstammt der Besonderheit des Problems, dessen Lösung er ist. Es ist nämlich einer Gesellschaft nicht freigestellt, ob sie die Aufgabe, innergesellschaftlichen Frieden zu stiften, in Angriff nehmen will oder nicht, sondern das Problem drängt sich ihr unausweichlich auf u n d erzwingt eine Lösung. 2 Insofern hat die Einrichtung des Staates Anteil an der Eigenart menschlichen Zusammenlebens (personaler Interaktion) überhaupt, einerseits nicht nach Belieben zu ergreifende oder auch nicht zu ergreifende Möglichkeit, sondern unumgänglicher Modus personaler Existenz zu sein, andererseits jedoch sich nicht wie die elementaren physischen Funktionen des Körpers unwillkürlich zu vollziehen, sondern immer aufs Neue ausdrücklich geleistet werden zu müssen. Es ist übrigens diese Eigentümlichkeit, die den klassischen Streit, ob der Staat «púaei oder 9éaei existiere, müßig sein läßt. Der Staat existiert nicht erst und nimmt dann die Aufgabe, Frieden zu stiften, in Angriff, sondern er existiert, weil er Resultat der Lösung dieser Aufgabe ist. Daher ist genaugenommen die Stiftung des innergesellschaftlichen Friedens nicht Leistung des Staates, sondern der Gesellschaft; sie erbringt diese Leistung, indem sie sich - wie man zu sagen pflegt - als Staat konstituiert 3 ; diese Ausdrucksweise ist allerdings - wie noch zu zeigen sein wird - ungenau. Die Leistungen des Staates selbst beginnen dann mit den Maßnahmen zur Gewährleistung und Vertiefung des Friedens und finden ihre Fortsetzung in möglichster Erfüllung derjenigen Ansprüche, die eine Gesellschaft zusätzlich an ihr öffentliches Leben im Friedenszustand stellt. Das ist heute vor allem die Förderung von Gleichheit und Freiheit, es kann aber z.B. auch die Wahrung der Vorherrschaft einer G r u p p e u. ä. sein. Mit der Erfüllung solcher Ansprüche, die bei den einzelnen Gesellschaften nach Umfang und Art verschieden sind, sowie je nach den Umständen, unter denen Frieden gestiftet und gewahrt werden muß, beginnt sich die Vielfalt möglicher Ausgestaltung der Staaten zu entwikkeln. Während dies noch zu den Spezifika und das heißt: zu den im strengen Sinn des Begriffs politischen Leistungen des Staates gehört, können ihm zusätzliche Aufgaben zugewiesen werden, die sich auch auf andere 2
Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl. 1991, stellt (S.5) fest, der Staat könne nicht als etwas Vorfindliches vorausgesetzt werden, sondern gewinne nur Wirklichkeit, wenn es gelinge, die Vielheit der Interessen, Bestrebungen und Verhaltensweisen zu einer politischen Einheit zu verbinden: „Es ist eine Aufgabe, die solange keinem Belieben unterliegt, als menschliches Zusammenleben nur im Staat und durch den Staat möglich ist." 3 Vgl. Artikel „Organ" in: Otto Brunner u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1978, S.568: der Staat als Ergebnis der organisierenden Tätigkeit der Nation.
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Weise als durch ihn erfüllen ließen, die mithin nicht mehr politisch im eigentlichen Sinn sind. Das gilt heute vor allem für die Organisation kollektiver Daseinsvorsorge; und schon seit je galt es für die Gewährleistung der äußeren Sicherheit. Zwar pflegt man sie zu den Merkmalen des StaatsBegriffs zu rechnen, doch geht es hier nicht mehr um die Weise des gesamtgesellschaftlichen Zusammen lebens, sondern um ein auf einen bestimmten Zweck - nämlich den militärischen Einsatz - gerichtetes, mithin durch dessen Erfordernisse bestimmtes Zusammen wirken. Die Wahrung und Vertiefung des innergesellschaftlichen Frieden erfordert zunächst eine handlungsfähige Macht, die imstande ist, unter den Gesellschaftsmitgliedern Selbstverteidigung überflüssig zu machen, Selbstjustiz zu unterbinden und eine gewaltfreie Austragung von Konflikten zu ermöglichen. Sodann muß der Frieden „vertieft" werden durch möglichste Verringerung der Anlässe sowie Zurückdämmen der Neigung zu Unfrieden. Dafür bedarf es eines verbindlichen Konzepts des öffentlichen Lebens, wonach jeder beliebige einzelne mit jedem anderen beliebigen einzelnen verkehren kann, auch wenn den beiden dafür weder eine besondere gemeinsame Sachorientierung noch individuelles Einander-Kennen zur Verfügung stehen. Dieses Konzept betrifft also das, was Personen einander als Personen schlechthin schulden, auch wenn sie einander fremd oder nicht durch gemeinsam verfolgte Zwecke verbunden sind.
2. Die für die Stiftung und Gewährleistung des innergesellschaftlichen Friedens notwendige handlungsfähige Macht muß allen partikularen Machtpotentialen der betreffenden Gesellschaft sowie deren möglichen Kombinationen überlegen sein. Ein solches Potential kann auf Gewalt und der Unterdrückung einer Bevölkerung beruhen, sei es durch einen fremden Eroberer, sei es durch einen autochthonen Despoten. Unter einem Gewaltregime herrscht zwar Frieden, jedoch in einer den Ansprüchen menschenwürdigen Lebens mehr oder weniger nicht genügenden Weise. Eine denkbare zweite Möglichkeit, die notwendige handlungsfähige Macht zu begründen, besitzt nur geringe Wahrscheinlichkeit, sie ergäbe sich nämlich aus einem fundamentalen Konsens der Gesellschaftsmitglieder nach der Idee der griechischen Politeia. 4 Die dritte Möglichkeit besteht darin, die überlegene handlungsfähige Macht ausdrücklich herzustellen - ein klassisches Problem der europäischen Staatstheorie. In diesem Fall muß ein Verfahren gefunden werden, durch welches die Gesellschaft das la4
Hans Schäfer, Staatsform und Politik, 1932, S. 104ff.: Politeia ist die persönliche Gemeinschaft der freien Bürger, die den Staat ausmachen.
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tente und amorphe Potential, das sie selbst durch ihre bloße Existenz darstellt, in die überlegene Macht einer Instanz transformiert und auf diese Weise kollektiv handlungsfähig wird. Hier sind mit der Überlegenheit und der Handlungsfähigkeit zwei Momente praktisch verschränkt, die man theoretisch auseinanderhalten muß. Die Überlegenheit der erforderlichen Macht wird durch eine gesamtgesellschaftliche Machtdisposition gewonnen. Darunter ist zu verstehen, daß die Beziehungen zwischen allen in einer Gesellschaft vorhandenen Potentialen, also zwischen den vorhandenen Mächten der verschiedenen Lebensbereiche, durch Bestimmung, Zuweisung und Begrenzung von Ansprüchen und Zuständigkeiten in einem gewissen Ausmaß planmäßig verändert sowie in einen umfassenden Gesamtzusammenhang gebracht werden. Das geschieht insbesondere nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit, für das Ansatzpunkte in der Tatsache gegeben sind, daß alle gesellschaftlichen Mächte mehr oder weniger aufeinander angewiesen bzw. voneinander abhängig sind, Eine andere Möglichkeit der Einflußnahme bietet der Druck der in der Gesellschaft herrschenden Vorstellungen. Insoweit besteht ein Zusammenhang zwischen der Installierung der überlegenen Macht und der Setzung des Konzepts für den Frieden des öffentlichen Lebens: Dieses Konzept dient auch der Einfügung der Potentiale in den umfassenden Gesamtzusammenhang. Kollektive Handlungsfähigkeit einer beliebigen Anzahl von Personen von einer kleinen Gruppe also bis hin zu einer Gesellschaft - entsteht, wenn in denjenigen Fällen, in denen für alle Beteiligten etwas zu entscheiden oder zu tun ist, dies im Sinne einer ihnen allen gemeinsamen Orientierung (z. B. gemäß herrschender Vorstellungen oder eines Konzepts des Zusammenlebens) geschieht, ohne daß die einzelnen dabei mitwirken. Hinzu kommt als Voraussetzung, daß jeder Beteiligte an diesem Verfahren so interessiert ist, daß er das, was entschieden bzw. getan wird, auch in denjenigen Fällen akzeptiert, in denen er selbst eine andere Entscheidung oder Handlung bevorzugen würde. Auf diese Weise gewinnt die allen Beteiligten gemeinsame Orientierung zusätzlich die Qualität einer handlungsfähigen Instanz 5 , entsteht ein Subjekt, das einen personalen Ursprung hat, jedoch selbst nicht Person ist. Im Falle der Gesellschaft ist das, was entsteht, die handlungsfähige überlegene Macht, mithin die Eigenschaft des Staates, politisches Subjekt zu sein. Daß er als solches Herrschaft ausübt, ist zur Gewährleistung des innergesellschaftlichen Friedens notwendig; doch ist Herrschaft deswegen nicht dominierendes Begriffsmerkmal des Staates. Man muß sich zudem fragen, ob der Klang, den das Wort „Herrschaft" 5
Eine eingehende theoretische Herleitung der Instanz findet sich in Hans heim, Theorie der Politik, 1981, 93 ff.
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für uns hat, auf das paßt, was wir als Leistung von einem Staat wie dem unseren erwarten bzw. was wir ihm als Anspruch an uns zubilligen. Man kann jedenfalls von keinem unserer Verfassungsorgane behaupten, daß es „herrsche".
3. Im wirklichen Leben wird die gesamtgesellschaftliche Machtdisposition selbstverständlich nicht in einem einmaligen Akt vollzogen; ebensowenig wird das Konzept des öffentlichen Lebens zunächst komplett definiert und dann in Kraft gesetzt, mag dies auch in Ausnahmefällen geschehen, wenn ein Staat wie ein Verein oder eine Firma gegründet wird. Im Normalfall geschichtlicher Entwicklung (der für die hier vorgetragenen Überlegungen insgesamt vorausgesetzt ist) bildet sich der Staat allmählich und mehr oder weniger unreflektiert nach dem aktuellen Bedarf und dem daran orientierten Wollen einer Bevölkerung aus. Das heißt: Die gesamtgesellschaftliche Machtdisposition und das Konzept innergesellschaftlichen Friedens gewinnen erst mit der Zeit und immer nur gerade so weit deutlichere Gestalt, als es notwendig wird, einzelne Tatbestände des öffentlichen Lebens unter gesamtgesellschaftlichem Aspekt zu regeln oder aus dieser Sicht über bestimmte Vorkommnisse zu entscheiden. Das geschieht, der Partikularität und den besonderen Umständen solcher Einzelfälle entsprechend, nach den mehr oder weniger beschränkten Vorstellungen, die daraus zu gewinnen sind, und in einer rudimentären Form, wie sie für die Lösung des speziellen Problems jeweils ausreicht. Der gleichwohl umfassende Charakter der Machtdisposition und die Allgemeinheit des Konzepts emanzipieren sich aus ihren anfänglich partikularen Ausdrucksformen erst im Laufe immer häufigerer Anwendung. So erreicht dann ihr von vornherein gegebener allgemeiner Gehalt schließlich auch der Form nach Allgemeinheit 6 . Ein zwar hinkender, vielleicht aber doch hilfreicher Vergleich ist die Weise, wie in den letzten Jahrzehnten der Supreme Court aus dem in der „due-process of law"- und der „equal-protection"-Klausel des XIV. Amendments der US-amerikanischen Verfassung enthaltenen Verfassungsprinzip eine Reihe von Grundrechten als verbindliches, auch die 6
Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, 1959, S.49ff., beschreibt diesen Vorgang in seiner Weise als Selbstinterpretation bzw. Selbsterhellung einer Gesellschaft durch Symbole. Eine politische Gesellschaft wird existent, wenn sie sich artikuliert und einen Repräsentanten hervorbringt (S. 78).
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Einzelstaaten verpflichtendes Recht abgeleitet hat 7 . Hier war das an sich umfassende Prinzip der Grundrechtsgarantie anfangs (nämlich bei der Beschlußfassung über das XIV. Amendment im Jahre 1868) nur für den Sonderfall des Gerichtsverfahrens ausdrücklich gewährleistet worden. Nachdem aber in dieser rudimentären Form das Prinzip einmal in die Verfassung aufgenommen war, konnte der ihm innewohnende allgemeine Gedanke seine Wirkung tun. Er zeitigte von einem gegebenen Anlaß zum anderen zunehmend seine notwendigen Konsequenzen - insbesondere bekanntlich bei der Durchsetzung einer ungeschmälerten Gleichstellung der Schwarzen. - Die objektive Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung schloß selbstverständlich nicht aus, daß ihr Gang in vielfältiger Weise gehemmt und verzögert bzw. zeitweise auch auf Abwege gelenkt wurde. - Verfassungsprinzipien werden zwar nicht selten zunächst nur im Hinblick auf einen partiklularen Anwendungsfall sanktioniert, sie sind auf diese Weise aber unwillkürlich als solche, d.h. mit dem ganzen Potential ihres Sinnes in die Verfassung aufgenommen. Diese Tatsache wird verkannt, wenn z. B. Bryde8 die amerikanische Verfassung nur für „detail-verliebt" hält und es allein dem Einfallsreichtum der Richter zuschreibt, daß sie „eng begrenzte Teilstücke einer Kasuistik" so extensiv auslegten, daß sie „aus der ganz spezifischen prozessualen Garantie einer ,due process'-Klausel einen ganzen materiellen Grundrechtskatalog entwickelten". Eine Verfassung ist „konzentriertes Recht"; sie verlangt deshalb nicht so sehr nachvollziehende rechtslogische Interpretation wie nachvollziehbar geordnete „gekonnte Konkretisierung'".
4. Die Einheit des Staates geht selbstverständlich nicht aus irgendeiner Verschmelzung der als Gesellschaft zusammenlebenden Menschen hervor. Der Staat besteht überhaupt nicht aus Menschen 10 , sondern er ist ein be7
Robert H. Jackson, The Supreme Court in the American System of Government, 1958; Richard C. Cortner, The Supreme Court and the Second Bill of Rights, 1981. 8 Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung, Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S.88. Skeptisch, m. E. jedoch einseitig bemerkt mit Bezug auf den Supreme Court Martin Kriele, Staatslehre, 2.Aufl. 1981, S.213: „insbesondere in die Due-Process-Klausel haben die Juristen ihre besitzindividualistischen Prinzipien buchstäblich hineingemogelt". 9 So Peter Lerche, Werbung und Verfassung, 1967, S.32f.; ders., ZZP 1965, S. 11 f. 10 Vgl. z.B. Hermann Heller, Staatslehre, 3.Aufl. 1963, S.239: „So wenig wie irgendeine andere Organisation besteht der Staat aus .Menschen'". „Der Staat ist allerdings auch kein .Leistungszusammenhang'" (S.241), sondern ein Modus gesamtgesellschaftlicher Interaktion. - Claus-Ekkehard Bärsch, Der Staatsbegriff in
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stimmter „Aggregatzustand" gesamtgesellschaftlichen Lebens: das öffentliche Leben in Frieden. Nur in ihm gewinnt die Gesellschaft Einheit, während sie im übrigen komplexe Mannigfaltigkeit der Beziehung ihrer Mitglieder untereinander bleibt. Es ist deshalb zumindest mißverständlich, wenn man zu sagen pflegt, die Gesellschaft konstituiere sich im Staat als handlungsfähige Einheit, so als ginge sie auf diese Weise im Staat auf. Will man es genau ausdrücken, so gewinnt sie im Staat Einheit und Handlungsfähigkeit als etwas Zusätzliches. - Der Kern der Einheit des Staates besteht in den drei Momenten der Stiftung und Wahrung des innergesellschaftlichen Friedens, also der gesamtgesellschaftlichen Machtdisposition, dem Konzept des öffentlichen Lebens und der Handlungsfähigkeit. Einbezogen in die Einheit sind sodann alle Bestimmungen, Regelungen und Gewohnheiten, die im einzelnen der Ausgestaltung des innergesellschaftlichen Friedens dienen. Sie gehören zur Einheit des Staates jedoch nur, weil und insofern sie diesen Dienst leisten, nicht dagegen als das, was sie an sich sind. Infolgedessen sind diese Bestimmungen und Regelungen austauschbar, können die Gewohnheiten sich ändern, ohne daß dadurch die Einheit des Staates berührt würde oder gar gefährdet wäre. An den drei Momenten des Kerns der Einheit hängt der Bestand des Staates unmittelbar, an allem Hinzukommenden nur mittelbar, und zwar insofern, als der Frieden um so eher gefährdet ist, je unzureichender für seine Sicherung und Vertiefung gesorgt wird. - Zu unterscheiden ist hier auch zwischen - erstens - dem allen Gesellschaftsmitgliedern gemeinsamen Interesse am Frieden, einem nicht-inhaltlichen Konsens, der sich auf das sich aufdrängende politische Problem und dessen unausweichlich notwendige Lösung bezieht; und - zweitens - dem Konsens über das Konzept des öffentlichen Lebens und damit über bestimmte Inhalte. Solche Übereinstimmung im Inhaltlichen ist wichtig für die Ausgestaltung des öffentlichen Lebens in Frieden, dafür aber, daß Frieden überhaupt gestiftet wird und herrscht, ist jener originäre Konsens entscheidend; er ist es, der den Staat letztlich trägt. Wenn er gegeben ist, können auch tiefgreifende Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung des öffentlichen Lebens den Staat nicht erschüttern; schwindet er aber, dann kann schon ein relativ geringer inhaltlicher Dissens den Bestand des Staates gefährden. Fortsetzung Fußnote von Seite 32 der neueren deutschen Staatslehre und seine theoretischen Implikationen, 1974, S. 109 f., lehnt mit Recht die Vorstellung ab, der Staat sei eine aus Menschen bestehende Einheit. Anstatt aber zu fragen, worin denn die Einheit des Staates in Wirklichkeit bestehe, hält er das Merkmal „Einheit von Menschen" offenbar für so selbstverständlich zum Begriff „Staat" gehörig, daß er diesen überhaupt verwirft: „ . . . Weil es eine Gesellschaft als handelnde und herrschende Einheit („Staat") nicht gibt, (S. 112). Bärschs Behauptungen haben in Der Staat 15 (1976), S. 267 f., verdiente Kritik erfahren.
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Sofern besonders wichtige und charakteristische Grundsätze und Normen für die Ausgestaltung des innergesellschaftlichen Friedens in einer Verfassung nierdergelegt sind, folgt aus den bisherigen Ausführungen, daß sie weder den letztlich tragenden Grund noch die Einheit des Staates bildet. Vielmehr bezieht die Verfassung ihre eigene Einheit aus der fundamentaleren Einheit des Staates. Das diese Einheit mitstiftende Konzept des öffentlichen Lebens baut nämlich gleichsam ein Magnetfeld um sich auf, in dem sich alles nach ihm ausrichtet: nicht nur diejenigen Bestimmungen und Regelungen, die sich aus ihm deduzieren ließen, sondern auch solche, die von außen herangetragen, d.h. mit dem Konzept in Einklang gebracht werden. Also haben die Verfassungssätze ihre Einheit darin, daß sie mit dem Konzept übereinstimmen, während sie weder untereinander geordnet sein, noch in ihrer Gesamtheit eine eigenständige oder gar systematische Ordnung bilden müssen. Ein Paradebeispiel dafür, daß um der Wahrung des innergesellschaftlichen Friedens willen u. U. sogar der ausdrückliche Verzicht auf eine einheitliche Ordnung geboten sein kann, ist die tribunica potestas des alten Rom. Eduard Meyer11 bezeichnet das Tribunat als „ein durch und durch revolutionäres Amt, seinem Wesen nach die Negation aller regelmäßigen Staatsgewalt", als Versuch, die Revolution in den Staatsorganismus einzufügen. Gerade dies aber war die Voraussetzung dafür, den innergesellschaftlichen Frieden zwischen Patriziat und Plebs zu wahren12.
" Eduard Meyer, Kleine Schriften I, 2. Aufl. 1924, S.336; Wolfgang Kunkel, Kleine Schriften, 1974, S.586, bemerkt über das Tribunat: „Seine Gewalt war nicht nur von Hause aus revolutionär, sie blieb es im Grunde immer." Jochen Bleichen, Das römische Volkstribunat, in: Chiron, 1981, S.87ff. (98f.): „Es ist erstaunlich, in welchem Ausmaße das Volkstribunat 400 Jahre hindurch auch eine Institution des Widerspruchs gewesen ist und mit welcher Geduld also die in ihm steckenden Möglichkeiten der Lähmung und Ausschaltung staatlicher, von der Mehrheit der Nobilität getragener Politik ertragen wurden." Letzten Endes habe das aber zur Stabilität des politischen Systems beigetragen (S. 100, 105). 12 Zu weit in seiner Kritik an der Vorstellung, die Einheit des Staates erfordere eine in sich einheitliche regulative Ordnung, geht allerdings Detlef Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat, 1977. Das Grundgesetz sei eine Organisation rechtsstaatlicher Spannungspflege und enthalte selbst Struktur-, Prinzipien- und Transformationsspannungen (S.74). Nicht Harmonisierung sei seine Leitvorstellung, sondern das „in sich beständige antinomische Ganze" (S. 26). Hier erscheinen Spannung und Widerspruch geradezu als Konstitutiva des Staates, was sie ihrer Natur nach nicht sein können. Andererseits kann das Einheit stiftende Moment auch nicht - wie etwa bei Carl Schmitt (Verfassungslehre, S. 10) - ein schierer Wille, also etwas „Existentielles" sein. Gegeben sein muß vielmehr ein Konzept, nach dem man sich in jedem Fall richten kann, das aber allgemein genug ist, um das Zusammenleben in Frieden als complexio oppositorum zu akzeptieren.
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5. Das verbreitete Widerstreben, die Tatsache anzuerkennen, daß der Staat, sofern er nicht letztlich auf Gewalt beruht, durch eine Machtdisposition hervorgebracht wird, im Kern also ein Machtgebilde ist, erklärt sich daraus, daß Macht allgemein als etwas ethisch zumindest Fragwürdiges gilt und deshalb als Konstitutivum des Staates nicht in Betracht kommen soll. Doch nimmt Macht nur unter bestimmten Voraussetzungen jene negativen Züge an, die ihr an sich und immer zu eigen zu sein scheinen. Im Grunde ist sie ein ebenso unvermeidliches wie unentbehrliches Element menschlicher Sozialität, nämlich dasjenige Potential, im Zusammenleben von Personen etwas zu bewirken, welches einem aus eben diesem Zusammenleben zuwächst. Das Vertrauen z. B., das jemand genießt, die Unterstützung durch andere, mit der er rechnen kann, mehren sein Vermögen, etwas sozial zu bewirken. Man gewinnt insoweit Macht, als einem aus dem, was andere denken, wollen und tun, Förderung zuteil wird für das, was man selbst beabsichtigt und betreibt 13 . Infolgedessen hängen Größe und Art der eigenen Macht davon ab, wie man den anderen begegnet und mit ihnen umgeht. Man muß deren Interesse anerkennen und in Rechnung stellen, wenn man das eigene wahren und mit Erfolg vorantreiben will. Den dauerhaften Nutzen, den man von anderen haben kann, erlangt man nur, wenn man sie nicht wie Faktoren eines Nutzenkalküls behandelt, sondern in ihrem Person-Sein anerkennt. Daraus aber folgt, daß dem Umgang mit Macht ein ethisches Moment innewohnt, Macht und Ethik sich nicht unvereinbar gegenüberstehen. Es gibt eine Ethik der Macht, und den Staat als Machtgebilde begreifen, heißt nicht, ihn außerhalb der Sittlichkeit zu stellen. Hinzu kommt, daß Machtdispositionen sich nicht in gewissermaßen mechanischem Austarieren von Potentialen und Interessen erschöpfen, sondern zu einem wesentlichen Teil im Medium der Sprache vorgenommen werden. Das geschieht z. B. im Bemühen, eine „gemeinsame Sprache" zu finden, oder im Bestimmen personaler Beziehungen, insbesondere im Definieren einer gemeinsamen Situation. Es sind dies keine schönfärberischen Verkleidungen einer mehr oder weniger unguten Wirklichkeit, sondern ver13 Es kommt hier auf den Unterschied an, der in der Sache besteht zwischen demjenigen Potential, sozial etwas zu bewirken, welches einer durch sich selbst hat (wie z. B. Redetalent oder gute Menschenkenntnis), und dem Potential, welches einem aus Interaktion zuwächst. Welche Bezeichnungen man für die beiden Arten wählt, ist zweitrangig. Hobbes unterschied (Leviathan, Kap. 10) „original" (bzw. „natural") und „instrumental" power; Hannah Arendt, der wir uns anschließen, spricht von „Stärke" und „Macht" (Hannah Arendt, Vita activa oder vom Tätigen Leben, 1960, S. 193 ff.).
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bindliche Festlegungen auf bestimmte Bewertungen, V e r p f l i c h t u n g e n , G e wichtungen
etc. -
verbindlich deshalb, weil man nur „ g e s c h ä f t s f ä h i g "
bleibt, wenn man sich an die Interpretationen, auf die m a n sich mit anderen verständigt hat, auch hält. Sprache kann in dieser W e i s e M e d i u m v o n M a c h t d i s p o s i t i o n sein, weil M a c h t - w i e w i r sahen - interpersonalen Beziehungen entspringt, und diese v o r n e h m l i c h im W e g e des Sprechens und mit den M i t t e l n der Sprache gestaltet w e r d e n . D a s bedeutet schließlich auch, daß d e r Sprache wie i m A l l g e m e i n e n , so auch w e n n sie als Instrument der M a c h t d i s p o s i t i o n benutzt wird, n o r m a t i v e K r a f t eigen ist. A m besten läßt sich das an der D i p l o m a t i e studieren, die mit d e m Instrumentarium gen o r m t e r Sprache wesentlich zur P f l e g e des Friedens zwischen den Staaten beiträgt, und z w a r praxisnäher und den tatsächlichen Verhältnissen angepaßter als dies dem Völkerrecht m ö g l i c h ist14. W i e auf diese W e i s e die Sprache im Verkehr zwischen den Staaten etwas leistet, was vermeintlich A u f g a b e allein des Rechts ist, so tut sie das auch innerhalb des Staates, w o es allerdings w e g e n der D o m i n a n z einer viel umfassender und kraftvoller entwickelten Rechtsordnung weniger zum Bewußtsein kommt.
6. Bei d e r Gewährleistung des innergesellschaftlichen Friedens denkt man zunächst an die staatliche Rechtspflege. Unbeschadet j e d o c h der Leistung, die sie erbringt, sowie der M ö g l i c h k e i t , das als rechtens zu betrachten, was gestörten F r i e d e n w i e d e r herstellt, entspricht w e d e r der Sinn des Rechts in j e d e r Beziehung den Erfordernissen der V e r t i e f u n g des Friedens, noch ist die staatliche Rechtsordnung gleichzusetzen mit d e m Staat als L ö s u n g der A u f g a b e , innergesellschaftlichen Frieden zu stiften. D e n n für das Recht ist der E i n z e l f a l l , der gerecht behandelt b z w . entschieden w e r d e n muß, für den F r i e d e n dagegen ist das gesamtgesellschaftliche Z u s a m m e n l e b e n , die charakteristische
Situation und
spezifische
Herausforderung.
Insoweit
geht es beim Recht und beim Frieden um verschiedene P r o b l e m e . Daher kann es geschehen, d a ß man um des Rechts willen den Frieden stören muß o d e r daß um des Friedens willen u. U . auf Recht verzichtet, j a Recht vielleicht sogar unterdrückt w i r d . U n d während der innergesellschaftliche F r i e d e n mit der Existenz des Staates identisch ist, ist die Verwirklichung des Rechts im W e g e d e r Rechtsfindung, Rechtsetzung und Rechtsanwendung nicht einmal d e n k n o t w e n d i g auf den Staat angewiesen. Es gibt also ' 4 Ein sinnfälliges Beispiel ist die Entschärfung von Konflikten durch Formelkompromisse. Aus reicher Erfahrung skizziert Wilhelm G. Grewe, Friede durch Recht?, 1985, S.22ff., treffend, welche Grenzern dem Völkerrecht gesetzt sind und welchen großen Anteil Politik und Diplomatie an der Lösung des Problems der Friedenssicherung haben.
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zwischen Recht und Frieden - bei gleicher Ursprünglichkeit - diese Unterschiede. Sie verbieten es, die Rechtsordnung als den tragenden Grund des innergesellschaftlichen Friedens und damit des Staates aufzufassen bzw. die Definition des den Frieden gewährleistenden Staates auf seine Rechtsordnung zu reduzieren. Der Gedanke des Rechts ist insofern untrennbar mit dem der Gleichheit verbunden, als gleich begründeter Anspruch gleiche Erfüllung, gleiche Verletzung des Rechts gleiche Ahndung fordern. Daraus folgt, daß sämtliche Einzelentscheidungen darüber, was rechtens ist, untereinander vergleichbar und aufeinander beziehbar werden. Das aber führt notwendigerweise zur Ausbildung einer entsprechend strukturierten, nämlich systematisierten Rechtsordnung.' 5 Dagegen eignet den einzelnen Regeln des Interessenausgleichs, den Gewohnheiten der Situationsgestaltung, den Methoden sprachlicher Konfliktsteuerung etc. - alles Formen partikularer Machtdisposition, die der Pflege des Friedens dienen - keine innere Notwendigkeit der Systematisierung. Im Gegenteil: Da es bei ihnen auf situationsgerechte Anwendung ankommt, müssen und können sie gar nicht untereinander vergleichbar und aufeinander beziehbar sein. So bilden sie in ihrer Gesamtheit kein System, sondern haben ihre Einheit lediglich darin, daß sie mit dem Konzept des öffentlichen Lebens in Einklang stehen müssen. Im neuzeitlichen Staat sind allerdings weite Bereiche der Sicherung und Pflege des innergesellschaftlichen Friedens in Normen positiven Rechts gefaßt. Das bedeutet, daß es außer der aus dem Gedanken des Rechts mit zwingender Notwendigkeit sich zum System entwickelnden Rechtsordnung einen rechtsförmigen und systematisierten Teil der Friedensordnung gibt. Beide, das geordnete Recht und der rechtsförmig ausgestaltete Frieden, sind in der staatlichen Rechtsordnung verquickt, ohne daß dadurch die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede aufgehoben wären. 16 15
Die in der Eigenart des Rechts enthaltene Tendenz, ein System auszubilden, schließt nicht aus, daß dieses System offen bleibt und nicht endgültig erkennbar ist (vgl. Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1967, S. 121 f.). 16 In diesem Sinne verstehe ich Carl Schmitt, wenn er (Verfassungslehre, S. 10) schreibt: „Der Begriff der Rechtsordnung enthält zwei völlig verschiedene Elemente: das normative Element des Rechts und das seinsmäßige Element der konkreten Ordnung. Die Einheit und Ordnung liegt in der politischen Existenz des Staates, nicht in Gesetzen, Regeln und irgendwelchen Normativitäten." (Auf den problematischen „existenzialistischen" Einschlag dieser Feststellung wird noch einzugehen sein!) - Eine vergleichbare Unterscheidung findet sich bei Martin Kriele, Kriterien der Gerechtigkeit, 1963, allerdings mit einer anderen terminologischen Zuordnung: „gerecht" und „ungerecht" bezieht sich immer auf ein menschliches Nehmen, Fordern etc. auf Grund eines Urteils über „Würdigkeit" - z. B. „strafwürdig" oder „lohnwürdig" (S.49); bei der Frage nach „recht" und „unrecht" geht es
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Deshalb sind die Erfordernisse des innergesellschaftlichen Friedens durch die staatliche Rechtsordnung nicht abgedeckt und können auch dieser allein nicht anvertraut werden. Die rechtsförmige Sicherung und Pflege des Friedens im öffentlichen Leben ist nur begrenzt leistungsfähig, u n d dort, w o sie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stößt, muß auf die ursprünglicheren u n d adäquateren Methoden der Gewährleistung und Vertiefung des Friedens zurückgegriffen werden. 17 Der Satz „opus iustitiae pax" ist nur bedingt richtig. Versteht m a n „iustitia" als gerechtes Denken und Tun des einzelnen, so ist „pax" nicht der mit der Existenz des Staates gestiftete innergesellschaftliche Frieden, sondern der friedliche U m g a n g des einzelnen mit seinen Mitmenschen. Versteht man „ p a x " als politischen Friedenszustand, so leistet „iustitia" dazu zwar einen wesentlichen Beitrag, ist aber nicht der tragende Grund. D e r Frieden ist also nicht „das Werk der Gerechtigkeit", sondern das Werk rationaler Machtdisposition, die allerdings, wenn sie wirklich rational ist, auch die Gebote der Gerechtigkeit beachtet. Der Staat als gestifteter innergesellschaftlicher Frieden existiert im Kern nicht als Rechtsordnung und Rechtssubjekt,
Fortsetzung Fußnote von Seite 37 immer in irgendeiner Weise um die Ordnung der sozialen Welt (S.67). Zu fragen ist hier aber, ob man „recht" und „gerecht" derart trennen und verschiedenen Bereichen zuordnen kann. - Ebenfalls um den Unterschied von Recht und Friedensordnung geht es, wenn Otto Bachof (Der Verfassungrichter zwischen Recht und Politik, in: Summum ius summa iniuria, 1963, S.43f.) schreibt, handle es sich für den Zivilrichter um einen Widerstreit zwischen Gesetzestreue und der Einzelfallgerechtigkeit, so finde sich der Verfassungsrichter u. U. in einem Konflikt, der begründet sei durch „ein Auseinandertreten zwischen rechtlichem Gebot und politischer Vernünftigkeit oder gar politischer Notwendigkeit". Das hänge damit zusammen, daß der Verfassungsrichter nicht in erster Linie Einzelfallrichter sei. 17 Die Sätze „summum ius summa iniuria" und „fiat iustitia pereat mundus" verweisen auf die Tatsache, daß jeder Norm eine Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gesetzt ist. Wo das Verfassungsgericht an eine solche Grenze stößt, muß es auf das Konzept entweder der geschriebenen Verfassung oder des öffentlichen Lebens in Frieden zurückgreifen. Würde es die überlastete Norm anwenden, so würde es nicht nur politisch nicht vertretbare Folgen riskieren, sondern auch gegen die Konzepte verstoßen. Ein Beispiel ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 1955 über die Verfassungsmäßigkeit des deutsch-französischen Vertrags betr. ein europäisches Statut für das Saargebiet (BVerfGE4, 157 [177 f.]). Das Gericht stellte fest, eine von einer Besatzungsmacht einseitig geschaffene Lage werde nur hingenommen, „um von ihr aus durch vertragliche Absprachen eine Regelung zu finden, die - soweit politisch erreichbar - den Status des Saargebietes näher an die Vorstellung des Grundgesetzes heranführt". Dies sei eine Verbesserung, auch wenn die Norm des Art. 23 GG nicht erfüllt war. - Es handelte sich in diesem Falle um einen Rückgriff nicht auf das Konzept der Verfassung, sondern auf das des Staates Bundesrepublik Deutschland, wie es u. a. auch durch die Anerkennung der Vorbehaltsrechte der Alliierten für Deutschland als Ganzes und Berlin charakterisiert ist.
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sondern als Machtdisposition und politisches Subjekt. 18 Erst wenn, allerdings auch sobald er als solches existiert, kann er Recht setzen und durchsetzen und selbst Träger von Rechten sein. Es besteht Einigkeit darüber, daß der Staat im Kern ein politischer Tatbestand ist, und oft wird die Sorge geäußert, die freie politische Willensbildung und Gestaltung werde womöglich durch das wuchernde positive Recht erstickt. Wenn dann aber die Machtnatur der Politik zur Sprache kommt, hält man es um der Bonität des Staates willen für geboten, ihn als Rechtsordnung zu definieren. Welcher sittliche Sinn bliebe aber für Politik, wenn man, um den Staat zu erklären und zu rechtfertigen, nur seine rechtliche Seite, nicht aber auch die ethische Qualität rationaler Machtdisposition gelten ließe? - Das klassische Beispiel dafür, in welchem Ausmaß ein Staat im Modus nicht-rechtsförmiger Praxis verbleiben kann, ist die alte römische Republik. Die politische Führerschaft des Adels beruhte auf den Clientelen, deren Substanz nicht ein Rechtsverhältnis, sondern die fides zwischen Patron und Klienten war. In der Sorgepflicht des Patrons und der Treue des Klienten herrschte ein Staatsgefühl, das „stets persönlich und konkret geblieben ist". 19 Ebenfalls durch die fides hatten die Magistrate die Möglichkeit, die an sich äußerst rigorosen Rechtsbestimmungen den Umständen entsprechend gemildert anzuwenden. Der Beamte durfte nicht nur, er sollte von seinen prinzipiell unumschränkten Vollmachten vernünftigen Gebrauch machen im Sinne des Senatsbeschlusses ,,uti ei e re publica fideque sua videretur". 20 Der auctoritas des Senats folgte der Magistrat nicht zuletzt deshalb, weil ein Amtsinhaber anderenfalls soziale Regeln derjenigen Gesellschaftsschicht verletzt hätte, der er selbst angehörte. 21 Diese Regeln waren Bestandteile der staatlichen Ordnung, wie ursprünglich überhaupt die Führung des öffentlichen Lebens zu einem erheblichen Teil auf mores beruhte, die nicht als Gewohnheitsrecht aufzufassen sind, sondern als unreflektierter Usus. Erst als die mores ihre Selbstverständlichkeit verloren, nahmen sie die Qualität von Normen an, die zu befolgen ausdrücklich gefordert wurde. 22 - Übrigens sind fides und 18 Deshalb konnte die Anerkennung der DDR als Staat nicht dadurch vermieden werden, daß man ihr die völkerrechtliche Anerkennung verweigerte, sondern sie vollzog sich, als die Bundesrepublik zu ihr als politischem Subjekt in Beziehung trat. " Franz Wieacker, Vom römischen Recht, 2. Aufl. 1961, S.99; Christian Meier, Res Publica amissa, 1966, S.59: durch die Bindung der Clientel „war der gesamte Staat persönlich geprägt". 20 Ernst Meyer, Römischer Staat und Staatsgedanke, 3. Aufl. 1964, S. 255 ff. 21 Jochen Bleicken, Die Verfassung der römischen Republik, 1975, S. 131 f. 22 Hier hängt allerdings einiges davon ab, wie man „Recht" definiert. Kunkel z. B. unterscheidet klar zwischen den mores maiorum sowie der auctoritas senatus einerseits und den Gesetzen sowie den rechtlich geregelten Zuständigkeiten der Magi-
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auctoritas Beispiele für originäre Machtbeziehungen im oben erläuterten Sinn; mithin kann man die Feststellung, das öffentliche Leben der Res Publica Romana sei wesentlich durch personale Beziehung bestimmt gewesen, auch so verstehen, daß sie weitgehend auf Machtverhältnissen statt auf Rechtsverhältnissen beruhte. In einem Vortrag über den „Zustand des Rechtsstaates" bemerkt Gerd Roellecke,23 zwar habe jeder Staat eine Rechtsordnung, aber nicht in jedem Staat, sondern nur im Rechtsstaat sei das Recht auch Grundlage der politischen Komunikation. So sei z. B. im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation die persönliche Treue, die sich im Lebensverhältnis ausdrückt, Basis der politischen Kommunikation gewesen, nicht das Recht. Als zuletzt eine „Verrechtlichung" des Reiches erfolgte, sei das nicht dessen Vollendung gewesen, sondern einer der Gründe seines Zerfalls. Der Rechtsstaat ersetze - „grob gesprochen" - die Kommunikationsgrundlage „personale Beziehungen" durch die Kommunikationsgrundlage „Recht". Im ganzen sei dies selbstverständlich ein Fortschritt, doch habe die Umstellung auch ihren Preis. So lege sich im Rechtsstaat das Recht wie Eis auf die informellen Beziehungen, ohne welche aber Politik nicht entscheiden, ja kaum verhandeln könne.24
7. Die Gewohnheit ist im menschlichen Leben ein der Orientierung des Handelns dienendes und stabilisierendes Element ersten Ranges.25 Das gilt auch für den Staat. Wenn einer Bevölkerung demokratische Praxis zur Gewohnheit geworden ist, verleiht das einem Staat mit demokratischer Verfassung mehr Festigkeit, als wenn sich die Bürger aufmerksam und pflichtbewußt bemühen, die Gebote des Verfassungsrechts zu befolgen.26 Fortsetzung
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strate andererseits (Kleine Schriften, 1974, S.382, schreibt er: „ D i e Gesetzgebung nahm zu, als die verpflichtende Kraft der Tradition dahinschwand"), bezeichnet aber auch die mores als „Recht". Dagegen kritisiert Jochen Bleicken, Staat und Recht in der römischen Republik, 1978, S.6 und 11, die rigorose Verengung des Staatlichen auf den Rechtssektor und betont - m. E. zu Recht - daß mos nicht GewohnheitsrecA/, sondern einfach usus sei (der, wie noch zu zeigen sein wird, niemals bloß faktisch ist, sondern stets Normengehalt besitzt). 23 In: Cappenberger Gespräche, Bd.21, 1986, S.27ff. 24 Ebd., S. 44. 25 Vgl. den ausführlichen Artikel „Gewohnheit" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974. 26 Wenn Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, 1906, S.5, mit Recht feststellt, Revolutionen änderten das Gesetz, nicht aber das Ge-
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Wird eine Regel, die Gewohnheit war, zum Gesetz, so wechselt sie aus dem Bereich, in dem der Staat von seinen Bürgern getragen wird, in den über, den der Staat selbst gewährleistet. Selbstverständlich trägt auch das Recht erheblich zur Stabilisierung des Staates bei, aber auf eine ganz andere Weise als die Gewohnheit. Denn indem der Staat Recht setzt und von Fall zu Fall durchsetzt, verleiht er sich aus eigener Kraft zusätzliche Festigkeit, während er durch die Gewohnheiten aus der Stärke der Gesellschaft gehalten wird. Solange ein Staatsvolk am Konzept seines Staates festhält, gibt es keinen begründeten Zweifel, daß seine politischen Gewohnheiten einer nach dem gleichen Konzept entwickelten Verfassung nicht entsprächen. Welche Fülle von Gewohnheiten des öffentlichen Lebens es auch im neuzeitlichen Verfassungsstaat gibt und welche nicht zu überschätzende Bedeutung sie für eine verfassungsmäßige Staatspraxis haben, entgeht leicht unserer Aufmerksamkeit wegen der Dominanz des positiven Rechts. Es ist deshalb verdienstlich, daß Helmuth Schulze-Fielitz die Verfassungsgewohnheiten der Bundesrepublik dargestellt und gewürdigt hat. 27 Beispiele dieser von ihm als „informale Verfassungsregeln" bezeichneten Gewohnheiten sind die Verteilung der Ausschußvorsitze im Bundestag, die Praxis der Wahl der Richter der Obersten Bundesgerichte, der Anspruch der stärksten Fraktion, den Bundestagspräsidenten zu stellen, der Parteienproporz bei den Präsidenten und Vizepräsidenten der Bundesoberbehörden etc.28 Im Grunde sind auch Zuständigkeiten und Anteil an der Staatsleitung zwischen Bundestag und Bundesregierung weitgehend durch Gewohnheiten mit dem Konzept der Verfassung konform geregelt. SchulzeFielitz definiert die Verfassungsgewohnheiten als rechtlich nicht geregelte Verfahrensmodalitäten im Verfassungsstaat. Sie seien das zweite Standbein des Verfassungsstaates 2 ' und Bestandteil der politischen Kultur. Es handelt sich auch bei ihnen um Machtdispositionen zur situationsgerechten Regelung politischer Fragen, und zwar in diesem Falle nach dem Konzept des demokratischen Verfassungsstaates. 30 Fortsetzung Fußnote von Seite 40 wohnheitsrecht, was bedeutet, daß sie auch nicht die Gewohnheiten des öffentlichen Lebens ändern, so erinnert das an die Zweischneidigkeit der Sache: Die Gewohnheiten können sich auch gegen offenkundige Fortschritte als resistent erweisen, wie sich am Fortleben der Vorstellungen aus der Zeit vor 1918 in der Weimarer Republik demonstrieren ließe. 27 Helmuth Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984. 28 Ebd., S.21 ff. 29 Ebd., S. 159. 30 Auf dieses Element der Macht bezieht sich Schulze-Fielitz' Feststellung, die informalen Regeln beruhten auf dem Vertrauen, Kooperation und soziale Solidarität stiftenden Prinzip der Reziprozität, von dem politische Verhandlungen lebten
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Schulze-Fielitz' „informale Verfassungsregeln" sind die Antwort auf 7bmuschats Frage „Verfassungsgewohnheitsrecht?". 3 1 Schulze-Fielitz' Empfehlung, Verfassungsgewohnheiten, die man in den Rang von Verfassungsrecht erheben könnte, nicht voreilig rechtlich zu fixieren, und Tomuschats Bedenken gegen eine „feierliche Inthronisierung" der Übung zu Gewohnheitsrecht 3 2 entsprechen einander. Wenn Tomuschat allerdings eine solche Transformation als eine „ v o n der b l o ß e n realen Existenz in die normative" bezeichnet 3 3 und schreibt, „daß es dem vorherrschenden normativen Verfassungsverständnis zutiefst widerspricht, die plumpe [!] Realität ohne weiteres als Rechtserzeugungstatbestand anzuerkennen", 3 4 so liefert er ein Beispiel dafür, daß der Gegenstandsbereich, der sich hinter d e m Begriff „Gewohnheit" erstreckt, nach Art und Bedeutung verkannt wird, wenn man ihn einseitig vom Standpunkt des Rechts aus in den Blick nimmt. 3 5 Man muß dann den Eindruck gewinnen, Gewohnheiten wären für das staatliche Leben und Wirken nur beachtlich, wenn sie sich als würdig erweisen, dem positiven Recht gleichgestellt zu werden. Damit wird aber der Rang der Gewohnheit als eines der Elemente menschlicher Sozialität und ihre daraus unmittelbar sich ergebende Bedeutung auch für den Staat verkannt.
Fortsetzung Fußnote von Seite 41 (S. 118 ff.). Auf das Konzept weist sein Satz: ,Wo einvernehmlich informale Vereinbarungen getroffen werden, lassen sich die informalen Regeln als Aktualisierung der Verfassung ... begreifen" (S. 116). Die Loyalität gegenüber dem Verfassungsstaat bewähre sich deutlicher an der Bereitschaft, die nicht einklagbaren informalen Regeln zu beachten, als im Gehorsam gegenüber erzwingbarem Verfassungsrecht. Dieses aber werde, in tiefem Mißtrauen gegen die Kraft der Verfassungskultur des GG, zu früh in den Bereich politischer und informaler Verfassungsfragen vorverlagert. " Christian Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, 1972. 32 Ebd., S. 151. 33 Ebd., S. 116 34 Ebd., S. 118. 35 Vgl. die Beispiele, die Schulze-Fielitz (FN 27, S. 123 f.) bringt, wie verschieden die Gewohnheit, daß die stärkste Fraktion den Bundestagspräsidenten benennt, schon bezeichnet worden ist, wenn man sie unter dem Blickwinkel des Rechts zu fassen versucht: Satzungsgewohnheitsrecht, parlamentarisches Innengewohnheitsrecht, ungeschriebenes Parlamentsrecht, Verfassungs-Gewohnheitsrecht, Verfassungskonventionalregel, nicht justitiable materielle Verfassungsnorm, Sondernorm zwischen Verfassungsrecht und Verfassungsmoral. - Siehe auch ebd., FN.724: „Das juristische Schrifttum neigt dazu, Überzeugungen von der Richtigkeit einer Regel (Norm) sogleich als Rechtsregel anzusehen, ohne die Vielfalt von nicht-rechtlichen Normtypen zu berücksichtigen."
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8. Die verbreiteten Vorbehalte gegen Rolle und Bedeutung der Gewohnheiten in der Staatspraxis wurzeln in der Befürchtung, den Usus anzuerkennen, liefe auf ein Zurückweichen vor der „normativen Kraft des Faktischen" hinaus. Hinter dieser Formulierung Georg Jellineks36 steht heute die Sein und Sollen polarisierende Vorstellung, es gäbe eine krude soziale Faktizität, in die gebotenes Verhalten erst durch Sollensnormen, insbesondere des Rechts, eingebracht werde. Daher dürfe man nichts als richtig oder gar verbindlich anerkennen, nur weil es tatsächliche Praxis sei. Die soziale Realität ist jedoch insgesamt weit davon entfernt, bloß faktisch zu sein. Sie ist vielmehr durch und durch normativ gehaltvoll und zwar wegen der in ihr selbst ausgebildeten Verhaltensnormen: Gewohnheiten, Gepflogenheiten, Verfahrensweisen etc., die auf Dauer auch nicht brauchbar wären, wenn sie keinerlei sittlichen Gehalt hätten. 37 Man denke nur daran, in welchem Ausmaß und wie selbstverständlich die Goldene Regel das menschliche Zusammenleben leitet. Die Unterscheidung von Wirklichem und Gedachtem ist generell ungeeignet, die Qualität sozialer Realität angemessen zu erfassen. Denn diese ist immer zwischenmenschliche Wirkung entfaltendes Gedachtes, wobei selbstverständlich dessen sprachliche Artikulation eingeschlossen ist. Genauer: Alles hat soziale Realität, was zwischen zwei oder mehr Personen artikuliert wird, insbesondere dann, wenn es von ihnen als für ihre Interaktion geltender Usus betrachtet wird. Diese Realität erweist sich am deutlichsten darin, daß die Interaktion gestört ist, wenn einer das Geltende nicht beachtet, bzw. daß dem Betreffenden daraus nachteilige Folgen erwachsen. Das positive Wirken dieser sozialen Realität ist weniger sinnfällig, weil es bestimmtes Verhalten wie selbstverständlich hervorruft. 36
Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1914, S.337ff. Jellineks Ausführungen über die normative Kraft des Faktischen beziehen sich (in seiner durchwegs psychologisierenden Argumentation) nicht auf einen unmittelbaren Einfluß tatsächlicher Übung auf die Rechtsordnung, sondern auf das, was man heute als Akzeptanz bezeichnet. Das Faktische entfaltet seine normative Kraft also nicht gegenüber dem positiven Recht, sondern gegenüber unserer Psyche. Genaugenommen ist es außerdem bei Jellineks Beispielen nicht das Faktische, sondern die beobachtete Regelmäßigkeit, welche normative Kraft hat. 31 So auch Wilhelm Henke, Staatsrecht, Politik und verfassungsgebende Gewalt: Der Staat 19 (1980), S.210f.: Staatsrechtslehre und Rechtswissenschaft überhaupt seien dadurch in Schwierigkeiten geraten, daß sie die neukantianische Entgensetzung von Sein und Sollen auf das Verhältnis von Politik und Staatsrecht übertragen haben. Jedoch: „... in der Gesellschaft gibt es keine Macht, keine Kraft, keinen Willen und keinen Zustand, der bloß faktisch und nicht zugleich von Zielen, Idealen, Sinn- und Wertvorstellungen, also von einem ,Sollen' geprägt und getragen würde ...".
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Wenn Carl Schmitt zwischen dem Staat als konkret existierender Einheit und einem System von Normen als gedachter ideeller Einheit unterscheidet, 38 so ist dem entgegenzuhalten, daß die „konkrete Existenz" des Staates als soziale Realität, will man sie nicht gerade auf die Menschen, die in ihm leben, reduzieren, ebenso etwas „Gedachtes", nämlich materiell nicht Sichtbares ist, wie ein gedachtes Normensystem soziale Realität ist. Die Rechtsordnung des Staates ist weder mehr noch weniger sozial wirklich als die nicht-rechtlichen Elemente des Staates als politischem Aggregatzustand gesamtgesellschaftlichen Lebens. - Zusätzlich problematisch wird bei Carl Schmitt die Entgegensetzung von Faktizität und Normativität dadurch, daß er Faktizität nicht, wie üblich, als bar jeden ethischen Gehalts und damit der Normativität untergeordnet auffaßt, sondern sie „existentiell" versteht und damit im Rang über alle Normativität stellt. 39 Bezeichnend dafür sind Sätze wie der folgende: 40 „Eine Verfassung ... beruht auf einer aus politischem Sein hervorgegangenen politischen Entscheidung über die Art und Form des eigenen Seins. Das Wort,Wille' bezeichnet... das wesentlich Existentielle dieses Geltungsgrundes." So führt Schmitt dem Begriff nach schiere Faktizität ein, die aber wegen ihrer Ursprünglichkeit über jegliche Norm erhoben, mithin geeignet ist, jegliche Norm zu suspendieren. Nun ist zwar nicht zu leugnen, daß menschliches Dasein einen solchen existentiellen Kern hat, daß es „von allem abstrahieren, alles fallen lassen kann". 41 Ebenso fest steht jedoch, daß es, sobald es sich sozial konkretisiert, nicht mehr in reiner Existenz verharrt. Daher schließen die Begriffe „Existenz" und „konkret", für deren Kombination Schmitt eine Vorliebe hat, einander aus, jedenfalls in der Bedeutung, die sie bei ihm haben. Die geltende Rechtsnorm ist kein gedachtes Sollen, sondern ebenso soziale Wirklichkeit wie eine davon abweichende Praxis. Unterschiedlich ist allerdings der Grad bzw. die Weise der sozialen Aktualität: Einem in Kraft befindlichen, aber nicht befolgten Gesetz mangelt es an sozialer Aktualisierung, aber es bleibt gleichwohl sozial existent. Auf der anderen Seite gibt es keine schiere Faktizität, die die Kraft hätte, Wirkung zu entfalten, als sei sie normativ, sondern der aller sozialen Praxis innewohnende normative Gehalt hat die Kraft, die Anwendung gesetzten Rechts 38
Carl Schmitt, Verfassungslehre, 6. Aufl. 1983, S.3. Vgl. Gerd Roellecke, Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit, 1961, S. 54: Carl Schmitt unterscheide drei Seinsweisen des Staates, die für ihn Stufen vom eigentlichen zum uneigentlichen Staat seien, „denn das Existentielle ist [für Schmitt] der bloßen Normativität überlegen und soll es auch sein" - und zwar, wie man hinzufügen sollte, in begreiflicher polemischer Wendung gegen Kelsens abstrakten Normativismus. 40 Carl Schmitt (FN 38), S.76. 41 Heget, Rechtsphilosophie, §5, Zusatz. 39
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zu beeinflussen; das aber stiftet so lange keinen Schaden, als die Verhaltensnorm dem Gesetz nicht widerspricht.
9. Wenn die den innergesellschaftlichen Frieden gewährleistende Macht nicht auf Gewalt beruht, sondern durch eine gesamtgesellschaftliche Machtdisposition ausdrücklich hergestellt wird, so geschieht das, wie schon gesagt, dadurch, daß die Gesellschaft das Potential, das mit ihrer bloßen Existenz gegeben ist, in die Macht einer handlungsfähigen Instanz transformiert. Mit der Frage, wie man sich das vorzustellen hat, ist auch das Problem der Volkssouveränität 42 aufgeworfen. Die Souveränität besteht bei Bodin darin, daß die gesamte Staatsleitung erstens von keiner übergeordneten Macht rechtlich abhängt und daß sie zweitens bei einer Instanz liegt, die mithin nicht auf die Mitwirkung anderer Instanzen angewiesen bzw. von ihnen nicht abhängig ist. Dieser Begriffsinhalt genügte Bodin, weil er sich hauptsächlich für die Tätigkeit des Staates und nur beiläufig dafür interessierte, wie der Staat entsteht. Fragt man aber danach, so muß die Bestimmung des Begriffs der Souveränität erweitert werden, man muß in sie das Potential einbeziehen, das die zur Staatsleitung befähigte Instanz überhaupt erst hervorbringt und ihr Bestand verleiht. Souverän sein heißt dann nicht nur, die Letztentscheidungen des Gouvernements treffen, sondern auch entscheiden über die Existenz des Staates und darüber, wie er eingerichtet ist.43 42
Ein Beispiel für die gegensätzlichen Auffassungen zu diesem Thema: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, 1986, S. 13, schreibt: „Die Stellung des Monarchen ließ sich nicht mehr anders plausibel verteidigen, als daß man die aus dem Prinzip der Volkssouveränität entwickelten Grundspositionen und Grundbegriffe übernahm und für den Monarchen zu reklamieren suchte." - Dagegen liest man bei Peter Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, 1977, S.231 f.: „Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die neue (seil, demokratische) Legitimationsidee ganz nach dem Vorbild der alten (seil, monarchischen), gegen die sie zu Felde zog, gebildet wurde; daß dem Souverän ein Souverän entgegengesetzt wurde ... Mit dem Versuch, demokratische Legitimität spiegelbildlich der monarchischen Legitimität zuzuordnen, hat die Demokratietheorie sich von Anfang an gewissermaßen selbst in Fesseln gelegt." 43 Neuere Beiträge: Wilhelm Hennis, Das Problem der Souveränität,! 951; Werner v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, 1965; Peter Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität: AöR 92 (1967), S.259ff.; Helmut Quaritsch. Staat und Souveränität, Bd. 1, Die Grundlagen 1970; Peter Graf Kielmansegg (FN 42); Wilhelm Henke (FN 37); Ernst-Wolfgang Böckenförde (FN 42); Helmut Quaritsch, Souveränität, 1986. Man kann die Existenzweise des Staates nicht erörtern, ohne auch über die Souveränität zu sprechen.
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II. Wie der Staat existiert
Versteht man Souveränität nicht lediglich als Rechtsbegriff, und faßt man sie - über Bodin hinausgehend - ganz allgemein als Fähigkeit auf, über etwas uneingeschränkt zu verfügen, so bestehen dafür folgende Voraussetzungen: Erstens muß es ein zum „Verfügen" befähigtes, also ein handlungsfähiges Subjekt geben. Zweitens muß bestimmt sein, auf welchen Gegenstand oder Bereich sich seine Fähigkeit, uneingeschränkt zu verfügen, bezieht; denn eine Möglichkeit, über all und jedes uneingeschränkt zu verfügen, gibt es nicht. Im Prinzip (das heißt: nicht immer in der Praxis) uneingeschränkt verfügbar ist jedem denkbaren Subjekt nur entweder es selbst oder das, was es selbst hervorgebracht hat, sein eigenes Produkt. In beiden Fällen läßt sich Souveränität deshalb auch als Fähigkeit beschreiben, alles auch ganz anders machen zu können, bis hin zu der Möglichkeit, sich selbst auszulöschen und sein eigenes Produkt zu vernichten. Drittens: Wie es keine Möglichkeit gibt, über all und jedes zu verfügen, so gibt es auch keine Unabhängigkeit von all und jedem. Souverän sein kann daher keinesfalls heißen, mit keinerlei Bedingungen konfrontiert zu sein, wohl aber, frei entscheiden zu können, wie man auf Bedingungen reagiert. 44 Die vierte Voraussetzung für Souveränität ist ein Potential, über dessen Einsatz ein Subjekt uneingeschränkt entscheiden kann, denn andernfalls könnte ihm die Fähigkeit, über etwas zu verfügen, entzogen werden. Dieses Potential kann also - um wieder Hannah Arendts Terminologie zu verwenden 45 - nicht Macht sein, die einem aus dem Zusammenleben mit anderen zuwächst, sondern nur Stärke, die man allen durch sich selbst hat. Wendet man diese Merkmale des Begriffs Souveränität auf den nicht auf Gewalt beruhenden, sondern von der Gesellschaft gestifteten Staat an, so ergibt sich folgendes: Souverän sein kann - erstens - ein Volk nicht an sich und überhaupt, sondern nur in bezug auf etwas, worüber es uneingeschränkt verfügen kann. Das ist erstens es selbst, zweitens die Existenz des Staates 46 sowie drittens dessen Konzept und Gestaltung. Da - zweitens Fortsetzung Fußnote von Seite 45 Es ist allerdings ausgeschlossen, auf die breite Diskussion, die darüber geführt wird, im Rahmen eines Aufsatzes einzugehen. Es muß genügen, einen denkbaren Zugang zum Problem zu skizzieren. 44 Helmut Quaritsch, Souveränität, 1986, S.62f., weist darauf hin, daß die Unabhängikeit des Souveräns (hier im Sinne der sog. äußeren Souveränität) auch von Bodin nicht als eine „faktische Machtvollkommenheit" verstanden wurde, sondern als „eine Rechtsbeziehung zu anderen Souveränen". Souverän ist, wer niemandem gegenüber einer Rechtspflicht zum Gehorsam unterworfen ist. 45 s. oben, FN 13. 46 Da es einer Gesellschaft nicht freigestellt ist, ob sie die Aufgabe, innergsellschaftlichen Frieden zu stiften, in Angriff nehmen will, vielmehr das politische Problem eine Lösung erzwingt, geht es nicht um die Entscheidung, ob man überhaupt einen
II. Wie der Staat existiert
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eine Gruppe von Personen als solche nicht, wie die einzelne Person, auf Interaktion mit anderen angewiesen ist, kann ein Volk in dieser Beziehung prinzipiell autark, also gänzlich unabhängig von anderen Völkern, sein; im übrigen aber ist es, genau wie jeder einzelne, mit Bedingungen konfrontiert, jedoch frei zu entscheiden, wie es darauf reagiert. - Drittens: die schlechthin unabhängige Stärke, die Voraussetzung des uneingeschränkten Verfügens ist, besteht in dem Potential, das mit der bloßen Existenz des Volkes gegeben ist; es impliziert ein kollektives Interesse am innergesellschaftlichen Frieden, das als unwiderstehliche Kraft auf dessen Stiftung und Wahrung hinwirkt. 47 Bleibt die Frage zu klären nach dem für die Ausübung der Souveränität erforderlichen handlungsfähigen Subjekt. Sie ist das spezifische Problem der Volkssouveränität. Denn während beim einzelnen Menschen sein Potential, über sich selbst und sein eigenes Produkt (im Prinzip) zu verfügen, und die Fähigkeit, dies auch wirklich zu tun, also zu handeln, in seiner Person ihren gemeinsamen Ort haben, sind im Falle der Gesellschaft das Potential uneingeschränkten Verfügens und die Handlungsfähigkeit an zwei verschiedenen Stellen lokalisiert. Denn die Gesellschaft, die in ihrer bloßen Existenz die unabhängige Stärke besitzt, etwas zu bewirken, umfaßt per definitionem eine Vielfalt von Individuen und verfügt daher weder über Subjekt-Qualität noch über Handlungsfähigkeit. Die Instanz aber, in die sie ihr Potential transformiert, um handlungsfähig zu werden, existiert erstens notwendigerweise getrennt von ihr und verfügt zweitens nicht über unabhängige Stärke, sondern nur über die aus der Transformation ihr zugewachsene, also abhängige Macht. Was also nicht nur dem BeFortsetzung
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Staat haben will, sondern nur darum, ob man diesen oder einen anderen will - was zu verstehen ist in Analogie dazu, daß die Person, da sie im Modus der Interaktion existiert, zwar in bezug auf jede einzelne Interaktion entscheiden kann, ob sie in sie eintreten, an ihr festhalten oder aus ihr ausscheiden will, daß sie aber nicht beschließen kann, auf Interaktion ein für allemal zu verzichten. 47 Das kollektive Interesse am innergesellschaftlichen Frieden ist die gewissermaßen subjektive Seite der Tatsache, daß das politische Problem eine Lösung erzwingt. Unter beiden Aspekten „muß etwas geschehen". Darin liegt die Möglichkeit, die Frage zu beantworten, wie denn die Gesellschaft, obgleich sie nicht handlungsfähig ist, den Staat stiften könne. Der Vorgang ist der gleiche, wie bei dem oben (S.30ff.) erläuterten Entstehen einer handlungsfähigen Instanz: Das elementare Interesse am Frieden drängt zum Handeln und schafft damit Bereitschaft, das Handeln einzelner zu akzeptieren. Wenn daher einzelne Personen im Interesse des innergesellschaftlichen Friedens tätig werden, so geschieht das im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Orientierung und ist allgemeiner Zustimmung sicher. So wird das Handeln einzelner zum Modus eines kollektiven Aktes. - Das kollektive Interesse am innergesellschaftlichen Frieden ist wirkender Wille zum Staat, nicht jedoch schon Wille zu einer Verfassung. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S.919f., spricht von der „sfaa/ibildenden Gewalt"des Volkes.
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II. Wie der Staat existiert
griff, sondern auch der tatsächlichen Wirksamkeit nach eines ist, ist auf zwei verschiedene Stellen, genauer gesagt: auf zwei verschiedene Aggregatzuzstände gesamtgesellschaftlicher Sozialität verteilt. 48 So bezeichnen die Begriffe „Staatssouveränität" und „Volkssouveränität" (bei Staaten, die nicht letzlich auf Gewalt beruhen) zwei Aspekte ein und derselben Sache; bzw. ist Staatssouveränität nicht eine andere Souveränität als Volkssouveränität, sondern sie ist Volkssouveränität im Status der Handlungsfähigkeit. Daher ist die „Staatsgewalt" für sich allein genommen gar nicht souverän, denn sie verfügt nicht über unabhängige Stärke, sondern lediglich über empfangende Macht, die von ihrer Abstammung her eingeschränkt oder auch entzogen werden kann. Und da die „Staatsgewalt" als Instanz ihre Macht der Stärke des Volkes, alles auch ganz anders machen zu können, verdankt, verfügt sie zwar über die für den innergesellschaftlichen Frieden erforderliche Fähigkeit der Letztentscheidung in jedem Einzelfall, aber sie hat weder ein Recht noch auch die Möglichkeit, alles ganz anders zu machen, solange das Volk die Dinge mehr oder weniger so bleiben lassen will, wie sie sind. Die Gesellschaft (das Volk) bleibt das letztlich tragende Fundament; ihr souveränes Potential bleibt, auch wenn der Staat zerstört ist, aber der Staat bleibt nicht, wenn die Gesellschaft ihm ihren Willen, ihn zu tragen, entzieht. Es geht beim Gedanken der Volkssouveränität also weder darum, ein Herrschaftsrec/ii zu begründen, noch wird das Volk zu einer Kollektivperson erklärt, die den einzelnen ihre Eigenständigkeit streitig machte. Sondern zunächst ist ein unumgängliches Erfordernis zu erfüllen, nämlich die für den innergesellschaftlichen Frieden unentbehrliche, überlegene, handlungsfähige Macht herzustellen. Daraus ergbibt sich die Notwendigkeit der Suche nach einem Faktum, nämlich wo in der Gesellschaft es die erforderliche Überlegenheit gibt. Die Antwort kann nur lauten, daß über diese Überlegenheit nur die Gesellschaft als solche und ganz verfügt. Damit schließlich kommt als zweites Faktum in den Blick, daß die Gesellschaft als solche nicht handlungsfähig ist. So ergibt sich die Einsicht, daß 48
Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 2. Aufl. 1949, S. 320 ff., erörtert diesen Tatbestand als „inneres Mißgeschick" des objektiven Geistes: Der Staat muß handeln, aber der objektive Gemeingeist, dem diese Aufgabe zufallen müßte, hat keine Personalität und daher auch nicht das für das Handeln notwendige Bewußtsein. Deshalb muß der Staat zu einem Surrogat greifen: In Ermangelung eigener Personalität muß er eine Einzelperson zu Hilfe rufen. Er hebt ein repräsentierendes Individuum an die leere Stelle des leitenden Bewußtseins. Es bleibt aber bei der Fundamentaltatsache, „daß der objektive Geist kein adäquates Bewußtsein seiner selbst hervorbringt. Er bleibt auf das stellvertrende Bewußtsein angewiesen, und dieses bleibt notwendig inadäquat." - Die Ausbildung einer handlungsfähigen Instanz, die Subjekt ist, ohne Person zu sein, ist bei Hartmann allerdings übersprungen.
II. Wie der Staat existiert
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die Momente der unentbehrlichen, überlegenen, handlungsfähigen Macht an zwei Stellen lokalisiert sind. Und weil die beiden Stellen äußerst entgegengesetzt sind, ist es möglich, auf der einen Seite die Instanz der Letztentscheidungen darauf zu reduzieren, daß einer „den Punkt aufs I setzt", auf der anderen Seite aber das ius maiestatis des Volkes darin realisiert zu sehen, daß es alles auch ganz anders machen könnte.
III.
Von der Föderation zur Republik souveräner Staaten
Über die Fakten und Probleme der Staatenföderation sowie über den Verlauf und derzeitigen Stand der einschlägigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung informiert mit dankenswerter Gründlichkeit Otto Kimminich in Isensee/Kirchhofs „Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland". 1 Demnach zweifeln nicht wenige Autoren, ob eine Theorie des Föderalismus überhaupt möglich sei, bzw. haben viele Autoren eine allgemeine Theorie des Bundesstaates für unmöglich gehalten. Dazu stellt Kimminich zutreffend fest, daß Föderalismus und Bundesstaat nicht dasselbe sind. Denn, so zitiert er Konrad Beyerle: „Bundesstaat ist eine staatsrechtliche Denkform für die Erfassung zusammengesetzter Staatsgebilde, deren Teile Staatscharakter tragen. Föderalismus ist die grundsätzliche Einstellung politischer Art, die diese zusammengesetzten Staatsgebilde als solche erhalten, sie vor dem Aufgehen im Einheitsstaat bewahren will." 2 N u n könnte man sich, da bundesstaatliche Praxis offenkundig nicht darunter leidet, daß die Wissenschaft mit einer Theorie der Staatenföderation ihre Schwierigkeiten hat, weitere Mühe sparen. Es verbleibt jedoch ein Anreiz, weil auch die Arbeiten über die Praxis der Staatenföderation im allgemeinen und des Bundesstaates im besonderen auf zwei Fragen einer befriedigenden Antwort ermangeln. Erstens nämlich erweisen sich die beiden üblicherweise verwendeten Begriffe „Staatenbund" und „Bundesstaat" als ungeeignet, die tatsächlichen Zusammenschlüsse in ihrer Vielfalt zutreffend zu erfasssen. Eher verstellen sie den Blick darauf, wenn auch beide einen hilfreichen Hinweis bieten: Denn der Staatenbund ist eben ein „ B u n d " und der Bundesstaat ein „Staat". Unbefriedigend bleibt zweitens, daß jeglicher Zusammenschluß von Staaten unter einer ihnen gemeinsamen Ordnung theoretisch nur möglich zu sein scheint, wenn man sich ein Moment des neuzeitlichen Staates, nämlich die Souveränität, auf seiten der sich Zusammenschließenden wegdenkt. Denn wenn man Souveränität als die unbeschränkte und unteilbare Macht eines Staates auffaßt, dann geht diese unvermeidlich verloren, wenn er sich mit seinesgleichen einer gemeinsamen Ordnung unterwirft. Im Fall der Bundesrepublik Deutschland ist das Dilemma nicht zu übersehen. Hier sind die Länder zweifellos Staaten, da nach A r t . 3 0 G G die Ausübung der staatlichen Be1 Otto Kimminich, Der Bundesstaat, in: Isensee, Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, Heidelberg 1987, S. 1113 ff. 2 Ebd., S. 1114.
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III. Von der Föderation zur Republik souveräner Staaten
fugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben originär Sache der Länder ist. Dem ist auch das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtssprechung gefolgt. Nach seiner von Anfang an vertretenen Auffassung sind die Länder Staaten „mit eigener - wenn auch gegenständlich beschränkter - nicht vom Bund abgeleiteter, sondern von ihm anerkannter staatlicher Hoheitsmacht" [BVerfGE 1,14 und 1,34], Wie aber soll das möglich sein, wenn man die Souveränität einerseits als begriffsnotwendiges Merkmal des neuzeitlichen Staates und andererseits als unteilbare, unbeschränkte und unbeschränkbare Macht eines Staates bestimmt? Um zu klären, worum es sich bei allen Staatenföderationen - sei es ein Staatenbund oder ein Bundesstaat oder ein Gebilde des Übergangs aus jenem in diesen - eigentlich handelt, mögen zunächst einige allgemeine Bemerkungen über soziale Interaktion und soziale Ordnung hilfreich sein. Da Staaten Subjekte sind - wenn auch nicht-personale Subjekte - , gestaltet sich ihre Interaktion im wesentlichen nicht anders als die Interaktion natürlicher Personen. Wie hier, so bilden sich auch dort im Verlauf der Interaktion von den jeweils Beteiligten gemeinsam anerkannte Verhaltensweisen und Gewohnheiten aus, die zum Teil zu Rechtsregeln verfestigt und zu Institutionen verdichtet werden. Insoweit objektiviert sich die Interakion gegenüber den Beteiligten zu einer für sie verbindlichen Ordnung. Mithin ist jede soziale Ordnung sowohl Ergebnis als auch Regelung sozialer Interaktion. Fluente Interaktion und feste Ordnung sind stets gleichzeitig gegeben, wobei von Fall zu Fall eines dieser beiden Momente dominiert. Wenn sich nun Staaten zu einem Staatenbund zusammenschließen, ist die Ordnung, die daraus entsteht bzw. die sie sich ausdrücklich geben, eine genossenschaftliche (man denke z. B. an „Bundesgenossenschaft" oder „Eidgenossenschaft"). „Genossenschaftlich" aber heißt, daß es sich in erster Linie um einen Modus von Interaktion handelt. Sie ist zwar an einer gewissen Ordnung orientiert; doch objektiviert sich diese nur unwesentlich gegenüber den Beteiligten, denn ihre Geltungskraft bleibt jederzeit auf deren souveränes Wollen angewiesen. Das wichtigste Beispiel dafür ist der genossenschaftliche Charakter des Völkerrechts. Der Staatenbund ist demnach genossenschaftliche Interaktion, ein Prozeß mit fließenden Übergängen zwischen Stadien loserer oder engerer, schwächerer oder intensiverer Verbundenheit. Eines dieser Stadien zu fixieren und als die bestimmte, für die Beteiligten verbindliche Ordnung aufzufassen, ist nicht ohne Willkür möglich; staatenbündische Zusammenschlüsse nach Art einer Staatsformenlehre darzustellen führt in die Irre. Ulrich Scheuner sagt sogar vom Bundesstaat: „Weniger als andere Staatstypen kann ein föderaler Staatsaufbau durch Beharren für lange Dauer auf einem bestimm-
III. Von der Föderation zur Republik souveräner Staaten
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ten Stande gehalten werden." 3 Daß dies für alle Zusammenschlüsse von Staaten gelten sollte, könnte seinen Grund dann allerdings nicht mehr in der Genossenschaftlichkeit haben. Es wird zu zeigen sein, daß dafür die Ursache in der Eigenart der Interaktion nicht-personaler und daher autarker Subjekte zu suchen ist.4 Wenn Franz Jerusalem einmal schrieb, alles soziale Leben habe „föderalistischen" Charakter 5 , so hat er damit die Tatsache, daß Föderationen in erster Linie Modi von Interaktionen und nicht Strukturen von Ordnungen sind, erfaßt. Allerdings hat er es durch eine deformierende Überdehnung des Begriffs „föderalistisch" ausgedrückt. Genossenschaftliche Föderation ist ein Modus von Interaktion, nicht aber ist jede Interaktion genossenschaftlich bzw. „föderalistisch". Die Frage, wie sich ein Zusammenschluß von Staaten unter einer gemeinsamen Ordnung mit deren Souveränität vertrage, wird bei jeglicher Staatenföderation akut, im Grunde aber stellt sie sich schon bei jeder Interaktion von Staaten überhaupt. Denn schon diese ist nicht möglich, wenn die Beteiligten auf ihrer je eigenen, als total gedachten, Unabhängigkeit und Selbstherrlichkeit beharren; vielmehr müssen sie sich wechselseitig aufeinander einstellen und in diesem Maße auf Abhängigkeit voneinander einlassen. Erkennt und akzeptiert man das, dann läßt sich der absolute Begriff von Souveränität nicht mehr aufrechterhalten. Vielmehr muß man sich entweder mit wenig überzeugenden Aussagen helfen, z.B. mit der Annahme operieren, es gäbe „geteilte" oder „doppelte" Souveränität, was Peter Häberle einmal treffend als „Begriffsartistik" bezeichnet hat. Oder man muß unterstellen, daß Souveränität kein notwendiges Moment des Staates sei, es also neben souveränen auch nicht-souveräne Staaten gäbe. 6 Das führt zumindest dann nicht weiter, wenn es um den typisch neuzeitlichen Staat geht. Denn sofern dessen Staatsgewalt vom Volke ausgeht, also auf der Volkssouveränität gründet, kann er nicht anders denn souverän gedacht werden. Es führt schließlich auch nicht weiter, mit Kimminich anzunehmen 7 , die Souveränität eines Bundesstaates liege allein beim Bund und das Bund-Länder-Verhältnis reduziere sich damit auf Kompetenzfragen. Denn wenn - wie im Falle der Bundesrepublik Deutschland - die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen 3
Ulrich Scheuner, Struktur und Aufgabe des Bundesstaates in der Gegenwart, in: DöV 1962, S.641 ff. (648). 4 Siehe unten S. 56. 5 Franz W. Jerusalem, Die Staatsidee des Föderalismus, Tübingen 1949, S.6. 6 Peter Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, in: AöR 1967, S.259ff, (262f.). 7 Kimminich (Anm. 1), S. 1124 f.
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Aufgaben Sache der Länder ist, dann sind damit die wesentlichen Aufgaben des Staates gemeint, deren Erfüllung im neuzeitlichen Verfassungsstaat Souveränität voraussetzt. Ursache all solcher Schwierigkeiten ist, daß es die hier unterstellte absolute Souveränität überhaupt nicht geben kann, daß sie vielmehr nicht nur bei jedem Staat, sondern bei jedem Subjekt überhaupt ein Ding der Unmöglichkeit ist. Denn jedes Subjekt - jeder Staat wie auch jeder Mensch - ist unendlich vielen Bedingungen unterworfen, über die sie sich nicht zum Herren machen können, wie groß ihre Macht auch immer sein mag. Vielmehr gilt folgendes: Es gehört zur Subjekt-Qualität eines jeden Subjekts, daß es handlungsfähig und daß es insofern in der Tat absolut frei ist, als es im Prinzip nach eigenem Gutdünken von dieser Fähigkeit Gebrauch machen kann. So kann es erstens uneinschränkbar über sich selbst verfügen: „Der Mensch allein kann alles fallen lassen, auch sein Leben" 8 ; doch gilt das auch für ein Staatsvolk, denn es kann seine Verfassung „fallen lassen" und sich einem Despoten unterwerfen. Zweitens kann jedes Subjekt wenigstens teilweise über das verfügen, was es selbst hervorgebracht hat: Man kann einen Brief, den man geschrieben hat, abschicken oder behalten und dann aufheben oder vernichten. Drittens gibt es - und das gilt für die weit überwiegende Mehrzahl aller Fälle - die letztlich wirklich absolute Freiheit des Subjekts, zu entscheiden, wie es auf Bedingungen, denen es unterworfen ist, reagiert - was übrigens immer auch ein gewisses Verfügen über sich selbst einschließt. In diesen Fällen wird das Subjekt allerdings in Rechnung stellen, welche Folgen sein Verhalten für es selbst hat; dann wird es häufig etwas, was es an sich zu tun durchaus willens und in der Lage wäre, unterlassen, weil es sich damit mehr schaden als nützen würde. Diese freie Willkür des Handelns mit ihren drei Möglichkeiten ist unmittelbar Moment der Subjekt-Qualität überhaupt, steht also jedem Subjekt zur Verfügung. Im Falle der natürlichen Person pflegen wir sie als Fähigkeit der Selbstbestimmung zu bezeichnen, im Falle des Staates, in dem sich ja eine Bevölkerung als handlungsfähige Einheit und damit als Subjekt konstituiert, sprechen wir von „Souveränität". Diese aktualisiert sich nach innen als Macht zur Letztentscheidung und ist im Außenverhältnis Grund der Gleichheit des Staates mit allen anderen Staaten. „Originär" oder „ursprünglich" sind die Fähigkeit der Person zur Selbstbestimmung und die Souveränität des Staates, weil sie - wie gesagt - unmittelbar Moment der Subjekt-Qualität sind, also mit Notwendigkeit dem Subjekt-Sein
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Georg W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, §5, Zusatz.
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entspringen. Das bedeutet im Falle der Souveränität, daß sie einem Staat auch dann eignet, wenn sich dessen Bevölkerung nicht aus eigener Initiative als solche konstituiert hat, sondern Staatlichkeit ihr von dritter Seite zuerkannt wird. Denn, wie bei allen sozialen Tatbeständen, so ist auch im Falle des Staates „ursprünglich" nicht das, was irgendwie „von Natur aus" ist, sondern was sozial „gesetzt" wird. So ist es ja z. B. sozial auch gleichgültig, ob ein Mensch durch Zeugung oder durch Adoption Kind seiner Eltern ist. Etwas komplizierter, wenn auch nicht wesentlich anders als bei der Selbstbestimmung der natürlichen Person, liegen die Dinge bei der Souveränität des Staates aus folgendem Grund: Bei der Selbstbestimmung der Person haben das Potential, über sich selbst zu verfügen und frei auf Bedingungen zu reagieren, einerseits und die Fähigkeit, entsprechend zu handeln, andererseits ein und denselben Ort. Im Falle des Staates dagegen liegt das Potential der freien Willkür beim Volk, das jedoch als Aggregation von Einzelpersonen nicht handlungsfähig ist, während die Handlungsfähigkeit beim Staat liegt, der das dafür nötige Potential nicht durch sich selbst hat, sondern vom Volk anvertraut erhält: Die Staatsgewalt geht vom Volke aus, und der Staat übt sie aus. Hier sind also die zwei notwendigen Momente der Souveränität auf zwei Orte aufgeteilt. Man kann diese Besonderheit dahin gehend zusammenfassen, daß der Staat souverän und handlungsfähig ist, weil er Subjekt ist, daß er aber, weil er ein künstliches Subjekt ist, sein Potential, etwas zu bewirken, von derjenigen Stelle, nämlich dem Volk, beziehen muß, die ihn hergestellt hat, um durch ihn handlungsfähig zu werden. Nicht anders als die Fähigkeit der Person zur Selbstbestimmung verleiht auch die Souveränität dem Staat nicht unbeschränkte Macht, sondern nur die freie Willkür, wie er auf Bedingungen, denen er unterworfen ist, reagiert. Dieses Moment der Souveränität als Eigenschaft des Staates gestattet es, sie sinnvollerweise auch als Rechtsbegriff auszulegen und zu verwenden. Denn bei der Souveränität als Tatbestand handelt es sich genau wie bei der Souveränität als Rechtsbegriff nicht um eine unbeschränkte Freiheit, soziale Fakten zu schaffen, sondern um die unbeschränkte Freiheit, mit sozialen Fakten umzugehen. Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Souveränität des Staates kein leerer Wahn und keine überholte Vorstellung ist, sondern eine ebenso reale wie unauslöschliche Eigenschaft, die der Staat hat, weil er Subjekt ist. Er kann im Verkehr mit seinesgleichen alles das tun und lassen, was die natürliche Person im Verkehr mit ihresgleichen tun und lassen kann, und er verliert dabei so wenig etwas von seiner Souveränität, wie diese dabei etwas von ihrer Fähigkeit zur Selbstbestimmung verliert. Versteht man Souveränität richtig, so kann es einerseits keinen Staat geben, der nicht,
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da er Subjekt ist, souverän wäre, wie andererseits Souveränität mit jeglicher Art von Interaktion wie auch Föderation bzw. mit jeglicher Art von Zusammenschlüssen problemlos vereinbar ist. Der Staat kann dabei sogar weitgehend auf die Ausübung oder Aktualisierung seiner Souveränität verzichten, ohne daß dadurch seine Subjekt-Qualität - und das ist seine Souveränität - tangiert würde. Auch in diesem Punkt besteht volle Entsprechung zur Selbstbestimmung der Person. Weil die Staaten nicht-personale Subjekte und weil sie deshalb autark sind, verbleibt in jedem Zusammenschluß von Staaten, mag er auch noch so eng sein, ein föderaler Rest. Das gälte auch, wenn der Zusammenschluß überhaupt nicht mehr ein föderativer, sondern einer nach Art des neuzeitlichen Verfassungsstaates (der hier, um das Formulieren zu vereinfachen, als „Republik" bezeichnet werden soll) wäre. Im Effekt allerdings lägen in unseren Tagen die Dinge in einer von Staaten gebildeten Republik nicht anders als in einer Republik natürlicher Personen. Denn einerseits eignet dem Dasein der natürlichen Personen ebenfalls ein Moment der Autarkie, da es in seinem Kern alle Sozialität transzendiert. Andererseits sind die Staaten unserer Zeit in so enge allseitig-wechselseitige Abhängigkeit geraten, daß sie auf Interaktion zwar nach wie vor nicht angelegt, trotzdem aber de facto darauf angewiesen sind. Eine Staatenrepublik, also ein nach dem Konzept des neuzeitlichen demokratischen Verfassungsstaats konstituierter politischer Verband, dessen Subjekte Staaten sind, ist aber nicht nur möglich (wie es - zumindest im Ansatz - die Vereinten Nationen beweisen), sondern er ist auch nötig, weil die genossenschaftliche Föderation von Staaten in dem Maße, in dem der Zusammenschluß enger und intensiver wird, dazu führt, daß der Zentralstaat die Gliedstaaten dominiert. Das läßt sich am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland zeigen. Es ist hier nicht erforderlich, die Entwicklung der Bundesrepublik vom Entwurf des Parlamentarischen Rates, der auf eine größtmögliche Verwirklichung der Eigenart und Eigenständigkeit der einzelnen Länder abzielte, zum „unitarischen Bundesstaat", in dem die vollständige Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse herrscht, nachzuzeichnen; es genügt vielmehr das Fazit, das der Erfinder dieses treffenden Begriffs, Konrad Hesse, aus der Verwandlung zog, zu referieren.' Seine Beschreibung des unitarischen Charakters unserer bundesstaatlichen Ordnung mündet in der Feststellung (S. 31 f.), das, was deren Wesen ausmache, liege nicht mehr im Bereich föderalistischer Gedanken; der Bundesstaat beruhe nicht mehr auf dem „bündischen" [die Anführungszeichen setzt Hesse!] Prinzip. Damit fordert er die Frage heraus, auf welchem Prinzip statt dessen un' Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962.
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sere Ordnung beruht. Als Antwort wird hier behauptet, daß die Bundesrepublik in Wirklichkeit kein Bund, sondern eine Staatenrepublik ist. Der entscheidende Schritt zu einem grundlegend anderen Zusammenschluß von Staaten erfolgt, wenn diese, anstatt eine genossenschaftliche Vereinigung zu bilden, sich als Staat konstituieren. So entsteht ein Staat, dessen Bürger Staaten sind. Das geschieht auf genau die gleiche Weise, wie wenn eine Aggregation natürlicher Personen sich als Staat und damit als handlungsfähige Einheit konstituiert. Es entsteht nämlich, um es mit Rousseau treffend auszudrücken, ein „moi commun", eine „personne publique". Das aber ist keine Föderation mehr, wie man die Spannweite dieses Begriffs auch dehnen mag, sondern es ist eine Republik, ein Staatenstaat nach dem Konzept des neuzeitlichen demokratischen Verfassungsstaates, eine Staatenrepublik mit „Bürgerstaaten". Jeder dieser beteiligten Staaten behält seine volle Souveränität, so wie die einzelnen natürlichen Personen nichts von ihrer individuellen Selbstbestimmung dadurch einbüßen, daß sie sich als Republik konstituieren und damit teilweise auf die öffentliche Aktualisierung ihrer Selbstbestimmung verzichten. Der Volkssouveränität der Personenrepublik entspricht in der Staatenrepublik das Potential freier Willkür, das den beteiligten Bürgerstaaten in ihrer Gesamtheit eignet. Diese Souveränität des Kollektivs ist eine andere als diejenige, die jeder dieser Staaten für sich besitzt. Und für diese Souveränität der Gesamtheit der beteiligten Staaten gilt das gleiche wie für das Potential freier Willkür einer Aggregation natürlicher Personen, daß es nämlich der Handlungsfähigkeit entbehrt. Um diese zu erlangen, müssen die beteiligten Staaten den Status eines „moi commun", einer „personne publique" gewinnen. Wie der Souverän einer Republik natürlicher Personen deren Gesamtheit (das Volk) ist, so ist der Souverän der Staatenrepublik die Gesamtheit der beteiligten Staaten. Von ihnen geht die Staatsgewalt aus, sie sind - wie es sich für eine Republik gehört - zugleich Regierende und Regierte. Treffend formuliert hat das Georg Jellinek, wenn auch noch unter dem Begriff „Bundesstaat": „Der Bundesstaat ist ein aus einer Mehrheit von Staaten gebildeter Staat, dessen Staatsgewalt aus seinen zu staatlicher Einheit verbundenen Gliedstaaten hervorgeht. Er ist eine staatsrechtliche Staatenverbindung, die eine Herrschaft über die verbundenen Staaten aufrichtet, deren Teilnehmer jedoch stets die Staaten selber sind, so daß sie zugleich in ihrer Gesamtheit herrschen oder doch mitherrschen, als einzelne hingegen auf bestimmten Gebieten Untertan sind." 10 Und wie in einer Republik na10 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Darmstadt i960 3 , S.769. In seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" (Akad. Ausg., Bd.VIII, S.340ff.) betrachtet Kant den „freien Föderalismus" keineswegs als Ideal, sondern als „Surrogat des bürgerlichen
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türlicher Personen diese im Prinzip darauf verzichten, dem Staat gegenüber die absoluten Möglichkeiten ihrer Selbstbestimmung zu aktualisieren [Hobbes würde sagen: auf ihre natürliche Freiheit zu pochen], ohne daß diese dadurch in ihrer Substanz gemindert würde, so verzichten die Bürgerstaaten im Prinzip darauf, ihre Souveränität zu aktualisieren, ohne daß auch diese dadurch tangiert würde. Die Souveränität eines Staates umschließt, genau wie die Fähigkeit der Person zur Selbstbestimmung, auch die freie Entscheidung, ob und gegebenenfalls mit welcher Intensität er davon Gebrauch macht. Das kann sich zunächst auf die Ausübung der Souveränität beziehen, also auf die Erledigung bestimmter dafür spezifischer Aufgaben und Wahrnehmung entsprechender Rechte. Darauf kann der Staat teilweise zugunsten anderer Instanzen verzichten, ohne dadurch seiner Souveränität verlustig zu gehen. So können die Länder der Bundesrepublik Deutschland auf die Ausübung souveräner Kompetenzen zugunsten des Bundes ebenso verzichten, ohne ihre Souveränität aufzugeben, wie das der Bund nach Art. 2 4 1 G G zugunsten „zwischenstaatlicher Einrichtungen" tun kann. Wichtiger für unser Thema ist eine weitere Möglichkeit, nämlich der Verzicht auf das, was hier als Aktualisierung der Souveränität bezeichnet werden soll, womit gemeint ist, diese geltend zu machen bzw. auf ihr zu insistieren. „Aktualisieren" heißt dabei, etwas, was es an sich gibt, sozial, d. h. im Zusammenleben mit anderen Menschen, für diese wahrnehmbar zu machen und zur Wirkung zu bringen. Ein Verzicht darauf bedeutet niemals, daß es das, was nicht mehr aktualisiert wird, nicht mehr gäbe bzw. daß man es nicht mehr tun könnte. Man kann das an Art. 32 II G G demonstrieren, nach dem die Länder ihre Fähigkeit, Verträge mit ausländischen Staaten zu schließen, nicht dadurch verloren haben, daß die Zuständigkeit für Außenpolitik beim Bund liegt. D a ß im Falle der Bundesrepublik die Länder zwar vor deren Gründung existierten, ihre Fortexistenz aber der Entscheidung des Verfassungsgebers verdanken, tut ihrer Souveränität keinen Abbruch. Denn diese ist - wie oben dargetan - als Moment der Subjekt-Qualität unabhängig davon, ob ein Subjekt „von Natur aus" existiert oder durch soziale Setzung. Selbstverständlich hat das Bundesverfassungsgericht recht, wenn es [BVerfGE 13,78 f.] sagt, daß Bundesstaat ein „Bündnis" von Gliedstaaten begrifflich voraussetze. Wenn aber das noch so genannte „bundesstaatliche" Element unseres Staates gar nicht mehr Fortsetzung
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Gesellschaftsbundes" (S.357). Da die Staaten sich nicht zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen wollen, „so kann an Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten . . . " (S.357).
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auf dem „bündischen Prinzip" beruht, sondern wenn es sich in Wirklichkeit um eine Staatenrepublik handelt, dann besteht kein Anlaß mehr, die Entwicklung, die sich in vier Jahrzehnten von einem am Subsidiaritätsprinzip orientierten Konzept zur Wirklichkeit des „unitarischen Bundesstaates" vollzogen hat, als Sünde gegen den Geist des Föderalismus zu beklagen. Statt dessen ist festzustellen, daß sich das, was bereits der Verfassungsgeber im Grunde und tatsächlich geschaffen hat, gegen dessen eigene föderalistische Ideologie unaufhaltsam durchsetzen mußte. Der Föderalismus, der von Anfang an eigentlich keiner war, mußte zu dem werden, was man heute unzureichend als „Mitbestimmungs"- oder „Beteiligungs"-Föderalismus bezeichnet, weil die Bürgerstaaten in der Republik, als die sie sich in Wirklichkeit konstituiert hatten, gleichzeitig Regierte und Regierende sind. Allerdings steckt hier - im Gegensatz zur Republik natürlicher Personen - insofern ein Problem, als die Privatautonomie der Bürger prinzipiell etwas anderes ist als die Kompetenzen des Staates, während in der Staatenrepublik den Bürgerstaaten gewisse Kompetenzen garantiert bleiben müssen, die von gleicher Art wie die ihrer Republik sind. Diese könnten, jene (nämlich die Rechte der Privatautonomie) dagegen könnten nicht allesamt der Republik übertragen werden. Unvermeidlich, aber ebenfalls nicht negativ zu bewerten, war auch die Entwicklung zum „Regierungsföderalismus", weil die Länder als Subjekte Bürger ihrer Republik sind und weil sie deswegen als Teilhaber der Regierung dieser Staatenrepublik mit dem Organ präsent sein müssen, in dem ihre Subjekt-Qualität und Handlungsfähigkeit am konkretesten realisiert ist, also mit ihren Regierungen. Nicht mehr anstößig ist schließlich auch die konsequente Herstellung der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse", weil sie als Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes unter den Bürgerstaaten aufzufassen ist. Wie die Republik natürlicher Personen ihren Bürgern die Individualgrundrechte, vor allem auf Leben und freie Entfaltung der Persönlichkeit, so garantiert die Staatenrepublik ihren Bürgerstaaten deren Existenz und - wie es das Bundesverfassungsgericht einmal ausgedrückt hat [BVerfGE 49,20] die freie Grundentscheidung über die Landesverfassung sowie einen Kernbestand eigener Aufgaben, der als „Hausgut" unentziehbar bleibt, samt dem dafür nötigen Anteil am Gesamtsteueraufkommen. Die Bestimmungen des Art. 79 III G G gewinnen dadurch einen neuen Sinn, der nicht mehr von dem Problem belastet ist, ob denn ein Volk sich selbst verbieten könne, eine Ordnung, die es sich selbst gegeben hat, zu ändern. Denn in der Staatenrepublik bedeutet die „Ewigkeitsgarantie", d a ß die Staatenrepublik ihren Bürgerstaaten das Recht auf Leben und freie Entfaltung in der gleichen Weise garantiert, wie es die Republik natürlicher Personen ihren Bürgern gegenüber tut.
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III. Von der Föderation zur Republik souveräner Staaten
Postskriptum: Da Europa sich als politischer Verband konstituieren muß, da dies aber nicht gegen die Nationalstaaten möglich ist, sondern nur mit ihnen, bietet die Staatenrepublik sich als geeignete Lösung an. Jede Stärkung der Zentralgewalt erfolgt dann nicht auf Kosten, sondern durch die im Gesamtstaat „mitregierenden" Bürgerstaaten selbst. Zudem haben diese die Möglichkeit, im Verlauf zukünftiger Entwicklung jeweils situationsgerecht die Aktualisierung ihrer Souveränität zu vermindern.
IV.
Die Ethik der Macht
Die Fähigkeit eines Menschen, etwas sozial - also im Zusammenleben mit seinesgleichen - zu bewirken, ist ihm teils unmittelbar eigen, teils gewinnt er sie erst aus eben diesem Zusammenleben. Zur ersten Art gehören zum Beispiel Muskelkraft, körperliche Gewandtheit, ein gutes Gedächtnis, Scharfsinn und Schlagfertigkeit; solche Eigenschaften besitzt man durch sich selbst und verfügt darüber unabhängig von anderen Menschen. Beispiele der zweiten Art sind Sympathie, die einem entgegengebracht wird, Vertrauen, das man genießt, ein Zusammenstimmen von Interessen, das einem beim Verfolgen eigener Belange die Unterstützung anderer Leute verschafft. In diesen Fällen wächst einem das Vermögen, etwas sozial zu bewirken, aus der Einstellung und dem Verhalten anderer zu; es bleibt davon allerdings auch abhängig - beziehungsweise von der Art und Weise, wie man selbst den anderen begegnet und mit ihnen umgeht. Solche Beziehungen müssen nicht positiv gemeint sein, auch die negative Einstellung oder Gleichgültigkeit anderer Menschen kann jemandes Potential vergrößern, etwa wenn sie vor ihm Angst haben („oderint dum metuant") oder hinnehmen, was er tut, weil sie in Ruhe gelassen sein wollen. Alles Vermögen, etwas sozial zu bewirken, das der einzelne unmittelbar durch sich selbst hat, soll hier als „Stärke" bezeichnet werden, und das Potential, das ihm aus dem Zusammenleben mit anderen zuwächst, als „Macht". Macht gewinnt man also insoweit, als einem aus dem, was andere denken, wollen und tun, Förderung zuteil wird für das, was man selbst beabsichtigt und betreibt. Man kann auch sagen: Macht ist der Vorrat an Möglichkeiten, die einem Menschen durch Einstellung und Verhalten anderer objektiv gegeben sind - aufgefaßt als sein subjektives Vermögen. Macht ist mithin ein Element menschlicher Sozialität beziehungsweise eines der sozial bedingten Momente personalen Daseins. Wesentlich ist zu erkennen, daß es die beiden Arten von Fähigkeit oder Vermögen gibt, und ihren Unterschied zu begreifen; dagegen ist es von untergeordneter Bedeutung, wie man sie benennt. Statt von „Stärke" und „ M a c h t " zu sprechen, könnte man zum Beispiel mit Thomas Hobbes unterscheiden zwischen „natürlicher Macht", die in den „faculties of body or m i n d " besteht und „instrumenteller Macht" wie „riches, reputation, friends". 1 Die Bezeichnung „Stärke" und „ M a c h t " hat Hannah Arendt
1 Thomas Hobbes: Leviathan, Kap. X (zitiert nach der von K. R. Minogue eingeleiteten Ausgabe: London 1975, Seite 43).
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IV. Die Ethik der Macht
eingeführt. 2 Sie haben den Vorzug, sprachlich plausibel zu sein. Stärke, schreibt Hannah Arendt, sei eine individuelle Eigenschaft, welche unabhängig ist, über Macht dagegen verfüge niemals ein einzelner, sondern sie sei immer im Besitz einer Gruppe. Wenn man von jemandem sage, er habe Macht, so heiße das, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt sei, in ihrem Namen zu handeln; sobald diese Gruppe auseinandergehe, verliere er diese Macht. „Stärke ist, was ein jeder Mensch von Natur in gewissem Ausmaß besitzt und wirklich sein eigen nennen kann; Macht aber besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen." Weil der öffentliche Bereich aus Macht bestehe, nämlich aus dem Sprechen und Handeln der Menschen, verliere er auch unter den stabilsten Verhältnissen niemals ganz seinen potentiellen Charakter. Diese Feststellungen Hannah Arendts wären noch dahingehend zu erläutern, daß Macht auch schon zwischen nur zwei Personen entsteht und nicht auf einer ausdrücklichen Ermächtigung zu beruhen braucht. Die Stärke einer Person wird immer dann zusätzlich zu Macht, wenn andere sie in Rechnung stellen. Wenn jemand schon von früheren Gelegenheiten weiß, wie schlagfertig sein Kontrahent ist, läßt er sich gar nicht erst auf einen Disput ein, sondern gibt lieber gleich klein bei. Diesen Erfolg verdankt der Kontrahent nicht dem Einsatz seiner Schlagfertigkeit, sondern der Macht, die ihm zugewachsen ist, weil der andere vor dieser Schlagfertigkeit Respekt hat. Wenn in einer Gruppe ein kleiner Kerl einmal durch seine Wendigkeit und Geschicklichkeit einen starken Mann außer Gefecht gesetzt hat, war das ein Erfolg seiner Stärke. Diese wird seitdem von allen Gruppenmitgliedern in Rechnung gestellt, und sie hüten sich, den Kleinen zu ärgern; damit ist dessen Wendigkeit und Geschicklichkeit zusätzlich zu Macht geworden. Er muß, sollte er doch wieder einmal behelligt werden, von seiner Wendigkeit nicht unbedingt Gebrauch machen, es genügt schon, an sie zu erinnern, also statt der Stärke, die durch sie gewonnene Macht einzusetzen. Stärke wird - wie das Beispiel verdeutlicht - nicht in der Weise zu Macht, daß sie sich in Macht verwandelte, mithin als Stärke verschwände, sondern sie bleibt, was sie ist, und läßt Macht zusätzlich entstehen. Diese wiederum bleibt so lange erhalten, als die anderen Gruppenmitglieder an die Stärke denken und davor Respekt behalten; das kann unter Umständen noch andauern, während die Stärke schon schwindet. Eine Art von Stärke ist auch alles das, worüber man unmittelbar physisch verfügt, wie etwa der Platz, auf dem man gerade sitzt, oder die 2
Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben. - München 1960, Seite 193 ff. und Hannah Arendt: Macht und Gewalt. - München 1970, Seite 45.
IV. D i e Ethik der M a c h t
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W a f f e , die man in der Hand hält. Um Macht handelt es sich dagegen, wenn man sich von seinem Platz entfernt, ihn mit einem Kleidungsstück als „belegt" kennzeichnet und so die Verfügung darüber behält; denn das beruht darauf, daß andere diese Reservierung respektieren. Daher ist Eigentum nicht Stärke, sondern Macht: die Verfügung darüber hängt davon ab, daß Eigentum als Institut allgemein anerkannt ist. Wenn Macht dasjenige Vermögen, etwas sozial zu bewirken, ist, das jemandem zuwächst, weil das, was er ist, beabsichtigt oder tut, durch Einstellung und Verhalten anderer positiv bedingt wird, dann besteht das Substrat der Macht aus einer Korrespondenz des Interesses: die anderen begünstigen ihn - ausdrücklich oder unwillkürlich - in dem M a ß e , in dem er ihnen - ausdrücklich oder unwillkürlich - förderlich ist. Umgekehrt kann man sagen, daß Macht eben diese Korrespondenz des Interesses ist, gesehen und behandelt unter dem Aspekt des Vermögens, etwas sozial zu bewirken, das jemandem daraus erwächst. Jede Veränderung auf einer Seite des Korrespondenzverhältnisses hat Folgen fiir die andere und damit auch auf dieser. Die Korrespondenz des Interesses ist im G r u n d e eine objektive soziale Gegebenheit. Man muß sie nicht unbedingt ausdrücklich herstellen, sondern sie kann sich auch unwillkürlich ergeben. Jemand kann Macht haben, gewinnen oder verlieren, ohne daß er sich dessen bewußt wird. Es kann auch geschehen, daß er in einer bestimmten Situation zur eigenen Überraschung bemerkt, wieviel Macht er in einem Personenkreis besitzt vielleicht aber muß er auch feststellen, daß sie geringer ist, als er meinte. Ferner ist es denkbar, daß man bei den gleichen Leuten in bezug auf ein Vorhaben mit mehr Macht rechnen kann als für ein anderes. Weil schließlich bei manchem, was man tun könnte, das Potential, das dafür verfügbar wäre, erst erkennbar würde, wenn man es wirklich täte, bleibt, sofern man es unterläßt, latente Macht unerkannt und unerprobt. Weil das Substrat der Macht eine Korrespondenz des Interesses ist, kann man Macht nur insoweit gewinnen, als andere Menschen imstande sind, sich frei nach ihrem wirklichen Interesse zu richten. Sie müssen die Möglichkeit freier Lebensführung haben, wenn sich jene Korrespondenz von Interesse ergeben soll, die mir als Potential zugute kommt. Das bedeutet, daß ich Macht nur erlange, wenn und weil ich diejenigen, mit denen ich zusammenlebe, als Personen anerkenne. Z w a r kann man über Macht, die man hat, einseitig verfügen, aber einseitig herstellen kann man sie nicht. Sie entwickelt sich nur in der freien Beziehung zwischen Personen. Hier wird der Grund sichtbar, warum der Macht und ihrem Gebrauch notwendigerweise ein ethisches Moment innewohnt: Wer sich nicht mit der Illusion von Macht begnügen, sondern Macht real besitzen will, m u ß seine Mitmenschen als Personen respektieren.
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Soweit man seine Macht ausdrücklich gebrauchen und pflegen will, muß man die zugrundeliegende Korrespondenz des Interesses als Gegenstand kalkulierter, wechselseitig zu erbringender Leistungen behandeln. Man muß zugunsten des Interesses, das andere an einem nehmen, oder zu dessen Erweckung so viel investieren, als durch dieses das eigene Vermögen, etwas sozial zu bewirken, wachsen soll. Hier bringt das, was man dem anderen als Vorteil zukommen läßt, nicht einen entsprechenden eigenen Verlust, sondern gleich großen Gewinn. Wer die eigene Macht steigern will, muß dem Interesse des anderen dienen, wer dies vernachlässigt, dessen Macht verfällt. Das heißt, daß der Umgang mit Macht sich am Grundsatz der Gegenseitigkeit orientiert. Dieser dient hier als Regel subjektiven Verhaltens, das der objektiv gegebenen Korrespondenz des Interesses frei miteinander verkehrender Personen entspricht. Dabei ist zu bedenken, d a ß Macht, indem man sie gebraucht, auch verbraucht wird, denn Machtgebrauch besteht letztlich darin, daß man die Belange anderer zugunsten der eigenen strapaziert. Ein Politiker zehrt zum Beispiel an dem Vorrat von Sympathie, den er bei seinen Anhängern besitzt, und an der Korrespondenz ihrer Interessen mit den Seinen, wenn er sie veranlaßt, sich für ihn einzusetzen, oder wenn er ihnen manches zumuten muß, was ihnen nicht paßt. Er muß sich deshalb von Fall zu Fall fragen, ob die Kosten an Macht, die ihm entstehen, den Nutzen lohnen - und immer m u ß er dafür Sorge tragen, daß er sich anstelle verbrauchter Macht neue verschafft. Was dem Machtverhältnis mit sozialen Beziehungen überhaupt gemeinsam und ihm daher eigentümlich ist, nicht weil es sich speziell um Macht, sondern weil es sich bei dieser um ein Element menschlichen Zusammenlebens handelt, das ist seine „flüssige" Natur und Unbeständigkeit. Das Machtpotential einer Person bleibt in keinen zwei Augenblicken das gleiche, sondern verändert sich ständig, weil sich die Interessenlage der anderen, auf der es beruht, permanent wandelt. In dem Maße allerdings, in dem dieser Wandel geringer ist, weil Einstellung und Verhalten der anderen mehr oder weniger konstant bleiben, gewinnt die daraus erwachsende Macht an Stabilität. Dies geschieht übrigens auch, wenn jemand seine Macht einem sehr großen Personenkreis verdankt, weil es dann nicht ins Gewicht fällt, wenn einige ihm ihre positive Einstellung entziehen. Jede verbreitete Gewohnheit und Mentalität stellt für denjenigen, der sich darauf stützen und berufen kann, ein recht stabiles Machtpotential dar. Selbst wenn er etwas tut, was den Leuten nicht gefällt, was sich aber aus deren Gewohnheit und Mentalität rechtfertigen läßt, nehmen sie es lieber hin, als daß sie ihre eigene Orientierung desavouierten. Je mehr sich Macht stabilisiert, desto mehr wird sie der Stärke ähnlich, nämlich einseitig anwendbar ohne Rücksicht auf die davon Betroffenen. Allerdings kann Macht sich nie in Stärke verwandeln, vielmehr bleibt
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auch extrem verfestigte Macht ein Potential, das ein Mensch nicht durch sich selbst hat, sondern das ihm aus dem Zusammenleben mit anderen zuwächst. Daher gelten Vergänglichkeit und Unbeständigkeit seit je als klassische Attribute der Macht - Vergänglichkeit nicht in dem Sinn, daß alles, was existiert, auch einmal ein Ende findet, sondern weil Macht aus Quellen stammt, über die derjenige, der sie besitzt, letztlich nicht verfügen kann. Am meisten Ähnlichkeit mit Stärke gewinnt Macht in den Fällen, in denen sie gegenüber einem anderen Personenkreis ausgeübt wird als dem, aus dem sie stammt. Auch dann beruht das Vermögen, etwas sozial zu bewirken, zwar auf einer Korrespondenz des Interesses, doch besteht diese nicht zwischen dem, der die Macht anwendet, und denjenigen, die aktuell davon betroffen sind. Sie kann deshalb einerseits mehr oder weniger unabhängig von den Betroffenen verwendet werden, und dieser Gebrauch bleibt andererseits ohne Rückwirkungen auf die sozialen Beziehungen, denen sie entstammt. Ein Richter zum Beispiel besitzt kraft seines Amtes und bei der Anwendung der Prozeßordnung Macht, die ihm aus einem anderen Lebensbereich sozial vermittelt ist als dem Kreis der Prozeßbeteiligten ; deshalb vermag er darüber in der Gerichtsverhandlung praktisch wie über Stärke zu verfügen. Wozu er amtlich und aufgrund der Prozeßordnung befugt ist, das kann er völlig unabhängig von Einstellung und Verhalten der Kläger und Beklagten tun; verändern könnte dieses Potential nur der Gesetzgeber oder ein allgemeiner Wandel des Klimas der öffentlichen Meinung. Unabhängig ist der Richter auch im Gebrauch seiner persönlichen Stärke, etwa seines guten Gedächtnisses oder seiner Geistesgegenwart. Nicht stabile und entsprechend ungesicherte Macht schließlich hat er insoweit, als es ihm gelingt, das Vertrauen und die Kooperationsbereitschaft der Prozeßparteien zu gewinnen. Je größer und je weiter vom einzelnen Anwendungsfall entfernt der Personenkreis ist, aus dem jemandem Macht zuwächst, desto weitläufiger ist sie sozial vermittelt und erweist sich als entsprechend stabil und unabhängig. So beruhen etwa der Wert und damit die Macht des Geldes auf sozialer Anerkennung, diese aber ist so allgemein, daß der Besitz von Geld, obgleich er dem Wesen nach Macht ist, praktisch Stärke bedeutet. Es gibt also zwar keine Macht ohne ein ihr entsprechendes Äquivalent sozialer Vermittlung, aber in unzähligen Fällen ist die Korrespondenz des Interesses, aus dem sie jemandem zuwächst, derart weitläufig und diffus, daß sie sich allenfalls noch theoretisch nachweisen läßt, praktisch jedoch nicht mehr beachtet werden muß. Kein Wunder daher, daß der Alltagserfahrung Macht als etwas anderes erscheint als was sie ursprünglich ist, nämlich als bedingungslos verfügbare Fähigkeit ihres Besitzers, auch gegen Widerstand einseitig seinen Willen durchzusetzen.
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Die geläufigen Meinungen und Sentenzen über Macht sind auf diese Alltagserfahrung fixiert. Sie betreffen selten die Voraussetzungen des Entstehens und der Beschaffung von Macht, sondern beziehen sich vorwiegend auf deren Ausübung und die Lage der davon Betroffenen. Gewiß, die Formen mehr oder weniger drückender Übermacht, des Machtkampfes, der Verführung der Macht und ihres Mißbrauchs sind tausendfältig und allgegenwärtig. Das alles soll auch nicht geleugnet werden; aber so sehr es praktisch dominierend und sinnfällig sein mag, handelt es sich doch um sekundäre Erscheinungsweisen einer ursprünglichen Gegebenheit, wie sie hier bestimmt und beschrieben wird. Und erst wenn man von dieser ausgeht, begreift man auch das spezifische Wirken und die Grenzen der davon sich ableitenden Formen der Macht besser. Dann wird zum Beispiel klar, daß auch die übergroße und äußerst gefestigte Macht eines absolutistischen Monarchen, eines Stammesältesten oder einer Priesterkaste im Grunde auf sozialer Vermittlung beruht, mithin letztlich doch von denen abhängig ist, über die sie ausgeübt wird. Vielleicht verdankt einer die Macht, die er hat, der „selbstverschuldeten Unmündigkeit" derer, gegen die er sie gebraucht. - Logisch ist übrigens jegliche stabile Macht ohne Schwierigkeit als Variante flüssiger Machtbeziehungen zu erklären, während man diese nicht von jener ableiten kann. Die ursprüngliche Beschaffenheit der Macht erfahren auch im Alltag - und zwar sehr nachdrücklich - alle diejenigen, die in offenen Machtauseinandersetzungen stehen und deshalb gezwungen sind, sich Tag für Tag genügend Macht zu beschaffen und zu erhalten, um das leisten zu können, was man von ihnen erwartet. Jeder, der in einem freiheitlichen Staat Politik treibt, kann das bestätigen. Ein ethisches Moment wohnt dem Machtverhältnis und damit auch dem Umgang mit Macht inne, weil einem ein Vermögen, etwas sozial zu bewirken, aus der Einstellung und dem Verhalten anderer Menschen nur zuwachsen kann, wenn man diese als Person anerkennt und ihnen freie Lebensführung zubilligt. Auch wer sich nicht dazu erhebt, seine Mitmenschen um ihrer selbst willen als Personen zu achten, sieht sich, wenn er seine Belange machtgerecht verfolgen will, zu einem Verhalten gezwungen, das sie faktisch als Personen akzeptiert - und insoweit hat sein Tun und Lassen objektiv ethische Qualität. Man muß das Interesse anderer in Rechnung stellen, wenn man das eigene wahren und mit Erfolg vorantreiben will; ja, man kann nicht lange übersehen, daß die Freiheit der anderen Voraussetzung der eigenen Freiheit ist. Die Vorstellung, der einzelne Mensch könne in absoluter Selbstbezogenheit seinesgleichen ausschließlich als Mittel seiner Zwecke behandeln, zielt auf ein Ding der Unmöglichkeit. Denn wir sind auf Zusammenleben mit Unseresgleichen angelegt und angewiesen, und der Nutzen, den wir von einem anderen erlangen können, ist nur zu haben, wenn wir ihn nicht bloß als Faktor eines Nut-
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zenkalküls behandeln. So läßt das Kalkül der Macht zusätzliche ausdrückliche ethische Orientierung gewiß nicht überflüssig werden, aber es ist dieser eben auch nicht völlig entgegengesetzt, sondern vermag Mangel an ausdrücklicher ethischer Orientierung sogar bis zu einem gewissen Grad zu kompensieren. Man erleichtert sich das Verständnis für das der Macht eigentümliche ethische Moment, wenn man sich von der Vorstellung löst, ethisches Verhalten setze in jedem Fall eine Orientierung an Prinzipien und das Befolgen von Normen voraus. Wurzel und Kern aller Ethik ist die Anerkennung des Mitmenschen als Person, und zwar so, wie er mit seinem konkreten, nur einmal zu lebenden Leben in das unsere verflochten und deshalb von unserem Tun und Lassen existentiell betroffen ist. Es ist also nicht auszugehen vom Person-Sein als abstraktem Prinzip, wofür dann ein entsprechender Umgang mit dem anderen nur Anwendungsfall wäre, sondern der andere ist in der unmittelbaren Begegnung nicht weniger ein ethisches Absolutum als jedes an sie von außen herangetragene Prinzip. Ein weiteres ethisches Moment kommt dann ins Kalkül der Macht, wenn sie weitläufig sozial vermittelt ist, und man dies in Rechnung stellt. Macht ist einerseits um so stabiler und muß entsprechend weniger Rücksicht auf diejenigen nehmen, gegen die sie angewandt wird, je weiter vom einzelnen Anwendungsfall entfernt die Gründe liegen, denen man sie verdankt; andererseits bleibt aber auch völlig gefestigt erscheinende Macht von sich wandelnden und vergänglichen sozialen Beziehungen und Verhältnissen bedingt. Wer sich das bewußt hält, weiß, daß seine Macht aufs Ganze der sozialen Zusammenhänge, in denen er lebt, gesehen geringer ist als in bezug auf den besonderen Fall und Augenblick, in denen er über ihren Gebrauch entscheidet. Und was nach dieser Seite als fester Besitz erscheint, ist nach der anderen mehr oder weniger unbeständig. Diese Differenz besteht, weil sich im Gesamtzusammenhang der sozialen Beziehungen Bedingtheiten auswirken, die beim Machtgebrauch im Einzelfall keine Rolle spielen. Daher gebietet der realistischere, weil auf weite Sicht kalkulierte Umgang mit Macht Mäßigung: Kluger Machtgebrauch geht nicht von der relativen Überlegenheit des Augenblicks aus und tut nicht alles, was sich gerade durchsetzen läßt, sondern begnügt sich mit den Vorteilen, die Aussicht auf Bestand haben und keine nachteiligen Spätfolgen erwarten lassen. So gehen auch hier vernünftig berechneter Nutzen und das ethisch Gebotene in eins. Es lohnt nicht, jemanden, weil es gerade möglich wäre, zu übervorteilen, wenn das für später Vertrauen kostet, folglich entsprechenden Machtverlust bedeutet. Es hat keinen Wert, auf seine gesetzlichen Rechte zu pochen, wenn man sich damit Sympathien verscherzt, die man bei anderer Gelegenheit nötig haben wird. Hierher gehört auch die Notwendigkeit, bei Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip die damit ver-
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bundenen Folgen im Machtgefüge in Rechnung zu stellen. Solche Abstimmungen sind vielfach die einzige Möglichkeit, nicht länger aufschiebbare Entscheidungen herbeizuführen ; sie sind jedoch nur dann machtgerecht, wenn sie das Potential der Minderheit nicht als quantité négligeable behandeln, sondern nur das durchsetzen, was der anderen Seite noch zumutbar ist. Im gesamten Machtvorrat des einzelnen ist der Anteil mehr oder weniger weitläufig sozial vermittelten Potentials, das ihm entsprechend annähernd wie Stärke verfügbar ist, erheblich größer als die originäre Macht, die er von Fall zu Fall aus den jeweils aktuellen Umständen unmittelbar gewinnt. Das verschafft ihm jedoch keine besondere Überlegenheit, weil auch jeder andere über viel derartige relativ stabile Macht verfügt. Vielmehr stehen diese stabilen Potentiale zueinander wie Macht, die aus der gerade aktuellen Situation gewonnen wird, verhalten sich also ebenfalls nach der Korrespondenz des Interesses. Infolgedessen reichen auch diejenigen ethischen Momente und Gebote des Machtgebrauchs, die sich an sich aus der unmittelbaren Wechselwirkung von Machtgewinn und Machtanwendung ergeben, tief in den Umgang mit gefestigter Macht hinein. Da das Substrat der Macht eine Korrespondenz des Interesses ist, muß sich der ausdrückliche praktische Gebrauch der Macht an entsprechenden Grundsätzen orientieren. Es sind dies in erster Linie das schon erwähnte Prinzip der Gegenseitigkeit sowie das des Gleichgewichts. Vornehmlich nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit von Leistungen muß man verfahren, wenn man Macht als Mittel zur Verfolgung von Zwecken benutzen will. Dagegen bezieht sich die Anwendung des Prinzips des Gleichgewichts mehr auf das Machtverhältnis selbst: um diese Korrespondenz des Interesses zu erhalten, muß man die jeweiligen Veränderungen auf der einen Seite durch Veränderungen auf der anderen ausgleichen. Das Handeln nach dem Prinzip des Gleichgewichts ist auf diesen Umgang mit der Korrespondenz des Interesses und damit auf das ausdrücklich vorgenommene Machtkalkül beschränkt; es findet in der Natur des Machtverhältnisses auch seine Rechtfertigung. Dagegen hat das Prinzip der Gegenseitigkeit, das im Machtkalkül lediglich eine Abart des Gleichgewichtsprinzips zu sein scheint, keineswegs nur für Machtverhältnisse Bedeutung, sondern es ist - wie noch zu zeigen sein wird - ein Element personalen Zusammenlebens überhaupt. In diesem findet es auch seine entscheidende Begründung und Rechtfertigung und nicht erst in der Natur des Machtverhältnisses. D a ß das Gleichgewicht der Macht ethische Qualität hat, ja eine Voraussetzung humanen Zusammenlebens ist, wird seit je anerkannt - beginnend mit der antiken Lehre, wonach das Gleichgewicht der politischen Kräfte
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eines Volkes Bedingung der Freiheit sei, bis zur Entwicklung des Prinzips der „checks and balances". Bevorzugter Gegenstandsbereich der Gleichgewichts- oder Balance-Theorien sind weniger die originären „flüssigen" Machtverhältnisse, als vielmehr die Beziehungen zwischen den gefestigten Potentialen von Personen, Instanzen und Staaten; diese müssen ständig in der Waage gehalten werden, um das Entstehen von Übermacht zu verhindern. Wie unter anderen Kurt Kluxen 3 gezeigt hat, galt die Balance der Macht zwischen den europäischen Staaten seit dem 18. Jahrhundert als friedensichernde Norm schlechthin. Allerdings bedurfte es, um den zwischenstaatlichen Gleichgewichtszustand zu erhalten, ständiger politischer Aufmerksamkeit und diplomatischer Bemühungen. Deshalb - schreibt Kluxen - fiel die Blütezeit des Gleichgewichtsgedankens mit der Entstehung der modernen Diplomatie zusammen: Das Gleichgewicht erfordert zu seiner Behauptung oder Wiederherstellung permanente Politik. Nichts konnte geschehen ohne diplomatische Vorbereitung. Gleichgewichtspolitik war ihrem Begriff nach reine Politik; sie nötigte stets zu zeitgerechter Entscheidung, um das Ganze im Lot zu halten. Das Prinzip der Gegenseitigkeit steht in geringem Ansehen und entbehrt in den Augen vieler Leute jeglicher ethischer Qualität, weil man es vornehmlich im Sinn der Vergeltung von Schaden mit Schaden („Auge um Auge, Zahn um Zahn") versteht. Doch ist dies nur die primitivste Methode der Vergeltung und eine schlechte Sonderform von Gegenseitigkeit. Man kann schließlich auch Gutes mit Gutem vergelten, und allein schon das Wort Wiedergutmachung läßt erkennen, daß Gegenseitigkeit ethische Qualität hat. Anstatt - wie die negative Abart der Vergeltung - den Schadenstifter zu schädigen, entschädigt die Wiedergutmachung den Geschädigten; sie verdoppelt den Schaden nicht, sondern heilt ihn. Insoweit nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit wechselseitige Beeinträchtigung oder Förderung stattfindet, kann man das als eine Abart der Wahrung des Gleichgewichts auffassen, mithin Gegenseitigkeit als auf den rationalen Umgang mit Macht beschränkt betrachten. Insgesamt jedoch ist sie als Orientierung des Handelns und Zusammenlebens noch um eine Stufe ursprünglicher als das Machtverhältnis und daher auch wesentlich umfassender. Gegenseitigkeit ist originär überhaupt nicht ein Prinzip ausdrücklichen Tuns oder gar kalkulierten Handelns, sondern elementares, unreflektiertes Verhalten, das sich unmittelbar aus der Tatsache ergibt, daß der Mensch auf das Zusammenleben mit seinesgleichen angelegt und angewiesen ist. Die Praxis der Gegenseitigkeit beginnt damit, daß zwei Menschen, die sich begegnen, unwillkürlich aufeinander Bezug nehmen: 3
Kurt Kluxen: Zur Balanceidee im 18.Jahrhundert, in: Festschrift für Theodor Schieder, München 1978, Seite 44 ff. (hier speziell die Seiten 54 bis 58).
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gewissermaßen in einem intentionalen Konsens zeigt jeder, daß er den anderen bemerkt und bestätigt dessen Aufmerksam-Werden. Man muß dieses spontane Von-einander-Notiz-nehmen schon mit Anstrengung unterdrücken, wenn es unterbleiben soll - und verhält sich dann im Ergebnis ausgesprochen inhuman. Man kann jemanden, der einen anspricht, nicht ohne Antwort, jemanden, der einem mit einer noch so einfachen und alltäglichen Initiative kommt, nicht ins Leere laufen lassen. Auch in solchen Fällen ist also Gegenseitigkeit Gebot der Humanität. Man muß demjenigen, dem man einen Dienst erwiesen hat, die Möglichkeit belassen, nicht dauernd in Obligo zu bleiben, wie man selbst das Bedürfnis hat, sich für empfangene Hilfe erkenntlich zu zeigen. Die zahllosen Varianten und Fälle der Gegenseitigkeit des Verhaltens, das einen treffenden Ausdruck im Begriff der „communicatio" hat (von munus: Leistung, Gefälligkeit, Geschenk), erstrecken sich in fließenden Übergängen von der Erfüllung eines nicht bewußt gemachten Verlangens über die ausdrückliche Gestaltung personaler Beziehungen bis zur kalkulierten Anwendung auf Machtverhältnisse. Hier fallen sie schließlich mit der Anwendung des Prinzips des Gleichgewichts in eins: die aufgeklärte Absicht, das eigene Wohl zu fördern, umfaßt die Einsicht, daß man das Wohl des anderen insoweit beachten muß, als das eigene davon abhängt. Zumindest darf man das Interesse des anderen nicht schädigen, weil dies einen eigenen Machtverlust zur Folge hat; nach Möglichkeit sollte man es fördern, um auf diese Weise auch eigene Macht zu gewinnen. Wer so verfährt, pfropft seinem Machtkalkül nicht ein ehtisches Gebot auf, sondern er aktualisiert die ehtische Qualität, die sowohl dem Machtverhältnis im besonderen, wie auch der Gegenseitigkeit der Communicatio im allgemeinen innewohnt. Ein Musterfall dafür, wie sich im Wege der Gegenseitigkeit eine soziale Beziehung zwischen zwei Personen gleichzeitig als ethisches wie als Machtverhältnis ausbildet, ist die Entwicklung von Vertrauen. Dieses wird zuerst von einer Seite unwillkürlich erweckt und von der anderen spontan entgegengebracht. Dann wird es - vorausgesetzt, daß keine Seite es enttäuscht - bei immer neuen Anlässen gegenseitig erwidert und bestätigt und gewinnt so von Mal zu Mal an Verbindlichkeit und Verpflichtung. Damit erlangt die Beziehung der beiden Personen ethische Qualität, auch wenn sie gar nicht aus einem ethischen Motiv entstand. Ebenso aber ist das Vertrauensverhältnis ein Machtverhältnis einerseits zwischen den Beteiligten selbst, andererseits - als ihnen gemeinsames Potential - gegenüber Dritten. - Vertrauenswürdigkeit ist nicht eine Eigenschaft, die jemand wie Stärke durch sich selbst und unverlierbar besitzt, sondern sie wächst ihm aus dem Zusammenleben mit anderen zu und muß sich immer neu bewähren, wenn sie Bestand haben soll. Es handelt sich beim Vertrauen - wie bei
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jedem Machtverhältnis - im Grunde um eine interpersonale Beziehung, die sich zur sozial erworbenen Qualität einer Person verfestigen kann. Richard Heinze hat das alles einmal am Beispiel der altrömischen „fides" demonstriert. 4 Diese sei keine Eigenschaft gewesen, die objektiv einer Person zukomme. Man sei nicht durch sich selbst zuverlässig, sondern werde es dadurch, daß einem Vertrauen geschenkt werde und dies durch sein Verhalten immer wieder rechtfertige. Fides sei weder durch göttliches Gebot auferlegt, noch ein Kind der Menschenliebe; sie entspringe nicht einer sittlichen Verpflichtung, begründe aber eine solche. Sie mache die Bindung, die jemand gegenüber einem anderen eingeht, zu einer sittlichen Bindung. Andererseits aber sei die Fides als Verhältnis zwischen Patron und Client die für die Res Publica Romana spezifische Quelle politischer Macht gewesen. Niemand habe auf Fides verzichten können, der unter seinen Mitbürgern wirken wollte, und je höher einer gestiegen sei, desto mehr sei er einerseits auf Fides angewiesen, andererseits durch sie gebunden gewesen. - So trug diese Quelle politischer Macht zugleich zu deren Beschränkung bei. Das Kalkül der Macht gehört zu denjenigen Betätigungen der Ratio, die speziell auf die Lebensführung und das Zusammenleben mit anderen gerichtet sind. Man kann sie unter dem Begriff der Klugheit zusammenfassen. Wie immer diese aber seit Aristoteles von den verschiedenen Autoren verschieden definiert und mit anderen Fähigkeiten wie Urteilsvermögen, Takt, Voraussicht und Umsicht verbunden gesehen wird, Einigkeit herrscht darüber, daß zum klugen Handeln auch ethische Gesichtspunkte gehören. Deren Zusammenhang mit machtgerechtem Verhalten kommt besonders deutlich in den Bemerkungen zum Ausdruck, die Hegel in seiner Nürnberger „Rechts-Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse" (§§68 und 69) über die Klugheit gemacht hat: „Die Pflicht der Klugheit erscheint zunächst als eine Pflicht gegen sich selbst in den Verhältnissen zu anderen, insofern der Eigennutz Zweck ist. - Der wahre eigene Nutzen wird aber wesentlich durch sittliches Verhalten erreicht, welches somit die wahre Klugheit i s t . . . Insofern der eigene Nutzen ... von dem besonderen, im Ganzen zufälligen Wohlwollen anderer abhängt, so befindet man sich hier in der Sphäre der bloßen Zuneigung zueinander, und die Klugheit besteht darin, die Neigungen der anderen nicht zu verletzen und sie für sich zu erhalten. Aber auch in dieser Rücksicht ist das, was den Nutzen bringt, eigentlich auch dasjenige, was sich an und für sich gehört, nämlich andere darüber freizulassen, wo wir weder Pflicht noch Recht haben, sie zu stören, und (stattdessen) durch unser Betragen ihre Zuneigung zu gewinnen." Klugheit bezieht sich also auf 4
Richard Heinze, Vom Geist des Römertums, Darmstadt i960 3 , Seite 61 ff.
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den Nutzen, den man nur haben kann, wenn man seine Mitmenschen „freiläßt"; dann aber besitzt das für das Subjekt Vorteilhafte zugleich objektiv ethische Qualität. Während man bei vielen Autoren den Eindruck gewinnt, daß sie die Berücksichtigung ehtischer Gesichtspunkte als eine von außen herangetragene, der Klugheit zusätzlich auferlegte Pflicht verstehen (Klugheit erscheint als gleichsam nachträglich veredelte Schlauheit), zeigt Hegel klar, daß kluges Handeln, gerade indem es sich ausschließlich rational orientiert, per se ethisch ist, weil sein Gegenstand, die Machtbeziehung, ein objektiv ehtisches Moment enthält.
V.
Aurelius Augustinus' Friedensbegriff als Konzept einer modernen Theorie des Friedens
Die zeitgenössische Friedensforschung ist weitgehend in der Vorstellung befangen, Frieden sei ein bestimmter sozialer Zustand, charakterisiert durch die Verwirklichung gewisser hoher h u m a n e r Werte. Dementsprechend geht man mit Selbstverständlichkeit davon aus, d a ß dieser Zustand durch richtiges Verhalten und geeignete Verfahren herbeigeführt oder hergestellt, wenn auch nicht - wie allgemein betont wird - vollendet werden könne. Ein typisches Beispiel f ü r diese Auffassung ist die Definition, Frieden sei ein in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe u n d Freiheit hervorzubringender Zustand dynamischer O r d n u n g oder geordneter Entwicklung; eine fortschreitende Vereinigung gleicher Prinzipien, Rechtsnormen und Institutionen mit dem Ziel, d a ß überall die f u n d a m e n t a l e n Grundsätze der Menschenrechte gelten und die Würde des Menschen anerkannt wird. 1 Abgesehen davon, d a ß mit Bestimmungen dieser Art gar nicht erst der Versuch gemacht wird, zunächst einen wertfreien Begriff des Friedens zu gewinnen, haben sie mindestens zwei unüberwindliche Schwierigkeiten zur Folge. Erstens handelt es sich um Scheindefinitionen, denn „ F r i e d e n " wird hier praktisch nur als Synonym f ü r einzelne Güter und erwünschte Verhältnisse des menschlichen Zusammenlebens gesetzt. M a n erklärt nicht, was Frieden ist, sondern zeichnet diejenigen Werte und Gegebenheiten, die m a n f ü r die wesentlichsten der Humanität hält, mit dem Wort „ F r i e d e n " aus. Da für die Auswahl dieser Werte ein objektives Kriterium nicht zur Verfügung steht, ist sie völlig beliebig. Die einen nennen Gleichheit, Mitbestimmung und Selbstbestimmung; andere halten Sicherung der materiellen Bedürfnisse, ein ausgewogenes Verhältnis von Mensch u n d Umwelt sowie Verständigung zwischen den Generationen für erforderlich; wieder andere Emanzipation, Befreiung von Ausbeutung u n d Abschaff u n g jeglicher Herrschaft von Menschen über Menschen. 2 Eine Folge dieser Identifikation mit Werten ist, d a ß der Begriff „ F r i e d e n " nach den verschiedensten Richtungen hin ideologisch aufgeladen wird; u n d jede Seite übt - unwillkürlich oder gezielt - unter Berufung auf die allgemeine Pflicht, für den Frieden zu wirken, auf die Mitmenschen moralischen Druck aus, sich an der jeweils mit ihm gleichgesetzten Wertedoktrin zu orientieren. D a es im G r u n d e gar nicht mehr um den Frieden, sondern 1
Wolfgang Ockenfels: Die Dynamik des Friedens. - In: Heinrich B. Streithofen, Wolfgang Ockenfels: Diskussion um den Frieden. - Stuttgart 1974, S.69, 114. 2 Diese Beispiele sind entnommen aus: Johannes Esser: Zur Theorie und Praxis der Friedenspädagogik. - Wuppertal 1973.
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darum geht, ungute Zustände zu überwinden und bestimmte erwünschte gesellschaftliche Verhältnisse herbeizuführen, ergibt sich leicht die Konsequenz, daß dies gerade nicht erreichbar sei, wenn man Frieden hält; denn dann bleibe alles beim alten. Infolgedessen kämpft man für das, was man als Frieden definiert, und fühlt sich berechtigt, notfalls auch Gewalt anzuwenden. Wird Frieden als dauernd verpflichtende, jedoch niemals endgültig erfüllbare Aufgabe verstanden, dann ist in seinem Namen Rastlosigkeit geboten. Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß dem mit der Verwirklichung bestimmter Wertvorstellungen gleichgesetzten Begriff von Frieden die auch in der Friedensforschung nicht in Zweifel gezogene Erfahrung gegenübersteht, daß Frieden der Gegensatz von Krieg ist. Demnach wäre Frieden nicht erst nach einem mehr oder weniger großen Fortschritt der Humanität erreicht, sondern er tritt in dem Augenblick ein, in dem der Krieg beendet wird. Um dem Dilemma zwischen Friedenserfahrung und Friedensbewertung zu entgehen, hat man den Begriff aufgespalten und unterscheidet zwischen einem „negativen" Frieden, der lediglich „NichtKrieg" bzw. „Abwesenheit von Gewalt" 3 sei, und einem „positiven" Frieden, der voraussetze, daß bestimmte Werte verwirklicht sind. Daß damit das Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben wird, zeigt sich daran, daß man sich weder auf eine Definition des „positiven" Friedens zu einigen vermag, noch imstande ist, das Verhältnis zwischen ihm und dem „negativen" Frieden zufriedenstellend zu bestimmen. - Der „negative" Frieden wird in der Literatur durchwegs geringschätzig behandelt, weil er weder den Minimalansprüchen menschenwürdigen Daseins genüge, noch als positive Leistung der Gestaltung sozialen Lebens gelten könne. Es bleibt jedoch noch zu prüfen, ob positive Sozialgestaltung wirklich erst mit dem Ende von Krieg einsetzt und dann gewissermaßen „bei Null" beginnt, oder ob nicht vielmehr das Ablassen von Gewaltsamkeit bereits Ergebnis rationaler und moralischer Leistungen ist. Man denke z. B. an die Durchsetzung des Allgemeinen Landfriedens und die Einführung des Völkerrechts oder auch an den Aufwand diplomatischer Kunst, den es zuweilen erfordert, um die Beendigung eines Krieges möglich zu machen. Sucht man nach einer Bestimmung des Begriffs „Frieden", die von den Schwierigkeiten und Mängeln der zeitgenössischen Definitionsversuche frei ist, so findet man besonders bemerkenswerte, weil das Problem grundlegend anders angehende Ausführungen in Augustinus' „Civitas Dei". Er 3
Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, auch den Begriff der Gewaltsamkeit (violentia) zu erörtern. Deshalb sei wenigstens angemerkt, daß es problematisch ist, „Gewalt", also eine Verhaltensweise oder ein Mittel sozialer Interaktion, und „Krieg", bei dem es sich um einen sozialen Zustand handelt, unterschiedslos als Gegenbegriffe zum „Frieden" zu verwenden.
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faßt in einem Exkurs über den irdischen Frieden 4 diesen weder bloß als Gegenteil von Krieg oder Gewaltsamkeit auf, noch als einen durch bestimmte humane Werte ausgezeichneten sozialen Zustand; sondern Frieden ist bei Augustinus die Grundlage der Existenz jedes einzelnen Dinges, jedes Lebewesens und jeder sozialen Gemeinschaft. Alles, was existiert, existiert zunächst in Frieden und will deshalb auch seinen Frieden haben. Sogar die Räuber wollen mit ihren Kumpanen in Frieden leben, um den Frieden der anderen um so wirksamer und sicherer anzugreifen. 5 Selbst der Erzbösewicht Kakos wollte in seiner Höhle, deren Boden stets vom frischen Blut seiner Opfer dampfte, nichts anderes als Frieden; und auch mit seinem eigenen Leibe wünschte er Frieden zu haben. 6 Auch wenn etwas verkehrt ist, muß es doch notwendig mit irgendeinem Teil der Dinge, aus denen es besteht, in Frieden bleiben, denn andernfalls wäre es überhaupt ein Nichts. 7 Dieser Frieden, ohne den ein Ding oder Lebewesen also gar nicht existiert, ist „die Ruhe seiner Ordnung, die nicht gestört ist" 8 ; das heißt modern ausgedrückt: Frieden ist die für ein Ding oder Lebewesen jeweils spezifische Struktur, durch die es in seiner Eigenart existiert. Dieser Frieden kann gestört und beeinträchtigt, aber niemals zerstört werden, es sei denn durch die Vernichtung des Dinges bzw. den Tod des Lebewesens. 9 Frieden ist mithin nach Augustinus die Übereinstimmung eines Dinges oder Lebewesens mit sich selbst. Soweit sie gestört ist, wird das als Schmerz empfunden, der das Verlangen erzeugt, die Störung zu überwinden und die Ruhe der Ordnung wieder herzustellen. Wenn jemand leidet, so liegt in dem Teil, an dem er leidet, eine Störung des Friedens vor; dort dagegen bleibt der Frieden erhalten, wo weder Schmerz brennt, noch das
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Aurelius Augustinus: D e Civitate Dei, lib. X I X , cap. 12-14. Die Textstellen werden in Anlehnung an die Übersetzung von Wilhelm Thimme (1955 und 1978 im Artemis-Verlag, Zürich) zitiert. 5 Cap. 12. „Proinde latrones ipsi, ut vehementius et tutius infesti sint paci ceterorum, pacem volunt habere sociorum." 6 Cap. 12. „In ipsa sua spelunca solitaria ... nihil aliud quam pacem volebat ... Cum corpore denique suo pacem habere cupiebat, et quantum habebat, tantum bene illi erat." 7 Cap. 12. „Quod autem perversum est, etiam h o c necesse est ut in aliqua et ex aliqua et cum aliqua rerum parte pacatum sit, in quibus est vel ex quibus constat; alioquin nihil esset omnino." 8 Cap. 13. Tranquillitas ordinis, ubi perturbatio nulla est. 9 D a ß Frieden bei Augustinus als „Struktur" eines Dinges oder Lebewesens aufgefaßt wird, ist besonders deutlich in der Passage, die sich an den Anm.7 zitierten Satz anschließt sowie in dem Anm. 10 zitierten Satz, wo das Wort „Gefüge" (conpago) verwendet wird.
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Gefüge selbst sich auflöst. 10 Die Störung des Friedens kann sehr stark sein, aber ein Minimum an Frieden muß immer bleiben, weil Leben sonst nicht möglich wäre: Es gibt zwar ein Leben ohne Schmerz, aber es kann keinen Schmerz ohne Leben geben." Wie die Lebewesen zu erkennen geben, daß sie den Frieden ihres Leibes lieben, indem sie den Schmerz fliehen, so zeigen sie durch ihre Flucht vor dem Tode deutlich an, wie sehr sie auch den Frieden lieben, durch den Seele und Leib zusammengehalten werden. 12 Die nicht gestörte Ruhe der Ordnung, die den Frieden ausmacht, ist bei Augustinus nicht eine „gute O r d n u n g " von sittlicher Qualität, die herbeizuführen eine moralische Pflicht wäre, sondern sie ist die Struktur, die ein jedes Ding und Lebewesen von Natur aus bzw. als seine Natur besitzt auch der Mensch. Zwar ist der Frieden als „Grundlage des Existierens" ein Wert für alles Existierende, aber gerade deshalb ist er auch für uns Menschen nicht ein Wert, den wir erst realisieren müßten, sondern ist unwillkürlich und immer schon gegeben bzw. suchen wir ihn, weil wir ihn wegen unserer Natur suchen müssen. Da es sich also nicht um einen sittlichen Wert handelt, kann für Augustinus auch der ungerechte Frieden Frieden sein.13 Ein Übeltäter, sagt er an anderer Stelle, hält mit denen, die er nicht töten kann und vor denen er verbergen will, was er tut, „eine Art schattenhaften Frieden" aufrecht. 14 Da schließlich der Frieden identisch mit seinem Leben und der Struktur seiner Existenz ist, kommt er dem Menschen überhaupt nur dann zum Bewußtsein, wenn er gestört wird, und dieses Bewußtwerden geschieht auch nur indirekt, nämlich im Empfinden des Schmerzes, den die Störung verursacht. Dementsprechend ist das Streben nach Frieden praktisch nichts als das Bestreben, von dem Schmerz wieder befreit zu sein. Sobald das erreicht ist, ist der Frieden wiederhergestellt. Nach der Terminologie der heutigen Friedensforschung wäre dieser Frieden offenkundig nur ein „negativer" - obgleich er positiver Inbegriff nicht gestörten Existierens ist. 10
Cap. 13. „Cum autem dolent, ex qua parte dolent, pacis perturbatio facta est; in illa vero adhuc pax est, in qua nec dolor urit nec conpago ipsa dissolvitur." " Cap. 13. „Sicut ergo est quaedam vita sine dolore, dolor autem sine aliqua vita esse n o n potest." 12 Cap. 14. „Sicut enim pacem corporis amare se ostendunt animantia, cum fugiunt dolorem, ... ita mortem fugiendo satis indicant, quantum diligant pacem, qua sibi conciliantur anima et corpus." 13 Cap. 12. „Odit ergo iustam pacem Dei et amat iniquam pacem suam." - Vgl. auch: „ N a m quid est aliud victoria nisi subiectio repugnantium? quod cum factum fuerit, pax erit." - Ebenso zu vergleichen das Verhalten des Kakos: „rapiebat necabat vorabat et quamvis immanis ac ferus paci tarnen suae vitae ac salutis immaniter ac ferociter consulebat." 14 Cap. 12. Auch ein allen anderen überlegener Übeltäter: „cum eis certe, quos occidere n o n potest et quos vult latere quod facit, qualemcumque umbram pacis tenet."
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Zwei eng miteinander zusammenhängende Probleme, die uns heute besonders interessieren und große praktische Bedeutung haben, streift Augustinus in seinem Exkurs über den irdischen Frieden nur mit wenigen, wenn auch wichtigen, Bemerkungen. Erstens unterscheidet sich ja die Existenzweise des Menschen insofern wesentlich von der aller übrigen Lebewesen, als er Person ist. Mithin erhebt sich die Frage, was denn Frieden als „Grundlage des Existierens" bedeutet, wenn sich das speziell auf personale Existenz bezieht. Was ist in diesem Fall die „Ruhe der Ordnung, die nicht gestört ist"? Zweitens ist gerade in unserer Zeit der Frieden nicht, wie bei Augustinus, als Problem der Ontologie der Dinge und Lebewesen aktuell, sondern vor allem als Problem des menschlichen Zusammenlebens, insbesondere des weltweiten Zusammenlebens der Völker. Auch wenn man nicht meint, der Frieden sei ein Zustand, der hergestellt werden müsse, sondern ihn mit Augustinus als originär gegeben betrachtet, bleibt doch die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß er nicht gestört oder womöglich zerstört wird, was einer Selbstvernichtung der Menschheit gleichkäme. Dieser heute aktuellen Sorge um den Frieden entsprechend, richtet sich das theoretische Interesse mehr auf seine sozialontologische Seite. Dabei wird hier unter „Sozialontologie" die Beschäftigung mit den Grundgegebenheiten der menschlichen Sozialität verstanden: mit den Elementen sozialer Realität, der Weise ihrer Ausbildung sowie ihren Produkten (wie z. B. Gewohnheiten, Institutionen und positive Normen). Je mehr wir über die Spezifika des gesellschaftlichen Seins Klarheit gewinnen, desto eher sind wir auch imstande, das Notwendige und Richtige zur Erhaltung des Friedens zu tun. - Es wird sich zeigen, daß die sozialontologische Betrachtungsweise auch für das erste der beiden genannten Probleme die entscheidende ist, denn es ist die Interaktion mit ihresgleichen, welche für die Person die „Grundlage ihres Existierens" bildet. Verwendet man Augustinus' Friedensbegriff als Konzept einer modernen Theorie des Friedens und konzentriert man sich dabei auf die sozialontologische Seite der Problematik, so steht im Mittelpunkt also die Frage, was Frieden als Grundlage der personalen Existenz bzw. als „Struktur" des menschlichen Zusammenlebens ist. Einige wichtige Hinweise findet man wie gesagt - schon bei Augustinus selbst; so vor allem seine Bemerkung, daß der Mensch gewissermaßen durch die Gesetze seiner Natur veranlaßt sei, Gesellschaft zu suchen und, soviel an ihm liegt, mit allen Menschen Frieden zu halten. 15 Augustinus setzt hier „inire societatem" und „obtinere pacem" parallel: der Mensch braucht von Natur aus beides, und man 15 Cap. 12. „Quanto magis homo fertur quodam modo naturae suae legibus ad ineundam societatem pacemque cum hominibus, quantum in ipso est, omnibus obtinendam."
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kann den Zusammenhang so verstehen, daß Frieden ein Moment oder notwendiger Bestandteil aller personalen Beziehungen ist. Ein weiterer sozialontologisch wichtiger Satz in Augustinus' Exkurs lautet: 16 „Wie es also zwar ein Leben ohne Schmerz geben kann, aber keinen Schmerz ohne Leben, so gibt es auch einen Frieden ohne irgendwelchen Krieg, aber niemals kann es einen Krieg ohne irgendwelchen Frieden geben; versteht sich: nicht sofern Krieg ist, sondern sofern der Krieg von denen oder inmitten derer geführt wird, die irgendwelche Naturen sind. Denn diese könnten keinesfalls existieren, wenn nicht auf der Grundlage eines irgendwie beschaffenen Friedens." Krieg und Frieden sind hier nicht zwei gegensätzliche Zustände, von denen der eine verschwinden müßte, wenn der andere eintritt, sondern Frieden ist personale Existenz, die bestehen bleibt, auch wenn sie gestört wird, also z. B. der soziale Zustand „Krieg" eintritt. Krieg könnte es gar nicht geben, wenn nicht Personen existierten (und sich insoweit noch im Frieden befänden), die die Störung verursachen bzw. davon betroffen werden. Offen bleiben muß allerdings, ob Augustinus an dieser Stelle den auch im Krieg gegebenen Frieden ontologisch in dem Sinn versteht, daß sich jeder Beteiligte mit sich selbst in Übereinstimmung befindet, oder - im Sinne des vorher interpretierten Zitats - sozialontologisch. In diesem Fall wäre es die Feststellung, daß Menschen, auch wenn sie gegeneinander Krieg führen, in sozialer Beziehung und insoweit in einem Verhältnis des Friedens zueinander bleiben. Da Krieg immer auch soziale Beziehung ist und jeder sozialen Beziehung ein Moment des Friedens innewohnt, gibt es „niemals einen Krieg ohne irgendwelchen Frieden". Ob man es aber ontologisch oder sozialontologisch versteht: Beide Male ist Frieden ein Moment, also notwendiger „Bestandteil" personaler Interaktion, der weder erst hergestellt werden muß, noch jemals verloren gehen kann. Als Oberbegriff, der alle Spielarten sozialer Beziehungen umfaßt und auf das ihnen Gemeinsame abhebt, hat sich in den Sozialwissenschaften die Bezeichnung „Interaktion" eingebürgert. Drücken wir damit Augustinus' Feststellung aus, daß der Mensch gewissermaßen durch die Gesetze seiner Natur veranlaßt sei, Gesellschaft zu suchen, so lautet sie: Der Mensch lebt im Modus der Interaktion. Das aber heißt, daß er nicht zunächst lebt und sich dann von Fall zu Fall an Interaktionen beteiligt, sondern daß sein Leben in der ständigen Teilnahme an Interaktion verläuft. - Damit perso" Cap. 13: „Sicut ergo est quaedam vita sine dolore, dolor autem sine aliqua vita esse n o n potest: sie est quaedam pax sine ullo bello, bellum vero esse sine aliqua pace n o n potest; non secundum id, quod bellum est, sed secundum id, quod ab eis vel in eis geritur, quae aliquae naturae sunt; quod nullo modo essent, si non qualicumque pace subsisterent." - Im letzten Satzteil ist wieder deutlich ausgesprochen, daß der Frieden „Grundlage des Existierens" ist.
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nale Interaktion zustande kommt, bedarf es ursprünglich weder eines den Beteiligten gemeinsamen Zweckes noch eines Minimalkonsenses über inhaltlichen Sinn. Denn immer wenn Personen einander begegnen, nehmen sie unwillkürlich aufeinander Bezug und stehen damit bereits in Interaktion. In dieser unwillkürlichen Bezugnahme gewinnt die aller Sozialität vorausliegende Gegebenheit, daß der Mensch auf das Zusammenleben mit seinesgleichen angelegt und angewiesen ist, soziale Realität. Sie aktualisiert sich als ein „intentionaler Konsens", der die erste gemeinsame Grundlage der Interaktion bildet. 17 In der Praxis ist die einzelne Interaktion an einem von den Beteiligten gemeinsam gemeinten und verfolgten Sinn orientiert; außerdem betreibt jeder von ihnen mit seiner Teilnahme noch seine eigenen Zwecke. Doch hat die einzelne Interaktion nicht nur diese subjektive Seite, sondern sie ist stets auch ein objektiver Vorgang, und dieser ist der Modus, in dem einerseits soziale Realität bzw. Gesellschaft entsteht, andererseits sich jeder Beteiligte - ohne es zu beabsichtigen oder auch nur sich dessen bewußt zu werden - in seiner individuellen Besonderheit als Person ausbildet. Die Entwicklung von Gesellschaft und Ausbildung der Person sind also ständige unwillkürliche Auswirkung jeglicher ausdrücklich geführten subjektiven Interaktion bzw. Momente der Interaktion als objektivem Vorgang. Man kann diese „objektive Interaktion" weder wollen oder „herstellen" noch nicht wollen oder abschaffen. Zwar bildet sich der einzelne Mensch als Person nicht nur in diesem Wege der Interaktion mit seinesgleichen unwillkürlich aus, sondern auch indem er sein Selbst ausdrücklich zum Objekt eigener Gestaltung macht. Sofern er aber im Modus der Interaktion lebt, ist sie „Grundlage seines Existierens" als Person und damit Frieden nach dem Begriff von Augustinus. Allerdings handelt es sich dabei nicht um den Frieden, der ontologisch mit der Struktur des Menschen als Lebewesen gegeben ist, sondern sozialontologisch - ist Interaktion die Struktur, durch die er zusätzlich als personales Wesen lebt. Und da die Ausbildung der Person im Modus von Interaktion unwillkürlich erfolgt, hat der Frieden im sozialontologischen Sinn seinen Ort nicht in der einzelnen subjektiven Interaktion, an der man ausdrücklich teilnimmt, in die man aus eigenem Entschluß eintreten und aus der man auch wieder ausscheiden kann. Er besteht vielmehr in der objektiven Interaktion, in der sich der Mensch, solange er lebt, befindet, ohne dies ausdrücklich zu wollen und zu wissen. Interaktion als objektiver Vorgang ist die „Grundlage seines Existierens" als Person, ganz gleich, was er in den subjektiven Interaktionen von Fall zu Fall tut bzw. was ihm " Hierzu, wie zu den sozialontologischen Grundlagen des Friedens im allgemeinen vgl.: Hans Buchheim: Theorie der Politik. - München 1981.
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widerfährt. - Das also ist die „nicht gestörte Ruhe der Ordnung" im Falle speziell der personalen Existenz des Menschen: die objektive Interaktion als Modus der unwillkürlichen Ausbildung der Person. Der Mensch kann den Willen haben und es in der Interaktion darauf anlegen, einen anderen in dessen Ausbildung als Person zu negieren und zu ruinieren. Er tut das, indem er dem Betreffenden z. B. absichtlich Schaden zufügt, ihn kränkt, bloßstellt, mißhandelt etc.; er macht, was der andere erreicht hat, mit Absicht zunichte und zerstört, was dieser aufgebaut hat; er bringt den anderen in eine antinomische Situation, in der dieser schuldig werden muß, wie immer er sich auch entscheide. Mit einem Wort: er führt, um einen anderen in seiner Ausbildung als Person zu ruinieren, die Interaktion destruktiv. Die Destruktion kann entweder unmittelbar gegen das Person-Sein des anderen gerichtet sein oder aber gegen die Interaktion als solche. Auch dies trifft letztlich den anderen, da er ja in seiner Ausbildung als Person von der Interaktion abhängig ist. Wer sich destruktiv verhält, nimmt nicht lediglich in Kauf, daß beim Verfolgen der eigenen Belange als Nebenwirkung anderen Schaden entsteht, sondern es ist seine eigentliche Absicht, einem bestimmten Menschen in einer Weise Schaden zuzufügen, daß er ihn in seiner personalen Existenz trifft. Um das zu erreichen, ist er sogar bereit, selbst Nachteile hinzunehmen und mit eigenen Belangen einen Preis zu zahlen. Den Betroffenen auf der anderen Seite schmerzen nicht nur die konkreten Wirkungen der Destruktion, die er erleidet oder noch befürchten muß, sondern schmerzlich empfindet er auch, daß er in seiner personalen Existenz getroffen werden soll - und zwar schon dann, wenn er die Absicht des anderen, destruktiv zu sein, bemerkt. Diese Absicht ist der Inhalt des Begriffs „Feindschaft". Da aber die Ausbildung der Person im Modus der objektiven Interaktion unwillkürlich erfolgt, kann sie bzw. kann die objektive Interaktion von der destruktiven Führung der subjektiven Interaktion nicht erreicht werden. Denn erstens ist grundsätzlich gegenüber allem, was unwillkürlich bewirkt wird, ausdrückliche und gezielte Einwirkung machtlos. Zweitens hat die Destruktion, da sie nur im Wege von Interaktion betrieben werden kann, eben damit unweigerlich das zur Folge, was sie negiert, nämlich zur Ausbildung des Person-Seins dessen beizutragen, gegen den sie sich richtet. Dagegen aber vermag die destruktive Interaktion die objektive Interaktion und die Ausbildung der Person zu desavouieren; das heißt, daß sie das, was sie bewirkt, obgleich sie es bewirkt, ausdrücklich negiert. 18 Also 18 D a s Wort „desavouieren" erscheint für das, was hier gemeint ist, besonders geeignet, weil es in unserem Sprachgebrauch ein Verhalten bezeichnet, das sich für den Betroffenen destruktiv auswirkt, ohne daß ihm aktiv etwas zuleide getan würde. Jemanden desavouieren heißt, ihm die Dignität entziehen, ihm die Glaubund Vertrauenswürdigkeit nehmen.
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ist die in der subjektiven Interaktion angestrebte Destruktion der Ausbildung der Person faktisch - nämlich in der objektiven Interaktion - deren Desavouierung. Die Ausdrücklichkeit der Desavouierung aber bringt dem Betroffenen zum Bewußtsein, was normalerweise ungewußt bleibt: daß die objektive Interaktion die „Grundlage seines Existierens" als Person bzw. die Struktur seines Lebens als personales Wesen ist. Und zwar geschieht das Bewußtwerden indirekt in der negativen Weise, daß sich die Grundlage als in Frage gestellte und bedrohte erweist. Im Schmerz, den ihm das bereitet, wird der Betroffene dieser Grundlage gewahr, und er erfährt auf diese Weise den Frieden als entbehrtes Gut. Wenn sein Feind von der Destruktion abläßt, oder wenn es gelingt, ihn davon abzubringen, findet auch die Desavouierung der objektiven Interaktion ihr Ende, und damit ist der Frieden wieder hergestellt. Es kommt hinzu, daß die ausdrückliche Negierung und Desavouierung der Ausbildung der Person den Betroffenen herausfordert, sich ausdrücklich dazu zu verhalten. Das kann entweder in der Weise geschehen, wie er die Interaktion weiterführt; er kann aber auch in dem Bereich reagieren, in dem er sein Selbst zum Objekt ausdrücklicher Gestaltung macht. Durch diese Vermittlung wird es dann u.U. möglich, daß die Destruktion nicht lediglich Desavouierung der Ausbildung der Person bleibt, sondern diese wirklich in Mitleidenschaft zieht. Das geschieht z. B. dadurch, daß der Betroffene seinem Leiden unter der Desavouierung nachgibt. Er kann allerdings auch - umgekehrt - Gewinn aus der Desavouierung ziehen, indem er z. B. menschenunwürdige Behandlung zum Anlaß nimmt, sich in seiner Menschenwürde zu bewähren. - Diese Vermittlung und ihre Möglichkeiten liegen jedoch außerhalb des Problembereichs des Friedens. Wenn die Interaktion als objektiver Vorgang und Modus der unwillkürlichen Ausbildung von Person und Gesellschaft Frieden im Sinne von Augustinus ist, dann bietet sich für deren Desavouierung der Begriff „Unfried e n " an. Abgesehen davon, daß dies sowieso der adäquate Gegenbegriff ist, paßt er zu allen Arten der die Desavouierung bewirkenden Destruktion, von denen Kriegführung und Gewaltsamkeit nur zwei unter zahlreichen anderen sind. Unfrieden ist sozialontologisch aber nicht die destruktiv geführte subjektive Interaktion, sondern die daraus resultierende Desavouierung der objektiven Interaktion, mithin der Ausbildung der Person dessen, gegen den sich die Destruktion richtet. Lebenspraktisch fallen allerdings das wegen ihrer Desavouierung schmerzliche Bewußtwerden der objektiven Interaktion, mithin des Friedens als entbehrtes Gut einerseits und das unmittelbare Leiden unter der destruktiv geführten subjektiven Interaktion andererseits in ein und derselben Erfahrung zusammen. Wie bei Augustinus der Frieden als Übereinstimmung eines Dinges, eines Lebewesens oder einer sozialen Gemeinschaft mit sich selbst zwar
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mehr oder weniger gestört, jedoch niemals völlig aufgehoben werden kann (es sei denn durch Zerstörung bzw. Tod), so ist es auch nicht möglich, den Frieden, den die objektive Interaktion als soziale Struktur der personalen Existenz darstellt, völlig aufzuheben. Denn obgleich das destruktive Wollen oder die Feindschaft die Ausbildung der Person ausdrücklich negiert, vermag sie diese doch nicht aufzuheben, sondern höchstens - vermittelt durch die Reaktionen des Betroffenen - zu stören. Zwar kann, wenn Unfriede „herrscht", Frieden nicht „herrschen", aber er bleibt - wenn auch verleugnet - mitten in der Destruktion als objektive Interaktion bestehen. Unfrieden kann nicht total sein, sondern er behält das Moment des Friedens immer in sich, weil er nichts Eigenständiges, sondern lediglich eine Desavouierung oder Störung des Friedens ist, dieser aber nur unter der Voraussetzung desavouiert und gestört werden kann, daß es ihn gibt. Daher bietet auch der ärgste Unfrieden noch Ansatzpunkte zur Wiederherstellung des Friedens, genauer gesagt: dazu, daß Frieden nicht nur noch vorhanden ist, sondern wieder „herrschend" wird. Wie bei Augustinus der absolute Gegensatz zum Frieden eines Dinges oder Lebewesens deren Zerstörung oder Tod, so ist der absolute Gegensatz zum Frieden als „Grundlage des Existierens" einer subjektiven Interaktion nicht absoluter Unfrieden, sondern der Tod der Beteiligten. Endgültige Destruktion gibt es nicht im Wege von, sondern nur als Alternative zu Interaktion. Frieden ist nicht die nicht-destruktiv geführte subjektive, sondern die unwillkürlich stattfindende objektive Interaktion, sofern sie als Modus der Ausbildung der Person und sozialen Welt nicht desavouiert und gestört ist. Unfrieden besteht in dieser Desavouierung und Störung. Das heißt aber, daß Unfrieden sozialontologisch nicht die gleiche Qualität wie Frieden hat. Dieser ist als objektive Entwicklung der menschlichen Sozialität eine fundamentale Gegebenheit, jener dagegen ist lediglich deren Desavouierung oder Störung und vermag die Ausbildung der Person in ihrer Substanz nicht zu erreichen. Obgleich Unfrieden der adäquate Gegenbegriff zum Frieden ist, bildet er doch nicht in dem Sinne dessen Gegenteil, daß, wenn der eine eintritt, der andere verschwände. Eine der spezifischen Schwierigkeiten, unter denen Theorie und Praxis des Friedens leiden, entsteht daraus, daß Frieden und Unfrieden lebenspraktisch als etwas anderes erfahren werden, als sie sozialontologisch sind. Denn dem Anschein nach handelt es sich um zwei Zustände subjektiver Interaktion, die sich durch bestimmte Eigentümlichkeiten voneinander sowie von allen möglichen anderen sozialen Zuständen unterscheiden. Daraus wiederum erwächst die Vorstellung, den vermeinten Friedenszustand könne es mal geben, ein andermal nicht geben; er ließe sich herbeiführen, herstellen oder beseitigen; und er sei eine besonders vollkommene
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Weise personaler Interaktion. In Wirklichkeit j e d o c h ist Frieden das immer gegebene Substrat aller Sozialität, das selbst nicht Gegenstand ausdrücklichen Wollens oder subjektiver Interaktion sein kann. Sofern dieses Substrat, weil es desavouiert oder gestört wird, indirekt zum Bewußtsein kommt, geschieht das im Zusammenhang mit dem unmittelbaren Erleiden von Destruktion; deshalb kann man vereinfachend, jedoch ungenau auch sagen, „ F r i e d e n " sei die subjektive Interaktion unter dem Aspekt möglicher oder stattfindender Destruktion: Wer leidet, weil die Interaktion destruktiv geführt wird, für den ist „ F r i e d e n " eben diese Interaktion, sofern er sich entweder vorstellt, daß die Destruktion beendet wäre, oder sofern er erlebt, daß sie vorbei ist. Wer sich in einer nicht-destruktiven Interaktion befindet, für den ist diese „ F r i e d e n " , sofern er an die Möglichkeit denkt, daß sie destruktiv werden könnte. - Ein Gut ist der Frieden, nicht weil die Interaktion in dieser oder jener bestimmten Weise stattfindet, sondern weil Interaktion als solche ein Gut darstellt, nämlich etwas für die Person existentiell Notwendiges. Das Eigentümliche der objektiven Interaktion und damit des Friedens im Vergleich zur subjektiven Interaktion kann man sich verdeutlichen, wenn man anhand des augustinischen Friedensbegriffs das analoge Verhältnis betrachtet, das zwischen der unwillkürlichen Ausbildung der Person und dem besteht, was man als „Selbstverwirklichung" zu bezeichnen pflegt. Seine Selbstverwirklichung betreibt der einzelne bewußt, indem er sein Selbst ausdrücklich zum Gegenstand eigener Gestaltung macht. Dabei geht er von den Vorstellungen aus, die er nach Maßgabe sozial gegebener Kriterien von sich selbst hat, um auf das zu zielen, was er nach eben diesen Kriterien sein möchte oder meint, sein zu sollen. Dagegen vollzieht sich seine Ausbildung als Person unwillkürlich im Bereich seiner von Augustinus (ontologisch) als „ F r i e d e n " bezeichneten Übereinstimmung mit sich selbst. Diese Übereinstimmung ist ihm nicht als Aufgabe gestellt, sondern als Element seiner Existenz originär gegeben; sie kann nicht verloren gehen sondern lediglich gestört werden. Wie es für sie nach der negativen Seite keine Alternative außer dem Tod gibt, so gibt es nach der positiven Seite keine Steigerung oder Verbesserung, die über ihr Nichtgestört-sein hinausginge. Die Übereinstimmung der Person mit sich selbst und die Ausbildung der Person in dieser Übereinstimmung ist als solche ein Gut, nicht aber wegen einzelner Momente, in denen sie besteht. Sie ist ein Gut, was man hat, nicht eines, was man sich erwerben muß. Seine Ausbildung als Person kann der einzelne nicht - wie die Selbstverwirklichung - zum Gegenstand bewußter Gestaltung machen, weil sie damit erstens ihr Spezifikum verlöre, ein unwillkürlicher objektiver Vorgang zu sein; und weil es zweitens da nichts zu tun gibt, außer eventuelle Störungen zu überwinden oder der Möglichkeit vor Störung vorzubeugen.
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Wenn es jemand trotzdem unternähme, seine Ausbildung als Person ausdrücklich zu betreiben, so würde sich das Moment personaler Existenz, das er in den Griff zu bekommen versuchte, unter der Hand in einen Gegenstand seiner Lebenspraxis und damit der Selbstverwirklichung bzw. subjektiven Interaktion verwandeln. Leben - so kann man auch sagen kann nicht Absicht oder Zweck des Lebenden sein, aber der Mensch lebt, indem er einzelne Absichten verfolgt, sich bestimmte Zwecke setzt, gemeinten Sinn erfüllt oder zur Geltung bringt etc. Auch die Sicherung des Lebens kann Gegenstand der Lebenspraxis sein (und ist praktisch sogar ein wichtiger Lebensinhalt), nicht dagegen das Leben selbst. All dieses über die unwillkürliche Ausbildung der einzelnen Person Gesagte gilt nun auch für die Interaktion als unwillkürlichem objektivem Vorgang und damit für den Frieden im sozialontologischen Sinn. Die objektive Interaktion als Modus der Ausbildung der Person ist nicht eine Aufgabe, die gelöst werden muß, sondern etwas jederzeit Gegebenes; Frieden kann man nicht zum ausdrücklich gesetzten und verfolgten Sinn der subjektiven Interaktion machen, sondern diese setzt Frieden voraus und schließt ihn ein bzw. läßt sie sich - wie bereits gesagt - unter bestimmtem Aspekt als Frieden auffassen. Nach der negativen Seite hin kann die objektive Interaktion gestört, aber nicht zerstört werden, es sei denn durch den Tod der Beteiligten. Nach der positiven Seite hin kann es als Gegensatz zur gewollten Destruktion keine gewollt „konstruktive" Interaktion geben, deren Ziel wäre, den anderen in seiner Ausbildung als Person zu fördern. Es gibt vielmehr nur den Verzicht auf Destruktion und das heißt: den anderen in seiner personalen Existenz akzeptieren; damit ist die Desavouierung und Störung der objektiven Interaktion beendet, und deren Qualität läßt sich darüber hinaus nicht steigern. Denn niemand kann die konstruktiven, gleichwohl jedoch unwillkürlich sich vollziehenden Auswirkungen der objektiven Interaktion auf die Ausbildung der Person ausdrücklich und gezielt beeinflussen. Die Alternative zur destruktiven Interaktion ist also einfach Interaktion, und diese ist auf ihrer objektiven Seite Frieden. „Frieden halten" ist einfach Verzicht auf Destruktion und bedarf darüber hinaus keiner „konstruktiven" Anstrengung. Möglich (und auch notwendig) ist allerdings, den Frieden gegen Störung zu sichern. D.h.: Wir können Frieden zwar nicht herstellen, wohl aber Anstrengungen machen, um ihn zu wahren und die Möglichkeit des Unfriedens zurückzudämmen. Schließlich ist die objektive Interaktion als solche ein Gut, unabhängig davon, wie erfreulich oder kümmerlich es um die subjektive Interaktion der Beteiligten bestellt ist. Darin liegt eine zweite spezifische Schwierigkeit beim praktischen Umgang mit dem Frieden, wie auch bei den theoretischen Erörterungen über ihn, d a ß wir ihn zwar als erstrebtes Gut erfahren, daß er jedoch eigentlich
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etwas unwillkürlich und immer G e g e b e n e s ist; d a ß w i r infolgedessen dieses erstrebte G u t w e d e r herstellen, n o c h z u m G e g e n s t a n d b e w u ß t e r A u s g e staltung m a c h e n k ö n n e n . W i e die einzelne Person z w a r ihre Selbstverwirklichung z u m G e g e n s t a n d ihrer L e b e n s p r a x i s m a c h e n k a n n , nicht a b e r die mit der eigenen Existenz g e g e b e n e Ü b e r e i n s t i m m u n g mit sich selbst; wie sie sich aber in dieser bei allem, w a s sie tut und leistet, unwillkürlich ausbildet, so tragen die Beteiligten j e d e r Interaktion, i n d e m sie diese subjektiv führen und deren A u f g a b e n zu lösen sich b e m ü h e n , zur o b j e k t i v e n Interaktion, mithin zu ihrer A u s b i l d u n g als Personen und zur E n t w i c k l u n g der sozialen Welt unwillkürlich bei. U n d j e weiter sich a u f diese W e i s e die Wahrscheinlichkeit destruktiver Interaktion verringert, u m so mehr wird der immer schon g e g e b e n e Frieden vertieft. G e r a d e weil er Substrat aller Sozialität ist, m u ß im Bezugsrahmen der subjektiven Interaktion seine Vert i e f u n g unwillkürlich anfallendes N e b e n p r o d u k t sein u n d bleiben. W e r meint, d e n Frieden selbst zum Z w e c k der Interaktion u n d G e g e n s t a n d ausdrücklicher G e s t a l t u n g machen zu k ö n n e n , verfehlt ihn g e r a d e ; w ä h r e n d er sich einbildet, in diesem Sinn d e n Frieden zu f ö r d e r n , heftet er dessen Beg r i f f in W a h r h e i t einem - im G r u n d e beliebigen - Interaktionszweck an. W e n n Personen ihre Interaktion vernachlässigen o d e r deren Probleme mehr o d e r weniger unbewältigt lassen, d a n n herrscht d e s w e g e n n o c h kein U n f r i e d e n , da dieser erst mit gewollter Destruktion eintritt, w o h l aber verliert der Frieden gewissermaßen an T i e f e , weil sich die Wahrscheinlichkeit, d a ß einzelne Beteiligte zur Destruktion neigen, erhöht. W o h l k a n n m a n w e g e n dieser Z u s a m m e n h ä n g e j e d e nicht-destruktive b z w . j e d e gelungene Interaktion als „ B e i t r a g z u m F r i e d e n " deklarieren, d o c h stellt m a n den Frieden damit unter einen für ihn unspezifischen A s p e k t . D e n n er ist g e r a d e nicht G e g e n s t a n d solcher Interaktionen, sondern unwillkürlicher E f f e k t von Interaktion überhaupt b z w . ist die Vertiefung des Friedens unwillkürlicher E f f e k t gelungener Interaktion. S o sind die Leistungen, die „ f ü r den F r i e d e n " faktisch erbracht w e r d e n , w e d e r direkt n o c h explizit a u f ihn gerichtet, sondern sie ergeben sich, w o i m m e r Interaktion stattfindet b z w . gelingt. U n t e r a n d e r e m B l i c k w i n k e l gesehen bedeutet d a s : w e n n eine Interaktion nicht-destruktiv, mithin friedlich verläuft, so beruht das z w a r unmittelbar a u f dem Verzicht der Beteiligten a u f Destruktion, im G r u n d e aber k o m m t eine N e i g u n g zur Destruktion deshalb nicht auf, weil die Beteiligten ihre Interaktion bewältigen, also durchaus positive Leistungen der G e s t a l t u n g ihrer sozialen Beziehungen erbringen. D a h e r ist es falsch zu glauben, beim Verzicht a u f Destruktion hätten die Beteiligten nichts geleistet als diesen Verzicht, und d e r Frieden sei mithin nur ein „ n e g a t i v e r " . D a s Entscheidende, w a s wir d a u e r n d „ f ü r d e n F r i e d e n " tun, geschieht also w e d e r a u s d r ü c k l i c h noch unmittelbar für i h n ; wir setzen uns in diesen
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Fällen den Frieden auch gar nicht zum Zweck, ja er ist nicht einmal in unserem Bewußtsein. - Das einzige, was man in der subjektiven Interaktion ausdrücklich und unmittelbar für den Frieden tun kann, ist Destruktion unterlassen bzw. stattfindende Destruktion beenden. - Ausdrücklich, jedoch nur mittelbar kann der Frieden schließlich in zwei Fällen Gegenstand subjektiver Interaktion sein. Der erste Fall ist gegeben, wenn sich in einer destruktiv geführten Interaktion die Beteiligten bemühen, die Voraussetzungen für eine Beendigung der Destruktion zu schaffen und damit die Desavouierung und Störung der objektiven Interaktion zu überwinden. Das geschieht dadurch, daß man die in der destruktiven Interaktion niemals fehlenden Momente und Möglichkeiten nicht-destruktiver Interaktion nutzt bzw. entwickelt. Frieden kann also zwar nicht hergestellt, wohl aber wiederhergestellt werden, indem man ihn aus dem Status des nur noch Vorhandenseins wieder zur „Herrschaft" bringt. Zweitens kann man Vorkehrungen treffen, die prinzipiell immer bestehende Möglichkeit destruktiver Interaktion zurückzudämmen. Das geschieht im wesentlichen durch Setzung für diesen Zweck geeigneter Normen sowie durch technisch-organisatorische Sicherheitsmaßnahmen gegen mögliche Gewaltsamkeit. Diese speziellen Vorkehrungen in der subjektiven Interaktion haben allerdings insofern auch ihre problematische Seite, als sie nichts zur Bewältigung der Aufgaben beitragen, die sich mit jeder Interaktion eigentlich stellen. Es ist daher nicht auszuschließen, daß man in dem Bemühen, den Frieden „sicherer zu machen", die eigentlichen Interaktionsprobleme vernachlässigt und damit die Neigung zu Destruktion und die Wahrscheinlichkeit von Unfrieden unwillkürlich wachsen läßt. Von einem gewissen Punkt an verringert sich demnach die Sicherheit, wenn man die Interaktion einseitig an dem Bemühen orientiert, die Sicherheit zu erhöhen. Die Unterscheidung von „negativem" und „positivem" Frieden ist überhaupt im Kern verfehlt und irreführend. Denn wie es auf der einen Seite durchaus positiven rationalen Handelns bedarf, um Gewaltsamkeit auszuschalten oder einen Kriegszustand zu überwinden, so kann auf der anderen Seite das, was den Frieden betrifft, gerade nicht so ausdrücklich auf Frieden gezielt getan werden, wie das, was ihn stört. Und vom auch im Unfrieden noch vorhandenen Frieden über den wieder herrschenden Frieden bis zur weiteren Vertiefung des Friedens erstreckt sich ein Kontinuum, auf dem nicht an irgendeiner Stelle die Qualität dessen, was Frieden eigentlich ist, sich änderte. Bei der Anwendung von Augustinus' Friedensbegriff auf die „Grundlage des Existierens" speziell der Person und damit auf die personale Interaktion hat sich ergeben, daß Frieden die objektive Seite dieser Interaktion ist: die weder gewollte noch gewußte Ausbildung der Beteiligten als Personen, sofern sie nicht desavouiert wird. Das ist die „nicht gestörte Ruhe der
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Ordnung" speziell der personalen Existenz, ihre „Struktur" oder wenigstens ein Moment ihrer Struktur, das bleibt, wie immer die subjektiven Interaktionen verlaufen mögen. Lebenspraktisch wird die subjektive Interaktion bzw. wird menschliches Zusammenleben immer dann als Frieden erfahren und so genannt, wenn man sie unter dem Aspekt stattfindender oder möglicher Destruktion sieht. - Fragt man nun aufgrund dieses Ergebnisses, was Frieden im Bereich bzw. als Aufgabe der Politik sei, so lautet die erste sehr einfache Antwort: In der Politik herrscht Frieden, soweit die politische Interaktion nicht destruktiv geführt wird. Was man für den Frieden tun kann, ist auch hier: Destruktion unterlassen; sich bemühen, stattfindende Destruktion zu überwinden oder die Möglichkeit von Destruktion zurückzudämmen; die einzelnen politischen Aufgaben und Probleme so behandeln, daß die Neigung zu Feindschaft und Destruktion bzw. die Wahrscheinlichkeit von Unfrieden zumindest nicht zunimmt. Keinesfalls kann dagegen Frieden das Ziel sein, das Politik sich setzt und unmittelbar ansteuert, oder ein Zustand, der durch die Erfüllung bestimmter politischer Forderungen herstellbar wäre. Politik „dient" dem Frieden, indem sie ihre einzelnen Aufgaben bewältigt, nicht dagegen dadurch, daß sie ihn selbst zu ihrem Zweck erklärt. Innerhalb des Staates ist Frieden insofern von vornherein gegeben, als der den Mitgliedern der betreffenden Gesellschaft gemeinsame Wille, eine handlungsfähige Einheit zu bilden sowie unter einer gemeinsamen politischen und rechtlichen Ordnung zu leben, eine prinzipielle Absage an destruktive Interaktion einschließt. Dieser innere Frieden vertieft sich dann in dem Maße, in dem es von Fall zu Fall gelingt, Probleme des öffentlichen Zusammenlebens zu bewältigen und damit die Neigung zu Feindschaft und Destruktion bzw. die Wahrscheinlichkeit von Unfrieden zu verringern. Außerdem trifft man rechtliche und technisch-organisatorische, aber auch politische Vorkehrungen, um die Möglichkeit von Unfrieden zurückzudämmen, also Sicherheit gegen Gewaltsamkeit, destruktiven Zwang etc. zu schaffen. Solche Vorkehrungen, so notwendig und nützlich sie im einzelnen sein mögen, tragen allerdings nicht zur Lösung der eigentlichen Probleme des politischen Lebens bei; deshalb gilt es darauf zu achten, daß man diese über dem Streben nach Sicherheit nicht vernachlässigt. Andernfalls könnte das, was man auf der einen Seite durch Zurückdämmung der Möglichkeit von Unfrieden gewinnt, auf der anderen Seite wieder verloren gehen, weil unbewältigte Aufgaben des öffentlichen Zusammenlebens die Neigung zu Feindschaft und Destruktion zunehmen lassen. Während zwischen Einzelpersonen Unfrieden schon eintritt, wenn der Wille zur Destruktion sich kundtut, bleibt im Staat der Frieden so lange ungestört, als dieser Wille durch institutionelle Vorkehrungen, insbeson-
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dere durch eine jederzeit durchsetzbare Rechtsordnung gehindert ist, sich zu realisieren. Denn Feindseligkeit vermag die objektive Interaktion insoweit nicht zu desavouieren, als die Betroffenen sich sicher fühlen dürfen, daß sie keine Wirkungen zu zeitigen vermag. Diese objektive Friedensgarantie ist eine der spezifischen Leistungen des Staates. Sie erlaubt es seinen Bürgern auch, zur Wahrnehmung ihrer Interessen untereinander Konflikte zu riskieren, ohne daß deswegen der einzelne Gefahr liefe, Opfer von Gewaltsamkeit zu werden. Konflikt ist kein Unfrieden. Er entsteht im Prinzip mit jeder Interaktion, da stets mehr oder weniger unterschiedliche oder auch gegensätzliche Belange und Absichten aufeinandertreffen. Insofern jede Interaktion Probleme mit sich bringt, die gelöst werden müssen, enthält sie auch Konfliktstoff. Konflikte verschärfen sich, wenn einzelne ihren Nutzen auch auf Kosten anderer suchen und zum eigenen Vorteil deren Nachteil und Schaden in Kauf nehmen. Aber selbst wenn jemand die Absichten eines anderen zu vereiteln sucht, ist das noch kein Unfrieden, solange er es im Interesse der eigenen Zwecke tut und nicht mit der Absicht, den, der den Schaden hat, in seiner personalen Existenz zu treffen. W o dieser Wille zur Destruktion, wo also Feindschaft fehlt, bleibt zumindest im Prinzip die Bereitschaft, dem anderen die Möglichkeit, seine Belange zu wahren, zu belassen. Konflikt ist also kontroverse, nicht jedoch destruktive Interaktion. Man darf weder ihn als eine mildere Form von Unfrieden verstehen, noch diesen als eine Variante des Konflikts, so als sei nur das Ausmaß der Differenzen unterschiedlich und infolgedessen die Interessengegensätze größer oder geringer oder als würden die Auseinandersetzungen in dem einen Fall härter geführt als im anderen. Der Unterschied zwischen Konflikt und Unfrieden ist kein gradueller, sondern ein qualitativer. Wohl erhöht jeder Konflikt die Wahrscheinlichkeit, daß Unfrieden ausbricht. Es ist dann aber nicht der Konflikt, der sich zum Unfrieden steigert, sondern die Interaktion selbst schlägt ins Destruktive um, ohne daß sich am Konfliktstoff und an der Konfliktsituation etwas änderte. Um in diesen Fällen den Frieden wiederherzustellen, gibt es zwei Möglichkeiten: Erstens kann man den Konfliktstoff und damit den ursprünglichen Anlaß für den Unfrieden ausräumen. Es ist jedoch keineswegs sicher, daß auf diese Weise die einmal entstandene Feindschaft wirklich überwunden wird; im Gegenteil: Es ist eher wahrscheinlich, daß sie, und damit der Unfrieden, den Anlaß ihrer Entstehung überdauern. Der bessere Weg ist daher der zweite, die Feindschaft abzubauen. Damit ist zwar der Konflikt noch nicht ausgetragen oder gelöst, aber man gewinnt die Möglichkeit, ihn in Frieden beizulegen, notfalls auch mit ihm in Frieden zu leben. Da jeglicher Konflikt bei den Beteiligten die Neigung zu Feindseligkeit und Destruktion und damit die Wahrscheinlichkeit von Unfrieden erhöht,
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soll sich jedermann im Interesse des Friedens bemühen, es möglichst nicht zu akuten Konflikten kommen zu lassen, eine Verschärfung von Konflikten zu vermeiden und bestehende Konflikte zu überwinden oder wenigstens zu mildern. Dem steht jedoch entgegen, daß erlaubt sein muß, zur Verteidigung berechtigter Interessen es auf einen Konflikt ankommen zu lassen, ja daß es geboten sein kann, um des Rechtes oder sittlicher Güter willen auch einen Konflikt nicht zu scheuen. D a ß man nötige Konflikte wagen und austragen kann, ohne deswegen die Wahrscheinlichkeit des Unfriedens zu erhöhen, wird - wie bereits gesagt - durch die objektive Friedensgarantie des Staates ermöglicht. Es ist ein Zeichen dafür, daß Frieden herrscht, wenn auch der Schwache, um sein Recht zu wahren, den Konflikt mit einem Mächtigen riskieren kann, weil er darauf bauen darf, daß unter dem Schutz des Staates der Streit eine gewaltlose und möglichst gerechte Lösung findet. 19 Die Bedeutung der objektiven Friedensgarantie, für die sich auch im internationalen Bereich mutatis mutandis Parallelen finden, zeigt, daß die Politik für das Leben in Frieden notwendige Leistungen erbringt, die durch das, was Friedensgesinnung und moralische Anstrengungen der Menschen als einzelne bewirken können, prinzipiell nicht zu ersetzen sind, wie sehr auch das Potential individueller Moralität und moralisch orientierter Tatbereitschaft gesteigert würde. Daher macht alle Friedenserziehung das politische Kalkül und die politische Institution als Mittel zur Friedenserhaltung nicht überflüssig. Soweit sie aber die Möglichkeiten des einzelnen, Konfliktpotential zu verringern, einseitig betont und womöglich die Ratio des politischen Kalküls und der politischen Institution als fragwürdig hinstellt, nährt sie gefährliche Illusionen. Wenn man das, was „für den Frieden" getan werden muß, auf individuelle Konfliktbewältigung reduziert, bedeutet das zudem, den Frieden in der Welt mit einer Welt ohne Konflikte gleichzusetzen. Das kann es jedoch nicht geben, während eine Welt ohne politische Feindschaft zumindest denkbar ist. Da der Staat handlungsfähiges Subjekt, aber nicht Person ist, ist er nicht auf Interaktion mit seinesgleichen angelegt und angewiesen. So existiert der Staat - sozialontologisch gesehen - autark, und die Interaktion zwischen Staaten kann als objektiver Vorgang nicht Modus einer unwillkürlichen Ausbildung der Beteiligten als Person sein. Außerdem sind Staaten, da bei ihnen Existenz und Interaktion nicht untrennbar zusammengehören, in der Lage, gegeneinander Destruktion zu treiben, ohne damit die „Grundlage ihres Existierens" zu desavouieren und zu stören. Das alles " Im Hinblick darauf bezeichnet Dolf Sternberger den Frieden treffend als „institutionalisierten Streit" (zuerst in: D. Sternberger: Begriff des Politischen. Der Friede als Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen. - Frankfurt/ Main 1961, S.23).
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bedeutet, daß es zwischen diesen nicht-personalen Subjekten selbst weder Frieden noch Unfrieden im Sinne der sozialontologischen bzw. interaktionstheoretischen Weiterentwicklung von Augustinus' ontologischem Friedensbegriff gibt. Vielmehr kann im zwischenstaatlichen Bereich von Frieden und Unfrieden als für Menschen relevante und erfahrbare Realität nur insoweit die Rede sein, als die Interaktion der Staaten sich auf die personale Existenz ihrer Bürger, auf deren Ausbildung als Personen auswirkt. In Anbetracht dieser Zusammenhänge gibt es Unfrieden zwischen Staaten allein in dem einen Fall, daß sie ihre destruktive Interaktion gewaltsam, also daß sie Krieg führen. Denn Gewaltsamkeit richtet sich notwendigerweise gegen Personen und beeinträchtigt zwangsläufig deren „Grundlagen ihres Existierens". In allen anderen Fällen mag destruktive Interaktion zwischen Staaten deren Bürgern viele Nachteile bringen und großen Schaden zufügen, aber sie versetzt sie nicht in Unfrieden, da sich die Feindseligkeit dann ja nicht gegen die Menschen als einzelne richtet und die Destruktion nicht deren personale Existenz desavouiert. Der „Kalte Krieg" und die Auferlegung eines „Diktatfriedens" sind Beispiele solcher destruktiver Interaktion zwischen Staaten, bei denen die beteiligten und betroffenen Menschen in ihrer personalen Existenz „in Frieden gelassen" bleiben. - Friedensschlüsse zwischen Staaten sind sanktionierte Vereinbarungen, auf gewaltsame Destruktion zu verzichten, verbunden mit einer mehr oder weniger weitgehenden Ordnung ihrer Beziehungen. Letzteres unterscheidet die Friedensverträge von bloßen Sicherheitsvereinbarungen. Weil aber für die beteiligten Menschen beides Frieden im sozialontologischen Sinn bedeutet, besteht eine verbreitete Neigung, sich mit Sicherheitsabreden als Ersatz für Friedensschlüsse abzufinden. Krieg und Frieden sind eigentlich inkommensurable Gegebenheiten, denn Krieg ist destruktive subjektive Interaktion zwischen Staaten, also nichtpersonalen Subjekten; Frieden dagegen ist die objektive Seite personaler Interaktion, sofern die Ausbildung der Beteiligten als Personen nicht desavouiert wird. Außerdem ist Krieg nur eine Möglichkeit des Unfriedens unter anderen. Daß Krieg und Frieden einander im Grunde nicht entsprechen, äußert sich z. B. in der ebenso charakteristischen wie bemerkenswerten Tatsache, daß die Menschen, die die destruktive Interaktion zwischen Staaten mit Mitteln der Gewaltsamkeit exekutieren, persönlich vom Willen zur Destruktion, also von gegenseitiger Feindseligkeit frei sein können. Der „hostis" muß keineswegs „inimicus" sein. - Trotz allem werden Krieg und Frieden seit eh und je insofern zu Recht als Gegensatzpaar aufgefaßt, als Krieg für die betroffenen Menschen als einzelne in jedem Fall und unentrinnbar Unfrieden bedeutet. Sie werden durch die Gewaltsamkeit der Auseinandersetzung in der „Grundlage ihres Existierens"
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als Personen getroffen und sind außerstande, durch eine eigene Entscheidung gegen Destruktion bzw. durch Verzicht auf Feindseligkeit der Gewaltsamkeit ein Ende zu setzen. Dem entspricht, daß das Ende des Krieges für die betroffenen Menschen Frieden ist, ungeachtet dessen, daß auch dann die Destruktion zwischen Staaten auf andere Weise andauern und zwischen den Bürgern des einzelnen Staates auf vielerlei Weise Unfrieden herrschen oder einbrechen kann. Der Krieg, schreibt Thomas Hobbes, besteht nicht nur in Schlachten oder Kampfhandlungen, sondern in einem Zeitabschnitt, in dem der Wille dazu ausreichend bekannt ist: „So besteht die Natur des Krieges nicht nur in aktuellen Kämpfen, sondern in der gewußten Disponiertheit dafür („in the known disposition there to"), während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher ist. Alle andere Zeit ist Frieden." 20 Daß dieser Frieden kein „negativer" ist, der irgendetwas zu wünschen übrig ließe, kann jedermann bestätigen, der das Ende eines Krieges erlebt hat. Er weiß, daß Frieden niemals intensiver erfahren und als Glück empfunden wird, als am Tag der „Einstellung der Kampfhandlungen". Darauf richtete sich die Friedenssehnsucht, solange der Krieg dauerte und man sich keinen Augenblick vor Gewaltsamkeit sicher fühlen konnte. Und niemand kommt, wenn diese Sicherheit mit einem Male da ist, auf den Gedanken, Friede herrsche erst, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse irgendwelchen idealen Anforderungen genügten.
20
Leviathan I, 13.
VI.
Rationales politisches Handeln bei Thukydides Das der Situation angemessene dem eigensinnigen Rechtsstandpunkt vorziehen. Gorgias von Leontinoi, Fragmente 6
1.
„Thukydides von Athen hat den Krieg der Peloponnesier und Athener beschrieben, wie sie gegeneinander kämpften. Er begann damit gleich als der Krieg ausbrach, in der Erwartung, daß dieser bedeutend sein werde und bemerkenswerter als alles, was sich früher zugetragen h a t . . . Es war der größte Aufruhr, der die Griechen erfaßte, auch einen Teil der Barbaren, ja, man kann sagen, den größten Teil der Menschen." Mit diesen Worten fängt Thukydides' Geschichte des Peloponnesischen Krieges an. 1 Wer sie liest, stellt fest 2 , daß Thukydides das „Bedeutende" dieses Krieges nicht im Heldentum der Kämpfenden oder in der Wichtigkeit der Gründe und Ziele des Krieges sah, sondern in dessen Grausamkeit und in dem Leiden, das er über die Menschen brachte. Er bevorzugte bei der Auswahl der Fakten die Schrecken, die Erbarmungslosigkeit und das Widersinnige (älogon) des Geschehens. Über seine Methode schreibt Thukydides (I 22), er habe die Reden (die er in seine Darstellung eingefügt hat) so abgefaßt, wie nach seinem Dafürhalten die einzelnen Redner im Hinblick auf die jeweilige Lage das Nötige sagen mußten, wobei er sich stets möglichst nahe an den „Gesamtsinn" 3 dessen gehalten habe, was tatsächlich gesprochen wurde. Bei den Fakten 1 Über Thukydides und sein Werk informiert umfassend Otto Luschnats Artikel „Thukydides", in: Pauly/Wissowa (Hrsg.), Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE), Suppl. XII., Sp. 1085-1354, sowie Suppl. XIV, Sp. 759-786. Zur Einführung sind zu empfehlen Kurt v. Fritz, Die Griechische Geschichtsschreibung, Bd. 1, 1967 sowie Hermann Strasburger, Die Entdeckung der politischen Geschichte bei Thukydides: Saeculum 1954, S. 395ff., jetzt in: Hans Herter (Hrsg.), Thukydides, 1968, S. 412ff.; J. Classen/J. Steup, Thukydides, Kommentar in 8 Bänden, 5. Aufl. 1919 (seitdem mehrere Nachdrucke). 2 Das Folgende ist übernommen von Jürgen Malitz, Thukydides' Weg zur Geschichtsschreibung: Historia 1982, S. 257 ff. 3 Wichtig für das Verständnis der Reden ist Franz Egermann, Thukydides über die Art seiner Reden und über seine Darstellung der Kriegsgeschehnisse: Historia 1972, S. 575 f. Egermann meint, unter dem „Gesamtsinn" habe Thukydides verstanden, wie nach seiner Meinung der einzelne aufgrund seiner politischen Gesamteinstellung und Gesamtintention wohl habe sprechen müssen.
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aber habe er es für geboten erachtet, nicht den erstbesten Erzählungen zu folgen, sondern so genau wie möglich zu erforschen, was sich wirklich zugetragen hat. Das alles habe er getan, damit diejenigen Leser sein Werk für nützlich halten, die sichere Kenntnis haben wollen über das, was geschehen ist, und auf diese Weise auch über das, was nach Menschenart in Zukunft wieder einmal genauso oder ähnlich geschehen wird. Wegen dieser methodischen Grundsätze pflegt man Thukydides' Werk als das erste der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung zu bezeichnen. Ihm selbst kam es offenkundig nicht auf die Historie nur um ihrer selbst willen an, sondern vor allem auf die allgemeinen Einsichten, die daraus zu gewinnen sind. 4 Diese wollte er seinen Lesern als „Besitz für immer" (ktema es aei) vermitteln. Bei der Darstellung der Ereignisse bietet Thukydides das Allgemeingültige in einer Weise, daß es „im Partikulären der betreffenden Situation mitenthalten ist".5 Während wir gewohnt sind, das Allgemeingültige aus den Fakten herauszudestillieren und gesondert theoretisch aufzubereiten, beläßt er es so, wie es in der Wirklichkeit gegeben ist, nämlich eingelassen in den Ereignissen wie das Erz im Gestein. Auch über die Lagebeurteilungen und Entscheidungen berichtet Thukydides nicht distanziert vom Standpunkt des unbeteiligten Beobachters aus, sondern er entwickelt sie in den Reden aus der Sicht und als Leistung der an den Beratungen Beteiligten. Das ergibt jeweils kein möglichst objektives Bild, sondern ein En-
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Hartmut Erbse, Über eine Eigenheit der thukydideischen Geschichtsbetrachtung, in: Herter (FN 1), S. 329, bemerkt, Thukydides subsumiere den Stoff unter die aitiologischen Themata: „Der Historiker bewahrt sich damit die Möglichkeit, den lediglich als Beweisstück herangezogenen Bericht, mag er auch in die Ebene der Zeit fallen, nach Belieben zu komprimieren, auszudehnen oder ... als nach verschiedenen Seiten gewandte Wirkungen einer Ursache hinzustellen." Max Treu, Athen und Melos und der Melierdialog des Thukydides: Historia 1953/54, S.267, stellt fest, daß die Athener und die Melier miteinander diskutierten „frei von jeder Vorbelastung durch die Geschichte". Thukydides habe einem tieferen Anliegen zuliebe die Situation verändert, ja geradezu eine völlig neue Situation geschaffen. Treu schließt mit dem Satz, daß Thukydides das Faktische zurückstelle und nicht Geschichte als Tat, sondern Geschichte als Gedanke, Gesetz und Wille uns vor Augen führe. 5 Luschnat (FN 1), Sp. 1239. Malitz (FN 2), S.277, bemerkt, in der „Archäologie" (so bezeichnet man Thukydides' Darstellung der Vorgeschichte des Krieges) seien die Gesetze (seil, des Geschehens) „weniger ausgesprochen als dargestellt"; HansPeter Stahl, Thukydides. Die Stellung des Menschen im geschichtlichen Prozeß, 1968, S. 136 f., schreibt, Thukydides wähle nie einen „ S t o f f aus, um damit eine vorformulierte These zu exemplifizieren, „sondern immer wächst die Sinndeutung aus dem jeweiligen Geschehen hervor und ist von ihm unablösbar." - Dies steht nicht in Widerspruch zu dem FN 4 zitierten Urteil von Treu. Bei diesem geht es um Thukydides' Umgang mit den historischen Tatsachen, bei Stahl um das Verhältnis zwischen Fakten und Reflexion.
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semble subjektiver Einschätzungen der Lage.6 So bleibt die Darstellung der Beratungen im Horizont aktueller Auseinandersetzungen und im Modus praxisbezogener Ratio. Gerade das aber macht ihren Nutzen für zukünftige Praxis aus. Denn wer dafür aus der Vergangenheit lernen will, dem ist mit einer auf Objektivität angelegten Gesamtschau nicht gedient, wohl aber mit einer Vorführung beispielhaften Bemühens der Akteure, ihre Lage zu erfassen und eine richtige Entscheidung zu treffen. Häufig faßt Thukydides das Allgemeingültige in die Form von Sentenzen (Gnomen). Auch sie präsentiert er nur selten als seine persönliche Ansicht, sondern läßt sie in der Regel durch andere Personen aussprechen. Dieses sein Verfahren hat allerdings erhebliche Konsequenzen für die Qualität der Allgemeingültigkeit der betreffenden Sätze und für die Art des Nutzens, den die Leser daraus ziehen können: Die Gnomen sind nicht durch theoretische Überlegung gewonnen, sondern entstammen der praktischen Erfahrung. Daher ist ihre Allgemeingültigkeit keine logisch-strenge, sondern eine plausible, nur mehr oder weniger gesicherte. Sie sind der Ertrag scharfer, auch Nuancen und feine Unterschiede erfassender Beobachtung und damit Momente der in ihrer Komplexität zur Sprache gebrachten Wirklichkeit. Aus dieser sind sie nicht destilliert, sondern bleiben mit ihr verquickt und darin befangen. Es mag das einer der Gründe sein, warum Thukydides' Sprache so schwierig ist. Landmann, der Verfasser der bekanntesten Übersetzung des Thukydideischen Werkes7, bezeichnet diesen Zusammenhang treffend als „gewachsene" Wahrheit. Da Thukydides die Allgemeingültigkeit der Gnomen, soweit sie in den Reden enthalten sind, nicht selbst behauptet, sondern von dem jeweils Sprechenden behaupten läßt, übernimmt er dafür seinen Lesern gegenüber auch nicht selbst die Garantie. Der betreffende Redner aber argumentiert so, wie es ihm für seine Zwecke dienlich scheint. Er wählt deshalb aus seinem Erfahrungsschatz diejenigen allgemeinen Feststellungen aus, die sich für seine Absichten eignen und auf die Situation passen. Er wird z. B., will er für oder gegen den Krieg sprechen, jeweils unterschiedliche Sentenzen verwenden. Wollen in öffentlicher Beratung zwei Redner gegensätzliche Entscheidungen erreichen, werden sie mit gegensätzlichen allgemeinen Erfahrungen argumentieren. Dabei können beide Darlegungen in sich rational sein, die eine im Hinblick auf die eine, die andere im Hinblick auf die andere vorgeschlagene Entscheidung. Schließlich aber werden, wie die gesamte Rede, so auch die darin verwendeten allgemeinen Sätze auf die Vorstel-
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Strasburger ( F N 1), S. 445, schreibt: „ D i e objektive Wahrheit liegt vielmehr sehr oft unausgesprochen, gewissermaßen schwebend, im Schnittpunkt der subjektiven Meinungen ..." 7 Zürich 1960, S. 19.
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lung derer, die man f ü r sich gewinnen will, rhetorisch abgestimmt u n d eingefärbt. So erfährt der an sich Allgemeingültigkeit beanspruchende Satz durch den Gebrauch, den man davon macht, Brechungen wie das Licht durch ein Prisma. Infolgedessen stehen von ein u n d derselben Einsicht dem Leser verschiedene Aspekte zur Wahl, und von einem komplexen Sachverhalt werden die darin enthaltenen unterschiedlichen Momente sichtbar. Ein Beispiel für letzteres ist die Bundesgenossenschaft. Voraussetzung d a f ü r ist bei Thukydides in jedem Fall eine Gleichheit der Beteiligten; worin diese aber besteht, ist verschieden und kann sogar gegensätzlich sein. So sagen die Mytilenäer z.B. in ein und derselben in Olympia gehaltenen Rede erst, d a ß G r u n d l a g e einer Bundesgenossenschaft nicht nur gleiche militärische Rüstung u n d Stärke, sondern ebenso Gleichheit des Denkens u n d der Gesinnung sei (III 9); sie behaupten d a n n aber (III 11), die einzige Sicherheit f ü r eine Bundesgenossenschaft sei gleiche Furcht voreinander. Bei den G n o m e n , wie auch bei den anderen allgemeingültigen Einsichten, aus denen Thukydides' zukünftige Leser ihren Nutzen ziehen sollen, handelt es sich also nicht um Regeln, die, wie Machiavelli seinen Lesern verspricht, „nie oder nur selten trügen", sondern um mehr oder weniger vieldeutige, unterschiedlich deutbare Feststellungen. Gerade darin aber liegt auch hier der Nutzen. D e n n die Wirklichkeit des menschlichen Zusammenlebens überhaupt u n d der Politik insbesondere ist vieldeutig, vielschichtig, von Unbestimmtheiten durchsetzt. Sie umfaßt die ambivalenten Eigenheiten, Möglichkeiten u n d Erwägungen anderer Personen; sie weist unterschiedliche Zugänge und Bedingungen auf, je nach der Absicht, mit der man sich ihr nähert. Deshalb kann die Genauigkeit der Beobachtung (to saphes) und Beschreibung als Voraussetzung rationalen Entscheidens und H a n d e l n s nicht darin bestehen, d a ß m a n den allgemeinen Einsichten eine Form der Greifbarkeit u n d Gewißtheit verleiht, die der Komplexität der Wirklichkeit nicht entspricht. 8 Aussagen über eine derartige Wirklichkeit werden gerade dadurch ungenau, d a ß man sie präzisiert. Deshalb gibt Thukydides deren Vieldeutigkeit gewissenhaft wieder u n d läßt so allerdings auch keine Illusionen a u f k o m m e n über die mögliche Nutzanwend u n g des als „Besitz für immer" Aufgezeichneten. Er fordert seine Leser heraus, über die allgemeingültigen Sätze auch selbst nachzudenken und deren Momente den Umständen, auf die sie sie gegebenenfalls anwenden wollen, adäquat zu machen. Er gibt seinen Lesern Gelegenheit, wie Lich8
Mit Recht weist Stahl (FN 5) alle Interpretationen zurück, die unterstellen, Thukydides habe das, was hier als „Lauf der Dinge" bezeichnet werden wird, für so berechenbar gehalten, daß sich daraus sichere Regeln für zukünftigen Gebrauch ableiten ließen; auch Stahl sieht (ebd., S. 148) in diesem Punkt die „entscheidende Trennungslinie" zu Machiavelli.
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tenberg einmal notierte, auch noch ihr eigenes Licht leuchten zu lassen. 9 Das trägt nicht unerheblich zum intellektuellen Reiz der Lektüre des Werkes bei.
2. Was Thukydides über rationales Handeln schreibt, bezieht sich auf zwei Leistungen verschiedener Art, die entsprechend verschiedene Anforderungen an die Ratio stellen. Deren Gegenstand ist in dem einen Fall der Umgang mit anderen Menschen, im anderen Fall der Umgang mit dem, was hier der „Lauf der Dinge" genannt werden soll. Beim Umgang mit anderen Menschen bzw. der Menschen untereinander machen die Beteiligten faßt man alles zusammen - von ihrer Ratio Gebrauch, um eine eigene gemeinsame Lebenswelt herzustellen und zu pflegen. Hier haben sie es grundsätzlich in der H a n d , wie sie ihre Beziehungen gestalten wollen. Dabei dient das rationale Handeln keineswegs nur dem Eigennutz der je einzelnen, sondern vornehmlich der Zivilisierung des Zusammenlebens, mithin der Überwindung oder wenigstens Glättung der ursprünglichen „roh e n " menschlichen Natur. Das soll hier e contrario noch an den Folgen des Bürgerkrieges in Kerkyra gezeigt werden: Wird das rationale zivilisierte Verhalten aufgelöst oder pervertiert, so fällt das Zusammenleben in die ursprüngliche Roheit zurück. 10 Im zweiten Fall, also beim Umgang mit dem Lauf der Dinge, m u ß die Ratio sich dem vollen Umfang der Wirklichkeit des Lebens stellen, der Grenzenlosigkeit, Komplexität u n d Unübersehbarkeit der Welt. Dementsprechend ist die Zahl der Faktoren, die in die Rechnung einzubeziehen sind, viel größer als bei der Herstellung einer gemeinsamen Lebenswelt bestimmter Personen. Vieles, was d a n n auf unser Tun einwirkt, ist gar nicht erkennbar oder entzieht sich sicherer Berechnung und erfolgreicher Einflußnahme. Thukydides spricht (VIII 24) von den „rational begründetem Erwarten widerstreitenden menschlichen Gegebenheiten des Lebens". Das beginnt schon bei denjenigen Menschen, mit denen man unmittelbar zu tun hat. Während sie in bezug auf die gemeinsame zivilisierte Lebens9
Strasburger bemerkt in seiner Einleitung zur Thukydides-Übersetzung von A. Horneffer (1957), S. LXVI, Thukydides schreibe so, daß er den Leser zur eigenen schöpferischen Denkarbeit anrege. Günther Wille schreibt (in: Herter [FN 1], S.691), Thukydides'Sü\ übe auf den Leser einen Zwang zur aktiven geistigen Mitarbeit aus und zitiert L. Spengel: Die Reden wollten studiert, nicht gelesen sein. 10 Zu den Folgen des Bürgerkrieges siehe unten, S. 114 f. Ernst Topitsch folgend (ANQPnriEIA QYXII und Ethik bei Thukydides: Wiener Studien 61/62 [19431947], S. 60) meine ich, daß „menschliche Natur" nicht der Inbegriff aller menschlichen Anlagen und Eigenschaften ist, sondern daß nur jene Kräfte gemeint sind, die wir auch heute als naturhaft, primitiv bezeichnen.
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weit mehr oder weniger berechenbare Partner rationalen Handelns und Verhaltens sind, beeinflussen sie den Lauf der Dinge jeder mit allen Eigenheiten seiner je unverkürzten Individualität. Hinzu kommt schließlich das ins menschliche Zusammenleben hineinwirkende Geschehen der Natur." Infolgedessen sind weder die Zusammenhänge, aus denen eine gegenwärtige Lage resultiert, noch deren zukünftige Entwicklung genau und sicher erkennbar. Man kann das Gemenge der teils berechenbaren, teils unberechenbaren Faktoren nur in beschränktem Maß beeinflussen und die Folgewirkungen der Einflußnahme nur bedingt abschätzen. Die Auswirkungen des überhaupt nicht Berechenbaren kann man bis zu einem gewissen Grad prophylaktisch kompensieren, d.h. sich so einrichten und verhalten, daß man auch manchem unvorhergesehenen Ereignis gewachsen ist. Mit Recht wird in der Thukydides-Literatur darauf hingewiesen, daß die rationale Beurteilung des Laufs der Dinge der ärztlichen Diagnose vergleichbar ist.12 Das beiden Gemeinsame besteht eben darin, daß man ihren Gegenstand teilweise genau beobachten und exakt berechnen kann, daß sich daraus auch relativ Zuverlässiges erschließen läßt, weiteres aber nur spekulativ zu fassen ist; dafür bedarf es dann eines aus der Erfahrung gewonnenen Taktes des Urteils. Als Meister solchen Urteilsvermögens und des rationalen Umgangs mit dem Lauf der Dinge wird Themistokles von Thukydides vorgestellt (I 138); „Durch die ihm ursprünglich eigene Auffassungsgabe (xynesis)darin weder vorher noch nachträglich unterwiesen - vermochte er nach kurzem Überlegen aufs Beste zu entscheiden (gnömön) und kommende Entwicklung auch auf weiteste Zukunft ausgezeichnet abzuschätzen (eikäzö)." Die Fähigkeit, das, wovon er keine Erfahrung hatte, ausreichend zu beurteilen, heißt es an der betreffenden Stelle weiter, sei Themistokles nicht abgegangen, und noch im Ungewissen habe er sehr gut vorausgesehen, was günstiger und was ungünstiger war. So sei er ausgezeichnet befähigt gewesen, augenblicklich das Richtige zu treffen. - Wir haben es hier also mit spezifischen Bedingungen der Anwendung der Ratio auf die Praxis des Handelns zu tun: Es muß schnell entschieden werden, in einer mehr oder weniger unübersichtlichen Lage und nicht selten ohne ausreichende Erfahrung. Die beiden Wörter xynesis und gnöme bezeichnen be" Stahl(FN 5), S.98, zeigt, „daß Thukydides z.B. die Regenfälle, welche das thebanische Ersatzheer aufhalten, oder das widrige Wetter bei Kreta, welches die rechtzeitige Ankunft der athenischen Hilfsflotte verhindert, oder auch den unerwarteten Regen, welcher das für Plateia bedrohliche Feuer löscht, gewertet wissen will als Bedingungen, die für eine Situation konstitutiv, aber dem Zugriff des Menschen entzogen sind". 12 Vgl. z.B. Klaus Weidauer, Thukydides und die Hippokratischen Schriften. Der Einfluß der Medizin auf die Zielsetzung und Darstellungsweise des Geschichtswerkes, 1954.
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sonders wichtige Momente dieses rationalen Umgangs mit dem Lauf der Dinge. Xynesis, „the faculty of quick comprehension" 13 , ist „hinhörendes" Erkennen, das in der komplexen Wirklichkeit diejenigen Tatbestände erfaßt, in denen sich die weitere Entwicklung der gegenwärtigen Lage bereits abzeichnet.14 Die gnòme15 setzt dann das von der xynesis Erfaßte zu den eigenen Absichten in Beziehung und rät auf diese Weise, was zu tun geboten erscheint. Dabei wird sie unterstützt von dem mit eikàzo bezeichneten Vermögen, dem „coniecturalen" Erkennen (Liddell-Scott), das „aufgrund der Gegebenheiten sichere Voraussicht bietet". Wer über dieses Vermögen verfügt, „vermutet" oder „erahnt" nicht lediglich (wie eikàzo - das conjecturale Erkennen - oft falsch übersetzt wird), was die Zukunft bringt. Allerdings weiß er es auch nicht völlig sicher, wohl aber mit genügend hoher Wahrscheinlichkeit, so daß Thukydides von Themistokles sagen kann, er sei befähigt, „augenblicklich das Richtige zu treffen". Es dürfte sich bei xynesis um das gleiche rationale Vermögen handeln, das Clausewitz wie folgt beschreibt: „Der Krieg ist das Gebiet der Ungewißheit; drei Viertelteile derjenigen Dinge, auf welche das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewißheit. Hier also zuerst wird ein feiner, durchdringender Verstand in Anspruch genommen, um mit dem Takt seines Urteils die Wahrheit herauszufühlen ... Entkleidet man diesen Begriff (des Augenmaßes) von dem, was ihm der Ausdruck zu Bildliches und Beschränkendes gegeben hat, so ist er nichts als das schnelle Treffen einer Wahrheit, die einem gewöhnlichen Blick des Geistes gar nicht sichtbar ist, oder es erst nach langem Betrachten und Überlegen wird ... Wo es auch kein System, keinen Wahrheitsapparat gibt, da gibt es doch eine Wahrheit, und diese wird dann meistens nur durch ein geübtes Urteil und den Takt einer langen Erfahrung gefunden.'" 6
Eine andere Weise des Umgangs mit dem Lauf der Dinge ist sophrosyne, gewöhnlich mit „Besonnenheit" übersetzt. Auch sie ist rationales Verhalten, jedoch ohne eine solche spezifische Leistung des Erkennens, wie xynesis sie erbringt. Was sophrosyne ist und was sie bewirkt, charakterisiert 13
So das griechisch-englische Lexikon von Liddell-Scott. Bruno Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, 1924, S. 46; bei xynesis folgt der Geist dem Gegenstand, so daß dieser das Bestimmende ist und das Denken sich in ihn hineinversetzt. Vgl. ebd., S. SO: der lògos ist in dem Ding. 15 Vgl. Snell(FN 14), S.31 ff. (35): gnòme ist oft geradezu der Wille, und zwar der, der intellektuell beherrscht ist. Ebenso E. Schwartz, Gnomon, 1926, S.68: gnòme die Folge der Erkenntnis, also der überlegte rationale Wille, S. Snell (FN 14), S. 58: Bei Thukydides II 62,5 ist xynesis das Verständnis für eine Lage, aus dem dann die gnòme, der Entschluß erwächst. " Carl v. Clausewitz, Vom Kriege, hrsg. v. Werner Hahlweg, 18. Aufl., 1973, S.233237. Obgleich Clausewitz das Wort „heraus/i/A/en" verwendet, handelt es sich doch um eine Leistung der Ratio. 14
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Thukydides hauptsächlich in der Rede des Spartanerkönigs Archidamos (I 79-85). Dieser führt seinen Zuhörern vor Augen, was ein Krieg gegen Athen für Sparta bedeute, wenn man ihn besonnen durchkalkuliere: Worin Spartas Stärke bestehe, das nütze wenig gegen Athen, aber was Sparta für einen solchen Krieg brauche, das fehle ihm: Schiffe für den Seekrieg, ausgebildete Mannschaften und Geld. Auch mit einer Verwüstung Attikas sei nichts Entscheidendes zu bewirken. Mit derartig besonnenem Kalkulieren stellt sophrosyne sich als nüchterne Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen dar. Dann, gegen Ende seiner Rede, beschreibt Archidamos die Eigenart der sophrosyne noch eingehender. Der Langsamkeit und Bedächtigkeit, die die Bundesgenossen kritisieren, sollten sich die Spartaner nicht schämen, denn eben dieses sei die wahre, sich ihrer selbst bewußte sophrosyne. Sie schütze vor Überheblichkeit, wenn die Dinge gut stehen, und vor Entmutigung im Unglück; ferner davor, sich durch Lob zum Überschwang verleiten oder durch Anklagen beirren zu lassen. In allen vier hier herangezogenen Fällen macht sophrosyne also resistent gegen äußere Einflüsse, die geeignet wären, zu nicht-rationalem Verhalten zu verleiten - und bewährt sich damit als ein rationales Vermögen. Faßt man alles zusammen, so erweist sich sophrosyne als Nüchternheit und Vorsichtigkeit: sich selbst nicht überschätzen, sich nichts vormachen, sich durch Lob und Tadel nicht beirren lassen; ebenso sich nicht klüger dünken als die Gesetze und deshalb diesen unbedingt gehorchen. Ferner rät sophrosyne, sich auf den jeweils ungünstigsten, mithin am schwersten zu bewältigenden Fall einzustellen, um nicht in eine Lage zu geraten, die einen überfordert: die Rüstung des Feindes lieber zu hoch veranschlagen als sie zu unterschätzen; nicht darauf bauen, daß er Fehler macht; darauf gefaßt sein, daß Unvorhersehbares passiert; nur auf das setzen, was man sicher voraussehen kann. So ist die Ratio der sophrosyne eine defensive. Während bei den Athenern das mit ihrem Wagemut verbundene Risiko dadurch verringert wird, daß sie ihn in die Disziplin der xynesis nehmen, beschränken sich die Lakedämonier auf diejenigen Möglichkeiten, die kein oder nur ein möglichst geringes Risiko enthalten, und haben auf diese Weise einen Sicherheitsspielraum gegenüber Unvorhergesehenem. Diesen defensiven Charakter der sophrosyne kritisieren die Korinther an den Lakedämoniern (I 70): sie erfüllen im Handeln auch das Notwendigste nicht, täten weniger als ihre Kraft erlaubt und trauten nicht einmal den sicheren Ergebnissen vernünftiger Überlegung. Ein Beispiel dafür, daß solches defensive, risikoscheue Verhalten in die Irre führen kann, findet sich in der Rede der Kerkyräer (I 32): sich keinem Bündnis anzuschließen, schien ihnen früher sophrosyne zu sein, denn auf diese Weise konnten sie nicht durch eine Entscheidung von Verbündeten unversehens in Gefahr geraten. Später aber erwies sich ihre mit sophrosyne notwendigerweise
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verbundene politische Abstinenz als Unbedachtheit und Schwäche, denn als sie selbst in Gefahr waren, gab es niemanden, der verpflichtet gewesen wäre, ihnen zu Hilfe zu kommen. Xynesis und sophrosyne sind beide Varianten von Rationalität. Jedoch sind sie nicht Varianten des Denkens, sondern xynesis ist eine im rationalen Vermögen begründete Weise des Wahrnehmens und Erkennens, und sophrosyne ist eine rationale Einstellung zur Welt bzw. ein Modus rationaler Kontrolle der Lebensführung.
3. Zum rationalen Umgang der Menschen miteinander und zur Gestaltung einer gemeinsamen menschlichen Lebenswelt gehört auch das Recht. Über die Auffassung des Rechts bei den Griechen schrieb R. Hirzel in seinem Buch „Themis, Dike und Verwandtes": „Aus der Gleichheit geht das Recht hervor, insofern nur Gleiche unter sich in ein Rechtsverhältnis treten können." 1 7 Für diese Feststellung gibt es bei Thukydides Beispiele, die den Sachverhalt verdeutlichen. So sagen die Athener im Melierdialog (V 89): „ . . . daß nach menschlicher Raison nach dem Recht aufgrund gleichen Zwanges entschieden wird, während sonst die Stärkeren tun, was ihnen möglich ist, und die Schwachen sich fügen." Die Korinther geben in ihrer Rede in Athen zu bedenken (I 42), daß Ebenbürtigen kein Unrecht zuzufügen, sicherere Macht sei, als - die Gunst des Augenblicks nutzend unter Gefahren einen Gewinn zu machen; und Perikles stellt fest (I 141): „Dieselbe Knechtung bedeutet der größte wie der geringste Rechtsanspruch, wenn er unter Gleichen statt einem Gerichtsurteil erhoben wird." Wenn nach dem Recht nur „aufgrund gleichen Zwanges" entschieden wird, dann heißt das nicht nur, daß Gleichheit der Beteiligten die Voraussetzung für Rechtsbeziehungen ist, vielmehr sind diese auch eine notwendige Konsequenz der Gleichheit: Wenn Personen gleich sind, insbesondere gleich stark oder gleich mächtig, sehen sie sich praktisch gezwungen, untereinander Rechtsbeziehungen zu entwickeln. Insoweit sind Rechtsbeziehungen weniger als etwas ethisch Gebotenes, sondern eher als ein Modus sozialer Praxis zu begreifen. Daß dabei für Thukydides die Gleichheit menschlich wichtiger ist als das Recht, zeigt sich an dem, was die Athener (I 77) über ihr Verhältnis zu ihren Bundesgenossen sagen: Diese hätten sich daran gewöhnt, mit ihnen (den Athenern) auf gleichem Fuß zu verkehren, wobei Streitigkeiten nach dem Recht entschieden würden. Wenn dann aber die Athener einmal ausnahmsweise aufgrund ihrer Herrschaftsgewalt entschieden, dann seien die Bundesgenossen mehr empört, als 17
1907, S. 228.
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wenn von vornherein nicht nach Gesetz verfahren würde. Denn, daß der Schwächere dem Stärkeren weichen muß, nähmen sie als selbstverständlich hin. „Es zürnen aber offenkundig die Menschen mehr, wenn ihnen Unrecht getan wird, als wenn sie Zwang erleiden. Denn das eine empfinden sie als eine Anmaßung unter Gleichen, das andere als (selbstverständlichen) Zwang durch den Stärkeren." Das eigentlich Schlimme ist demnach nicht, daß jemandem in einem bestimmten Fall das Recht vorenthalten wird, sondern daß er auf diese Weise in seiner Ebenbürtigkeit gekränkt, daß mit der Verweigerung des Rechts sein Anspruch auf Gleichheit desavouiert wird. Das erinnert an Rousseaus Bemerkung : „et comme c'est le mépris ou l'intention de nuire, et non le mal, qui constitue l'offense, des hommes qui ne savent ni s'apprécier ni se comparer peuvent se faire beaucoup de violences mutuelles ... sans jamais s'offenser réciproquement." 1 8 Nicht nur die am Recht orientierten, sondern auch andere personale Beziehungen beruhen bei Thukydides darauf, daß zwischen den Beteiligten Gleichheit besteht. So gibt Themistokles dem Molosser-König Admetos zu bedenken (I 136), daß sich zu rächen edel nur sei zwischen Ebenbürtigen von gleich zu gleich. Der Athener Kleon sagt (III 40), Mitleid habe seine Berechtigung nur gegenüber denen, die es als Gleichgestellte vergelten; und er bemerkt in derselben Rede, daß derjenige, dem man ohne Not Schaden zufügt, schrecklicher ist als der Feind von gleich zu gleich. Die Korinther argumentieren gegen die Kerkyräer (I 39), den Vorschlag, ein Schiedsgericht anzurufen, dürfe nur machen, wer vorher Gleichheit der Lage herstellt, nicht dagegen derjenige, der im Vorteil sicherer Überlegenheit ist. Bundesgenossenschaft ist nur möglich zwischen solchen, die gleich an Rüstung und Stärke sind sowie unter der Voraussetzung wechselseitiger Furcht voreinander (III 9). Schließlich hat sogar Schande nur zwischen Gleichgestellten Sinn: „Wären wir gleich stark", sagen die Athener zu den Meliern (V 101), „dann müßtet ihr tapfer den Kampf gegen uns aufnehmen, weil ihr euch andernfalls Schande zuziehen würdet - aber da wir euch weit überlegen sind, ist es keine Schande, wenn ihr keinen Widerstand leistet, sondern auf eure Rettung sinnt." 19 Es mag uns zunächst befremden, daß Rechtsbeziehungen und andere Weisen humanen Umgangs nur zwischen Gleichen, Ebenbürtigen möglich 18
Discours sur l'inégalité, I, Anm. o. " Stahls ( F N 5), S. 163, Bemerkungen, die Athener lehnten gänzlich die Möglichkeit ab, „ daß etwas wie Ehre als Motiv für die Entscheidung hier überhaupt ein zulässiger Gesichtspunkt s e i . . . Für den Mächtigen ist also Ehre (wie Schande) ein leerer Wahn", sind charakteristisch für eine verbreitete, vorschnelle moralisierende Thukydides-Interpretation. Es gilt zu verstehen, daß Ehre, genau wie andere Kriterien humanen Umgangs, Ebenbürtigkeit der Beteiligten zur Voraussetzung hat.
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sein sollen. Doch ist zu bedenken, daß hier das für uns Ungewohnte nur darin besteht, die Gleichheit bestimmter partikularer Gegebenheiten (gleiche Stärke, Gleichheit des Standes, sich in vergleichbarer Lage befinden etc.) als Voraussetzung zu betrachten bzw. daß die Herstellung von Rechtsbeziehungen den Beteiligten durch deren Gleichheit an Stärke abgenötigt wird. Denn an sich betrachten auch wir die Gleichheit als Voraussetzung von Rechtsbeziehungen und humanem Umgang überhaupt, nur ist es bei uns keine bestimmte partikulare, sondern die allgemeine Gleichheit aller Menschen als Personen. Genauer gesagt: Rechte hat nach unserer Auffassung zunächst der einzelne, weil er Person ist. Diese Tatsache wird sozial aktualisiert, wenn zwei oder mehr Personen sich wechselseitig als solche anerkennen; dann werden aus den Rechten der einzelnen zusätzlich Rechtsbeziehungen bzw. objektives Recht. Man kann es mit Hegel zusammenfassend sagen: „Die Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit... Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen." 20 Es fehlt bei Thukydides mithin nur an dieser Allgemeinheit. Da also nach unserem Verständnis Rechtsbeziehungen nicht lediglich unter bestimmten sozialen Voraussetzungen möglich, sondern auf alle personalen Beziehungen überhaupt anwendbar sind, nimmt das Recht den Charakter eines Prinzips an. Das kann problematische Folgen haben, weil es die Vorstellung einschließt, daß Recht „aus Prinzip" und partout durchgesetzt werden müsse, obgleich viele personale Beziehungen - z. B. die zwischen Familienmitgliedern - eher Schaden nehmen, wenn man sie als Rechtsverhältnisse behandelt. Auch kann es bei Rechtsverstößen geschehen, daß wir uns mehr darüber empören, daß das Prinzip „Recht" verletzt, als darüber, daß einer bestimmten Person Unrecht getan wird. Auf die Rechtsbeziehungen zwischen Personen zurückzugreifen, ist nur eine der Konsequenzen, die man aus ihrer Gleichheit ziehen k a n n ; nach dem Recht verfahren, ist nur eine der möglichen Orientierungen des Zusammenlebens. Es ist deshalb immer eine Abstraktion, wenn ausschließlich nach dem Recht entschieden und gehandelt wird. Die Wahlmöglichkeit zwischen Entscheidungen allein nach absolut gesetztem Recht einerseits und Entscheidungen aufgrund aller relevanten Momente einer Situation, mithin auch der rationalen Abwägung des Nützlich-Zuträglichen andererseits führt Thukydides vor anhand der Auseinandersetzungen zwischen den Spartanern Archidamos und Sthenelai'das, ob man gegen Athen in den Krieg eintreten, sowie zwischen den Athenern Kleon und Diodot, ob man einen Beschluß, alle Mytilenäer zu töten, rückgängig machen soll. 20
Hegel, Rechtsphilosophie, § 36, vgl. § 209: „Es gehört zur Bildung, dem Denken als Bewußtsein des einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind."
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Der Spartanerkönig Archidamos, der in seiner bereits zitierten Rede 21 vor dem Krieg gegen Athen warnt, begründet dies auch damit, daß man nicht voraussehen könne, wie ein Krieg verläuft. Es sei leicht, ihn zu beginnen, aber schwer, ihn wieder zu beenden. U n d da die Athener bereit seien, ein Schiedsgericht anzurufen, solle man nicht vorweg gegen sie wie gegen Rechtsbrecher vorgehen. D a n n aber tritt Sthenelai'das auf, einer der damaligen Ephoren, und wischt Archidamos' Argumente beiseite (I 86), indem er die Entscheidung einzig und allein auf die Behauptung stellt, d a ß die Athener Unrecht tun. Er nimmt für seinen Rat sogar sophrosyne in Anspruch: Wenn wir besonnen sind, sagt er, werden wir nicht mitansehen, d a ß unseren Bündnern Unrecht geschieht, u n d werden nicht zögern, sie zu rächen. Die ungewöhnlich kurze Rede ist beherrscht von demagogischem Eifer gegen das Unrecht und f ü r eine Entscheidung allein nach dem Recht, ohne Wenn und Aber - was aber heißt: f ü r den Krieg. In gleicher Weise ereifert sich in Athen Kleon d a f ü r (III 37-40), d a ß die Mytilenäer mit dem Tode bestraft werden müßten, weil sie den Athenern aus freiem Entschluß Unrecht zugefügt hätten: „ D a r u m zahlt ihnen jetzt heim ohne Weichherzigkeit, wie es die Lage gebietet, u n d zwar sofort, ohne die schwere Gefahr, die über euch hing, zu vergessen. Züchtigt diese Menschen, wie sie es verdienen . . . " (III 40). Das rechte Strafmaß werde nur gefunden, wenn der Zorn noch frisch und das Vergelten dem, was man erlitten hat, zeitlich möglichst nahe sei. D i o d o t räumt in seiner für unser Thema in vielerlei Hinsicht wichtigen Gegenrede ein, d a ß das hohe Ansehen, das dem Recht gebührt, Kleons Argumente überzeugend erscheinen lasse (III 44ff.): „Ich hoffe, d a ß ihr nicht dem Leicht-Eingängigen seiner Rede zuliebe das Nützliche der Meinen zurückweist. D e n n da seine Begründung mehr dem Recht entspricht, k ö n n t e sie, bei euerm Zorn gegen die Mytilenäer, euch leicht auf seine Seite ziehen." Es gehe aber nicht darum, „ d a ß wir genaue Richter wären über Leute, die sich vergangen haben, und uns damit selbst schaden, als vielmehr, daß wir zusehen, wie wir uns f ü r später, indem wir maßvoll strafen, die Städte finanziell leistungsfähig erhalten u n d daß wir uns Sicherheit schaffen nicht durch Härte, wie es die Gesetze fordern, sondern durch umsichtiges Handeln (epiméleia)." Selbst wenn die Angehörigen des Demos von Mytilene Unrecht taten, müsse man darüber hinwegsehen, damit dieser unser einziger Bundesgenosse (seil, in Mytilene) nicht zum Feind wird. Es sei zur Erhaltung der Herrschaft u. U. viel zweckmäßiger, sich aus freiem Entschluß Unrecht zufügen zu lassen, als rechtens Leute, die man schonen sollte, zu vernichten. Was ist zum besseren Verhältnis dieser Reden zu bedenken? Jede Ent21
Siehe oben, S.329.
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scheidung nach dem Recht - sei es nach einem Rechtsanspruch, einer Rechtsbehauptung oder sei es ein Gerichtsurteil - ist, wie gesagt, eine Abstraktion aus dem vollen Umfang der Momente der Situation, auf die sie sich bezieht. Dies ist schon daran zu erkennen, daß man sich aus anderen als aus Rechtsgründen entscheiden kann, ob man überhaupt auf das Recht rekurriert, ob man von seinem Recht Gebrauch macht oder es besser läßt. Auch wird ein Gerichtsurteil nicht selten einen Streit zwar entscheiden, die Situation, aus der es zum Streit kam, aber nicht aus der Welt schaffen. Dabei hängt die Bedeutung, die eine Rechtsbehauptung in einer Beratung bzw. für eine Entscheidung hat, nicht davon ab, ob sie richtig ist oder nicht, sondern nur davon, ob sie geglaubt wird oder nicht: Wird sie aber geglaubt, dann wirkt sie, auch wenn sie falsch sein sollte, mit der vollen Autorität, die dem Recht zukommt, samt dessen Eindeutigkeit und seinem Anspruch, durchgesetzt zu werden. Die ethische Qualität und das hohe Ansehen des Rechts beruhen darauf, daß Entscheidungen nach dem Recht erstens unmittelbar und maßgeblich an allgemein anerkannten Grundsätzen orientiert und zweitens unparteiisch sind, jedenfalls dem Begriff nach. Daraus leitet sich die Vorstellung ab, daß man, wenn man nach dem Recht entscheidet, sicher sein könne, ethisch richtig zu entscheiden. Nicht beachtet wird dabei jedoch, daß die Entscheidung nach dem Recht alle anderen für den betreffenden Fall relevanten Faktoren entweder überhaupt nicht in Rechnung stellt oder sie höchstens in ihrer Relevanz für das beherrschende Kriterium „Recht" berücksichtigt. 22 Das aber bedeutet, daß sich unter Berufung auf die Autorität und zwingende Geltung des Rechts leicht alle Argumente der Klugheit und Besonnenheit, des Nutzens, u. U. sogar der Menschlichkeit leicht ausschalten lassen. Statt dessen können sogar „mit gutem Recht" im Grund schädliche Sonderinteressen, ja auch verwerfliche Absichten durchgesetzt werden, wenn man sie nur mit einigem Geschick unter das, was das Recht gebietet, subsumiert. 23 22 Das alles wird in der Thukydides-Literatur zu wenig bedacht; es herrscht vielmehr die Neigung vor, jegliches Argumentieren mit dem Recht positiv zu bewerten. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen Stahls (FN 5), S. 119, zur Kleon-Rede. Er stellt zutreffend fest, daß Kleon das Recht mißbraucht, hält es aber offenkundig nicht für möglich, daß aus den hier erörterten Gründen das Recht selbst dafür die Möglichkeit bietet, sondern er nimmt eine „Manipulation des Rechtsbegriffs" und einen Fall von „Ambivalenz der ethisch-moralischen Termini" an, wie sie „in III 82f. beschrieben" sei, also in der Darstellung der Folgen des Bürgerkriegs in Kerkyra. Dort aber handelt es sich - wie noch zu zeigen sein wird - um eine ausgesprochene Pervertierung von Begriffen und Werten, während das Recht auch ohne Pervertierung mißbraucht werden kann. 23 Felix Wassermann, Die mytilenaiische Debatte bei Thukydides, in: Herter (FN 1), S. 489, schreibt, Diodot habe Kleons moralisierendem Hervorheben des
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Ähnlich wie Sthenelaidas, der sich mit den Argumenten, die gegen den Krieg sprechen, gar nicht erst befaßt, weil er die Beurteilung der Lage auf die Rechtslage einschränkt, verfährt auch Perikles, um die Athener zum Krieg zu überreden (I 140-144). Um diese Rede zu verstehen, muß man sich daran erinnern, daß Thukydides (I 23) unterscheidet zwischen den aktuellen Streitpunkten und gegenseitigen Beschuldigungen (aitiai) einerseits und dem wahren Grund (alethestäte pröphasis) des Krieges andererseits. Die aitiai, die damals zwischen Sparta und Athen aktuellen Streitpunkte, waren als Gründe für den Krieg plausibel, hätten aber (wie auch schon Archidamos feststellte) ausgeräumt werden können, sei es durch ein Schiedsverfahren oder sei es auf dem Weg von Verhandlungen. Die Lakedämonier hatten dafür die Hand geboten, indem sie „vor allem und ganz entschieden erklärten, es würde nicht zum Krieg kommen, wenn die Athener das ,Megarische Psephisma' 24 aufhöben." Die alethestäte pröphasis bestand darin, daß Athen so mächtig geworden war, daß es den Lakedämoniern Furcht einflößte und sie so zum Krieg nötigte. Dieser „wahre G r u n d " konnte nicht ausgeräumt werden, sondern machte den Krieg in absehbarer Zukunft unvermeidlich. Er war aber nicht so offenkundig 2 5 wie die aitiai, und deshalb mußte dieser Krieg eben keineswegs schon jetzt geführt werden. Infolgedessen standen nunmehr auch die Athener vor der Entscheidung, um die es schon auf der Tagsatzung in Sparta gegangen war: Krieg ist ein ungewisses, riskantes Unternehmen, und niemand, der in ihn eintritt, weiß, ob das gut für ihn enden wird. Solche Ungewißheit spielt keine entscheidende Rolle, wenn die aktuelle Lage den Krieg unumgänglich erscheinen läßt. Ist dagegen der Krieg im Augenblick zu vermeiden, und meint man nur, man müsse ihn trotzdem führen, um sein Interesse auf weite Sicht zu wahren, dann wird die Unsicherheit des Ausgangs zum gewichtigen Faktor. Denn im Fall einer Niederlage, die niemals ausgeschlossen werden kann, würde das Unternehmen, mit dem man sein Interesse auf weite Sicht sichern wollte, dieses gerade zunichte machen. Das
Fortsetzung Fußnote von Seite 105 Rechts eine Absage erteilt, weil das Recht „(wie der scharfe Menschenbeobachter Thukydides nur zu gut weiß) die bei einer Masse immer gefährliche Verbindung zwischen Selbstgerechtigkeit und potentieller Gewalttätigkeit aktiviert". - Zur Affinität von Recht und Gewalt siehe unten, S. 106 f. 24 Beim Megarischen Psephisma handelt es sich um einen Beschluß der athenischen Volksversammlung von 432 v.Chr., die Stadt Megara von allen Märkten des attischen Seebundes auszuschließen. Vgl. Herbert Nesselhauf, Die diplomatischen Verhandlungen vor dem Peleponnesischen Kriege: Hermes 1974, S.286 (291). 25 So übersetzt Schadewaldt die Stelle, auf die hier Bezug genommen wird. „Am wenigsten offenkundig" heißt, daß der wahre Grund nicht so sinnfällig, so für jedermann ohne weiteres einsichtig war, wie es ein aktueller Streitfall ist.
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Riskante des Krieges, sonst eher von nachgeordneter Bedeutung, wird hier zum Kardinalpunkt der Entscheidung. Wie Sthenelai'das löste auch Perikles das Problem dadurch, daß er die gegebene Lage auf das eine Moment reduzierte, welches einerseits durch sich selbst einen Krieg zu rechtfertigen vermochte, wie es andererseits geeignet war, das Für und Wider aller anderen Faktoren (einschließlich der Frage des Kriegsrisikos) überflüssig erscheinen zu lassen: und das war der Rechtsstandpunkt. Anders als der Spartaner räumt er allerdings ein, daß der Krieg riskant ist, und er bringt auch den wahren, allerdings nicht offenkundigen Grund zur Sprache, der für den Krieg spricht, indem er erwähnt, daß Gesandte der Lakedämonier verlangt hätten, den Seebund auf die Grundlage der Autonomie zu stellen, was nichts anderes heißt, als Athens Macht entscheidend zu schwächen. Dann aber reduziert auch Perikles seine Argumente auf eine Rechtsfrage: Er stellt Spartas Forderung, das Megarische Psephisma aufzuheben, als einen Rechtsanspruch hin und macht diesen zum alleinigen Kriterium für die Entscheidung: „Keiner von euch darf aber glauben, daß wir um eine Kleinigkeit Krieg führen werden, wenn wir das Megarische Psephisma nicht aufheben." Denn dies zu fordern, sei ein Rechtsanspruch, wie man ihn unter Gleichgestellten nicht erheben darf. Indem die Lakedämonier es trotzdem täten, sprächen sie den Athenern die Ebenbürtigkeit ab. Für die Athener aber mache es keinen Unterschied, ob es sich um einen sehr großen oder sehr geringen Rechtsanspruch handele; sich ihm zu beugen, bedeute in jedem Fall die gleiche Unterwerfung. Deshalb müsse man die Forderung, das Megarische Psephisma aufzuheben, entschieden zurückweisen, um den Lakedämoniern klarzumachen, daß sie sich gegenüber Athen wie Gleiche gegenüber Gleichen zu verhalten hätten. Sparta hatte ein vergleichsweise geringfügiges Zugeständnis gefordert und bot damit den Athenern die Möglichkeit, ohne Gesichtsverlust den Krieg zu vermeiden. Perikles aber will den Krieg, und er legt deshalb diese Forderung als anmaßenden Rechtsanspruch aus, der durch sich selbst den Krieg rechtfertige. Damit mußte es überflüssig erscheinen, dem sonstigen Für und Wider Gewicht beizumessen. Perikles präsentiert also den nicht offenkundigen „wahren G r u n d " , daß der Machtkampf zwischen Athen und Sparta früher oder später den Krieg unvermeidlich machte, als offenkundigen aktuellen Konflikt, der keine andere Wahl lasse, als den Krieg sofort zu beginnen. Als Argument für den Krieg eignet sich das Recht insofern gut, als es in positiver Korrelation zu Feindschaft und Gewalt steht. Denn wenn man sich auf den Rechtsstandpunkt fixiert, dann gestatten die Autorität des Rechts und die Eindeutigkeit der Entscheidung, was rechtens ist, keine Abstriche nach anderen Gesichtspunkten; insbesondere ist mit dem als
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Unrecht Erkannten kein Kompromiß erlaubt. Damit ist, wer das Recht verletzt, nicht lediglich ein Gegner, der ein anderes Interesse hat, sondern ein Feind des Rechts. Gegen den Rechtsbrecher aber muß das Recht nötigenfalls mit Gewalt durchgesetzt werden. Deshalb muß der Staat über das Gewaltmonopol verfügen, und in den zwischenstaatlichen Beziehungen kann, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist, zur Durchsetzung des Rechts der Einsatz militärischer Gewalt nötig werden. Ernst-Wolf gang Böckenförde schrieb dazu Anfang der siebziger Jahre im Hinblick auf die damalige Weltlage etwas, was auch für das Verständnis unserer Thukydides-Texte gilt: „Wer es für eine unabdingbare Aufgabe der Politik erklärt, für die elementaren Rechte der einzelnen und der Völker einzutreten ... muß - in der Logik seines Gedankengangs - auch bereit sein, wenn alle anderen Wege erschöpft und erfolglos sind, diese Rechte unter Einsatz äußerer Machtmittel gegenüber Angriffen zu verteidigen, und von denen, die sie verweigern, einzufordern. Schließt er diese Konsequenz . . . für militärische Machtmittel von vornherein aus ... so bringt er sich von seinen Voraussetzungen her selbst in die Lage, vor .schierer Macht und bloßer Gewalt in die Knie' zu gehen." 26
4. Wenn in der Literatur Thukydides' „Realismus" gerühmt wird, so pflegt das in dem schiefen Sinn gemeint zu sein, den bei uns das Wort „Realpolitik" hat. 27 Weil die Menschen nicht so sind, wie sie sein sollten, hält der sog. Realpolitiker sich für berechtigt, seine Zwecke von vornherein ohne Rücksicht auf das ethisch Gebotene zu verfolgen. Was Thukydides auszeichnet, ist jedoch nicht solch fragwürdiger Realismus, sondern Rationalität. Allerdings gehört auch Realismus zum rationalen Entscheiden und Handeln. Denn erste Voraussetzung für den Erfolg ist es, die tatsächliche Lage zu erfassen und in Rechnung zu stellen. Gerade dadurch eröffnet man sich auch die Möglichkeit, die Tatsachen dem ethisch Gebotenen dienstbar zu machen, d. h. so zu handeln, daß das Gebotene wirklich wird. Verbunden mit dem Lob eines fragwürdigen Realismus findet sich in der Thukydides-Literatur allenthalben auch die verbreitete Klischeevorstel26
F A Z v. 27. Okt. 1970, S. 12. Der Begriff „Realpolitik" wurde von August Ludwig von Rochau in seiner 1853 erschienen Schrift „Grundzüge der Realpolitik, angewendet auf die Staatlichen Zustände Deutschlands" eingeführt. Rochau selbst wandte sich gegen ideologisch orientierte Politik, mahnte zu nüchterner Berechnung des Machbaren und wollte der Macht den Geruch des Unmoralischen nehmen. Bald jedoch schlug dies bei anderen Autoren in eine Verkennung der Bedeutung sittlicher Maßstäbe um. Realpolitik bedeutete dann „Verzicht auf die üblichen Versuche, das politische Kampffeld in das moralisierende Scheinwerferlicht von Gut und Böse zu rücken" (Kaehler, HZ 1952, S.436). 27
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lung, d a ß die Macht ihrer Natur nach zu Moral und Recht zumindest in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht in Gegensatz stehe; auch werde sie vornehmlich um ihrer selbst willen angestrebt u n d gesteigert; u n d sie beherrsche so als Selbstzweck das Handeln, anstatt ihm als Mittel zu dienen. 28 „Weitaus am nächsten kommt den modernen Begriffen von der dämonischen Natur der Macht der große Realist Thukydides . . . " schreibt Gerhard Ritter29. Felix Wassermann meint in seinem Beitrag über die mytilenäische Debatte 30 , Diodot ziehe „eine scharfe Linie zwischen Politik und Ethik" (obgleich es dort u m Recht und Nutzen geht!): „ . . . die kalte Unpersönlichkeit von Diodots Staatsraison" mute bei aller seiner Zurückhaltung doch wie ein Vorspiel zu der aller menschlichen Emotionen entkleideten absoluten Machtphilosophie des Melierdialogs an. Das maßgebende Kriterium rationalen Handelns ist bei Thukydides aber gar nicht die Macht, sondern der Nutzen, wobei selbstverständlich beide in einem engen Z u s a m m e n h a n g stehen. Denn der rationale Gebrauch der Macht ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß am Nutzen orientiertes Handeln Erfolg hat. Der Begriff des Nutzens, erst recht der Sinn des griechischen sympheron u n d chresimon, also des Zuträglichen u n d Brauchbaren, ist keineswegs auf den selbstsüchtigen Zweck beschränkt, der sich um Moral nicht schert. 31 Er umfaßt vielmehr auch jeglichen gemeinsamen Nutzen, z. B. den Nutzen, den der Frieden wie auch jede vernünftige Lösung eines Konflikts stiften; auch den Nutzen, der daraus erwächst, daß man mit seinen Mitmenschen verträglich umgeht. Bei Thukydides fehlt es d a f ü r nicht an Beispielen. So z. B. mahnen die Melier die Athener (V 90), es wäre von Nutzen, das allen Griechen „gemeinsame G u t " nicht zu zerstören, und für Diodot ist das Nützliche ein Ergebnis der Klugheit. Wenn 28
Von den zahlreichen Autoren, die meinen, die Macht stehe im Mittelpunkt von Thukydides' Interesse, sei hier nur das jüngste Beispiel zitiert, Kurt Raaflaubs Beitrag „Politisches Denken im Zeitalter Athens", in: Iring Fetscher / Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 1, 1988, s.273ff.: Reines, verabsolutiertes Machtdenken durchziehe das gesamte Werk des Thukydides (S. 332), es sei „ zu einer tiefgründigen, generalisierbaren und für alle Zeiten lehrreichen .Pathologie der Macht' geworden" (S. 342). 29 Gerhard Ritter, Dämonie der Macht und Weisheit der Antike. Eine Erwiderung, in: Herter ( F N 1), S. 312. Im gleichen Sinne Herwig Görgemanns, Macht, Moral und Psychologie bei Thukydides: Humanistische Bildung, Heft 1/1977, S.68: „Eine rechtlich-moralisch bestimmte Politik wird also als illusionär hingestellt, allein ehrlich ist eine Realpolitik des Möglichen." Macht und Moral stünden bei Thukydides unversöhnlich gegeneinander (S. 74). 30 Wassermann ( F N 23), S.488 u. 480. 31 Selbstverständlich fehlt es bei Thukydides auch nicht an Beispielen für den „selbstsüchtigen Zweck". So sagen die Athener auf der Tagsatzung in Sparta (I 76): noch nie habe sich jemand durch Rechtsgründe abhalten lassen, wenn er sich mit Gewalt einen Vorteil verschaffen konnte.
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er sagt, man müsse unter Umständen freiwillig Unrecht hinnehmen, um sich langfristig Nutzen zu sichern, dann handelt es sich gewiß nicht um den selbstsüchtigen Zweck, wegen dessen einer, wenn es ihm dient, auch Unrecht tut. Die Beispiele zeigen übrigens, daß bei der Berechnung des Nutzens nicht immer auch die Macht einer der Faktoren sein muß. Zwischen Nutzen und Macht besteht ein kategorialer Unterschied, denn Nutzen ist eine Handlungsmaxime, während Macht ein Potential ist. Nach dem Nutzen verfährt, wer im Hinblick auf eine gegebene Lage und nach Maßgabe der ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten das tut, was der Verwirklichung seiner Absicht am besten dient. Das wichtigste dafür erforderliche Potential ist die Macht. Die originäre und spezifische Macht ist aber nicht das Vermögen, das jemand ausschließlich sich selbst zu verdanken hat, wie z. B. seine körperliche Kraft, seine Geistesgegenwart, seine Geschicklichkeit etc.; sondern es ist das Potential, das ihm zuwächst z.B. aus der Sympathie oder dem Vertrauen anderer Menschen oder auch der Identität ihrer Interessen mit den seinen und entsprechender Bereitschaft zur Kooperation. Man gewinnt solche Macht aus dem Zusammenleben mit anderen, und daher hängt die Größe der Macht, die man besitzt, entscheidend davon ab, wie man mit den anderen umgeht. Mit Recht stellen daher die Gesandten der Korinther in Athen fest (I 42), den Gleichgestellten kein Unrecht tun, sei sichere Macht. Theodor Eschenburg hat einmal in einer Skizze über Brüning den richtigen Umgang mit Macht treffend charakterisiert, allerdings an einem Beispielfall, den er kritisiert: „Brüning kümmerte sich nicht um die Bewahrung seiner Machtbasis, ohne die er strategisch nicht zu wirken vermochte. Er lotete nicht jeden Tag seine Position, peilte nicht die Lage seines Standorts im politischen Kräftegefüge, und er unternahm nichts, diese Position zurechtzurücken, wenn sie sich nachteilig für ihn verändert hatte ... So war dieses machtgerechte Denken und Handeln bei ihm nur schwach entwickelt."32
Der kategoriale Unterschied zwischen Nutzen und Macht wird heute meist mißachtet; statt dessen faßt man Macht so auf, als sei auch sie eine Handlungsmaxime. Nimmt man dies aber an, sucht man also nach Handlungsanweisungen, die für das Potential „ M a c h t " spezifisch sind, dann kann dabei allerdings nicht mehr herauskommen als das Gebot, Macht um ihrer selbst willen zu erhalten und zu vermehren sowie die Regel oder der Rat, von der Machtüberlegenheit, über die man verfügt, partout Gebrauch zu machen. Denn ein Potential kann nicht auf ein Ziel außerhalb seiner selbst bezogen werden und hat daher dem Handeln keine andere Orientierung zu bieten als sich selbst. Macht, als Handlungsmaxime miß32 Theodor Eschenburg, Die Rolle der Persönlichkeit in der Krise der Weimarer Republik: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1961, S.29.
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verstanden, kann deshalb auch gegen die eigenen Interessen blind machen. Sie ist insoweit nicht nur fragwürdig im Hinblick auf Ethik und Recht, sondern auch töricht im Hinblick auf den eigenen Nutzen. Wir finden bei Thukydides Beispiele dafür, daß, im gegenwärtigen Augenblick gegebene Macht hemmungslos auszuspielen, sich auf weite Sicht als Nachteil und Schaden zu erweisen pflegt. Im Gegensatz zur Orientierung an der Macht bezieht sich das am Nutzen orientierte Handeln auf ein unendlich weites Feld. Denn was von Fall zu Fall der Nutzen ist, bestimmt sich nach einer Mannigfaltigkeit von Zwecken und Notwendigkeiten. Gegenstand des nützlichen Tuns ist nicht der Nutzen an sich, sondern das jeweils Nützliche. Bedient man sich dabei des Mittels der Macht, so nimmt man diese in die Disziplin des Nutzens und geht entsprechend besonnen mit ihr um. Es zeigt sich also, daß der Erwerb und die Pflege von Macht einerseits und am Nutzen orientiertes Tun andererseits der gleichen Denk- und Handlungsweise bedürfen. Wer will, daß andere ihm nützlich sind, muß zusehen, daß auch sie davon einen Nutzen haben, zumindest daß sie nicht dauernd spürbare Benachteilung erleiden. Deshalb muß man - wie Diodot argumentiert - den Demos von Mytilene gut behandeln, damit man ihn als Bundesgenossen behält; muß man die Städte so weit schonen, daß sie zahlungsfähige Bündner bleiben; muß man Sicherheit nicht durch Härte erreichen wollen, wie es die Gesetze fordern, sondern durch umsichtiges Handeln (epiméleia), wie es die Gegebenheiten nahelegen (III 46). Man muß, wie Gorgias von Leontinoi rät, das der Situation Angemessene dem eigensinnigen (authädes) Rechtsstandpunkt vorziehen. 33 Solche Bevorzugung des Nutzens vor dem Recht ist durchaus „Staatsraison", aber keine „kalte", die sich einfach über das Recht wegsetzte. Man sollte auch, ehe man Diodot „kalter Staatsraison" bezichtigt, beachten, daß er ja nicht rät, um des Nutzens willen Recht zu verletzen oder zu brechen. Der Möglichkeit, trotz großer Schuld von einer entsprechend harten Strafe abzusehen, stellt er ja nicht den Gedanken gegenüber, um des Nutzens willen Unschuldige zu bestrafen, sondern die Möglichkeit, trotz geringer Schuld die gebotene Strafe zu vollziehen. Wird das Nützliche in dem für Thukydides charakteristischen Sinn begriffen, dann ist die Orientierung am Nutzen außerdem identisch mit der Klugheit und von gleicher ethischer Qualität wie diese. „Die Pflicht der Klugheit", schreibt Hegel, „erscheint zunächst als eine Pflicht gegen sich selbst in den Verhältnissen zu anderen, insofern der Eigennutz Zweck 33
Diels-Kranz, Gorgias, Fragment 6. Vgl. Thomas Buchheim (Hrsg.), Gorgias von Leontinoi. Reden, Fragmente und Testimonien, 1989, S.72f. „Eigensinnig" ist der Rechtsstandpunkt, insofern er auf seiner Forderung beharrt und nicht auf den Fall eingeht, auf den er angewandt wird.
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ist. - Der wahre eigene Nutzen wird aber wesentlich durch sittliches Verhalten erreicht, welches somit die wahre Klugheit ist." 34 Und weil Entsprechendes für den am wahren eigenen Nutzen orientierten Machtgebrauch gilt, rät Thukydides nicht (wie Machiavelli es tut), sich so große und sichere Macht zu verschaffen, daß man rücksichtslos jeden Vorteil wahrnehmen kann. Vielmehr tritt bei ihm das Moment der Überlegenheit zurück gegenüber dem der Macht ursprünglich eigenen Moment des Möglichen: Selbst der Stärkere tut gegenüber dem Schwächeren nur „das Mögliche". Abgesehen davon, daß Machiavellis Vorstellung von Macht im Vergleich zu Thukydides recht undifferenziert ist, legt er es geradezu darauf an, eine Unvereinbarkeit von Macht und Moral zu demonstrieren. Dagegen erfahrt man bei Thukydides, daß Macht, in die Disziplin des rationalen Nutzenkalküls genommen, zum Faktor ethisch qualifizierten Handelns wird. Nach Thukydides' Auffassung hat man wahren Nutzen nicht in dem kleinen Vorteil, den man aus der augenblicklichen Situation ziehen kann, sondern in dem, was man auf weite Sicht gewinnt. Solchen Nutzen anzustreben und zu realisieren, ist ein Gebot rationalen Handelns. Dagegen tut die Befangenheit des Blicks und Kalküls im gerade Gegenwärtigen der Rationalität Abbruch. Denn sie erfaßt nicht die ganze an sich erkennbare Wirklichkeit, zu der immer auch das absehbare zukünftige Geschehen gehört. Deshalb begründet Diodot seinen Rat, die Bündner, auch wenn sie Unrecht getan haben, nur maßvoll zu bestrafen, damit, daß sie auch in Zukunft zahlungskräftig bleiben sollen. Die Melier raten den Athenern, nicht durch rücksichtslose Härte das „gemeinsame G u t " (gemeint sind humane Konventionen) zu zerstören, damit sie nicht, wenn sie in Zukunft selbst einmal die Unterlegenen sind, mit gleicher Rücksichtslosigkeit behandelt werden. Die Korinther bezeichnen es als sicherere Macht, den Ebenbürtigen kein Unrecht zu tun, als sich, befangen in der gerade sich bietenden Gelegenheit, einen mit Risiken behafteten Vorteil zu erraffen. Durch diesen ihr eigentümlichen Bezug auf die Zukunft unterscheidet sich die Berechnung des Nutzens wesentlich von der Orientierung am Recht. Bei der Feststellung, was rechtens ist, bei der Durchsetzung eines Rechts, bei der Bestrafung einer Rechtsverletzung usw. handelt es sich immer darum, etwas, was bereits geschehen ist, zum Abschluß zu bringen. Nach ihren Folgewirkungen und damit nach der Zukunft haben das Rechtsgebot und die Rechtsentscheidung gerade nicht zu fragen. Bertrand de Jouvenel bemerkt zu dem Unterschied zwischen juristischen und politischen Entscheidungen: 34 Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse, § 68. - Vgl. auch 7opitsch (FN 10), S. 62: „ D a s überlegte Streben nach dem wahren Nutzen bedeutet schon eine wesentliche Einschränkung der ungezügelten Pleonexie der Physis."
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„Wenn die in der Vergangenheit liegenden Tatsachen richtig festgestellt und die dafür gültigen Normen ordnungsgemäß angewendet worden sind, dann ist ein gerichtliches Urteil richtig. Die Entscheidenden brauchen hier nicht die praktischen Konsequenzen ihrer Entscheidung zu berücksichtigen ... Die politische Entscheidung ist dagegen ein Versuch, den zukünftigen Zustand der Welt zu beeinflussen. Ein solcher Versuch bringt es mit sich, daß man im voraus berechnet, wie sich die Entscheidung auswirken wird, man berücksichtigt deshalb Fakten, die sich noch ergeben werden, oder Zufälle."35
Ganz im Sinne dieser Unterscheidung weist Diodot in seiner eben nochmals zitierten Rede die Anwendung des Rechts mit dem Argument zurück: „Ich meine aber, daß wir eher über Zukünftiges zu beraten haben, als über das Gegenwärtige ... So geht es nicht darum, daß wir genaue Richter wären über Leute, die sich vergangen haben."
5. Die Gefahr, daß sich die Aufmerksamkeit und das Handeln nur noch aufs unmittelbar Gegenwärtige fixieren, bringt fast unvermeidlich der Krieg mit sich. Das hat folgenden Grund: Man beginnt einen Krieg wegen bestimmter politischer Ziele. Dann aber wird dieser Krieg, der als Mittel zum Zweck in Gang gebracht war, zur Existenzfrage. Denn falls man den Sieg verfehlte, wären nicht lediglich die Ziele, die man sich gesteckt hatte, nicht erreicht, sondern die Niederlage kann Vernichtung bedeuten. Deshalb orientiert sich die Kriegführung nicht mehr an den ursprünglichen politischen Zielen, sondern nur noch am erstrebten Sieg. Der Krieg emanzipiert sich also gewissermaßen von dem Zweck, für den er als Mittel gedacht war 36 , und da es um die Existenz geht, nimmt er die physischen und seelischen Kräfte der Menschen total in Anspruch. Infolgedessen ist deren Denken und Tun derart befangen im existentiell dominierenden Interesse am Sieg und in den unmittelbaren Erfordernissen des Kampfes, daß alle jenseits davon und in entfernterer Zukunft gelegenen Interessen und Zwecke versinken. Deshalb rühmen die Korinther sich mit Recht (I 41), daß sie den Athenern einen Freundschaftsdienst geleistet hätten in einer Entscheidungssituation, „in der die Menschen im Kampf gegen die Feinde gegen alles gleichgültig sind, außer daß sie siegen". Dann geschehe es auch, daß die in der Kriegsführung befangenen Menschen denjenigen als Freund betrachten, der ihnen im Augenblick hilft, auch wenn er vorher ihr Feind war, und daß ihnen als Feind gilt, wer ihnen entgegentritt, auch wenn er gerade noch ihr Freund gewesen ist. Ja, die Menschen setzten ihre 35
Bertrand de Jouvenel, Reine Theorie der Politik, 1967, S. 186 f. Die „Verselbständigung" und „Eigengesetzlichkeit" des Krieges charakterisiert treffend Stahl (FN 5), S.97f. 36
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H a b e aufs Spiel wegen ihrer augenblicklichen Versessenheit auf den Sieg. 37 Der Krieg kann sogar Situationen mit sich bringen, in denen kluge Entscheidungen nicht einmal mehr möglich sind (I 78). Wie das absolut gesetzte Kriterium des Rechts, so abstrahiert im Krieg also der dominierende Wille zu siegen vom G e s a m t u m f a n g und der Fülle an sich relevanter Faktoren der Lage wie auch von den längerfristigen eigenen Interessen. Weiteren Verlust an Rationalität bringt speziell der Bürgerkrieg (stäsis) mit sich. Thukydides demonstriert das a n h a n d der Ereignisse in Kerkyra (III 82, 4—5). Während die Griechen für die Kriegführung zwischen den Stadtstaaten gewisse der Humanisierung dienende Regeln ausgebildet hatten, verblieb f ü r die Feindseligkeiten unter Bürgern, war die innere Ordnung der Stadt einmal zerstört, keinerlei objektive Disziplin. Vielmehr brach die sonst durch städtisch-politische Zivilisation zurückgedrängte, rohe Menschennatur wieder hervor. Thukydides bezeichnet deshalb die stäsis als orné, als „roh" 3 8 . Zu diesem Verfall der politischen Zivilisation gehört für Thukydides auch die moralische Diffamierung des rationalen Handelns und Verhaltens (III 82). Wie sie erfolgte, charakterisiert er mit dem Satz: „ D i e gewohnte Bedeutung der Bezeichnungen für das ,was man tut, änderten sie (seil, die Kerkyräer) nach ihrem D a f ü r h a l t e n . " So priesen sie das unvernünftige Wagnis als Tapferkeit; sie stellten das die Folgen eines Tuns mitbedenkende Zögern als gefällig präsentierte Feigheit hin; Besonnenheit galt als Bemäntelung von Unmännlichkeit. Überhaupt war rationales Verhalten verpönt als Unfähigkeit zu handeln. Dagegen galt wahnsinniges Drauflosschlagen als echte Mannesart; sich, um nichts falsch zu machen, nochmals zu beraten, wurde als schönklingender Vorwand f ü r eine Ablehn u n g verleumdet. In allen diesen Fällen unterstellte man also rationalem Verhalten ethisch minderwertige Motive bzw. erschienen die verschiedenen Bezeichnungen für den Gebrauch der Ratio als Beschönigungen verwerflichen Tuns. Eine weitere moralische Diffamierung der Rationalität 37
Hierzu auch ein Beispiel aus unserer Zeit: Zur Frage, warum der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt im 2. Weltkieg nichts unternommen hat, um die europäischen Juden vor der Vernichtung zu erretten, schreibt David S. Wyman (Das unerwünschte Volk, 1986, S.433): „Er stand unter dem Eindruck schwerwiegender Entwicklungen und Ereignisse und unter dem Zwang, wichtige Entscheidungen treffen zu müssen, und behielt für Dinge, die nicht mit der Führung des Krieges im engeren Sinne zu tun hatten, fast keine Zeit mehr übrig." 38 „Einen derart rohen Verlauf nahm der Bürgerkrieg", schrieb Thukydides (III 82). „Roh", griechisch omós, bezeichnet an sich das rohe, ungekochte Fleisch. So III 94, wo von dem Volk der Eurytanen gesagt wird, daß sie eine kaum verständliche Sprache reden und angeblich das Fleisch roh verzehren. Als omón empfanden die Athener am Tag danach ihren Beschluß, Mytilene zu vernichten (III 36).
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bestand darin, diese zu loben, wo sie zu perfider Schlauheit verkürzt war: wer erfolgreich intrigiert, wurde als klug gelobt; wer mit Erfolg betrog, dem wurde „der Preis der Klugheit" zuerkannt; und die Leute wurden lieber für schlaue Übeltäter gehalten als für anständige Dummköpfe. Thukydides schließt seine Darstellung des Bürgerkriegs in Kerkyra mit der Feststellung, daß die geistig Minderbemittelten die Oberhand gewannen, während diejenigen, die auf ihre geistige Überlegenheit vertrauten, ihnen zum Opfer fielen.
6. Zum rationalen Umgang mit der Macht gehört es, sie nach Maßgabe des ihr ursprünglich eigenen Moments des Möglichen zu gebrauchen. Dies ist der Hauptgegenstand des sog. Melier-Dialogs (V 84—114)39. Thukydides schildert knapp die Situation: „Auch gegen die Insel Melos unternahmen die Athener einen Feldzug ... Die Melier sind Kolonisten der Spartaner und wollten den Athenern nicht Untertan sein wie die Bewohner der anderen Inseln, sondern schlössen sich zunächst keiner der beiden Seiten an und verhielten sich ruhig. Als dann die Athener sie durch Verwüstung ihres Landes zwingen wollten, traten sie offen in den Krieg ein."
Die athenischen Feldherren beschlossen aber, zunächst zu verhandeln, und schickten deshalb Gesandte in die Stadt. „Diese wurden von den Meliern nicht vor das Volk geführt", sondern es wurde nicht-öffentlich im Rat gesprochen. Dieser Dialog wird meist als Auseinandersetzung zwischen Macht und Recht oder als Dokument aller ethischen Rücksicht baren Machtdenkens mißverstanden. Dabei ist (V 89) das Thema ausdrücklich gestellt. Die Athener schlagen vor, „aufgrund dessen, was wir wirklich denken, das Mögliche zu erreichen". So geht es zwar um eine bestimmte Machtkonstellation, nämlich um die Entscheidung zwischen den Forderungen der eindeutig überlegenen Athener und dem Interesse der eindeutig unterlegenen Melier. Doch ist die Auseinandersetzung nicht von der Androhung blinden Machtgebrauchs beherrscht, sondern der Fall wird als Frage des rationalen Umgangs mit Macht behandelt: Was ist in dieser Situation für die eine und für die andere Seite das Mögliche? Daß es gerade nicht um den Widerstreit von Macht und Recht geht, wird erstens ebenfalls ausdrücklich gesagt: die Melier stimmen dem Vorschlag 39
Neben den bekanntesten Übersetzungen von Landmann (FN 7), Vretska (Reclam) und Regenbogen (Thukydides, Politische Reden, Leipzig 1949) ist besonders empfehlenswert die - allerdings nicht leicht zugängliche - von Walter Marg (Stuttgarter Zeitung, 29. März 1969). Nach dieser wird hier zitiert.
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der Athener, das Kriterium des Rechts von vornherein beiseite zu lassen, zu. Zweitens folgt es aus der gegebenen Lage, denn nach dem Recht kann nur zwischen Gleichgestellten entschieden werden, und das ist hier nicht gegeben. Vielmehr gilt, daß die Stärkeren das Mögliche tun und die Schwächeren dies zugestehen (V 89). Im übrigen erscheint der Vorschlag der Athener, nicht mit Rechtsgründen, sondern nach Maßgabe des beiderseitigen Nutzens zu argumentieren, so verwerflich nicht, wenn man bedenkt, daß es das Beharren auf dem Recht war, das den Krieg zwischen Sparta und Athen herbeigeführt hatte, während das Abgehen vom Rechtsstandpunkt Mytilene vor der Vernichtung bewahrte. Ausgeschaltet sind übrigens auch die Beeinflussung der Entscheidung durch Demagogie (die Debatte findet nicht vor dem Volk statt) sowie die „offiziellen Argumente" der Politik. 40 Beide Seiten argumentieren also wirklich so, wie sie denken, und sie bleiben auch beim Thema, nämlich zu ermitteln, was in dieser Situation das Mögliche ist. Doch kommen sie zu verschiedenen Ergebnissen, weil jede Seite von einer anderen Lagebeurteilung ausgeht. In den Augen der Athener haben die Melier nur die zwei Möglichkeiten, entweder sich zu unterwerfen und so die Stadt zu retten, oder aber den Krieg zu wählen - und damit ihren sicheren Untergang. Deshalb liegt für die Athener die Entscheidung ausschließlich in der unmittelbaren Gegenwart, während sie den Blick auf zukünftige Folgen und Möglichkeiten, normalerweise ein wichtiger Faktor der rationalen Ermittlung des Nutzens, für abwegig erklären (V 87): „Ja, wenn ihr zusammengetreten seid, um bloße Vermutungen über das Zukünftige zu überschlagen oder sonst Müßiges, statt aufgrund der gegenwärtigen Lage und des Vor-Augen-Stehenden über das Wohl der Stadt zu beraten, dann können wir auch aufhören (seil, zu verhandeln)."
Die Melier dagegen betrachten die Unterwerfung nicht als Rettung der Stadt, sondern als Verlust der Freiheit, während der Krieg für sie nicht notwendigerweise den Untergang bedeutet, sondern auch die Möglichkeit, 40
So muß das griechische onómata kalá verstanden werden. Ubersetzt mit „schöne Worte" würde es nur so viel wie „leere Phrasen" bedeuten. Kalón ist das, was sich schickt, was öffentliche Anerkennung hat (im Deutschen ist diese Bedeutung vorhanden im Gebrauch des Wortes „unschön"; z.B.: „er hat sich gegenüber seinem Wohltäter ausgesprochen unschön verhalten"). Das gilt auch für die offiziellen Argumente der Politik, die in der Öffentlichkeit zu gebrauchen durchaus seinen guten Sinn hat, weil sie die politisch verbindliche Definition von Standpunkten und Interessen sind. In diesem Sinne waren in der Deutschlandpolitik der Fortbestand des Deutschen Reiches und der Satz, daß über die Gebiete jenseits von Oder und Neiße erst in einem Friedensvertrag entschieden werden könne, onómata kalá. Adenauer ließ diese beiseite, als er ab 1958 direkte Verhandlungen mit der Sowjetunion suchte; Brandt bezeichnete sie später einmal - zu despektierlich - als „Formelkram". So könnte man aber an dieser Stelle des Melier-Dialogs onómata kalá treffend übersetzen.
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zu siegen und frei zu bleiben. Deshalb erscheint es von ihrem Standpunkt aus sinnvoll, die zukünftige Entwickung und deren Möglichkeiten ins Kalkül einzubeziehen: „Wir wissen jedoch, daß in Kriegsdingen bisweilen das Glück sich neutraler gibt, als es nach der unterschiedlichen Stärke beider Seiten zu erwarten ist. Und für uns heißt das: sofort nachgeben ist hoffnungslos, im Handeln aber ist noch Hoffnung (V 102)."
Der Gesamtverlauf der Debatte ist davon bestimmt, daß die Athener dabei bleiben, das Kalkül auf die gegenwärtige Lage, mithin auf ihre aktuelle Überlegenheit, zu beschränken (V 87, 91, 111, 113) und vor möglichen Nachteilen auf weite Sicht die Augen zu verschließen; während die Melier nicht wahrhaben wollen, ein wieviel höheres Risiko die an sich beiden Parteien gemeinsame Abhängigkeit von Kriegsglück für den Schwächeren mit sich bringt als für den Stärkeren (V 100 ff.). So argumentieren beide Seiten mit zutreffenden allgemeinen Einsichten, ziehen daraus aber, weil sie die eigene Lage falsch einschätzen und die ihnen je gesetzten Grenzen nicht beachten, falsche Konsequenzen. Das kann hier nicht Abschnitt für Abschnitt nachgezeichnet werden; es muß genügen, den wichtigsten Punkt der Erörterung herauszuheben: Die Athener bringen zwei verschiedene Möglichkeiten, im Machtverhältnis zwischen dem Stärkeren und dem Schwächeren zu verfahren, zur Sprache. In dem einen Fall (V 105) ist die ursprüngliche rohe menschliche Natur bestimmend, nach der der Mensch mit zwingender Notwendigkeit über das herrscht, was er sich unterwerfen kann. Im anderen Fall (V 111) ist das Machtkalkül in die Disziplin rationalen Handelns genommen. Da gilt der Grundsatz: „Die den Gleichen nicht nachgeben, mit den Stärkeren sich recht arrangieren, gegen Unterlegene maßvoll sind, die pflegen am besten zu fahren." Diese beiden Möglichkeiten, mit der Macht umzugehen, schließen einander aus; aber es ist ja nichts Ungewöhnliches, daß jemand im Verlauf einer Diskussion Argumente vorbringt, die nicht zueinander passen, ohne sich zunächst mit einem davon endgültig zu identifizieren. Zudem läßt der Zusammenhang, in dem die Athener die „rohe" Variante des Machtgebrauchs hervorkehren, an einen plausiblen Grund denken, warum sie es tun. Hier äußern nämlich die Melier (V 104) ihr Vertrauen darauf, daß göttliche Macht ihnen zu Hilfe kommt, „weil wir gottesfürchtig gegen Ungerechte stehen" (V 104). Damit verlassen sie aber die Ebene der rationalen Ermittlung des Möglichen. Die Athener beantworten das zunächst mit dem Hinweis (V 105), daß das Göttliche zu den beiden Parteien in Äquidistanz stehe und deshalb die Bezugnahme darauf nichts zur Beantwortung der Frage nach dem Möglichen beitrage. Dann weisen sie darauf hin, daß man, wenn man den Boden des rationalen Kalküls verläßt, ebensogut wie beim Göttlichen auch bei der rohen, durch die Ratio nicht zivilisierten
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Menschennatur landen kann. Mag jenes das Wünschenswerte sein, so ist dieses das Wahrscheinlichere. Setzt man beide Varianten des Machtverhältnisses zwischen den Stärkeren und den Schwächeren zueinander in Beziehung, so darf man keinesfalls die gemäßigte Aussage im Lichte der maßlosen sehen, als sei diese die allein und entscheidend gültige. 41 Schon weil Thukydides' Generalthema nicht ein fragwürdiger „Realismus" ist, sondern das rationale Handeln, ist es unwahrscheinlich, daß er dem rationalen Machtgebrauch kein eigenes Gewicht beimessen sollte gegenüber dem rohen und blinden. Vor allem aber hat er am Anfang des Dialogs die Athener den durch die Ratio zivilisierten Umgang mit der Macht als Ziel setzen und das Mögliche als alternatives Kriterium zum Recht vorschlagen lassen. So ist diese Auffassung offenkundig die entscheidende. Gegen Ende der Debatte machen die Melier einen Vorschlag, der genau der von den Athenern selbst formulierten Regel, sich mit dem Stärkeren recht zu arrangieren, entspricht: Sie bieten nämlich wohlwollende Neutralität an (V 89). Das würde ihnen die Freiheit erhalten und die Athener davor bewahren, durch einen Akt roher Gewalt ihrem Ruf in der griechischen Welt schweren Schaden zuzufügen. Die Athener jedoch entschieden schließlich nach der primitiveren der beiden von ihnen vorgetragenen Regeln, verharren im Horizont der gegenwärtigen Machtlage und eröffnen den Krieg gegen Melos, mit dem Ziel, die Stadt zu vernichten. Zutreffend schreibt Hans Herter: „Wie die Ereignisse nun einmal gelaufen sind, kann Thukydides nicht anders urteilen: Die Athener haben richtige theoretische Erkenntnisse falsch angewandt; ... Sie glaubten, das Mögliche durchzusetzen (V 89), und waren doch längst auf dem Weg des Unmöglichen." 42
Er bemerkt dazu an gleicher Stelle: „Die Macht ist nach seiner (Thukydides') Überzeugung keine absolute und konstante Größe, sondern muß von einem Meister der Politik immer aufs neue kalkuliert werden. Bei jeder einzelnen Entscheidung wiederholt sich die Frage, wieweit das Potential ausgenützt werden darf, und wenn sich dann oft genug zeigt, daß selbst ausgiebige Mittel auf die Dauer nicht reichen, so bleibt auch für den Schwachen noch ein Raum, in dem er sich regen kann ..
Joseph Vogt bezeichnet den rationalen Umgang mit der Macht, der dies
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So besteht z.B. die Möglichkeit (von der die Athener auf der Tagsatzung in Sparta - I 76, 3 - sprechen), daß Menschen zwar entsprechend der menschlichen Natur über andere herrschen, dabei aber gerechter vorgehen, als sie es aufgrund ihrer überlegenen Macht müßten. 42 Hans Herter, Pylos und Melos, in: ders. (FN 1), S.383f. 43 Ebd., S. 380f.
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alles berücksichtigt, treffend als „ e i n e Diätetik der Macht" 4 4 . Er schreibt dazu: „Genaueste Interpretation ergibt, wie ich glaube, daß Thukydides wohl ein Befürworter der Machtpolitik, doch niemals ein Verteidiger des Faustrechts genannt werden kann. Die Starken, so wird gesagt, tun nicht einfach, was sie wollen, sondern was sie können, was ihnen möglich ist." D e r „Machtpolitiker" sei „nicht der g a n z e Thukydides" 4 5 . D a s m u ß m a n w o h l b e d e n k e n , w e n n m a n den v o l l e n G e w i n n aus d e m ziehen will, was T h u k y d i d e s als „Besitz für immer" niedergeschrieben hat.
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Joseph Vogt, Dämonie der Macht und Weisheit der Antike, in: Herter (FN 1), S.294f. 45 Ebd., S. 296.
VII.
Anmerkungen zu Machiavellis „II Principe"
1. Als die Medici 1512 die Herrschaft in Florenz zurückgewannen, entfernten sie Machiavelli aus seinem hohen Staatsamt des Sekretärs der „Dieci di pace e di libertà". Damit war der damals 44jährige von aller politischen Betätigung ausgeschlossen, aber die Politik beschäftigte weiter seinen Geist. Er studierte die einschlägigen Werke antiker Schriftsteller, verglich damit seine eigenen Erfahrungen und schrieb seine Gedanken und die Ergebnisse seiner Betrachtungen auch nieder. Machiavelli hat das selbst in einem berühmt gewordenen Brief vom 10. Dezember 1513 an seinen Freund u n d Diplomaten-Kollegen Francesco Vettori anschaulich geschildert: Seine Tage vertrödelt er im bäuerlichen Milieu seines bescheidenen Landgutes, abends aber flüchtet er sich in die Welt, die er als die eigentlich seine betrachtete: „Wenn der Abend gekommen ist, kehre ich heim und gehe in mein Studierzimmer. Und im Hineingehen lege ich die alltägliche Kleidung voll Schmutz und Kot ab und hülle mich in königliche und höfische Gewänder. Und geziemend gekleidet trete ich ein in die ehrwürdigen Paläste der Alten. Dort nähre ich mich, von ihnen liebevoll aufgenommen, von jener Speise, die allein mein ist und für die ich geboren bin. Dort scheue ich mich nicht, mit ihnen zu sprechen, und ich frage sie nach Sinn und Art ihrer Handlungen (della ragione delle loro actioni), und jene antworten mir in ihrer hohen Menschlichkeit. Vier Stunden lang spüre ich keine Langeweile und vergesse alle Unbill; ich fürchte nicht die Armut noch schreckt mich der Tod: ich versetze mich ganz unter sie. Und weil Dante sagt, daß es keine Wissenschaft gibt, ohne daß man das Verstandene festhält, habe ich das aufgeschrieben, was ich im Gespräch mit ihnen profitierte, und habe ein kleines Werk De principatibus verfaßt. Darin vertiefe ich mich nach bestem Vermögen in die Gedanken über diesen Gegenstand, indem ich erörtere, was Herrschaft ist, welche Arten es davon gibt, wie man sie erwirbt, wie man sie erhält und die Ursachen, an denen sie zugrunde geht." 1
1
Niccolò Machiavelli, Opere, A cura di Mario Bonfantini. Milano, Napoli 1954, S. 1108 ff. (1111). Hier wird zitiert die Übersetzung bei Heinrich Lutz, Ragione Di Stato und die christliche Staatsethik im 16. Jahrhundert, 1961, S.22. Erwin Faul, Der moderne Machiavellismus, 1961, S.31, macht darauf aufmerksam, daß Machiavelli, auch während er im Amt war, für seine selbständigen politischen Konzeptionen „auf die Kunst seiner Feder verwiesen" gewesen sei.
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VII. Anmerkungen zu Machiavellis „II Principe"
Geschrieben hat Machiavelli das „kleine Werk" wie auch seine „Discorsi" aber nicht nur, um auf diese Weise seine Erkenntnisse zu festigen, sondern er wollte sein Wissen anderen weitergeben, die davon praktischen Nutzen haben sollten. In der Einleitung zum zweiten Buch der „Discorsi" wendet er sich an seine „jungen Leser" und empfiehlt ihnen die Politik des antiken Rom zur Nachahmung: „ D e n n es ist die Pflicht eines rechtschaffenen Mannes, das Gute, das er wegen der Ungunst der Zeiten und Fortunas nicht ausführen konnte, andere zu lehren, damit unter den vielen Fähigen einer, den der Himmel mehr liebt, es verwirklichen kann." In der Widmung des „Principe" bietet er sein Wissen Lorenzo Medici an mit den Worten, er habe seine Beobachtungen über die Taten großer Männer, die er durch lange eigene Erfahrung sowie durch das Studium des Altertums gemacht habe, mit großer Sorgfalt durchdacht und nachgeprüft und in einem kleinen Band zusammengefaßt. So könne Lorenzo sich „in brevissimo t e m p o " alles das aneignen, was er - Machiavelli - in so langen Jahren und unter so vielen Mühen und Gefahren gelernt habe. Um also das politische Wissen und Können anderen zu vermitteln, begnügte Machiavelli sich nicht damit, seine Erfahrungen und den Ertrag seiner Studien einfach niederzuschreiben. Er war vielmehr bestrebt, daraus sichere Regeln und praktisch brauchbare Vorbilder abzuleiten, nach denen man sich die erforderlichen Kennnisse gewissermaßen im Schnellkurs aneignen kann. Zu diesem Zweck unternahm er es, seinen Stoff systematisch aufzubereiten. Nichts weist jedoch darauf hin, daß er über die Entwicklung von Regeln und die Darstellung von Vorbildern hinaus beabsichtigt hätte, eine ganze Wissenschaft oder Theorie der Politik zu schaffen. Man sollte deshalb auch nicht versuchen, aus seinen Schriften eine solche Theorie zu rekonstruieren. 2 Leicht nachweisbar ist dagegen 2
Keine der Stellen, an denen Machiavelli über seine Methoden spricht, rechtfertigt die Annahme, daß er eine umfassende Theorie der Politik oder gar politische Anthropologie habe ausarbeiten wollen. Mit Recht weist Gennaro Sasso, Niccolö Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965, S. 171 f., den „alten, fest verwachsenen Gemeinplatz" zurück, in Machiavelli einen „Wissenschaftler", ja, einen Galilei der Politik und Geschichte zu sehen. Friedrich Mehmel schreibt in seinem sehr lesenswerten Aufsatz, Machiavelli und die Antike: Antike und Abendland III (1948), S. 152 ff. (183): „Machiavelli ist kein Humanist, kein Historiker, kein Philosoph. Dazu fehlt ihm vor allem das saubere, verantwortliche Verhältnis zur Sache, der Respekt vor dem Gegenstand an sich. Das zeigt uns sein Verhältnis zur Antike." - Ein typisches Beispiel für das Fehlurteil, Machiavellis Werk sei wissenschaftlich, bietet Erich Brandenburgs Beitrag, Machiavelli und sein Principe: Berichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Philologisch-historische Klasse. 89 Bd., 4. Heft, 1938. Brandenburg bezeichnet (S. 12) Machiavellis Fragestellung als in ihrem Kern rein wissenschaftlich, auf die Erkenntnis der Zusammenhänge gerichtet und behauptet (unter Berufung auf Burd), es bestehe Ähnlichkeit zwischen dem Verfahren Machiavellis und dem der klassischen Nationalökonomie.
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eine Reihe allgemeiner G r u n d a n n a h m e n , die immer wiederkehren u n d off e n k u n d i g großen E i n f l u ß auf Machiavellis Erläuterung u n d Beurteilung v o n Einzelfragen hatten. S o geht er z. B. d a v o n aus, d a ß die M e n s c h e n , w e n n sie sich frei entscheiden k ö n n e n , eher etwas Schlechtes tun als etwas G u t e s (wobei o f f e n bleibt, ob dies seine persönliche Ü b e r z e u g u n g o d e r nur ein „ m e t h o d i s c h e r " Pessimismus 3 war). Häufig betont er, d a ß es schlecht sei, einen Mittelweg einzuschlagen, s o w i e daß der politisch H a n d e l n d e um so erfolgreicher sei, j e unabhängiger v o n anderen er über seine Machtmittel verfüge. V o n besonderer B e d e u t u n g sind selbstverständlich seine vielen Bemerkungen über das Verhältnis der virtù zu necessità u n d fortuna. M a n kann aus solchen G r u n d a u f f a s s u n g e n Rückschlüsse a u f Machiavellis allgemeine Vorstellung v o n Politik ziehen, d o c h ist diese weit entfernt v o n einer ausdrücklich entwickelten u n d durchgearbeiteten Theorie. W e n n z. B. in den Kapiteln VI ff. der Fall abgehandelt wird, d a ß sich ein Privatmann zum Fürsten macht, so zeugt d a s von einer grundlegend Fortsetzung Fußnote von Seite 122 - Wenn Machiavelli in Kap. III. seine Ausführungen über die Politik LudwigsXII. mit den Worten zusammenfaßt: „Ludwig hatte also folgende fünf Fehler begangen: ... ", so scheinen mir diese und ähnliche Wendungen eher der Diktion eines Lehrbuchs als einer wissenschaftlichen Abhandlung zu entsprechen. Ausgesprochen unwissenschaftlich ist u. a. die große Bedeutung, die er den Bürgermilizen beimißt, nur weil es ihm selbst gelungen war, in Florenz die Aufstellung einer solchen durchzusetzen. Auch der klassische Vergleich rationaler Politik mit Diagnose, Prognose und Therapie der Medizin bleibt für Machiavelli (im Gegensatz etwa zu Thukydides) marginal und sporadisch (vgl. insbes. Princ. Kap. III und XIII sowie Disc. I, 18). 3 Dafür, daß es sich um methodischen Pessimismus (verstanden in Analogie zum methodischen Zweifel) handelt, spricht, daß sich viele Stellen aus Machiavellis Werken beibringen lassen, wo er sich durchaus positiv über die Menschen im allgemeinen äußert. Sasso (FN2), S.209, schreibt im Hinblick auf Disc. I, 3 („Wer eine Republik gründet und ihr Gesetz gibt, muß unterstellen, daß alle Menschen böse sind ..."): „Die Bemerkung könnte den Umstand nicht deutlicher erhellen, daß die Bosheit der Menschen von Machiavelli nicht als unveränderliche Gegebenheit ihrer Natur angesehen wird, sondern als eine Hypothese (eine .Vermutung'), die derjenige, der inmitten von politischen Handlungen steht, sich zwangsläufig immer vor Augen halten muß." - Ähnlich Lauri Huovinen, Das Bild vom Menschen im politischen Denken Niccolò Machiavellis, Helsinki 1951, passim und (zusammenfassend) S. 160ff.; nur Machiavellis theoretisches Menschenbild sei pessimistisch, „aber pessimistisch nur vom Standpunkt der Staatspraxis aus gesehen". - Die Unterstellung der Staatstheorie, daß die Menschen schlecht sind, muß keineswegs - wie Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1982, S.264f., meint - Vorwand für staatliche „Repression" sein; sie wird vielmehr plausibel, sofern der sittliche Sinn des Staates auch darin besteht, die negativen Auswirkungen des moralischen Ungenügens der Individuen auf die Gesellschaft zu kompensieren (siehe unten, S. 135). Dagegen ist es - ganz allgemein - keine kluge und gute Politik, das Kalkül immer auf den schlechtestmöglichen Gang der Dinge abzustellen.
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anderen Auffassung von der Natur des politischen Verbandes, als wir sonst aus der europäischen Staatstheorie gewohnt sind: Denn die meisten Theoretiker halten einen Übergang vom Privaten zum Politischen nicht anders für möglich als durch die Einführung eines völlig neuen Prinzips. So ist z.B. für Rousseau der Abschluß des Sozialvertrags eine grundlegende Veränderung der menschlichen Lebensweise. 4 Wird diese Veränderung nicht vorgenommen, dann kann sich ein Mensch die halbe Welt unterjochen, es entsteht doch kein politischer Körper, sondern der Betreffende bleibt „un particulier" und sein Interesse ein Privatinteresse. 5 Machiavelli sagt zwar (an anderer Stelle)6 auch, daß der Fürst sich nur an seinen eigenen Interessen und nicht am Gemeinwohl orientiere, aber in einem mit Rousseaus Gedanken vergleichbaren theoretischen Zusammenhang steht seine Bemerkung nicht. Auch Machiavellis Regeln sind keine aus einer philosophischen Theorie der Natur des Menschen (oder gar aus einer Geschichtsphilosophie) abgeleiteten Gesetze, sondern eher Faustregeln, mit denen sich der Leser das ihm vermittelte Wissen „in brevissimo tempo" aneignen kann. So münden z.B. in Discorsi II, 17 Machiavellis lange Ausführungen über Wert und Unwert der Artillerie in dem Satz: „Ich komme am Ende dieser Erörterung also zu dem Schluß, daß Geschütze einem Heer nützlich sind, wenn sie verbunden sind mit der Tapferkeit der Alten, sonst aber gegen ein tapferes Heer völlig unnütz." Vor solchen Sätzen könnte ein „merke:" stehen. Meist sind es - wie Hans Freyer treffend gesagt hat - Handlungsregeln für typisch wiederkehrende Lagen 7 ; sie bleiben im Genre handwerklicher Erfahrungssätze und Arbeitsanleitungen. Machiavelli fragt, was man tun muß, wenn man unter bestimmten Umständen bestimmte Absichten verwirklichen oder Schäden vermeiden will. Wer z. B. eine Herrschaft errichten will, m u ß Unterschiedliches beachten und tun, je nachdem, ob er fremde Hilfe dafür in Anspruch nimmt oder sich nur auf seine eigenen Machtmittel stützt; je nachdem, ob die Bevölkerung, die er sich unterwirft, an politische Freiheit gewöhnt ist oder nicht etc. Er erörtert auch die 4
Du Contrat Social I, 6: „ ... et le genre humain periroit s'il ne changeoit sa manier d'etre." 5 Du Contrat Social I, 5. - Zöge man aus Machiavellis Auffassung die theoretischen Konsequenzen, so müßten bei ihm alle Elemente, die spezifisch für den politischen Verband sind, schon in den Auseinandersetzungen enthalten sein, die vor seiner Konstituierung stattfinden; und sie müßten, ausgehend von „vorstaatlicher" Politik, kontinuierlich institutionelle Qualität gewinnen. Das hat viel für sich, und es wäre deshalb interessant zu untersuchen, ob sich solche Elemente in Machiavellis Darstellung nachweisen lassen - die von ihm selbst sicher nicht als solche erkannt und gewürdigt wurden. 6 Dis.II, 2. 7 Hans Freyer, Machiavelli, 1938, S.98.
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Gründe, warum das, was er vorschreibt, erforderlich ist, und stellt z.B. fest, daß eine Bevölkerung leichter zu beherrschen ist, wenn man ihre Sprache spricht und ihr ihre Lebensgewohnheiten beläßt. Häufig betreffen seine Regeln Effekte, die sich aus einer vom Verhalten des Handelnden unabhängigen Logik der Umstände einstellen. Beispiele dafür finden sich u.a. im „Principe" Kap. III. Dort geht es anfangs um eine „naturale difficultä", mit der man es bei jeder neu gegründeten Herrschaft zu tun habe. Der Eroberer werde zunächst von vielen Einwohnern begünstigt, weil sie sich von dem neuen Herrn Vorteile erhoffen. Dieser jedoch müsse sie wie die Erfahrung lehre - wegen der unvermeidlichen Begleitumstände der militärischen Besetzung notgedrungen schädigen, sie sich folglich zu Feinden machen. Diese Folge beruhe auf „l'ordine delle cose". Mit der gleichen Automatik wird man, wie Machiavelli am Schluß des Kapitels anmerkt, durch eben die Mittel, mit denen man einem anderen zur Macht verhilft, bei ihm auch verdächtig. „Daraus folgt eine allgemeine Regel, die nie oder selten trügt: wer Ursache dafür ist, daß ein anderer zur Macht gelangt, runiert sich; denn was er dazu beigetragen hat, beruht auf seiner Tüchtigkeit oder seinen Gewaltmitteln, und durch das eine wie das andere macht er sich dem, der zur Macht gelangt ist, suspekt." Machiavelli hat seine Regeln rational gewonnen und begründet. Doch hat er das nicht, wie ihm zuweilen unterstellt wird, aus dem Geist des aufkommenden Rationalismus getan, denn dann müßte es sich um Ableitungen aus theoretischen Grundannahmen handeln, wie wir das etwa bei Hobbes finden. Bei Machiavelli sind es allgemeine Schlußfolgerungen, unmittelbar aus Beobachtungen und Erfahrungen gezogen. Sie beruhen darauf, daß Machiavelli - wie Gennaro Sasso (S. 171 f.) schreibt - Beobachtungen, die er bei der Untersuchung von bestimmten und spezifischen Situationen gemacht habe, absolute Geltung zuschreibe. Die Regeln hätten sich nicht durch einfache Ableitung aus einer unwandelbaren Wirklichkeit ergeben, sondern im Gegenteil dank langwieriger Deutung einer fast unentwirrbaren Wirklichkeit. Regeln aufstellen - wie auch zur Nachahmung empfohlene Vorbilder entwickeln - gehört zu den spezifischen Leistungen der praktischen Vernunft, die die in den Dingen und Verhältnissen selbst enthaltene Ratio aus diesen gewinnt und wiederum auf sie anwendet. Als sei es zur Erläuterung der Methode Machiavellis gedacht, liest sich, was Rüdiger Bubner über Regel und Vorbild schreibt.8 Keine andere Instanz als die reale Praxis verantworte die 8
Rüdiger Bubner, Handlung, Sprache und Vernunft, Grundbegriffe praktischer Philosophie, 1982, S. 195, 267 f., 265. Im Unterschied zu Machiavelli, der die Regel als Handlungsanweisung versteht, hebt Bubner darauf ab, daß die Regel geregelte Lebensweise sei. Beide Auffassungen treffen sich aber in dem entscheidenden Punkt, daß sie die Ratio, die sie auf die Praxis anwenden, auch aus der Praxis ge-
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Allgemeinheit der Handlungsregel. In dieser bildet sich die immanente Rationalität des Handelns als konsequente Verfolgung von Zwecken unter wechselnden Bedingungen aus: „Wenn man wissen will, woran sich die tätige Anwendung von Vernunft auf das Handeln bemißt, so sind keine anderen Kriterien zu sehen als diejenigen, die in der tatsächlich geübten Anwendung greifbar v o r l i e g e n . . . " Der Verweis auf konkrete Vorbilder entspreche dem anerkannten Sachverhalt, daß die gesuchten Maßstäbe in der Praxis selbst stecken. Bubner erinnert an die aristotelische Phronesis, die anstatt (nach rationalistischer Art) einen heterogenen Vorbegriff der Vernunft auf Praxis zu beziehen, vom Wirken der Vernunft in der Praxis ausgeht. - Machiavelli sieht ausdrücklich davon ab, Regeln aufzustellen, wenn er Fälle behandelt, die entweder nicht ausreichend allgemeine Züge aufweisen oder bei denen religiöse Faktoren im Spiel sind. So schreibt er z. B. in Kap. IX: „Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Volk zu gewinnen, die von den Umständen abhängen und sich daher nicht in bestimmte Regeln fassen lassen, weshalb ich sie hier übergehe" ; und im XI. Kapitel heißt es, da die geistlichen Fürsten höheren Gesetzen unterworfen seien, die der menschliche Verstand nicht fassen kann, wolle er nicht weiter von ihnen reden. Auch um große Vorbilder der Nachahmung zu empfehlen, muß man keine philosophische Theorie von einer sich gleichbleibenden Menschennatur aufbieten, sondern es genügt die schlichte Erfahrung, daß sich menschliches Verhalten und dessen Auswirkungen in vergleichbarer Weise wiederholen. 9 Während aber das Befolgen von Regeln eine rein rationale Angelegenheit ist und sich ausschließlich am Kriterium der Zweckmäßigkeit orientiert, enthält das Nachahmen bei Machiavelli auch ein Moment moralischer Anstrengung auf ein ideelles Ziel hin. Wer sich nach Vorbildern richte, schreibt er in Kap. VI, müsse es den klugen Bogenschützen gleichtun, die, um das Ziel zu treffen, ihren Zielpunkt beträchtlich höher nehmen; so muß er sich also die Allerbesten zum Vorbild wählen, damit wenigstens ein Schimmer von deren Glanz auf ihn selbst falle. Unter dem Kriterium bloßer Zweckmäßigkeit ist das ein fragwürdiger Rat, weil er ein hohes Risiko einschließt; es wäre richtiger, sich nur so viel vorzunehmen, wie man bei nüchterner Einschätzung der eigenen Kräfte und Möglichkeiten aller Voraussicht nach erreicht. Das Ziel höher zu setzen aber ist ein Ansporn, der mehr bringen kann als die Erfüllung des gesetzten Zwecks, nämlich Glanz und Ruhm. Allerdings gibt es für Machiavelli auch die Nachahmung verwerflichen Handelns. So schreibt er am Anfang des VIII. Kapitels, auf die Möglichkeiten, durch verbrecherische und Fortsetzung Fußnote von Seite 125 Winnen. Ähnlich Ed. W. Mayer, Machiavellis Geschichtsauffassung und sein Begriff virtù, 1912, S. 7. 9 Disc. I, Einleitung.
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ruchlose Mittel zur Herrschaft zu kommen, wolle er nicht eingehen, da man sich nötigenfalls nur an Vorbilder zu halten brauche. Wer eine ihm empfohlene Regel anwendet, soll erwarten dürfen, daß er auf diese Weise erreicht, was er bezweckt. Um eine Regel aufzustellen, muß deshalb ein Zusammenhang gefunden werden, wonach unter bestimmten Umständen bestimmte Handlungen zu bestimmten Folgen führen. Gerade das, was getan werden muß, um diese Voraussetzung zu erfüllen, bringt jedoch den Gebrauch von Verhaltensregeln in einen gewissen Selbstwiderspruch. Denn die erwünschte Regelhaftigkeit läßt sich nur erreichen, wenn man die im Einzelfall mehr oder weniger verwickelten Umstände und die entsprechend erforderliche Differenzierung des Handelns auf stark vereinfachte Modelle reduziert. Dadurch aber bleiben so viele Faktoren und Nuancen der Realität unberücksichtigt, daß das Bild der Lage, in der gehandelt werden muß, mehr oder weniger unvollständig oder gar verfälscht wird, mithin die Verläßlichkeit der Regelanwendung sich erheblich verringert. Soll sich trotzdem Erfolg einstellen, muß man die Handlungsanweisung durch eine gründliche Lagebeurteilung und zusätzliche Kalkulation des eigenen Tuns ergänzen. Das ist der Grund, warum es sich bei Machiavellis Urteilen und Ratschlägen, sofern er sie auf Regelhaftigkeit stützt, oft nicht entscheiden läßt, ob man ihm zustimmen soll oder nicht. Das Ergebnis pflegt zu sein, daß ihm unter gewissen Voraussetzungen recht zu geben wäre und unter anderen nicht. - Eine charakteristische Folge von Machiavellis Bestreben, sichere Regeln zu bieten, ist ferner, daß bei ihm häufig das für rationale Entscheidungen notwendige Abwägen des Für und Wider fehlt, wie es etwa für Thukydides bezeichnend ist. Statt dessen spannt er seine Urteile und Ratschläge mit Vorliebe in eine Entweder-oder-Dichotomie ein, die in ihrer stereotypen Wiederkehr offenkundig nicht aus den Gegebenheiten der jeweils zur Rede stehenden Fälle gewonnen, sondern diesen aufnötigt wurde. 10 Auch das Nachahmen von Vorbildern ist durch einen Widerspruch belastet. Machiavelli macht darauf selbst aufmerksam" mit der Feststellung, man erfahre von vergangenen Zeiten nicht die ganze Wahrheit, weil die Überlieferung das, was Schande mache, verheimliche, das aber, was 10 Vgl. A. Moulakis, Machiavelli, in: Walter Rotholz (Hrsg.), Das politische Denken der Florentiner Humanisten, 1976, S. 149; Machiavelli habe einen disjunktiven, auf Entweder-oder-Konstruktionen beruhenden Stil. - Besondes auffällig in Principe, Kap. I und Discorsil, 1. - Zum Ganzen vgl. auch Sasso ( F N 2 ) , S. 171, wo es heißt: „ D i e Situationen sind zu einer Gleichförmigkeit erstarrt, ..." Vielleicht hat das Denken in der Entweder-Oder-Dichotomie mit dazu beigetragen, daß Machiavelli das rationale Kalkül der Macht reduziert auf das Bestreben, sich ein Potential zu verschaffen, über das man von anderen Personen absolut unabhängig verfügen kann. 11 Discorsi II, Einleitung.
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Ruhm bringe, glänzend und ausführlich darstelle. Doch will er diese Einsicht für die Antike, aus der er seine Vorbilder nimmt, nicht gelten lassen. Er schreibt, die damals herrschende Tugend und das heute herrschende Laster seien so sonnenklar, daß er sich nicht behutsam ausdrücke, sondern dreist und offen. Und so stellt er vieles aus Livius' Erster Dekade als nachahmenswerte Tatsache hin, was in Wahrheit Mythos ist. Anders allerdings als bei der Empfehlung von Regeln sind hier die Folgen insoweit nicht irritierend, als ideales Verhalten gepriesen wird; denn das kann als Vorbild auch dann dienen, wenn die angeführten Beispiele nicht durch Realität gedeckt sind. D a ß Machiavellis Terminologie viel zu wenig genau und streng ist, um seinem Anspruch, seinen Stoff „mit großer Sorgfalt durchdacht und nachgeprüft" zu haben, gerecht zu werden, wird in der Literatur häufig festgestellt. 12 Es soll deshalb genügen, diesen Mangel an zwei Beispielen zu veranschaulichen. So schreibt er im Kapitel VIII bei der Beurteilung des Agathokles erst, daß man dessen Verhalten nicht als virtù bezeichnen könne, billigt ihm aber im übernächsten Satz virtù zu. Das eine Mal spricht er Agathokles virtù ab, weil dieser so scheußliche Verbrechen gegangen habe; das andere Mal lobt er die virtù, mit der Agathokles Gefahren auf sich genommen habe und ihnen entkommen sei. Bedenklicher ist, daß Machiavelli zuweilen durch doppeldeutigen Wortgebrauch Probleme ganz verschiedener Art miteinander verquickt. Typisch dafür ist (ebenfalls in Kap. VIII) der berühmte Satz: „Gut angewandt kann man diejenigen (Grausamkeiten) nennen - wenn anders man das Schlechte gut nennen darf - , die ein Fürst begeht aus N o t w e n d i g k e i t . . . " Hier gebraucht er im Hauptsatz das Gegensatzpaar „gut - schlecht" in technischem Sinne, gleichbedeutend etwa mit „geschickt - ungeschickt", im Einschub „se del male è licito dire bene" dagegen wird „ b e n e " im Sinne eines moralischen Urteils verwandt, während das „male" zwischen technischer und moralischer Bedeutung schillert. Machiavelli hat auch die rationale Aufbereitung seines Stoffes bei weitem nicht durchgehalten, sondern er fällt oft aus dem sytematischen Argumentieren ins einfache Niederschreiben seiner Erfahrungen zurück. Das hat zur Folge, daß man manches, was bei sorgfältiger Interpretation seiner Argumente diesen zu entnehmen war, durch Äußerungen an anderen Stellen seines Werkes widerlegt findet. Man darf dies aber nicht als Anzeichen dafür nehmen, daß es, unter der Oberfläche des Textes verborgen, eine Theorie gäbe, die man nur rekonstruieren müsse, um das, was vordergründig nicht zusammenstimmt, doch als sinnvolles Ganzes zu erkennen. Man 12 Besonders drastisch: Guiseppe Prezzolitii, Machiavelli, London 1967, S. 18: „Machiavelli himself is partly to blame for the misinterpretation of his thought: he never bothered to express it in a systematic form or in consistent terms."
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muß sich vielmehr damit zufrieden geben, daß die beiden Weisen der Darbietung ein Gemenge, aber keine Verbindung bilden. In der Sache wird man Machiavelli vermutlich eher gerecht, wenn man seine systematisierenden, o f t aufgesetzt wirkenden Ausführungen nach M a ß g a b e seiner einfachen, aber gehaltvollen Erfahrungssätze auslegt, als wenn man umgekehrt verfährt. Soweit er z. B. im systematisch-argumentativen Zusammenhang moralische Urteile fällt, geschieht es nach der starren simplen Dichotomie von „ g u t " und „ b ö s e " . W o er dagegen unmittelbar aus seiner Erfahrung schreibt, stellt er z. B. fest, daß alles Böse auch seine gute, alles Gute auch seine böse Seite habe, daß man sich meist für das kleinere von zwei Übeln entscheiden müsse, und daß die Menschen ihre Bosheit nie zum Äußersten zu treiben pflegen.
2. In den Kapiteln X V bis X I X 1 3 behandelt Machiavelli die Frage, wie ein Fürst sich gegenüber seinen Untertanen und Freunden verhalten müsse. Es ist dies gewissermaßen der ordnungspolitische Abschnitt des Werkes im Gegensatz zu den vorausgegangenen Erörterungen über Erwerb und Sicherung von Herrschaft. Wenn Verhaltensregeln brauchbar sein sollen, müssen sie realistisch sein. Machiavelli bemerkt dazu am A n f a n g des Kapitels X V : da er etwas Nützliches für Kenner schreiben wolle, scheine es ihm richtiger, sich an die wirkliche Wahrheit der Dinge zu halten statt an Phantasiegebilde. Was versteht er unter dieser „verità effetuale della c o s a " ? Zunächst setzt er sie den vielen staatstheoretischen Abhandlungen entgegen, deren Verfasser sich Republiken und Fürstentümer ausgedacht hätten, v o n deren Existenz man nie etwas gesehen und vernommen habe. Schon mit seinen nächsten Sätzen aber gleitet er hinüber zu einer anderen Bestimmung der Wirklichkeit (und zwar zu der für ihn maßgebenden wie der Fortgang seiner Schrift zeigt). Wirklichkeit ist jetzt die Weise, wie man wirklich lebt, im Unterschied zu dem, wie man leben sollte 14 . Dieser Unterschied sei so groß, daß ein Mensch, der mit allem, was er tut, sich zum Guten bekennen wollte (che voglia fare in tutte le parte professione di buono), zugrundegehen müßte unter so vielen, die nicht gut sind. Während im ersten Fall das Nicht-Wirkliche - nämlich die ausgedachten Staatstheorien - für die Wirklichkeit des Lebens unerheblich war, ist im 13 Der Z u s a m m e n h a n g dieser f ü n f Kapitel ergibt sich aus Machiavellis eigenen Worten. N a c h d e m er in Kapitel X V eine Reihe von Eigenschaftspaaren benannt hat, schreibt er am A n f a n g v o n Kapitel X V I : „ I c h beginne nun mit den ersten genannten E i g e n s c h a f t e n " ; und am A n f a n g von Kapitel X V I I : „ I c h fahre fort mit den übrigen oben erwähnten Eigenschaften." 14 „ . . . perché egli à tanto discosto d a c o m e si vive a c o m e si doverebbe vivere . . . "
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zweiten Fall das Nicht-Wirkliche - nämlich die Weise, wie man leben sollte - das, woran sich die Wirklichkeit messen lassen muß. Doch gibt Machiavelli ihr von vornherein keine Chance, dem Maß des Gesollten zu genügen, weil, wer dies anstrebt, dem Untergang geweiht sei. So stehen verità effetuale und Moralität in einem fundamentalen Gegensatz zueinander. Die Wirklichkeit des Lebens ist per definitionem moralisch unzulänglich. 15 Es entspricht dieser seiner Grundannahme, daß Machiavelli „das Gute", wo immer er ausdrücklich davon spricht, einzig und allein in abstrakten Gebotsnormen verkörpert sieht, daß er folglich seine ethischen Wertungen praktischer Handlungen ausschließlich danach vornimmt, ob diese Normen befolgt oder ob sie verletzt werden. Dagegen ist ihm - jedenfalls sofern er argumentiert - die Vorstellung fremd, daß man zur ethischen Bewertung einer Handlung diese als Ganze würdigen muß, daß also bei der Anwendung der Gebotsnormen die Umstände des besonderen Falles zu beachten sind. Sämtliche Faktoren, aus denen die Handlung resultiert, müssen in Rechnung gestellt und gegeneinander abgewogen werden. Dann kann es sich in einem solchen Gesamtzusammenhang unter Umständen als ethisch gefordert erweisen, gegen eine bestimmte abstrakte Gebotsnorm zu verstoßen, weil sie zu befolgen in Anbetracht der Lage der Dinge ethisch falsch wäre. Aber für Machiavelli steht, was im wirklichen Leben gut oder schlecht bzw. böse ist, in Gestalt der abstrakten Gebotsnormen ein für allemal fest. Wie er sich beim Aufstellen und Anwenden seiner Regeln auf stark vereinfachte Modelle von Situationen und Handlungsweisen beschränkt, so bewertet er die komplexe Wirklichkeit nach dem simplen Schema einer Gut-böse-Dichotomie. Infolgedessen tut nach seinem Urteil jemand unter allen Umständen etwas Schlechtes, wenn er eine Gebotsnorm verletzt, mag dies auch bei einer Würdigung aller die betreffende Handlung bestimmenden Faktoren aus wohlerwogenen ethischen Gründen geschehen. Am Schluß des ersten Absatzes des Kapitels XV schreibt Machiavelli, weil immer nur das Gute zu tun unter so vielen Menschen, die nicht gut sind, zum Untergang führen würde, müsse ein Fürst, der sich behaupten will, auch fähig sein, nicht gut zu handeln bzw. das Gute zu tun oder auch nicht zu tun, je nachdem, wie es die Umstände erfordern (secondo la necessità). Im entsprechenden Sinn heißt es später im Kapitel XVIII, der Fürst müsse einen Geist besitzen, der sich zu drehen versteht, wie es der 15 Huovinen schreibt ([FN3], S. 108) mit Recht, die Trennung, die Machiavelli vornehme zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, entspreche überhaupt nicht den Gegebenheiten personaler Existenz und der sozialen Realität, sondern werde daran durch ein wissenschaftlich-methodisches - richtiger wäre wohl: durch ein moralisierend-systematisierendes - Vorurteil herangetragen.
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Wind des Schicksals und der Wechsel der Dinge von ihm fordern. Er dürfe, soweit wie möglich, vom Guten nicht abweichen, aber wenn es nötig werde, müsse er auch verstehen, das Schlechte zu tun. Hier zeigt sich, daß Machiavelli keineswegs gleichgültig gegenüber moralischen Kriterien ist. Er meint nicht, daß sich der Fürst ohne weiteres über die Gebote der Moral hinwegsetzen könne, sondern er drückt sich eher so aus, als müsse ein Fürst sich notfalls überwinden, das Gute zu unterlassen und etwas Schlechtes zu tun. Wichtiger aber ist an den beiden zitierten Sätzen, daß Machiavelli die moralische Beurteilung des Handelns und die Notwendigkeit, den Umständen Rechnung zu tragen, völlig voneinander getrennt hält. So charakteristisch für ihn die Überzeugung ist, daß man sich, um zweckmäßig und erfolgreich zu handeln, secondo la necessità verhalten müsse, so fremd ist ihm der Gedanke, dies könne ebenso erforderlich sein, um zu einer ethisch richtigen Entscheidung zu gelangen. Er kennt für das rationale Kalkül des Handelns nur das Kriterium der Zweckmäßigkeit und für das moralische Urteil nur das Messen an abstrakten Gebotsnormen. Diese strikte Trennung hat zur Folge, daß bei ihm die moralischen Urteile rigoristisch ausfallen und das rationale Kalkül immer moralisch fragwürdig erscheint. Letzteres gilt zunächst für diejenigen Fälle, in denen man bei einer vernünftigen Kalkulation der Umstände gegen eine Gebotsnorm verstoßen muß, wenn die Handlung als ganze ethisch richtig ausfallen soll. Aber Machiavelli bewertet in solchen Fällen erst wegen des Verstoßes die Handlung insgesamt negativ, und dann erscheint das verbleibende Kalkül nur noch als zynischer Opportunismus. Ferner gilt generell, daß ein ausschließlich an Zweckmäßigkeit orieniertes Kalkül des Handelns ethisch fragwürdig erscheinen muß, weil es ein solches aus allen ethischen Bezügen gänzlich herausgelöstes Handeln in Wirklichkeit nicht gibt.14 In diesem Punkt ist Machiavellis strikte Isolierung der Zweckmäßigkeit von der Moralität sogar ausgesprochen wirklichkeitsfremd (obgleich er sie, gerade um ganz realistisch zu sein, vornimmt). Denn klug und effizient handelt nur, wer die der sozialen bzw. politischen Wirklichkeit innewohnenden ethischen Faktoren mitberücksichtigt und den daraus für ihn sich ergebenden ethischen Anforderungen genügt. Man denke etwa daran, daß zuverlässig zu sein notwendige Voraussetzung für erfolgreiches Handeln auf weite Sicht ist. Jeder erfahrene Diplomat kann bestätigen, daß Lügen letztendlich mehr schadet, als es einem im Augenblick vielleicht nützt. Auch wenn man den Erfolg zum obersten Kriterium macht, mag es zwar aus logischen Gründen nichts geben, was verboten wäre, doch gibt es praktisch vieles, was sich von selbst verbietet. 16 Diesen Irrtum teilen allerdings nicht wenige Kritiker Machiavellis, wenn sie ihm vorwerfen, eine reine, von moralischen Erwägungen völlig freie Technik der Macht zu lehren, und dabei offenkundig glauben, so etwas könne es geben.
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Wie es in Machiavellis Schriften häufig geschieht, findet sich auch in dem hier erörterten Punkt eine Reihe von Stellen, die mit dem, was die Interpretation seiner systematischen Ausführungen ergibt, nicht in Einklang stehen. Ein Beispiel dafür sind die Gedanken, die er am Anfang von Kapitel XVII über Milde und Grausamkeit entwickelt. Hier erscheint die Verletzung einer Gebotsnorm als etwas Positives, weil gerade dadurch die Gesamthandlung, in deren Zusammenhang der Verstoß erfolgt, ethische Qualität gewinnt: Cesare Borgia, so schreibt Machiavelli, sei, indem er der Romagna mit grausamen Mitteln wieder Frieden und öffentliche Sicherheit verschafft habe, recht betrachtet, viel milder gewesen als die Florentiner, die, um dem Ruf der Grausamkeit zu entgehen, es zur Zerstörung von Pistoja hätten kommen lassen. „Denn einige wenige abschreckende Maßnahmen", so fährt Machiavelli fort, „sind viel milder als übertriebenes Mitleid, das Unordnung so weit einreißen läßt, daß es zu Mord und Raub kommt. Denn dadurch wird die Allgemeinheit betroffen, durch ein drakonisches Urteil des Fürsten dagegen nur ein einzelner." Man braucht Machiavellis Meinung nicht zu folgen, daß abschreckende Strafen das angemessene Mittel seien, um Ruhe und Ordnung herzustellen; aber man wird ihm zustimmen, daß es unter Umständen ethisch gefordert sein kann, um des Wohles aller willen, gegenüber einem einzelnen eine Gebotsnorm zu verletzten. Ein Beispiel aus unserer Zeit ist der Fall des von Terroristen mit dem Tode bedrohten Hanns Martin Schleyer. Hier mußte der Staat gegen seine Schutzpflicht gegenüber diesem einzelnen verstoßen, um nicht, wie es das Bundesverfassungsgericht formulierte, den effektiven Schutz aller seine Bürger unmöglich zu machen. 17 - Fragt man, wie es kommt, daß Machiavelli in dem von ihm als Beispiel herangezogenen Fall sein moralisches Urteil nicht nach der abstrakten Gebotsnorm fällt, sondern die Grausamkeit unter Würdigung der Umstände der Gesamthandlung positiv beurteilt, so mag sich das vielleicht damit erklären, daß an dieser Stelle die Gut-böse-Dichotomie gar keine Rolle spielt, sondern vom Verhältnis zweier Eigenschaften, der Milde und der Grausamkeit, zueinander die Rede ist. Da liegt es nahe, daß Milde nicht partout gut und Strenge 18 " BVerfGE46, 160. Arthur L. Burd, in: ders. (Hrsg.), II Principe by Niccolò Machiavelli, Oxford 1891, bemerkt in seinem Kommentar (S.235f.) zum Begriff „crudeltà" (in diesem Falle bezogen auf Machiavellis Betrachtungen in Kap. VIII über gut oder schlecht angewandte Grausamkeit): „If we Substitute for ,cruelty' some such word as ,severity' we shall be nearer the modern equivalent of Machiavelli's thought." Das ist nicht nur deshalb richtig, weil manches, was uns Heutige schockiert, den Zeitgenossen Machiavellis selbstverständlich war (neben einigen anderen Autoren hebt das besonders Macaulay in seinem Machiavelli-Essay, Politik und Moral, 1947, S.249 und 264 ff., hervor). Es kommt hinzu, daß es bei Machiavellis Äußerungen über die Grausamkeit sowohl in Kap. VIII als auch hier im Kap.XVII nicht um deren inhu18
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nicht partout schlecht sein muß, weil Milde auch eine Folge von Feigheit und Strenge eine Folge von Courage sein kann. Da Machiavelli, von Ausnahmen, wie der eben besprochenen, abgesehen, nicht beachtet, daß der Verstoß gegen eine abstrakte Gebotsnorm aus dem Gesamtzusammenhang einer Handlung ethisch gefordert sein kann, muß er in den Fällen, in denen er selbst solche Verstöße für erforderlich hält, dafür eine andere Rechtfertigung suchen. Sie lautet, wie wir schon gesehen haben: Da die meisten Menschen schlecht sind, kann man nicht immer das Gute tun, wenn anders man nicht seinen eigenen Untergang herbeiführen will. Es braucht nicht näher begründet zu werden, daß dieses Argument ethisch nicht haltbar ist; gleich gar nicht dann, wenn man von anderen noch gar nichts Böses erfahren hat, sondern dies lediglich antizipiert, wie Machiavelli es tut, wenn er in Kapitel XVIII schreibt: „ d a sie [die Menschen] aber schlecht sind und dir die Treue nicht halten würden, brauchst Du sie ihnen auch nicht zu halten." 19 Vom ethischen Ungenügen abgesehen, ist Machiavellis Begründung aber auch unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit unzureichend. Denn in vielen Fällen würde man sich nur noch zusätzlich schaden, wenn man auf Verstöße gegen Gebotsnormen mit ebensolchen Verstößen reagierte - und sei es nur, weil man sich auf diese Weise auch selbst ins Unrecht setzte. Vielmehr kann der richtige Rat nur lauten, daß man denen, die nicht gut sind, auf kluge Weise entgegentreten muß, und die Klugheit wird häufig darin bestehen, auf Retorsion zu verzichten, sich vielleicht sogar besonders korrekt, ja entgegenkommend zu verhalten. D a ß Machiavellis Rat zu schematisch ist, zeigt ein Beispiel, das er selbst in Kapitel XIX bringt. Er schreibt dort: wenn die Partei, auf die ein Fürst sich stützen muß, um sich zu behaupten, Fortsetzung Fußnote von Seite 132 manen Kern geht, sondern darum, daß Grausamkeit, weil sie von allen verabscheut wird, auch von dem, der sie (nicht emotional, sondern kalkuliert) begeht bzw. anordnet, lieber vermieden würde. Entscheidend ist also nicht die an sich böse, sondern die unpopuläre Seite der Grausamkeit. Man könnte daher an beiden Stellen für sie Worte wie „Unpopuläres" oder „Unangenehmes" einsetzen, ohne den sachlichen Sinn des Textes zu verfehlen. Auf einem anderen Blatt steht allerdings, daß Machiavelli wohl auch hier seiner Tendenz folgte, das, was er zu sagen hat, auf möglichst schockierende Weise zu sagen. Dabei wird der Schock in Kap. XVII gemildert durch den anschließenden Satz: er (seil, der Fürst) muß maßvoll verfahren, mit Klugheit und Menschlichkeit, damit ihn zu großes Vertrauen nicht unvorsichtig und zu großes Mißtrauen nicht unerträglich macht." 19 Der Gedanke,daß man nicht das Gute tun kann unter Menschen, die schlecht sind, ist möglicherweise verwandt mit Machiavellis Vorstellung, daß bestimmte Tugenden nur dann ihrem Besitzer Erfolg bringen, wenn sie in der Eigenart der zeitverhältnisse Entsprechung und Gelegenheit finden, sich zu entfalten und zu bewähren (so z. B. in den Kapiteln IV und V). In beiden Fällen hat der subjektive Aufwand nur Sinn, wenn die objektiven Gegebenheiten mit ihm korrespondieren.
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verderbt ist, muß er sich ihr anpassen, um sie zufriedenzustellen, „und d a n n bringt dir das Gutes-tun nur Schaden". Machiavelli führt als Beispiel das Schicksal des römischen Kaisers Pertinax an, der seine Soldaten, auf die er angewiesen war, zu einem ehrbaren Leben zwingen wollte und deshalb von ihnen ermordet wurde. Sieht man einmal davon ab, wie das Verhalten des historischen Pertinax wirklich zu beurteilen ist, so besteht kluge Politik eben darin, Mißstände auf eine Weise zu überwinden, die nicht zu haßerfüllten Reaktionen derer führt, die sie zu verantworten haben. Dazu gehört u. U. auch, den „nicht-Guten" teil- und zeitweise Zugeständnisse zu machen, was aber noch lange nicht heißt, sich ihnen ohne Einschränkung anzupassen. 20 Um die hier an Machiavelli geübte Kritik zu begründen, bedarf es wenigstens einer knappen Erläuterung, warum - erstens - abstrakte Gebotsnormen häufig nicht genügen, um Handlungen ethisch zu begründen bzw. zu beurteilen; und weshalb - zweitens - das rationale Kalkül der Umstände und des Handelns nicht nur der Zweckmäßigkeit und Effizienz wegen erforderlich ist, sondern auch, um das ethisch Notwendige und Richtige zu tun. Gebotsnormen (also Rechtsgesetze und moralische Gebote) sind Handlungs- und Verhaltensanweisungen, die es ermöglichen, in bestimmten Gruppen von Fällen ohne lange zu überlegen das zu tun, was nach den dafür in Frage kommenden ethischen Prinzipien gefordert ist.21 Das bedeutet aber auch, daß die Leistungsfähigkeit einer Gebotsnorm begrenzt ist. Sie wird unbrauchbar, wenn ein Fall außerhalb der Fallgruppe liegt, für die sie gilt. Und je näher ein Anwendungsfall bei der Grenze der dafür einschlägigen Gebotsnorm liegt (bzw. wenn es sich um einen „Grenzfall" handelt), desto unsicherer wird die Orientierung, die sie bietet ; ja sie kann zuweilen sogar irreführen. Man muß dann dazu übergehen, sich an den ethischen Prinzipien unmittelbar zu orientieren. „Abstrakt" sind Gebotsnormen insofern, als jede von ihnen für ihre Klasse von Fällen unbedingte Verbindlichkeit beansprucht, ohne von sich aus Anhaltspunkte zu bieten, wann und wie es ethisch geboten ist, sie zu modifizieren. Insbesondere läßt sie von sich aus nicht erkennen, daß sie in jeder komplexeren Situa20
Wenn die Macht des „Bösen" so groß ist, daß der Inhaber legitimer Gewalt es nicht einfach unterdrücken kann, so bleibt nur die Möglichkeit, ihm nach dem Kalkül der Machtauseinandersetzung unter Gleichen zu begegnen. Das erfordert u. U., Böses in Kauf zu nehmen, wenn dadurch aufs Ganze gesehen ein ethischer Gewinn erzielt werden kann. Das ist jedoch etwas ganz anderes, als sich dem Bösen „anzupassen". 21 Zu der Unterscheidung von Normen und Prinzipien vgl. meinen Beitrag, Probleme der Juridifizierung des Grundgesetzes, in: Detlef Merten/Rudolf Morsey (Hrsg.), 30 Jahre Grundgesetz (Bd. 78 der Schriftenreihe der Hochschule Speyer), 1979, S. 19 ff.
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tion, die ein entsprechend differenziertes Handeln erfordert, nur ein Faktor der Ermittlung des ethisch Gebotenen unter anderen sein kann. Ferner m u ß bedacht werden, d a ß die ethischen Prinzipien zwar uneingeschränkt allgemeingültig sind, d a ß sich aus ihnen jedoch für verschiedene Anwendungsfälle unterschiedliche Handlungskonsequenzen ergeben. Dabei sind vier H a u p t g r u p p e n von Fällen zu unterscheiden: (1) Was jederm a n n jedem einzelnen seiner Mitmenschen schuldet. (2) Was jedermann von sich selbst zu fordern hat. Hier wäre generell anzumerken, d a ß jeder sich ethisch mehr zumuten muß, als er anderen zumuten darf. (3) Was jedermann tun m u ß u n d darf, wenn er für andere mitentscheidet bzw. wenn andere von den Folgen seiner Entscheidung mitbetroffen sind. So gibt es f ü r den, der im Auftrag anderer handelt, eine moralische Pflicht, Erfolg zu haben. 22 Auch kann es nicht als Verdienst gelten, d a ß j e m a n d sich aus ethischen G r ü n d e n exponiert, wenn andere das ausbaden müssen. (4) Was j e d e r m a n n allen anderen „als allen", d. h., was er der Tatsache der Kollektivität menschlicher Existenz schuldet. Es ist auch diese Schuldigkeit letztlich in dem begründet, worauf jeder als einzelner Anspruch hat, weil er ein Mensch ist. Doch handelt es sich um diejenige Seite dieses Anspruchs, die nur in der Dimension der Kollektivität erfüllbar bzw. deren Erfüllung den Bedingungen der Kollektivität unterworfen ist. Konkret handelt es sich dabei insbesondere um das, was man dem politischen Verband schuldet, sofern dieser einen sittlichen Sinn erfüllt, auf den j e d e r m a n n existentiell angewiesen ist. - Man darf deshalb nicht nur, sondern m u ß von dem, was man - im Sinne der Fallgruppe 1 - jedem einzelnen seiner Mitmenschen schuldet, das abziehen, was dieser ebenso wie man selbst allen anderen „als allen" schuldet. Die spezifischen Leistungen des politischen Verbandes (wie auch der Politik überhaupt) sind gegenüber den moralischen Pflichten und Leistungen der einzelnen prinzipiell subsidiär. Sie erfüllen nämlich erstens diejenigen Erfordernisse, die der einzelne gar nicht erfüllen kann, und sie kompensieren zweitens das, was die einzelnen unterlassen, obgleich sie es tun könnten u n d sollten. Beispiel f ü r den ersten Fall ist die Tatsache, d a ß der politische Verband es möglich macht, notwendige Konflikte zwischen einzelnen seiner Angehörigen nicht um des lieben Friedens willen zu unterdrücken, sondern sie in einer des Menschen würdigen Weise - insbeson22
Jeanne Hersch, Die Ideologien und die Wirklichkeit, 1957, schreibt (S. 165): „Denn wenn das Individuum sich für das allgemeine Wohl opfern kann ..., so ist der Staatsmann für andere verantwortlich; er hat die Aufgabe übernommen, über eine Menge anderer Menschenwesen zu wachen, und wenn er sein eigenes Opfer auf sich nähme, würde er sie opfern. Aber er muß ihnen helfen und im Fall der Gefahr sie retten. Und da genügt die gute Absicht nicht, er muß sein Ziel erreichen. In gewissem Sinn hat er versprochen, erfolgreich zu sein. Er muß erfolgreich sein. Und so ist der Erfolg zur Verpflichtung geworden."
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dere ohne Gewaltanwendung - auszutragen. Ein Beispiel für den zweiten Fall ist die Gesetzgebung, soweit sie jedermann einen Grundbestand individuell-persönlicher Lebensgestaltung gewährleistet, den an sich alle Menschen einander unmittelbar zuerkennen sollten. Aus dieser Eigenart der Leistungen des politischen Verbandes ergibt sich die besondere Weise, auf die staatliche Tätigkeit an den ethischen Prinzipien orientiert wird: Weil es darum geht, ethische Leistungen zu erbringen, die die einzelnen aus eigener moralischer Kompetenz nicht erbringen können oder die sie schuldig bleiben, müssen sie auf andere Weise als durch moralisch motiviertes Handeln erbracht werden, nämlich im Wege rational kalkulierter objektiver Vorkehrungen, wie es z. B. die Errichtung von Institutionen oder gesellschaftlicher Machtausgleich mit politischen Mitteln sind. Man kann deshalb etwas vereinfachend sagen, daß die ethische Qualität politischen und staatlichen Handelns von dessen rationaler Qualität abhängt 23 . Das zu verstehen heißt auch begreifen, wieso in der Politik das rationale Kalkül keineswegs nur der Zweckmäßigkeit und Effizienz dient, sondern auch um der ethischen Qualität des Handelns willen erforderlich ist. Die Schwierigkeiten, die die Auseinandersetzung mit Machiavellis Werk bereitet, gehen zu einem erheblichen Teil darauf zurück, daß er Probleme aufwirft, die nur unter differenzierten Kriterien, wie eben skizziert, sinnvoll erörtert und angemessen beurteilt werden können, daß er selbst sich aber mit dem Maßstab abstrakter Gebotsnormen begnügt. Ja, er setzt die begrenzte Reichweite dieser Normen mit der Grenze des ethisch überhaupt Erlaubten gleich. Hans Keppler bemerkt dazu treffend 2 4 , kein fertiges Gesetz sage dem in der Verantwortung stehenden Menschen, der gut handeln will, was er von der unendlichen Fülle der Für und Wider nun eigentlich zu tun habe, um die Pflichtgebote zu erfüllen. Machiavelli habe die Befolgung eines Kodex feststehender Moralgebote offenbar für gleichbedeutend gehalten mit der gewissenhaften Ausübung der Tugenden, auf die sie hinweisen, ohne jedoch deren Sinngehalt adäquat wiedergeben zu können. Er habe also sittliche Legalität mit Moralität verwechselt: „Daß auch Machiavelli den Unterschied zwischen der Befolgung der Tugendpflichten selbst und einem am Katechismus orientierten äußeren Verhal23 Das ist gemeint im Sinne der berühmten Ausführungen Kants Zum Ewigen Frieden, 2. Abschnitt, 1. Zusatz. Es komme auf eine gute Organisation des Staates an, die Kräfte der Menschen so gegeneinander zu richten, daß eine die andere in ihrer zerstörenden Wirkung aufhält oder diese aufhebt: „so daß der Erfolg für die Vernunft so ausfällt ... (daß) ... der Mensch, wenngleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird. Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar . . . " 24 Hans Keppler, Das Problem des Konflikts zwischen Politik und Moral bei Machiavelli, Diss. München 1927, S.62f.
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ten übersah, das mußte ihn dazu führen, einen - ihm grundsätzlich unerklärbaren und auch unerklärten - Widerspruch zwischen dem Gebot der politischen Pflicht und allgemeinen Tugendpflichten da zu erblicken, wo in Wirklichkeit der wahre Sinn der Sittlichkeit (,Handle recht!') mit dem Inhalte der in feste Form gegossenen und darum nur bedingt gültigen Moralvorschriften nicht mehr übereinstimmte." - In etwa die gleiche Richtung geht die Bemerkung von Ed. W. Mayer: „ E r [seil. Machiavelli] wendet die bestehenden unpolitischen Normen auf das politische Handeln, wie er es mit verschärftem Wirklichkeitssinn erkennt, an, und macht nur selten den Versuch, auch in den harten Notwendigkeiten des staatlichen Lebens den sittlichen Kern zu entdecken." 25 Weil Machiavelli ethisch komplexe Sachverhalte und Fragen allein nach dem Maßstab abstrakter Gebotsnormen bewertet bzw. beantwortet, erscheint bei ihm einerseits vieles, was ethisch zulässig oder gar geboten ist, als verwerflich; und es finden sich andererseits jenseits der Grenzen, die der einfachen Anwendung von Gebotsnormen gezogen sind, keine Anhaltspunkte, nach denen sich tatsächlich verwerfliches Handeln von nur scheinbar verwerflichem Handeln begründet unterscheiden ließe. Infolgedessen gerät die Interpretation, die etwas, was bei Machiavelli fälschlicherweise in verwerflichem Licht erscheint, in seiner Berechtigung erweist, leicht in den Verdacht, Verwerfliches rechtfertigen zu wollen. Das gilt z. B. für Machiavellis Auffassung, daß, wenn die Existenz des Staates auf dem Spiele stehe, alle Mittel recht seien, die seiner Erhaltung dienen. 26 Wie viele Autoren vor ihm, hat zuletzt Münkler diesen „Primat der Staatsraison" getadelt 27 : Für Machiavelli seien „die absolute Norm staatlicher Selbsterhaltung" und der „Gedanke einer allen ethischen Imperativen enthobenen Staatsraison" jeglicher Diskussion entzogen gewesen. Dabei erwähnt Münkler (jedoch ohne deshalb von seinem negativen Urteil Abstriche zu machen), was Machiavellis zunächst schockierende Äußerungen in einem anderen Licht erscheinen läßt: für Machiavelli verbürgte nämlich allein der Staat Ethik und Rechtlichkeit. 28 Wenn das aber zutrifft, geht es nicht um eine Kollision zwischen Moral und Politik, sondern zwischen dem, was die Norm im Einzelfall gebietet, und dem, was der Bestand sittlicher Verhältnisse überhaupt erfordert. Das ist bei Machiavelli allerdings 25
Ed. W. Mayer ( F N 8), S . U . - Karl Reinhardt, Thukydides und Machiavelli, in: ders., Von Werken und Formen, 1948, merkt (S.242) an: D i e Unbedenklichkeiten (sie!) Machiavellis blieben immer noch nicht weniger moralisch als der Teufel christlich. 26 So z.B. Disc.III, 41. 27 Münkler (FN 3), S. 282 ff. 28 Das ist übrigens ein aristotelischer Gedanke. In Aristoteles' „Politik" (S. 1253a) heißt es: „Wie nämlich der Mensch, wenn er vollendet ist, das beste aller Lebewesen ist, so ist er abgetrennt von Gesetz und Recht das schlimmste von allen."
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nicht klar genug formuliert. Verdeutlichen kann man sich den Sachverhalt, wenn man bedenkt, daß der sittliche Sinn des Staates darin besteht, den innergesellschaftlichen Frieden zu gewährleisten. Versteht man dementsprechend Staatsraison nicht als Raison schierer Selbsterhaltung und erfolgreicher Machtexpansion, sondern als „Friedensraison", dann bereitet es keine Schwierigkeit einzusehen, daß im Konfliktfall die Erhaltung des Friedens Vorrang hat zumindest vor der Durchsetzung von Wahrheitsüberzeugungen und partikularen Rechtsansprüchen. Die Behandlung der Frage des Kapitel XVIII: „Auf welche Weise Fürsten die Treue halten sollen" erweitert Machiavelli zu einer allgemeinen Erörterung, wie sie überhaupt mit guten und schlechten Eigenschaften umgehen. Dabei ist es ihm neben der „fide" vor allem um „pietà", „integrità", „umanità" und „religione" zu tun. 29 Der Fürst sollte diese guten Eigenschaften besitzen, doch sollte er sich dazu erzogen haben, sie, wenn es nötig wird, in ihr Gegenteil zu verkehren und das Schlechte zu tun verstehen. Soweit er die guten Eigenschaften nicht habe, sollte er vorgeben, sie zu besitzen. „Es ist für einen Fürsten also nicht nötig, alle oben genannten Eigenschaften zu haben, wohl aber daß er sie zu besitzen scheint. Ich wage sogar zu sagen, daß es schädlich ist, sie zu besitzen und stets zu beachten, aber nützlich, den Eindruck zu erwecken, daß man sie habe." Hier treten also an die Stelle der Gebotsnormen gute Eigenschaften bzw. Tugenden, die wegen ihres normativen Gehalts auf die gleiche Weise wie jene als Maßstab zur moralischen Bewertung von Handlungen dienen. Jedoch steht im vorliegenden Kapitel nicht dies im Mittelpunkt von Machiavellis Interesse. Sondern ihn beschäftigt erstens die Frage, wie sich die öffentliche Wertschätzung und der politische Nutzen guter Eigenschaften zueinander verhalten, und zweitens das Ärgernis der Heuchelei und Verstellung. Der Unterschied zwischen dem, wie man leben sollte, und dem, wie man wirklich lebt, kehrt hier wieder in der Variante, welche Eigenschaften man haben sollte, welche man wirklich hat und welche man heuchelt. Was Machiavelli dazu im Kapitel XVIII ausführt (nämlich das eben Referierte), hat er offenkundig in Kenntnis eines Abschnitts der „Politik" des Aristoteles geschrieben, wo dieser die Frage behandelt, wie ein Tyrann seiner Herrschaft längere Dauer verleihen kann. 30 Aristoteles nennt dafür 29
So Sassos Kommentar zu Kap. XVIII, in: ders. (Hrsg.), Niccolò Machiavelli: Il Principe e altri scritti, Introduzione e commento di Gennaro Sasso, Firenze 1963. 30 Aristoteles, Politik, S. 1314a—1315b. - Wir haben hier ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich Machiavelli „von der Speise der alten genährt" hat (wie er in seinem eingangs zitierten Brief an Vettori schreibt). Friedrich Mehmet (FN2), S. 152 ff., vergleicht eingehend die Kapitel XV und XVIII des Principe mit der angegebenen Aristoteles-Stelle. Er legt überzeugend dar, daß Machiavelli Aristoteles (in lateinischer
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zwei „ziemlich entgegengesetzte" Wege. Den einen könnte man mit einem modernen Begriff als Verschärfung des Terrors bezeichnen, von dem anderen sagt Aristoteles selbst: „Wie es nämlich eine Art des Untergangs des Königtums gibt, wenn die Herrschaft zu tyrannisch wird, so gibt es auch eine Art der Erhaltung der Tyrannis, indem sie königlicher wird." Die Ratschläge, die er d a f ü r erteilt, entsprechen den eben zitierten, die Machiavelli dem Fürsten gab bzw. hat Machiavelli sie von Aristoteles übernommen. Der Tyrann, heißt es in der „Politik", müsse, wenn er seiner Herrschaft längere Dauer verleihen will, handeln wie ein König oder wenigstens die Rolle eines Königs mit Geschick spielen. Z. B. müsse er den Anschein erwecken, als gehe es ihm um das Wohl des Gemeinwesens u n d als beachte er die Pflichten gegenüber den Göttern. Aristoteles, einer der großen Lehrer der abendländischen Ethik, rät also ohne jede negative Bewertung, was Machiavelli, der im Ruf steht, ein Verächter aller Moral und ein reiner Techniker der Macht zu sein, als Heuchelei und Verstellung verurteilt. U n d während ihn hauptsächlich das ganz persönlich-moralisch verwerfliche Verhalten vieler Fürsten beschäftigt, geht es Aristoteles in erster Linie um den objektiven politischen Effekt. Aristoteles schließt den Abschnitt über den zweiten Weg, einer Tyrannis längere Dauer zu verleihen, mit der Feststellung, d a ß die Tyrannenherrschaft auf diese Weise edler u n d begehrenswerter werde. Überdies bessere sich sogar der Tyrann selbst, denn seine zunächst n u r vorgespiegelte Tugendhaftigkeit werde halbwegs echt: „ . . . und der Tyrann selbst wird seinem Charakter nach zur Tugend geneigt oder doch halbwegs tugendhaft sein, nicht schlecht, sondern nur halbwegs schlecht." Obgleich Machiavelli den zitierten Abschnitt der „Politik" u n d Aristoteles' Fazit also bestimmt gekannt hat, hat ihn die objektiv-politische Seite der Sache offenbar so wenig interessiert, d a ß er sich nicht angeregt fühlte, auch selbst darauf einzugehen - dabei gehört die Frage, wie man einer Herrschaft Dauer verleiht, sonst zu seinen bevorzugten Themen! Hier im Kapitel XVIII tritt das ganz hinter seinem Bestreben zurück, die höchst subjektive moralische Unglaubwürdigkeit vieler Fürsten zu demonstrieren. Die objektiven Fragen erfolgreicher Politik kommen gewissermaßen nur als Anhängsel dieser Demonstration vor. 31 Ja, obgleich Machiavelli Fortsetzung Fußnote von Seite 138 Übersetzung) gelesen, aber auch mißverstanden und nach seinen eigenen Vorstellungen erheblich umgedeutet hat. Man sehe zwischen beiden Autoren eine „weltweite Verschiedenheit" (S. 155). 31 Mehmet schreibt dazu ([FN2], S. 158 f.), bei Aristoteles sei es um das Staatliche, Objektive gegangen und nicht um die Verstellungskünste eines bösen Menschen. Was von Aristoteles rein sachlich und politisch gemeint gewesen war, sei in der späteren Antityrannenliteratur (also nicht erst bei Machiavelli) moralistisch mißver-
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sich im Kapitel XV eben noch auf die verità effetuale eingeschworen hatte und sich oft genug als Anwalt der schieren Effizienz geriert, stuft er jetzt das Urteil nach dem Erfolg als pöbelhaft ein: „Ein Fürst braucht nur zu siegen und seine Herrschaft zu behaupten, so werden die Mittel dazu stets für ehrenvoll gelten und von jedem gelobt werden. Denn der Pöbel hält sich an den Schein und den Erfolg, und in der Welt gibt es nur Pöbel." Hier gilt, was tatsächlich erreicht wurde, als trügerischer Schein, weil es durch Heuchelei und mit unehrenhaften Mitteln erkauft ist. Diese Auffassung Machiavellis findet sich ausgerechnet in dem Kapitel seines „Principe", das allgemein als das „machiavellistische" angesehen wird! 32 In Wirklichkeit ist es ausgesprochen politikfern, um nicht zu sagen unpolitisch, weil Machiavelli sich auf das zwar moralisch, nicht aber politisch relevante Problem der Heuchelei und Verstellung konzentriert und politische Fragen nur aus diesem Blickwinkel anvisiert. Wenn man die moralische Qualität einer Politik bewertet, so kann man entweder - wie Machiavelli es sonst tut - den Maßstab lediglich der Gebotsnormen anlegen oder aber nach den oben skizzierten differenzierteren Kriterien urteilen. Das eine könnte man nach einer gängig gewordenen Unterscheidung Max Webers als ein gesinnungsethisches, das andere als ein verantwortungsethisches Urteil bezeichnen. Auch wenn man aber das gesinnungsethische Urteil für verkürzt und daher für unangemessen hält, so bezieht es sich doch - genau wie das verantwortungsethische Urteil auf objektive Gegebenheiten: auf Handlungen, auf eine Politik, die gemacht wird und die ihre Folgen hat. Das alles wird von Fall zu Fall als geboten oder verwerflich, als zulässig oder unzulässig qualifiziert. Hebt man dagegen - wie Machiavelli im vorliegenden Kapitel - darauf ab, wie ein Handelnder zu den Grundsätzen, nach denen er tatsächlich verfährt, innerlich steht, ob sie seiner Überzeugung entsprechen oder ob er Zustimmung zu ihnen nur heuchelt, ob er gewisse Eigenschaften wirklich hat oder nur vorgibt, sie zu haben, dann besteht zwischen solchen Urteilen und dem, was der Betreffende tut und was objektiv geschieht, kein Zusammenhang mehr. Denn an die Stelle der ethischen Beurteilung einer HandFortsetzung Fußnote von Seite 139 standen worden, so z. B. auch bei Savonarola, unter dessen Einfluß Machiavelli gestanden habe. Bezeichnend sei, daß Leonardo Bruni in seiner Übersetzung von Aristoteles' „Politik", die Machiavelli benutzt haben dürfte, das aristotelische Wort „scheinen" an der Stelle, wo es um das „den-König-Spielen" gehe, statt mit dem sonst verwendeten Wort ,videri' mit .simulare' wiedergegeben habe. 32 Burd (FN 18) schreibt in seinem Kommentar zu Kap. XVIII „The present chapter has given greater offence than any other portion of Machiavellis writings." Mehme/(FN2), S. 154, bezeichnet die Kapitel XV bis XIX als die „schlechthin machiavellistischen Kapitel", und er schreibt (S. 157): „Für das skandalöseste Kapitel des ,Principe' hat immer das 18. gegolten ...".
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lung ist ein Urteil getreten über das Verhältnis des Handelnden zu sich selbst, ein Urteil über seine ganz persönliche Glaubwürdigkeit. Für die Bewertung einer Politik kommt es aber auf das an, was für ein Gemeinwesen wirklich getan wird und wie die dafür angewandten Mittel ethisch zu bewerten sind. Dagegen ist es - auch unter ethischen Kriterien - gleichgültig, ob derjenige, der es tut, es von Herzen tut oder ob er sich dafür verstellen muß. Wenn sich eine Tyrannei mildert, bleibt das für die Bürger ein Gewinn, auch wenn der Tyrann lediglich mit Geschick die Rolle eines Königs spielt und nur den Anschein erweckt, als gehe es ihm um das Gemeinwohl. 33 Speziell zur Frage „Auf welche Weise Fürsten die Treue halten sollen" schreibt Machiavelli u.a.: „Ein kluger Fürst kann und darf demnach sein Wort nicht halten, wenn er dadurch sich selbst schaden würde oder wenn die Gründe weggefallen sind, die ihn veranlaßten, es zu geben. Wenn alle Menschen gut wären, wäre diese Vorschrift nicht gut; da sie aber schlecht sind und dir die Treue nicht halten würden, brauchst du sie ihnen auch nicht zu halten." Im sachlichen Kern geht es hier um die clausula rebus sie stantibus, um den Grundsatz: rebus sie stantibus omnis promissio intellegitur, der insbesondere im Völkerrecht, aber auch im innerstaatlichen Recht allgemein anerkannt ist.34 Abgesehen davon, daß Machiavelli die Gründe, aus denen es zulässig sein kann, den Vertrag nicht einzuhalten, zutreffend nennt (daß man sich andernfalls schweren Schaden zufügen würde oder daß die Gründe entfallen sind, wegen denen der Vertrag geschlossen wurde), kommt bei ihm indirekt auch die ethische Zulässigkeit des Verfahrens zum Ausdruck. Denn er schreibt, der Fürst dürfe unter den genannten Voraussetzungen sein Wort gar nicht halten, und es gebe „ragioni legit33
Der pauschale Vorwurf der Heuchelei berücksichtigt auch nicht, daß derjenige, der ein Gemeinwesen repräsentiert, die für das Gemeinwohl wesentlichen Eigenschaften gewissermaßen von Amts wegen vertreten und zur Darstellung bringen muß. Es ist dies eine objektiv sittliche Leistung, die der Betreffende erbringt, unabhängig von seiner persönlichen Moralität, die also unabhängig davon ist, wie weit er die Tugenden selbst besitzt. Man kann hier einwenden, daß dies bei Machiavellis Fürst sich anders verhält, weil er als Individuum eigentlich das Gemeinwesen „ist". Sofern man aber Machiavellis Ausführungen allgemeiner, nämlich als Politik überhaupt betreffend versteht, gilt das Gesagte. 34 Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Zusammengestellt, übersetzt und erläutert von Detlef Liebs, 1982, S. 185. Als Belege werden Thomas v. Aquin und §60 Verwaltungsverfahrensgesetz zitiert. Vgl. den Artikel „clausula rebus sie stantibus", in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 1960: „Selbst bei vorsichtiger Beurteilung dürfte die Rechtsnatur der clausula im Sinne eines Völkergewohnheitsrechts anzuerkennen sein. Dieser Schluß wird verstärkt durch die seit den Postglossatoren fast ununterbrochene Anerkennung der Klausel in den Rechtsordnungen fast aller zivilisierter Staaten." Ebd. heißt es: „Die Nichterfüllung zufolge eines Notstandes (-»Selbsterhaltungsrecht) wird andererseits meist in den Formen der clausula begründet sein ..."
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time", um das Nichteinhalten des Vertrags zu „beschönigen". D a n n aber erörtert er die Anwendung der Klausel in einer Weise, die sie als Musterbeispiel moralisch verwerflichen H a n d e l n s erscheinen läßt. So kommt erstens - der Gedanke gar nicht auf, es k ö n n e vielleicht einen guten politischen Sinn haben, nach diesem Grundsatz zu verfahren, sondern f ü r Machiavelli ist es nichts als ein Akt der infedilità, also subjektiv-moralischer Schlechtigkeit. Zweitens verurteilt er das Verfahren zunächst moralisch nach seiner einfachen Gut-oder-böse-Dichotomie, um es d a n n aber zu rechtfertigen mit der oben schon der Kritik unterzogenen Begründung, man müsse so handeln, weil die Menschen schlecht sind. Schließlich aber qualifiziert er das Nichteinhalten des Vertrages einfach als Betrug. Er schreibt „ c h e colui che inganna troverrà sempre chi si lascerà ingannare". Dieser Gebrauch des Begriffs „ i n g a n n a r e " zeigt an, daß Machiavelli die A n w e n d u n g der Klausel nicht anders einschätzt als z. B. die verbrecherische Täuschung, mit der Cesare Borgia seine Gegner nach Sinigaglia gelockt und dort ermordert hat; an dieser Stelle des Textes verwendet er nämlich ebenfalls das Wort „ingannare" 3 5 . Dabei handelt es sich bei der A n w e n d u n g der clausula rebus sie stantibus schon deshalb nicht um Täuschung oder Betrug, weil alle Beteiligten dies als Möglichkeit kennen und einkalkulieren, so daß, wenn man überhaupt von Täuschung sprechen wollte, der Satz gelte: Non deeipitur, qui seit se decipi36. Machiavelli verstärkt d a n n den falschen Eindruck, den er erweckt, noch dadurch, daß er am Ende seiner Ausführungen über das Nichteinhalten von Verträgen die notorisch unanständige Politik Papst Alexanders VI. als Beispiel bringt. In gleicher Weise setzt er im letzten Satz des Kapitels XVIII die offene Feindschaft gegen Friedfertigkeit und Treue gleich mit Situationen, in denen man Zusagen nicht einhalten kann, ohne schweren Schaden zu erleiden oder zu stiften. Er schreibt: „Ein Fürst unserer Zeit, den man lieber nicht nennt, predigt nichts als Frieden und Treue und ist doch von beidem ein Erzfeind; und das eine wie das andere, wenn er sie geachtet hätte, hätten ihn schon oft sein Ansehen oder sein Reich gekostet." - So gewiß der Berufung auf die clausula rebus sie stantibus enge sittliche Grenzen gezogen sind, so verfehlt ist es doch, wenn Machiavelli sie hier aus einem Blickwinkel vorführt, aus dem gesehen sie von vornherein unmoralisch erscheinen m u ß . Und nachdem er eine ethisch mögliche und unter Umständen notwendige Praxis als moralisch verwerflich hingestellt hat, empfiehlt er aus G r ü n d e n der Zweckmäßigkeit und mit einer ethisch unzureichenden Begründung - weil die Menschen schlecht sind - , doch so zu verfah-
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Principe, Kap. VII: „E ritornatogli la reputazione, né si fidando di Francia né di altre forze esterne, per non le avere a cimentare, si volse agli inganni." 36 Detlef Liebs (FN 34), S.137.
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ren. Weil er erst etwas gegebenenfalls Notwendiges als ethisch verwerflich qualifiziert hat, muß dann der Eindruck entstehen, ethisch Verwerfliches sei notwendig. Auf diese Weise behält das tatsächliche Handeln seine Zweckmäßigkeit, verliert aber seine ethische Berechtigung - ein anschauliches Beispiel dafür, wie bei Machiavelli selbst „Machiavellismus" entsteht! Das Thema Vertragstreue behandelt Machiavelli auch in den Discorsi (I, 59). Vergleicht man die dortigen Ausführungen mit denen des Principe, so fällt auf, daß sie weniger moralisiert (im transitiven Sinne dieses Wortes), vielmehr objektiver und politischer sind. Das beginnt schon bei der Überschrift, in der gefragt wird, ob man sich mehr auf ein mit einer Republik oder mehr auf ein mit einem Fürsten geschlossenes Bündnis verlassen kann. Das ist wirklich eine Frage des politischen Kalküls und nicht der subjektiven Moralität einer Person. Als der Erläuterung bedürftige Gründe des Vertragsbruches werden dann angegeben erstens die Furcht um den Bestand des Staates und zweitens Nützlichkeitserwägungen. In beiden Fällen betrachtet Machiavelli die Fürsten als weniger zuverlässig, jedoch ohne deren moralische Verurteilung so in den Mittelpunkt zu rükken wie im Principe. Die in dieser Schrift und gerade in den Kapiteln XV und XVIII vorherrschende Zuspitzung zwischen dem, was eigentlich moralisch geboten wäre, und dem, was das Nutzenkalkül erfordert, erklärt sich wohl daraus, daß Machiavelli da einerseits den Ehrgeiz hat, ganz realistisch zu sein, und er andererseits die verità effetuale aus ihrem vermeinten Gegensatz zum Leben, wie es sein sollte, definiert. Denn das verführt zu der Vorstellung, alles Handeln sei um so realistischer, je weiter es vom Sollen entfernt ist. Darauf zielt wohl auch Sasso, wenn er schreibt, Machiavelli werde „von seinem politischen Willen, sich an die Gegebenheiten der Realität zu halten, zu einer intellektualistischen Idealisierung der politischen Mittel geführt" 3 7 . Um sich von einer einseitig moralisierenden Betrachtung der Politik, wie er sie bei Savonarola erlebt habe, zu befreien, so meint Mehmet, sei Machiavelli bestrebt gewesen, die Dinge zu sehen, wie sie sind : „Aber er bringt es dabei nicht zu schlichter, natürlicher Sachlichkeit, sondern nur zu einem kruden Realismus." 38 Und den trage er vor, als solle der Leser „mit Gewalt schockiert werden" 39 , 40. Ein Beispiel dafür, wie Machiavelli „Machiavellismus" zu Unrecht unterstellt wird, bietet die gängige Interpretation eines Satzes aus seiner 37 38 39
SaiJ0(FN2), S.215. Mehmet (FH 2), S. 163.
Ebd., S. 157. Sasso schreibt ([FN2], S. 135): „Die Hervorhebung von Widersprüchen scheint wichtiger als die Suche nach der Wahrheit."
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Schrift über das Leben Castruccio Castracanis 4 1 . Machiavelli schreibt über diesen in seiner abschließenden Würdigung: „ N i e versuchte er durch Gewalt zu siegen, wo er es durch Betrug vermochte: denn der Sieg, sagte er, bringt den R u h m , nicht die Art des Sieges." Zuletzt hat Münkler diesen Satz als Beleg f ü r seine Bemerkung zitiert, auch Betrug und Wortbruch werde von Machiavelli bedenkenlos in das Arsenal der Politik aufgenommen 4 2 . Studiert m a n jedoch Machiavelli aufmerksam, so sieht die Sache ganz anders aus. Erstens nämlich erklärt er im 3. Buch der Discorsi, Kapitel 40, ausdrücklich, Betrug sei überall schädlich u n d unehrenhaft außer im Krieg, wo er löblich und ruhmvoll sei. Zweitens braucht man die Darstellung des Lebens Castruccio Castracanis nur zu lesen, um zu sehen, daß dessen charakteristische Leistungen und Verdienste nicht im Bereich der Politik, sondern im Kriegswesen lagen. U n d darauf bezieht sich Machiavellis oben zitierter Satz: Den Sieg im Krieg suchte Castruccio Castracani, wenn es möglich war, lieber durch Betrug als durch Gewalt. U n d im Krieg ist das sowohl sachlich sinnvoll als auch ethisch begründbar, denn da wird durch Betrug Blut gespart. Der Feldherr, der statt durch Gewalt durch Betrug siegt, also durch eine Krieglist, bewahrt zumindest in den eigenen Reihen viele Soldaten vor dem Tod oder lebenslanger Verstümmelung. Niemand wird leugnen, daß es in der Politik alles das gibt, was Machiavelli mit Recht moralisch verurteilt: Wortbruch, Heuchelei, Betrug etc. samt deren dreister Beschönigung. Was aber den Leser des „Principe" verwirrt, sind die vielen Stellen, an denen Machiavelli eine Politik, die - unvoreingenommen betrachtet - sowohl zweckmäßig als auch ethisch nicht zu beanstanden ist, mit solchen Schurkereien auf eine Stufe stellt oder zumindest moralisch fragwürdig erscheinen läßt. Wie kommt es zu diesem f ü r Machiavellis Werk chrakteristischen Effekt? Wie wir gesehen haben, bezieht Machiavelli das rationale Kalkül des Handelns ausschließlich auf dessen Zweckmäßigkeit und Effizienz, u n d er orientiert alle ethische Bewertung ebenso ausschließlich an abstrakten Gebotsnormen. Diese Trenn u n g hat zur Folge, d a ß er zunächst Handlungen insgesamt negativ bewertet, wenn sie einen tatsächlichen, oft auch nur einen vermeinten Verstoß gegen eine abstrakte Gebotsnorm enthalten. Geht er d a n n zum rationalen Kalkül einer solchen Handlung über, so bleibt d a f ü r , obgleich es auch eine angemessenere ethische Würdigung erbracht hätte, nur noch die Beurteilung nach dem Gesichtspunkt der Opportunität. Dieser aber ist schließlich die Berechtigung schon genommen, weil sie der Verwirklichung einer dem Anschein nach verwerflichen Tat dient. Es kommt hinzu, 41
In der Edition von Bonfantini (FN 1), S. 533 ff.; in der von Hanns Floerke herausgegebenen Übersetzung von Machiavellis „Gesammelten Schriften" findet sich das kleine Werk in Band 2, S. 113 ff. 42 Münkler (FN 3), S. 285 f.
VII. Anmerkungen zu Machiavellis „II Principe"
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daß es jenseits der Reichweite der abstrakten Gebotsnormen keine Anhaltspunkte gibt, um solches nur scheinbar verwerfliche Handeln von wirklich verwerflichem Handeln zu unterscheiden. So erweckt Machiavelli im „Principe" ständig den Eindruck, als sei rationale - und das heißt auch: realistische - Politik der Widerpart moralischen Handelns. Dabei fehlt es Machiavelli weder an Wertschätzung für das rationale Kalkül, noch ist er ein Verächter der Moralität 43 . Doch ist es das Ungenügen seiner ethischen Kriterien, das bewirkt, daß er rationales politisches Handeln, indem er es lobt und empfiehlt, gleichzeitig desavouiert. So hat dieser Autor, der ein Lehrer der politischen Klugheit sein wollte, viel dazu beigetragen, diese in Verruf zu bringen.
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Sasso zitiert ([FN 2], S.390) Benedetto Croces Satz: „Machiavelli hat ein großes schmerzerfülltes Moralbewußtsein." Ähnlich Mehmet ([FN2], S. 163 und 186). Leonhard v. Muralt, Machiavellis Staatsgedanke, Basel 1945, bemerkt (S.71), eine Reihe von gelegentlichen Zwischenbemerkungen verrieten, wie lebendig bei Machiavelli der sittliche Maßstab sei. Isaiah Berlin täuscht sich, wenn er meint, Machiavelli habe sich für die Rolle des Gewissens nicht interessiert, ders., The Originality of Machiavelli, in: ders.. Against the Current. Essays in the History of Ideas, Oxford 1981, S.25ff. (37).
VIII.
Politische Kriterien der Schuld an der NS-Herrschaft und deren Verbrechen
„Wer den Bürgern der Bundesrepublik den selbstkritischen Umgang mit ihrer älteren und jüngeren Geschichte wegschwatzen will, raubt ihnen eines der besten Elemente politischer Gesittung", schrieb Martin Broszat treffend in einem Beitrag über unser Geschichtsbewußtsein. 1 Es sei gerade die Erfahrung der Hitlerzeit, „die die Westdeutschen in den Stand gesetzt hat, sich auch ohne national-emotionale Nachhilfe allmählich in der Rechts-, Sozial- und Zivilisationsgesellschaft der Bundesrepublik heimisch zu machen". Wenn Broszat ein Element politischer Gesittung mit Recht in der „durch die Not erworbenen moralischen Sensibilität gegenüber der eigenen Geschichte" sieht, so gehört zum selbstkritischen Umgang mit dieser Geschichte allerdings noch ein anderes nicht minder wichtiges Element politischer Gesittung, nämlich die Einsicht, daß in der Politik auch Rationalität eine Voraussetzung der Moralität ist. Rationale Politik dient überall dort der Verwirklichung des moralisch Gebotenen, wo dafür bloßer Normengehorsam nicht ausreicht, sondern auch die gegebenen Umstände und zu erwartenden Folgen unseres Tuns in Rechnung gestellt werden müssen. Die moralische Qualität unseres Handelns hängt insoweit von dessen rationaler Qualität ab. Dementsprechend genügt es für eine gerechte Beurteilung politischer Tätigkeit und Entscheidungen auch nicht, diese allein an moralischen Gebotsnormen zu messen, sondern sie müssen ebenso nach den Kriterien politischer Rationalität geprüft werden. Auch bei der nachträglichen Beurteilung des Verhaltens der Menschen unter nationalsozialistischer Herrschaft muß die moralische Sensibilität ihre Ergänzung in der Anwendung politischer Kriterien finden. Um es so plakativ auszudrücken, wie es in der Werbung für Broszats Buch „Nach Hitler" 2 zu lesen ist: „nicht moralisierend urteilen - kritisch verstehen". Wie die Politik so hat auch der Staat einen sittlichen Sinn. Dieser besteht darin, daß nur der Staat bestimmte Erfordernisse der Moral zu erfüllen vermag, die einzelne selbst bei größter Anspannung ihrer moralischen Kraft zu erfüllen nicht imstande sind. Die wichtigste dieser sittlichen Leistungen ist die Stiftung und Wahrung des innergesellschaftlichen Friedens. Nur der Staat kann es ermöglichen, daß unvermeidliche Konflikte zwischen Mitgliedern der Gesellschaft nicht „um des lieben Friedens wil1
„ D i e Zeit" vom 3. Oktober 1986. H. Graml/K.-D. Henke (Hrg.), Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Beiträge von Martin Broszat, München 1986. 2
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VIII. Politische Kriterien der Schuld an der NS-Herrschaft
l e n " unterdrückt werden müssen, s o n d e r n in menschenwürdiger Weise und gewaltfrei ausgetragen werden k ö n n e n , nämlich nach der staatlichen R e c h t s o r d n u n g u n d Gerichtsbarkeit. Dies k a n n , genau wie das, was dem Staat für den Frieden zwischen den V ö l k e r n zu leisten aufgegeben ist, niemals durch die Friedfertigkeit und F r i e d e n s l i e b e n o c h so vieler einzelner und deren Aktivitäten für den Frieden ersetzt werden. Umgekehrt gilt: indem die Friedens- und Rechtsordnung des Staates das moralische Ungenügen der Individuen bis zu einem gewissen G r a d e kompensiert, unterstützt sie die einzelnen darin, ihr L e b e n nach den elementaren G e b o t e n der M o r a l zu führen. Das bestätigen die bitteren E r f a h r u n g e n , die m a n m a c h t , wenn die staatliche Friedens- und R e c h t s o r d n u n g suspendiert oder pervertiert wird, wie es z.B. im Dritten R e i c h geschehen ist. D a n n kann m o r a l i s c h e s Ungenügen des einzelnen schnell so gravierende Folgen zeitigen, d a ß es zu moralischer o d e r auch krimineller Schuld wird. Die unter n o r m a l e n Verhältnissen läßliche Sünde wird zur schweren Sünde. Auch ist es b e z e i c h n e n d , d a ß unter den Bedingungen des NS-Herrschaftssystems M e n s c h e n schwerste Verbrechen begingen, die unter n o r m a l e n staatlichen Verhältnissen vermutlich nie straffällig geworden wären. D a es in den folgenden Überlegungen in erster Linie um politische S c h u l d geht, m u ß bestimmt werden, was darunter zu verstehen ist. Politische S c h u l d kann es n u r geben unter der Voraussetzung, d a ß politisches H a n d e l n nicht lediglich der z w e c k m ä ß i g e n Verfolgung von Interessen, und d a ß d e r Staat nicht nur den Z w e c k e n allgemeiner Daseinsvorsorge dient, sondern d a ß beide den oben b e s c h r i e b e n e n sittlichen Sinn h a b e n , im ö f f e n t l i c h e n L e b e n zur Verwirklichung des moralisch G e b o t e n e n beizutragen. Politische Schuld entsteht daher, wenn entweder wegen gänzlichen Verzichts a u f diesen Beitrag o d e r wegen rationalen Ungenügens der Politik oder wegen der Suspendierung und Pervertierung der staatlichen Friedens- u n d Rechtsordnung das m o r a l i s c h G e b o t e n e verfehlt bzw. Verwerfliches bewirkt wird. - W e n n es sich nicht um unbeabsichtigte Folgen schlechter Politik handelt, sondern wenn j e m a n d in Politik und Staat von vornherein verwerfliche Zwecke verfolgt, so liegt nicht politische, sondern u n m i t t e l b a r moralische Schuld vor. D a ß Hitler den V ö l k e r m o r d an den J u d e n gewollt und veranlaßt hat, ist seine moralische S c h u l d ; daß das deutsche V o l k durch falsche politische Entscheidung Hitler die Voraussetzungen zu V ö l k e r m o r d geboten hat, ist politische Schuld. M o r a l i s c h e S c h u l d b e m i ß t sich n a c h der Unterscheidung von gut und böse, politische S c h u l d dagegen n a c h der Unterscheidung von richtig und falsch, wobei richtige politische Entscheidungen der Verwirklichung des moralisch G e b o t e n e n dienen, falsche Entscheidungen dagegen zur Folge h a b e n , d a ß das m o r a l i s c h G e b o t e n e verfehlt oder Verwerfliches bewirkt wird. Politisch schuldig m a c h t sich z.B. j e m a n d , der einen moralisch gerechtfertig-
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ten Aufstand in einer Situation auslöst, in der er von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. - Weil politische Schuld im Verfehlen moralischer Zwecke besteht, erweist sie sich immer dann, wenn sie erkannt wird, auch als moralische Schuld, obgleich sich ihre Kriterien von den Kriterien der Moralität grundlegend unterscheiden. Die Frage der Schuld an der nationalsozialistischen Herrschaft und an deren Verbrechen wird hier nicht in ihrem ganzen Umfang und unter allen Aspekten erörtert. So bleiben insbesondere die an sich ebenso wichtigen wie interessanten Probleme außer Betracht, die sich speziell aus der totalitären Pervertierung der Sozialität ergeben, wie z.B. die Verwirrung der moralischen Maßstäbe und antinomische Gewissensfragen. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Überlegung, wie weit bei der Beurteilung der Schuld zu den moralischen Kriterien politische Kriterien hinzugenommen werden müssen, wenn man zu haltbaren Ergebnissen gelangen will. Damit verbunden ist die These, daß falsche Urteile in der Schuldfrage z.T. in allgemein verbreiteten falschen Vorstellungen von Politik begründet sind. Wichtig für die Erörterung der Schuldfrage ist die Tatsache, daß sich zwischen der Weise, wie die Zeitgenossen - und zwar gerade auch die Gegner - die NS-Herrschaft erfahren haben, und der, wie das Dritte Reich im Rückblick zu sehen ist, in mehrfacher Hinsicht eine Umkehrung vollzogen hat. Aus heutiger Perspektive ist der Kardinalpunkt der NS-Herrschaft der Völkermord an den Juden, zusammengefaßt im Namen von Auschwitz, der zum Symbolbegriff geworden ist. Fast ausschließlich unter diesem Blickwinkel wird heute jene Zeit gesehen und beurteilt. Das geschieht insofern mit Recht, als im „technischen Genocid ohne Pogromstimmung" 3 die Perversion von Politik eine bis dahin unbekannte Dimension erreicht hat. Damals hingegen war die Realität des Völkermordes für die große Mehrzahl der Deutschen höchstens ein erschreckendes Gerücht, von dem man hoffte, daß es sich nicht bewahrheiten werde. Abscheu gegen die Naziherrschaft war bei deren Gegnern durch andere Tatsachen begründet, insbesondere durch die Herrschaftspraktiken der sog. „Gleichschaltung", der weitgehenden Aufhebung des Rechtsstaates, der Unfreiheit, Bonzenherrschaft und Massenveranstaltungen. Hinzu kamen die Konzentrationslager, später die Nürnberger Rassegesetze, der Pogrom von 1938, Hitlers Treiben zum Krieg und die Euthanasie-Aktion gegen Geisteskranke. Auch hier aber waren der Hauptgrund der Gegnerschaft nicht die Verbrechen, sondern der Zwangscharakter des Regimes. Die KZ waren in den Augen der Nazigegner ein Terrorinstrument der Nazibande, das sie zu fürchten hatten und dem sie zu entgehen hofften, nicht ein deutscher Frevel gegen 3
M. Broszat in Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 24, S. 106.
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die Menschenwürde, gegen den sie protestieren müßten, wenn sie nicht daran mitschuldig werden wollten. 4 - Man muß sich die Perspektive, aus der damals die Gegner des NS-Regimes die Dinge sahen, bewußt machen und die heutige Perspektive entsprechend korrigieren, um nicht zu vergessen, d a ß das NS-Regime politisch verwerflich ist, auch wenn es keines seiner schlimmen Verbrechen begangen hätte. Wenn sich das Verdammungsurteil gegen den Nationalsozialismus einseitig auf „Auschwitz" gründet, besteht Gefahr, daß wir das Unglück unterschätzen, was droht, wenn „ n u r " der demokratische Verfassungs- und Rechtsstaat zerstört wird. Ein Nazi war nach damaligen Vorstellungen jemand, der ohne Not oder aus Überzeugung die Politik des Regimes pries, dessen ideologische Vorstellungen propagierte und sich eifrig in den NS-Organisationen betätigte. Wer dagegen in die NSV, die Arbeitsfront oder auch in die N S D A P und (nach dem 30. Juni 1934) in die SA eintrat, nur weil er sich einbildete, er schulde das seinem beruflichen Fortkommen oder er müsse sich absichern u.ä., der war deswegen auch in den Augen der Nazi-Gegner noch kein Nazi. Anders war es bei denen, die freiwillig zur Schwarzen SS gingen, denn diese war als das eigentliche Instrument totalitärer Machtausübung bekannt. Damals richtete sich das Urteil also danach, was einer tatsächlich tat oder sagte, und als Nazi galt man aufgrund ausdrücklicher politischer Parteinahme. Heute dagegen ist die Ansicht verbreitet, jeder sei ein Nazi gewesen, der irgendwie zum geistigen Inkubationsbereich des Nationalsozialismus gehörte oder, sei es als Beamter, Soldat, Künstler etc., in irgendeiner Weise in das System totalitärer Machtausübung einbezogen war. Damals waren die Kriterien wesentlich feiner abgestimmt: die NichtNazis erkannten einander schon daran, daß sie von „Hitler" sprachen anstatt vom „Führer" - wie ja auch ein richtiger Katholik nicht vom „Papst", sondern vom „Heiligen Vater" spricht. Noch bei der Entnazifizierung bestimmte sich die Mitschuld des einzelnen danach, was er aktiv für das Regime und in dessen Sinn getan hat, heute dagegen bezieht sich 4
Es ist bemerkenswert, wie wenig der Komplex „Auschwitz" noch in den ersten Jahren nach 1945 im Bewußtsein der Zeitgenossen gegenwärtig war. Alfred Andersch schrieb am 15. August 1946 im „ R u f : „ D i e Kämpfer von Stalingrad, El Alamein und Cassino ... sind unschuldig an den Verbrechen von Dachau und Buchenwald." - „Auschwitz" war ihm offenbar kein Begriff. - Am 11. September 1950 fand die konstituierende Sitzung des heutigen Instituts für Zeitgeschichte statt. Anwesend waren lauter bewährte Nazigegner, unter ihnen Hermann Brill und Eugen Kogon, die viele Jahre im Konzentrationslager verbracht hatten. Als - im Hinblick auf die damalige öffentliche Diskussion - vordringlich zu bearbeitende Themen wurden vorgeschlagen: Geschwister Scholl, Reichstagsbrand, Bayreuth und Hitler, Röhmputsch, 20. Juli 1944, aus dem Bereich der Verfolgung der Juden aber nur die „Reichskristallnacht". - D i e NS-Zeit beschäftigte die Menschen damals noch ganz innerhalb des Horizontes dessen, wie sie die Ereignisse tatsächlich erlebt hatten.
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der Schuldvorwurf in erster Linie darauf, was die Nicht-Nazis gegen das Regime unterlassen haben, obgleich sie es hätten tun sollen. Das ist insoweit irrig und ungerecht, als es damals durchaus schon eine intellektuelle, nervliche und sittliche Leistung war zu widerstehen, nämlich das Andersdenken durchzuhalten; sich nicht vom NS-Betrieb vereinnahmen zu lassen, sondern - wo immer es ging - die Unterstützung des Regimes zu vermeiden und seinen Zumutungen im Alltag aus dem Wege zu gehen („innere Emigration"). Einfach zu bestimmen ist die persönliche politische Mitschuld des einzelnen an der Zwangsherrschaft, soweit er sie aus eigenem Wollen unterstützt und dazu beigetragen hat. Schwieriger zu beurteilen ist die persönliche politische Mitschuld, wenn es um die Frage geht, was der einzelne dagegen hätte tun können, jedoch unterlassen hat. Läßt man hier denjenigen Bereich des Problems beiseite, der sich aus den besonderen Lebensbedingungen in einem totalitären System ergibt, so hängt die Antwort letztlich davon ab, welche Möglichkeiten der Einflußnahme generell ein einzelner auf die Politik eines Staates hat. Auf dieser Grundlage ist dann die entsprechende Frage für das Dritte Reich zu stellen. Grundlegend wichtig ist hier die Tatsache, daß der Staat gewisse Leistungen erbringt, die ihrer Eigenart nach von einzelnen nicht erbracht werden können. Das wurde oben für die sittlichen Leistungen des Staates erläutert, gilt aber auch für andere staatliche Aufgaben. Unmittelbar tätig werden können in deren Bereichen praktisch nur diejenigen Personen, die in irgendeiner Weise bevollmächtigt sind, im Namen des Staates zu handeln und zu entscheiden, also insbesondere Regierungsmitglieder, Beamte, Diplomaten. Der Normalbürger kann darauf nur Einfluß nehmen, soweit er zu diesen Personen Zugang oder für deren Zuständigkeiten Mitwirkungsrechte hat. Hinzu kommen selbstverständlich im demokratischen Staat alle die Einflußmöglichkeiten, die mit allgemeinen Wahlen sowie einer frei sich äußernden öffentlichen Meinung und Kontrolle gegeben sind. Aber auch unter günstigsten demokratischen Verhältnissen kann der Normalbürger keinen ihm zurechenbaren bestimmten Einfluß gewinnen, für den er dementsprechend auch ganz persönlich verantwortlich zu machen wäre. Das gilt natürlich erst recht, wenn sich eine Regierung dem Einfluß öffentlicher Willensbildung einseitig verschließt. - Auf das Verhalten im Dritten Reich angewandt, heißt das, daß der einzelne nur dann etwas gegen die Maßnahmen des Regimes zu unternehmen in der Lage war, wenn er sich auf irgendeine Mitwirkungskompetenz berufen konnte oder Zugang zu einer mitwirkungsberechtigten Person hatte - und diese sich auch zugänglich zeigte. Nur soweit jemand derartige Möglichkeiten hatte, ohne sie zu nutzen, machte er sich persönlich politisch mitschuldig. Darüber hinaus sind Ausnahmefälle denkbar - und es hat sie auch gegeben - , in denen ein
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Normalbürger aus eigener Initiative auf die staatlich-politische Ebene unmittelbar einwirkte. Ein besonders bemerkenswerter Beispielfall ist das Bürgerbräuattentat gegen Hitler. Der Schreiner Georg Elser beging im Alleingang diese Tat, die nur durch einen Zufall keine Folgen von weitreichender historischer Bedeutung hatte. Fragt man nach der persönlichen politischen Mitschuld des einzelnen NSDAP-Wählers vor 1933, so bemißt sie sich nach Art und Ausmaß der Mitbestimmung, über die der einzelne Wähler in demokratischen Wahlen verfügt - wenn man einmal davon absieht, daß Hitler letztlich durch Intrigen in das Amt des Reichskanzlers gelangte. Worüber der einzelne in einer demokratischen Wahl mitbestimmt, ist erstens die allgemeine Richtung, die in der Politik eingeschlagen werden soll, z. B. ob konservativ oder progressiv; und das sind zweitens die Personen, denen man Mandate und Ämter anvertraut. Im Falle des NSDAP-Wählers hieß das, daß er sich politisch mitschuldig daran machte, daß der Weimarer Republik die Gefolgschaft verweigert wurde, daß Antisemitismus, fanatischer Nationalismus und Revanchismus in Deutschland erstarkten und vor allem, - daß ein Mann wie Hitler zunehmend an Macht gewann. Einen entsprechenden Schuldvorwurf zu erheben ist allerdings nur derjenige berechtigt, der der Ausübung des Wahlrechts Bedeutung zubilligt und es nicht für scheindemokratische Augenwischerei erklärt. Den demokratischen Verfassungsstaat bekämpfen und für einen Diktator votieren ist politische, nicht moralische Schuld. Das Votum ergibt sich nicht aus einer persönlichen subjektiven Entscheidung zwischen gut und böse, sondern es erfolgt zwischen einer objektiv besonders qualifizierten und einer objektiv besonders unqualifizierten Form der politischen Ordnung des öffentlichen Lebens. Keine persönliche politische Mitschuld trifft den NSDAP-Wähler der Jahre vor 1933 für das, was der „Führer" seit 1933 im einzelnen getan hat. Denn auch für damals gilt, daß demokratische Wahlen keine Plebiszite über Sachfragen sind. Es ist bedauerlich, daß heute demokratische Politiker aller Couleur im Wahlkampf den Eindruck zu erwecken suchen, sie könnten dem Wähler ganz bestimmte einzelne Maßnahmen und Entscheidungen versprechen, und daß sie sich später gegenseitig vorwerfen, den „Wählerauftrag" nicht zu erfüllen. Denn einen solchen „Wählerauftrag" kann es und darf es auch unter den Bedingungen eines freien Spiels der politischen Kräfte in der Öffentlichkeit und speziell im Parlament nicht geben. Gleich gar nicht gibt es ihn, wenn man einen „Führer" wählt, dem man uneingeschränkte, von jeglicher Kontrolle und Einflußnahme freie Machtvollkommenheit zugesteht. So ist es aus mehr als einem Grund abwegig, den NSDAP-Wähler von 1932 für mitschuldig am Völkermord zu erklären, wie es nach 1945 nicht selten geschehen ist.
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Als Fazit ergibt sich, daß nicht gerechtfertigte Zuweisungen persönlicher politischer Mitschuld zum Teil ihren Grund darin haben, daß ganz allgemein die Möglichkeiten des Bürgers, auf staatliches Handeln einzuwirken, dem Ausmaß nach überschätzt und der Qualität nach falsch eingeschätzt werden. Man bemißt die Mitverantwortung des einzelnen so, als sei Fichtes Spruch richtig: „und handeln sollst Du so als hinge von Dir und Deinem Tun allein, das Schicksal ab der deutschen Dinge und die Verantwortung wär' Dein." Damit wird ein demokratisch unerträglicher, mit dem Prinzip der Volkssouveränität unvereinbar großer Einfluß des einzelnen auf die Geschäfte des Staates unterstellt, den nicht einmal ein Bundeskanzler haben darf. Jedoch genau in diesem Geiste wurde nach 1945 in Deutschland die Demokratie propagiert und politische Bildung getrieben. Aus dem Wunsch heraus, die Deutschen dadurch zu demokratischem Engagement zu motivieren, daß man ihnen vor Augen hielt, zu welchen schrecklichen Folgen es führte, wenn man passiv bleibt und den Staat sich selbst überläßt, wurde die Mitverantwortung des einzelnen überbetont, wurden seine Einflußmöglichkeiten überzeichnet. Zur Frage der moralischen Schuld derer, die keine Nazis waren, ist zunächst von vornherein klar, daß gegenüber den Verfolgten, Verfemten und Gefährdeten schuldhaft jegliches Unterlassen normalen menschlichsolidarischen Umgangs war, wie auch ganz allgemein jedes nicht erzwungene Reden und Tun im Sinne des herrschenden Regimes. Schwierigkeiten der Beurteilung beginnen erst bei der Frage, was an ausdrücklichem Protest gegen das Unrecht und die Verbrechen des Regimes zu fordern war. Als typisches Fallbeispiel wird immer wieder angeführt, daß jemand in seiner Stadt Zeuge wurde, wie Juden zusammengetrieben und abtransportiert wurden, ohne daß er irgend etwas dagegen gesagt oder getan hat. Das wird nicht nur von Nachgeborenen als moralisch schuldhaft gewertet, sondern nicht selten werfen es diejenigen, die derartiges erleben mußten, auch sich selbst vor. - Aber was hätte jemand in einer solchen Situation tun können, und welches wären die Folgen gewesen? Die Frage läßt sich schnell beantworten: Wer mündlich oder tätlich protestiert hätte, hätte einerseits für sich selbst (möglicherweise auch für seine Angehörigen) schwerwiegende Konsequenzen heraufbeschworen, ohne andererseits einen nennenswerten Effekt zu erzielen. Denn weder hätte er die Deportation und Mordaktion verhindert bzw. auch nur gemildert, noch hätte sein Protest ein nennenswertes Echo in der Bevölkerung gefunden, da er unter den Verhältnissen des totalitären Systems keine Verbreitung hätte finden können. Der Sinn solchen Protests ohne Folgen von moralischem Belang wäre mithin auf den Ausgleich der Bilanz der subjektiven Moralität des Protestierenden zusammengeschrumpft. Hier ist e contrario der spezifische, durch nichts zu er-
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setzende Beitrag des Staates zur Verwirklichung des moralisch Gebotenen zu erkennen. Wo der Staat suspendiert bzw. pervertiert ist, sind die Bedingungen für die Verwirklichung des moralisch Gebotenen in der Öffentlichkeit zerstört, ist mithin der einzelne auf seine subjektive Moralität zurückgeworfen. - Stellt man sich auf den Standpunkt, ein so ungeheuerliches Verbrechen wie Völkermord fordere objektiv moralisch den unbedingten, alle normalerweise vernünftigen Rücksichten hinter sich lassenden Protest, so konnte dies doch weder damals, noch kann es heute nachträglich als subjektive moralische Leistung gefordert werden, denn eine moralische Verpflichtung zum Martyrium gibt es nicht. Die Mitglieder der „Weißen Rose" haben sich für den unbedingten Protest entschieden und sind durch diese ihre eigene Entscheidung ein hohes Vorbild; doch kann es niemandem erlaubt sein, es jungen Menschen als Pflicht hinzustellen, unter entsprechenden Verhältnissen ein Gleiches zu tun. Ebensowenig ist der extreme Ausnahmefall, der keine andere denn eine abstrakt moralische Entscheidung mehr zuließ, geeignet, einen prinzipiellen moralischen Rigorismus zu rechtfertigen, der unter normalen Verhältnissen nicht wahrhaben will, daß die Umstände sowie die Aus- und Rückwirkungen einer Tat in Rechnung gestellt werden müssen, wenn eine moralisch richtige Entscheidung getroffen werden soll. Aus dem Unterlassen des unbedingten Protestes kann auch kein moralischer Schuldvorwurf gegen das deutsche Volk als Ganzes abgeleitet werden, nämlich mit dem Argument, solcher Protest hätte seine Wirkung nicht verfehlt, wenn nur Millionen sich dazu aufgerafft hätten. Denn dieses hätte entweder vorausgesetzt - was mit Sicherheit auszuschließen ist - , daß Millionen zum gleichen Zeitpunkt aktuellen Anlaß zu protestieren gehabt hätten. Oder der Protest hätte organisiert werden müssen, was die Erfüllung der moralischen Forderung vom Gelingen einer politischen Organisationsaufgabe abhängig gemacht hätte. - Damit kommt ein weiterer Faktor in den Blick, der zwar für eine abstrakt-moralische Betrachtungsweise belanglos ist, in der Praxis jedoch eine erhebliche Rolle spielt und entsprechend für eine gerechte Beurteilung praktischen Verhaltens beachtet werden muß. Es handelt sich darum, daß die Menschen für öffentliches Wirken und politische Tätigkeit höchst unterschiedlich begabt sind. Wer sowieso schüchtern ist, ist es eben auch dann, wenn selbstbewußtes Auftreten erforderlich wäre, um etwas moralisch Gebotenes zu tun. Wer über gute Nerven und gute Menschenkenntnis verfügt, kann einen Wortwechsel mit einem Gestapo-Mann eher riskieren als jemand, der schnell die Fassung verliert und ungeübt ist im Einschätzen seines Gegenübers. Niemand sollte sich moralisch verpflichtet fühlen, an einer Konspiration teilzunehmen, wenn er dafür so unbegabt ist, daß er seine Mitverschworenen unnötig gefährdet. In diesem Zusammenhang ist noch einmal an die
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Tat Georg Elsers zu erinnern. Nicht jeder, dem die Möglichkeit des Attentats im Bürgerbräukeller eingefallen wäre, hätte das handwerkliche Können und konspirative Geschick gehabt, es auch in die Tat umzusetzen. Noch zu erörtern bleibt der Problemkreis, der in der öffentlichen Diskussion durch den Begriff „Kollektivschuld" markiert ist, wobei es nahezu ausnahmslos als selbstverständlich gilt, daß es zwar Kollektivhaftung oder Kollektivscham, nicht aber eine Kollektivschuld des deutschen Volkes an der NS-Herrschaft und ihren Untaten gibt. Der Begriff „Kollektivschuld" kann zunächst dahingehend verstanden werden, daß eine Anzahl von Personen derart substantiell eine Einheit bilden, daß das schuldhafte Verhalten eines oder mehrerer einzelner allen Angehörigen dieses Kreises so zuzurechnen ist, daß sie alle dafür büßen müssen. Klassisches Beispiel ist das Volk Gottes im Alten Testament, das wegen der Schuld einzelner von Jahwe kollektiv bestraft wird. Solche Kollektivschuld und -strafe kann es nach unseren Begriffen von Moralität und von der Eigenverantwortlichkeit der individuellen Person nicht geben. Denn danach sind ein Schuldvorwurf gegen den einzelnen und dessen Bestrafung nur für eine Tat denkbar, die er persönlich zu verantworten hat. Von kollektiver Schuld zu unterscheiden ist eine Schuld, die hier als „gemeinschaftliche" bezeichnet werden soll. Auch sie betrifft eine Anzahl von Personen, die jedoch keine substantielle Einheit bilden (sogar ganz zufällig und nur vorübergehend beisammen sein können), die aber eine gemeinsame Tat begehen, an deren Zustandekommen jeder einzelne irgendwie willentlich beteiligt ist. Folglich kann jedem zumindest im Prinzip sein Anteil an Absicht bzw. Tat nachgewiesen werden - und muß ihm nachgewiesen werden, wenn man ihm seine Mitschuld anlasten will. Es ist nicht ausgeschlossen, solche Mitschuld auch dann festzustellen, wenn nur ein einzelner des betreffenden Personenkreises schuldhaft gehandelt hat. Man wirft dann den anderen vor, daß sie diese Tat nicht verhindert, sondern zugelassen oder ermöglicht haben. Aber auch dann handelt es sich um gemeinschaftliche und nicht um kollektive Schuld im oben definierten Sinn. Daß es eine gemeinschaftliche Schuld ist und nicht lediglich ein Aggregat individueller Schuld mehrerer einzelner ergibt sich aus dem Zusammensein und der Kommunikation der Betreffenden beim Herbeiführen der Tat. Es gibt jedoch außer der oben beschriebenen noch eine andere Möglichkeit, den Begriff „Kollektivschuld" zu bestimmen. Auch in diesem Fall ist vorausgesetzt, daß eine Anzahl von Personen eine substantielle Einheit bilden, die allerdings von wesentlich anderer Art ist. Sie entsteht dadurch, daß sich die Betreffenden als handlungsfähige Einheit konstituieren und damit ein nichtpersonales Subjekt erzeugen; dessen
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Handlungen sind dann dem Kreis der Beteiligten kollektiv zuzurechnen. Beispiele dafür sind ebenso zahlreich wie alltäglich. Man denke etwa an die „juristische Person", an die „Firma", das Völkerrechtssubjekt oder das Verfassungsorgan. Der Bundestag, der als Gesetzgeber tätig wird, ist ein derartiges nicht-personales handlungsfähiges Subjekt. Als solches kann er, wie jeder, der handelt, das Richtige oder das Falsche tun, kann er sich Verdienste erwerben oder auch schuldig machen. So kann man es dem Bundestag z.B. als Schuld vorwerfen, daß er es 1960 versäumt hat, die Verjährungsfrist für Totschlag zu verlängern, und daß folglich NS-Gewalttäter wegen dieses Delikts nicht mehr bestraft werden konnten. Mit ihrer Konstituierung als nicht-personales handlungsfähiges Subjekt schließen sich die Beteiligten offenkundig zu einer anderen Art substantieller Einheit zusammen, als die oben zuerst erörterte. Jetzt wird nicht das, was ein einzelner tut, jedem anderen einzelnen als Schuld angerechnet, sondern das, was das nicht-personale Subjekt tut, ist denen, die sich als solches konstituiert haben, kollektiv als Schuld anzulasten - kann aber eben nur dem Kollektiv zugeschrieben werden und nicht dem einzelnen persönlich. Man kann alle Bundestagsabgeordneten kollektiv, nicht aber einzelne Abgeordnete individuell für das formell beschlossene Ergebnis der Beratungen und Auseinandersetzungen innerhalb des Gesamtkörpers des Parlaments verantwortlich machen. Das alles gilt entsprechend für den Fall, um den es hier bei der Erörterung des Problems geht, ob es eine politische Kollektivschuld des deutschen Volkes an der NS-Herrschaft und deren Verbrechen gibt. Wenn es kein leerer Wahn ist, daß eine Gesellschaft (ein Volk) in ihrem Staat die Qualität eines politischen Körpers, eines „moi commun", also eines nicht-personalen Subjekts gewinnt, dann kann sie in diesem Status auch kollektiv schuldhaft handeln. Und in der Tat: der Staat ist, wie jedes andere nicht-personale Subjekt, keine Fiktion, sondern besitzt reale soziale Existenz, die ihren Ursprung und tragenden Grund in natürlichen Personen hat. Man darf sich das Entstehen eines nicht-personalen Subjekts, mithin auch des Staates, allerdings nicht so vorstellen, als gingen sie in irgendeiner Weise aus der Verschmelzung der beteiligten natürlichen Personen hervor. Vielmehr entsteht die Subjekt-Qualität dadurch, daß im Sinne einer gemeinsamen Orientierung der Beteiligten und in deren Namen gehandelt wird. Dies ist ein kollektives Handeln, desssen Spezifikum im Gegensatz zu gemeinschaftlichem Handeln darin besteht, daß die einzelnen daran nicht willentlich beteiligt sind. Wenn das nichtpersonale Subjekt Bundesrepublik Deutschland mit einem Kommunique zu einem internationalen Streitfall Stellung nimmt, ist der einzelne Bürger an diesem Akt nicht willentlich beteiligt, und es kann ihm dafür kei-
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nerlei Mitverantwortung zugeschrieben werden. 5 Da es also an der Tätigkeit des nicht-personalen Subjekts keinen zurechenbaren Anteil des Wollens des einzelnen gibt, kann schuldhaftes Handeln dieses Subjekts zwar eine kollektive Schuld aller Beteiligten gemeinsam, nicht aber persönliche Schuld einzelner sein. Ferner ist festzustellen, d a ß die Schuld eines nichtpersonalen Subjekts (und daher auch die Kollektivschuld, der sich als dieses Subjekt konstituierenden Personen) niemals eine moralische sein kann, weil zur moralischen Orientierung nur die einzelne natürliche Person befähigt ist. Zumindest im Falle des Staates ist die Kollektivschuld stets politische Schuld, weil die gemeinsame Orientierung, aus der die kollektive Handlungsfähigkeit stammt, per definitionem eine politische ist. Wendet man diese allgemeinen Überlegungen auf die Beurteilung der Schuld an der NS-Herrschaft u n d deren Verbrechen an, so ist zunächst eine politische Kollektivschuld des deutschen Staatsvolkes festzustellen, die darin besteht, d a ß es auf die Ausübung seiner Souveränität verzichtete und sich der angemaßten persönlichen Souveränität Hitlers unterwarf. Deren Eigenart ist exemplarisch formuliert in dem Satz Ernst Rudolf Hubers: „Nicht von Staatsgewalt, sondern von Führergewalt müssen wir sprechen, wenn wir die politische Gewalt im völkischen Reich richtig bezeichnen wollen." 6 In diesem Sinn galten die Parolen „Hitler ist Deutschland, Deutschland ist Hitler" u n d „Führer befiehl, wir folgen Dir". Mit seinem Verzicht auf die Ausübung seiner Souveränität gab das deutsche Staatsvolk Hitler zunächst die Möglichkeit, Herrschaftsgewalt auszuüben, die nicht dem sittlichen Sinn des Staates verpflichtet u n d an die staatlichinstitutionellen Bedingungen für die Erfüllung dieses sittlichen Sinnes nicht gebunden war. Darin eingeschlossen war, d a ß das deutsche Staatsvolk Hitler die Voraussetzungen d a f ü r einräumte, erstens den Zweiten Weltkrieg vom Zaun zu brechen u n d zweitens Völkermord zu begehen. Als weiterer Tatbestand kollektiver politischer Schuld des deutschen Staatsvolkes kommt hinzu, daß zwischen dem 30. J a n u a r 1933 u n d dem 2. August 1934 (an dem nach dem Tode des Reichspräsidenten von Hindenburg die „Führergewalt" Hitlers proklamiert wurde) einerseits kein Zweifel darüber mehr bestehen konnte, welche politische und sittlich verwerflichen Konsequenzen das NS-Regime zeitigen werde, es andererseits aber noch möglich gewesen wäre, sich mit Hilfe der Reichswehr u n d des 5
Zur genaueren theoretischen Begründung der Entstehung eines nicht-personalen Subjekts siehe H. Buchheim, Theorie der Politik, München/Wien 1981, S. 93-95. Das oben verwendete Beispiel des Bundestags gilt nur, soweit seine Beschlüsse als die eines Verfassungsorgans aufgefaßt werden. Betrachtet man ihn als Gremium von Mandatsträgern, so liegt gemeinschaftliches Handeln und damit die Möglichkeit gemeinschaftlicher Schuld vor. 6 Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2.A, Hamburg 1939, S.213, 230.
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Reichspräsidenten Hitlers zu entledigen. Vor dem 30. Januar 1933 konnte m a n nicht sicher wissen, wie die NS-Herrschaft aussehen werde, nach dem 2. August 1934 wurde es zunehmend aussichtslos, diese Herrschaft abzuschütteln. Auf die Frage, ob es eine kollektive politische Mitschuld des deutschen Volkes am Völkermord unmittelbar gibt, lassen sich zwei verschiedene Antworten geben, und man kann darüber streiten, welche von beiden die richtige ist. Setzt man den Akzent darauf, daß das deutsche Staatsvolk auf die Ausübung seiner Souveränität verzichtete und sich der Souveränitätsanmaßung Hitlers unterwarf, dann liegt die Schuld ausschließlich bei letzterem. Nimmt man dagegen an, daß der Verzicht auf Ausübung der Souveränität nicht auch deren Verlust bedeutet, ja daß ein Volk die Volkssouveränität weder aufgeben noch verlieren kann (was z. B. allgemein betont wird für die Besatzungszeit von 1945 bis 1955), dann bleibt auch für den Völkermord unmittelbar eine letzte Mitverantwortung, mithin eine politische Kollektivschuld des deutschen Volkes. Mit Sicherheit aber liegt keine kollektive moralische Schuld am Völkermord vor. Denn - wie bereits gesagt - kann es kollektive Schuld nur geben, wenn natürliche Personen sich als nicht-personales Subjekt konstituieren; ein nicht-personales Subjekt ist jedoch nicht moralischer Motive und Entscheidungen fähig. Wollte man dieser Konsequenz ausweichen, indem man eine kollektive moralische Schuld nicht des deutschen Staatsvolkes, sondern des deutschen Volkes in seiner vor aller Staatlichkeit gegebenen Existenz annähme, so ist dem entgegenzuhalten, daß dann das Subjekt fehlt, dem die Schuld zugewiesen werden könnte. Denn es ist heute zwar allgemein üblich, von „der" Gesellschaft zu sprechen, als sei sie ein Subjekt, aber richtig ist es trotzdem nicht. Eine Gesellschaft kann Subjektcharakter nur dadurch gewinnen, d a ß sie sich als handlungsfähige Einheit, mithin als politischer Körper konstituiert. Gleichwohl hat Karl Jaspers es unternommen, auch eine moralische sowie eine intellektuelle kollektive Mitschuld des deutschen Volkes an den Naziverbrechen zu bestimmen. 7 Doch läßt schon die Tatsache, daß er über Redewendungen der Uneigentlichkeit nicht hinauskommt, erkennen, daß dies nicht geglückt ist. Er spricht (S. 111) von politischen Gesamtzuständen, die gleichsam einen moralischen Charakter haben, weil sie die Moral des einzelnen mitbestimmen; er sagt, es sei „so etwas wie eine moralische Kollektivschuld" in der Lebensart einer Bevölkerung; die Atmosphäre (!) der Unterwerfung sei gleichsam eine kollektive Schuld (S. 113); die Mitbetroffenheit als zum deutschen geistigen und seelischen Leben gehörender 7
K. Jaspers: Die Schuldfrage, in: ders.: Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945-1965, München 1965.
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Mensch werde Grund „nicht einer greifbaren Schuld, aber eines Analogons von Mitschuld". Was die Annahme betrifft, es gebe eine kollektive intellektuelle Schuld, so muß bedacht werden, daß der in einem Volk verbreitete Antisemitismus, antiwestliche Affekt, Revanchismus etc. dafür nicht in Frage kommen, weil es auch hier an einem Subjekt fehlt, als das sich einerseits das Volk konstituiert und das andererseits schuldfähig ist. Wenn aber um mit Karl Kraus zu sprechen - die Phrasen beim Wort genommen, wenn sie im Namen des Volkes in die Tat umgesetzt werden, dann handelt es sich bereits um kollektive politische Schuld. Möglich wäre es dagegen wenigstens grundsätzlich, im oben definierten Sinn von einer gemeinschaftlichen intellektuellen Schuld zu sprechen, wo jedem einzelnen im Prinzip sein persönlicher Anteil an schuldhaftem Denken zurechenbar wäre. Jedoch, obgleich nicht bezweifelt werden sollte, daß es schuldhaftes Denken gibt, ist dieser Tatbestand doch ungeeignet für öffentliche Schuldzuweisungen, weil er sich dafür nicht ausreichend genau nachweisen läßt. Schuldhaftes Denken pflegt dermaßen in Wechselwirkungen verquickt zu sein mit Vorstellungen und Auffassungen, die nicht schuldhaft sind, daß sich eine im Prinzip an sich mögliche Schuldzuweisung praktisch im Geflecht „mildernder Umstände" verliert. Außerdem steht die intellektuelle Mitschuld des einzelnen in einem viel zu weitläufigen und viel zu komplex vermittelten Verursachungszusammenhang zum verwerflichen Effekt, um Gegenstand einer öffentlich haltbaren Anklage sein zu können. Allerdings hat die Zugehörigkeit zum politischen Körper Relevanz für die persönliche Moralität, und deshalb entsteht durch die kollektive politische Schuld des Staatsvolkes für den einzelnen Staatsangehörigen eine moralisch prekäre Lage. Zwar hat niemand das Recht, dies einem anderen vorzuhalten, doch jeder Deutsche hat Anlaß zur Selbstprüfung, ob und gegebenenfalls wie weit er sich die kollektive politische Mitschuld seines Volkes foro interno als persönliche politische, moralische und intellektuelle Mitschuld zurechnen muß. Aber der Grundsatz rechtsstaatlicher Strafrechtspflege, daß niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten, gilt auch als sittlicher Grundsatz des öffentlichen Lebens. Menschen durch sozialen Druck zu öffentlicher Selbstbezichtigung zu zwingen und sie auf diese Weise bloßzustellen, ist Praxis totalitärer Systeme, jedoch mit freiheitlicher Sozialität unvereinbar. Es war deshalb schon immer illusorisch und moralisch fragwürdig, eine Welle öffentlich geleisteter „Trauerarbeit" zu erwarten. Dagegen ist es nicht erlaubt, aus deren wohlbegründetem Ausbleiben zu schließen, daß politische, moralische und intellektuelle Selbstprüfung bei unseren Mitbürgern nicht stattgefunden hätten und stattfänden.
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Kollektive politische Schuld kann - und muß - politisch abgetragen werden. Das Staatsvolk der Bundesrepublik tut dies vor allem dadurch, daß es sich für die sittlich qualifizierte Ordnung des demokratischen Verfassungsstaates entschieden hat und bei dieser Entscheidung bleibt. Auch die Außenpolitik läßt - unabhängig vom Wechsel der Mehrheitsverhältnisse in Parlament und Regierung - das Bemühen erkennen, alter Schuld Rechnung zu tragen. Dabei kann man geteilter Meinung sein, ob allzu betonte politische Zurückhaltung immer die richtige Konsequenz ist; ob wir nicht in Anbetracht unseres wirtschaftlichen Potentials zu mehr politischem Engagement in internationalen Krisen verpflichtet wären, deren Bewältigung solidarisches Handeln der Staaten erfordert. - Da ein Staatsvolk als politischer Körper über die Generationen hinweg eine Einheit bildet, ist die kollektive politische Schuld nicht allein die der Generation der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre, sondern in Schuld stehen auch die nachfolgenden Generationen. Diese Feststellung verliert ihre scheinbare Härte, wenn man sich bewußt bleibt, daß sich aus der kollektiven politischen Schuld des Staatsvolkes niemals ein persönlicher moralischer Schuldvorwurf gegen einzelne Staatsangehörige ableiten läßt. Wegen ihrer unterschiedlichen zeitlichen Nähe bzw. Ferne zum Dritten Reich haben die Generationen notwendigerweise unterschiedliche Möglichkeiten, sich dazu einzustellen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Es hat deshalb keinen Sinn, daß die Generationen einander vorwerfen, etwas versäumt zu haben, keine Lehren gezogen zu haben, selbstgerecht zu sein etc. Jede kann ihren eigenen Beitrag zum Abbau der Schuld leisten. Dabei gilt für alle, daß der eingangs zitierte Satz von Martin Broszat, die Erfahrung der Hitlerzeit habe die Westdeutschen in den Stand gesetzt, in der Rechts-, Sozial- und Zivilisationsgesellschaft der Bundesrepublik heimisch zu werden, auch Sinn gibt, wenn man ihn umkehrt und sagt, daß gerade die Pflege dieser Rechts-, Sozial- und Zivilisationsgesellschaft das Entscheidende leistet für das Abtragen der politischen Kollektivschuld.
IX.
Normentheoretische Bemerkungen zu den Bestrebungen, den § 216 StGB zu ändern
Die Bestrebungen, den Paragraphen zum Töten auf Verlangen (§ 216 StGB) zu ändern, werfen nicht nur materiale, rechtliche, medizinische, moraltheoretische und theologische Fragen auf, sondern berühren auch eine Reihe normentheoretischer Probleme. Probleme dieser Art treten häufig bei Änderungen von Gesetzesnormen auf; sie besitzen aber natürlich besonderes Gewicht, wenn es darum geht, das prinzipielle und generelle Verbot, einen Menschen zu töten, in besonderen Fällen auszusetzen. Im vorliegenden Fall sollen normentheoretische Überlegungen die Folgewirkungen ermitteln, die sich aus der Änderung einer einzelnen normativen Bestimmung im Gesamtgefüge der sittlichen und positiven, der fundamentalen und nachgeordneten, der allgemein gesetzlichen, d. h. öffentlichen sowie der privaten Gewissensnormen ergeben. So wird sich z. B. zeigen, daß ein Akt der Caritas, wenn er durch staatliches Gesetz sanktioniert wird, unter die Regeln öffentlicher Rechenschaftspflicht fällt und sich deshalb gar nicht mehr primär an der Caritas orientieren kann. Ebenso ist zu bedenken, daß die erste Ausnahme, die von einem Grundsatz gemacht wird, weitere Ausnahmen begünstigt; auch muß man in Rechnung stellen, welche Rückwirkungen das Vorhandensein bzw. Fehlen positiver Gesetze auf die individuelle Gewissensbildung ausübt. Probleme dieser Art werden in den Auseinandersetzungen über die Änderung gesetzlicher Bestimmungen in der Regel wenig beachtet; man wird sich ihrer Auswirkungen auf das Gesamtgefüge der Normen gewöhnlich erst dann mit Überraschung bewußt, wenn sie schon eingetreten und nicht mehr zu vermeiden sind. Im Rahmen dieses Beitrages ist es nicht möglich, die einschlägigen Fragen in aller Ausführlichkeit theoretisch zu entfalten. Es sollen lediglich die Grundzüge erörtert werden, um darauf aufmerksam zu machen, daß es diesen normentheoretischen Sektor der Gesamtproblematik gibt; außerdem sollen einige Thesen dazu anregen, die einschlägigen wichtigen Fragen in die Erörterung der Euthanasie einzubeziehen. Die Rückwirkungen von Veränderungen einzelner Bestimmungen auf das Normengefüge insgesamt treten nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten ein, die ganz unabhängig davon sind, welchen Inhalt die Veränderungen haben und wie man diesen bewertet. Mithin läßt sich das Spezifische der Rückwirkungen dann am klarsten herausarbeiten, wenn man sie unabhängig von inhaltlichen Bewertungen untersucht. Zunächst ist festzustellen (was man jedoch in der öffentlichen Diskussion ebenfalls wenig beachtet), daß die Bestimmung sich auf die Euthanasie
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weder ausdrücklich bezieht noch auf diese beschränkt ist.1) Das Tötungsverlangen muß keineswegs das eines todgeweihten, schwer leidenden Patienten gegenüber seinem Arzt sein, sondern kann z. B. von einer Tochter an den Vater, von einem Bergsteiger an seinen Kameraden, zwischen Freunden und in vielen anderen denkbaren Verhältnissen zwischen Personen gestellt werden. Ebenso müssen Anlaß des Verlangens nicht Todesnähe und Schmerzen sein, sondern es kann um verletzte Ehre, verschmähte Liebe, berufliches Scheitern, seelische Zerrüttung u. a. m. gehen. Im Falle des Kranken, der den Tod herbeiwünscht, überschneiden sich also zwei Problemkreise: viele Fragen der Sterbehilfe haben nichts mit der Tötung auf Verlangen zu tun, und diese betrifft nicht notwendigerweise die Sterbehilfe für Todkranke. Deshalb hieße es, einen ersten grundlegenden Fehler begehen und eine von vornherein falsche Weichenstellung vornehmen, wenn § 216 einseitig unter dem Aspekt der Sterbehilfe geändert würde. Vielmehr müssen bei einer eventuellen Änderung sämtliche dafür relevanten Gegebenheiten und Fragen in die Urteilsbildung und Entscheidung einbezogen werden. Schon hier erweist sich, daß die von einem Todkranken erbetene Sterbehilfe zwar vielleicht der am häufigsten vorkommende Fall, dem Inhalt nach jedoch ein Grenzfall der Tötung auf Verlangen ist. Es ist sicher nicht zulässig von einem solchen Grenzfall her andere Fälle zu präjudizieren, in denen das Verbot des § 216 offenkundig berechtigt und notwendig ist, weil sie keine triftigen Gründe aufweisen, das prinzipielle und generelle Verbot, einen Menschen zu töten, auszusetzen. Es wäre auch ganz allgemein sachlich wie logisch verfehlt, eine Norm, die - wie der Name sagt - den normalen Fall regelt, vom Grenzfall her zu entwickeln. Wenn ein Mensch an einen anderen das Verlangen richtet, ihn zu töten, so wirft das jenseits der positiv rechtlichen Bestimmungen für jeden von ' Wortlaut § 216 StGB: „Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen". (Vgl. auch Schönke-Schröder, Kommentar zum StGB, 16. Aufl.) Zum Vergleich seien die entsprechenden §§ aus dem österreichischen und schweizerischen Strafrecht zitiert. Strafgesetzbuch der Schweiz: § 114 Tötung auf Verlangen: „Wer einen Menschen auf sein ernstliches und dringendes Verlangen tötet, wird mit Gefängnis bestraft." (Kommentar: Das Schweizerische Strafgesetzbuch, Hrsg. u. erl. v. Philipp Thormann u. Alfred Overbeck, Zürich 1940-43, Bd. II, S. 14ff.) Österreichisches Strafgesetzbuch: § 77 Tötung auf Verlangen: „Wer einen anderen auf dessen ernstliches und eindringliches Verlangen tötet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen." (Kommentar: Das österreichische Strafgesetz samt den einschlägigen strafrechtlichen Nebengesetzen. Hrsg. von Dr. Gustav Kanietz, Wien 1969, S.285.)
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beiden eine Gewissensfrage auf: Der eine muß es mit seinem Gewissen abmachen, ob ihm ein solches Verlangen erlaubt ist, der andere muß nach seinem Gewissen entscheiden, ob er dem Verlangen entsprechen darf. Jeder der beiden kann dabei unter sozialen Gewissensdruck gesetzt werden. Der eine kann gegen seinen eigentlichen Willen von anderen gedrängt werden, seinen Tod zu fordern, z.B. wenn die Angehörigen einem Todkranken zu verstehen geben, daß er es ihnen schuldig sei, seinem Leben, das doch nicht mehr zu retten ist, vorzeitig ein Ende zu setzen. Der andere, der die Tötung vornehmen soll, obgleich es sein Gewissen ihm verbietet, kann dazu genötigt werden, indem man ihm seine Weigerung als Herzlosigkeit und erbarmungslosen Dogmatismus auslegt. In derartigen Situationen bietet die Bestimmung des § 216 beiden unmittelbar Beteiligten erheblichen Schutz vor Gewissensdruck und damit auch die Möglichkeit zu wirklich freier Entscheidung. Wenn sie sich dem an sie gestellten Ansinnen entziehen wollen, sind sie nicht auf sich allein gestellt, sondern können sich auf eine objektiv gegebene, allgemein verbindliche Gesetzesnorm berufen und stützen. Dabei bleibt es trotzdem gegenüber dem staatlichen Gesetz dem Kranken möglich aus wirklich freier Entscheidung seinen Tod zu verlangen, wie auch der Arzt dem entsprechen kann, wenn es ihm sein Gewissen unausweichlich gebietet. Er allerdings muß bereit sein, eventuelle Straffolgen aus dem positiven Recht auf sich zu nehmen. Dieser Preis ist eine Implikation, die sich im Verhältnis zwischen Gewissen und positivem staatlichen Recht prinzipiell nicht aufheben, sondern lediglich mildern läßt. In dem Sonderfall der Tötung auf Verlagen bewährt sich hier eine allgemeine und wichtige Funktion des positiven staatlichen Rechts, die in der Regel wenig beachtet wird, auf die man aber nicht leichtfertig verzichten sollte. Das Gesetz des Staates stellt nämlich nicht nur Forderungen an den Bürger und erlegt ihm Pflichten auf, sondern es gewährt ihm Schutz vor sozialer Nötigung bei sittlichen Entscheidungen. Natürlich ist unter sittlichem Aspekt jedermann verpflichtet, mehr zu tun, als das staatliche Gesetz von ihm fordert, bzw. vieles nicht zu tun, obgleich es gesetzlich nicht verboten ist. Aber gegenüber eventuellen Nötigungsversuchen von seiten seiner Mitmenschen, der Gesellschaft und des Staates hat jedermann das Recht, sich bei Entscheidungen von sittlicher Bedeutung auf diejenigen Leistungen bzw. Unterlassungen zu beschränken, die gesetzlich gefordert oder vorgeschrieben sind. Gerade dadurch, daß niemand ihn zu mehr nötigen oder zwingen darf, als er dem Gesetz schuldet, ist die soziale Voraussetzung dafür geschaffen, daß seine über das Gesetz hinausgehenden Leistungen wirklich sittlich sind, weil sie nämlich auf freier Entscheidung beruhen. Es gehört deshalb zu den Merkmalen des Rechtsstaates, daß er einerseits alles, was der Bürger tun muß, gesetzlich fixiert, daß er anderer-
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seits darüber wacht, daß niemand die Wahrnehmung gesetzlichen Rechts durch moralische Nötigung unterläuft. Niemand darf moralisch disqualifiziert werden, weil er sich ans Gesetz hält; niemand darf so unter Druck gesetzt werden, daß er es nicht mehr wagt, von seinem gesetzlichen Recht Gebrauch zu machen, weil er fürchten muß, deswegen sozialer Schelte ausgeliefert zu sein. Auf diese Weise erfüllt das positive Recht seine Aufgabe, die Freiheit des individuellen Gewissens vor sozialem Druck zu schützen. Dagegen ist es ein charakteristischer Zug totalitärer Methoden in der Politik, die Menschen zu nötigen, zusätzliche, über das vom Gesetz Geforderte hinausgehende Leistungen zu erbringen bzw. sie sozial so einzuschüchtern, daß sie den formell noch angebotenen Schutz des Gesetzes nicht mehr in Anspruch zu nehmen wagen. Eine damit vergleichbare Situation entsteht für die unmittelbar Beteiligten, wenn der Staat ihnen in so schwerwiegenden sittlichen Fragen wie der Tötung ungeborenen Lebens oder der Tötung auf Verlangen die Möglichkeit des Rekurses auf objektiv gesetztes Recht entzieht. Dann steht nur noch Gewissen gegen Gewissen, oder die Betroffenen sind gegenüber sittlich unbegründeten Ansinnen sogar auf sich allein gestellt und der Unterstützung durch die Allgemeinheit beraubt. Die Bestrebungen, den § 216 zu ändern, laufen auf die Forderung hinaus, daß der Gesetzgeber unter bestimmten Voraussetzungen das prinzipielle und generelle Verbot, einen Menschen zu töten, aussetzen soll und das heißt: Töten wird vom Gesetz erlaubt. Dabei ist zwar ausschließlich an diejenigen Ausnahmefälle gedacht, in denen ein dem Tod geweihter, schweres Leiden erduldender Patient darum bittet, ihn vorzeitig zu erlösen und der Arzt sich aus Mitleid von seinem Gewissen gedrängt fühlt, dieser Bitte zu entsprechen. Da es aber nicht möglich ist, für eine Reihe individueller Ausnahmesituationen eine Norm aufzustellen, müssen diejenigen Fälle, die bisher Ausnahmen von der allgemeinen Regel waren, als eine eigene Klasse allgemein definiert und unter einer Sonderregel zusammengefaßt werden. So wird, was bisher Ausnahme war, im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Regel. In der neu gebildeten Klasse von Fällen kann jetzt davon ausgegangen werden, daß das Töten erlaubt ist; mithin findet der Arzt, der dem Tötungsverlangen nicht entsprechen will, für diese seine Gewissensentscheidung im positiven Recht nicht nur keine Stütze mehr, sondern er sieht sich jetzt sogar gezwungen, zu begründen, warum er von der vom positiven Recht gebotenen Möglichkeit keinen Gebrauch macht. Er befindet sich also von vorneherein in einer grundlegend veränderten moralischen Situation. Wenn die Tötung auf Verlangen eine vom Gesetzgeber eingeräumte Möglichkeit ist, dann unterliegt sie in jedem einzelnen Fall einer Basisver-
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antwortung des Staates. Er kann diese Verantwortung nicht dem alleinigen Urteil einzelner Personen und dem Ermessen der Privatautonomie überlassen, sondern muß Entscheidungskriterien aufstellen und deren Beachtung kontrollieren. Sofern sich der Arzt an diese Kriterien hält, braucht er seine Tat letztlich nicht mehr mit seinem Gewissen auszumachen und zu decken, denn der Wille der Allgemeinheit steht dafür ein. Das bedeutet aber auch, daß er seine Entscheidung, einem Tötungsverlangen zu entsprechen, nicht mehr ausschließlich vor sich selbst, sondern gegenüber dem Staat verantworten muß - und zwar nicht mehr in dem Sinn, daß er eventuell eine Strafe nach dem positiven Recht auf sich nimmt, sondern so, daß er eine vom Staat zu verantwortende Maßnahme im Sinne des Staates und gemäß den Bedingungen staatlicher Verantwortlichkeit vollzieht. Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen: Über die zu treffende Entscheidung sind sich nicht mehr nur Arzt und Patient im Horizont ihres individuellen Gewissens Rechenschaft schuldig, sondern sie muß so angelegt und begründet sein, daß sie öffentlich und rechtsförmig rechenschaftsfähig ist. Es ist sittlich grundsätzlich möglich, daß der einzelne aus Gewissensgründen sich über allgemein verbindliches positives Recht hinwegsetzt oder auch aus Caritas eine sittliche Norm verletzt. Hier gibt es keine öffentliche oder allgemeine Mitverantwortung, und es bedarf deshalb auch keiner öffentlichen Kontrolle. Die Tat muß eventuell vom Staat bestraft, aber sie muß von ihm nicht mitverantwortet werden. Das ändert sich, wenn die Möglichkeit, zu töten, für bestimmte Fälle allgemein eröffnet wird. Infolgedessen kann die Entscheidung nicht mehr ausschließlich auf den besonderen Fall abstellen, der sie fordert, sondern sie muß auch Gesichtspunkt von allgemeiner öffentlicher Relevanz berücksichtigen. Im entsprechenden Ausmaß vermag sie den besonderen Bedingungen des besonderen Falles gerade nicht mehr gerecht zu werden. Das aber war die besondere Möglichkeit der Caritas, weil sie im Gegensatz zu jeder Art von Normenanwendung sich weder an vergleichbaren Fällen orientieren muß, noch die Entscheidung in anderen Fällen in irgendeiner Weise präjudiziert. Jetzt wird auch eine Umkehrung des Verhältnisses zwischen Gewissensentscheidung und allgemeiner positiver Norm möglich: während bisher das Gebot des Gewissens so eindeutig und stark sein mußte, daß demgegenüber das Gesetz des Staates nur noch zweitrangige Bedeutung besaß, wird nunmehr die gesetzliche Sondernorm (die, auch wenn sie nur eine Ausnahmeklasse von Fällen regelt, nichtsdestoweniger eine allgemeine ist) zu einem der Momente der Gewissenserwägung. Dabei kann sie im kritischen Einzelfall gerade den Ausschlag für den Tötungsentschluß geben,
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wo früher das absolute Tötungsverbot des positiven Rechts den Ausschlag gegen die Tötung bewirkt hätte. Die Tötung des Kranken auf dessen Verlangen, die ihren Sinn und ihre Rechtfertigung allenfalls aus der Caritas gewinnt und unter sittlichem Aspekt nur aus Caritas zu vollbringen war, wechselt jetzt in den Bereich der öffentlichen Leistung über und wird damit unvermeidlicherweise zum Gegenstand staatlicher Regulierung. Dadurch ist zwar der Arzt, der dem Tötungsverlangen entspricht, jetzt nicht mehr allein auf sein Gewissen verwiesen, sondern hat den Rückhalt der positiven Gesetzesnorm. Aber der eigentliche Grund für den Entschluß zur Tötung, die Caritas, hat ihre entscheidende Rolle verloren. Im Namen der Caritas wird also eine Änderung des § 216 begehrt, die, wenn sie erfolgt, das Motiv der Caritas entbehrlich werden läßt. Und das darf unter rechtsstaatlichem Blickwinkel nicht einmal anders sein. Denn sofern das Gesetz in bestimmten Fällen erlaubt, einen Menschen zu töten, fällt dies unter öffentliche Verantwortung; deren Richtschnur aber kann nicht die Liebe sein, sondern nur das geltende positive Recht. So wird eine Tat, die selbst dann, wenn sie gegen staatliches Recht und allgemeine sittliche Überzeugung verstößt, dennoch ihre Rechtfertigung in der Barmherzigkeit finden könnte, zu einem vom Staat geregelten Vollzug. Die maßgeblichen Gründe, die dafür vorgebracht werden, einen todgeweihten Kranken auf sein Verlangen hin zu töten, sind sein Leiden und das Mitleid mit ihm. Beide Kriterien liegen außerhalb jeder irgend denkbaren staatlichen Kompetenz und sind nicht objektiv meßbar; mithin können sie auch nicht Grundlage öffentlich und rechtlich rechenschaftsfähiger Entscheidungen sein. Das bedeutet, daß bei einer Tötung auf Verlangen, sobald sie nach gesetzlichem Recht zugelassen ist, sich die Motive, welche die Initiative eigentlich auslösen und die Tat bestimmen, für die Begründung der Entscheidung nicht mehr eignen und daß sie dafür nicht mehr ausreichen. Sie können nur noch den Anlaß geben, ein Prüfverfahren einzuleiten, ob eine Tötung vorgenommen werden darf. Dieses Verfahren selbst kann nicht mehr im Horizont von Leiden, Mitleid und Caritas bleiben, sondern braucht Kriterien, die rechtlich faßbar und gerichtlich nachprüfbar sind. Das gilt, einerlei ob die Prüfung von einer staatlich ermächtigten Instanz (amtsärztliches Gutachten oder staatlich beauftragte Kommission) oder vom behandelnden Arzt selbst im Hinblick auf die staatliche Kontrolle seiner Entscheidung vorgenommen wird. Die Frage, wieviel Leid einem Menschen zuzumuten ist, wird durch eine Änderung des §216 in ein Junktim mit der Frage gebracht, wann es von Staats wegen erlaubt sein kann, einen Menschen zu töten - und diese Frage kann nur rechtsförmig und in einer öffentlich rechenschaftsfähigen Weise entschie-
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den werden. So muß sich die Frage ,, welches Leiden rechtfertigt das Töten auf Verlangen?" unwillkürlich umwandeln in die Frage ,,wann darf der Staat erlauben, zu töten?" Dann aber kann anstelle des subjektiven Leidens des Kranken nur noch sein objektiver physischer Zustand den Ausschlag geben. So erfolgt eine Auswechslung der Motive und Kriterien, und dem Staat werden Entscheidungen zugeschoben, die er weder treffen kann, noch darf, noch will und die auch gar nicht mehr diejenige Seite des Sachverhaltes betreffen, um die es eigentlich geht. Es entscheidet nicht mehr ein bestimmter Mensch, ob er aus Liebe einem anderen etwas schuldet, was an sich ungeheuerlich ist, sondern der Staat setzt nach sachlichen Gesichtspunkten fest, unter welchen Voraussetzungen man einem Menschen den Tod gewähren sollte. Es ist fraglich, ob sich hier noch eine klare Abgrenzung finden läßt gegen einen Befund von Staats wegen, wann ein Menschenleben nicht mehr „lebenswert" ist, zumal der Begriff des ,, lebensunwerten Lebens" einen fatalen Doppelsinn hat. Denn er kann einmal bedeuten, daß das Leben für den Betroffenen nicht mehr lebenswert ist (was im Falle zugelassener Euthanasie zu entscheiden wäre), zum anderen aber, daß er es nicht mehr wert ist, zu leben (was das Kriterium der nationalsozialistischen Vernichtung lebensunwerten Lebens gewesen ist). Wenn die Tötung eines todgeweihten, schwer leidenden Kranken unter bestimmten Voraussetzungen vom Gesetz zugelassen wird, dann wird erstens der Grenzfall einer Norm selbst zu einer Norm gemacht und ist zweitens die Voraussetzung geschaffen, weitere Ausnahmen von dem prinzipiellen und generellen Verbot, einen Menschen zu töten, zuzulassen. Der Grenzfall einer Norm liegt dann vor, wenn unter bestimmten Umständen ernste Zweifel entstehen, ob die Anwendung dieser Norm noch deren Sinn entspricht oder ihm etwa zuwiderläuft. Ein solcher Fall wäre z.B. gegeben, wenn man das Tötungsverbot damit begründet, daß der Mensch den Menschen nicht zum verfügbaren Objekt machen darf, das Ausmaß eines lebenserhaltenden und medizinisch-technischen Aufwandes den Patienten aber gerade zum Objekt werden läßt. Vielleicht könnte es einmal nötig werden, daß die Medizin bestimmt und der Gesetzgeber dementsprechend rechtlich fixiert, an welcher Grenze die Substitution des physischen Organismus durch technische Apparate die Unverfügbarkeit der menschlichen Person verletzt. Auf dieser Basis könnte eine klare Regelung derjenigen Euthanasie-Probleme vorgenommen werden, die durch den Fortschritt der medizinischen Technik entstanden sind. Sofern man das Tötungsverbot mit dem allgemeinen Gebot der Humanität begründet, könnte auch ,,unmenschliches" Leiden als Grenzfall des Tötungsverbots gelten.
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Auf den ersten Blick scheint es ein plausibles Ziel zu sein, die Norm nach Maßgabe des Grenzfalles zu korrigieren. Man kann sie zu diesem Zweck so fassen, daß der Grenzfall entweder eindeutig darunter fällt oder klar außerhalb ihres Geltungsbereiches liegt. Ferner kann man den Grenzfall als eine eigene Klasse definieren und dafür eine entsprechende Sondernorm schaffen. Beide Möglichkeiten sind jedoch illusorisch, weil durch die Korrekturen zwar die Grenzfälle, die dafür den Anlaß gaben, normativ bewältigt sind, statt dessen aber am Rande der neubestimmten Normen neue Grenzfälle entstehen. Es gehört zum Wesen der Norm, daß sie Grenzfälle hat, da sie selbst auf der Abgrenzung einer Klasse von Fällen gegen eine andere Klasse beruht und im Wege der Verallgemeinerung von Fällen unter Außerachtlassung von deren besonderen Umständen gebildet wird. Somit steht jede Norm, weil sie auf Abgrenzung beruht, in einer gewissen Antinomie zum Kontinuum der Wirklichkeit. Eine Folge davon ist, daß zwischen denjenigen Fällen, die unter eine Norm gehören, und denjenigen, die von ihr ausgeschlossen sind, keine eindeutige Grenzlinie besteht, sondern sich ein Grenzbereich erstreckt, innerhalb dessen die einzelnen Fälle in mancher Beziehung der Norm zuzurechnen sind und in anderer Beziehung nicht. Der Mensch vermag also den Grenzfällen der Normen nicht zu entgehen; er ist nicht in der Lage, eine Ordnung zu schaffen, mit der er alle Lebenslagen normativ eindeutig bewältigt. Mit Recht wird deshalb gesagt, daß in denjenigen Fällen, in denen es eine tragbare normative Entscheidung nicht mehr gibt, die Caritas die Entscheidung treffen kann. Sie vermag auch den normativ unlösbaren Fall zu bewältigen, aber sie kann mit ihrer Entscheidung nicht die Normen selbst verändern. Das gilt insbesondere für die Normen des positiven Rechts, denn dieses vermag die Durchbrechung seiner Normen aus überpositiven Gründen weder zu sanktionieren noch zu regeln. Würde man also das Gesetz so ändern, daß der Grenzfall der Tötung eines todgeweihten, schwer leidenden Kranken von Strafe ausgenommen würde, oder würde man den § 216 durch eine entsprechende Sondernorm ergänzen, so würde der die Änderung veranlassende, gedachte Grenzfall zu einem Normalfall werden. Die entsprechenden konkreten einzelnen Fälle wären dann normativ eindeutig zu bewältigen. Am Rande dieser Neuregelung jedoch würden neue Grenzfälle entstehen und diese würden der Natur der Sache nach unter gewissen Voraussetzungen eine Tötung als möglich erscheinen lassen, wo sie aus der Sicht der derzeitig bestehenden Grenzfälle noch klar ausgeschlossen ist. Wenn für eine bestimmte Art von Grenzfall die Durchbrechung, NichtErfüllung oder Suspendierung einer positiven Norm sanktioniert, also eine Ausnahme ausdrücklich zugelassen wird, dann tritt, wenn ein solcher Fall in der Wirklichkeit vorkommt, neben die ursprüngliche Rechtsfrage,
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ob die Norm verletzt wurde, eine weitere Rechtsfrage, nämlich die rechtliche Würdigung der für die Ausnahme angeführten Begründung. Auf diese zweite Rechtsfrage verlagert sich unvermeidlicherweise der Schwerpunkt der Entscheidung. Es geht nicht mehr darum, ob die an sich allgemein geltende positive Norm überhaupt verletzt wurde, sondern in erster Linie darum, ob die dafür vorgebrachten Gründe unter rechtlichen Gesichtspunkten anerkannt werden können oder nicht. Nicht der Verletzung der Norm, sondern den dafilr angefiihrten Gründen gilt jetzt die rechtliche Würdigung. Das hat u.a. folgende Konsequenz: Wenn zu der aus dem Grund A einmal durchbrochenen Norm die weiteren Ausnahmen B und C gefordert werden, dann steht im Mittelpunkt der Entscheidung nicht mehr die Frage, ob das ursprüngliche Rechtsgebot überhaupt ausgesetzt werden darf, sondern es geht jetzt darum, ob die Gründe für B und C den Gründen für A gleichzustellen sind oder nicht. Das heißt, an die Stelle der rigoros zu entscheidenden Frage, ob für eine Norm eine Ausnahme überhaupt zugelassen werden darf, tritt eine Abwägung zwischen verschiedenen Ausnahmebegehren, die nicht rigoros vorzunehmen, sondern nach dem Grundsatz der Billigkeit zu entscheiden ist. Die neu begehrten Ausnahmen werden nicht mehr nur an der Norm gemessen, die ausgesetzt werden soll und bereits durchbrochen wurde, sondern ebenso an der bereits zugelassenen Ausnahme. Dabei wird man eine erneute Aussetzung der Norm (durch die ja kein Recht durchbrochen würde, was nicht sowieso schon durchbrochen wäre) eher hinnehmen können als eine Ungerechtigkeit. Die läge darin, daß man die für die Ausnahme A vorgebrachten guten Gründe gelten läßt, während man die für die Ausnahme B vorgebrachten, nicht eindeutig schwächeren Begründungen abweist. So fällt die Entscheidung de facto nicht mehr zwischen Regel und Ausnahme, sondern betrifft das Verhältnis zweier Ausnahmen untereinander. Auf die Dauer entstünden Ungerechtigkeiten und Härten, wenn z. B. die Tötung eines schwer leidenden Todkranken zugelassen würde, die eines körperlich extrem behinderten oder geistig extrem deformierten Menschen aber verboten bliebe, auch wenn er um seinen Tod bäte. Während es diesem Menschen aus sittlichen Gründen noch zuzumuten gewesen wäre, daß das Verbot, einen Menschen zu töten, ohne jede Ausnahme ein prinzipielles und generelles bleiben muß, so ist ihm sicher nicht mehr zuzumuten, daß der Staat nicht auch seinem subjektiven Leiden die Ausnahme zubilligt, die er dem subjektiven Leiden des todgeweihten Kranken einräumt.
X.
Sozialstaat und Freiheit
Auf das Stichwort „Sozialstaat" reagieren in unserem Lande viele Leute mit Skepsis, manche sogar mit Abneigung und Abwehr. Man verbindet mit dem Begriff leicht die Vorstellung eines Wohlfahrts- und Versorgungsstaates, der die Initiative und Verantwortungsbereitschaft der Bürger lähmt; man denkt an bürokratische Verplanung der freien persönlichen Lebensgestaltung und an allgemeine Gleichmacherei. Nicht wenige sehen im Sozialstaat eine Vorstufe des Sozialismus, und zwar nicht von der feinen Art, wie sie der „Demokratische Sozialismus" zu verwirklichen hofft, sondern von der unangenehmen, wie sie etwa in der D D R praktiziert wird. Gewiß, das Sozialstaatsprinzip ist im Grundgesetz ausdrücklich verankert; dennoch hält sich der Eindruck, daß es etwas unverbunden neben den Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaates stehe oder gar in Konkurrenz und einem gewissen Widerspruch dazu. Der Sozialstaat wäre demnach heutzutage zwar nicht vermeidbar, aber man sollte davon nicht mehr praktizieren, als unbedingt nötig, und sollte vor den damit verbundenen Gefahren immer auf der Hut sein. Derartige Skepsis und solcher Argwohn sind allerdings verständlich, wenn man auf das hört, was im politischen ganz linken Lager über das Sozialstaatsprinzip alles behauptet und unter Berufung darauf gefordert wird. Da heißt es z. B., die Demokratie sei erst dann verwirklicht, wenn das Sozialstaatsprinzip radikal in allen denkbaren Konsequenzen durchgeführt sei. Darunter versteht man die fundamentale Änderung der gesamten Gesellschaftsordnung und ihrer wirtschaftlichen Grundlagen, was wiederum durch die Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes angeblich gefordert oder zumindest gedeckt werde, also durch den Grundsatz der sog. Sozialpflichtigkeit des Eigentums und eine Sozialisierung der Wirtschaft. Um dergleichen zu behaupten, darf man allerdings nicht zu genau hinsehen, was wirklich im Grundgesetz steht. Typisch für diese extremistische Auslegung des Sozialstaatsprinzips ist eine Bemerkung, die der Marburger Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth einmal gemacht hat: Die Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes seien die Einfallstore des demokratischen Staates zur Umformung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ohne verfassungsändernde Gesetze. Abgesehen von ihrem tendenziösen Inhalt ist auch die Methode einer solchen Verfassungsinterpretation abwegig. Hier wird nämlich aus der
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Gesamtheit der Verfassungsprinzipien ein einziges herausgegriffen, dann wird festgestellt, was es seinem Sinn nach äußerstenfalls an Konsequenzen und Forderungen hergibt, und schließlich wird dieses so verabsolutierte Prinzip zum alleinigen Kriterium für die Interpretation der gesamten Verfassung erklärt einschließlich der Grundsätze des Rechtsstaats und der Demokratie. Das gleiche könnten andere etwa mit dem Bundesstaatsprinzip tun und die gesamte Verfassungsordnung ausschließlich nach föderalen Gesichtspunkten ausgestalten. Solche Interpretationsweisen entsprechen nicht dem Konzept unserer Verfassung. Dieses beruht vielmehr darauf, daß die vier unveränderbaren Prinzipien des Artikels 20: Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, Bundesstaat in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung und Ergänzung stehen. Keines dieser vier ist dem anderen über- oder untergeordnet, sie unterstehen alle gleichrangig dem Grundsatz der Menschenwürde, der letztlich das tragende und maßgebende Fundament des Verfassungsstaates ist. Der Grundsatz der Menschenwürde stellt dem Verfassungsstaat die Aufgabe, gemeinsame Freiheit möglich zu machen; und was die vier Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, der Demokratie und des Bundesstaates bedeuten, bzw. wie sie sich zueinander verhalten, bemißt sich nach dieser Aufgabe, der sie gemeinsam zu dienen haben. „Gemeinsame Freiheit" - das heißt, daß jeder Mensch frei sein will und einen Anspruch auf Freiheit hat. Diese gemeinsame Freiheit kann nur verwirklicht werden durch eine gemeinsame freiheitliche Ordnung. Wo also Demokratie, wo Rechtsstaat und Sozialstaat jeweils ihre Grenzen finden, das bestimmt sich nicht von einem dieser Prinzipien, sondern es bestimmt sich nach dem fundamentalen Grundsatz der Menschenwürde und Freiheit. Dieses Verhältnis käme m. E. unmißverständlicher zum Ausdruck, wenn wir nicht - wie es allerdings im Text des Grundgesetzes steht - von einem „demokratischen Rechtsstaat" oder einem „sozialen Bundesstaat" sprächen (wodurch immer der Eindruck der Unterordnung des adjektivischen unter den substantivischen Begriff entsteht), sondern von einem „demokratischen Verfassungsstaat", einem „sozialen Verfassungsstaat", einem „föderalen Verfassungsstaat" und einer „rechtsstaatlichen Verfassungsordnung". Dann wäre die Gleichrangigkeit der vier Prinzipien unmißverständlich zum Ausdruck gebracht. Klargestellt wäre damit ferner, daß auch diejenigen Sozialstaatstheorien dem Konzept der Verfassung nicht entsprechen, die das Rechtsstaatsprinzip verabsolutieren und nur soviel Sozialstaat für zulässig halten, wie eine u.U. recht rigoros ausgelegte Rechtsstaatsdoktrin zuläßt. Lassen Sie mich als Ergebnis des bisher Gesagten festhalten: Was Sozialstaat ist, versteht sich also weder aus einer isolierten maximalen Interpretation des Prinzips Sozialstaat, noch danach, was eine Maxi-
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malinterpretation des Prinzips Rechtsstaat übrigläßt, sondern es bestimmt sich nach dem Gesamtprinzip der Verfassung und das heißt: Freiheit. Ich möchte mich in diesem Vortrag nicht lange mit der Kritik an falschen Vorstellungen vom Sozialstaat befassen; denn es ist ersprießlicher, positiv zu erläutern, warum das Sozialstaatsprinzip ein unentbehrlicher Bestandteil der freiheitlichen Verfassung unserer Zeit ist. Zu diesem Zweck gehe ich von dem Fundamentalbegriff Freiheit aus, bzw. von der politischen Ordnung, die gemeinsame Freiheit möglich macht. Es ist die freiheitliche Ordnung des modernen Verfassungsstaates mit ihren Freiheitsgrundrechten, die jedermann erstens die Freiheit der persönlichen Entfaltung und zweitens die Voraussetzung dafür sichert, aus freier Initiative an der Gestaltung der politischen Willensbildung teilzunehmen. Zu dieser Grundlage muß aber noch ein wesentliches Moment hinzukommen: die Bürger müssen auch über die notwendigen materiellen Voraussetzungen verfügen, um von ihren Freiheitsrechten tatsächlich Gebrauch machen zu können. Die Freiheit darf nicht nur formell garantiert sein, sondern jedermann muß wirklich ein freies Leben führen und wirklich frei an den öffentlichen Aufgaben mitwirken und sie mitgestalten können. Ich sage übrigens absichtlich „mitwirken" und nicht „mitbestimmen", denn im Mitbestimmen erschöpft sich die Mitgestaltung nicht, sondern es gehört dazu auch das Mitdenken und Mitverantworten. Dieser Hinweis darauf, daß zur Verwirklichung der Freiheit auch materielle Voraussetzungen gehören, ist keine modische Forderung unserer Zeit, sondern eine alte Selbstverständlichkeit: Die Griechen der Antike sind sogar so weit gegangen, zu meinen, daß nur der am politischen Leben teilnehmen kann, der es nicht mehr nötig hat, zu arbeiten. Die Philosophin Hannah Arendt drückt das heute etwas dezenter aus und sagt: Die politische Aufgabe der Gestaltung einer gemeinsamen Welt beginnt erst dort, wo die Notwendigkeiten der Daseinsvorsorge erfüllt sind. N u n gehört aber zu den Voraussetzungen der Freiheit auch, daß der Mensch nicht darauf angewiesen ist, daß der Staat und die Gesellschaft ihm die notwendigen materiellen Grundlagen der Freiheit zuteilen. Denn wäre das der Fall, dann könnten sie ihm diese jederzeit wieder entziehen. Wirklich frei ist der Mensch daher nur, wenn er sich die materiellen Grundlagen der Freiheit selber schafft; diese eigenständige Daseinsvorsorge ist ein aus dem Ganzen nicht herauslösbarer Bestandteil der persönlichen Lebensgestaltung und Selbstverwirklichung. Deshalb kann es eine Fürsorge des Staates auf diesem Gebiet grundsätzlich nur für diejenigen Menschen geben, die aus irgendwelchen Gründen hilfsbedürftig sind. Solche materielle Fürsorge des Staates für die Hilfsbedürftigen hat es immer schon gegeben; sie ist immer schon Gegenstand von Sozialpolitik bzw. So-
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zialgesetzgebung im traditionellen Sinne gewesen. Aber diese traditionelle Sozialpolitik, die es natürlich auch heute geben muß, kann es nicht sein, was das Sozialstaatsprinzip unserer Verfassung meint. Wäre es so, dann würde entweder eine Aufgabe, die nur einer bestimmten Gruppe von Bürgern gilt, zum allgemeinen Verfassungsprinzip erhoben, oder die Verfassung würde alle Bürger zu Bedürftigen erklären. Die Sozialstaatlichkeit als Verfassungsprinzip kann ihren eigentlichen Sinn nur aus der fundamentalen Aufgabe des Verfassungsstaates, gemeinsame Freiheit möglich zu machen, gewinnen. Damit bin ich bei der Hauptthese dieses Vortrags angelangt: Der Schritt von der Sozialpolitik als einer der vielen Aufgaben des Staates zur Sozialstaatlichkeit als einem Prinzip der freiheitlichen Verfassung ist in einer allgemeinen Veränderung der Daseinsbedingungen aller Menschen, aller Bürger in unserer Zeit begründet, nämlich in den Folgen der industriellen Revolution. Die moderne Industriegesellschaft ist ein absolut neuer Tatbestand, wie es ihn in der bisherigen Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben hat, und er hat neue Probleme auch für den Verfassungsstaat geschaffen. Man kann diese Probleme in dem Satz zusammenfassen: Die Technologie der modernen Daseinsvorsorge unterwirft das gesamte soziale Leben Sachzwängen und Abhängigkeiten, die geeignet sind, die von der politischen Verfassungsordnung möglich gemachte Freiheit wieder erheblich zu beeinträchtigen, wenn nicht u.U. sogar zunichte zu machen. Deshalb kann der Verfassungsstaat seine traditionelle Aufgabe, gemeinsame Freiheit möglich zu machen, unter den Bedingungen unserer Zeit nur erfüllen, wenn er auch Sozialstaat ist und als solcher die negativen gesamtsozialen Folgen der Technologie für die persönliche und die politische Freiheit abwehrt und kompensiert. In dieser Beziehung ist jeder Bürger, sind wir alle hilfsbedürftig, aber nicht aus subjektiven, sondern aus objektiven Gründen. Es geht hier in erster Linie nicht darum, einzelnen Menschen zu helfen, die aus irgendwelchen persönlichen Gründen der Hilfe bedürfen, sondern den veränderten Bedingungen der Freiheit aller Bürger Rechnung zu tragen und dafür zu sorgen, daß die Freiheit auch unter den von der technologischen Daseinsvorsorge hervorgerufenen Verhältnissen das maßgebende Prinzip des öffentlichen Lebens bleibt. Die eigentliche Aufgabe des Sozialstaates ist also eine allgemeine, auf die Verwirklichung der gemeinsamen Freiheit bezogene: er muß dafür sorgen, daß das Gesetz der Technologie u n d der organisatorischen Effizienz im öffentlichen Leben nicht das Gesetz der Freiheit verdrängt, daß die technische Organisation der Daseinsvorsorge die politische Ordnung des freien Lebens nicht überwuchert. Bitte mißverstehen Sie mich nicht, als wollte ich die Errungenschaften des technischen
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Fortschritts verteufeln ; es geht darum, sie dem Freiheitssinn des menschlichen Lebens zugute kommen zu lassen. Das ist der Sinn der Sozialstaatlichkeit als Verfassungsprinzip. Daß es bei den Folgen der technologischen Revolution nicht um ein Randproblem, sondern um eine wesentliche Veränderung der menschlichen Daseinsbedingungen geht, hat Theodor W. Adorno aus seiner Sicht einmal in folgenden Gedanken gefaßt: Wenn es den Sinn unseres Lebens ausmacht (ich würde sagen : wenn es eines der Momente ist, die den Sinn unseres Lebens ausmachen), daß der Mensch sich aus den Zwängen der Natur befreit und sie statt dessen seinen Zwecken unterwirft bzw. seiner Freiheit dienstbar macht, dann hat die Menschheit mit der Entwicklung der modernen Technik einen entscheidenden Fortschritt erzielt. Es zeigt sich nun aber, daß diese Befreiung von den Zwängen der Natur einen gesamtgesellschaftlich = organisatorischen Aufwand erfordert, der ein neues, diesmal selbst gefertigtes Zwangssystem entstehen ließ. Für den einzelnen hat die moderne Technologie und Organisation der Daseinsvorsorge zur Folge, daß er wirklich bis in den innersten Bezirk seines persönlichen Lebens und seiner privaten Daseinsgestaltung abhängig geworden und dem Einfluß komplizierter Produktionsmechanismen und komplexer Organisationszusammenhänge unterworfen ist, die er seinerseits kaum beeinflussen, ja die er nicht einmal mehr durchschauen kann. Gegenüber dieser Macht der nach technologischen Erfordernissen organisierten Gesamtgesellschaft nützt ihm auch die politische Freiheit wenig, die der Verfassungsstaat ihm garantiert. Hilfe, Schutz und Sicherheit findet er vielmehr nur, wenn die in staatlicher Kompetenz zusammengefaßte Macht der Gesellschaft auch aktiv gestaltend dafür sorgt, daß die lebensnotwendige technologische Organisation jedermann zugute kommt, ohne den Freiheitsraum seiner persönlichen Lebensgestaltung zu beeinträchtigen. Lassen Sie mich das noch etwas erläutern: Zu den Freiheitsgrundrechten, die die Tradition der neuzeitlichen europäischen Staatstheorie formuliert hat, gehört das Recht auf individuelles Streben nach Glück; der Begriff stammt aus dem Werk von John Locke und steht in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika. Dieses Recht auf Streben nach Glück ist das Recht zum Wagnis zwischen Chance und Risiko und setzt voraus, daß der einzelne aus eigener Kraft Entscheidendes für die materielle und ideelle Gestaltung seiner Lebensverhältnisse tun kann. Dieses Grundrecht auf individuelles Streben nach Glück gilt heute wie eh und je; jedoch haben sich die Bedingungen, unter denen es genutzt und verwirklicht werden kann, im Zeitalter der technologisch organisierten kollektiven Daseinsvorsorge erheblich verändert. Denn was sich der ein-
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zelne an Glücksgütern des Lebens erwerben kann, wie er seine Lebensmöglichkeiten verwirklicht, das hängt eben zu einem wesentlichen Teil nicht mehr von seiner Bereitschaft ab, zu arbeiten, sein Leben sinnvoll zu gestalten, das Risiko zu wagen und für Notlagen vorzusorgen; sondern es hängt ab von komplexen gesellschaftlichen und technischen Verhältnissen, die stärker sind als jedes individuelle Wollen und jede individuelle Energie. Hier wird der Freiheitssinn des Sozialstaatsprinzips ganz deutlich: Die Aufgabe des Staates ist es nicht, dem einzelnen die erstrebten Glücksgüter frei Haus zu liefern; aus dem Recht auf freies Streben nach Glück ist nicht ein von der Öffentlichkeit zu erfüllendes Anrecht auf Glück geworden. Wohl aber hat der Staat um der Freiheit willen die Pflicht, die allgemeine objektive Daseinsvorsorge so zu gestalten und die dafür erforderliche technologische Organisation so in die Disziplin der Freiheit zu nehmen, daß dem individuellen Streben nach Glück die notwendigen objektiven Chancen auf Erfolg gegenüberstehen. Das heißt, der freiheitliche Verfassungsstaat hat als Sozialstaat nicht die Aufgabe, dem einzelnen die Initiative abzunehmen und das Risiko zu ersparen; aber er muß im Interesse der persönlichen Freiheit des einzelnen wie auch der gemeinsamen politischen Freiheit aller die allgemeinen und objektiven Lebensbedingungen schaffen und garantieren, die hergestellt werden müssen, damit individuelle Initiative und Risikobereitschaft sinnvoll bleiben, weil sie Erfolg haben können. In diesem Zusammenhang muß man auch den viel strapazierten und mißbrauchten Begriff der Chancengleichheit sehen, wenn man seinen richtigen Sinn erfassen will. Was Chancengleichheit eigentlich bedeutet, wird nur verständlich, wenn das objektive Moment zur Geltung kommt, das in dem Begriff „Chance" steckt. „Chance" ist ursprünglich der Glückswurf beim Würfelspiel; Chance ist also etwas, was sich ganz dem Einfluß des Würfelnden oder sonst eines Menschen entzieht. Niemand kann Chancen gleich machen, sondern man kann nur gleichen Zugang zu den Chancen schaffen. Es handelt sich also bei der Chancengleichheit um einen Freiheitsbegriff: jeder muß das Recht haben, seine Chancen wahrzunehmen und sein Glück zu versuchen, ohne durch ständische oder sonstige von Menschen gesetzte Schranken behindert zu sein. Unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft heißt das entsprechend, daß die objektiven sozialen Verhältnisse so gestaltet sein müssen, daß individuelle Initiative und persönliches Wagnis sinnvoll bleiben. Die gleichen Startbedingungen dürfen nicht so gestaltet sein, daß sie Initiative und Wagnis überflüssig machen, sondern so, daß Initiative und Wagnis trotz des neuen Zwangssystems, das die technologisch organisierte kollektive Daseinsvorsorge mit sich bringt, sinnvoll bleiben. Das Moment
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des Wagnisses muß erhalten bleiben, wenn im Begriff der Chancengleichheit das Wort „Chance" noch etwas von seinem Sinn behalten soll. Der Sozialstaat ist dazu da, Freiheit zu ermöglichen, nicht sie überflüssig zu machen. Wenn wir praktische Beispiele für sozialstaatliche Tätigkeit suchen, so fallen uns zwei Gruppen als besonders charakteristisch auf: Erstens trifft der Staat technische Maßnahmen, um die Folgen der Technologie der Daseinsvorsorge zu bewältigen; denken Sie etwa an Umweltschutz, Lärmbekämpfung, Überwachung technischer Apparate, Schutz und Aufklärung des Konsumenten gegenüber technisch komplizierten Industrieprodukten, Sicherstellung der technischen Grundlagen der Daseinsvorsorge (Strom, Wasser, Verkehr) etc. Zweitens erbringt der Staat Leistungen in jenem Bereich, der primär und eigentlich der persönlichen Vorsorge- und Fürsorgekompetenz des einzelnen unterliegt (Jugendhilfe, Altenhilfe, Familienfürsorge, Unfallverhütung, Bildung und Ausbildungsförderung). In beiden Fällen erfolgen die Maßnahmen, wie sich das für einen anständigen Staat gehört, in rechtlich geordneter Praxis, sie gehen jedoch eindeutig über die spezifische Weise staatlicher Tätigkeit hinaus. Denn das spezifische Moment staatlichen Handelns ist das Ordnen und Gestalten des öffentlichen Lebens und der sozialen Verhältnisse durch politische Entscheidungen und mit den Mitteln der Rechtssetzung. Nun gibt es zwar in dem von uns festgestellten Sinn viele sozialstaatliche Aufgaben, die der Staat mit seinen spezifischen Mitteln der Politik und Gesetzgebung erfüllen kann (wobei wir unter Staat niemals nur den Regierungsapparat, sondern immer auch den Bereich der verfassungsmäßig geordneten demokratisch = parlamentarischen Willensbildung verstehen): Denken Sie z.B. an den Umweltschutz, den Verkehr, die Sicherstellung der Rohstoffbasis etc. Aber es zeigt sich, daß es darüber hinaus zahlreiche andere Aufgaben gibt, die der Staat nur mit für ihn unspezifischen Mitteln lösen kann, eben die rein technischen Dienstleistungen und das Eingreifen in den Bereich der persönlichen Vorsorgeund Fürsorgekompetenz. Die Probleme, die sich daraus ergeben, können im Rahmen dieses Vortrages nicht erörtert werden und würden auch, weil sie vorwiegend juristischer Art sind, meine Kompetenz überschreiten. Ich möchte aber in diesem Zusammenhang einen Vorschlag zur Klärung der Begriffe „Sozialstaatlichkeit" und „Sozialpflichtigkeit des Staates" machen. Der Begriff „Sozialstaatlichkeit" umfaßt m. E. das ganze Feld der Aufgaben, die dem Verfassungsstaat aus den Folgen der technologisch organisierten Daseinsvorsorge erwachsen, mit welchen Mitteln er sie auch immer in Angriff nimmt und löst. Den Begriff „Sozialpflichtigkeit" dagegen sollte man auf die Aufgaben beschränken, für deren Lösung der Staat
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Mittel anwenden muß, die für ihn unspezifisch, für die neuen Bedingungen des modernen Lebens aber gerade spezifisch sind. Denn im ganz allgemeinen Sinn des Wortes wäre der Staat auch politisch entscheidend und gesetzgebend sozialpflichtig. Soll dieser Begriff das Besondere seiner Pflichten ausdrücken, so muß er auf das besonders Neue der dafür notwendigen Mittel beschränkt werden. Charakteristisch für die Bewältigung sozialstaatlicher Aufgaben mit technischen Mitteln ist der gesamte Bereich der Planung. Planung beruht zwar auf politischer Entscheidung und wird mittels gesetzlicher Bestimmungen verwirklicht, aber ihr wesentliches Moment ist technologischer Natur. Planung hat daher von sich aus kein Verhältnis zur Freiheit, sondern folgt dem Prinzip der Effizienz. Aufgabe des Sozialstaates ist es daher, die Planung zusätzlich am Prinzip der Freiheit zu orientieren. Dazu kann es u. U. auch notwendig werden, vom Effizienzprinzip Abstriche zu machen. Nur die staatliche Planung kann einen Anspruch auf die Bezeichnung „sozialstaatlich" erheben, die die Macht der Technologie nicht steigert, sondern sie bändigt, die den Freiheitsraum nicht beschränkt, sondern ihn erweitert. Alle Planung, die zur Bevormundung der Bürger führt und mit den Freiheitsrechten in Konflikt kommt, steht zum Sozialstaatsprinzip im Widerspruch, auch wenn das Adjektiv „sozial" dafür verwendet wird. Planung ist dann sozialstaatlich und mithin freiheitlich, wenn sie in der gleichen Weise wirkt in der der Verfassungsstaat die persönliche und gemeinsame Freiheit ermöglicht. Dieser produziert nicht Freiheit und liefert diese als Fertigprodukt beim Bürger ab, sondern er schafft durch die Verfassungsordnung die objektiven Voraussetzungen zur Freiheit. Er ermöglicht es, frei zu sein, überläßt es aber jedem, ob und wie er die Möglichkeiten der Freiheit nutzt. Ebenso ermöglicht es der Sozialstaat mit seinen besonderen Mitteln, nicht zuletzt mit denen der Planung, den Bürgern frei zu sein; er muß es aber diesen selbst überlassen, ob sie die Freiheit ergreifen. Auch Planung kann nicht Freiheit produzieren; sie kann nur die Möglichkeiten von Freiheit erweitern und muß kontrolliert werden, damit sie nicht Unfreiheit produziert. Wenn wir feststellen, daß das individuelle Glücksstreben unter den Bedingungen der modernen Welt darauf angewiesen ist, daß der Staat ihm durch Maßnahmen der allgemeinen Daseinsvorsorge objektive Erfolgschancen schafft, so bedarf das eines ergänzenden Hinweises auf die Grenzen der sozialstaatlichen Hilfe in diesem Bereich. Ich denke dabei weniger an die finanziellen Grenzen, als vielmehr an die, welche im Wesen des Glückes selbst liegen. Man pflegt zu sagen, der Sozialstaat habe die Aufgabe, ein menschenwürdiges Dasein für alle zu schaffen. Diesen Begriff
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„menschenwürdiges Dasein" halte ich in diesem Zusammenhang für sehr problematisch. Denn entweder verstehen wir den Begriff Menschenwürde in seinem vollen Sinn, dann enthält er eine ganze Reihe von Momenten, die der Staat dem einzelnen nicht nur nicht unmittelbar verschaffen, sondern bei denen er auch indirekt nichts dazu beitragen kann, daß der einzelne sie gewinnt. Oder aber wir beschränken „Menschenwürde" auf die Werte, zu deren Erfüllung der Staat etwas tun kann, dann liefe das auf eine Verkürzung des Begriffs auf seine äußerliche Seite hinaus. Denn was Staat und Politik hier leisten können, beschränkt sich auf die materiellen Güter und äußeren Voraussetzungen unseres Daseins. Dagegen kann jedermann die geistige und sittliche „Qualität" seines Lebens nur aus der persönlichen Anstrengung seines Gewissens und seiner Vernunft gewinnen. Gerade weil Gerechtigkeit und Gleichheit zentrale Forderungen der Politik bzw. an den Staat sind, gerade weil die politische Ordnung eine unentbehrliche Voraussetzung dafür ist, Gerechtigkeit und Gleichheit zu verwirklichen, darf nicht in Vergessenheit geraten, daß diese beiden Werte in ihrem menschenmöglichen Maß nicht erfüllt werden können ohne die persönliche Gewissensleistung eines jeden von uns in diesem unseren Bereich des Zusammenlebens, der allen staatlichen und kollektiv-sozialen Einflußnahmen verschlossen ist und um der Freiheit der Person willen auch verschlossen bleiben muß. Auch die Menschenwürde, der Angelpunkt unserer freiheitlichen Verfassung, ist in erster Linie ein geistig-sittlicher Tatbestand und das heißt, daß sie auch durch äußere widrige Umstände nicht nur nicht zerstört werden kann, sondern gerade im Unglück ihre Bewährung, ihre Entfaltung und ihre Verwirklichung findet. Die Art und Weise, wie es heute üblich ist, den Sozialstaat mit den Erfordernissen der Menschenwürde zu begründen, erweckt oft den Eindruck, als sei die schlichte Tatsache in Vergessenheit geraten, daß wir Menschen oft gerade in der Not, in der Krankheit, in der Verfolgung und auch in der Unfreiheit unsere Würde bewahren und unsere sittliche Substanz entfalten können. Es ist durchaus möglich, gerade unter menschenunwürdigen Umständen sich durch ein menschenwürdiges Dasein zu bewähren. Es ist deshalb eine die Menschenwürde kränkende Entstellung des Bildes vom Menschen, wenn man diese Dimension, auf die es letztlich ankommt, aus dem Bewußtsein verliert und so den Begriff „menschenwürdiges Dasein" zu einem Synonym für „Lebensstandard" werden läßt. Selbstverständlich darf sich der Staat nicht unter Hinweis auf den geistig-sittlichen Kern der Menschenwürde von den Pflichten entbunden fühlen, als Sozialstaat das Seine dazu beizutragen, daß alle Menschen in menschenwürdigen Verhältnissen leben. Doch meine ich, daß wir die Aufgabe des Sozialstaates präziser und sachlicher umreißen, wenn wir von ihm nicht ein
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„menschenwürdiges Dasein" verlangen, sondern menschenwürdige Lebensverhältnisse. Lassen Sie mich zum Schluß eine Frage nochmals aufgreifen, die ich schon eingangs angeschnitten habe: die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Dieser Begriff spielt in der gegenwärtigen Sozialstaatsdiskussion eine große Rolle. Vor allem diejenigen Mitbürger, die die Meinung vertreten, das Grundgesetz ziele mit dem Sozialstaatsprinzip darauf, den Sozialismus in irgendeiner seiner Formen einzuführen, argumentieren gern mit der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, fast als handle es sich um eine Verfassungspflicht des Eigentums, sich sozialisieren zu lassen. Doch haben wir gesehen, daß Sozialstaatlichkeit mit Sozialismus nichts zu tun hat. Darüber hinaus muß festgestellt werden, daß auch Artikel 14 des Grundgesetzes keineswegs in Richtung „Sozialismus" weist, vielmehr in den Zusammenhang des Themas „Freiheit" gehört. Ehe ich das erläutere, muß zunächst daran erinnert werden, daß es im Kern des Artikels 14 nicht um die Sozialpflichtigkeit, sondern um die verfassungspolitische bzw. verfassungsrechtliche Garantie des Eigentums geht. Der entscheidende Satz lautet: „ D a s Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet." In Absatz 2 des Artikels heißt es dann: „Eigentum verpflichtet", näher bestimmt durch die Forderung: „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Diese Forderung ist nicht von verfassungsrechtlicher, sondern von sittlich-politischer Qualität. Das mindert nicht ihre Bedeutung, jedoch ist ganz klar, daß es sich hier nicht um ein Gebot zur Ausgestaltung der Rechtsordnung handelt, sondern um die Deklaration einer sittlichen Verpflichtung der Eigentümer. Und zwar handelt es sich um eine allgemeine Verpflichtung, die mit dem Gebrauch jeden Freiheitsrechtes verknüpft ist, in bezug auf die Nutzung des Freiheitsrechts auf Eigentum aber von der Verfassung ausdrücklich erwähnt wird. Die Sozialpflichtigkeit der Freiheitsrechte ergibt sich aus der fundamentalen Tatsache, daß alle Menschen den Willen haben, frei zu sein, und daß der einzelne sein Recht sich frei zu entfalten, nur im Zusammenleben mit anderen, die ebenfalls frei sind, verwirklichen kann. Freiheit ist also nur als gemeinsame Freiheit zu realisieren. Daher gibt es eine Solidarität der Freiheit, aus der die Sozialpflichtigkeit des Gebrauchs der Freiheit folgt. Konkret bedeutet das, daß die Freiheit des anderen nicht nur, wie die bekannte Maxime lautet, die Grenze für die eigene Freiheitsbetätigung bildet, sondern daß wir unsere Freiheitsrechte in dem Bewußtsein wahrnehmen müssen, daß die Freiheit des anderen die Bedingung unserer eigenen Freiheit ist. In diesem Sinne also sind alle Freiheitsrechte sozialpflichtig, auch zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 G G ) : Wer seine in-
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tellektuelle Überlegenheit rücksichtslos ausnutzt und sich über die Bedürfnisse der intellektuell Schwächeren hinwegsetzt, verhält sich nicht weniger unsozial und verletzt nicht weniger das Gebot der Solidarität als derjenige, der seine wirtschaftliche Überlegenheit rücksichtslos ausnutzt und sich über die Interessen der wirtschaftlich Schwächeren hinwegsetzt. Welche brisanten praktischen Fragen und Probleme sich aus der generellen Sozialpflichtigkeit der Freiheit ergeben, wird klar, wenn ich daran erinnere, daß das natürlich auch für die Rechte aus Artikel 9 GG, also für Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit gilt. Man denke nur daran - in Anbetracht der Abhängigkeit unseres Lebens von der Technik - welche Macht und damit auch welche Möglichkeit, die Freiheit anderer einzuschränken, Personen haben, die über für die Allgemeinheit lebenswichtige Spezialkenntnisse verfügen. Es wäre mit dem Grundsatz der Solidarität der Freiheit und der entsprechenden Sozialpflichtigkeit des Freiheitsgebrauchs sicher nicht zu vereinbaren, wenn kleine Berufsgruppen solcher Spezialisten ihre Koalitionsfreiheit dazu benutzten, auf Kosten der von ihren Kenntnissen abhängigen Allgemeinheit rücksichtslos eigene Vorteile zu erzwingen. Diese Beispiele aus den Artikeln 5 und 9 G G zeigen allerdings auch, wie behutsam man mit dem Argument der Sozialpflichtigkeit umgehen muß: Einerseits hängt von der Erfüllung der Sozialpflichtigkeit die Verwirklichung der gemeinsamen Freiheit zu einem wesentlichen Teil mit ab; andererseits aber kann man natürlich im politischen Streit und in der öffentlichen Diskussion das Argument „Sozialpflichtigkeit" im Handumdrehen dazu benutzen, die Freiheit anderer mit scheinbar plausiblen Gründen zu beschneiden. Deshalb darf der Hinweis auf die Sozialpflichtigkeit der Freiheit unter keinen Umständen dazu mißbraucht werden, bestehende Rechtsverhältnisse zu unterlaufen oder jemandem das moralische Recht zu bestreiten, von seinen gesetzlichen Rechten Gebrauch zu machen. Sozialpflichtigkeit der Freiheit kann vielmehr nur entweder Maxime sozialer und politischer Verantwortung des einzelnen Bürgers beim Gebrauch seiner Rechte sein oder Orientierungsprinzip für Reformen der gesetzlichen Rechtsverhältnisse in Antwort auf die Herausforderungen der Zeit. In diesen beiden Fällen gerät die Sozialpflichtigkeit zum gesetzlichen Recht nicht in Konkurrenz, sondern ergänzt dieses entweder, indem sie zusätzlich zwar nötige, aber doch freiwillige Leistungen bedingt; oder sie ändert es aufgrund von Mehrheitsentscheidungen innerhalb der durch die rechtsstaatlichen Prinzipien gezogenen Grenzen ab. Der Verfassungsstaat wäre keiner mehr, wenn er versuchte, die Erfüllung sittlicher und politischer Pflichten zu erzwingen, auch wenn diese in der Verfassungsurkunde deklariert sind; er darf es auch nicht zulassen, daß einzelne Bürger durch sozialen Druck daran gehindert werden, von ihren gesetzlich sanktionierten Rechten Ge-
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brauch zu machen. Das gilt dann aber auch für die Sozialpflichtigkeit des Eigentums: Artikel 14 GG unterscheidet genau zwischen der unbedingten rechtlichen Gewährleistung des Eigentums und der zu fordernden, jedoch nicht erzwingbaren Verpflichtung, daß es zugleich dem Wohle der Allgemeinheit diene. Es widerspricht daher dem Sinn der Freiheitsrechte allgemein und dem des Artikels 14 im besonderen, wenn der Grundsatz der Sozialpflichtigkeit des Eigentums dazu mißbraucht wird, die freie Nutzung rechtmäßigen Eigentums als unsozial zu denunzieren. Damit bin ich am Schluß meines Vortrags angekommen. Wir haben gesehen, daß Sozialstaat und Freiheit nicht zwei Prinzipien sind, die im G r u n d e unvereinbar wären und zwischen denen nur mit Mühe vermittelt werden könnte, sondern daß ganz im Gegenteil das Sozialstaatsprinzip unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters eine unentbehrliche Voraussetzung dafür ist, gemeinsame Freiheit im Leben eines Volkes zu verwirklichen. Der Sozialstaat, wie ihn unsere Verfassung meint, ist kein Versorgungsstaat und hat nichts zu tun mit Verplanung des Freiheitsraumes der Person und Gleichmacherei auf Kosten der Freiheit, sondern er zielt darauf, daß alle gleich frei sind. Gleichheit in der Freiheit ist nicht nur die, die dem Prinzip der Menschenwürde entspricht, sondern sie wäre auch dessen Erfüllung in der Wirklichkeit. Deshalb befindet sich das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes auch nicht in Konkurrenz zu den Grundsätzen persönlicher Verantwortung und Leistung oder zu Initiative und freiem Wagnis. Vielmehr zielt es darauf ab, Verhältnisse zu schaffen, in denen der Wille zur Entfaltung der persönlichen Möglichkeiten sinnvoll bleibt, weil es für alle objektive Chancen des Erfolgs gibt. Nicht das Sozialstaatsprinzip bedroht unsere Freiheit, sondern freiheitsgefährdend sind die Auswirkungen der modernen Technologie auf die soziale Organisation. Der Sozialstaat hat die Aufgabe, diese Folgen zu kompensieren und auf diese Weise die Freiheit, die die demokratische und rechtsstaatliche Verfassung im Prinzip ermöglicht, für alle auch Wirklichkeit werden zu lassen.
Nachweis der ersten Veröffentlichungen I. Person und Politik, in: V. Gerhardt (Hg.), Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, S. 95-108. II. Wie der Staat existiert, in: Der Staat, 27 (1988), S. 1-21. III. Von der Föderation zur Republik souveräner Staaten, in: Peter Haungs u.a. [Hrsg.]: Civitas. Widmungen für Bernhard Vogel zum 60. Geburtstag, Paderborn 1992, S. 203-210. IV. Die Ethik der Macht, in: Institut der deutschen Wirtschaft (Hg.), Wirtschaftliche Entwicklungslinien und gesellschaftlicher Wandel. Festschrift für B. Freudenfeld, Köln 1983, S. 43-60. V. Aurelius Augustinus' Friedensbegriff als Konzept einer modernen Theorie des Friedens, in F. J. Kroneck u. a. (Hg.), Im Dienste Deutschlands und des Rechtes. Festschrift für W. Grewe, Baden-Baden 1981, S. 425-444. VI. Rationales Handeln bei Thukydides, in: Der Staat, 30 (1991). VII. Anmerkungen zu Machiavellis „II Principe", in: Der Staat, 25 (1985), S. 207-231. VIII. Politische Kriterien der Schuld an der NS-Herrschaft und deren Verbrechen, in: H. Maier u.a., Politik, Philosophie, Praxis. Festschrift für W. Hennis, Stuttgart 1988, S. 513-525. IX. Sozialpolitische Stellungnahme zur Euthanasie. Normentheoretische Bemerkungen zu den Bestrebungen, den § 216 zu ändern, in: Hans-Dieter Hiersche (Hg.), Euthanasie, München 1975, S. 169-181. X. Sozialstaat und Freiheit, in: Apotheken-Report, Heft 4, Frankfurt/M. 1974 ( = Festvortrag anläßlich des Deutschen Apothekertages 1974).
Stichwortregister Außenpolitik 14 f. autark 47 Betrug 144 Bürgerkrieg 114 Bundesgenossenschaft 52,96, 102 Bundesrepublik [Deutschland] 9, 38 f., 51,53, 56, 58, 147, 156 Bundesstaat 51 f., 57 Bundestag 156 Bundesverfassungsgericht 38, 52, 58 f., 132 Caritas 166, 168 Chancengleichheit 176 Christentum, christlich 16,23 Daseinsvorsorge 29, 173 f., 176 Desavouierung, desavouieren 80-90 Despotie 23 f. Destruktion 80-90 Diagnose 98 Diplomatie, diplomatisch 20, 36, 69 Ebenbürtigkeit 102 Entscheidung, freie 163 Erfolg 135, 140, 176 Europa 60 Euthanasie 11, 149, 161 ff. Ewigkeitsgarantie [Art. 79 III GG] 59 Feindschaft 82, 90, 107 Föderation, föderal 51 ff. Freiheit 116, 171 ff. Frieden 28, 47, 73 ff., 138, 148 Frieden, innergesellschaftlicher 9, 14-16, 21, 23, 27-38, 45, 47f„ 138, 147 Führergewalt 157 Gegenseitigkeit 30, 64, 68-70 Genossenschaft, genossenschaftlich 52 f., 56 f. Gerechtigkeit 38, 179 Gesellschaft 28-30, 33, 41, 47 f., 79 Gewalt, Gewaltsamkeit 35, 74, 81, 86 f., 90, 107 f. Gewissen 16,163-166, 179 Gewohnheit 40-43, 64
Gleichgewicht 68 f. Gleichheit 37,96, 101-103, 179 Glück 175 Gnomen 95 Goldene Regel 43 Grenzfall 162, 167 f. Grundrechte 23 f., 31 Handeln 93 ff., 126, 131, 148 Handlungsanweisung 127 Handlungsfähigkeit 30, 33, 47 Herrschaft 30 Industriegesellschaft 174, 176 Instanz 30,47-49 Institution 52, 136 Intentionaler Konsens 18,79 Interaktion 7, 13f., 18f., 47, 52, 77-90 Kalter Krieg 90 Klugheit, klug 71, 105, 109, 111, 115, 123, 131, 133 f., 145 Koalitionsfreiheit 181 Kollektivschuld 11, 155 ff. Kompromiß 36, 108 Konflikt 29,36, 88 f., 109, 135, 147 Krieg 78, 90, 104, 107, 113 f., 144 Länder [der BRep. Deutschland] 51 f., 58 Lauf der Dinge 97-99 Leben, „lebensunwertes" 167 Lebensstandard 179 Macht 10, 35f., 61 ff., 109-111, 115, 117, 131 Machtdisposition 30-33, 35-38, 41, 45 Menschenwürde 24 f., 81, 150, 172, 179 Menschliche Natur 97, 114, 117 Mögliche, das 115-117 Moral, Moralität 147, 153, 155, 159 nationalsozialistisch 24 f., 147 ff., 167 Nationalstaat 60 Nazi 150 Normen [Gebotsnormen] 8 , 2 1 , 3 4 , 3 8 , 44, 67, 130, 134, 136f., 144, 161 ff. Nutzen, nützlich 103, 109-112, 116
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Stichwortregister
Partei 15,20 persönlicher Sinn 17-19 Person, Person-Sein 9 f., 13 ff., 29, 47, 54, 63, 66 f., 77-80, 83, 103 Planung 178 Politik, politisch 8f., 13f., 19f., 27, 39f., 66, 87, 89, 96, 108, 124, 135f., 140 f., 143 f., 147, 149, 160,173 f. Politiker 13,64 Praxis 95, 126 Prinzipien, ethische 134-136 Ratio, Rationalität, rational 21, 93 ff., 125, 136, 144, 147 Realpolitik 108 f. Recht 36 f., 40, 101, 103, 105, 112, 116, 163 Rechtsstaat 163 Regel 122, 124-127, 164 Repräsentation 141 Republik 56 f., 59 Res Publica Romana 39 f., 71 Schuld 147 ff. Selbstbestimmung 54 f., 57 f. Selbstverwirklichung 80, 85, 173 Situation, situativ 13 f., 19, 35, 68, 95, 103, 105, 112,127 Solidarität der Freiheit 180 f., Souveränität, souverän 15 f., 45, 51-60, 157 f. Sozialontologie, sozialontologisch 7 f., 77-82, 89 f.
Sozialpflichtigkeit 180-182 Sozialstaat 12, 171 ff. [177] Sprache 35 f. Staat [politischer Verband] 9, 15 f., 27ff., 51 ff., 87-90, 108, 135, 137f., 147 f., 151, 154, 157, 163-165, 171 ff. Staatenbund 51 Staatenstaat, Staatenrepublik 10, 56-59 Staatsgewalt 48, 57, 157 Staatsraison 109, 111, 137 f. Staatssouveränität 48 Struktur 75-77, 79, 87 Subjekt 4, 39, 54, 58 Subjekt, nicht-personales 14-16, 52, 56, 90,155-157 totalitär 150, 153, 159 Unfrieden 29,81-90 Ungerechtigkeit 169 Unrecht 108,110 Verfassung 14, 172 Verfassungsstaat 16, 22f., 25, 41, 54, 57, 160, 172, 181 Vertrauen 70 f. Völkermord 148 f., 152, 157 f. Völkerrecht 36 Volkssouveränität 45, 47 f., 53, 57, 153, 158 Wagnis 175-177 Wirklichkeit 130