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German Pages 376 Year 2014
Frauke Bode Barcelona als lyrischer Interferenzraum
Lettre
Frauke Bode lehrt spanische und lateinamerikanische Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal.
Frauke Bode
Barcelona als lyrischer Interferenzraum Zur Poetik der Komplizität in spanischen und katalanischen Gedichten der 1950er und 1960er Jahre. Carlos Barral – Gabriel Ferrater – Jaime Gil de Biedma – Ángel González – José Agustín Goytisolo
Dissertation, Universität zu Köln, Philosophische Fakultät
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Inhalt
Prolog | 9
I NTERFERENZ I: DIE LEBENSWELTLICHE DIMENSION DER INTERFERENZ 1
Eine Theorie der Interferenz | 15
1.1 Der Interferenzraum Barcelona | 15 1.1.1 Intertextualität als Interferenz | 15 1.1.2 Freundschaft als Dialogkultur | 20 1.2 Literaturhistoriographische Kontroversen | 31 1.2.1 Freundschaftsdiskurse als Ordnungskriterium | 31 1.2.2 Interferenz als alternative Kategorie | 38 1.3 Ein Modell der Interferenz | 43 1.3.1 Definition | 44 1.3.2 Hermeneutik | 47 1.3.3 Textkorpus | 50 1.4 Resümee: Medien einer lebensweltlichen Dimension der Interferenz | 53 2
Antes de empezar: Exkurse zur Lyrik als Gattung | 57
2.1 Zur Fiktion in der Lyrik | 58 2.1.1 Zur diachronischen Funktion des Ich in der Dichtung der Romania | 67 2.1.2 Zur »poesía de la experiencia« | 70 2.2 Zur Gedichtanalyse | 77
I NTERFERENZ II: DIE SEMANTISCHE DIMENSION DER I NTERFERENZ 3
Die Modi der Selbstwahrnehmung | 81
3.1 Der Erinnerungsdiskurs | 81 3.1.1 Das erlebende und das erinnernde Ich | 81 3.1.2 Das Wahrnehmungs- und Erinnerungsdispositiv der Photographie | 89 3.1.3 Die semiotische Aneignung der Welt | 94
3.1.4 Resümee: Die heterotopische Erinnerung | 98 3.2 Das (fragmentierte) Selbstbild | 101 3.2.1 Der Blick in den Spiegel | 101 3.2.2 Der Blick des Anderen | 110 3.2.3 Resümee: Die mediatisierte Selbsterkenntnis | 115 4
Die Similaritäten der Biographeme | 119
4.1 Die Kindheit und Jugend | 122 4.1.1 Der spanische Bürgerkrieg aus der Kinderperspektive | 122 4.1.2 Die sexuelle Initiation | 128 4.2 Die Situierung in der Gesellschaft | 135 4.2.1 Die Sonderstellung des Dichters | 136 4.2.2 Situierung als Grenzüberschreitung | 141 4.2.3 Situierung als Spaziergang durch Barcelona | 144 4.3 Das Vergehen der Zeit | 160 4.3.1 Das Alter und die Vergänglichkeit | 160 4.3.2 Die Zeitlichkeit | 163 4.3.3 Das alba-Motiv | 166 5
Zwischenfazit: Ein intermittentes Narrativ | 181
I NTERFERENZ III: DIE PRAGMATISCHE DIMENSION DER I NTERFERENZ 6
Rezeptionsaspekt der Interferenz: Nähesprache | 195
6.1 Subversive Lyrik und poesía social | 196 6.2 Nähesprache und Kontextualisierungsstrategien | 198 6.2.1 Intertextualität | 202 6.2.2 Ironie | 208 6.2.3 Semantische Vagheit und poesía social | 219 6.2.4 Deiktische Ambiguität und Gender | 220 6.3 Rezeptionsästhetische Implikationen einer Ästhetik der Nähe | 225
7
Produktionsaspekt der Interferenz: Autofiktion | 229
7.1 Autobiographische und autofiktionale Identitätskonstruktion | 230 7.2 Autobiographische Rahmung und Autorisierungsstrategien | 235 7.2.1 Jaime Gil de Biedma: »Las rosas de papel no son verdad«. Die Figur des Autors | 237 7.2.2 Carlos Barral: »Mi historia civil«. Die Figur des Lesers | 248 7.2.3 Ángel González: »Para que yo me llame Ángel González«. Der Körper des Textes | 256 7.2.4 Gabriel Ferrater: »Poema inacabat«. Das Labyrinth des Textes | 269 7.2.5 José Agustín Goytisolo: »Autobiografía«. Die Schwelle des Textes | 280 7.3 Der Status der Referentialität | 289 8
Fazit: Barcelona als lyrischer Interferenzraum | 305
Anhang | 315
Conversa amb Josep Maria Castellet | 315 Conversación con Juan Marsé | 321 Zensurdokumente | 333 Verzeichnis der zitierten Gedichte | 337 Abbildungsverzeichnis | 343 Bibliographie | 345 Danksagung | 371
Prolog […] [W]enn das Problem der Produktion verschwindet, bleibt die Kommunikation. Wenn das Problem der Referenz sich erschöpft, bleibt die Interferenz. Und seither oder schon bald lebt der Mensch nur noch von Nachrichten.1
Ende der 40er und in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts formierte sich in Barcelona eine Gruppe junger Intellektueller, Dichter, Verleger und Literaturkritiker, die sich zum Teil vom Studium an der Universidad de Barcelona kannten, gemeinsam an der von 1950-1954 bestehenden Zeitschrift Laye mitarbeiteten und in der Folge zum Mitarbeiterkern des Verlages Seix Barral gehörten. In diesem Umfeld standen der Verlegersohn Carlos Barral (1928-1989), Jaime Gil de Biedma (1929-1990) und José Agustín Goytisolo (1928-1999) als Dichter in spanischer Sprache und Gabriel Ferrater (1922-1972), der auf Katalanisch schrieb, in einem engen persönlichen Kontakt,2 der erweitert wurde durch
1
Serres, Michel (1992) [1972], Hermes II. Interferenz, übers. von Michael Bischoff, Berlin: Merve, S. 16f.
2
Vgl. Pohl, Burkhard (2003), Bücher ohne Grenzen. Der Verlag Seix Barral und die Vermittlung lateinamerikanischer Erzählliteratur im Spanien des Franquismus, Frankfurt am Main: Vervuert, S. 88. Weitere zentrale literaturhistorische Arbeiten, die sich mit der Gruppierung der hier untersuchten Autoren befassen, sind Bonet, Laureano (1988), La revista Laye. Estudio y antología, Barcelona: Península und Bonet, Laureano (1994), El jardín quebrado. La Escuela de Barcelona y la cultura del medio siglo, Barcelona: Península. Als Standardwerk gilt Riera, Carme (1988), La escuela de Barcelona. Barral, Gil de Biedma, Goytisolo: el núcleo poético de la generación de los 50, Barcelona: Anagrama. Im Folgenden werden die lebensweltlichen
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wechselnde Konstellationen eines Kreises von Teilnehmern und Teilnehmerinnen mehrerer tertulias.3 Eine wichtige Rolle spielte der Literaturkritiker José María Castellet (*1926); der aus Oviedo stammende Dichter Ángel González (1925-2008) stieß 1956 dazu. Die regelmäßigen Treffen gaben Anlass zu jeglicher Art von literarischer oder politischer Diskussion, ein allgemein literarisches Interesse verband sich mit dem Vortrag und der Diskussion der eigenen Texte.4 Diese orale Rezeptionspraxis im Kreis der contertulios qualifiziert ihre Lyrik als Produkt und Ursache spezifisch sozialer Nahbeziehungen. Ausgehend von dieser grundlegenden Konstatierung freundschaftlicher Relationen und der These, dass diese sich nicht allein auf persönlicher Ebene bewegen, sondern auch die Ebene der Textgestaltung mit einbeziehen, soll in dieser Arbeit die Bildung literarischer Gruppen als soziales Phänomen für eine Hermeneutik fruchtbar gemacht werden, welche die daraus entstehenden Relationen berücksichtigt und ihre Manifestation in den lyrischen Texten zurückverfolgt. Die spezifischen Beziehungen zwischen den genannten Dichtern und zwischen ihren Texten sollen als besondere Form der Intertextualität gelesen werden und Anlass zu einer textnahen Interpretation geben, die zugleich an die Nahbeziehungen der Autoren rückgebunden wird: Eine Analyse also im Bewusstsein der Problematik der romantischen Vorstellung einer Einheit von Autor und Werk sowie der Überzeugung, dass Texte nicht von der lebensweltlichen Kommunikation unabhängige Strukturen sind, die sich gänzlich außerhalb ihrer sozialen Einbindung lesen lassen. Die Analyse muss dabei auf einer theoretischen Basis beruhen, die im Spannungsfeld von Intertextualität, den Konzeptionen der Autorschaft, der literaturhistorischen Praxis der Zuordnung von Dichtern zu Gruppen und einer intellektuellen Dialogkultur einen neuen Weg der Relationierung von Dichtern und ihren Texten sucht. Das vorliegende Buch gliedert sich daher in drei Teile: Der Abschnitt »Interferenz I: Die lebensweltliche Dimension der Interferenz« parallelisiert drei Untersuchungsstränge. Bestehende Theorien und Praktiken der literaturhistorischen Gruppierung von Autoren auf der einen Seite und der Relationierung von Texten im Sinne von Intertextualität auf der anderen werden mit Aspekten lebensweltlicher Nähe zwischen Carlos Barral, Gabriel Ferrater, Jaime Gil de Biedma, Ángel González und José Agustín Goytisolo zusammengeführt. In An-
Hintergründe beispielhaft erwähnt. Ausführliche Kontextualisierungen finden sich in den genannten Arbeiten. 3
Vgl. Perpinyà, Núria (1997), Gabriel Ferrater: recepció i contradicció, Barcelona: Les naus d’Empúries, S. 209f.
4
Vgl. Riera (1988), S. 107.
P ROLOG
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lehnung an Michel Serres’ Begriff der Interferenz5 werden schließlich ein Modell und eine Hermeneutik der Interferenz6 als theoretische Basis für die folgenden Textanalysen vorgeschlagen. Im Abschnitt »Interferenz II: Die semantische Dimension der Interferenz« werden textuelle ›Similaritäten‹7 zwischen den Gedichten der fünf Autoren herausgearbeitet. Mit dem Begriff der ›Biographeme‹8 wird ein gemeinsames Paradigma der Lebenserzählung der lyrischen Sprecher als ›intermittentes Narrativ‹9 benannt und die Similaritäten zwischen den Texten als ›implizite Interferenzen‹ in den theoretischen Rahmen eingebunden. Der letzte Abschnitt, »Interferenz III: Die pragmatische Dimension der Interferenz«, analysiert das Verhältnis von Lebenswelt und Textwelt, das im vorliegenden Korpus problematisiert wird. Es gilt, die Hypothese zu überprüfen, dass die lebensweltliche und die textuelle Interferenz (Abschnitte I und II) zur Ausprägung eines besonderen Verhältnisses von ›Extratextualität‹ und Fiktion10 führen. Das Verhältnis der Gedichte zur Extratextualität wird zunächst von der Seite der Textrezeption untersucht: Potenziell subversive Inhalte fordern durch nähesprachliche Textstrategien die Komplizität des Lesers heraus.11 Im Weiteren wird auf der Seite der Textproduktion das Konzept der Autofiktion auf das Verhältnis von Autor- und Text-Ich in den Gedichten übertragen.12 Die Interferenz wird sich schließlich13 als eine Strategie herausstellen, in der Lebenswelt und Text, die Dichter und ihre Texte, miteinander in Beziehung treten. Daraus entsteht ein Geflecht von Relationen, das über intertextuelle Bezugnahmen hinausgeht und der literaturtheoretischen Annahme der Fiktionalität, der pragmatischen Frage nach der Autobiographie und der sozialhistorischen Kategorie der ›engagierten Dichtung‹ unerwartete Dimensionen weist: Der ›lyrische Interferenzraum‹ Barcelona bildet ›explizite Interferenzen‹ zwischen den Gedichten aus, die als ›Poetik der Komplizität‹ in eine kollektive Identität eingehen.
5
Vgl. Serres (1992).
6
Vgl. Kapitel 1.3 und 1.3.2.
7
Vgl. Kapitel 1.3.2.
8
Vgl. Kapitel 4.
9
Vgl. das Zwischenfazit in Kapitel 5.
10 Vgl. die Begriffsbildung in Kapitel 7.1. 11 Vgl. Kapitel 6. 12 Vgl. Kapitel 7. 13 Vgl. Kapitel 8.
Interferenz I: Die lebensweltliche Dimension der Interferenz
1 Eine Theorie der Interferenz
1.1 D ER I NTERFERENZRAUM B ARCELONA 1.1.1 Intertextualität als Interferenz Der strukturalistische Begriff der Intertextualität bezeichnet den Verweis innerhalb eines Textes auf einen oder mehrere andere Texte. Intertextuelle Versatzstücke, Zitate, Abwandlungen inhaltlicher wie stilistischer Art, als »Kopräsenz« zweier oder mehrerer Texte im Sinne Gérard Genettes,1 öffnen einen Text auf einen anderen hin. Die literaturtheoretischen Konzepte der Intertextualität wurden in den 70er Jahren auch in der schon poststrukturalistischen Absicht eingeführt, das romantische Bild einer Kommunikation zwischen Autoren abzulösen, mit der Folge, dass die entsprechende Relation als ein Phänomen der Textstruktur wahrgenommen wurde. So bezeichnet Roland Barthes den Autor schlicht noch als »scripteur«2, Julia Kristeva als »enchaînement de centres«3, und Michel Foucault spricht der »Funktion Autor« zwar zu, eine der »möglichen Spezifikationen der Funktion Stoff« zu sein, diese hinge aber von der Bedeutung ab, die einem Autor gesellschaftlich zugewiesen werde.4
1
Genette, Gérard (21993) [1982], Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, übers.
2
Barthes, Roland (2000) [1967/68], »Der Tod des Autors«, übers. von Matias Marti-
von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 10. nez, in: Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam, S. 185-193, hier S. 189. 3
Kristeva, Julia (1969), »Le mot, le dialogue et le roman«, in: dies., Sèméiotikè. Recherches pour une sémanalyse, Tours: Seuil, S. 82-112, hier S. 107.
4
Foucault, Michel (2000) [1969], »Was ist ein Autor?«, übers. von Karin Hofer, Anneliese Botont und Fotis Jannidis, in: Jannidis u.a. (2000a), S. 198-229, hier S. 227.
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Im Sinne einer »anxiety of influence«5 erscheint der wechselseitige Austausch lebender Autoren dennoch als wichtiger Bestandteil der Poetik, der eine ganz andere Qualität hat als die Tradition der imitatio: Denn im Gegensatz zu der Kommunikation lebender mit toten Autoren können inter-textuelle Beziehungen interdependenter Natur zusätzlich zu ihren literarischen auch soziale Beziehungen mit einschließen. Zum Phänomen des Übergangs von der imitatio vitae auf die imitatio veterum, das seit der Antike besteht,6 müsste somit ein synchrones Element einer imitatio amicorum eingeführt werden, und zwar nicht nur unter dem Aspekt der (einseitigen) Rezeption zeitgenössischer Autoren auf Grundlage ihrer Texte, sondern unter der expliziten Einbeziehung ihres sozialen Kontaktes und lebensweltlicher Kommunikationsmöglichkeiten: Die imitatio würde damit zur interactio. Während in Genettes strukturalistischem Ansatz Intertextualität als Unterkategorie einer allgemeiner verstandenen »Transtextualität« erscheint, in der Relikte eines anderen Textes ausweisbar sind oder ein Text sich kommentierend auf einen anderen bezieht, auch ohne, dass dieser direkt genannt wird (»Metatextualität«),7 soll hier der Begriff der Intertextualität weiter gefasst und auf Manifestationen textueller Interdependenzen ausgeweitet werden, die bisher unter Begriffen wie Affinität, Einfluss oder unter einem bestimmten Stilbegriff als einheitliche Praxis mehrerer Dichter gefasst worden sind. Damit werden ganz explizit Relationen zwischen Ausprägungen auf inhaltlicher, stilistischer und konzeptioneller Ebene der Texte verschiedener Dichter untersucht.8 Kristeva lehnt ihr poststrukturalistisches Konzept der Intertextualität an Michail Bachtin an und weist ihm zu, er sei »[…] le premier à introduire dans la théorie littéraire: tout texte se construit comme mosaïque de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte.«9 Damit erweitert sie Bachtins
5
Vgl. Bloom, Harold (1973), The Anxiety of Influence, Oxford: Oxford University Press.
6
Vgl. Pfister, Manfred (1985), »Konzepte der Intertextualität«, in: Broich, Ulrich/ Pfister, Manfred, Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer, S. 1-30, hier S. 1.
7 8
Vgl. Genette (1993), S. 13. Das schließt natürlich nicht aus, dass auch bei den hier behandelten Gedichten Aspekte von Intertextualität im engeren Sinne auftreten, die sowohl den erweiterten Text ›Kultur‹ referieren, also jeglicher Epoche, Gattung und Sprache entstammen können (vgl. Kapitel 4.3.3 und 6.2.1).
9
Kristeva (1969), S. 85.
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Vorstellung zitathaft fremder Wörter im eigenen Text.10 Denn Bachtins Theorie der Dialogizität, die er am Beispiel des modernen Romans aufstellt, ist nur im speziellen Fall Ergebnis einer Intertextualität als zitathafte Aneignung eines anderen Textes. Wenn er nämlich »Redevielfalt«11 als entscheidendes Charakteristikum des modernen Romans etabliert, so bezieht er sich dabei auf eine aus der parodistischen Tradition hervorgegangene Polyphonie, die einen monologischen und offiziösen Diskurs unterminiert und verschiedene Standpunkte in Dialog treten lässt: »Jede Parodie, jede Travestie, jedes Wort, das mit Vorbehalt, mit Ironie gebraucht wird, das in intonatorische Anführungszeichen gesetzt ist, jedes indirekte Wort überhaupt ist eine beabsichtigte Hybride […].«12 Diese Hybride wird für Bachtin durch das Aufeinandertreffen verschiedener »innersprachlicher ›Sprachen‹«13 hervorgerufen und kann, wie in Form der Parodie, eine »Replik auf dem Text vorausgehende Texte, also Intertextualität«14 sein. Bachtin bezieht aber ganz konkret auch die Darstellung unterschiedlicher Weltsichten durch Formen der Redevermittlung (direkte, indirekte und erlebte Rede) mit ein.15 Zum einen umfasst die Bachtin’sche Dialogizität also eine »im Text präsente Doppel- und Mehrstimmigkeit«16, zum anderen eine aus der Parodie hervorgegangene intertextuelle Variante der Polyphonie, welche Bachtin als Einbringen »der fremden Sprache, des fremden Stils, des fremden Wortes«17 bezeichnet. Dabei kann die »fremde Sprache«, welche einen Text zu einem polyphonen macht, nicht nur als von der »Autorrede«18 abweichende Weltsicht einer Figur, sondern auch als andere Sprache im Wortsinn verstanden werden. Bachtin grenzt nun seinen Begriff der Dialogizität oder Redevielfalt als Gattungsbegriff von den monologischen Gattungen ab, welche, im Unterschied zu
10 Vgl. Pfister (1985), S. 6. 11 Bachtin, Michail M. (1979b), »Das Wort im Roman«, in: ders. (1979a), Ästhetik des Wortes, übers. von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 154-300, hier S. 157. 12 Bachtin, Michail M. (1979c), »Aus der Vorgeschichte des Romanwortes«, in: ders. (1979a), S. 301-338, hier S. 330. 13 Vgl. ebd. (Herv. i.O.). 14 Lachmann, Renate (1984), »Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mythopoetik als Paradigma dialogisierender Lyrik«, in: Stierle, Karlheinz/Warning, Rainer (Hrsg.), Das Gespräch, München: Fink, S. 489-515, hier S. 489. 15 Vgl. Bachtin (1979b), S. 209. 16 Lachmann (1984), S. 489. 17 Bachtin (1979c), S. 325. 18 Bachtin (1979b), S. 209.
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den dialogischen, die Autorrede ungebrochen zum Ausdruck brächten. Die genuin dialogische Gattung ist für Bachtin der vielstimmige Roman, wobei als Gegenkonzeption nicht der monologische Roman dient, sondern vor allem die Lyrik, welche als eigentlich monologische Gattung angesehen wird, weil ihr die Einbeziehung »fremder Äußerungen«19 gattungsmäßig vollkommen fernliege; selbst die Ambiguität poetischer Symbole sei nicht Ausdruck mehrerer Stimmen, sondern spiele sich einzig zwischen dem bezeichnenden Wort und dem bezeichneten Gegenstand ab:20 »Die Sprache der poetischen Gattung ist die einheitliche und einzige ptolemäische Welt, außerhalb derer es nichts gibt und nichts zu geben braucht.«21 Dieser starre Blick Bachtins auf die Lyrik ist mehrfach kritisiert worden, vor allem unter dem Aspekt, er habe eine »[…] etablierte, offizialisierte Sprache der Lyrik« im Blick, »[…] die den Rigoren eines hierarchisch gegliederten Stilsystems, einer Figuren- und Tropenlehre unterworfen ist.«22 Einen wesentlichen Erklärungsansatz liefert Barbara Wiedemann, die in der Argumentation Bachtins eine Tendenz zu strukturell prosaischen, also dialogischen, und strukturell monologischen Formen sieht, welche quer zu den etablierten Gattungsbegriffen verliefen.23 Bachtin benötige daher einen autoritär definierten Poesie-Begriff, um den besonderen prosaischen Charakter des Romans besser herausstellen zu können.24 Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, dass Bachtin eine dialogische Tendenz in der Lyrik zwar anerkennt, durch sie aber den genuin poetischen Stil in der Gefahr sieht, in »Prosaqualität«25 überführt zu werden. Trotzdem unterteilt Bachtin die Lyrik nicht wie den Roman in prosaische (also dialogische) und monologische Texte, vielmehr nimmt er für die Lyrik eine einzige und einheitliche Autorrede viel stärker an als für den Roman; die Lyrik sei daher genuin monologisch. Bachtin konstruiert einen lyrischen Idealtypus, der Reminiszenzen des romantischen Bildes vom Ausdruck der individuellen Innerlichkeit des Dichters in seiner Lyrik aufweist: Die Sprache ist in der Dichtung
19 Ebd., S. 177. 20 Ebd., S. 216. 21 Ebd., S. 178. 22 Lachmann (1984), S. 492. 23 Wiedemann, Barbara (2006), »Wirkliche Romane von Opitz und Mörike? Überlegungen zu Bachtins Poesie-Begriff«, in: May, Markus/Rudke, Tanja (Hrsg.), Bachtin im Dialog. Festschrift für Jürgen Lehmann, Heidelberg: Winter, S. 113-137, hier S. 122. 24 Ebd., S. 119. 25 Bachtin (1979b), S. 177.
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»[…] ganz Organ des Vorhabens des Autors«26, es darf zu keiner »[…] Spaltung zwischen dem Dichter und seinem Wort kommen.«27 So erklärt sich auch, dass Bachtin das Versepos aus der Lyrik im engeren Sinne ausnimmt und ausgerechnet an einem Versroman (nämlich Puschkins Evgenij Onegin) die parodistische Vielstimmigkeit darlegt.28 Trotz dieser Konzentration auf eine Lyrik, die ganz auf die Einheit der Aussage, auf die Autorrede, ausgerichtet ist, lässt Bachtin die Redevielfalt in der Lyrik, begrenzt auf Satire und Komödie, doch wieder zu.29 Im Anschluss an die Interpretation Wiedemanns und an die Einschränkungen der Monologizität in der Lyrik durch Bachtin selbst ist eine Anwendung des Dialogizitätskonzeptes für die Lyrik nicht ausgeschlossen, vielmehr lassen sich dialogische Strukturen mitnichten nur in neuerer, ›prosaisierter‹ Lyrik finden, wie Rainer Warning am Beispiel Ronsards und Brigitte Mager für Garcilaso gezeigt haben.30 Mager zeigt, dass Garcilasos Gedichte eine zweite Bedeutungsebene unterhalb des imitierten höfisch-petrarkistischen Liebesdiskurses aufweisen und diesen somit polyphon in Diskussion mit sich selbst treten lassen.31 Eine ähnliche Form der innertextuellen Polyphonie lässt sich bei den hier behandelten Dichtern beobachten, die durch eine spezifische Anwendung nähesprachlicher Mechanismen in Verbindung mit Ironie, Intertextualität, Vagheit und Ambiguität subversive Thematiken verhandeln. Ihre Gedichte arbeiten mit der Komplizität des Lesers, der ausgesparte Kontexte rekonstruieren und die Mehrstimmigkeit entschlüsseln muss. Es entsteht somit eine Dialogsituation zwischen Text und Rezipient, welche eine initiierte Leserschaft privilegiert.32 Diese Lyrik qualifiziert sich damit als dialogische Textform, die ganz konkret einen lector cómplice benötigt, welcher die offensichtliche Rede ergänzt. Dies stellt eine Erweiterung der von Bachtin konstatierten »immanenten Dialogizität des Wortes«33 dar, die
26 Ebd., S. 177. 27 Ebd., S. 188. 28 Vgl. Bachtin (1979c), S. 301-338. 29 Bachtin (1979b), S. 179. 30 Mager, Brigitte (2003), Imitatio im Wandel, Tübingen: Narr und Warning, Rainer (1987), »Petrarkistische Dialogizität am Beispiel Ronsards«, in: Stempel, WolfDieter/Stierle, Karlheinz (Hrsg.), Die Pluralität der Welten – Aspekte der Renaissance in der Romania, München: Fink, S. 327-358. 31 Vgl. Mager (2003), S. 17. 32 Vgl. die ausführliche Diskussion in Kapitel 6. 33 Bachtin (1979b), S. 172.
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sich selbst im monologischen Alltagsdialog und der rhetorischen Rede in der offenen Relation zum Hörer und seiner Antwort ausdrückt.34 Im Sinne dieses erweiterten Bachtin’schen Verständnisses von Dialogizität soll im Folgenden danach gefragt werden, ob sich die lebensweltlichen Dialog- und Diskussionsformen der Dichter von der (semi-)öffentlichen Diskussion im Rahmen von tertulias bis hin zu einer komplizenhaften binnenpragmatischen Dialogik ihrer Lyrik erstrecken, in der die Gedichte untereinander in einen intertextuellen Dialog treten und somit ein semantisches Kontinuum entstehen lassen – mithin die Intertextualität zur Interferenz hin erweitern. 1.1.2 Freundschaft als Dialogkultur Im Zusammenhang mit der Annahme einer solchen lebensweltlichen und textlichen Dialogik ist die Ausprägung einer Verbindung »cuasi-amistosa«35 in der spanischen Intellektuellenschicht der Moderne durch die (ältere) Kommunikations- und Interaktionsform der tertulia von besonderer Bedeutung. Wie Andreas Gelz gezeigt hat, war die tertulia wesentliches Element eines aufklärerischen Konstituierungsprozesses der spanischen Zivilgesellschaft mit ihren frühesten Ausprägungen in der Neuzeit.36 Literarische Runden etablierten sich neben den seit dem Siglo de Oro bewährten formellen Akademien und literarischen Salons zu Beginn des 18. Jahrhunderts.37 Diese Form der nicht nur in Spanien zu findenden »Kaffeehausliteraten« hat einen regen Austausch zur Folge, der einen Text kaum als solitäres oder rein auf dem Papier stattfindendes Ereignis auffassbar macht. Vielmehr entstehen vielfältige Interaktionen textueller, aber auch sozialer – etwa politischer – Art, wie zum Beispiel die Sympathie der Dichter aus Barcelona für die im Untergrund und im Exil agierende Kommunistische Partei. So spricht Laureano Bonet von einer »mezcla de literatura y vida«, die aus der »conversación amical« hervorgegangen und in der die Lektüre zu einem »hecho plural« geworden sei, um sich sogar in »regueros intertextuales« niederzuschla-
34 Vgl. ebd., S. 173 35 Laín Entralgo, Pedro (1972), Sobre la amistad, Madrid: Revista de Occidente, S. 173. 36 Vgl. Gelz, Andreas (2006), Tertulia. Literatur und Soziabilität im Spanien des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Vervuert. 37 Vgl. Rössner, Michael (1999), Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien u.a.: Böhlau.
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gen;38 und Juan Antonio Masoliver Ródenas betont, dass die enge Beziehung zwischen Barral, Gil de Biedma, Goytisolo und Ferrater dazu geführt habe, »[…] que compartan muchas ideas estéticas.«39 So formuliert auch Goytisolo: »Nuestra poesía era individualmente muy diferenciada, pero todos sabíamos lo que hacía el compañero. Nos conocíamos en profundidad.«40 Wenn Burkhard Pohl für die Nachkriegszeit konstatiert, dass das literarische Leben vor allem in »relativ abgeschlossenen Zirkeln«41 in Madrid und Barcelona stattgefunden habe, so nennt er damit zwei Kristallisationspunkte einer sich ausbildenden, tendenziell subversiven Intellektuellenkultur: in Madrid die Schriftstellergruppe der nueva novela social, die mit der Revista española verbunden war,42 und in Barcelona den Kreis um die Laye-Mitarbeiter. Besonders Mitte der 50er Jahre fanden ihre Treffen regelmäßig an unterschiedlichen Orten statt,43 zunächst in der Universität und in verschiedenen Bars der Stadt, dann auch in Gil de Biedmas Kellerwohnung und in der Wohnung von Carlos und Yvonne Barral. Barry Jordan sieht diese selbstgeschaffene Diskussionskultur als »[…] a bonding element as well as a form of therapy, fostering a shared sense of sophistication and purpose in their learning which the desolate cultural milieu around them tended to negate.«44 Dennoch beschränkten sich die tertulias keinesfalls auf einen intellektualisierten Diskurs, sondern bezogen auch das Nachtleben Barcelonas mit ein.45 Das
38 Vgl. Bonet, Laureano (2001) [1957], »Estudio«, in: Castellet, Josep Maria, La hora del lector, Barcelona: Península, S. 121-201, hier S. 149. 39 Masoliver Ródenas, Juan Antonio (2003), »Carlos Barral: complicidad y singularidad del orfebre«, in: Dadson, Trevor J./Flitter, Derek W. (Hrsg.), La poesía española del siglo XX y la tradición literaria, Birmingham: Birmingham University Press, S. 7093, hier S. 74. 40 Goytisolo in einem Interview mit Bonet (15.09.1992), zit. nach Bonet (1994), S. 79. 41 Pohl (2003), S.78. 42 Ebd., S. 87. 43 Riera hat sie im Detail recherchiert und beschrieben, vgl. Riera (1988), S. 93-110. 44 Jordan, Barry (1990), Writing and Politics in Franco’s Spain, London, New York: Routledge, S. 57. 45 Vgl. die Aussage von Juan Marsé im Gespräch mit F.B. (24.02.2009), Anhang, S. 321: »Era una relación normal entre colegas escritores: nos veíamos mucho, tomando copas, yendo a cenar por la noche, juntamente con Jaime, acercarnos por la noche a las Ramblas de Barcelona, ir a locales nocturnos, alguna juerga, etc. O sea, era ese tipo de relación combinada con que él me pasaba sus poemas, yo le pasaba algún capítulo que estaba haciendo, no de una forma sistemática. Era más bien festivo, no
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geteilte Interesse der contertulios an Literatur, Kunst, Philosophie und Politik, welches sich weder in ihren Lektüren noch in ihren Schriften auf Dichtung beschränkte,46 wurde allerdings nicht zuletzt durch die räumliche Nähe unterstützt. Die Universität, die Zeitschrift Laye und schließlich der Verlag Seix Barral ermöglichten eine enge Kontaktstruktur, die in der Folge auch durch längere Absenzen47 nicht gebrochen und durch Briefe überbrückt wurde.48 Dabei handelte es sich allenfalls um einen latent hermetischen Zirkel.49 Auf Einwirken Vicente Aleixandres trat Ángel González 1955 zu den Diskutanten hinzu:50 »Después me importó mucho la crítica y la aceptación de mis poemas en Barcelona por parte de un grupo entonces muy compacto formado por Jaime Gil, Carlos Barral, José Agustín Goytisolo y otros. Hablo de los años 55 y 56, cuando yo residía allí. Especialmente la amistad de Jaime Gil me sirvió de mucho, porque fue durante años un lector muy receptivo de mis poemas. Leía todas mis cosas antes de ser publicadas.«51
en plan de estudio, sino para pasarlo bien y porque manteníamos una relación muy regular. Lógicamente los acontecimientos de la época, ya fueran de signo político o social, – sobre todo de signo político, porque fue durante la dictadura franquista y había, por así decirlo, un enemigo común – cualquier tipo de acontecimiento, de política social, por ejemplo, era debatido y discutido.« 46 So trug zum Beispiel Gabriel Ferrater vor allem Malerei-Rezensionen zu Laye bei. 47 Zum Beispiel Gil de Biedmas Studienaufenthalt in London, seine mehrmonatigen Reisen auf die Philippinen, Gabriel Ferraters Zeit beim Hamburger Verlag Rowohlt oder Ángel González’ Lebensmittelpunkt in Madrid und später in der Vereinigten Staaten. 48 Vgl. z.B. Ferraté, Joan (Hrsg.) (1986), Gabriel Ferrater. Papers, cartes, paraules, Barcelona: Quaderns Crema; Gil de Biedma, Jaime (2001b) [1991], Retrato del artista en 1956, Barcelona: Mondadori oder Gil de Biedma, Jaime (1990), »Doce cartas a Carlos Barral y unas notas sobre poesía«, in: Revista de Occidente 110-111, S. 185220. Kürzlich ist Biedmas gesammelte Korrespondenz editiert worden: Gil de Biedma, Jaime (2010), El argumento de la obra. Correspondencia, ed. de Andreu Jaume, Barcelona: Lumen. 49 Pohl spricht von »Exklusivismus«. Vgl. Pohl (2003), S. 91. Vgl. außerdem die Aussage von Juan Marsé im Gespräch mit F.B., 24.02.2009: »No, [el grupo] era bastante exclusivo, no entraba el que quería« (Anhang, S. 322). 50 Gracia, Jordi (22006), Estado y cultura. El despertar de una conciencia crítica bajo el franquismo, 1940-1962, Barcelona: Anagrama, S. 184. 51 Campbell, Federico (1971c), »Ángel González o la desesperanza«, in: ders. (1971a), Infame turba, Barcelona: Lumen, S. 366-379, hier S. 368. Vgl. auch: »[…] Jaime Gil
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»Yo marché a Filipinas por cinco meses, Ángel regresó a Madrid y no volvimos a hablar durante bastante tiempo. Entre tanto leí Áspero mundo, su primer libro de poemas, también una noche en casa de los Barral, y aquella lectura me hizo amigo suyo. Recuerdo muy bien la excitación y la euforia que me produjo.«52
Ángel González’ Ankunft in Barcelona ist mit einer Anekdote verknüpft: Nach seiner ersten stillen Anwesenheit im Kreis der contertulios im Hause Barral vermutete man erschreckt, es habe sich um einen spionierenden Polizisten gehandelt, eine Annahme, die Aleixandre am Telefon klären konnte.53 Zwischen 1956 und 1959 war Blas de Otero ebenfalls regelmäßiger Teilnehmer der tertulias54 und auch Jaime Salinas, Sohn des Dichters Pedro Salinas, wurde, nachdem er bei Seix Barral zu arbeiten begonnen hatte, in den Kreis eingeführt: »Al día siguiente, ya Carlos [Barral] me llevó al Boliche, que era un café-bar que ha desaparecido, que estaba al lado del cine Savoy […]. Y allí conocí a Jaime Gil de Biedma y a Ivonne Barral; estaban también allí Castellet y Luis Marquesán. Inmediatamente nos hicimos amigos […].«55
de Biedma, tan buen lector de mis originales, tan preciso e inteligente en sus juicios y en las correcciones que me proponía.« Keefe Ugalde, Sharon (1991), »Entrevista a Ángel González«, in: Debicki, Andrew P./Ugalde, Sharon Keefe (Hrsg.), En homenaje a Ángel González: ensayos, entrevista y poemas, Bolder, Colorado: Society of Spanish and Spanish-American Studies, S. 111-125, hier S. 119. 52 Gil de Biedma, Jaime (31997), »Ángel«, in: Labra, Ricardo/Munárriz, Miguel/Pandiella, Helios/Puente, Noelí/Vega, Alberto (Hrsg.), Guía para un encuentro con Ángel González, Oviedo: Luna de abajo, S. 33f., hier S. 33. 53 Vgl. Barral, Carlos (2001), Memorias, Barcelona: Península, S. 351, Gil de Biedma, Jaime (1997), S. 33, und Somovilla, Miguel (1987), »Breves acotaciones para una biografía«, in: González, Ángel (1987a), Verso a verso, Oviedo: Caja de Ahorros de Asturias, S. 97-139, hier S 117f. Goytisolo und González kannten sich bereits aus Goytisolos Studienzeit in Madrid. Vgl. Vázquez Rial, Horacio (1992), »›Reyes mendigos‹. Entrevista a José Agustín Goytisolo«, Quimera 111, S. 12-23, hier S. 20. 54 Vgl. Cruz, Sabina de la (1990), »Los poetas del grupo catalán y Blas de Otero«, in: Ínsula. Revista de letras y ciencias humanas 523-524, S. 17-19. 55 Salinas, Jaime (1990), »Retrato de familia (Conversación con Laureano Bonet)«, in: Ínsula. Revista de letras y ciencias humanas 523-524, S. 69-72, hier S. 72.
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Die freundschaftliche Nähe baut auf der räumlichen Nähe auf und lässt Barcelona zu einem Interferenzraum der Dichter werden,56 der die Bildung einer »sociedad literaria« begünstigt, wie Gabriel Ferrater sie 1959 für die zeitgenössische katalanische Literatur vermisst: »Pero resulta que una tal sociedad literaria no existe en Catalunya [sic]. Escasos y dispersos, los literatos que podrían ser sus miembros no llegan casi a conocerse unos a otros, ni mucho menos a instaurar entre ellos lo que podríamos llamar el proceso de estilización mutua, la persistente invención y formulación de normas y fines y maneras, que podrían llegar a constituir su sociedad, como constituye las sociedades literarias en otras partes.«57
Die Verbindungen der hier untersuchten Dichter zu ihren katalanischen Kollegen hielten sich, trotz gemeinsamer politischer Ziele, welche die Förderung der katalanischen Sprache und Literatur mit einschlossen, in Grenzen. Ferrater publizierte seine (lyrischen) Texte als einziger konsequent auf Katalanisch; die Gruppe blieb, »[…] durch die Beibehaltung des Spanischen als Schriftsprache […] auf Distanz zur katalanischen Literatur.«58 Man orientierte sich eher an den ›Großen‹ der katalanischen Literatur, die bereits vor dem Bürgerkrieg aktiv gewesen waren.59 Deutlich wird dies an Goytisolos Anthologie Poetas catalanes contemporáneos von 1968, in der mit Joan Vinyoli und Gabriel Ferrater nur zwei im engeren Sinne »contemporáneos« zu finden sind.60 Zwei Ausgaben Madrider
56 So konnte Gabriel Ferrater beispielsweise auf Einladung Jaime Salinas’ zeitweilig im Büro von Seix Barral in der »Torre Punxet« arbeiten (vgl. ebd., S. 69). 57 Ferrater, Gabriel, »En la muerte de Carles Riba«, zit. nach Julià, Jordi (2004b), El poeta sense qualitats, Tarragona: El Mèdol, S. 19. 58 Pohl (2003), S. 91. 59 So steht Ferrater in engem Kontakt mit Carles Riba. Vgl. Ferraté, Joan (1986b), »Gabriel Ferrater«, in: ders. (1986a), S. 539-543, hier S. 541. 60 Vgl. Goytisolo, José Agustín (1968), Poetas catalanes contemporáneos. Carner, Riba, Foix, Salvat-Papasseit, Manent, Pere Quart, Rosselló-Porcel, Espriu, Vinyoli, Ferrater. Antología, Barcelona: Seix Barral. Achtzehn der zwanzig von ihm übersetzen Texte aus Ferraters Les dones i els dies gehen in die gemeinsam mit Pere Gimferrer und José María Valverde besorgte Übersetzung ins Spanische ein: Ferrater, Gabriel (1979), Las mujeres y los días, trad. de Pere Gimferrer, José Agustín Goytisolo y José María Valverde, Barcelona: Seix Barral. Vgl. auch Cotoner Cerdó, Luisa (2005), »José Agustín Goytisolo, traductor«, in: Riera, Carme/Payeras, María (Hrsg.), Actas del I Simposio internacional José Agustín Goytisolo, Palma: Universitat de les Illes Balears, S. 17-37, hier S. 31.
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Zeitschriften zeigen, dass man sich zwar gegenseitig wahrnahm, aber unterschiedlichen Kreisen angehörte:61 Die Novemberausgabe 1952 von Alcalá62 widmet sich Katalonien, ebenso die Novemberausgabe des Folgejahres von Ínsula.63 In Alcalá sind Joan Ferraté und José María Castellet mit jeweils einem Artikel vertreten und Barral mit dem einzigen spanischen Gedicht (»Pájaros para Yvonne«)64 neben zwölf katalanischen, ausgewählt von Albert Manent.65 In Ínsula veröffentlicht Gabriel Ferrater einen polemischen Artikel über die Situation der katalanischen Literatur, in dem er unter dem vielsagenden Titel »Madame se meurt…« mit Paul Valéry die Dekadenz einer (literarischen) Kultur voraussagt, die sich, wie die katalanische, wesentlich auf die Dichtung stütze, da diese nicht die kulturelle Basis, sondern ihren Gipfel darstelle.66 Im selben Jahr er-
61 Vgl. auch die Aussage von Castellet bezogen auf die Gruppe um Laye: »Érem un grup no solament aïllat de l’exterior sinó també, com molts de la mateixa generació, aïllat de la gent que feien altres revistes –Ariel, Dau al Set, poso per cas. A diferència d’ells, nosaltres, en aquella època, no érem ni catalanistes ni avanguardistes, la qual cosa no vol dir que hi estiguéssim en contra […].« Castellet, Josep Maria (2009), Seductors, il·lustrats i visionaris. Sis personatges en temps adversos, Barcelona: Ed. 62, S. 64. 62 Alcalá wurde vom offiziellen Studentensyndikat SEU (Sindicato español universitario) an der Universität in Madrid herausgegeben und bestand von 1952-1955. Vgl. Pohl (2003), S. 87. Ínsula wurde 1946 von Enrique Canito und José Luis Cano gegründet. Zunächst als »boletín literario« der gleichnamigen Buchhandlung Canitos in Madrid eingeführt, wird Ínsula bald als unabhängige Literaturzeitschrift bekannt – Konfrontationen mit der Zensur inbegriffen. Nach einer Sondernummer für den verstorbenen Ortega y Gasset (Ínsula 120, Noviembre 1955) darf die Zeitschrift von Februar bis Dezember 1956 nicht erscheinen. Vgl. Cano, José Luis (1983), »Autobiografía de una aventura literaria«, in: El País, 27.01.1983, o.S., http://www.elpais. com/articulo/cultura/ESPASA_CALPE_/EDITORIAL/Autobiografia/aventura/literaria/ elpepicul/19830127elpepicul_1/Tes, 20.10.2011. 63 Vgl. Manent, Albert (2008), La represa. Memòria personal, crònica d’una generació (1946-1956), Barcelona: Ed. 62, S. 176-184. 64 Vgl. Riera, Carme (1990b), La obra poética de Carlos Barral, Barcelona: Nexos, S. 19. 65 Vgl. Manent (2008), S. 179. 66 Ferrater, Gabriel (1953), »Madame se meurt…«, in: Ínsula. Revista de letras y ciencias humanas 95, S. 12f., hier S. 12. Über zwanzig Jahre später ist Ferraters Statement immer noch so prägnant, dass Montserrat Roig es in einem Artikel mit dem Ausruf »Madame vit encore!« zu widerlegen sucht. Vgl. Roig, Montserrat (1976),
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scheint mit Joan Ferratés Übersetzung von Eliots The Waste Land der einzige katalanischsprachige Beitrag überhaupt in Laye.67 Gabriel Ferrater ist der einzige der hier betrachteten Dichter, der sich regelmäßig in Kreisen katalanischer Literaten bewegt, so dass ihn Castellet als »pont« zwischen den beiden ›Welten‹ bezeichnet.68 Im Haus des Altphilologen Eduard Valentí69 findet in den 60er Jahren jeden Samstag eine katalanische tertúlia statt, an der auch Joan Petit, Mitarbeiter bei Seix Barral, sowie die Dichter Rosa Leveroni und Joan Vinyoli70 teilnehmen71 – »[…] tot i l’absoluta diferència que hi havia entre el seu [de Gabriel Ferrater] concepte de poesia i el meu. Les lectures començaven al vespre i acabaven a la matinada. I tots en sortíem fascinats.«72
»Cataluña hacia el Congrès de Cultura«, in: Triunfo 676, S. 50f., hier S. 51. Vgl. außerdem Vilarós, Teresa M., »A cultural mapping of Catalonia«, in: Gies, David T. (Hrsg.) (1999), The Cambridge Companion to Modern Spanish Culture, Cambridge: Cambridge University Press, S. 37-53, hier S. 37. 67 »La terra eixorca de T.S. Eliot«, in: Laye 21 (1952), S. 44-54. Vgl. die Aussage Josep Maria Castellets im Gespräch mit F.B. (20.02.2009), Anhang, S. 321. 68 Vgl. die Aussage Castellets im Gespräch mit F.B. (20.02.2009), Anhang, S. 319. 69 Mit dessen Tochter Helena Gabriel Ferrater Anfang der 60er Jahre liiert war. Vgl. Ferrater, Gabriel (1995), Cartes a l’Helena, ed. de Joan Ferrater i José Manuel Martos, Barcelona: Empúries. 70 Vinyoli war Arbeitskollege Barrals bei Labor Editores. Nach dem Tod seines Partners Víctor Seix hatten Unstimmigkeiten in der Verlagsführung dazu geführt, dass Barral sich 1969 mit der Gründung des Verlages Barral Editores von Seix Barral löste. 1974 sah sich Barral finanziell gezwungen, seinen Verlag an Labor zu verkaufen. 1978 wurde das Imprint Barral Editores geschlossen. Vgl. Muñoz Lloret, Teresa (2006), Josep M. Castellet. Retrat de personatge en grup, Barcelona: Ed. 62, S. 159, und Pohl (2003), S. 97, 300, sowie Pohl, Burkhard (2002), »Transatlantische Geschäfte. Die Vermittlung lateinamerikanischer Narrativik durch spanische Verlage zur Zeit des Franquismus und der Transición«, in: Engelbert, Manfred/Pohl, Burkhard/Schöning, Udo (Hrsg.), Märkte, Medien, Vermittler. Zur interkulturellen Vernetzung von Literatur und Film, Göttingen: Wallstein, S. 187-222, hier S. 208. 71 Vgl. Servià, Josep-Miguel (1978), Gabriel Ferrater. Reportatge en el record, Barcelona: Pòrtic, S. 51f., Ferraté (1986b), S. 541, und Casas Baró, Carlota (2004), De Gabriel Ferrater a Jaime Gil de Biedma: Les dones i els dies (1968) i Las personas del verbo (1975-1982), Barcelona: Universitat Autònoma de Barcelona, unveröffentlicht, S. 63. 72 Joan Vinyoli, zit. nach Servià (1978), S. 52f.
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Aber auch Castellet nimmt eine Vermittlungsfunktion ein: Seit 1964 ist er »director literari« des neugegründeten Verlages Edicions 62. Gemeinsam mit Joaquim Molas versucht er hier, mit der 1963 veröffentlichten Anthologie Poesia catalana del segle XX an den Erfolg seiner Anthologie Veinte años de poesía española von 1960 anzuknüpfen.73 In diesem Sinne muss auch die Wahl des Kastilischen als Literatursprache bei Barral, Gil de Biedma und Goytisolo, die in Barcelona aufgewachsen waren, weniger als politische Stellungnahme gegen das Katalanische oder als Zwang des Franquismus, denn als Element ihrer Sozialisierung verstanden werden: »El catalán era la primera de mis lenguas
»‒¿Cómo se produjo tu elección de len-
extranjeras, una lengua que hablaba corrien-
gua?
temente y a diario, pero sólo para comuni-
‒No había caso, sólo quedaba el castella-
carme con determinados grupos de gente.
no. En casa era el idioma de siempre, y
Era, ante todo, la lengua de los veranos, la
más faltando mi madre. No nos lo impuso
lengua de los pescadores de Calafell, entre
Franco, eso es absurdo. En mi casa se ha-
quienes la había aprendido […].«74
blaba el castellano, como en la de Barral: su madre era argentina, se llamaba Agesta. Mi padre y mi madre hablaban castellano entre ellos.«75
Francesc Codina betont demgegenüber die Situation »un xic especial« der Brüder Joan Ferraté und Gabriel Ferrater76 in der Gruppe junger Intellektueller, die sich des Kastilischen bedienten und denen, besonders im Falle des Philosophen Manuel Sacristáns und Castellets, über Laye eine Affinität zur Falange nachge-
73 Castellet, Josep Maria/Molas, Joaquim (1963), Poesia catalana del segle XX, Barcelona: Ed. 62. Vgl. auch Muñoz Lloret (2006), S. 168. 74 Barral (2001), S. 105. 75 Goytisolo in einem Interview: Vázquez Rial (1992), S. 20. Marsé erläutert zu seiner persönlichen Schreibsituation, dass neben der Muttersprache – in seinem Fall wurde zuhause Katalanisch gesprochen – auch die Sprache ausschlaggebend gewesen sei, in der er sich als junger Literat geschult habe. Auf Spanisch gelesene Klassiker und Kinofilme hätten dazu geführt, dass er ebenfalls auf Kastilisch zu schreiben begann (vgl. Juan Marsés Aussage im Gespräch mit F.B. (24.02.2009), Anhang, S. 330f.). 76 Joan verwendete die kastilische, Gabriel die katalanische Orthographie des Nachnamens.
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sagt wird:77 »[E]ls germans […] havien començat a utilitzar el català com a llengua literària personal i a mantenir contactes amb escriptors catalans ›resistents‹ com Carles Riba, Rosa Leveroni i Joan Vinyoli.«78 Wenn hier Barcelona nun als Interferenzraum für die literarische Betätigung einiger lebensweltlich miteinander in Kontakt stehender Autoren bezeichnet wird, so orientiert sich der Begriff an der auf den Münchener Philosophieprofessor Dieter Henrich zurückgehenden »Konstellationsforschung«. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus ergründet dieser ideengeschichtliche Forschungsansatz mit dem Konstrukt eines auf philosophischen Positionen beruhenden »Denkraumes«79 die Bedeutung von »[…] Debatten, also […] kontroversen Argumentationen«80. Dabei wird angenommen, dass einer Konstellation von Personen immer eine »Konstellation von philosophischen Problemen«81 vorausgeht. Bei einer solchen Vorgängigkeit des Inhalts der Debatten ist folglich der direkte Kontakt der Disputanten nicht notwendige Bedingung für die Bildung einer Konstellation;82 ihre Bedeutung wird innerhalb der Forschungsrichtung allerdings unterschiedlich eingeschätzt. Marcelo Stamm setzt sie nicht voraus, da die Grunddynamik theoretischer Entwicklungen zwar individuell motiviert sei, eine Konstellation aber über verschiedene »konstellatorische Medien« hergestellt werden könne: »[…] das Gespräch, die Korrespondenz, die Disputation, das Diskussionspapier, das Manifest, die Rezension.«83 Martin Mulsow hingegen konstatiert, faktisch sei »räumliche Nähe unabdingbare
77 Vgl. die Aussage Juan Marsés im Gespräch mit F.B. (24.02.2009), Anhang, S. 329f., und Castellet (2009), S. 40f. 78 Codina i Valls, Francesc (1993), »La complicitat poètica entre Jaime Gil de Biedma i Gabriel Ferrater: poesia de l’experiència i literatura autobiogràfica«, in: Ferrando Francés, Antoni/Hauf, Albert G. (Hrsg.), Miscel·lània Joan Fuster VII: Estudis de llengua i literatura, Barcelona: Abadia de Montserrat, S. 297-323, hier S. 298. 79 Henrich, Dieter (2005), »Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie. Motiv – Ergebnis – Probleme – Perspektiven – Begriffsbildung«, in: Mulsow, Martin/Stamm, Marcelo (Hrsg.) (2005a), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 15-30, hier S. 30. 80 Ebd., S. 19. 81 Ebd., S. 23 (Herv. i.O.). 82 Stamm, Marcelo R. (2005), »Konstellationsforschung – Ein Methodenprofil: Motive und Perspektiven«, in: Mulsow/Stamm (2005a), S. 31-73, hier S. 50. 83 Ebd., S. 57.
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Voraussetzung«84 – wenigstens in der Etablierungsphase einer Konstellation. Ein gemeinsames Erlebnis oder Ritual85 und »determinierende Faktoren«86 wie die Französische Revolution beförderten dann den Austausch. Wesentlich für den implizit historiographischen Ansatz der Konstellationsforschung ist die Suche nach einem »missing link«87, um »erratische Dokumente«88 in einen Diskussionskontext einordnen zu können. Trotzdem wird letztlich »[d]er Begriff der Konstellation […] dabei bewusst offengehalten, so dass er Zusammenhänge sowohl zwischen Personen wie auch zwischen Dokumenten, Theorien oder Problemen umfassen kann.«89 Theodore Ziolkowski arbeitet mit einem ähnlichen Ansatz und literaturwissenschaftlichem Interesse ebenfalls zum »Ereignis Weimar – Jena«90 bezüglich der Romantiker, die Ende des 18. Jahrhunderts in den beiden Städten aufeinander trafen. Sein Begriff des »Chronotopos« ist im Zusammendenken von Raum und Zeit zwar von Reminiszenzen an Bachtin geprägt, bezieht sich aber nicht auf eine Raum-Zeit-Einheit als literarisches Motiv, sondern auf lebensweltliche Phänomene einer raum-zeitlichen Nähe von Schriftstellern. Aus dem Studium von »[…] Briefe[n], Tagebücher[n], Zeitungen, Zeitschriften, Vorlesungsverzeichnisse[n], Ausstellungskataloge[n], Vorstellungsprogramme[n] für Oper und Theater, Protokolle[n] verschiedener Gesellschaften, Stadtpläne[n], Straßenverzeichnisse[n] […] [e]rgibt sich ein lebendiges Bild des betreffenden Chronotopos als Kontext für das geistige Leben […].«91
84 Mulsow, Martin (2005), »Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung«, in: Mulsow/Stamm (2005a), S. 74-97, hier S. 75. 85 Ebd., S. 88. 86 Henrich (2005), S. 25. 87 Mulsow, Martin/Stamm, Marcelo (2005b), »Vorwort«, in: dies. (2005a), S. 7-12, hier S. 7. 88 Mulsow (2005), S. 91. 89 Füssel, Marian (2005), »Intellektuelle Felder. Zu den Differenzen von Bourdieus Wissenssoziologie und der Konstellationsforschung«, in: Mulsow/Stamm (2005a), S. 188-206, hier S. 189. 90 So der Titel des Sonderforschungsbereiches 482 an der Universität Jena, aus dessen Arbeit folgender Sammelband hervorgegangen ist: Manger, Klaus/Pott, Ute (Hrsg.) (2006), Rituale der Freundschaft, Heidelberg: Winter. 91 Ziolkowski, Theodore (2006), »Chronotopologie als Methode«, in: Manger/Pott (2006), S. 263-278, hier S. 278.
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Aus diesem können dann Querbeziehungen zwischen auch gattungsmäßig nicht verwandten Arbeiten hergestellt werden, die aus dem Kontakt der Schriftsteller während des Schreibprozesses hergeleitet werden. Im Vergleich zur Konstellationsforschung, die bei Ziolkowski erwähnt wird,92 steht hier also der direkte Kontakt der betreffenden Autoren im Mittelpunkt und wird zum Anlass genommen, bestimmte textuelle Phänomene überhaupt erst intertextuell aufeinander zu beziehen. Freundschaft und Dichtung bilden in einem von raum-zeitlicher Nähe geprägten Umfeld somit ein Kontinuum, in dem die eine kaum ohne die andere gedacht werden kann. So lassen sich für die Dichter, die in Barcelona aufeinandertreffen, beispielhaft konkrete gemeinsame Projekte identifizieren, ausgehend von der Mitarbeit an Laye.93 Besonders in den späten 50er Jahren entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit im editorischen Bereich, bei der der Literaturkritiker José María Castellet eine wesentliche Rolle spielte. Barral sagte über seine literarisch-freundschaftliche Beziehung zu Castellet: »[…] [L]a amistad de José María Castellet fue decisiva, ya que sin la influencia del crítico con toda probabilidad algunos poemas de Diecinueve figuras de mi historia civil hubieran tenido otro tono y otras referentes.«94 Neben gegenseitiger Korrekturarbeit an Gedichten95 führte der gemeinsame Besuch junger Dichter aus ganz Spanien am Grab Machados anlässlich dessen zwanzigsten Todestages zur Vernetzung der Akteure in Madrid, Paris und Barcelona96 sowie zu editorischen Projekten wie der Anthologie Castellets Veinte años de poesía española und der Poesie-Reihe »Colliure« im Verlag Seix Barral.
92 Vgl. ebd., S. 266. 93 Biedma und Barral hielten z.B. 1952 einen gemeinsamen Vortrag über Saint John Perse und übersetzten noch 1983 zusammen Brechts Leben Eduard des Zweiten von England. Vgl. Rovira, Pere (1990), »Las relaciones generosas. Jaime Gil de Biedma y Carlos Barral«, in: Ínsula. Revista de letras y ciencias humanas 523-524, S. 45-47, hier S. 45. 94 Riera, Carme (1990a), »El núcleo poético de la ›Escuela de Barcelona‹: vocación de modernidad«, in: Ínsula. Revista de letras y ciencias humanas 523-524, S. 7f. 95 García Rafols, Julia (1990), »Alfonso Costafreda y Carlos Barral: Correspondencia inédita«, in: Ínsula. Revista de letras y ciencias humanas 523-524, S. 30 und vgl. Barral (2001), S. 362. 96 Vgl. die Aussage Castellets im Gespräch mit Riera, Carme (2009), »Conversación con Josep Maria Castellet«, in: Ínsula. Revista de letras y ciencias humanas 745-746, S. 7-10, hier S. 7.
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Ebenso gibt es vielfache Berührungspunkte zwischen den Texten,97 die nicht als dezidiertes Programm der Gruppe entstanden sind. Vielmehr zeichnet sich aus dem engen Kontakt, der Diskussionskultur und gegenseitig empfohlenen Lektüren heraus »una atmósfera común« ab, »[…] de preocupaciones compartidas, que sirve de alimento y soporte para las diversas tareas propias, para el desarrollo peculiarizado de cada uno de los poetas.«98
1.2 L ITERATURHISTORIOGRAPHISCHE K ONTROVERSEN 1.2.1 Freundschaftsdiskurse als Ordnungskriterium Solche persönlichen und literarischen Relationen zwischen Literaten sind, wie die Ansätze der Konstellationsforschung und der Chronotopologie gezeigt haben, nicht zum ersten Mal festgestellt worden. Die direkten Kontakte der hier behandelten Dichter lassen eine unidirektionale Rezeption ihrer Texte unwahrscheinlich erscheinen. Nicht umsonst werden sie der gesamtspanischen generación del medio siglo oder der auf Barcelona konzentrierten Escuela de Barcelona99 zugeordnet: »[…] parece inevitable que perteneciendo a una misma ciudad y compartiendo edad y parecida clase social, las afinidades sean numerosas.«100 Dabei handelt es sich um Verortungen in der Literaturgeschichte, die ganz im Sinne der in Spanien seit dem Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert üblichen Einteilung von Literaten, besonders von Dichtern, in literarische Generationen (z.B. la generación del 98 oder la generación del 27) erfolgen. Unter verallgemeinernden Kriterien der Gleichaltrigkeit, Gleichzeitigkeit und Gleichartigkeit basiert die Gruppierung von Autoren zum einen auf der thematisch-strukturellkonzeptionellen Affinität ihrer Texte, zum anderen auf ihrer persönlichen Bekanntschaft. Dieses Konzept ordnet die Literaturgeschichte vor allem unter einem pragmatischen Gesichtspunkt, der in der neueren Literaturwissenschaft kritisiert wird, weil er freundschaftliche Beziehungen bei geringer Affinität der
97 Vgl. die Analysen in den Kapiteln 3-6. 98 García Montero, Luis (1996), »Historia y experiencia en la poesía de Ángel González«, in: Pérez Lasheras, Antonio, (Hrsg.), Compañeros de viaje. Actas del Congreso ›Jaime Gil de Biedma y su generación poética‹, Vol. 2, Zaragoza: Gobierno de Aragón, S. 377-390, hier S. 377. 99 So der Titel des Standardwerkes von Carme Riera über den engeren Kern der ›Generation‹. Vgl. Riera (1988). 100 Masoliver Ródenas (2003), S. 73.
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Texte überbewerte (z.B. bei der generación del 27) oder die Zweckabsicht der Vermarktung der ›Generation‹ ignoriere (z.B. bei der generación del medio siglo),101 »[…] sustituyendo la lectura individual, la única posible, por una lectura de grupo.«102 Obwohl die Diskussion um die theoretische Fassung des Generationsbegriffes vor allem in Deutschland geführt wurde – der Anstoß zur Debatte ging von Wilhelm Diltheys Novalis-Aufsatz von 1866 aus –, wurde die Idee unter anderem von José Ortega y Gasset aufgegriffen, der Generationen nicht nur genealogisch begreift, sondern jede neue Generation vor die Notwendigkeit gestellt sieht, sich für oder gegen die von der vorherigen etablierte Geisteshaltung zu entscheiden.103 Literaturgeschichtlich angewendet wurde das Konzept der Generation in Spanien erstmalig von Azorín, der die Benennung »generación de 98« prägte.104 Es schloss sich eine kontrovers geführte Debatte um die Konstituenten von Generationen an: Sind sie als »konkrete Lebens- und Wirkensgemeinschaft[en]«105 zu verstehen oder bilden sie eine »Entelechie«106, die ihnen als »[…] Ausdruck der Einheit ihres ›inneren Ziels‹, Ausdruck eingeborenen Lebensund Weltgefühls«107 innewohnt? In seiner detaillierten Kritik der Azorín’schen Begriffsanwendung schlägt Hans Jeschke eine flexible, aber in sich kohärente Orientierung an den Kriterien der Gleichaltrigkeit und eines prägenden Generationserlebnisses (in diesem Fall das Jahr 1898) vor. Außerdem betont er in Anlehnung an Dilthey die enge Bekanntschaft und Freundschaft sowie den daraus resultierenden (täglichen) Kontakt der betreffenden Autoren als konstituierende
101 Vgl. Gambarte, Eduardo Mateo (1996), El concepto de generación literaria, Madrid: Síntesis, S. 169f., 216. 102 López Castro, Armando (1999), La voz en su enigma. Cinco poetas de los años sesenta, Madrid: Pliegos, S. 11. 103 Ortega y Gasset, José (21928) [1921], »El tema de nuestro tiempo«, in: ders., El tema de nuestro tiempo. El ocaso de las revoluciones. El sentido histórico de la teoría de Einstein, Madrid: Revista de Occidente, S. 13-154, hier S. 15, 19, 24. 104 Vgl. Azorín (1919) [1913], »La generación de 1898«, in: ders., Obras completas 12, Clásicos y Modernos, Madrid: Raggio, S. 233-255. 105 Vgl. Alewyn, Richard (1929), »Das Problem der Generation in der Geschichte«, in: Zeitschrift für deutsche Bildung 1, Jahrgang 5, S. 519-427, hier S. 520. 106 Pinder, Wilhelm (1926), Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, Berlin: Frankfurter Verlagsanstalt, S. 48, 155-159. 107 Mannheim, Karl, (1964) [1925], Wissenssoziologie, Berlin u.a.: Luchterhand, S. 518 (Herv. i.O.).
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Elemente einer Generation.108 Allerdings erscheint Jeschke Azoríns Auswahl der Generationsangehörigen inkonsequent: Warum sollte ein selten in Madrid anzutreffender Miguel de Unamuno hinzugezählt werden, nicht aber der in Frankreich lebende Juan Ramón Jiménez?109 Somit gibt er einer sowohl am Text als auch an den Lebensdaten orientierten Zuordnung den Vorzug gegenüber einem als ›schicksalhaft‹ erlebten Zusammenfinden durch einen ähnlichen Geist beseelter Autoren. Während das Konzept der Generation (außerhalb Spaniens) also schon diskutiert wird (freilich ohne grundsätzlich in Frage gestellt zu werden), verleiht ihm Pedro Laín Entralgo 1945 mit seinem Buch über die generación del 98 erst Breitenwirkung.110 So erstaunt es nicht, dass José Luis Cano 1970 Freundschaft als Ursache der »firme cohesión«111 der generación del 27 konstatiert. Bis in die 90er Jahre hinein wurde der Generationendiskurs in Spanien nicht wesentlich hinterfragt und erfreute sich einer »amazing longevity«112. In der neueren Literaturwissenschaft mehren sich jedoch die Argumente gegen einen auf die Person des Autors zentrierten Generationsbegriff. So dekonstruiert etwa Jochen Mecke den Begriff der Generation von 98, indem er zum einen die neuere Kontroverse über die (In-)Existenz dieser ›Generation‹ auf ein politisches Moment zur Zeit der Verbreitung dieser Bezeichnung zurückführt. Zum anderen erkennt er, dass das Problem der spezifisch spanischen Literaturgeschichtsschreibung der ›Generationen‹ und damit die Ursache sich anschließender Diskussionen in der Heterogenität der ideologischen und literarischen Positionen der gruppierten Autoren liegt. In seiner Analyse der Generation von 98 benennt er ihre Gemeinsamkeit in dem Versuch, die spezifische Problematik einer
108 Jeschke, Hans (1934), Die Generation von 1898 in Spanien. Versuch einer Wesensbestimmung, Halle an der Saale: Niemeyer, S. 35. 109 Ebd., S. 41. 110 Vgl. Mecke, Jochen (1998), »Una estética de la diferencia: el discurso literario del 98. ¿Efemérides para una fantasma?«, in: Iberoamericana 71/72, S. 109-143, hier S. 111. Vgl. auch Laín Entralgo, Pedro (1945), La generación del noventa y ocho, Madrid: Larra. 111 Cano, José Luis (21973a), »La generación de la amistad«, in: ders., La poesía de la generación del 27, Madrid: Guadarrama, S. 11-24, hier S. 14. 112 Fuentes, Víctor (1995), »More than Three Forms of Distorsion in 20th Century Spanish Literary Historiography: Counterpoint Alternatives«, in: Colmeiro, José (Hrsg.), Spain today: essays on literature, culture, society, Hanover, NH: Dartmouth College, Dept. of Spanish and Portuguese, S. 21-33, hier S. 22.
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Suche nach kultureller Identität auf ästhetisch unterschiedlichste Weise zu lösen.113 Auch Eduardo Gambarte diskutiert das Generationskonzept ausführlich und entlarvt es insofern als impraktikabel, als es nicht konsequent angewendet worden sei, eine kohärente Zuordnung allerdings auch kaum ermögliche. So kritisiert er beispielsweise die exklusive Zuordnung von Dichtern zur Generation von 27, die zu einer literaturgeschichtlichen Missachtung von Roman und Drama der Zeit geführt habe.114 Ähnliches sei aus Gründen gezielter Vermarktung bei der generación del medio siglo geschehen.115 Für die Gruppe junger Dichter aus Barcelona muss die Etikette der Generation folglich als ein »mot de combat« und als »[…] arma dialéctica (auto)afirmadora y diferenciadora«116 verstanden werden, die ihr erlaubt, sich von (vorhergehenden) Gruppierungen abzugrenzen. Als ein generationsbildendes Element betont zwar auch Gambarte den Aspekt der Freundschaft, allerdings in zweifach negativer Weise: Bezüglich der generación del 27 stellt er fest, dass die neuere Forschung die stets betonte »mitología de la amistad«117 der einzelnen Dichter untereinander relativiert habe; bezüglich der generación de medio siglo hingegen sieht er in der Nähe der Dichter zueinander ein vordergründig soziales Moment, das sich nur in wenigen Fällen auf textueller Ebene niedergeschlagen habe.118 Aus der inzwischen schon bald ein Jahrhundert währenden Diskussion um das Konzept der Generationen, »[…] un concepto trillado y aburrido«,119 lässt sich ableiten, dass es sich zwar um eine unter pragmatischen Gesichtspunkten sinnvolle Methode handelt, die eine literaturgeschichtliche Übersichtlichkeit schafft, aber im selben Zuge ausgrenzend wirkt und das literarische Panorama vereinfacht. »En el caso particular del núcleo catalán, estos membretes encierran sin duda una evidente utilidad, pero, por otro lado, no están desprovistos de rigideces que recortan, aíslan una secuencia histórica en el amplio ›existir‹ literario de sus miembros y, al mismo tiempo, ex-
113 Mecke (1998), S. 113f., 120, 140. 114 Vgl. Gambarte (1996), S. 166. 115 Vgl. Ebd., S. 216. 116 Bonet (1994), S. 56. 117 García Montero, Luis (1984), »Poeta y amigo. Un caso extraño«, in: Alberti, Rafael, Federico García Lorca. Poeta y amigo. Poesía, Granada: Anel, S. 11-41, hier S. 21. 118 Vgl. Gambarte (1996), S. 160f., 216. 119 López Castro (1999), S. 11.
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pulsan del claustro nominal […] a otros intelectuales de la época que acaso mantengan afinidades ideológicas con aquéllos, al lado de contrastes asimismo notorios.«120
So bemerkt José María Castellet, der maßgeblich an der »autopromoción«121 der Gruppe beteiligt war und 1960 die Anthologie Veinte años de poesía española122 sowie die Colección Colliure herausgab, dass die Eingrenzung auf eine Escuela de Barcelona, wie sie 1988 von Carme Riera vorgenommen worden ist, rigide und restriktiv sei: »En el caso de adoptar el término ›Escuela de Barcelona‹ sacrificamos la permanencia en nuestro grupo de Gabriel Ferrater, dado que su poesía está escrita en catalán. Eso es un desatino si tenemos en cuenta las profundas implicaciones morales y literarias de este poeta con todos nosotros.«123
Dabei war Gabriel Ferrater weder in die Anthologie noch in die Reihe Colliure aufgenommen worden. Zum einen, weil er erst 1958 begonnen hatte, Gedichte zu schreiben, zum anderen, weil er als katalanischer Autor nicht in eine spanische Tradition gestellt werden konnte oder sollte.
120 Bonet (1994), S. 59 (Herv. i.O.). 121 Gil de Biedma in einem Interview von 1983, Fernández Palacios, Jesús (2002), »Con Jaime Gil de Biedma, colgados de la poesía«, in: Pérez Escohotado, Javier (Hrsg.), Jaime Gil de Biedma. Conversaciones, Barcelona: El Aleph, S. 163-174, hier S. 170f. 122 Castellet hatte nicht zuletzt in seinem Vorwort die in der Anthologie vereinten jungen Dichter in die Tradition einer engagierten poesía social gestellt, die er in der emblematischen Figur Machados kristallisiert sah. Vgl. Castellet, José María (1960b), »Introducción«, in: ders. (Hrsg.), Veinte años de poesía española, Barcelona: Seix Barral, S. 25-105, hier S. 100-105. 123 Castellet in einem Gespräch mit Bonet am 18.9.1990: Bonet (1994), S. 77. In einer posthum erschienenen und unvollständig gebliebenen Rezension der spanischen Übersetzung von Ferraters »Poema inacabat« bestreitet Barral, unter Rückgriff auf die literaturhistorisch festgezurrten Begrifflichkeiten, die literarische Affinität Ferraters zu seinen Dichterfreunden: »Digamos de paso que el poema está escrito a la contra de los puntos de vista y del ejercicio poético de sus compañeros de generación y de grupo en lengua castellana, pese a las declaraciones que Ferrater hizo en sentido contrario […].« Barral, Carlos (1989), »Los lenguajes deformados. Texto póstumo de Carlos Barral sobre el poeta Gabriel Ferrater«, in: El País, 24.12.1989, S. 12. Allerdings bleibt eine genaue Argumentation und damit die Zielrichtung von Barrals’ Argumentation offen. Vgl. Perpinyà (1997), S.211.
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Die von Riera gewählte Gruppenbezeichnung der »Escuela de Barcelona« geht zurück auf einen Ínsula-Artikel über eine Lesung Barrals, Biedmas und Goytisolos 1959 im Madrider Ateneo. Carlos Bousoño bezeichnet sie darin als »joven escuela de poetas catalanes que escriben en castellano«124. Castellet ist nicht der einzige, der einer nachträglichen Gruppierung skeptisch gegenüber steht, auffallend ist eine immer wiederkehrende, fast wortgetreue Selbstbeschränkung der Mitglieder der escuela oder generación auf eine Gruppe von Freunden: »[…] [É]ramos, simplemente, unos amigos que coincidíamos en Laye, siguiendo cada cual su propio camino. No había ninguna clase de conspiración. Nos pasábamos, eso sí, información literaria – libros, poemas, ensayos –, pero nunca nos transmitimos ideología.«125 »[…] [É]ramos simplemente un grupo de amigos, y en él ni mis compañeros ni yo ejercíamos de maestros o discípulos.«126 »Això de l’Escuela és una etiqueta retrospectiva. El que hi havia en aquell moment era una colla heterogènia d’amics que ens vèiem, ens llegíem els uns als altres i estàvem més o menys d’acord.«127
Auch wenn also auf der Qualität der Beziehungen als reine Freundesgruppe insistiert wird, eröffnet diese scheinbare Einschränkung doch Wege, die Intellektuellen unter umfassenderen Begriffen zu untersuchen, die deutlich machen, dass Relationen keinesfalls nur zwischen einigen wenigen Dichtern bestanden haben: »[…] [M]e gusta más el término grupo interdisciplinario, el cual acoge a amplio abanico de narradores, ensayistas, poetas, pintores, arquitectos y músicos – algunos de ellos simultaneando la lengua catalana con la castellana – como los hermanos Ferrater, de Martín, Sacristán, los Goytisolo, Barral, Esteban Pinilla, García Seguí, Josep Casanovas, Ràfols Casamada, Oriol Bohigas o Josep Guinovart.«128
124 Bonet (1994), S. 76. 125 Joan Ferraté in einem Gespräch mit Bonet am 15.5.1992, ebd., S. 68. 126 Goytisolo in einem Gespräch mit Bonet am 15.9.1992, ebd., S. 79. 127 Joan Ferraté in einem Interview, vgl. Sòria, Enric (1988), »Joan Ferraté: La saviesa indòcil«, in: Setze 18, zit. nach Cornudella, Jordi/Perpinyà, Núria (Hrsg.) (1993), Àlbum Ferrater, Barcelona: Quaderns Crema, S. 131. 128 Castellet im Gespräch mit Bonet am 18.9.1990, zit. nach Bonet (1994), S. 77.
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Bonet schlägt deshalb vor, statt von einer Generation von einer Gruppe und von »círculos« zu sprechen, da so eine dynamische, konzentrische Analyse möglich werde, die unterschiedliche literarische Genres und Sprachen mit einbeziehen könne.129 Ähnlich wie dies beim Konzept der Generation geschieht, nehmen Bonet und andere Kritiker desselben eine »unidad grupal«130 an, die durch die gemeinsame Arbeit in Zeitschriften und Verlagen und andere gemeinsame Erfahrungen entstanden sei: zum Beispiel durch den Bürgerkrieg als individuelle und die Zeit der posguerra als kollektive Erfahrung.131 Ganz dem traditionellen antiken Freundschaftsdiskurs verpflichtet, spielt bei der Konstruktion einer solchen Gruppe wie bei der einer Generation also auch die Frage der Gleichheit der Freunde, bzw. der affinen Dichter, eine Rolle132 – unter anderem gewährt durch Ähnlichkeit in der Altersstruktur und in den Erfahrungen. Literarische Affinitäten werden also einerseits mit Begriffen der Freundschaftssemantik beschrieben; andererseits gibt genau diese freundschaftliche Kohäsion Anlass, ihre Bedeutung abzuwerten, wie Barral es in seinen Memorias tut, wenn er von »afinidades selectivas«, »grupo grumoso« und »fratría de pensionado«133 spricht.
129 Ebd., S. 44. 130 Ebd. 131 Masoliver Ródenas, Juan Antonio (1990), »La ›Escuela de Barcelona‹: La poesía como complicidad y confidencia«, in: Ínsula. Revista de letras y ciencias humanas 523-524, S. 19-21, hier S. 20; ähnlich argumentiert auch Victor García de la Concha in einer Diskussionsrunde in Oviedo, 28.05.1987. »28 Tarde. Carlos Barral, Ángel González, José Agustín Goytisolo, Francisco Brines, Claudio Rodríguez, Carlos Sahagún, Víctor García de la Concha, José Manuel Caballero Bonald«, in: Munárriz, Miguel (Hrsg.) (1990), Encuentros con el 50. La voz poética de una generación, Oviedo: Centro Cultural Campoamor, S. 63-81, hier S. 64. 132 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. und hrsg. von Ursula Wolf (22006), Reinbek: Rowohlt, S. 257: »Wichtig für die Freundschaft ist aber auch, dass sie zusammen aufwachsen und gleichaltrig sind; denn Gleichaltrige suchen einander, und Menschen mit gemeinsamen Gewohnheiten werden Gefährten. Daher gleicht auch die brüderliche Freundschaft der der Gefährten.« (1161b) »In der Freundschaft zwischen Brüdern findet man ebenfalls die Merkmale, die die Freundschaft unter Gefährten aufweist, insbesondere zwischen solchen [Brüdern], die gut sind, und überhaupt zwischen denen, die einander ähnlich sind, insoweit Brüder mehr zusammengehören und einander von Geburt an lieben und insoweit Menschen, die von denselben Eltern abstammen und zusammen ernährt und erzogen wurden, ähnlicher im Charakter sind.« (1162a) 133 Barral (2001), S. 232, 235.
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1.2.2 Interferenz als alternative Kategorie Nach Ausschluss der ›Generation‹ als geeignetes Beschreibungsinstrument für literarische Gruppierungen verbleibt die Frage nach einer Alternative. Raymond Williams arbeitet in seinem literatursoziologischen Versuch, die Entwicklung des literarischen Feldes zu analysieren und die darin wirksamen Gruppen zu identifizieren, mit dem relationalen Begriff der formation, die er als »[…] variable relations in which cultural ›producers‹ have been organized or have organized themselves« definiert.134 Dabei stehen die formations den institutions gegenüber, da jene als nicht-offizielle Einrichtungen »closer to cultural production« seien als diese. Unter den Dachbegriff der formation fasst Williams auch »movements«, »schools«, »circles« und »specific isms«,135 in deren Etablierung er die Gefahr sieht, dass ihre Abgrenzung zu einer automatischen Weitergabe der Gruppenspezifika an hinzustoßende Künstler führe, so dass es zu einer »actual continuity of forms«, aber auch zu einer »imputed or suggested continuity« kommen könne.136 Als Analysekriterien schlägt Williams die internen Organisationsformen sowie die externen Relationen der formation vor: Von Gruppen mit einer festen internen Organisationsstruktur und »formal membership«137 über solche, die sich über »some collective public manifestation«138 definieren, bis hin zu Gruppen, die lediglich über »conscious association or group identification«139 verfügen, etabliert er eine Skala interner Organisation, die nicht nur für homogene Gruppen Kulturschaffender eines bestimmten Genres gelte, sondern verschiedene Künste sowie politische Aktivitäten mit einschließe.140 In den Relationen nach außen, also besonders zu den kulturellen Institutionen, unterscheidet Williams die Varianten der Spezialisierung, der Alternative und der Opposition.141 Angewendet auf die Dichter- und Intellektuellengruppe Barcelonas lassen sich bezüglich der internen Organisation einer formation bedeutende Gemeinsamkeiten, aber auch wesentliche Unterschiede zum Konzept der Generation erkennen. Als grundlegendes Kriterium der Zusammengehörigkeit kann sicherlich
134 Williams, Raymond (1981), Culture, Glasgow: Fontana, S. 35. 135 Ebd., S. 62. 136 Ebd., S. 64. 137 Ebd., S. 68 (Herv. i.O.). 138 Ebd. (Herv. i.O.). 139 Ebd. (Herv. i.O.). 140 Ebd., S. 69. 141 Ebd., S. 70.
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das Bewusstsein als »grupo de amigos« gelten, die regelmäßigen Treffen in variierenden, aber wiederkehrenden Konstellationen und die gemeinsame Arbeit (Laye, Seix Barral). Auf zweiter Ebene findet sich ein »Generationskriterium«, nämlich die öffentliche Manifestation der Gruppenidentität. Laye, als nicht von der Gruppe ins Leben gerufene Veröffentlichung, lässt sich hingegen schwerlich von Anfang an als geplante »group periodical«142 werten, sicherlich ist aber der gemeinsame Besuch am Grabe Antonio Machados in Collioure, als photographisch festgehaltener »acto generacional por antonomasia«143, sowie die sich anschließende Buchreihe Colliure (in spanischer Schreibweise),144 als bewusster Formierungs- und Publikationsakt im Sinne einer »autopromoción« zu sehen.145 Barral spricht von einer »maniobra de taller«, die das jahrelang ohne Ergebnis gebliebene Projekt einer »Antología de Laye« mit den Texten der Dichter, die in der Zeitschrift publiziert hatten, ersetzt.146 Damit dürfte die Grenze des Organisationsgrades erreicht sein, da, neben den beruflichen im Verlag Seix Barral, keine internen Hierarchien etabliert wurden. Man sieht hier also deutliche Parallelen zu dem Konzept der Generation, bedeutend ist aber der Verzicht auf eine korrespondierende Altersstruktur und auf einzelne literarische Genres, der die Relationen in ihrer Dynamik nicht einschränkt.
142 Ebd., S. 68. 143 Riera (1988), S. 37. 144 Und nicht in katalanischer Orthographie wie irrtümlich z.B. bei Pohl (2003), S. 136: frz. »Collioure«, kat. »Cotlliure«, sp. »Colliure«. In dieser Reihe publizierten Gabriel Celaya (Poemas de Juan de Leceta, 1961), Ángel González (Sin esperanza, con convencimiento, 1961), José Agustín Goytisolo (Años decisivos, 1961), Jesús López Pacheco (Canciones del amor prohibido, 1961), Carlos Barral (Diecinueve figuras de mi historia civil, 1962), Ángel Crespo (Suma y sigue, 1962), Gloria Fuertes (…que estás en la tierra, 1962), José Manuel Caballero Bonald (Pliegos de cordel, 1963), José Ángel Valente (Sobre el lugar del canto, 1963), Jaime Gil de Biedma (En favor de Venus, 1965) und Alfonso Costafreda (Compañera de hoy, 1966). 145 Die Bände der Reihe Colliure erscheinen unter dem Verlagsnamen »Literaturasa« – Literatura S.A. In diese Sociedad Anónima zahlten Barral, Castellet, Gil de Biedma, Goytisolo und Salinas ein Grundkapital von 4.600 bis 7.300 Peseten ein. Vgl. Pohl (2003), S. 135f. 146 Vgl. Barral (2001), S. 433.
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Im Bezug auf die Außenbeziehungen findet sich in der Dichtergruppe die besondere Einbindung der Zeitschrift Laye in die offiziellen Strukturen,147 welche die dortige Kulturarbeit zunächst in einen klar institutionellen Rahmen stellen; in den Jahren bis zur Einstellung der Arbeit 1954 mit der Einführung der Vorzensur wird Laye aber immer mehr zu einem alternativen Kulturinstrument: »Laye entwickelt sich in den vier Jahren seines Bestehens von einer offiziell falangistischen Publikation zu einer von einer Gruppe weniger politisch gebundener Personen getragenen Kulturzeitschrift, deren Positionen sich infolge der erlittenen staatlichen Bevormundung radikalisieren. Die Mitarbeiter von Laye beschließen im Sommer 1953 freiwillig das Ende der Zeitschrift, als per Anweisung aus dem MIT [Ministerio de Información y Turismo] die Vorzensur der Artikel verfügt wird.«148
Somit weist die Gruppe im Verlauf ihrer Entwicklung, gerade auch im Zusammenhang mit der Reihe Colliure und der Anthologie von 1960, eher lockere interne organisatorische Züge auf, war aber auch an Institutionen und semi-institutionelle Einrichtungen wie Seix Barral angebunden, aus deren Wirkkreis heraus sie eine kulturell-intellektuelle Alternative zum kulturellen Klima der FrancoZeit entwickelte. Interessanterweise bezieht auch Williams den Aspekt der Freundschaft in seine Bestimmung einer formation mit ein: Die Formation definiere sich zwar in erster Linie über »shared theory and practice«, jedoch seien ihre sozialen Bindungen oftmals nicht von denen einer Freundesgruppe mit gemeinsamen Interessen zu unterscheiden.149 Die von Gruppenmitgliedern betonte Beschränkung auf eine Gruppe von Freunden müsse allerdings hinterfragt werden, um eine zirkulä-
147 Laye wird von der Delegación del Distrito de Educación Nacional de Cataluña y Baleares herausgegeben und als solchermaßen offizielles Organ vom Erziehungsministerium und der Falange finanziert. Vgl. Pohl (2003), S. 88. 148 Ebd., S. 88f. Nach mehrfachen Konflikten mit dem MIT gibt die Ortega y Gasset gewidmete Ausgabe 23 von 1953 den Ausschlag für die Einführung der Vorzensur (man vergleiche den Parallelfall Ínsula, die 1955 nach einer Sondernummer über Ortega ein knappes Jahr lang nicht erscheinen konnte). Einen ersten Konfliktpunkt stellte 1952 in der 18. Laye-Ausgabe ein Artikel von Enrique Badosa über Miguel Hernández dar: »La conciencia de la muerte en Miguel Hernández«. Vgl. Bonet (1988), S. 119f. 149 Vgl. Williams (1981), S. 66.
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re Analyse der Gruppe anhand ihrer eigenen Definitionen zu vermeiden.150 Wie er an der Bloomsbury Fraction darlegt, sei vor allem die abgrenzende Selbstdefinition nach außen entscheidend, ein »concept of an outside world«151, wie es auch in der Gruppe Barcelonas erkennbar ist. An dieser Stelle wird eine Parallele zwischen der Kultursoziologie Williams’ und der Feldtheorie Pierre Bourdieus evident. Bourdieu postuliert ebenfalls die Notwendigkeit einer persönlichen Beziehung: Die »Identität der Position« als Abgrenzung gegenüber den Vorgängern reiche nicht aus, um eine Schriftstelleroder Künstlergruppe zu bilden.152 Innerhalb der Soziologie kultureller Produktion und ihrer Entstehungsbedingungen suchen beide nach einer Methode, kulturelle Phänomene und konkrete ›Produkte‹ zusammen zu denken und nicht isoliert voneinander zu interpretieren. So sieht Bourdieu seinen Feldbegriff als Möglichkeit, den Gegensatz zwischen interner und externer Analyse zu überwinden und den »Raum der Werke« als »Feld relationaler Positionierungen«153 aufzufassen: Auch hier findet sich also ein vom reinen Text losgelöster Begriff der Intertextualität. Er konstatiert außerdem eine Homologie zwischen dem Raum des symbolischen Gehalts, der Form der Kunstwerke und ihrer Positionen innerhalb des Produktionsfeldes, wie er am Beispiel von Alexandriner und freiem Vers illustriert, denen eine gesellschaftliche Bedeutung (in etwa: Tradition vs. Avantgarde) beigemessen werde, die neben der rein textimmanenten Semantik und Stilistik bestehe.154 Auch Williams vertritt eine kombinierte historischformale Analyse, in der er am Beispiel der Entwicklung der dramatischen Formen die Interdependenz zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und literarischen Formen aufzeigt.155 Die Gemeinsamkeit der soziologisch orientierten Konzepte Williams’ und Bourdieus mit der philosophiehistorischen Konstellationsforschung besteht insofern darin, dass sie sich »beziehungs- und nicht autor-
150 Williams, Raymond (2005) [1980], »The Bloomsbury Fraction«, in: ders., Culture and Materialism, London: Verso, S. 148-169, hier S. 150. 151 Ebd., S. 149. 152 Vgl. Bourdieu, Pierre (1999) [1992], Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. von Bernd Schwips und Achim Russer, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 421 (Herv. i.O.). Und weiter: »Der Feldeffekt trägt zur Entstehung günstiger Bedingungen für die gegenseitige Annäherung von Inhabern im objektiven Raum gleicher oder benachbarter Positionen bei; aber er genügt nicht, die Bildung von Korps […] entscheidend zu beeinflussen« (ebd., S. 422). 153 Ebd., S. 328. 154 Ebd. 155 Vgl. Williams (1981), S. 148-180.
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bzw. subjektzentriert« verstehen, also »Austauschbewegungen«156 in den Mittelpunkt der Analyse stellen. In den diskutierten heterogenen Ansätzen kultursoziologischer (Williams), soziologischer (Bourdieu) und ideengeschichtlicher (Henrich) Provenienz zur Beschreibung literarischer Gruppen, Konstellationen, Generationen oder Formationen haben sich persönliche Bekanntschaft und freundschaftliche Beziehungen als Voraussetzung und internes Funktionsprinzip von Gruppenbildungen herausgestellt. Während das literaturgeschichtliche Gliederungsprinzip der Generationen sich als zu strikt für die hier verfolgte Relationierung erwiesen hat, ist der William’sche Ansatz der formation insofern ein geeigneteres Beschreibungsinstrument, weil er auf die unterschiedlichen Grade der Institutionalisierung aufmerksam macht und keine Gattungsgrenzen etabliert. Wenn hier im Folgenden von literarischen Interferenzen die Rede ist, liegt dem Begriff zudem ein relationales Verständnis im Sinne der »Figurationen« Norbert Elias’ zugrunde. Die Produktion literarischer Texte steht als individueller Akt in einer Austauschbeziehung mit anderen Dichtern und deren Texten, ähnlich, wie Elias am Beispiel des Kartenspiels verdeutlicht: »Der Spielverlauf […] geht aus der Verflechtung der Handlungen interdependenter Individuen hervor […].«157 Dabei lassen sich die Qualitäten der Einzelrelationen variabel immer neu und unterschiedlich bestimmen: »Was man dabei unter Figuration versteht, ist das sich wandelnde Muster, das die Spieler als Ganzes miteinander bilden […]«158, ein »Spannungsgefüge«, das sich aus den Interdependenzen der Beteiligten ergibt und durchaus auch ihre Gegnerschaft implizieren kann.159 Neben der Beschreibung gesellschaftlicher Prozesse, unter die hier auch die Literaturproduktion gefasst werden soll, als relationales Gefüge, schließen Figurationen damit einen Aspekt mit ein, der ebenso für literarische Freundschaften gelten kann: (produktive) Rivalitäten. So bezeichnete Barral die literarisch-soziale Beziehung zwischen Gil de Biedma und Ferrater als »sparring perfecto«160, als einen intellektuellen Boxkampf also, der im Besonderen auch die literarische Nähe der beiden ›Ringpartner‹ mit einbezieht, wie Gabriel Ferrater verdeutlicht:
156 Füssel (2005), S. 189. 157 Elias, Norbert (2006), Was ist Soziologie?, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 172. 158 Ebd., S. 173. 159 Ebd. 160 Barral (2001), S. 227.
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»[...] [A]ra s’hauria d’explicar la complicitat, la confabulació que vam fer en Jaime Gil de Biedma i jo, i en la qual vam tenir una sort fantàstica, perquè l’un escrivia en català i l’altre en castellà, ja que, sinó, ens hauríem copiat mútuament […].«161
1.3 E IN M ODELL
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Wie die vorherigen Kapitel gezeigt haben, kann die Ablösung einer Terminologie der ›Generation‹ nur erfolgreich sein, wenn sie nicht mit deren Ausschlusskriterien einhergeht. In dieser Arbeit soll der neutrale Begriff der ›Interferenz‹ den bereits stark konnotierten und exklusiv formulierten Begriffen der Escuela de Barcelona, der Generación del medio siglo, del 50 oder de los niños de la guerra, wie sie in vielfältiger Variation etabliert worden sind, vorgezogen und Bonets Ideal dynamischer Relationen verfolgt werden. Daher verbleibt als einziges notwendiges Kriterium das räumlich-zeitliche Zusammentreffen. Auch wenn bei den hier betrachteten Dichtern ein historisches Ereignis wie der Spanische Bürgerkrieg als ›Generationserfahrung‹ angenommen werden kann, soll aus einer solchen Koinzidenz kein Ausschlusskriterium formuliert werden. Zwar mag unter soziologischer Perspektive ein freundschaftliches Zusammenfinden von Personen mit ähnlichen Erfahrungen und ähnlichem sozialen Hintergrund angenommen werden können, dennoch sollen derartige Prämissen nicht von vornherein die Analyse einschränken und in einen rigiden Begriff gießen. In diesem Zusammenhang kann sicherlich die gerade dem Generationen-Diskurs inhärente »Grundfrage« Bourdieus nur partiell beantwortet werden: »[…] [O]b die sozialen Effekte chronologischer Zeitgenossenschaft oder räumlicher Einheit wie etwa die Tatsache, dieselben spezifischen Treffpunkte zu frequentieren (Literatencafés, Zeitschriften, Kulturvereine, Salons usw.) oder denselben kulturellen Botschaften ausgesetzt zu sein (gemeinsamen Standardwerken, obligatorischen Fragestellungen, hervorstechenden Ereignissen usw.), mächtig genug sind, über die Autonomie der unterschiedlichen Felder hinweg eine gemeinsame Problematik – verstanden nicht als ›Zeitgeist‹, sondern als Raum der Möglichkeiten, als System unterschiedlicher Positionierungen, in Bezug auf den jeder sich zu definieren hat – entscheidend zu bestimmen.«162
161 Gabriel Ferrater in einem Interview: Porcel, Baltasar (1972), »Gabriel Ferrater. ›In memoriam‹«, in: Serra d’Or 153, S. 16-21, hier S. 20. 162 Bourdieu (1999), S. 320 (Herv. i.O.).
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Bourdieu spricht in diesem Zitat ein wesentliches Problemfeld literaturgeschichtlicher Erklärungsansätze an: Können unabhängig voneinander gemachte ähnliche Erfahrungen von Autoren zu einer ähnlichen literarischen Verhandlung führen? Welche Rolle kommt dabei der ›räumlichen Einheit‹ zu? Mit Bourdieu und der Konstellationsforschung soll in der vorliegenden Arbeit grundsätzlich die Möglichkeit solcher überindividueller Phänomene angenommen werden.163 Jenseits einer »Zeitgeist«-Argumentation, die den Entelechie-Diskurs des Generationenkonzeptes wieder aufnehmen würde, wird jedoch die zentrale Hypothese favorisiert, dass der persönliche Kontakt im ›Interferenzraum Barcelona‹ Berührungspunkte zwischen den Texten begünstigt. Ein derart problembewusster Ansatz muss nicht mehr von einer potentiellen Entelechie als Zusammengehörigkeitsmoment ausgehen, sondern kann das räumliche und zeitliche Aufeinandertreffen der Akteure zentral setzen. Darauf aufbauend können die benannten Relationen als Diskussions- und Dialogbeziehungen verstanden werden, die sich über den persönlichen Kontakt hinaus in die Textproduktion hinein verlängern. Es wird hier also nicht zur Prägung eines literaturhistorischen Alternativbegriffes kommen, dem die untersuchten Dichter exklusiv zugeordnet werden könnten. Eine Ausweitung der in dieser Arbeit lebensweltlich und textuell begründeten Interferenzen auf weitere Autoren und andere Genres ist daher durchaus denkbar und wünschenswert.164 In den folgenden Kapiteln werden somit beispielhaft Elemente der lyrischen »confabulació« zwischen den Dichtern aus Barcelona in textkonzentrierten Analysen untersucht, welche die persönlichen Beziehungen als Kontext und Ausgangspunkt berücksichtigen. Dabei sollen Episoden der Lebenswelt keine universalen Interpretationsschlüssel liefern, sondern die Aufmerksamkeit auf Relationen zwischen den Texten lenken. 1.3.1 Definition Der aus Michel Serres’ Wissenschafts- und Kommunikationstheorie entlehnte Begriff der Interferenz165 bietet in seiner Offenheit nun die Möglichkeit, alle relevanten Aspekte der Arbeit miteinander zu verbinden. Weder in Deutschland, wo Serres‘ Denken vor allem ausgehend von der im direkten Anschluss an die
163 Vgl. Füssel (2005), S. 202. 164 Dass auch genreübergreifende Interferenzen möglich sind, zeigt zum Beispiel das Kapitel Bonets zu den »[r]egueros intertextuales entre Gil de Biedma y Juan Goytisolo«. Vgl. Bonet (1994), S. 175-184. Vgl. auch Riera, Carme (1984), »El río común de Juan Marsé y Jaime Gil de Biedma«, in: Quimera 41, S. 56-61. 165 Vgl. Serres (1992).
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Erstveröffentlichung erschienenen Übersetzung von Le parasite rezipiert wurde,166 noch in Frankreich ist die Serres’sche Begriffsprägung der Interferenz eingehender kommentiert worden. Das mag daran liegen, dass der von Gilles Deleuze und Félix Guattari einige Jahre nach Serres‘ Interferenz eingeführte Begriff des Rhizoms als Metapher für die Wissensorganisation vergleichbar argumentiert und unverzüglich ins Deutsche übersetzt wurde.167 In Hermès II. L’interférence entwirft Serres in seinem charakteristischen philosophisch-literarischen Stil168 eine Beschreibungstheorie der Wissenschaften, den »neuen neuen wissenschaftlichen Geist«169. Mithilfe der Metapher des Netzes erläutert er, dass die Wissenschaften nicht mehr arbiträr abgegrenzte Forschungsfelder darstellten,170 sondern einen Knoten im Sinne eines Autobahnkreuzes171 bildeten, von dem aus die Übergänge zu anderen Fachgebieten fließend seien. Die einzelnen Wissenschaften hätten daher keinen festen Ort und keine feste Referenz mehr, so Serres, sondern gingen ineinander über: »Die Fähigkeit des Netzes zu Zirkulation und Transport [rückt] in den Mittelpunkt.«172 Die »Interferenz als Inter-Referenz«173 wird von Serres somit bezogen auf die »Wechselbeziehungen« zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen und deren
166 Serres, Michel (1981) [1980], Der Parasit, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 167 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977) [1976], Rhizom, übers. von Dagmar Berger u.a., Berlin: Merve. Vgl. zu den Parallelen mit Deleuze und Guattari auch Röttgers, Kurt (1999), »Michel Serres: Strukturen mit Götterboten«, in: Jurt, Joseph (Hrsg.), Von Michel Serres bis Julia Kristeva, Freiburg: Rombach, S. 87-111, hier S. 92. 168 Kritisiert zum Beispiel bei Hayles, N. Katherine (1998), Choas Bound. Orderly Disorder in Contemporary Literature and Science, Ithaca: Cornell University Press, S. 198f. Assad wendet die Kritik positiv und unterstellt, der französische Leser wisse die »metaphoric creativeness« zu schätzen. Assad, Maria L. (1999), Reading with Michel Serres. An Encounter with Time, New York: State University of New York Press, S. 3. 169 Serres (1992), S. 138. 170 Vgl. Röttgers, Kurt (2000), »Michel Serres – vorgestellt von Kurt Röttgers«, in: Information Philosophie 28/1, S. 43-50, hier S. 48. 171 Serres (1992), S. 171-173. 172 Jochum, Richard (1998) Komplexitätsbewältigungsstrategien in der neueren Philosophie: Michel Serres, Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 145. 173 Serres (1992), S. 206.
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»Zirkulationseinheit«174: »[…] [D]ie Enzyklopädie [ist] ein gewaltiges, komplexes Spiel unablässiger Inter-ferenzen [sic] […]«.175 In einem Nebensatz bezieht Serres den Gedanken der Interferenz auch auf den »neue[n] neue[n] Geist schlechthin«, so dass der auf die Vernetzung von Wissen hin ausgelegte Begriff von Serres selbst für die Anwendung auf andere kulturelle Felder vorbereitet wird. Er interessiert hier also wegen seiner semantischen Übertragbarkeit auf die zu analysierenden Phänomene. »[…] [D]iese Prozesse des Austauschs, der Übertragung oder der Zuweisung, diese Importe […]«176, welche eine »Konferenz des Sinnes«177 in einem semantischen Raum ohne referentielles Zentrum ausbilden, treffen den Kern der hier zu untersuchenden Problematik: die Ausbildung semantischer und pragmatischer Kontinua zwischen lyrischen Texten von miteinander in lebensweltlichem Kontakt stehenden Autoren. Darüber hinaus eignet sich der Begriff der Interferenz zur Beschreibung der unterschiedlichen Dimensionen dieser Vernetzung: So lassen sich erstens lebensweltliche Interferenzen zwischen den Autoren konstatieren, wie sie in diesem Einleitungskapitel als Interferenz I beschrieben worden sind. Zweitens erfasst die Dimension der Interferenz II textuelle und semantische Phänomene, welche die Gedichte dialogisch miteinander verknüpfen. Die Besonderheit der Interferenz scheint drittens in einem prekären Verhältnis von Textwelt und Lebenswelt zu liegen. Diese letzte, pragmatische Dimension der Interferenz, die Interferenz III, stellt das Spezifikum des Interferenzraumes Barcelona dar, in dem die vorliegenden Texte in eine Figuration sozialer und mithin lebensweltlicher Relationen eingeschrieben werden. Die Interferenz lässt sich somit allgemein definieren 1. als ein literatursoziologisches Phänomen der lebensweltlichen Relationierung
von Autoren (Interferenz I) und 2. als einen Sonderfall von Intertextualität, in dem sich semantische Paradigmen in den Texten dieser Autoren überschneiden (Interferenz II). Die dritte Dimension der Interferenz muss für das jeweils vorliegende Korpus spezifisch definiert werden, indem an die Analyse der Interferenzen I und II die
174 Ebd., S. 80. 175 Ebd. 176 Ebd., S. 46. 177 Ebd., S. 80.
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Frage nach der Funktion der konstatierten Interferenzen für die Texte angeschlossen wird. Für den Interferenzraum Barcelona ist diese letzte Interferenz zu definieren 3. als eine Problematisierung von Außen- und Binnenpragmatik (Interferenz
III). Insgesamt handelt es sich bei der lyrischen Interferenz also um einen Begriff, der literaturhistorische, semantische und pragmatische Überschneidungen synchron untersucht. 1.3.2 Hermeneutik Um die entwickelte Theorie der Interferenz als literatursoziologische Feststellung räumlicher und sozialer Nähebeziehungen zwischen Autoren sowie einzelner thematischer, motivischer und struktureller Äquivalenzen ihrer Texte für die Gedichtanalyse fruchtbar zu machen, müssen die vorgestellten Konzepte literaturwissenschaftlich operationalisiert werden. Wie lässt sich ein textexternes, im Wesentlichen soziales Phänomen in seiner literarischen Manifestation überprüfen? Auch wenn Serres in einigen diskutierten Aspekten, besonders in seinen Ausführungen des Netzgedankens, bereits über den Strukturalismus hinausgeht, liefert er doch eine Definition der strukturalistischen Arbeitsmethode als »eine nichtreferenzielle, nichtzentrierte Methode«178, die als analytische Grundannahme für die Untersuchung des Korpus herangezogen werden kann: Die strukturale Methode ist eine Analytik der Formen hier-anderswo, identisch-unterschieden, jetzt-ein andermal, usw. Wie es scheint, lässt sie sich verallgemeinern zu einer Theorie der Import- und Exportvorgänge oder des Transports auf einer beliebigen Kurve.179
Ein erster Schritt, um diese Theorie des Transports von Strukturelementen zwischen den Texten zu operationalisieren und die beobachteten Phänomene für die folgenden Textanalysen zu konzeptionalisieren, stellt die zentrale Behandlung von textuellen Interferenzen im Sinne von Similaritätsaspekten dar. Renate Lachmann definiert »Similaritätsbeziehungen« innerhalb ihres Intertextualitäts-
178 Vgl. ebd., S. 190. 179 Vgl. ebd., S. 200.
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konzeptes als Strukturen in einem Text, die ihre Äquivalenz zu »fremdtextlichen Strukturen« signalisieren.180 Im Unterschied zu »Kontiguitätsbeziehungen« geht es hierbei nicht um eine Wiederholung fremdtextlicher Elemente oder um »signifikante Textstrategien«, welche die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Poetik aktualisieren, sondern um Analogiebeziehungen.181 Im vorliegenden Fall sollen, in Anlehnung an die Lachmann’schen Termini, ›Similaritäten‹ in Form von Analogien zwischen synchronen oder quasi synchronen Texten als Marker ihrer interdependenten Dialogizitätsbeziehung aufgezeigt werden. Dem tradierten Verständnis von Intertextualität mit einem Prä- und einem Phänotext und einer überprüfbaren Rezeptionsrichtung gegenüber, wird im Modell der Interferenz ein zeitliches und räumliches Interaktionskontinuum angenommen, in dem die intertextuellen Similaritäten durch ein außertextliches Kontaktmoment initiiert werden.182 Im Abschnitt »Interferenz II« werden die Texte unter dem semantischen Vergleichsaspekt der Identitätskonstitution und der Lebenserzählung des lyrischen Ich analysiert. Ziel ist, an diesem Beispiel Similaritäten und Differenzen zwischen den Texten offenzulegen. Dabei geht es nicht darum, eine chronologische Intertextualität im engeren Sinne zu etablieren und Dependenzen aufzuzeigen. Vielmehr werden Similaritäten innerhalb der verschiedenen Textwelten offengelegt und in ihrer jeweiligen sowie das Textkorpus umfassenden Bedeutung analysiert. Im Abschnitt »Interferenz III« wird sich die Analyse in eine rezeptions- und eine produktionsbezogene Untersuchung der Texte gliedern. Diese Zweiteilung
180 Vgl. Lachmann, Renate (1990), Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 61. 181 Vgl. ebd. 182 An dieser Stelle wird deutlich, inwiefern sich das Konzept der Interferenz von dem Ansatz der »Interauktorialität« unterscheidet, den Schabert vorgeschlagenen hat: »[…] Interauktorialität [meint] die in einem literarischen Werk dargestellte Begegnung seines Autors mit einer in der Lektüre eines vorgängigen literarischen Werks erfahrenen Autorpersönlichkeit.« Vgl. Schabert, Ina (1983), »Interauktorialität«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57/ LVIII, S. 679-701, hier S. 679. Schabert setzt der textzentrierten Analyse des Strukturalismus ein »humanes Lesen« entgegen (ebd., S. 680). Die Interauktorialität steht somit in Verbindung zum New Historicism und konzentriert sich auf die Darstellung der Autor-Figur eines vorangegangenen Textes in einem späteren, während der Ansatz dieser Arbeit die Ausbildung von interdependenten Text-Similaritäten zentral setzt.
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resultiert zum einen aus der Beobachtung von Textaspekten, welche eine lebensweltliche Nähe postulieren, zum anderen aus der sich daran anschließenden Frage, welches Verhältnis die Gedichte, die wesentliche Charakteristika aus dem persönlichen Kontakt ihrer Verfasser zu gewinnen scheinen, zwischen »Textwelt«183 und Lebenswelt etablieren. Weiterhin steht die Analyse von Similaritätsaspekten im Vordergrund, die nun aber auf ihre Funktion im Kontinuum von Lebenswelt und Text hin untersucht werden. In Anlehnung an das Jakobson’sche Kommunikationsmodell und die Konstatierung einer »doppelten Kommunikationssituation der fiktionalen Rede«184 soll die Frage nach Aspekten einer dialogischen Poetik aus zwei verschiedenen Blickwinkeln gestellt werden: zum einen aus der Perspektive der Gedichtproduktion, zum anderen aus der ihrer Rezeption, um die beiden Ausprägungsseiten des Feldes ›Lebenswelt‹ zwischen den Polen von Fiktionalität und extratextuellem Bezug auf die Lebenswelt auszuloten. Dabei wird im Rahmen der Rezeptionsaspekte mit der Nähesprache die Beziehung des Textes zur gesellschaftlichen Realität untersucht, um zu klären, wie ein subversiver Diskurs gerade in Zeiten der Zensur rezipiert und rekonstruiert wird. Im Rahmen der Produktionsaspekte wird die Rolle analysiert, die der Figur des Autors zukommt. Unter dem Begriff der Autofiktion wird anhand der Konstruktion eines Sprecher-Ich, das mit dem Autor identisch zu sein scheint, auf die Funktion der Texte als Interferenz zwischen Fiktion und Lebenswelt eingegangen: In der Fortführung des Simulakrums reicht der Text hier zurück in die ›Extratextualität‹185. Im abschließenden achten Kapitel werden die drei Dimensionen der lebensweltlichen, semantischen und pragmatischen Interferenz wieder aufgegriffen und auf die These zugespitzt, dass die Text-Similaritäten einen auf mehreren Ebenen komplizenhaften Dialog von Text und Lebenswelt performativ in eine kollektive Identität überführen. Die Untersuchung der Interferenz ist somit – entsprechend ihrer Definition – dreifach gegliedert: (a) in die Dimension lebensweltlicher Nähe (Interferenz I), (b) in die semantische Dimension textlicher Similaritäten (Interferenz II) und schließlich (c) in die pragmatische Dimension einer Interferenz von Extratextualität und Text (Interferenz III). Die Untersuchung der unterschiedlichen Dimensionen der Interferenz erfolgt unter der Leitfrage, ob sich aus ihnen »SinnKonferenzen« ableiten lassen. Die Interferenz bewegt sich, so meine Hypothese,
183 Beaugrande, Robert/Dressler, Wolfgang Ulrich (1981), Einführung in die Textlinguistik, Tübingen: Niemeyer, S. 5. 184 Martinez, Matias/Scheffel, Michael (62005), Einführung in die Erzähltheorie, München: C. H. Beck, S. 18. 185 Zur Begriffsklärung vgl. Kapitel 7.1.
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in einem Interdependenzverhältnis: Die lyrische Interferenz überträgt die lebensweltliche Dimension in eine textuelle, deren spezifische Poetik sich schließlich wieder in einer besonderen Interaktion mit der Lebenswelt äußert und somit die beiden ersten Dimensionen der Interferenz von Lebenswelt und Text in ein interdependentes Verhältnis bringt. 1.3.3 Textkorpus Auch wenn in den folgenden Kapiteln die detaillierte Textanalyse im Vordergrund stehen soll, ist die Auswahl der Texte und Themen zur Überprüfung der Interferenz sowohl dem lebensweltlichen Phänomen des Kontaktes zwischen den Dichtern geschuldet als auch der Frage nach textuellen Similaritäten. Die Auswahl der vergleichend interpretierten Gedichte ist dabei weder an einer strikten Chronologie orientiert noch an der Rekonstruktion von ›Einflüssen‹, da im Sinne der Interferenz von einer kreativen Gruppensituation mit interdependenten dichterischen Relationen ausgegangen wird. Im Zentrum der Betrachtung sollen die späten 50er und die 60er Jahre als intensivste dichterische Gruppenphase stehen, wobei ich mich an folgenden Publikationsdaten orientiere: Mit Ausnahme von José Agustín Goytisolo, der schon 1955 El retorno (Barcelona: Rialp, Accésit Premio Adonais 1954) herausgebracht hatte, und Ángel González, dessen Áspero mundo im Folgejahr ebenfalls als »Accésit« zum Premio Adonais 1955 des Verlags Rialp publiziert wurde, erschienen die jeweils ersten isolierten Gedichtbände gegen Ende der 50er Jahre.186 José Agustín Goytisolo publizierte 1958 seinen zweiten Band, Salmos al viento (Barcelona: Instituto de Estudios Hispánicos, Premio Boscán) und 1961 sowohl Claridad (Valencia: Diputación provincial) als auch Años decisivos (Barcelona: Literaturasa), in dem die ersten drei Bände zusammengefasst wurden. Jaime Gil de Biedma brachte 1959 Compañeros de viaje (Barcelona: Horta) heraus, Da nuces pueris: poemes von Gabriel Ferrater er-
186 Auch wenn schon einige Auszüge in Zeitschriften oder privat getragenen plaquetteDrucken erschienen waren. So hatten zum Beispiel Barral und Biedma jeweils bereits in Laye publiziert: Barral sein Langedicht »Las aguas reiteradas« (Laye 18, 1952, S. 47-50) und Biedma elf Texte aus Según sentencia del tiempo (Laye 22, 1953, S. 5157), von denen einige mit deutlichen Veränderungen in Compañeros de viaje eingehen sollten. Biedma gab zudem 1952 seine Versos a Carlos Barral por su poema ›Las aguas reiteradas‹ privat in Orense in den Druck. Vgl. Riera, Carme (2003), »Prólogo«, in: Barral, Carlos, Poesía completa, ed. de Carme Riera, Barcelona: Lumen, S. 7-55, hier S. 20. Zu beachten ist allerdings ein Druckfehler: Das Bändchen wurde 1952 und nicht 1962, wie Riera angibt, gedruckt.
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schien 1960 (Barcelona: Ossa Menor) und Menja’t una cama 1962 (Barcelona: Horta), Carlos Barral schließlich veröffentlichte Metropolitano 1957 in Santander (Cantalapiedra) und Diecinueve figuras de mi historia civil im Jahr 1961 in der Colección Colliure (Barcelona: Literaturasa). Im Falle von Biedma und Ferrater fällt das Gesamtwerk im Wesentlichen in die genannte Kernphase: Gabriel Ferrater publizierte 1966 Teoria dels cossos (Barcelona: Edicions 62) und fasste 1968 Da nuces pueris, Menja’t una cama und Teoria dels cossos in Les dones i els dies zusammen (Barcelona: Edicions 62). Jaime Gil de Biedma veröffentlichte 1961 Cuatro poemas morales (Barcelona: Joaquín Horta) und 1965 En favor de Venus (Barcelona: Literaturasa). In beiden Fällen handelt es sich um Auszüge aus den 1966 dann in Mexiko bei Joaquín Moritz verlegten Moralidades. Seinen letzten eigenständigen Gedichtband, Poemas póstumos (Madrid: Poesía para todos), gab Biedma 1968 heraus. 1969 erschien seine Colección particular 19551967. Las personas del verbo von 1975 stellt eine ergänzte Gesamtschau seiner drei zentralen Veröffentlichungen Compañeros de viaje, Moralidades und Poemas póstumos dar, welche nun die drei Teile des Buches darstellen. In der zweiten Auflage der Gesamtausgabe von 1982 wird auch die Ausgabe von 1975 noch einmal modifiziert. Poemas póstumos enthält nun Gedichte, die zwischen 1965 und 1981 entstanden sind. Die zwölf Texte aus dem schmalen Band von 1968 sind nun auf ein Gesamtvolumen von 27 Texten in neuer Anordnung gewachsen.187 Das Ausbleiben einer weiteren Neuveröffentlichung Biedmas und der Tod Ferraters 1972 bilden somit eine grobe zeitliche Begrenzung des Korpus. Die späteren Texte von Carlos Barral, José Agustín Goytisolo und Ángel González werden aber dann mit einbezogen, wenn sie für die Entwicklung der Argumentation sinnvoll erscheinen. Bei Barral kann man in den späten 70er Jahren eine Zäsur ansetzen, da er, nach einer ersten Ausgabe von Usuras y figuraciones: poesía 1952-1972 (Las Palmas: Inventarios Provisionales, 1973), 1979 mit Usuras y figuraciones (obras casi completas) (Barcelona: Lumen) ebenfalls eine vorläufige Gesamtausgabe publiziert. Zwar lebt das Interferenzkonzept von der sozialen Nähe der Dichter, kann aber sicherlich keinen absoluten zeitlichen Rahmen vorgeben, in dem sich diese textuell niederschlagen soll. Da Goytisolo und González das umfangreichste œuvre vorgelegt haben, fällt hier die Setzung einer Zäsur am schwersten: Die letzte eigenständige Veröffentlichung Goytisolos, Las horas quemadas, stammt von 1996 (Barcelona: Lumen), González’ Otoños y otras luces von 2001 (Barcelona: Tusquets). Im Folgenden werden vor
187 Vgl. Rovira, Pere (22005), La poesía de Jaime Gil de Biedma, Granada: Atrio, S. 249f., und Gil de Biedma, Jaime (2003b) [1981], »A esta edición«, in: ders. (2003a), S. 179f.
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allem Goytisolos bis 1977 (Taller de arquitectura, Barcelona: Lumen) veröffentlichte Bände im Mittelpunkt stehen, bevor mit Palabras para Julia (1980, Barcelona: Laia) eine erste Anthologie und mit Los pasos del cazador (1980, Barcelona: Lumen) eine Sammlung neopopulärer188 und traditionalistischer liedartiger Texte veröffentlicht wird.189 Auch bei González kann 1977 ein Einschnitt vorgenommen werden, da mit der Muestra, corregida y aumentada, de algunos procedimientos narrativos y de las actitudes sentimentales que habitualmente comportan (Madrid: Turner) eine Veröffentlichungspause von acht Jahren beginnt. Für die in dieser Arbeit zitierten Ausgaben ist bei Barral, Ferrater, Gil de Biedma und González auf die in den letzten Jahren publizierten Gesamtausgaben zurückgegriffen worden.190 Im Falle Biedmas bedeutet das, auf die ursprüngliche Selektion und Anordnung der Texte in Compañeros de viaje, Moralidades und Poemas póstumos zu verzichten, dafür kann (bei gleichbleibenden Texten der einzelnen Gedichte) hier der Zyklus-Gedanke, der für die semantische Interferenz eine zentrale Rolle spielt, einbezogen und die Texte der 70er Jahre berück-
188 Riera zieht den Begriff des Popularismus dem des Neopopularismus vor, weil ihrer Ansicht nach nicht die literarischen Aspekte populärer Dichtung für Goytisolo eine Rolle spielen, sondern, wie auch für Blas de Otero, ihre Funktion als »[…] vehículo de trasmisión de la voz popular.« Riera, Carme (1991), Hay veneno y jazmín en tu tinta. Aproximación a la poesía de J.A. Goytisolo, Barcelona: Anthropos, S. 98. 189 1977 veröffentlicht Goytisolo noch einen weiteren Band, Del tiempo y del olvido (Barcelona: Lumen), der erneut viele bereits publizierte Gedichte wieder abdruckt. Da in die vorliegende Analyse die wenigen neuen Texte dieses Bandes nicht einbezogen werden, sei Del tiempo y del olvido nur an dieser Stelle der Vollständigkeit halber erwähnt. 190 Soweit nicht anders angegeben, wird aus folgenden Ausgaben zitiert: Barral, Carlos (22003), Poesía completa, ed. de Carme Riera, Barcelona: Lumen; Ferrater, Gabriel (2002) [1968], Les dones i els dies, Barcelona: Ed. 62; Gil de Biedma, Jaime (152003a) [1975/1982], Las personas del verbo, Barcelona: Seix Barral; González, Ángel (72008), Palabra sobre palabra. Obra completa (1956-2001), Barcelona: Seix Barral; Goytisolo, José Agustín (1961), Años decisivos. Poesía 1954-1960, Barcelona: Seix Barral; Goytisolo, José Agustín (1968), Algo sucede, Madrid: El Bardo; Goytisolo, José Agustín (1973), Bajo tolerancia, Barcelona: Llibres de Sinera; Goytisolo, José Agustín (1977), Taller de arquitectura, Barcelona: Lumen; Goytisolo, José Agustín (2009), Poesía completa, ed. de Ramón García Mateos y Carme Riera, Barcelona: Lumen. Vgl. auch die Bibliographie dieser Arbeit. Die Zuordnung der Gedichte zu den einzelnen Bänden dokumentiert das Verzeichnis der zitierten Gedichte im Anhang.
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sichtigt werden.191 In Goytisolos Fall hingegen dienen die Erstpublikationen als Grundlage, da der Autor vor allem in den 80er und 90er Jahren seine frühen Texte immer wieder überarbeitet und verändert hat. Besonders deutlich wird dies am weitgehenden Verzicht auf Interpunktion, vor allem auf Kommata. Außerdem nahm Goytisolo in neue Publikationen fast immer auch frühere Texte in zum Teil modifizierter Form wieder auf. Die Entscheidung für die frühen Versionen fällt mit Bezug auf die lebensweltliche Interferenz, deren Schwerpunkt in den 50er und 60er Jahren liegt. Damit folgt die vorliegende Arbeit nicht dem Kriterium der von Ramón García Mateos und Carme Riera besorgten und sorgfältig philologisch edierten Gesamtausgabe, welche sich an den von Goytisolo selbst als definitiv bezeichneten späten Überarbeitungen orientiert und jedes Gedicht nur noch einmal, in dem zuletzt von Goytisolo bestimmten Veröffentlichungskontext abdruckt.192 Um die ursprüngliche Form und Zusammenstellung der Bände berücksichtigen zu können, wird hier also auf die Erstveröffentlichungen zurückgegriffen.
1.4 R ESÜMEE : M EDIEN EINER LEBENSWELTLICHEN D IMENSION DER I NTERFERENZ Serres unterscheidet in seinem Buch drei Arten der Interferenz: die theoretische, die objektive und die monadische. Während die »theoretische Interferenz«193 sich auf die Überschneidungen der Wissenschaften bezieht, entwickelt Serres die »objektive Interferenz« als Theorie ubiquitärer Medien.194 Die »monadische Interferenz«195 zeigt schließlich Parallelen zu den eingangs diskutierten Theorien
191 Vgl. Cabanilles, Antònia (1989), La ficción autobiográfica. La poesía de Jaime Gil de Biedma, Castellón: Millars, S. 58-60 und Blesa, Túa (2002-2004), »La poesía de Jaime Gil de Biedma, leída desde ›Canción final‹«, in: Archivo de Filología Aragonesa LIXLX, S. 1869-1880, hier S. 1870f. http://ifc.dpz.es/recursos/publicaciones/26/50/104 blesa.pdf, 20.10.2011. 192 Vgl. García Mateos, Ramón/Riera, Carme (2009), »Prólogo«, in: Goytisolo, José Agustín (2009), S. 7-24, hier S. 13. 193 Vgl. Serres (1992), »Erstes Kapitel. Theoretische Interferenz: Tafel und Komplexität«, S. 19-84. 194 Vgl. ebd., »Zweites Kapitel. Objektive Interferenz: Was auf die tabula rasa geschrieben wird«, S. 85-164. 195 Vgl. ebd., »Drittes Kapitel. Die Interferenz der Monaden: Der feste Punkt und die Intersubjektivität«, S. 165-204.
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der Autorschaft auf. Indem Serres Subjektivität zugunsten eines übergreifenden »Wir«, einer kontingenten, überindividuellen »Intersubjektivität« aussetzt, definiert er abschließend die Wissenschaft, ihre Objekte und den Menschen als elementar kommunikative Einheiten: Wer bin ich also? Eine diskontinuierliche Virtualität der Auswahl und Selektion innerhalb des intersubjektiven Denkens, ein Dämon, der die Modulationen des Rauschens der Welt trennt, ein Verkehrskreuz für Nachrichtenübermittler. Ich bin derjenige, der das Wie anzapft. Das Bewusstsein, Con-Science, ist das Wissen, das zu seinem Subjekt die Gemeinschaft des Wir hat. Die Kommunikation macht den Menschen; er kann sie reduzieren, aber er kann sie nicht aufheben, ohne sich selbst aufzuheben.196
Das Empfangen, Übertragen und Speichern von Information und das Netz dieser Kommunikation wird also zum zentralen Paradigma der »neuen neuen Wissenschaft«: Vom Molekül bis zum wahrnehmbaren Festkörper, von der lebenden Zelle bis hin zum technischen Objekt webt der neue neue wissenschaftliche Geist ein Netz von Analogien […]. Unser Stück Wachs, ein metamorphes Stück Stein, der den Magnetismus seit der Zeit seiner Entstehung bewahrt hat, der Ferritkern im Speicher eines Rechners, ein Penicillinmolekül, ein Molekül der Desoxiribonukleinsäure [sic], ein Gen auf einem Chromosom, das Keimblatt eines Embryos, diese Druckseite, ein Tonband, auf dem Opus 111 von Beethoven aufgezeichnet ist, eine Lochkarte, und so weiter, sie alle existieren als objektive Träger einer Information, die sie empfangen, speichern und wiedergeben. Sie existieren als Empfänger, Speicher und Sender von Nachrichten, die in der unterschiedlichsten Weise codiert sind.197
Indem Serres hier eine Mediendefinition implizit anbringt, die jeglichen »Festkörper« durch seine ›Prägbarkeit‹ als Medium im Sinne eines Übertragungsmediums bezeichnet, stellt er seine Kommunikationstheorie in eine »aisthetischphysikalische« Tradition.198 Fragt man nun in dieser Hinsicht zum Abschluss der Interferenz I nach den Medien, welche in der lebensweltlichen Dimension der Interferenz die »Konferenz des Sinns« ermöglichen, so lassen sich aus den Aus-
196 Vgl. ebd., S. 204. 197 Vgl. ebd., S. 138. 198 Heinevetter, Nele/Sanchez, Nadine (2008), Was ist mit Medien… Theorie in 15 Sachgeschichten, München: Wilhelm Fink, S. 19.
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führungen dieses ersten Kapitels folgende lebensweltlichen Medien der Interferenz resümieren: Die lebensweltliche Interferenz basiert erstens auf der räumlichen Überschneidung von Kommunikationssphären, die das Zusammentreffen der hier betrachteten Autoren begünstigen. Diese lassen sich nach ihrem Grad der (abnehmenden) Öffentlichkeit sortieren: die Universität (Universidad de Barcelona), Bars, der gemeinsame Arbeitgeber (Seix Barral), die Privatwohnungen (Barrals, Biedmas). Eine zweite Ebene der Interferenz stellen darauf aufbauend gemeinsame Projekte und Unternehmungen dar, welche ebenfalls nach dem Kriterium zunehmender Privatheit geordnet werden können. Die gemeinsame Arbeit an Publikationen (Laye, Colección Colliure, Veinte años de poesía española) hat einen höheren Grad an Öffentlichkeit als das informelle Gespräch, die Abendverabredung und die juerga, welche zunehmend im exklusiven Freundeskreis stattfinden. Zudem spielt hier der Aspekt der Ver-Öffentlichung eine Rolle, der im Fall der genannten Projekte gegeben war. Ex post werden auch ursprünglich private Dokumente wie Briefwechsel und Tagebücher öffentlich zugänglich, wobei an diesen Schriftstücken bereits ein Aspekt der Gruppenperformanz ablesbar wird: So ist retrospektiv schwer abzugrenzen, wo die private Interaktion als öffentliche Demonstration von Zusammengehörigkeit zur Schau gestellt wird. An anderer Stelle wurde bereits diskutiert, inwiefern die hier betrachteten Autoren eine »politique de l’amitié«199 betreiben, die zur Wahrnehmung ihrer Texte beitragen sollte. Dazu gehören nicht nur die Buchreihe Colliure und die Anthologie Veinte años de poesía española, sondern auch eine Reihe von Photographien, welche die junge Dichter-›Generation‹ präsentiert: das Gruppenbild am Grabe Machados und ein weiteres in Collioure200, sowie das berühmte Vierer-
199 So formuliert Derrida in seinem Aristoteles-Kommentar: »Und schließlich, weil die Qualifikation singulärer Einzelner stets eine der politischen Dimensionen der Freundschaft, des Politisch-werdens einer Freundschaft gewesen sein wird […]. Aber auch keine Demokratie ohne ›Gemeinschaft der Freunde‹ (koina ta philon), ohne Berechnung und Errechnung der Mehrheiten, ohne identifizierbare, feststellbare, stabilisierbare, vorstellbare, repräsentierbare und untereinander gleiche Subjekte.« Derrida, Jacques (22007) [1994], Politik der Freundschaft, übers. von Stefan Lorenzer, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 47. 200 Zu sehen sind am Grabe Machados Carlos Barral, José Manuel Caballero Bonald, eine nicht identifizierte Person (möglicherweise José Ángel Valente), Jaime Gil de Biedma, José Agustín Goytisolo und Joan Ferraté. Ein weiteres Gruppenbild zeigt Blas de Otero, José Agustín Goytisolo, Ángel González, José Ángel Valente, Jaime Gil de Biedma, Alfonso Costafreda, Carlos Barral und José Manuel Caballero Bo
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Bild von Oriol Maspons201 vor dem Eingang von Seix Barral, welches für Riera mit Barral, Gil de Biedma, Goytisolo und Castellet den »núcleo« der »generación de los 50« zeigt.202 Deutlich zu erkennen ist hier der Aspekt der Selbstinszenierung, die »operación generacional […]. Con fotografía incluida.«203 Als zentrales Medium der Interferenz lässt sich zusammenfassend also die enge mediale Kommunikationsstruktur fassen, innerhalb derer die hier behandelten Dichter miteinander in Kontakt standen. Die räumliche Nähe ermöglicht die Interferenz, ist aber keinesfalls als intellektueller locus amoenus zu verstehen: In der modernen Großstadt gehören Abgrenzungs- und Profilierungsbemühungen zum Geschäft der Poesie. Die räumliche Nähe fungiert mithin als Ermöglichungsstruktur für textuelle Interferenzen und Barcelona als zentrales Medium der Interferenz.
nald. Es dient noch heute zur Evokation des »Generationsereignisses« und ziert zum Beispiel die Titelseite der Ínsula-Ausgabe zum 50. Jahrestag der Machado-Ehrung. Vgl. Iravedra, Araceli (Hrsg.) (2009), Colliure, 1959. Ínsula. Revista de letras y ciencias humanas 745-746. 201 Colita/Maspons, Oriol/Miserachs, Xavier/Regàs, Rosa/Rubio, Oliva Maria (2000), ›gauche divine‹, Barcelona/Madrid: Lunwerg, S. 97. 202 Für Rieras Buchtitel über die Escuela de Barcelona wurde die Photographie von Barral, Gil de Biedma, Goytisolo und Castellet als »fragmento«, nämlich ohne Castellet, verwendet, eine vollständige Version der Aufnahme wird im »El lanzamiento del grupo« betitelten Kapitel abgebildet und kommentiert mit »los tres poetas y su crítico«. Vgl. Riera (1988), S. 170 f. 203 Riera (2009), S. 9.
2 Antes de empezar: Exkurse zur Lyrik als Gattung
Der Gattung Lyrik wird häufig eine ›Sonderstellung‹ zugeschrieben, da Gedichte, im Gegensatz zu dramatischen und narrativen Texten, nicht notwendigerweise als fiktional zu begreifen seien. Die folgenden Exkurse, in denen die Frage nach der Fiktionalität lyrischer Rede zentral sein wird, stellen den Lyrikbegriff dieser Arbeit vor, indem sie die gängigen Begrifflichkeiten der deutschen mit der spanischen Forschung in Bezug setzen. Traditionell wird lyrische Rede mit Selbstausdruck gleichgesetzt, was nicht zuletzt Goethes Position zu seinen frühen Gedichten widerspiegelt.1 Bis in die Postmoderne hinein wird narrativen Texten gemeinhin die Eigenschaft der Fiktionalität zuerkannt, während lyrischen Texten »[…] eine engere und intensivere Beziehung zwischen Autor und Werk […]«2 zugeschrieben wird: »Bei dem Lyriker kommt es eher als bei dem Epiker oder Dramatiker zu einer Kongruenz von Werk und Person.«3 Im folgenden Unterkapitel zur Fiktion soll herausgearbeitet werden, dass diese Prämisse nicht übernommen werden kann, obgleich die ›einfache‹ Annahme der Dichter-Subjektivität der Frage nach der Interferenz von sozialen Nähebeziehungen und lyrischen Texten entgegenkommen würde. Es kristallisiert sich jedoch ein innerhalb einer Epoche und zwischen verschiedenen
1
Vgl. Horn, Eva (1995), »Subjektivität in der Lyrik: ›Erlebnis und Dichtung‹, ›lyrisches Ich‹«, in: Pechlivanos, Miltos/Rieger, Stefan/Struck, Wolfgang/Weitz, Michael, Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart: Metzler, S. 299-310, hier S. 299.
2
Müller, Wolfgang (1979), Das lyrische Ich. Erscheinungsformen gattungseigentümlicher Autor-Subjektivität in der englischen Lyrik, Heidelberg: Winter, S. 9.
3
Ebd.
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Epochen zu unterscheidender »código poético«4 als Lektüreanleitung heraus. Deshalb muss im Weiteren die diachrone Funktion des ›Ich‹ in der romanischen und insbesondere in der spanischen Lyrik geklärt werden. Besonders die Rede von einer »poesía de la experiencia«, die im spanischen Forschungskontext zur ›generación del 50‹ nahezu unumgänglich ist, muss in diesem Zusammenhang diskutiert werden. Für die sich anschließenden Analysekapitel stellt sich außerdem die Frage, ob ein in vielen Gedichten des Korpus festzustellender ›erzählerischer Stil‹ ausreichende Bedingung für eine Übertragung der Kategorien Narrativität und Fiktionalität5 auf die Lyrik sein kann. Die Kategorie der Fiktionalität betrifft den hier verwendeten Lyrik-Begriff generell. Zusammen mit der Kategorie der Narrativität ist sie zudem essentiell für die Arbeit mit Begriffen, die auf narrative Texte rekurrieren, wie das Biographem6 und die Autofiktion7. An diese Vorarbeiten zum theoretischen Lyrikverständnis schließt sich eine kurze analytische Positionierung an, die vor allem die Bezeichnung des ›lyrischen Ich‹ und ihre Verwendung in dieser Arbeit klären soll, um sie von der Identifikation mit einem alter ego des Autors per se8 zu lösen und als Analysekategorie fruchtbar zu machen.
2.1 Z UR F IKTION
IN DER
L YRIK
Erzählen ist »[…] eine Form der Rede […], dank derer jemand jemandem ein Geschehen vergegenwärtigt […]«9, es hängt also klar von pragmatischen Definitionselementen ab: Ein Sprecher übermittelt einem Adressaten eine als mitteilenswert erachtete histoire. Jeder Text etabliert nun eine Äußerungsinstanz, ei-
4
Villegas-Morales, Juan (1981), »Teoría del yo poético y poesía española«, in: Lexis. Revista de lingüística y literatura 5, 1, S. 87-94, hier S. 92.
5
Der Begriff der Fiktionalität wird hier in Abgrenzung vom Begriff der Fiktivität in der Definition von Martinez und Scheffel verwendet: »Fiktional steht im Gegensatz zu ›faktual‹ bzw. ›authentisch‹ und bezeichnet den pragmatischen Status einer Rede. Fiktiv steht im Gegensatz zu ›real‹ und bezeichnet den ontologischen Status des in dieser Rede Ausgesagten.« Martinez/Scheffel (2005), S. 13 (Herv. i.O.).
6
Vgl. Kapitel 4.
7
Vgl. Kapitel 7.
8
Villegas-Morales (1981), S. 87.
9
Martinez/Scheffel (2005), S. 17.
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nen Erzähler in narrativen, einen Sprecher in lyrischen Texten,10 wobei genauere Charakteristika der Äußerungsinstanz wie auch des Adressaten binnenpragmatisch implizit bleiben können. Peter Hühn und Jörg Schönert definieren Narrativität anhand zweier Kriterien: »[…] [P]rimär durch Sequentialität (das heißt durch die zeitliche Organisation und Verkettung einzelner Geschehenselemente und Zustandsveränderungen zu einer kohärenten Abfolge) und sekundär durch Medialität (das heißt durch die Vermittlung in Konstruktion, Präsentation und Interpretation dieser Abfolge aus einer bestimmten Perspektive).«11
Potentiell sei diese Struktur analog zu narrativen Texten im engeren Sinne auch in lyrischen Texten möglich, so Hühn und Schönert,12 wobei sie ihre Definition nicht bereits an per se narrativen Gedichten wie Romanzen oder Balladen orientieren. Auf diese Weise vermeiden sie einen Zirkelschluss, öffnen die Analyse von Gedichten unter dem Kriterium der Narrativität aber gerade auch auf erzählerische Texte in lyrischer Form. Beim hier zu betrachtenden Textkorpus liegt der Rekurs auf Begriffe aus der Narrativik schon deswegen nahe, weil viele der zu behandelnden Gedichte einen erzählerischen Duktus entwerfen, der mit dem im hic et nunc verorteten lyrischen Ich einhergeht.13 Am Beispiel des Gedichtes »Nochebuena con Rosa« von José Agustín Goytisolo lässt sich exemplarisch zeigen, wie eine lyrische Erzählsituation ganz explizit werden kann. Der Sprecher, welcher sich in der ersten Strophe noch nicht manifestiert, in der zweiten dann in einem Plural, der die Adressatin »Rosa« mit einschließt, zum Vorschein kommt und sich schließlich in der dritten Strophe als Erinnerungsträger der dargestellten Vergangenheit in der ersten Person Singular zu erkennen gibt (»No recuerdo la hora, pero sé«, V.20), beschreibt und vergegenwärtigt der angesprochenen »Rosa« einen mit ihr verbrachten besonderen Heiligabend. Die Beschreibung des Geschehens (»No, no fue aquella noche / una noche cualquiera en Barcelona«, V.1/2) wird dabei direkt an die Adressatin gerichtet: »¿Lo recuerdas, Rosa?« (V.11). Somit wird die histoire nicht nur an einen offenen Adressaten-
10 Zur Äußerungsinstanz des »lyrischen Ich« s.u. und Kapitel 2.2. 11 Hühn, Peter/Schönert, Jörg (2007), »Einleitung: Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse«, in: Schönert, Jörg/Hühn, Peter/Stein, Malte, Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin/New York: Walter de Gruyter, S. 1-18, hier S. 10 (Herv. i.O.). 12 Vgl. ebd., S. 10f. 13 Vgl. z.B. Alarcos Llorach, Emilio (1996) [1969], La poesía de Ángel González, Oviedo: Nobel, S. 124.
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raum gerichtet (außenpragmatisch an den Leser), sondern auch binnenpragmatisch eine Erzählsituation konstituiert. Die von Dietrich Weber etablierten Phasen des (Geschichten-) Erzählens beispielsweise, »Orientierung«, »Komplizierung«, »Krise«, »Krisenabwicklung«, »Endzustand«14, lassen sich ohne Weiteres auf »Nochebuena con Rosa« übertragen.15 Wenn ein Gedicht also narrativen Charakters sein kann und auf der Ebene der histoire ein Geschehen, eine Handlung vergegenwärtigt, so stellt sich weiterhin die Frage nach dem Status des vermittelten Gehalts bezüglich seiner Fiktionalität. Wurde in der Diskussion um die Gattung der Lyrik zunächst das Epische als nicht-lyrisch verstanden, so unterstreicht die neuere Debatte die Fiktionalität lyrischer Rede.16 Wolfgang Iser definiert literarische Texte allgemein als fiktio-
14 Weber, Dietrich (1998), Erzählliteratur. Schriftwerk – Kunstwerk – Erzählwerk, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 63. Warning zeigt mit Bremond, dass auch die provenzalische alba (vgl. Kapitel 4.3.3) die »narrative Elementarsequenz« von Situationseröffnung, Handlung und Handlungsergebnis erfüllt. Warning (1997), S. 82. 15 Orientierung: »No, no fue aquella noche / una noche cualquiera en Barcelona. / El aliento dolía: las campanas / repicaron alegres al dar la medianoche, / todo estaba / lleno de flores y papeles rojos. /[…]/ ¿Lo recuerdas, Rosa?« (V.1-7,11) Komplizierung: »No recuerdo la hora, pero sé / que alta la noche ya, / en la calle San Pablo, cerca / de la explanada en ruinas / en donde venden churros / y hay tiro al blanco y puestos de castañas, / vimos llegar a un grupo / de gente que cantaba aquella copla / del mira cómo beben / los peces en el río, y entonces, / coreando la canción, fuimos con ellos / hasta una tabernucha.« (V.20-31) Krise: »[…] Se escuchaba / detrás de nuestras voces / el tumulto en la calle.« (V.3436) Krisenabwicklung: »¿Cuánto tiempo duró, quién invitaba, / qué hicimos al salir? Sólo os recuerdo / a ti y a las mujeres / temblando en los abrigos, caminando / delante de nosotros / hacia las ramblas, que eran, / ya con la luz del alba, / un río humano de bullicio y fiesta.« (V.45-51) Endzustand: »Sí, fue distinta aquella noche / pero no por lo que otros celebraban / al acudir a misa. / Era una noche libre, / con canciones y viento alborotado / removiendo la oscura / conciencia de los hombres y mujeres / enmudecidos, casi siempre anónimos, / esos que no están nunca / en las calles hipócritas / de esta ciudad de anuncios y fachadas, / que esconde entre sus muros la impotencia / de casi dos millones de personas / que todavía ríen, tú lo viste, / que cantan, todavía.« (V.52-66) 16 Vgl. Fischer, Carolin (2007), Der poetische Pakt. Rolle und Funktion des poetischen Ich in der Liebeslyrik bei Ovid, Petrarca, Ronsard, Shakespeare und Baudelaire, Heidelberg: Winter, S. 43f.
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nal,17 bestehend aus einem »Mischungsverhältnis aus Realem und Fiktivem«18, dessen Terme allerdings nicht als reine Opposition verstanden werden können, da der »Akt des Fingierens […] die Irrealisierung des Realen und [das] Realwerden von Imaginärem«19 beinhaltet. Auch wenn im Sprachgebrauch eine Bezeichnung von Gedichten als fiktional eher ungewöhnlich ist und sich der Terminus zumeist auf narrative Texte bezieht, schließt Isers Definition lyrische Texte mit ein. So zitiert er beispielhaft Eliots »Lovesong of J. Alfred Prufrock«.20 Dementsprechend kann auch lyrische Rede als fiktional bezeichnet und als »realinauthentische« oder »imaginär-authentische«21 Rede verstanden werden, je nachdem, ob sie der realen Kommunikationssituation Autor-Leser oder der imaginären Sprecher-Angesprochener zugerechnet wird. Interessant im Zusammenhang mit Realitätsbezügen im lyrischen Text ist der Hinweis Isers, dass sich Fiktionen über einen Kontrakt zwischen Autor und Leser definieren, der historisch variabel ist und zum Beispiel über die literarischen Gattungen funktioniert22: Der fiktionale Text gibt sich durch Kontraktsignale als solcher zu erkennen, er setzt die in ihm enthaltenen »Realitätsfragmente«, welche der »sozio-kulturellen Textumwelt« sowie »vorangegangener Literatur« entstammen, »in Klammern« und macht damit »[…] alle Welt, die im literarischen Text organisiert ist, zu einem Als-Ob.«23 Iser verweist in seiner Argumentation auf Warning, der ebenfalls mit dem Kontrakt-Begriff operiert, »[…] dessen Regelungen den Text nicht als Diskurs, sondern als ›inszenierten Diskurs‹ ausweisen.«24 Somit kann die im Text enthaltene Welt nur als Analogon der empirischen Welt funktionieren.25 Der von Iser beschriebene Vorgang der Entschlüsselung dieser Analogie des fiktionalen Textes bezüglich des Realen verweist auf
17 Vgl. Iser, Wolfgang (1991), Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 18. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 23. 20 Ebd., S. 28. 21 Martinez/Scheffel (2005), S. 18. 22 Vgl. Iser (1991), S. 35. Vgl. Genettes »paratextuelle Kennzeichen« wie die generische Bezeichnung ›Roman‹. Genette, Gérard (1992), »Fiktionale Erzählung, faktuale Erzählung«, in: ders., Fiktion und Diktion, übers. von Heinz Jatho, München: Fink, S. 65-94, hier S. 89 (Herv. i.O.). 23 Vgl. Iser (1991), S. 36f. 24 Warning, Rainer (1983), »Der inszenierte Diskurs«, in: Henrich, Dieter/Iser, Wolfgang (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven, München: Fink, S. 183-206, hier S. 193. 25 Vgl. Iser (1991), S. 42f.
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die pragmatische Gliederung der in Abschnitt III vollzogenen Analyse. Iser schreibt: »In dieser Hinsicht leistet die Semantisierung den gleichen Übersetzungsvorgang auf der Rezipientenseite, den das Fiktive im fiktionalen Text auf der Produzentenseite bewerkstelligt. Ist das Fiktive die Übersetzung des Imaginären in die konkrete Gestalt zum Zweck des Gebrauchs, so ist die Semantisierung die Übersetzung eines erfahrenen Ereignisses in die Verstehbarkeit des Bewirkten.«26
Eine frühe und prominente Position, welche Lyrik nicht in den von Iser und Warning beschriebenen Kontrakt zwischen Autor und Leser als historischpragmatische »Präsupposition« von »Gattungskonventionen«27 einordnet, sondern im Gegenteil Lyrik im Hinblick auf ihren Fiktionalitätsstatus gänzlich von den Genres der Narrativik und Dramatik absetzt, vertritt Käthe Hamburger. In ihrer klassisch gewordenen Abhandlung über die Logik der Dichtung (1957) weist sie dem lyrischen Wort keine über die unmittelbare Aussage des lyrischen Ich hinausgehende Funktion zu, wohingegen das Wort in Erzählung und Theater zur Schaffung einer »Scheinwelt« diene.28 Das führt dazu, dass die Funktionslosigkeit der Aussage im Sinne des Erschaffens einer »Als-Struktur«29 zwar einen fiktiven Gehalt der Lyrik möglich macht, das fiktive Aussageobjekt jedoch weist auf ein reales lyrisches Ich hin, das weder zwangsläufig mit dem Dichter-Ich zu identifizieren ist, noch sicher von ihm abgegrenzt werden kann. Somit kann, laut Hamburger, das Ich zwar mit dem Dichter, der Gegenstand des Gedichtes aber nicht mit einem genuinen Dichter-Erlebnis gleichgesetzt werden.30 Hamburgers Argumentation zeigt selbst ihre Problematik, Narrativik mit mehr, Lyrik hingegen mit weniger Fiktionalität zu identifizieren, auf, wenn sie Zwischenformen wie das epische Gedicht oder den Roman eines Ich-Erzählers betrachtet: »Wo eine Erzählfunktion am Werke ist, stehen wir nicht vor einem lyrischen Phänomen. Andererseits aber neutralisiert die Gedichtform wieder das episch fiktionale Phänomen.«31 Für die vorliegenden Gedichte erweist sich diese Zwischenlösung, in der ›lyrisch‹ als ›nicht fiktional‹ und ›narrativ‹ als ›fiktional‹
26 Ebd., S. 47. 27 Warning (1983), S. 194. 28 Hamburger, Käthe (31977) [1957], Die Logik der Dichtung, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 217. 29 Iser (1991), S. 55. 30 Vgl. Hamburger (1977), S. 222. 31 Ebd., S. 243.
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zu verstehen ist, als wenig geeignet, da viele Texte eine narrative Sprechweise mit einem prononcierten lyrischen Ich und der Form des Gedichtes verbinden.32 Auch Wolfgang Müller, der zum einen die oben erwähnte These aufstellt, Autor und Werk seien sich in der Lyrik näher als in den anderen Gattungen, betont, dass das sich in der Lyrik manifestierende Ich (welches Müller nicht im grammatischen Sinne versteht, sondern als Sprecher der per se »subjektiv monologischen Gattung«33) als »Formgröße«34 gesehen werden müsse. Verstehe man Lyrik als Kunst, könnten Autor und Text-Ich nicht auf derselben ontologischen Ebene angesiedelt werden. Müller lehnt daher einerseits eine autobiographische Lesart ab, um jedoch andererseits die Besonderheit der Lyrik durch ihre »IchAussprache«35 zu betonen. Lediglich ein Rollenlied habe eine »[…] klar vom Dichter dissoziierte Identität.«36 Mit Horst Weich lässt sich gegen eine von Hamburger konstatierte Abhängigkeit des ›Lyrischen‹ als Gattungskategorie von der Gedichtform und der Absenz einer Erzählfunktion argumentieren, dass »[…] [l]yrisches Sprechen sowohl auf einer konstativen Sprechsituation aufruhen [kann], in der ein Sprecher Gedanken, Gefühle, emotionale Befindlichkeiten beschreibt bzw. bespricht, als auch auf einer berichtenden, in der der Sprecher als Erzähler auftritt und eine Geschichte vermittelt, und schließlich kann lyrisches Sprechen auch eine dramatische Sprechsituation gestalten, die Figurenrede […] unmittelbar abbildet.«37
Damit wird deutlich, dass das lyrische Ich als Formgröße die besondere Ausprägung der Sprecherfunktion in der ersten Person Singular darstellt: Eine Aussage wird nicht von einer unbestimmt bleibenden Sprecherinstanz aus getroffen, sondern von einem Sprecher, der mit einem grammatikalischen »Ich« identifiziert werden kann. Ob dieses Ich dann in stärkerer oder geringerer Form als die
32 Vgl. dazu die oben skizzierte Sprechsituation in Goytisolos »Nochebuena con Rosa« oder den Beginn von Ferraters »In memoriam«: »Quan va esclatar la guerra / jo tenia catorze anys i dos mesos« (V.1/2). 33 Müller (1979), S. 12. 34 Ebd., S. 20. 35 Ebd., S. 31. 36 Ebd., S. 48. 37 Weich, Horst (1998), »Theoretische Grundlegung«, in: ders., Paris en vers. Aspekte der Beschreibung und semantischen Fixierung von Paris in der französischen Lyrik der Moderne, Stuttgart: Steiner, S. 21-45, hier S. 43.
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Sprechinstanzen eines Romans oder Dramas38 mit dem Autor-Ich in Beziehung steht, kann dabei nur spekulativ bleiben. So wie Iser den Kontrakt der Fiktion als historisch variabel ansieht, betont Weich, dass der Lyrikbegriff nicht »transhistorisch« fixiert sei, sondern kulturell und zeithistorisch je neu definiert werden könne.39 Solchermaßen wäre das lyrische Ich eine »Lektürefigur«40, mit deren Hilfe die Fragen »wer spricht« und »wovon« geklärt werden können; Fragen, die immer auch von der historischen Lektüre dieser Subjektivität bestimmt werden.41 Carolin Fischer löst die widersprüchlichen Aspekte der Diskussion, indem sie die autobiographische Auffassung des Ich in lyrischen Texten auf einen impliziten »poetischen Pakt«42 zurückführt, der das Ich als Äußerungsinstanz und damit im Sinne der Sprechakttheorie als Produzenten des lyrischen Textes versteht. Die von ihr als »poetisches Ich« bezeichnete Sprechinstanz (die sie zur Abgrenzung von narrativen Texten nicht als ›Sprecher‹ und ob der disparaten Definitionslage nicht als ›lyrisches Ich‹ bezeichnet wissen möchte) ist somit eine Verquickungsfigur von Produzenten- und Rollen-Ich, da das Ich zwar immer eine literarische Figur ist, als Sprecher aber zugleich auch Produzent der poetischen Form, »Verfasser von Poesie«43. Fischers Ansatz erscheint hilfreich, um zu erklären, wie es zu den biographistischen Lektürelösungen der Lyrik bis in die Gegenwart kam, ihre Begrifflichkeit ist hingegen, außerhalb ihrer eigenen Analyse, potentiell irreführend, da sie die Kategorie des Autors wieder in die Diskussion mit einbringt. Meiner Ansicht nach kann die Form des Gedichtes weniger der Sprecherfigur zugerechnet werden als der Sprechsituation insgesamt. Somit kann die Form Rückbezüge auf das Wie des Sprechens nehmen und semantische Querbezüge durch Reim- oder andere Strukturäquivalenzen und – oppositionen aufzeigen. Aspekte der »Überstrukturiertheit«44 lyrischer Rede können also durchaus als ›Effekte‹ der Sprecherrede angenommen werden.45 Die Rede kann somit als aus dem Bewusstsein der Sprechinstanz hervorgegangen verstanden werden, was aber nicht zwangsläufig darauf schließen lässt, dass der Sprecher auch die Verschriftlichung besorgt hat: Dafür ist eine besondere bin-
38 Vgl. Müller (1979), S. 38. 39 Weich (1998), S. 43. 40 Vgl. Horn (1995), S. 299. 41 Ebd., S. 300. 42 Fischer (2007), S. 71. 43 Ebd. 44 Weich (1998), S. 31. 45 Vgl. zum Beispiel Wiederholungen als Aspekte nähesprachlicher Textstrategien in Kapitel 6.2.
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nenpragmatische Kommunikationssituation notwendig, die den Sprecher als Schriftsteller und Verfasser des vorliegenden Textes ausstellt.46 Zudem fragt sich, warum in einem Gedicht die Produzentenfigur implizit stärker gegeben sein sollte als beispielsweise in einem Monolog in einem Roman, in dem ähnliche formale Mechanismen, wie sie in der Lyrik gehäuft vorkommen (Versgestaltung, Reim, Metrum, Tropen und Figuren), angewendet werden können, ohne dass der Erzähler zwangsläufig an der Mediatisierung seiner Rede beteiligt ist. Mir scheint, dass mit Fischers Argumentation nicht ein struktureller Aspekt von Lyrik zum Ausgangspunkt genommen wird, sondern das romantische Lyrikverständnis mithilfe der Sprechakttheorie doch wieder auf eine Sonderstellung der Lyrik hin projiziert wird. Der von Fischer im Anschluss untersuchte »explizite poetische Pakt« als Inszenierung des Ich in der Doppelrolle »poeta/amator« von Ovid bis Baudelaire löst sich dann gänzlich von dieser Annahme eines impliziten Produzenten (der vielleicht mit Wayne Booths implizitem Autor zu vergleichen wäre), um in einem close reading das durch einen Autor-Index47 explizit gemachte Spiel mit der Identität des Ich herauszuarbeiten. Rüdiger Zymner verwehrt sich gegen die Verabsolutierung eines nicht fiktionalen und eines »pauschal vom Autor [abgelösten]«48 Lyrikbegriffes. Er führt vier Charakterisierungsmöglichkeiten nach den Variablen Autor und fiktive Figur sowie Fiktives und Faktisches ein,49 so dass sich eine Typologie mit den Ausprägungen »autorfiktionale Lyrik« (der Autor spricht über Fiktionales), »personafiktionale Lyrik« (eine Figur spricht über Fiktionales), »autorfaktuale Lyrik« (der Autor spricht über Faktuales) und »personafaktuale Lyrik« (eine Figur spricht über Faktuales) ergibt.50 Zymner nimmt an, dass in lyrischen wie in literarischen Texten allgemein die authentische Äußerung des Autors möglich ist, und nennt als Beispiel Widmungs- oder Trauergedichte.51 Dabei befürwortet er keinesfalls eine biographistische Interpretation, sondern sieht selbst »autorfik-
46 Vgl. insbesondere Kapitel 7. 47 »AUTOR, LESER oder TEXT sind dann indexikalisch repräsentiert, wenn sie sich auf den Aussage-Text beziehen, d.h. auf das semiotische oder diegetische Pendant zur realen Romanaussage.« Winter, Ulrich (1998), Der Roman im Zeichen seiner selbst. Typologie, Analyse und historische Studien zum Diskurs literarischer Selbst– repräsentation im spanischen Roman des 15. bis 20. Jahrhunderts, Tübingen: Narr, S. 82 (Herv. i.O.). 48 Zymner, Rüdiger (2009), Lyrik. Umriss und Begriff, Paderborn: mentis, S. 18. 49 Ebd., S. 11f. 50 Ebd., S. 12. 51 Vgl. ebd.
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tionale« Texte als vom Autor als Autor geäußert.52 Da die Typologisierung beansprucht, jegliche Ausprägung von Lyrik repräsentieren zu können und Zymner zu Recht die Praxis kritisiert, lyrische Texte per se nach postmodernen Kriterien zu beurteilen, ist also auch hier implizit der historische Lektürekontrakt berücksichtigt. Für das vorliegende Gedichtkorpus stellt sich allerdings die Frage, wann eine Äußerung als ›authentisch‹ zu betrachten ist, wann über Faktuales und wann über Fiktives gesprochen wird.53 Reicht die Referenz auf außertextlich Wiedererkennbares, wie die über extratextuelle Referenzen einer bestimmten Stadt, zum Beispiel Barcelona, zugeordnete Rede54 aus, sie als faktuale zu kategorisieren? Denn selbst »[…] authentizitätsbeglaubigende […] Textmerkmale und Kontextinformationen in allerlei Formen der Gelegenheitslyrik […]«55 scheinen in der modernen und postmodernen Lyrik ihre Authentizität gerade zu problematisieren. Daher soll für diese Arbeit ein pragmatischer Ansatz gewählt werden: Es wird von einer fiktionalen Sprechsituation ausgegangen, auf deren Grundlage die Bezüge zu Faktualem, inbegriffen die Bezugnahme auf den Autor selbst, so der Text einen begründeten Hinweis darauf liefert, in den Blick genommen und analysiert werden können. Insgesamt kristallisiert sich somit ein doppelter Analyseweg heraus: Zum einen sollte deutlich geworden sein, dass auch in der Lyrik von einer prinzipiell fiktiven Sprechsituation ausgegangen werden muss, welche der doppelten Pragmatik literarischer Texte entspricht.56 Zum anderen muss die Analyse die historische Lesart der Äußerungsinstanz berücksichtigen.
52 Vgl. ebd., S. 18f. 53 Die Frage nach der Zuordnung zu den Zymner’schen Kriterien ist nicht ohne Weiteres eindeutig zu beantworten, Zymner selbst verweist auf den Modellcharakter seiner Typologie. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. hierzu näher Kapitel 7. 54 Vgl. Kapitel 4.2.3 55 Vgl. Zymner (2009), S. 16. Solche Texte werden in Kapitel 7 und 8 am Beispiel von Widmungsgedichten besprochen. 56 Vgl. auch Luengo, Ana (2010), »El poeta en el espejo: de la creación de un personaje poeta a la posible autoficción en la poesía«, in: Toro, Vera/Schlickers, Sabine/Luengo, Ana (2010a), La obsesión del yo. La auto(r)ficción en la literatura española y latinoamericana, Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana Vervuert, S. 251-267, hier S. 255.
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2.1.1 Zur diachronischen Funktion des Ich in der Dichtung der Romania Eine kurze Skizze zur historischen Wahrnehmung der Ich-Funktion soll nun die pragmatischen Kontrakt-Annahmen57 in der romanischen58 Lyrik seit dem Mittelalter darlegen und die strukturelle Bedeutung der Sprecher- in Abgrenzung von der Autorfunktion erörtern, da »[…] zu unterscheiden [ist], ob der Text überhaupt in einer Zeit entstanden ist, in der ein entsprechendes Autorkonzept die Textproduktion und -rezeption bestimmt hat, und ob es sich um einen Text handelt, in dem der Autor in irgendeiner Form Spuren der Selbstinszenierung hinterlassen hat […].«59
Lyrik ist traditionell ein performanzorientiertes Genre, das einen »Sitz im Leben«60 haben, sich also nicht nur inhaltlich an lebensweltlichen Ereignissen orientieren kann, sondern auch durch seine Darbietungsform stärker als andere Gattungen, beispielsweise der Roman, in der sozial vermittelten Rezeption verankert ist, wie zum Beispiel anhand der Trobadorlyrik der Romania ersichtlich ist.61
57 Vgl. Warning (1983), S. 194. 58 Erst ab dem 15. Jahrhundert ist es sinnvoll, im engeren Sinne von ›spanischen‹ Texten zu sprechen, da sich der peninsulare »Plurilinguismus« (spanisch-arabische Mischsprache, Portugiesisch-Galizisch, Provenzalisch-Katalanisch) zugunsten des Kastilischen auflöste. Gerade die höfische Lyrik konzentrierte sich durch die SantiagoPilger auf den Nordwesten der Halbinsel und durch die (sprachliche) Nähe des Katalanischen zum Provenzalischen auf den Nordosten, so dass eine kastilische höfische Lyrik ausblieb oder sich des Portugiesisch-Galizischen bediente. Vgl. Tietz, Manfred (1997), »Die Entwicklung der spanischen Lyrik von den Anfängen bis 1870«, in: ders. (Hrsg.), Die spanische Lyrik von den Anfängen bis 1870. Einzelinterpretationen, Frankfurt am Main: Vervuert, S. 7-39, hier S. 9, 12. 59 Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone, »Autor und Interpretation« (2000b), in: dies. (2000a), S. 7-29, hier S. 14. 60 Vgl. Mahler, Andreas/Weich, Horst (22008), »Einzelaspekt: Lyrik und Chanson«, in: Kolboom, Ingo/Kotschi, Thomas/Reichel, Edward, Handbuch Französisch. Sprache · Literatur · Kultur · Gesellschaft, Berlin: Erich Schmidt, S. 889-895, hier S. 889. 61 Vgl. Warning, Rainer (1997), »Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. Wilhelm IX. von Aquitanien: Molt jauzens, mi prenc en amar«, in: ders., Lektüren romanischer Lyrik. Von den Trobadors zum Surrealismus, Freiburg: Rombach, S. 4584, hier S. 46.
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Zwar muss davon ausgegangen werden, dass auch Erzählungen und Romane vorgetragen wurden, man denke nur an die im Don Quijote referierten Lesungen im Wirtshaus, die verhältnismäßig kurze lyrische Form eignet sich aber besonders für den gesungenen oder gelesenen Vortrag – die musikalische Begleitung war bis ins 15. Jahrhundert hinein üblich.62 Nicht umsonst etablierte sich gerade im Siglo de Oro die Praxis von Dichterwettbewerben, justas poéticas, als fester Bestandteil von Stadtfesten.63 Lyrik ist also nicht notwendigerweise ein rein ästhetisierendes Spiel im Sinne eines aus sozialen Kontexten herausgelösten art pour l’art – was sich auch an Dialogen von Text zu Text sowie gegenseitigen Nennungen und Widmungen befreundeter (oder rivalisierender) Dichter sehen lässt; z.B. schon bei Garcilaso und Boscán, neueren Datums bei Unamuno und Maragall64 – sowie bei den hier zu behandelnden Autoren.65 Warning erläutert, dass mit dem höfischen Versepos, z.B. bei Chrétien de Troyes, die Funktion von Autor und Erzähler erstmalig differenziert werde: Indem der Sprecher seine Autorschaft betont, tritt er zugleich als exponierter Erzähler einer Geschichte auf – in Anlehnung an und Abgrenzung vom mündlichen Vortrag anonymer Sänger im Heldenepos als »›social I‹«66 und »Sprachrohr der Gemeinschaft«67. Das heißt, dass die Figur des Autors sich klar mit dem Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit ausbildet:68 »Was die Selbstnennung leistet, ist der Ausweis der Fiktion als Projektion einer neuentdeckten Autorkompetenz.«69 Aus eben diesem Grund tritt in der höfischen Lyrik ein mit dem Autornamen benannter Sprecher auf, so dass hier bereits »[…] das Spiel mit der möglichen Referenzidentität von realem Autor und fiktivem Rollen-Ich«70 mög-
62 Tietz (1997), S. 17f. 63 Vgl. ebd., S. 19 und beispielhaft zur Veranstaltung von justas in Granada Osuna, Inmaculada (2004), »Justas poéticas en Granada en el siglo XVII: materiales para su estudio«, in: Criticón 90, S. 35-77. 64 Vgl. Bastons, Carles (2006), Joan Maragall y Miguel de Unamuno. Una amistad paradigmática. Cartas, artículos, dedicatorias, poemas, Lleida: Milenio. 65 Vgl. z.B. Keown, Dominic (2003), »Prólogo«, in: Dadson/Flitter (2003), S. vii-xi, hier S. viii. 66 Gragnolati, Manuele (2010), »Autorship and performance in Dante’s Vita nova«, in: Gragnolati, Manuele/Suerbaum, Almut (Hrsg.), Aspects of the performative in medieval culture, Berlin/New York: Walter de Gruyter, S. 125-141, hier S. 125 (Herv. i.O.). 67 Warning (1983), S. 195. 68 Vgl. ebd., S. 194f. 69 Warning (1997), S. 51. 70 Warning (1983), S. 196.
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lich wird. Nach der vorwiegend pragmatischen Einbindung einer öffentlichen Lyrik71 und der vorherrschenden »allegorisch-verallgemeinernden Lektüre«72 wird die Lyrik mit dem Petrarkismus aus dem Aufführungskontext herausgelöst und in Fiktionalisierungstendenzen und gleichzeitige Behauptung von Authentizität eines »autobiographisch stilisierten Ich«73 eingebunden.74 Mit Dantes Vita nova präsentiert sich das lyrische Ich bereits »[…] as an individual and historically determined subject […].«75 In der Renaissance bleibt noch ein großer Teil der Lyrik als »Agentur des Wissens«76 in ein »mimetisches Paradigma«77 eingebunden, das sich an der humanistisch-gelehrten Praxis der aemulatio und imitatio der lateinischen und griechischen Klassiker orientierte.78 Im Siglo de Oro geht man aber zum Beispiel für Lope de Vegas Rimas davon aus, dass »[s]e enfrenta así un yo lírico frente a un yo lector que éste asume como metáfora y ficcionalización.«79 Erst mit der Romantik80 weicht die Mimesis der Expression persönlicher Erfahrungen, Gedan-
71 Vgl. Mahler/Weich (2008), S. 889. 72 Haverkamp, Anselm (1982), »›Saving the Subject‹. Randbemerkungen zur Veränderung der Lyrik«, in: Poetica 14, S. 70-91, hier S. 75. 73 Regn, Gerhard (1993), »Systemunterminierung und Systemtransgression. Zur Petrarkismus-Problematik in Marions ›Rime Amorose‹ (1602)«, in: Hempfer, Klaus/Regn, Gerhard (Hrsg.), Der petrarkistische Diskurs. Spielräume und Grenzen, Stuttgart: Franz Steiner, S. 254-280, hier S. 270. 74 Vgl. Mahler/Weich (2008), S. 890. Im Gegensatz zur spielerischen canción erscheint die petrarkistische Lyrik als unmittelbare Erfahrung des Liebenden mit möglicherweise autobiographischem Hintergrund. Vgl. Tietz (1997), S. 21. 75 Gragnolati (2010), S. 140. 76 Mahler/Weich (2008), S. 889. 77 Ebd. 78 Vgl. Tietz (1997), S. 22. 79 Carreño, Antonio (1992), »Amor ›regalado‹/amor ›ofendido‹: las ficciones del yo lírico en las Rimas (1609) de Lope de Vega«, in: Mackenzie, Ann L./Severin, Dorothy S., Hispanic Studies in Honour of Geoffrey Ribbans, Liverpool: Liverpool University Press, S. 73-82, hier S. 73. 80 Die Romantik wird in Spanien recht spät, in etwa mit Esproncedas »Canción del pirata« (1835) angesetzt. Vgl. Tietz (1997), S. 33. Zur »›Verspätung‹ der spanischen Romantik« vgl. auch Neuschäfer, Hans-Jörg (32006), »Das 19. Jahrhundert«, in: ders. (Hrsg.), Spanische Literaturgeschichte, Stuttgart: Metzler, S. 231-314, hier S. 239 (Herv. i.O.).
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ken und Gefühlen.81 Nun versucht das Text-Ich, seine Inszenierung zu leugnen,82 der Dichter tritt als poeta vates auf, »Schauerlebnisse« und Erinnerungssituationen sollen die Authentizität der Dichterrede unterstreichen.83 Aber auch hier ist der Ausdruck der Innerlichkeit, zum Beispiel bei Bécquer, als »›überarbeitete‹ Gefühle« und Auseinandersetzung mit ihrer sprachlichen »Nichtmittelbarkeit«84 zu verstehen. Mit dem Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert konstatiert Hugo Friedrich das Verschwinden der Subjektivität und im Sinne Ortega y Gassets eine »Enthumanisierung« der Texte aufgrund ihrer Hermetik.85 Die moderne Lyrik setzt zunächst die Sprache ins Zentrum ihrer Autonomie,86 was für den Fall der spanischen Dichtung aber nicht als klare Linie zu verfolgen ist: Hier muss vielmehr von einer Pendelbewegung zwischen poesía pura und poesía impura gesprochen werden,87 in welche die hier zu untersuchenden Texte einzuordnen sind. 2.1.2 Zur »poesía de la experiencia« Um die vorliegenden Gedichte solchermaßen innerhalb eines für sie geltenden Lektüre-Kontrakts zu verorten, müssen zwei Aspekte berücksichtigt werden. Zum einen, dass sie weniger einem hermetischen oder autonomen »Imaginationsparadigma«88 zuzuordnen sind, sondern einer konkreten Sprechsituation, in der deutlich markierte Sprecherfiguren auftreten. Zum anderen, dass in der zeitgenössischen Theoriedebatte der Begriff der »poesía de la experiencia« geführt wurde, mit dem sich die Poetik der 50er und 60er Jahre am romantischen Expressionsparadigma abarbeitet. Beide Aspekte führen dazu, dass die hier behandelten Ge-
81 Stenzel, Hartmut (22005), Einführung in die spanische Literaturwissenschaft, Stuttgart: Metzler, S. 172. 82 Warning (1983), S. 197. 83 Vgl. Mahler/Weich (2008), S. 891. 84 Neuschäfer (2006), S. 258 (Herv. i.O.). 85 Vgl. Friedrich, Hugo (1996) [1956], Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Reinbek: Rowohlt, v.a. S. 168-172. Vgl. auch Ortega y Gasset, José (142007) [1925], La deshumanización del arte y otros ensayos de estética, Madrid: Espasa Calpe. 86 Vgl. Mahler/Weich (2008), S. 891f. 87 Vgl. Tietz, Manfred (1990), »Zur Entwicklung der spanischen Lyrik der Moderne: 1870-1980«, in: ders. (Hrsg.), Die spanische Lyrik der Moderne, Frankfurt am Main: Vervuert, S. 7-18, hier S. 10. 88 Mahler/Weich (2008), S. 892.
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dichte schnell als Ausdruck einer konkreten Autorbefindlichkeit funktionalisiert werden. Lyrik hat als Gattung von der Romantik eine problematische ›Innerlichkeit‹ geerbt, die sich für die vorliegenden Texte – scheinbar – mit einem unreflektierten Erlebnis- bzw. Erfahrungsbegriff und einer offensichtlichen Verweisstruktur begründen lässt: Gehäuft tritt die Rede eines lyrischen Ich auf, das sich in einem konkretisierbaren hic et nunc äußert und außerdem auf thematische Aspekte eingeht, die mit Erfahrungen des Autors identifizierbar sind. Beispielhaft sei hier die Meeresthematik vieler Gedichte des passionierten Seglers Barral genannt,89 Ferraters Langgedicht »In Memoriam«, das auf mehrere verifizierbare Episoden seiner Kindheit eingeht,90 und Gil de Biedmas späte Gedichte mit Titeln wie »Contra Jaime Gil de Biedma« oder »Después de la muerte de Jaime Gil de Biedma«91. Auch in Goytisolos erstem Gedichtband Años decisivos lässt sich ein besonders enger Bezug zu den Erlebnissen seiner Kindheit herstellen, vor allem im ersten Abschnitt, der »El retorno« betitelt ist und seiner im Bürgerkrieg bei einem Bombenangriff umgekommenen Mutter, »A la que fue Julia Gay«, gewidmet ist. Bei González fördert die mehrfache Nennung des Autornamens im Gedichttext den Autorbezug. Bonet sieht die Ausbildung von Berührungspunkten zwischen den Texten der Dichter als eine Verbindung von »[…] huellas autobiográficas, experiencias plurales, imágenes comunes, estilemas compartidos«92, wobei der interferentielle Aspekt mit dem autobiographischen zusammenkommt. Es bildeten sich somit hybride Strukturen zwischen Lebenswelt und Text aus: »historias ficticias o teatralizadas interpuestas entre la vida y la literatura«93 Das alltägliche Leben erhalte, so Bonet, einen wesentlichen Stellenwert als »[…] tema, argumento, escenario, historia, liturgia.«94 Nicht selten führen diese Besonderheiten dazu, dass in der Sekundärliteratur Photographien der Autoren mit Versen ihrer Gedichte un-
89 Vgl. z.B. Thiollière, Pierre (2003), »Le moi et l’espace maritime dans la poésie de Carlos Barral«, in: Soubeyroux, Jacques (Hrsg.), Le Moi et l’espace. Autobiographie et autofiction dans les littératures d’Espagne et d’Amérique latine. Actes du colloque international des 26, 27 et 28 septembre 2002, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne, S. 423-441. Außerdem Riera (1990b), S. 109-116. 90 Vgl. die psychoanalytische Lektüre bei Tosquelles i Llauradó, Francesc (1985), Funció poètica i psicoteràpia: una lectura de ›In memoriam‹ de Gabriel Ferrater, Reus: Institut Pere Mata. 91 Im Folgenden »Después de la muerte […]«. 92 Bonet (1994), S. 160. 93 Vgl. ebd., S. 161. 94 Vgl. ebd.
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terlegt werden. So wird bei Shirley Mangini eine Aufnahme, auf der Gil de Biedma lachend an einem Swimmingpool zu sehen ist, von einen Vers aus »Después de la muerte […]« begleitet, der ein ähnliches setting evoziert: »Tú volvías riendo del teléfono / anunciando más gente que venía« (V.29-30).95 Besonders in Einführungen zu der Dichtergruppe werden häufig zwei Strophen aus »En el nombre de hoy« von Gil de Biedma zitiert, welche die besondere Rekurrenz der Literatur auf das Leben zu belegen scheinen:96 Finalmente a los amigos, compañeros de viaje, y sobre todos ellos a vosotros, Carlos, Ángel, Alfonso y Pepe, Gabriel y Gabriel, Pepe (Caballero) y a mi sobrino Miguel, Joseagustín y Blas de Otero, a vosotros pecadores como yo, que me avergüenzo de los palos que no me han dado, señoritos de nacimiento por mala conciencia escritores de poesía social, dedico también un recuerdo y a la afición en general. (Gil de Biedma, »En el nombre de hoy«, V.25-40)
95 Vgl. Mangini González, Shirley (1977), Jaime Gil de Biedma, Madrid: Júcar, S. 103. Außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes ist diese Übertragung der Texte auf das Leben Gestaltungsprinzip eines Filmes über Jaime Gil de Biedma geworden: Einige seiner Gedichte kommentieren dargestellte Lebenssituationen aus dem Off; die Entstehung anderer wird direkt aus dem Handlungsablauf heraus motiviert. Vgl. Monleón, Sigfrid (2010), El cónsul de Sodoma, Spanien: Infoco. 96 Der Text nimmt jedoch eine Sonderstellung ein, insofern er als einleitendes Widmungsgedicht zu Moralidades sowohl als Paratext als auch als Haupttext betrachtet werden kann (vgl. Kapitel 7.2.1 und 7.2.5).
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So kann man zwar in der Aufzählung der Freunde reale Autoren und Integranten der Gruppe identifizieren,97 dennoch ermöglicht erst die Differenzierung zwischen Autor und Sprecher, trotz historisch nachprüfbarer Ereignisse, die Überschreitung des biographischen Ich durch das fiktionale und damit die Transzendenz des rein Partikulären.98 Unter den Dichtern selbst wurde diese Problematik unter dem Begriff der poetry of experience diskutiert. Es handelt sich um ein Konzept, das Robert Langbaum 1957, in etwa zeitgleich zu den ersten Veröffentlichungen der Gruppe, mit Bezug auf den dramatischen Monolog entwickelte. Als spezifisch moderne Äußerungsform der Lyrik reagiere dieser, so Langbaum, seit der Romantik auf den Sinnverlust der modernen Gesellschaft. Der dramatische Monolog wird zumeist von einem lyrischen Ich geäußert, das sich an einen oder mehrere Adressaten wendet, deren Reaktionen in den Monolog eingehen. Er verhandelt eine bestimmte problematische Situation, an die das sprechende Individuum episodisch angebunden ist.99 Langbaum versteht den dramatischen Monolog in der Folge der modernen Problematisierung von Werten: Eine eindeutige Be- oder Verurteilung des Sprechers sei nicht mehr möglich, der Sprecher werde in eine moralische Freiheit entlassen, die zum Beispiel in den Shakespeare’schen Tragödien noch nicht gegeben war. Das Sprecher-Ich eines dramatischen Monologes orientiert sich somit nicht mehr an dem moralisch Wertvollen, sondern allein an seinen persönlichen Wertsetzungen. Das führt laut Langbaum dazu, dass die Gedichte ein »disequilibrium between sympathy and judgement«100 hervorriefen: nämlich eine grundsätzliche Sympathie mit dem Sprecher, im Sinne einer romantischen Einfühlung101, die aber im Widerspruch zur Beurteilung seiner moralischen Qualitäten stehen könne. Dieses Ungleichgewicht führt zu einem weiteren, nämlich dem ungleichen Verhältnis von Idee und Erfahrung. Der romantische dramatic monologue stehe nicht mehr in der (platonischen) Abhängigkeit der geschilderten Dingwelt von der Ideenwelt, vielmehr würden Ideen als »problematical rationalizations« aus individuellen Erfahrungen abgeleitet, die Ding-
97 So geschehen in der spanisch-deutschen Ausgabe von Gil de Biedma, Jaime (2004), Las personas del verbo – Die Personen des Verbs, übers. von Manuel Monge Fidalgo und Sven Limbeck, Berlin: Elfenbein, S. 234. 98 Vgl. Jurt, Joseph (1993), »Autobiographische Fiktion«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 34, S. 347-359, hier S. 348. 99 Vgl. Langbaum, Robert (1974) [1957], The poetry of experience. The Dramatic Monologue in Modern Literary Tradition, New York: Random House, S. 70. 100 Ebd., S. 132. 101 Vgl. ebd., S. 73 (deutsch i.O.).
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welt sei nicht mehr eine rhetorische Figur, die auf ihre metaphorische Funktion der Vermittlung einer abstrakten Idee reduziert werde: »[…] [T]he poem is an authentic experience which gives birth to an idea rather than the illustration of a ready-made idea.«102 Von besonderem Interesse für die Romantik ist in diesem Zusammenhang die Verquickung von Autor-Ich und lyrischem Ich, auf die zu Beginn schon hingewiesen worden ist und die in einer Dichtung, welche die persönliche Erfahrung des lyrischen Ich stark macht, eine besondere Intensität des Gesagten verspricht. Doch auch Langbaum warnt vor der Gleichsetzung der Dichter Wordsworth, Keats oder Shelley mit Sprechern gleichen Namens: »[…] [W]e should not […] think of him [the speaker] as the man his friends knew and his biographers write about; we should rather think of him as a character in a dramatic action, a character who has been endowed by the poet with the qualities necessary to make the poem happen to him.«103
Zentral ist für das Konzept der poetry of experience also vor allem, dass nicht die eigentliche, realiter überprüfbare Erfahrung des Autors für das Gedicht sinnstiftend ist, sondern, dass gerade die Überschreitung eines genau zurechenbaren Ereignisses ihr eine erweiterte Bedeutung verleiht: »El poema no tiene por qué ser fiel a la verdad biográfica, pero tiene que serlo a la experiencia de su autor […].«104 Denn erst, wenn das Gedicht als »simulacro de la propia experiencia real«105 verstanden wird, ermöglicht es, »[…] sentiments unànimes generalitzables i universalment vàlids«106 abzuleiten.107 Der schillernde Begriff108 der »poesía de la experiencia« geht in seiner spezifischen Konkretisierung der 60er Jahre also weniger von einem romantischen Erfahrungsbegriff aus, sondern zum einen von einer im Sinne des realistischen Romans genau ausgearbeiteten Figurenkonzeption, zum anderen von einer damit verbundenen Lösung der énonciation und des
102 Ebd., S. 42. 103 Ebd., S. 45. 104 Rovira (2005), S. 119. 105 Jaime Gil de Biedma in einem Interview mit García Ortega, Adolfo (1986), »La perfección y el gozo«, in: El País, 10.07.1986, zit. nach: Pérez Escohotado (2002), S. 211. 106 Macià, Xavier/Perpinyà, Núria (1986), La poesia de Gabriel Ferrater, Barcelona: Ed. 62, S. 55. 107 Zur Rolle der Autofiktion, unter der dieses Phänomen der poetry of experience im Weiteren gefasst werden wird, siehe Kapitel 7. 108 Vgl. hier und im Folgenden Partzsch, Henriette (2001a), Die Tradition der Alba in der spanischen Lyrik des 20 Jahrhunderts, Berlin: Weidler, S. 146.
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énoncés von der Instanz des Poeten. In dieser Hinsicht definiert Biedma die »poesía de la experiencia« als ein durch den Leser nachzuvollziehendes Erlebnis: »[…] [H]ay una poesía, un tipo de concepción del poema predominante […] en la poesía moderna, es decir, a partir del Romanticismo, en que lo que el poema intenta producir es una ilusión de comunicación. Eso que otros dicen que es comunicación es sencillamente poesía de la experiencia. Es decir, crear el vaciado o la estructura dinámica de un experimentar, de un experimentar algo y que ese vivir algo sea asumido por el lector.«109
Damit schließt er an eine poesietheoretische Diskussion über die Qualität von Lyrik als »comunicación« oder »conocimiento« an, die in der spanischen Literaturszene der 50er Jahre,110 ausgehend von Aphorismen, die Vicente Aleixandre 1950 in Ínsula und Espadaña veröffentlichte,111 sowie Carlos Bousoños Teoría de la expresión poética112, entbrannte und an der sich die hier betrachteten Dichter lebhaft beteiligten. Auch wenn die Frage im Laufe der Zeit zu einem Selbstläufer und Topos der zeitgenössischen Dichterdiskussion wurde, die auch als Ausdruck rivalisierender Tendenzen zwischen Barcelona und Madrid interpretiert werden kann,113 so ist doch in diesem Zusammenhang vor allen Dingen von Interesse, dass sich die Dichter aus Barcelona vehement gegen eine »poesía como comunicación« aussprachen. Noch in einem Artikel von 1990 lenkt Bousoño ein, er habe gar nicht von einer »comunicación real«, sondern von einer »comunicación imaginaria«114 sprechen wollen, die dadurch entstehe, dass der Leser glaube, der Autor empfinde das Gleiche wie er und wolle in Kommunikation mit
109 Gil de Biedma, Jaime (2006), »Leer poesía«, in: ders., Leer poesía, escribir poesía, ed. de Eugenio Maqueda Cuenca, Madrid: Visor, S. 53. Es handelt sich um Transkripte zweier Gesprächsrunden mit Biedma 1983 an der Universität Granada. 110 Vgl. Riera (1988), S. 151. 111 Beispielsweise: »El poeta llama a la comunicación y su punto de efusión establece una comunidad humana.« Zit. nach Rovira (2005), S. 45. 112 Bousoño spricht darin von der Dichtung als einer »[…] transmisión puramente verbal de una compleja realidad anímica previamente conocida por el espíritu como formando un todo, una síntesis […].« Bousoño, Carlos (1952), Teoría de la expresión poética, Madrid: Gredos, S. 36. 113 Vgl. Cañas, Dionisio (1996), »La poesía como complicidad. Las polémicas poéticas de los años 50«, in: Pérez Lasheras (1996), S. 33-43, hier S. 41. 114 Bousoño, Carlos (1990), »La poesía es comunicación«, in: Ínsula. Revista de letras y ciencias humanas 523-524, S. 13f., hier S. 13.
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ihm treten.115 Der Tenor der Beiträge von Carlos Barral, Jaime Gil de Biedma oder José Ángel Valente unterstützt hingegen weniger eine Vermittlung reinen Inhalts durch den Dichter, im Sinne einer poesía social, sondern vielmehr den Erkenntnisakt, den auch der Dichter im Laufe des Schreibprozesses durchlaufe: »El resultado concreto, el poema, es el fruto, autónomo con respecto a todo momento anterior de la conciencia de su autor, de un esfuerzo estético, más o menos intelectual y difícil.«116 Damit konzipiert Barral in seinem 1953 erschienen Artikel den ›Akt des Lesens‹ als dem Dichten äquivalente Operation, »[…] si bien de otro signo con relación al poema.«117 Indem er dem Gedicht damit eine tendenzielle Offenheit zubilligt, die dazu führt, dass auch der Dichter erst im fertigen Text dessen Inhalt erkenne, wendet er sich gegen die »poetas con mensaje«118. Damit mag er auf die neoklassizistische und religiöse Lyrik der garcilasistas abzielen; ebenso steht eine simplifizierende poesía social im Zentrum seiner Kritik. Barral spricht sich für »poéticas más complicadas« als die Übermittlung einer Botschaft aus und erhofft sich diese von der »nueva generación literaria española«119. Zwei Jahre später äußert sich auch Biedma zur Debatte, und zwar im Vorwort zu seiner Übersetzung von Eliots The Use of Poetry and the Use of Criticism. Er verwehrt sich sowohl gegen einen Begriff der Dichtung als »comunicación« als auch als »conocimiento«, indem er sich auf Eliot bezieht und wie Barral auf die unterschiedlichen Erfahrungen des Schreibens und des Lesens abhebt. Dichtung als Kommunikation zu begreifen, sei eine Vereinfachung, die im Gedicht den Ausdruck der Autorinnerlichkeit suche: »Hoy, cuando ›poesía‹ vale para casi todos como una abreviatura de ›poesía lírica‹, la referencia al autor, a la subjetividad del autor, vista al modo romántico, es la más abrumadora y frecuente.«120 Er kommt zu dem Ergebnis, dass das einzige, was kommuniziert werden könne, dass Gedicht in seiner Form sei, womit er auf die außenpragmatische Kommunikationssituation abhebt, unabhängig vom Kommunizierten.121 Eine in diesem Sinne in der Diskussion um die Dichtung als »comunicación« oder »conocimiento« profilierte »poesía de la experiencia« ermöglicht es daher, den für
115 Vgl. ebd., S. 14. 116 Barral, Carlos (1953), »Poesía no es comunicación«, in: Laye 23, S. 23-26, hier S. 25. 117 Ebd., S. 26. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Gil de Biedma, Jaime (2001d) [1955], »›Función de la poesía y función de la crítica‹, por T. S. Eliot«, in: ders. (2001c), El pie de la letra. Ensayos completos, Barcelona: Mondadori, S. 21-35, hier S. 30. 121 Vgl. ebd., S. 34.
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das Korpus relevanten tendenziell fiktionalen Lektüre-Kontrakt nicht nur aus der gegenwärtigen theoretischen Perspektive, sondern auch aus der zeitgenössischen Poetik abzuleiten.
2.2 Z UR G EDICHTANALYSE Mit der Diskussion um die Fiktionalität der Lyrik geht auch eine, besonders in der Germanistik intensiv geführte Diskussion um den Begriff des ›lyrischen Ich‹ einher.122 Fischer spricht sich gegen diese Analysekategorie aus, wie auch gegen die des ›Sprechers‹. Erstere, weil zu konträr diskutiert und nicht klar definiert, letztere, weil zu nah an den Begrifflichkeiten der Narrativik situiert. Ihrer Argumentation ist zugute zu halten, dass sie einer Besonderheit lyrischen Sprechens mit der Kategorie des »poetischen Ich« Rechnung tragen möchte, nämlich gerade der von ihr beschriebenen Doppelfunktion der Aussageinstanz als Figur und Hervorbringer des Gedichtes. Dennoch scheint auch diese Position mögliche biographistische Vereinnahmungen nicht abwenden zu können, sie eventuell gerade durch die Definition des »poetischen Ich« als Produzent des Textes zu provozieren. Für die vorliegenden Gedichtanalysen werden deshalb die Begriffe ›lyrisches Ich‹ und ›Sprecher‹ synonym als Bezeichnungen für die Aussageinstanz der Gedichte verwendet, wobei auf die Bezeichnung ›lyrisches Ich‹ nur rekurriert wird, sofern die Rede einer »absolut verwendeten«123 ersten Person Singular zugeordnet werden kann. Damit wird das ›lyrische Ich‹ hier als reine Textinstanz untersucht. Mit der Aufrechterhaltung dieser Analysekategorie orientiere ich mich an der »Verteidigung eines umstrittenen Begriffs« durch Matías Martínez,124 schließe mich allerdings Malte Steins Kritik an, dass das lyrische Ich nicht auf »monologische« und »situationsenthobene«125 Äußerungen beschränkt werden kann.126 Wie konkret die binnenpragmatische Sprechsituation ausformuliert sein kann, wird in den folgenden Analysen deutlich werden. Diese richten
122 Vgl. zur Übersicht Horn (1995). 123 Link, Jürgen (41990), Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe: eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis, München: Fink, S. 335. 124 Vgl. Martínez, Matías (2002), »Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs«, in: Detering, Heinrich (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 376-389. 125 Ebd., S. 389. 126 Stein, Malte (2007), »Ingeborg Bachmann: ›Im Zwielicht‹«, in: Schönert u.a. (2007), S. 267-279, hier S. 271f.
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sich an dem semiotisch-strukturalistischen Ansatz von Weich aus,127 welcher die Analyse des lyrischen Textes in die drei semiotischen Bereiche Pragmatik, Semantik und Syntaktik unterteilt, wobei Pragmatik und Semantik der Syntaktik übergeordnet behandelt werden – auf syntaktische Aspekte wird dann eingegangen, wenn sie semantisch relevant sind.128 Mittel- und Ausgangspunkt der Analysen ist daher die Sprechsituation, das heißt die binnenpragmatische Äußerungs- oder Kommunikationssituation, die über Personal-, Temporal- und Lokaldeixis aufgebaut wird. Sprecher, Angesprochener, Sprechgegenstand, Zeit und Ort der Sprecherrede sowie dessen Relation zum Angesprochenen, Sprechweise und Sprachfunktionen werden als zentrale Komponenten der Sprechsituation schwerpunkthaft untersucht.
127 Vgl. Weich (1998), S. 21-45. 128 Vgl. ebd., S. 22.
Interferenz II: Die semantische Dimension der Interferenz
Im folgenden zweiten Abschnitt werden die textuellen Aspekte der Interferenz anhand von semantischen Similaritäten analysiert. Um die Text-Interferenzen offenzulegen, werden die Gedichte auf Lebenserzählungen der Sprecher hin untersucht. Die Auswahl dieses thematischen Schwerpunktes findet bereits im Hinblick auf den dritten Teil dieses Buches statt, in dem die lyrischen SprecherBiographien im Hinblick auf die Interferenz von Lebenswelt und Text erneut thematisiert werden. Daher verfolgen die beiden Kapitel zu den Modi der Selbstwahrnehmung ein dreifaches Ziel: Zunächst werden in Kapitel 3 mit dem Erinnerungsdiskurs und dem Selbstbild Modi des Selbstbezuges der Sprecher auf ihre Similaritäten hin analysiert, um dann in Kapitel 4 motivisch similar etablierte Lebenserzählungen aufzuzeigen. Dieser Abschnitt zur semantischen Dimension der Interferenz dient daher erstens als Beispiel für semantisch similare Verhandlungen. Zweitens demonstriert er das methodische Vorgehen der Analyse: Similaritäten werden einander vergleichend gegenüber gestellt, dabei aber nicht auf Kausalitäten eines determinierenden ›Einflusses‹ reduziert. Drittens legt dieser Abschnitt die thematische und motivische Grundlage für die pragmatische Analyse in der dritten Dimension der Interferenz.
3 Die Modi der Selbstwahrnehmung
Aufbauend auf die Beobachtung, dass die vorliegenden Gedichte Lebenserzählungen entwerfen, soll im Anschluss an die im vorherigen Kapitel vorgestellte Konzeption der Lyrik als »poesía de la experiencia« zunächst die Selbstwahrnehmung des lyrischen Ich untersucht werden. Der Modus des Erinnerungsdiskurses zeigt eine besondere Perspektivierung des dargestellten Sprecherlebens durch rückblickende Kommentierung auf und wird ergänzt durch den Modus der Selbstbetrachtung. In der Modellierung der Sprecher-Figur ergänzen sich Erinnerungs- und Identitätsdiskurs dahingehend, dass das lyrische Ich sich innerhalb seiner Lebenserzählung als fragmentarisch erfährt.
3.1 D ER E RINNERUNGSDISKURS 3.1.1 Das erlebende und das erinnernde Ich Der Erinnerungsdiskurs vieler Gedichte des Korpus charakterisiert sich mehr durch eine rückblickende Kommentierung des Erinnerten als durch eine einfache Wiedergabe von Vergangenem im Imperfekt. Dabei ist die erinnernde Perspektivierung des Geschehenen durch das lyrische Ich zentral: Seine Fokalisierung der vergangenen Handlung transportiert in vielen Fällen die reflektierende Identitätsbestimmung.1 In diesem Sinne kommt es zu einer Aufspaltung in erzählendes
1
»La búsqueda de la identidad propia lleva al yo literario a la necesidad de reflexionar sobre su pasado, superponiendo a menudo en el mismo poema dos puntos de vista: el del niño y el del adulto.« Riera, Carme (2000), Partidarios de la felicidad. Antología poética del grupo catalán de los 50, Barcelona: Círculo de Lectores, S. 306.
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bzw. erinnerndes und erlebendes bzw. erinnertes Ich:2 Das lyrische Ich steht als erinnerndes Ich in Konsonanz oder Dissonanz zu der Figur seiner selbst in der Vergangenheit:3 »[…] [L]o recordado o evocado provoca una reflexión en la que el personaje literario expresa su punto de vista actual.«4 Ein besonders anschauliches Beispiel liefert Biedmas »Infancia y confesiones«, in dem das lyrische Ich, eingebettet in eine erzählende Konversationssituation, einen doppelten Rückgriff auf seine Kindheit vornimmt. Der Sprecher kommentiert seine Vergangenheit aus der Gegenwart und stellt dabei Kindheitserinnerungen bereits als Objekte des Nachdenkens zu einem mittleren Zeitpunkt dar. »The experiencing self in first-person narration […] is always viewed by a narrator who knows what happened next to him, and who is free to slide up and down the time axis that connects his two selves.«5 Cuando yo era más joven (bueno, en realidad, será mejor decir muy joven) […] a menudo pensaba en la vida. (Gil de Biedma, »Infancia y confesiones«, V.1-3,7)
Der Sprecher markiert den zeitlichen Abstand zwischen seinem früheren Erinnern als »estudiante« (V.9) und seiner gegenwärtigen Position, wobei er den aktuellen Erinnerungsprozess in einer durch Einschübe gekennzeichneten Gesprächssituation (»bueno, en realidad […]«, V.2) mit mehreren Adressaten verortet: »algunos años antes / de conoceros […]« (V.5). Die Details der Kindheitsreminiszenzen werden vom Standpunkt des jüngeren Ich wiedergegeben (»Mi infancia eran recuerdos de una casa«, V.10)6 und aus der gegenwärtigen Ge2
Vgl. Cohns Unterscheidung von »narrating« und »experiencing self«. Cohn, Dorrit (1978), Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton: Princeton University Press, S. 143.
3
Cohns Ausführungen zur konsonanten und dissonanten Form autodiegetischen Erzählens werden hier auf lyrische Texte übertragen (vgl. ebd., S. 145-161).
4
Riera (1990b), S. 55.
5
Cohn (1978), S. 145.
6
Vgl. die Anlehnung an Machados »Retrato« aus Campos de Castilla von 1917: »Mi infancia son recuerdos de un patio de Sevilla« (V.1), wobei die Verwendung des Imperfekts bei Biedma im Gegensatz zum Präsens bei Machado den doppelten Rückblick des Sprechers in »Infancia y confesiones« deutlich macht. Vgl. Machado, An-
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sprächssituation heraus rückblickend kommentiert, wobei Rafael Albertis an die Adressaten gerichtete Bitte um Verständnis (»Yo nací –¡respetadme!– con el cine«7) aus Cal y canto mitklingt: »todo ligeramente egoísta y caduco. / Yo nací (perdonadme) / en la edad de la pérgola y el tenis« (V.21-23). Die Erinnerungen an die behütete Kindheit im geschützten Raum eines Landhauses, in dem »[…] las familias / acomodadas, /[…]/ veraneaban infinitamente« (V.12-15), wird mit vagen Andeutungen über das Leben außerhalb dieser Grenzen kontrastiert, welches für das Kind lediglich einen irrealen Status erreichen konnte: »La vida, sin embargo, tenía extraños límites / y lo que es más extraño: un cierta tendencia / retráctil« (V.24-26). In der letzten Strophe nimmt das lyrische Ich diese durch sein jüngeres Ich vermittelten Erfahrungen an und kommentiert sie erneut. Durch die Verwendung des Indefinido überschreitet der Sprecher nun den doppelten Rückgriff auf die Vergangenheit und leitet persönliche Wesensmerkmale, die ihn seit seiner Kindheit prägen (also auch bereits »[c]uando yo era más joven«), direkt aus seinen damaligen Erlebnissen ab: »De mi pequeño reino afortunado / me quedó esta costumbre de calor / y una imposible propensión al mito« (V.35-37). In ähnlicher Weise wird in »Conversaciones poéticas« eine einfache, d.h. nicht wie in »Infancia y confesiones« durch einen zweiten, intermediären Fokalisierungspunkt des lyrischen Ich gedoppelte Erinnerungssituation aus der Gegenwart des Sprechens kommentiert, relativiert und mit Sinn dotiert. So äußert sich das lyrische Ich beispielsweise ironisch über sein eigenes Verhalten: »grité que por favor que no volviéramos / nunca, nunca jamás a casa« (V.53-54). Der Nachsatz »Por supuesto, volvimos« (V.55) verdeutlicht die dramatische Ironie, da der rückblickende Sprecher durch seinen nachträglichen Überblick die Position eines Zuschauers einnimmt, einen Informationsvorsprung gegenüber der Figur seiner selbst hat und daher den ›tragischen‹ Ausgang der flehentlichen Bitte – und ihre Sinnlosigkeit – erkennt.8 Der Sprecher konstruiert ein klares Hier und Jetzt seiner Rede, bzw. seines Schreibens (»En estas otras noches de noviemb-
tonio, »Retrato«, in: Machado, Manuel/Machado Antonio (1978), Obras completas, Madrid: Biblioteca Nueva, S. 743f. 7
»Carta abierta« (V. 33), in: Alberti, Rafael (1988), Obras completas. Tomo I. Poesía. 1920-1938, ed. de Luis García Montero, Madrid: Aguilar, S. 372. Vgl. auch Rovira, Pere (1986), La poesía de Jaime Gil de Biedma, Barcelona: Ed. del Mall, S. 271.
8
Zur »ironischen Dramaturgie« vgl. Matzat, Wolfgang (1982), Dramenstruktur und Zuschauerrolle. Theater in der französischen Klassik, München: Wilhelm Fink, S. 30f.
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re«, V.63), in dem er die erlebte romantische Verklärung als Erinnernder relativiert, sich aber gleichzeitig in Kontinuität zu ihr setzt: mis ideas sobre cualquier posible paraíso me parece que están bastante claras mientras escribo este poema pero, para qué no admitir que fui feliz, que a menudo me acuerdo?9 (Gil de Biedma, »Conversaciones poéticas«, V.56-62)
Ebenso wird in »Intento formular mi experiencia de la guerra«10, dessen Titel bereits den Rekonstruktionsversuch einer Erinnerung kenntlich macht, die beschriebene Erfahrung der Kindheit im Bürgerkrieg immer wieder durch Kommentare des erinnernden Ich unterbrochen (»[…] se dice«, V.6; »[p]ara empezar«, V.13; »[y] me acuerdo también […]«, V.37), welche den Erinnerungsprozess strukturieren und die Erlebnisse schließlich in eine rückblickende Sinngebung überführen. Auch in González’ »Ciudad cero« wird die Perspektivänderung durch die Retrospektive thematisiert. Während für den Sprecher in »Intento formular […]« die Kindheitserlebnisse im Nachhinein zur politischen Bewusstwerdung geführt haben, betont der Sprecher in »Ciudad cero« seine Betroffenheit in der Gegenwart, die den vergangenen kindlichen Wahrnehmungshorizont überschreitet. In beiden Fällen vermittelt die durch die beiden zentralen, nahezu parallelen Verse, »quien me conoce ahora« (»Intento formular […]«, V.55) und »todo es borroso ahora« (Ciudad cero«, V.36) gedoppelte Perspektive »el desacuerdo entre ideas y experiencia«11. Quien me conoce ahora dirá que mi experiencia nada tiene que ver con mis ideas, y es verdad. Mis ideas de la guerra cambiaron
9
Biedma setzt häufig, abweichend von der spanischen Orthographie, kein einleitendes Fragezeichen.
10 Im Folgenden »Intento formular […]«. 11 Rovira (2005), S. 174.
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después, mucho después de que hubiera empezado la posguerra. (Gil de Biedma, »Intento formular […]«, V.55-61) Todo pasó todo es borroso ahora, todo menos eso que apenas percibía en aquel tiempo y que, años más tarde, resurgió en mi interior, ya para siempre: este miedo difuso, esta ira repentina, estas imprevisibles y verdaderas ganas de llorar. (González, »Ciudad cero«, V.35-43)
Der Sprecher in González’ »Evocación segunda« stellt das Nichtwissen des Kindes dem heutigen rückblickenden Verstehen gegenüber: »Yo ignoraba, en los años / lejanos que hoy evoco« (V.30/31).12 »Recuerdo / que yo no comprendía« heißt es auch in »Primera evocación« (V.15/16). Die drei unter dem Zwischentitel »Ciudad cero« zusammengefassten Gedichte stellen das Zentrum der Erinnerungspoetik bei González dar. Dieser letzte und kürzeste der drei Abschnitte des Tratado de urbanismo steht dem ersten gegenüber, der unter dem Titel »Ciudad uno« mehrere Texte über das Leben in der Stadt vereint. Diese Gruppierung von im weitesten Sinne gesellschaftskritischen Gedichten ist ganz an einer gegenwärtigen, im Präsens angesiedelten Sprechsituation orientiert, während in den drei »Ciudad cero« zugeordneten Texten die Alternierung von Gegenwart und Vergangenheit das Konstruktionsprinzip darstellt. »Ciudad cero« bezieht sich dabei nicht auf eine konkrete ›erste Stadt‹ der Sprecherbiographie, vielmehr stehen die Erinnerungen des Sprecher-Ich in Zusammenhang mit einer ›Stadt am Nullpunkt‹, die als Ausgangspunkt seiner städtischen Erfahrungen gelten kann; auch wenn hier die Stadt als Ort der Erfahrung diese weder hervorbringt noch konditioniert, wie dies in »Ciudad uno« der Fall ist. Der städtische Raum ist weniger Auslöser der vergangenen Geschehnisse als ihr Hintergrund: Im Anschluss an
12 Alarcos Llorach sieht in dieser Gegenüberstellung der Perspektiven in »Evocación segunda« den Ausgangspunkt einer ironischen Betrachtung bei González. Vgl. Alarcos Llorach (1996), S. 176.
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den Titel benennt nur eine vage Isotopie den Raum der Stadt (»pisos«, V.12; »calle«, V.15,33; »edificio«, V.30).13 Dem Ordnungsprinzip des Bandes, dem Abschnitt »Ciudad uno« die grundlegende »Ciudad cero« hintenanzustellen, folgt auch die Organisation der drei Texte in diesem letzten Abschnitt: Das Gedicht »Ciudad cero« steht am Anfang, es folgen »Evocación segunda« und »Primera evocación«. Die »Evocación segunda« ist somit in ihrer Zwischenstellung sowohl eine zweite Erinnerung in Bezug auf den ersten als auch auf den dritten Text, welche sich beide auf den Spanischen Bürgerkrieg beziehen. Die Anordnung setzt somit die drei Texte in eine hierarchische Beziehung zueinander, etabliert aber mit Blick auf die Einheit spendende Fokalisierung des lyrischen Ich auch eine zeitliche Reihenfolge der drei Erinnerungen, die zugleich das Erinnern selbst reflektieren. Wie schon in »Ciudad cero« wird in »Primera evocación« ein Erkenntnisgewinn des älter gewordenen erinnernden Ich bezüglich seines erinnerten Kindheits-Ich in den Dienst der gegenwärtigen Positionierung des Sprechers gestellt. Ist in »Ciudad cero« die Bewusstwerdung über die Implikationen des Bürgerkrieges zentral, so werden diese in »Primera evocación« auf in der Gegenwart des Sprechens stattfindende Kriege übertragen. Leitmotivisch kehrt das »[r]ecuerdo« des ersten Verses in der zweiten und fünften Strophe wieder. Das Gedicht ist anhand dreier Begriffe als Klimax aufgebaut. Der Sprecher erinnert sich an die Ängste seiner Mutter, die »el viento« (V.4), »los truenos« (V.6) und »las guerras« (V.7) fürchtete. Die metaphorisch den Krieg bezeichnenden Naturgewalten erschienen dem Kind harmlos, bis der Krieg eintrat: »Perdido para siempre lo perdido, / atrás quedó definitivamente / muerto lo que fue muerto« (V.38-40). Daher erinnern Wind, Donner und Krieg den Sprecher nun an seine Mutter. Die kindliche Verharmlosung der bedrohlichen Elemente wird mit den euphemistischen und verharmlosenden Adjektiven parallelisiert, die kriegerischen Konflikten in der Gegenwart in den Medien zugewiesen werden: »guerra […] / […] pequeña« (V.56/57), »cadáveres mínimos distantes territorios« (V.60), »crímenes lejanos«, »huérfanos pequeños« (V.61). Was das Kind noch nicht reflektierte und verstehen konnte, führt den Sprecher dazu, gegenwärtige Ereignisse auf der Basis der eigenen leidvollen Erfahrungen zu hinterfragen. Barrals Einleitungsgedicht zu Diecinueve figuras de mi historia civil14, »Discurso«, entwirft ähnlich wie »Intento formular […]« eine Poetik der willentlichen Erinnerung: »hundo la mano en la memoria […]« (V.23). Dabei ist nicht
13 Dieses Prinzip lässt sich auf »Ciudad uno« übertragen: Die beschriebenen Situationen sind nur zum Teil spezifisch städtisch; die Stadt bildet jedoch ihren Aktionsort. 14 Im Folgenden Diecinueve figuras […].
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nur der gegenwärtige Blick auf die Identität konstituierende Vergangenheit von Bedeutung, sondern auch die Selbstbildnisse, die das lyrische Ich im Laufe seines Lebens von sich entworfen hat: »Cotejo los retratos / que he hecho de mi mismo en cada tiempo« (V.26/27). Im hic et nunc möchte der Sprecher nun die Vergangenheit als Ausgangspunkt für eine neue und erneuerte Selbstdarstellung des vergangenen Ich nutzen. Dabei kann es sich zum einen lediglich um ein »[p]robar / a imaginarme tiempo atrás« (V.60/61) handeln, um einen Versuch, die Vergangenheit zu imaginieren, und nicht, sie genau abzubilden. Zum anderen ist die seit der Kindheit vergangene Zeit mit zu berücksichtigen, die in der Metapher der sukzessive von einer Erdschicht bedeckten weißen Kinderhaut zum Ausdruck kommt: »el grueso de la tierra / que se ha incrustado en nuestra piel / blanca de aquellos años« (V.65-67). Erst aus dem akkumulierten Blick auf die Kindheit und die Entwicklung des Sprechers bis in die Gegenwart kann der Erinnerungsversuch im Sinne einer nachträglichen Sinnbildung erfolgreich und, in doppelter Weise, sinnvoll sein – insofern nämlich der Sprecher den Konstruktionscharakter seiner Erinnerung mit einbezieht, was hier durch den Topos des Lebens als Bühne metaphorisch anklingt: »cruzar ahora / adulto por la escena del recuerdo« (V.62/63). Diese rückblickende Perspektivierung wird in weiteren Gedichten Barrals deutlich, allerdings nicht so ausgeprägt wie bei Biedma und González. Die Kommentare des erinnernden Ich beschränken sich in den meisten Fällen auf in Klammern gesetzte Einschübe im Präsens, die die Handlung des erlebenden Ich ironisch kommentieren. So lässt sich zum Beispiel in »Un pueblo« die Klammer am Ende der ersten Strophe schon als ironisierender Hinweis des erzählenden Ich auf den wenig idyllischen Ausgang des Dorfbesuches der Städter erkennen: »(Un pueblo es un paisaje / de pintoresca tradición humana)« (V.4/5). Die rhetorische Ironie dieses Kommentars macht zum einen deutlich, dass diese Perspektive naiv ist, zum anderen kommt hier aber auch eine dramatische Ironisierung wie in Biedmas »Conversaciones poéticas« zum Tragen: Das Präsens zeigt im Vergleich zum Imperfekt die Position des erinnernden Ich an und sein Wissen über den Ausgang des Besuches im pittoresken Dorf. Die Reflektion des Geschehens, die bei Biedma aus der Perspektive des erinnernden Ich geschieht, wird in diesem Fall jedoch bereits beim erlebenden Ich angesetzt: »Porque algo / que no sabía qué era nos marcaba« (V.40/41). Es kann also eher von einer konsonanten Relation zwischen den zwei Fokalisierungsinstanzen gesprochen werden als bei Biedma und González. Trotzdem beschreibt das lyrische Ich bei Barral einzelne Erinnerungen als ästhetisch geformte Darstellungen und hebt sie als solche vom Erleben ab. Zum Beispiel die Beschreibung einer Badenden in »Baño de doméstica«, »admitiré que sea / nada más que un recuerdo esteticista«
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(V.24/25), oder das Erleben der Freiheit während des Bürgerkrieges: »(No se sabía / aún que fuese un ejercicio literario)« (»Las alarmas«, V.29/30). Die Kommentare des Sprechers tragen somit besonders zur Relativierung einer als wahrheitsgemäß wahrgenommen Erinnerung bei. Sie lassen erkennen, dass die im Erleben verorteten Reflexionen möglicherweise erst nachträglich vom erzählenden Ich hineinprojiziert worden sind: »Pero un día / (aunque quizás el tiempo nos engañe / y sea solo ahora) comprendimos« (Barral, »Primer amor«, V.34-36). Auch andere Aspekte verweisen auf die Schwierigkeit, Erinnerungen genau zu fassen. In vielen Gedichten wird der tendenziell irreale Charakter des Vergangenen herausgestellt: No recuerdo exactamente cómo terminó. Más tarde me parecía un sueño nuestra historia. (Barral, »Le asocio a mis preocupaciones«, V.62-65)
Die Infragestellung der Erinnerungsfähigkeit des lyrischen Ich äußert sich nicht nur als epistemologisches Problem im Zusammenhang mit dem Zugriff auf die Vergangenheit,15 sondern auch in einem Gedicht, das ganz dem gegenwärtigen Erleben einer Situation gewidmet ist, an welche »[…] no sabremos acordarnos« (»Miro estallar las gotas sobre el vidrio«16, V.95). Ferraters »In memoriam« und »Mala memòria«, deren Titel bereits den Erinnerungsbezug offenlegen, stehen in enger Kontinuität zu dem für Barral, Biedma und González aufgezeigten Erinnerungsdiskurs. Ein erinnerndes Ich, das mit dem zeitlichen auch einen mehr oder weniger abgesicherten inhaltlichen Überblick über die Vergangenheit gewonnen hat, ist klar von einem erinnerten Ich zu trennen: »ara sé conèixer« (»In memoriam«, V.285) und »[a]ra veig clar de què es tractava« (V.307).17 Der Sprecher hinterfragt aber auch die Authentizität der Erinnerung und gibt zu erkennen, dass seine Darstellung der Vergangenheit vom gegenwärtigen Blickpunkt geprägt und möglicherweise beeinflusst wird: »Les 15 So z.B. auch in »Reino escondido«: »No puedo recordar« (V.1) oder »[…] al menos / que yo recuerde […]« (V.8/9). 16 Im Folgenden »Miro estallar las gotas […]«. 17 Wobei Foix’ paradoxales »És quan dormo que hi veig clar« anklingt und die retrospektiv gewonnene Klarheit wieder in Frage stellt. Vgl. Foix, Josep Vicenç (1988) [1953], On he deixat les claus, ed. de Jaume Vallcorba Plana, Barcelona: Quaderns Crema, S. 43.
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parets socarrades del col·legi, / no sé si les recordo o si m’ho penso« (V.59/60). Die Wiederholungsfigur »em sembla que em semblava« (V.280/281) macht schließlich deutlich, dass kaum zwischen der tatsächlichen Wahrnehmung des erinnerten Ich und einem im Nachhinein durch das erinnernde Ich attribuierten Blickpunkt unterschieden werden kann.18 3.1.2 Das Wahrnehmungs- und Erinnerungsdispositiv der Photographie In den Texten von Biedma konzentriert sich der Erinnerungsdiskurs wie bei Ferrater auf die Ungenauigkeit der Erinnerung, die mit einer zunächst paradoxalen Metaphorik belegt wird. Erinnerungen des lyrischen Ich werden in gehäufter Form mit Photographien assoziiert, die zum einen eine »nítida imagen de la felicidad« (»Intento formular […]«, V.43) abgeben können. Zum anderen lassen die verblichenen Bilder jedoch wenig erkennen, wie zum Beispiel in »Elegía y recuerdo de la canción francesa«19: »Todo un mundo de imágenes me queda de aquel tiempo / descoloridas« (V.2/3). Die Photographie als metaphorischer Träger der Erinnerung kann diese nur scheinbar objektivieren, da ihr Trägermaterial selbst nicht verlässlich ist. Und selbst ein scharfes Bildes zeigt nicht einen eindeutigen Bildgegenstand, sondern dessen begrifflich diffuse Bedeutung: »la felicidad«. Das Wortfeld der verblichenen oder auch unscharfen Bilder der Vergangenheit wiederholt sich im Kontext von Erinnerungen, wird aber auch Erlebnissen selbst zugeschrieben: el miedo y el desorden de los primeros días eran algo borroso, con esa irrealidad de los momentos demasiado intensos. (Gil de Biedma, »Intento formular […]«, V.24-26)
Somit muss nicht nur dem konstruktivistischen Charakter der Erinnerung selbst, sondern auch dem subjektiven Empfinden des erlebenden Ich misstraut werden. So verkehren sich die Realität und ihr Abbild, wenn »algún maestro« nur noch »borrosamente afín a su retrato« ist (»Conversaciones poéticas«, V.4/5). Auffällig ist hier die Übereinstimmung des Adjektives mit González’ »Ciudad cero«: 18 Whyte, Christopher (2001), »Ferrater remembering with Jaime Gil de Biedma«, in: Oller, Dolors/Subirana, Jaume (Hrsg.), Gabriel Ferrater, ›in memoriam‹, Barcelona: Proa, S. 335-346, hier S. 339. 19 Im Folgenden »Elegía y recuerdo […]«.
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»Todo pasó / todo es borroso ahora, todo / menos eso que apenas percibía / en aquel tiempo« (V. 35-39). Die Erinnerungen verwischen, während die Gefühle von Angst und Wut, die dem Kind verwehrt blieben, weil es die Zusammenhänge nicht verstand, in der Gegenwart des Sprechens umso deutlicher hervortreten. Die Darstellung der Vergangenheit ist also durch das lyrische Ich ohnehin schon subjektiv geprägt, was in der Rekurrenz auf die Photographie als Erinnerungsdispositiv umso mehr hervorgehoben wird. Eine Photographie ist als materieller und medialer Erinnerungsträger ein Ausschnitt der Realität, der als ihr Abbild, ihr simulacrum, zwar Referenzcharakter haben, aber eben nicht das Ganze wiedergeben kann: »La intensidad / de un fogonazo« (»Ribera de los alisos«, V.39/40), der Pulverblitz der Kamera, kann eben nur »[i]mágenes hermosas de una historia / que no es toda la historia« (V.43/44) belichten. Wenn sich also lediglich bestimmte Bilder der Erinnerung einprägen (»[…] son estas imágenes /[…]/ las que vuelven y tienen un sentido«, V.29,37), stehen sie ausschnitthaft für einen größeren Zusammenhang und erzeugen in subjektiver Symbolgebung Sinn: Tu recuerdo, es curioso con qué reconcentrada intensidad de símbolo, va unido a aquella historia […] Así me vuelve a mí desde el pasado, como un grito inconexo, la imagen de tus ojos. […] (Gil de Biedma, »Peeping Tom«, V.9-11,17-1920)
Diese Erinnerung an konkrete, bildlich festgehaltene Momente, die immer wieder den beim Photographieren wesentlichen Aspekt des Lichtes berücksichtigen (»Imagen de unos segundos, / quieto en el contraluz«, »Mañana de ayer, de hoy«, V.5/6), wird außerdem mehrfach mit einer partiellen Ablichtung der Wirklichkeit in Verbindung gebracht, wenn sie sich auf einen bestimmten Moment bezieht: »Mi recuerdo eran imágenes, / en el instante, de ti« (»Volver«, V.1/2). In einem ähnlichen Fragment aus »Barcelona ja no és bona, o mi paseo solitario
20 Gedichttitel werden unter zwei Umständen kursiv zitiert: Zum einen, wenn das Gedicht keinen eigenen Titel im engeren Sinne trägt, sondern mit dem ersten Vers benannt wird. Zum anderen, wenn wie hier die Kursivschreibung schon im Original steht, etwa, weil es sich um einen fremdsprachigen Begriff (Peeping Tom) handelt.
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en primavera«21 fungiert die Photographie außerdem als Dispositiv der Imagination. Eine durch die Lichtverhältnisse besondere Wahrnehmung wird vom lyrischen Ich mit einer Photographie in Zusammenhang gebracht, auch wenn es sich um eine rein imaginierte Situation handelt: »Sólo por un instante / se destacan los dos a pleno sol / con los trajes que he visto en las fotografías« (V.14-16). Wenn dann sogar der von »instante« abgeleitete Begriff der Momentaufnahme oder des Schnappschusses fällt,22 der in »Volver« schon angelegt ist (»[…] imágenes, / en el instante […]«), wird die Isotopie einer photographischen Erinnerung noch weiter auf diesen Charakter der Unvollständigkeit reduziert: »mientras imaginamos un paisaje /[…]/ como en una instantánea« (»Asturias, 1962«, V.13,15). In seinem Tagebuch Retrato del artista en 1956 fasst Biedma in Anlehnung an Marcel Proust die Auseinandersetzung mit einer nicht mehr wiederzuerlangenden authentischen Qualität der Erinnerung zusammen, welche das sinnliche Erleben der originären Erfahrung vermissen lässt: »[El pasado] es de un horrible dinamismo. Nuevos recuerdos a cada instante ingresan en su ámbito, desplazando los viejos. Cuando éstos vuelven son algo magmático, un sabor elemental e indefinido. […] Lo que yo adoraba era el momento aquel, no el sabor de un sabor a sí mismo.«23
Auch bei Barral spielen Photographien im Erinnerungsdiskurs eine wichtige Rolle, wobei das zweite Gedicht aus Diecinueve figuras […], »Fotografías«, programmatisch ist. Darin beschreibt das lyrische Ich Photographien, auf denen es als Kind zu sehen ist: »…Jugando con un gato, vuelto / por sorpresa a una voz prometedora« (V.8/9). Auch hier lässt sich eine Paradoxie feststellen: Zum einen sind die Bilder als »[e]nteras pruebas […] / […] casi / insensibles al tiempo« (V.4-7) zwar vertrauenswürdige Zeugnisse der Vergangenheit, zum anderen können sie die Authentizität des Erinnerten jedoch nicht garantieren: ¿Más cómo distinguir lo que recuerdo de memoria viva de lo que he oído sobre mí, del yeso blanco que me ayudaron a poner
21 Im Folgenden »Barcelona ja no és bona […]«. 22 Vgl. Rovira (2005), S. 230. 23 Gil de Biedma (2001b), S. 171.
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sobre tantos rincones, cubriendo todo alrededor, cegando los rostros más veraces? (Barral, »Fotografías«, V.20-26)
Angesichts einer offensichtlich nachgebesserten, retuschierten und vermittelten Erinnerung fürchtet das lyrische Ich die Abgründe seiner eigenen Persönlichkeit (»[…] di, dónde enterraste / el hacha de los juegos peligrosos«, V.33/34). Der Wille zur selbständigen Erinnerung steht im Gegensatz zu einer medial ermöglichten, aber doch versagt bleibenden Evokation der Memoria: »un perro que recuerdo / por las fotografías… //[…]/ Y no puedo acordarme«24 (Barral, »Fiesta en la plaza«, V.11/12,18). »Fiesta en la plaza« problematisiert somit die Mediatisierung der Erinnerung durch Photographien: Das Erinnerte wird in seiner Authentizität zum einen verbürgt – »[d]ie Photographie […] gilt als sicherstes Indiz einer Vergangenheit, die nicht mehr existiert […], [sie] bewahrt eine Spur des Realen […]«25 –, kann zum anderen jedoch nur ob seiner medialen Archivierung evoziert werden. Die Erinnerung an die Kindheit gleicht somit einer Sammlung von »Fotografías«, welche als »copias« (V.6) zwar Testimonialfunktion haben (»Enteras / pruebas de afilados cantos«, V.4/5), in ihrer vermittelten Ausschnittartigkeit aber kategoriale Aussagen (»He sido un niño alegre«, V.15) fragwürdig und unbelebt erscheinen lassen: »¿Mas cómo distinguir / lo que recuerdo de memoria viva / de lo que he oído sobre mí […]« (V.20-22). In »Geografía o Historia« ist das Photographieren (»[…] registra / nuestro tamaño en el metal cromado«, V. 43/44) Gegenstand des Erinnerten und führt dazu, dass die Personen, die aufgenommen wurden, sich nun in einem Zustand der Abbildung (»en una cartulina, por ejemplo«, V.52) befinden, der widersprüchliche Charakteristika trägt: »ya casi material de ser confusos, / discretos, parecidos, inmortales /[…]/ igual todos los años« (V.50-52). Die Photographie hat Ähnlichkeit mit der Realität (»parecidos«), vielleicht ist sie ihr auch gleich (»igual«); gerade der letzte Vers beinhaltet zudem die Unveränderlichkeit des Abgebildeten, das mit der Realität und der Weiterentwicklung der Person nicht Schritt hält. Somit haben auch hier die Photographien Ausschnittcharakter, der aber weniger auf die Vielfalt weiterer erinnerungswürdiger Details im Moment der Aufnahme bezogen wird, sondern vielmehr zu einem Beleg für die Lücken24 Man beachte die Ähnlichkeit zu dem Vers aus Biedmas »Barcelona ja no és bona […]«: »con los trajes que he visto en las fotografías« (V.16). 25 Assmann, Aleida (2003), Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck, S. 221.
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haftigkeit des Gedächtnisses wird. Außerdem offenbaren sie die Leere in dem Zeitraum zwischen den einzelnen Aufnahmen. In diesem Sinne lässt sich auch die Präferenz des lyrischen Ich für die Imagination erklären, durch die es manche Erinnerung lieber ersetzen würde, als das genaue Bild der Vergangenheit zu reproduzieren: »Preferiría ahora imaginar« (»Le asocio a mis preocupaciones«, V.1). »Hombre en la mar« verweist als letztes Gedicht in Diecinueve figuras […] in der Art einer mise en abyme de l’énoncé auf den figurativen Charakter der Erinnerungsfragmente, der schon im Titel des Bandes (»figuras«) aufscheint: »¡Todo vuelve / a enturbiarse en los vicios de la imaginación!« (V.258/259). Binnenpragmatisch wird hier der Bogen zurück zu »Discurso« geschlagen und der Versuch des lyrischen Ich »a imaginarme tiempo atrás« als ein »ejercicio literario« gerahmt, das weniger von der Referentialität abhängt als von der Imagination. Sowohl bei Biedma als auch bei Barral geben die Photographien also Anlass zu Zweifeln an der Authentizität der Erinnerung – sei es durch ihren Charakter der Ausschnitthaftigkeit, sei es durch die Vergegenwärtigung von Details, die ohne sie nicht erinnert würden, sei es durch den Anreiz, Abbildungen durch Imagination zu ersetzen oder zu ergänzen. In allen Fällen führt die Photographie als Motiv sowie als Wahrnehmungs- und Erinnerungsdispositiv dazu, dass an der Zuverlässigkeit der Darstellung gezweifelt werden muss. Parallel zur Analysekategorie des unzuverlässigen Erzählers erscheint das lyrische Ich hier als unzuverlässige Vermittlungsinstanz der Vergangenheit, da die Erinnerung als defizitär und das Erlebte als irreal erfahren wird. In diesem Sinne geht die von Roland Barthes in La chambre claire konstatierte »Dissoziation des Bewusstseins von Identität«26, welche die Photographie hervorrufe, einher mit der in den Gedichten Biedmas und Barrals festzustellenden Problematisierung der Erinnerung anhand von Photographien und ergänzt die doppelte Fokalisierung der Erinnerungssequenzen durch ein erinnerndes und ein erinnertes Ich. Die Photographie funktioniert in beiden Erinnerungspoetiken als Dispositiv – welches weniger mit Foucault als gesellschaftliches Machtinstrument27 zu verstehen ist, sondern im medienwissenschaftlichen Sinne als »Apparat der Blickführung28«. Mit Sybille Krämer gesprochen, bringt »die
26 Barthes, Roland (2008) [1980], Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übers. von Dietrich Leube, Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 21. 27 Vgl. Foucault, Michel (1978), Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve. 28 Reichert, Ramón (2007), Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens, Bielefeld: transcript, S. 47.
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Technik als Apparat […] künstliche Welten hervor, sie eröffnet Erfahrungen und ermöglicht Verfahren, die es ohne Apparaturen nicht etwa abgeschwächt, sondern überhaupt nicht gibt.«29 Solchermaßen wird, wie die Gedichte aufzeigen, Wahrnehmung und Erinnerung durch das Dispositiv der Photographie zugleich ermöglicht und konditioniert. 3.1.3 Die semiotische Aneignung der Welt Der bei Barral schon angeklungene Versuch, das Erlebte zu lesen und sich aus der Gegenwart zu ihm zu positionieren, wird bei Ferrater nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit praktiziert, sondern auch in Sprechsituationen, die ganz im hic et nunc verortet sind.30 In »Però non mi destar« muss sich der Sprecher die Bedeutung von Gegenständen, die er nur schematisch als »[…] coses rígides / i esquemes […]« (V.13/14) wahrnimmt,31 demonstrativ bewusst machen, indem er den rein syntaktisch verknüpften Dingen der Welt ein signifiant zuordnet: »[…] Els feixos / vulgars de ratlles blaves: / això són bancs. […]« (V.14-16). In »Tres llimones« betrachtet der Sprecher drei in der Sonne liegende Zitronen und fordert das lyrische Du auf, aus der Anordnung der Früchte einen Sinn abzuleiten: i pots considerar sense dubte ni pressa la mètrica senzilla que les enllaça, et penses que signifiquen res? (Ferrater, »Tres llimones«, V.8-11)
Diese semiotische Aneignung der Welt als Text muss aber schließlich scheitern (»no faràs teu / el joc de tres llimones«, V.17/18), da der Angesprochene nicht in 29 Krämer, Sybille (1998), »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: dies., Medien, Computer, Realität: Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 73-94, hier S. 85. 30 »Els lectors i lectores sempre sorprendran el jo poètic ferraterià, posseïdor d’una rica vida interior, just en el moment de prendre consciència sobre un fet present o passat, gràcies a un estat de clarividència individual.« Julià (2004b), S. 23. 31 »[…] [S]embla que es proposa no pensar ni parar atenció a la realitat […].« Julià, Jordi (2007), L’art imaginatiu. Les idees estètiques de Gabriel Ferrater, Barcelona: Institut d’Estudis Catalans, S. 41.
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die Semantik der Dinge eindringen kann oder will:32 »Mira, i ja han estat prou / per tu« (V.13/14). Außerdem bleibt ihnen eine dauerhafte Speicherung im Gedächtnis verwehrt: »Cap surt de la memòria / no abolirà la plàcida / manera de morir-se / que tenen els records« (V.22-25). Wenn bei Biedma und Barral der Fokus auf der Kapazität der Erinnerung und ihrer Authentizität liegt, so liegt er bei Ferrater vor allem auf dem Versuch, einen Zugang zur Vergangenheit zu finden.33 Auch darin zeigen sich die Ambivalenz von Erinnern und Vergessen sowie die Willkürlichkeit des Erinnerungsvorganges. Die Erinnerungsthematik ist bei Ferrater mit zwei rekurrenten Allegorien verknüpft. Zum einen mit der Metapher des Brunnens, in dessen dunkle Untiefe die Vergangenheit fällt (»He sentit el so fosc / d’una cosa que em cau / dins algun pou«; »Si puc«, V.13-15), zum anderen mit der Lichtmetapher des Erinnerungsvorganges, der die Vergangenheit erhellt: »recorda: deixa que un raig / et clivelli el recer fosc / i mira la pols dels anys« (V.2-4).34 In »La mala missió« werden diese beiden Metaphern miteinander verbunden. Der Sprecher wendet sich an ein lyrisches Du, das durch die mangelnde konkrete Rückbindung an den Sprecher oder an einen Adressaten als Selbstansprache des Sprechers oder als verallgemeinerndes Du gelesen werden kann. In den ersten fünfzehn Versen des Gedichtes beschreibt der Sprecher die Umgebung des Du: »Hi ha un pou pavonat blau« (V.1). Das Du befindet sich in einer Landschaft von
32 Macià und Perpinyà sprechen von einem »acte de voluntarisme«. Macià/Perpinyà (1986), S. 99. 33 »[…] [L]’element decisiu és la memòria: una gran part de la poesia de Ferrater mostra la seva preocupació per l’experiència recordada, i especialment per la manera en què l’experiència pot ésser reconstruïda en la memòria.« Terry, Arthur (1991), »Gabriel Ferrater: el sentit d’una vida«, in: ders., Quatre poetes catalans: Ferrater, Brossa, Gimferrer, Xirau, Barcelona: Ed. 62, S. 11-46, hier S. 29. 34 »Aquesta imatge de la porta que s’entreobre i deixa veure la claredat de la memòria serà típica en la figuració imaginativa de la poesia de Ferrater, tal com es pot comprovar en el poema ›Idolets‹.« Julià (2004d), S. 94. Meines Erachtens öffnet sich nicht die Tür zur Erinnerung, sondern die Erinnerung wirft einen Lichtstrahl in den Raum der Vergangenheit, des Vergessens. Das Bild der sich öffnenden Tür und der staubbedeckten Vergangenheit ergänzt sich mit dem des Dachbodens der Erinnerung: »dalt a les golfes del record« (»Poema inacabat«, V.1060). Es handelt sich hierbei um eine Metapher des »Latenzgedächtnisses«, eines, im doppelten Sinne, ›GedächtnisSpeichers‹, der »[…] einen Vorrat unverbundener und narrativ uneingebundener Elemente bereithält.« Assmann (2003), S. 161f.
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reicher Flora auf der Suche nach der Erinnerung, die von einem Paradiesvogel heraufbeschwört wird, um doch unerreichbar zu bleiben: […] Hi ha un ocell estarrufat i verd i groc i bàrbar com un tapís de ploma asteca, i crida més llum, sempre més llum, i és per colgar-la més sota terra. (Ferrater, »La mala missió«, V.4-8)
Durch die assoziative Beschreibung der vergeblichen Suche des lyrischen Du erhält »La mala missió« onirischen Charakter, was unterstreicht, dass der Zugang zur Erinnerung kein willentlicher sein kann. Das lyrische Du hat die Orientierung verloren (»No saps cap on tirar«, V. 17; »[…] has perdut els camins«, V.19) und erkennt schließlich, dass der Erinnerungsprozess als »pou« nicht aktiv im Sinne von »camins« beschritten werden kann:35 »[…] T’asseus i recordes / que et van parlar d’un pou, no de camins« (V.20/21). Dass der Zugang zur Vergangenheit, also das Funktionieren der Erinnerung, vielmehr auf Kontingenz fußt, verdeutlicht »Un pas insegur«. Ein Schritt des lyrischen Ich auf die Straße löst eine Proust’sche mémoire involontaire aus, welche die Tür zur Vergangenheit (»[…] la porta / per on se’n van els anys«, V.6/7) öffnet und diese erhellt: »[…] Ara s’hi ha obert / una clivella, i m’entra un fil de llum« (V.7/8).36 Die gegenwärtige Erfahrung des Sprechers führt zum Wiedererleben einer Kindheitserfahrung. Das lyrische Ich dringt nicht intellektuell in die Vergangenheit vor, sondern ein Teil seines Körpers, die Füße, erfühlt sie: »Aquests peus d’home, gairebé insensibles, / dins del seu cuir, han recordat uns peus / hàbils i sapients, uns peus de nen« (V.9-11). Die Kindheitserinnerung wird nicht nur evoziert und als Erinnerungsprozess kommentiert, sondern es sind die Füße des Kindes, die pars pro toto »feliços« 35 Vgl. auch Julià (2004d), S. 105: »[…] a ningú no se li ha assegurat que podrà accedir a ella [la memòria] sempre que ho desitgi.« 36 Julià setzt »Un pas insegur« in direkte Verbindung zu Marcels ›Fehltritt‹ auf dem Weg zur Matinee der Guermantes, der ihn unsicher schwankend stehen lässt, um der unwillkürlichen Erinnerung an einen ebensolchen in Venedig erlebten Tritt auf einen erhöhten Pflasterstein freien Lauf zu lassen. Julià interpretiert Ferraters Gedicht als »palimpsestació« des Abschnittes aus Le temps retrouvé. Vgl. ebd., S. 91f. und Proust, Marcel (2002) [1927], Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7. Die wiedergefundene Zeit, hrsg. von Luzius Keller, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 257f.
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die Vergangenheit noch einmal ganz körperlich und synästhetisch erleben: »aigua fosca« (V.12), »soles de cànem / xopes i llefiscoses« (V.14/15), »verdor freda« (V.17). Damit nähert sich der Sprecher jenem von Biedma angestrebten »momento aquel« des (Wieder-)Erlebens. Julià weist auf eine bildliche Parallele zwischen Barrals »Discurso« und Ferraters »La mala missió« hin. Beide nähern sich mit in zweifacher Hinsicht übereinstimmenden Metaphern dem Erinnerungsprozess. In beiden Gedichten stehen von einer Hand umfasste Wurzeln (»raíces« – »arrels«) metaphorisch für die Verankerung des Menschen in der Vergangenheit:37 Mirad,
[…] I tu la cercaries
vibran nuestras ideas
fins a l’última pols, per entre fulles
demasiado delgadas, como el tronco
caigudes i arrels aspres però fetes
de un arbusto crecido por sorpresa,
a la mesura de la mà que estreny.
y a todos nos importa apretar los raíces, como dedos. (Barral, »Discurso«, V.74-78)
(Ferrater, »La mala missió«, V.8-11)
In beiden Fällen geht es darum, einer Sache habhaft zu werden – der Ideen, der Vergangenheit –, wobei das Zusammendrücken der Wurzeln (die in »Discurso« zusätzlich mit Fingern verglichen werden) mit der Hand den Moment der Aneignung bildlich darstellt.38 In González’ »Eso no es nada« aus Áspero mundo wird mittels eines ähnlichen Bildes der barocke Vanitas-Topos aufgegriffen. Der Sprecher spielt ein Gedankenexperiment durch: Könnte man ein Stück Holz so fest mit der Hand drücken »como es debido« (V.2), würde es sich unter zunehmendem Druck sukzessive entmaterialisieren zu »tierra« – »agua« – »nada« (V. 4,8,12). Der Versuch der Aneignung der Welt muss scheitern, was bleibt, ist das Nichts. Somit wendet »Eso no es nada« die Indagationsversuche der Sprecher in »Discurso« und »La mala missió« mit der pessimistischen Perspektive des Antiklimax: »sólo« – »sólo« – »nada« (V.3,7,11). Auffällig ist, dass die Sprecher in allen drei Gedichten in Beziehung zu anderen Personen gesetzt werden. In »Eso no es nada« bleibt das lyrische Ich hinter der allgemeinen Formulierung des Wir 37 Vgl. auch Julià (2004d), S. 103. 38 Juliàs sehr ausführliche und sorgfältige Interpretation zur Erinnerungsproblematik bleibt in der Analyse dieser Metapher unspezifisch: »Aquesta expressió l’entenc com la consciència que a la memòria hi ha les conviccions bàsiques sobre un mateix, que permeten el reconeiximent, i que el defineixen en tant que individu diferent, però que tenen un origen artificial, dictat per les nostres conveniències i conviccions.« Ebd.
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verborgen: »Si tuviésemos la fuerza suficiente« (V.1), während es sich in »Discurso« zum Ende des Gedichtes in eine Gruppe einordnet, mit der es gemeinsame Ansichten teilt. In »La mala missió« schließlich richtet sich der Sprecher an ein unbestimmt bleibendes lyrisches Du, so dass es sich auch um eine Selbstansprache handeln kann. In unterschiedlichen Graden der Einbettung gehen die Sprecher also über eine rein individuelle Aussage hinaus und stellen den Aneignungsversuch als kollektives Phänomen dar: Im besten Falle bleibt das Ergebnis der Sinnsuche offen wie bei Barral und Ferrater, im schlechtesten aber führt es ins Nichts. Der semiotische Blick auf Gegenwart und Vergangenheit kulminiert in Ferraters »El lector«: Der Sprecher gibt sich als Leser zu erkennen, der in seiner Jackentasche einen Brieföffner mit sich herumträgt, welcher ihm ab und zu wieder in die Hände fällt: »Fa vint anys que me’l retrobo dins la butxaca, / i no recordo qui me’l va donar« (V. 6/7). Dieses objet retrouvé hat als Öffner von Briefen und Buchseiten dem Sprecher Zugang zu verschriftlichten Erinnerungen und Lügen verschafft, deren enger Zusammenhang im letzten Vers deutlich wird. Das lyrische Ich ist nicht in der Lage, sich daran zu erinnern, von wem es den »tallapapers« (V.2) einmal erhalten hat. Und obwohl ihm der Brieföffner so viele Seiten geöffnet hat, kann und will der Sprecher nun keine Erinnerung mehr imaginieren: »No sé mentir-me algun record més, alguna mà« (V.14). Das Motiv des Brieföffners verdeutlicht, dass mit der Lesbarkeit der Vergangenheit auch ihre Manipulierbarkeit und die tendenzielle Unzuverlässigkeit jeglichen erinnernden Sprechens einhergehen. In dieser Hinsicht ergänzen sich die mediale und die semiotische Aneignung der Vergangenheit: Das Dispositiv der Photographie stellt den Konstruktionscharakter von Wahrnehmung und Erinnerung aus. Die Semantisierungsbemühungen des Sprechers bei Ferrater machen, analog dazu, jegliche Form der Weltaneignung allein durch den Akt der Benennung zu einem willkürlichen Verfahren, das die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens betont. Die Benennung von Welt ist ein performativer speech act39, welcher das Bezeichnete überhaupt erst begründet, indem er es benennt. 3.1.4 Resümee: Die heterotopische Erinnerung In Goytisolos eminent retrospektivem Band El retorno wird die elegische Zuwendung zu der verstorbenen geliebten weiblichen Figur und der Rückblick auf
39 Vgl. Austin, John L. (1962), How to Do Things with Words, Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
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die mit ihr geteilte Vergangenheit unterschiedlich perspektiviert. Zum einen steht ganz die Bewältigung des Verlustes in der Gegenwart des Sprechens im Vordergrund. Zum anderen wird die Vergangenheit scheinbar unvermittelt evoziert und nur durch das Verbtempus gekennzeichnet. Zum dritten wird der Rückblick klar als Perspektive des erinnernden Ich zu erkennen gegeben. Da der Band eine starke Einheitlichkeit aufweist, die durch das Thema, die übereinstimmende Angesprochene und das übereinstimmende lyrische Ich gegeben ist, lassen sich die Gedichte als einzelne Fragmente des Trauerprozesses verstehen. Die ersten Texte fokussieren die Haltung des Sprechers in der Gegenwart und konstituieren die Sprechsituation, so dass dieses hic et nunc bei jedem Präsens-Bezug wieder aufscheint. Die Erinnerung wird um den Friedhof als Ort des Sprechens und Erinnerns zentriert, wobei die Marginalisierung und Ausgrenzung der Toten aus dem Raum der Lebenden symptomatisch dafür ist, dass die geliebte Person dem Sprecher gewaltsam entrissen wurde. Im zweiten Gedicht wird der Ort des Sprechens nur durch ein »aquí« und »en esta losa« erwähnt (»Para guardar el odio«, V.4,7), erst der dritte Text macht mit der metaphorischen und heterotopischen Konstitution des Hier deutlich, dass es sich um einen Friedhof handelt: »[…] Apartad / esta muerte. / Y al lado de los vivos, / vuestra ciudad de los muertos levantó su muralla« (»Porque da miedo resbalar«, V.4-7). Foucault beschreibt den Friedhof als Heterotopie, welche die Toten aus dem alltäglichen Blickfeld der Gesellschaft entfernt.40 Als solchermaßen dem Alltag enthobener Ort nimmt das Grab der Verstorbenen für den Sprecher die Funktion eines privaten Erinnerungsortes ein, an dem sich ihre Präsenz trotz ihrer physischen Abwesenheit zu konkretisieren vermag. Der Friedhof ist in dieser Hinsicht paradoxal, denn die geliebte Person ist dort zugleich an- und abwesend: »Donde tú no estuvieras, / como en este recinto […]« (»Donde tú no estuvieras«, V.1/2). Die Paradoxa »cercada por la vida« (V.2) und »vivir para el mármol« (V.5) verdeutlichen den Antagonismus von Leben und Tod, welcher die geliebte Person für den Sprecher »imperceptible« (V.11) macht. Trotzdem ist gerade der Friedhof der Ort, an dem sich das lyrische Ich ihrer gleichzeitigen physischen Abwesenheit und der Anwesenheit nur in der Erinnerung bewusst wird:
40 Vgl. Foucault, Michel (2006) [1967], »Von anderen Räumen«, übers. von Michael Bischoff, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan, Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 317-327, hier S. 322-324.
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Pero tu nombre sigue aquí, tu ausencia y tu recuerdo siguen aquí. ¡Aquí! (Goytisolo, »Donde tú no estuvieras«, V.19-22)
An dem Erinnerungsort Friedhof, im räumlichen Hier und zeitlichen Jetzt, treffen die idealisierte Vergangenheit, das traumatische Ereignis, der Bewältigungsversuch und eine utopische Zukunftsvision aufeinander. Es handelt sich um einen Ort, an dem sich der Sprecher mit dem Tod der geliebten Person konfrontiert sieht und versucht, sich die Ästhetik und Rhetorik des Friedhofes anzueignen: Lo miro todo, lo palpo todo: hierros, urnas, altares, una antigua vasija, retratos carcomidos por la lluvia, citas sagradas, nombres, anillos de latón, sucias coronas, horribles poesías… Quiero ser familiar con todo esto. (Goytisolo, »Donde tú no estuvieras«, V.12-18)
Auf dem Friedhof treffen das erinnernde und das erinnerte Ich aufeinander. Die Evokation der Vergangenheit (»¡Como la piel de un fruto, eras / tan olorosa y atrayente!«, »Como la piel de un fruto, suave«, V.11/12), die Schmähung der Mörder (»por todos los mal nacidos de esta tierra, / estás sólo presente en mi recuerdo«, »Por los bastardos«, V.11/12) und die perspektivische Verzahnung von Vergangenheit und Gegenwart (»Aquel año se me ha quedado muerto / en el corazón, clavado en la memoria.« »Aquel año se me ha quedado muerto«, V.1/2) finden hier ihren Ausdruck. Der heterotope Raum Friedhof wird somit zum Katalysator der unterschiedlich perspektivierten elegischen Erinnerung. Der Versuch, das Trauma zu bewältigen, lässt den Sprecher schließlich eine utopische Zukunftsperspektive einnehmen, in der sich die Wiederkehr der Toten, »el retorno«, ereignet: »De nuevo en pie, siguiendo tu estatura, / regresaré a casa, lentamente, / cuando todo suceda« (»Digo: comience el sendero a serpear«, V.17-19). In Goytisolos El retorno nimmt der Friedhof als Heterotopie eine vergleichbare Funktion ein wie die Photographie bei Biedma und Barral: Als Dispositiv der Erinnerung konstituiert der Erinnerungsort den Modus des Erinnerns. Während die Photographie besonders die Authentizität des Erinnerten und die Kapa-
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zität des Gedächtnisses in Frage stellt, ist der Gedächtnisort Friedhof auf die Unwiederbringlichkeit des Erinnerten ausgerichtet, die auch die Sprecher bei Biedma und Ferrater beklagen. Beide Erinnerungsdispositive stützen den Rückblick auf unterschiedlich eng mit dem Vergangenen verbundene Relikte: An die Stelle der Bildsprache, die in den Photographie aus »Barcelona ja no és bona […]« und »Geografía o Historia« das Aussehen der erinnerten Personen in den Mittelpunkt stellt, tritt auf dem Friedhof der Schriftzug des Namens der Verstorbenen, welcher zugleich ihre An- und Abwesenheit benennt. Beide Dispositive heben somit die Absenz des Vergangenen hervor. Der Friedhof macht durch seinen eminenten Gegenwartsbezug noch einmal die formale Spaltung des Ich in ein erinnerndes und ein erinnertes deutlich, indem die Abhängigkeit des Sprechers von seiner Vergangenheit thematisch zentral gesetzt wird.
3.2 D AS ( FRAGMENTIERTE ) S ELBSTBILD 3.2.1 Der Blick in den Spiegel In den Gedichten Barrals und Biedmas stellt sich die Schwierigkeit der Identitätskonstitution vor allem im Zusammenhang mit Spiegelerfahrungen dar. In »Miro estallar las gotas […]« konstruiert das lyrische Ich einen genau definierten Ort des Sprechens: Es steht an einem Fenster und beobachtet den Regen: »Miro estallar las gotas sobre el vidrio« (V.1). Die Aktion findet draußen statt, das lyrische Ich situiert sich, wie es mehrfach feststellt, außerhalb von ihr, »[d]esde este lado del cristal […]« (V.8) und »tras el cristal, fuera del mundo« (V.28), es hat keinen Anteil mehr am Leben jenseits des Fensters. Die topische Gegenüberstellung drinnen-draußen mündet in eine Basisopposition zwischen dem Sprecher, der sich als alter Mann, »enjuto como el libro, polvoriento« (V.29), beschreibt, und der Nässe draußen. Der Regen personifiziert nicht nur das aktive Leben (»[…] mientras llueve / a látigos de vida […]«, V.31/32), sondern hat auch spiegelnde Qualität, die wahre Identitäten aufdeckt: La lluvia desenmascara a los amantes desconocidos ante el portón cerrado de la iglesia, y al tonto como un espejo hace de pronto consciente de sus manos. (Barral, »Miro estallar las gotas […]«, V.43-46)
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Durch den Regen erinnert sich das gealterte lyrische Ich an eine nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit anders verortete Variante seiner Persönlichkeit (»…Y en algún sitio / un fangoso camino de otro tiempo«, V.51/52), an einen »hombre joven« (V.54), der sich draußen aufhielt und den als Frau allegorisierten Regen umarmte: »y abrazarte /[…]/ y estar todo bañado / en el sabor de acero que tienen tus entrañas…« (V.72,75/76). In der Gegenwart des Sprechens hingegen »llueve sin mí« (V.77): Das Leben ist dem lyrischen Ich fremd geworden (»llueve un agua extranjera«, V.81). Die Fußspuren des jüngeren Ich werden mit der Zeit unkenntlich: Zunächst hinterlassen sie Pfützen, die erneut als spiegelndes Element dem Sprecher seine existentielle Unsicherheit entgegenwerfen, um dann seine Vergänglichkeit als älterer Mensch zu zeigen. Der Spiegel wird zu Schlamm, die Spuren des Lebensweges sind nicht mehr zu rekonstruieren: y en la tierra y el tiempo se pierden las pisadas, se hacen grises espejos de agua turbia, […] que se contagian y se juntan, y ya son sólo manchas, barro sólo. (Barral, »Miro estallar las gotas […]«, V.84-88)
Die Selbsterkenntnis der Orientierungslosigkeit des in den barocken VanitasTopos eingeschriebenen alternden Menschen endet mit der Einsicht, die Erinnerungsfähigkeit zu verlieren: »[…] no sabremos acordarnos« (V.97). Auch in »Alguien« wird (in der dritten Person Singular, ohne charakterisierende Hinweise auf den Sprecher) eine Figur beschrieben, die sich vor einem großen Fenster befindet, in dem sie ihre Spiegelung (»[…] su humedad de sueño transparente«, V.5) betrachtet und betastet. Die Selbstbetrachtung führt zur Exteriorisierung der eigenen Innerlichkeit, die Erfahrung des Selbst als Fremder (»[…] lo extraño de por fuera«, V.6) zur Erkenntnis der dem Spiegel verborgen bleibenden dunklen, inneren Facetten des Ich: Piensa en el negro interior, el bulto ciego, blando de cada víscera encerrada, el reverso total de lo visible. (Barral, »Alguien«, V.12-14)
Der im Gegensatz zum Fenster weiche Körper wird betastet und als Schatten und Maske des Ich ›begriffen‹: »Palpa la blanda sombra. / Toca luego su máscara, los ojos« (V.19/20). Die Figur erkennt, dass das Wesentliche ihrer Identität, das In-
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nere (»el sucio esqueleto«, V.21) nur gedacht, aber nicht gesehen werden kann. Das im Spiegel zu sehende Äußere kann also lediglich dessen »sombra« und »máscara« sein.41 Diese Spiegelsituationen präfigurieren eine Verdopplung der Sprecherinstanz, ein desdoblamiento42. Schon in »Fotografías« wird das eigene Kindheits-Ich angesprochen, das durch die lückenhafte Erinnerung dem Sprecher wie ein Anderer erscheint: »[…] di, dónde enterraste / el hacha de los juegos peligrosos« (V.33/34). In dem direkt an »Alguien« anschließenden Gedicht »Algo como otro alguien« identifiziert sich die Sprecherinstanz erneut nicht als lyrisches Ich. Die ersten zwei Strophen beschreiben das Auftreten einer Erscheinung (»entonces viene«, V.6), die in ihrer unbestimmten Unheimlichkeit an die gothic novel erinnert: Y en las noches pasmadas, cuando el perro erizado examina la fumante escombrera tras los setos y un chirrido delata los postigos ocultos de la plaza. (Barral, »Algo como otro alguien«, V.7-9)
Dieses »algo como otro alguien« (V.10) besetzt das Du, »ahoga y substituye« (V.14). Als »un interior de máscara impregnada« (V.13) bleibt es unbestimmt und latent bedrohlich, wird aber vorübergehend sogar zum Du: »y un momento / eres« (V.15/16). Erst das zweite Beispiel für eine vergleichbare Begegnung, das der Sprecher in der letzten Strophe gibt, lässt erkennen, dass es sich bei dem »alguien«, der als Inneres der Maske für einen Moment zum Du wird, um den Moment der Selbsterkenntnis handelt, in dem das Fremde als Eigenes erlebt und erkannt wird: O alguien, alguno extraño te toma de las manos rozándote y las suelta. O tal vez quedan suyas
41 Vgl. die Selbstansprache in »Contra el alma […]«, in der eine fremde Rolle, die durch die Tagesroutine vorgegeben wird, sich dem Sprecher wie eine Maske aufdrückt: »El alba se apodera de ti como una mueca / enyesada, como una cara ajena / o máscara que hunde sus cuernos en las sienes« (V.32-34, vgl. Kapitel 4.3.3). 42 Mit dem Begriff des »desdoblamiento« wird in der Sekundärliteratur die Aufspaltung des lyrischen Ich in Sprecher und Angesprochenen beschrieben, vgl. beispielhaft Aullón de Haro, Pedro (1991), La obra poética de Jaime Gil de Biedma. Las ideaciones de la tópica y del sujeto, Madrid: Verbum, S. 40.
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las que un poco más lejos compruebas asustado hincándote las uñas (Barral, »Algo como otro alguien«, V.7-9)
Ebenso wie der Sprecher lediglich als Äußerungsinstanz wahrnehmbar ist, ist das lyrische Du, an das er sich richtet, in keiner Weise genauer definiert, weshalb es als unbestimmtes, verallgemeinerndes ›man‹ gelesen werden kann, welches gerade in der Verallgemeinerung den Rückschluss auf den Sprecher als eigentlichen Bedeutungsträger wieder zulässt. Diese Verschachtelung der Äußerungsinstanzen kann somit die Ansprache des Sprechers an sich selbst transportieren: Indem sich der Adressat der Rede als Fremder erfährt, der Sprecher aber gleichzeitig sich selbst in diesem Du anspricht, agiert er im sprachlichen Akt der Verdoppelung die Selbsterkenntnis des Ich als Du performativ aus. Die Erfahrung des Selbst als Anderer wird somit in einer mise en abyme de l’énoncé vom lyrischen Ich gleichzeitig erlebt und sprachlich umgesetzt. Eine weitere, deutlich komplexer gestaltete Verdoppelung des Sprecher-Ich wird in »Retrato del aire entre los gestos«43 entworfen. Das Epigraph bettet die Handlung episodisch ein: »Relativo a una playa, al sol, en medio de la gente«. Das lyrische Ich scheint zunächst Zeuge einer Erinnerungs- und damit Verdoppelungserfahrung des Angesprochenen zu werden: »Pero ahora te espío, te vigilo implacable /[…]/ cuando absorbido en el cristal regresas / a tus años de niño« (V.1,5/6). Das setting erscheint zunächst ganz ›real‹: »Tú juegas con las piedras, / yo bebo con demora este campari / y ella tiende con arte su toalla« (V.16-18). Schon hier kann das Spielen mit den Steinen die in der Handlung vollzogene Rückkehr des Angesprochenen in seine Kindheit symbolisieren. In den folgenden knapp dreißig Versen beschreibt das lyrische Ich die Situation am Strand, die anderen Menschen und das Gespräch mit dem Rezipienten (»Hablábamos del Belli […]«, V.28). In seiner vor allem optischen Wahrnehmung des Strandes lassen sich zwei spiegelnde Elemente ausmachen, welche die dritte Strophe rahmen. Zu Beginn betrachtet sich der Sprecher in »charcos relucientes« (V.22): »De lo oscuro, / azul sombrío bajo el casco, brilla / el cabello en relámpago bermejo« (V.25-27). Am Ende lenken vier mit »miro« beginnende Satzeinheiten die Betrachtung des Strandes wieder auf die Selbstbetrachtung des lyrischen Ich:44
43 Im Folgenden »Retrato del aire […]«. 44 Die Sätze bestehen jeweils aus drei Versen, von denen die letzten zwei unterschiedlich weit nach rechts eingerückt sind und somit den Satzanfang und die Anaphern auf »miro« betonen (V.35,38,41,44).
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Miro los dedos de mi pie descalzo, los colores lavados de los cantos estallando de brillo en el reflujo. (Barral, »Retrato del aire […]«, V.44-46)
Auf die Betrachtung des Ich folgt die Betrachtung des Angesprochenen, die zum zweiten Mal auf eine Verdoppelung des Rezipienten in der Zeit hindeutet: Yo und tú scheinen klar voneinander getrennte Einheiten zu sein: »Hablábamos del Belli. Tú te olvidas / y en ese instante te veo estremecerte« (V.47-49). Das Schaudern, dass den Rezipienten befällt, wiederholt sich aus der zweiten Strophe (V.15) und geht mit der Vorstellung einer imaginären Verdoppelung einher: Das Du befreit sich von einer Idee (»desprenderte de ti con un nervioso / sacudir de los ojos una idea«, V.50) und erhebt sich sowohl am ›realen‹ wie metaphorischen Meeresstrand (»[…] en la delgada / orilla de tu tiempo […]«, V.51/52), was erneut auf die Kopräsenz des Gegenwarts- und des Kindheits-Du hindeutet. Im Anschluss zeigen die nicht mehr klar zuzuordnenden Deiktika eine andere Interpretation auf, in der das Du und das Ich in einem ganz engen Zusammenhang stehen: »Pero sigues / jugando con la piedra /[…]./ Y ahora caigo en la cuenta de mí mismo« (V.54/55,58). Das lyrische Ich ist gänzlich außer sich: Zum einen erkennt es, dass es »inútil y sin sitio […] / sólo […]« (V.59/60) ist und außerdem außerhalb seiner selbst, nämlich »observable, en pie, en la lejanía de unos pocos centímetros […]« (V.60/61). Parallel zu »Alguien« geht die existentielle Verunsicherung des Sprechers mit der Erfahrung seiner Hände als Fremdkörper einher: »Dispuesto a sostener cualquier objeto / menos el peso de mis propias manos« (V.65/66). Auch das Du wird nun als fremder Teil des Ich identifiziert (»harto de vigilarte, de decirme«, V. 67). Was hier durch die Parallelsetzung der Reflexivpartikel schon angedeutet wird, wird in der Folge durch die faktische Inexistenz des Angesprochenen bestätigt: »y estoy solo en el centro de mi burbuja sola. // Soy mi solo instrumento y estoy solo« (V.75/76). Denn auch das Du ist nur »[…] mi sombra, con quien hablo […]« (V.85)45. Die Verdoppelung des lyrischen Ich in der Linie der vorherigen Gedichte ist hier sogar eine Verdreifachung: Das Ich erfährt sich als Du, welches wiederum in sein Kindheits-Ich projiziert wird. Nun wird diese Spaltung der Identität in mehrere Einheiten zusätzlich verkompliziert. Das lyrische Ich sieht sich nicht nur als Fremder, sondern als irreale Form seiner selbst: »Y tú, el lejano citador del Belli / que ignoras que no existo […]« (V.86/87). Das Ich ist für sich selbst inexistent und lediglich manifest in seinem Schatten, mit dem es Selbstgespräche führt. 45 Der doppelte Schrägstrich (»//«) zeigt hier und im Folgenden Strophenwechsel an.
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Sich selbst als Anderen zu erfahren, geht einher mit der in »Hombre en la mar« geäußerten Methode, »por miedo a sorprendernos, por costumbre, / pensamos a través de un personaje« (V.181/182). Bevor sich das lyrische Ich mit sich selbst auseinandersetzt und darüber in Selbstzweifel verfällt, praktiziert es eine Selbstdarstellung, die mit dem gehäuften Gebrauch der Metonymie »máscara« für das Gesicht im Einklang steht: Die Selbstreflexion wird, zum Beispiel in »Ritual de la ducha«, zu Gunsten eines Selbstbildnisses ausgesetzt: »Un golpe dolorido / por fin sobre la máscara, el fluyente / autorretrato de cristal con nombres« (V.14-16). In diesem Sinne wird auch die Erfahrung des eigenen Körpers in »Incidente corporal« mit einem Vers beendet, der das Ich als Ergebnis einer Selbstkonstruktion darstellt: »yo mi forma inventada hasta la muerte« (V.26). Die Rekurrenz auf die narzisstische Selbsterkenntnis im Spiegel in vielen lyrischen Texten Biedmas ist ein beliebtes Untersuchungsobjekt, in dessen Zentrum zumeist die Gedichte »Contra Jaime Gil de Biedma« und »Después de la muerte […]« stehen.46 Im Folgenden wird erläutert, wie sich das Motiv der Selbstbetrachtung zum desdoblamiento des lyrischen Ich entwickelt und welche Parallelen sich dabei zu den Texten der anderen hier behandelten Dichter ziehen lassen. Im mehrteiligen Langgedicht »Las afueras« aus Compañeros de viaje rekonstruiert das lyrische Ich retrospektiv den Übergang von der Kindheit (»pura infancia«, V.2) zur Jugend als Gruppenerfahrung: Der Sprecher fordert seine Adressaten auf, sich daran zu erinnern, wie sie sich als Kinder in einer stillen Wasseroberfläche spiegelten und durch die Verwirrung, die diese narzisstische Betrachtung hervorrief (»Y un súbito silencio recayó / sobre el mundo, azorándonos«, V.17/18), in die folgende Entwicklungsstufe übertraten. Die Spiegelung funktioniert hier also als Schwellenphänomen.47
46 Vgl. z.B. Larios, Jordi (2003), »›Contra Jaime Gil de Biedma‹ y el ›fatigado tema‹ del doble«, in: Dadson/Flitter (2003), S. 94-110, oder Reisz, Susana (1996), »Narciso disfrazado de sí mismo o una poética de la eco-manía«, in: Blesa, Túa (Hrsg.), En el nombre de Jaime Gil de Biedma. Actas del Congreso ›Jaime Gil de Biedma y su generación poética‹, Vol. 1, Zaragoza: Diputación general de Aragón, S. 458-475. 47 Julià versteht den Blick in den Brunnen – parallel zu Gabriel Ferraters »La mala missió« – als »[…] un exercici de memòria per recuperar la infantesa perduda.« Mir scheint, dass hier vor allem die Selbstbetrachtung im Mittelpunkt steht, also das narzisstische Moment der Spiegelung, und weniger, wie Julià meint, die auf der Wasseroberfläche des Brunnens zur Sichtbarkeit kommenden Kindheitserinnerungen. Vgl. Julià, (2004d), S. 100.
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¿En qué mañana, os acordáis, quisimos asomarnos al pozo peligroso en el extremo del jardín? Duraba el agua quieta, igual que una mirada en cuyo fondo vimos nuestra imagen. (Gil de Biedma, »Las afueras«, IV, V.12-16)
Während hier das Ich noch einer Spiegelung bedarf, um sich seiner selbst bewusst zu werden, konstruiert das lyrische Ich in »Albada« eine Verdoppelung, in der es sich selbst als Anderen exteriorisiert und damit zum »[…] objeto de análisis para sí mismo«48 wird. Zunächst scheint das lyrische Ich seine Rede allerdings an einen konkreten Angesprochenen zu adressieren: »Despiértate« (V.1). Der Sprecher richtet sich an dieses Du und an eine weitere Person, die miteinander die Nacht verbracht haben und nun, am Morgen, geweckt werden: »Despiértate pensando vagamente / que el portero de noche os ha llamado« (V.7/8). Dass der Sprecher an der beschriebenen Situation beteiligt ist, wird nach einer Beschreibung des Morgens in der Stadt (»[…] se oyen enronquecer / los tranvías que llevan al trabajo«, V.10/11) deutlich, wenn statt des »os« der zweiten Strophe nun das Personalpronomen der ersten Person Plural verwendet wird, der Sprecher also in die Handlung mit einbezogen wird: »Entierra la cabeza en las almohadas /[…]/ junto al cuerpo que tanto nos gustaba / en la noche de ayer« (V.20,23/24). In der letzten Strophe manifestiert sich schließlich das lyrische Ich, indem die vorherigen Imperative nun nicht mehr an die zweite, sondern an die erste Person gerichtet werden (»déjame«, V.38). Wenn das Ich also einer der zwei Liebenden ist, hat es mit dem Du gleichzeitig sich selbst und seinen Partner angesprochen. Diese Verdoppelungssituation wird in den folgenden Versen durch die Spiegelkonstellation der beiden Figuren, welche sich »von Angesicht zu Angesicht« küssen, verdeutlicht. Der desdoblamiento ist auch optisch in dem Chiasmus »cara a cara« (V.39) angelegt, der entlang der Spiegelachse »a« das »cara« verdoppelt. In dieser Weise erinnert »Albada« an »Algo como otro alguien«, da die Verdoppelung des »yo«, die Erfahrung des Selbst als Anderer, in der Ansprache des Ich als Du angelegt ist. Außerdem lässt hier der Kontext einer Liebesnacht auch einen Ausblick auf »Contra Jaime Gil de Biedma« zu, in dem das Du ebenfalls in Präsenz des Ich als verdoppelte Instanz des Sprechers und, wie Narziss, als (homoerotischer) Liebhaber seiner selbst verstanden werden kann.49 Auch in »Peeping Tom« wird ein konkretes Gegenüber wie in den beiden 48 Cabanilles (1989), S. 129. 49 Vgl. Kapitel 6.2.4.
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bislang zitierten Gedichten durch den ausgetauschten Blick (den in »Las afueras« das Brunnenwasser zurückwirft, in »Albada« die Liebenden »cara a cara« austauschen) Ursache für eine spontane Selbsterkenntnis des Ich. Die Selbstanalyse wird durch das Erkennen der eigenen Befindlichkeit im Anderen gefördert, der »Peeping Tom« erscheint als »observador del yo, pero también su doble«50: »la imagen de tus ojos. Expresión / de mi propio deseo« (V.19/20). In diesem Zusammenhang ist nun »Contra Jaime Gil de Biedma« von besonderer Bedeutung, da hier eine antinomische Figurenkonstellation entworfen wird. Das lyrische Ich in »Contra Jaime Gil de Biedma« macht dem Angesprochenen Vorwürfe: »De qué sirve, quisiera yo saber, cambiar de piso, /[…]/ si vienes luego tú, pelmazo« (V.1,7). Das Du bricht in den Raum des Ich ein und bedient sich seines Inventars (»[…] vestido con mis trajes, /[…]/ a comer en mi plato y a ensuciar la casa«, V.8,11). Auch in Goytisolos »Mis habitaciones« ist die Wohnung des lyrischen Ich Teil der Selbstbeschreibung und -analyse.51 Die Zimmer, die der Sprecher im Verlauf seines Lebens bewohnt hat, statten ihm einen imaginären Besuch ab und konfrontieren ihn mit Aspekten seiner Vergangenheit. Die Personifikation der einzelnen Räume und Möbel verleiht der Rede des lyrischen Ich einen humoristischen Ton (»los espejos, recordando mi rostro / cubierto de jabón, me saludan / y me encuentran más viejo«, V.20-22). Metonymisch evozieren die Räume und Möbelstücke Episoden aus Kindheit und Jugend des Sprechers, führen ihn an der Hand (»que me conduce de la mano«, V.32), um ihn mit einer Vergangenheit zu konfrontieren, die er nicht aktiv erinnern will – vielleicht sogar achtlos und absichtsvoll zurückgelassen hat (»me recuerdan el tiempo / que dejé, como un trapo, / hecho jirones entre sus paredes«, V.58-60). Die Erinnerung wird durch den Vergleich mit auf einer Kinoleinwand schnell vorbeiziehenden Szenen als fragmentarische gekennzeichnet, nur einzelne Erinnerungsfetzen werden visuell evoziert. In »Contra Jaime Gil de Biedma« schafft die Selbstbetrachtung des Angesprochenen im Spiegel (»y te paras a verte en el espejo / la cara destruida«, V.17/18) ein Anzeichen dafür, dass seine Inbesitznahme der Wohnung auf eine bestimmte Facette der Ich-Persönlichkeit hindeutet: »te ríes, me recuerdas el pa-
50 Partzsch, Henriette (2009), »Mon cœur mis à nu, de cintura para abajo: Moralidades de Jaime Gil de Biedma«, in: Morales Saravia, José (Hrsg.), Un Baudelaire hispánico: caminos receptivos de modernidad literaria, Lima: San Marcos, S. 271-286, hier S. 275. 51 Vgl. dazu auch González’ »Dato biográfico«.
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sado / y dices que envejezco« (V.21/22). Bei Goytisolo übernimmt der Spiegel selbst die Funktion, dem Sprecher sein Älterwerden zu vergegenwärtigen, bei Biedma ist es der Angesprochene, welcher das Ich spiegelt. Das lyrische Ich scheint der Verhaltensweise des Du zumindest in der Vergangenheit nicht abgeneigt gewesen zu sein, sie aber in der Gegenwart für unangemessen zu halten (»Que tu estilo casual y que tu desenfado / resultan truculentos / cuando se tienen más de treinta años«, V.24-26). Die beiden Figuren stehen sich erneut in einem prononcierten, tautologischen ›cara a cara‹ gegenüber: »Mientras que tú me miras con tus ojos« (V.31). Im Folgenden werden sie immer mehr aus einer antinomischen in eine interdependente Relation gesetzt: »Y si yo no supiese, hace ya tiempo, / que tú eres fuerte cuando yo soy débil / y que eres débil cuando yo me enfurezco…« (V.35-37). In der letzten Strophe parallelisieren sich die Handlungen der Figuren, und die Gegenüberstellung von yo und tú geht in ein »nosotros« über: »[…] te llevaré a la cama, /[…]/ para dormir contigo« (V.45-47), »[…] cruzaremos el piso / torpemente abrazados […]« (V.50/51). Der Verweis auf den Narzissmythos in der letzten Strophe (»[…] amarse a sí mismo«, V.55) macht schließlich deutlich, dass die beiden Kommunikationsinstanzen eine einzige Figur darstellen. Der Sprecher als zentrale Redeinstanz richtet sich an das Du, welches ausgelagerte Komponenten des Ich verkörpert. Selbstanalyse und -erkenntnis werden anhand der verdoppelnden Spiegelung des Ich ausformuliert. »Contra Jaime Gil de Biedma« weist motivische Parallelen zu Barrals »Evaporación del alcohol« auf. In beiden Gedichten lässt sich eine ähnliche Konstellation feststellen: Das lyrische Ich ist betrunken und wirft sich selbst ein unangemessenes Verhalten vor. Wenn das lyrische Ich in »Contra Jaime Gil de Biedma« schließlich »[…] vacilando / de alcohol y de sollozos reprimidos« (V.51/52) zur Vereinigung mit sich selbst ins Bett geht, hat es einen inneren Kampf ausgefochten, in dem es sich vorgeworfen hat, sein Verhalten sei »un resto penoso« (V.29) seiner Jugend. Bei Barral beschreibt der Sprecher in der ersten Strophe das Aufwachen nach einer durchzechten Nacht, die Phase der »[e]vaporación del alcohol«: »Y abrir los ojos de una cadáver / y ver todo amarillo, verlo todo / vibrante y afilado, como espinas / que pinchan no sé dónde. […]« (V.7-10). In der Erinnerung an den vorherigen Abend tritt dann das alter ego des Sprechers auf, »el joven compañero que hemos sido« (V. 41), der »[…] propuso / tomarnos otra copa […]« (V.44/45). Es wird zwar als Einheit mit dem Sprecher (»nos«) gesehen, in seiner Lebendigkeit jedoch unterscheidet es sich deutlich vom gegenwärtigen Ich, welches sich nach dessen Verbleib fragt: »Qué es ahora / de él en este exilio de rastrojos« (V.71). Gestern war der Sprecher noch ein »joven compañero«, heute hat die vergangene Nacht dazu geführt, dass
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er »[…] se derrumba / con los ojos cerrados, vacilando« (V.88/89). Der Gegensatz zwischen dem jungen und dem alternden Mann wird zum einen als Ergebnis der vergangenen Nacht beschrieben (»nos quema y envejece«, V.87). Dass diese aber auch »larga como los años« (V.76) war, spricht dafür, dass der Sprecher selbst nicht mehr jung ist. Somit bildet sich eine motivische Kontinuität zu »Contra Jaime Gil de Biedma«: Die Sprecher der Gedichte setzen sich mit dem Konsum von Alkohol auseinander, der einerseits zu einem eloquenten und charmanten Verhalten führt, andererseits aber gerade dadurch problematisch wird, dass der jeweilige Sprecher nicht mehr so jung ist, wie er in diesem Zustand vorzugeben weiß. Die similare Verhandlung der Alterungsthematik im Motiv des desdoblamiento unterstreicht die Erfahrung des Selbst als Anderer – symbolisiert im Spiegel-Motiv. 3.2.2 Der Blick des Anderen Der Blick in den Spiegel geht, wie besonders Barrals »Retrato del aire […]« und Biedmas »Contra Jaime Gil de Biedma« gezeigt haben, sukzessive über in eine Selbst- als Fremderfahrung. Ferraters Gedichte lassen ebenfalls häufig ein »desdoblament del jo poètic«52 erkennen. Eine Konstante in seinen Texten ist die Ansprache eines Du durch einen nicht als lyrisches Ich manifest werdenden Sprecher, wie zum Beispiel in »Mala missió«53. Diese Sprechsituation lässt auf die Allgemeingültigkeit des Gesagten schließen und damit indirekt auf den Sprecher. Außerdem erscheint gerade die Beziehung zwischen Sprecher und Rezipient derartig unbestimmt (womit sich die Texte deutlich von Ferraters Liebesgedichten unterscheiden, in denen das lyrische Ich immer präsent ist), dass die Ansprache des Du als Selbstansprache des Sprechers gelesen werden kann. Eine besondere Stellung nimmt »El mutilat« ein, in dem der Sprecher kein Selbstgespräch im eigentlichen Sinne führt, sondern als lyrisches Ich auch von einer dritten Person, dem angesprochenen Du, als verdoppelt wahrgenommen werden soll. Der Adressat ist die ehemalige Geliebte des Sprechers, was erst zum Ende des Gedichtes deutlich wird. Zunächst scheinen die Angesprochene und eine unbestimmte dritte, männliche Figur in einer Beziehung zueinander zu stehen: »Jo sé que no l’estimes« (V.1). »Du« und »Er« teilen eine gemeinsame Vergangenheit, von der sich dieser dritte zukünftig fernhalten wird (»De la gent i les coses / que us han estat amics, / ell se n’amagarà«, V.7-9). Die ersten Verse
52 Sala, Jordi (2001), »La vigència d’una estètica: l’us de les veus narratives en la poesia de Gabriel Ferrater«, in: Oller/Subirana (2001), S. 293-313, hier S. 305. 53 Vgl. Kapitel 3.3.
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suggerieren eine Komplizität zwischen Ich, Du und Er, um die Trennung des Liebespaares diskret zu halten: »Tots tres, si tu ens ajudes / guardarem el secret« (V.3/4). Schließlich verdichtet sich die Komplizität immer mehr auf das lyrische Ich und das lyrische Du (»Que ningú més no vegi / allò que hem vist tu i jo«, V.5/6), die, so der Blick in die Zukunft durch den Sprecher, den dritten, »el mutilat«, schließlich mit dem gleichen Mangel an compassió betrachten werden, »[c]om la foto macabra / d’una Gueule Cassée, / que orna un aparador / i no ens fa cap efecte« (V.42-45). Der letzte Vers legt zuletzt offen, dass der verlassene Liebhaber das lyrische Ich selbst ist. Die Verdoppelung des lyrischen Ich findet somit gewissermaßen zu therapeutischen Zwecken statt, indem die mangelnde Liebe der Angesprochenen für das lyrische Ich auf einen Dritten projiziert wird:54 »Donem-li temps i oblit. / Callem, fins que ningú, / ni jo mateix, no el pugui / confondre encara amb mi« (V.50-53). Neben der Fragmentierung des Ich findet sich bei Ferrater auch der Rekurs auf eine Selbsterkenntnis im Anderen, welche ebenfalls in den Kontext einer Liebesbeziehung eingeschrieben ist. In »No una casa« imaginieren der Sprecher und seine Geliebte »el nostre paisatge« (V.19), in dem ihre Körper, das Bett und der Raum ein Haus und die es umgebene Landschaft bilden. Der Sprecher hält die Frau dazu an, ihren Kopf an dem »racó del meu pit« (V.24) zu verstecken, damit sie seine Unsicherheit nicht bemerke und damit er sich nicht in ihren Augen spiegele, was zu seinem »reconeixement a través de l’altre«55 führen würde: No em miris, i no em deixis veure’m dins els teus ulls la figura poc certa, sense pedra ni aplom. (Ferrater, »No una casa«, V.25-28)
Der Blick des Anderen ist auch in González’ »Muerte en el olvido« konstitutiv für den Sprecher: Seine Existenz hängt vom nicht näher charakterisierten Du ab, das hier (in Kontinuität zu »Mientras existas« wie die dort angesprochene »amada mía«) eine Frau zu sein scheint. Der Sprecher bestimmt sich selbst durch sei-
54 »S’entén, doncs, que [el jo d’aquest poema] hagi optat pel desdoblament (que temàticament té molta pertinència: el personatge ha quedat escindit, ›mutilat‹) i que traspassar el dolor a l’›altre‹ pot ajudar a cauteritzar la ferida […].« Ballart, Pere (1998), El contorn del poema, Barcelona: Quaderns Crema, S. 185. 55 Sala (2001), S. 304.
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ne Dependenz vom Du: »Yo sé que existo / porque tú me imaginas« (V.1/2).56 Er hat keine eigenständigen Eigenschaften, sondern ist nur so, wie ihn die Angesprochene formt (»me imaginas« – »me crees« – »me miras«, V.2,3,4), erst eigentlich lebendig (»Pero si tú me olvidas / quedaré muerto sin que nadie / lo sepa«, V.11-13). Dabei spielt der schöpferische Aspekt eine besondere Rolle (»crees« und »creas« bilden ein Minimalpaar): Indem die Angesprochene den Sprecher mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet glaubt, schafft sie ihn nach ihrer Vorstellung (»Tu pensamiento me hace / inteligente […]«, V.7/8). Ihr Blick ist dabei nicht reine Reflektion des Gesehenen, sondern verändert den Sprecher: »[…] porque tú me miras / con buenos ojos« (V.4/5). In einem luziden Aufsatz sieht Joseph Deters hier das kartesianische cogito ergo sum ironisch zu cogitas ergo sum umgedeutet, womit dem rationalen aufklärerischen Weltbild »el poder creativo y generativo del amor«57 entgegengestellt und die Behauptung einer absoluten Wahrheit im Sinne Descartes’ ad absurdum geführt werde.58 Gegenüber der Selbstbestimmung des Sprechers über die Perspektive eines Anderen stellen »Miro« und »Yo mismo« Momente der Selbsterkenntnis des lyrischen Ich dar, in denen es sich mit sich selbst konfrontiert sieht. Während in Barrals »Algo como otro alguien« die Hand als fremd und nicht zum eigenen Körper gehörig erfahren wird, fällt der Blick des Sprechers hier auf die Hand als pars pro toto des ganzen Körpers (»Miro / mi mano […]«, V.1/2). Die Präsenz seines Körpers wird dem Sprecher-Ich für einen Moment als von ihm getrennte Instanz bewusst: ¡Árbol erguido frente a mí, súbito cuerpo mío! […] Está sobre la tierra. Estaba. Yo lo he visto. Un momento tan sólo.
56 Es handelt sich also nicht nur um »[…] a metaphorical expression of his attitude towards her«. Debicki, Andrew P. (1981), »Transformation and Perspective in the Poetry of Ángel González«, in: Revista canadiense de estudios hispánicos VI/1, S. 123, hier S. 4. 57 Deters, Joseph (1999), »El desafío de la verdad en la poesía de Ángel González«, in: Hispanic Journal 20/2, S. 239-247, hier S. 242. 58 Ebd., S. 246.
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...Su estatura entre yo y esos campos amarillos. (González, »Miro«, V.27-29,42-46)
Die Sinnesorgane widersprechen der Logik und werten das Imaginierte als real:59 »Está sobre la tierra. Estaba. / Yo lo he visto« (V.12-13). In »Yo mismo« trifft der Sprecher auf sich selbst und unterliegt im Kampf mit dem entschlossenen und kräftigen Anderen: »[…] mi enemigo / me cayó encima con todo el peso de mi carne« (V.11). Körperlichkeit und Kraft zeichnen das alter ego aus, während das yo durch geistige Attribute gekennzeichnet ist, die es seither nicht mehr ausführen kann: »[…] y desde entonces / mi cuerpo marcha solo, equivocándose, / torciendo los designios que yo trazo« (V.15-17). Die Fremdbestimmung durch sich selbst, der Ungehorsam des Körpers gegenüber der cogitatio, widerspricht analog zur Umdeutung der kartesianischen Logik in »Muerte en el olvido« dem Rationalismus und der Überordnung des denkenden Seins über den Körper, der allein vom Verstand wahrgenommen werden kann. Auch hier wird die ›Realität‹ des Geschehens betont: »Sucedió de tal modo« (V.14). Das Ich bestimmt sich bei Ángel González also, besonders in den frühen Gedichten, über die Existenz der Angesprochenen, allerdings ist mehrfach die Ansprache des lyrischen Du nicht eindeutig an einen bestimmten Adressaten oder das lyrische Ich zurückzubinden.60 Vielmehr bleibt offen, wer der oder die Angesprochene sein könnte, weshalb mehrere Möglichkeiten denkbar sind: ein binnenpragmatischer Adressat wie die in »Mientras tú existas« angesprochene Geliebte, der Sprecher selbst oder eine weitere binnenpragmatische Figur, die aber nicht genauer spezifiziert wird. Hinzu kommt die bei Crespo Matellán erwähnte außenpragmatische Ansprache des Lesers, die meines Erachtens jedoch nicht per se aus der Ansprache des Du resultieren kann. Das Adressaten-Du kann lediglich als implizite captatio attentionis des Lesers funktionieren, der Leser kann jedoch
59 Vgl. Alarcos Llorach (1996), S. 150. 60 Vgl. »A veces, la segunda persona, ese tú invocado en el poema, remite al propio hablante lírico, es un desdoblamiento del mismo, que de esa manera asume simultáneamente los papeles de emisor y de destinatario, produciéndose así una especie de autocomunicación.« Crespo Matellán fügt hinzu, dass sich diese Zuordnung des »Du« zum Sprecher keineswegs »de manera inequívoca« darstelle, analysiert allerdings kein Beispiel näher. Vgl. Crespo Matellán, Salvador (1996), »El destinatario plural en la poesía de Ángel González«, in: Pérez Lasheras (1996), S. 369-375, hier S. 371 (Herv. i.O.).
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nicht mit jedem Du gleichgesetzt werden. Dafür bedarf es der Ebenenüberschreitung einer konkreten Leseranrede.61 Wie das Beispiel von »Si serenases« zeigt, können in einem Text alle aufgezeigten Varianten eine plausible Interpretation ermöglichen, die durch diese Offenheit an Interesse gewinnt. Der Sprecher richtet sich in den beiden ersten Strophen im Irrealis an den Adressaten. Beide Strophen bilden jeweils einen Konditionalsatz, der durch den Subjuntivo Imperfecto schon andeutet, dass sich die Bedingungen nicht werden erfüllen lassen. Bei dem Angesprochenen handelt es sich um jemanden, der heimatlos umherirrt. Der Sprecher zeigt ihm auf, dass er nur einmal gedanklich und körperlich zur Ruhe kommen müsse (»Si serenases / tu pensamiento […]«, V.1/2; »Si fueses / capaz de hallar un sitio donde echarte«, V.11/12), um zu sich selbst zu finden:62 »[…] saber / a qué lugares quieres / ir, de dónde vienes, / para qué estás aquí, / cuál es tu nombre« (V.20-23). Die dritte Strophe beginnt mit dem adversativen »[p]ero« (V.24) und dem Wechsel in den Indikativ Präsens: »no hay sitio para ti en el descampado / donde habitas« (V.26/27). In den letzten zehn Versen häufen sich asyndetisch gereihte Imperative, die das Du zur Eile treiben (»anda«, V.33; »apresúrate«, V.34; »corre«, V.38; »no / te detengas«, V.40/41) und in der atemlosen Klimax »sigue buscando, muévete, camina« (V.42) kulminieren. Es gibt nun mehrere plausible, in ihrer Explizitheit aber divergierende Zuschreibungsmöglichkeiten. Die allgemeinste könnte auf den Leser und damit auf eine allgemeine Kondition des Menschen als getriebenes und heimatloses Wesen abzielen. Der Text ermöglicht in seiner Sprechsituation und in seiner paratextuellen Einordnung in das erste Unterkapitel von Sin esperanza con convencimiento jedoch zwei Alternativen. Das lyrische Ich tritt nur in einer eingeschobenen Bemerkung in der ersten Strophe explizit in Erscheinung: »acaso / te sería sencillo reconocer / rostros, no sé, lugares« (V.6-8). Das »no sé« kann einerseits auf die durch das »acaso« eingeleitete und durch die Bedingungssätze im Irrealis unterstützte unsichere Gesamtsituation bezogen sein: Der Sprecher weiß nicht, ob und was das Du erkennen würde. Andererseits kann das »no sé« auch den Einbruch der Sprecherposition in die Rede darstellen: Das lyrische Ich würde sich damit als eigentlicher Adressat seiner eigenen Rede zu erkennen geben. Betrachtet man die Gesamtverortung im Zusammenhang des Unterkapitels, stützen die anderen hier gruppierten Texte zum einen diese Selbstidentifikation des Ich im Du: Der bereits erwähnte Text »Yo mismo« verhandelt ebenfalls eine auf das lyrische Ich bezogene Frage der
61 Vgl. dazu die analoge Argumentation zum lyrischen Ich in Kapitel 2.1. 62 Zu beachten ist die Isotopie des (Heraus-)Findens: »reconocer« (V.7), »hallar« (V.12), »averiguar« (V.18).
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Identität. Zusammen mit der direkt das lyrische Ich betreffenden Verlorenheit im »Mundo asombroso« geht es »Si serenases« voran. Zum anderen verhandeln drei der sechs Texte des Abschnittes mehr oder weniger direkt die Implikationen des (Spanischen Bürger-) Krieges und der engagierten dichterischen Rede: »Otro tiempo vendrá distinto a éste«, »El campo de batalla« und »El derrotado«. Das letztgenannte Gedicht steht in semantischer Kontinuität zu »Si serenases«: Das Du wird als Verlierer des Krieges angesprochen, als heimatloser Exilant, der (betont durch wiederholte Negierungen) niemals wieder eine wirkliche Heimat haben wird – wie der Angesprochene in »Si serenases«, weshalb sich durch die Parallelen zwischen den beiden Texten eine solche zweite binnenpragmatische Möglichkeit anbietet, um das Du näher zu bestimmen. Es handelte sich dann nicht um eine allgemeine conditio humana, der Angesprochene wäre nicht irgendein Getriebener, sondern ein vom Krieg Vertriebener: Porque ninguna tierra posees, porque ninguna patria es ni será jamás la tuya, porque en ningún país puede arraigar tu corazón deshabitado. (González, »El derrotado«, V.8-13)
Die bei González zu beobachtende Selbstbestimmung über den fremden Blick von außen und den exteriorisierten Blick des Sprechers auf sich selbst ergänzt die verschiedenen Perspektiven der Selbstwahrnehmung und der Ich-Konstitution bei Barral, Biedma und Ferrater. Die schwierige Verortung des Ich in der Sprecher-Rede durch die Verdoppelung und mehrdeutige Zuordnung von Ich und Du stellt den Identitätsdiskurs übereinstimmend als problematisch und fragmentarisch aus. 3.2.3 Resümee: Die mediatisierte Selbsterkenntnis In den Gedichten von José Agustín Goytisolo lässt sich die Fragmentierung des Ich nicht an ein desdoblamiento im Sinne einer Selbstansprache des Ich rückbinden. Es sind vielmehr die unterschiedlichen Perspektiven, welche das Ich in verschiedenen Lebensphasen eingenommen hat, die den Sprecher als Fragment seiner selbst erscheinen lassen. So tritt im Eingangsgedicht zu Claridad das vergangene Ich in Gestalt eines »hombre« auf, der sich aus der Vergangenheit an den Sprecher richtet: »Desde el ayer me habla / un hombre […]« (»Un hombre«,
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V.1/2). Da sowohl sein Name (»que nació con mi nombre«, V.4) als auch sein Lebensweg mit dem des Sprechers übereinstimmen (»que ha seguido el camino / que pisaban mis pies«, V.7/8) wird er als vergangenes Ich des Sprechers präsentiert und erteilt ihm den Ratschlag, seine Bestimmung vor allem in sich selbst zu sehen: »tu destino es el mundo, / es tu pueblo, es el hombre, / es tu casa, eres tú« (V.9-12). Das Minimalpaar »nombre« – »hombre« unterstreicht diese Identifizierung des Sprechers mit dem Anderen, die schlussendlich nicht nur eine Rückbesinnung auf sich selbst, sondern auch auf die soziale Verpflichtung eines Menschen darstellt, der sich als »un hombre como todos« (V.2) begreift. Die Veränderungen, die der Sprecher im Laufe seines Lebens erfahren hat, werden deutlich, wenn die personalisierten Spiegel in »Mis habitaciones« feststellen, dass der Sprecher älter geworden ist. Über den Spiegel wird der eigene Blick nicht nur als fremder wahrgenommen, sondern sogar in die humoristische Perspektive des Spiegels selbst verlagert. Rainer Warning interpretiert die gesellschaftliche Bedeutung des »inszenierten Diskurses« der Literatur in Anlehnung an Helmuth Plessners Gedanken über die soziale Rolle als Möglichkeit, eine fiktive Rolle zum Ausgangspunkt gespielter und reflektierter Identifikation zu machen. Damit gewänne Literatur eine anthropologische Dimension.63 In den vorliegenden Texten hat sich die Doppelung der Sprecher-Figur binnenpragmatisch als Strategie der Selbstkonfrontation erwiesen, welche in den Kontext eines postmodernen Subjektbegriffes als »Identitätszerfall«64 gestellt werden kann. Dabei ist die Diskontinuität der Figur, im Gegensatz zu einer kontinuierlichen Erzählung, schon durch die lyrische Form gegeben: Die einzelnen Gedichte können nur Ausschnitte der Auseinandersetzung des Sprechers mit sich selbst präsentieren. Die abweichenden Facetten des Sprecher-Ich, seine alter-ego-Rollen, mit denen er sich auseinandersetzen muss, um sich selbst zu bestimmen, werden in vielen Fällen als imaginäre Figuren und solchermaßen als ›Fiktionen in der Fiktion‹ gekennzeichnet. Die in unterschiedlichen Graden mediatisierte Wahrnehmung des alter ego hebt dessen imaginären Status hervor. Ist auf einer ersten Stufe der eigene Blick auf sich selbst Medium der Selbsterkenntnis als Anderer (Barral: »Algo como otro alguien«, González: »Miro«), so wird auf einer zweiten Stufe der Blick des Anderen konstitutiv für die Selbstreflexion (Biedma: »Albada«, »Peeping Tom«, Ferrater: »No una ca-
63 Warning (1983), S. 203. Vgl. außerdem Plessner, Helmuth (1974) [1966], »Soziale Rolle und menschliche Natur«, in: ders., Diesseits der Utopie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 23-35. 64 Zima, Peter (2000), Theorie des Subjekts: Subjektivität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen: Francke, S. 195.
D IE M ODI
DER
S ELBSTWAHRNEHMUNG
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sa«). Schließlich konstituiert das Medium Spiegel die Selbstbetrachtung (Biedma: »Contra Jaime Gil de Biedma«, Barral: »Alguien«, Goytisolo: »Mis habitaciones«). Bei Goytisolo erscheinen die unterschiedlichen Stadien des vergangenen Ich zudem wie Projektionen auf einer Kinoleinwand. Diese Mittelbarkeit, anhand derer sich die Sprecher ihre Selbstbilder erst aneignen können, legt die Selbstbetrachtung als biographischen Integrationsversuch und Identifikationsstrategie offen, die eine Kontinuität zwischen dem Modus der Erinnerung und dem Modus der Selbsterkenntnis herstellt.
4 Die Similaritäten der Biographeme
Nachdem mit den Modi der Selbstwahrnehmung der Blick des lyrischen Ich auf sich selbst eine in der Erinnerung und dem Selbstbild gebrochene Identitätskonstitution aufgezeigt hat, sollen nun inhaltliche Aspekte der Lebenserzählung betrachtet werden, die der Sprecher »sich selbst als Geschichte zuschreibt«1. Dabei handelt es sich nicht nur um »Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen, Empfindungen, Erinnerungen, Wünsche, Imaginationen oder Einstellungen«2, sondern auch um Erfahrungen, welche das »individuelle Leben« und die »Geschichte der Persönlichkeit«3 eines klar markierten lyrischen Ich besonders geprägt haben. Diese Aspekte des Sprecher-Lebens sollen in Rückgriff auf Roland Barthes als »Biographeme« bezeichnet werden. Barthes hat den Begriff des Biographems an zwei Stellen erläutert: »Wäre ich Schriftsteller und tot, wie sehr würde ich mich freuen, wenn mein Leben sich dank eines freundlichen und unbekümmerten Biographen auf ein paar Details, einige Vorlieben und Neigungen, sagen wir ›Biographeme‹, reduzieren würde, deren Besonderheit
1
»In der Lyrik beziehen sich insbesondere seit dem 17. Jahrhundert Geschichten – tendenziell anders als in Romanen – vornehmlich auf innere Phänomene wie Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen, Empfindungen, Erinnerungen, Wünsche, Imaginationen oder Einstellungen, die der Sprecher oder der Protagonist in einem monologischen Reflexions- oder Bewusstseinsprozess sich selbst als Geschichte zuschreibt, durch die er sich in seiner individuellen Identität definiert.« Hühn/Schönert (2007), S. 10.
2
Ebd.
3
Lejeune, Philippe (21998) [1973], »Der autobiographische Pakt«, übers. von Hildegard Heydenreich, in: Niggl, Günther (Hrsg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 214-257, hier S. 215.
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und Mobilität außerhalb jeden Schicksals stünden und wie die epikureischen Atome irgendeinen zukünftigen und der gleichen Auflösung bestimmten Körper berührten, ein durchlöchertes Leben, so wie Proust es in sein Werk einfließen ließ […].«4 »Ich nenne Anamnese die Handlung – Mischung aus Genuss und Anstrengung –, die das Subjekt vollzieht, um, ohne sie zu vergrößern oder zum Schwingen zu bringen, eine Feinheit der Erinnerung wiederzufinden: es ist das Haiku selbst. Das Biographem […] ist nichts anderes als eine künstliche Anamnese: die ich dem Autor, den ich liebe, verleihe.«5
Barthes beschreibt das Biographem als Element einer von außen hergestellten Erinnerungsanstrengung, als biographische Aufgabe, die von einem Anderen, dem Biographen, durchgeführt wird. Dieser wählt willkürlich, wenn auch liebevoll, Erinnerungen und Erlebensfragmente des Schriftstellers aus. Dem gegenüber steht die Anamnese als ebensolche Anstrengung des Subjektes, die in der strikten Form und Kürze des Haiku ihren Ausdruck findet. Bei Barthes zeigt sich somit schon eine Affinität der Lebenserzählung mit der Lyrik. In Anlehnung an den Barthes’schen Begriff soll nun ein Biographem als ›Erinnerungseinheit‹ verstanden werden, jedoch, im Unterschied zu Barthes’ Differenzierung zwischen Biographem und Anamnese, vom lyrischen Ich selbst benannte Lebensstationen bezeichnen, die in einem konstitutiven Bezug zu seiner Persönlichkeit stehen. Die im Folgenden analysierten Lebensstationen und ihre Verhandlung in den Texten stellen jede für sich einen solches ›Biographem‹ des Sprecher-Ich dar. Barthes’ Definition der Biographeme hebt auf die postmoderne Fragmentarisierung der Lebenserfahrung ab und stellt keinen kohärenten Lebenslauf in den Mittelpunkt der Lebenserzählung, sondern punktuelle Details. In Roland Barthes par Roland Barthes demonstriert er die dort stichwortartig präsentierte »Mobilität« von Lebensaspekten »außerhalb jeden Schicksals«. Schon durch die graphische ›Vereinzelung‹ lyrischer Texte mag ein solches (post-)strukturalistisches Verständnis von Lebenserzählungen gefördert werden. Das Gedicht als Biographem ist trotz seiner gedruckten Position innerhalb eines Bandes mobil und ausschnitthaft. Bei Goytisolo stellen die Texte sogar Palimpseste ihrer selbst dar, die durch das gesamte œuvre wandern. Zwar mag das einzelne Gedicht in eine Sequenz eingeordnet sein, als Sinneinheit geht es aber mit anderen Sinneinheiten, die ihm nicht notwendigerweise vor- oder
4
Barthes, Roland (1974) [1971], Sade, Fourier, Loyola, übers. von Maren Sell und Jürgen Hoch, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 13.
5
Barthes, Roland (2010) [1975], Über mich selbst, übers. von Jürgen Hoch, Berlin: Matthes und Seitz, S. 129 (Herv. i.O.).
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nachgeordnet sein müssen, Verbindungen ein.6 Nun lassen sich die hier zu untersuchenden Texte nicht nur durch ihre Zugehörigkeit zum Genre der Lyrik an das Barthes’sche Biographem angliedern, sondern auch aus der Poetik der vorliegenden Texte heraus. Wie Kapitel 3 gezeigt hat, stellen der gebrochene Erinnerungsdiskurs und der Versuch, ein Selbstbild zu generieren, zwei Modi der Lebenserzählung dar, die ›Identität‹ als absolutes Konzept verabschieden und mit Erfahrungen der Alterität und der Uneinheitlichkeit des Selbst verknüpft sind.7 Die Biographeme, die im Folgenden als Erinnerungseinheiten im engeren Sinne analysiert werden, treten deshalb weder als induktiv systematisierte, verallgemeinerbare oder sogar universale ›Lebensstationen‹ auf, noch ergeben sie sich aus einer systematischen Deduktion, da sie potentiell jeden Aspekt des Lebens verhandeln können. Ausgewählt wurden hier solche Aspekte, die unter komparativem Gesichtspunkt im Korpus rekurrent sind. Mit dem Spanischen Bürgerkrieg und der sexuellen Initiation werden zunächst zwei Aspekte aus Kindheit und Jugend der Sprecher betrachtet. Daran schließt sich die Auseinandersetzung der Sprecher mit ihrer gesellschaftlichen Situierung an. Schließlich wird das Vergehen der Zeit als Aspekt des fortgeschrittenen Lebens untersucht. Die Frage nach Similaritäten auf der Ebene der Biographeme spitzt sich damit zu auf die Frage nach Similaritäten in der Verhandlung von »Lebenswissen« – als »Wissen vom Leben«, Modellierung und »beschreibende Aneignung von Leben«8.
6
Zaldívar schlägt für Las personas del verbo den Begriff der Collage vor. Vgl. Zaldívar, María Inés (1997), »Los ojos con que Jaime Gil de Biedma mira al otro Jaime Gil de Biedma«, in: Mapocho: órgano de extensión cultural 42, S. 9-15, hier S. 15.
7
Es handelt sich dabei um lyrische Prozesse der Selbstbestimmung, die auf die angelsächsische Tradition zurückzuführen sind und die vermittelt u.a. von Luis Cernuda im 20. Jahrhundert in die spanische Lyrik Eingang fanden. Vgl. Hanau, Katharina (1997), »Luis Cernuda en la obra de Francisco Brines y Jaime Gil de Biedma: Imágenes del deseo«, in: Hansen, Hans Lauge (Hrsg.), La metáfora en la poesía hispánica (1885-1936), Sevilla: Alfar, S. 159-172. Vgl. außerdem Maqueda Cuenca, Eugenio (2003), La obra de Jaime Gil de Biedma a la luz de T.S. Eliot y el pensamiento literario anglosajón, Jaén: Universidad de Jaén. So bemerkt Assmann zu Wordsworth: »Wordsworth macht die Konstruktion personaler Identität zu seinem epischen Projekt. Dabei wird für ihn die Erinnerung zum wichtigsten Medium. Erinnerung bedeutet für Wordsworth zunächst Reflexivität, Selbst-Beobachtung im Strom der Zeit, Rückkrümmung auf sich selbst, Selbstspaltung, Selbstverdopplung.« Assmann (2003), S. 101 (Herv. i.O.).
8
Ette, Ottmar (2004), ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin: Kadmos, S. 12 (Herv. i.O.).
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4.1 D IE K INDHEIT
UND
J UGEND
4.1.1 Der Spanische Bürgerkrieg aus der Kinderperspektive Der hortus libertatis Der Themenbereich »Kindheit und Jugend« ist in der Kritik vor allem unter Betrachtung des Bürgerkrieges als zentrales Thema behandelt worden.9 Hier soll im direkten Vergleich einschlägiger Texte von Carlos Barral, Jaime Gil de Biedma, Ángel González und Gabriel Ferrater die Frage nach Similaritäten in der Verhandlung der Kindheit während der Guerra Civil im Vordergrund stehen. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass die literarischen Figuren den in der Kindheit erlebten Krieg rückblickend reflektieren. Wegen der parallelen Altersstruktur der Sprecherfiguren mit den Dichtern fällt nicht umsonst, wenn von der generación del medio siglo gesprochen wird, auch die Bezeichnung »los niños de la guerra«10. Viele dieser Texte kennzeichnet die bereits herausgearbeitete narrativierte, rückblickende Sprechsituation des lyrischen Ich, ein nachzeitiges Erzählen und Betrachten der Ereignisse aus der Sprechgegenwart, wobei die Vergangenheitstempi des Rückblicks ergänzt werden durch einen aktiven Erinnerungsdiskurs des lyrischen Ich, z.B. in Biedmas »Intento formular […]« (»Y me acuerdo también de una excursión a Coca«, V.37) oder González’ »Ciudad cero« (»todo es borroso ahora«, V.35). Auf inhaltlicher Ebene wird der Bürgerkrieg unabhängig von traumatischen Erfahrungen des lyrischen Ich als hortus libertatis11 dargestellt, wie Barral in seinen Memorias formuliert: »Para todos los muchachos de mi edad la guerra había sido una larga y extraña vacación, un hortus libertatis en el que las costumbres se habían regido por las solas excepciones de olvidadas reglas.«12 In besonders enger Verbindung zueinander im Rahmen dieser Thematik stehen »Las alarmas« und »Sangre en la ventana« von Barral sowie »Infancia 9
Vgl. exemplarisch Balmaseda Maestu, Enrique (1991), Memoria de la infancia en la poesía española contemporánea, Logroño: Instituto de Estudios Riojanos.
10 Vgl. z.B. Mangini González (1977), S. 96f. Die Bezeichnung beschränkt sich nicht nur auf die Dichter der 1950er und 1960er Jahre, sondern bezieht sich in Anlehnung an eine von Josefina Rodríguez Aldecoa herausgegebene Anthologie von Prosatexten auch auf die Romanciers, die parallel zu den Dichtern Barcelonas in Madrid aufeinander trafen. Vgl. Aldecoa, Josefina R. (31990a), Los niños de la guerra, Madrid: Anaya. 11 Daher auch der Buchtitel über die »cultura del medio siglo«: El jardín quebrado. Vgl. Bonet (1994). 12 Barral (2001), S. 74, vgl. auch Riera (1988), S. 322.
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y confesiones« und »Intento formular mi experiencia de la guerra« von Biedma, außerdem »In memoriam« von Gabriel Ferrater und »Ciudad cero« von Ángel González.13 Während das lyrische Ich bei Biedma die Kindheitserfahrungen während des Krieges auf dem Land darstellt, erinnert sich der Sprecher bei Barral an spezifisch städtische Kriegserlebnisse. Bombardements und die sie ankündigenden »alarmas« haben den gleichen Effekt wie die Schulglocke, sie befreien die Kinder vom streng Geographie abfragenden Lehrer: Como flecha encendida de un grito, las gafas del profesor centellearon en medio del aula: ¡Usted! (Barral, »Las alarmas«, V.11-14)
Der weiter entfernt stattfindende Bombenangriff entlässt sie in eine Abenteuerwelt voller Freiheiten (»Partíamos pegados a los muros / prudentes al principio, luego libres / tocábamos los timbres y arrancábamos placas«, V.36-38). Auch in Biedmas »Intento formular […]« wird der Krieg in erster Linie mit einer neu gewonnen Bewegungsfreiheit assoziiert, die den Kindern ermöglicht, die ländliche Umgebung zu erkunden, was zu der paradoxalen Identitätsformulierung »[p]ara empezar, la guerra / fue conocer los páramos con viento« (V.13/14) führt. Ángel González belegt den Krieg in »Ciudad cero« in einer nahezu parallelen Formulierung ebenfalls mit unerwarteten und paradoxen Äquivalenzen (»la guerra, para mí, era tan sólo: / suspensión de las clases escolares, / Isabelita en bragas en el sótano«, V.9-11). Das Kindheits-Ich des Sprechers (»[…] como tal niño«, V.8) erfährt den Krieg als Erweiterung seines Bewegungsradius in neue Räume: »cementerios de coches, pisos / abandonados« (V.12/13). Die Freiheit, welche die Sprecher rückblickend beschreiben, führt zu einem Glücksgefühl, so dass das lyrische Ich bei Biedma einleitend konstatiert: »Fueron, posiblemente, / los años más felices de mi vida« (V.1/2), obwohl »[l]as víctimas más tristes de la guerra / los niños son, se dice« (V.5/6). Eine ähnliche Feststellung macht der Sprecher in Barrals »Las alarmas«: »(De entre todos los supervivientes / fuimos los más intactos; / dueños de la heredad abandonada / […])« (V.39-42). Diese Paradoxie des Glücks während des Bürgerkrieges geht mit der Inbesitznahme 13 Riera verweist kurz auf die Parallelen in der Verhandlung des Bürgerkrieges bei Barral (»Las alarmas«), Biedma (»Intento formular […]«) und Gabriel Ferrater (»In memoriam«). Vgl. Riera (1990b), S. 70.
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des offenen und öffentlichen Raumes, der »heredad abandonada«14, einher und ist damit zu erklären, dass die Protagonisten der Gedichte Angst lediglich als (im Oxymoron treffend charakterisierten) »terror dulce« (»Las alarmas«, V.43) und als zur Welt der Erwachsenen zugehörig wahrnehmen.15 […] Oloràvem la por
y el casi incomprensible
que era l’aroma d’aquella tardor,
dolor de los adultos,
però ens semblava bona. Era una por
sus lágrimas, su miedo
dels grans. (Ferrater, »In memoriam«, V.63-66)
(González, »Ciudad cero«,V.19-21)
Die relative Entfernung negativer Kriegserfahrungen führt dazu, dass die Kinder in doppelter Weise in einem Raum der Freiheit in der Stadt oder auf dem Land leben, in dem sie ihre eigenen brutalen Neigungen ausleben können: Pero también es cierto que es una bestia el niño: si le perdona la brutalidad de los mayores, él sabe aprovecharla, y vive más que nadie en ese mundo demasiado simple, tan parecido al suyo. (Gil de Biedma, »Intento formular […]«, V.7-12)
Denn auch die Kinder sind zu grausamen und makabren Handlungen fähig, potenziert durch den Krieg, der ihnen zugleich Anschauungsobjekte und Aktionsmöglichkeiten bietet. So erinnert das lyrische Ich bei Biedma sich daran, wie sehr der Tod sein Kindheits-Ich faszinierte (»buscábamos la arena removida / donde estaban, sabíamos, los cinco fusilados«, V.33/34), während der Sprecher bei Barral dem auf den »Fotografías« betrachteten Kindheits-Ich Grausamkeit vorwirft:
14 Vgl. die übereinstimmende Verwendung des Partizips »abandonado« bei Barral und González: »heredad abandonada« (Barral, »Las alarmas«, V.41) und »pisos / abandonados« (González, »Ciudad cero«, V.12). 15 Vgl. zur Angst der Erwachsenen auch Rovira, der »Intento formular […]« mit dem entsprechenden Abschnitt aus Ferraters »In memoriam« gegenüberstellt. Rovira (1986), S. 291.
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Tú y yo sabemos, mejor que nadie, di, dónde enterraste el hacha de los juegos peligrosos, las cenizas del sapo que ardió vivo para ver el dolor (Barral, »Fotografías«, V.32-36)
Das lyrische Ich in »Ciudad cero« erinnert ebenfalls seine Faszination für die abenteuerlichen Aspekte des Krieges (»una bala aún caliente / el incendio / de un edificio próximo«, V.28-30), welche in seiner Wahrnehmung als »prodigios cotidianos« (V.27) auch nicht so recht in die Beschreibung eines Krieges passen wollen. Durch das Ausbleiben traumatischer Erlebnisse kann dieser zu einem abenteuerlichen Schauplatz werden – »[…] la guerra / quedaba allí al alcance de los niños / tal y como la quieren« (Gil de Biedma, »Intento formular […]«, V.3032) –, unter der Bedingung, »si le [al niño] perdona la brutalidad / de los mayores« (V.8/9). Parallel beschreibt das lyrische Ich bei Barral einen Krieg, der Inhalt und Orte der Kinderspiele überhaupt erst schafft: y era agradable recorrer los túneles, hacer la guerra a oscuras, reinar en lo profundo (Barral, »Las alarmas«, V.53-55)
Der Krieg begünstigt also, »al alcance de los niños«, eine äußere Freiheit, die nur von »la brutalidad más inmediata« (»Las alarmas«, V.62) begrenzt wird. Solange die Kinder keinen konkreten Grund zur Angst haben, leben sie »[a] salvo en los pinares« (»Intento formular […]«, V.21) in einem ungewohnt großen Freiraum, den ihnen die Angst der Erwachsenen ermöglicht:16 »Com més por / tenien ells, més lliures ens sentíem. /[…]/Érem feliços« (»In memoriam«, V.68/ 69,72). Durch den Wegfall äußerer Strukturen wie der Schule (»Las alarmas«, »Ciudad cero«) wird sämtliche Autorität unterminiert, auch wenn »[…] [m]olt diminuïts / els pares eren el poder, encara« (»In memoriam«, V.94/95). Aldecoa beschreibt in der Einleitung ihrer Prosa-Anthologie die Kindheit der niños de la guerra übereinstimmend mit den hier analysierten Gedichten:
16 In seiner vergleichenden Analyse von »In memoriam« und »Intento formular […]« betont Codina »[…] l’oposició entre l’actitud i els interessos dels adults i l’actitud i els interessos dels infants i adolescents […].« Codina i Valls (1993), S. 309.
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…Cuando se es niño
»Cuando sobrevino la catástrofe, madura-
se pierden fácilmente los respetos
mos de prisa. Los mayores bajaron la guar-
[…]
dia […]. Nuestros padres olvidaron las nor-
Pero habían perdido la fuerza del castigo,
mas, nos dejaron vivir. Se podía salir de
eran menores, blandos, vergonzantes;
casa sin grandes dificultades […]. Se ha-
medíamos su fuerza cara a cara,
bían roto las rutinas internas de la vida fa-
sacándoles la lengua, haciendo
miliar […]. Y los niños salieron de sus
burla de su temor, y era
protegidos rincones y se sintieron libres e
triste
independientes entre los miedos y las rui-
y aún más en los amargos
nas.«17
antros de nuestras familias demacradas. (Barral, »Las alarmas«, V.59/60,66-70)
Das Trauma Eine deutlich von dieser Kriegswahrnehmung differenzierte Perspektive nimmt das rückblickende lyrische Ich in Goytisolos El retorno ein. Dieser erste von Goytisolo veröffentlichte Gedichtband widmet sich der Trauer des lyrischen Ich angesichts des Todes einer geliebten Frau. Wie bereits die Friedhofsheterotopie zeigte,18 steht der Tod im Mittelpunkt: Elf der einundzwanzig Gedichte verhandeln ihn explizit durch die Erwähnung des Substantivs »muerte« und des Adjektivs »muerto«. Über fast alle Texte lässt sich zudem eine Isotopie des Verlassenwerdens und der Abwesenheit etablieren. Die elegischen19 Texte richten sich in den meisten Fällen direkt an die Verstorbene oder schmähen ihre Mörder (»Por los bastardos«, »Lo que mis juramentos puedan«, »Sucedió que la muerte«). Der Sprecher bemüht sich abwechselnd um die Bewältigung seiner Trauer aus der Gegenwart des Sprechens und schildert Kindheitserinnerungen vor und nach dem Verlust der geliebten Person. Dabei ist der Bezug zum Bürgerkrieg nicht explizit, sondern wird vor allem über zwei Referentialisierungen hergestellt: Das Buch ist gewidmet »[a] la que fue Julia Gay«, der Mutter der Brüder Goytisolo, die am 17. März 1938 bei einem Bombenangriff auf Barcelona ums Leben kam,20 ein Datum, das in dem Gedicht »Donde tú no estuvieras« Erwähnung findet: »pusieron una fecha: diecisiete de marzo« (V.7). Erst in späteren Ausgaben nach dem Ende der Zensur wird der Tod der Mutterfigur in einen expliziten historisch-politischen Zusammenhang gestellt, wie die hier kursiv gedruckten und 17 Aldecoa, Josefina R. (1990b), »Una generación«, in: dies. (1990a), S. 9-22, hier S. 12. 18 Vgl. Kapitel 3.1.4 19 Vgl. Riera (1991), S. 17-20. 20 Vgl. ebd., S. 15.
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B IOGRAPHEME
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in die normal gedruckte, ursprüngliche Fassung von 1955 eingefügten Ergänzungen zeigen.21 Donde tú no estuvieras, como en este recinto, cercada por la vida, en cualquier paradero, conocido o distante, leería tu nombre. Aquí, cuando empezaste a vivir para el mármol, cuando se abrió a la sombra tu cuerpo desgarrado pusieron una fecha: diecisiete de marzo. Y suspiraron tranquilos, y rezaron por ti. Te concluyeron. Alrededor de ti, de lo que fuiste, en pozos similares y en funestos estantes, otros, sal o ceniza, te hacen imperceptible. Lo miro todo, lo palpo todo: hierros, urnas, altares, una antigua vasija, retratos carcomidos por la lluvia, citas sagradas, nombres, anillos de latón, sucias coronas, horribles poesías… Quiero ser familiar con todo esto. Pero tu nombre sigue aquí, tu ausencia y tu recuerdo siguen aquí. ¡Aquí! Donde tú no estarías si una hermosa mañana en Barcelona en Barcelona mía, llena de pájaros y flores y muchachas pero rota de pronto
21 Man beachte das Ausbleiben jeglicher Kommasetzung in dem eingefügten Fragment von 1977. In der letzten Überarbeitung von El retorno (1986) wird die eingefügte Passage wieder entfernt, möglicherweise wegen der historischen Fehlinformation (Barcelona wurde am 17.03.1938 von italienischen, nicht von deutschen Flugzeugen bombardiert). Vgl. Riera/García Mateos (2009), S. 16f.
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por el estruendo de los bombarderos pilotados por hombres que reían y hablaban y cantaban en idioma alemán mientras ametrallaron porque creían todos todos –aunque ahora lo nieguen– ser de una raza superior a las demás cuando en realidad eran sólo la peor raza que nunca hubo en la tierra peor aún que las hienas del desierto que pudren lo que tocan peor aún que los zopilotes que viven de la muerte aquí digo. Donde tú no estarías, si una hermosa mañana, con música de flores, los dioses no te hubieran abandonado. (Goytisolo, »Donde tú no estuvieras«)
Dieser eine zentrale Verlust führt dazu, dass der Krieg (»La guerra«) als traumatischer Gewalteinbruch erfahren wird, der das lyrische Ich nicht freisetzt, sondern es in eine hilflose Situation des Ausgeliefertseins bringt: »como ciego miré / por todas partes, / buscando un pecho, / una palabra, algo / donde esconder el llanto« (V.9-13). Hilfe ist nicht zu erwarten, die verzweifelte, paradoxale Suche des Sprechers (»como ciego miré«) führt ins Leere: »ruina y muerte / bajo el cielo vacío«, V.15/16). 4.1.2 Die sexuelle Initiation Die ambivalente Mutterfigur Goytisolos El retorno wird in der Kritik gemeinhin auf die elegische Auseinandersetzung des Sprechers mit dem Tod der Mutter zugespitzt.22 Autobiographische Bezüge und Vermutungen über die Bedeutung des Todes der Mutter für die literarische Betätigung der drei Goytisolo-Brüder stehen dabei im Mittelpunkt.23 22 Vgl. beispielhaft Fernández Romero, Ricardo (2005), »Espacio y memoria en la poesía de José Agustín Goytisolo. Las elegías a Julia Gay«, in: Riera/Payeras (2005), S. 89-97. 23 Vgl. z.B. Riera/García Mateos (2009), S. 12.
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Die geliebte Frau wird jedoch in den Texten zum einen hauptsächlich in Bezug auf die referentialisierende Widmung und das Todesdatum als Mutterfigur konstituiert. Binnenpragmatisch lassen allein isotopische Wortfelder der Kindheit und der Familie darauf schließen, dass die Verstorbene die Mutter des Sprecher sein kann.24 Zum anderen verhandelt der Sprecher seine Trauerarbeit am verlorenen »Liebesobjekt«25 in durchaus erotisierter Weise. Die Beziehung des Sprechers zur geliebten Frau ist eine ambige, die zwischen der Frau als Mutter und Geliebter oszilliert. Die Relation des lyrischen Ich zu der Geliebten lässt sich als Evolution über die Gedichte des Bandes nachvollziehen. In »Sucede todo igual« wird der Trauernde als ein der Verstorbenen Nahestehender dargestellt: »una mujer que muere, un ser contiguo / que maldice y pregunta« (V.2/3). In welcher spezifischen Beziehung er zu ihr steht, bleibt jedoch offen. Aus dem folgenden Gedicht lässt sich dann auf eine (platonische) Liebesbeziehung zwischen Sprecher und Angesprochener schließen: Hier und in mehreren anderen Texten bedient sich das lyrische Ich des petrarkistischen Schönheitskatalogs,26 um die begehrte und unerreichbare Frau zu beschreiben (»piel«, »cabello«, »frente«, »carne«): Como la piel de un fruto, suave a la amenaza de los dientes, iluminada, alegre casi, ibas camino de la muerte. La vida estaba en todas partes: en tu cabello, sobre el césped, sobre la tierra que añorabas, sobre los chopos, por tu frente…
24 Vgl. Goytisolos Aussage in einem Interview: »El retorno […] es una elegía a una mujer muerta, de la que sólo se sabe que se llamaba Julia Gay, porque en ningún momento puse allí que era mi madre […]. Nunca aparece la palabra madre.« Vázquez Rial (1992), S. 20 (Herv. i.O.). 25 Freud, Sigmund (2006) [1916/17], »Trauer und Melancholie«, in: ders., Das Lesebuch. Schriften aus vier Jahrzehnten, hrsg. und kommentiert von Cornelia SchmidtHellerau, Frankfurt am Main: Fischer, S. 333-353, hier S. 337. 26 Vgl. zu den Elementen, mit denen Petrarca Lauras Schönheit beschreibt, Friedrich, Hugo (1964), Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt am Main: Klostermann, S. 202f.
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Todo pasó tal un verano, sobre tu carne pura y breve. ¡Como la piel de un fruto, eras tan olorosa y atrayente! (Goytisolo, »Como la piel de un fruto«)
Die metaphorische Umschreibung des Todes als »tu abandono« (»Aquel año se me ha quedado muerto«, V.4) zeigt, dass der Sprecher sich von der Geliebten verlassen fühlt, als ob sie ihren Tod zu verantworten habe oder zu erklären wüsste: »¡Si pudieras decirme, por qué fue / aquel año, aquel día, aquella / hora!« (V.19-21). Dass es sich bei der Frau aber auch um die geliebte Mutter handeln kann, legen mehrere Aspekte nahe: die Attribute der Mutterfigur (»recordarte entre el pan y los manteles«, V.9) und ihr mütterliches Verhalten (»Yo recuerdo tus manos – hace frío – / arropándome al lecho«, »Yo recuerdo tus ojos«, V.4/5), die isotopischen Verweise auf die Familie (»Llora conmigo, hermano«) und das Heim (»la casa te veía desertar«, »Alguna noche – las fogatas eran«, V.3) sowie der perspektivische Wechsel vom »yo« zum »nosotros« (»A veces parecía / que estuvieras sentada entre nosotros«, »Desde tu marcha nada cambió«, V.2/3), welches eine Gruppe von Kindern bezeichnet (»al caer la venda de la gallina ciega«, »La mitad de los días se me fue«, V.9). »Yo recuerdo tus ojos« wurde in Claridad von 1961 erneut abgedruckt und mit dem Titel »Madre« versehen27 – womit ein Bezug, der in El retorno eine Interpretationsmöglichkeit neben der der Geliebten darstellt, an dieser Stelle vereindeutigt wird. Paula Sprague hat sehr einleuchtend dargelegt, wie der »palimsesto«28 Goytisolos nicht nur durch die fortwährenden Veränderungen der Texte bei der Aufnahme in neue Ausgaben, sondern vor allem durch ihre immer wieder neue Lokalisierung innerhalb der Text-Geographie ihre Bedeutungsmöglichkeiten erweitert und öffnet.29 In diesem Fall findet allerdings eine Reduktion statt, indem der neue Titel die Ambivalenz der Angesprochenen als Mutter (»arropándome al lecho«, V.5; »jugad en el jardín«, V.11) und Geliebte (»ojos«, V.1; »manos«, V.5; »boca«, V.9), welche 27 Vgl. Riera/García Mateos (2009), S. 860. Laut Riera enthält Goytisolos Gesamtwerk nur ein einziges Mal das Wort »madre« im Haupttext, nämlich in »Siete años« (Claridad): »Y más allá / la madre, un libro, rotos / pedazos de mi vida« (V.5-7), vgl. Riera (1991), S. 57. 28 Ebd., S. 16. 29 Vgl. Sprague, Paula (2005), »La ›geografía‹ de la poesía de José Agustín Goytisolo«, in: Riera/Payeras (2005), S. 199-204.
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durch den Kontext der anderen Gedichte aus El retorno gestützt wird, aufhebt und vermittels des Titels disambiguiert. Gegen Ende von El retorno überwiegt erneut die erotische Konnotation in der Beziehung von Sprecher und Angesprochener. Wenn das abschließende Gedicht »Digo: comience el sendero a serpear« einen locus amoenus am Ufer eines Flusses konstituiert, an dem der Sprecher die Wiederkehr der geliebten Frau erwartet, erscheinen die imaginierten Küsse der Frau tendenziell erotisch: »Sé lo que me dirás. Conozco el soplo / de tus labios mojados: / tardabas en llegar. Y, luego, un beso / repetido en el río« (V.13-16) In »De la mujer que amo he aprendido« wird die Parallelisierung der Verstorbenen mit der gegenwärtigen Geliebten des Sprechers gänzlich unauflösbar: Der körperliche Liebesakt erscheint als Möglichkeit, die Abwesende heraufzubeschwören und ein Verstehen jenseits der Worte zu ermöglichen: »Tacto feliz, / prosigue, te esperaba« (V.12/13). In diesem Sinne greifen autorbezogen motivierte Interpretationen, die zum Beispiel die Kindheit in der Erinnerung als von der Mutterfigur untrennbare Einheit betrachten, zu kurz.30 Allein bei Virallonga findet sich ein vorsichtiger Hinweis auf die Erotisierung der Mutterfigur, allerdings betont er die Abwesenheit von »[…] delectaciones de lo sensual [y] llamadas a ningún estímulo de este tipo.«31 Virallonga vermeidet es offensichtlich, die Figur der geliebten Frau als Geliebte zu lesen, weil er ihre Mutterrolle zentral setzt. Dabei bleibt ihm nicht verborgen, dass »[…] la presencia de la madre llega siempre rodeada de símbolos eróticos […].«32 Er erwähnt sogar, dass sich »Digo: comience el sendero a serpear« auf »[…] los dos amores: el reemplazado y el reemplazador […]«33 beziehen könne. Eine Schlussfolgerung zur Funktion der erotischen Elemente bleibt hingegen aus. Dabei ist das Verhältnis des Sprechers zur der betrauerten Figur ein deutlich komplexeres: Ihre Abwesenheit macht die geliebte Frau begehrenswert, hervorgerufen durch einen gewaltsamen Tod, den
30 Vgl. Fernández Romero (2005), S. 92. 31 Virallonga, Jordi (1990), »De un abrir y cerrar los ojos (una aproximación a la obra poética de José Agustín Goytisolo)«, in: Ínsula. Revista de letras y ciencias humanas 523-524, S. 60f., hier S. 60. 32 Virallonga, Jordi (1992), José Agustín Goytisolo, vida y obra: de la luz del Retorno a las noches proscritas, Madrid: Libertarias-Prodhufi, S. 163. Die erotische Symbolik führt er auf die moderne spanische Dichtung seit dem Modernismus zurück (vgl. ebd., S. 259-268). 33 Ebd., S. 165.
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das lyrische Ich zugleich als willkürliches Verlassenwerden erfährt.34 Daher nimmt es alternierend und parallel zueinander die Rollen des Kindes und des Liebhabers ein, der sich in einem petrarkistischen Liebesdiskurs an die unerreichbare Dame richtet. Die Erotisierung der Mutterfigur folgt also einem platonischen Muster, das erst der Erwachsene stellvertretend einlöst. Die Initiation im Bürgerkrieg In Ferraters »In memoriam« wird die sexuelle Initiation des Sprechers rückblickend auf die Guerra Civil und aus ihrem Freiraum heraus erläutert. Das lyrische Ich ist etwas älter als das etwa zehnjährige Kindheits-Ich in den Texten von Biedma und González:35 »Quan va esclatar la guerra, jo tenia / catorze anys i dos mesos« (V.1/2). Die Wirren des Krieges geben den Jugendlichen eine größere Autonomie (»Vam descobrir les putes i el robar«, V.88) und die Möglichkeit, sich über Verbote hinwegzusetzen: Any de distrets Any trenta vuit Havien prohibit la platja i ens anàvem a banyar nus lliscant per sota d’una alambrada (Ferrater, »Cançó idiota«, V.1-536)
Die sexuelle Initiation steht bei Ferrater in klarem Zusammenhang mit dem Krieg (wie auch bei González: »la guerra, para mí, era tan sólo: / […] / Isabelita en bragas en el sótano«, »Ciudad cero«, V.9-11) und wird durch diesen beschleunigt: »Quant als prostíbuls / se’ns haurien obert ben aviat / però vam guanyar uns mesos« (»In memoriam«, V.89-91). Gleichzeitig ist die Entdeckung der Sexualität eng mit der Entdeckung der Poesie verbunden, welche aus der rückblickenden Perspektive des erinnernden Sprechers als Element seiner persönlichen Entwicklung über die politischen Ereignisse gestellt wird:
34 In La noche le es propicia wird dieses semantische Feld erneut aufgerufen: In dem Gedicht mit dem Titel »No hay retorno« verlässt der Liebhaber heimlich und unbemerkt von ihr das mit der Geliebten geteilte Hotelzimmer. 35 »En aquellos dos años –que eran / la quinta parte de toda mi vida« (Ángel González, »Ciudad cero«) und »[…] puesto que a fin de cuentas / no tenía los diez« (Jaime Gil de Biedma, »Intento formular […]«, V.3/4). 36 Ausbleibende Interpunktion i.O.
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[…] El cap m’anava tot ple d’una altra cosa, que ara encara jutjo més important. Vaig descobrir Les Fleurs du Mal […] (Ferrater, »In memoriam«, V.3-6)
Eine Isotopie der sexualisierten Natur illustriert metaphorisch sein persönliches Aufbegehren:37 […] Ajagut dins d’un avellaner, al cor d’una rosa de fulles moixes i molt verdes, com pells d’una eruga escorxada, allí, ajaçat a l’entrecuix del món […] (Ferrater, »In memoriam«, V.10-14)
Während schon diese Übertragung weiblicher, sexuell konnotierter Metaphern (»al cor d’una rosa«, »a l’entrecuix del món«) von der Natur auf die Welt insgesamt ausgedehnt wird, wird schließlich die Revolte des Sprechers mit der Revolte des Militärs parallelisiert: […] m’espesseïa de revolta feliç, mentre el país espetegava de revolta i contrarevolta, no sé si feliç […] (Ferrater, »In memoriam«, V.14-17)
In »Cançó idiota« schließlich, welches die Thematik in Teoria dels cossos noch einmal aufgreift, stellen zwei nahezu parallele Verse die sexuelle Initiation des Sprechers als pars pro toto des Übergangs in ein selbstbestimmtes Leben dar: »Vaig aprendre de fer l’amor« (V.5) und »jo hi vaig aprendre de viure« (V.30). Die Parallelen des Gedichtes zu »In memoriam« sind offensichtlich: Der Sprecher erinnert seine persönliche Freiheit in den Pinienwäldern von Pedralbes (im Westen Barcelonas) im »Any trenta-vuit« (V.1,15,29,32), während gleichzeitig die republikanische Mobilmachung für die Ebro-Schlacht stattfindet: »quan roncaven els camions / portant barques a passar l’Ebre« (V.8/9). Die Wiederholung
37 Whyte (2001), S. 337.
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des »entrecuix« aus »In memoriam«, welches nun nicht mehr metaphorisch verwendet wird, verdeutlicht, dass der Sprecher von den interdependenten Ereignissen des Bürgerkrieges und des Erwachsenwerdens auf individueller Ebene der sexuellen Initiation eine bedeutendere Rolle zumisst. In den letzten beiden Versen wird das »Any de distrets« schließlich mit dem sexuellen Aspekt gleichgesetzt: »Quin rosat embull d’entrecuix / Any de distrets Any trenta-vuit« (V.31/32). Die persönlichen Zerstreuungen, die »distrets« des lyrischen Ich, lenken von der politischen Situation ab. Insgesamt bedingt und fördert das von der Guerra Civil beschleunigte Ausbrechen des Protagonisten aus den familiären Ordnungsstrukturen und die auf den Krieg bezogen paradoxale Freiheitserfahrung die Entdeckung der Sexualität. Der Voyeur Bei Biedma und Barral ist die Initiationsthematik, wie schon die Gedichte über Kindheit im Bürgerkrieg, in eine erinnernde Perspektive des lyrischen Ich eingebunden, welche die Erfahrung aus dem Rückblick einzuordnen versucht. Sowohl Biedmas »Peeping Tom« als auch Barrals »Baño de doméstica« konstruieren eine Voyeurssituation, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. In »Baño de doméstica« wird das lyrische Ich heimlich geduldeter Zuschauer des Bades einer Hausangestellten. Seine Betrachtung der Badenden wird durch synästhetische Verknüpfungen unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen geschildert:38 »veía disolverse // la violada rúbrica de espuma, / bogar las islas y juntarse, envueltas / en un olor cordial o como un tibio / recuerdo de su risa« (V.3-7). Aus der Perspektive des erinnerten lyrischen Ich handelt es sich bei der erotisierten Erfahrung um eine Voyeursszene. Der erinnernde Sprecher ästhetisiert jedoch die badende Frau zu einer Allegorie des Volkes. Damit deutet er die Erfahrung willentlich um: »Me gustaría ser más joven / para poder imaginar /[…]/ que era el vigor del pueblo soberano« (V.26-27, 29). Nicht vom Standpunkt des Voyeurs, sondern von dem des Beobachteten aus erinnert das lyrische Ich in Biedmas »Peeping Tom« »mi primera experiencia de amor correspondido« (V.12), welche mit der Erinnerung des Sprechers an einen das Liebespaar beobachtenden »solitario, muchachito atónito« (V.1) einhergeht. Auch wenn sich »Peeping Tom« und »Baño de doméstica« in der Art ihrer erinnernden Reflexion grundsätzlich unterscheiden, so messen doch beide Sprecher den erotischen Erfahrungen eine Identität begründende Bedeutung zu, reihen also die Initiationserfahrung in die »Geschichte ihrer Persönlichkeit« ein. Überein-
38 Visuell: »veía«, olfaktorisch: »olor cordial«, taktil: »tibio«, akustisch: »recuerdo de su risa«.
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stimmend ist die Thematisierung eines doppelten Blicks: Der erinnernde Sprecher nimmt die Vergangenheit aus einer zweifachen Perspektive wahr: als erlebendes und als die Erinnerung lesendes und interpretierendes Ich. Während der Erfahrung in »Baño de doméstica« weniger ein erotischer denn ein ästhetischer Sinn attribuiert wird, erkennt der Sprecher im Blick des »Peeping Tom«, welcher »[…] vuelve a mi desde el pasado« (V.17), sich selbst und »mi propio deseo« (V.20). In beiden Texten stellt die Figur des Voyeurs somit nicht nur ein inhaltliches Motiv dar, sondern ebenso eine mise en abyme de l’énonciation, da der erinnernde Sprecher rückblickend die gesamte Szene noch einmal von außen betrachtet.
4.2 D IE S ITUIERUNG IN
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Lyrisches Erzählen als (retrospektive) Sinngebung des Sprecherlebens – gerade in einem Zeitraum, in dem literarisches Engagement sich zwischen den Polen einer poesía oficial und einer poesía social verortet39 –, fordert die Frage nach der Bedeutung sozialer Aspekte für die Identität des lyrischen Ich heraus. Geradezu sprichwörtlich ist in der Forschung ein Vers aus Biedmas »En el nombre de hoy« geworden, in dem das lyrische Ich sich und seine Freunde als »señoritos de nacimiento / por mala conciencia escritores / de poesía social« (V.36-38) bezeichnet, was in vielen Fällen direkt auf die Herkunft der Dichter aus Bourgeoisie und Adel bezogen wird.40 Die Entwicklung eines Schichtbewusstseins durch das lyrische Ich steht im Rahmen einer poesía social, die weniger mit sozialen oder politischen Forderungen einhergeht, als vielmehr eine Reflexionsbasis für das lyrische Ich bietet, um sich innerhalb der Gesellschaft zu verorten. Erst aus dieser Positionierung des Ich und seiner Bewusstwerdung sozialer Differenzen, in die es eingebettet ist, leiten sich Stellungnahmen ab, die eine implizite Kritik an gesellschaftlichen Missständen darstellen. Interferenzen in der Verhandlung dieser sozialen Bestimmungskomponenten des Ich entstehen zwischen verschiedenen Texten des Korpus. Auffällig ist, dass die Verortung des Sprechers im physischen Raum Anlass zu seiner sozialen Be-
39 Vgl. Rovira (2005), S. 35f. 40 Vgl. z.B. Riera (1990), S. 79f. und Riera (1988), S. 347: »[…] Jaime Gil de Biedma y Carlos Barral, probablemente por influencia de éste, aceptan a través del sujeto poético, cuya identidad se configura en sus poemas, la ambivalencia que supone ser burgués, pertenecer a la clase dominadora y pretender estar con los de abajo, los proletarios, sin renunciar a una serie de privilegios o ventajas sociales.«
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wusstwerdung gibt. Räumliche Transgressionen nehmen dabei eine zentrale Funktion ein. Das Unterkapitel »Situierung als Grenzüberschreitung« beschäftigt sich daher mit Barrals »Sol de invierno« und »Un pueblo«, das Kapitel »Situierung als Spaziergang durch Barcelona« vergleicht Barrals »Parque de Montjuich« mit Biedmas »Barcelona ja no és bona […]«, Ferraters »Els jocs« und Goytisolos »Nochebuena con Rosa«. Die Kapitel zeigen zum einen die räumliche Transgression und zum anderen den Stadtspaziergang als Modi der Selbstverortung im Spektrum von Selbst- und Fremdwahrnehmung auf. Allen diesen Texten ist gemein, dass der Sprecher eine soziale Inklusionsoder Exklusionserfahrung macht und sich darüber seiner gesellschaftlichen Stellung bewusst wird. In González’ »Me falta una palabra, una palabra«41 präsentiert sich das lyrische Ich als Dichter, woraus seine Sonderstellung resultiert. Damit problematisiert »Me falta una palabra […]« die Perspektive des Sprechers als Dichter auf seine soziale Verortung, die aus den anderen hier betrachteten Texten allenfalls implizit abzulesen ist: Der Sprecher in Ferraters »Els jocs« charakterisiert sich als Intellektueller (»jo, com que sóc un doctrinari, ple / d’odis intel·lectuals«, V.63/64) und die lyrische Rede des Sprechers in Barrals »Parque de Montjuich« ist als Brief dem Paradigma des Schreibens zugeordnet. 4.2.1 Die Sonderstellung des Dichters Das Schlüsselwort »una palabra« erscheint fünf Mal in diesem kurzen, zweiundzwanzig Verse langen und einstrophigen Gedicht, vier Mal alleine in den ersten fünf Versen. Das lyrische Ich sucht »una palabra« (V.1,3,5), die nur einmal als »sencilla« gekennzeichnet wird (V.4). Das Adjektiv betont, dass das Problem eigentlich ein ganz einfaches ist, zumal es sich um ein Wort handelt, das sich mit einem anderen reimen soll, »que haga juego / con…« (V.5/6). Schwierig gestaltet sich nun aber die Lösung dieses Problems: Zum einen bleibt offen, welches Wort gemeint sein könnte, da auch das Reimwort nicht genannt wird. Zum anderen wird das Dichter-Ich bei seiner Suche regelmäßig abgelenkt – durch die Präsenz ärmlicher Figuren, die in der Betonung ihrer Physis im Gegensatz zu der intellektuellen Suche des lyrischen Ich nach einem Wort stehen.42 Der Text konstruiert diesen Gegensatz semantisch und typographisch: Zum einen erweckt er den optischen Eindruck strophischer Fragmentierung: Satzweise werden Passagen mehrerer kursiv gedruckter Verse von normal gedruckten Versen abgelöst.
41 Im Folgenden »Me falta una palabra […]«. 42 In Ferraters »Els jocs« stehen die intellektuellen »jocs dels sentits« (V.69) des lyrischen Ich einem beobachteten Basketballspiel gegenüber.
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Da sich der Textaufbau nicht an einem Versschema orientiert, sondern komplett frei gestaltet ist, gehen die kursiven und normal gedruckten Verse scheinbar ineinander über: Jeder neue Satz ist so eingerückt, dass er auf der Höhe einsetzt, auf der der letzte Vers des vorherigen Satzes endet. Damit stehen sich die zwei Drucktypen gegenüber. Dieser typographische Kontrast zeigt sich auch inhaltlich, da die Suche nach dem substanzlosen Wort der Misere der Figuren, die die Suche unterbrechen, gegenübergestellt wird. Diese Kontraste haben eine eminent ironische Funktion, die sich bereits im zweiten Vers zeigt: »Un niño pide pan; yo pido menos.« Die Alliteration »pide pan« – »pido« suggeriert die Ähnlichkeit zwischen den Objekten des Mangels und deutet deiktisch auf das fehlende Wort hin, welches über die mehrfachen Wiederholungen in den ersten Versen sehr präsent ist: »pide pan« – »pido una palabra«. Der semantische Gegensatz zwischen dem lebensnotwendigen Brot, welches dem Kind, und dem Wort, welches dem lyrischen Ich mangelt, begründet hier die Ironie. Der materielle Mangel an Brot mag nicht zu beheben sein, der an immateriellen Worten (»pido menos«) hingegen schon, weshalb das lyrische Ich vehement darauf insistiert, dass ihm geholfen werde: »La necesito: ¿No véis / que sufro?« (V.16/17). Dabei steht sein Bedürfnis und sein Leiden im krassen Kontrast zu den offensichtlich existentiellen Problemen der Figuren, die ihn bei der Suche unterbrechen: »Qué torpes / mujeres sucias me interrumpen / con su lento llorar…« (V.7-10), »gente rota« (V.14), »miles / de muertos« (V.14/15), »hombre / ceniciento« (V.18/19). Die Verben der Bewegung machen die Unterbrechungen der intellektuellen Suche des Ich zu einem räumlichen Ereignis: »Cruza«, »llegan« (V.14), »vino« (V.18). Deutlich wird aber spätestens ab den vorbeiziehenden Toten, dass es sich nicht um physisch anwesende Bittsteller handelt, sondern um imaginierte Vertreter des Leidens und des Todes (letzterer personifiziert durch den »hombre ceniciento«). In den nicht kursiv gesetzten Versen richtet sich das lyrische Ich im Imperativ an eine unspezifische Gruppe von Adressaten (»dadme« ,V.4; »comprended«, V.11), bei der es sich sowohl um die vorbeiziehenden Phantasmen handeln kann, wie auch um einen allgemein formulierten Hilferuf. Jedenfalls scheint das lyrische Ich eine Antwort auf seine Forderung zu erwarten, da jeglicher seiner Adressaten ihm zu dem Wort verhelfen könne, das ihm fehlt: »Comprended: cualquiera de vosotros, / olvidada en sus bolsos, en su cuerpo, / puede tener esa palabra« (V.11-13). In der Ansprache des Adressatenkollektivs wird die Opposition »pan« – »palabra« der ersten Verse verschmolzen: Das gesuchte Wort nimmt immer mehr einen körperlichen Charakter an. Entgegen dem zu erwartenden »en mente« kann jeder Mensch das fehlende Wort in seinen Taschen oder in seinem Körper finden. Dem Wort wird also eine ebenso materielle wie körperliche Dimension
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zugeschrieben wie dem Brot des Kindes. Brot und Wort haben aus der Perspektive des lyrischen Ich endgültig keine differenzierenden Qualitäten mehr. Gerade in dieser dem dichterischen Wort zugeschriebenen Bedeutung liegt aber auch die ironische Stellungnahme zur Bereitschaft des Dichters, das ihm so wichtige Wort mit der gleichen individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung wie der des Brotes zu verfolgen. Die Vehemenz, mit der das lyrische Ich auf seinem Wort beharrt, stellt die gesellschaftliche Funktion des Dichters und seine Möglichkeit, überhaupt Stellung zu beziehen, in Frage. Wenn das Dichter-Ich im letzten Vers seine Suche entnervt aufgibt, bleibt offen, ob dies aus Mitleid und Verstörung ob der gesellschaftlichen Missstände geschieht oder weil der Sprecher sich derart gestört fühlt, dass er seiner meta-physischen Tätigkeit nicht weiter nachgehen kann:43 »Ahora…/ ¡Una vez más! / Así no puedo« (V.20-22). In beiden Fällen ironisiert das lyrische Ich die gesellschaftliche Position des Dichters: Indem er seine intellektuelle Tätigkeit wegen der Störungen von außen aufgibt, nimmt er die Position eines »hijo de Dios«44 ein, dessen göttliche Inspiration als poeta vates paradoxerweise jedoch ausbleibt.45 Der Text selbst zeigt die Alternativen der Verweigerungshaltung des Sprechers auf. An der Stelle des ausbleibenden, durch Auslassungspunkte gekennzeichneten Reimwortes erscheint in Vers sieben ein kursiver Abschnitt, der die Sprecherrede unterbricht. Damit präsentiert der Text selbst die Lösung für das Problem des Dichter-Ich: Die gesellschaftlich relevanten Ereignisse müssen in das Gedicht eingebunden werden, um das moralisch-intellektuelle Problem kreativ zu wenden. Somit unterläuft der Text selbst die Aussage des lyrischen Ich: Die Misere Anderer lässt sein Gedichtprojekt scheitern, während seine Rede über das Dilemma alle notwendigen Aspekte integriert, um das Gedicht trotz des fehlenden Wortes zur
43 Für Benson bleiben dem Sprecher die sozialen Hintergründe verborgen: »Su perspectiva le oculta las razones sociales por la condición de ese niño, pero el lector las verá transparentes.« Benson, Douglas K. (1981), »La ironía, la función del hablante y la experiencia del lector en la poesía de Ángel González«, in: Hispania 64, S. 570-581, hier S. 575. 44 Gil de Biedma, Jaime (2001f), »Como en sí mismo, al fin«, in: ders. (2001c), S. 382398, hier S. 385. 45 Die Formulierung »hijo de Dios« illustriert sehr schön die Parallele, die »Me falta una palabra […]« zur ›Fleischwerdung des Wortes‹ im christlichen Schöpfungsmythos und in der »Speisung der Fünftausend« durch den Sohn Gottes im Markusevangelium aufbaut. Die Ironie des Gedichtes besteht darin, dass das dichterische Wort eine solche Wirkung nicht entfalten, der Dichter also die Rolle des poeta vates nicht erfüllen kann.
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Vollendung zu bringen. Erst, wenn der Dichter gesellschaftliche Aspekte in seine Rede einbringt, erlangt diese die Körperlichkeit, Materialität und Relevanz, die dem fehlenden Wort zugeschrieben werden. Indem das poetische Wort sich als Unmöglichkeit erweist, wird das mit diesem Problem kämpfende Dichter-Ich unwillentlich zu einem poeta social, a pesar de sí mismo: Indem er »[…] the long-standing polemic of pure versus impure poetry«46 anspricht, wird sein Text performativ zu einer ›dreckigen‹ Lyrik, wie sie in »Contra-Orden. (Poética por la que me pronuncio ciertos días.)« gefordert wird: »Esto es un poema. / Mantén sucia la estrofa. / Escupe dentro« (V.12-14). Liest man das »Así no puedo« weniger als Verweigerung des (engagierten) Schreibens, sondern als Ausdruck der Hilflosigkeit des lyrischen Ich, angesichts gesellschaftlicher Missstände die passende Sprache zu finden,47 dann lassen sich Parallelen zur Dichtungskritik Theodor W. Adornos feststellen. 1949 verfasst und 1951 in Deutschland publiziert wurde sein Aufsatz »Kulturkritik und Gesellschaft« allerdings erst 1962 von Manuel Sacristán ins Spanische übertragen,48 es wäre also reine Spekulation, ihn bei Ángel González bereits während der Genese von Áspero mundo als bekannt anzunehmen. Trotzdem scheint der Gedanke Adornos diesem Text von González nicht fernzustehen. Jenseits des zumeist verkürzt kolportierten ›Diktums‹ Adornos, es sei unmöglich, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, oder gar, als moralisches Verdikt, es dürften keine Gedichte mehr geschrieben werden,49 ist die Suche nach dem einfachen, passenden Wort, nach »[…] una sencilla / palabra que haga juego / con…« (V.4-6), von der Sorge bestimmt, das Sprechen über Verhängnisvolles könne in »Geschwätz« im Sinne Adornos umschlagen: »Je totaler die Gesellschaft, um so verdinglichter auch der Geist und umso paradoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. Noch das äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten
46 LaFollette Miller, Martha (1995), Politics and Verbal Play. The Ludic Poetry of Angel González, Cranbury, New Jersey u.a.: Associated University Press, S. 52. 47 So wie es Alarcos Llorach 1985 im Dialog mit Ángel González tut: »[…] [P]ara expresar lo que perturba al autor en el mundo la palabra poética no es suficiente.« Alarcos Llorach, Emilio (1996b), »El poeta y el crítico«, in: ders. (1996a), S. 191-292, hier S. 265. 48 Adorno, Theodor W. (1962), »La crítica de la cultura y de la sociedad«, in: ders., Prismas. La crítica de la cultura y de la sociedad, trad. de Manuel Sacristán, Barcelona: Ariel, S. 9-29. 49 Vgl. dazu den klärenden Artikel von Hofman, Klaus (2005), »Poetry after Auschwitz – Adorno’s Dictum«, in: German Life and Letters 58/2, S. 182-194.
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Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.«50
Der in den vorliegenden Texten präsentierte Lösungsansatz für diese Problematik lässt sich als poesía social im Sinne der »poesía de la experiencia« definieren. Die Sprecher versuchen nicht, problematische gesellschaftliche Situationen beschreibend zu erfassen, sondern situieren sich individuell innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges, was zu der lapidaren Schlussbemerkung in »Me falta una palabra […]« führt: »Así no puedo«. Das Gedicht grenzt sich somit stark von der poesía social der 40er und 50er Jahre ab, in der die Dichterfigur die Rolle einer ›Stimme des Volkes‹ einzunehmen versuchte.51 Biedmas »Barcelona ja no és bona […]« und Barrals »Un pueblo« erzielen diesen Effekt der individuellen gesellschaftlichen Verortung des Ich in expliziter Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition: In »Un pueblo« wird der Topos des idyllischen Landlebens neu- und umgeschrieben, in »Barcelona ja no és bona […]« der Topos der Ruinendichtung. Beide Texte werden durch ein Epigraph eingeleitet, das auf die literarische Tradition verweist: Es handelt sich um Abschnitte aus Antonio de Guevaras Menosprecio de corte y alabanza de aldea von 153952 und Rodrigo Caros »Canción a las ruinas de Itálica«53 (circa 1595). Während die moderne Version vom Lob des Landlebens dieses ironisch wendet, tritt das Motiv der Ruine als Symbol des Verfalls im ursprünglichen Sinn auf. In beiden Texten ist die literarische Tradition aber nur mehr Ausgangspunkt der Selbstverortung des Sprechers. Der exemplarische Charakter, den der Topos in den Renaissance-Texten einnimmt, weicht der individuellen Funktion der Selbstbestimmung. Die verallgemeinerbaren Aussagen, die Menosprecio de corte y alabanza de aldea und »Canción a las ruinas de Itálica« treffen, werden durch Aussagen ersetzt, die nur noch für das lyrische Ich gelten. Der literarische Topos wird somit zum kontrastierenden Kommentar einer individuellen gesellschaftlichen Situierung.
50 Adorno, Theodor W. (1975) [1951], »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 46-65, hier S. 65. 51 Vgl. auch Kapitel 6.1. 52 Guevara, Antonio de (1984) [1539], Menosprecio de corte y alabança de aldea, ed. de Asunción Rallo Gruss, Madrid: Cátedra. 53 Caro, Rodrigo, »Canción a las ruinas de Itálica o Sevilla la Vieja«, in: Caro, Miguel Antonio (Hrsg.) (1947), La canción a las ruinas de Itálica del licenciado Rodrigo Caro, Bogotá: Voluntad, S. 129-141.
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4.2.2 Situierung als Grenzüberschreitung Stadt vs. Land Bei Carlos Barral ist die Konstatierung eines Schichtbewusstseins besonders in Diecinueve figuras […] zu finden. Zwei Gedichte verhandeln das Aufeinandertreffen des aus der Stadt kommenden lyrischen Ich mit Dorfbewohnern auf dem Land oder am Meer im Zusammenhang mit einer räumlichen Grenzüberschreitung. »Un pueblo« verhandelt vor der Folie des Topos vom idyllischen Landleben des Epigraphs Menosprecio de corte y alabanza de aldea von Antonio de Guevara den touristischen Besuch von Städtern in einem Dorf. Die topische Beschreibung wird zunächst übernommen und das Dorf idealisierend dargestellt: »Oh bendita tú, aldea, a do la casa es mas ancha,
Para admirar aquella plaza antigua,
la gente mas sincera, el ayre mas limpio, el sol
hermosamente enferma de abandono,
mas claro, el suelo mas enjuto, la plaza mas des-
veníamos de lejos.
embarazada, la hora menos poblada, la republica
(Un pueblo es un paisaje
mas sin rencilla, el mantenimiento mas sano, el
de pintoresca tradición humana.)
exercicio mas continuo, la compañia mas segura,
(Barral, »Un pueblo«, V.1-5)
la fiesta mas festejada, y sobre todo los cuidados muy menores y los pasatiempos mucho mayores.«54
Eine Häufung beschreibender Adjektive in den ersten drei Strophen unterstreicht die idealisierte Sicht der Besucher auf das Dorf: »plaza antigua / hermosamente enferma de abandono« (V.1/2), »pintoresca tradición« (V.5), »calles empinadas« (V.6), »montes / azulados« (V.8/9), »sombra azucarada« (V.14). Nachdem die Besucher während des Tages die Dorfbewohner nur im Café gesehen haben, wo sie mit »paciencia mineral« Karten spielten (V.15/16), fällt der Abschied aus dem Dorf umso deutlicher als Bruch der Idylle aus: Nos íbamos. Los faros teñían de amarillo las piedras de la fuente cuando aquel golpe violento resonó en la chapa. (Barral, »Un pueblo«, V.22-25) 54 Orthographie und Interpunktion nach Barral (2003), S. 126. Es handelt sich um eine Passage aus Guevaras Kapitel VI: »Que en el [sic] aldea son los días más largos y más claros, y los bastimentos más baratos«. Guevara (1984), S. 169-174, hier S. 170.
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Während der Rückfahrt nach dem Vorfall wechselt der Sprecher von der ersten Person Plural in den Singular und sinniert über seine Relation zu den Bewohnern des »pueblo[ ] decrépito[ ]« (V.45) und seine eigene »presencia escandalosa« (V.37) im Dorf: »[…] Porque algo / que no sabía qué era nos marcaba, / algo que consistía en estar allí« (V.40-42). Aus dem eigentlich angenehmen Tagesausflug in das malerische Dörfchen erwächst das Bewusstsein einer Nichtzugehörigkeit, verdeutlicht durch den Vergleich »como una planta inoportuna« (V.47). Mit Lotman’schen Begrifflichkeiten wäre die Überschreitung der Grenze Stadt-Land und der als ›eigen‹ und ›fremd‹ semantisch opponierten Teilräume ein Skandalon, ein sujet.55 Letztlich misslingt dieses Ereignis, weil die ›Helden‹ das Auto als Medium der Grenzüberschreitung wieder nutzen, um in den ihnen angestammten städtischen Raum zurückzukehren. Ihr Eindringen in das Dorf ändert nichts an der Struktur der beiden Teilräume. Für das lyrische Ich führt die Begegnung mit dem indignierten Dorfbewohner zur Bewusstwerdung seiner selbst als nicht zugehörig zum fremden Milieu. Ganz im Sinne Sartres sieht er überall »la enemiga mirada« (V.39), das »›Erblickt-werden‹«56 durch den Anderen. Eine ähnliche Situation der Bewusstwerdung über den eigenen sozialen Status beinhaltet das Gedicht »Geografía o Historia«, in dem das lyrische Ich sich an eine Feier zu El Carmen in einem Dorf am Meer erinnert. Nach Spielen am Strand trifft das Kind auf die Festtagsprozession, welche von einem skandinavischen Paar beobachtet wird, deren Präsenz das Ereignis erinnerungswürdig macht (was durch den Wechsel vom Imperfekt der ersten Strophe zum historischen Präsens der folgenden unterstrichen wird), auch wenn »(las personas, las cosas / son las mismas que ayer y se dirían / extrañamente revividas)« (V.31-33). Die Fremden, »altos, hermosos, casi teóricos« (V.38) sind deshalb außergewöhnlich, weil sie einen Fotoapparat besitzen: »[é]l sostiene una cámara, registra / nuestro tamaño en el metal cromado« (V.43/44), so dass die Dorfbewohner »[…] inmortales / en una cartulina, por ejemplo / igual todos los años« (V.51-53) abgebildet werden. Je nachdem, von welchem Standpunkt aus es betrachtet wird, kann dieses Foto geographisches oder historisches Interesse hervorrufen, »según que nos observen / o cuando nos pensamos« (V.55/56). »La cámara fotográfica […] define el verdadero tamaño de un pueblo relegado a ser una curiosidad an-
55 Vgl. Lotman, Jurij (2006) [1970], »Künstlerischer Raum, Sujet und Figur«, übers. von Rainer Grübel, in: Dünne/Günzel (2006), S. 529-543, hier S. 538f. 56 Sartre, Jean-Paul (152009) [1943], Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, übers. von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek: Rowohlt, S. 503 (Herv. i.O.).
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tropológica.«57 Ob nun mit dem räumlichen Abstand der Skandinavier oder dem zeitlichen des erinnernden lyrischen Ich betrachtet, führen die Aufnahmen zu dessen Selbsterkenntnis, indem es den Kontrast zwischen den Bewohnern des Dorfes und den Touristen erkennt. Der Besuch von außen ist ähnlich angelegt wie der Kontrast zwischen Städtern und Dorfbewohnern in »Un pueblo«. In diesem Fall führt aber die Beobachtung dazu, dass sich das lyrische Ich ebenfalls aus der Außenperspektive betrachtet: »¡Qué oscura gente y qué encogidos vamos!« (V.57). Ein weiterer Kontrast, der aus der sozialen Bewusstwerdung des lyrischen Ich erwächst, wird in dem dritten Teil des aus fünf Abschnitten bestehenden Gedichtes »Hombre en la mar« erläutert. Das Gedicht verhandelt in jedem Abschnitt einen Aspekt der Beziehung des lyrischen Ich zum Meer im Laufe seines Lebens: Der Stolz des Jungen, von den Fischern als Erwachsener behandelt zu werden (I), die Rückzugsmöglichkeit, die das Meer Liebenden bietet (II), die Ausfahrt mit den Fischern, wenn der Fang ausbleibt (III), das Vergehen des Fischerberufes (IV) und schließlich die rahmende Reflexionssituation des lyrischen Ich an einem Strand (V). Obwohl sich der Sprecher im dritten Abschnitt als zugehörig zu den Fischern betrachtet und das Warten auf den Fang im Plural beschreibt (»nos«, V.63, »[m]irábamos«, V.64, »[s]oñábamos«, V.71,73), ist er doch nur als Gast an Bord (»a cada cual ponía / el fracaso distintas condiciones«, V.94/95) und nicht existentiell vom ausbleibenden Fang betroffen: Era del todo claro que yo no había perdido mi jornada y del todo inexacto que fuésemos iguales, ni siquiera en la mar […] (Barral, »Hombre en la mar«, III, V.96-100)
Auffällig ist, dass zur Markierung sozialer Unterschiede sowohl bei Barral als auch in Biedmas »Barcelona ja no és bona […]« und Ferraters »Els jocs« Automobile motivisch eine Rolle spielen.58 Wie schon in »Un pueblo« markiert
57 García Montero, Luis (2010), »Las lecciones de Carlos Barral«, in: Campo de Agramante: revista de literatura 13, S. 21-32, hier S. 22. 58 Riera zeigt die motivische Parallele des Autos als Symbol des »status social« zwischen »Sol de invierno«, »Un pueblo« und »Barcelona ja no és bona […]« auf. Vgl. Riera (1990), S. 82 (Herv. i.O.).
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auch in »Sol de invierno« das Auto, mit dem das lyrische Ich und seine Begleitung ins Dorf oder ans Meer fahren, um dort einen Tag zu verbringen, den Unterschied zwischen den sozialen Gruppen. Denn auch wenn in »Un pueblo« der Gegensatz zwischen Dorfbewohnern und Besuchern durch das Ausbleiben von Kommunikation aufgebaut wird und im Gegensatz dazu die Fischer in »Sol de invierno« als »los viejos pescadores / los amigos del pueblo« (V.5/6) beschrieben werden, so sind diese trotzdem durch eine Romantik geprägt, die ihnen in der auf die Selbstwahrnehmung projizierte Fremdwahrnehmung zukommt: »Eran nuestros amigos. El cariño / que les tenían les hacía reír, / los ayudaba en su papel de pintorescos« (V.35-37). Schließlich ist hier und in »Un pueblo« das Auto, das dort Objekt der Aggression wird und zu dem das lyrische Ich hier begleitet wird (»nos escoltaban a la esquina próxima / donde estaba aguardando el automóvil«, V.45/46) Symbol einer Grenzüberschreitung, die der Aufenthalt im Dorf für das lyrische Ich mit sich bringt: Es hält sich dort nur vorübergehend auf und selbst in der freundschaftlichen Atmosphäre des Fischerdorfes ist das Auto »anguloso y solemne como un acorazado« (V.47). In dem hyperbolischen Vergleich mit einem Panzer verdeutlicht sich die doppelte Unzugehörigkeit des lyrischen Ich an diesen Ort: Das Fahrzeug wirkt feindlich und bietet doch Schutz, da es Vehikel zur Fahrt in einen anderen Raum ist, in dem das lyrische Ich mehr beheimatet ist. 4.2.3 Situierung als Spaziergang durch Barcelona Plena de carrers per on he tombat per no passar els indrets que em coneixien. Plena de veus que m’han cridat pel nom. Plena de cambres on he cobrat records. Plena de finestres des d’on he vist créixer les piles de sols i de pluges que se m’han fet anys. Plena de dones que he seguit amb la vista. Plena de nens que només sabran coses que jo sé, i que no vull dir-los. (FERRATER, »LA CIUTAT«)
Ein similarer Aspekt der sozialen Verortung des Ich in den vorliegenden Gedichten ist die Erfahrung des städtischen Raumes im Allgemeinen59 und des Raumes
59 Die Rede von den »poetas industriales« der 1950er Jahre, deren Dichtung vom städtischen Alltag geprägt gewesen sei, zieht sich durch die Sekundärliteratur, seit José
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der Stadt Barcelona im Besonderen. Im Folgenden sollen »Barcelona ja no és bona […]« von Biedma, »Els jocs« von Ferrater und »Nochebuena con Rosa« von Goytisolo in Zusammenhang mit Barrals »Parque de Montjuich« gelesen werden – unter Berücksichtigung der besonderen Fokalisierung der Stadterfahrung durch den Spaziergänger und der damit verbundenen Gesellschaftskritik. Die für »Un pueblo« und »Sol de invierno« erprobte raumsemantische Analyse unter Berücksichtigung der Lotman’schen Kategorie der Grenzüberschreitung soll hier Grundlage für eine erweiterte Thematisierung der Selbst- und Fremdwahrnehmung durch das Dispositiv der Stadt sein. »Parque de Montjuich« von Barral verhandelt wie »Barcelona ja no és bona […]« eine Stadtbetrachtung vom/am Montjuïc60, während »Els jocs« einen Barcelona-Spaziergang in einem nordwestlichen Teil der Oberstadt beschreibt. »Nochebuena con Rosa« verortet den Sprechgegenstand als Gang durch die Altstadt Barcelonas. Der Schwerpunkt der Analyse soll auf dem Aspekt des Spazierganges liegen, der »Els jocs«, »Barcelona ja no és bona […]« und »Nochebuena con Rosa« gemeinsam ist. In allen vier Gedichten wird die Stadt als Text, als zu lesender Raum, präsentiert.61 Dieser Text »Stadt« ist aber nicht nur implizit zu interpretierender Raum, sondern seine Lesbarkeit wird explizit thematisiert. Die »Textstadt«62 als modellierte Variante der realen Referenz Barcelona ruft eine dem lyrischen Ich individuelle Reihe an Reflexionen im Anschluss an das in der Stadt Wahrgenommene hervor. Unter Rückgriff auf de Certeaus Kunst des Handelns63 sollen die unter-
Hierro bei der Lesung von Barral, Biedma und Goytisolo im Madrider Ateneo 1959 sie so bezeichnete. Vgl. Pena (1997), S. 13, und Julià (2004c), »Poesía y urbanismo (Taller de arquitectura de José Agustín Goytisolo)«, in: ders. (2004a), La mirada de Paris. Ensayos de crítica y poesía, México D.F.: Siglo Veintiuno Editores, S. 137158, hier S. 137. 60 Barral verwendet die altkatalanische Schreibweise, während ich mich an der aktuellen orientiere. 61 Vgl. Barthes, Roland (1985), »Sémiologie et urbanisme«, in: ders., L’aventure sémiologique, Paris: Seuil, S. 261-271, hier S. 263, und Butor, Michel (1992), Die Stadt als Text, übers. von Helmut Scheffel, Graz/Wien: Droschl, S. 14. 62 Mahler verwendet den Begriff der »Textstadt« »[…] als Bezeichnung für die durch die Zeichen des jeweiligen Stadttextes ›transportierte‹/produzierte Bedeutung […].« Mahler, Andreas (1999), »Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution«, in: ders. (Hrsg.), Stadt-Bilder. Allegorie. Mimesis. Imagination, Heidelberg: Winter, S. 11-36, hier S. 12. 63 Certeau, Michel de (1988) [1980], Kunst des Handelns, übers. von Ronald Voullié, Berlin: Merve.
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schiedlichen Selbstverortungen der Sprecher in der Stadt und in ihrem sozialen Gefüge systematisiert werden. Diese lassen sich aus der unterschiedlichen Perspektivierung der Stadtbetrachtung in den Spaziergängen von »Els jocs«, »Barcelona ja no és bona […]« und »Nochebuena con Rosa« im Vergleich zu der ›unbeweglichen‹, d.h. nicht aus der Perspektive eines flâneur verfassten Aussicht vom »Parque de Montjuich«, ableiten. Bourgeoisie vs. Arbeiter Jaime Gil de Biedmas Gedicht »Barcelona ja no és bona […]« beschreibt einen Spaziergang des lyrischen Ich auf dem Montjuïc, dem Berg am Rande der Altstadt Barcelonas, der zum Meer und zum Hafen hin abfällt, an seinen Hängen bebaut und im oberen Bereich weitläufig als Park angelegt ist. Dort fand 1929 die Weltausstellung statt (»Era en el año de la Exposición«, V.24). Es handelt sich somit um einen prototypischen Aspekt64 der Stadt Barcelona, der zusätzlich zum Titel die räumliche Verortung expliziert: Die »avenida de los tilos« (V.6), der Ausflugspunkt »Miramar« (V.8) vor dem Hintergrund von Hafen und Stadt sowie »montaña arriba« (V.62) die Befestigungsanlage (»castillo«, V.62) sind deutliche Referenzen. Der Raum, den das lyrische Ich bei dem im Titel genannten »paseo solitario« (der auch im weiteren Text isotopisch wieder aufgerufen wird: »mis paseos«, V.34; »yo subo«, V.65) durchmisst, hat zwei Komponenten. Zum einen die Relikte einer vormals reichen städtischen Bourgeoisie. Die verfallenen Villen, die »palacios« (V.55) und »sitios destartalados« (V.28) lösen Erinnerungen an die Kindheit des Spazierenden aus und stehen in Kontinuität zur Folie der Ruinendichtung Rodrigo Caros aus dem Epigraph, dessen erster Vers im vorletzten Vers des Gedichtes wieder aufgenommen wird: Este despedazado anfiteatro, ímpio honor de los dioses, cuya afrenta publica el amarillo jaramago, ya reducido a trágico teatro, ¡oh fábula del tiempo! Representa cuánta fue su grandeza y es su estrago. (Rodrigo Caro, »Canción a las ruinas de Itálica«, V.18-23) yo busco en mis paseos los tristes edificios, las estatuas manchadas con lápiz de labios, los rincones del parque pasados de moda 64 Vgl. Mahler (1999), S. 15.
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[…] Este despedazado anfiteatro de las nostalgias de una burguesía. (Gil de Biedma, »Barcelona ja no és bona […]«, V.34-38,77/78)
Zum anderen ist der Berg nun der Wohnraum aus Andalusien immigrierter Arbeiter (»murcianos«, V.64). Ausgehend von der Beschreibung der Umgebung werden zwei kontrastierende Welten entworfen: jene vergangene einer vormals sorglosen Bourgeoisie und diese gegenwärtige eines urbanen Prekariats. Bezeichnend ist dabei, dass die Welt des städtischen Bürgertums nicht aus der direkten Betrachtung, sondern in einer Verquickung von Erinnerung und Imagination dargestellt wird. Beim Spazieren durch den städtischen Randbereich Montjuïc stellt sich das lyrische Ich seine Eltern beim Ausflug nach Miramar vor. Das Auto kennzeichnet ihren gehobenen sozialen Stand: »Entonces, los dos eran muy jóvenes / y tenían el Chrysler amarillo y negro« (V.4/5). In der Imagination des lyrischen Ich fällt die Aufmerksamkeit des Vaters auf einen teureren Wagen, der wie in Barrals »Sol de invierno« mit einem Kriegsgerät assoziiert wird: »él examina un coche muchísimo más caro / un Duesemberg sport con doble parabrisas, / bello como una máquina de guerra–« (V.17-19). In der Verbindung des Autos als Symbol einer gehobenen gesellschaftlichen Schicht mit der abweisenden, aber auch faszinierenden Schönheit einer Kriegsmaschine steht das Auto am Ort der Spazierfahrt der Eltern im Kontrast zur spazierengehenden Fortbewegung des Sprechers und zu der Entwicklung, die der Montjuïc genommen hat: Er ist zu einem »[…] despedazado anfiteatro / de las nostalgias de una burguesía« (V.77/78) verkommen. Schon anlässlich der Betrachtung des vormals gehobenen Viertels offenbart das lyrische Ich »este resentimiento / contra la clase en que nací« (V.42/43). Die Überreste der Villen verbleiben als räumliche Reliquien einer Epoche der »pax burguesa« (V.51). Sie vereinen als Chronotopos65 Raum und Zeit, da sie die Vergangenheit der Schicht, welcher das lyrische Ich angehört, verkörpern und ihre Dekadenz aufzeigen. Im gegenwärtigen Lebensraum Montjuïc zeigt sich aber auch das Hier und Jetzt einer ganz anderen sozialen Schicht. An die Kritik des durch die imaginierte Erinnerung in verstärkter Weise als Illusion entlarvten »capitalismo de empresa familiar« (V.49) schließt sich eine sozialpolitische Forderung an, für die der beschriebene Raum am Montjuïc als pars pro toto essentiell ist: Die einge65 Vgl. Bachtin, Michail M. 1978 [1975], »Troisième étude. Formes du temps et du chronotope dans le roman. (Essais de poétique historique)«, in: ders., Esthétique et théorie du roman, Paris: Gallimard, S. 235-398.
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wanderten Arbeiter sollen die ganze Stadt übernehmen, so wie bis dato den Montjuïc. Dieser wird zum räumlichen Anstoß einer Reflexionskette, indem er sowohl für eine spezifische soziale Schicht der Vergangenheit – durch die Relikte der Bourgeoisie – als auch für eine andere der Gegenwart steht. Das lyrische Ich bewegt sich in diesem (»por el tiempo y las manos del resto de los hombres«, V.46) umgedeuteten Raum als Fremder, der den Anderen mit Sympathie begegnet, sich aber trotz dessen durch seine Herkunft in einer unüberwindbaren Distanz zu ihnen befindet: Y yo subo por las escalinatas sintiéndome observado, tropezando en las piedras en donde las higueras agarran sus raíces, mientras oigo a estos chavas nacidos en el Sur hablarse en catalán, y pienso, a un mismo tiempo en mi pasado y en su porvenir. (Gil de Biedma, »Barcelona ja no és bona […]«, V.62-70)
Das lyrische Ich fühlt sich den »murcianos« zwar zugetan, ähnlich wie der Sprecher in Barrals »Sol de invierno« den Fischern, befindet sich aber dennoch nicht in einem ihm angestammten Raum. Auf dem vormaligen Terrain seiner Gesellschaftsschicht kann er sich nur mehr stolpernd vorwärts bewegen und fühlt sich beobachtet – wie das lyrische Ich in Barrals »Un pueblo«. Der Blick des Anderen als »[…] reiner Verweis auf mich selbst«66 ist auch hier konstitutiv: »Y pienso, a un mismo tiempo, / en mi pasado y en su porvenir« (V.69/70). Der Sprecher muss jedoch feststellen, dass er beiden Gruppen nicht zugehörig ist, auch wenn er seine Überlegungen mit einer sozialen Forderung zu Gunsten der »murcianos« beschließt: Sean ellos sin más preparación que su instinto de vida más fuertes al final que el patrón que les paga y que el salta-taulells que les desprecia: que la ciudad les pertenezca un día. Como les pertenece esta montaña (Gil de Biedma, »Barcelona ja no és bona […]«, V.71-76)
66 Sartre (2009), S. 467.
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Beim Spaziergang des Sprechers ereignet sich somit eine nicht-sujethafte Grenzüberschreitung zwischen den als ›arm‹ und ›reich‹ semantisch opponierten Teilräumen im Lotman’schen Sinne, auch wenn die Räume chronologisch und nicht topographisch voneinander abgegrenzt sind: Das lyrische Ich betritt einen ihm ehemals angestammten Bereich, der nun zum Terrain einer anderen sozialen Gruppe geworden ist. Der Spaziergänger bemüht sich um ein Verständnis der Anderen, kommt aber nicht über dieses hinaus, da er nicht in ihren Raum gehört – weshalb er sich beobachtet fühlt: Das Betreten des fremden Territoriums führt nicht zu einer Veränderung der Kondition des Ich. Somit erfährt die Raummodellierung hier zwei Ziele, die schließlich ineinander münden. Zum einen ist der Raum Auslöser einer imaginiert überformten Erinnerung: Das lyrische Ich imaginiert die Vergangenheit nach alten Fotos (»con los trajes que he visto en las fotografías«, V.16), ausgehend von der Betrachtung der auf diesen Bildern fixierten Personen und Schauplätze. Die Stadt wird nach Walter Benjamin somit zum »[…] mnemotechnischen Behelf des einsam Spazierenden […]«, wobei die Straße in Konkurrenz zum Fotoalbum tritt, da sie mehr hervorrufe als die Kindheit und Jugend des Erinnernden und mehr als ihre eigene Geschichte.67 Zum anderen zeigt die Raummodellierung den Kontrast zwischen realer und erinnerter bzw. imaginierter Welt und dem daraus resultierenden Zugehörigkeitskonflikt des Individuums auf. Der Raum gibt also Anlass zu einer Reflexion über Identität. Denker vs. Arbeiter In Gabriel Ferraters »Els jocs« befindet sich das lyrische Ich ebenfalls auf einem Spaziergang durch Barcelona (»caminar«, V.2; »m’arribo«, V.10; »vaig«, V.21; »vaig passejant«, V.37), allerdings abseits prototypischer Wiedererkennungsorte; eine Lokalisierung wird erst anhand des »club de tenis de Barcelona« (V.10) möglich. Die vor dem Club geparkten Autos werden durch eine ironische Personifikation als Statussymbole ihrer Besitzer beschrieben: […] vaig mirant els cotxes que s’arrengleren a la porta, plens de la voluntat bona de ser cotxes de rics […] (Ferrater, »Els jocs«, V.11-14)
67 Benjamin, Walter (1966) [1929], »Die Wiederkehr des Flaneurs«, in: ders., Angelus Novus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 416-421, hier S. 416.
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Im Gegensatz zu den Gedichten bei Barral, in denen das Auto als Vehikel der Grenzüberschreitung, aber auch der Rückkehr in den angestammten Raum dient, wird hier, wie bei Biedma, der Fokus auf die Marke des Fahrzeugs gelegt, womit auch die Grenzen des Reichtums ironisch aufgezeigt werden: […] Hi ha un MG d’esport, del nou model disminuït que no fa gaire vaig llegir que ha estat fet per une certaine couche d’acheteurs qui trouvent les modèles existants trop chers: i vol dir els rics barcelonins, suposo. (Ferrater, »Els jocs«, V.15-20)
Soziale Differenzen werden im Folgenden markiert, wenn der beobachtende Spaziergänger das Aufeinandertreffen zweier Kindergruppen beschreibt: Auf der einen Seite, im Club, die Kinder der reichen Tennisspieler, die selbst, ganz in Weiß, wenig enthusiastisch (»no hi posa prou convicció […]«, V.26) das Spiel lernen. Auf der anderen Seite ärmere Kinder, die vor dem Club Fußball spielen und sich in ihrer Kondition schon durch die Art des Spiels und ihre Kleidung unterscheiden: dem »blanc immaculat« (V.25) der reichen Kinder stehen die »nens molt bruts« (V.28) gegenüber, die »més vivament« (V.30) Fußball spielen. Die beiden Gruppen werden miteinander konfrontiert, als ein Junge einen Tennisball wiederholen muss, der aus dem Club auf die Straße gefallen ist. Auch er muss dabei eine Grenzüberschreitung begehen, die allerdings nur vorübergehend ausfällt: Er betritt das Territorium der Fußballspieler erst, als er genau ausgemacht hat, wo der Ball liegt, und kehrt unter dem Gelächter der fremden Kinder schnell in den Club zurück. Der Sprecher beschreibt die Beobachtungen als immer wiederkehrende: »[…] sempre els cauen / pilotes fora« (V.23/24). Wenn er dann beobachtet wie »[s]urt el nen« (V.25) »[…] i se’n torna / corrents, mort de vergonya si ensopega« (V.33/34), so beschreibt er trotz des bestimmten Artikels »el« eine allgemeine Handlung, die sich wiederholt, was durch das »si ensopega« verdeutlicht wird: Der Junge stolpert nicht in einer bestimmten, in der Rede des lyrischen Ich dargestellten Situation, sondern die sich wiederholende Überschreitung der Grenze zwischen Tennis und Fußball spielenden Kindern ist gerade in den Fällen besonders problematisch, wenn der Junge stolpert und von den anderen Kindern verhöhnt wird, so dass es nicht zu einer Annäherung, sondern zur Rückkehr in den etablierten sozialen Raum kommt. Nach der Beobachtung der spielenden Kinder wird der bislang ziellose Spaziergang des lyrischen Ich motiviert: »Vaig passejant, i ara sé on em porto«
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(V.37). Ziel ist ein weiteres Spielfeld, auf dem erwachsene Fabrikarbeiter in den Abendstunden Basketball spielen (»[…] es distreuen, / cansats de empaquetar o d’escriure a màquina«, V.65/66). Nun durchschreitet nicht mehr nur das lyrische Ich gerichtet den Raum, sondern anhand des Ballspiels wird explizit eine Raumpraxis beschrieben. Männer und Frauen spielen gemeinsam, aus Spaß, aber mit einem gewissen Ernst: Sie erproben neue Positionen auf dem Feld, verbinden sie miteinander und spielen in Zweier-Teams, von denen dem lyrischen Ich besonders ein Mädchen und ein Junge auffallen, die sich gegenseitig ergänzen und gut zusammenspielen. Ausgehend von diesen Beobachtungen schließt das lyrische Ich in den letzten Versen eine Reflexionskette an, die schon am Beginn des Gedichtes angelegt ist: Der Spaziergang führt durch ein »barri extrem« Barcelonas. Das mag auf die dort beheimatete soziale Schicht bezogen sein, denn die Beschreibung beinhaltet wieder ein eher prekäres Umfeld (»[…] l’envà de cantell / i el munt de bigues menjat per la crosta / de pols i pluja vella«, V.5/6), in dem sich sechs Mädchen vor einer Eisdiele ein Paar quietschende Rollschuhe teilen – auch hier findet sich die Durchmessung des Raums durch Bewegung. Das »barri extrem« ist aber nicht nur soziale, sondern auch räumliche Peripherie (in Analogie zum Montjuïc), zumal der Tennisclub Barcelona noch heute im nordwestlichen Randbereich der Stadt liegt. Hier überschreitet nun der junge Tennisspieler eine semantische und soziale Grenze, indem er sich in das Territorium der Fußballspieler vorwagt – auch wenn er sofort wieder in seinen eigenen Raum zurückkehrt. Der Sprecher hingegen bleibt gänzlich am Rande der die unterschiedlichen Gruppen definierenden Räume und bekennt sich dazu, dass er, besonders bezüglich der Basketball spielenden Arbeiter, nicht dazugehört. Als Intellektueller (»jo, com que sóc un doctrinari, ple / d’odis intel·lectuals«, V.63/64) nimmt er nicht an einem Gruppenspiel teil, sondern fragt sich nach dem Sinn hinter den beobachteten Orten und den zwischen ihnen stattfindenden Bewegungen und räumlichen Positionswechseln. Sein Schritt im »barri extrem« mag nicht nur deshalb unsicher sein, weil er sich, wie das lyrische Ich bei Biedma, beobachtet oder vielleicht sogar bedroht fühlt, sondern weil die Peripherie der Stadt ihn dazu anregt, seinen Beobachtungen Bedeutung zuzuweisen (»algun sentit més ferm que l’envà de cantell«, V.3/4). Die sportlichen Betätigungen, vor allem das Basketballspiel, für dessen Spieler das lyrische Ich bei Ferrater genauso Sympathie hegt wie der Sprecher bei Biedma für die »murcianos«, katalysieren die Reflexionen seiner solitären intellektuellen Spiele, wenngleich eine genaue Deutung offen bleibt: »Vull creure / que els moviments precisos d’aquests cossos / fan un bon prece-
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dent, no sé de què« (V.70-72). Der spazierende Intellektuelle bleibt damit interpretierender Beobachter, der nicht am Geschehen teilnimmt. Oberstadt vs. Unterstadt Die Sprechsituation von »Nochebuena con Rosa« unterscheidet sich dadurch von allen anderen in diesem Kapitel behandelten Gedichten, dass hier zwar auch ein Sprecher die Stadt zu Fuß durchquert, dies aber nicht allein tut (»Anduvimos perdidos«, V.12). Außerdem wird die Wahrnehmung des gemeinsamen Spazierganges durch die Anrede der ebenfalls anwesenden Rezipientin rückblickend dargestellt: »¿Lo recuerdas, Rosa?« (V.11). Die Angesprochene ist zugleich Zeugin des Geschehens (»tú lo viste«, V.67) und der Deutungen, die das lyrische Ich diesem nun zukommen lässt. Der Sprecher erinnert einen Spaziergang in der Weihnachtsnacht mit einer Gruppe von Bekannten, zu der die Adressatin Rosa, die Frau des Sprechers (»mi mujer«, V.16) und »Carlos e Ivonne« (V.18) gehören, durch die Altstadt Barcelonas und ein dort gefeiertes, wenig christlich motiviertes Weihnachtsfest: »No, no fue aquella noche / una noche cualquiera en Barcelona« (V.1/2). Mit dem Verweis auf Carlos Barral und dessen Frau Ivonne findet eine Referentialisierung statt, die den Sprecher als ›José Agustín Goytisolo‹ ausweist. Die Freundesgruppe verbringt den Weihnachtsabend im »barrio viejo« (V.13). Dort findet in einfacher und heruntergekommener Umgebung (»[…] bares de plástico y cañizo«, V.15; »explanada en ruinas«, V.23; »tabernucha«, V.31) ein Fest in populärkulturellem Rahmen statt (»zambomba«, V.8; »pandereta«, V.9; »copla«, V.27), welches von den Angehörigen niedrigerer Schichten gefeiert wird: »[…] las viejas putas /[…]/ bebían y bailaban« (V.3234). Im expliziten Kontrast zum christlichen Weihnachtsfest wird hier bis zum Morgengrauen eine Gegenfeier begangen: […] las ramblas que eran ya con la luz del alba. Sí, fue distinta aquella noche, pero no por lo que otros celebraban al acudir a misa (Goytisolo, »Nochebuena con Rosa«, V.51-55)
Während andere die »misa del gallo« feiern (»[…]las campanas / repicaron alegremente al dar la medianoche«, V.3/4), wird hier gesungen und getrunken, das Fest in der Altstadt hat keinen religiösen Charakter und wird in bewusster Abgrenzung von den »otros« und mit anderem Hintergrund begangen: »Era una noche libre« (V.57), welche den Menschen, die sonst nicht im öffentlichen Stadt-
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bild erscheinen, wie die Prostituierten, eine Stimme und eine Aktionsmöglichkeit verleiht: […] los hombres y mujeres enmudecidos, casi siempre anónimos, esos que no están nunca en las calles hipócritas de esta ciudad de anuncios y fachadas (Goytisolo, »Nochebuena con Rosa«, V.60-64)
Im Kontext des Franco-Regimes, in dem das christliche Begehen des Weihnachtsfestes mit »al acudir a misa« Inbegriff des Nationalkatholizismus ist, wird hier das Recht der einfachen Leute bestärkt, aus dem Schatten zu treten und die heuchlerische Stadt zu bevölkern. Es sind Menschen, welche im offiziellen Leben keinen Platz haben und ein passives Leben führen. Durch den Rekurs auf Dámaso Alonsos einleitendes Gedicht, »Insomnio«, seines 1944 Furore machenden existentialistisch geprägten Gedichtbandes Hijos de la ira und die Metapher der Stadtbewohner als Kadaver zu Lebzeiten (»Madrid es una ciudad de más de un millón / de cadáveres (según las últimas estadís- / ticas)«, V.1/268) wird diese Passivität betont: […] esta ciudad de anuncios y fachadas, que esconde entre sus muros la impotencia de casi dos millones de personas (Goytisolo, »Nochebuena con Rosa«, V.64-67)
Die durch Wiederholungen geprägten letzten Verse stellen eine paradoxale Behauptung der Menschen gegenüber dem Regime dar, die weder vollkommen positiv noch vollkommen negativ bewertet werden kann: »Una extraña alegría / con deje de amargura« (V.38/39). Die Menschen der Stadt sind noch in der Lage, sich trotz ihrer Ohnmacht ihre Fröhlichkeit zu bewahren. Die Anapher und die fast chiastische Doppelung des dem Verb einmal vor- und einmal nachgestellten »todavía« betonen allerdings auch, dass sich diese Fröhlichkeit unter widrigen Umständen gehalten hat und vergänglich ist: »que todavía ríen tú lo viste / que cantan todavía« (V.67/68).
68 Alonso, Dámaso (152001) [1944], Hijos de la ira, ed. de Fanny Rubio, Madrid: Espasa Calpe, S. 81.
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Nicht nur das lyrische Ich erscheint durch den rückblickenden Sprechstandpunkt als Beobachter der feiernden Menschenmenge (»un río humano de bullicio y fiesta«, V.53), sondern auch das lyrische Du betrachtet das Geschehen mit besonderer Aufmerksamkeit: »[…] Tú mirabas / despeinada y absorta por todos / los rincones preguntabas« (V.40-42). Die Beobachterposition führt dazu, dass der Sprecher, trotz der wiederholten Eingliederung in die erste Person Plural (»Anduvimos«, V.12; »nosotros«, V.19,50; »vimos«, V.26; »fuimos«, V.30; »nuestras voces«, V.35) als randständiger Beobachter mit »Rosa« eine Einheit bildet und durch seine Erinnerungsbemühung Abstand zum Geschehen erlangt: »[…] Sólo os recuerdo / a ti y a las mujeres« (V.48/49). Besucher vs. Einheimische Die binnenpragmatische Situation in »Parque de Montjuich« ist eine grundlegend andere als in den vorhergehenden Texten. Das lyrische Ich schreibt einen Brief (»Te escribo en una pausa de lluvia«, V.1), was an sich schon eine Lokalisierung bezüglich des Sprecherstandpunktes bedeutet. Dieser beeinflusst maßgeblich das Gesagte bzw. Geschriebene. Während sich die Sprecher bei Biedma und Ferrater spazierengehend fortbewegen und dabei das Gesehene beschreiben und reflektieren, blickt das lyrische Ich in Goytisolos »Nochebuena con Rosa« auf den nächtlichen Stadtspaziergang zurück. Das lyrische Ich bei Barral bleibt hingegen auf seinem Aussichtspunkt sitzen (»desde una balaustrada de cemento«, V.3) und beschreibt die ihm so fremde Stadt (»¡Qué lugar tan extraño!«, V.8), die er als Reisender durchquert hat (»por la que no me importa haber pasado«, V.60), aus der Oberperspektive. Die Betrachtung der Stadt von oben verbindet sich hier mit der Rekapitulation vorheriger Eindrücke. Besonders deutlich wird die Aufsicht in der zweiten Strophe, welche komplett der überblickenden Perspektive des Schreibenden zuzuordnen ist. Sein Blick trifft zunächst Ruinen,69 Straßen und dann die Stadt, die sich unterhalb des Berges bis hin zum Meer ausdehnt. Dem Überblick entsprechend bleibt er dann an von oben gut sichtbaren Türmen, Kirchtürmen und Schornsteinen hängen, um schließlich bis zu den grünen Ausläufern der Stadt zu schweifen. Danach kehrt er an seinen Ausgangspunkt zurück und nimmt die dortigen »[…] casas como cuarteles« (V.20) in Augenschein. Auch die sich anschließende Aufzählung dessen, was an der Stadt bemerkenswert erscheint, bleibt diesem Überblickscharakter treu, verstärkt durch kurze, in Asyndeton-Struktur aneinandergereihte Sätze. Auffällig ist, dass hier explizit ein Aspekt Barcelonas genannt wird, der in »Barcelona ja
69 Es mag sich um die in »Barcelona ja no és bona […]« erwähnten verfallenen Villen handeln.
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no és bona […]« und »Els jocs« nur implizit zur Sprache kommt: der catalanisme. Während Biedma zwar im Titel und anhand eines kolloquialen Begriffs (»salta-taulells«, V.74) die katalanische Sprache verwendet, die bereits von den eingewanderten Arbeitern aus Andalusien gesprochen wird (»mientras oigo a estos chavas nacidos en el Sur / hablarse en catalán«, V.68/69), ist Ferraters Text zwar auf Katalanisch verfasst, belässt eine weitere Referenz aber bei einer metonymischen Anspielung: Das Mädchen, welches dem lyrischen Ich beim Basketballspiel besonders auffällt, trägt ein wie die Fahne Kataloniens gelb und rot gestreiftes Trikot. Bei Barral hingegen wird das Katalanische direkt als »lengua prohibida« (V.43) angesprochen, außerdem auch die »fiereza« (V.46), mit der die Bewohner der Stadt ihre Rechte verteidigen. Abschließend wird der Eindruck der Stadt, der viele noch heute gültige Clichés über Katalonien und besonders Barcelona bedient, ironisierend abgeschlossen. Nachdem dem Gedicht bis hierher ein skeptischer Unterton beiwohnt (»¡Qué lugar tan extraño!«, V.8), der zum Teil ins Negative umschlägt (»una industria / mediocre«, V. 49/50), urteilt das lyrische Ich unvermittelt mit einer hyperbolischen unglaubwürdigen Struktur: »Y es hermoso / como es hermosa la ciudad y el campo / que la viste. / Belleza sin tamaño.« (V.52-55). Trotzdem erscheint die Stadt dem Sprecher nur »tal vez interesante« (V. 57), weshalb er den Brief mit der lapidaren Bemerkung schließt, dass er es nicht bereut, sie als Reisender ›passiert‹ zu haben. Karte vs. parcours Mit de Certeau können in diesen Stadtwahrnehmungen nun zwei kontrastierende Arten der Stadtrepräsentation und -erfahrung durch die Formen der Karte und des parcours verdeutlicht werden. Das Bild der Karte entwickelt de Certeau aus dem vormaligen Inbegriff der Stadtbetrachtung von oben: dem Blick auf New York vom World Trade Center.70 Die erhöhte Stellung, so de Certeau, erlaube es dem Betrachter, Distanz zur Stadt aufzunehmen und ihren Text zu lesen, wofür er sich aus dem alltäglichen Tun heraushalten und ihm fremd werden müsse.71 Als Fußgänger sei er zu sehr in das Schreiben des Textes involviert, weshalb ihm der nötige Überblick fehle, um ihn zu lesen.72 Das Gehen sei für die Stadt, so de
70 Vgl. Certeau (1988), S. 179. 71 Vgl. ebd., S. 180. 72 Was auch daran liegt, dass sich die städtische Geschichte ›von unten‹ alltäglich neu und anders schreibt, weshalb de Certeau von einer »Fremdheit des Alltäglichen« spricht, die der überblickenden, panoptischen Zusammenschau des Betrachters von oben entgeht (vgl. ebd., S. 182).
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Certeau weiter, das, was der Akt des Sprechens für die Sprache sei. Diesem Vergleich folgend schreibt er dem Gehen als »Raum der Äußerung«73 eine durch Synekdoche und Asyndeton gekennzeichnete Rhetorik zu.74 Eng miteinander verknüpft führten diese beiden geh-rhetorischen Figuren dazu, dass ein Raumelement ausgewählt und an die Stelle des Ganzen gesetzt werde, während gleichzeitig der so behandelte Raum sich in »vergrößerte Singularitäten« und »voneinander getrennte Inseln« verwandele.75 Das Wandern zwischen diesen Bedeutungsinseln, so de Certeau, habe zur Folge, dass man kontinuierlich den Ort verfehle, nach etwas Eigenem suche und somit das von der Stadt potenzierte Herumirren zu zahllosen kleinen Entwurzelungen führe.76 Wichtig ist in diesem Zusammenhang de Certeaus Prämisse, dass sich Ort und Raum dadurch voneinander unterscheiden, dass der Raum ein Resultat von Aktivitäten ist, ein Ort, mit dem etwas gemacht wird:77 Ein »praktizierter Raum« (espace) steht im Gegensatz zu einer »abstrakten Raumordnung« (lieu).78 Aus diesen Vorüberlegungen entsteht nun das Konzept von Karte und parcours.79 Die Karte impliziert ein überblickhaftes Sehen, der parcours hingegen ein Handeln im Raum, eine Vorwärtsbewegung. Allerdings ist das Gehen als Handeln im Raum, das Verfolgen eines gerichteten Weges, abhängig von der Existenz in der Karte verzeichneter Elemente oder Orte.80 Die vier betrachteten Gedichte lassen sich durch die Perspektive des jeweiligen Sprechers den bei de Certeau unterschiedenen Praktiken der Stadt zuordnen: Das lyrische Ich bei Barral betrachtet Barcelona von oben herab und gibt in der bereits genannten zweiten Strophe einen Überblick über die Stadt, die im weiteren Verlauf durch einige Detailaufnahmen, die als Ergänzung des Stadtbildes fungieren, aus dem ›Innenleben‹ Barcelonas bereichert werden. Im Gegensatz dazu präsentieren die Sprecher bei Biedma und Ferrater Ausschnitte des städtischen Raumes und des in ihm stattfindenden Lebens. Der überblickende, panoptische Blick des Reisenden, der sich auf dem Montjuïc niederlässt, um seine Eindrücke aufzuschreiben, kennzeichnet hingegen den Versuch der ganzheitli-
73 Ebd., S. 189. 74 Vgl. ebd., S. 194f. 75 Ebd., S. 195. 76 Ebd., S. 197f. 77 Vgl. ebd., S. 218. 78 Vgl. Dünne, Jörg (2004), »Forschungsüberblick ›Raumtheorie‹«, http://www.raumtheorie. lmu.de/Forschungsbericht4.pdf, 11 S., hier S. 9, 20.10.2011. 79 Certeau (1988), S. 220. 80 Vgl. ebd., S. 222.
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chen Erfassung der Stadt: Zum einen räumlich, durch den Blick, der von oben das gesamte Stadtgebiet übersehen kann. Zum anderen durch die vielen Details, mit denen er die Bewohner zu charakterisieren versucht. Die Straßen Barcelonas werden mit einer Satzbaumetapher beschrieben (»sus avenidas de Rubén, sintaxis / preciosa de sus barrios mercantiles«, V.29/30.): Die Syntax bildet die grammatische Struktur, auf der de Certeaus Rhetorik des Gehens zur Anwendung kommt. Diese Fortbewegung durch die Stadt liegt den unterschiedlichen Eindrücken zu Grunde (»He preguntado, he visto […]«, V.38) und wird nun in die rekapitulierende Aufsicht integriert. Das lyrische Ich, der Verfasser des Briefes vom Montjuïc, bleibt trotz seiner Detailkenntnisse der Stadt und seinen Bewohnern fremd – der »lugar tan extraño« bleibt nur »tal vez interesante«, ein näheres Verständnis der Bewohner oder gar ein Zusammenleben mit ihnen wird, erleichtert durch die panoptische und enthobene Perspektive, ausgeschlossen. Bei Biedma, Ferrater und Goytisolo hingegen ist deutlich die pars-pro-totoStruktur des Spazierengehens zu erkennen. Dem Überblick des Barral’schen lyrischen Ich setzen die Sprecher hier die Details eines Stadtausschnittes entgegen: der Montjuïc als Lebensraum, die nordwestliche Randgegend der Stadt und die Altstadt entlang der Ramblas. Bei Ferrater wird die von de Certeau beschriebene Inselhaftigkeit der Stadt für den Spazierenden und die Fremdheit des Alltäglichen vom lyrischen Ich reflektiert. Die Zufälligkeit seines parcours durch die Stadt, der erst ab der entscheidenden Tennis-Episode zu einem motivierten Weg zum Spielfeld der Basketballspieler wird, führt zur Unmöglichkeit einer abschließenden Reflexion. Die gesehenen Orte, die erst durch den Spaziergang zu einem lesbaren Raum werden, reflektiert in der mise en abyme de l’énoncé des raumschaffenden Ballspiels, lassen sich in ihrer alltäglichen Fremdheit nicht übergreifend einordnen (»Vull creure / que els moviments precisos d’aquests cossos / fan un bon precedent, no sé de què.« V.70-72). In dieser Weise bleibt das lyrische Ich fremd und entwurzelt, die letztendliche Sinnentschlüsselung bleibt unmöglich. Das lyrische Ich bei Ferrater konstituiert sich in dieser Form als reiner Beobachter, der am Rande der Raum einnehmenden Aktion der Spiele platziert ist und somit weiter außerhalb steht als sein Äquivalent bei Biedma. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass seine Beobachtung reziprok ist, das lyrische Ich scheint unbemerkt zu bleiben. Dementsprechend bleibt es beobachtender Begeher des Raumes, dessen Versuch der Sinnfindung und der persönlichen Zuordnung durch seine periphere Lokalisierung und seine Raumpraxis scheitert. Bei Biedma wird der bruchstückhafte Eindruck der Stadt explizit, wenn das lyrische Ich in seiner sozialkritischen Forderung den Berg Montjuïc als pars pro toto an die Stelle der ganzen Stadt setzt: »que la ciudad les pertenezca un día. / Como les pertenece esta montaña« (V.75/76). Der Sprecher erkennt seine Nicht-
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zugehörigkeit zu dem von ihm durchquerten Raum, den er, im Unterschied zu Ferrater, aus ungeklärter Motivation, aber gerichtet besucht (»y es verdad que algo oscuro, que algo anterior me trae / por estos sitios destartalados«, V.27/28). Das lyrische Ich betritt bei Biedma ein ihm ehemals eigenes Terrain, das es lediglich durchquert und für dessen Bewohner es zwar Sympathie haben kann, in dem es aber fremd ist und sich deshalb beobachtet fühlt – so, wie es selbst beobachtet und kommentiert. Die Relation ist, wenn auch nicht ausgeglichen, so doch zweiseitig: Der Sprecher ist ein beobachtender und beobachteter Begeher des Raumes. Seine Reflexion über die eigene Vergangenheit und die Zukunft der »murcianos« stützt die selbstreflexive Erkenntnis des eigenen Ausschlusses aus dem beschriebenen Raum aufgrund seiner bourgeoisen Herkunft. Der Ort, »en donde las higueras agarran sus raíces« (V. 67), ist zugleich der Ort der Entwurzelung des Sprechers. Das lyrische Ich bei Barral mag zwar das einzige der drei sein, das sich selbst eindeutig in den Kontext der Stadt einzuordnen vermag – aber auch hier kommt es zu einer expliziten Deklaration der Fremdheit. Gerade der Überblick, die kritische Distanz, das Vermögen, den Text Stadt von oben zu lesen, ermöglicht das eindeutige Schlussurteil, während sich besonders die Figur bei Ferrater im Detail verliert, weshalb sich ihr die Sinnfindung entzieht. Das lyrische Ich in »Parque de Montjuich« hingegen nimmt einen gänzlich überblickenden, beobachtenden Standpunkt ein; eine abschließende Wertung fällt ihm leicht. Hier haben wir es nicht mit einem Spaziergänger zu tun, sondern einem ›Passanten‹, der kommt und endgültig wieder geht. Er ist als reiner Beobachter zu sehen, der der Stadt fremd ist und bleibt. Eine Zwischenposition nimmt der Sprecher bei Goytisolo ein. Eine soziale Differenzierung zwischen seiner Gruppe und den anderen Feiernden in der Altstadt Barcelonas ist zwar durch die Betonung des heruntergekommenen Ambientes erkennbar, der Sprecher interpretiert diese ungewöhnliche »Nochebuena« aber schließlich als Möglichkeit aller Einwohner Barcelonas, »[…] casi dos millones de personas« (V.66), ihre Ohnmacht zu überwinden und für eine Nacht die Freiheit zu genießen. In diese Gruppe der Menschen, »que todavía ríen tú lo viste / que cantan todavía« (V.67/68), ist auch das lyrische Ich mit eingeschlossen, auch wenn es sich ob seiner Beobachtungsperspektive distanziert. Das lyrische Ich erfährt die Stadt aus der Position des Spaziergängers, der parcours durch das alte, heruntergekommene Barcelona lässt ihn den Text der Stadt mitschreiben. Für eine Nacht werden die abwehrenden Straßen, welche eine heile Welt vorgaukeln (»[…] calles hipócritas / de esta ciudad de anuncios y fachadas / que esconde entre sus muros la impotencia«, V.63-65) zum Ort der friedlichen Freiheitsausübung: »[…] [L]os ciudadanos subvierten el orden cotidiano y, por una
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noche, logran apropiarse de la ciudad burguesa.«81 In dieser Form steht auch hier das »barrio viejo« als pars pro toto an der Stelle der ganzen Stadt. Aus der Inselhaftigkeit der Stadtwahrnehmung resultiert, ähnlich wie bei Ferrater, die distanzierende Beobachtungsperspektive des Sprechers, welcher aus seinen Beobachtungen jedoch, wie der Sprecher in »Barcelona ja no és bona […]«, eine sympathisierende Grundhaltung ableitet. Die Reflexionen der Sprecher sind also Ausdruck der jeweiligen binnenpragmatischen Raumerfahrung. Ihre unterschiedliche Raumpraxis – ihr Handeln an und mit den Orten – führt sie zu verschiedenen Ergebnissen bezüglich ihrer eigenen Identität, welche besonders bei Biedma und Ferrater an dem Versuch räumlicher Transgression deutlich wird. Die unterschiedliche Raumpraxis ist aber in allen Fällen Grundlage einer graduellen Bestimmung der (Nicht-)Zugehörigkeit zu den Anderen von einer problematisierten Ortlosigkeit bei Biedma zu einer dezidierten Distanz bei Barral, die allerdings erst durch den Überblick begründet wird, da auch der Sprecher von »Parque de Montjuich« die Stadt erkundet hat. Bei Ferrater ist ein ähnlicher Überblick zu erkennen, da er zwar am Text der Stadt beteiligt ist, aber aus seiner Beobachterposition heraus abstrahiert und die Bewegungen im Raum der anderen Personen analysiert. Bei Goytisolo lässt sich ebenfalls eine solche Beobachterposition ausmachen, die zur Distanzierung vom direkten Erleben führt – aber damit auch die Möglichkeit einer im Rückblick integrierenden Gesamtwahrnehmung schafft. Bei Biedma schließlich ist die Beobachtung reziprok, wodurch der Wunsch der Zugehörigkeit unerfüllt bleibt, das den parcours verfolgende Subjekt ist selbst Objekt einer Beobachtung. Insgesamt wird also in allen Texten die Erfahrung des Anderen und des Selbst im Raum der Stadt durch die Art der Stadtwahrnehmung konditioniert, wobei die jeweilige Raumpraxis in unterschiedlicher Intensität die soziale Exklusion der Sprecher ausstellt.
81 Ferrán, Jaime (2006), Sociedad y ciudad en la poesía de José Agustín Goytisolo, Madrid: Pliegos, S. 119. Ferrán konsultiert ebenfalls de Certeaus Kunst des Handelns, allerdings betont er das im Stadtspaziergang laut de Certeau inhärente Element der Subversion gesellschaftlicher Kontroll- und Ordnungsmechanismen (ebd., S. 118).
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4.3 D AS V ERGEHEN
DER
Z EIT
4.3.1 Das Alter und die Vergänglichkeit Poemas póstumos von Biedma und Lecciones de cosas. Veinte poemas para el nieto Malcolm82 von Barral bergen eine Besonderheit der thematischen Einheit, die dazu führt, das sowohl Las personas del verbo als auch, in etwas abgeschwächter Form, das Barral’sche Gesamtwerk als Geschichte eines Lebens gelesen werden kann, da beide durch eine gewisse thematische Chronologie zu dieser zyklischen Lektüre einladen. In beiden Spätwerken83 spielt das gealterte lyrische Ich eine hervorgehobene Rolle. Allein sechs Gedichttitel in Poemas póstumos benennen die Thematik explizit: »No volveré a ser joven«, »Después de la muerte […]«, »Ultramort«, »Artes de ser maduro«, »Himno a la juventud« und »De senectute«. Die Thematik des Alterns ist bei Biedma zu einem zentralen Element seiner letzten Veröffentlichung geworden, neben Gedichten zu Liebe und Erotik. Dabei überwiegt die Erkenntnis des lyrischen Ich, alt zu werden – »Pasada ya la cumbre de la vida« (»Píos deseos al empezar el año«, V.1) und der Versuch, mit der veränderten Lebenssituation umzugehen (»Contra Jaime Gil de Biedma«). Auf die Metapher des Lebens als Theater rekurrierend erkennt das lyrische Ich in »No volveré a ser joven«, dass »envejecer, morir« nicht nur »las dimensiones del teatro« (V.7/8), sondern »el único argumento de la obra« (V.12) darstellen. Folglich entwirft es seinen Lebensabend: En un viejo país ineficiente,
y memoria ninguna. No leer,
algo así como España entre dos guerras
no sufrir, no escribir, no pagar cuentas,
civiles, en un pueblo junto al mar,
y vivir como un noble arruinado
poseer una casa y poca hacienda
entre las ruinas de mi inteligencia. (Gil de Biedma, »De vita beata«)
82 Im Folgenden Lecciones de cosas […]. 83 Wobei zu beachten ist, dass der Begriff ›Spätwerk‹ sich hier ausschließlich auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung im Verhältnis zum Gesamtwerk bezieht: Biedma veröffentlichte Poemas póstumos 1968; Barrals Lecciones de cosas […] erschienen 1986. Beide stellen, mit Ausnahme von Anthologien und Gesamtausgaben (und der posthumen Publikation einiger Gedichte des unveröffentlichten Bandes Extravíos von Barral), ihre jeweils letzte Einzelveröffentlichung dar – auch wenn sie unterschiedlichen Lebensphasen der Autoren entsprechen.
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Auch bei Carlos Barral spielt in den späteren Gedichten das Alter eine Rolle, allerdings nicht eine derart prononcierte wie in Biedmas Poemas póstumos. Schon der Titel von Lecciones de cosas […]. Poemas para el nieto Malcolm stellt das lyrische Ich als älteren Menschen dar, der innerhalb seiner Familie bereits die dritte Generationsstufe einnimmt. Auch der Titel von Figuración del tiempo mag auf eine besondere Bedeutung der vergehenden Zeit hindeuten, und in der Tat verhandelt gleich das zweite Gedicht, »Miro estallar las gotas […]« die Dichotomie »hombre viejo« – »hombre joven«, in der sich der alte Mann aus einem aktiven Leben, das er einmal geführt hat, ausgeschlossen sieht. Auch das folgende Gedicht, »Prueba de artista« endet mit einer Referenz auf das barocke Vanitas-Motiv: »Y amanezca / con soñolientos nubes inflamadas / y en los ojos del amor ingresen / los primeros gusanos« (V.71-74). Im anschließenden »Evaporación del alcohol« fragt sich das lyrische Ich, was aus dem jungen Mann geworden ist, der noch am Vorabend so eloquent und lebenslustig war (»Qué es ahora / de él […]«, V.71/72). »Retrato del aire […]«, in dem das lyrische Ich eine Spaltung in mehrere alter ego unterschiedlichen Alters seiner selbst erfährt, endet mit einem Zitat Guiseppe Bellis Sonett »La Golaccia«:84 »La morte sta anniscosta in ne l’orloggi, / e gnisuno pò dì: domani ancora / sentirò batte er mezzogiorno d’oggi« (V.89-91). In diesem Zusammenhang ist besonders auffällig, dass in Figuración del tiempo ein Schwerpunkt auf dem Verfall des Körpers liegt, zum Beispiel in »Incidente corporal« und in »Vaguedad del daño«, der mit dem Älterwerden einhergeht: »duele el cuerpo que queda, fibra dura / insensible e intacta en la memoria« (V.31/32).85 So ist die Angst vor dem Tod auch das zentrale Motiv des letzten Gedichtes in Figuración del tiempo, »Vaciado del miedo«. Der gebrechliche Alte fürchtet sich wie ein Kind: Algo anida en los huecos, algo oscuro, un fardo ya de muerte o su muda quietud, la invocada cuenta: el miedo tan extraño, decrépito, infantil, peor de lo temido. (Barral, »Vaciado del miedo«, V.15-20)
84 Vgl. Belli, Giuseppe Gioachino (1866), Poesie Inedite, Rom: Tipografia Salviucci, S. 269. 85 Vgl. auch Riera (2003), S. 45f.
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In Lecciones de cosas […] ist diese Thematik weiterhin wichtig, auch wenn das Entdecken der Welt durch die Figur des Enkels in den Vordergrund tritt. Im vorletzten Gedicht des Bandes, »El escaño«, werden die unterschiedlichen Positionen der beiden Figuren bezogen auf ihr Lebensalter miteinander verbunden: Mira el abuelo y di: es asombroso que aún piense e imagine. Es una ruina, un lago de memoria que se enjuga por cavernas de olvido […] (Barral, »El escaño«, V.1-5)
Bei Gabriel Ferrater ist die Semantik des Alterns eng mit dem skeptischen Erinnerungsdiskurs verbunden. Das lyrische Ich in »Aniversari« beschreibt das Älterwerden allegorisch: Erinnern und Vergessen treten zum einen als Öfen auf (»dues carboneres«), die sich das in Stücke gehobelte vierzigste Lebensjahr des lyrischen Ich untereinander aufteilen und verbrennen: die Marktfrau »memòria« und der Lumpensammler »oblit«. Während die Erinnerung nur vermag, aus dem Leben des Sprechers kurzfristige Feuer zu entzünden, glüht die Asche des Vergessens beunruhigend weiter: Ja l’any quaranta dels meus anys jeu fosc a dues carboneres, ribotat. El munt d’encenalls se l’han partit la marmanyera memòria, la mentidera, i l’oblit, el drapaire mut. L’una en farà curtes fogueres, l’altre caliu d’inquietud. (Ferrater, »Aniversari«)
In der Ansprache der zwanzigjährigen »Helena« ist die Erinnerungsfähigkeit eng mit dem Alter verknüpft. Zum einen ist die junge Angesprochene derart zukunftsorientiert, dass sie sich nicht an ihre Herkunft erinnert: »Fas vint anys, Helena. / Vens d’on no recordes, / mires endavant« (V.1-3). Zum anderen bedeutet diese Weltoffenheit und Zukunftsgewandtheit der Adressatin, dass sie sich, im Gegensatz zum Sprecher des Gedichtes, der Welt, inklusive des Sprechers, noch habhaft machen kann:
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(tens vint anys) disposes per al teu balanç les ratlles del món amb tot ell que és vell (com és ara jo). (Ferrater, »Helena«, V.26-30)
Mit komplementären Eigenschaften ist die angesprochene »Helena« in »Poema inacabat« ausgestattet, so dass sich vermuten lässt, dass Sprecher und Angesprochene in beiden Gedichten übereinstimmen. Das lyrische Ich bezeichnet sich selbst als alt, sieht aber in Helena die Verkörperung der Jugend: […] que els meus vint anys van ser en els anys quaranta-tants i que el meu temps és la post-guerra. Que et fessis vella tu, Helena, sí que em faria escopir sang. (Ferrater, »Poema inacabat«, V.265-269)
Schließlich knüpft auch Ferrater an den barocken Vanitas-Topos an. Sein junges Gesicht lässt den Sprecher vorübergehend den Totenschädel eines alten Mannes erahnen: i aquesta cara jove s’ha fos per un segon, s’ha fos com una màscara de cera, i m’ha fet veure la cara ineluctable del vell que s’hi amaga i sap com l’odiem. (Ferrater, »La cara«, V.20-26)
4.3.2 Die Zeitlichkeit Neben der Auseinandersetzung mit den Thematiken von Alter und Vergänglichkeit bei Biedma, Barral und Ferrater lässt sich eine etwas weiter gefasste Dimension der Zeitlichkeit in den Veröffentlichungen von Ángel González beobachten, obwohl auch die späteren Texte González’ das Älterwerden des Sprechers the-
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matisieren.86 Dabei zieht sich durch seine Gedichtbände eine Isotopie der Zeitlichkeit, die sich aus verschiedenen metaphorischen Bereichen speist: Die Abfolge der Tage (»ayer« – »hoy« – »mañana«), der Tages- (»mañana« – »tarde«) oder Jahreszeit (mit den entsprechenden klimatischen Bedingungen von »primavera« – »verano« – »otoño« – »invierno«) verdeutlicht das Vergehen der Zeit, ebenso kalendarische Angaben wie Wochentage und Monate. In »Aquí, Madrid, mil novecientos« treten jahreszeitliche, klimatische und Monatsangaben auf. Ausgehend von einer exakten Verortung des Sprechers im Hier und Jetzt (»Aquí, Madrid, mil novecientos / cincuenta y cuatro […]«, V.1/2) charakterisieren sie den positiv auf die Zukunft gerichteten Blick des Sprechers, der sich begierig nach sonnigen Sonntagen und nach dem kommenden Frühling sehnt: Un hombre lleno de febrero, ávido de domingos luminosos, caminando hacia marzo paso a paso, hacia el marzo del viento y de los rojos horizontes –y la reciente primavera ya en la frontera de abril lluvioso…– (González, »Aquí, Madrid, mil novecientos«, V.3-8)
Die frühen Gedichte (vor allem aus Áspero mundo) betonen das Vergehen der Zeit unter dem Fokus auf die Zukunftserwartungen des Sprechers. Sie fallen nicht optimistisch aus, der Sprecher geht vielmehr davon aus, dass sie sich nicht erfüllen werden: »Un hombre con un año para nada / delante de su hastío para todo« (V.13/14). Wenn bei Ferrater der »Aniversari« dazu führt, dass sich das lyrische Ich des Vergessens und der trügerischen Erinnerung bewusst wird, so ist auch der »Cumpleaños« bei González kein Anlass zur freudigen Feier. Das Leben, dass in »Aquí, Madrid, mil novecientos« noch offen vor dem lyrischen Ich lag, ist nun als regelrecht physischer Kraftakt absolviert, aber auch der Rückblick erscheint nicht positiv: Yo comprendo: he vivido un año más, y eso es muy duro. ¡Mover el corazón todos los días casi cien veces por minuto!
86 Zum Beispiel »Vean lo que son las cosas« aus dem bezeichnenderweise »Biografías e Historias« betitelten Abschnitt aus Prosemas o menos: »Ya he celebrado mis bodas de oro con la vida« (V.12).
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Para vivir un año es necesario morirse muchas veces mucho. (González, »Cumpleaños«, V.7-12)
Sin esperanza, con convencimiento bündelt im zweiten Unterabschnitt des Bandes alle genannten metaphorischen Zeitangaben in mehreren Gedichten mit den programmatischen Titeln »Ayer«, »Domingo«, »El invierno«, »Porvenir«, »El futuro«, »Cumpleaños de amor«, »Luz llamada día trece« und »Diciembre«, deren Leitmotiv das vergebliche Warten des Sprechers ist: »inútilmente« (»Sé lo que es esperar«, V.12) wartet der Sprecher in allen Jahreszeiten »en la esquina del tiempo« (V.20), »mientras pasan y pasan los meses y los días« (V.25), ohne das klar wird, auf wen oder was sich sein Warten ausrichtet. »[E]speré tantos / días y tantas cosas en mi vida« (V.2/3) – diese Aussage kann sich nicht nur auf die wartend verbrachten Tage, sondern auch auf das Erwarten eines bestimmten Tages beziehen »–vendrá pronto–« (V.21). Die Zeit vergeht jedoch, ohne dass dieser Tag – möglicherweise der, dem Biedmas deutlich optimistischeres »Canción para ese día« gilt87 – je kommt. »Ayer« widmet sich auf unkonventionelle Weise dem Vanitas-Topos.88 Das Vergehen eines Tages wird mit dem Verlauf der Wochentage parallelisiert: »Ayer fue miércoles toda la mañana. / Por la tarde cambió: / se puso casi lunes« (V.1-3). In der letzten Strophe stehen Wiederholungsfiguren im Kontrast zur Semantik der Verse. Die Anapher (»de ayer«, V.36/37) und die Alliterationen (»nadie nunca / volverá a ver«, V.38/39) unterstreichen zwar die Absicht des Sprechers, »una vez más« vom gestrigen Tag zu sprechen. Dies geschieht jedoch in dem Bewusstsein, dass die Wiederholung den einmaligen und unwiederbringlichen Zeitpunkt, der schon im ersten der Sonetos aus Áspero mundo formal und inhaltlich in barocker Manier bedichtet wird (»En este instante, breve y duro instante / […] que ya pasó, que ya lo hube perdido«, V.1,12), lediglich reproduzieren, aber nicht wieder gegenwärtig machen kann: dejadme que os hable de ayer, una vez más
87 »Van a dar nuestra hora. De un momento / a otro, sonarán campanas« (V.3/4). 88 Auch Prosemas o menos (1985) schreibt in dem Unterabschnitt »American Landscapes« den Topos des tempus irreparabile fugit neu. Vgl. Carreño Espinosa, Francisco (1999), »Consideraciones sobre la ironía, el tiempo y la metapoesía en Prosemas o menos de Ángel González«, in: Epos. Revista de filología 15, S. 213-231, hier S. 219 (Herv. i.O.).
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de ayer: el día incomparable que ya nadie nunca volverá a ver jamás sobre la tierra. (González, »Ayer«, V.35-39)
4.3.3 Das alba-Motiv Eines der Themen, die in Verbindung zum Vergehen der Zeit stehen und eine Similarität über die lyrischen Texte von Barral, Biedma, González, Goytisolo und Ferrater hinweg bilden, ist das rekurrente alba-Motiv. Es handelt sich hierbei um einen literarischen Topos, der leitmotivisch im Textkorpus wiederkehrt, und die Funktion der Interferenz II verdeutlicht. Am Beispiel der alba kann gezeigt werden, dass sich die lyrischen Interferenzen als Similaritäten auch auf intertextuelle Phänomene im engeren Sinne erstrecken können, über diese aber hinausgehen. Aspekte intertextueller Rezeption stellen über Wiederholungsstrukturen Verbindungen zwischen Texten her: vom wortgetreuen Zitat über das Aufgreifen in zitathafter, möglicherweise auch modifizierter Form bis hin zum Anschluss an einen Topos oder die Selbstzuordnung zu den Gattungsbezügen eines Textes.89 Die Verhandlung des alba-Topos verdeutlicht den Unterschied zwischen Intertextualität – als Rückgriff eines Textes auf einen Prätext – und der semantischen Dimension der Interferenz. Das Aufgreifen der alba stellt zum einen intertextuelle Verbindungen zu vorgängigen alba-Texten her: Die Gedichte stehen einerseits in Kontinuität zur mittelalterlichen alba, andererseits zu einem rezenten Wiederaufgreifen der Tradition in der literarischen Moderne mit Charles Baudelaires »Le crépuscule du matin« und Manuel Machados »La canción del alba«.90 Die mehr oder weniger synchrone Rekurrenz auf die alba ist darüber hinaus ein Aspekt der semantischen Dimension der Interferenz: Wesentliches Analyseinteresse ist deshalb nicht die Inbezugsetzung der einzelnen Gedichte zum historischen Vorbild per se, sondern ihre quer zu diesem etablierte Beziehung untereinander im sozial bestimmten Interferenzraum. Mit der Einbeziehung von Goytisolos La noche le es propicia (1992) werden die für die Korpus-Betrachtung wesentlichen Kernjahre deutlich überschritten. Die Verhandlung des alba-Topos in diesem Band soll hier trotz dessen analysiert werden, um die Bildung von textuellen Interferenzen über einen streng festgeleg89 »Architextualität« nach Genette. Vgl. Genette (1993), S. 9f. 90 Baudelaire, Charles (1999) [1857], Les Fleurs du Mal, Paris: Gallimard, S. 191f. Machados »Canción del alba« erschien 1909 in El mal poema. Vgl. Machado/Machado (1978), S. 93f. Vgl. außerdem Riera (1990), S. 120.
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ten Zeitraum der sozialen Interferenz hinaus zu behaupten. Wenige Jahre nach dem Versterben Barrals (1989) und Biedmas (1990) aktualisieren außerdem zwei Motti von Biedma und Barral die Interferenz ihrer Texte mit denen Goytisolos.91 Die Einreihung des Textes in die Poetiken der befreundeten Dichter ermutigt daher zur vergleichenden Betrachtung der alba-Texte auch über einen streng interferentiellen Zeitraum hinaus. Das moderne Tagelied In einem 1984 gehaltenen Vortrag erläutert Biedma die Bedeutung des altokzitanischen Tageliedes für seine »Albada« – die eine »ré-écriture«92 des provenzalischen »Reis glorios, verais lums e clartatz« von Giraut de Bornelh darstellt:93 »Mi versión ha cambiado el amor cortés en transitoria aventura de una noche, la gensor en desnudo cuerpo anónimo y la cambra, tan exaltada por los trovadores, en habitación de meublé […]; los pájaros que pían queren lo jorn per lo boschatge son los de las Ramblas y lo fol gilos no es sino la rutinaria realidad de la vida.«94
Das Morgengrauen, das die Trennung der Liebenden erzwingt, ist in der modernen Variante negativ konnotiert, weil ein Arbeitstag beginnt (»[…] se oyen enronquecer / los tranvías que llevan al trabajo«, V.10/11). Das Auseinandergehen
91 »Sentirme un personaje despojado de toda naturaleza: la naturaleza ha sido sustituida por mi disfraz literario« (Carlos Barral) und »La voz que habla en un poema no es casi nunca la voz de nadie en particular, puesto que el poeta trabaja la mayor parte de las veces sobre experiencias y emociones posibles, y las suyas propias sólo entran en el poema –tras un proceso de abstracción más o menos acabado– en tanto que contempladas, no en tanto que vividas« (Jaime Gil de Biedma). Vgl. Goytisolo (2009), S. 581. 92 Als solche bezeichnet Partzsch, die das Wiederaufgreifen der mittelalterlichen alba in der spanischen Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts untersucht, die Biedma’sche »Albada«. Vgl. Partzsch (2001a), S. 143 (Herv. i.O.). 93 Gil de Biedma, Jaime (2001e), »La imitación como mediación, o de mi Edad Media. Sobre Gabriel Ferrater y algunos poemas míos, a propósito de poesía medieval«, in: ders. (2001c), S. 303-321, hier S. 313. Der Vortrag fand anlässlich eines Kongresses über »Literatura medieval y literatura contemporánea« statt. Vgl. Giraut de Bornelh, »Reis glorios, verais lums e clartatz«, in: Kolsen, Adolf (Hrsg.) (1910), Sämtliche Lieder des Trobadors Giraut de Bornelh, Band 1, Halle an der Saale: Niemeyer, S. 342-347. 94 Gil de Biedma (2001e), S. 315 (Herv. i.O.).
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fällt schwer, »[p]orque conozco el día que me espera« (V.41). Diese moderne Abneigung gegen den Tagesanbruch, in der sich eine Abwendung vom romantischen Topos des neuen Tages herauskristallisiert, findet sich auch bei Barral, der 1970 vierzehn Gedichte unter dem Titel Informe personal sobre el alba y acerca de algunas auroras particulares95 veröffentlichte. Das Epigraph zu »Método del alba« stammt von Arnaut Daniel, womit ebenfalls das provenzalische Trobadorlied aufgerufen wird: »Ara vei vermeills, vertz, blaus, blancs, groucs / vergiers, plans, pais, tertres e vaus.«96 In »Contra el alma o enemigos del alba«97 verspricht der anbrechende Tag nicht neue Hoffnung oder neue Möglichkeiten, sondern eine immer wiederkehrende, gleichförmige Gewohnheit:98 Por qué escupe su luz inoportuna sobre el instante débil, sobre el miedo repentino a vivir, a ser el mismo prisionero perpetuo de costumbres. (Barral, »Contra el alma […]«, V.5-8)
Ferraters »Boira« ist nicht derart formal an ein mittelalterliches Vorbild angepasst wie Biedmas »Albada« oder über ein Zitat an die Tradition angebunden wie Barrals »Método del alba«, dennoch drückt auch sein »Boira« den Unwillen und die Melancholie des Liebenden aus, die Geliebte nach der gemeinsam verbrachten Nacht verlassen zu müssen, und kann in dieser Hinsicht als alba gelesen werden. Die »Boira« steht nicht nur metonymisch als Frühnebel für den anbrechenden Morgen, sondern ist auch eine Allegorie des Sprechers, der sich we-
95 Im Folgenden Informe personal […]. 96 Vgl. »Er vei vermeills, vertz, blaus, blancs, gruocs«, in: Daniel, Arnaut (1994), Poesías, ed. y trad. de Martín de Riquer, Barcelona: Quaderns Crema, S. 125-129. 97 Im Folgenden »Contra el alma […]«. 98 Partzsch sieht in der Abneigung gegen den Morgen bei Barral die Verlorenheit des Individuums in der uniformen Masse der Gesellschaft: »El alba delata la herida que la sociedad inflinge a los individuos: cada día, el momento del amanecer ›te arroja / indefenso a la vida de los otros‹. […] [El alba] [e]s la huella cotidiana de la traición sobre la cual se funda una sociedad alienada hasta en las relaciones más básicas entre sus miembros.« Partzsch, Henriette (2001b), »Carlos Barral: Contra el alma o enemigos del alba«, in: Fröhlicher, Peter/Güntert, Georges/Imboden, Rita Catrina/López Guil, Itzíar (Hrsg.), Cien años de poesía española. 72 poemas del siglo XX: estructuras poéticas y pautas críticas, Bern: Lang, S. 529-539, hier S. 537f.
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gen des beginnenden Tages wie Nebel in Luft auflösen und die Geliebte und ihren Körper (»la teva terra«) verlassen wird: l’omra del núvol meu damunt l’estesa de natura i conreu: la teva terra, com un floc lleu de cendra, imperceptible per tots ells, però encara no per tu, quan se l’endugui l’últim pàl·lid vent s’arridarà convulsa per l’adéu, i et deixarà el record d’un fred caduc. (Ferrater, »Boira«, V.2-8)
Die abschließenden vier Verse des Gedichtes sind klarer Ausdruck der Hilflosigkeit und Verzweiflung des lyrischen Ich angesichts der Notwendigkeit, sich vom lyrischen Du zu entfernen: Ho sé jo, que ara emboiro el teu profund crepuscle matinal. Tot desesper d’alçar-me, m’emparraco en esbarzers i omplo de plor còrrecs d’incertitud. (Ferrater, »Boira«, V.13-16)
Gegenüber der Modernisierung des mittelalterlichen Topos durch seine Transposition in das moderne setting des städtischen Raumes in der Biedma’schen »Albada«99 ist Ferraters »Boira« durch eine naturverbundene Allegorie gekennzeichnet, die sich über die Metaphern des Sprechers als Nebel und des mit weiblichen Nomen beschriebenen Körpers des lyrischen Du konstituiert: »la teva terra« schreibt das Du als weibliche Geliebte ganz traditionell in den Topos der »Mutter Erde« ein. Die Abneigung gegen den neuen Tag Ángel González verbindet in dem ersten seiner Sonetos in Áspero mundo das Motiv der Liebesnacht (»En este instante, breve y duro instante / ¡cuántas bocas de amor están unidas«, V.1/2) mit dem Vergehen der Zeit: Der verflogene Moment ist »primera ruina de la aurora« (V.14). Auch bei Gabriel Ferrater verspricht der neue Tag nichts Gutes. Das Leben ist paradoxal besetzt, »[…] el de-
99 Vgl. Partzsch (2001a), S. 152.
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sencant del viure unit al desig de viure.«100 Während der Frühling in »Floral« und »Paisatge amb figures« in den symbolischen Knospen des Mandelbaums zaghafte Zukunftserwartung mit sich bringt (»ens sembla que tastem futur«, V.18), ist der Anbruch des neuen Tages Ausdruck der zyklischen, immer wiederkehrenden Routine der »roda dels anys«101, in der sich das lyrische Ich wie »el mismo / prisionero perpetuo de costumbres« in Barrals »Contra el alma […]«102 gefangen sieht: […] i sé que res no em sortirà que no fos ahir en mi desconsoladament, i em fa fred de mirar-me un dia més, pinyol tot salivat, pelat de polpa, fora nit. (Ferrater, »Punta del dia«, V.11-14)
Die Morgendämmerung, »Punta del dia«, wird verglichen mit dem kalten Silber eines Skalpells, das einen Kaiserschnitt vornimmt und damit zu viel (sinnloses) Leben spendet: »com la insistent finor del bisturí que esguinça / l’úter amb la imposició de l’excessiva / vida […]« (V.S5-7). Ähnlich bewertet der Sprecher in »A mig matí« das Morgengrauen. Der Moment des Lichtwerdens wird als Ertönen der Flöte des Iblis, der Teufelsfigur im Koran, beschrieben. Derart negativ belegt, kann das Leben, kann der neue Tag keinen Sinn haben, der außerhalb des Selbstzweckes liegt: »ho has volgut tu, t’ho has buscat tu, de nit, / quan dormies només per despertar-te« (V.13/14). Diese Gleichgültigkeit zeigt sich auch im Sonnenuntergang, der als »El ponent excessiu« mit dem gleichen Adjektiv belegt wird wie »l’excessiva / vida« in »Punta del dia«. Auch der verstrichene Tag unterscheidet sich nicht von allen anderen Tagen, nichts erlangt Individualität oder Besonderheit: 100 Macià/Perpinyà (1986), S. 93f. 101 Ebd., S. 56. 102 Macià und Perpinyà sehen diese Parallele zu Barral ebenfalls und zitieren »Claves del desvelado«, die freie Übersetzung, welche Barral von zwei Gedichten Fernando Pessoas anfertigte (ebd., S. 85f.). Es handelt sich um »Manhã dos outros! Ó sol que dás confiança« und »Em toda a noite o sono não veio. Agora«. Pessoa, Fernando (41952), Obras completas I. Poesias, ed. de João Gaspar Simões e Luís de Montalvor, Lisboa: Ática, S. 103, 108f. Besonders signifikant erscheinen mir im Hinblick auf die Routine des Alltags die folgenden Verse des Gedichtes II: »contemplo con espanto / el nuevo día traerme el mismo día del fin / del mundo y del dolor, / un día igual a los otros, de la eterna familia / de así hemos de ser« (Barral, »Claves del desvelado«, II, V.8-12).
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Un altre dia exagerat. Un altre dia se’t mor cregut que el seu color no tornarà mai més, no tornarà com la sang que es podreix. (Ferrater, »El ponent excessiu«, V.4-7)
Dieser Nihilismus, der selbst das zu erwartende barocke carpe-diem-Motiv auslässt, kehrt in Biedmas Texten über das Alter wieder. »De senectute« wiederholt für das Greisenalter die Abscheu vor der Morgendämmerung. Dem neuen Tag wohnt eine Sinnlosigkeit inne (»Amanece otro día en que no estaré invitado / ni a un momento feliz. […]«, V.10/11), die im Unterschied zu »Punta del dia« eindeutig mit dem Alter korreliert, da das Leben dem lyrischen Ich nichts mehr bieten kann: »De la vida me acuerdo, pero dónde está« (V.17). Das lyrische Ich erfährt, ähnlich wie bei Ferrater, die Vorbestimmtheit des Lebens, seine Endlichkeit, verbunden mit der Angst, dass es zu schnell vorbei gehe: »[…] Será nada / más que, a la vuelta de otro día, / verte desembocado en medio de la muerte« (V.68). Das erste Gedicht aus Ángel González’ Sin esperanza, con convencimiento, »Otro tiempo vendrá distinto a este«, beschreibt den ähnlich nihilistisch erfahrenen Tagesanbruch. Das Motiv der alba wird in den Dienst einer engagierten Dichtung gestellt, deren Wirkungslosigkeit die Desillusion des Sprechers hervorruft. In der ersten der zwei Strophen imaginiert das lyrische Ich, das sich als Erzähler von Geschichten und damit als Dichter präsentiert, eine zukünftige Szene, in der ihm vorgeworfen wird, keine romantischen Texte geschrieben zu haben: »Hablaste mal. Debiste haber contado / otras historias: / violines estirándose indolentes« (V.3-5). Der Sprecher empfindet den gegenwärtigen Moment (»Pero hoy«, V.11) als nutzlos (»cuando es la luz del alba / como la espuma sucia / de un día anticipadamente inútil«, V.12-14), die Vergangenheit erscheint »como retracción del futuro«103, weil sich sein Engagement als erfolglos herausgestellt hat. Nicht umsonst wird hier die ritterliche Praxis der Waffenwache und damit auch der Wahn des Quijote, der vergeblich gegen das vermeintlich Böse kämpft, anzitiert. Hier sind es jedoch die Waffen des Dichters die ge- und zerschlagen sind: estoy aquí, insomne, fatigado, velando
103 Baena, Enrique (2007), Metáforas del compromiso (Configuraciones de la poesía actual y creación de Ángel González), Madrid: Cátedra, S. 159.
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mis armas derrotadas, y canto todo lo que perdí: por lo que muero. (González, »Otro tiempo vendrá, distinto a éste«, V.15-19)
Enrique Baena belegt diese im neuen Tag erlebte Sinnlosigkeit in Anlehnung an die folgenden Verse aus »Reflexión primera« mit dem Begriff der »mismidad«104: »Abrir los ojos para ver / lo mismo, / poner el cuerpo en marcha para andar / lo mismo« (V.7-10). Bei Barral schließlich kulminiert die Abneigung gegen den sinnlosen neuen Tag, gegen die Aurora, die zum Beispiel in »Más sobre la insolencia del alba« als gefährlich-schöne, personifizierte und animalisierte Göttin des Morgengrauens erscheint (»Sí, es como un sucio animal que recorre el mundo«, V.1)105, in einem Motiv, das Informe personal […] durchzieht. Das Urinieren am Morgen oder auf Metaphern des Morgengrauens verweist auf eine »morgendliche Körpererfahrung«106, die zum einen ein sexualisiertes Aggressionspotenzial des Sprechers offenlegt, zugleich aber auch Alter, Tod und die Auflösung des Selbst:107 »–la tierna flor del día, / pobre y sencilla, que quiere ser meada« (»Método del alba«, V.34/35).108 Henriette Partzsch verweist auf den durch die Illustrationen des Gedichtbandes stabilisierten männlichen Blick auf eine Frau. In der Erstausgabe von Informe personal […] zeigen Aktphotographien von César Malet einen fragmentarischen Frauenkörper (vgl. Abb. 1). Partzsch sieht keine direkte illustrative Beziehung zwischen Bildern und Texten;109 mehrere Gedichte betonen jedoch, wenn auch nicht den Blick auf die Geliebte, die zum traditionellen Figurenrepertoire der alba gehört, so doch die Betrachtung des personifizierten Morgengrauens. Obwohl »el alba« durch den Artikel als maskulines Substantiv gekennzeichnet 104 Ebd., S. 305. 105 Vgl. Riera (2003), S. 52. 106 Partzsch (2001a), S. 188. 107 Vgl. ebd. 108 Vgl. auch folgende Zitate aus Informe personal […]: »meábamos en grupo, de uniforme, / hacia el blanco dudoso […]« (»Contra el alma o enemigos del alba«, V. 38/39), »porque la aurora es fláccida, o a veces / ajena y envarada inútilmente / y habrá que levantarse y orinarla« (»Más sobre la insolencia del alba«, V.36-38) und »[s]e habría adelantado a amollar y a orinar por la borda« (»Contraluz a popa«, V.1). 109 Vgl. Partzsch (2001a), S. 162.
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ist, ist es grammatikalisch weiblich und wird über Adjektive und Personalpronomina reiterativ als Frau benannt oder angesprochen: Im ersten Gedicht überwiegt die Bezeichnung »el alba«, dennoch wird hier schon im ersten Vers das Synonym »la aurora« mit Anklängen an Patrarkas Laura-Symbolik110 verwendet. Abb. 1: Photographie von César Malet111
© César Malet, 1970.
110 Vgl. Friedrich (1964), S. 196. 111 Photographien von César Malet illustrieren auch den Interviewband Infame turba von Federico Campbell (1971a) mit Portraits einer Reihe von Personen der »Szene bürgerlicher Intellektueller« der 70er Jahre. Vgl. Pohl (2003), S. 280. Diese intellektuelle, finanziell zumeist abgesicherte und kulturell einflussreiche bohème, der Architekten (Ricardo Bofill), die Cineasten der Escuela de Barcelona (nicht zu verwechseln mit dem von Riera gewählten Begriff), die »patriarcas« der Dichter-›Generation‹ der 50er Jahre und die novísimos angehörten, wurde in der Zeitschrift Tele-Exprés von Joan de Sagarra als Gauche Divine bezeichnet, da ihre »intellektuelle Heterodoxie« (ebd., S. 283) eine kulturelle, wenig militante ›linke‹ und keinesfalls ›katalanistische‹ Opposition zum kulturellen ›Grau‹ des Franquismus darstellte (vgl. ebd., S. 280-286).
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Die körperliche Beschreibung der alba zieht sich weiter durch »Método del alba«, in dem der Sprecher sich an die rosenfingrige Eos wendet (»digo tu nombre en griego y de tus dedos / el color injurioso todavía invisible«, V.7/8).112 In »…Ed al balcon s’affaccia l’abitator dei campi, e il sol che nasce…« beobachtet der Sprecher zugleich den Sonnenaufgang und die nackte Geliebte, die sich dem Fenster nähert, um »las luces virginales« (V.6) zu betrachten. Da die Frau hier als »la primera« (V.5) bezeichnet wird, funktioniert sie zugleich als Figur und Metapher der alba, schließlich wird sie, genau wie in den vorherigen Texten das Morgengrauen, mit animalischen Attributen belegt: »y ella rasca con rabia, sin saberlo, / la hendida empuñadura de su lomos« (V.9/10). Die ekphrastische Beziehung zwischen Text und Bild unterstützt die erotische Lesart des Morgens somit in zweifacher Hinsicht: bezogen auf die Geliebte und das Morgengrauen als ambivalente erotische Frauenfigur. Wenn bei Barral das Morgengrauen als animalisierte Frauengestalt erscheint, so ist González »Alborada« aus Procedimientos narrativos gänzlich allegorisch und fabelhaft: Modernisierungstendenzen wie bei Biedma und in Teilbereichen im setting bei Barral sind hier nicht zu erkennen, vielmehr lassen sich surrealistische Elemente ausmachen, die an Lorca und seinen Poeta en Nueva York erinnern, wenn auch ohne den Bezug auf die städtische Moderne. Der metonymische Hahn des Morgengrauens nimmt schreckliche Züge an, sein Krähen kehrt sein Innerstes ganz körperlich nach außen: Mit dem Morgengrauen kräht der Hahn zunächst »piedras« (V.1), dann »sangre« (V.7). Strophe fünf ist gänzlich als Klimax aufgebaut: »Canta crestas el gallo, / canta agallas, / escupe sus mollejas contra el cielo« (V.10-12). Schließlich entspringt dem Hahn ein »surtidor de fuego« (V.19),113 womit sein Warnen vor dem neuen Tag seinen Höhepunkt erreicht hat: »Nada más puede hacer: grita, amenaza. / Anuncia que la tregua ha terminado« (V.21-22). Der Hahn steht hier nicht nur metonymisch für das Anbrechen des Tages, er ist gleichzeitig Objekt und Sänger der »Alborada«. Diese stellt eines von zwei Gedichten dar, deren übergeordneter Titel, »Palabras desprendidas de pinturas de José Hernández« eine intermediale Verbindung zu Lithographien der Serie Opera (1971) von José Hernández etabliert, mit denen die Gedichte ursprünglich in einer Mappe veröffentlicht wurden, bevor sie ohne ihre graphi-
112 Vgl. Partzsch (2001a), S. 161. 113 Vgl. hier die bildliche Parallele zur Vertikalität in Lorcas »La aurora« aus dem Poeta en Nueva York von 1929/30, García Lorca, Federico (2004), Poesía completa III, ed. de Miguel García-Posada, Madrid: Random House Mondadori, S. 82: »La aurora de Nueva York tiene / cuatro columnas de cieno / y un huracán de negras palomas / que chapotean las aguas podridas« (V.1-4).
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schen Pendants in Procedimientos narrativos (1972) eingingen114 – ein ähnliches Prozedere also wie bei Barrals Informe personal […]. Zwischen den Drucken und den Gedichten ist keine direkte mimetische oder illustrative Beziehung auszumachen, lediglich ein surrealer Assoziationsstil und die Figur des Hahnes stimmen überein. Die Figuren bei Hernández sind fragmentarische Zwischenwesen, halb Mensch, halb Tier, umgeben von ihren körperlichen Absonderungen. Die »Alborada«, das Morgenlied, mag einen ekphrastischen Kommentar zum Beispiel zum »vierten Akt« der Opera-Serie darstellen (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Lithographie von José Hernández
© VG Bild-Kunst, Bonn 2011.
114 Vgl. Makris, Mary (1993), »Collage as metapoetry in Angel González’s ›Palabras desprendidas de pinturas de José Hernández‹«, in: Anales de Literatura Española 18, S. 157-172, hier S. 158, und González García, Ángel (1978), José Hernández, Madrid: Turner, S. 78. Der Herausgeber ist nicht Ángel González (Muñiz), sondern ein Kunsthistoriker gleichen Namens der Universidad Complutense de Madrid.
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Die Evolutionsreihe mehrerer grotesker Figuren, u.a. mehrerer Hähne, die in einer unvollendeten Ellipse einander über den Horizont und den Himmel folgen, lässt sich als Illustration des Morgenliedes verstehen oder die »Alborada« als lyrischen Kommentar zur Lithographie. Wie der Hahn in González’ Text können sie Sänger und Gesungene zugleich sein. Insgesamt reiht sich González’ »Alborada« damit in den Topos der alba-Dichtung ein, auch wenn der Titel einen hier nicht aktualisierten, positiv besetzten Topos der galicischen höfischen Dichtung aufruft – der Beginn des Tages und des Tagewerkes wird in der alborada begrüßt, weil beide erst das Aufeinandertreffen der Liebenden ermöglichen.115 Der Schutzraum der Nacht »Clave del insomne«, das letzte Gedicht aus Barrals Informe personal […], greift den alba-Topos noch einmal mit der traditionellen Figurenbesetzung auf. Die Stille fungiert in der Wahrnehmung des Sprechers wie der vigía des Topos, der in der modernen alba-Version somit nur indirekt auftritt:116 »Como una voz de amigo que me advierte, / como un aviso repetido, cada / silencio entre segundos muerde, / quiebra la noche ambigua, / encubridora« (V.33-36). Auch hier ist die Ansprache der untreuen Geliebten (»Qué descuidada del celoso duermes«, V.74) nicht eindeutig von der Ansprache der Morgenröte zu unterscheiden: »Y toda tu penumbra tiene color de fango« (V.65). Wie bei Biedma kündigt sich der anbrechende Tag in der in die Moderne verlegten alba mit Geräuschen an, die von draußen zum Sprecher hinein dringen: ¿Dónde
Y escucha en el silencio: sucediéndose
suenan pasos solemnes o cautelosos trancos
hacia lo lejos, se oyen enronquecer
o afiladas carreras de tacones de aguja
los tranvías que llevan al trabajo.
en un parque desierto con murmullo de alas?
Es el amanecer.
¿O el cuchillo enguantado de las bicicletas por entre los jirones de la bruma disuelta?
Irán amontonándose las flores cortadas en las Ramblas, y silbarán los pájaros –cabrones–
(Barral, »Clave del insomne«, V.58-63)
(Gil de Biedma, »Albada«, V.9-15) 117
115 Vgl. Partzsch (2001a), S. 15. 116 Vgl. Riera (2003), S. 50f. 117 In einer interessanten Koinzidenz zwischen Biedmas »Albada« und Barrals »Clave del insomne« kehrt das Anbrechen des Tagewerkes auf den Ramblas in Barcelona bei Biedma (V.14) in einer Metapher bei Barral wieder: »Porque tal vez / en las aguas internas, temporales, / sucias ramblas del muerto apresurado / por un paisaje obscuro, y
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Dabei erfährt der Sprecher die Nacht als Schutzraum vor der »öffentlichen Welt des Tages«118, der »los otros«, die bereits in der Übersetzung von Pessoa auftraten, zugehörig ist: quiebra la noche ambigua, encubridora, y delata los péndulos sonoros, las ballestas metálicas del tiempo, del tiempo de los otros […] (Barral, »Clave del insomne«, V.36-39)
Das Morgengrauen markiert in »Contra el alma […]« den Übergang in die Öffentlichkeit und ist als Zwischenraum zwischen Sein und Nichtsein gekennzeichnet (»y este peso del cuerpo / como la muerte casi, o sólo apenas / quebranto de los huesos y del rijo«, V.29-31), in dem sich der Sprecher seiner Körperlichkeit nur über das Urinieren versichern kann: »A la vida o a la muerte, como cuando // meábamos en grupo, de uniforme« (V.37/38). Der Morgen, der neue Tag, legt sich wie eine Maske über das Gesicht des Sprechers, der sich in der Selbstansprache schutzlos dem Leben der anderen ausgeliefert sieht: El alba se apodera de ti como una mueca enyesada, como una cara ajena o máscara que hunde sus cuernos en las sienes, el alba que te empuña, que te arroja indefenso a la vida de los otros. (Barral, »Contra el alma […]«, V.32-36.)
In der jüngsten Version des alba-Topos, Goytisolos La noche le es propicia, werden Aspekte des Topos in modernisierter Form aufgegriffen, wobei sich Similaritäten zu den bei Barral, Biedma, Ferrater und Goytisolo beobachteten Aktualisierungen aufzeigen lassen. Zunächst präsentiert La noche le es propicia eine Besonderheit: Wie Barrals Informe personal […] ist hier ein gesamter Gedichtband dem Thema der alba bzw. der Liebesnacht gewidmet, die zwangsläu-
en las crestas / empañadas del alba, se decide / todo un largo futuro del alma, por el plazo / inexorable y público de un día« (V.88-94). 118 Partzsch (2001a), S. 188.
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fig zu Ende gehen muss.119 Während bei Barral jedoch die thematische und motivische Kontinuität die Einheitlichkeit gewährt, bilden bei Goytisolo die zentralen Figuren der alba, das Liebespaar, die Konstante. Über 38 Gedichte, in 38 Sequenzen, wird – und hier findet sich die Parallele zur Biedma’schen »Albada« – die Geschichte eines ›One night stand‹ dargestellt. In seiner Modernität wird hier der altokzitanische Topos in der Anwesenheit der Frau im Hotelzimmer mit dem Geliebten120 und ihrer gleichzeitigen Abwesenheit in ihrem Haus, das metonymisch für ihre Ehe steht, thematisiert: […] ella observa la ciudad ardiente y cree ver su casa lejos entre muchas. Mueve un brazo y saluda su ausencia. Y se estremece. (Goytisolo, »Y saluda a su ausencia«, V.9-12)
Der Sprecher fungiert als heterodiegetischer Erzähler. Das Geschehen wird abwechselnd aus der Sicht des Mannes und der Sicht der die Initiative ergreifenden Frau perspektiviert: »y la mujer siempre mirando / sin decir nada. Ya salían cuando se puso junto a él« (»Bajo la sombra«, V.10-12).121 Der Fokalisierungswechsel wird motivisch im ausgetauschten Blick aufgenommen (»Y se miran y miran«, »Tal si fuera incienso«, V.8), der sich in »Al otro lado del espejo« in dem Wunsch konkretisiert, den gegenseitigen Blick in einen gemeinsamen Blick zu fassen, der körperlichen Vereinigung ein kognitives Einssein folgen zu lassen: »Desearía estar con él / al otro lado del espejo / por resultar así los dos / espectadores de sí mismos« (V.1-4). Das siebte Gedicht, »La noche le es propicia«, wendet den Titel des Bandes auf die Blickrichtung der Frau (»ella«, V.3), die fortan als »Reflektorfigur«122 dominiert, und stellt damit einen Gegenentwurf zu den bei Barral und Ferrater eingenommenen maskulinen Perspektiven dar. Der Morgen als Moment der Trennung erscheint als der Zeitpunkt, an dem die Geliebte fürchtet, ihre Bedürfnisse noch nicht gestillt zu haben:
119 Die Einheitlichkeit des Bandes wird auch dadurch unterstrichen, dass es sich bei allen Texten um Erstveröffentlichungen handelt und keine Gedichte aus bereits veröffentlichten Bänden aufgenommen werden. 120 Vgl. Biedmas »Albada« und Partzsch (2001a) S. 216. 121 Partzsch sieht in der aktiven Rolle der Frau einen Tabubruch (vgl. ebd.). 122 Ebd., S. 219.
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Aunque la historia tan sólo ha comenzado y sepa que la noche le es propicia teme que con el alba continúe con sed igual que siempre. (Goytisolo, »La noche le es propicia«, V.9-15)
Der Morgen kündigt sich in »Se oyen los pájaros« mit dem Gesang der Vögel an: »El alba. Se oyen los pájaros / como perdidos en la niebla; / el silencio sube sus cantos / a la penumbra de la estancia« (V.1-4).123 Der Titel des Buches, La noche le es propicia, der mit dem gleichnamigen Gedicht auf die Figur der Frau zu beziehen ist, wird im drittletzten Text zum Attribut des Mannes, allerdings nun negativ gewendet und auf den anbrechenden Tag bezogen: Während die Nacht ihr gewogen war, ist ihm, paradoxerweise, der Tod gewogen, denn die nächtliche Gemeinsamkeit kann nicht fortgesetzt werden. Somit findet sich hier die Opposition vom Schutzraum der Nacht und der Öffentlichkeit des Tages, die bei Barral festgestellt worden ist, wieder. Su cuerpo de luz saldrá a la luz y él escapa contrito: no hay retorno pues sabe que la muerte le es propicia (Goytisolo, »No hay retorno«, V.15-20)
In der Übertragung der Hauptperspektive auf die Frau findet eine wesentliche Wandlung des Topos statt, der sich in der Isotopie des Spiels niederschlägt. Die Frau versucht im ›Liebesspiel‹ die Unbeschwertheit ihrer Kindheit wiederzuerlangen (»seguir jugando a ser más niña«, »Así el deseo recomienza«, V.14), um sich und ihre sexuellen Bedürfnisse zu verwirklichen. Wenn sie, wie der Mann, am Morgen in ihre angenommene Rolle der Ehefrau und Mutter zurückkehrt, um
123 Vgl. Barrals »Clave del insomne« und Biedmas »Albada«, besonders die semantisch und lexikalisch parallelen Verse »[…] se oyen enronquecer / los tranvías que llevan al trabajo. / Es el amanecer« (V.10-12).
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für »los suyos« (»Llegará sigilosa«, V.6) den Frühstückstisch zu decken (»El sol alumbra / la mesa preparada«, V.14/15), wird der nächtliche Ausbruch aus den Normen mit der Rückkehr in die Öffentlichkeit und Routine beendet. Die Abneigung gegen das Anbrechen des Tages, das zum Verlassen des nächtlichen Schutzraumes und zur Rückkehr in einen von Routine geprägten Alltag nötigt, tritt als Gemeinsamkeit des alba-Motivs bei Barral, Biedma, Ferrater, González und Goytisolo auf. Neben der intertextuellen Verbindung zur vorgängigen literarischen Tradition demonstriert die similare ré-écriture der alba semantische Interferenzen zwischen den Texten des Korpus. Gegenüber einer individuellen Eingliederung der jeweiligen alba-Gedichte in die literarische Tradition qualifiziert das übereinstimmende semantische Paradigma die vorliegenden Texte als isotopisches Kontinuum im Sinne der Interferenz II.
5 Zwischenfazit: Ein intermittentes Narrativ
Die vorherigen Kapitel des Abschnittes Interferenz II haben gezeigt, wie in den Texten der hier betrachteten Dichter Aspekte einer Lebensschilderung aufgegriffen werden, insofern sie »[…] la totalidad de experiencias del personaje en lo que tienen de significativo para la formación y desarrollo de una personalidad«1 darstellen, wie Gonzalo Corona Marzol für Biedma feststellt. Dabei hat sich herausgestellt, dass die einzelnen Gedichte weder innerhalb der jeweiligen Publikationen, noch außerhalb, also bezogen auf die Veröffentlichungen der anderen Autoren, isoliert dastehen. Vielmehr bilden sich semantische Kontinua aus: Textübergreifende Isotopien bringen die einzelnen Gedichte in einer zyklischen Lektüre untereinander und interferentiell mit den Texten der anderen Dichter in Verbindung. Die vergleichenden Analysen haben die thematischen Parallelen aufgezeigt und durch ihre Orientierung an Biographemen die zyklische Lesart bereits praktiziert. Die Legitimität einer solchen Lektüre soll nun zusammenfassend anhand der Textstrategien überprüft werden, die sie etablieren. Wesentliche Definitionselemente des Zyklus sind für die betrachteten Texte von Barral, Ferrater, Gil de Biedma, González und Goytisolo die Rekurrenz und Betonung semantischer Paradigmen, eine gewisse Chronologie und außerdem die Kontinuität der Äußerungsinstanz, die es erlaubt, e i n e Senderfigur als übergreifendes und die Episoden integrierendes Sprechersubjekt zu identifizieren. Diese konsistente Senderfigur erscheint als Erzähler einer Geschichte, welche die einzelnen Texte episodisch überspannt und ihnen Kontinuität verleiht. Bei Jaime Gil de Biedma manifestiert sich in einem Großteil der Gedichte ein lyrisches Ich, welches vor allem mit drei Themenkomplexen in Verbindung steht: zum einen mit Erinnerungsinhalten im Kontext von Kindheit und Jugend, in Ge-
1
Corona Marzol, Gonzalo (1991), Aspectos del taller poético de Jaime Gil de Biedma, Madrid: Júcar, S. 14.
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dichten mit Liebes- oder erotischem Hintergrund und schließlich in solchen, die sich mit dem Prozess des Älterwerdens beschäftigen. Auch die unpersönlich formulierten Gedichte, die von einer nicht näher spezifizierten Sprecherinstanz geäußert werden, lassen sich gruppieren. Es handelt sich dabei nicht nur um Texte, die den Sprecher nicht näher charakterisieren, sondern auch die Adressateninstanz wird weniger konkretisiert. Ist diese vorhanden, so richtet sich die Rede vor allem an ein Rezipientenkollektiv (vgl. z.B. das wiederholte »ved« in »Lágrima«, V.10,12,62,65), dessen Relation zum Sprecher nicht näher erläutert wird, wie es beispielsweise in »Infancia y confesiones« der Fall ist (»[…] antes / de conoceros«, V.4/5). Sie gehören zu einer der poesía social zuzuordnenden Thematik, welche gesellschaftliche Missstände mehr suggeriert als programmatisch vertritt und zu Veränderungen unspezifischer Art aufruft, so zum Beispiel »El miedo sobreviene«, »Lágrima«, »Por lo visto«, »Canción para ese día«, »Asturias, 1962«. Eine Ausnahme bildet »Piazza del popolo«, welches im Epigraph explizit einer historischen Sprecherfigur zugeordnet wird, nämlich María Zambrano. Somit lassen sich bei Biedma thematische und formale Kontinuitäten über Las personas del verbo insgesamt etablieren. Besonders von Compañeros de viaje zu Moralidades ist zwar eine Verschiebung des Schwerpunktes zu konstatieren, thematisch ergeben sich aber die drei Konstanten der Erinnerung und Selbstwahrnehmung, der Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Problematiken sowie der Liebe und Erotik. Das Motiv der Illusionshaftigkeit des Erlebens und der Vergänglichkeit der Zeit tritt mit allen drei Themenkonstanten verknüpft auf. Auch die Sprechsituation bleibt in diesen Themenbereichen über die Gesamtveröffentlichung hinweg vergleichbar: So dominiert die Konstitution des Erinnerungsprozesses aus der Gegenwart heraus die memoria-Texte, die Ansprache des Du charakterisiert die Gedichte mit Liebesthematik und die Texte, die einer im engeren Sinne poesía social zuzuordnen sind, sind eher unpersönlich formuliert. Im Falle Carlos Barrals lässt sich eine klare Kontinuität des lyrischen Ich in Diecinueve figuras de mi historia civil feststellen, in dem alle Gedichte (mit Ausnahme von »Al tamaño del cine«) einen erinnernden Vergangenheitsbezug mit zwei thematischen Konstanzen aufweisen: zum einen die Kindheitserinnerungen, zum anderen die Ich-Bestimmung anhand von sozialen Differenzen. Hier findet sich die Basis der zyklischen Lektüre der Gedichte als Biographeme: »[…] la historia del sujeto poético a través de diversas secuencias infantiles y adolescentes […]«.2 Aber auch, wenn ab Usuras eine solche Häufung nicht weiter auf-
2
Riera (1989), S. 305.
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tritt, lässt sich über thematische Rekurrenzen ein immer wieder auftauchendes lyrisches Ich in Beziehung zu vorherigen Gedichten setzen. Das liegt vor allem daran, dass der Sprecher sich weniger durch besondere, zum Beispiel physische Eigenschaften charakterisiert, sondern durch die Haltung, die er gegenüber seinem Sprechgegenstand einnimmt. So kann man in Diecinueve figuras de mi historia civil besonders den Versuch der rückblickenden Erfassung der Vergangenheit und der Selbsterkenntnis hervorheben, während in Usuras ein ausschnittartiger Blick auf verschiedene vom lyrischen Ich besuchte Orte vorherrscht. Figuración del tiempo kehrt dann zur Introspektion des Sprechers zurück. In Lecciones de cosas […] lassen sich alle in vorherigen Veröffentlichungen eingenommenen Fokalisierungen wiederfinden: stilisierende Beschreibung in Tres poemas heráldicos, gegenwärtige Introspektion und rückblickende Erinnerung. Bereits hingewiesen wurde auf die bei Barral über das Gesamtwerk zu verfolgende Meeresthematik. Sie lässt sich bereits in den Poemas previos (welche 1979 in der Gesamtausgabe Usuras y figuraciones nach Metropolitano eingeordnet wurden, chronologisch aber, wie der Titel besagt, früher entstanden sind), mit so signifikanten Titeln wie »Mar« und »Las aguas reiteradas« feststellen. Dabei wird das Meer sowohl als motivisches als auch als metaphorisches Element eingesetzt, wenn in »Las aguas reiteradas« der Körper der Frau mit einer Meeresallegorie belegt wird (»Luego eras luz y transparencia tenue / y volvían las sombras a tenderse / sobre este mar de piel acantilada«, V.107-109). In Diecinueve figuras […] gewinnt dann vor allem der situative Aspekt des Lebensraumes am Meer Bedeutung, sowohl in Erinnerung an Kindheitserlebnisse als auch besonders in der Auseinandersetzung des lyrischen Ich mit der sozialen Gruppe der Fischer – Aspekte, die im fünfteiligen Langgedicht »Hombre en la mar« abschließend wieder aufgegriffen werden. In Lecciones de cosas […] kehrt das Motiv des Meeres wieder. Dass eine derartige Kontinuität auch dann gegeben sein kann, wenn das lyrische Ich nicht eindeutig auftritt, zeigt sich am Beispiel von Fin de escala und Informe personal […]. In beiden Bänden werden thematische Kontinuitäten entwickelt: So lassen schon die Titel in Fin de escala einen Postkartencharakter3 erkennen, der jede Sprechsituation an einem anderen Ort situiert, welcher zum Teil in seiner Referentialität sehr explizit ist. Besonders stechen dabei folgende Titel hervor: »Parque de Montjuich«, »Cercanías del Prado«, »Compro un albornoz en Keiruán«, »Silva de Siracusa o Bosque de Palermo« und »Tlaloc en Chapultepec«. Nachdem sich in »Parque de Montjuich« das lyrische Ich als Besucher des Ortes konstituiert hat, den es beschreibt (»Una ciudad, querida, en que tú y yo / no viviríamos a gusto. Y, sin embargo, / por la que no me importa
3
Riera spricht von einem »álbum de postales«. Riera (1990), S. 125.
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haber pasado.« V.58-60), wird dann zum Beispiel in »Plaza de armas con pluma de pelícano« die Beschreibung und ihre Kommentierung ebenfalls diesem Sprecher zugeordnet, auch wenn keinerlei Deiktika auf ihn verweisen: »Huele el aceite gris de los balaustres, / de los dinteles, de las celosías« (V.1/2). Wenn hier die übergreifende motivische Zusammenfassung die eines Besuchers unterschiedlicher Orte ist, so deutet in Informe personal […] schon der Titel auf die thematische Kontinuität der vierzehn Gedichte in diesem Band hin. Antònia Cabanilles liest Biedmas Las personas del verbo als Lebensgeschichte des lyrischen Ich, die über das Gesamtwerk aufgebaut wird4 und dabei auf Aspekte – Biographeme – aus verschiedenen Lebensabschnitten des Sprechers eingeht. Riera spricht in Bezug auf Barrals Texte von einem »itinerario vital«5 des Sprecher-Ich. Barrals Lecciones de cosas […] lässt sich als eine Rekapitulation der vorherigen Veröffentlichungen lesen, in der sowohl von einem häufig visuellen Eindruck hervorgerufene Beschreibungen (zum Beispiel die Tres poemas heráldicos), die Auseinandersetzung mit dem Ich als personaje (»Ritual de la ducha«), das Älterwerden als auch eine Kindheitserinnerung (»Un dudoso recuerdo«) enthalten sind – somit kann auch bei Barral eine derartige Chronologie verfolgt werden, besonders, wenn man den Bogen von Diecinueve figuras […] aus spannt.6 Sicherlich ist bei beiden Dichtern nicht jedes Gedicht für eine derartige Sprecherbiographie relevant, dennoch schaffen die analysierten Kontinuitätselemente über die einzelnen Gedichte und Bände hinaus eine Einheit, die den Sprecher der meisten Texte als übergreifende Äußerungsinstanz wahrnehmbar macht. In Anlehnung an die Auffassung lebensweltlicher Biographien als rhetorische Konstrukte7 kann man die einzelnen Gedichte als »narrative Einheiten« bezeichnen, die beim Erzählen als »einer verbalen Technik der Erfahrungsrekapi-
4
»Las personas del verbo cuenta la historia de una vida concreta desde la crisis de la adolescencia, con referencias a la infancia […] hasta la vejez […].« Cabanilles (1989), S. 144 (Herv. i.O.).
5
Riera (1990), S. 55.
6
»[…] [A]compañamos al sujeto poético por su itinerario vital a través de un paisaje
7
Vgl. Koller, Hans-Christoph (1993), »Biographie als rhetorisches Konstrukt«, in:
urbano o marítimo y de unas situaciones concretas […].« Riera (2003), S. 46. BIOS 6, S. 33-45. Die Beobachtung entstand wohlgemerkt aus dem Zusammenhang mündlicher Lebenserzählungen im Rahmen biographischer Interviews, ist aber auch in anderen Forschungszweigen der Soziologie oder Historiographie festgestellt worden, vgl. zum Beispiel das Konzept der narrativen Identität bei Ricœur, Paul (1991) [1985], Zeit und Erzählung. Band III. Die erzählte Zeit, München: Fink, S. 395f.
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tulation«8 gebildet werden und in sich »der temporalen Abfolge der gemachten Erfahrung«9 entsprechen. Man müsste also nicht bei jedem Gedicht wieder von einer komplett neuen, in sich abgeschlossenen Pragmatik und Semantik ausgehen, sondern könnte gerade im Kontext der in eine narrative Sprechsituation eingebetteten Texte eine Identitätskonstruktion annehmen, die sich über die einzelnen lyrischen Einheiten hinweg bildet, welche im Gesamtzusammenhang die Biographeme des lyrischen Ich darstellen würden. Bei Biedma und Barral lässt sich relativ konsistent eine Chronologie dieser Lebenserzählung des Sprechers nachvollziehen. Zentral scheint mir dabei zu sein, dass die Äußerungsinstanz einer einzigen Figur zugeordnet werden kann. Damit wäre der semantische Kern der Texte »el desarrollo y la justificación de una personalidad y de los elementos que la han ido conformando a lo largo del tiempo.«10 Bei Gabriel Ferrater lässt sich kein derartiger Zyklus in der Form rekonstruieren, dass die Gedichte die chronologische Abfolge einer linear erzählten Biographie annähmen. Dennoch lässt sich der Sprecher der Texte als individuelle Aussageinstanz wahrnehmen, welche einem Großteil der Gedichte eine konstante Sprecherfigur verleiht. Die Gründe dafür liegen sowohl auf der Ebene der Selbstbeschreibung des Sprechers als auch auf der Ebene der formalen Konstitution der Sprechsituation. Das liegt vor allem daran, dass mit »In memoriam« und »Poema inacabat« zwei ob ihres Umfangs hervorstechende Langgedichte eine sehr narrative Sprechweise einnehmen und sich auf die Lebenssituation des lyrischen Ich beziehen. So verhandelt »In memoriam« (mit dem Da nuces pueris und auch die Gesamtausgabe Les dones i els dies beginnt) Erinnerungsmomente des lyrischen Ich bezogen auf den Bürgerkrieg, an welche »Lliçó d’història«, »Temps enrera«, »Petita guerra« (alle aus Da nuces pueris) und »Cançó idiota« (aus Teoria dels cossos) thematisch anschließen. In »Poema inacabat«, welches Teoria dels cossos einleitet, wird das Erleben des Ich – in Vergangenheit und Gegenwart – in einen intellektuellen Prozess erzählerischen Mäanderns11 eingebettet: »[…] [L]’experiència mateixa és contínuament reconstruïda per la imagi-
8
Labov, William/Waletzky, Joshua (1973), »Erzählanalyse: Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung«, in: Ihwe, Jens (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Eine Auswahl. Texte zur Theorie der Literaturwissenschaft, Band 2, Frankfurt am Main: Athenäum, S. 78-126, hier S. 79 (Herv. i.O.).
9
Ebd.
10 Corona Marzol (1991), S. 15. 11 Macià und Perpinyà sprechen vom »caràcter digressiu« dieses Textes. Macià/Perpinyà (1986), S. 65.
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nació, i […] aquest procés arriba a donar la sensació d’una vida determinada.«12 Ein die Einzelveröffentlichungen überschreitendes thematisches Element ist die Auseinandersetzung mit dem Alterungsprozess des Ich, der sich in der Ansprache der jungen Adressatin Helena aus »Helena« und »Poema inacabat« widerspiegelt. Mehrfach wird das Alter des Sprechers mit dem Alter der Angesprochenen parallelisiert. So wird in »Helena« der zwanzigste Geburtstag der Angesprochenen zum Motiv der Sprecherrede (»Fas vint anys«, V.1), während in »Poema inacabat« im Kontext der Ansprache von Helena das lyrische Ich sein eigenes Alter erwähnt: »[…] els meus vint anys / van ser en els anys quarantatants« (V.265/266) und »[…] que em vegis plorar / cocodrilot de quaranta anys« (V.1071/1072). Die Altersangabe kehrt ein letztes Mal in »Aniversari« wieder. Neben der Präsenz eines wiedererkennbaren Sprechers stellt die Verdoppelung der Sprecherinstanz in noch stärkerem Maße als bei Barral und Biedma, bei denen das Phänomen des desdoblamiento auch zu beobachten war, eine Konstanz in den Texten Ferraters dar. Es handelt sich um jene Texte, in denen der Sprecher sich an ein lyrisches Du richtet, das weder mit der ebenfalls mehrfach angesprochenen Geliebten (z.B. »Cambra de la tardor«, »Boira«), noch mit dem Sprecher direkt identifiziert werden kann: »La tens als teus braços. / Dorms, i la somnies« (»Fe«, V.1/2). Dieses in der Umgangssprache verallgemeinernde Du lässt gerade in der Verallgemeinerung den Rückschluss auf eine Selbstansprache des Sprechers zu. Wesentlich ist dafür auch, dass das lyrische Ich sich nicht manifestiert und die Wahrnehmung trotzdem intern fokalisiert ist. Generell wiederholt sich diese nicht explizit gemachte Selbstansprache13 vor allem in den Liebesgedichten des alphabetisch sortierten zweiten Teils von Teoria dels cossos – »l’abecedari amorós«14. Es ist hier also sowohl die Präsenz des Ich wie des Du, die den Wiedererkennungswert der Sprechsituation ausmacht. Während bei Biedma, Barral und Ferrater die recht konstante Perspektive des lyrischen Ich sowie thematische Rekurrenzen die Einheit der zyklischen Lektüre gewährleisten, stellt sich bei Ángel González kein derartiger biographischer Kursus des Sprechers heraus, wenn auch die analysierten biographischen Fragmente gegeben sind. Es lassen sich jedoch zum einen Konstanten auf der Ebene von Thematik und Motivik erkennen, welche besonders in der ironischen Gesellschaftskritik, den Erinnerungssequenzen und den Texten mit Liebesthematik bestehen. Ähnlich wie bei Biedma erscheint thematisch übergreifend die Ausei-
12 Terry (1991), S. 23. 13 Vgl. auch Kapitel 3.2. 14 Perpinyà, Núria (1991), ›Teoria dels cossos‹ de Gabriel Ferrater, Barcelona: Empúries, S. 41.
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nandersetzung mit zeitlichen Abläufen, besonders der Vergänglichkeit und der vergeblich erwarteten Zukunft. Über alle Veröffentlichungen lässt sich verfolgen, wie dieses Leitthema motivisch mit Isotopien des Tages- und Jahresablaufes, mit kalendarischen und klimatischen Metaphern belegt wird. Die drei Hauptthemen lassen sich zum anderen bestimmten Sprechsituationen zuordnen: Die Erinnerungssequenzen sind an die Perspektive eines lyrischen Ich gebunden, während die ironischen Gedichte einem lyrischen Rollen-Ich15 oder einer unpersönlichen Sprecher-origo entstammen. Auch in den Liebesgedichten tritt das lyrische Ich häufig nur indirekt, durch die Ansprache des Du auf. Deswegen ist die Präsenz des »tú« eine Konstante,16 die zunächst paradox erscheinen mag, aber besonders deutlich die Fokalisierung der Sprecherperspektive verdeutlicht, weil die Angesprochene als Objekt den Blick des Sprechers anzeigt, der auf sie fällt. Ein letztes Element, das die einzelnen Gedichte und die einzelnen Veröffentlichungen mit Hinblick auf eine Lebenserzählung kohäsioniert, ist die wiederkehrende Identifikation des Sprechers, der seinen Namen preisgibt: So beginnt bereits das zweite Gedicht der ersten Veröffentlichung, Áspero mundo, mit dem Vers »Para que yo me llame Ángel González«. In »Me basta así« aus Palabra sobre palabra sagt der Sprecher »[…] si yo fuese / Dios, haría / lo posible por ser Ángel González« (V.26-28), in »Preámbulo a un silencio« aus Tratado de urbanismo identifiziert er sich als »Ángel, / me dicen« (V.25/26) und in »Siempre lo que quieras« aus Breves acotaciones para una biografía wird der Name ein letztes Mal genannt: »Se llama Ángel« (V.11). Die einheitliche Sprecherposition wird hier also mit dem Eigennamen als identifizierendem Moment des SprecherIch über mehrere Publikationen hinweg eingeführt und geht in dieser Konstanz auch über Biedmas Nennung des Sprechernamens in den beiden programmatischen Gedichten aus Poemas póstumos hinaus.17 Anhand der Gedichte von José Agustín Goytisolo lässt sich zusammenfassend der Rekurs auf Biographeme des Sprecher-Ich in den hier analysierten Texten erläutern: Die Lebenserzählung des Sprechers formt anhand bestimmter Aspekte Biographie-Fragmente, die an die Binnenpragmatik, vor allem die Einheitlichkeit der Sprechsituation gebunden sind. Den Kern einer solchen Lesart bildet Goytisolos dritter Gedichtband, Claridad, der in den drei Unterabschnitten »El ayer«, »En el camino« und »Hacia la vida« »[…] la infancia, la adolescencia y la
15 Vgl. z.B. »Discurso a los jóvenes«, Kapitel 6.2.2. 16 Benson identifiziert das nicht eindeutige Du als »símbolo de un amor cósmico«. Benson (1981), S. 570. 17 Zu den Implikationen der Übereinstimmung des Autor- und Figurennamens vgl. die Kapitel 7.2.1 und 7.2.3.
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madurez del sujeto poético«18 verhandelt. Fast ausnahmslos spricht hier ein lyrisches Ich, welches sich über seinen narrativen Erinnerungsdiskurs definiert und somit auch in späteren Texten identifizierbar bleibt.19 In jedem Unterabschnitt verhandelt ein Gedicht die zeitliche Situierung des Sprechers. »Siete años« stellt eine Kindheitserinnerung in den Mittelpunkt, die zugleich das Vergehen der Kindheit thematisiert: Yo era, entonces, muy niño todavía, pero sentí el amor de lo perecedero, de lo que pasa y pasa, como pasó aquel día debajo del almendro. (Goytisolo, »Siete años«, V.10-16)
Von der erinnerungsbezogenen und deshalb vor allem in Vergangenheitstempi formulierten Rede findet zu »Años turbios« ein Wechsel ins Präsens statt, der die Nähe zur Gegenwart des Sprechens aufzeigt. Der Zeitsprung vom siebenjährigen Kind (»Siete años«) in die Gegenwart wird durch die Altersangabe deutlich gemacht: »Ahora son veinte años / con fiebre y con hastío« (V.3/4). Das Älterwerden führt schließlich dazu, dass der Sprecher sich nicht mehr allein über die erste Person Singular definiert, sondern der Plural bestimmend wird: »Con nosotros«. Die Sprecherrede ist weiterhin im Präsens gehalten und verhandelt anhand eines Zimmers, das bislang dem lyrischen Ich gehört hat (»que hasta hace poco / era mía«, V.5) und sich sonst in keiner Weise verändert hat (wie die fünffache Wiederholung von »mismo«/ »mismos«/ »mismas« zeigt), die Geburt (s)eines Kindes: »una niña, una / niña«, V.19/20). Pena spitzt die zyklische Lektüre von Goytisolos Gedichten noch zu: Über das Gesamtwerk sieht er den spezifischen Blick des lyrischen Ich auf die es umgebende Stadt gerichtet. Goytisolos Texte ergeben demnach eine »[…] narración en cuatro etapas cronológicas de los avatares y cambios de una ciudad a través 18 Riera (1991), S. 55. 19 Ähnlich wie bei González tritt in anderen Veröffentlichungen auch ein entweder nicht als lyrisches Ich zu identifizierender Sprecher oder ein Rollen-Ich auf – letzteres besonders in den ironischen Texten (vor allem der ironische allwissende Sprecher in Salmos al viento und der Sprecher in einigen der Architekturbetrachtungen in Taller de arquitectura).
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de la vida y la mirada de un personaje concreto […].«20 In dieser Hinsicht lässt sich die zyklische Lektüre bei Goytisolo auch noch einmal auf die Selbstbestimmung des Ich in den Texten von Barral, Ferrater, Gil de Biedma und González übertragen: In unterschiedlichen Ausprägungen hat sich eine Selbstbestimmung der Sprecher gezeigt, die sich zwischen einem sehr selbstbezogenen und einem auf die Gesellschaft gerichteten Blick verortet. Der Selbstansprache und dem desdoblamiento der Sprecher steht die Bewusstwerdung ihrer gesellschaftlichen Position gegenüber. Ihre Selbstkonstitution oszilliert also zwischen den Polen von Gesellschaftsbezug und Solipsismus. Wie die zyklische Lesart der analysierten Gedichte des Korpus gezeigt hat, führt die lyrische Gattung durch ihre Form vor, wie die einzelnen Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken des Sprechers sich zu einem Mosaik zusammensetzen, das Fragen der Einheit und Identität schon durch seine in einzelne Gedichte fragmentarisierte Form en abyme setzt. Somit scheint gerade die Lyrik besonders dafür geeignet zu sein, ein Leben in seiner Ansammlung von Ereignissen, von »Vorlieben und Neigungen«, zu präsentieren, wie Barthes es für die Biographeme formuliert. Gedichte ermöglichen daher eine spezifisch lyrische Form der Lebenserzählung, die nun zusammenfassend als ›intermittentes Narrativ‹ definiert werden kann: Fragmente einer Lebenserzählung, die in ihrer Form den einzelnen Gedichttexten entsprechen,21 verhandeln für das Leben des lyrischen Ich relevante Biographeme. Die Sprechsituation stellt Kontinuität zwischen den einzelnen Biographemen her, insofern der Sprecher als lyrisches Ich wiedererkannt werden kann (was in erster Linie über die erinnernde Fokalisierung und erst in zweiter Linie über eine thematische Linearität der einzelnen Aussagen geschieht).22 Hinzu kommt eine narrative Sprechweise, welche die Biographeme episodisch vermittelt.
20 Pena (1997), S. 18. 21 Barthes nennt das Haiku als Metapher der Erinnerungsanstrengung des Subjektes. Vgl. Barthes (2010), S. 129. 22 Riera hat für Goytisolo und Barral zwei dieser drei zentralen Strategien der Sprechsituation herausgearbeitet: Deixis und »egocentrismo«, die sie allerdings vor allem in den in Kontinutät zur poesía social stehenden Texten mit einer prononcierten egohic-nunc-origo gegeben sieht, namentlich Barrals Diecinueve figuras de mi historia civil sowie Claridad und Algo sucede von Goytisolo. Vgl. Riera (1991), S. 170-183, insbesondere S. 173, und Riera (1990), S. 249-254.
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Wichtig bleibt festzuhalten, dass sich diese zyklische Lektüre zum einen aus der romantischen, vor allem angloamerikanischen Tradition speist,23 in der die biographischen Stationen Teil des Selbstentwurfes des Dichters sind.24 Die hier betrachteten Lebenserzählungen gehen jedoch über die Schaffung eines romantischen alter ego des Dichters hinaus, wie in Kapitel 7 mithilfe des Begriffes der Autofiktion gezeigt wird. Einen weiteren historischen Anknüpfungspunkt stellen die Gedichtzyklen petrarkistischer Prägung dar, die jedoch sehr viel mehr durch ein klares thematisches Zentrum und einen konkreten Fluchtpunkt und Adressaten der Rede gekennzeichnet sind. Zudem lässt sich im vorliegenden Korpus eine Markierung der Zyklik lediglich im Titel des Bandes Diecinueve figuras de mi historia civil von Barral feststellen, und eine ›teleologische‹ Chronologie scheint nur in Biedmas Poemas póstumos auf. Der Begriff des ›intermittenten Narrativs‹ ließe sich zweifellos auch auf die petrarkistischen oder romantischen Zyklen anwenden, insofern ein »narratives Substrat«25 besteht: Das intermittente Narrativ ergibt sich immerhin wesentlich aus der Addition des Erzählten. Die Akkumulation von einzelnen Lebens- und Erzähleinheiten, die diesem Narrativ mehr oder weniger konsistent zugeordnet werden können, stellen den Überschuss des (post-)modernen Zyklus dar: Er wird nur schwach markiert und seine Sammlung zum Teil disparater Fragmente öffnen ihn über die Lebenserzählung hinaus. Mithin ist die hier vorgenommene zyklische Lektüre auf Basis der Similaritäten der Biographeme nicht als Versuch einer Systemdefinition, wie sie zum Teil für den Petrarkismus stark gemacht wird,26 zu verstehen. Die Interferenzen etablieren zwar ein übergreifendes semantisches Kontinuum, jedoch nicht im Sinne eines ›Methodenkanons‹ und einer »semantischen Tiefenstruktur«27. Die thematischen Similaritäten stehen in einem Dialog miteinander, der jedoch erst in seiner formalen Ausgestaltung als spezifisch lyrisches Narrativ die übergreifende Klammer bildet. Das intermittente Narrativ ließe sich also zum einen als
23 Vgl. Walsh, Andrew Samuel (2004), Jaime Gil de Biedma y la tradición angloamericana, Granada: Universidad de Granada. 24 Vgl. Assmann (2003) S. 101, 113. 25 Regn (1993), S. 256. 26 Vgl. die Beiträge zu Hempfer, Klaus/Regn, Gerhard (Hrsg.) (1993), Der petrarkistische Diskurs. Spielräume und Grenzen, Stuttgart: Franz Steiner. 27 Oster, Patricia (1995), »Weibliche Bildfindung im Petrarkismus. Zur Anthropologie geschlechtsspezifischer Anschauungsformen bei Gaspara Stampa«, in: Behrens, Rolf/Galle, Roland (Hrsg.), Historische Anthropologie und Literatur. Romanistische Beiträge zu einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft, Würzburg: Könighausen und Neumann, S. 39-51, hier S. 40.
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ein möglicher Erzählmodus der Lyrik im Allgemeinen fassen28, im Speziellen charakterisiert er die thematischen Interferenzen der vorliegenden Texte und ihre formale Bündelung. Das lyrische Narrativ der Lebenserzählung in Biographemen lässt sich somit als übergreifende Similaritätsbeziehung zwischen den fünf Einzelkorpora im Sinne der Interferenz II beschreiben. Zusammenfassend betrachtet, bilden die analysierten Biographeme in der semantischen Dimension der Interferenz die Motive eines solchermaßen ›intermittenten‹ lyrischen Narrativs. Diese bis hierher herausgearbeiteten Similaritäten zwischen den Texten der fünf Dichter können nun als ›implizite Interferenzen‹ charakterisiert werden: Bei den Biographemen und den Modi der Selbstwahrnehmung handelt es sich um gemeinsame, das Textkorpus übergreifende Paradigmen. Der aufgezeigte Dialog von Gedicht zu Gedicht wird nicht explizit markiert, sondern in ein implizit interferentielles, über Isotopien aufgebautes semantisches Kontinuum eingeschrieben. Die vorliegenden Similaritätsaspekte stellen also ein intertextuelles Netz zwischen den verschiedenen Gedichten dar, so dass ein semantisches Kontinuum über das gesamte Korpus hinweg entsteht, in dem ein einzelner Text interferentiell mit anderen Texten, über die Grenzen der personellen Autorschaft hinweg, in Dialog steht.
28 Dieser wäre abzugrenzen vom Erzählen innerhalb eines einzelnen Gedichtes.
Interferenz III: Die pragmatische Dimension der Interferenz
Im folgenden dritten Abschnitt werden die textuellen Similaritäten des Korpus auf ihre pragmatischen Interferenzen hin untersucht. Zugrunde liegt die Frage, wie sich die Texte in einem Diskursraum, der lebensweltliche und textliche Interferenzen umfasst, bezüglich des Verhältnisses von Textwelt und Lebenswelt positionieren. Lassen sich auch in dieser Dimension Interferenzen ausmachen? In einem ersten Teil (Kapitel 6) steht mit der Rezipierbarkeit subversiver Inhalte über nähesprachliche Mechanismen die poesía social im weiteren Sinne im Mittelpunkt – und damit der Rezeptionsaspekt der Interferenz. In einem zweiten Teil (Kapitel 7) wird der Produktionsaspekt der Interferenz unter dem Stichwort der Autofiktion untersucht. Mit Iser wird also die »Semantisierung«1 dichterischer Rede in den vorliegenden Texten diskutiert: zunächst die Bedeutungskonstruktion auf Rezipientenseite und im Anschluss die Frage nach dem »Akt des Fingierens« als Relationierung von »Imaginärem« und »Realem« auf der Produzentenseite. Aufbauend auf die lebensweltliche Interferenz und auf die semantische Interferenz der Biographeme wird nun also nach der Interferenz von Binnen- und Außenpragmatik gefragt.
1 Iser (1991), S. 47, vgl. Kapitel 2.1.
6 Rezeptionsaspekt der Interferenz: Nähesprache
Um den Rezeptionsaspekt der Interferenz zu bestimmen, werden formale und stilistische Aspekte auf ihre binnen- und außenpragmatischen Funktionen hin untersucht. Die Analyse stilistischer und rhetorischer Mittel wie Intertextualität, Ironie, semantische Vagheit und deiktische Mehrdeutigkeit erlaubt, die vielfach hervorgehobene Narrativität und Kolloquialität1 der Gedichte als Mechanismus einer privilegierten Rezeption zu lesen, welcher sich durch fingierte Mündlichkeit und eigentlich im Kommunikationsraum der Nähe verortete Kommunikationspraktiken konstituiert. Erkenntnisinteresse ist also, zu untersuchen, welche Inhalte auf diese Weise vermittelt werden, so dass eine spezielle Kommunikationssituation der Nähe herausgearbeitet werden kann. Ausgehend von den lebensweltlichen Interferenzen zwischen den Dichtern und den semantischen Similaritäten ihrer Texte werden im Folgenden also einige ihrer Gedichte vergleichend auf ›mündliche‹ oder ›umgangssprachliche‹ Merkmale hin untersucht und dabei differenzierter unter dem Begriff der »Nähesprache« nach Peter Koch und Wulf Oesterreicher gefasst.2 Dabei soll die Funktion der Nähesprache für die indirekte Vermittlung und die Rezipierbarkeit potentiell subversiver Thematiken herausgearbeitet werden, die den offiziösen Diskurs des Franco-Regimes unterlaufen, um einen mehr oder weniger kritischen, mehr oder
1
Vgl. z.B. Debicki, Andrew P. (1989), Ángel González, Madrid: Júcar, S. 12, und Riera (1988), S. 257-262.
2
Vgl. meine Vorarbeit zu diesem Kapitel: Schmidt, Frauke (2009), »Lyrik als Ort subversiver Zeichen. Lesbarkeit von Nähesprache bei Barral, Gil de Biedma, Goytisolo und Ferrater«, in: Baumann, Inga (Hrsg.), Zeichen setzen – Konvention, Kreativität, Interpretation: Beiträge zum 24. Forum Junge Romanistik (Tübingen, 14.-17.5.2008), Bonn: Romanistischer Verl., S. 347-364.
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weniger offenen Gegendiskurs zu etablieren, der, wie gezeigt werden wird, in den Zensoren eine erste Rezeptionsinstanz findet. Gefragt wird daher im Besonderen nach der Rolle des Lesers3 und der Möglichkeit poetischer Informationsvermittlung – also nach der praktischen Umsetzung der in der Literatendebatte der ersten Hälfte der 50er Jahre diskutierten Qualität von Lyrik als »comunicación« oder »conocimiento«.4 Auf dem Prüfstein steht somit eine für diese Gruppe spezifische Form lyrischer Kommunikation, vermittels derer politisch-soziale Nonkonformität verhandelt wird.
6.1 S UBVERSIVE L YRIK
UND POESÍA SOCIAL
Nach zwanzig Jahren des Franquismus stellten die vorliegenden Texte eine Abwendung von der vorhergehenden Bewegung der poesía social dar, welche sich wiederum in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von einer einerseits offiziösen neoklassizistischen Lyrik befand, die sich auf das Siglo de Oro und vor allem auf Garcilaso berief, und andererseits einem »tremendismo«5 existentialistischer Prägung. Ziel ist nun nicht mehr, direkt zu einer inmensa mayoría zu sprechen, wie es Blas de Otero noch 1955 in seinem programmatischen Einleitungsgedicht zu Pido la paz y la palabra, »A la inmensa mayoría«6, intendierte. Dichtung erscheint auch nicht mehr als eine mit Zukunft geladene Waffe im Sinne Gabriel Celayas, der in »La poesía es un arma cargada de futuro« aus Cantos Iberos7 von 1955 den Dichter als »un ingeniero del verso y un obrero / que trabaja con otros a España en sus aceros« (V.35/36) bezeichnete. Trotzdem sind die vorliegenden Texte lebensweltlich verwurzelt: In seinem Vorwort zu der von
3
Ganz im Sinne seiner Parteinahme für eine poesía social postulierte Castellet in einem Laye-Artikel von 1952 bezüglich Drama und Prosa: »Escribir es, pues, por una parte revelar la vida del hombre en el mundo, y, por otra, proponer esta revelación como materia sobre la que el lector debe trabajar, recrear.« Zit. nach Castellet (1955), S. 18 (Herv. i.O.).
4
Vgl. Kapitel 2.1.2.
5
Vgl. García Martín, José Luis (1986), La segunda generación poética de posguerra,
6
Otero, Blas de (222002) [1974], Verso y prosa, Madrid: Cátedra, S. 47.
7
Celaya, Gabriel (2001), Poesías completas, Tomo I, ed. de José Ángel Ascunce,
Badajoz: Dep. de Publ. de la Excma. Diputación, S. 18.
Madrid: Visor, S. 717-718.
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ihm herausgegebenen Anthologie von 1960, Veinte años de poesía española,8 stellte José María Castellet sie in die Tradition einer engagierten Dichtung, eines »[…] realismo que se quiere histórico […] según su capacidad de interpretación de la realidad y, especialmente, según su voluntad de transformación de la misma.«9 Die Kontinuität zur poesía social wird vielfach auch in einem lyrischen Duktus gesehen, der durch ›orale‹ und ›kolloquiale‹ Elemente die Sprache des »lector común«10 abbilde und somit eine »comunicación inmediata«11 mit dem Leser etabliere, ganz im Sinne einer engagierten Dichtung als Massenkommunikation.12 Aus dem Bewusstsein einer privilegierten sozialen Stellung großbürgerlicher Herkunft leitet sich bei diesen Dichtern jedoch ein Engagement ab, das sich nicht primär in direkter Regime- oder Gesellschaftskritik spiegelt, sondern vor allem in simplen alltäglichen Beobachtungen des lyrischen Ich: »[…] [E]l aspecto social ahora viene mediante la voz que lo contempla y no por el tema.«13 In diesem Zusammenhang steht auch die bereits erwähnte poetry of experience,14 welche in Anlehnung an die von Langbaum geprägte Begrifflichkeit nicht als direkte Wiedergabe der Erfahrung des Dichters selbst verstanden wird. Vielmehr lässt die »poesía de la experiencia« durch ihre erzählerische Struktur die dargestellte individuelle Erfahrung als wahrscheinlich und mit der außerliterarischen Realität vereinbar erscheinen: »[…] [T]he dramatic monologue […] imitates not life, but a particular perspective towards life, somebody’s experience of it.«15 Als gemeinsame Tendenz in den Gedichten der fünf Autoren lässt sich in diesem Sinne eine sehr persönliche Wirklichkeitswahrnehmung des lyrischen Ich feststellen, dessen Perspektive den kritischen Blick auf die Realität vermittelt – in einer Zeit, in der »[l]a mera calidad y dignidad intelectual« bereits eine politische Aussagekraft zugeschrieben werden muss.16
8
Gabriel Ferraters katalanische Gedichte wurden in diese Anthologie und auch in die von Seix Barral herausgegebene Buchreihe Colliure, die wesentliche Publikationsinstrumente der Dichtergruppe darstellten, nicht aufgenommen (vgl. auch Kapitel 1.2).
9
Vgl. Castellet (1960), S. 103f.
10 Daydí-Tolson, Santiago (1985), »Aspectos orales de la poesía social española de posguerra«, in: Hispanic Review 53, S. 449-466, hier S. 457. 11 Mangini González (1977), S. 41; vgl. auch Daydí-Tolson (1985), S. 460. 12 Ebd., S. 451. 13 Benson, Douglas K. (1988), »La oralidad y el contexto cultural en la poesía de Jaime Gil de Biedma«, in: Anales de Literatura Española 6, S. 46-68, hier S. 50. 14 Vgl. z.B. Masoliver Ródenas (2003), S. 74. Vgl. Kapitel 2.1.2. 15 Langbaum (1957), S. 137. 16 Gracia (2006), S. 301.
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6.2 N ÄHESPRACHE UND K ONTEXTUALISIERUNGSSTRATEGIEN Die Gedichtanfänge von Gabriel Ferraters »In memoriam« und Jaime Gil de Biedmas »Infancia y confesiones« aus den jeweiligen Erstveröffentlichungen Da nuces pueris und Compañeros de viaje von 1960 und 1959 illustrieren das Konzept der Nähesprache und seine Übertragung auf literarische Texte. Beide Gedichte verbinden eine narrative Sprechweise mit konversationellen Elementen: Quan va esclatar la guerra, jo tenia
Cuando yo era más joven
catorze anys i dos mesos. De moment
(bueno, en realidad, será mejor decir
no em va fer gaire efecte. El cap m’anava
muy joven) algunos años antes
tot ple d’una altra cosa que ara encara jutjo més important. Vaig descobrir
de conoceros y
Les Fleurs du Mal, i això volia dir
recién llegado a la ciudad,
la poesia, certament, però
a menudo pensaba en la vida.
hi ha una altra cosa que no sé com dir-ne i és la que compta. La revolta? No. Així en deia aleshores. […] (Ferrater, »In memoriam«, V.1-10)
(Gil de Biedma, »Infancia y confesiones«, V.1-7)
Bei Ferrater berichtet der Sprecher als lyrisches Ich in der ersten Person Singular aus seiner im Imperfekt wiedergegebenen Vergangenheit: »Quan va esclatar la guerra, jo tenia / catorze anys i dos mesos.« Bei Biedma heißt es: »Cuando yo era más joven.« Die Gesprächssituation wird durch Fragen des lyrischen Ich wie »La revolta?« (»In memoriam«, V.9), besonders aber durch die Anrede eines oder mehrerer Rezipienten konstituiert, die in einen übergreifenden Plural mit einbezogen werden: »algunos años antes / de conoceros« (»Infancia y confesiones«, V.4-5).17 Eingesetzt werden außerdem Signale der Vagheit, die zum einen auf lexikalischer Ebene die Unsicherheit des Sprechers bei der genauen Formulierung zeigen: »No sé com dir-ne« (»In memoriam«, V.8).18 Zum anderen konstituieren sie eine Situation des Gespräches, indem sie den Formulierungsvorgang mit einbringen. Ebenso wie die nachträgliche Korrektur des bereits Gesag-
17 Riera ordnet die konversationellen Gedichtanfänge als charakteristisch für die poesía social ein. Vgl. Riera (1991), S. 190f. 18 Vgl. auch »ya no sé si me explico« (González, »Me basta así«, V.25).
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ten wie »bueno, en realidad, será mejor decir« (»Infancia y confesiones«, V.2)19 und Wiederholungen stellen sie eine Spontaneität her, die den Formulierungsvorgang abbildet und somit die Unsicherheit des Sprechers20 in der Oralität und seine Suche nach der exakten Formulierung nachahmt.21 Diese Elemente einer Gesprächssituation lassen sich unter den von Koch und Oesterreicher geprägten Begriff der »Nähesprache«22 fassen. Sie unterscheiden mediale Mündlichkeit und mediale Schriftlichkeit von einer konzeptionell mündlichen oder schriftlichen Realisierung,23 womit sie unterstreichen, dass Aspekte von Mündlich- und Schriftlichkeit auch in das jeweils andere Medium übertragen werden können. Die »Sprache der Nähe« als konzeptionelle Mündlichkeit steht dabei der »Sprache der Distanz« als Pol innerhalb eines Kontinuums gegenüber. Sie findet idealtypisch unter kommunikativen Bedingungen wie Dialog, freiem Sprecherwechsel, Vertrautheit der Partner, face-to-face-Interaktion, freier Themenentwicklung, Spontaneität, Expressivität, Affektivität und Situationsverschränkung im Privaten statt.24 So wie ein Gespräch, zum Beispiel ein Interview, aber auch verschriftlicht werden kann und somit das Medium wechselt, kann in der literarischen Schriftlichkeit mithilfe einzelner nähesprachlicher Kennzeichen Nähe hergestellt werden. Im Anschluss an den Begriff der »hergestellten Nähe«25 bei Koch und Oesterreicher spricht Goetsch für die Narrativik von »fingierter Mündlichkeit«26, welche die Illusion einer Sprache der Nähe herstelle,27 Identifikationsangebote an den Leser mache und ihn zur Konstituierung der Er-
19 Vgl. auch »pensándolo mejor, duele mirarlas« (González, »Jardín público con piernas particulares«, V.36). 20 Vgl. auch Alarcos Llorach (1996), S. 152. 21 Vgl. die folgende Wiederholungsstruktur in Jaime Gil de Biedmas Gedicht »Los aparecidos« (Herv. F.B.): »No sé cómo explicarlo, es / lo mismo que si todo, / lo mismo que si el mundo alrededor / estuviese parado / pero continuase en movimiento / cínicamente, como / si nada, como si nada fuese verdad« (V.31-37). 22 Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1985), »Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte«, in: Romanistisches Jahrbuch 36, Berlin/New York: de Gruyter, S. 15-43. 23 Ebd. S. 17-19. 24 Vgl. ebd., S. 19-23. 25 Ebd., S. 24. 26 Goetsch, Paul (1985), »Fingierte Mündlichkeit in der Erzählkunst entwickelter Schriftkulturen«, in: Poetica 17, 3/4, S. 202-218. 27 Ebd., S. 217.
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zählwelt im Lesen auffordere.28 Die nähesprachliche Gestaltung der Gedichte wäre also in diesem Sinne konzeptionell, aber auch fingiert mündlich, da sie sich gegenüber einem Gespräch in ihrer medialen Schriftlichkeit durch eine deutlich höhere Planung auszeichnet. Nähe ist hier Teil der geplanten lyrischen Mechanismen, sie wird hergestellt. Die solcherart konzeptionelle Mündlichkeit erscheint in zwei Ausprägungen: Zum einen, wenn ein Text durch global nähesprachliche Elemente eine insgesamt nähesprachlich geprägte Sprechsituation konstituiert, wie die beiden Beispiele gezeigt haben. Zum anderen, wenn Nähesprache als mimetischer Effekt zitathaft eingesetzt wird, zum Beispiel in der Wiedergabe direkter Rede:29 »[…] Ja ho veus, / Tonet, com ens hem de veure« (»In memoriam«, V.214/215). Auf stilistischer Ebene entwerfen diese Gedichte somit eine ›Ästhetik der Nähe‹, die auf der fingierten Mündlichkeit beruht. Neben der ästhetischen Komponente, die entscheidend am Aufbau der binnenpragmatischen Sprechsituation beteiligt ist, sind die Gedichte aber auch in der Außenpragmatik nähesprachlich, weil sie mit der geringen Explizierung von Kontexten ein typisches Element nähesprachlicher Kommunikation aufnehmen. Die Situationsverschränkung in der Nähesprache macht Kontexte zum Beispiel durch außersprachliche Zeichen und Vertrautheit der Kommunikationspartner verfügbar, so dass sie in geringerem Maße als in der situationsentbundenen Distanzsprache expliziert werden müssen.30 Da die binnenpragmatisch nähesprachlichen Gedichte außenpragmatisch in einer Kommunikationssituation der Distanz verortet sind, bedürfen sie der Komplizität des Lesers, der sich wie ein Gesprächspartner vor dem Text situieren muss, um die in Intertextualität, Ironie, semantischer Vagheit und deiktischer Mehrdeutigkeit angelegten Kontexte zu aktualisieren. Laut Koch und Oesterreicher wäre es nun im Distanzbereich notwendig, »[…] durch Differenzierungen des lexikalischen Materials die fehlenden außersprachlichen Kontexte zu kompensieren und eine Vielzahl lexikalischer Einheiten für einen raschen, präzisen Zugriff auf Referenzobjekte bereitzustellen.«31 Das kann zum Beispiel durch besonders ausführliche Erklärungen geschehen. Genau diese Kompensation findet
28 Ebd., S. 218. 29 Vgl. Koch/Oesterreicher (1985), S. 24. 30 Ebd., S. 20. 31 Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1994), »Funktionale Aspekte der Schriftkultur. Functional Aspects of Literacy«, in: Günther, Hartmut/Ludwig, Otto (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An interdisciplinary Handbook of International Research, 1. Halbband, Berlin/New York: de Gruyter, S. 587-604, hier S. 591.
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in den vorliegenden Texten jedoch nur in Andeutungen statt: Textstrategien wie Ironie, Intertextualität sowie Vagheit und Mehrdeutigkeit verlangen in besonderem Maße die Vertrautheit des Rezipienten mit literarischen und außerliterarischen Kontexten, um eine nicht direkt vermittelte semantische Ebene zu (re-) konstruieren. Die ästhetische Ebene der stilistischen Verwendung nähesprachlicher Komponenten würde damit auf die außenpragmatische Rezeptionssituation verweisen, in welcher der Leser zum Komplizen bei der semantischen Dekodierung des Textes wird. Für die Narrativik hat Andreas Fischer den Begriff der »context-sensitive literature« geprägt,32 in der Vertrautheit zwischen Erzähler und Publikum simuliert und auf die Explizierung von Kontexten verzichtet wird.33 Der Text geht direkt in medias res und macht wenige Angaben über den Kontext des Erzählten.34 »Context-sensitivity« wird bei Fischer anhand dreier Textmerkmale festgemacht: dem referenzlosen Pronomen, dem bestimmten Artikel, der sich auf vorher noch nicht genannte Sachverhalte bezieht, sowie Lokal- und Temporaldeiktika, die sich ebenfalls auf eine nicht näher spezifizierte hier-und-jetzt-origo beziehen.35 Die erklärende Referenz zu diesen unbestimmten Merkmalen findet sich entweder später im Text (»cataphoric reference«36) oder außerhalb des Textes (»exophoric reference«37), wenn er extra-textuelles Wissen über den kulturellen, politischen und historischen Kontext voraussetzt. Der Beginn von »In memoriam« verdeutlicht beides: Die ersten beiden Verse (»Quan va esclatar la guerra, jo tenia / catorze anys i dos mesos […]«) lassen offen, wer der Sprecher des Personalpronomens »jo« ist, zudem wird mit »la guerra« ein bestimmtes Ereignis (»la«) als bekannt vorausgesetzt. Der Leser muss in diesen Fällen als Komplize
32 Im Gegensatz zu »context-free literature«. Vgl. Fischer, Andreas (1988), »ContextFree and Context-Sensitive Literature: Sherwood Anderson’s Winesburg, Ohio and James Joyce’s Dubliners«, in: Forsyth, Neil (Hrsg.), Reading Contexts, Tübingen: Narr, S. 13-31. 33 Habermalz, Sabine (1999), Nähesprache. Mündliche Strukturen in James Joyces Ulysses, Marburg: Tectum, S. 48. 34 Fischer (1988), S. 17. 35 »[…] [T]he referentless pronoun (There was no hope for him this time), the familiarizing article (Two gentlemen who where in the lavatory at the time), and the deictics (There was no hope for him this time)« (ebd., S. 22, Herv. i.O.). 36 Ebd. 37 Ebd., S. 23.
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am »Spiel der Phantasie«38 teilnehmen, dessen Lösung in den »clues«39 des Textes angelegt ist. Voraussetzung für die Dekodierung ist also die Bereitschaft und das Vermögen des Lesers, indirekte Hinweise aufzunehmen und zu prozessieren. Neben der binnenpragmatischen Ästhetik der Nähe, die durch die fingierte Mündlichkeit in einen Text aufgenommen wird, ist also die eingeschränkte Verdeutlichung von Kontexten im Sinne einer »context-sensitive literature« auch außenpragmatisch nähesprachlich, weil sie dem Leser eine Vertrautheit mit den ausgesparten Kontexten abverlangt, welche in der Kommunikationssituation der Distanz nur angedeutet werden. Daher soll an exemplarischen Texten der fünf Autoren nun vergleichend die These überprüft werden, dass Intertextualität, Ironie, semantische Vagheit und deiktische Mehrdeutigkeit als lyrische Kontextualisierungsstrategien einer solchen außenpragmatischen Komplizität bedürfen. Dabei soll herausgearbeitet werden wie in den einzelnen Gedichten der ausgesparte Kontext suggeriert wird, welche Rolle die fingierte Mündlichkeit spielt und welche (subversiven) Thematiken auf diese Weise verhandelt werden. 6.2.1 Intertextualität Intertextualität als nähesprachliche Strategie der Andeutung von Kontexten und Herstellung von Komplizität bezieht sich hier auf einen »engeren Intertextualitätsbegriff«40 und meint die Bezugnahme der Gedichte auf Prätexte. Die Intertextualität wird an dieser Stelle also als Unterbegriff der Interferenz verwendet, im Sinne von ihr zuträglichen Textstrategien41 – wie im Folgenden auch Ironie, semantische Vagheit und deiktische Ambiguität. Interferenzen zwischen den Gedichten ergeben sich daher durch die similare Funktion, welche den intertextuellen Mechanismen in den Texten der fünf Dichter zukommt. Diese umfassen name dropping, Widmungen, direkte oder abgeänderte Zitate und Epigraphe spanischer Texte und Autoren sowie Übersetzungen aus und eigene Verse in ei-
38 Iser, Wolfgang (21984), Der Akt des Lesens, Stuttgart: Fink, S. 176. Vgl. auch Rader, Margaret (31993), »Toward a Notion of Context for Written Language«, in: Tannen, Deborah, Spoken and Written Language: Exploring Orality and Literacy, Norwood, New Jersey: ABLEX, S. 185-198, hier S. 192. 39 Fischer (1988), S. 30. 40 Broich, Ulrich (1985), »Formen der Markierung von Intertextualität«, in: Broich/ Pfister (1985), S. 31-47, hier S. 31. Vgl. auch Pfister (1985), S. 25. 41 Vgl. auch die in diesem Sinne definierte Unterscheidung von Intertextualität und Interferenz bei der Analyse des alba-Motivs, Kapitel 4.3.3.
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ner Fremdsprache, die auf ein fremdes Diskurssystem verweisen.42 Besonders bei Barral, Biedma und Ferrater sind Fälle »markierter Intertextualität«43 häufig. Es handelt sich vor allem um fremdsprachige Zitate, die durch kursiven Schriftsatz deutlich als solche gekennzeichnet werden. So eröffnet Barral seinen Gedichtband Diecinueve figuras […] mit dem Gedicht »Discurso«, in dem kursiv und eingeschoben aus dem Brecht’schen Gedicht »Verjagt mit guten Grund«44 von 1939 zitiert wird – auf Deutsch, allerdings mit spanischer Übersetzung a pie de página: Resulta todo más claro si se puede decir como Brecht: Als ich erwachsen war und um mich sah Gefielen mir die Leute meiner Klasse nicht Nicht das Befehlen und nicht das Bedientwerden, en el último tramo de una vida cumplida, rica y, en general, satisfactoria. Pero no es éste mi caso, desde luego, y estoy sólo al principio y es demasiado pronto para poder contar. (Barral, »Discurso«, V.1-14)
»Discurso« verhandelt die Abkehr des lyrischen Ich vom Bürgertum und seine Hinwendung zu den »geringen Leuten«. Über den intertextuellen Bezug schafft Barral einen Verweis auf den Topos der »mala conciencia«, auf das schlechte Gewissen des lyrischen Ich ob seiner bürgerlichen Herkunft.45 Wie in Biedmas »Infancia y confesiones« konstruiert der Sprecher in diesem Gedicht sein gegenwärtiges Ich aus der Vergangenheit (»El leño de los antiguos sentimentos, / los que guardamos a medio consumir, / puede arder todavía...«, V.55-57). Er bedient sich eines konversationellen Gedichtanfanges (»Resulta todo más claro si 42 Vgl. Persin, Margaret H. (1987a), Recent Spanish Poetry and the role of the reader, Lewisburg, Pa.: Bucknell University Press, S. 576. 43 Broich (1985), S. 31. 44 Vgl. Brecht, Bertolt (1988), Werke. Gedichte 2. Sammlungen 1938-1956, Band 12, bearb. von Jan Knopf, Berlin u.a.: Aufbau, S. 84f. 45 Vgl. Kapitel 4.2.
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se puede / decir«, V.1-2) und richtet sich vor allem in den letzten beiden Strophen verstärkt an eine Zuhörergruppe, die in die Identitätsbildung aus der Vergangenheit mit einbezogen wird: »O, si queréis / hablemos de raíces.« (V.58). Zwar spricht er von einer »historia / estrictamente personal« (V.51), die aber dennoch eine gemeinsame ist: Nuestra, porque esta historia moral, y de clase y civil, como la guerra, por igual os atañe a buena parte de vosotros. (Barral, »Discurso«, V.68-73)
Der Identität wird ein moralischer Wert zugewiesen (»historia / moral«, V.6970); außerdem ist sie bedingt durch die gesellschaftliche Klasse, welche durch das Adjektiv »civil« (V.71) zugleich als bürgerliche charakterisiert, durch den Vergleich »como la guerra« (V.71) aber auch in Verbindung zum Bürgerkrieg gebracht wird. Rein binnenpragmatisch betrachtet, vermag dieser Vergleich nicht mehr als zunächst einmal den Spanischen Bürgerkrieg überhaupt aufzurufen. Einen Hinweis, in welche Richtung die ideelle Rückbindung des Sprechers und seiner Adressanten geht, kann der intertextuelle Verweis auf die bürgerliche Klasse in der ersten Strophe geben und der erneute Klassenbezug in der letzten Strophe. Hier wird eine Verbindung zwischen dem Bürgerkrieg und der sozialen Schicht hergestellt. Sie steht in unmittelbarer Nähe zu dem anschließenden Verweis auf die gemeinsamen Ideen der betont als Einheit beschriebenen SprecherAdressaten-Gruppe: Mirad, vibran nuestras ideas demasiado delgadas, como el tronco de un arbusto crecido por sorpresa, y a todos nos importa apretar los raíces, como dedos. (Barral, »Discurso«, V.74-79)
Ein Bedeutungszuwachs hängt nun von der literarischen Bildung und Kompetenz des Lesers ab, wie Hess-Lüttich feststellt:
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»Die Instanz zur Herstellung expliziter oder impliziter Bezüge zwischen Texten ist der Rezipient. Sein Wissen ist konstitutiv für die Herstellung des Bezugs, für die Qualifikation von Zitaten, Anspielungen, Parodien, Résumés, Kommentierungen oder von Formen der Variation, der Übersetzung, der Verarbeitung und Bearbeitung.«46
Nicht zuletzt ist aber auch die Bereitschaft des Lesers zur komplizenhaften Lektüre entscheidend. Zunächst muss er den Rekurs auf Brecht jenseits des rein wörtlichen Sinns bezüglich der gesellschaftlichen Stellung des Sprechers entschlüsseln können, was entscheidend von der Kenntnis der Person Brechts abhängt. Dann äußert die Referenz nicht nur Kritik an einer bestimmten sozialen Schicht, sondern auch eine latent kommunistische Haltung, die in der Folge gar nicht mehr in eine explizite poesía social gefasst werden muss. Auch das fremdsprachliche Zitat per se ist auf mehreren Ebenen bedeutsam: Zum einen spiegelt der Rekurs auf Fremdes eine damit einhergehende Faszination,47 zum anderen kommt der Fremdsprache an sich ein Element des Entzifferns und der Verfremdung zu. Unabhängig von einer subversiven Konnotation wie im vorliegenden Fall wird der Leser in seinem kulturellen Wissen und seiner Kombinationsfähigkeit gefordert. Ist dieses Wissen und die nötige Komplizität des Lesers vorhanden, funktionieren die intertextuellen Verweise als »clues«, die durch die semantische Verbindung zum Intertext eine Interpretationsrichtung anbieten. Gabriel Ferrater stellt durch simples name dropping im Titel eines Gedichtes mit oberflächlich gänzlich anderer Thematik eine Verbindung zum catalanisme her. Der politische Anspruch von »Josep Carner« aus Menja’t una cama wird subtil einem Liebesgedicht eingeschrieben. Das lyrische Ich beschreibt den Wandel in seiner Interpretation der »poesies de Carner« (V.4) infolge der emotionalen Verknüpfung der Lektüre mit verschiedenen Liebesbeziehungen:
46 Hess-Lüttich, Ernest W.B. (1987), »Intertextualität und Medienvergleich«, in: ders. (Hrsg.), Text Transfers. Probleme intermedialer Übersetzung, Münster: Nodus, S. 920, hier S. 10f. 47 Vgl. Dirscherl, Klaus (1992), »Poesía bajo Franco: Jaime Gil de Biedma entre compromiso y juego intertextual«, in: Vilanova, Antonio (Hrsg.): Actas del X Congreso de la Asociación internacional de Hispanistas, Barcelona 21-26 de agosto de 1989, Vol. 2, Barcelona: PPU, S. 1721-1729, hier S. 1729: »La dificultad de entender alusiones intertextuales puede a veces disminuir su potencial destructivo-creativo. Igualmente su heterogeneidad presenta también una cierta protección ante la censura y posee además para el lector de la época aquella fascinación que parte de lo extranjero, de lo misterioso. Visto así se puede atribuir a ese juego intertextual una carga política aun cuando no sea reconocible para todos.«
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[…] Fa dos anys i quatre mesos que vaig donar aquest llibre a una altra noia. Mots que he llegit pensant en ella, i ella va llegir per mi, i són del tot nous, ara que els llegeixo per tu, pensant en tu. (Ferrater, »Josep Carner«, V.5-9)
Es erfährt die Gedichte im Hier und Jetzt »tot nous« (V.8) im Vergleich zu der zurückliegenden Lektüre; doch trotz der veränderten Rezeptionssituation, welche die Rolle des Lesers in der Gedichtinterpretation thematisiert, und der dadurch hervorgehobenen Bedeutungsänderung, werden die Gedichte Carners in den Schlussversen bezeichnet als […] [m]ots que romanen, mentre ens varien els dies i se’ns muden els sentits, oferts perquè els tornem a entendre. Com una pàtria. (Ferrater, »Josep Carner«, V.11-13)
Carners Worte erweisen sich als immer wieder sinnstiftend, sie ermöglichen und verlangen mit der Veränderung der persönlichen Situation auch erneute Verstehensbemühungen. Die Äquivalenzbeziehung »[c]om una pàtria« (V.13) liest sich in beide Richtungen: Die »pàtria« ist ebenso Interpretationsgegenstand des lyrischen Ich wie die Gedichte. Veränderte Situationen (persönlicher oder, nach dem Verweis auf das Heimatland möglicherweise auch politischer Natur) führen zu einem erneuten ›Lesen‹ des Ankerpunktes poesies – pàtria. Misst man den Gedichten Carners eine Bedeutung zu, die über ihre Funktion in einer Liebesbeziehung hinausgeht und die die mythisierte Wahrnehmung des seit Beginn des Bürgerkrieges exilierten katalanischen Dichters mit einbezieht, kann in dem Gedicht »Josep Carner« ein catalanisme gelesen werden, der sich aus der Identifikation der »pàtria« mit den Gedichten eines prominenten Vertreters katalanischer Kultur ergibt. Somit spiegelt sich in einer mise en abyme de l’énoncé in dem veränderten Lektürekontext des als Leser indizierten Sprechers auch die außenpragmatische Rezeptionssituation: So wie der Sprecher als Leser jeder Lektüre abhängig von seinen emotionalen Bindungen einen anderen Sinn zuweist, kann das Gedicht auf einer sentimentalen oder auf einer sozialen Bedeutungsebene rezipiert werden. In die Schnittmenge von konzeptioneller Mündlichkeit als ästhetisches Prinzip und einer außenpragmatisch nähesprachlichen Kommunikationsform gehört die Verwendung von Sprichwörtern und feststehenden Wendungen in verkürzter
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oder abgeänderter Form. Zum einen ist sie Teil kolloquialer Kommunikation, zum anderen erfordern zitierte Sprichwörter, wie schon die literarische Intertextualität, eine Ergänzung fehlender Elemente oder die Konstatierung semantischer Veränderungen. Diese »desautomatización«48 oder »deslexicalització«49 lässt sich am Beispiel des Titels von Ferraters zweitem Gedichtband festmachen: Menja’t una cama. Das Sprichwort »Si tens gana, menja’t una cama« – »Wenn du Hunger hast, iss doch dein Bein« – »[…] diu molt sobre la insolidaritat dels homes i la necessitat de saber-se espavilar enmig d’un món on cadascú s’ha d’empassar els tràngols més difícils sense l’ajut d’altri.«50 Es erscheint hier gekürzt und kann als Hinweis auf Selbstgenügsamkeit in Zeiten (intellektuellen) Mangels gelesen werden.51 Erneut kann aber erst die Kenntnis außerliterarischer Kontexte, hier also des eigentlichen Anwendungszusammenhanges der Sprichwörter, der Desautomatisierung eine Bedeutung zuschreiben. Zu derartigen feststehenden Wendungen gehören auch die Sätze der katholischen Liturgie. So wird bei Biedma aus der Verbindung des Vaterunsers und dessen fünftem Vers (»danos nuestro pan de cada día«) »los padres nuestros / de cada día« (»Las grandes esperanzas«, V.19-20), aus »en el nombre del padre« wird »En el nombre de hoy« und aus »el Verbo se hizo carne« (Joh 1,14) wird »el Verbo hecho tango« (»El juego de hacer versos«, V.32). Der liturgische Kontext dieser festen Wendungen bleibt bestehen, während die Varianten einen ironischen »carácter desacralizador«52 hinzufügen. In González’ »Penúltima nostalgia« aus Grado elemental wird das »Padre nuestro« ebenfalls ausgehend von den bittenden Imperativen umgestaltet zu einem Gebet, nicht um Vergebung und göttliche Gnade, sondern um Gewalt. Die fünffache anaphorische Wiederholung des »también« zitiert den Vers »como también nosotros perdonamos a los que nos ofenden« des Vaterunsers an. Statt selbst zu vergeben und Vergebung zu erlangen, strebt der
48 Riera (1988), S. 272. 49 Perpinyà (1997), S. 35. 50 Macià/Perpinyà (1986), S. 37. 51 Vgl. die leicht abweichende Interpretation bei Julià: »[…] [E]l títol del seu segon llibre reflexiona a propòsit de l’egoisme humà en citar una dita catalana que diria ›si tens gana, menja’t una cama‹; tot i que si bé pot ser una al·lusió als anys ›sinistres‹ de la postguerra i la dictadura, en el fons, proporciona una reflexió moral […].« Julià (2004d), S. 23. 52 Riera (1988), S. 272.
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Sprecher die volle Erkenntnis über die negativen Ereignisse der Vergangenheit und Rache an:53 devuélvenos
también junto a la oscura caja
también
del violín,
nuestros cadáveres,
también junto al destello
enséñanos
de la dorada y cálida trompeta,
también
un revólver
los asesinos,
también,
deja
una pistola. (González, »Penúltima nostalgia«, V.125138)
6.2.2 Ironie Eine pragmatische Definition der Ironie als »[…] vom Hörer gewusste und vom Sprecher als gewusst gewusste Unaufrichtigkeit […]«54 ordnet die rhetorische Figur der Ironie in den außenpragmatischen Kontext der Nähesprache ein: Die Entschlüsselung ironischer Äußerungen setzt Vertrautheit mit dem Sender und dem Objekt der ironisierenden Kommunikation voraus, ein »Kooperationsprinzip«55 – wie es durch lebensweltliche Interferenzen gegeben ist. Diese Vertrautheit kann vom Text nicht produziert, sondern nur abgerufen werden, er selbst kann nur Indizien, »clues«, liefern, z.B. in Form von intertextuellen Verweisen oder »Ironiesignalen«56. Die Salmos al viento von José Agustín Goytisolo markieren eine solche Schnittstelle von Intertextualität und Ironie: Intertextuelle Bezüge fungieren hier als Ironiesignale. Die Gedichte dieses Bandes sind jeweils mit einem Epigraph aus dem Alten Testament versehen, außerdem sind die meisten in Anlehnung an 53 »The speaker […], after evoking the [musical] styles of a certain epoch, addresses past time [›Oh tiempo / ido‹, V.110/111] to lament the selectivity of memory, which permits us to forget the great tragedies of history but to remember the trivial details.« LaFollette Miller (1995), S. 200. 54 Warning, Rainer (1976), »Ironiesignale und ironische Solidarisierung«, in: Preisendanz, Wolfgang (Hrsg.), Das Komische, München: Fink, S. 416-423, hier S. 418. 55 Ebd. 56
Ebd., S. 419. Als Ironiesignale definiert Warning u.a.: »[…] alle Formen der Hyperbolik wie Emphase, Repetition, Akkumulation, superlativistische Ausdrucksweise […]. […] [D]as Zusammenzwingen von Unvereinbarem […]« (ebd., S. 419f.).
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biblische Titel und Adjektivgebung wie »Los celestiales«, »El hijo pródigo«, »La mujer fuerte« oder »El profeta« benannt. Der über weite Strecken biblische Duktus der Gedichte und die alttestamentlichen Verse stehen im krassen semantischen Kontrast zu der verhandelten Thematik, in die sie kommentarlos eingefügt werden. Die »salmos« spotten der sakralen Provenienz der ihnen vorangestellten Zitate: Luz y tinieblas, bendecid al Señor, cantadle y alabadle por los siglos. Bien, de acuerdo, de acuerdo. Despachemos ahora los asuntos. Denegada la autorización para morir de frío. Que salga en primera página. Señorita, pronto, artículo sobre nuestra adhesión a todo lo que signifique algo establecido: Nosotros, los de siempre, la ventura lograda, los heroicos, etcétera. Ya sabe, final conmovedor. (También ésta sería buen asunto, tan limpia, tan cabal, con sus rodillas como frutos. Pero no, no, aquí el prestigio, qué locura todo ha de estar en orden.) Montes y collados, bendecid al Señor, cantadle y alabadle por los siglos. (Goytisolo, »Vida del justo«, V.27-42)
»Vida del justo« – »Das Leben des Gerechten« – ruft durch seinen Titel und das biblische Epigraph57 katholische Heiligenviten (Vida de …) auf. Der in Salmos al viento vorherrschende biblische Erzählstil wird durch Passagen mimetischer Nähesprache mit Rede- und Gedankenzitaten gebrochen. Das Gedicht verhandelt die nationalkatholizistische Doppelmoral des Franquismus: Der durch den Titel als »der Gerechte« bezeichnete »don Claudio« ist an der Oberfläche Vertreter des franquistischen Gesellschaftssystems. Er arbeitet im »culto y honorable Centro de Información« (V.17), womit das Ministerium für Information und Tourismus gemeint sein kann, das für Propaganda und Zensur zuständig war, 57 »Vivirá mientras perdure el sol, mientras permanezca la luna, de generación en generación« (Salmos 72,5).
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ebenso aber auch eine Zeitungsredaktion, und gibt propagandistische Zeitungsartikel in Auftrag. Die Kennzeichen der Vagheit in seiner Redewiedergabe sind nicht nur Anzeichen typisch nähesprachlicher Kommunikation, die hier durch einen telegraphischen Stakkatostil ohne Verben ergänzt wird, sondern illustrieren auch, dass der von »don Claudio« vertretene Diskurs auf Allgemeinplätzen beruht: »Nosotros, los de siempre, la ventura lograda, / los heroicos, etcétera. Ya sabe, final conmovedor« (V.35-36). Außerhalb seiner das Regime stützenden Tätigkeit widerspricht don Claudios promiskuitives Verhalten den bürgerlichen »Mythen der Ordnung«58: In der Beichte lässt er sich regelmäßig die Absolution erteilen, um dann seinem ganz eigenen »orden« (V.41) zu folgen. Die in Klammern gesetzte Wiedergabe seiner Gedanken bezüglich der »señorita« in seinem Büro, gefolgt von einem erneuten Lobpreis, verdeutlicht die von ihm gelebte Doppelmoral und ironisiert die Unvereinbarkeit von Ordnung in der Öffentlichkeit und Hintergehung derselben im Verborgenen: »(También ésta sería buen asunto, tan limpia, / tan cabal, con sus rodillas como frutos. Pero / no, no, aquí el prestigio, qué locura / todo ha de estar en orden.)« (V.38-40). Der Kontrast zum Lobpreis signalisiert die Ironie59 und verdeutlicht die Hypokrisie des Sprechers: »Montes y collados bendecid al Señor / cantadle y alabadle por los siglos« (V. 41-42). Salmos al viento wird von einem Quevedo-Zitat eingeleitet: »Oyente, si tú me ayudas / con tu malicia y tu risa, / verdades diré en camisa« aus dem Sonett 65460. Indem der Leser mit diesem weiteren intertextuellen Verweis als »mitangesprochener Dritter«61 apostrophiert wird, wird die Rolle seiner ironischen Komplizität für die in diesem Band publizierten Texte hervorgehoben.62 Die Ironie in Jaime Gil de Biedmas Gedicht »El arquitrabe«63 aus Compañeros de viaje funktioniert ebenfalls durch Elemente der Vagheit, die hier allerdings im Zusammenhang eines genuin nähesprachlichen Duktus stehen.
58 Barthes, Roland (262009) [1957], »Der Mythos heute«, in: ders., Mythen des Alltags, übers. von Helmut Scheffel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 85-151, hier S. 138. 59 Vgl. Warning (1976), S. 419. 60 Nach der Zählung von Blecua, vgl. Quevedo, Francisco (1981), Poesía original completa, ed. de José Manuel Blecua, Barcelona: Planeta, S. 706-709. 61 Weinrich, Harald (1966), Linguistik der Lüge, Heidelberg: Lambert Schneider, S. 65. 62 Vgl. García Mateos/Riera (2009), S. 9. 63 »El arquitrabe« entstand nach Biedmas Lektüre von Goytisolos Salmos al viento: »He escrito un poema que me tiene bastante contento. Por primera vez he utilizado la ironía –desde que leí Salmos al viento, de José Agustín Goytisolo, quería hacerlo–, y no ha resultado mal.« Gil de Biedma (2001b), S. 236. Vgl. auch López Abiada (1990), S. 50.
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Uno vive entre gentes pomposas. Hay quien habla del arquitrabe y sus problemas lo mismo que si fuera primo suyo –muy cercano, además. Pues bien, parece ser que el arquitrabe está en peligro grave. Nadie sabe muy bien porque es así, pero lo dicen. Hay quien viene diciéndolo desde hace veinte años. Hay quien habla, también, del enemigo: inaprensibles seres están en todas partes, se insinúan igual que el polvo en las habitaciones. Y hay quien levanta andamios para que no se caiga: gente atenta. (Curioso, que en inglés scaffold signifique a la vez andamio y cadalso.) Uno sale a la calle y besa a una muchacha o compra un libro, se pasea, feliz. Y le fulminan: Pero cómo se atreve? ¡El arquitrabe…! (Gil de Biedma, »El arquitrabe«)
Eingeleitet von den »Gesprächswörtern«64 »pues bien, parece ser« (V.5) wird in der zweiten Strophe eine vage Feststellung geäußert, die durch den Reim des fünften mit dem sechsten Vers und den Binnenreim im sechsten Vers (»arquitrabe« – »grave« – »sabe«) in ihrer Redundanz und Aussagelosigkeit unterstützt wird. Der dadurch hervorgehobene Singsang hat schon alberne Züge65: Man 64 Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1990), Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch, Tübingen: Niemeyer, S. 51. 65 Letrán spricht von »ridicularización«, vgl. Letrán, Javier (2000), »Aquellos maravillosos años: imágenes de la guerra y la posguerra en la poesía de Jaime Gil de Biedma«, in: Dadson, Trevor J./Flitter, Derek W. (Hrsg.), Voces subversivas: Poesía bajo el régimen (1939-1975), Birmingham: Birmingham University Press, S. 31-48, hier S. 41f.
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weiß nicht genau, wer oder was der »arquitrabe« ist, aber jeder spricht über ihn. Der ironische Unterton eines Satzes wie »[y] hay quien levanta andamios / para que no se caiga: gente atenta« (V.13-14) wird durch einen Einschub in Klammern vermittelt, der die Bedeutung der »andamios« im Sinne eines stützenden Gerüstes untergräbt: »(Curioso, que en inglés scaffold signifique / a la vez andamio y cadalso)« (V.15). Auf wortgetreuer Ebene gelesen, handelt es sich tatsächlich nur um einen komischer Zufall. Wenn sich der Leser hingegen auf einen möglichen zweiten Sinn einlässt, erscheinen die System stützenden Maßnahmen auf einmal als tödlich: »La última estrofa del poema es un intento de ejemplificar cómo estos andamios se convierten en cadalsos […]«66. Die Repression eines vom Verfall bedrohten Regimes wird verlacht, da die Bedrohung in scheinbar wenig offensiven Handlungen besteht. Es ist Aufgabe des Lesers, ihre subversive Bedeutung zu rekonstruieren. Der Leser als Komplize muss sich auf die semantische Entschlüsselung einlassen und die metaphorisch-allegorische Funktion des »arquitrabe«67 dekodieren: Seine zwanzigjährige Existenz, seine Gegner, die ebenso wenig greifbar sind wie die Idee des »arquitrabe« selbst, die Übersetzung aus dem Englischen, sowie die an sich harmlosen Handlungen, die dem »arquitrabe« zuwider laufen, liefern »clues«, um auf die nationalkatholizistische Ideologie als einen der Grundpfeiler oder eben als Architrav des Franquismus zu schließen.68 Nur daran kann es liegen, dass man (bestimmte!) Bücher nicht kaufen kann und dass man sich in der Öffentlichkeit nicht zu küssen hat. Wie die biblische Intertextualität in Salmos al viento funktioniert die Vagheit in »El arquitrabe« als Ironiesignal. In einem der wenigen deutlich ironischen Gedichte Ferraters, »Faula primera«, wird die Ironisierung der Moralvorstellungen der franquistischen Gesellschaft über Sprecherkommentare transportiert. Wie in vielen Gedichten Ferraters geht der Sprecher von einer konkreten Situation aus, die im Nachsatz kommentiert wird.69 Der Sprecher der »Faula primera« fungiert als Erzähler der Geschichte der integren »Dama Antònia« (V.1) und ih-
66 Julià, Jordi (2004b), »La importancia de la justeza de tono (Tres modos poéticos de la poesía contemporánea)«, in: ders., (2004a), S. 98-136, hier S. 122. 67 Der »arquitrabe« lässt sich innerhalb einer Allegorie des Staates bzw. der Gesellschaft als Gebäude lesen, in einem eher marxistischen Sinne noch genauer als Tragbalken des ideologischen Überbaus. 68 Hinzu kommt, dass mit dem Epigraph, »Andamios para las ideas«, der Titel einer polemischen, gegen intellektuelles Freidenkertum gerichteten Schrift aufgerufen wird. Vgl. Mangini González (1977), S. 37, und Muñoz Alonso, Adolfo (1952), Andamios para las ideas, Madrid: Aula. 69 Vgl. Macià/Perpinyà (1986), S. 107.
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res Sohnes »senyor Andreu« (V.15) in variabler Fokalisierung. Dama Antònia ist die personifizierte katholische Moral: »(mai no prenia un taxi, car s’havia / deixat dir que en els taxis es fan coses / de les que ella improvava expressament)« (V.2-4). Die ironische Kommentierung dieser Einstellung gelingt dem Sprecher durch die übertriebene Darstellung, dass Dama Antònia in einer transzendenten Zwickmühle steckt. Da sie in Adam und Eva die originären Sünder sieht, möchte sie nicht mit ihnen das Paradies teilen: Tenia també angoixes: se sentia incerta si volia guanyar el cel i correr el risc que la posessin prop d’Adam i d’Eva, els originadors. (Ferrater, »Faula primera«, V.7-10)
Ihr Sohn hingegen hat eine recht gegenteilige moralische Praxis, er will sich scheiden lassen und fährt noch vor der Scheidung mit einer »mecanògrafa« (V.21) in den Sommerurlaub. Als er danach mit demselben Auto seine Mutter zum Scheidungsanwalt fahren will, steigt sie nicht ein. Es sind nun die Kommentare des Sprechers, der wie ein auktorialer Erzähler das Geschehen in einer Prolepse kommentiert, die die Ironie des Gedichtes ausmachen: »[…] (que ja es pot dir / que mai no havia d’obtenir el divorci)« (V.39-40). Dieses Gedicht basiert erneut auf einer narrativen, mit Gesprächswörtern (»ja es pot dir«) versetzten Darstellung (nicht umsonst ist es als »Faula« – Fabel – betitelt). Die Darstellung des »dimoni« (V.13) der Untreue geht in der letzten Strophe in eine Reflexion des Sprechers über, der jetzt als lyrisches Ich in der ersten Person in Erscheinung tritt. Un dels dimonis en tot cas. Que d’altres entraven en el joc, no sé deixar de témer-ho, ni oblidar que de dimonis l’infern n’amaga molts, i que en las aigües del més tranquil estany de bones causes dutes a bona fi, s’hi vol mirar una rialla folla de llimones d’emoció entestada i triomfant. (Ferrater, »Faula primera«, V.58-62)
Hinter den »bones causes« verstecken sich noch viele Dämonen – auch hier zeigt sich die ironische Kritik an der Doppelmoral des nacionalcatolicismo. In diesem
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Fall ist die Interpretation aber schon durch den chiffrenhaften Lehrsatz, die Moral der Fabel, erschwert. Eine vierte Form der Signalisierung von Ironie zeigt Ángel González’ »Discurso a los jóvenes« auf: Die Sprecherrede zeichnet sich insbesondere durch Kontraststrategien als ironisch aus, womit sich Parallelen zu Goytisolo70 und Biedma ergeben. Der Text wurde 1961 in Sin esperanza, con convencimiento veröffentlicht, einem schon vom Titel her deutlich engagierten Gedichtband. Ganz im Sinne eines »discurso« richtet sich der Sprecher über alle fünf Strophen mit Imperativen an die Gruppe der »jóvenes«: »De vosotros, / los jóvenes, / espero / no menos cosas grandes que las que realizaron / vuestros antepasados« (V.1-5). Das lyrische Ich etabliert eine Rückbindung der jungen Leute an Tradition und Vorfahren und spricht in den Strophen drei und vier jeweils personifiziert die drei Säulen der Gesellschaft an (»Nosotros somos estos / que aquí estamos reunidos, / y los demás no importan«, V.19-2171): Kirche, Armee und Kapital.72 Die drei Angesprochenen werden isotopisch konstituiert: die Kirche über die Rekurrenz auf Petrus (in sieben Versen erscheint viermal »Piedra«/ »piedra«, V.22,24,27, 28; dreimal »Pedro«, V.23,25,28; und einmal »Petrificado«, V.28), die Armee über die Wortfelder Militär und Krieg (»compañero de armas«, V.34; »escudero«, V.35; »alférez«, V.37; »escuadrones«, V.37; »fuego y hierro«, V.40) und das Kapital über die Personifizierung als ein wohlhabender König (»tú, dueño / del oro y de la tierra«, V.45-46; »poderoso«, V.47; »generoso«, V.49, »tu reino«, V.52). Die Ansprache des Nachkommens von Petrus wird vor allem über die Eigenschaften des Steins definiert. Die kontinuierliche Großschreibung der vom Stein abgeleiteten Namen »Piedra« und »Pedro« kulminiert in der hyperbolischen Erhöhung des beschreibenden Nomens (»para ser siempre piedra mientras vivas«, V.27) zum Eigennamen »Pedro Petrificado Piedra Blan-
70 So wie Salmos al viento eine geschlossene Veröffentlichung Goytisolos darstellt, die über den beschriebenen intertextuellen Diskurs mit Bibelzitaten Ironiesignale setzt, funktioniert auch González’ »Fábulas para animales«, das zweite Unterkapitel aus Grado elemental von 1962, über einen einheitlichen Rahmen: Die menschlichen Fabeln stellen die Gesellschaft ironisch in ihrer Absurdität dar: »ya el hombre dejó atrás la adolescencia / y en su vejez occidental bien puede / servir de ejemplo al perro / para que el perro sea / más perro« (»Introducción a las fábulas para animales«, V.31-35). 71 An dieser Stelle liest sich der »Discurso a los jóvenes« wie ein Kommentar oder eine Weiterführung zu Goytisolos »Vida del justo«: »Nosotros, los de siempre […]« (V. 35). 72 Villanueva, Tino (1983), »Censura y creación. Dos poemas subversivos de Ángel González«, in: Hispanic Journal 5/1, S. 49-72, hier S. 54.
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ca« (V.28). Von der Kirche und ihrem Urvater Petrus verbleiben nur noch die semantischen Qualitäten der steinernen Unbeweglichkeit und der Härte des Eigennamens.73 Die zweite Hälfte der Strophe richtet sich an das Militär, das über die Metapher der »[…] escuadrones / de arcángeles vestidos de aceituna« (V.4748) in Kontinuität zur Kirche steht: Die himmlischen Heerscharen der Erzengel sind nun uniformierte Soldaten. Auch die Aufgaben der beiden Angesprochenen ergänzen sich. Sie bestehen in der Bewahrung des Bestehenden und der Unterdrückung von freier Entfaltung: »para no tolerar el movimiento« (V.29) und »[f]uego para quemar lo que florece. / Hierro para aplastar lo que se alza« (V.4243). Die bislang vor allem gebietende Rede an die »jóvenes« imitiert in der nun folgenden Ansprache des Kapitals den Bitt-Stil des Vaterunsers: »no nos faltes jamás. / Sé generoso« (V.48-49) und fordert es auf, all’ jene aus seinem Reich zu vertreiben, die träumen und nach Wahrheit streben. Hat die Rede des unbestimmten, aber als Herrscherfigur stilisierten lyrischen Ich bislang die diktatorische Rhetorik in ihrer Hyperbolik und Verherrlichung der Repression parodiert,74 so wird sie nun zum ersten Mal auch aus der Perspektive des Sprechers selbst deutlich ironisch gebrochen. Warum jene harten Maßnahmen notwendig sind, erklärt ein nähesprachliches lapidares »[…] así es la vida« (V.60). Der Registerwechsel vom Bibelduktus in die Nähesprache verdeutlicht die ideologische Härte des Sprechers. Dass einer der Angesprochenen zu den zu vertreibenden Personen gehören könnte, schließt sich schon von selbst aus: »Si alguno de vosotros / pensase / yo le diría: no pienses« (V.61-63). Der Irrealis kündigt bereits an, dass dies nicht der Fall sein kann, und der nächste Satz, der zugleich der erste Vers der kurzen letzten Strophe ist, unterstreicht die unreflektierte Folgsamkeit der »jóvenes«: »Pero no es necesario« (V.64). Schließlich knüpft der Text wie schon »El arquitrabe« und »Vida del justo« mit »orden« – »[…] la palabra predilecta de la lengua oficial del régimen«75 – an
73 Vgl. auch Alarcos Llorach (1996), S.159. 74 Für die Entschlüsselung dieser Parodie muss nicht wie bei Villanueva auf die Intention oder die politische Absicht des Autors zurückgegriffen werden. Vgl. Villanueva (1983), S. 55f. Vielmehr unterwandert der ironische Diskurs die Aussage des Sprechers und legt den parodischen Charakter des Gedichtes durch Übertreibung offen. Die Hyperbolik wird allerdings noch klarer, vergleicht man die Aussagen des Sprechers mit der historischen Realität Spaniens (vgl. ebd., S. 57). 75 Riera (1991), S. 38.
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das ideologische Vokabular des »Referenzdiskurses«76 nacionalcatolicismo an – »paz«, »patria«, »orden« –, wobei die Alliteration »prometo / paz y patria« zudem die diktatorische Umkehrung von Blas de Oteros »pido la paz y la palabra« darstellt (und gleichzeitig Goytisolos »[…] pidiendo paz pidiendo patria / pidiendo aire verdadero« aufruft77). Die abschließende, sich über die letzten drei Verse erstreckende Antiklimax macht deutlich, dass der Frieden nur ein oberflächlicher sein kann, der auf Schweigen beruht. Damit wird »silencio« in den offiziellen Wertekanon übertragen. Seguid así, hijos míos, y yo os prometo paz y patria feliz, orden, silencio. (González, »Discurso a los jóvenes«, V.65-70)
»La comprensión de un texto irónico exige un desciframiento de las alusiones y, por tanto, un conocimiento de los contextos a los que alude.«78 González’ »Discurso a los jóvenes« verliert sein ironisches Potential nicht, wenn er als Parodie
76 Warning, Rainer (1982), »Der ironische Schein: Flaubert und die ›Ordnung der Diskurse‹«, in: Lämmert, Eberhard (Hrsg.), Erzählforschung. Ein Symposion, Stuttgart: Metzler, S. 290-318, hier S. 292. 77 Die Verse stellen die Schlusspointe (V.62/63) des ironischen Gedichtes schlechthin dar: Goytisolos »Los celestiales«. López de Abiada nennt das Einleitungsgedicht aus Salmos al viento »[…] una especie de manifiesto generacional […].« López de Abiada, José Manuel (1990), »La ironía como rasgo generacional definidor en los comienzos del grupo del 50: Apostillas a tres poemas de José Agustín Goytisolo, Jaime Gil de Biedma y Ángel González«, in: Diálogos Hispánicos de Amsterdam 9, S. 45-56, hier S. 46. Der Ruf nach »paz«, »patria« und »aire verdadero« wird den »poetas locos« (V.58) zugewiesen, welche den ironisierten »poetas celestiales« (V.56) gegenübergestellt werden – den garcilasistas (vgl. ebd. S. 48). 78 Vgl. López de Abiada, José Manuel/Minder, Roland (2007), »›Nosotros somos estos / que aquí estamos reunidos / y los demás no importan.‹ Para una interpretación del poema ›Discurso a los jóvenes‹, de Ángel González«, in: Arnscheidt, Gero/Joan i Tous, Pere (Hrsg.), ›Una de las dos Españas‹, Madrid: Iberoamericana, S. 179-190, hier S. 183.
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diktatorischer Reden und autoritärer Ideologien im Allgemeinen gelesen wird.79 Zwei Begriffe jedoch erlauben den konkreteren Bezug zum Franco-Regime. Zweimal werden die Unterdrückungsabsichten des Sprechers in Beziehung zu Schlüsselbegriffen des Franquismus gesetzt: »para no tolerar el movimiento« (V.29) und »[h]ierro para aplastar lo que se alza« (V.43). In dem kleingeschriebenen »movimiento« scheint die euphemistische Bezeichnung der Falange als Nationalbewegung, Movimiento Nacional, und im verkürzten »alza« »el alzamiento del 18 de julio« auf.80 Die Besonderheit dieser formelhaften Begriffe in »Discurso a los jóvenes« liegt in der Herauslösung aus ihrem Kontext: Indem »movimiento« kleingeschrieben wird, wird der franquistische Terminus in seiner scheinbar unbesetzten Denotation verwendet. Auch »alza« scheint entkontextualisiert verwendet worden zu sein. Liest man aber die franquistische Konnotation mit, so richtet sich der diktatorische Sprecher nicht gegen potentielle Abweichler, sondern gegen das eigene System. Und auch das Versprechen von »paz y patria feliz« wendet sich durch den intertextuellen Bezug auf Goytisolo und Blas de Otero wieder gegen den autoritären Sprecher. Die Ironie unterwandert damit das eigentlich Gesagte und eröffnet eine weitere Bedeutungsebene, welche in diesem Fall die bereits ironisierte Rede gegen sich selbst kehrt. Ángel González betont im häufig zitierten81 Vorwort zu seiner Gedichtauswahl Poemas von 1980 die Bedeutung der Ironie für die Umgehung der Zensur, die eine Ausprägung des »silencio« darstellt, mit dem der »Discurso a los jóvenes« beendet wird. »Han sido bastantes los críticos que relacionaron mi poesía con la ironía –otro rasgo generacional. El uso de la ironía fue, en principio, otro imperativo de la situación. Como es sobradamente sabido, los textos irónicos exigen que el lector invierta el recto significado de las palabras; operación mental que, aunque sencilla, desbordaba de hecho la capacidad intelectiva de muchos censores, primera ventaja de un procedimiento que implica además la relación y consiguiente comparación evaluativa de dos puntos de vista opuestos. Así, el
79 Auch wenn González selbst betont, er habe die »[…] arengas políticas entonces habituales […]« parodieren wollen. Vgl. González, Ángel, (142008) [1980], »Introducción«, in: ders., Poemas, Madrid: Cátedra, S. 15-28, hier S. 21. López de Abiada und Minder machen diese Aussage zum Zentrum ihrer Interpretation. Vgl. López de Abiada/Minder (2007), S. 183. 80 Vgl. ebd., S. 185f. 81 U.a. ebd., S. 183.
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procedimiento resultaba doblemente útil: permitía burlar las normas vigentes en materia de censura, y era de una gran eficacia crítica.«82
Derart einfach funktionierte das Zensursystem allerdings nicht. So schreibt einer der »lectores« (als welche die Zensoren ihre Dokumente unterzeichneten) des Ministerio de Información y Turismo anlässlich der angestrebten Publikation von Biedmas Colección particular in seinem Gutachten: »Uno de sus poemas más característicos es el titulado ›El arquitrabe‹ (págs. 30-31). El arquitrabe es –como dice el poeta– el Régimen, al que hay que apuntalar con andamios; andamios, scaffolds que, por supuesto, son cadalsos. […] Se hace un poco difícil pensar que algunos de los poemas citados hayan sido autorizados con anterioridad.«83
Ein erster Zensor scheint, ganz im Sinne der Äußerung López de Abiadas über die Zensoren, diese Tragweite des Gedichtes nicht wahrgenommen zu haben: »[…] [E]l poema tiene dos ›lecturas‹, una de ellas en clave política, en la que el lexema arquitrabe tendría el significado de régimen o dictadura. El censor, sin embargo, no se percató de ello y el poema pudo ser publicado.«84 Auch Mangini betont die »[…] alusiones a la situación política española, que pasarían desapercibidas para el censor, pero no para el lector iniciado.«85 Der zitierte Eintrag aus den Zensurdokumenten zeigt hingegen, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass die nähesprachlichen Strategien die Zensoren generell überlisteten.86 Bezüglich des Auszuges En favor de Venus aus Moralidades87 demonstrieren die
82 González (2008), S. 20f. 83 Eintrag vom 19.12.1969, España, Ministerio de Cultura, Archivo General de la Administración, Alcalá de Henares, caja 66/03707. Vgl. die Kopie der Zensurakte im Anhang. 84 López de Abiada (1990), S. 49f. 85 Mangini González (1977), S. 37. 86 Was auch nicht die Dichtung als Gattung generell vermochte, wie Ferrater in einem Interview vermutete: »Com que el censor és cretí i no entén el vers, em convé més d’escriure en vers que en prosa.« Ruberto, Roberto (1986), »La cultura del país i altres literatures. Conversa amb Gabriel Ferrater«, in: Saber: revista catalana de cultura 9, S. 41-45, hier S. 43. 87 Moralidades kam in Spanien nicht als Gesamtausgabe durch die Zensur, Biedma publizierte deshalb die Auszüge A favor de Venus und Cuatro poemas morales. Letztere mussten nicht die Zensur passieren, da es sich um nicht käuflich zu erwerbende Privatdrucke handelte. Vgl. Armisén, Antonio (2001), »Lecciones, lecturas y juegos se
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Zensurakten vielmehr, dass nicht die mangelnde Intelligenz der Zensoren, sondern auch das Genre Lyrik zur Autorisierung der durchaus in ihrer erotischen Brisanz erfassten Gedichte Biedmas beitrug – wobei sich herausstellt, dass auch der »lector« die Anwendung der Ironie (wenn auch nicht in ihrer rhetorischen, so doch in ihrer dramatischen Variante) beherrscht: »Versos modernos de tema vario. Algunos un tanto eróticos pero que, a nuestro juicio, no se extrarayan, ni tampoco convendría gastar pólvora porque los versos se leen muy poco. Prácticamente nada.«88 6.2.3 Semantische Vagheit und poesía social Die Vagheit der Darstellung des Biedma’schen arquitrabe deckt sich mit derjenigen in Goytisolos »Vida del justo«, in dem zwar durch die Bibelzitate christlich-katholische Moralvorstellungen aktualisiert werden, davon abgesehen aber nur ein unspezifischer Konservatismus anklingt (»todo lo que signifique algo establecido«, V.34). Derartige semantische Vagheit wird durch nähesprachliche Elemente besonders deutlich. Diese lenken die Aufmerksamkeit des Lesers auf das, was nicht direkt gesagt wird, und verlangen von ihm Kontextkenntnis sowie literarische Erfahrung, um das Ungesagte doch zu entschlüsseln. Biedmas Wiederholung der unbestimmten Wendungen »hay quien« (V.1,8,9,13) und »uno« (V.1,17) führt zu einer »imprecisión semántica«89 und lenkt die Aufmerksamkeit eben auf das Unspezifische. Durch die Unbestimmtheit des Subjektes in »El arquitrabe« bei »hay quien« und »uno« oder durch den unbestimmten Plural »lo dicen« (V.7) wird eine Verortung der Sprecher-origo, also ein »Referenzbezug«90, erschwert. Statt eines lyrischen Ich, das als Sprecher des Gedichtes verortet werden könnte, werden die einander semantisch gegenüber stehenden Handlungen von »levanta[r] andamios« (V.13) und »besa[r] a una muchacha« (V.18) nicht konkretisierten Kollektiven und Einzelpersonen zugeschrieben: »Hay quien« steht dem ebenfalls unbestimmten und verallgemeinerbarem »uno« gegenüber. Damit lässt sich der Fall »arquitrabe« zwischen zwei in Opposition
gún sentencia del tiempo. Aspectos de lo lúdico en la poesía de Jaime Gil de Biedma«, in: Voz y letra: revista de filología XII/1, S. 89-128, hier S. 99. In Gänze wurde Moralidades 1966 in Mexiko bei Juan Mortiz verlegt, einem Verlag, mit dem Seix Barral zum Zweck der Umgehung der Zensur kooperierte. Vgl. Pohl (2003), S. 240. 88 Eintrag vom 03.04.1965, España, Ministerio de Cultura, Archivo General de la Administración, Alcalá de Henares, caja 21/16022. 89 López de Abiada (1990), S. 51. 90 Vgl. Koch/Oesterreicher (1990), S. 9.
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stehenden, aber keinesfalls explizierten Gesellschaftsgruppen ansiedeln. In einer Situation kommunikativer Distanz wie der Literaturrezeption ermöglicht diese nähesprachliche Verwendung der Deixis damit nicht eindeutiges Sprechen. Die »vaguedad« und »vacilación semánticas« verstärken somit die »capacidades polisémicas«.91 Die nähesprachliche Deixis ist besonders für eine vage oder mehrdeutige Bezeichnung geeignet, da sie in Anwesenheit der Gesprächspartner auf gemeinsame Wissensbestände verweist, die nicht genauer expliziert werden müssen. Auch bei Ángel González verbindet sich die Vagheit der Äußerung mit Ironie. Der Sprecher in »Porvenir« wartet auf das Eintreten eines unbestimmten Ereignisses in der Zukunft. In der Ansprache des personifizierten und mit einem Tier verglichenen Futurs (»como un animal manso«, V.5) bewirkt ein Wortspiel den Ironie signalisierenden Kontrast zwischen Signifikat und Signifikant: »Te llaman porvenir / porque no vienes nunca« (V.1-2). Wie in »Sé lo que es esperar« bleibt offen, worauf der Sprecher eigentlich wartet – der Bezug auf einen politischen Wechsel ist möglich, aus dem Gedicht für sich heraus aber nicht notwendig. »El invierno«, das »Porvenir« vorangestellt ist, macht diese Interpretation durch den Bezug auf Kastilien und das Zitat des Gedichtbandes wahrscheinlicher, auch wenn das auf »El invierno« folgende »Porvenir« durch seine skeptische Ironie den positiven Ton des ersteren direkt wieder dämpft. Sin esperanza:
Y mañana será otro día tranquilo
la tierra de Castilla está esperando
un día como hoy, jueves o martes,
–crecen los ríos–
cualquier cosa y no eso
con convencimiento.
que esperamos aún, todavía, siempre.
(González, »El invierno«, V.15-18)
(González, »Porvenir«, V.11-14)
Auch die Handlungsabsicht des Sprechers in »El futuro« bleibt schließlich auf ein unbestimmtes Morgen (»Mañana he decidido ir adelante«, V.33) vertagt, selbst wenn sich »El futuro«, anders als »Porvenir«, eigentlich beeinflussen ließe: »Pero el futuro es otra cosa, pienso: / tiempo de verbo en marcha, acción, combate« (V.13/14). 6.2.4 Deiktische Ambiguität und Gender Die Aussparung subversiver und brisanter Kontexte funktioniert besonders in Jaime Gil de Biedmas erotischen und Liebesgedichten über ambige Zeigepartikel, so dass sowohl eine hetero- als auch eine homoerotische Kodierung möglich 91 López de Abiada (1990), S. 51.
R EZEPTIONSASPEKT
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| 221
ist. In den meisten Gedichten wird eine geliebte Person zwar als lyrisches Du angesprochen, aber nicht genauer spezifiziert. Das lyrische Ich abstrahiert nahezu gänzlich von äußeren Beschreibungen, außerdem lässt die Anrede des lyrischen Du wie in »Idilio en el café« keinen Schluss auf das Geschlecht des Angesprochenen zu. Auch die Rede über den Adressaten unter Verwendung von Possessivpronomina kann sich sowohl auf eine weibliche Adressatin als auch auf einen männlichen Angesprochenen beziehen.92 Ven. Salgamos fuera. La noche. Queda espacio arriba, más arriba, mucho más que las luces que iluminan a ráfagas tus ojos agrandados. Queda también silencio entre nosotros, y este beso igual que un largo túnel. (Gil de Biedma, »Idilio en el café«, V.8-12)
Der mögliche homoerotische Kontext wird also in keiner Weise expliziert, sondern dem Leser überlassen. Ab dem Gedichtband Moralidades (1966) wird die geliebte Person auch durch Substantive charakterisiert, die ebenfalls in den meisten Fällen mehrdeutig sind. Es dominiert die Bezeichnung »cuerpo« wie in »Pandémica y celeste«, das in der folgenden Strophe den einen, wahren Partner des lyrischen Ich unter vielen anderen beschreibt, dabei aber als Vergleichsobjekt auf »ungendered, amorphous, and fragmented bodies«93 rekurriert. Su juventud, la mía, ‒música de mi fondo– sonríe aún en la imprecisa gracia de cada cuerpo joven, en cada encuentro anónimo (Gil de Biedma, »Pandémica y celeste«, V. 110-114)
Ebenso wie »lebrel« (»Volver«, V.7) ist »cuerpo« auf der Ebene des signifié keiner männlichen oder weiblichen Figur explizit zuzuordnen, vom grammatika-
92 In »Idilio en el café« lässt allerdings der Topos der Beschreibung der Augen des/der Geliebten den Schluss auf eine weibliche Angesprochene zu. 93 Arias, Consuelo (1993), »(Un)veiling desire: Configurations of Eros in the Poetry of Jaime Gil de Biedma«, in: Anales de Literatura española contemporánea 18, S. 113136, hier S. 115.
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lischen Geschlecht her aber männlich. In ihrem hervorragenden und frühen Aufsatz zu »Pandémica y celeste« liest Consuelo Arias die Fragmentarisierung des geliebten Körpers in »brazos« (V.21), »tendón del hombro« (V.32), »muslos« (V. 71-72), »labios« (V.85) und »piel« (V.90) als Umgehung geschlechtsspezifischer Beschreibungen. Mit dem ambigen »un miembro« (V. 86) verschleiere der Sprecher in »Pandémica y celeste«, so Arias, das Objekt seines Begehrens, während er das Begehren als solches offenlege.94 Gerade die Polysemie des »miembro« funktioniert aber meines Erachtens als »Entschleierungsmoment«, da hier die fragmentarisierende Beschreibung allgemeiner Körperlichkeit hin zur spezifischen Maskulinität entwickelt wird. Während die Hauptdenotation für Arias die mögliche Homoerotik verschleiert, scheint mir gerade in diesem einen Körperteil und seiner Ambiguität der Schlüssel zur Dekodierung der Verschleierungsstrategie zu liegen: Statt ihn weiter zu ›bedecken‹, legt »miembro« den homoerotischen Subtext offen. Auffällig ist außerdem auch hier die überwiegende Verwendung maskuliner Nomina, welche ebenso indirekt auf die Männlichkeit verweisen. Die homoerotische Lektüre von »Pandémica y celeste« speist sich zudem aus weiteren Aspekten: So fordert der Sprecher seinen Angesprochenen, die Leserfigur, auf, »Imagínate ahora que tú y yo / […] / hablemos hombre a hombre, finalmente« (V.1-3). Der Chiasmus »hombre a hombre« ist dabei nicht nur ein Element »of familiar conversation«95, das eine nähesprachliche Vertrautheit der Gesprächspartner suggeriert, sondern stellt zwei gleiche Figuren einander gegenüber. Damit wird der tendenziell patriarchalische »Mann-zu-Mann«-Diskurs der homosozialen Komplizität homoerotisch umkodiert, zumal das imaginierte Zusammentreffen »en una de esas noches / de rara comunión« (V.5/6) stattfindet.96 Die Baudelaire’sche Anrede des Lesers als »hipócrita lector –mon sem-
94 Vgl. ebd., S. 124f. 95 Ebd., S. 120. 96 Zur erotischen Konnotation der »comunión« vgl. ausführlich Armisén, Antonio (1999), Jugar y leer. El verbo hecho tango de Jaime Gil de Biedma, Zaragoza: Prensas Universitarias de Zaragoza, S. 190f. Auch die im Chiasmus des »cara a cara« der Geliebten in Biedmas »Albada« angelegte Spiegelsituation sowie die Verdoppelung des Sprechers in »Contra Jaime Gil de Biedma« (vgl. Kapitel 3.2.1) legen das homoerotische Begehren nahe. Vgl. Shoshana Felmans Gedanken über die narzisstische Reflexion des Selbst in seinem Spiegelbild anhand von Balzacs Das Mädchen mit den Goldaugen. Felman, Shoshana (1992), »Weiblichkeit wiederlesen«, übers. von Hans-Dieter Gondek, in: Vinken, Barbara (Hrsg.), Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 33-61, hier S. 384.
R EZEPTIONSASPEKT
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blable, –mon frère!« (V.12)97 macht ebenfalls eine homoerotische Beziehung zwischen Sprecher und angesprochener Leserfigur denkbar, indem sie als sich gleichende Figuren beschrieben werden. Ausschlaggebend ist aber schließlich der Titel, »Pandémica y celeste«, der durch den intertextuellen Bezug auf Platon als desambiguierender, Kontext schaffender »code homosexuel«98 fungiert. Die an der fleischlichen Liebe interessierte, weder Männer noch Frauen bevorzugende, »gemeine« Aphrodite Pandemos wird der treuen, »himmlischen« Aphrodite Urania gegenübergestellt.99 Urania ist nun besonders eine Allegorie der treuen, homosexuellen Liebe – der Knabenliebe, während Pandemos keinen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Liebhaber/innen macht, wie aus Platons Gastmahl deutlich wird100 – »[…] [e]l famoso diálogo platónico, convertido para la cultura de la filografía homosexual en texto de referencia destacado«101: »Wie könnte es sein, dass es nicht zwei Göttinnen Aphrodite gibt? Die eine ist ja wohl die ältere und mutterlose Tochter des Himmelsgottes Uranus, die wir deshalb auch die himmlische nennen, die andere aber ist die jüngere, die Tochter des Zeus und der Dione, die wir die gewöhnliche nennen. […] Der Eros der gewöhnlichen Aphrodite […] ist der Eros, den die vulgären Leute lieben. Solche Menschen lieben aber erstens Frauen genauso wie Knaben, zweitens bei denen, die sie lieben, mehr die Körper als die Seelen […]. Der Eros der himmlischen Aphrodite aber kommt erstens von einer Göttin, die keinen Anteil am Weib-
97 Vgl. die letzte Strophe von Baudelaires »Au Lecteur«. Baudelaire (1999), S. 38: »C’est l’Ennui! – l’œil chargé d’un pleur involontaire, / Il rêve d’échafauds en fumant son houka. / Tu le connais, lecteur, se monstre délicat, / – Hypocrite lecteur, – mon semblable, – mon frère!« (V.37-40). 98 Viñals, Carole (2009), Jaime Gil de Biedma. Une poésie violemment vivante, Paris: L’Harmattan, S. 88. 99 Vgl. Rovira, Pere (1999), El sentido figurado. 34 poemas de Jaime Gil de Biedma, Lleida: Pagès, S. 117. 100 Manuel Sacristán, der Teil der Laye-Gruppe war, hatte Platon 1956 neu übersetzt: Platon (1956), El banquete, trad. y ed. de Manuel Sacristán, Barcelona: Fama. Vgl. Armisén (2001), S. 114. 101 Armisén (1999), S. 192. Vgl. außerdem Arias (1993), S. 119, und Egea, Juan F. (2004), La poesía del nosotros: Jaime Gil de Biedma y la secuencia lírica moderna, Madrid: Visor, S. 88, außerdem Mayhew, Jonathan (1999/2000), »›At Last The Secret is Out‹: Re-Reading Jaime Gil de Biedma«, in: Martínez Expósito, Alfredo: Gay and Lesbian Writing in the Hispanic World, Antípodas XI/XII, S. 69-77, hier S. 72.
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lichen, sondern nur am Männlichen hat, weil sie mutterlos ist – und dies ist die Liebe zu den Knaben […].«102
In »Loca« schließlich beschreibt das lyrische Ich sein Verhältnis zu einem mit »Loca« und »como una perra enferma« (V.12) als weiblich charakterisierten Liebespartner. Implizit ist die Verwendung von »loca« als Bezeichnung für einen »[…] marica u homosexual evidente, algo llamativo […],«103 welche allerdings zum Zeitpunkt des Erscheinens des Gedichtes zu einem »ideolecto archisecreto«104 im Jargon des homosexuellen Milieus gehörte. Daraus ergibt sich, dass auch hier, analog zu »cuerpo«, die Ergänzung der deiktischen Verweise sowie die Kontextkenntnis (des kulturellen Sprachgebrauchs) von Nöten ist, um eine mögliche Lesart zweiter Ebene aufzuspüren, wie Biedma selbst feststellte: »Camp es el deliberado tratamiento por el autor de los elementos referenciales y temáticos de su obra –sentimientos, situaciones, relaciones humanas, paisajes, etc., todo lo que es el material del poema, o de la novela– como meras categorías de orden formal, como género literario, como cláusulas de estilo en las que el autor sólo participa irónicamente, haciéndole al lector un guiño sobreentendido. Si el guiño no lo capta, si no entra en la complicidad del juego, si se toma en serio eso que se suele llamar ›el fondo‹, no entenderá ni disfrutará nada.«105
Dadurch, dass die deiktische Ambiguität einen »[…] velo gramatical sobre el sexo de la persona amada […]« legt, entsteht ein »[…] espacio de legibilidad contingente […].«106 »Loca« ermöglicht eine zweifache Semantisierung: Es kann sich zum einen um eine hysterische Frau handeln; unter Berücksichtigung des
102 Platon (2009), Gastmahl, übers. und hrsg. von Thomas Paulsen, Stuttgart: Reclam, S. 16f. (Herv. i.O.). 103 Villena, Luis Antonio de (2006), Retratos (con flash) de Jaime Gil de Biedma, Barcelona: Seix Barral, S. 56. Vgl. auch den Eintrag zu »loco2, ca« im Diccionario de la lengua española der Real Academia Española: »8.f. Hombre homosexual«, der erst in der 22. Auflage aufgenommen wurde: http://www.rae.es/loco, 20.10.2011. Vgl. außerdem Reisz (1996), S. 461f. 104 Villena (2006), S. 56. 105 Gil de Biedma, Jaime (1978), »Homosexualidad en la Generación del 27. Una conversación con Jaime Gil de Biedma, por Bruce Swancey y José Ramón Rodríguez«, in: Enríquez, José Ramón (Hrsg.), El homosexual ante la sociedad enferma, Barcelona: Tusquets, S. 195-216, hier S. 197. 106 Egea (2004), S. 111.
R EZEPTIONSASPEKT
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Idioms in der homosexuellen Szene ist aber auch der Bezug auf einen männlichen Liebespartner möglich. Die Abhängigkeit dieser doppelten Lesbarkeit vom Sprachgebrauch wird besonders in der von Manuel Monge Fidalgo und Sven Limbeck angefertigten deutschen Übersetzung von »Loca« deutlich. Die im Spanischen angelegte »sostenida ambiguidad«107 wird im Deutschen vereindeutigt und auf die homoerotische Lesart beschränkt: »Schwuchtel«.108 Die Ambiguität des Idioms im Spanischen muss der Verständlichkeit der tiefer liegenden Bedeutung im Deutschen weichen. Die Ambiguität des spanischen Titels trägt also zu einer »[…] táctica de producción de significado prohibido«109 bei, was in diesem Fall noch 1975 dazu führt, dass die erste Ausgabe von Las personas del verbo die Zensurbehörde passiert. Während ein erster Zensor politische Äußerungen, Spanienkritik und »idea[s] alguna vez de caracter [sic] homosexual« bemängelt und das Urteil »DENUNCIABLE«110 fällt, fügt ein zweiter handschriftlich hinzu: »Al que suscribe, no le parece tan grave. La homosexualidad de las pags. [sic] 115 y 132111 hay casi que adivinarla, porque no está clara.«112
6.3 R EZEPTIONSÄSTHETISCHE I MPLIKATIONEN ÄSTHETIK DER N ÄHE
EINER
Intertextualität, Ironie, semantische Vagheit und deiktische Mehrdeutigkeit sind als Vermittlungsmechanismen subversiver, nicht direkt nennbarer Thematiken wie Gesellschaftskritik und Homosexualität beschrieben worden. Ihre Vermittlung beruht auf der unvollständigen Explizierung von Kontexten, die durch den
107 Jaume, Andreu (2010), »Narciso en Calibán: Jaime Gil de Biedma en sus cartas«, in: Gil de Biedma (2010), S. 9-38, hier S. 33. 108 In Frage zu stellen wäre hier auch die deutlich despektierlichere Konnotation von »Schwuchtel« gegenüber »loca«. Vgl. Gil de Biedma (2004), S. 117. 109 Álvarez, Enrique (2005), »La ambigüidad nostálgica del ›yo‹: Homoerotismo y crítica social en la poesía de Jaime Gil de Biedma«, in: Revista de estudios hispánicos XXXIX/1, S. 27-52, hier S. 31. 110 Eintrag vom 15.09.1975, España, Ministerio de Cultura, Archivo General de la Administración, Alcalá de Henares, caja 73/05008 (Herv. i.O.). Vgl. die Kopie der Zensurakte im Anhang. 111 »Peeping Tom« und »Pandémica y celeste«. 112 Eintrag vom 15.09.1975, España, Ministerio de Cultura, Archivo General de la Administración, Alcalá de Henares, caja 73/05008. Vgl. die Kopie der Zensurakte im Anhang.
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Leser aktualisiert werden müssen und damit seiner Komplizität bedürfen. In dieser Weise haben sich die besprochenen Gedichte in doppelter Hinsicht als nähesprachlich erwiesen: zum einen durch ein ästhetisches Moment mimetischer Herstellung von Nähe oder fingierter Mündlichkeit. Zum anderen durch das spezifisch nähesprachliche Element nicht expliziter Kontexte. Nähesprache ist in diesem Zusammenhang also nicht allein schriftliche Inszenierung mündlicher Kommunikation, sondern setzt durch geringe Explizitheit auch eine lebensweltliche Nähe von Sender und Empfänger der subversiven Zeichen voraus. Die durch die »experiencia común de los hablantes« bedingte Komplizität ermöglicht eine privilegierte Kommunikation über den Text: »El compañero de viaje está capacitado para leer entre líneas, entender lo que no se dice abiertamente o lo que se insinúa […].«113 Besonders deutlich wird die in den Texten angelegte Komplizität mit dem Leser im Fall der Ironie, da der Leser derjenige ist, durch dessen »ironische Solidarisierung«114 die Ironie erst aktualisiert wird: »[…] a través de la ironía los mensajes buscan al otro en pie de igualdad […].«115 Diese außenpragmatische Funktion nähesprachlicher Aspekte, wie zum Beispiel an den oder die Adressaten gerichtete Imperative, bindet den Leser, auch unabhängig von der binnenpragmatisch etablierten Sprechsituation, implizit als Rezipienten in den Text mit ein.116 Zugleich verdeutlicht die »fingierte Mündlichkeit« aber, dass sich die Dichtergruppe von dem Ziel, eine »inmensa mayoría« anzusprechen, entfernt hat. Kolloquialismen und Gesprächswörter lassen zwar den Eindruck einer leicht verständlichen Lyrik entstehen und schließen auch das Verständnis der subversiven Anspielungen nicht hermetisch aus – weshalb auch nur bedingt von einem Schutz vor Zensur gesprochen werden kann.117 Andere mimetische und struktu-
113 Riera (1988), S. 265. Vgl. in diesem Sinne auch LaFollette Miller (1995), S. 58: »[…] [T]he real addressees were his [Ángel González’s] political cohorts. This audience, we surmise, was intended to read between the lines […].« 114 Warning (1976), S. 417. 115 Carreño Espinosa (1999), S. 214. 116 Vgl. zu Ángel González: »El empleo de esas formas del imperativo, que presupone una relación estrecha del hablante con el destinatario, hace que el lector se identifique con este último y se sienta directamente implicado en el acto de comunicación representado en el poema.« Crespo Matellán (1996), S. 372. 117 Nicht umsonst wurden gerade die in diesem Kapitel besprochenen Texte zensiert: Die italienische Übersetzung von Goytisolos Salmos al viento enthielt einen Anhang mit den in der spanischen Ausgabe fehlenden Abschnitten. Vgl. Abellán, Manuel L. (1980), Censura y creación literaria en España (1939-1976), Barcelona: Península, S. 71.
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relle Elemente der Nähesprache setzen aber den Willen und das Vermögen des Lesers zur Entschlüsselung des Gesagten voraus. Damit widmen sich viele Gedichte zwar subversiven Themen, grenzen aber den Kreis der Rezipienten auf diejenigen ein, die die mehrdeutige Zeichenverwendung entschlüsseln können: »La gente que lo entendía ya estaba de acuerdo con nosotros; el que no sabía de lo que iba, ese [sic] no lo entendía del todo. Esos poemas eran en cierto modo un guiño de ojo a una persona con la que estábamos de acuerdo previamente.«118 Die nähesprachlichen Kommunikationsstrategien der vorliegenden Gedichte unterscheiden sich von lyrischen Praktiken im Allgemeinen in der Form, dass nicht allegorische oder metaphorische Strategien per se subversiv sind, sondern dass typisch literarische (Intertextualität, Ironie) und typisch lyrische Mechanismen (Metaphorik) hier die besondere Funktion der Aussparung des Kommunikationskontextes wahrnehmen und Unsagbares der Interpretation des Lesers überlassen. Gabriele Knetsch spricht im Zusammenhang mit der Zensur von »uneigent-
Trotzdem wundert sich Goytisolo im Nachhinein, »[…] cómo me dejaron pasar eso. Va con citas de la Biblia, se llama Salmos al viento, pero se entiende perfectamente todo lo que se dice allí […].« Vgl. Vázquez Rial (1992), S. 20 (Herv. i.O.). Auch Goytisolos Algo sucede, das in einer schmalen Auflage von 700 Exemplaren geplant war, kann 1967 nur mit extensiven Streichungen publiziert werden: Die Gedichte »Algo sucede«, »Meditación sobre el yesero«, »Sólo el silencio«, »Derecho al pataleo« und »Noticia a Carlos Drummond de Andrade« müssen komplett verschwinden. Biedmas Moralidades erscheinen in Mexiko und seine Colección particular muss ebenfalls mehrere Kürzungen hinnehmen, obwohl diese Anthologie nur bereits veröffentlichte Gedichte enthält (vgl. Abellán (1980), S. 215, 227, und Kapitel 6.2.2). Gabriel Ferraters »Poema inacabat« kann auch nur unter Streichungen veröffentlicht werden. Neben der autorisierten Ausgabe ließ Ferrater privat einige nicht verkäufliche Exemplare von Teoria dels cossos drucken, die er mit einem Blatt versah, das die gestrichenen Passagen mit Versangabe und unter der Lektüreanweisung »Cal llegir« wieder abdruckte. Der ansonsten unveränderte Neudruck von Teoria dels cossos nimmt diese Hinweise im Anhang auf. Vgl. Ferrater, Gabriel (31991) [1966], Teoria dels cossos, Barcelona: Empúries, S. 103-105. Als Les dones i els dies 1968 mit der vollständigen Version des »Poema inacabat« publiziert werden soll, beanstandet die Zensurbehörde hingegen nichts. Vgl. Cornudella, Jordi (2003), »Presentació«, in: Ferrater, Gabriel (2003a), Poema inacabat, Barcelona: Diputació de Barcelona, S. 9-19, hier S. 18. 118 Ángel González in einem Interview mit Villanueva, vgl. Villanueva (1983), S. 52.
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lichem Sprechen«119, welches, wie sie in Anlehnung an Warning feststellt, durch die besondere »Situationsabstraktheit«120 – also die Trennung von Binnen- und Außenpragmatik – literarischer Texte befördert werde und sich als »Umgehungsstrategie« eigne.121 Dieses generelle pragmatische Alleinstellungsmerkmal von Literatur im Allgemeinen und Lyrik im Speziellen unterscheidet sich von der hier betrachteten nähesprachlichen Aussparung des Kontextes: In der Nähesprache folgen die spezifisch literarischen Strategien sowohl einem ästhetischen Prinzip, das von Bedeutung für die Sprechsituation ist, als auch einer subversiven Funktion. Sie übertragen dem Leser, im Sinne der Iser’schen Leerstellen, eine »Selektionsentscheidung«122, um den offen gebliebenen Anschluss herzustellen.123 An dieser Stelle zeigt sich die besondere Bedeutung des Kontextes, der aus den »Wirkungsstrukturen des Textes«124 Indizien zum komplizenhaften Anschluss bildet. Im Sinne Umberto Ecos müssen bestimmte Kodes aktualisiert werden, die ein übereinstimmendes semiotisches System anzeigen, um die anzuwendenden Teile der kulturellen Enzyklopädie herauszufinden125 – so zum Beispiel die Aktualisierung der Ideologie des Nationalkatholizismus in »Faula primera«, »Vida del justo«, »El arquitrabe« und »Discurso a los jóvenes«. Diese Aktualisierung wird auf den komplizenhaften Leser übertragen – der, als gewissermaßen ›virtueller Leser‹ in einer ersten Instanz der Zensurbehörde zu finden war.
119 Knetsch, Gabriele (1999), Die Waffen der Kreativen. Bücherzensur und Umgehungsstrategien im Franquismus (1939-1975), Frankfurt am Main: Vervuert, S. 33. 120 Warning (1982), S. 296. 121 Knetsch (1999), S. 33. 122 Iser (1984), S. 286. 123 Vgl. Kuhangels Ausführung zu Iser, der die Leerstelle in fiktionalen Texten als offen gebliebene »Anschließbarkeit« bezeichnet. Iser (1984), S. 287. Kuhangel präzisiert, dass die Anschließbarkeit im fiktionalen Text durchaus gegeben sei; dem Leser bleibe jedoch der Anschluss selbst überlassen. Kuhangel, Sabine (2003), Der labyrinthische Text. Literarische Offenheit und die Rolle des Lesers, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag, S. 117. Sie stellt außerdem heraus, dass die Offenheit der Iser’schen Leerstellen vor allem im Hinblick auf Bestimmtheit, also »Leserlenkung«, zu verstehen sei (ebd., S. 127). 124 Iser (1984), S. 61. 125 Vgl. Eco, Umberto (31998), Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, übers. von Heinz G. Held, München: dtv, S. 18.
7 Produktionsaspekt der Interferenz: Autofiktion
In diesem Kapitel soll nun nach der autobiographischen Dimension der vorliegenden Gedichte gefragt werden, wobei Dichtung nicht als per se autobiographische Gattung – im Sinne einer romantischen Vorstellung des Gedichtes als Spiegelung der genuin dichterischen Innerlichkeit – verstanden werden soll.1 Vielmehr wird nach der Rolle der Fiktion bei der Konstitution des Text-Ich gefragt. Gerade, wenn angenommen wird, dass literarische Texte nicht nur in einem (inter-) textuellen Universum existieren, sondern von einem als kreative Instanz begriffenen Autor mit sozialen Beziehungen produziert werden, also im Rahmen der entworfenen Theorie der Interferenz, kommt der Frage Bedeutung zu, welche Rolle diese lebensweltliche Einbindung in den Texten spielt. Nachdem in Kapitel 4 bereits die similare Konstruktion von Sprecher-Biographien dargestellt worden ist, soll nun die Textstrategie dieser Similaritäten hinterfragt werden. Lässt sich die beobachtete biographische Komponente der Interferenz zu einer autobiographischen Lektüre konkretisieren? Was für ein Verhältnis wird zwischen Text und Extratextualität etabliert? Und welche Rolle spielt der Aspekt der Fiktion? Im Anschluss an einen Überblick über Theorien der Autobiographie und Autofiktion, in dem auch der Begriff der ›Extratextualität‹ erläutert wird, werden die Texte der fünf Autoren in Einzelkapiteln zu dem von ihnen ausgebildeten Verhältnis zwischen Lebenswelt und Text befragt. Die der autobiographischen Gattung eigene permeable Grenze zwischen fact und fiction2 wird von zwei Seiten her beschritten: Zunächst werden die Gedichte auf ihre authentifizierenden Stra-
1
Vgl. Kapitel 2.1.
2
Vgl. Wagner-Egelhaaf, Martina (2005), Autobiographie, Stuttgart: Metzler, S. 50.
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tegien hin untersucht und, im Falle Barrals und Biedmas, den im engeren Sinne autobiographischen und autofiktionalen Prosatexten gegenübergestellt,3 um zu klären, ob es Gemeinsamkeiten in der Poetik dieser Textsorten gibt. Daran anschließend werden die fünf Einzelpositionen zum Verhältnis von Text und Extratextualität unter Zuhilfenahme von Isers Begriffen »Mimesis«, »Simulakrum« und »Phantasma«4 zusammengeführt: Iser postuliert, dass ein Diskurs seinen Gegenstand immer auch modelliert, Mimesis also kaum als traditionelles Abbildungsverhältnis gedacht werden kann, sondern eine interaktive, wechselseitige Relation darstellt.5 Die Konstitution eines Text-Ich, welches in einer zu bestimmenden Relation zum Autor-Ich steht, wird in Kapitel 7.3 zunächst als Mimesis und Simulakrum diskutiert, um schließlich in Überlegungen zur Performanz fiktionalisierter Identitäten integriert zu werden. Dabei wird sich herauskristallisieren, dass man im Falle der vorliegenden Gedichte nur eingeschränkt von autobiographischen Texten sprechen kann.6 Vielmehr konstituieren die Gedichte autofiktionale Elemente, welche die Textfiguren als Phantasmen aus den Texten hervortreten und in die Lebenswelt hineinreichen lassen.
7.1 AUTOBIOGRAPHISCHE UND AUTOFIKTIONALE I DENTITÄTSKONSTRUKTION Um die Gedichte genauer im Spannungsfeld von Autobiographie und Autofiktion untersuchen zu können, stellt sich die Frage nach den Kriterien, die einen
3
Barrals Roman Penúltimos castigos und Biedmas Tagebuch Retrato del artista en 1956: Barral, Carlos (1994) [1983], Penúltimos castigos, Barcelona: Plaza y Janés und Gil de Biedma (2001b). Vgl. hierzu auch Bode, Frauke (2011), »Fiktionalisierte Identitäten: Auto(r)biographische Konstruktionen in Lyrik und Prosa bei Carlos Barral und Jaime Gil de Biedma«, in: Mancas, Magdalena Silvia/Schmelzer, Dagmar (Hrsg.), Der espace autobiographique und die Verhandlung kultureller Identität. Ein pragmatischer Ort der Autobiographie in den Literaturen der Romania, München: Martin Meidenbauer, S. 149-165.
4
Iser, Wolfgang (1998), »MimesisEmergenz«, in: Kablitz, Andreas/Neumann, Gerhard (Hrsg.): Mimesis und Simulation, Freiburg: Rombach, S. 667-684.
5 6
Vgl. ebd., S. 697f. Auch entgegen den Ergebnissen neuerer Forschungsliteratur. Vgl. z.B. zu Barral das Kapitel »El papel de la autobiografía« bei Saval, José Vicente (2002), Carlos Barral, entre el esteticismo y la reivindicación, Madrid: Fundamentos, S. 171-227 (Herv. i. Originaltitel).
P RODUKTIONSASPEKT
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Text zunächst als autobiographischen ausweisen. In seiner Abhandlung »Der autobiographische Pakt«, deren Formulierung in Richtung des Iser’schen Kontrakts zwischen Literaturproduzent und -rezipient deutet, definiert Philippe Lejeune die Autobiographie als »[r]ückblickende[n] Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person über ihr eigenes Dasein erstellt, wenn sie das Hauptgewicht auf ihr individuelles Leben, besonders auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.«7 Zunächst würde diese Definition durch die Begrenzung auf Prosatexte Gedichte als ›Autobiographien‹ direkt ausschließen – wenn man einmal von der Zwischenposition zwischen Lyrik und Prosa absieht, welche Prosagedichten zukommt. Als einzige starre Bedingung nennt Lejeune jedoch lediglich die Identität von Erzähler, Autor und Figur, die auch Genette in seiner Analyse der möglichen Antworten auf die Frage »wer spricht« erfasst.8 In diesem Sinne ließe sich also auch ein Gedicht als autobiographisch bezeichnen, wenn es zum Beispiel narrativ und retrospektiv fokalisiert über die Vergangenheit eines lyrischen Ich berichtet, das durch seinen Namen mit dem Autor identifizierbar ist. Ein Indiz für diesen autobiographischen Pakt liefert – in der Identität von Sprecher- und Autorname – das Gedicht »Contra Jaime Gil de Biedma«, welches, zusammen mit »Después de la muerte de Jaime Gil de Biedma«, die Lejeune’sche Definition erfüllt. Auch eine Gedichtzeile wie die folgende von Ángel González forciert die Gleichsetzung von Autor und Sprecher: »[…] si yo fuese / Dios, haría / lo posible por ser Ángel González« (»Me basta así«, V.26-28). Eine solche Identität kann nicht bereits aufgrund der einfachen Nennung eines lyrischen Ich konstatiert werden, sondern muss mit einem »Zeichen von Realität«9 ausgestattet sein, welches dem Leser kenntlich macht, dass sich der vorliegende Text im »autobiographischen Raum« verortet.10 Somit ist weder das erzählerische noch das lyrische Ich per se Ausdruck des Autor-Ich, wie es noch bei Saval begriffen wird. Er identifiziert in den Gedichten Barrals einzelne Figuren »muy probablemente« mit Personen aus dessen Lebensumfeld11 und konstatiert Parallelen zwischen den genuin memorialistischen Texten Barrals und seinen Gedichten.12 Dieses Verfahren erklärt sich aus seiner Prämisse, dass »[…] toda poesía lírica, al manifestar los sentimientos más íntimos del poeta, es en sí mismo autobiográfica.«13 Eine Abschwächung dieser
7
Lejeune (1998), S. 215.
8
Vgl. ebd., S. 217 und Genette (1992), S. 82.
9
Vgl. Lejeune (1998), S. 227.
10 Ebd. 11 Saval (2002), S. 188. 12 Vgl. ebd., S. 171-227. 13 Ebd., S. 173f.
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Perspektive findet sich bei Riera, die von einer »[…] configuración de un personaje, un sujeto poético a la vez igual y distinto del autor […]«14 spricht, zugleich aber die Barral’schen Memoiren für das tatsächliche Erleben einzelner Anekdoten anführt.15 Formaler ausgerichtet bestimmt Baena das Verhältnis von Autor und Figur in den Texten von González. In Anlehnung an »la conceptualización de época« Emil Staigers sieht er im Selbstdialog des Sprechers »[…] cualquier lejanía entre el poeta y la materia que nos comunica […]«16 eliminiert und belegt diese vermeintliche Überschreitung von binnen- und außenpragmatischer Sprechsituation mit dem Begriff der Autofiktion.17 Auch diese Definition richtet sich allein am Sprecher-Ich aus, welches jedoch, vergleichbar mit dem Erzähler in der Narrativik, noch kein Kriterium für den Autorbezug darstellen kann, auch dann nicht, wenn die Sprecherrede in der Selbstansprache verdoppelt ist. Nach Lejeune kann erst der übereinstimmende Eigenname von Autor, Erzähler und Figur eine Autobiographie begründen, da jede Abweichung von der Identität hin zur Ähnlichkeit zwischen den Instanzen ein Element der Fiktion einbringe.18 Lejeune benennt diesen letzteren Fall als »autobiographischen Roman«19. Ausdrücklich ist für die Unterscheidung aber nicht die Frage nach der inhaltlichen ›Wahrheit‹ einer Autobiographie ausschlaggebend, sondern lediglich ihre Rahmung, welche im Falle der Autobiographie auf der Ebene des Paratextes klare Rezeptionsvorgaben macht: »Die Autobiographie ist kein Rätselspiel. […] Sobald man das Titelblatt samt Autorennamen zum Bestandteil des Textes macht, verfügt man über ein allgemeines Textkriterium, die Identität des Namens. […] Der autobiographische Pakt ist die Bestätigung dieses Namens.«20
Lejeunes einflussreiche Einführung der Konzeption eines autobiographischen Pakts zwischen Autor und Leser kann allerdings nur so lange Gültigkeit haben,
14 Riera (1990), S. 54. 15 Ebd., S. 59. 16 Baena (2007), S. 167. Staigers Grundbegriffe der Poetik erschienen bereits 1966 auf Spanisch. Vgl. Staiger, Emil (1961), Grundbegriffe der Poetik, Zürich: Atlantis und Staiger, Emil (1966), Conceptos fundamentales de la poética, Madrid: Rialp. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. ebd., S. 229. 19 Ebd. 20 Lejeune (1998), S. 231 (Herv. i.O.).
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wie ein derartiger Kontrakt auch eingehalten wird. Wie in der Erforschung postmoderner Literatur vielfach konstatiert worden ist, ist dort der autobiographische Pakt in vielen Fällen nicht derart eindeutig zu bestimmen. Hier soll es nicht darum gehen, wie der bei Lejeune beschriebene Leser einer Autobiographie nach »Vertragsbrüchen« des Autors auf Inhaltsebene zu suchen,21 sondern vielmehr darum, die von Lejeune ausgeschlossenen »Rätselspiele« zu funktionalisieren. Sicherlich ist die Grenze des autobiographischen Paktes dort zu sehen, wo ein Text keine Autobiographie im Sinne ihrer traditionellen Poetik mehr darstellt, weil die Rekonstruktion einer biographischen Geschichte unmöglich erscheint.22 Wenn in diesem Zusammenhang der Schreibakt selbst in den Mittelpunkt der autobiographischen Tätigkeit rückt, entsteht eine Unsicherheit in der Zuschreibung, im Genette’schen Dreiecksverhältnis zwischen Autor, Erzähler und Figur. Im Unterschied zu Lejeune sieht die neuere Kritik durchaus die Möglichkeit eines bewussten Spiels mit den Referenten, in dem »[…] die Metatextualität […] keineswegs eine unbedachte Spielerei darstellt, sondern ein Mittel, den autobiographischen Akt als Akt der Fingierung und den Wahrheitsanspruch als unerfüllbar zu entlarven […].«23 In diesem Sinne greift gerade dann die Definition Lejeunes nicht mehr, wenn die Namensidentität nicht auf einen autobiographischen Pakt hindeutet. In der Postmoderne wird in einem unklaren Raum aus fact und fiction nun gerade die Frage nach der von Lejeune als Definitionskriterium ausgeschlossenen Wahrheit des Verhandelten relevant – jedoch vor allem, um ihre mangelnde Bestimmbarkeit zu konstatieren. Binäre Strukturen wie die Autobiographie als Gattung, welche die Realität abbilden will, und Fiktion als Gattung, welche Imaginäres beschreibt, um bei den Iser’schen Begriffen zu bleiben, werden zunehmend in hybride Konstruktionen ausgedehnt: Die Autobiographie wird immer mehr zum »gattungswiderständigen Phänomen«24. Daher wird hier der Begriff der ›Extratextualität‹ an die Stelle von ›Realität‹ und ›Wirklichkeit‹ gesetzt. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Lebenswelt kein größerer Wahrheitsanspruch zukommt als der Textwelt, womit ich mich Remigius Bunia anschließe: »[…] jeder ›Konsens‹ über die
21 Ebd. 22 Vgl. Toro, Alfonso de/Gronemann, Claudia (2004), »Einleitung«, in: dies. (Hrsg.), Autobiographie revisited. Theorie und Praxis neuer autobiographischer Diskurse in der französischen, spanischen und lateinamerikanischen Literatur, Hildesheim u.a.: Olms, S. 7-21, hier S. 9f. 23 Ebd., S. 10. 24 Wagner-Egelhaaf (2005), S. 50.
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Beschaffenheit der Welt [ist] nichts […] als die Verringerung der Friktionen der vielen Beobachtungen, damit einfacher prozessiert werden kann; dies heißt dann ›Realität‹.«25 Ein (literarischer) Text soll deshalb lediglich als abgegrenzt von, aber relational zu all’ dem verstanden werden, was außerhalb dieses Textes liegt – potentiell also auch zu anderen literarischen und künstlerischen Texten.26 Damit geht die grundsätzliche Annahme einher, dass die Gattung Autobiographie, selbst wenn sie sich als historiographische, ›faktische‹ Gattung versteht, keine absolute Kategorie der Wahrheit erfüllen, sondern lediglich im Sinne eines Wahrheitspostulats Authentizität einfordern und behaupten kann. Nicht umsonst spricht Serge Doubrovsky von einer »ruse du récit«27, deren Ambiguität »[…] vise à jouer sur les deux tableaux.«28 In dieser paradoxalen Hybride, deren Bezeichnung als »Autofiktion«29 Doubrovsky geprägt hat, ist die Referentialität gestört, denn die Referenten können nicht allein im Feld des Realen oder des Imaginären verortet werden: »Ni autobiographie ni roman, donc, au sens strict, il fonctionne dans l’entre-deux, en un renvoi incessant, en un lieu impossible et insaisissable, ailleurs que dans l’opération du texte.«30 Genette sieht in dieser Paradoxie, wenn »[…] ein mit dem Autor identifizierter Erzähler eine homodiegetisch-fiktionale Erzählung […] produziert«31, eine funktionale Differenzierung zwischen den Äußerungsinstanzen Autor und Erzähler.32 Somit liegt der Autofiktion ein »bewusst widerspruchsvolle[r] Pakt« zugrunde, ein »pacto ambiguo«33, der sich vom autobiographischen Pakt Lejeunes wesentlich unterscheidet: »›Ich, der Autor, erzähle Ihnen eine Geschichte, deren Held ich bin, doch die mir niemals passiert ist‹ […]. ›Ich bin es und ich bin es
25 Bunia, Remigius (2007), Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien. Berlin: Erich Schmidt, S. 70f. (Herv. i.O.). 26 Vgl. die Verwendung des Begriffes bei Hagen, Anja (2003), Gedächtnisort Romantik. Intertextuelle Verfahren in der Prosa der 80er und 90er Jahre, Bielefeld: Aisthesis, S. 45-50. 27 Doubrovsky, Serge (1988), »Autobiographie/vérité/psychanalyse«, in: ders., Autobiographiques: de Corneille a Sartre, Paris: Presses Universitaires de France, S. 6179, hier S. 69. 28 Ebd., S. 75. 29 Ebd., S. 69. 30 Ebd., S. 70. 31 Genette (1992), S. 85. 32 Vgl. ebd., S. 86. 33 Alberca, Manuel (2007), El pacto ambiguo. De la novela autobiográfica a la autoficción, Madrid: Biblioteca Nueva.
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nicht.‹«34 Dieser spezifisch postmoderne Pakt lässt sich damit begründen, dass es unmöglich geworden ist, eine einheitliche, sinnhafte Lebensgeschichte im Sinne des récit Paul Ricœurs zu konzipieren. Doubrovsky sieht in der Autofiktion eine psychoanalytische Funktion: Der Autor nimmt sich selbst wie einen anderen wahr35 und kann so einen Lebenssinn konstruieren, der ansonsten nicht vorhanden wäre.36 »L’autofiction, c’est sans doute là qu’elle se loge: image de soi au miroir analytique, la ›biographie‹ que met en place le processus de la cure est la ›fiction‹ qui se lira peu à peu, pour le sujet, comme l’›histoire de sa vie‹. […] Le sens d’une vie n’existe nulle part, n’existe pas. Il n’est pas à découvrir, mais à inventer, non de toutes traces: il est à construire. Telle est bien la ›construction‹ analytique: fingere, ›donner forme‹, fiction, que le sujet s’incorpore.«37
Neben dieser psychoanalytischen Interpretation der Autofiktion, welche ihren verstörenden, nicht zuzuordnenden Referentialitätsstatus letztlich wieder an den Autor rückbindet, ist auch eine rein ludische Konstruktion verwirrender Identitäten denkbar. Jedenfalls scheinen die hier vorliegenden Texte, welche, wie im dritten Kapitel aufgezeigt wurde, Biographeme eines Sprecher-Ich verhandeln, sich in einer solchen autofiktionalen Position postmodernen autobiographischen Schreibens verorten zu lassen, wobei die Lyrik besonders prägnant »[…] die Auflösung einer kontinuierlichen Entwicklung des eigenen Lebens ins Episodische […]«38 verlagert.
7.2 AUTOBIOGRAPHISCHE R AHMUNG UND AUTORISIERUNGSSTRATEGIEN Die als textuelle Similaritäten herausgearbeiteten Biographeme eines SprecherIch werden in Authentifizierungsstrategien eingebunden, welche das lyrische Ich als autobiographisches behaupten: Nicht nur werden Aspekte des Autorlebens im
34 Ebd., S. 87. »[…] [L]’autofiction est une assertion qui se dit feinte et qui dans le même temps se dit sérieuse.« Darrieussecq, Marie (1996), »L’autofiction, un genre pas sérieux«, in: Poétique 107, S. 369-380, hier S. 377 (Herv. i.O.). 35 Vgl. Doubrovsky (1988), S. 72. 36 Vgl. ebd., S. 77. 37 Ebd. (Herv. i.O.). 38 Wagner-Egelhaaf (2005), S. 187.
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Gedichttext verhandelt, die an andere Quellen, so zum Beispiel die Memoiren Barrals, zurückgebunden werden können, sondern konkrete Orte, Daten und Personen finden Eingang in die Textwelt. Cabanilles definiert in Anlehnung an Lejeune einen autobiographischen Gehalt anhand folgender Elemente: Autorname, Erlebnisse, welche dem Autor nachweislich zugeschrieben werden können, Daten, welche die Identität von Autor und Figur bestätigen, sowie reale Figuren und Ereignisse,39 welche sie aus Biedmas Las personas del verbo herausarbeitet. Hier sollen diese positivistischen Übereinstimmungen lediglich Ausgangspunkt für eine in diesem Kapitel näher zu bestimmende Funktion der auto(r)referentiellen Elemente sein. Die Liste der zu überprüfenden Annahmen ist zwar hilfreich, aber doch stark auf das œuvre Biedmas zugeschnitten, welches alle diese Elemente aufweist. Bei Barral, Goytisolo und Ferrater müsste schon die Absenz des Eigennamens in den Texten jeglichen autobiographischen oder autofiktionalen Bezugsrahmen unmöglich machen. Die Referentialisierungen in den vorliegenden Gedichten postulieren nicht nur eine lebensweltliche Bezugnahme im Allgemeinen, wie sie anhand der kontextuellen Komplizität der Nähesprache herausgearbeitet worden ist, sondern behaupten im Besonderen, dass die Person des Autors der Figur des Sprechers entspricht. Sie suggerieren auf diese Weise eine autobiographische Lektüre, die auf der traditionell angenommenen auctoritas des Autors als ›Herrscher‹ über seinen Text beruht.40 Die autobiographische Rahmung ist daher als Strategie der Autorisierung zu verstehen. Der Text ›auto-risiert‹ sich zum einen selbst, indem er seine Authentizität behauptet. Gleichzeitig ›autor-isiert‹ das Text-Ich seinen extratextuellen Bezug zum Autor-Ich. In diesen beiden Ausprägungen ist der Begriff der Autorisierung im Folgenden zu verstehen.
39 Cabanilles (1989), S. 145. 40 Vgl. dazu die etymologische Herleitung des Autor-Begriffes aus dem Lateinischen »auctor«, abgeleitet von den Verben »agere« und »augere«, welche den Autor in seiner Funktion als agens und creans beschreiben, und dem Substantiv »auctoritas«, welches die juristische Verantwortung des Veranlassers einer Sache, mithin des Autors für seinen Text, begründet. Vgl. Wetzel, Michael (2000), »Autor/Künstler«, in: Barck, Karlheinz (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 1. Absenz-Darstellung, Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 480-543, hier S. 480. Vgl. außerdem Hammerschmidt, Claudia (2010), Autorschaft als Zäsur. Vom Agon zwischen Autor und Text bei d’Urfé, Rousseau und Proust, München: Fink, S. 53f.
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Im Sinne der Unterscheidung von Extratextualität und Text kann es im Folgenden nicht darum gehen, textuelle Aspekte mit extratextuellen abzugleichen, um sie auf diesem Wege zu verifizieren, sondern vielmehr darum, die Strategien dieser (vermeintlichen) auktorialen Authentifizierung zu hinterfragen und zu funktionalisieren. In den folgenden Einzelkapiteln zu den fünf Autoren werden die zu beobachtenden Strategien der Autorisierung und ihre Funktion für die Bestimmung des Sprecher-Ich zwischen Autobiographie und Autofiktion in den Einzelkorpora herausgearbeitet. Dabei lässt sich isotopisch die Gemeinsamkeit einer Rekurrenz auf Aspekte des Schreibens und der Textualität der Aussage hervorheben, die ein mimetisches Verhältnis zur Extratextualität problematisieren. Im Mittelpunkt der Einzelanalysen steht die Konstitution der Autorfigur bei Biedma und der Leserfigur bei Barral, die Kritik an der mangelnden Körperlichkeit der Sprache bei González, das Verschwinden der Autorfigur im Textlabyrinth bei Ferrater und die paratextuelle Rahmung bei Goytisolo. Das abschließende Kapitel zum Status der Referentialität führt diese Einzelaspekte in der These zusammen, dass die einzelnen Texte phantasmatische Autorfiguren ausbilden, die in die Lebenswelt zurückreichen. 7.2.1 Jaime Gil de Biedma: »Las rosas de papel no son verdad«. Die Figur des Autors Ein breites Repertoire an autorisierenden Referentialisierungen findet sich in den Texten Biedmas, in denen über Nennung von Personennamen aus seinem lebensweltlichen Umfeld und seines eigenen Namens sowie Verschränkungen des Gedichttextes mit dem Paratext Kontinuitäten zur Lebenswelt hergestellt werden, welche die Texte autobiographisch rahmen. Das erste Gedicht aus Compañeros de viaje, »Amistad a lo largo«, entwirft eine Sprechsituation, die das lyrische Ich in eine freundschaftliche Gesprächsrunde einbindet: Ahora sí. Pueden alzarse las gentiles palabras ésas que ya no dicen cosas–, flotar ligeramente sobre el aire; porque estamos nosotros enzarzados en mundo, sarmentosos de historia acumulada, y está la compañía que formamos plena, frondosa de presencias.
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Detrás de cada uno vela su casa, el campo, la distancia. (Gil de Biedma, »Amistad a lo largo«, V.16-26)
Die isotopische Verwendung von Pflanzenmetaphern (»enzarzados«, V.20, »sarmentosos«, V.21, »frondosa«, V.24) verbindet die Erfahrungshintergründe (»enzarzados en mundo, sarmentosos / de historia acumulada«, V.21/22) mit der Gruppe als organischer Einheit und quasi natürlichem Ort des Erzählens (»y está la compañía que formamos plena, / frondosa des presencias.« V.23/24). Die direkte Ansprache der pluralen Adressateneinheit (»Pero callad. / Quiero deciros algo.« V.27/28) schreibt sich in eine Isotopie der Konversation ein, die sich über die drei letzten der vier Strophen erstreckt und die Sprechsituation im Hier und Jetzt als Teil eines Gruppengespräches etabliert. Das Wortfeld der Sprache erstreckt sich über »palabras« (V.10,11,17), Formen von »decir« (V.18,28,29,34), »hablar« (V.30,37), »contar« (V.35) und deren Antonym »callar« (V.27,32), welches besonders im genannten Imperativ die Dynamik der Gesprächssituation wiedergibt. Das, wofür der Sprecher um Gehör bittet, ist erneut im Hier verortet, »aquí« (V.35). Diese Ortsangabe lässt sich sowohl binnenpragmatisch auf die Gesprächsrunde als auch außenpragmatisch auf das Gedicht oder den Gedichtband selbst beziehen: »Quiero deciros como todos trajimos / nuestras vidas aquí, para contarlas« (V.34/35). In dieser Form bindet das einleitende Gedicht von Compañeros de viaje sich selbst und die folgenden Texte in eine Gesprächssituation ein, deren Gegenstand die Lebenserfahrungen der Aussagesubjekte sind.41 Nach einer derartigen Poetik im Eröffnungsgedicht scheint jeder lebensweltlichen Referenz eine besondere Bedeutung zuzukommen, besonders dann, wenn das Gedicht durch Namen, Daten und Orte nicht nur in einem konkreten Kontext situiert ist, sondern auch in Bezug zum Autor selbst gesetzt werden kann. »En el nombre de hoy«, das Moralidades einleitet, und das Diptychon »Contra Jaime Gil de Biedma« und »Después de la muerte de Jaime Gil de Biedma« aus Poemas póstumos weisen konkretere referentialisierende Interferenzen zwischen Textwelt und Lebenswelt auf. Das Widmungsgedicht »En el nombre de hoy« nennt nicht nur Vornamen von Biedmas lebensweltlichen »amigos / compañeros de viaje« (V.25/26), sondern bildet auch eine Schreibsituation nach: Der Sprecher datiert seinen Text auf Sonntag, den 26. April 1959 (V.1-6), und entwickelt eine Isotopie der schriftlichen Kommunikation, komplementär zu der Kon41 Cabanilles sieht in »Amistad a lo largo« eine Bedeutungsgebung für den gesamten Band Las personas del verbo: »[…] [C]ontar la historia de una vida y reflexionar sobre los acontecimientos que la formaron […].« Cabanilles (1989), S. 61.
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versation in »Amistad a lo largo«. »Decir« (V.12), »leer« (V.16), »hablar« (V.18) und »escribir« (V.23) sind erneut auf ein konkretes Hier bezogen (»esta página«, V.14; »a la puerta de estos versos«, V.24) und werden in den letzten beiden Strophen an eine Gruppe von Personen gerichtet, die nicht als Gesprächskreis, sondern als »escritores / de poesía social« (V.37/38) angesprochen werden. Insgesamt wird so eine binnenpragmatische Kommunikationssituation aufgebaut, die das distanzsprachliche Pendant zur nähesprachlichen Kommunikation in »Amistad a lo largo« bildet. Das selbstreflexive Element eines schreibenden lyrischen Ich, das sich an andere Schriftsteller richtet, lässt erneut den Sprecher als Autorfigur der Verse erscheinen, besonders, da er sich mit »a la puerta de estos versos« am Ende der vierten von sechs Strophen erneut auf den gesamten Gedichtband und nicht lediglich auf den im Schreibprozess begriffenen, fast beendeten Text bezieht. Der Sprecher wird somit als Aussageinstanz etabliert, die, im Sinne der zyklischen Lektüre der Biographeme, das einzelne Gedicht überschreitet. Sein Bewusstsein für die folgenden Gedichte (»a la puerta de estos versos«, V.24) lässt ihn als ihr Autor auftreten. Neben der direkten Datierung des Schreibprozesses des lyrischen Ich wie in »En el nombre de hoy« treten Datumsangaben auf, welche, in Abwandlung dieser ersten Variante, den Äußerungsmoment zeitlich genau verorten (»Noche triste de octubre, 1959«) oder ein im Rückblick beschriebenes Ereignis mehr oder weniger genau datieren, wie in »Noches del mes de junio«: »era en mil novecientos me parece / cuarenta y nueve« (V.4/5). Der nähesprachliche Einschub »me parece« macht allerdings schon auf die Schwierigkeit aufmerksam, den Realitätsanspruch zu erfüllen. Auf ähnliche Weise wird die Handlung der Gedichte oder der Äußerungsstandpunkt des lyrischen Ich an konkrete Orte gebunden. In »Barcelona ja no és bona […]« geschieht dies doppelt. Der Sprecher situiert sich in einem konkreten »aquí« (V.2,25), welches durch den Titel, »Miramar« (V.8) und »montaña arriba, cerca ya del Castillo« (V.62) als der Montjuïc in Barcelona identifiziert werden kann, an dem auch die vom Sprecher imaginierte vergangene Handlung stattfindet.42 Die räumliche Verortung wird durch eine zeitliche unterstützt, da die Weltausstellung 1929 auf dem Montjuïc stattfand: »Era en el año de la Exposición« (V.24). Daten und Orte führen so zur Etablierung eines lebensweltlich identifizierbaren Hier und Jetzt, das in diesem Fall sogar einen direkten Autorbezug erlaubt, da Biedma 1929 geboren wurde und das lyrische Ich sich im Rückblick beim Spaziergang der Eltern als Ungeborenes imaginiert: »Así, yo estuve aquí / dentro del vientre de mi madre« (V.25/26). In ähnlicher Weise macht der Sprecher in »Intento formular […]« ei-
42 Vgl. Kapitel 4.2.
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ne Altersangabe, die sich mit den Lebensdaten Biedmas und seinem Erleben des Bürgerkrieges als nicht einmal zehnjähriger Junge deckt: Fueron, posiblemente, los años más felices de mi vida, y no es extraño, puesto que a fin de cuentas no tenía los diez. (Gil de Biedma, »Intento formular […]«, V.1-4)
Ein weiteres Element, das die Hinweise der lyrischen Fiktion auf die Extratextualität noch überschreitet, sind einzelne Widmungen an Personen aus Biedmas Umfeld. Obwohl sie – wie schon das Widmungsgedicht »En el nombre de hoy« – zum Paratext gehören, stellen diese Widmungen »Schleusen«43 zwischen der Lebens- und Textwelt her, was besonders in den beiden Gabriel Ferrater zugedachten Gedichten aus Poemas póstumos deutlich wird. »A través del espejo« ist »[i]n memoriam Gabriel Ferrater« gewidmet. Der darin angesprochene Adressat stimmt in seinen Wesenszügen mit Beschreibungen Gabriel Ferraters überein, und sei es lediglich in dem Punkt, dass der Rezipient als Dichter angesprochen wird: »Y tus buenos poemas, añagazas / de fin de juerga, para retenernos« (V.10/11). Auch das auf Englisch verfasste Gedicht mit dem Titel »A Gabriel Ferrater« und dem Epigraph »Dedicándole un ejemplar de Moralidades«, das Poemas póstumos einleitet, stellt Sprecher und Angesprochenen durch den Titel und die erneute Identifikation als Dichter in Kontinuität zu den extratextuellen Personen: »Let them now do the talking, those sons-of-what-we-spoke,– / Your poems and my poems, our old own private joke« (V.9/10). Das einleitende Gedicht der dritten Veröffentlichung Biedmas nennt damit zum einen binnenpragmatisch, wie schon »Amistad a lo largo« und »En el nombre de hoy«, die Texte von Sprecher und Angesprochenem. Zum anderen verweist »A Gabriel Ferrater« auch auf die folgenden Gedichte der Poemas póstumos und auf die Texte Ferraters, womit die Kommunikationssituation auf die außenpragmatische Ebene gehoben wird. Auf diese Weise werden außerdem die im vorherigen Abschnitt beschriebenen impliziten Interferenzen durch die paratextuelle Markierung in einen ausdrücklichen Dialog, in ›explizite Interferenzen‹ eingebunden. Der autorisierende Charakter des Gedichtes lässt sich außerdem dadurch konstatieren, dass sich der Sprecher in der Äußerung »A Gabriel Ferrater. Dedicándole und ejemplar de Moralidades« als Autor der Moralidades, dem vor43 Genette, Gérard (2001) [1987], Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 388.
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hergehenden Gedichtband von Jaime Gil de Biedma, ausgibt.44 Die Eröffnungsgedichte der drei Publikationen Biedmas stellen also eine Entwicklungslinie dar: Während »Amistad a lo largo« eine Konversationssituation umreißt, wird in »En el nombre de hoy« ein Schreibprozess modelliert, im Laufe dessen die Binnenpragmatik auf die Außenpragmatik hin ausgedehnt wird, da der Text als Widmungsgedicht eine paratextuelle Stellung einnimmt. »A Gabriel Ferrater« schließlich macht durch den Titel nicht nur seinen Widmungscharakter deutlich. Der Untertitel identifiziert den Sprecher auch mit dem Autor von Moralidades. Die Prominenz paratextueller Elemente hat durch ihre Zwischenstellung zwischen Extratextualität und Text somit die Funktion, die pragmatischen Grenzen zu verwischen: Das Text-Ich gibt sich als Autor-Ich aus. Ein zusammenfassendes Beispiel, welches alle Elemente der Referentialisierung, mit Ausnahme des Autornamens, enthält, ist »Conversaciones poéticas«, welches durch Titel, Datierung im Untertitel (»Formentor, mayo de 1959«) und Widmung (»A Carlos Barral, amante de la estatua«) einen überprüfbaren referentiellen Rahmen absteckt.45 Carlos Barral bestätigt in seinen Memorias diese Hinweise auf einen extratextuellen Bezug; seine Beschreibung der Anekdote deckt sich mit den wesentlichen Aspekten des Gedicht-plot (»Alguien bajó a besar los labios de la estatua / blanca, dentro en el mar, mientras que vacilábamos / contra la madrugada. […]«, V.50-52): »Lo de la estatua no sé qué hora sería, ni lo precisa Jaime Gil en su poema conmemorativo, pero tiene todo el aspecto de una anécdota de final de noche muy regada […]. La cosa es que, efectivamente, amé a la estatua, a la figura de piedra artificial puesta de pie en un escollo frente al muelle.«46
Mit dem letzten Gedicht der Gesamtausgabe Las personas del verbo47 werden diese autobiographischen Referenzen jedoch relativiert. In aller Kürze offenbart
44 Vgl. Cabanilles (1989), S. 48. 45 Im Mai 1959 fanden, initiiert durch Camilo José Cela und vor dem institutionellen Hintergrund der von ihm gegründeten und geleiteten Zeitschrift Papeles de Son Armadans, die »Conversaciones poéticas de Formentor» statt. 46 Barral (2001), S. 469f. 47 Wie Gil de Biedma selbst im Nachwort zur Ausgabe von 1982 schreibt, ist »Canción final« zwar schon 1967 zum ersten Mal veröffentlicht worden, in einer Loseblattmappe mit fünf Radierungen von Xavier Corberó, es fand aber keinen Eingang in die Gesamtausgabe von 1975 und wird erst jetzt als letztes Gedicht von Poemas póstumos und damit auch als Abschluss von Las personas del verbo aufgenommen. Auf
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die »Canción final« sie als »[…] un recurso para producir una ilusión de realidad.«48 Las rosas de papel no son verdad y queman lo mismo que una frente pensativa o el tacto de una lámina de hielo. Las rosas de papel son, en verdad, demasiado encendidas para el pecho. (Gil de Biedma, »Canción final«)
Die Metapher der Papierrose, die nicht mit der Wahrheit übereinstimmt, liest sich wie ein Kommentar zu René Magrittes »La trahison des images« (vgl. Abb. 3). In seiner nahezu emblematischen Kombination aus Text und Bild verweist das um das kommentierende Lemma »Ceci n’est pas une pipe« ergänzte Bild einer Pfeife ostentativ auf die Saussure’sche Unterscheidung von Signifikant (das Bild einer Pfeife) und Signifikat (die ›reale‹ Pfeife) sowie auf die der Mimesis inhärente Verfehlung der ›Wirklichkeit‹. Abb. 3: René Magritte, »La trahison des images«
© VG Bild-Kunst, Bonn 2011.
dem Schutzumschlag der Neuauflage von Las personas del verbo von 2006 bei Galaxia Gutenberg ist eine der Radierungen Corberós abgebildet. Vgl. Gil de Biedma, Jaime (2006), Las personas del verbo, Barcelona: Galaxia Gutenberg. 48 Cabanilles (1989), S. 152.
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Das Gedicht knüpft in der ersten Strophe zunächst an den romantischen Topos der Rose als Liebessymbol an: Die Papierblume wird paradoxal mit dem Brennen einer heißen Stirn oder einer kalten Eisscholle verglichen, bevor das Symbol aufgelöst wird. In der zweiten, zweiversigen Strophe wird der negierende erste Vers fasst identisch wiederholt, um nun dem »no son verdad« als Epipher das entgegen zu setzen, was Rosen aus Papier »en verdad« sind: »Demasiado encendidas para el pecho« (V.6). »Eine Rose aus Papier ist keine Rose« postuliert die »Canción final« und warnt davor, in einer Referentialisierung mehr zu lesen als ein Postulat von Authentizität, geschweige denn die Identität des Textes mit der Extratextualität. Mit oder gegen Gertrude Stein49 ließe sich sagen: »una rosa de papel no es una rosa«. Damit kehrt sich die »Canción final« letztlich gegen sich selbst und unterwandert ihren eigenen Authentizitätsanspruch: Die Aussage, die Papierrosen seien »en verdad / demasiado encendidas para el pecho« ist schließlich nicht authentischer als die von ihr erwähnten Papierrosen selbst. Indem das Gedicht das auf Ähnlichkeit beruhende Verhältnis zwischen Text und Extratextualität als Simulakrum ausstellt, verneint es »[…] avec la ressemblance l’assertion de réalité qu’elle comporte […].«50
49 Eine Assoziation, die auch bei Blesa zu finden ist, vgl. Blesa (2002-2004), S. 1874. Blesas Interpretation, die sehr überzeugend die paradoxale Struktur des Gedichtes herausstellt und es schließlich mit Dionisio Cañas als Ausdruck von Biedmas »[…] fe en la palabra poética, pese a su no ser verdad« (S. 1878) deutet, kann ich insofern nicht teilen, als er in der Metapher »rosas de papel« eine »[…] conciliación de la Naturaleza, la Realidad (›rosas‹) y la Cultura o el Arte (›papel‹) […]« (S. 1874) sieht, die meines Erachtens in diesem Text gerade aufgehoben wird. 50 Foucault, Michel (2005) [1973], Ceci n’est pas une pipe, Saint Clément: Fata Morgana, S. 67. Foucaults ausführliche Interpretation von Magrittes »La trahison des images« lautet an dieser Stelle: »Revenons à ce dessin de la pipe qui ressemble si fort à une pipe; à ce texte écrit qui ressemble si exactement au dessin d’un texte écrit. En fait, lancés les uns contre les autres, ou même simplement juxtaposés, ces éléments annulent la ressemblance intrinsèque qu’ils paraissent porter en eux et peu à peu s’esquisse un réseau ouvert de similitudes. Ouvert, non pas sur la pipe ›réelle‹, absente de tous ces dessins et de tous ces mots, mais ouvert sur tous les autres éléments similaires (y compris toutes les pipes ›réelles‹, de terre, d’écume, de bois, etc.) qui une fois pris dans ce réseau auraient place et fonction de simulacre. Et chacun des éléments de ›ceci n’est pas une pipe‹ pourrait bien tenir un discours en apparence négatif, car il s’agit de nier avec la ressemblance l’assertion de réalité qu’elle comporte, mais au fond affirmatif: affirmation du simulacre, affirmation de l’élément dans le réseau du similaire.«
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Im Sinne dieses letztlich negierten Verweises auf die Lebenswelt liest Limbeck sehr überzeugend Biedmas Dichtung am Beispiel von »Pandémica y celeste« als »Technik der Distanzierung«: »Das Gedicht simuliert eine Referenz auf die Wirklichkeit, die tatsächlich jedoch auf eine literarische Vorlage zurückgeht.«51 Auch wenn der Sprecher sich mit Baudelaire direkt an den außenpragmatischen Leser zu richten scheint (»hipócrita lector –mon semblable, –mon frère«, V.12),52 lassen sich, so Limbeck, einzelne beschreibende Elemente weniger lebensweltlich als intertextuell zurückbinden. So zum Beispiel der Vers »oh noches en hoteles de una noche« (V.49), der Eliots »Love Song of J. Alfred Prufrock« anzitiert: »Of restless nights in one-night cheap hotels« (V.6)53. Besonders eindrücklich unterminiert in »Contra Jaime Gil de Biedma« eine Reihe von Verweisen auf die Textlichkeit die vermeintliche Autor-Referenz. Unter Einbeziehung des Titels, »Contra Jaime Gil de Biedma«, wird die Verdoppelung der Sprecherinstanz54 durch die metaleptische Inklusion eines AutorIndexes zu einer vermeintlichen Rede des Autors gegen sich selbst, da der Angesprochene, gegen den sich die Rede richtet, homonym mit dem Autor ist. Die Namensidentität führt also zu einer Referenz auf die außertextliche Wirklichkeit, wie sie von Lejeune und Cabanilles für autobiographische Texte angenommen wird.55 Diese Metalepse, die den Autor zur Figur des Gedichtes macht, wird in »Después de la muerte de Jaime Gil de Biedma« noch gesteigert. Erneut wird ein
51 Limbeck, Sven (2004), »Eine Poetik der Distanzierung. Jaime Gil de Biedma und die Personen des Verbs«, in: Gil de Biedma (2004), S. 243-259, hier S. 255. 52 Vgl. Baudelaire (1999), S. 37f.: Das Widmungsgedicht, das Les Fleurs du Mal eröffnet, »Au Lecteur«, endet mit dem Vers »– Hypocrite lecteur, – mon semblable, – mon frère!« (V.40). 53 Eliot, T. S. (1917), »The Love Song of J. Alfred Prufrock«, in: ders., Prufrock and Other Observations, London: The Egoist, S. 9-16, hier S. 9. Auch die Ansprache des Adressaten zu Beginn von »Pandémica y celeste« findet ihre Entsprechung in den ersten Versen des »Love Song of J. Alfred Prufrock«: »Imagínate ahora que tú y yo / muy tarde ya en la noche / hablemos hombre a hombre, finalmente« (V.1-3) – »Let us go then, you and I, / When the evening is spread out against the sky« (V.1/2). 54 Vgl. Kapitel 3.2. 55 Die Selbstnennung, welche die Äquivalenz Autor-Sprecher etabliert, stammt aus der poesía social, die im engeren Sinne die Implikation des Autors als »un ingeniero del verso« (Gabriel Celaya, »La poesía es un arma cargada de futuro«, V.35/36, vgl. Kapitel 6.1) anstrebte, selbst wenn auch in dieser Dichtung nicht von einer ›naiven‹ mimetischen Relation ausgegangen wurde. Vgl. Aub, Max (1969), Poesía española contemporánea, México: Era, S. 198-199, und LaFollette Miller (1995), S. 165.
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Du angesprochen, das wiederum direkt mit der Figur »Jaime Gil de Biedma« des Titels identifiziert werden kann, da die Rede offensichtlich an einen Toten gerichtet ist: »[…] el infierno / de tus últimos días« (V.10/11). Auch hier ist die Relation zwischen Sprecher und Angesprochenem interdependent (»En paz al fin conmigo / puedo ya recordarte«, V.13/14) und deutet bereits auf alternierende Identitäten zwischen Ich und Du hin. Diese transgressiven Identitäten sind in eine Erinnerungssequenz des Ich (»Te acuerdas […]«, V.45) motivisch im Verkleidungsspiel eingelassen: »y divertirse en la alternancia / de desnudo y disfraz […]« (V.39/40). Nachdem das Du im Anschluss an den erinnerten »[…] último verano / de nuestra juventud […]« (V.50/51) verstorben ist, stellt das Ich fest: »[y]o me salvé escribiendo / después de la muerte de Jaime Gil de Biedma« (V.59/60). An dieser Stelle wird die Metalepse des Titels, die den Autor als Figur auftreten lässt, zu einer mise en abyme aporistique ausgedehnt: Das lyrische Ich schreibt zum einen nach dem Tod der als Du angesprochenen Figur »Jaime Gil de Biedma«, ist aber gleichzeitig Autorfigur des gleichlautenden Gedichtes »Después de la muerte de Jaime Gil de Biedma«. Wie im Fall von »Contra Jaime Gil de Biedma« würde das dreifache Spiel mit der Identität von Autor, lyrischem Ich und lyrischem Du schon über die ›naive‹ Gleichsetzung von Autor und Sprecher funktionieren.56 Eine solche biographisch orientierte Interpretation würde durch die Kontinuität zwischen der beobachteten Fragmentierung des Ich in der Lyrik und in Biedmas autofiktionaler und autobiographischer Prosa gefestigt, denn die Schwierigkeit kohärenter Sinnproduktion des Sprechers ist auch in Biedmas Retrato del artista en 1956 virulent.57 Es lässt den gescheiterten Versuch »[…] to grasp a fixed and essential self«58 schon am Aufbau erkennen, der in seiner Dreiteilung
56 Vgl. z.B. López Castro: »Se trata de un libro autobiográfico escrito para liquidar una parte de la experiencia, que el personaje se ha visto obligado a representar durante demasiado tiempo. El poeta llega a la conclusión de que ese personaje no vale la pena que continúe, por eso se prescinde de él.« López Castro (1999), S. 79. Vgl. auch Casas Baró, Carlota (2009), »›Días de Pagsanján‹: retrato de Jaime Gil de Biedma en 1956«, in: Espéculo 42, o.S., http://www.ucm.es/info/especulo/numero42/pagsanj. html, 20.10.2011. 57 »It is […] a hybrid piece, primarily a diary but also a self-portrait and autobiography as well as a collection of personal letters, poems […], photographs […].« Ellis, Robert Richmond (1997), The Hispanic Homograph. Gay Self-Representation in Contemporary Spanish Autobiography, Urbana/Chicago: University of Illinois Press, S. 57. 58 Ebd.
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verschiedene Facetten der Persönlichkeit des Verfassers aufzeigt.59 Die Relationen zwischen Text und Lebenswelt in »Después de la muerte […]« stellen sich jedoch elaborierter dar. Durch den intertextuellen Verweis auf das Gedicht »Pandémica y celeste« wird die Identität der Sprecherfigur mit dem Autor Jaime Gil de Biedma der Lebenswelt postuliert – während parallel zu dieser Identitätszuschreibung in der folgenden Strophe Ich und Du immer weniger auseinander gehalten werden können:60 De los dos, eras tú quien mejor escribía. Ahora sé hasta qué punto tuyos eran el deseo de ensueño y la ironía, la sordina romántica que late en los poemas míos que yo prefiero, por ejemplo en Pandémica… (Gil de Biedma, »Después de la muerte […]«, V.61-65)
Zu Beginn wird das Du als Schriftsteller beschrieben, der die Situation, welche das lyrische Ich im hic et nunc verortet (»En el jardín, leyendo, / la sombra de la casa me oscurece las páginas«, V.1/2) als »símbolo de la muerte« (V.9) verwendete. Schon auf dieser motivischen Ebene findet eine Verzahnung von Leben und Literatur statt, die dann in die mise en abyme weiterentwickelt wird, welche schließlich Autor, lyrisches Ich und Angesprochenen zu einer Figur verschmelzen lässt. Deutlich wird hier aber, dass schon rein logisch nicht vom Namen des Autors auf den realen Autor geschlossen werden kann, weil das Schreiben »después de la muerte de Jaime Gil de Biedma« (V.60) dem Autor Biedma offensichtlich möglich gewesen sein muss. In Übereinstimmung mit dem Titel dieses dritten Gedichtbandes, der auch die letzte geschlossene Neuveröffentlichung Biedmas blieb, Poemas póstumos, kann das lyrische Du als Repräsentant einer Facette der Persönlichkeit des lyrischen Ich gelesen werden, als Schriftsteller-Ich des Sprechers (»A veces me pregunto / cómo será sin ti mi poesía«, V.66/67). 59 Den ersten und dritten Teil des Retrato bilden Tagebucheinträge Biedmas des Jahres 1956: »Las islas de Circe«, entstanden während einer Philippinenreise für die väterliche Tabakimportfirma, verhandelt die Fremdheit und die Kolonialvergangenheit des Landes sowie homoerotische Abenteuer. »De regreso en Ithaca« stellt die schriftstellerische Tätigkeit in den Mittelpunkt. Dazwischengeschaltet ist der an die Tabakfirma gerichtete wirtschaftliche Report über die Reise. 60 Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Casas das Tagebuch nicht nur als ›Schreibübung‹ für den jungen Dichter, sondern in dem Retrato del artista en 1956 auch eine ›Fiktionsübung‹ sieht. Vgl. Casas (2009), o.S.
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Eine Interpretationsvariante sieht in »Después de la muerte de Jaime Gil de Biedma« den Abschied des Autors von seiner »self-created and self-creating poetic persona«61. Die mise en abyme, die eine Unterscheidung der Äußerungsebenen kaum mehr möglich macht, bezieht somit den Titel des Buches mit ein: Poemas póstumos präsentieren sich als die Gedichte eines Autors, der den Tod einer mit ihm homonymen Figur zelebriert. Diese Spiegelsituation lässt sich mit Genette als widersprüchliches Postulat der Autofiktion lesen: »Ich bin es und ich bin es nicht.«62 Eine fast wortgetreue Frage wurde Biedma in einem Gespräch gestellt: »–Es usted y no es usted? –Exacto.«63 In dieser Hinsicht sind die autorisierenden Referenzen, die wie der Autorname dazu beitragen, »dar ›credibilidad‹ al personaje«64, als Spiel mit der Aussageinstanz zu verstehen: Die autobiographische Rahmung wird in den metapoetischen Gedichten wie »Canción final« reflektiert und durch die Betonung der Textlichkeit und des Schreibens als »actividad lingüística«65 in Frage gestellt. Durch die Rekurrenz auf den Prozess der Textproduktion selbst wird die Autobiographie pointiert und spielerisch evoziert und gleichzeitig als Autofiktion entlarvt.66 In etwa zeitgleich zu Roland Barthes’ provokanter Schrift über den »Tod des Autors« publiziert,67 erscheint der Tod der Autorfigur ›Jaime Gil de Biedma‹ in dessen Poemas póstumos zudem wie ein ironischer Kommentar zu der von Bar-
61 Persin, Margaret H. (1987b), »Self as Other in Jaime Gil de Biedma’s Poemas póstumos«, in: ALEC. Anales de literatura española contemporánea 12/3, S. 273-290, hier S. 282, und Teruel Benavente, José (1995), »Retórica de la experiencia en ›Las personas del verbo‹ de Jaime Gil de Biedma«, in: Revista hispánica moderna 48/1, S. 171-180, hier S.179. 62 Vgl. zur Metalepse in »Contra Jaime Gil de Biedma« Luengo (2010), S. 264. 63 Jaime Gil de Biedma in einem Interview: Campbell, Federico (1971b), »Jaime Gil de Biedma o el paso del tiempo«, in: ders. (1971a), S. 243-258, hier S. 247. 64 Corona Marzol (1991), S. 134. 65 Cabanilles (1989), S. 68. 66 Diese Sichtweise geht über die üblichen Interpretationen der Figur als alter ego des Autors und psychologisierende Ansätze hinaus (vgl. auch Kapitel 7.3). Zu Recht bemerkt Jaume: »La identificación absoluta entre la voz que habla en sus [de Jaime Gil de Biedma] poemas y la voz del autor o, lo que es lo mismo, la identificación total entre vida y obra es uno de los principales equívocos que ha generado su poesía […].« Jaume (2010), S. 29. 67 Sie wurde 1967 auf Englisch und 1968 auf Französisch in der Zeitschrift Manteia veröffentlicht.
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thes geforderten Praxis, die autorzentrierte Textkritik durch die Polyvalenz der Leserpositionen zu ersetzen. Der Tod der Autorfigur rundet zum einen den Bios der Sprecherfigur ›Biedma‹ ab und stellt zum anderen den Versuch dar, den Text ohne Autor zu denken: »cómo será sin ti mi poesía.« 7.2.2 Carlos Barral: »Mi historia civil«. Die Figur des Lesers Eine Zwischenstellung der Gedichte zwischen Referentialität und Fiktion ist bei Carlos Barral ebenfalls auszumachen, allerdings mit deutlich geringerer Intensität als bei Jaime Gil de Biedma. Neben generellen Referentialisierungen der Lebenswelt, z.B. in »Parque de Montjuich«, binden vor allem seine Memoiren die Gedichte episodisch an Erlebnisse des Autors zurück. In den ersten Auflagen von Diecinueve figuras […] situieren Jahreszahlen als in Klammern gesetzte Titelzusätze zudem die einzelnen Gedichte als Erinnerungsausschnitte des Sprechers zeitlich und historisch.68 Diese Situierung wird in späteren Auflagen jedoch nur bei »Fiesta en la plaza« beibehalten. Hier benennt das Epigraph mit dem »14 de abril« den Tag der Ausrufung der zweiten spanischen Republik und somit einen konkreten historischen Anlass für das aus der Kindesperspektive geschilderte Fest. Allerdings fehlt in den späteren Auflagen diese Jahreszahl, womit der konkrete Bezug auf die Ereignisse im Jahr 1931 auf spätere Jahrestage der Proklamation hin erweitert wird. Die Intensität der Referentialisierungen nimmt daher mit den Folgeauflagen graduell ab. Auch Widmungen und Namensnennungen sind rar. Sie beschränken sich auf die Namen von Barrals Frau Yvonne in den frühen Gedichten (Sonetos, Metropolitano), seines »nieto Malcolm« und seiner Zwillingssöhne »gemelo Marco y mellizo Dario« in den späten Gedichten (Lecciones de cosas […]). Das Gedicht »Pájaros para Yvonne« aus Sonetos, welches erstmals 1952 in der Katalonien gewidmeten Ausgabe der Madrider Zeitschrift Alcalá erschien,69 setzt allegorisch den Sprecher als Liebhaber mit einem Baum gleich, der darauf wartet, dass die Geliebte in Gestalt ver-
68 Vgl. die Aussage Barrals in einem Interview: »[…] [E]sos poemas, a los que por cierto yo solía, en sus primeras ediciones, acompañar con la fecha de la anécdota a la que hacían referencia […].« Rodríguez, Gracia (1985), »A pesar de todo, poeta«, in: Quimera: revista de literatura 43, Barcelona, S. 32-39, hier S. 34. Es handelt sich um »Fiesta en la plaza (1931)«, »Baño de doméstica (1936)«, »Las alarmas (1938)«, »Geografía o historia (1945)« und »Molinillos de viento (1950)«. Vgl. auch Riera (2003), S. 36. 69 Vgl. Alcalá 20 (1952), S. 11. Vgl. Kapitel 1.2.
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schiedener Vögel zu ihm kommt: »¡oh, diferente / mirlo de luz si vienes a la encina!« (V.13/14). Barrals erste eigenständige Veröffentlichung, Metropolitano, ist wiederum »Para Ivonne [sic]« gewidmet. Die dritte und letzte Nennung ihres Namens tritt in »Discurso« auf, dem ersten der neunzehn Gedichte aus Diecinueve figuras […]. In diesem Gedicht wird die Identitätssuche des lyrischen Ich im Rückblick auf seine Kindheit konstruiert.70 Das lyrische Ich ist jünger als der von ihm zitierte Sprecher aus Brechts »Verjagt mit gutem Grund«, welcher von der rückblickenden Warte des »último tramo / de una vida cumplida« (V.6/7) aus sagen kann: »Als ich erwachsen war und um mich sah / Gefielen mir die Leute meiner Klasse nicht / Nicht das Befehlen und nicht das Bedientwerden« (V.3-5). Der Sprecher bei Barral hingegen befindet sich »sólo al principio« (V.12) seines Lebens und hält den gegenwärtigen Zeitpunkt seines Sprechens noch für »demasiado pronto para poder contar« (V.13). Dennoch zeigt er sich gewillt, die Erinnerung auf der Suche nach sich selbst zu erkunden: Por eso hundo la mano en la memoria, palpo sus calientes rincones y sus pliegues más húmedos, buscándome. (Barral, »Discurso«, V.22-25)
Der Sprecher erforscht die Vergangenheit anhand früherer Selbstdarstellungen (»[…] los retratos / que he hecho de mi mismo en cada tiempo«, V.26/27), welche lesbares Material darstellen: Er nimmt bezüglich seines eigenen Lebens zum Zeitpunkt des Sprechens die Position eines Lesers ein, welcher seine Erinnerungen nachträglich als interpretierbare Erfahrungen wahrnimmt.71 Somit wird das lyrische Ich sowohl als Autor- als auch als Leserindex konstruiert, welcher auf das Produkt ›Text‹ von der Warte der Produktion und Rezeption aus verweist. Tal vez entre tanta dormida vacación, envuelta en tanta vida a crédito, quede aún experiencia por leer. (Barral, »Discurso«, V.26-33)
70 Vgl. Kapitel 3.1.1. 71 Vgl. auch Kapitel 3.1.3.
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Dabei bleibt die Besonderheit des Sprechers, also des Produzenten einer Rede, eines »discurso«, als Leser seiner eigenen Vergangenheit nicht auf eine individuelle Suche und Interpretation beschränkt, sondern bezieht einen pluralen Rezipienten mit ein: »Sabéis / que nuestras verdades son voluntariosas« (V.14/15). Die Wahrnehmung der individuellen Erinnerung wird auf die Adressaten übertragen und in ihrer Faszination relativiert: Allen ist gemeinsam, dass eine sich in der Gegenwart entziehende Erinnerung in der Vergangenheit »nos pareció misterio / porque estábamos absortos escuchándonos« (V.39/40). Der Sprecher entmythifiziert ihre Kindheit, die nur »brillante« erscheint, »porque nos lo han pintado« (V.43). Die aus der Malerei entlehnte Metapher der Kindheitslandschaft betont zum einen den betrachtenden und mithin lesenden Blick des lyrischen Ich auf seine Vergangenheit. Zum anderen bildet gerade der manipulierte, gemalte, vielleicht sogar übertünchte »paisaje de la infancia« (V.42) den Echoraum für die »llamadas de la realidad« (V.44). In der synästhetischen Verknüpfung von Hören und Sehen zeigt sich erneut die rezeptive Position des Sprechers, der hofft, etwas von der ›Wirklichkeit‹ in seinen Erinnerungen wiederzufinden. Es sind aber nicht nur seine Erinnerungen, die der Sprecher in der Funktion des Lesers betrachtet, sondern auch die Gegenstände (»[…] cada cosa«, V.45), die er sieht, »y hasta en tus ojos, Yvonne« (V.48). Auch die Angesprochene, deren Name zugleich eine extratextuelle Referenz etabliert,72 trägt also Resonanzen der »realidad« in sich. Für den Sprecher kann sich die Suche nach der ›Wirklichkeit‹ jedoch auch zweifelhaft auswirken, wenn ihre Ergebnisse Facetten zum Vorschein bringen, die einen Vertrauensbruch gegenüber der Angesprochenen darstellen würden: »y hasta en tus ojos, Yvonne, / delante de los cuales no podría / interrogarme sin traicionar tu confianza« (V.48-50). Das lyrische Ich als Leser seines Lebens leitet mit »Discurso« die Aufgabe der Selbstfindung im Spannungsfeld einer versuchten Aneignung der ›Realität‹ und dem gleichzeitigen Bewusstsein, dass diese sich immer entzieht, ein. Nicht umsonst ist dieser Versuch mit dem Titel Diecinueve figuras de mi historia civil überschrieben. Der Paratext des Buchtitels beinhaltet eine metaleptische Aussageinstanz, welche die neunzehn Gedichte als Figuren und figurierte Versionen ihrer (»mi«) Geschichte ankündigt. Der Titel suggeriert – neben der beobachteten zyklischen Rekurrenz des Ich über Diecinueve figuras […] hinweg – eine au-
72 Jawad Thanoon spricht von einem »fuerte cariz autobiográfico«. Jawad Thanoon, Akram (2009), »El monólogo dramático y Carlos Barral (1928-1989)«, in: Espéculo 42, o.S., http://www.ucm.es/info/especulo/numero42/mondracb.html, 20.10.2011.
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torisierende Rahmensetzung: Die besondere Qualität des Paratextes73 erweckt in der direkten Kombination von Autorname und Buchtitel (besonders durch das Deiktikum »mi«) auf dem Titelblatt den Eindruck, der Autor werde in dem vorliegenden Buch aus seinem Leben berichten. Das einleitende Gedicht entspricht nun dieser Erwartung besonderer Authentizität durch die Prominenz der ersten Person Singular und den Namen einer Person, die im direkten Umfeld des Autors zu verorten ist. Zudem wird der autorisierende Abschnitt des Buchtitels, »mi historia civil«, zweimal modifiziert wiederholt. Zunächst betont der Sprecher die Individualität seiner Geschichte (»Historia / estrictamente personal […]«, V.51/ 52), um sodann die Angesprochenen mit einzubeziehen: […] esta historia moral, y de clase y civil como la guerra, por igual os atañe a buena parte de vosotros. (Barral, »Discurso«, V.69-73)
Die Informationen über die Angesprochenen, »buena parte de vosotros«, beschränken sich darauf, dass sie die wesentlichen Aspekte ihrer persönlichen Geschichte mit dem lyrischen Ich teilen, diese also ein überindividuelles Phänomen darstellt. Barrals »Discurso« bildet in dieser Hinsicht Similaritäten mit Gil de Biedmas »Amistad a lo largo« aus, welches ebenfalls auf eine Gruppe Bezug nimmt, die das lyrische Ich mit einschließt und die ihr Leben zum Gegenstand des Gespräches macht. Da das lyrische Ich bei Barral sich als Leser seiner Vergangenheit präsentiert, sind (vergangene und zukünftige) Erfahrungen nicht mehr zu erleben, sondern zu interpretieren, zu lesen: »quede aún experiencia por leer« (V.33). Wenn nun in den folgenden Gedichten ein lyrisches Ich Erfahrungen aus Kindheit und Jugend rekapituliert, verweist das einleitende Gedicht auf diese übergreifende Konstitution des Sprechers als Leser des Textes seiner Vergangenheit. Wie das schreibende Ich in Biedmas »En el nombre de hoy« ist der Sprecher sich der Textlichkeit des Erfahrenen und der Sprachlichkeit jedes diskursiven Versuches, die ›realidad‹ im »discurso« zu erfassen, bewusst.
73 Der Paratext hat, wie oben gesehen, wesentliche Bedeutung für Lejeunes autobiographischen Pakt. Genette erwähnt den Paratext als ein Referenzaspekt der Transtextualität, vgl. Genette (1993), S. 11. Außerdem widmet er ihm die Monographie Seuils von 1987. Vgl. Kapitel 7.2.5.
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Das konstruktivistische Verhältnis von ›Text‹ und ›Realität‹ wird durch die autobiographische Rahmung einiger Gedichte in den Memoiren Barrals flankiert, was der problematisierten Aneignung des Selbst zunächst entgegenzustehen scheint. In seinen Memorias geht Barral mehrfach auf den Entstehungskontext seiner lyrischen Texte ein.74 »Molinillos de viento« aus Diecinueve figuras […], dessen erste Strophe ein konkretes setting beschreibt, wird in Años de penitencia auf eine Anekdote zurückgeführt und mit fast identischen Schlüsselbegriffen umschrieben: »Recuerdo un viaje […]. Era en otoño,
Repentina extrañeza de ser reconocido
con un tiempo espléndido, y viajábamos
por un mendigo, y en la plataforma
en la plataforma de un vagón de cola en
de un tren, en una hermosa tarde del otoño.
compañía de un mendigo. He contado esa
(Barral, »Molinillos de viento«, V.1-3)
experiencia concreta en un poema, ›Molinillos de viento‹.«75
Ein weiterer Abschnitt der Memorias verweist explizit auf das Gedicht »Baño de doméstica«, in dem das lyrische Ich eine Hausangestellte beim Baden beobachtet: Entonces arrojaba
»[…] [U]n enorme baño de palangana, un
piedrecillas al agua jabonosa,
tub como el de los cuadros de Degas o de
veía disolverse
Bonnard, que […] acabó como plato de du-
la violada rúbrica de espuma,
cha de las chicas de servicio. Desde que
bogar las islas y juntarse, envueltas
descubrí su notable función en la historia de
en un olor cordial o como un tibio
la pintura, aquel viejo trasto me obsesionó y
recuerdo de su risa.
no descansé hasta que pude contemplar a
(Barral, »Baño de doméstica«, V.1-8)
una de las criadas enjabonándose en él.«76
74 Wie schon bezüglich Biedmas »Conversaciones poéticas« gesehen. Laut Riera entspricht jedes Buch der Memoiren Barrals einem Lyrikband. Vgl. Riera (2003), S. 10. Siebzehn der neuzehn Gedichte aus Diecinueve figuras […] würden ergänzt durch den »correlato prosístico« der Memoiren. Vgl. Riera, Carme (2010), »En torno a la poesía y a la prosa barralianas«, in: Campo de Agramante: revista de literatura 13, S. 33-42, hier S. 36. Vgl. außerdem das vierte Kapitel, »El papel de la autobiografía«, in Saval (2002), S. 71-127. »Al tamaño del cine«, »Las alarmas« und »Baño de doméstica« wurden außerdem in den Papeles de Son Armadans 35 (1959) unter dem Titel »Tres poemas autobiográficos« veröffentlicht. Vgl. Riera (1990), S. 32. 75 Barral (2001), S. 242 (Herv. F.B.). 76 Ebd., S. 108.
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Anhand von Quellen wie Barrals Memorias lassen sich somit autobiographische Bezugspunkte herstellen. Ein weiterer wäre die lebensweltliche Nähe des Autors zum Meer,77 die den zahlreichen Gedichten mit maritimem Hintergrund, von »Las aguas reiteradas« (Metropolitano) über »Hombre en la mar« (Diecinueve figuras […]) bis zu »El niño observa un temporal memorable« (Lecciones de cosas […]) eine auf den Autor bezogene Reichweite gibt. In einer Serie von sechs Gedichten von 1952, Versos a Carlos Barral por su poema ›Las aguas reiteradas‹, greift Jaime Gil de Biedma diese Facette der Selbstdarstellung Barrals auf. Das lyrische Ich, welches als schreibende Autorfigur konzipiert ist, beschreibt »[…] el claro paisaje que habitan tus poemas« (V.7) eines »Calafell. En la linde del mar y del monte« (V.14).78 Penúltimos castigos, Barrals einziger Roman,79 situiert die Handlung ebenfalls in einem Dorf am Meer, was zu autobiographischen und autofiktionalen Lektüren beigetragen hat, obwohl »Calafell [no se nombra] como lugar concreto de la acción […].«80 Diese Abstandnahme von einer konkreten Referenz81 wird jedoch nicht nur dadurch kompensiert, dass der homodiegetische Erzähler, dessen Name ungenannt bleibt, Ähnlichkeiten mit der Person des Autors aufweist, sondern auch dadurch, dass die Figur eines Dichters namens ›Carlos Barral‹ im Zentrum der Erzählung steht. Als eine Similarität der hier analysierten Gedichte ist herausgearbeitet worden, dass das Selbstbildnis der Sprecher zwischen einer gesellschaftsbezogenen und einer fragmentarischen, solipsistischen Selbstkonstitution oszilliert82. Wenn der desdoblamiento des Sprechers mit dem Tod der mit dem Autor homonymen
77 Die Familie Barral besaß ein Fischerhaus in Calafell, das heute als »Casa Museu Carlos Barral« besichtigt werden kann. Vgl. das Kapitel »Calafell y la cuestión del lenguaje« aus Años de penitencia (ebd., S. 107-128). 78 Die Versos a Carlos Barral sind zum ersten Mal nach dem Privatdruck Biedmas von 1952 mit der Gesamtausgabe der Schriften Biedmas bei Mondadori als Anhang in Las personas del verbo aufgenommen worden. Vgl. Gil de Biedma, Jaime (2001a), Las personas del verbo, Barcelona: Mondadori, S. 175-188. 79 Mit Ausnahme des erst kürzlich herausgegeben, unvollendet gebliebenen Romans El azul del infierno. Vgl. Barral, Carlos (2009) [1989], El azul del infierno, Barcelona: Seix Barral. 80 Molero de la Iglesia, Alicia (2000), La autoficción en España: Jorge Semprún, Carlos Barral, Luis Goytisolo, Enriqueta Antolín y Antonio Muñoz Molina, Bern u.a.: Lang, S. 298. 81 Vgl. ebd., S. 297. 82 Vgl. Kapitel 5.
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Figur in Biedmas »Después de la muerte […]« kulminiert, ist die Parallele zum Roman Barrals offensichtlich: Denn auch hier stirbt die Figur ›Barral‹ am Ende des mit dem Erzähler und gemeinsamen Freunden am Meer verbrachten Sommers aufgrund einer in Alkohol ertränkten Schaffenskrise und einer Magenerkrankung.83 Im letzten Kapitel, welches einen ›halben‹ Rahmen zur damit analeptischen Haupthandlung bildet, stellt sich heraus, dass der Erzähler den Text in psychiatrischer Therapie niedergeschrieben hat. Den Krisenprozess seines Freundes und Rivalen hat er nicht nur als Beobachter begleitet, sondern dessen Probleme auch in der eigenen Person gespiegelt:84 »Me entró un jadeo agónico, como si la catástrofe de Barral se me hubiera contagiado y, al mismo tiempo, una flojera en brazos y piernas que apenas me permitía seguir en pie. […] Barral debió hacer un esfuerzo titánico y soltó una carcajada […]. ›No estás mucho mejor que yo‹, dijo al fin […].«85
Schließlich lassen sich diese Parallelen zwischen den zwei Figuren auch zwischen ihnen und dem Autor herstellen, weshalb der Roman im doppelten Sinne – bezogen auf die Figur ›Barral‹ und den Erzähler – als Autofiktion gelesen werden kann.86 Das Problem von desdoblamiento und Janusköpfigkeit der Persönlichkeit (welches motivisch in Form einer antiken Münze aufgegriffen wird, die ein Januskopf ziert)87 wird auf zwei Ebenen aufgerufen. Zum einen motivisch: Der Erzähler und die Dichterfigur, die den Namen des Autors trägt, bilden ein Doppelgängerpaar. Zum anderen auf einer intertextuellen Ebene: Der Erzähler zitiert den lateinischen Vers »Gemele Castor et gemele Castoris«88 aus Catulls »Carmen IV«89, der wiederum Intertext des Gedichtes »Celebrando la vieja barca a manera de Cátulo« ist. Es wird mit eben jenem Zitat beendet, nachdem im vorletzten Vers die Namen der Zwillingssöhne des Autors Barral genannt werden: »gemelo Marco y mellizo Dario« (V.23). Das Catull-Zitat verbindet auf diese Weise Roman und Gedichte über das Zwillings- oder Doppelgängermotiv:
83 Beides Parallelen zur Autor-Vita. 84 Vgl. Jové Lamenca, Jordi (1996), »La primera novela de Carlos Barral: Penúltimos castigos«, in: Pérez Lasheras (1996), S. 205-213, hier S. 209f. 85 Barral (1994), S. 215. 86 Vgl. Molero de la Iglesia (2000). 87 Vgl. Barral (1994), S. 274 (Herv. i.O.). 88 Ebd., S. 307 (Herv. i.O.). 89 Vgl. Catullus, Gaius Valerius (2009), Carmina. Gedichte lateinisch-deutsch, übers. und hrsg. von Niklas Holzberg, Düsseldorf: Artemis und Winkler, S. 10.
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Die problematische Identitätskonstruktion schlägt sich zum einen auf der discours-Ebene im desdoblamiento der Aussageinstanzen der Gedichte nieder. Zum anderen geht sie im Roman mit referentiellen Doppelungen und der Inklusion des Autornamens einher. In diesem Sinne kann Penúltimos castigos als Projektion des Autors in zwei Figuren und psychoanalytische Selbstrepräsentation gelesen werden. Der Tod der mit dem Autor homonymen Figur wird in der Sekundärliteratur sowohl bei Barral als auch bei Biedma in einen psychologisierenden Kontext der Autorintention gestellt: Die fiktionalisierte Darstellung habe den Tod eines Teils des Autor-Ich provozieren sollen.90 »La ficción le va a permitir [a Barral] ›poner en escena‹ un sujeto escindido en dos yoes, haciendo que, mientras uno se autodestruye, otro encarne la búsqueda de una salida vital para la persona, esto es, a través del texto podrá realizar la revitalización de sí mismo que posibilite una salida para la persona, rearmándose con nuevos valores.«91
Damit werden diese Texte in der Kritik auf eine autobiographische Sinn- und Identitätssuche des Autors selbst bezogen, die sich in der Fiktion eines alter ego des Autors äußere. Der psychoanalytische Diskurs stellt somit einen Versuch dar, die widersprüchlichen Aussagen der Texte bezüglich ihrer Referentialität zu disambiguieren, wobei der Autor als vereinigendes Erklärungsmodell bemüht wird. Die referentialisierende Rahmung, welche vor allem durch Barrals memorialistische Texte abgesichert wird, scheint somit eine autobiographische Lektüre zu autorisieren. In einem Interview gab Barral zudem an, dass seine Dichtung mit Diecinueve figuras de mi historia civil eine autobiographische Richtung eingeschlagen habe, die in Kontinuität zu seinen Memoiren stehe:
90 Laut Biedma habe die Fiktion des eigenen Suizids ihn davon abgehalten, ihn tatsächlich zu begehen. Vgl. Campbell (1971b), S. 248. Martín Olalla begreift Barrals Penúltimos castigos als »exorcismo«: Martín Olalla, José Miguel (2003), »Carlos Barral, personaje de Carlos Barral«, in: Pérez Magallón, Jesús (Hrsg.), Memorias y olvidos: autos y biografías (reales, ficticias) en la cultura hispánica, Valladolid: Universitas Castellae, S. 217-232, hier S. 225. Jové Lamenca nimmt eine differenziertere Perspektive ein, indem er zwar davon ausgeht, dass »[…] ese enfoque del alter ego sea una técnica más para hablar de sí mismo de nuevo […]«, aber erkennt, dass die Autofiktion die Aufmerksamkeit hier nur indirekt auf den Autor, stattdessen vor allem auf die zunächst als Nebenfigur präsentierte Figur ›Barral‹ lenkt. Vgl. Jové Lamenca (1996), S. 211f. 91 Molero de la Iglesia (2000), S. 308.
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»Cuando estaba terminando Metropolitano empecé a pensar Diecinueve figuras de mi historia civil como una confesión autobiográfica desde el punto de vista del personaje social e histórico.[…] [C]onfesión autobiográfica que es ya esa vocación de confesado que luego en mi prosa se ha convertido en vicio.«92
Während der autofiktionale Roman die Identifikation von Figur und Autor explizit vorschlägt,93 werden in den Gedichttexten solche Referentialisierungen nur angedeutet. Jedoch werden sie von den anderen beiden Texten flankiert: Zwar ist der referentielle Impetus der Memorias eindeutiger zu bestimmen, der autofiktionale Roman Penúltimos castigos öffnet jedoch den memorialistischen Diskurs hin zu einer Fiktion der Selbstinterpretation durch die Figur des Doppelgängers. Diese Ähnlichkeit zwischen dem schreibenden Erzähler und dem Dichter ›Barral‹ etabliert eine autofiktionale Beziehung zum Autor. Die motivischen Parallelen zwischen dem autofiktionalen Roman, den autobiographischen Memorias und den Gedichten verbinden nun die drei Gattungen miteinander und kontaminieren gegenseitig ihren Status als fiktive oder faktuale Texte. Für die Gedichte Barrals bedeutet dies, dass ihre dezenten Referentialisierungen zum einen in einen autobiographischen und autorisierenden, andererseits in einen autofiktionalen Rahmen gestellt werden. Die in den lyrischen Texten ausagierte Selbstlektüre des fiktiven Sprechers findet ihre Entsprechung in der zweifachen Doppelgängerbeziehung von Penúltimos castigos und in der Memorialistik: Das lyrische Ich als Leser seines Lebens steht somit ebenfalls in einem ambigen, autofiktionalen Bezugsrahmen zum Autor. 7.2.3 Ángel González: »Para que yo me llame Ángel González«. Der Körper des Textes Der autobiographische Autorisierungsrahmen bei Ángel González funktioniert über relativ wenige Referentialisierungen eines konkreten lebensweltlichen Bezuges. Wie bei Biedma und Barral treten Datierungen der Sprechsituation auf, so zum Beispiel in »Aquí, Madrid, mil novecientos«, das eine Similaritätsbeziehung zu Biedmas »En el nombre de hoy« erkennen lässt: Während letzteres als Wid-
92 Rodríguez (1985), S. 34 (Herv. i.O.). Vgl. auch Riera, Carme (2003), »Prólogo«, in: Barral, Carlos, Poesía completa, ed. de Carme Riera, Barcelona: Lumen, S. 7-55, hier S. 34. 93 Molero de la Iglesia führt den Begriff des »realema« ein als vom Autor durch Referentialisierungen intendierte Lektüreorientierung, die allerdings nicht als »garantía autobiográfica« verstanden werden könne. Vgl. Molero de la Iglesia (2000), S. 263.
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mungsgedicht einen engeren, wenn auch ironisierten Bezug zur außenpragmatischen Schreibsituation aufbaut, so datiert »Aquí, Madrid, mil novecientos« in beschreibendem Modus und ohne die explizite Nennung eines lyrischen Ich eine Sprechsituation, welche durch den Rekurs auf Radioansagen den Charakter eines Statusberichtes erhält (»Aquí, Madrid, mil novecientos / cincuenta y cuatro: un hombre solo«, V.1/2). Das Einschreiben der Sprecherrede in einen medialen Diskurs findet auch in »En el nombre de hoy« statt, wenn das lyrische Ich einen Gruß versendet: »desde esta página quiero / enviar un saludo a mis padres« (V.15/16). Beide Gedichte, die jeweils am Anfang eines Gedichtbandes stehen,94 situieren die Sprecherrede somit als zu einem konkret benannten Zeitpunkt medial vermittelte und veröffentlichte Aussage. Während sich das lyrische Ich in »En el nombre de hoy« aber in Beziehung zu einem Adressatenkollektiv setzt, ist die Einsamkeit das zentrale Merkmal des Sprechers bei González: »Aquí, Madrid, entre tranvías / y reflejos, un hombre: un hombre solo« (V.9/10). Über die Veröffentlichungen verteilt kehrt die genaue Kennzeichnung des Sprechzeitpunktes einige Male wieder, so zum Beispiel im Titel von »Texas, otoño, un día« (Muestra, corregida y aumentada […]) oder »Crepúsculo, Albuquerque, estío« (Prosemas o menos). Im Zusammenhang mit Ferraters »In memoriam« und Biedmas »Intento formular […]« fällt auf, dass auch González das Alter des Sprecher-Ich im Bürgerkrieg zu Beginn von »Ciudad cero« erwähnt und den Sprecher damit, durch die Übereinstimmung der Lebensdaten, autobiographisch rückbindet: En aquellos dos años –que eran
Quan va esclatar la guerra
la quinta parte de toda mi vida
jo tenia catorze anys i dos mesos
(González,»Ciudad cero«, V.3/4)
(Ferrater,»In memoriam«, V.1/2)
puesto que a fin de cuentas no tenía los diez (Gil de Biedma, »Intento formular […]«, V.3/4)
Für die autorisierende Rahmung sind diese Aspekte vereinzelte Indizien, die in den frühen Veröffentlichungen bis zu Breves acotaciones para una biografía durch eine insgesamt vier Mal auftretende Metalepse untermauert werden, welche durch ihre Rekurrenz die einheitliche Lesbarkeit des lyrischen Ich garantiert:
94 »Aquí, Madrid, mil novecientos« ist das dritte Gedicht aus Áspero mundo, »En el nombre de hoy« leitet Moralidades ein.
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Vier Gedichte konstituieren durch die Nennung des Autornamens im Haupttext eine Rahmenüberschreitung und zeigen gleichzeitig ein besonderes Interesse an dem Verhältnis von Körper und Sprache, an der sprachlichen Funktion des Eigennamens und der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens. Anhand der vier Texte lassen sich diese Paradigmen auf die Metalepse und ihre Funktion als autorisierende Textstrategie beziehen, die letztlich hinterfragt wird. Das zweite Gedicht aus Áspero mundo, das zugleich das erste Gedicht im ersten, ebenfalls »Áspero mundo« betitelten Unterabschnitt ist, »Para que yo me llame Ángel González«, hat Einleitungsfunktion für diesen ersten Gedichtband und in der Folge auch für die Gesamtausgabe Palabra sobre palabra. Als faktisches Eröffnungsgedicht steht es nach dem kurzen »Te tuve«, in dem das lyrische Ich den Titelbegriff aufgreift (»Áspero mundo para mis dos manos«, V.12) und seine Wahrnehmung der Welt in die semantische Opposition »dulce« (V.3) – »áspero« (V.12) fasst. Einleitend erklärt sich hier das lyrische Ich, das mit »Te tuve« bereits einmal kurz in Erscheinung getreten ist, und bezieht dabei ganz gezielt die Erwartungshaltung des Lesers mit ein. An prononcierter Endstellung im ersten Vers erscheint der Autorname: »Para que yo me llame Ángel González«. Doch anstelle einer an Biographemen orientierten biographischen SelbstErzählung und der Erfüllung des autobiographischen Paktes, wie durch die Nennung des Namens zu erwarten wäre, konstruiert sich der Sprecher eine kosmische Genealogie: »para que mi ser pese sobre el suelo / fue necesario un ancho espacio / y un largo tiempo« (V.2-4). Die gesamte Menschheitsgeschichte ist am Leben des ›Ángel González‹ beteiligt – der Sprecher ist aber nicht der Kulminationspunkt der Geschichte, sondern wurde geboren, um zu scheitern. Zwar ist er »resultado« und »fruto« der jahrhundertelangen Entwicklung (V.17), aber nicht im positiven Sinne einer kumulativen Steigerung, sondern als »lo que queda« (V.18). Eine Isotopie des Verfalls (»podrido«, »restos«, V.18; »escombro«, V.21; »ruina«, V.22) charakterisiert den Sprecher zum Teil paradox: »el éxito / de todos los fracasos« (V.24/25), »fuerza del desaliento« (V.26). In wenigen Versen ruft der Text einen autobiographischen Rezeptionsrahmen auf, um ihn sogleich zu widerrufen: Die Selbsterniedrigung des Sprechers (»tan sólo esto«, V.20) greift ironisch einen traditionellen autobiographischen Konfessionsdiskurs auf und dekonstruiert ihn. Wo Biographeme eine mehr oder weniger lineare Persönlichkeit oder einen (wenn auch fragmentarischen) Lebensweg rekonstruieren würden, setzt sich der Sprecher zur gesamten Menschheit in Beziehung; kosmische Relationen ersetzen biographische Stationen. Wenn dieser Text auch zum Teil autobiographisch und mit Bezug auf die Autorbefindlichkeit gelesen worden
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ist,95 so postuliert und negiert er doch zugleich ironisch eine traditionelle Autobiographistik. Damit stellt er in doppelter Hinsicht einen ›Gründungsmythos‹, einen »mito de origen«96, dar. Das Gedicht entwirft eine Programmatik für die folgenden Texte (zunächst nur für die Gedichte aus Áspero mundo, mit zunehmender Inkorporation der neuen Werke in die Gesamtausgabe Palabra por palabra aber auch für die gesamte Dichtung97). Es konstituiert eine Sprecher-Figur mit Namen ›Ángel González‹. Das lyrische Ich wird somit zuallererst über seinen Eigennamen definiert, der sein Da-Sein bezeugt und den Sprecher in seiner Identität bezeichnet: »Para que yo me llame Ángel González, / para que mi ser pese sobre el suelo« (V.1/2).98 Am Ende der Genese steht ein Name. Worte sind die Folge einer physischen Entwicklung99, die vor allem über eine KörperIsotopie entsteht: »cuerpo[s]« (V.6,7,8), »carne« (V.11), »huesos« (V.12). Es ist seine Körperlichkeit, »el viaje milenario de mi carne« (V.11), die den Sprecher
95 Vgl. Caffarato, Mauro (2008), »La importancia de llamarse Ángel González«, in: Rivera, Susana, Ángel González, Madrid: Cuadernos Hispanoamericanos, S. 84-97, hier S. 91. 96 Vgl. Baena (2007), S. 492. 97 Unter dem Titel des Buches von 1965, Palabra sobre palabra, erscheint 1968 zum ersten Mal eine Gesamtausgabe, die 1972, 1977 und 2003 um die jeweils neu erschienenen Bände ergänzt wird. 98 Ich verwende den Begriff des Da-Seins zwar mit Reminiszenzen an Heideggers »Inder-Welt-Sein«, jedoch geht es mir hier vor allem um die Unterscheidung eines ›DaSeins‹ als existentia ggü. einer im Folgenden als ›So-Sein‹ bezeichneten essentia, wie sie bei Thomas von Aquin erscheint, allerdings ohne damit die entsprechenenden philosophischen Traditionen für die Interpretation verabsolutieren zu wollen. Die Begriffe sollen vor allem die bei González getroffene Unterscheidung zwischen der Benennung und dem eigentlichen Sein des Benannten illustrieren, die über die Unterscheidung von Signifikant und Signifikat hinausgeht. Vgl. Heidegger, Martin (1977) [1949], Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, S. 52-59, und Aquin, Thomas von (2008) [1254-1256], De Ente et Essentia. Vom Seienden und Wesen. Lateinischdeutsch, übers. von Dieter Knoch, Berlin: LIT Verlag, S. 3-14. Vgl. zu Aquin Heinzmann, Richard (32008), Philosophie des Mittelalters, Stuttgart: Kohlhammer, S. 210. 99 »[E]l primer verso no habla de un ser, ya que el ser queda emplazado en el segundo verso, sino de un nombre y un apellido, de dos palabras.« García Montero, Luis (2008), »Ángel me dicen. Sobre la utilidad de las palabras«, in: Rivera (2008), S. 22-36, hier S. 22f.
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zum Träger seines Namens und zu dem macht, der er ist, nämlich ein paradoxal agierender und scheiternder Mensch: un escombro tenaz, que se resiste a su ruina, que lucha contra el viento, que avanza por caminos que no llevan a ningún sitio. […] (González, »Para que yo me llame Ángel González«, V.21-24)
Hier macht sich bereits ein Sprachverständnis bemerkbar, das eng mit der Körperlichkeit des Bezeichneten verknüpft ist. In dem Sonett »Luz llamada día trece« aus Sin esperanza, con convencimiento wendet sich der Sprecher gegen die von Ferdinand de Saussure konstatierte Arbitrarität des sprachlichen Zeichens.100 Zwar hat jedes Ding einen Namen, doch sind signifiant und signifié nicht miteinander korreliert, so dass der Name keine eigentliche Bedeutung wiedergeben kann: A cada cosa por su solo nombre. Pan significa pan; amor, espanto;
100 Diese Auseinandersetzung mit der Arbitrarität lässt sich auch in anderen Gedichten beobachten, in denen sie nicht explizit thematisiert wird, z.B. in »Ayer«: »Ayer fue miércoles toda la mañana. / Por la tarde cambió: / se puso casi lunes« (V.1-3). »[Las locuciones] [n]iegan así la arbitrariedad que en el fondo caracteriza las distinciones entre los días, por debajo de las particularidades convencionales y relativas conferidas por las prácticas culturales.« LaFollette Miller, Martha (1991), »Inestabilidad temporal y textual en Ángel González«, in: Debicki/Ugalde (1991), S. 25-36, hier S. 26. LaFollette Miller verweist außerdem auf die dichterische Tradition, die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens zu hinterfragen. Vgl. ebd., S. 29, und LaFollette Miller (1995), S. 106f. Ein Beispiel ist Jorge Guilléns »Los nombres«. Vgl. Guillén, Jorge (1970) [1928], Cántico, ed. de José Manuel Blecua, Barcelona: Labor, S. 118f.: »Albor. El horizonte / Entreabre sus pestañas, / Y empieza a ver. ¿Qué? Nombres. / Están sobre la pátina // De las cosas. La rosa / Se llama todavía / Hoy rosa, y la memoria / De su tránsito, prisa. //[…]// ¿Y las rosas? …Pestañas / Cerradas: horizonte / Final. ¿Acaso nada? / Pero quedan los nombres.« (V.1-8,17-20). Baena liest »Luz llamada día trece« als kreative Begründung einer neuen Ästhetik bei González, die in der Abwendung vom Symbolismus, »la disfuncionalidad de lo simbólico«, besteht. Baena (2007), S. 204f.
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madera eso; primavera, llanto; el cielo, nada; la verdad, el hombre. (González, »Luz llamada día trece«, V.1-4)
Die semantischen Ambiguitäten, die der Sprecher explizit zwischen mehreren Substantiven etabliert, zeigen, dass ein Name an sich keine Bedeutung tragen kann. Zudem stellt der Paarreim nicht explizit gemachte Äquivalenzen her, besonders deutlich im Reim des ersten mit dem vierten Vers dieses Quartetts (»nombre« – »hombre«), der die Unzulänglichkeit der Namen von Dingen und Sachverhalten auf den Menschen überträgt. Darum beschließt der Sprecher, die konventionelle Benennung durch eine andere zu ersetzen, die dem So-Sein101 des Bezeichneten näher kommt: »Llamemos luz al día […]« und »[h]oy es la luz llamada día trece / de materia de mayo y sol, digamos« (V.5,10/11).102 Der Versuch der Datierung bleibt willkürlich (»digamos«) und unterscheidet sich damit schon deutlich von »Aquí, Madrid, mil novecientos«, in dem allerdings die genaue Jahresangabe (»cincuenta y cuatro […]«, V.2) erst nach der (Denk-)Pause des Enjambements erfolgt.103 Das Sprechen über etwas kann somit immer nur eine Annäherung an das sein, wovon gesprochen wird: Y si hablamos de mí –puesto que hablamos, de algo hay que hablar–, digamos todavía: pasión fatal que como un árbol crece. (González, »Luz llamada día trece«, V.12-14)
Die abschließende Metapher des Sprechers als »pasión fatal«, die mit einem wachsenden Baum verglichen wird, lässt sich als die Unabschließbarkeit der Bedeutung lesen: Ein Name kann nur das bezeichnen, wovon er spricht, er kann es aber nicht bedeuten. Wie das sich immer weiter verzweigende Geäst des Baumes
101 Vgl. Fußnote 98. 102 Man beachte die Similarität zu Biedmas »En el nombre de hoy« (V.1-4): »En el nombre de hoy, veintiséis / de abril y mil novecientos / cincuenta y nueve, domingo / de nubes con sol […].« 103 Eine Parallele in der unsicheren Zuschreibung zeigt sich auch zu Biedmas »Noches del mes de junio«: »era en mil novecientos me parece / cuarenta y nueve« (V.4/5). Vgl. Kapitel 7.2.1.
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ist auch der Versuch, etwas mit seiner eigentlichen Bedeutung zu benennen, prinzipiell unabgeschlossen. In dieser Hinsicht entwickeln die folgenden Texte eine konstruktivistische Perspektive, in der das Verhältnis der Sprache zur Extratextualität und zur Körperlichkeit ausgelotet wird. »Palabra muerta, realidad perdida« verhandelt beide Seiten des sprachlichen Zeichens: Das signifiant erinnert in seiner plastischen Beschreibung an die Barthes’sche Lust am Text und die »jouissance«, welche die Erfahrung der lautlichen Seite des Wortes hervorruft:104 Mi memoria conserva apenas sólo el eco vacilante de su alta melodía: lamento de metal, rumor de alambre, voz de junco, también, latido, vena. (González, »Palabra muerta, realidad perdida«, V.1-5)
Auf der Seite des signifié ist das Wort ›sinnvoll‹: »sabía su sentido« (V.15), es ist »[…] infalible / significando aquello que nombraba« (V.24). Es führt einen nahezu performativen Sprechakt aus, denn es eröffnet »la honda realidad« (V.32) und »[p]ronunciarla despacio equivalía / a ver, a amar, a acariciar un cuerpo« (V.33/34): Sprechen ist zugleich handeln. Schließlich stellt das Wort sich jedoch als unzuverlässig heraus (»infiel / reflejo«, V.12/13), es kann »su antiguo mensaje« (V.46) nur mehr andeuten, jedoch nicht mehr vermitteln, was sich auf den Status der Realität auswirkt: Cuando un nombre ya no nombra, y se vacía, desvanece también, destruye, mata la realidad que intenta su designio. (González, »Palabra muerta, realidad perdida«, V.47-49)
Im Gegensatz zu Barthes, der sich im Laufe seines Theoretisierens über die Sprache immer mehr von der bedeutenden Seite des Zeichens abwendete und das »leere Zeichen«105 feierte, weil es die Abwendung vom Signifikat hin zum ganz
104 Vgl. Barthes, Roland (122009b) [1973], Die Lust am Text, übers. von Traugott König, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 50, 97. 105 Vgl. Barthes, Roland (162009a) [1970], Das Reich der Zeichen, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt am Main: Suhrkamp, Epigraph und S. 65, 148.
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körperlich erfahrbaren Signifikanten ermöglicht, wird der Bedeutungsverlust des Zeichens, das nicht in der Lage ist, einen Referenten zu benennen, hier als Verlust erfahren: Das funktionslose Zeichen unternimmt ein Attentat gegen die Extratextualität, die ohne ihre Bezeichnung nicht mehr bestehen kann. Schließlich kann man sich einer Welt nicht sicher sein, die lediglich durch ihre Bezeichnung106 überhaupt »versucht« (»intenta«, V.49) und in der Bezeichnung überhaupt erst konstituiert wird. Konsequenterweise imaginiert der Sprecher in »Me basta así« die ReKreation der Geliebten auf einer ganz physischen Ebene: Es sind die körperlichen Merkmale der Angesprochenen, die der Sprecher immer wiederholen würde, »siempre la misma y siempre diferente / sin cansarme jamás del juego idéntico« (V.20/21). Die nachbildende Schöpfung hat also nicht das Ziel, die Geliebte zu verändern, sondern sie möglichst genau abzubilden. Im Sinne dieser mimetischen Idealvorstellung, das Urbild genau wiedererschaffen zu können, steht auch die Absicht des Sprechers, am Gegebenen nichts ändern zu wollen: »[…] si yo fuese / Dios, haría / lo posible por ser Ángel González« (V.27-29). Schließlich ist die Haupteigenschaft der Angesprochenen, im alltäglichen Zusammenleben Traum und Leben, Fiktion und ›Realität‹ miteinander zu verbinden: »[…] y corras / la cortina impalpable que separa / el sueño de la vida« (V.34-36). Zwar kann der Text auf einer ersten Ebene als Hommage an das alltägliche Zusammenleben von Sprecher und Angesprochener gelesen werden, als Liebesgedicht, welches das morgendliche gemeinsame Aufwachen des Paares beschreibt.107 Die Ansprache des Sprechers durch die Adressatin (»resucitándome con tu palabra«, V.37) betont jedoch erneut die schöpferische Kraft der Sprache. Insofern kommentiert der Text auf einer zweiten Ebene sein Verhältnis zur Extratextualität, das klar zugunsten letzterer, der stillen Präsenz der Geliebten und nicht der, wenn auch kreativen, Nachbildung ausfällt:108
106 Im vorliegenden Kontext wird der etymologische Ursprung von »designar« (»denominar«, »indicar«) relevant. Vgl. http://www.rae.es/designar, 20.10.2011. 107 Vgl. z.B. Labra, Ricardo (2002), »Una lectura emocional de la poesía de Ángel González«, in: Rivera, Susana (Hrsg.) (2002), Ángel González. Tiempo inseguro, Málaga: Litoral, S. 251-259, hier S. 256. 108 »El poeta se deja de ensoñaciones. Lo válido es la realidad presente, potente y verdadera.« Alarcos Llorach (1996), S. 44.
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(Escucho tu silencio. Oigo constelaciones: existes. Creo en ti. Eres. Me basta.) (González, »Me basta así«, V.49-52)
Die Nennung des Eigennamens scheint zunächst diese Stellungnahme zugunsten der Extratextualität zu bestätigen, gleichzeitig unterminiert die Rede des Sprechers sich selbst, denn auch sie kann nur Abbild und damit eine dem Sein untergeordnete Form der Repräsentation, der Re-Kreation sein. Somit ist die Nennung des Autornamens in doppelter Hinsicht metaleptisch: Auf einer ersten Ebene unterstützt sie zunächst die Authentizitätsbemühungen des Sprechers, während auf einer zweiten die Umsetzung des Geforderten – die Extratextualität so zu wiederholen, wie sie wirklich ist – nur scheitern kann. Der dritte Text, der den Eigennamen des Autors enthält, »Preámbulo a un silencio« aus Tratado de urbanismo, entwickelt den bislang aufgezeigten Versuch, das So-Sein der Dinge in der Sprache zu erfassen, hin zu einem Sprachskeptizismus, der »the notion of representation« in postmoderner Weise in Frage stellt.109 In den ersten zwei Versen beschreibt der Sprecher das Bewusstsein von einer allgemeinen »inutilidad de tantas cosas« (V.1/2), die im letzten Vers präzisiert und auf die Nutzlosigkeit der Worte bezogen wird. Auch der Name des Sprechers (»Ángel, / me dicen«, V.25/26) kann nur Bezeichnung, nicht Bedeutung sein: Eso es cierto, tan cierto como que tengo nombre con alas celestiales, arcangélico nombre que a nada corresponde: Ángel, me dicen, y yo me levanto
109 LaFollette Miller (1995), S. 18. Laut LaFollette Miller beginnt mit Tratado de urbanismo eine neue Etappe des Schreibens González’, in der er der Sprache kein Veränderungspotential mehr zutraue (vgl. ebd., S. 68). In González’ früheren Gedichtbänden lassen sich sicherlich mehr im engeren Sinne der poesía social zuzuordnende Texte finden als in den späteren, dennoch haben die bislang zitierten Gedichte gezeigt, dass die sprachskeptische Tendenz nicht erst mit dieser ›neuen Phase‹ beginnt.
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disciplinado y recto con las alas mordidas –quiero decir: las uñas– y sonrío y me callo porque, en último extremo, uno tiene conciencia de la inutilidad de todas las palabras. (González, »Preámbulo a un silencio«, V.15-26)
Die Sprache besteht dementsprechend nur aus »Las palabras inútiles« (Palabra sobre palabra), die keine genaue Bedeutung produzieren können: »busco / el término huidizo, / la expresión inestable / que signifique, exacta, lo que eres« (V.3-6). Der Dichter-Sprecher nennt die Versuche, die Geliebte mit poetischen Worten zu beschreiben, welche in Kursivdruck jeweils am rechten Versrand hervorstechen: »–quizá sirvan: delicia de tu cuello…–« (V.14). Dadurch entsteht der Eindruck, der Dichter, der seinen (kursiven) Text vorzeigt, stünde außerhalb des vorliegenden Gedichtes, der Text »Las palabras inútiles« sei ›realer‹ als eben jene Textausschnitte: »He creates a paradoxical text that purports to do on one level what it claims it can’t do on another […].«110 Abgesehen von diesem Einbringen eines Textes in den Text, das den Ebenenunterschied zwischen Lebensund Textwelt abbildet, indem es eine zweite Ebene eröffnet (kursiv – nicht kursiv) und somit das Gesagte als mise en abyme de l’énoncé unterstreicht, nimmt auch ein motivisches Element die »infinite regression of images within images«111 auf. Statt über sie zu sprechen, würde das lyrische Ich der Geliebten lieber von ganz nah in die Augen sehen (»sujetar con mis manos tu cabeza / y ver/ allá en el fondo de tus ojos«, V.22-24) und von ihrem Blick ganz in Besitz genommen werden: »avanzando hacia mí, / girando, / penetrándome« (V.32-34). Die Transgression zwischen Sprecher und Angesprochener, der Blick in die spiegelnden Augen, macht deutlich, dass die »inutilidad de las palabras« schließlich auch den Sprecher mit einbezieht: Keine der beiden Textebenen ist ›realer‹ als die andere, Sprache kann den Liebesakt zwischen Sprecher und Angesprochener nicht ersetzen. Die mangelnde Korrespondenz zwischen einem Wort und dem, was es bezeichnen soll, erklärt sich aus der Körperlichkeit der Dinge, welche die Schrift nur in Ausnahmefällen annehmen kann: »Escribir un poema se parece a un orgasmo: / mancha la tinta tanto como el semen, / empreña también más, en ocasiones« (»A veces«, V.1-3). Nur wenn der Text eine besondere Wirkung entfal110 Ebd., S. 140f. 111 Ebd., S. 141.
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tet, scheint das kreative Projekt zu gelingen. Die besondere Funktion des Eigennamens in diesem Zusammenhang ist, dass er immer wieder Anlass dazu gibt, die Konventionalität und Arbitrarität des sprachlichen Zeichens festzustellen. Dabei wird näherungsweise der Wunsch nach einer kratylischen Sprache deutlich, die Gesagtes und Gemeintes, signifiant und signifié, enger korrelierte. Der »nombre con alas celestiales« kann den Körper nicht darstellen, den er benennt. Diese angestrebte, aber immer wieder verfehlte existentielle Verbindung der sprachlichen Zeichen im weiteren und des Eigennamens im engeren Sinne mit dem Körper haben die Herausgeber des Bandes Guía para un encuentro con Ángel González112 aufgenommen: Auf dem Titelblatt bildet der Körper des Autors den Anfangsbuchstaben seines Namens (vgl. Abb. 4). Abb. 4: Titelblatt Guía para un encuentro con Ángel González
© Luna de abajo, Oviedo, 1997.
112 Labra u.a. (1997).
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Gerade die Nennung des Eigennamens unterminiert also, in Verbindung mit der analysierten Sprachskepsis, den autobiographischen Diskurs, der durch die Referentialisierungsstrategie des Namens nur scheinbar autorisiert wird. Die Skepsis, die der Sprecher gegenüber der Darstellungsfunktion der Sprache äußert, muss nun insbesondere für den Eigennamen des Autors gelten, wenn er noch ein viertes Mal, in »Siempre lo que quieras«, erscheint, noch dazu unter dem Buchtitel Breves acotaciones para una biografía: »cuando quieras marcharte ésta es la puerta: / Se llama Ángel y conduce al llanto« (V.10/11). Hinzu kommen Ironisierungen des Erinnerungsdiskurses und biographischer Details, welche die Verlässlichkeit der Biographeme und ihre Autorisierung untergraben. Die beiden Texte »Confesiones de un joven problemático«113 und »Dato biográfico« dekonstruieren ihren isotopisch aufgenommenen Erinnerungs- und Biographiediskurs. So schreiben sich die »Confesiones […]« vermittels ihrer Erzählstruktur im Imperfekt und ihrer rückblickenden Kommentierung des erlebenden Ich aus der Gegenwart des Sprechens in die Bekenntnistexte der traditionellen europäischen Autobiographie ein und erfüllen in der ersten Strophe die daran geknüpfte Erwartungshaltung: »Recuerdo / con especial nostalgia / los veraneos junto al mar de mi niñez« (V.1-3). Schon in der zweiten Strophe wird jedoch die gängige autobiographische Erinnerung an »mis papás« (V.5) dadurch ironisiert, dass die Erwartungshaltung gebrochen wird. Es handelt sich nicht um die familiäre Bezeichnung für »meine Eltern«, sondern ganz grammatikalisch um »meine Väter«, die sich abwechselnd ein Stelldichein mit der Mutter des erinnerten Ich geben: »–ella prefería al rubio; yo al moreno–« (V.8). Die Einführung eines, an die Freud’sche Psychoanalyse angelehnten Neologismus für das Trauma, welches für den erwachsenen Mann aus dem Liebesentzug (dem Rückzug der Mutter mit jeweils einem der »Väter« in die »alcoba«, V.18) resultiert, ironisiert die Auseinandersetzung des Sprechers mit der Vergangenheit, um sich seiner Identität zu vergewissern: »No es complejo de Edipo, lo que tengo / –dice el doctor–, sino de Cleopatra« (V.35/36). Auch »Dato biográfico« aktualisiert vom Titel her die Verhandlung von Biographemen des Sprechers, »[…] manipulando la ficción autobiográfica con una localización exacta […]«114, denn der erste Vers funktioniert über die Referentialisierung authentifizierend: »Cuando estoy en Madrid«. In der Folge wird jedoch die autobiographische Selbsterkenntnis des Sprechers durch die Gegenüberstellung seiner Aktivitäten mit den
113 Im Folgenden »Confesiones […]«. 114 Scarano, Laura (2002), »Los pasajes urbanos de Ángel González«, in: Rivera (2002), S. 293-299, hier S. 298.
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Vorlieben der in seiner Wohnung heimischen Kakerlaken parallelisiert, so dass auch hier der Diskurs der Selbstfindung ironisch unterminiert wird: »las cucarachas de mi casa protestan porque leo por las noches« (V.2). Schließlich fällt der Sprecher ein Urteil über die Insekten, das auch für ihn nicht positiv ausfällt, da er mit ihnen sympathisiert und einige ihrer Eigenschaften teilt: les deseo buenas noches a destiempo –pero de corazón, sinceramente–, reconociendo en mí su incertidumbre, su inoportunidad, su fotofobia, y otras muchas tendencias y actitudes que –lamento decirlo– hablan poco en favor de esos ortópteros. (González, »Dato biográfico«, V.28-40)
LaFollette Miller unterstreicht zwar einerseits die biographischen Parallelen zwischen dem Sprecher aus »Dato biográfico« und Äußerungen, die Ángel González zu seinen Lebensgewohnheiten gemacht hat. Andererseits sei das Gedicht durch seine ludischen Elemente nicht in erster Linie als »lyric statement«, sondern als »playful construction« zu verstehen.115 Als solche forciert die ironische Brechung der autobiographischen confessio den unmöglichen Bezug auf eine außertextuelle Sprecherposition, wie bereits durch die Metalepse des Autornamens deutlich geworden ist. Das erste Gedicht des Abschnittes »Metapoesía« aus Muestra, corregida y aumentada, de algunos procedimientos narrativos y de las actitudes sentimentales que habitualmente comportan116 von 1977 greift den Körper-Diskurs noch einmal in einem autofiktionalen Rahmen auf, auch wenn hier die Metalepse ausbleibt: »Poética a la que intento a veces aplicarme« konstituiert den Sprecher als Dichter-Ich, der die Schrift als Erinnerungs- und Identitätsmedium hinterfragt. Ihre Spur wird nicht auf einen dauerhaften Träger aufgebracht, sondern auf eine Wasseroberfläche: »Escribir un poema: marcar la piel del agua.« Diese »metáfo-
115 González erwähnte in einem Interview seine Tendenz, Abende nicht lesend zuhause, sondern in Bars zu verbringen. Vgl. LaFollette Miller (1995), S. 124. 116 Im Folgenden Muestra […].
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ra semi-acuática, semi-corpórea«117 der Schrift verselbständigt die Zeichen (»Suavemente, los signos / se deforman, se agrandan, / expresan lo que quieren«, V.2-4). Ihre Körperlichkeit ist nur von kurzer Dauer, so dass, wer das Medium der Wasseroberfläche betrachtet, schließlich wie Narziss das eigene Gesicht im Wasser-Spiegel sehen oder nur einen Blick durch die transparente Oberfläche in die Tiefe werfen kann: »o ve su propio rostro / o –transparencia pura, hondo / fracaso– no ve nada« (V.10-12). Die in den barocken Vanitas-Topos eingeschriebenen Worte, »destinadas a una inminente desaparición«118, fungieren als rein willkürliche signifiants. Ob sie zur Selbsterkenntnis der Dichter-Figur beitragen oder ob derjenige, der sich in ihnen erkennen möchte, am Ende nichts sieht, bleibt offen: Die Auto-graphie erscheint als rein kontingentes Moment. 7.2.4 Gabriel Ferrater: »Poema inacabat«. Das Labyrinth des Textes Gabriel Ferraters erste Veröffentlichung, Da nuces pueris, beginnt mit »In memoriam«, einem sich über 356 Verse erstreckenden Erinnerungsgedicht, in dem sich das lyrische Ich vom ersten Satz an in Autorisierungsstrategien einschreibt: »Quan va esclatar la guerra / jo tenia catorze anys i dos mesos« (V.1/2). Auch die Gesamtausgabe, Les dones i els dies, wird mit diesem Gedicht eingeleitet. Um diese ersten Verse auf ihren Autor zu beziehen, müssen keine biographischen Recherchen unternommen werden, denn dem ersten Gedicht geht eine biographische Notiz voran, die im ersten Satz die erforderlichen Daten liefert: »Gabriel Ferrater, fill primogènit de Ricard Ferraté Gili i Amàlia Soler Rosselló, va néixer a Reus el 20 de maig de 1922.«119 Dass hier eine autobiographische Erinnerung verhandelt wird, scheint somit schon vom ersten Vers an eindeutig zu sein und stellt zunächst Da nuces pueris und schließlich Les dones i els dies in einen autobiographischen Diskurskontext. Nicht umsonst ist gerade »In memo-
117 Scarano, Laura/Ferrari, Marta (1996), »La autorreferencia en el discurso poético: Una aproximación teórica«, in: Scarano, Laura/Romano, Marcela/Ferrari, Marta/Ferreyra, Marta (Hrsg.), Marcar la piel del agua. La autorreferencia en la poesía española contemporánea, Buenos Aires: Beatriz Viterbo, S. 11–28, hier S. 22. 118 Romano, Marcela (1996), »Usos y costumbres de un Narciso ›posmoderno‹: La poesía autorreferencial de Ángel González«, in: Scarano u.a. (1996), S. 103-115, hier S. 111. 119 Ferrater, Gabriel (2002) [1968], Les dones i els dies, Barcelona: Ed. 62, S. 5. In der erst kürzlich editierten »Edició definitiva« von Les dones i els dies fehlt diese jedoch ohne Angabe von Gründen. Vgl. Ferrater, Gabriel (2010), Les dones i els dies. Edició definitiva, Barcelona: Ed. 62.
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riam«, dessen Erzählungen aus dem Bürgerkrieg120 auf Begebenheiten in Reus zurückbezogen werden können, psychoanalytisch auf Kriegstraumata hin interpretiert121 und als »autobiografia poètica« bezeichnet worden.122 Les dones i els dies wird gleichfalls von Referentialisierungen durchzogen, die immer wieder auf den Autor bezogen worden sind: »En molts d’aquests poemes, l’anècdota o el pre-text autobiogràfics hi són explícits i evidents.«123 So zum Beispiel die »Cançó idiota«, die sowohl binnendiegetisch als auch historisch (»Any de distrets Any trenta-vuit« [sic], V.1) direkt an die Erinnerungen aus »In memoriam« anschließt und sich auf das kurze Exil der Familie Ferrater in Bordeaux beziehen lässt.124 i en un avió corrugat
»A finals de setembre el meu pare vingué
vaig aterrar vora Toulouse
de Bordeus a buscar-me, i, com que alesho-
el dia just que Daladier
res la derrota era tan òbvia, em vaig deixar
per reservar-me pau francesa
endur. I vaig arribar a França exactament,
no empalmava amb la nostra guerra
exactament, el dia que es firmava el Pacte
i jo em veia partit pel mig
de Munic, o sigui el dia que la República
(Ferrater, »Cançó idiota«, V.18-23)
va perdre la guerra.«125
Die Authentizität des Genannten wird im Gedicht und in dem flankierenden Interview in autorisierende Beteuerungen eingebunden: Es handelt sich »exactament, exactament« um den »dia just« (V.20) des Münchner Abkommens. Auch »Floral« und »Aniversari« gehen mit biographischen Daten Ferraters einher: Der Sprecher in »Floral« beschreibt »la primavera del cinquanta-dos« (V.1), in der er »[…] [v]aig fer / trenta anys […]« (V.5/6). Veröffentlicht in Teoria dels cossos ist für »Aniversari« ein Bezug zum 40. Geburtstag Ferraters naheliegend: »Ja l’any quaranta dels meus anys« (V.1). Mehrfach können auch die Adressaten mit 120 Über die Freunde des Sprechers »l’Isidre«, »l’Agustí« und »l’Albert« (V.96, 126,183), den »senyor Subietes« (V.186), »el Ton« (V.204) und »l’Oliva« (V.218). 121 Vgl. Tosquelles i Llauradó (1985). 122 Grilli, Guiseppe (1987), Ferrateriana i altres estudis sobre Gabriel Ferrater, Barcelona: Ed. 62, S. 7. 123 Codina i Valls (1993), S. 320. 124 Julià gibt an dieser Stelle seine sehr reflektierte Lektüre auf und erklärt lapidar: »[…] [Gabriel Ferrater] relata el periple de l’exili que va patir la seva família el 1938, tot presentant el material de la seva memòria sota l’aparença d’una escriptura automàtica.« Julià (2004d), S. 24f. 125 Gabriel Ferrater in einem Interview: Porcel (1972), S. 18.
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lebensweltlichen Personen in Beziehung gesetzt werden. »Helena« kann mit Helena Valentí identifiziert werden, mit der Gabriel Ferrater liiert war und die deutlich jünger war als er: »Fas vint anys, Helena« (V.1) – »amb tot el que és vell / (com és ara jo)« (V.29/30). Eine ähnliche Sprechsituation etabliert »Prop dels dinou«, das nach Les dones i els dies entstand und in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde.126 Der neunzehnte Geburtstag der Angesprochenen »Júlia« ist der Anlass für die Sprecherrede: »Quan falten dotze dies perquè tinguis, / Júlia, dinou anys« (V.1/2).127 Besonders zu beachten sind zwei Widmungsgedichte, die wegen ihres direkten Bezugs zu lebensweltlichen Ereignissen und Personen ihren besonderen paratextuellen Status erfüllen. Während »A Jaime Gil de Biedma, dedicant-li un exemplar de Teoria dels cossos« einen eher spielerischen Status hat und nicht in Les dones i els dies veröffentlicht wurde,128 steht »Per a José María Valverde« in direktem Zusammenhang zur politischen Situation: Nach den Unterlagen der Zensurbehörde wurde das Gedicht mit Datum vom 15. November 1965 von Edicions 62 nachgereicht, um in Teoria dels cossos integriert zu werden, das zur Erlangung der Druckerlaubnis seit dem 9. November beim Ministerio de Informa-
126 Cornudella, Jordi (1988), »Estudi introductori«, in: Cornudella, Jordi/Ferraté, Joan (Hrsg.), Gabriel Ferrater. Vers i prosa, València: E. Climent, S. 7-47, hier S. 27. Es handelt sich um die »nullte« Ausgabe (April 1972) der Zeitschrift Tarotdequinze [sic] der Universitat Autònoma de Barcelona, an der Ferrater in seinen letzten Lebensjahren lehrte. Erst in die kürzlich von Cornudella besorgten Neuauflage des Gesamtwerkes wurde dieser Text zusammen mit drei anderen, »Any«, »Cadaqués« und »Mitsommarnatt«, aufgenommen. Es handelt sich um vier Gedichte, die Ferrater vor seinem Tod bereits veröffentlicht und für die Aufnahme in Les dones i els dies vorbereitet hatte. Vgl. Ferrater (2010), S. 208, und Cornudella, Jordi (2010), »Nota al suplement«, in: Ferrater (2010), S. 212-214. 127 »Un altre cas prou clar és la poesia de Marta Pessarrodona. La literaturalització (pretesament sincera) de la seva (difícil) relació amorosa i poètica amb Gabriel Ferrater – que esdevé el seu principal interlocutor–, les cites de versos seus i el plagi d’estil i motius són continus i abraçen diferents obres [Vida privada (1973), Memòria (1979); A favor meu, nostre (1981)]. El seu poema ›Nit trista de Sant Joan‹ (1973), que es clou amb els versos: ›Nit per no viure-la / dolor adéu, adéu amor. / Ho havíem remat ja tot‹, és la resposta al poema que Gabriel Ferrater va dedicar-li el 1968, ›Mitsommarnatt‹, on les referències reiterades a la planta de la murtra són un joc fonètic per al·ludir a la seva interlocutora (Marta).« Perpinyà (1997), S. 83. 128 Vermutlich handelt es sich um den Text der Widmung sensu strictu eines Exemplars von Teoria dels cossos. Vgl. Kapitel 8.
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ción y Turismo vorlag.129 Nachdem José María Valverde den Lehrstuhl für Ästhetik an der Universität Barcelona aus Sympathie mit den in Madrid entlassenen Professoren Enrique Tierno Galván, José Luis Aranguren und Agustín García Calvo aufgegeben hatte und ins Exil gegangen war,130 musste ein ihm gewidmetes Gedicht als Affront gegen die franquistische Regierung wirken. Noch dazu, da der Angesprochene von der Widmung im Titel her mit Valverde identifiziert wird, die textlichen Attribute ihn aber als den Propheten Jonas darstellen, gegen dessen Botschaft sich die Bewohner Ninives sperren: »Cap aigua viva no et demanen« (V.3). Auch das lyrische Du soll sich daran anschließend nun ganz der Passivität hingeben und sich vom Walfisch schlucken lassen: »Ara, ni tu no vulguis beure. Deixa’t només / empassar […]« (V.5/6). Schließlich fügt sich das lyrische Ich durch die erste Person Plural mit in die Situation des Angesprochenen ein. »La negror de ésser sol« (V.6) bezieht sich nicht mehr nur auf den Adressaten, sondern bezieht die Hoffnung des lyrischen Ich – und im Plural potentiell auch einer größeren Gemeinschaft – mit ein, dass sich die Situation eines Tages ändern möge: »Serem potser escopits a mar? Un gran migdia?« (V.8). Es ist also nicht abwegig, den Angesprochenen mit Valverde zu identifizieren und diesen als Prophetenfigur zu lesen. Seine Predigten bleiben aber ungehört, weshalb ihm und dem Kollektiv nichts weiter bleibt, als den Tag der Rettung abzuwarten. Auch der Zensurbehörde blieb dies nicht verborgen: »1° Se necesita avilantez para dirigir a esta Dirección Gral. [sic] una instancia para que se adjunte al libro un poema a José Ma Valverde por su ruptura con el Estado español.«131 In der ersten Ausgabe von Teoria dels cossos war das Gedicht zudem noch mit dem Entstehungsdatum versehen, welches zusätzlich zum Namen Valverdes einen
129 Eintrag vom 30.11.1965, España, Ministerio de Cultura, Archivo General de la Administración, Alcalá de Henares, caja 21/16761. Vgl. die Kopie der Zensurakte im Anhang. 130 »El març de 1965 foren expulsats de la universitat per les seves crítiques a la dictadura i pel suport que havien donat a les recents reivindicacions dels estudiants que demanaven la dissolució del sindicat franquista del SEU els catedràtics J.L. Aranguren, Tierno Galván i A. García Calvo. […] [E]l filòsof M. Sacristán fou també declarat inhàbil per a la docència universitària i seixanta-nou professors no numeraris de la Universitat de Barcelona eren expedientats per haver prestat suport al recent constituït SDEUB (Sindicat Democràtic d’Estudiants de la Universitat de Barcelona).« Perpinyà (1997), S. 64f. 131 Eintrag vom 30.11.1965, España, Ministerio de Cultura, Archivo General de la Administración, Alcalá de Henares, caja 21/16761. Vgl. die Kopie der Zensurakte im Anhang.
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historischen Bezugspunkt etablierte. Dieses Datum wurde für die Veröffentlichung von Les dones i els dies 1968 entfernt.132 Solche Referentialisierungen, die ohne besondere Schwierigkeit mit dem Autorleben und der Extratextualität in Beziehung gesetzt werden können, werden von mehreren Texten konterkariert, in denen sich das lyrische Ich als Autoroder als Leserfigur konfiguriert. Mit Ausnahme von »Poema inacabat« überschneiden sich die Referentialisierungen nicht mit diesem, die Textlichkeit der Aussage betonenden Autorindex. In »Si puc« charakterisiert sich das lyrische Ich als Dichter: »Alguna cosa ha entrat / dins algun vers que sé / que podré escriure« (V.1-3). In einer Reihe anderer Texte eignet sich das lyrische Ich als Leser semiotisierend die Welt an und versucht, ihren Zeichen eine Bedeutung abzuringen, vom Signifikant auf ein Signifikat zu schließen: Fixa’t en coses rígides i en esquemes. Els feixos vulgars de ratlles blaves: això són bancs. Rodones mortes: són els monyons dels plàtans del camí (Ferrater, »Però non mi destar«, V.13-18)
In »Signe« bilden die Körper eines Liebespaares ein »idiograma de l’instant« (V.12/13), ein chinesisches oder japanisches Zeichen,133 das an Barrals »rúbrica de espuma« aus »Baño de doméstica« erinnert: »Quin pinzell d’orient / obeïu, que us dibuixa / un signe de carícia?« (V.1-3). In der ersten Strophe beschreibt der im Du verdoppelte Sprecher die von den Körpern gebildete Form (»[…] La mà / se’t vincla lluny. Un peu / et prem la cara«, V.7-9). In der zweiten Strophe wird deutlich, dass dieses Zeichen keine einheitliche Lektüre vorgibt: »Veus / que ella no el llegirà / com tu […]« (V.10-12). Der Körper stellt somit das materielle Zeichen eines zu lesenden Sinns dar, welcher aber in vielen Fällen, wie zum Beispiel in »Els jocs«, versteckt bleibt: »Vull creure / que els moviments
132 Vgl. Perpinyà (1997), S. 65. 133 Vgl. Ollé, Manel (2009), »Pinzells d’orient: malentesos, fantasmes i records«, in: visat. la revista digital de literatura i traducció del PEN català, o.J., o.S., http://www. visat.cat/articles/cat/11/pinzells-dorient-malentesos-fantasmes-i-records.html, 20.10.2011.
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precisos d’aquests cossos / fan un bon precedent, no sé de què« (V.70-72).134 »Signe« vereint in der Figur des Sprechers, der zugleich Angesprochener ist, Textproduktion und Textrezeption: Er nimmt das Zeichen nicht nur wahr, sondern ist auch an seiner Bildung beteiligt.135 In »El lector« nimmt der Sprecher ebenfalls beide Rollen ein. Der Titel und das metonymische Attribut des »tallapapers« (V.2) zeichnen ihn als Leser aus: »M’ha obert milers de pàgines: records, mentides« (V.11). Das lyrische Ich qualifiziert nun nicht nur die Texte anderer potentiell als »mentides«, sondern gibt sich auch selbst als Produzent von solchen aus, wenn er abschließend sagt, dass er sich zwar nicht erinnern könne, von wem er den Brieföffner einmal bekommen habe, sich aber nicht ein weiteres Mal eine Erinnerung erfinden wolle oder könne: »No sé mentir-me un record més, alguna mà« (V.14). Der Sprecher knüpft damit an die platonische Konzeption des lügenden Schriftstellers an und an die »[…] consciència que l’escriptura no és sinó una imitació falsa i esquinçada de la realidad […].«136 »Teseu« nimmt als letztes Gedicht sowohl von Teoria dels cossos als auch der Gesamtausgabe Les dones i els dies die Verdoppelung der Äußerungsinstanz
134 »El juego último del protagonista en ›Els jocs‹ es la producción de significación, la lectura, la comprensión de la realidad acotada, enmarcada y significativa como una ilustración […] regulada en campos de juego que observa e interpreta, que busca en sus paseos.« Armisén (2001), S. 95 (Herv. i.O.). »Mecànica terrestre«, das wie »Signe« eine Verdoppelung des Sprechers im lyrischen Du aufweist, zeigt ebenfalls die Körperlichkeit des Signifikats als Grundlage für die Semiose der Welt: »[…] Ja ho veus. Un món. / Un instant d’un capvespre, has vist els cossos / i les distàncies. Ara calcula / les masses, les libracions dels cors–« (V.28-31). 135 Ebenso die Geliebte des Sprechers. Allerdings unterscheidet sich die Bedeutung der beschriebenen Situation deutlich für die beiden Leser ihrer selbst: »[…] l’estimada únicament veu la forma, no la llegeix. Per al poeta, el signe que han creat té significant i significat. Per a l’estimada, tan sols significant.« Macià/Perpinyà (1986), S. 118. Im Unterschied zu dieser Interpretation würde ich auch »ella« sowohl eine produzierende als auch rezipierende Position zuerkennen: »Veus / que ella no el llegirà / com tu […]« (V.10-12). Der Unterschied besteht in der Art ihrer Lektüre: »Ella calca un fantasma. / Tu compliques records« (V.15/16). Während für das lyrische Du das Körper-Zeichen Ausgangspunkt für Erinnerungen ist, ist es für »ella« nur ein Zeichen, ein »fantasma« ohne Bedeutung. In diesem Sinne verweilt sie beim Signifikant. 136 Macià, Xavier/Perpinyà, Núria (1987), »›Sóc més lluny que estimar-te‹, més enllà del plagi: Cambra de la tardor i La lliçó, de Gabriel Ferrater«, in: Els Marges 38, S. 2131, hier S. 28f.
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wieder auf: Der Angesprochene fungiert als »doppelgänger [sic]«, als »figura mítica i versió del poeta«137: »[…] una mica indèntic / algú que pots dir / que és tu mateix, sempre / fa camí amb tu« (V.14-17). Der Sprecher, der sich selbst in der Figur des Theseus anspricht, befindet sich in einer textuell konstituierten Welt. Er wird somit sowohl als Leser als auch als Autor indiziert. Das Labyrinth, in dem er sich orientieren muss, befindet sich auf »tapissos«, Wandteppichen, in denen der Angesprochene in die Textur seiner eigenen künstlerischen Produktion eingeschlossen ist: »corre pels tapissos / on t’has figurat« (V.3/4).138 Theseus muss sich im literarischen Labyrinth orientieren, das durch eine Metapher, die im alltäglichen Sprachgebrauch nicht mehr als solche erkennbar ist, als Text präsentiert wird: »seguir la trama / pells vells corridors« (V.7/8). Die »trama« ist die Handlung einer Geschichte, aber auch der Schuss beim Weben. Die Metapher des Text-Gewebes lässt das Labyrinth als Text, aber eben auch den Text als Labyrinth erscheinen, aus dem Theseus herausfinden muss. Besa Camprubí bemerkt, dass die Struktur des Labyrinths in »Teseu« einen Leseschlüssel für Les dones i els dies liefert. »Teseu« stünde damit als letztes Gedicht der Gesamtausgabe zugleich am Ausgangspunkt einer labyrinthischen Reise durch die gesamte Veröffentlichung: »les dones« (V.26), die letzten Worte des letzten Gedichtes, kehren zyklisch mit den ersten des Titels wieder,139 womit sich ein in sich geschlossener Zirkel der Referenz, eine mise en abyme, bildet. Besa erläutert mit Eco, dass das Labyrinth von Knossos ein klassisches sei, dass immer zu seinem Ziel, dem Minotaurus im Zentrum – hier dem Minotaurus des Vergessens140 – führe. Der Ariadne-Faden, der den Weg markiert, ist das Labyrinth selbst, es stellt einen einzigen Faden, einen einzigen möglichen Weg dar (vgl. Abb. 5): »un sol fil« (V.1).141
137 Terry, Arthur (2001), »Gabriel Ferrater: la moral i l’experiència«, in: Oller/Subirana (2001), S. 101-125, hier S. 121 (Deutsch und Herv. i.O.). 138 Vgl. ebd. 139 Besa Camprubí, Josep (1997), »Dos imágenes del laberinto: Borges y Gabriel Ferrater«, in: Signa. Revista de la Asociación Española de Semiótica 6, o.S. http://bib. cervantesvirtual.com/servlet/SirveObras/02483887547248618976613/p0000001.htm #I_7_, 20.10.2011. 140 Vgl. Perpinyà (1997), S. 87. 141 Vgl. Besa Camprubí (1997).
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Abb. 5: Das kretische Labyrinth
Links das kretische Labyrinth mit sieben Gängen, rechts der Ariadnefaden als Weg durch das Labyrinth.
Löst man nun die Metaphern auf, so führt der Faden der Ariadne Theseus in das Zentrum eines Labyrinths, wo ihn der Minotaurus erwartet:142 »Un sol fil et daura / la fosca memòria« (V.1/2). Es überschneiden sich zwei Isotopien: zum einen die der Erinnerung und des Vergessens, zum anderen die der Textproduktion. Theseus sucht den Weg aus dem Textlabyrinth, in dem er sich selbst dargstellt hat. Auf der Suche nach dem Ungeheuer, nach dem Vergessenen, kann ihm nur der Faden der Erinnerung helfen – »In memoriam«, zu Beginn des Zyklus. Die Kreisbewegung, die Les dones i els dies innewohnt, ergänzt die zyklische Lektüre aus Kapitel 3, allerdings kann nun eine (auto-)biographische Lektüre nicht mehr ihren Gravitationspunkt bilden. Vielmehr müssen die autobiographischen Referenzen als Kreisen des Sprechers um sich selbst verstanden werden, das aber immer nur »una mica idèntic« sein kann – und somit autofiktional. »Poema inacabat« bildet als erstes Gedicht des dritten Buches in Les dones i els dies, Teoria dels cossos, annähernd das Zentrum, »el centre de gravitació«143, des Ferrarter’schen Textlabyrinths und vereint alle bislang erwähnten Textelemente. Zum einen stellen Autorisierungsstrategien immer wieder Parallelen zur 142 Erst der Minotaurus, so Eco, mache das klassische kretische Labyrinth überhaupt interessant, da die konzentrische Konstruktion keinen anderen als den Weg zum Zentrum ermögliche. Vgl. Eco, Umberto (1985), Semiotik und Philosophie der Sprache, übers. von Christiane Trabant-Rommel und Jürgen Trabant, München: Fink, S. 125. Zum eindeutigen Weg in das Zentrum des nicht mit einem Irrgarten zu verwechselnden klassischen Labyrinths vgl. auch Kern (1982), S. 13. 143 Cornudella (2003), S. 13.
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Autorfigur her und ein erzählerischer Erinnerungsdiskurs knüpft an »In memoriam« an. Zum anderen verweist der Sprecher ostentativ auf die Textlichkeit seiner Aussage. Schon in den ersten der 1334 Verse des »Poema inacabat« verbindet das lyrische Ich die verschiedenen Strategien: Der Autorisierung dienen örtliche Lokalisierungen (»[…] Diré que sóc / a Cadaqués«, V.9/10) und zeitliche Demarkationen (»[…] del seixanta-u«, V.13), die an Biedmas »En el nombre de hoy« erinnern; außerdem der Verweis darauf, dass der Sprecher Dichter ist (»quan va fer els seus primers poemes«, V.3). Hier findet aber schon die Überschneidung der Strategien statt: »Vull contar un conte impertinent« (V.5) stellt der Sprecher zu Beginn klar und transgrediert damit zum einen Gattungsgrenzen (Lyrik – Prosa), zum anderen wird der Referenzstatus immer mehr von der Impertinenz des Textes untergraben. Das Gedicht scheint einem Selbstzweck zu unterliegen, der bei aller Narrativität keiner Sinngebung außerhalb des kumulativen Erzählens gehorcht.144 In den ersten 226 Versen reiht sich eine Widmung an Literaten an die andere, wobei die Figur der Helena hervorsticht, die nicht in das Literaten-Schema passt und als Adressatin der Sprecherrede auch außerhalb der Ehrbekundungen immer wieder auftauchen wird (»[…] a tu, Helena, vull oferirte aquest poema«, V.47/48). Die Sprecherrede folgt drei wesentlichen Erzählsträngen: Erstens den Referentialisierungen, den lokalen und temporalen Verortungen der Autorfigur in der Gegenwart, im hic et nunc des Sprechens und Schreibens, welche die rahmende Kommunikationssituation definieren. Zweitens dem eigentlichen Erzählstrang, der in den 40er Jahren liegt und den ErzählerSprecher zu allgemeinen Äußerungen über »[…] el meu temps […] la posguerra« (V.267) verleitet. Drittens wird der Schreibprozess selbst zu einem der wichtigsten Aspekte des Textes, so dass man von einem metapoetischen Text sprechen kann. Dabei verhandelt das Gedicht nicht das Schreiben von Gedichten im Allgemeinen, sondern kommentiert seinen eigenen Entstehungsprozess und setzt somit sowohl das énoncé als auch die énonciation en abyme. Auf diese Weise macht die Dichter-Figur beispielsweise explizit, dass das im Schreibprozess befindliche Gedicht vor der strukturellen Folie von Chrétien de Troyes’ höfischem
144 Macià und Perpinyà sprechen von einer »[…] collage summe: des de crítica literària, concepció poètica, reflexió moral, descripció social, ficció, ironía, sarcasme, lirisme, …, [sic] fins a noves rimades i rima interna […].« Macià/Perpinyà (1986), S. 41 (Herv. i.O.).
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Roman Cligès entsteht:145 »A tu, Helena, que m’has fet / conèixer Cristià que imito / (només que jo del tot no rimo)« (V.22-24). Auch der inhaltliche Aufbau passt sich strukturell an den Heldenroman Cligès an: Prolog, Einführung von Held und Heldin, »Tornada«.146 Allerdings bleibt die Entwicklung der Handlung auf der Strecke. Der Sprecher versucht immer wieder, zum Faden seines Textlabyrinths zurückzukehren (»I ara mirem d’anar per feina«, V.227), was ihm aber nicht gelingt (»que no sé reprendre el meu fil«, V.829). Er nimmt diese Mängel ironisch in seine Rede auf, indem er spielerisch die inhaltliche Offenheit bei formaler Orientierung der Versart am mittelalterlichen Modell aufgreift: »(–que bé per l‘octosíl·lab!) […]« (V.796) und »/vols omplir tu aquest vers buit?/« (V.798).147 Dazu gehört auch, dass der Sprecher seine gesellschaftliche Funktion als Dichter ironisiert, indem er sich selbst als »pinxa-tinta« (V.304) bezeichnet und seinen Rezeptionskreis auf »els catorze amics que em llegeixen« (V.424) begrenzt sieht.148 Zudem antizipiert er die Reaktion seiner abwesenden Gesprächspartnerin auf eine abschätzige Bewertung seines Dorfes, die in die Ironisierung seines Schreibens umschlägt: i el meu poble (t’ho deia un dia) l’única idea constructiva que ha tingut d’ençà que visc jo és de posar-se a covar ous. Gràcies, sí, també els meus versos. (Ferrater, »Poema inacabat«, V.691-695)
Neben diesem ostentativen Beharren auf der Gemachtheit der Aussage bekundet der Sprecher mehrfach die Authentizität seines »conte impertinent«: »La veritat / ens sembla més interessant / perquè ens porta a nosaltres dintre« (V.85-87) und »(de la invenció no en faig ús)« (V.553). Viel wichtiger als ein isolierbarer ›Mit-
145 Vgl. José María Castellet 1966 im Vorwort zu Teoria dels cossos, zit. nach: Grilli (1987), S. 36, und Ferrater, Gabriel (2003b) [1966], »Comentari previ a una lectura del ›Poema inacabat‹«, in: ders. (2003a), S. 23-30, hier S. 26f. 146 Zur Gliederung des »Poema inacabat« vgl. Grilli (1987), S. 37. 147 In Anlehnung an Ernst Robert Curtius sehen Macià und Perpinyà die Digression des Sprechers als weiteren Tribut an das mittelalterliche Vorbild und das Ideal des eleganten Abschweifens. Vgl. Macià/Perpinyà (1986), S. 67. 148 In Biedmas »En el nombre de hoy« lässt der Sprecher seinen Eltern eine Widmung angedeihen, die ihre außenpragmatische Funktion nicht erfüllen kann: »[…] a mis padres / que no me estarán leyendo« (V.15/16).
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teilungsgehalt‹, den die Sprecherrede immer mehr verliert, scheint für den Sprecher die Ansprache der geliebten Helena, ihre An- und Abwesenheit in Cadaqués, dem Ort des Schreibens, zu sein, und die Möglichkeit, sich ihr mitzuteilen: »Tants versos he fet mossegar-se /[…]/ que sóm a l’octubre, i ahir / de matinada vas fugir / per molts mesos a Barcelona« (V.719-723). In der ersten Hälfte des Gedichtes fällt ihr Name alleine sechs Mal, so dass im Weiteren ein unbestimmtes Du mit ihr identifiziert wird. Auch zu Beginn und am Ende der »Tornada« wird sie noch einmal mit Namen angesprochen (»Perdó, Heleneta, perdó.« V.1), was der Widmungsfunktion der »Tornada« in der altokzitanischen Dichtung entspricht. Helena ist die eigentliche Heldin des »Poema inacabat«: »[…] com més anem / més s’inflecta per tu la veu« (V.697-698). Gegen Ende wird deutlich, dass das Erzählen immer mehr in den Hintergrund getreten ist und der Text selbst die Regie übernommen hat: »Que em ganyotejarà el poema, / altre cop, a la meva esquena« (V.1069-1070). Dem Dichter-Ich entzieht sich die Bedeutung seines Produktes (»A mi em fuig el [sentit] d’aquest poema«, V.1023). Mit der »Tornada«, der zyklischen Wiederkehr schließlich enden die Umwege der Erzählung nicht, »[n]o vindrà la conclusió / i aquest embolic de marrades / no para enlloc« (V.2-4), vielmehr führen sie weiter ins Nichts. Die letzten Verse sind erneut von einer Selbstrepräsentation des Textes geprägt, die an Lope de Vegas »Un soneto me manda hacer Violante« aus La niña de plata erinnert:149 Arribaré, amb els tres que em manquen, al vers mil tres-cents trenta-quatre. Me’n queda un per dir-te adéu: barca nova, tinguis bon vent. (Ferrater, »Tornada«, V.247-250150)
Im zentralen Gedicht der Gesamtausgabe hat sich der Sprecher, der mit Ferrater identisch zu sein scheint, gänzlich im kretischen Textlabyrinth verloren: Der Text hat die Initiative übernommen, das Gedicht bleibt unvollendet, da es in sei-
149 Vega Carpio, Lope Félix de (1946) [1617], La niña de plata, in: ders., Comedias escogidas de Fray Lope Félix de Vega Carpio, Vol. 1, ed. de Marcelino Menéndez Pelayo, Madrid: Atlas, S. 273-295, hier S. 290. Außerdem ist der »recompte de versos« ein Element der cançons de gesta. Vgl. Perpinyà (1997), S. 26. 150 Wird die Verszählung von »Poema inacabat« in der »Tornada« fortgeführt und die mit eigenem Titel versehene »Tornada« nicht als eigenständiges Gedicht betrachtet, haben beide Gedichte zusammen genau 1334, »mil tres-cents trenta-quatre« Verse.
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ner Zyklik und Selbstreferentialität potentiell unendlich ist.151 Der Kreis der abyme von »Teseu« durch alle Texte des Buches hindurch tritt beim »Poema inacabat« in eine Spirale ein. Analog zum Ariadnefaden, der das Labyrinth abbildet und selbst das Labyrinth ist, stellt der Versuch der Erzählung, der Abbildung, das Geschehen selbst dar. Wesentlich ist nicht, was der Sprecher erzählt, sondern dass sich sein »conte impertinent« vom narrativen und mimetischen Impetus des Sprechers löst. Das Gedicht erscheint als rein textliches Produkt, das im Zentrum des selbstreferentiellen Labyrinthes um sich selbst kreist und damit zugleich jegliche Autorisierung der Extratextualität im Text unterläuft. 7.2.5 José Agustín Goytisolo: »Autobiografía«. Die Schwelle des Textes In Kapitel 5 ist Goytisolos zweite Veröffentlichung, Claridad, als biographischer Kursus gelesen worden, welcher die Lebensstationen von Kindheit, Jugend und Erwachsensein nachzeichnet. Riera möchte diesen Lebens-Lauf nicht auf einzelne zu verifizierende Episoden des Autorlebens reduziert sehen, vermutet aber einen unspezifisch autobiographischen Erfahrungshintergrund.152 Der vorangegangene Band Salmos al viento greift die Frage nach autobiographischen Inhalten explizit auf, indem das einzige der zwölf satirischen Gedichte, in dem die Sprecherinstanz als lyrisches Ich, als »yo«, manifest wird, den Titel »Autobiografía« trägt. Da dem Titel als »Peritext«153 eine besondere Zwischenstellung zwischen Extratextualität und Text zukommt, die Genette als »Schwelle« bezeichnet hat,154 lässt er ein besonders aufschlussreiches Gedicht über das Verhältnis von Text- und Lebenswelt erwarten. Im Umfeld der ironischen, gesellschaftskritischen Salmos al viento verwundert es nicht, dass die »Autobiografía« eine Parodie der Autobiographie präsentiert, in der der Sprecher sich selbstironisch als
151 Macià und Perpinyà lesen das »Poema inacabat« zum einen metaphorisch als Sinnbild für die schöpferische Unvollendung des individuellen menschlichen Lebens, zum anderen mit Paul Valéry: »Un poème ne finit pas; on l’abandonne.« Vgl. Macià/Perpinyà (1986), S. 68f. 152 Riera (1991), S. 55. 153 Bislang sind paratextuelle Elemente nicht weiter differenziert worden. Im engeren Sinne handelt es sich hier nach Genette’scher Terminologie um »Peritexte« als Untergruppe des Dachbegriffs »Paratext«: Texte, die im Buch um den Haupttext herum angeordnet sind. Vgl. Genette (2001), S. 12. 154 Der französische Titel der Paratexte lautet Seuils.
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›Taugenichts‹ porträtiert. Das Gedicht greift mit dem Konfessionsgestus und dem Kursus des Sprecherlebens zwei Aspekte der traditionellen Autobiographik auf, die es ironisch wendet. Schon der Siebensilber, der am Ende jeder der unterschiedlich langen sechs Strophen wiederkehrende estribillo »no sirves para nada« und der unregelmäßig auftretende Reim auf –o machen den Text spielerisch und liedhaft und stellen ihn als verso de arte menor in die Tradition populärer Lyrik. Das lyrische Ich referiert mehrere Lebensstationen, in denen es sich wegen seiner »tristeza«, die als Substantiv oder Adjektiv in jeder Strophe mindestens einmal genannt wird, immer wieder als Taugenichts herausstellt: »Cuando yo era pequeño« (V.1), »[d]espués me fui al colegio« (V.7), »[v]ino, luego, la guerra« (V.13), »[y] cuando me pusieron / los pantalones largos« (V.19/20), »[e]n la calle y en las aulas« (V.25). Der Sprecher charakterisiert sich nicht über einen Fortschritt oder eine persönliche Weiterentwicklung, sondern über seine immer gleiche Nutzlosigkeit. Schließlich wird das »no sirves para nada« doch positiv gewendet: Die vorletzte Strophe, welche zunächst die Passivität herausstellt, mit der das lyrische Ich durchs Leben geht (»caí por los peldaños / de la vida. […]«, V.32/33), stellt der vergangenen »tristeza« des Sprechers die gegenwärtige »alegría« der »muchacha que amo« (V.34) entgegen. Die »triste cantinela« (V.29) wird nun (»Ahora«, V.37) zu einem positiven Attribut, welches das lyrische Ich (»también con alegría«, V.41) an seine Tochter weitergibt: Damit wird die schließlich positive Genealogie des Außenseiters weitergeführt. Paradoxerweise etabliert der Sprecher somit seine ihm von Vertretern der Gesellschaft (»mi padre«, V.3; »[e]l maestro«, V.10; »[m]is amigos«, V.23) vorgeworfene Nutzlosigkeit als positives Leitmotiv seines Lebens, das er an seine Tochter vererbt. Durch den Titel »Autobiografía« suggeriert der Text eine direkte Beziehung zwischen seinem Sprecher und dem Autor. Auch andere Peritexte heben bei Goytisolo die Grenze zwischen Extratextualität und Text hervor, indem sie exponierte Träger von Referentialisierungen darstellen, die weitere extratextuelle Bezüge im Haupttext begleiten und stützen.155 So ist der erste Gedichtband Goytisolos, El retorno, insgesamt »A la que fue Julia Gay« gewidmet. Der Name der Mutter Goytisolos stellt eine nicht explizit gemachte lebensweltliche Referenz zu der in den Texten betrauerten Toten her, zumal in »Donde tú no estuvieras« das Todesdatum der Mutter erwähnt wird, »diecisiete de marzo« (V.7).156 Goytisolos
155 Beispiele zur Referentialisierungsfunktion des Paratextes wurden bereits bei Barral, Biedma und Ferrater gesehen, vgl. Kapitel 7.2.1, 7.2.2 und 7.2.4. 156 Vgl. die Aussage Goytisolos in einem Interview: Vázquez Rial (1992), S. 14. Vgl. auch Virallonga (1992), S. 19.
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wohl populärstes Gedicht, »Palabras para Julia« aus Bajo tolerancia157, trägt den Namen seiner Tochter Julia im Titel und die Anrede »[h]ija mía« (V.4) im Haupttext. Auch »Carta a mi hermano« aus Algo sucede suggeriert einen autobiographischen Bezug, der über die Nennung der Namen der Brüder (»Juan« und »Luis«, V.1,60) und der Tochter José Agustíns (»Julia«, V.34) sowie der Ehefrau Juan Goytisolos (»Monique«, V.80) bestätigt zu werden scheint. Die Beispiele machen deutlich, dass innerhalb des Peritextes verschiedene Ebenen zu unterscheiden sind: Im Fall von »Autobiografía« und »Palabras para Julia« handelt es sich um die Gedichttitel, »Carta a mi hermano« hat als Briefgedicht ebenfalls einen besonderen peritextuellen Status.158 Widmungen schließlich lassen sich noch weiter untergliedern in solche, die einem ganzen Band und solche, die einem einzelnen Gedicht vorangehen. Wenn Genette die Peritexte eines literarischen Textes als »[…] Zone des Übergangs [und] der Transaktion […]« bestimmt, die auf die Rezeption einwirken soll,159 macht er auf ihren Zwischenstatus zwischen Lebenswelt und Text aufmerksam, der bei der Frage nach autobiographischer Referentialität von Interesse ist. Wegen ihrer besonderen, auch graphisch hervorgehobenen Stellung bezüglich des Haupttextes, können Peritexte metaleptischen Charakter annehmen und eine Transgression der binnenpragmatischen zur außenpragmatischen Ebene und umgekehrt anzeigen.160 Wie der Titel des Gedichtes »Carta a mi hermano« zeigt, suggeriert das Possessivpronomen der ersten Person Singular, »mi«, wie in Barrals Diecinueve figuras de mi historia civil, einen Autorbezug, der durch seine Lokalisierung im Peritext einen höheren extratextuellen Status zu haben beansprucht, als dies im Haupttext der Fall wäre. Der Name des Bruders im Haupttext nimmt diese Referenz dann explizit auf. Hinzu kommt, dass mit dem Brief ein zunächst nicht literarisches Genre in Gedichtform erscheint, welches einen besonderen ›Realitätsstatus‹ für sich beansprucht und in die Tradition der autobiographischen Bekenntnisse eingeordnet werden kann.161 Nun verweisen aber
157 »Palabras para Julia« wurde von Paco Ibáñez vertont und unter anderem von Mercedes Sosa interpretiert. 158 Vgl. die Bemerkungen zu Biedmas Widmungsgedicht »En el nombre de hoy« in Kapitel 7.2.1. 159 Genette (2001), S. 10 (Herv. i.O.). 160 Genette nimmt eine solche Funktion nur für den Fall an, dass der Erzähler eine Widmung signierte und somit zu einem »›unterschobenen Autor‹« würde (ebd., S. 127, Herv. i.O.). 161 Die ›außerliterarische‹ Stellung des Briefes zeigt sich im 18. Jahrhundert europaweit im Briefroman, dessen Herausgeberfiktion die Authentizität des Materials ebenfalls
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mehrere Passagen (auch dies ist in einem Brief geläufig), auf die Schreibsituation des Senders und die Rezeptionssituation des Empfängers: En fin,
Querido Juan, te escribo para contarte algunas cosas.
se termina el papel.
[…]
[…]
Yo Juan, sé que comprendes
Adiós, escribe pronto
lo que me ocurre, sé
y besos a Monique.
que leerás mi carta y pensarás en mí
(Goytisolo, »Carta a mi hermano«, V.1/2, 56-59,69/70,79/80)
[…]
Die Schreibsituation des lyrischen Ich setzt durch die Betonung ihrer Textlichkeit die Schreibsituation des Autors en abyme und macht durch die vermeintliche Ebenenüberschreitung hin zur Extratextualität umso deutlicher auf die Gemachtheit der Aussage aufmerksam. Die prononcierte Autorisierung eines vermeintlich extratextuellen Gehaltes wird durch die abyme des schreibenden Autors im schreibenden Text-Ich letztlich unterminiert. Die Gemachtheit der Aussage indiziert die doppelte Pragmatik der Lyrik und verweist die Rede (bzw. den Brief) des lyrischen Ich auf ihre binnenpragmatische Funktion. Eine Zwischenstellung zwischen Titel und Widmung nehmen auch Gedichte ein, die zu einem speziellen Anlass verfasst und dementsprechend betitelt wurden. »Los motivos auténticos del caso« und »El día del entierro de un amigo« erscheinen ohne Widmung oder Namensangabe zunächst in Bajo tolerancia und dann in einem Band zu Ehren Gabriel Ferraters, einige Jahre nach dessen Suizid.162 In der letzten Überarbeitung von Bajo tolerancia von 1996 werden die Titel geändert zu »Alfonso Costafreda ha muerto« und »En el entierro de Gabriel Ferrater«. Die Anpassung eines bestehenden Gedichtes an unterschiedliche lebensweltliche Situationen, wie Riera sie im ersten Fall mit Bezug auf die Praxis Lope de Vegas annimmt,163 lassen die entsprechenden Texte als Gelegenheitsgedichte, okkasionelle außenpragmatisch verankerte ›Botschaften‹ erscheinen. Auch der »Bolero« aus Bajo tolerancia erhält in einer späteren Ausgabe den ex-
vermeintlich garantierte, so zum Beispiel Goethes Die Leiden des jungen Werthers von 1774 oder der einhundert Jahre jüngere Roman Pepita Jiménez von Juan Valera (1874). 162 Servià (1978), S. 101f. Vgl. auch Riera/García Mateos (2009), S. 21. 163 Vgl. ebd.
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pliziteren Titel »Bolero para Jaime Gil de Biedma« und gliedert auf diese Weise den performativen Sprechakt der Widmung164 in den Titel ein. A ti te ocurre algo
pues si no un día de estos en un lugar absurdo
yo entiendo de esas cosas hablas a cada rato
en un parque o en un bar o entre las frías sábanas
de gente ya olvidada de calles lejanísimas
de una cama que odies [sic] te pondrás a pensar
con farolas a gas de amaneceres húmedos
a pensar a pensar y eso no es bueno nunca
de huelgas de tranvías cantas horriblemente
porque sin darte cuenta
no dejas de beber
te irás sintiendo solo
y al poco estás peleando
igual que un perro viejo sin dueño y sin cadena.
por cualquier tontería yo que tú arrancaba
(Goytisolo, »Bolero«)
a que me viera un médico
Die Ansprache des lyrischen Du mag sich außenpragmatisch an den in der späteren Ausgabe im Titel genannten Adressaten richten, binnenpragmatisch fällt jedoch besonders die intertextuelle Vereinbarkeit der Figur mit der autofiktionalen Figur ›Jaime Gil de Biedma‹ aus Biedmas Las personas del verbo auf: Te acompañan las barras de los bares últimos de la noche, los chulos, las floristas, las calles muertas de la madrugada y los ascensores de luz amarilla cuando llegas, borracho, y te paras a verte en el espejo la cara destruida, con ojos todavía violentos que no quieres cerrar. Y si te increpo, te ríes, me recuerdas el pasado y dices que envejezco. (Gil de Biedma, »Contra Jaime Gil de Biedma«, V.13-22)
164 Vgl. Genette (2001), S. 18.
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Der »Bolero« charakterisiert eine Figur, die mit der Sprecherfigur mehrerer Gedichte Biedmas, besonders mit dem Protagonisten in »Contra Jaime Gil de Biedma«, identifiziert werden kann. Damit stellt das Gedicht einen impliziten interferentiellen Bezug zu der Biedma’schen Text-Figur her, noch bevor mit der Widmung im Titel ein extratextueller Bezug suggeriert und eine explizite Interferenz etabliert wird. In der Widmung an »Julia Gay« wird schließlich offensichtlich, dass diese referentiellen Elemente zum Aufbau einer Text-Figur beitragen, welche in einer interagierenden Beziehung zu ihrem extratextuellen Namensvetter steht, und dabei eine letztlich unendscheidbare Identität postulieren. Mit El retorno mag die Mutter Goytisolos, Julia Gay, betrauert werden – gleichzeitig wird die Mutterfigur vor der Folie des petrarkistischen Frauenbildes als sich entziehende Geliebte modelliert, womit im Sinne einer »Technik der Distanzierung«165 der autobiographische Gehalt abgewehrt wird. Ähnliches geschieht in der Ansprache der »Julia« in »Palabras para Julia«, in deren Figur die unglückliche Liebe von Shakespeares Julia aufscheint (»Te sentirás acorralada / te sentirás perdida o sola / tal vez querrás no haber nacido«, V.7-9). Auch »Helena«, die Angesprochene in mehreren Texten Ferraters, ruft neben der extratextuellen Bezugnahme die Figur der griechischen Mythologie auf. Der lebensweltlichen Referenz wird somit eine intertextuelle Referenz entgegengesetzt. Das Aufgreifen extratextueller Referenzen im Peritext, besonders augenscheinlich in namentlichen Widmungen, die zur Text-Figur in Beziehung zu setzen sind,166 macht den Einbruch der Extratextualität deutlich: Susan Sniader Lanser spricht von einer »extrafictional voice«, die im Peritext eine historische Autorität einbringe.167 Der Peritext konstituiert somit einen besonderen Rahmen, »el contorn del poema«168, der den Ebenenwechsel von der Außen- zur Binnenpragmatik anzeigt. Gleichzeitig funktioniert der Paratext als »Schleuse« im Genette’schen Sinne, welche die Überquerung dieser Grenze ermöglicht. Der Peri-
165 Vgl. Limbeck (2004), S. 255, und Kapitel 7.2.1. 166 Man bedenke, dass eine Widmung auch ohne jeglichen binnenpragmatischen Bezug zum Text sein kann, z.B. bei der traditionellen Mäzen-Widmung. 167 Vgl. Sniader Lanser, Susan (1981), The Narrative Act. Point of View in Prose Fiction, Princeton: Princeton University Press, S. 122. Sniader Lanser verwendet noch nicht den Begriff des Paratextes, den Genette in Palimpsestes erst im Folgejahr einführt. Vgl. Genette (1993), S. 11. Der Begriff der »extrafictional voice« ist bei ihr nicht notwendigerweise an den Autor geknüpft, sondern hat eine mit Booth’ »implied author« vergleichbare Zwischenstellung zwischen realem Autor und Erzähler. 168 Ballart (1998), S. 39.
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text kann somit nicht eindeutig dem Textaußen zugeordnet werden, wie es bei Genette hauptsächlich der Fall ist,169 sondern nimmt eine hybride Funktion wahr: Zum einen autorisiert er den lebensweltlichen Bezug, indem er sich autobiographisch gibt. So stellt zum Beispiel die graphische Sonderstellung von Widmung oder Titel heraus, dass ein Ebenenunterschied zwischen ihnen und dem Haupttext besteht. Zum anderen wird der Peritext als ›Dazwischen‹ jedoch von beiden Ebenen imprägniert: Er bildet ein Einfallstor für die Extratextualität, zugleich aber auch für die Textwelt, sofern eine Beziehung zwischen beiden herzustellen ist. Somit kann bereits der Buch- oder Gedichttitel, ein Epigraph oder eine Widmung als Beginn der Sprecherrede verstanden werden.170 Goytisolos El retorno begänne dann mit folgender Äußerung, bestehend aus dem Buchtitel, der Widmung, dem Epigraph und der ersten Strophe des ersten Gedichtes:171 El retorno A la que fue Julia Gay. Partió; mas en los días de otoño, soñadores forzó mi mente, golpe a golpe. T. S. Eliot Sobre vosotras, aves de las regiones infinitas, busqué un espació para tanta muerte.
Das bedeutet, dass der Peritext sowohl mit textuellen als auch mit extratextuellen Kriterien zu analysieren ist. Als solchermaßen metaleptisches, ebenenüberschreitendes Element stellt sich der Peritext als besonders für die autofiktionale IchKonstitution geeignete Strategie heraus: Der paratextuelle Rahmen suggeriert, seine Text-Ebene sei ›realer‹ als die des Haupttextes (der Titel »Carta a mi hermano« autorisiere die autobiographische Lektüre), während jedoch beide als Texte gerade nicht der Extratextualität zugeordnet werden können. Der peritextuelle Rahmen gehört der Textwelt an, fungiert aber als ein Referentialisierung
169 Genette formuliert jedoch die Hypothese, ein Epigraph könne auch dem Protagonisten eines Buches zugeordnet werden. Vgl. Genette (2001), S. 150f. 170 Vgl. ebd. 171 Vgl. Goytisolo (1968), S. 7-13.
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suggerierender »Trompe-l'œil«172, wie Magrittes Weiterentwicklung von »La trahison des images« illustriert (vgl. Abb.6). Abb. 6: René Magritte, »Les deux mystères«
© VG Bild-Kunst, Bonn 2011.
Goytisolos Gedicht »Imagen de Les Halles« aus Taller de arquitectura verdeutlicht anhand einer prononcierten Referentialisierung und der gleichzeitigen Betonung der Textualität abschließend diese vom autorisierenden Rahmen losgelöste Kondition der Gedichte als Texte. Der 1977 veröffentlichte Gedichtband verhandelt urbane Themen. Hier wird das Palimpsest-Prinzip, das Goytisolos spätere Veröffentlichungen prägt, zum ersten Mal offensichtlich: Vierunddreißig bereits publizierte Texte werden zum Teil variiert und um elf Erstveröffentlichungen ergänzt.173 Goytisolos Vorwort schreibt die Texte des Bandes in einen konkreten Entstehungskontext ein, nämlich seine Mitarbeit am »Taller de Arquitectura« des Architekten Ricardo Bofill,174 welche in den Titeln der beiden Abschnitte II, »Relato compuesto con poemas y fragmentos de un diario de trabajo«, und III, »Sobre algunos proyectos«, zum Ausdruck kommt. Julià liest die 172 Vgl. das gleichnamige Gedicht, das Biedma »A la pintura de Paco Todó« widmet. 173 Riera/García Mateos (2009), S. 989. 174 Vgl. Goytisolo, José Agustín (1977), »El porqué«, in: ders., Taller de Arquitectura, Barcelona: Lumen, o.S.: »En fin, que casi sin darme cuenta, entré a formar parte del Taller de Arquitectura […]. De mis lecturas, estudios e informes, de mis conversaciones con Ricardo Bofill […] fui acumulando una serie de imágenes y temas que luego expresé en muchos de los poemas aquí reunidos.«
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Texte des zweiten Abschnittes intermedial mit den korrespondierenden Projekten des Architekten.175 »Imagen de Les Halles« bezieht sich demnach auf die schließlich nicht durchgeführten Pläne Bofills für den Umbau der Pariser Halles.176 Während Julià aus dem »diálogo interartístico« die Lyrik als »[…] documento ideológico que permite al poeta expresar sus ideas sobre la arquitectura y, en último término, sobre su imagen ideal de la ciudad que en ella habita«177 ableitet, sieht Rita Imboden im Taller de arquitectura nicht nur eine extratextuelle Referenz auf den Entstehungszusammenhang der Gedichte, sondern im Begriff des »taller« auch den Ort der Produktion eines »proceso continuo« der »obra en marcha«178. Das verhandelte Medium Architektur setzt somit die Lyrik en abyme: Die Veröffentlichungen müssen als Werkstattberichte angesehen werden; die Überschreibungen und Neuverortungen der Texte konzipieren sie als architektonische Konstruktionen. Somit kann den einzelnen Gedichten des Taller de arquitectura zwar ein durch den Paratext stabilisierter konkreter Referent zugewiesen werden, im Medium der Sprache bleibt seine Betrachtung aber an utopische Traumsequenzen gebunden. In »Imagen de Les Halles« mag der Traum mit der gescheiterten Umsetzung des Entwurfes von Bofill begründet und der Sprecher somit als Figur des realen Architekten identifiziert werden. Zugleich wird das lyrische Ich in der Rolle des Schaffenden jedoch auch als Textproduzent und somit als Autor indiziert. Die Sprechsituation ist als Spaziergang durch Paris konstituiert (»Yo recorrí Les Halles«, V.1), bei dem der Sprecher über Isotopien der Wahrnehmung (»ví«, V.2,24; »percibí«, V.14; »contemplé«, V.51), der Imagination (»imaginé«, V.8; »inventé«, V.39) und der schöpferischen Veränderung (»tracé«, V.38; »abrí«, V.41; »esculpí«, V.42) als Architekt einer städteplanerischen Utopie und zugleich als poeta vates charakterisiert wird: »rehíce las fachadas y también los telones de ese sueño / puse un manto de césped de las casas al parque / y lo contemplé todo« (V.49-51).
175 Es handelt sich um die intermedialen Beziehungen zwischen »Ventana a la plaza de San Gregorio« und dem von Bofill entworfenen Wohnhaus an der Plaza San Gregorio Taumaturgo in Barcelona, »Crónica de un asalto« und das Viertel »Barrio Gaudí« in Reus, »En el Xanadú« und »La muralla roja« sowie die gleichnamigen Gebäudekomplexe in Calpe, schließlich »Walden« und das Gebäude »Walden-7« in Sant Just Desvern. 176 Vgl. Julià (2004c). 177 Ebd., S. 158. 178 Imboden, Rita Catrina (2001), »José Agustín Goytisolo: Como una lluvia antigua«, in: Fröhlicher u.a. (2001), S. 515-528, hier S. 517.
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Mit dem vorletzten Vers, dem modifizierten Zitat aus der Genesis, steht das lyrische Ich als göttlich inspirierter Schöpfer auf dem Höhepunkt des Geschaffenen, bevor es erkennt, dass alles Imagination war, eben nur eine »Imagen de Les Halles«: »y desperté« (V.52). Mit diesem Rückgriff auf das barocke VanitasMotiv und die Konzeption des Lebens als Traum,179 formuliert das in autorisierende Referenzen eingebundene Gedicht als poetische Kommentierung von Bofills »Taller de Arquitectura« eine Absage an die Referentialisierung. Die schöpferische Tätigkeit erweist sich als Traum und könnte in dieser Hinsicht auf das gescheiterte Projekt Bofills bezogen werden. Gleichzeitig zeigt »Imagen de Les Halles« anhand der Analogie Architekt-Dichter jedoch auf, dass die Text-Produktion ohne ›reales‹ Äquivalent bleibt.
7.3 D ER S TATUS
DER
R EFERENTIALITÄT
Wie die vorherigen Kapitel gezeigt haben, transgredieren die hier analysierten Texte Schwellen zwischen Extratextualität und Text, wobei unterschiedliche Strategien der Autorisierung die besondere, autofiktionale Konstitution des lyrischen Ich fokalisieren: Sei es die Inszenierung als Autor- (bei Biedma) oder als Leserfigur (bei Barral), sei es die Auseinandersetzung des Sprechers mit der (mangelnden) Körperlichkeit der Sprache (bei González), der zyklische Aufbau des Textlabyrinths, der den Sprecher darin verloren gibt (bei Ferrater), oder die Setzung von peritextuellen Rahmen und deren Überschreitung (bei Goytisolo). In allen Fällen hat sich ein prekäres Verhältnis einer behaupteten Identität des Sprechers mit dem Autor und einer prononcierten Textlichkeit der Aussage herausgestellt. Unter Rückgriff auf Georg Christoph Tholens Konzept der »medialen Zäsur«180 begreift Claudia Hammerschmidt »Autorschaft als Zäsur«, welche in einer im Text verhandelten Verlusterfahrung zum Ausdruck komme181 und für die die Struktur der mise en abyme paradigmatisch sei. Wenn Tholen medientheoretisch herausarbeitet, dass Wahrnehmung »stets medial zäsuriert[…]«182 sei, so überträgt Hammerschmidt dieses Aneignungsproblem auf das Medium Schrift
179 Vgl. Calderón de la Barca, Pedro (2000) [1636], La vida es sueño, ed. de Ciriaco Morón, Madrid: Cátedra. 180 Vgl. Tholen, Georg Christoph (2002), Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 181 Vgl. Hammerschmidt (2010), u.a. S. 403f. 182 Vgl. Tholen (2002), 169.
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und die Mimesisproblematik der Autorschaft. In dieser Hinsicht scheint der »Agon zwischen Autor und Text«183 in den vorliegenden Gedichten in der Autorisierung eines lebensweltlichen Bezuges und seiner parallelen Unterminierung als Ausprägung eines mangelnden auktorialen Zugriffs ausagiert zu werden. So ist zum Beispiel auffällig, dass im Falle der referentiellen Frauennamen bei Goytisolo und Ferrater die extratextuelle Referenz mit einer literaturhistorischen Konnotation einhergeht. »Julia« und »Helena« werden nicht unwesentlich über ihre literaturhistorischen topoi definiert. Die Erwähnung des Autornamens bei Biedma und González sichert als »Signatur« zum einen »Authentizität als Individualität«184, zugleich wird jedoch die Korrelation von Text und Extratextualität (bei Biedma) und generell von Sprache und Außersprachlichem (bei González) in Frage gestellt. In den vorliegenden Texten wird diese Aneignungsproblematik jedoch weniger als mediales (wie bei Tholen), sondern als semiotisches Phänomen verhandelt. Was lässt sich nun zusammenfassend aus diesen Beobachtungen über den Status der Referentialität ableiten? Gil de Biedma notiert in seinem Tagebuch über Compañeros de viaje: »[…] [E]n rigor, ya no tendrá estructura, sino que describirá una trayectoria: la de la historia de mi adolescencia, su crisis final y mis primeros pasos por la edad adulta.«185 Die in Kapitel 5 dargelegte zyklische Lektüre der Gedichtbände wird durch diese Aussage Biedmas in einen autobiographischen Intentionszusammenhang gestellt – wie schon durch Barrals Bekenntnis zur »confesión autobiográfica«. In dieser Hinsicht knüpfen die Texte an die autobiographische Tradition einer Poetik der Bekenntnisse186 und an die Beichte aus christlichem Kontext an: Auch Biedmas »Infancia y confesiones« und González’ ironisches »Confesiones de un joven problemático« stehen in dieser Diskurstradition – affirmieren oder negieren sie. Wenn die Konfession, den Krieg als Abenteuerspielplatz erlebt zu haben, von den Sprechern in Barrals »Las alarmas« und Biedmas »Intento formular […]« rückblickend apologetisch kommentiert wird, markiert dies den Versuch, dissonante Bewertungen der Vergangenheit im Hinblick auf ein kohärentes Ich in der Gegenwart des Sprechens zu integrieren:
183 Hammerschmidt (2010), Untertitel. 184 Wetzel (2000), S. 495. 185 Gil de Biedma (2001b), S. 228. 186 Vgl. das »Leitparadigma der Autobiographie«: die Confessiones des Augustinus und Rousseaus Confessions. Wagner-Egelhaaf (2005), S. 112.
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...Cuando se es niño
Quien me conoce ahora
se pierden fácilmente los respetos
dirá que mi experiencia
y no se tiene miedo
nada tiene que ver con mis ideas,
sino a la brutalidad más inmediata.
y es verdad. Mis ideas de la guerra cambiaron después, mucho después de que hubiera empezado la posguerra
(Barral, »Las alarmas«, V. 59-63)
(Gil de Biedma, »Intento formular […]«, V. 53-61)
Besonders die analysierten Referentialisierungen und Aktualisierungen eines spezifisch autobiographischen Erinnerungsdiskurses, die eine unmittelbare mimetische Repräsentation187 suggerieren, stellen außerdem dezidiert strukturelle und inhaltliche Kontinuitäten zu autobiographischem Schreiben allgemein und, im Falle Biedmas und Barrals, zu ihren eigenen autobiographischen Texten – den Memoiren und dem Tagebuch – her. Die untersuchten Biographeme haben sich in einer zyklischen Lektüre als Fragmente der (Re-)Konstruktion eines Lebensweges integrieren lassen und können insofern, in Kombination mit den Autorisierungsstrategien, zu einer autobiographischen Lesart der Gedichte zusammengefügt werden, da sie Parallelen zur traditionellen Autobiographie herstellen, welche von der Möglichkeit einer retrospektiven Integration des Subjektes ausgeht. In Biedmas Gesamtausgabe Las personas del verbo lassen sich sogar nahezu alle Gedichte als Beitrag zur Biographie einer Sprecherfigur namens ›Jaime Gil de Biedma‹ lesen: von der Kindheit und Jugend bis zum Alter und Tod der mit dem Autor homonymen Figur.188 Bei Barral ist eine klare Verschiebung der thematischen Ausrichtung der Gedichte von der Kindheit bis zu dem an den Enkel adressierten Gedichtband (Lecciones de cosas. Veinte poemas para el nieto Malcolm), parallel zum Älterwerden des Autors, zu erkennen. Biedmas »Después de la muerte de Jaime Gil de Biedma« durchbricht schließlich die logische Grenze dieser autobiographischen Korrelation. Nun erscheint unter anderem mit Hayden White eine der Wirklichkeit getreue Mimesis als Unmöglichkeit, da jegliche Erzählung, seien ihre Inhalte fiktiven oder faktischen Ursprungs, als narrativ überformt und als von ihrer Poetik determiniert gilt.189 Auch Cabanilles sieht die Figur ›Biedma‹ als »ficción auto187 Vgl. Iser (1998), S. 683. 188 Cabanilles (1989), S. 144. 189 »[…] [W]eder die Form noch die Erklärungskraft der Erzählung leitet sich von den verschiedenen Inhalten her […]. Tatsache ist, dass Geschichte […] in der gleichen Weise sinnvoll gemacht wird, wie der Dichter oder Romanautor dies versuchen, d.h.
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biográfica« und damit als »ilusión de realidad«190 und »construcción de un simulacro«191. Die in den Gedichten vorliegende strukturelle Rahmung der Biographeme lässt nun ein »emplotment«192 ›Autobiographie‹ erkennen, welches die Texte paradoxerweise gerade von der Mimesis des Autorlebens entfernt. Die formell und inhaltlich als autobiographische Strukturen identifizierten Aspekte der Gedichte lassen sich in ihrer Übertragung der autobiographischen Plotstruktur in die Lyrik vielmehr als Mimesis autobiographischen Schreibens fassen: Das Text-Ich entstünde damit als Simulakrum aus der Simulation einer Autobiographie. Schon die mise en abyme in »Después de la muerte de Jaime Gil de Biedma« verweist auf die Unentscheidbarkeit, ob das lyrische Ich mit dem Autor identisch ist, oder nicht. Dies ist der Kulminationspunkt einer Poetik, welche mit dem Einbringen einer realen Identität spielt, die Entscheidung für oder gegen sie aber zugleich unmöglich macht, sie eben en abyme setzt. Autofiktion und Metalepse haben als »verwickelte Hierarchien«193 eine fiktionsironische Funktion: »[…] [E]l personaje del autor irrumpe de forma sorpresiva y metaléptica como el autor del texto que estamos leyendo, haciendo así hincapié en la artificialidad del relato.«194 Daher stärkt die Plotstruktur der Autobiographie das Hervortreten eines Text-Subjektes, welches sich als Simulakrum vom Autor abhebt, »[…] weil es durch seinen Nachahmungshabitus eine Gegenständlichkeit vortäuscht und diese
indem sie dem, was ursprünglich als problematisch oder geheimnisvoll erscheint, die Gestalt einer erkennbaren, weil vertrauten Form geben.« White, Hayden (1994), »Der historische Text als literarisches Kunstwerk«, übers. von Brigitte Brinkmann-Siepmann und Thomas Siepmann, in: Conrad, Christoph/Kessel, Martina, Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zu einer aktuellen Diskussion, Stuttgart: Reclam, S. 123-157, hier S. 154. 190 Cabanilles (1989), S. 152. 191 Ebd., S. 153. 192 White (1994), S. 127, 129. 193 Hofstadter, Douglas R. (21992) [1979], Gödel, Escher, Bach ein Endloses Geflochtenes Band, München: dtv, S. 12. 194 Toro u.a. (2010b), S. 21. Der Begriff der Fiktionsironie wird hier nach der Definition von Heimrich als »›Selbstwiderspruch des Fiktiven‹« verwendet: »Er besteht darin, dass in diesem Moment der ›Schein‹, der Schein historischen Berichtens des fiktionalen Erzählens oder der Schein tatsächlicher Wirklichkeit des dramatisch Dargestellten sich selbst widerspricht.« Heimrich, Bernhard (1968), Fiktion und Fiktionsironie in Theorie und Dichtung der deutschen Romantik, Tübingen: Max Niemeyer, S. 69 (Herv. i.O.).
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zugleich als Täuschung zu erkennen gibt.«195 Die Mimesis autobiographischer Plotstrukturen wird paratextuell vorübergehend gestärkt: Bei Ferrater und González vor allem über Interviews, bei Goytisolo über explikative Vorworte und bei Biedma und Barral durch die Folie autobiographischer und autofiktionaler Prosatexte. Somit wird eine Autobiographie simuliert, in der die Konstruktion des Ich nur mehr als »illusionäre Gegenständlichkeit«196 erscheint. Ausgehend von der Iser’schen Begriffskette Mimesis, Simulakrum und Phantasma lässt sich nun zeigen, dass die hier behandelten Texte in ihrem vermeintlich mimetischen Verhältnis zum Autorleben ein emergentes Element ausbilden. Jenseits erkennbarer Referenzen197 wird der performative Selbstentwurf zu einem Phantasma, welches extratextuell agiert. Die erwähnten psychoanalytischen Interpretationsansätze, welche in den Fällen des Todes der Autor-Figur besonders brisant sind, werden von Aussagen der Autoren gestützt. Biedma spricht von einer »[…] tentativa de inventarme una identidad […]«198, verneint jedoch zugleich eine einfache autobiographische Identitätsbeziehung zwischen imaginierendem Autor und imaginierter Figur namens Biedma: »[…] cuando un poeta habla en un poema, quizá no hable como personaje imaginario, pero como personaje imaginado siempre.«199 Die Gedichte selbst verweisen als Pendant zu den autobiographischen Zeichen mit zahlreichen Zeichen der Selbstrepräsentation auf die Textlichkeit der Aussage und stärken deren Fiktionalität: »No es cuestión de que el material usado sea realmente usado (proceda de la vida o del plagio), sino de la forma en que se usa […].«200 So hat beispielsweise die Analyse der Erinnerungsproblematik einen den Gedichten inhärenten Zweifel an der Erinnerungsfähigkeit des lyrischen Ich ergeben und den Konstruktionscharakter von Erinnerung und Identität aufgezeigt. Die Unsi-
195 Iser (1998), S. 676. Auch an der Veränderung des Titels von Biedmas tagebuchartigem Retrato del artista en 1956 (1991) lässt sich bereits eine Entfernung vom Authentizitätspostulat erkennen. Der letzte Teil war 1974 bereits als Diario del artista seriamente enfermo veröffentlicht worden. Dieser ursprünglich autobiographische Rahmen des Tagebuchs wird im Retrato del artista en 1956 dann (in Anlehnung an Joyce) zu einem Portrait, dessen Autorbezug im Titel nicht mehr explizit ist. 196 Iser (1998), S. 676. 197 Vgl. ebd., S. 680. 198 Gil de Biedma (2003), Text auf dem Buchumschlag. 199 Barral u.a. (2001), S. 257. 200 Teruel Benavente (1995), S. 175. Teruel Benavente sieht trotzdem einen autobiographischen Bezug, der in der »[…] ambivalencia de la identidad o la dura convivencia con la figura de tu doble« liege (ebd.).
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cherheit des lyrischen Ich über die Authentizität seiner Erinnerungen, die Irrealität des Erlebten, die mangelnde Speicherkapazität des Gedächtnisses und die bewusste Darstellung und Relativierung einer Erinnerung in der Gegenwart des Sprechens lassen die Sprecher unzuverlässig erscheinen. Bei Barral werden besonders Wahrnehmungen des erinnerten Ich in den Dienst einer künstlerischen Ertüchtigung des erinnernden Sprechers gestellt. Die gegenwärtige ästhetisierte Darstellung wird damit als different vom Erleben markiert, zum Beispiel in »Las alarmas«: »(No se sabía / aún que fuese un ejercicio literario)« (V.29/30). Auch auf die Beschreibung der Badenden in »Baño de doméstica« trifft dies zu: »admitiré que sea / nada más que un recuerdo esteticista« (V.24/25). Schon die metaphorische Beschreibung des Badeschaums als »la violada rúbrica de espuma« (V.4) stellt die betrachtete Szene als produzierte »rúbrica« und mithin als Text dar. Diese Selbstreflexivität legt die Gemachtheit des Textgegenstandes offen201 und stellt die Identitätsbildung als Simulakrum aus. Die Modellierung der Schreibsituation als Charakteristikum autobiographischer Texte,202 wie sie bei Goytisolo mehrfach in der Form des Briefgedichtes erscheint,203 wird für die Simulation der Autobiographie in der Lyrik nun gerade relevant, um die Referentialität zu hinterfragen. Eine Strophe aus Biedmas »Pandémica y celeste« illustriert, in Ergänzung zu einigen kürzeren Passagen, die bereits genannt wurden, die Textlichkeit der Gedichtaussage: Imagínate ahora que tú y yo muy tarde ya en la noche hablemos hombre a hombre, finalmente. Imagínatelo, en una de esas noches memorables de rara comunión, con la botella medio vacía, los ceniceros sucios, y después de agotado el tema de la vida. Que te voy a enseñar un corazón, un corazón infiel,
201 Vgl. Iser (1998) S. 678. 202 Vgl. Wagner-Egelhaaf (2005), S. 59. 203 Vgl. »Piazza Sant’Alessandro, 6«: »Querida Carmen […] /[…]/ pienso en ti, en tus pestañas, en tu abrigo, / y te escribo enseguida / para que leas esto y me recuerdes, / bebas un trago, y otra vez me olvides« (V.1,58-61).
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desnudo de cintura para abajo, hipócrita lector –mon semblable, –mon frère! (Gil de Biedma, »Pandémica y celeste«, V.1-12)
Das Gedicht verweist auf den Text als Produkt sowie auf die Rolle von Autor und Leser und zeigt dabei die Grenzen von Binnen- und Außenpragmatik auf. Vor allem die Überschreitung der binnenpragmatischen Ebene des Gedichtes, die Ansprache nicht nur eines Rezipienten, sondern des Lesers als Adressaten der Sprecherrede, konstituiert einen pragmatischen Kontext der Kommunikation von Autor und Leser über das Medium des Gedichtes. Die kommunikative Situation wird zugleich in einen Gesprächskontext eingeschrieben (»hablemos hombre a hombre, finalmente«, V.3), der unmittelbar vor dem Vollzug steht: »Que te voy a enseñar un corazón« (V.9). Auch das Ambiente dieser intimen Konfession ist genau vorgegeben (»[…] con la botella / medio vacía, los ceniceros sucios«, V.6/7), zugleich aber als rein imaginäres Aufeinandertreffen entlarvt: »Imagínate« (V.1), »[i]magínatelo« (V.4). Der Inhalt des Gespräches (oder wenigstens der Inhalt der Sprecherrede der Autorfigur) wird trotz dessen in den folgenden Strophen kolportiert, obwohl offensichtlich kein Gespräch »hombre a hombre« möglich ist. Der Sprecher affirmiert also zum einen die Überschreitung der Erzählebenen hin zu einer direkten Kommunikation zwischen Autor und Leser, macht aber zum anderen deutlich, dass diese unmöglich und rein imaginär ist. Zudem wird durch den mehrfachen Rekurs auf Baudelaire die lyrische Kommunikationssituation der Distanz noch einmal gedoppelt und reflektiert. In dem zu einem Drittel übersetzen Zitat aus Les Fleurs du Mal (»hipócrita lector –mon semblable, –mon frère!«, V.12) wird der Sprecher selbst als Leser indiziert, der nun die Ansprache Baudelaires »[a]u Lecteur«204 wiederum an seinen Rezipienten weiterreicht und somit gleich zweifach deutlich macht, dass es sich bei seiner Rede um einen Text handelt. Die postulierte Gleichheit zwischen Sprecher und Angesprochenem, zwischen binnenpragmatischem Autor und Leser (»–mon semblable, –mon frère!«) macht beide Kommunikationsinstanzen zu Komplizen, die sich der Besonderheit lyrischer Rede bewusst sind und in der Fortsetzung der imaginierten Qualität der Konfessionssituation auch deren Inhalt auf rein textlicher Ebene verorten können, obwohl er durch den intertextuellen Verweis auf
204 Vgl. Baudelaire (1999), S. 37f.
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Baudelaires Tagebücher (Mon cœur mis à nu)205 als autobiographischer behauptet wird (»un corazón infiel, / desnudo de cintura para abajo«, V.10/11).206 Mit einer vergleichbaren Anrede des Lesers beginnt Goytisolos Salmos al viento. Das Quevedo-Zitat, das dem Haupttext als Epigraph vorangeht, besteht aus den ersten drei Versen der »Letrilla satírica 654«: »Oyente, si tú me ayudas / con tu malicia y tu risa / verdades diré en camisa«.207 Der vierte (nicht mehr zitierte) Vers beendet den Satz mit »poco menos que desnudas«. Der estribillo der letrilla wird neunmal wiederholt: »Ello dirá / y si no / lo diré yo.« Der Sprecher wirbt also um die Komplizität der Adressaten und verspricht ›halbnackte‹, gerade eben mit dem Nachtgewand bedeckte Wahrheiten. Ganz im Sinne der Satiren Quevedos scheint sich in Goytisolos Salmos al viento der Autor an seine Leser zu wenden, um sie zur notwendigerweise komplizenhaften Lektüre208 seiner Gesellschaftskritik aufzufordern. Nun macht aber die peritextuelle Stellung der Quevedo-Verse aufmerksam auf den Realitätsstatus der Rede. So mag an der Schwelle zum Text der Autor einen Leseschlüssel vorgeben. Dieser stellt jedoch zunächst einmal ›nur‹ eine weitergereichte Ansprache dar: Diejenige Quevedos im Stile der Trobadore an seine Hörer wird zu der Goytisolos an seine Leser. Der Rückgriff auf Quevedo im Paratext macht somit den Textcharakter der folgenden Gedichte offensichtlich. Jenseits jeglicher Beziehbarkeit auf die Lebenswelt untergräbt das Epigraph den Versuch einer poesía social als »poesía como comunicación«. Die Ansprache des »oyente« betont die Kommunikationssituation der Distanz, der sich der Leser Goytisolos gegenüber sieht; die Aktualisierung von Quevedos Text und die dadurch stattfindende mittelbare Botschaft des Zitats macht aufmerksam auf die Textualität des Folgenden. So kann nun zwar das Epigraph als Aufforderung zum maliziös-komplizenhaften Lesen der folgenden Texte verstanden werden, die Figur des Autors tritt jedoch hinter den Text eines anderen Autors zurück.
205 Baudelaire, Charles (2008) [1887], Mon cœur mis à nu, éd. par Antoinette Weil, Paris: La Cause des Livres. 206 Das Baudelaire-Zitat wird im Übrigen auch von Goytisolo aufgegriffen: In »Quiero ser gato« dient es im Gegensatz zur Solidarisierung in »Pandémica y celeste« der ironischen Degradierung der Leserfiguren: »[…] lectores hipócritas, non frères, / non semblables, en fin […]« (V. 22/23). 207 In der zweiten Auflage, nämlich der Aufnahme von Salmos al viento in die Gesamtausgabe der ersten drei Veröffentlichungen Goytisolos, Años decisivos von 1961, wird das Zitat verkürzt auf »…verdades diré en camisa«. Vgl. auch Quevedo (1981), S. 706. 208 Vgl. Kapitel 6.3.
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Aus diesem in den Texten nachzuvollziehenden selbstbezogenen Diskurs geht ein performatives Phänomen hervor, das die autobiographische Mimesis über »Repräsentation«, »Als Ob« und »aufgedeckte Täuschung«209 in ein Phantasma210 überführt, welches aus dem Text hinausreicht. Die vom Repräsentationsgegenstand ›Biedma‹ oder ›Barral‹, ›González‹, ›Ferrater‹ oder ›Goytisolo‹ gelöste Darstellung schafft sich eine eigene Realität als Handlung, die ihren »[…] Objektcharakter dadurch verliert, dass der Diskurs zu erkennen gibt: alles, was ist, ist gemacht.«211 »Concebimos el funcionamiento del eje autorreferencial en el discurso poético como una mediación, por la cual el proceso en el cual el yo deviene lenguaje para decir-se y decir el mundo se exhibe explícitamente como matriz discursiva y principio constructivo del poema.«212
Jenseits aller beobachteter Referentialität, jenseits aller »effets de vie«213, verweisen die Gedichte also deutlich auf ihren Textcharakter und stellen damit gerade im Rahmen ihrer Konstitution als Biographie eines Individuums einen Sonderfall der »biographischen Illusion« dar, mit der Bourdieu das Verständnis eines Lebens als »Kursus« (oder »trayectoria« im Biedma’schen Sinne) bezeichnet, also einen sinnvollen, in Anfang, verschiedene Abschnitte und ein Ende gegliederten zeitlichen Ablauf, der besonders Biographien und Autobiographien eigen ist.214 Auch wenn Bourdieu eine derartige ›Lebens-Lauf‹-Produktion im doppelten Sinne des persönlichen und öffentlichen curriculum wesentlich als Produkt der modernen Gesellschaft betrachtet, mithilfe dessen sich der Mensch im sozialen Raum verortet, so lässt sich doch im Zusammenhang mit der Frage nach dem Status der Referentialität in lyrischen Texten mit Bourdieu von einer »rhetorischen Illusion«215 sprechen, mit der Lebensgeschichten produziert werden. Dies deckt sich mit der von Ricœur beschriebenen »narrativen Identität«:
209 Vgl. Iser (1998), S. 683. 210 Ebd., S. 678. 211 Ebd. 212 Scarano/Ferrari (1996), S. 13f. 213 »Par ›effets de vie‹, j’entends les ›effets de réel‹ qui tendent à faire croire au lecteur que c’est bien le récit de la vie de l’auteur qu’il est en train de lire.« Darrieussecq (1996), S. 370. 214 Bourdieu, Pierre (1990) [1986], »Die biographische Illusion«, übers. von Eckart Liebau, in: BIOS 3, S. 75-81, hier S. 75. 215 Ebd., S. 76.
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Ricœur versteht Identität (im Anschluss an Hannah Arendt) als narratives Konzept, da man die Frage nach Identität nur durch die Erzählung eines Lebens beantworten könne. Daraus ergibt sich sein Verständnis von Identität als temporaler und dynamischer Struktur, als Selbst (ipse) und nicht als Selbes (idem). Diese Struktur führt zur unablässigen erzählerischen Refiguration des Selbst eben auch in der Autobiographie.216 In den vorliegenden Gedichten lässt darauf vor allem die doppelte Fokalisierung der Erinnerungssequenzen durch ein erinnerndes und ein erinnertes Ich schließen. In einem Kommentar zu Bourdieu schreibt Keijo Rahkonen, dass im Sinne eines von Kontingenz geprägten Lebens eine realistische Interpretation von Biographien zu Gunsten ihrer Auffassung als performative Erzählungen zu ersetzen sei.217 Eine (Auto-)Biographie wäre in dieser Sichtweise ein círculo vicioso, da der performative Charakter einer Aussage wie »dies ist meine Autobiographie«218 den Text zu einer solchen macht und damit innerhalb dieser Definition mit Sinn füllt, unabhängig von einer objektiven ›Wahrheit‹. Biedma beschreibt in seinem Tagebuch eine solche self-fulfilling prophecy, in der das Schreiben den Verlauf der Extratextualität konditioniert und einen unlösbaren Zirkel zwischen beiden Ebenen eröffnet: »[…] Ahora, si pienso en mi vida durante los últimos diez meses, casi me siento tentado de creer que llevar un diario es una manera de provocar los acontecimientos. […] Mil novecientos cincuenta y seis me parece un año simbólico y decisivo, y en gran parte lo atribuyo al diario.«219
Indem der Autor sein Leben im Jahr 1956 autobiographisch festhält und den Ereignissen einen Sinn gibt, den er auch für veröffentlichungswürdig hält, interpretiert und selektiert er und lässt somit die Konklusion unausweichlich werden,
216 Vgl. Ricœur (1991), S. 395f. 217 Rahkonen, Keijo (1991), »Der biographische Fehlschluss«, in: BIOS 4, S. 243-245, hier S. 244. Unter Rückgriff auf die von Arthur Terry verfasste Einleitung zu Ferraters Les dones i els dies stellt auch Perpinyà fest: »[…] [P]lanteja la unitat com un artifici de l’art: a diferència de les vides reals, les ›vides‹ literàries són cohesives; però, paradoxalment, una ›vida‹ literària s’assemblarà a una vida real no quan sigui fragmentària com ella, sinò quan no ho sigui, quan sigui presidida per un ordre i una lògica de les coses que, en el món, són inexistents, inconscients o molt més imperfectes.« Perpinyà (1997), S. 188f. (Herv. i.O.). 218 Rahkonen (1991), S. 244. 219 Gil de Biedma (2001b), S. 208.
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dass das Jahr »simbólico y decisivo« gewesen sei. Daraus folgt eine doppelte »biographische Illusion« für die Gedichte: Als Biographeme einer simulierten Autobiographie provozieren sie die ›Illusion einer biographischen Illusion‹. Der Leser verfällt gleich zweifach dem Glauben an eine Referenz, die doch nur performativ in ihrer Äußerung bestehen und ihren Sinn nicht außerhalb ihrer selbst finden kann. Jenseits einer ›einfachen‹ Pragmatisierung tritt aus den Texten somit ein performatives Autor-Phantasma als Selbst-Entwurf hervor, das als Konstruktion einer autobiographischen Identität im hybriden autobiographischen Raum ein bewusstes Spiel mit referentiellen und fiktionalen Elementen eingeht. Autobiographische Zeichen werden somit nicht nur durch Verweise auf ihre Textlichkeit und Produziertheit relativiert, vielmehr wird das Verhältnis von Extratextualität und Text durch die doppeldeutigen Konstruktionen umgekehrt. Die simulierende Aneignung eines autobiographischen Diskurses in den Gedichten verstärkt die Distanz zwischen der Figur und dem Autor, statt sie zu verringern. Besonders die fiktionsironische und autofiktionale Struktur der Metalepse, die in unterschiedlichen Ausprägungen bei Barral, Biedma, Ferrater, González und Goytisolo beobachtet worden ist, spielt die Autobiographie aus. Die häufig konstatierte »afinidad entre poeta y personaje«220 muss als »afinidad entre personaje y poeta« umformuliert werden. Nicht der Autor ist Vorbild für einen autobiographischen Text, sondern das autofiktionale Gedicht wird Ausgangspunkt eines phantasmatischen Selbstentwurfes: »Por mi parte, sé que quien habla en mis poemas es un personaje de ficción, que trata vanamente de imitarme, que intenta incluso hacerse pasar por mi mismo, disfrazándose con mis trajes.«221 Die Figur macht sich
220 Duprey, Jennifer (2001), »La biografía imaginada en Las personas del verbo de Jaime Gil de Biedma«, in: Espéculo 19, o.S. http://www.ucm.es/info/especulo/numero 19/gilbiedm.html, 20.10.2011. Vgl. auch Rovira (2005), S. 119: »[…] [S]u personaje poético y él se parecen: el ›Jaime Gil de Biedma‹ de los poemas tiene unos conflictos perfectamente posibles en el hombre que es el autor de esos poemas.« 221 González, Ángel (1997), »Biografía«, in: Labra u.a. (1997), S. 99. Vgl. auch »Si yo ya he asumido la identidad que inventé, y esa identidad inventada se ha convertido en la mía propia […].« Jaime Gil de Biedma in einem Interview: Batlló, José (1982), »Jaime Gil de Biedma: el juego der hacer versos«, in: Camp de l’arpa 100, S. 56-64, hier S. 63. Auch Roland Barthes kehrt in seiner Schrift zum Tod des Autors das Verhältnis von Leben und Werk um und dreht »[…] das traditionelle Bedingungsverhältnis von Leben und Kunst um die eigene Achse.« Kolesch, Doris (1996), Das Schreiben des Subjekts. Zur Inszenierung ästhetischer Subjektivität bei Baudelaire, Barthes und Adorno, Wien: Passagen, S. 120. Barthes bezieht sich nicht spezifisch auf die
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selbstständig und verleibt sich den Autor ein. Das Text-Ich infiltriert222 die Extratextualität und stellt damit Autobiographie in der Lyrik im Speziellen, aber auch die Autobiographie im Allgemeinen, als mimetisches Genre in Frage.223 Damit stellt die lyrische Aneignung der Autobiographie das »Referenzbegehren« der autobiographischen Gattung und seine »Paradoxie« aus: Während die Autobiographie »gegen ihren Mangel (an Referenz)« anschreibt,224 funktioniert ihre Simulation in den lyrischen Texten als Dispositiv für die textuelle Modellierung von Subjektivität, nicht jedoch als eine Kategorie autobiographischer Repräsentation.225 Das diskursive ›Dispositiv der Autobiographie‹ wäre in diesem Sinne als ›Denkmodell‹ oder ›Denkanordnung‹ zu verstehen, als Medium der Subjekt-
Autobiographie, sondern stellt den Autor generell in eine Abhängigkeitsposition von seinem Text (und nicht umgekehrt!): Das Leben des Autors wird zu einer von seinen Texten her lesbaren »Bio-graphie«. Barthes, Roland (2006), »Vom Werk zum Text«, in: ders., Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 64-72, hier S. 70. 222 Koch verwendet den Begriff der »Infiltration« im Zusammenhang mit der Wirklichkeitsillusion des Kinos: Koch, Gertrud (1997), »Pygmalion – oder die göttliche Apparatur«, in: Mayer, Mathias/Neumann, Gerhard (Hrsg.), Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg: Rombach, S. 423-441, hier S. 433. 223 »Su condición marginal le ha permitido a la poesía dinamitar el fundamento último de la concepción referencialista de la autobiografía.« Cabanilles, Antònia (2000), »Poéticas de la autobiografía«, in: Romera Castillo, José (Hrsg.), Poesía histórica y (auto)biográfica (1975-1999). Actas del IX seminario internacional del Instituto de Semiótica literaria, teatral y nuevas tecnologías de la UNED, Madrid, UNED, 21-23 de junio de 1999, Madrid: Visor, S. 187-200, hier S. 194. Vgl. außerdem: »Autobiographie ist […] keine definierte Gattung der Lebensdarstellung, sondern ein Problem der Schrift (›graphie‹), deren Selbstrückbezüglichkeit (›auto‹) ein Eigenleben (›bios‹) hervorbringt.« Wagner-Egelhaaf (2005), S. 80. 224 Schabacher, Gabriele (2007), Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion ›Gattung‹ und Roland Barthes’ Über mich selbst, Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 348. 225 Limbeck umschreibt diese »vuelta de tuerca«: »[…] [E]ine Dichtung, die so sehr aus der Wirklichkeit schöpft, oder anders ausgedrückt, die so sehr zu einem Teil der Wirklichkeit und der Biografie des Autors wird wie die Gil de Biedmas, ist […] der Gefahr des Missverständnisses ausgesetzt, dem autobiographischen Kurzschluss […].« Limbeck (2004), S. 255.
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konstitution,226 das in den vorliegenden Texten zugleich simuliert und hinterfragt wird. Hier ist auch der Unterschied zu poetischen Selbst-Entwürfen der Romantik zu sehen: Aleida Assmann spricht in Bezug auf Wordsworth von der »Autobiographie als Autogenese«227. Damit zeigt sie, dass im poetischen Projekt Wordsworth’ die zwangsläufige Imagination der Autobiographie ausagiert wird, während das phantasmatische Text-Subjekt bereits einen neuen, gänzlich unabhängigen Status als agens erreicht hat. Ángel González’ vorletzter Gedichtband ist nach seinem ersten Gedicht Deixis en fantasma betitelt,228 womit der Begriff von der »Deixis am Phantasma« anzitiert wird, mit dem Karl Bühler das Verfahren bezeichnet, in der erinnernden oder fiktional imaginierenden Rede dieselben Zeigwörter und Verortungsmechanismen zu verwenden, ausgehend von der ego-hic-nunc-origo des Sprechers, wie in der sachbezogenen Rede, bei der sich Sprecher, Adressat und Zeigobjekte im selben physischen »Wahrnehmungsraum«229 befinden. Als Verweis auf das Abwesende ist die Deixis am Phantasma somit konstitutiv für Deiktika in literarischen Texten. Das Einleitungsgedicht des Bandes exerziert in den ersten Versen den Verweis am Abwesenden durch: »Aquello. / No eso. / Ni / –mucho menos‒ esto« (V.1-4). Das Gedicht macht auf Isotopie-Ebene deutlich, dass eine Deixis am Phantasma auch immer eine gedachte Transgression mit sich bringt, ein Überschreiten des physischen Hier hin zum Imaginierten, ein Versetzen der Vorstellung hin zu einem anderen Ort: »Lo que está en el umbral de mi fortuna« (V.6) und »[…] al borde de mí mismo« (V.11). Was auf der Schwelle zum Sprecher-Ich verortet ist, ist eben jenes im Titel genannte »fantasma«, »un sueño«
226 Hier klingt die Konzeption des Dispositiv-Begriffs als Machtinstrument wie bei Foucault (1978) und Giorgio Agamben mit: »Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern.« Agamben, Giorgio (2008) [2006], Was ist ein Dispositiv?, übers. von Andreas Hiepko, Berlin, Zürich: diaphanes, S. 26. 227 Assmann (2003), S. 101, 113. 228 Wegen ihrer späten Publikationsdaten sind die letzten beiden Gedichtbände von Ángel González nicht mehr in extenso in diese Analyse einbezogen worden. Deixis en fantasma erschien 1992, der letzte Band, Otoño y otras luces, 2001. 229 Bühler, Karl (1965) [1934], Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart: Gustav Fischer, S. 125. Bühlers Sprachtheorie wurde 1950 ins Spanische übersetzt: Bühler, Karl (1950), Teoria del lenguaje, trad. de Julián Marías, Madrid: Revista de Occidente.
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(V.21). Der Traum macht eine physische Transgression, die Überschreitung der Schwelle unmöglich. Was der Inhalt dieses Traumes ist, ob das Leben selbst als Traum erfahren wird oder was das traumhaft Vorgestellte, deiktisch Bezeichnete »aquello« (V.5) genau ist, bleibt offen. Die Ambiguität ergibt sich daraus, dass es sich sowohl um eine zeitliche als auch um eine räumliche Bezeichnung handeln kann; zentral ist, dass »aquello« präsent bleibt, eine »presencia que no ocupa espacio« (V.10).230 Die phantasmatische Kondition des Traumes erlaubt die Analogiebildung zum literarischen Text. Besonders in Zusammenhang mit einem Ich-bezogenen Diskurs wie in »Deixis en fantasma« erweist sich die egoorigo als doppelte Deixis am Phantasma: Zum einen verweist das Ich auf einen im Wahrnehmungsraum des Lesers nicht anwesenden Sprecher. Zum anderen erweist sich dieses referentielle Moment im Iser’schen Sinne als Phantasma, der autobiographische Diskurs in der Lyrik stellt heraus, dass seine Bezugnahmen rein phantasmatischer Natur sind.231 In den vorliegenden Gedichten ist die Simulation von Autobiographie also vor allem Strategie einer komplexeren lyrischen Poetik und nicht etwa Widerspiegelung narrativer Autobiographie. Gerade die hervorgehobene Produziertheit der Texte der Autoren legt nahe, eine Interferenz von Text und Extratextualität zu sehen, die weder mimetisch von der Extratextualität ausgeht noch als Simulakrum diese anscheinend abbildet. Vielmehr dringt der Text phantasmatisch in die Extratextualität ein. In dieser Form schaffen sowohl die Gedichte als auch die sie flankierenden Paratexte in Interaktion miteinander eine performative auto(r)biographische Figur, deren Abgleich mit der Extratextualität schwerlich möglich ist.232 Die Autobiographie als literarisches Dispositiv schreibt sich damit in ein
230 Vgl. Díaz de Castro, Francisco (2002), »Lectura de Deixis en fantasma«, in: Rivera (2002), S. 206-216, hier S. 207. 231 »Para Ángel González el poeta no existe, es el lector el que lo crea o lo inventa, tras la lectura de sus poemas.« Labra (2002), S. 252. 232 »[S]iempre he sostenido que los poetas no existen, salvo en la lectura. Si hablase como poeta les hablaría, en mi opinión, desde la nada. El poeta Ángel González, si es, estará en los libros como una posibilidad, como una propuesta al lector que será quien, en último extremo, decida su existencia o su inanidad.« González, Ángel (1987b), »Palabras pronunciadas en el acto de entrega del premio Príncipe de Asturias 1985«, in: ders. (1987a), S. 213-214, hier S. 213. Vgl. auch LaFollette Miller (1995), S. 20.
P RODUKTIONSASPEKT
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Verhältnis von Text- und Lebenswelt ein, in dem, wie Barral formuliert, »[…] uno no tiene más vida de lo que uno tiene escrito.«233 Letztlich problematisiert das autofiktionale Phantasma in der Lyrik somit deren eigene Fiktionalität. Paradoxerweise stellt sich damit die Interferenz, die von der Lebenswelt ausging, als Form heraus, die ihre extratextuelle Filiation besonders prägnant hinterfragt.
233 Barral, Carlos/Gil de Biedma, Jaime/Marsé, Juan/Moura, Beatriz de (2001) [1976], »Sobre el hábito de la literatura como vicio de la mente y otras ociosidades«, in: Gil de Biedma (2001c), S. 250-263, hier S. 253.
8 Fazit: Barcelona als lyrischer Interferenzraum
In dieser Arbeit sind für die Texte von Carlos Barral, Gabriel Ferrater, Jaime Gil de Biedma, Ángel González und José Agustín Goytisolo drei Dimensionen der Interferenz von Leben und Text herausgearbeitet worden. An die Betrachtung der lebensweltlichen Dimension der Interferenz durch Kontakte und Nähebeziehungen zwischen den Dichtern (Interferenz I) schloss sich am Beispiel der Sprecher-Biographeme eine Analyse der semantischen Dimension der Interferenz an, die Similaritäten zwischen den Texten als implizite Interferenzen aufgezeigt hat (Interferenz II). Die dritte Dimension der pragmatischen Interferenz wurde sowohl auf die Rezeptions- als auch auf die Produktionsseite des Textes bezogen (Interferenz III): Das besondere Verhältnis von Text- und Lebenswelt zeigte sich zum einen in einer engagierten Lyrik, deren nähesprachliche Textstrategien eine referentielle Komplizität mit dem Leser erfordern. Zum anderen stellt ein hervorgehobener Authentizitätsgestus die Fiktionalität des Text-Ich aus: Die Autofiktion produziert ein Phantasma der Autorfigur, welches gerade eine anti-referentielle Komplizität herausfordert. Das Paradigma der Interferenz verlangt also einerseits die komplizenhafte referentielle Lektüre, andererseits betont es die Unmöglichkeit der Referenz. Sowohl die Seite der Textproduktion als auch die der -rezeption agiert dabei subversiv: Während die Nähesprache den gesellschaftlich determinierten Zeichenprozess zugunsten des politisch Unsagbaren unterläuft, unterminiert die Autofiktion ihrerseits ihr eigenes Authentizitätspostulat. Dieser Gegensatz provoziert die Frage nach der Funktion dieser dreifach interferentiellen Lyrik: Hat sie mit Blick auf die Autofiktion eine ludische »afinidad con el juego«1 im Sinne eines »genre
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Toro u.a. (2010b), S. 16.
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pas sérieux«2? Oder orientiert sie sich am Pol der poesía social und verlangt eine »poesía como comunicación«? Die scheinbar gegensätzlichen Aspekte der Interferenz III lassen sich in Anlehnung an Michel Serres in einer übergreifenden These zur Interferenz zusammenfassen: Die interferentielle Textwelt, in der Texte verschiedener Autoren miteinander in Dialog treten, bilden ein Diskurskontinuum aus, in dem die Gedichte interagieren, miteinander kommunizieren und aufeinander verweisen. An die Stelle der Referenz tritt die Interferenz, die lebensweltliche Referenz wird ergänzt durch Interferenzen zu anderen Texten. Die drei Dimensionen der Interferenz bauen somit eine kollektive Identität auf: Über die einzelnen Gedichte dieses komplizenhaften Textuniversums hinweg wird eine gruppenspezifische Identität reiterativ konstituiert und performativ aktualisiert.3 Damit verorten sich die Texte einerseits in einem politisierten Kontext. Andererseits werden die einzelnen Textleben zu einem Phantasma der Autobiographie, welches aus einem übergreifenden Interferenzraum heraus – aufbauend auf die jeweiligen individuellen Textstrategien – zu einer kollektiven Inszenierung von »Lebenswissen«4 beiträgt. Die Interferenz als zweifaches Text-Phänomen lässt sich in diesem Sinne der Komplizität an einem »Gestus der Freundschaft«5 festmachen, welcher die lebensweltliche Interferenz der Autoren durch textstrategische Similaritäten, die in dieser Arbeit als ›implizite Interferenzen‹ untersucht worden sind, performativ
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Darrieussecq (1996). Darrieussecq versteht den nicht ernsthaften Charakter der Autofiktion als Gegenmodell zu einer Schreibweise, die »›illocutoirement engagée‹« ist (ebd., S. 378. Herv. i.O.). Vgl. auch folgende Aussage im Einleitungsartikel zur Ausgabe der Literaturbeilage der Zeitung El País, Babelia: »Los rasgos de la autoficción no son rígidos. Sus fronteras son brumosas. En España los escritores han optado por un carácter más escondido o lúdico, tensionando aún más el juego de la incertidumbre e indefinición de lo que es real o no, afirma Manuel Alberca, autor de El pacto ambiguo.« Manrique Sabogal, Winston (2008), »El Yo asalta la literatura«, in: Babelia 877, http://www.elpais.com/articulo/semana/asalta/literatura/elpepuculbab/200809 13elpbabese_3/Tes, 20.10.2011.
3
Bonet spricht von einem gemeinsamen »[…] Zeichenrepertoire […], in dem die kulturelle Gruppenidentität […] fortwährend bekräftigt werde.« Pohl (2003), S. 91. Vgl. Bonet (1994), S. 200.
4
Ette (2004), S. 12. Vgl. die Aussage Goytisolos in einem Interview: »Claridad es un libro autobiográfico, pero no mío, sino de toda una generación.« Vázquez Rial (1992), S. 21 (Herv. i.O.).
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Limbeck (2004), S. 251.
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ausagiert.6 Am deutlichsten wird ein ausdrücklicher Freundschaftsdiskurs bei Jaime Gil de Biedma. Vom Titel des Gedichtbandes Compañeros de viaje her, der zum einen auf die Gedichte als Reise- oder Lebensgefährten hin gelesen werden kann, zum anderen aber auch Begriff für die Sympathisanten der in Spanien zur Franco-Zeit im Untergrund aktiven Kommunistischen Partei war,7 erlangt das Wortfeld der kameradschaftlichen Freundschaft Bedeutung, da es direkt im ersten Gedicht, »Amistad a lo largo«, wieder aufgenommen und a lo largo des Buches und auch in Moralidades weitergeführt wird. Das Gedicht etabliert eine Gruppenidentität, welche durch die Ansprache eines Rezipientenplurals und das Vorherrschen der ersten Person Plural geprägt ist, so dass sich der Sprecher in die Gruppe, aber auch die Gruppe in seine Äußerungen integriert: »Mirad: / somos nosotros« (V.5/6). Die Einschreibung des lyrischen Ich in einen Gruppendiskurs wird nicht nur durch derartige pragmatische Deiktika gefördert, sondern vor allem auch durch eine auf bestimmte Begriffe gestützte Isotopie, welche in späteren Gedichten wiederkehrt. »Amistad« erscheint nach dem Titel ein weiteres Mal im Haupttext (V.4), »compañía« – »compañeros« tritt drei Mal (V.8,13,23), »presencia« (V.24) ein Mal auf. Hinzu kommen der Chiasmus »los unos con los otros« (V.36) sowie Verbalkonstruktionen wie »se conocen« (V.14) und »nos sabemos« (V.38). Insgesamt wird dieses Wortfeld der Gemeinschaft in Verbindung mit einer Häufung an Verben und Personalpronomen der ersten Person Plural entworfen, die in dem Vers »[…] estamos todos juntos« (V.29) zusammengefasst wird. Somit wird eine Gruppengemeinschaft konstituiert, die der Einsamkeit im einleitenden Satz des Gedichtes diametral gegenübersteht: »Pasan lentos los días / y muchas veces estuvimos solos« (V.1/2). Auch in »De ahora en adelante« bilden die Freunde eine eingeschworene, von gleichen Ansichten geleitete Gemeinschaft (»y no me encontré solo«, V.33), die gemeinsam den unan-
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Limbeck funktionalisiert seinen gelungenen Begriff vom »Gestus der Freundschaft« im Hinblick auf die lebensweltliche Freundschaft und politische Komplizität: »Die Gedichte selbst sind eine Form, die Freundschaft zu pflegen, sich über die gemeinsamen Erfahrungen und politischen Überzeugungen zu verständigen, sich der Solidarität zu versichern« (ebd.). Hier soll jedoch mehr von einer performativen Aktualisierung der Komplizität in allen drei Dimensionen der Interferenz die Rede sein.
7
Der Begriff Compañeros de viaje bezeichnete die Sympathisanten der im Untergrund agierenden kommunistischen Partei. Vgl. Mangini González (1987), S. 72. Masoliver Ródenas spricht von den »fellow travellers«. Masoliver Ródenas, Juan Antonio (1976), »El don de la elegía«, in: Camp de l’arpa 35-36, S. 12-24, hier S. 16 (Herv. i.O.).
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genehmen und unausweichlichen Aspekten des Lebens trotzen.8 Die Isotopie der Freundschaft beschränkt sich hier auf den zweiten Teil der zweiten Strophe, ist aber sehr dicht: Zum einen wiederholen sich die Begriffe aus dem Wortfeld der Kameradschaft und Freundschaft aus »Amistad a lo largo«, »[…] [a]migos míos / o mejor: compañeros […]« (V.25/26). Zum anderen wird die Zusammengehörigkeit durch die mehrfache Wiederholung des Verbes »querer« (in der Polysemie von ›wollen‹ und ›mögen‹) und ein untergeordnetes Wortfeld der Gleichheit ausgedrückt: »quieren lo mismo que yo quiero / y me quieren a mí también, igual / que yo me quiero« (V.27-29). In Moralidades wiederholt das einleitende Widmungsgedicht, »En el nombre de hoy«, die rekurrenten Begriffe »amigos« (V. 25) und »compañeros« (bzw. »compañeros de viaje«, V.26). Die Parallelen dieses Gedichtes zu »Amistad a lo largo« sind bereits besprochen worden,9 zu ergänzen ist, dass hier die Gemeinschaft deutlicher in einen politischen Rahmen gestellt wird. Mit »compañeros de viaje« wird nicht nur erneut auf die Kommunistische Partei Bezug genommen, sondern ein Gemeinschaft bildendes Kriterium der Angesprochenen ist auch ihre Bezeichnung als »señoritos de nacimiento / por mala conciencia escritores / de poesía social« (V.36-38). Die Isotopie der Freundschaft wird also über mehrere Gedichte, in der Rekurrenz von »amistad« und »compañeros« wieder aufgerufen, so dass die semantischen Entwicklungen als Kontinuum fungieren und auch spätere Gedichte rückwirkend Bedeutung auf frühere übertragen. So wirkt die in »En el nombre de hoy« aufgebaute Konnotation der Freundesgruppe Intellektueller und Schriftsteller zurück auf »Amistad a lo largo« und bezieht die dort genannten »compañeros« ebenfalls in diese erst in einem späteren Gedicht erfolgte Definition mit ein. Auch bei Barral wird besonders Diecinueve figuras de mi historia civil durch das Einleitungsgedicht »Discurso« in eine solche Gruppenansprache eingebunden: »Mirad, / vibran nuestras ideas« (V.1/2).10 In beiden Fällen ist die freundschaftliche Komplizität, welche als Poetik Compañeros de viaje, Morali-
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Vgl. Jaime Gil de Biedma, »De ahora en adelante« (V.21-23): »[…] Cada mañana / trae, como dice Auden, verbos irregulares / que es preciso aprender, o decisiones / penosas y que aguardan examen.«
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Vgl. Kapitel 7.2.1.
10 Vgl. Kapitel 7.2.2. Vgl. Riera (1990), S. 233 (Herv. i.O.): »En Diecinueve figuras de mi historia civil […] el sujeto poético parte de un punto de vista que pretende ser el más general posible, es decir, de una identificación con el lector, con un tipo determinado de lector, su hermano, en consecuencia, alguien a quien se considera un ›compañero de viaje‹ con la intención de denunciar una situación social y política injusta para modificarla en lo posible.«
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dades und Diecinueve figuras […] rahmt,11 binnenpragmatisch konstituiert12 und bildet implizite Interferenzen zwischen den Texten Barrals und Biedmas aus. […] esta historia moral, y de clase y civil como la guerra, por igual os atañe a buena parte de vosotros. (Barral, »Discurso«, V.69-73)
Neben solchermaßen impliziten Interferenzen wird der Freundschafts-Gestus durch ›explizite Interferenzen‹ zwischen den Texten untermauert, zum Beispiel durch gegenseitige Nennungen in Widmungen oder im Haupttext, wie in Goytisolos »Bolero [para Jaime Gil de Biedma]« und »Nochebuena con Rosa« (»Carlos e Ivonne«, V.18), Ferraters »Poema inacabat« (»I a Jaime Gil, que si fa ús / d’edat mitjana, no en fa abús, / però té sextina i albada«, V.165-167) oder Biedmas Versos a Carlos Barral por su poema ›Las aguas reiteradas‹:13 Carlos, querido amigo, lejano y tan presente en la tarde de junio cuando callado trazo estos últimos versos: todavía reciente la memoria está en ellos y palpita un abrazo. (Gil de Biedma, »Carlos, querido amigo, lejano y tan presente«, V.1-414)
11 Bei »Amistad a lo largo«, »En el nombre de hoy« und »Discurso« handelt es sich um die jeweiligen Einleitungsgedichte. 12 Sowohl Macià und Perpinyà als auch Riera sehen hier einen deutlichen Unterschied zur beabsichtigten Kommunikation mit dem Leser und der »col·lectivitat humana« in der poesía social. Vgl. Macià/Perpinyà (1986), S. 22, und Riera (1990), S. 250. 13 Die expliziten Interferenzen zwischen den hier betrachteten Texten schließen selbstredend intertextuelle Bezüge im engeren Sinne zu anderen Texten und Autoren nicht aus, die besonders in den Widmungen bei Biedma, in Ferraters »Poema inacabat«, den Epigraphen bei Barral sowie in den Gedichttiteln bei Goytisolo und González auftreten. Einige Beispiele einer solchen Intertextualität im engeren Sinne analysiert Kapitel 6.2.1. Hier eröffnen sich zudem Anknüpfungspunkte für eine mögliche Ausweitung des Interferenzraumes auf andere zeitgenössische (!) Autoren und ihre Texte. 14 Zit. nach Gil de Biedma (2001a), S. 187.
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Die explizite Interferenz und der ausdrückliche Dialog der Texte trägt zur Performanz einer »thick-as-thievish complicity« der »fellow conspirators«15 bei, wenn sich Ferrater und Biedma gegenseitig jeweils ein Exemplar ihrer aktuellen Gedichtbände widmen.16 Der Freundschaftsgestus steht so lange in einem privaten Rahmen, wie das Widmungsgedicht nicht veröffentlicht wird (wie im Falle der Widmung Ferraters an Biedma).17 In seiner Schwellenposition zwischen Extratextualität und Text wird es jedoch mit der Aufnahme in das Textkorpus zu einem expliziten Element der Inszenierung von Interferenz.18 How many ways of winking are there? Jaime, I could wish my book to bring you just a wink for each one of three devious ways I know for meeting you: one, bringing back to you the dear bitch, poetry, who cuckolds us with each other; one for friendship and days; one even for the highway where Spain robs us, the old bitch. (Ferrater, Ohne Titel) More than nine years ago, ‒a hell of a lot of time‒ In an old country manor while the lingering chime Of rain was heard outdoors, by the fire we sat. Lazy, well fed, indoorish, each other’s best liked cat, For both of us we were in high spirits,‒ Chinchón if I remember‒ we kept playing old lyrics Sung by Judy Garland, thought the world was a friend
15 Biedma verwendet die Begriffe in einem Vortrag von 1984, vgl. Gil de Biedma (2001e), S. 306 (Herv. i.O.). 16 Beide Gedichte entstanden 1966, dem Erscheinungsjahr von Moralidades und Teoria dels cossos (vgl. ebd.). 17 Biedma zitiert es in seinem Vortrag (vgl. ebd.). 18 »A Gabriel Ferrater« leitet Biedmas letzten Band Poemas póstumos ein, wird aber erst, obwohl früheren Datums, mit der zweiten Auflage von Las personas del verbo 1982 in die Gesamtausgabe aufgenommen.
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And talked ourselves to drunkenness for hours without end. Let them now do the talking, those sons-of-what-we-spoke,‒ Your poems and my poems, our old own private joke! (Gil de Biedma, »A Gabriel Ferrater. Dedicándole un ejemplar de Moralidades«)
Dieser Freundschafts-Gestus greift damit in die autofiktionale Konstitution des phantasmatischen Sprecher-Ich ein. Der Sprecher, der als Autor-Figur stilisiert und besonders in den Widmungsgedichten in Autorisierungsstrategien eingebunden wird, sieht seinen Rezeptionsradius auf wenige lectores cómplices begrenzt, auf die »catorze amics que em llegeixen«19: »[…] Ferrater […] es tria uns lectors. Uns lectors que somriguin amb ell de les seves ironitzacions, que reconeguin els versos que s’amagen darrera un poema; en definitiva, uns lectors […] capaços de desxifrar el codi del seu modus operandi. Aquests lectors ideals […] són sovint els seus propis amics, i, de fet, molts dels seus poemes críptics gairebé hi semblem estar dirigits unicament i exclusiva.«20
Die explizite Interferenz stellt sich somit als Poetik der Komplizität dar, welche über die mit nähesprachlichen Textstrategien begründete engagierte Lyrik in die autofiktionale Bestimmung einer kollektiven Identität hinausreicht.21 Die in Kapitel 1 erarbeitete Definition der Interferenz kann an dieser Stelle also erweitert werden. Allgemein wäre die Interferenz somit 1. ein literatursoziologisches Phänomen der lebensweltlichen Relationierung von Autoren (Interferenz I) und 2. ein Sonderfall von Intertextualität, in dem sich semantische Paradigmen in den Texten dieser Autoren implizit (»implizite Interferenzen«) und explizit (»explizite Interferenzen«) überschneiden (Interferenz II). 19 Gabriel Ferrater, »Poema inacabat« (V.423-424). Vgl. auch die similare Ironisierung in Biedmas »En el nombre de hoy«: »desde esta página quiero / enviar un saludo a mis padres, / que no me estarán leyendo« (V.13-16). 20 Macià/Perpinyà (1986), S. 22 (Herv. i.O.). 21 Vgl. Scarano/Ferrari (1996), S. 21: »Puesto que en la práctica autorreferencial, la operación mimética deja de centrarse en el producto, la operación lectora deja, al mismo tiempo, de limitarse a ser una mera tarea de reconocimiento pasivo de los productos en ella representados. La práctica metaliteraria […] asigna al lector –en tanto función implícita en el texto– la responsabilidad de participar en la creación misma del significado del texto.«
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Spezifisch auf das vorliegende Textkorpus bezogen, ließe sich die Interferenz definieren als 3. eine durch die Problematisierung von Außen- und Binnenpragmatik etablierte ›Poetik der Komplizität‹ (Interferenz III). Versteht man die Interferenz in diesem dreifachen Sinne als performative Aktualisierung einer kollektiven Identität, kann dieser Begriff die starre literaturgeschichtliche Zuordnung zu Generationen ersetzen, indem er variable Relationierungen in einem Interferenzraum annimmt. Barcelona bildet für die vorliegenden Texte den physischen Raum, in dem ein Diskurskontinuum entsteht und ein Text auch seine dialogisierenden »Ko-Texte«22 aufruft. In der Inszenierung einer autofiktionalen Identität, die auf dem Phantasma der Autobiographie beruht und sich »[…] im friktionalen, zwischen Fiktion und Diktion schwankendem Raum jedwedem Versuch einer Vereindeutigung [entzieht]«23, wird vom Text-Ich individuell ausagiertes »Lebenswissen als Wissen vom Leben« durch Interferenzen kollektiv eingebunden. Dabei beruht die Performanz der kollektiven Identität nicht auf einem Wahrheitsanspruch, sondern auf dem Erfolg des performativen Interagierens.24 In diesem Sinne ist die Wahrnehmung der ›Dichtergruppe‹ als erfolgreiche performative Interferenz aufzufassen, die in der vorliegenden Arbeit jedoch, im Gegensatz zur Generationsforschung, durch ihre textbezogene Analyse auf lebensweltliche Interferenzen nur aufbaut und auf der Feststellung eines Diskurses beruht, der eine kollektive Identität etabliert. Damit ist die Interferenz keinesfalls auf die hier analysierten Texte und Dichter fixiert, sondern erlaubt die Ausdehnung des Korpus und die Übertragung des Konzeptes.
22 Ich verwende den Begriff an dieser Stelle in Anlehnung an Eco, indem ich seine Definition des Ko-Textes auf die dialogisierenden Texte übertrage, die ich als semiotisches System verstehe. Vgl. Eco (1998), S. 18.: »Eine kontextuelle Selektion verzeichnet die allgemeinen Fälle, in welchen ein gegebener Begriff in Begleitung (und folglich in Ko-Okkurrenz) mit anderen Termini auftritt, die zu demselben semiotischen System gehören. Wenn dieser Begriff dann konkret mit anderen Begriffen kookkuriert (wenn also die kontextuelle Selektion aktualisiert wird,) – genau dann haben wir einen Ko-Text. In den kontextuellen Selektionsverfahren sind mögliche Kontexte vorgesehen; wenn sie realisiert werden, so werden sie in einem Ko-Text realisiert.« 23 Ette (2004), S. 183 (Herv. i.O.). 24 Vgl. Gragnolati (2010), S. 129.
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Wenn im Zwischenfazit die zwischen den Texten etablierten semantischen Similaritäten als implizite Interferenzen bezeichnet wurden, muss abschließend die im lyrischen Interferenzraum Barcelona aufgebaute Poetik der Komplizität als Ergebnis sowohl impliziter als auch expliziter Interferenzen gefasst werden. Im Sinne der nähesprachlichen Strategien fordert die Aktualisierung der Gruppenidentität durch ausdrücklich dialogisierende Textstrategien, welche auf die impliziten Interferenzen geradezu aufmerksam machen, eine komplizenhafte Lektüre heraus. Diese bindet das inszenierte »Lebenswissen« der Texte zugleich an den gesellschaftlichen Kontext an und hebt es autofiktional von seinem Authentizitätspostulat ab. Damit lässt sich weder von einer »poesía como comunicación« noch von einer rein ludischen Dichtung »pas sérieux« sprechen, sondern von einer kollektiven Autofiktion, einer Poetik der Komplizität, die sich in einer nicht zu vereindeutigenden Interferenz zwischen Textwelt und Lebenswelt verortet.
Der Begriff der Interferenz hat den Vorzug, dass er das gesamte Spiel jener Wechselbeziehungen in sich fasst, die sämtliche Disziplinen füreinander öffnen, also die Zirkulationseinheit […]. Außerdem greift dieser Begriff das Bild des Netzes auf und schafft mit seinen Überschneidungen eine unendliche Vielzahl von Öffnungen für das Gesamtfeld des Wissens. Aber er räumt für immer mit der Idee der Referenz auf.25
25 Serres (1992), S. 80.
Anhang
C ONVERSA
AMB
J OSEP M ARIA C ASTELLET
Josep Maria Castellet (J.M.C.)1 Jo t’explico ara […] els meus anys del grup que no és únicament literari. Ens coneixem a la Facultat de Dret a partir del curs 1942-1945. Allí tenim el Manolo Sacristán, i el mateix any i l’altre any ens vam conèixer amb l’ajuda que tots plegats érem de Dret. Això és un problema sociològic, que en aquella època els pares no estaven disposats a pagar una carrera de filosofia i lletres. I resulta que sense dir-nos-ho, cada una de les famílies va pensar o que estudiï ciències o que estudiï Dret. Estudiants de Dret tots. Per tant, amb el Sacristán vam arribar, perquè érem una mica majors. Ell havia nascut el 25 i jo havia nascut el 26, el Ferraté, Joan, havia nascut el 24, si no m’equivoco, el 28 el Carlos Barral, el 29 el Jaime Gil de Biedma, el 28 el José Agustín Goytisolo i n’hi ha un que no estudia Dret, que és el germà del Joan Ferraté, que és el Gabriel Ferrater. Gabriel Ferrater va entrar una mica més tard per estudiar Matemàtiques. I com a germà del Joan Ferraté s’incorpora en aquest grup. És un grup que, bàsicament, és un grup d’amics. No tenim ni vocació jurídica ni vocació matemàtica, sinó que el que ens interessa és la literatura. Aleshores, jo tinc un amic que és el director de la revista universitària que es deia Estilo. Jo havia estudiat amb ell a l’institut. I aquesta revista, Estilo, que és una revista universitària, però que publica de tot, cal agafar-la al Sindicat Espanyol Universitari, que era l’únic que existia aleshores, l’oficial… Un dia els meus contactes em fan arribar un llibre de Simone de Beauvoir, que és el del Deuxième sexe, i jo publico un llarg article de doble pàgina sobre Le deuxième sexe de Simone de Beauvoir. I la revista és clausurada, perquè això en aquella època de l’Estat espanyol era impossible. Jo no feia res més que explicar les idees de
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Protokoll des Gespräches vom 20.02.2009 in Castellets Büro im Gebäude des Verlages Edicions 62 in Barcelona.
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Simone de Beauvoir. Per tant aquesta revista ja no ens serveix perquè després torna a aparèixer, però el director no és el mateix i jo tampoc no hi pinto res. Ara, a continuació, l’any 50, hi ha un moviment d’aquesta gent, editorialment més grans i més aviat de gent del règim, però liberals, ens ofereixen al Núñez, que era el director de la revista Estilo, i a mi, que facem una altra revista més seriosa, i en un format de revista paper, que és la revista que acaba aglutinant a tot el grup… Frauke Bode (F.B.) …que és Laye. J.M.C. Que és Laye. … Si la primera és una revista d’estudiants, aquesta és una revista del col·legi de llicenciats, que no és el mateix: en un format petitet… I començo així la revista amb els poetes, amics meus, jo els demano poemes. I allí publiquen les primeres separates, que són Las aguas reiteradas d’en Barral, Según sentencia del tiempo de Jaime Gil de Biedma, alguna del Goytisolo. Això, en algunes bibliografies consta com a primer llibre divulgat. I no, com a primer llibre no, si és una separata. I amb aquest club, al voltant d’aquesta revista, és quan es conforma el grup amb una certa potència, amb una certa força. Alguns de nosaltres formàvem part de la redacció, entre ells el Sacristán, jo, els dos germans Ferraté/Ferrater i jo crec que dels altres escriptors ningú. Fins que la revista es clogui, publiquem un gruix de revistes. El Gabriel Ferrater escriu crítica d’art. I és el nucli d’on surt, jo diria, el grup. El grup i el cercle. Pels escriptors, els poetes, s’ha de tenir en compte que ells surten d’aquí. Què vol dir? Vol dir que són poetes que són amics i amics íntims, i que han estat discutint de poesia entre ells. Es dóna el cas que Carlos Barral per família és editor i ja vénen els casos que acaben amb la publicació de la meva antologia de la poesia espanyola. Ara, tornem a l’»Escola de Barcelona«, que diu la Carme Riera. Què vol dir »Escola«? Escola vol dir que surten unes idees, unitàries, uniformes, i que volen donar una idea que aquí hi ha hagut una escola. No. Són uns poetes dels quals només dos, que són el Jaime Gil i el Gabriel Ferrater, són no solament els grans poetes que són, sinó que influeixen amb la seva estudiosa poesia en – Jaime Gil – tota la poesia que s’estrenarà posteriorment, de l’últim quart de segle, de vint anys després de publicar els seus llibres, i en Ferrater sobre els poetes catalans. Des del meu punt de vista […] es redueix a aquests dos poetes que estan d’acord en la concepció de la poesia i la poesia que volen fer, que és la poesia de l’experiència moral, que és la poesia que ha agafat trets de la vida quotidiana, que està molt inspirada pels trentistes anglesos. I que són els que, en definitiva, donen un nou impuls a la poesia catalana i a la poesia castellana. Que quedi clar que aquesta és la meva tesi, que la de la Carme Riera és una altra. Con todos los respetos. […]
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Jo crec que hi ha un grup de Barcelona. Hi ha dues persones que tenen una poètica molt semblant, que són el Jaime Gil i el Ferrater. Tots dos publiquen molt poc, però la seva obra és molt intensa, i tenen influència en els poetes posteriors espanyols amb la poesia de l’experiència i la influència que porta el Gabriel Ferrater aquí. Ara, de relacions hi havia de tot. Totes les relacions típiques dels grups. Una amistat bastant profunda, que té altibaixos, que tenen baralles, que tenen moments… Però que, al llarg del temps, han conservat una vivència del que van ser aquells anys, que van ser molt difícils amb el franquisme i la censura. Aleshores, també fins a les juergas… Bevien molt, sobretot el Gabriel Ferrater […]. Hi ha viatges que fan conjuntament, hi ha relacions, tertúlies […]. Les tertúlies a casa del Jaime Gil, un mica més tard les tertúlies a casa del Jaime Salinas, que només hi anaven uns quants, els altres no, però això és igual. I la relació més que tertúlia era que al sortir de Seix Barral anàvem a buscar el Carlos a prendre copes. Això es prolonga durant bastants anys. Una persona que és el germà del Ferrater, el Joan Ferraté, és molt important, molt influent. Però el seu problema és que se’n va primer a Cuba i després al Canadà. I quan ve espera tenir un retorn no triomfal, però més o menys, espera que la universitat li oferís alguna cosa de doctorat, de dirigir tesis. I ell es va amargant per això. […] La poesia del Joan Ferraté és sempre molt correcta i cultivada, però no té molt a veure amb la dels altres, a més, ell és de formació grecollatina i tenia coses que els altres no tenien. Aquí el problema del Joan Ferraté és que sí que inicialment va ser redactor de Laye, amb mi i amb el germà, però primer marxa i després va tenir una baralla amb el Barral, perquè va publicar un dels seus primers llibres ple d’errates. Va acabar malament la història. Quan venia de vacances, ens vèiem sempre, però progressivament es va anar deteriorant la història. Vaig treure el llibre sobre Espriu. Primer va dir que jo l’hi havia plagiat, cosa impossible, perquè no ha escrit mai sobre Espriu. Va dir que li havia plagiat unes idees que tenia sobre Espriu. […] Per exemple, jo vaig escriure un article sobre El jarama de Rafael Sánchez Ferlosio. Hi ha una metàfora, és que hi ha un tren que passa pel Jarama i el soroll del tren al protagonista li fa recordar la batalla del Jarama, els sorolls de les bales. Aquesta imatge, i ho sé perquè me’n va parlar el Gabriel Ferrater, la hi va donar el Gabriel Ferrater en una conversa que van tenir. Això no és un plagi, és una conversa d’amics. F.B. I suposo que al nivell dels poemes va passar de manera semblant. J.M.C. Sí, sí, sí. Aleshores, que Jordi Cornudella t’expliqui sobre el Joan Ferrater i el Gabriel Ferrater. Ho sap tot. Perquè ell és marmessor, perquè el Joan Ferrater era hereu d’en Gabriel i després en Joan va nomenar marmessors tres
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persones: una d’ells és el Jordi Cornudella. I el Jordi Cornudella és el que més activament ha estudiat els papers. […] F.B. De fet, no va dir Barral que vostè va influir molt en la concepció de Diecinueve figuras […]? J.M.C. Sí. El Barral escriu Metropolitano, ho té escrit, però no ho té muntat. Doncs, ell va a consultar amb els amics. Consulta el Jaime Gil i, aleshores, al dietari diu que jo li vaig fer l’ordenació final de Metropolitano. Jo no me’n recordava. […] Quant a les relacions: El Jaime Gil, com que era homosexual, tenia uns amics que no formaven part del grup. Però, amb el Barral, que sortíem amb les nostres dones, i quan venia l’estiu jo estava a Sitges i ell a Calafell, que és molt a prop, dons això va ser una història de complicitats. I amb el Gabriel Ferrater: moltes. I bueno, amb el José Agustín Goytisolo més encara. El José Agustín Goytisolo, jo el vaig conèixer el dia de la puesta de largo d’una amiga meva d’abans de la guerra, de nens. I ella tenia un noviet que era el José Agustín Goytisolo. I així conec el José Agustín Goytisolo. I després conec els seus germans, amb els quals tinc una amistat profunda, col·laborant a Laye… Penso que aquesta revista, que és una revista del Colegio de Doctores y Licenciados i està publicada amb diners més o menys oficials, va donar per tant tot això. Jo només t’explico com ha passat, hi va passar tota aquesta gent. Jo només avui dic ›grup‹… F.B. Laureano Bonet, a El jardín quebrado, parla d’un »grup interdisciplinari«. J.M.C. Hi ha poetes, hi ha una persona intel·lectualment tan important com el Sacristán, que després s’allunyà també i és al partit comunista i és activista. Hi ha un assagista que es diu Pinilla de las Hera. No són només els poetes. Això és claríssim. El Juan Goytisolo, que és novel·lista i el Luisito, que jo crec que no va arribar a publicar [a Laye]. Era molt jove. Tots aquests publiquen també a Seix Barral. Quan plega Laye, quan al cinquanta-quatre tot això s’acaba, comencem a treballar a Seix Barral el cinquanta-cinc. Per tant, hi ha una comunicació. Jo crec que la biografia més profunda que s’ha fet del grup és la del Laureano Bonet. I la Carme Riera ho sap tot. F.B. Vostè diria que Jaime Gil de Biedma i Gabriel Ferrater eren els que estaven més propers l’un de l’altre literàriament? J.M.C. No hi ha dubte. I a més llegint les seves poètiques. Hi ha una cosa que diuen, i un d’ells l’acompleix una mica i l’altre no l’acompleix gaire: és la que diu que la poesia hauria de ser tan clara com una carta comercial. El Jaime Gil ho fa bastant, la poesia del Jaime Gil és bastant intel·ligible. La del Ferrater és una mica més difícil. Però és la idea comuna que tenen. I els autors trentistes an-
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glesos, i altres i molts altres, és clar. En canvi el Barral té una formació alemanya i francesa, José Agustín té poca formació estrangera, molt més de poetes espanyols que els altres no llegeixen tant. F.B. I va haver-hi contactes amb la gent que feia poesia catalana? J.M.C. A vere, jo crec que passa més tard. En aquells anys no tenien gaire contacte. Però, n’havien llegit, evidentment: el Carles Riba, en Carner, el Josep Pla… tant, que acaba fent el Barral el viatge per la costa contrària a en Pla. El Pla l’havia fet des de l’Empordà baixant, gairebé des de França. Coneixia molt bé tot això i a mesura que anava baixant ja ho coneixia menys i arribant al camp de Tarragona ja no. El Barral ho fa al revés, a Catalunya des del mar,2 perquè, com que Calafell és al camp de Tarragona, comença una mica més a dalt, puja a Barcelona, coneix la costa del Maresme… Bé, això és amb el Pla. Però jo crec que les relacions van ser una mica després. Van tenir relacions i amistats amb poetes com el Vinyoli. Però és posterior, no és al moment. Al moment, els poetes catalans o els escriptors catalans publiquen poc, perquè la censura és més severa fins l’any seixanta-dos, no per l’editorial,3 sinó pel Fraga, que arriba com a ministre i que porta una mica de llibertat. Però és clar que es van coneixent. Els escriptors catalans sempre els veien com uns escriptors castellans… I passen coses molt curioses, perquè Jaime Gil, potser, en certa mesura, acaba, no literàriament, més catalanitzat i fa, juntament amb l’Àlex Susanna, la versió catalana dels Quatre Quartets de l’Eliot. […] I després vingué la democràcia i el Jaime Gil, que no va tenir càrrecs socials com el Carlos, va ser assessor del conseller de cultura, va formar part del personal del Govern de Catalunya. Això és poc conegut. F.B. Però Gabriel Ferrater, per exemple, va participar en les trobades a casa del Valentí. J.M.C. El Ferrater hi pertanyia. A més, era un grup d’amics que eren els Valentí, Joan Petit, Vinyoli… Ferrater va estar absolutament immers en el món català, el Ferrater hi pertanyia. I, en certa manera, és un pont, perquè li deia al Jaime Gil, al Barral: »Escolta, has de llegir aquest, has de llegir aquest, no et perdis això...« Barral va publicar traduccions a Seix Barral, veia i coneixia els catalans. No era una separació. Després, el José Agustín Goytisolo va fer les traduccions dels 2
Barral verfasst in den achtziger Jahren zwei Bildbände über Katalonien zusammen mit dem Photographen Xavier Miserachs: Barral, Carlos/Miserachs, Xavier (1985), Catalunya a vol d’ocell, Barcelona: Ed. 62 und Barral, Carlos/Miserachs, Xavier (1988), Catalunya des del mar: pel car de fora, Barcelona: Ed. 62.
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1962 wird der Verlag Edicions 62 gegründet.
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poetes catalans. Arriba un moment en què es va normalitzant la situació de la literatura catalana i es veuen obligats, bé, encantats en alguns casos, de conèixer gent de la literatura catalana. F.B. Ja ha dit vostè que cada poeta fa la seva versió de la realitat. Van parlar de la relació entre realitat i literatura? Barral per exemple va dir això de »vivir a través de un personaje«. J.M.C. Home, les discussions eren tot un contínuum. Sempre es pensa que és només això. Però sortíem també d’excursions… Quan vam fer l’antologia, vam fer la selecció en grup. El pròleg després és meu. És una mica dogmàtic quant al realisme. No sé, ahir em van donar un article de’n Barral en francès que es veu que no s’ha publicat enlloc, que és com ell entén el realisme, la poesia compromesa. I ell en aquel moment, és l’any seixanta-dos, està bastant influenciat pel marxisme de Gramsci. La que havia estat la seva secretària, la Montserrat Savater, m’ha trucat per dir-me que havien trobat aquest article que no ha aparegut enlloc. Ella el tenia perquè el Carlos l’hi havia dictat. El Carlos va escriure molt poc. El que va fer va ser dictar. Però ell sabia dictar millor que els altres escriure. És un dó especial. L’hi havia dictat i ella havia trobat una còpia d’això. No sabia on es va publicar. Es tracta, doncs, d’això. Què vol dir: és una conversa ininterrompuda que dura bastants anys. Llavors, alguns, com en Joan Ferraté, quan vénen, també. Però vénen a l’estiu, cada dos estius. Es veuen, però ja no és el mateix. És ininterrompuda fins a la mort de’n Gabriel Ferrater. Ferrater treballava pel Barral, com a lector a Seix Barral, i hi havia un grup que ens vèiem amb una certa freqüència, intercanviant idees, literàries o no, polítiques… Potser tret de les jornades que ens vam tancar per triar els poetes per a l’antologia a casa meva. Venien bàsicament el Barral i el Jaime Gil sempre i, a vegades, el José Agustín Goytisolo. Va haver-hi baralles, perquè va quedar exclòs en Costafreda. Això són lectures i converses al llarg dels anys, i ens passàvem llibres. El Jaime Gil, per exemple, em va portar d’Anglaterra un llibre d’Edmund Wilson. I altres coses, les cartes, per exemple. És un contínuum d’uns quants anys, és impossible de fixar un dia. Per exemple, el Gabriel Ferrater i jo, que érem lectors de Seix Barral, una vegada al mes o cada quintze dies teníem reunió de lectura, no parlàvem de res més, dels llibres, què era interessant i què no, els que devia publicar el Barral… això dura anys. I no hi estan d’acord tots els del grup. Per això, l’únic que jo dic és que això dura anys i tampoc és possible fixar quant va durar, perquè en alguns casos, com amb el Barral, dura fins a la mort. Amb el Jaime Gil, com que va estar bastant temps malalt, de la SIDA, jo el vaig veure molt poc. És un teixit de mitja dotzena de persones. I que tenen també relacions amb moltes més persones en el seu entorn. Jo tinc moltes relacions amb els escriptors catalans perquè passen pel despatx. Més de fer de pont, som un pont. […]
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Però, és veritat, no van formar grup amb els escriptors catalans, perquè els escriptors catalans publicaven en revistes clandestines, així que era molt difícil. I a Laye, l’única cosa que es va publicar en català va ser la traducció de La terra eixorca de l’Eliot, de Joan Ferrater.
C ONVERSACIÓN
CON
J UAN M ARSÉ
F.B.4 ¿Cómo entró en contacto con los poetas de la »Escuela de Barcelona«? Juan Marsé (J.M.) Fue a través de la editorial Seix Barral. Porque la editorial en aquellos años aglutinaba ese movimiento poético y también la narrativa. En los primeros años sesenta, Seix Barral era la editorial más vanguardista en ese sentido. Ahí coincidieron, porque eran asesores literarios del editor, el mismo Gabriel Ferrater, su hermano Joan, del que se suele hablar menos, pero era un personaje importante, Jaime Gil de Biedma, por supuesto, José Agustín Goytisolo, Luis [Goytisolo], pero Luis no tanto, no creo que fuera asesor literario. Concretamente ese grupo formaba parte del equipo de lectura de la editorial y les unía esto. Estaban también personas cuya obra ni de ficción ni poética se puede comparar, pero que eran importantes en la editorial en ese entonces: José María Castellet, José María Valverde, el profesor Valverde, Jaime Salinas que ahora está en Madrid, Rosa Regàs. Yo entro en contacto con ellos a través de la editorial, es decir, yo presento en el año 59/60 mi primera novela, que se publicó, y entro en contacto con ellos. Se convierten en amigos, sobre todo un grupo reducido. Les conocía a todos, pero tuve más afinidad con Carlos Barral, Jaime Gil de Biedma, concretamente de la Escuela de Barcelona, José Agustín, no tanto Luis, pero también, porque entonces vivía Luis en Barcelona. Así conecté con ellos desde Seix Barral. Era una relación normal entre colegas escritores: nos veíamos mucho, tomando copas, yendo a cenar por la noche, juntamente con Jaime, acercarnos por la noche a las Ramblas de Barcelona, ir a locales nocturnos, alguna juerga, etc. O sea, era ese tipo de relación combinada con que él me pasaba sus poemas, yo le pasaba algún capítulo que estaba haciendo, no de una forma sistemática. Era más bien festivo, no en plan de estudio, sino para pasarlo bien y porque manteníamos una relación muy regular. Lógicamente los acontecimientos de la época, ya fueran de signo político o social, – sobre todo de signo político, porque fue durante la dictadura franquista y había, por así decirlo, un enemigo común – cualquier tipo de acontecimiento, de política social, por ejemplo, era debatido y discutido. 4
Protokoll des Gespräches vom 24.02.2009 in Marsés Privatwohnung in Barcelona.
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Podían pasar a veces quince días sin vernos, pero después igual la semana siguiente nos veíamos con más frecuencia. Dependía un poco del trabajo. Jaime, por ejemplo, trabajaba en la Compañía de Tabacos de Filipinas, era secretario general, lo cual le obligaba a cumplir un horario, y yo por mi parte tenía también, en torno a aquel entonces, trabajos que me obligaban a cumplir un horario, o bien en una revista o bien en una agencia de publicidad, trabajé en muchas cosas. Y luego el trabajo en casa, es decir, la escritura. Así que todo eso era combinado con el trabajo, lo que quiere decir que nos veíamos a cenar y después de noche. O, al terminar la jornada laboral, a las siete u ocho de la tarde, sobre todo nos veíamos mucho en casa de Jaime, venían Carlos Barral, Gabriel Ferrater, Jaime Salinas y algunos escritores de Madrid que cuando venían a Barcelona se juntaban al grupo, sobre todo Juan García Hortelano y Ángel González. F.B. ¿Es decir que era un grupo más o menos privado, no una tertulia abierta? J.M. No, era bastante exclusivo, no entraba el que quería. […] Cuando yo les conozco, ese grupo en torno a Seix Barral ya estaba formado. Carlos y Jaime se conocían, y también Gabriel Ferrater y algún otro, se conocía ya de la Facultad de Letras de la Universidad de Barcelona, de tiempos de estudiantes. Cuando Carlos se convierte en editor, él forma el grupo, en base a esos amigos. Y yo les conozco después; provengo de otro medio social, más bajo, ellos provenían de la burguesía, de la burguesía catalana, más o menos. De manera que es un poco distinto, yo entro después cuando el grupo ya estaba formado. Desde el punto de vista de hoy se tiene una idea un poco mítica quizás del grupo, que fue todo hablar de literatura. El paso del tiempo mitifica las cosas, normalmente. Yo me dedico bastante a desmitificar. No sé, todo eso queda bastante lejos. A mí, justamente lo que me interesa es el mito, o en qué medida se hablaba de los trabajos de los otros, cómo de común era lo que hacían los otros. Había afinidades, por supuesto, estrictamente literarias. Sobre todo entre los poetas, porque mi caso dentro de ese grupo fue distinto. El otro narrador sería Luis Goytisolo, pero Luis no formaba parte – formaba parte del grupo en términos intelectuales, pero en absoluto a la hora de tomar copas y charlar de la vida en general. Es decir, Luis no frecuentaba el apartamento de Jaime Gil que junto con la editorial fue el aglutinante. Por el apartamento de Jaime Gil en la calle Muntaner en aquella época pasaron todos los que venían de Madrid, García Hortelano, Ángel González, el poeta Gabriel Celaya, Pepe Caballero Bonald, y otros. Pero generalmente poetas. Y digo esto, porque como narradores estaba de Madrid Juan García Hortelano, aquí en Barcelona estaba yo, estaba Luis, pero Luis, insisto, no venía al apartamento de Jaime, no le recuerdo ni una sola vez. En cambio todos los demás sí, José Agustín sí, Carlos sí, Castellet venía muchísimo, Valverde no, tampoco. Valverde además era católico practicante y algunos
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excesos supongo que no le gustaban en absoluto. Por otra parte, Jaime Gil, como sabes, era homosexual y en aquella época algunos se guardaban un poco. Hablábamos del trabajo, concretamente se hablaba mucho de poesía, porque los poetas eran la mayoría. Y yo estaba interesadísimo, entre otras cosas porque la poesía no era mi especialidad. De manera que yo, lo que hice, fue escuchar. Y después, en cuanto a hablar de política: ahí había una afinidad absoluta, porque todos los del grupo tenían una ideología común. Algunos habían pertenecido al partido comunista incluso, otros no o ya se habían deshecho. Pero de alguna manera era una experiencia común. Aglutinó también aquello de la revolución cubana en aquella época. En fin: una serie de acontecimientos que propiciaban una unanimidad de opinión. F.B. Insistiendo sobre el tema de la poesía, ¿era poesía ajena sobre la que se hablaba o eran los poemas propios? J.M. De ajena y propia, de la propia quizá no tanto, de la ajena sobre todo. De la propia no tanto por una razón, porque Jaime, por ejemplo, me pasaba poemas, me daba a leer un poema suyo una vez que lo había terminado. El proceso de cómo se iba conformando el poema no lo comentaba, no solía comentarlo. El mantenía correspondencia con algunos poetas acerca del trabajo. Pero yo sobre todo recuerdo hablar de poemas acabados. Y en cuanto a poetas ajenos, desde Neruda a Guillén o Cernuda, por ejemplo, había referencias muy frecuentes, pero naturalmente por su obra poética terminada. Jaime se consideraba muy afín a ciertos poetas, a Cernuda, por ejemplo, y a la poesía anglosajona, que había estudiado. Gabriel Ferrater no tanto, no lo recuerdo tanto en ese sentido, pero sabía muchísimo, era un hombre muy culto, había estado trabajando en Alemania, en una editorial en Alemania... F.B. ...en la Rowohlt. J.M. Sí, exacto, en la Rowohlt. Recuerdo conversaciones entre ambos, sobre poesía, interesantísimas. Analizar tal poema, hablar de sus influencias... muy de eruditos, pero muy interesante. Había distintos niveles. Con Jaime habíamos salido de noche de caza. Él iba por su lado, lógicamente, yo no he sido homosexual y es un asunto del que se dio cuenta enseguida. Él iba por su lado y yo por el mío, pero íbamos juntos. Fue ese tipo de actividad en una época que yo era soltero y joven, y él aprovechaba el amor entre semana. Bueno, íbamos a cenar juntos, nos encontrábamos a muchos amigos a veces, porque el sitio adonde íbamos a cenar lo frecuentaba José Agustín también y Jaime Salinas, así que muchas veces cenábamos juntos, luego se decidía tomar una copa en tal sitio, acababan de desertar los demás y bastantes veces Jaime y yo seguíamos, nos íbamos a comprar la prensa de la madrugada.
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Ahí nos acompañaba muchas veces, cuando estaba en Barcelona, Juan García Hortelano, que también iba por su cuenta. O sea, cosa que, junto con José Agustín, Carlos y mucho menos Castellet, nunca se hizo. Es decir, había distintos niveles de relación. A Carlos le veía muchísimo en verano, incluso iba a su casa de Calafell y pasaba unos días ahí, los fines de semana, y éramos muy amigos con su mujer, Yvonne, con sus hijos, pero en otro nivel Carlos no salía por la noche. Siempre daba la impresión de que le interesaban poco las mujeres. […] Era simplemente que Carlos no era de esa onda. Le gustaba muchísimo seducir y coquetear con las mujeres, pero nada más. En cuanto se presentaba alguna ocasión favorable después de haber estado coqueteando durante horas con una mujer, en cuanto notaba una reacción por parte de ella, en el sentido de ir un poco más allá, se volvía para atrás, no era su estilo. Había distintos comportamientos en ese sentido, en cambio, José Agustín era muy, muy, muy lanzado, pero igual iba a lo suyo, a su aire. Date cuenta que en esa época bebíamos mucho, se bebía mucho, y José Agustín creo que se llevaba el campeonato. Bebía muchísimo, estaba sujeto a unas depresiones bastante frecuentes, y una de ellas le llevó a la muerte porque pensamos que fue un suicidio. Lo mismo que Gabriel. F.B. La casa de Calafell del matrimonio Barral fue otro punto de encuentro, ¿no? J.M. Sí, mucho, pasó desde Cortázar, Mario Vargas, García Márquez, Brice Echenique, José Donoso, Jorge Edwards, editores, hispanistas italianos, franceses... F.B. Es decir que cuando estaba en Calafell era casa de puertas abiertas. J.M. Sí, era muy distinto, porque era una cosa muy relajada, se pasaba el verano ahí, tomar copas, charlar – de puertas abiertas. F.B. Usted era más joven que los demás. ¿Cómo diría que le influyó todo esto? J.M. Bueno, para mí fue realmente una suerte, caer en medio de esta gente. Justamente hoy, que estaba tomando unas notas para el maldito discurso para la entrega del premio Cervantes, les recordaba, recordaba al grupo, estaba escribiendo justamente eso, que para mí el alumbrado de los años sesenta – años muy decisivos para mí, tanto en el terreno intelectual como vital – fue caer entre esa gente, con tanto talento y tanta generosidad. […] Y en el terreno literario, por supuesto, porque aprendí mucho. Pero en el terreno humano también e incluso moral, diría. F.B. ¿Y le motivaron a escribir? J.M. Sí, claro. Bueno, aquí se produjo una especie de equívoco, en cierto modo lógico, que es el siguiente: en ese momento el mundo literario en general, el
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mundo literario y editorial en Barcelona, y en Madrid lo mismo, se nutría de la burguesía, de la burguesía catalana. Dicho de otra manera: eran señoritos. Yo provenía de una capa social completamente distinta, porque desde los trece años trabajaba en un taller de joyería, era joyero, hacía sortijas, pendientes y cosas así y estuve de los trece años que entré de aprendiz hasta los 26, trece años. Entonces, cuando los conozco, yo trabajo todavía en el taller. Había escrito una novela, pero no estaba seguro de mi vocación, no lo tenía muy seguro, lo que sí sabía es que escribir una novela no es tan difícil y parecía una cosa bastante fácil, cualquiera puede escribir una novela. Otra cosa es escribir una novela con una solidez. Ahora bien, eso no significaba que yo tuviese talento para convertirme en un novelista, no lo veía claro. De manera que entré de una forma preventivamente, sin abandonar el trabajo en el taller de joyería. Con lo cual ellos, que eran unos señoritos, de formación universitaria, muy cultos, […] pensaban que habían descubierto a un escritor obrero, lo que era en cierto modo. Y me lo dieron a entender así y la prueba es que, por ejemplo, en seguida pensaron que lo que me convenía era viajar y moverme. Y me proporcionaron los medios para ir a París en el año 60. Castellet formaba parte de una cosa que se llamaba Congreso por la Cultura cuya sede estaba en París. Esa organización me proporcionó una bolsa de viaje a París para unos meses. Acepté y me fui a París, pero me gasté el dinero muy pronto y tuve que regresar, pero volví con la idea de volver y buscarme yo un trabajo para quedarme un par de años, que es lo que hice. Pero bueno, la idea era de ellos, yo pedí una excedencia en el taller para eso, porque tampoco lo tenía muy claro. […] Pero esa idea de ellos de haber descubierto a un escritor obrero, yo la desmentí en cuanto pude. Sobre todo escribiendo Últimas tardes con Teresa, que es la historia de un muchacho del sur, sin medios ni fortuna, medio delincuente además, que ni siquiera es obrero, que lo que quiere es hacerse un puesto en la buena sociedad catalana. Todo lo contrario del novelista obrero que podía dar testimonio del mundo obrero. No iba por ahí. Yo, lo que quería era dejar el taller y dedicarme a escribir si tenía vocación para ello. Escribiendo Últimas tardes sí pensé que tenía vocación. […] F.B. Y de hecho, Últimas tardes con Teresa, lo terminó en La Nava.5 J.M. Pues sí, allí terminé las últimas correcciones. Y allí les di a leer el último capítulo a Jaime y a Ángel González que estaban ahí – les gustó mucho, recuerdo, y nada más que eso. Sobre eso se llega a decir, a mí me parece que Carme Riera lo comenta en su libro, que la había escrito con Jaime o que me la había
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Nava de la Asunción, Gemeinde in der Nähe von Segovia, in der die Familie Gil de Biedma ein Landhaus besaß.
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escrito Jaime. Nos reímos mucho, porque Jaime decía que, con el trabajo que era escribir una novela le pertenecerían derechos de autor. No, le di a leer solamente el último capítulo. Y nada más. En lo que sí me ayudó de manera indirecta, fue en alguno de los epígrafes, alguno me lo proporcionó Jaime, en conversaciones. F.B. Carme Riera, en un artículo, »El río común de Juan Marsé y Jaime Gil de Biedma«, se refiere a frases e imágenes que ponen en relación su poesía sobre todo con Últimas tardes con Teresa. J.M. Sí, es posible. Eso es muy elemental en cierta manera. El proceso de escritura de una novela o de un poema está sujeto no solamente a la idea que tienes en la cabeza, el plan que te has hecho. La estructura y el plan de trabajo puede ser uno. Es decir: voy a contar una historia en la que pase esto, esto y lo otro. Durante el proceso de escritura, que puede ser muy largo, en mi caso eran tres años como mínimo, recoges ideas, imágenes, de muchos lados, de muchos sitios, de muchas personas que conoces, cosas que te cuentan, rostros que ves, una determinada manera de mirar, de comportarse, la gestualidad de tal persona, su carácter, etc. Siempre vas con unas antenas desplegadas, cazando todo lo que puedas, que tenga que ver con el tema central del libro, y luego lo utilizas. La idea de que uno tiene la novela escrita en la cabeza desde la primera página hasta la última es falsa. La novela se nutre, y el poema también, de vivencias que te ocurren durante ese proceso. Por lo tanto, si en conversaciones con Jaime o con Carlos o con quien fuera surgía una imagen determinada, yo me la apropiaba. Es lo que hace el escritor, el escritor es una especie de ladrón que va y cita. Por no hablar de las lecturas. Un escritor siempre es muy reacio a hablar de eso porque no se atreve a confesar que algunas imágenes provienen de otros libros que ha leído. Dejando de lado que sería muy laborioso rastrear de dónde proviene tal cosa y tal otra, yo sé qué novelas están detrás de Últimas tardes con Teresa; yo sé qué lecturas hay detrás, y algunas veces las he comentado. Sobre todo hay dos: El gran Gatsby, de Scott Fitzgerald, y Le rouge et le noir de Stendhal. Y una novela de Henry James que curiosamente no había leído, solamente había leído una reseña de Lionel Trilling en un libro que se llamaba La imaginación liberal, pero la novela no la había leído. Yo entonces no leía en inglés y aquella novela no se había traducido en España, no existía: La princesa Casamassima. Volviendo a lo de las conversaciones y las imágenes. Con Jaime recuerdo exactamente una cosa sin importancia, pero la recuerdo perfectamente. […] Es un pasaje al principio del todo en la fiesta de la verbena, una verbena en un jardín de la torre de un señor. Quería describir un poco el césped y le comenté [a Jaime] algo así como que hay un vaso de whisky o una copa en el césped y una botella. Y entonces Jaime me dijo que él veía también unos hielos como si fuesen estrellas caídas, una cosa así. No recuerdo literalmente lo que dijo, pero la imagen de los cubitos de hielo tirados
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en el césped, junto con un vaso y una botella, como un símil de unas estrellas en el césped, es de Jaime, proviene de esta conversación. Lo doy como ejemplo. […] Pero eso me parece absolutamente normal, porque como he dicho antes, las novelas se construyen así: tú tienes el argumento, pero hay que incorporar una serie de elementos, que hace que sea verosímil, que sea interesante. […] Hay que tener los ojos bien abiertos, los oídos prestos, sobre todo los oídos a escuchar cosas. F.B. Y Jaime Gil de Biedma y Gabriel Ferrater, ¿dé qué modo interaccionaban? J.M. Bueno, desde el punto de vista de sus respectivas poéticas resulta difícil, sí que hay muchas afinidades, de orden sobre todo de la poesía erótica que hay en Jaime y en Gabriel, una poesía amorosa y erótica. No sabría decir mucho más, porque no soy un especialista en poesía. Había eso por un lado, lo que es el terreno estrictamente poético. Luego, lo que es el terreno personal, de relación humana, también había afinidades, los dos eran grandes bebedores, por ejemplo, grandes conversadores, con un conocimiento muy profundo de la literatura anglosajona y francesa, y general. Pero Gabriel era más descontrolado en el sentido de las vivencias personales. Era más autodestructivo, también en sus relaciones amorosas. Su matrimonio, por ejemplo, lo llevó muy mal. En ese sentido eran muy distintos. Incluso bebiendo juntos llegaba un momento en que Jaime quedaba saturado de un comportamiento de Gabriel que no tenía control. Así que podía empezar la tarde con ellos juntos, con una conversación muy brillante y muy interesante sobre poesía, sobre cualquier cosa, podían estar hablando sobre putas también y era muy interesante. Pero a partir de cierto momento al pasar el tiempo, Gabriel se iba volviendo cada vez más radical, más irritable y no solían acabar juntos. F.B. Y los que pasaban por Barcelona a veces, por ejemplo Ángel González, Blas de Otero, que era muy amigo de José Agustín... J.M. Sí, Blas de Otero era más del lado de José Agustín y no sé si de Valente también, pero no le vi nunca con Jaime. F.B. ¿Y tampoco iba a los encuentros? J.M. No, no, Blas de Otero no. Son los que te he citado. Más algún espontáneo alguna vez, Gimferrer, por ejemplo, lo conocí un día en casa de Jaime, por ejemplo, pero ya no en el estudio de Muntaner, sino en el apartamento de Jaime en Pérez-Cabrero. O sea unos años después, porque [Gimferrer] era mucho más joven. O Gabriel Celaya, cuando vino de Madrid alguna vez con su mujer, no recuerdo más poetas. F.B. ¿Y Ángel González?
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J.M. Sí, Ángel González. Vivía en Madrid, venía con frecuencia, porque tenía un gran amigo suyo de cuando eran niños que es Manolo Lombardero quien estuvo vinculado a la editorial Planeta durante muchísimos años y todavía lo está, está jubilado, hace cosas para ellos, va a la oficina, etc. Entonces, siempre que Ángel venía a Barcelona se instalaba en su casa. Y cuando Ángel se casó con Susan venía con Susan y también estaban en casa de Manolo, y me llamaban y solíamos salir a cenar. Pero en la época en que era soltero, venía a Barcelona, estaba en casa de Manolo, pero nos veía a nosotros. F.B. Y del ámbito más estrictamente catalán, es decir de los que escribían en catalán, a parte de Gabriel Ferrater, ¿alguien se relacionaba con el grupo? J.M. Pues, poco, la verdad es que poco. Bueno, podría tener interés desde un punto de vista literario, como la obra en catalán de determinados poetas, SalvatPapasseit, por ejemplo, muchos de ellos muertos ya casi del siglo pasado. Yo sí conocí personalmente a alguno. Te puedo dar el ejemplo de Salvador Espriu que después ha estado muy vinculado a Castellet cuando Castellet se vinculó a la edición en catalán, con Edicions 62. De manera que sí, aparte de Gabriel estaba su hermano Joan (y ocasionalmente, porque estuvo dando clases en el Canadá y estuvo también en La Habana), Gimferrer, pero llegó bastante después, tampoco estuvo en el grupo, porque ha tenido una vida privada muy especial. Yo personalmente y por mi cuenta, sin que tuviera que ver nada con el grupo, sí tuve relación por ejemplo con Montserrat Roig, he conocido a Teresa Pàmies, a su hijo Sergi y a su padre que ya murió y fue secretario general del PSUC. Pero era un tipo de relación muy personal, es decir, no afectaba para nada al grupo. A Carme Riera también la conozco hace años. Además, Carme frecuentaba mucho dos pisos por encima de Jaime en la época de su apartamento en Pérez-Cabrero una amiga suya, crítica de teatro, que tenía un piso arriba y nos veíamos mucho cuando ella iba o yo llegaba. Después he tratado también a Quim Monzó, muy poco, y a Salvador Espriu que fue uno de los primeros que visité cuando todavía no había publicado nada, para una recomendación. Me decepcionó mucho, porque le di a leer unos cuentos, era en el año 57 o por ahí, que no había publicado nada, pero le pasé unos cuentos mecanografiados y los leyó. Estuvo muy amable, pero de repente va y me dice: »Yo, lo que le aconsejo a usted es que se case.« Me quedé... Es que era un solterón empedernido y con las mujeres debía de tener algún problema y debía pensar que yo también lo tenía, no sé. Además yo le dije: »¿Tanto se me nota que me va la juerga?« Porque alguno de los relatos era un poco atrevido, y bueno, era bastante decepcionante que me aconsejara. Yo lo que esperaba era una ayuda para publicar el cuento. Después conocí a Josep Maria Carandell. Carandell fue uno de los directores de Seix Barral, además escribía, posteriormente, después cuando ya no estaba Carlos. Y a alguno más. Recuerdo
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sobre todo a Montserrat Roig, porque llegamos a intimar mucho. Pero ya te digo, eran relaciones esporádicas, y a parte, no formaban parte de ese grupo de Seix Barral, el grupo de Carlos y Jaime y Gabriel. F.B. Barral menciona en sus memorias, pero muy brevemente, a Joan Vin-yoli, que trabajaba con él en Barral Editores. J.M. Lo conocí también, no mucho, pero lo conocí. Joan Vinyoli era, además, un poeta muy considerado por nosotros. Sobre todo por Gabriel. Gabriel decía, por ejemplo, que Vinyoli era mucho mejor que Salvador Espriu, que pasaba por ser entonces el poeta nacional catalán. F.B. ¿Y también se vinculó en algún momento a los encuentros? J.M. No formaba parte de ese grupo, de ese núcleo, ahora, yo creo que con Gabriel tuvo una amistad muy intensa y posiblemente con Castellet. Te lo digo, porque, se hablaba mucho de él y si hablaban de él era porque sabían [que era buen poeta]. Pero junto con Carlos, con Jaime, ir a cenar juntos, eso no. F.B. Avanzando un poco en el tiempo: más tarde estuvieron colaborando en la revista Don. J.M. Sí. Un poco, unos cuantos números, la revista duró poco, si no recuerdo mal. Ahí Gabriel publicó cosas, Jaime también, yo, en aquella sección »Sombra del paraíso« que es una cosa muy divertida. Yo escribí unos artículos sobre cine, muy de la época, muy glamuroso, era para ganarse unos dineros, no había ninguna pretensión intelectual. F.B. Es decir, no era una colaboración al nivel de Laye, por ejemplo. J.M. No, era una revista además bastante frívola, que estaba, si no recuerdo mal, financiada por los pañeros de Sabadell, los fabricantes de tejidos, porque hablaba de la moda, fue satinada, de papel satinado, muy cara. Yo tenía cuatro o cinco ejemplares, se los presté a Carme Riera y los tiene todavía ella. No tenía mucha difusión. Yo me imagino que era una revista destinada al gremio de los fabricantes de tejidos y gente vinculada a la moda, pero, claro, ¿cómo nos llegó a nosotros esta revista rara? El amante de Jaime en esa época estaba vinculado a esa revista, por cosas de trabajo. Por lo tanto de ahí venían los encargos de textos para ganarnos unos dineros. F.B. Quizá podríamos ir terminando con el tema del idioma. Porque sí es un poco curioso que todos vivan aquí, que todos hablen el catalán, pero que luego muchos escriban en castellano. J.M. Ellos escribieron en castellano, además Castellet como algún otro fueron de Falange Española, en Laye, porque la revista era de la Falange. Casi todo lo que
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se podía hacer en aquella época tenía que pasar por la Falange. No, además fue falangista, como lo fue Manolo Sacristán, después un teórico marxista muy conocido aquí. Muchos de ellos pasaron por la Falange. Mi caso fue completamente distinto. Yo suelo comentar eso refiriéndome sobre todo a la época en la que uno es aprendiz de escritor. Yo creo que es una experiencia común: en los primeros tanteos, los primeros trabajos que uno hace, que puede ser a los trece, catorce años, en esos poemitas o esos relatos que van a la papelera uno no intenta copiar el mundo, es decir, la realidad, el entorno ya sea familiar, ya sea laboral, las chicas que conoce... No. Uno imita lo que lee. Y lo que yo leía en esa época era todo exclusivamente en castellano. Pero no solamente las lecturas de tebeos, literatura de quiosco, novelas del oeste, novelas policíacas, novelas de aventuras, Julio Verne… No sólo es Karl May, no sólo es eso, sino el cine también. El cine es muy importante en mi vida, muchísimo, siempre lo he señalado. Yo suelo decir que yo he aprendido tanto de John Ford como de Dickens, en un época determinada, claro. Así que, cuando construía el discurso mental para contar qualquier cosa, automáticamente me salía en español. Además, en casa habíamos tenido una pequeña biblioteca de libros en catalán y en español. E inmediatamente después de la guerra, por razones de seguridad, porque a mi padre lo metieron en la cárcel un par de veces, los libros catalanes o se escondían o se quemaban. De manera que no había prácticamente nada, en cambio quedaban en castellano un par de cosas: El Libro de la Selva de Kipling, con la historia de Mogli, y una novela que se llamaba Genoveva de Brabante, que es una novela histórica muy melodramática, con muchos episodios muy truculentos. De manera que esto me lo leí. Pero sobre todo el cine, sobre todo la literatura de quiosco que comprábamos y leíamos, los tebeos , todo era en español. De modo que me sentí fatalmente o automáticamente abocado al español, al ser aprendiz de escribir. En casa se hablaba catalán y mi padre, además, era un rojo republicano separatista. Pero jamás me dijo »no escribas en esa lengua«, nunca, era muy consciente de que Barcelona y Cataluña, pero sobre todo Barcelona, había sido siempre bilingüe, mucho antes de Franco. Y mi padre era consciente de esa dualidad cultural y lingüística, de esa especie de esquizofrenia, que yo traté en clave de humor en El amante bilingüe, y no me dijo nunca nada. Y seguí y seguí hasta que empecé a escribir ya con ciertas pretensiones en castellano. Mi madre me alentó y me ayudó. Cuando se recuperaron las libertades democráticas en el país y ya mucho antes cuando se podía escribir en catalán, yo me paré a reflexionar nuevamente. Pero como me había hecho un pequeño instrumentario en castellano no quería tirarlo por la ventana y empezar de cero con el catalán. Y al final incluso estoy para decir que, aunque sólo sea para el testi-
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monio de una normalidad de algo que nunca quizá tuvo que haber ocurrido, ahí está: un catalán que escribe en castellano, y no soy el único. F.B. Pregunto justamente porque tengo en mente a Biedma, Barral, Goytisolo... J.M. Pero en el caso de ellos, de toda manera, la lengua materna era el castellano. En su familia hablaban castellano en casa. En muchas casas de catalanes se pasaron al castellano después de la guerra, simplemente porque era la lengua del vencedor. Era causado por el miedo. Pero en el caso de ellos no era eso, los Goytisolo, por ejemplo, son de origen vasco, Jaime, los Gil de Biedma, de origen castellano, Carlos, hijo de padre catalán, eso sí, es cierto, con una editorial, bueno, con una imprenta, que hacía todo en castellano, y casado con la madre de Carlos que era argentina, doña Tota. Y de ahí hablaran, ella y su hermana, siempre en castellano. Carlos presumía mucho de hablar en catalán, en un catalán del mar, propio de los pescadores, en Calafell, le gustaba presumir delante de todo el mundo y delante de los pescadores, pero él, en familia, hablaba en castellano. Había una cosa que nos divertía mucho, Carlos la constata en sus memorias: Cuando estábamos en ese grupo, Carlos se dirigía y todos se dirigían en castellano entre ellos. Pero cuando se dirigían a mí, lo hacían en catalán. De una forma tan espontánea y natural que no extrañaba a nadie. Porque teníamos una especie de lenguaje en clave en común que era además con modismos que provenían del Panadés que es la región de Tarragona, donde él iba a veranear desde chiquitín y donde yo también desde muy pequeño vivía con los abuelos en un pueblo muy cercano. Además, mi madre, mi madre biológica, era hija de Calafell. F.B. Y con Gabriel Ferrater, ¿también hablaban en castellano? J.M. Yo con Gabriel en catalán, sí. F.B. Porque el caso de Gabriel Ferrater debería ser el caso más o menos opuesto a lo que cuenta de Jaime Gil de Biedma, por ejemplo. J.M. Con Jaime, Gabriel hablaba en castellano, con Carlos, indistintamente, yo diría que más en catalán, incluso, y conmigo en catalán. F.B. Porque su familia era de origen reusenca. ¿Diría entonces que antes de nada es una cuestión de orígenes y del aprendizaje literario? J.M. Sí, sería un poco raro que eso ocurriera, por ejemplo, si hubiese sido francés. Porque no se da esa dualidad cultural en Francia. Pero aquí en Cataluña sí se da y se ha dado siempre, es decir, no es tan raro que uno escriba o hable en castellano, por ejemplo, hay muchas personas que en el trabajo, en su relación laboral, hablan en castellano. Yo recuerdo que cuando trabajaba en el taller, la mayoría era de origen castellano. Cuando era un chaval de barrio, tenía diez o doce
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años, hablaba mucho en castellano, porque mis amigos, los que yo prefería, eran xarnegos, eran hijos de andaluces. En el colegio, por supuesto, todo en castellano, así que esa cosa era tan normal, que no era de extrañar que uno derivara hacia un lado o hacia otro. F.B. Pero es un tema que no deja de ser conflictivo. J.M. No deja de ser conflictivo por culpa de los nacionalistas que esgrimen la lengua como si fuese una bandera. Y la esgrimen con pretensiones identitarias absolutas: tú eres aquello que es tu lengua, y esto no es cierto. En el terreno que más me importa, que más me interesa, que es el terreno de la literatura, de la poesía, hay ejemplos ilustrísimos, por ejemplo de Conrad que era polaco y escribía en inglés, de Nabokov que era ruso y escribía en inglés y francés y en alemán, Joyce, que era un desterrado, Ionesco que era rumano y escribía en francés. Beckett me parece que también escribió en francés, bueno, muchísimos ejemplos, y muy ilustrativos además en el sentido de que te decía antes que ellos no sufrieron esa dualidad lingüística como la que aquí sí hemos tenido.
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Z ENSURDOKUMENTE Expediente N.° 8217-65 zu Gabriel Ferrater, Teoria dels cossos, Eintrag vom 30.11.1965.
© España, Ministerio de Cultura, Archivo General de la Administración, caja 21/16761.
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Expediente N.° 12743-69 zu Jaime Gil de Biedma, Colección particular 19551967, Eintrag vom 19.12.1969.
© España, Ministerio de Cultura, Archivo General de la Administración, caja 66/03707.
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Expediente N.° 9512-75 zu Jaime Gil de Biedma, Las personas del verbo, Eintrag vom 15.09.1975.
© España, Ministerio de Cultura, Archivo General de la Administración, caja 73/05008.
Verzeichnis der zitierten Gedichte Im Folgenden werden die in dieser Arbeit zitierten Gedichte von Carlos Barral, Gabriel Ferrater, Jaime Gil de Biedma, Ángel González und José Agustín Goytisolo nach Autoren sortiert alphabetisch aufgeführt. In den Klammern finden sich die Abkürzungen der Gedichtbände, denen sie zuzuordnen sind.
C ARLOS B ARRAL Metropolitano (1957): M Diecinueve figuras de mi historia civil (1961): DF Usuras: cuatro poemas sobre la erosión y usura del tiempo (1965): U Informe personal sobre el alba y acerca de algunas auroras particulares (1970): IA Usuras y figuraciones (1979): UF Lecciones de cosas. Veinte poemas para el nieto Malcolm (1986): LC »Alguien« (UF)
»El niño observa un temporal memorable«
»Alguien como otro alguien« (UF)
(LC)
»Baño de doméstica« (DF)
»Evaporación del alcohol« (U)
»Celebrando la vieja barca a manera de Cá-
»Fiesta en la plaza« (DF)
tulo« (LC)
»Fotografías« (DF)
»Cercanías del Prado« (UF)
»Geografía e Historia« (DF)
»Clave del insomne« (IA)
»Hombre en la mar« (DF)
»Claves del desvelado« (IA)
»Incidente corporal« (UF)
»Compro un albornoz en Keiruán« (UF)
»Las aguas reiteradas« (M)
»Contra el alma o enemigos del alba« (IA)
»Las alarmas« (DF)
»Contraluz a popa« (IA)
»Mar« (M)
»Discurso« (DF)
»Más sobre la insolencia del alba« (IA)
»…Ed al balcon s’affaccia l’abitator dei cam-
»Método del alba« (IA)
pi, e il sol che nasce« (IA)
»Miro estallar las gotas sobre el vidrio« (UF)
»El escaño« (LC)
»Molinillos de viento« (DF)
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»Parque de Montjuich« (UF)
»Sol de invierno« (DF)
»Primer amor« (DF)
»Tlaloc en Chapultepec« (UF)
»Prueba de artista« (U)
»Un pueblo« (DF)
»Retrato del aire entre los gestos« (UF)
»Vaciado del miedo« (UF)
»Ritual de la ducha« (LC)
»Vaguedad del daño« (UF)
»Silva de Siracusa o Bosque de Palermo« (UF)
G ABRIEL F ERRATER Da nuces pueris (1960): DN Menja’t una cama (1962): MC Teoria dels cossos (1966): TC Les dones i els dies (2010): LD »A mig matí« (DN)
»La mala missió« (DN)
»Aniversari« (TC)
»Lliçó d’història« (DN)
»Any« (LD)
»Mala memòria« (DN)
»Boira« (TC)
»Mecànica terrestre« (DN)
»Cadaqués« (LD)
»Mitsommarnatt« (LD)
»Cambra de la tardor« (MC)
»No una casa« (MC)
»Cançó idiota« (TC)
»Paisatge amb figures« (DN)
»El lector« (TC)
»Per José María Valverde« (TC)
»El mutilat« (DN)
»Però non mi destar« (MC)
»El ponent excessiu« (MC)
»Petita guerra« (DN)
»Els jocs« (DN)
»Poema inacabat« (TC)
»Faula primera« (DP)
»Prop dels dinou« (LD)
»Fe« (TC)
»Punta de dia« (DN)
»Floral« (DN)
»Si puc« (MC)
»Helena« (MC)
»Signe« (TC)
»Idolets« (TC)
»Temps enrera« (DN)
»In memoriam« (DN)
»Teseu« (TC)
»Josep Carner« (MC)
»Tornada« (TC)
»La cara« (MC)
»Tres llimones« (MC)
»La ciutat« (MC)
»Un pas insegur« (DN)
G EDICHTVERZEICHNIS
J AIME G IL
DE
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B IEDMA
Versos a Carlos Barral por su poema ›Las aguas reiteradas‹ (1952): VCB Compañeros de viaje (1959): CV Moralidades (1966): M Poemas póstumos (1968): PP Las personas del verbo (1975): PV Las personas del verbo (1982): PV[2] »A Gabriel Ferrater. Dedicándole un ejem-
»En el nombre de hoy« (M)
plar de Moralidades« (PV[2])
»Himno a la juventud« (PP)
»A través del espejo« (PV)
»Idilio en el café« (CV)
»Albada« (M)
»Infancia y confesiones« (CV)
»Al final« (CV)
»Intento formular mi experiencia de la gue-
»Amistad a lo largo« (CV)
rra« (M)
»Artes de ser maduro« (PP)
»Lágrima« (CV)
»Asturias, 1962« (M)
»Las afueras« (CV)
»Barcelona ja no és bona, o mi paseo soli-
»Las grandes esperanzas« (CV)
tario en primavera« (M)
»Loca« (M)
»Canción final« (PV[2])
»Los aparecidos« (CV)
»Canción para ese día« (CV)
»Mañana de ayer, de hoy« (M)
»Carlos, querido amigo, lejano y tan pre-
»No volveré a ser joven« (PP)
sente« (VCB)
»Noche triste de octubre, 1959« (M)
»Contra Jaime Gil de Biedma« (PP)
»Noches del mes de junio« (CV)
»Conversaciones poéticas« (M)
»Pandémica y celeste« (M)
»De ahora en adelante« (CV)
»Peeping Tom« (M)
»De senectute« (PV[2])
»Piazza del popolo« (CV)
»De vita beata« (PP)
»Píos deseos al empezar el año« (PP)
»Después de la muerte de Jaime Gil de
»Ribera de los alisos« (M)
Biedma« (PP)
»Trompe l’œil« (M)
»El arquitrabe« (CV)
»Ultramort« (PV)
»El juego de hacer versos« (M)
»Volver« (M)
»El miedo sobreviene« (CV) »Elegía y recuerdo de la canción francesa« (M)
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ÁNGEL G ONZÁLEZ Áspero mundo (1956): AM Sin esperanza, con convencimiento (1961): SE Grado elemental (1962): GE Palabra sobre palabra (1965): PSP Tratado de urbanismo (1967): TU Breves acotaciones para una biografía (1971): BA Procedimientos narrativos (1972): PN Muestra, corregida y aumentada, de algunos procedimientos narrativos y de las actitudes sentimentales que habitualmente comportan (1977): M Prosemas o menos (1985): PM Deixis en fantasma (1992): DF »A veces« (BA)
»Introducción a las fábulas para animales«
»Alborada« (BA)
(GE)
»Ayer« (SE)
»Jardín público con piernas particulares«
»Aquí, Madrid, mil novecientos« (AM)
(PSP)
»Ciudad cero« (TU)
»Las palabras inútiles« (PSP)
»Confesiones de un joven problemático«
»Luz llamada día trece« (SE)
(M)
»Me basta así« (PSP)
»Contra-Orden. (Poética por la que me pro-
»Me falta una palabra, una palabra« (AM)
nuncio ciertos días.)« (M)
»Mientras tú existas« (AM)
»Crepúsculo, Albuquerque, estío« (PM)
»Miro« (AM)
»Cumpleaños« (AM)
»Muerte en el olvido« (AM)
»Cumpleaños de amor« (SE)
»Mundo asombroso« (SE)
»Dato biográfico« (M)
»Otro tiempo vendrá, distinto a éste« (SE)
»Deixis en fantasma« (DF)
»Palabra muerta, realidad perdida« (SE)
»Diciembre« (SE)
»Palabras desprendidas de pinturas de José
»Discurso a los jóvenes« (SE)
Hernández« (BA)
»Domingo« (SE)
»Para que yo me llame Ángel González«
»El campo de batalla« (SE)
(AM)
»El derrotado« (SE)
»Penúltima nostalgia« (GE)
»El futuro« (SE)
»Poética a la que intento a veces aplicar-
»El invierno« (SE)
me« (M)
»En este instante, breve y duro instante«
»Porvenir« (SE)
(AM)
»Preámbulo a un silencio« (TU)
»Eso no es nada« (AM)
»Primera evocación« (TU)
»Evocación segunda« (TU)
»Reflexión primera« (SE)
G EDICHTVERZEICHNIS
»Sé lo que es esperar« (SE)
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»Texas, otoño, un día« (M)
»Si serenases« (SE)
»Te tuve« (AM)
»Siempre lo que quieras« (BA)
»Yo mismo« (SE)
J OSÉ AGUSTÍN G OYTISOLO El retorno (1954): ER Salmos al viento (1958): SV Claridad (1961): C Algo sucede (1968): AS Bajo tolerancia (1973): BT Taller de arquitectura (1977): TA La noche le es propicia (1992): LN »Al otro lado del espejo« (LN)
»La muralla roja« (BT/ TA)
»Alguna noche – las fogatas eran« (ER)
»La noche le es propicia« (LN)
»Años turbios« (C)
»Lo que mis juramentos puedan« (ER)
»Aquel año se me ha quedado muerto« (ER)
»Los celestiales« (SV)
»Así el deseo recomienza« (LN)
»Los motivos auténticos del caso« (BT)
»Autobiografía« (SV)
»Llegará sigilosa« (LN)
»Bajo la sombra« (LN)
»Llora conmigo, hermano« (ER)
»Bolero« (BT)
»Meditación sobre el yesero« (AS)
»Carta a mi hermano« (AS)
»Mis habitaciones« (AS)
»Como la piel de un fruto, suave« (ER)
»No hay retorno« (LN)
»Con nosotros« (C)
»Nochebuena con Rosa« (AS)
»Crónica de un asalto« (BT/ TA)
»Noticia a Carlos Drummond de Andrade«
»De la mujer que amo he aprendido« (ER)
(AS)
»Desde tu marcha nada cambió« (ER)
»Palabras para Julia« (BT)
»Digo: comience el sendero a serpear« (ER)
»Para guardar el odio« (ER)
»Donde tú no estuvieras« (ER)
»Piazza Sant’Alessandro, 6« (AS)
»El día del entierro de un amigo« (BT)
»Por los bastardos«(ER)
»El hijo pródigo« (SV)
»Porque da miedo resbalar« (ER)
»El profeta« (SV)
»Quiero ser gato« (AS)
»En el Xanadú« (BT/ TA)
»Se oyen los pájaros« (LN)
»Imagen de Les Halles« (TA)
»Siete años« (C)
»La guerra« (C)
»Sobre vosotras, aves« (ER)
»La mitad de los días se me fue« (ER)
»Sucedió que la muerte« (ER)
»La mujer fuerte« (SV)
»Tal si fuera incienso« (LN)
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»Un hombre« (C)
»Walden« (TA)
»Ventana a la plaza de San Gregorio« (BT/
»Y saluda a su ausencia« (LN)
TA)
»Yo recuerdo tus ojos« (ER)
»Vida del justo« (SV)
Abbildungsverzeichnis
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Bei den hier verzeichneten Titeln handelt es sich um die in dieser Arbeit verwendeten Bände, soweit nicht anders angegeben.
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Danksagung
Für die Unterstützung, die ich in den vergangenen Jahren von vielen Seiten erhalten habe, möchte ich mich an dieser Stelle von ganzem Herzen bedanken – zuallererst bei meinem Doktorvater, Matei Chihaia, der mich unermüdlich in meiner Arbeit bestärkt hat. Mein herzlicher Dank gilt auch den Mitgliedern des Romanischen Seminars der Universität zu Köln, die mich großzügig aufnahmen und an ihren Projekten und Aktivitäten beteiligten, besonders meinem Zweitgutachter Wolfram Nitsch und den Teilnehmern seines Oberseminares. Für ihre Freundschaft und Unterstützung danke ich ganz besonders meinen Kölner Kolleginnen Wiebke Heyens, Maria Imhof und Christine Rath. Dankenswerterweise ermöglichte mir die Studienstiftung des deutschen Volkes ein fach- und sprachübergreifendes Arbeiten. Amb el »Forschungsstipendium Rudolf Brummer« l‘Associació Germano-Catalana em possibilità viatjar a Barcelona l’any 2009, on molta gent em va rebre i aconsellar: moltes gràcies a Xavier Macià i Núria Perpinyà (Universitat de Lleida), Pere Ballart, Jordi Julià, Carme Riera i Fernando Valls (Universitat Autònoma de Barcelona), Dolors Oller (Universitat Pompeu Fabra), Jordi Gràcia (Universitat de Barcelona) i a Carlota Casas Baró per discutir idees, a Josep Maria Ainaud, Jordi Cots, Albert Manent, Juan Antonio Masoliver Ródenas, Joaquim Molas i Àlex Susanna per parlar amb mi sobre el »medio siglo«, a Enric Juste per mostrar-me el seu documental Metrònom Ferrater i a Jordi Cornudella (Ed. 62) per compartir la seva vasta informació sobre Ferrater. Especialment a Josep Maria Castellet i Juan Marsé per les entrevistes que em van concedir. Agradezco también al Ministerio de Cultura el permiso de publicación de los documentos de censura. Asimismo doy las gracias a José Hernández, César Malet y sus colaboradores y a Helios Pandiella de la Editorial Luna de abajo por permitirme reproducir imágenes. Schließlich haben mir Miriam Ballhausen, Frank R. Links und Tinka Motzkau sehr bei der Durchsicht des Manuskriptes geholfen, Elisabet Capdevila und
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Karen Wimmel korrigierten katalanische, Emilia Merino Claros und Fátima López Pielow spanische Passagen. Meinen Eltern und Felix widme ich diese Arbeit, die ohne euren Rückhalt nicht entstanden wäre.
Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
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Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia« April 2012, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1
Roger Lüdeke (Hg.) Kommunikation im Populären Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen 2011, 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1833-4
Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 August 2012, ca. 270 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8
Miriam N. Reinhard Entwurf und Ordnung Übersetzungen aus »Jahrestage« von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung Mai 2012, ca. 254 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2010-8
Franziska Sick (Hg.) Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett 2011, 244 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1515-9
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Lars Koch, Christer Petersen, Joseph Vogel (Hg.)
Störfälle Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011
2011, 166 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1856-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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