BAND 21 Marx im Westen: Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965 [2., korr. Aufl.] 9783050061214, 9783050049205

Über Jahrzehnte beanspruchten die komplementären Diskurse des östlichen partei-, später staatsoffiziellen Marxismus sowi

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BAND 21 Marx im Westen: Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965 [2., korr. Aufl.]
 9783050061214, 9783050049205

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Ingo Elbe Marx im Westen Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965

POLITISCHE IDEEN

Band 21

Herausgegeben von Herfried Münkler Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.

Ingo Elbe

Marx im Westen Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965 2., korrigierte Auflage

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Berliner Vereins zur Förderung der MEGA-Edition e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrutbar.

ISBN 978-3-05-004920-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Ingo Elbe, Dortmund Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

VORWORT

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EINLEITUNG

Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen. Lesarten der Marxschen Theorie 1. WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.2

Quellen und Motive der neuen Marx-Lektüre Zur falschen Zeit am falschen Ort: Ein .westlicher' Marxismus im Osten Die verunsicherte Orthodoxie Der Einfluss des französischen strukturalen Marxismus Die Frankfurter Traditionslinie Logisch, historisch, dialektisch - Abkehr vom methodologischen Traditionsbestand und Debatten um die Spezifik der Marxschen Methode 1.2.1 Grundzüge der Methodenorthodoxie und das Entstehen der Neo-Orthodoxie 1.2.2 Operative Dialektik oder: Darstellung in Widersprüchen (I) Marxsche Dialektik in der Perspektive analytischer Positionen . . . (II) Eigentümliche Logik eines eigentümlichen Gegenstands 1.2.3 Exkurs zum Forschungsprozess 1.3 Objekttheoretische Konsequenzen 1.3.1 Kritik prämonetärer Werttheorie: Abstrakte Arbeit, Wert und Geld . . . (I) Marx versus Engels und Marx versus Marx (II) Kritiken am Modus begrifflicher Entwicklung eines monetären Werts . (III) Umgang mit oder Umgehung von Ambivalenzen? Paradigmainteme Varianten in der Diskussion um die nicht-/substantialistische Werttheorie von Marx 1.3.2 Wertformanalyse und Geld: Zur Debatte über Popularisierungen, Brüche und Versteckspiele in der Marxschen Darstellung (I) Die Redundanzthese der logisch-historischen Orthodoxie (II) Die Klärung des Verhältnisses der ersten beiden Kapitel Popularisierung, Bruch, Historisierung? (III) Neue Konfusionen? 1.3.3 Exkurs zur Werttheorie als Kapitaltheorie

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30 32 42 47 66 88 88 123 125 138 170 184 184 184 227

237 283 283 285 298 308

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INHALT

2 . STAATSABLEITUNG

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4

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Form, Funktion und Ausgangspunkt. Grundlagen und -fragen der Debatte . Allerhand Illusionen Der Streit um den Ausgangspunkt Die Wirklichkeit des Rechtsstaats Exkurs: Traditionskritik und kritische Tradition Traditionalistische Kritik des Klasseninhalts von Recht und Staat . . . . Explikation rechts- und staatstheoretischer Gehalte der Ökonomiekritik . . Die stalinistische Wende: Rechtstheorie als Sozialtechnologie Im Kreuzfeuer: Problematisierungen und Präzisierungen Ein historischer Materialismus ohne Geschichte? Von ,Ökonomismen' und ,Zirkulationismen' Dialektische Entwicklung der Rechts- und Staatsform Die Demokratie und ihre Widergänger

3. DIE KRISE DER REVOLUTIONSTHEORIE

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Prolog zum Dilemma des Arbeiterbewegungsmarxismus Praktisches Revolutionsmodell versus Ökonomiekritik Ökonomiekritik versus objektivistisches Revolutionsmodell Klasse (und) Widerspruch Konjunkturen des Revolutionskonzepts Krisendiagnosen. Die verfallsgeschichtliche Kritik der Revolutionstheorie

319 319 342 353 366 366 378 385 392 393 405 421 427 444

.

444 452 479 514 533 546

RESÜMEE

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LITERATURVERZEICHNIS

600

PERSONENVERZEICHNIS

632

Vorwort

Seit einem Jahrzehnt lässt sich eine zaghafte internationale Marx-Renaissance im medialen und kulturellen Feld beobachten, die sich allerdings nicht in eine Mode des Wissenschaftsbetriebes umsetzen konnte. Bücher, die sich positiv auf Marx beziehen und die Aktualität seiner Kapitalanalyse betonen, werden zu Bestsellern oder zumindest von weiten Teilen des bürgerlichen Feuilletons durchaus wohlwollend diskutiert1. Populäre Umfragen sehen Marx als den .wichtigsten Philosophen des Jahrtausends' 2 oder als einen der .besten Deutschen' 3 . Auch künstlerische Versuche einer Annäherung an Marx' Hauptwerk sind zu verzeichnen4. Gegenüber diesen Tendenzen muss allerdings festgehalten werden, dass viele dieser Bezüge meist folgen- oder belanglos bleiben. Man muss nicht erst darauf hinweisen, dass der .wichtigste Philosoph' den Boden der Philosophie verlassen wollte5 oder der ,gute Deutsche' als Staatenloser starb, der über seine einstige Heimat unter anderem zu berichten wusste, sie sei so schön, dass man besser außerhalb ihrer Grenzen lebe6. Auch die in einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommenen theoretischen Versuche leiden nicht selten unter auffalligen Verkürzungen und oberflächlichen Anleihen7. Dies hat auch im akademischen Bereich zu verortende Ursachen. Wir erleben zumindest in der Bundesrepublik eine Situation, in der die Marx-Rezeption auf den Status eines subakademischen Hobbys zu regredieren droht. Zwar schreitet auch nach der , Wende' die Edition der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe kontinuierlich voran8 und bietet so einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung stets neues Material, doch der universitäre Betrieb

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Als Beispiele seien hier genannt: Negri/ Hardt mit Empire (2002), Robert Kurz mit dem Kollaps der Modernisierung (1991) und seinem Schwarzbuch Kapitalismus (1999) sowie Francis Wheens Karl Marx-Biographie (1999). Vgl. http://www.bbc.co.uk/radio4/history/inourtime/greatest_philosopher_vote_result.shtml (letzter Zugriff: 18.4.2007). http://209.85.135.104/search?q=cache:r5Eo4nECpMJ:www.zdfjahrbuch.dc/2003/programmarbeit7a rens. htm+ZDF+unsere+Besten+Marx&hl=de&ct=clnk&cd=4&gl=de (letzter Zugriff: 18.4.2007). Wie bei dem Theaterstück Das Kapital Bd. 1 der Gruppe „Rimini-Protokoll". Vgl. Krings 2006. Vgl. MEW 3, S. 18 (MEJb 2003, S. 104). Vgl. MEW 30, S. 594. Vgl. zur Kritik an Negri/ Hardt: Kettner 2004 sowie 2006b, an Wheen: Elbe 2001. Auch der 190. Geburtstag von Marx sah an Veröffentlichungen nur wenig Substantielles, vgl. dazu den Überblick bei Stützle 2008. Vgl. dazu Hubmann/ Münkler/ Neuhaus 2001, S. 301 ff.

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VORWORT

behandelt Marx lediglich am Rande, wenn überhaupt. Eine Ursache der Verflachung der Marx-Rezeption ist die Ignoranz gegenüber einer seit Mitte der 1960er Jahre anhebenden Marx-Lektürebewegung, die eine an Breite und Tiefe bis dato nicht dagewesene Rezeption des Marxschen Werkes vollzog9. Während die etablierte Geisteswissenschaft entweder die letzten vierzig Jahre der Beschäftigung mit Marx schlicht verschlafen hat10 oder mit Beiträgen über die „Intrazyklizität der Tretkurbelbewegung" bzw. Sammelbänden über die „Philosophie der Wolke" brilliert und die universitäre Restlinke ad nauseam die „neoliberale Hegemonie" anprangert, ernten Fragen, die auch nur annähernd nach dem , siebziger-JahreAbleitungsmarxismus' der neuen Kapitallektüre klingen, in um wissenschaftliche Seriosität bemühten Kreisen bisweilen nur noch Kopfschütteln. Hier herrscht der Gestus des Bescheidwissens und Darüber-hinaus-, wenn nicht gar -hinwegseins vor. Vornehmlich in den 1970ern sei die marxistische Debatte ins Scholastische abgeglitten, habe sich von konkreten Problemen der Arbeiterbewegung entfernt und schließlich einen Theorietypus hervorgebracht, der sich auch als akademisch nicht anschlussfähig erwiesen habe". Beiträge zur Gestalt dialektischer Darstellung, Grundproblemen der Werttheorie oder der begrifflichen Bestimmung des bürgerlichen Staates gelten als out und werden nicht selten in die Nähe übriggebliebener Politsekten gestellt, wenn sie nicht, konträr zu dieser Strategie, als MarxPhilologismus abgetan werden. Oft begegnet man dabei vereinfachenden und verzerrenden Sichtweisen: Beispiele sind die Identifizierung bestimmter Lesarten und Strömungen mit der ganzen Kapitallektüre-Bewegung12, die Reduktion des Begriffs ,Ableitung' auf ,hegelianisierende' Ansätze13 oder die schlichte Identifizierung von Dialektik mit Identitätsphilosophie14. Damit wird ein einmal erreichtes Problemniveau kritischer Theoriebildung unterschritten. Es gilt daher, die „bedeutenden Leistungen" der „zweiten Welle der Capito/-Rezeption" „in Erinnerung zu behalten und kritisch aufzuarbeiten"15. Einen auf wenige zentrale Punkte begrenzten Beitrag zu dieser Aufarbeitung soll die vorliegende Arbeit darstellen. Sie soll die Grundzüge der Debatte um ein adäquates Gegenstands- und Methodenverständnis der Marxschen Ökonomiekritik sowie ihrer staats- und revolutionstheoretischen Implikationen darle9 10

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Vgl. die ähnliche Diagnose bei Kostede 1980, S. 10. Drastische Beispiele für das beklagenswerte Niveau der .bürgerlichen' Marx-Rezeption sind Walter Schweidlers Buch Der gute Staat (2004, v.a. S. 168, 179, 233ff.) oder Hartmut Böhmes Werk Fetischismus und Kultur (2006, Kapitel 3) (zur Kritik an Böhme vgl. auch Elbe 2007). Auch das Standardwerk Sozialtheorie (2006, u.a. S. 91, 163, 257f., 388, 396, 431, 566) von Joas/ Knöbl erwähnt die Marasche Theorie nur als deterministische, funktionalistische, klassenreduktionistische und ökonomistische Karikatur. So urteilen unter vielen anderen jüngst Christoph Henning (2005, S. 569), der meint, dass der „Neomarxismus [...] aus den Marx'schen Texten nicht mehr zur Welt kam" oder W.F. Haug (2008a, Sp. 331), der „den gesunden Menschenverstand" gegen „die scholastischen Sektendiskussionen" der siebziger Jahre-Kapitallektüre ins Feld führt. Vgl. Ruben 1977, S. 42, Haug 1984, S. 60ff., Kallscheuer 1986, S. 226ff„ Demirovic 1987, S. 10f„ Henning 2004. Vgl. Henning 2005, S. 170ff„ 332, 341, Jäger 1994, Krätke 2001, S. 12 (Fn.), Krätke 2007, S. 150 (Fn.), Haug 2008b, Sp. 351 f. Vgl. Holz 1993. Hoff/ Petrioli/ Stützle/ Wolf 2006, S. 31.

VORWORT

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gen. Dabei konzentriert sich die Darstellung hinsichtlich der werttheoretischen Problematik auf die in der Bundesrepublik geleistete Erörterung der Grundfragen der ersten Kapitel des Kapital und der damit verbundenen Thematiken anderer Marxscher Arbeiten zur Kritik der politischen Ökonomie. Im Mittelpunkt steht der Begriff der Form und ihrer angemessenen Erkenntnis. Dies gilt auch für die Behandlung der Beiträge zur Staats- und Revolutionstheorie: Die wissenschaftlichen Ressourcen der Marxschen Texte zur Erfassung der spezifisch kapitalistischen Organisationsform gewaltmonopolisierter, öffentlicher Herrschaft und der Möglichkeit ihrer revolutionären Infragestellung stehen dabei im Mittelpunkt der Analyse. Damit soll keineswegs behauptet werden, die Beiträge zur marxistischen Ökonomie-, Staatsund Revolutionstheorie, die seit Mitte der 1960er Jahre in der Bundesrepublik zu verzeichnen sind, seien auf diese Thematiken beschränkt. Dennoch sind es gerade diese Themenfelder, auf denen eine neue Marx-Lektüre angetreten ist. Die Konzentration auf diese Fragen ist keine bloße arbeitsökonomische Konstruktionsleistung des Autors, sondern ein Kennzeichen des zu behandelnden Gegenstands. Eine umfassende Gesamtdarstellung sämtlicher Diskursstränge, zumal unter Einbeziehung der Institutionen- und Sozialgeschichte, wäre daher nicht nur schwerlich von einer Person zu leisten16, sie drohte auch, die spezifischen Innovationen der neuen Marx-Lektüre im enzyklopädischen Deskriptivismus einer Arbeit über den ,Neomarxismus' der letzten vierzig Jahre untergehen zu lassen. Auch hier gilt wieder: Der Vorwurf einer reduktionistischen Sicht auf das Marasche Werk ist nicht schon deshalb berechtigt, weil man sich intensiv mit speziellen Grundlagenproblemen desselben beschäftigt. Nur, wenn diese Beschäftigung vermeint, mit den abstrakten Problemen (z.B. des Werts, des Geldes, der Form Staat und des formanalytischen Klassenbegriffs) alle relevanten Themen abgedeckt und alles Wesentliche über eine mögliche Erkenntnis des Kapitalismus ausgesagt zu haben, ist dieser Vorwurf berechtigt. Ansonsten ist mit Marx dagegen zu halten, dass die „Abstraktionskraft" 17 ein unverzichtbares wissenschaftsspezifisches Erkenntnismedium ist unverzichtbar zum Begreifen des ebenso fatalen wie schwerverständlichen Nexus unserer kapitalistischen Moderne. Neben der thematischen Beschränkung ist die geographische zu erwähnen: die Behandlung lediglich der bundesrepublikanischen Debatte. Dies geschieht aus zwei Gründen: Einmal ist die hier zu betrachtende Lesart zunächst vornehmlich im westdeutschen Kontext entstanden 18 und geführt worden, zum anderen weist die Geschichte des internationalen Marxismus seit Ende des Zweiten Weltkriegs stark national segregierte Diskussionszusammenhänge auf. Allein der eher geringen und seit den 1980er Jahren noch abnehmenden Zahl

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So spricht Michael Krätke (1996, S. 84) treffend davon, die Durchleuchtung der marxistischen Tradition hinsichtlich ihrer Erkenntnisgewinne für eine aktuelle Theorie der Gesellschaft erfordere „die Versiertheit eines Marx-Philologen, die Kenntnisse eines Historikers des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft, den Überblick eines komparativ arbeitenden Sozialforschers, die analytische Schärfe eines gelernten Philosophen und außerdem gründliche Kenntnisse der Entwicklungen in vielen Einzelwissenschaften - mehr also, als ein einzelner Kopf normalerweise aushält". MEW 23, S. 12 (MEGA II/5, S. 12). Eine international vergleichende Studie liegt allerdings bisher nicht vor. Jan Hoff wird sie in Kürze vorlegen. Die existierenden Überblicke über internationale Tendenzen (vgl. Hoff/ Petrioli/ Stützle/ Wolf 2006, Krätke 1996) oder länderspezifische Rezeptionskontexte (vgl. Schoch 1980 (zu Frankreich), Chun (zu Großbritannien) oder Wright 2005 (zu Italien)) stützen aber meine Vermutung.

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VORWORT

gegenseitiger Übersetzungen ist zu entnehmen, dass zumindest der Marxismus seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht einmal Marx' Forderung eingelöst hat, „die Verbindung der deutschen Sozialisten mit den französischen und englischen Sozialisten herzustellen" - ein „Schritt, den die soziale Bewegung in ihrer literarischen Ausdrucksform machen muß, um sich der nationalen Beschränktheit zu entledigen"19. Die Marx-/ Engelssche Diagnose, „aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur"20, harrt also zumindest bezüglich marxistischer Theorieproduktion noch ihrer Verwirklichung. Trotz dieser nationalen Beschränkung spielt eine Handvoll nicht-bundesrepublikanischer Autoren im hier zu betrachtenden Kontext eine wichtige Rolle. Die Beiträge solcher Autoren wie Isaak I. Rubin, Eugen Paschukanis, Louis Althusser, Jacques Rancière, Lucio Colletti, Moishe Postone oder John Holloway werden daher im Rahmen dieser Arbeit zu berücksichtigen sein. Die folgende Arbeit rechtfertigt sich nicht mit aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen hin zum Neoliberalismus oder zur .Globalisierung', die Marx' Werk ,wieder' aktuell oder interessant erscheinen ließen. Die hier betrachteten Theorieentwicklungen befinden sich auf einem extrem hohen begrifflichen Abstraktionsniveau, dessen Aktualität so lange gegeben ist, wie man die Existenz einer kapitalistischen Produktionsweise plausibel unterstellen kann. Die politische Notwendigkeit eines wissenschaftlichen Begriffs moderner Reichtums-, Zwangs- und Denkformen, allein „um unter den erneut auftretenden Antikapitalismen verlässlicher zwischen illusionären und realitätstüchtigen, sowie zwischen repressiven und emanzipativen unterscheiden zu können"21, liegt ebenso auf der Hand, wie die Isolation ökonomiekritischen Denkens von der alltäglichen Empörung und ihren sozial bewegten Formen unbezweifelbar ist. Frieder Otto Wolf, Jan Hoff, Alexis Petrioli und Ingo Stützle bringen denn auch treffend die ,doppelte Freiheit' der gegenwärtigen wissenschaftlichen Marx-Auseinandersetzung auf den Punkt. Sie sei „einerseits befreit von den ideologischen Zwängen des Kalte-Kriegs-Systems, das jede philosophische Äußerung in ein System der binären Parteinahmen einschrieb, und andererseits weitgehend jeder konkreten Verbindung mit gesellschaftspolitischer Praxis beraubt"22. Anmerkung zur Zitierweise: Da es in dieser Arbeit um eine Betrachtung der MarxRekonstruktion geht, werden alle Marx-Bezüge, die in den Werken der neuen Marx-Lektüre hergestellt werden, wie folgt zitiert („MEW oder MEGA, Seite, zitiert in XY Jahr, Seite"), damit die Marx-Bezüge der behandelten Texte in nachvollziehbarer Weise von den von mir angeführten Marx-Stellen unterscheidbar werden. Ich zitiere in der Regel nach den MarxEngels Werken (MEW) (Berlin/ Ost 1953ff.), weil auch der überwiegende Teil der hier behandelten Interpreten auf die MEW zurückgreift und die Entstehung der Grundintentionen der neuen Marx-Lektüre noch kein Produkt der MEGA 2 -Veröffentlichung war. Die in der MEW-Ausgabe nicht enthaltenen Texte oder Texte, deren Autorschaft dort nicht deutlich gemacht wird, werden nach der Marx-Engels Gesamtausgabe (MEGA2) (Berlin/ Ost 1975ff.) zitiert. Zu den MEW-Angaben werden, soweit vorhanden, die entsprechenden Stellen in der MEGA angeführt. 19 20 21 22

MEW 27, S. 442 (MEGA III/2, S. 7). MEW 4, S. 466. Hoff/ Petrioli/ Stützle/ Wolf 2006, S. 29. Ebd.

VORWORT

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Danksagung: Bei diesem Buch handelt es sich um die geringfügig überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner Dissertation „Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik. Zum Wandel der wert-, staats- und revolutionstheoretischen Deutungen des Marxschen Werks seit 1965", die ich im August 2007 am Institut für Philosophie der FU Berlin bei PD Dr. Frieder Otto Wolf und Prof. Dr. Andreas Arndt eingereicht habe. Ihnen möchte ich danken, ebenfalls Herrn Dr. Mischka Dammaschke vom Akademie-Verlag für sein Engagement für das Buch und seinen Autor. Die Rosa Luxemburg-Stiftung hat mit der Gewährung eines dreijährigen Promotions-Stipendiums die Arbeit an diesem Projekt unterstützt, wofür ihr mein Dank ebenso gilt, wie allen, die einzelne Kapitel der Arbeit gelesen haben oder mit denen ich bestimmte theoretische Fragen diskutieren konnte: Sven Ellmers, Michael Heinrich, Sonja Schnitzler, Dieter Wolf, dem Berliner Ökonomieseminar und dem Bochumer Arbeitskreis rru. Dafür und für mehr als das gilt mein Dank Dorothee Krings. Dortmund, August 2008

Einleitung Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen. Lesarten der Marxschen Theorie

Über Jahrzehnte hinweg beanspruchten die komplementären Diskurse des partei-, später staatsoffiziellen Marxismus sowie des westlichen Antikommunismus die nahezu uneingeschränkte Definitionsmacht über das, was gemeinhin als ,Marxscher' oder wissenschaftlicher Sozialismus' galt. Dissidente Formen des Marxismus, wie der .westliche Marxismus' oder die ,neue Marx-Lektüre', formulierten dagegen eine Kritik des traditionsmarxistischen Paradigmas und beanspruchten gegen dessen restringierte und ideologisierte Lesart die Herausarbeitung der ,authentischen' bzw. ,esoterischen' Gehalte der Marxschen Gesellschaftsanalyse und -kritik. Während der Terminus ,westlicher Marxismus', wie er von Perry Anderson verwendet wird1, sich trotz aller Einwände hinsichtlich seiner konzeptionellen Grenzen und eurozentrischen Konnotationen 2 weithin als legitime Kategorie einer Wissenschaftsgeschichtsschreibung des Marxismus gegen andere, vor allem personenzentrierte3 Zuordnungs- und Periodisierungskriterien durchgesetzt zu haben scheint 4 und es auch einige wenige spezielle Untersuchungen zu dieser Formation gibt5, existiert bisher keine Gesamtdarstellung der Kernvorstellungen bzw. paradigmatischen Strukturen dessen, was sich seit Ende der 1960er Jahre vor allem in der Bundesrepublik an marxistischem Denken herausgebildet hat6. In der Lite1 2

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Vgl. Anderson 1978. Zu Inhalt und Begriffsgeschichte vgl. die folgenden Ausführungen. Vgl. dazu u.a. Kallscheuer 1986, S. 17f., Haug 1987 oder Krätke 1996, S. 77, 82. Im Vordergrund aller Kritiken steht dabei Andersons reduktionistischer Erklärungsversuch der Konzentration des westlichen Marxismus auf philosophische Fragestellungen aus der Ferne seiner Theoretiker zur Arbeiterbewegung. Michael Krätke konstatiert zu Recht: „Nach dieser Logik hätte Marx' Werk nie zustande kommen können" (Krätke 1996, S. 77). Vgl. Vranicki 1972 oder Kolakowski 1977. Vgl. u.a. Breuer 1977, S. 80-95; Anderson 1978; Demirovic 1999, S. 33; Behrens 1993a; Krätke 1996, S. 99; Jünke 2000, S. lOff.; Heinrich 2002, S. 28f.; Neben der inzwischen als klassisch geltenden von Anderson (1978) ist zur Zeit eine weitere Monographie von Behrens geplant. Die Arbeit von Dozekal (1985) blendet die Forschungsergebnisse und Debatten des von ihm untersuchten Zeitraums fast vollständig aus. Inhaltliche Fortschritte in wert- und staatstheoretischer Hinsicht scheint es ihm zufolge nicht gegeben zu haben. Vielmehr wird der Rekonstruktionsdebatte, von der Warte einer kaum explizierten Orthodoxie aus, m.o.w. pauschal ein falsches MarxVerständnis unterstellt. Die Arbeit verfolgt dabei lediglich das eingeschränkte Erkenntnisinteresse der Aufweisung eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Programmatik der Rekonstruktionsversuche zu Beginn und der Ausrufung einer Krise des Marxismus am Ende der 70er Jahre.

EINLEITUNG: LESARTEN DER MARXSCHEN THEORIE

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ratur wird dieser Bruch, diese Entstehung eines neuen Typus und einer neuen Phase marxistischer Theoriebildung gelegentlich bemerkt und versucht, ihn mit Hilfe von Begriffen unterschiedlichster Reichweite (Neomarxismus, kritischer Marxismus, Kapitallogik, Hegelmarxismus, Marxismus als Sozialwissenschaft) zu benennen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll der in diesem spezifischen Sinne wahrscheinlich zuerst von Hans-Georg Backhaus7 verwendete und inzwischen von Autoren wie Michael Heinrich und anderen aufgegriffene 8 Terminus ,neue Marx-Lektüre' verwendet werden. Um die neue Marx-Lektüre als eigenständige Marxismus-Formation und Novum auszuweisen, ist es zunächst erforderlich, einen kursorischen Blick auf die Kernvorstellungen der beiden anderen im Rahmen dieser Arbeit identifizierten Paradigmen marxistischer Theoriebildung zu werfen9. Absicht der folgenden Bemerkungen ist es demnach, eine grobe Übersicht über zentrale Lesarten der Marxschen Theorie zu geben. Diese sollen anhand einiger ausgewählter Themenbereiche als relativ klar voneinander abgrenzbare Marxismen dargestellt und in ihrer Wirkungsgeschichte bzw. -mächtigkeit hinsichtlich dessen, was im common sense unter ,der' Marxschen Theorie verstanden wird, eingeschätzt werden. Es wird dabei eine Differenzierung zwischen der bislang vorherrschenden parteioffiziellen MarxDeutung (dem traditionellen Marxismus, dem Marxismus im Singular, wenn man so will) und den dissidenten, kritischen Formen der Marxrezeption (den Marxismen im Plural), mit ihrem jeweiligen Anspruch eines ,Zurück zu Marx', vorgenommen. Ersterer wird verstanden als Produkt und Prozess einer restringierten Marx-Lektüre, unter anderem ausgehend von den ,exoterischen' Schichten des Marxschen Werks, die traditionelle Paradigmen in Nationalökonomie, Geschichtstheorie und Philosophie fortschreiben und den Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise erliegen, systematisiert und doktrinarisiert von Engels, Kautsky und anderen, schließlich mündend in die Legitimationswissenschaft des Marxismus-Leninismus. Letztere knüpfen - meist jenseits institutionalisierter, kumulativer Forschungsprozesse, von isolierten Akteuren im Stile eines „Untergrund-Marxismus"10 vollzogen - an den ,esoterischen' Gehalten der Marxschen Gesellschaftsanalyse an. Dabei müssen zur Charakterisierung der beiden Lesarten einige stark verkürzte und auf wenige Aspekte begrenzte Thesen genügen. Insbesondere von dem zuerst seitens Karl Korsch formulierten anspruchsvollen Vorhaben einer „Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung auf die materialistische Geschichtsauffassung selbst"11, das über eine bloße ideengeschichtliche Darstellung sowie theorieimmanente Kritik hinausgelangt und ideologiekritisch den Zusammenhang von historischen Praxisformen und theoretischen Marxismusformationen in den Blick nimmt, muss hier vollends abgesehen werden. Auf eine gesonderte Behandlung der generell marx-/marxismuskritischen Lesarten kann hier insofern verzichtet werden, als dass deren Marx-Bild nicht selten mit dem der traditionellen Marxisten übereinstimmt.

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Vgl. Backhaus 1997a. Vgl. Heinrich 2002, Kirchhoff/ Meyer/ Pähl/ Heckel/ Engemann 2004, Hoff/ Petrioli/ Stützte/ Wolf 2006, Ellmers 2007. Vgl. auch die graphische Darstellung im Anhang zu dieser Einleitung. Labica 1986, S. 113 Korsch 1993b, S. 375

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EINLEITUNG: LESARTEN DER MARXSCHEN THEORIE

Marxismus Zwar wird der Begriff „Marxismus" zur Kennzeichnung der Marxschen Theorie wahrscheinlich zuerst im Jahre 1879 vom deutschen Sozialdemokraten Franz Mehring verwendet12 und setzt sich als Kampfbegriff von Kritikern wie Verteidigern der „Marxschen Lehre" erst Ende der 1880er Jahre durch13, doch die Geburtsstunde einer „Marxschen Schule" wird einhellig auf das Erscheinen des Anti-Dühring von Friedrich Engels im Jahre 1878 und die darauf folgende Rezeption dieses Werks seitens Karl Kautsky, Eduard Bernstein und anderen datiert14. Engels' Schriften - auch wenn in ihnen die Begriffe „Marxismus" oder „dialektischer Materialismus", die Selbstetikettierungen der traditionellen Lesarten, noch nicht auftauchen - lieferten ganzen Generationen von Lesern, Marxisten wie Anti-Marxisten, die Interpretationsmuster, durch die hindurch das Marasche Werk wahrgenommen wird. Insbesondere die Rezension von Marx' Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), die Spätschrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1886) oder der Nachtrag zum dritten Band des Kapital (1894/95) erlangten eine kaum zu überschätzende Wirkungsgeschichte. Allen voran aber wird der Anti-Dühring zum Lehrbuch der Marxschen Theorie sowie zur positiven Darstellung einer „marxistischen Weltanschauung" stilisiert: Für Kautsky „gibt es kein Buch, das für das Verständnis des Marxismus so viel geleistet hätte wie dieses. Wohl ist das Marxsche ,Kapital' gewaltiger. Aber erst durch den ,Antidühring' haben wir das ,Kapital' richtig lesen und verstehen gelernt"15, und für Lenin ist es eines der „Handbücher jedes klassenbewussten Arbeiters"16. Es vollzieht sich dabei etwas, das für die Geschichte ,des' Marxismus allgemein kennzeichnend sein wird: der/die Initiatoren des theoretischen Korpus erachten es „nicht für nützlich [...] selbst als Namensgeber in Erscheinung zu treten [...] die Eponyme sind nicht die wirklichen Sprecher"17. Der Marxismus ist in mehrerlei Hinsicht Engels' Werk und von daher eigentlich ein Engelsismus. Hier seien nur drei Punkte genannt, an die eine ideologisierte und restringierte Marx-Rezeption anknüpfen konnte.

Die ontologisch-deterministische Tendenz Der wissenschaftliche Sozialismus wird konzipiert als ontologisches System, „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs"18. Materialistische Dialektik fungiert hier als „Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschenge-

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Vgl. Walther 1982, S. 948f. Vgl. ebd., S. 944. Vgl. u.a. Walther 1982, S. 947; Steinberg 1979, S. 22f.; Stedman Jones 1988, S. 234; Liedman 1997, S. 384. Karl Kautsky, zit. nach Stedman Jones 1988, S. 234f. Lenin 1965, S. 4. Labica 1986, S. 17. Im Marxismus verschwindet Engels hinter Marx, im Leninismus Stalin hinter Lenin. MEW 20, S. 307 (MEGA 1/26, S. 173).

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sellschaft und des Denkens" 19 ; die Natur dient Engels dabei als „Probe auf die Dialektik" 20 . Eine falsche Analogisierung historisch-gesellschaftlicher Prozesse mit Naturphänomenen wird allein schon dadurch vorgenommen, dass in der Engelsschen Erläuterung der Grundzüge der Dialektik gerade die zwischen Subjekt und Objekt fehlt. „Negation der Negation" oder „Umschlag von Quantität in Qualität" werden im Wechsel von Aggregatzuständen des Wassers oder der Entwicklung eines Gerstenkorns ausgemacht. Dialektik soll gegen eine statische Betrachtungsweise das „Werden", die „Vergänglichkeit" allen Seins aufzeigen 21 , sie wird rückgebunden an traditionelle bewusstseinsphilosophische Dichotomien, wie die sog. „Grundfrage" der Philosophie, ob im Verhältnis von „Denken und Sein" diesem oder jenem das Primat zukomme 22 , wird zerfällt in „zwei Reihen von Gesetzen" 23 , in die „objektive" und die „subjektive" Dialektik, wobei letztere lediglich als passives Abbild der ersteren gefasst wird 24 . Engels verengt, ja verzerrt so drei elementare praxisphilosophische Motive von Marx, die auch er teilweise in früheren Schriften noch vertreten hatte: 1) Die Erkenntnis, dass nicht nur der Gegenstand, sondern auch die Anschauung desselben historischpraktisch vermittelt25, der Geschichte der Produktionsweise nicht äußerlich ist. Dagegen betont Engels später, „materialistische Naturanschauung" sei „weiter nichts als einfache Auffassung der Natur so, wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat" 26 . Der naive Realismus der später von Lenin27 und anderen systematisierten Widerspiegelungstheorie, die gerade dem verdinglichten Schein der Unmittelbarkeit eines gesellschaftlich Vermittelten, dem Fetischismus des An-sich-Seins eines nur durch einen historisch bestimmten menschlichen Handlungszusammenhang hindurch Existierenden verfällt, wird schon hier begründet 28 . So „von den Dingen auf das Bewusstsein und vom Bewusstsein auf die Dinge verwiesen" 29 , sind der Begriff der Praxis, der der subjektiven Vermitteltheit des Objekts und auch ideologiekritische Überlegungen in diesem Paradigma kaum noch unterzubringen. 2) Der noch in der Deutschen Ideologie auch von Engels vertretene negative Begriff von Naturwüchsigkeit30 wird nun in einen positiven verwandelt. Nicht mehr die Außiebung von auf der Unbe19 20 21 22 23 24 25 26 27

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Ebd., S. 132, vgl. auch S. 11 (MEGA 1/27, S. 336,494f.). Ebd., S. 22 (MEGA 1/27, S. 233). Vgl. M E W 21, S. 267. Vgl. ebd., S. 274. Ebd., S. 293. Vgl. M E W 20, S. 481 (MEGA 1/26, S. 361). Vgl. M E W 3, S. 44 (MEJb 2003, S. 8f.). M E W 20, S. 469 (MEGA 1/26, S. 350). V.a. in Materialismus und Empiriokritizismus, das vom ML neben dem Anti-Dühring zum klassischen Lehrbuch des dialektischen Materialismus stilisiert wird. Marxismus wird hier zur Ideologie im strengen Marxschen Sinne: zur Systematisierung der Denkformen des verdinglichten Alltagsverstands. Zu den politpragmatischen Hintergründen der Schrift, die im M L ausgeblendet werden vgl. Busch-Weßlau 1990, S. 130. Auf das mediale Apriori der Fotografie als Grundlage dieses naiven Realismus in der Philosophie sowie auf die fundamentalen Gemeinsamkeiten zwischen Engels, Lenin und Feuerbach weist Falko Schmieder (2004, S. 213) hin. Sohn-Rethel 1978, S. 114. Vgl. auch bereits Engels ( M E W 1, S. 515) (MEGA 1/3, S. 484), wo er vom ökonomischen .Gesetz der Konkurrenz' als einem spricht, „das auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruht".

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wusstheit der Beteiligten beruhenden, spezifisch gesellschaftlichen Gesetzen, sondern die bewusste Anwendung von „Gesetzen der Bewegung [...] der äußern Welt"31 werden nun postuliert. 3) Spricht Marx in den Thesen über Feuerbach noch davon, dass alle Mysterien, die die Theorie zum Mystizismus veranlassen, ihre rationelle Lösung im Begreifen der menschlichen Praxis finden32, womit der Zusammenhang zwischen Praxis- und Denkformen angesprochen ist, so reduziert Engels den PraxisbegrifF nun auf den der naturwissenschaftlich-experimentellen Tätigkeit33. Freilich finden sich auch noch in den Schriften des späten Engels Ambivalenzen und praxisphilosophische Motive34, die von den Epigonen weitgehend getilgt werden. Dennoch ebnet Engels, den Szientismus seiner Epoche bündelnd, durch die Akzentverschiebung von einer Theorie gesellschaftlicher Praxis hin zu einer kontemplativwiderspiegelungstheoretischen Entwicklungslehre, den Weg zu einer mechanizistischen und fatalistischen Auffassung des historischen Materialismus. Der vulgäre Evolutionismus kann in der europäischen Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts als nahezu allgegenwärtiges Phänomen gelten35. Nicht allein für Kautsky, Bernstein und Bebel stehen deshalb der deterministische Entwicklungsbegriff und die Revolutionsmetaphysik einer providentiellen Mission des Proletariats36 im Zentrum der Marxschen Lehre: Die Menschheit ist demnach einem „naturwissenschaftlich konstatierbaren" Automatismus der Befreiung unterworfen. Was sich hier im modernen szientistischen Gewand eines Gesetzesfetischismus präsentiert, ist schließlich nichts anderes als eine Geschichtsmetaphysik mit sozialistischem Vorzeichen37, die Affirmation der von Marx gerade kritisierten Verkehrung von Subjekt und Objekt: Einem hinter dem Rücken der Akteure sich vollziehenden Prozess wird ein moralisch qualifiziertes Ziel zugeordnet38. Im Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie wird dieser revolutionäre Attentismus39 schließlich auch auf parteioffizieller Ebene als konsequenter Marxismus festgeschrieben: Aufgabe der Partei ist es, für ein auch ohne sie „naturnotwendig" eintretendes Ereignis gewappnet zu sein, „nicht die Revolution zu machen, sondern sie zu benutzen"40. Die ontologische Ausrichtung und der enzyklo31 32 33 34

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M E W 2 1 , S . 293. Vgl. MEW 3, S. 535 (MEGA IV/3, S. 21). Vgl. MEW 21, S. 276. So z.B. in MEW 21, S. 296f.; 20, S. 264 (MEGA 1/27, S. 446f.) oder in den späten Briefen an Schmidt, Bloch, Mehring und Borgius. Vgl. dazu die Studie von Steinberg 1979, v.a. S. 45ff., 63ff.. Sozialgeschichtliche Erklärungsansätze dafür bieten u.a. ders., S. 145-150, Groh 1974, S. 58-63, Negt 1974, Gramsci 1995, S. 1386f. Vgl. dazu kritisch Mohl 1978, Sieferle 1979. Laclau/ MoufFe (2000, S. 53) weisen auf den darwinistisch-hegelianischen Charakter dieser Konzeption hin: „Der Darwinismus allein bietet keine Garantien fitr die Zukunft, weil die natürliche Auswahl nicht in einer von Anfang an vorbestimmten Richtung operiert. Nur wenn dem Darwinismus - der damit gänzlich unvereinbar ist - ein hegelianischer Typus der Teleologie hinzugefügt wird, kann ein evolutionärer Prozeß als ein Garant zukünftiger Übergänge präsentiert werden". Vgl. dazu in instruktiver Weise: Kittsteiner 1980. Vgl. Groh 1974, S. 36. Kautsky, zit. nach Steinberg 1979, 61. Vgl. auch Kautsky 1974, S. 261: Die Ausblicke auf Freiheit und Humanität sind nach Kautsky „nicht Erwartungen von Zuständen, die bloß kommen sollen, die wir bloß wünschen und wollen, sondern Ausblicke auf Zustände, die kommen müssen, die notwen-

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pädische Charakter der Engelsschen Erwägungen befördern zudem die Tendenz zur Auslegung des wissenschaftlichen Sozialismus als umfassende proletarische Weltanschauung. Lenin schließlich wird die „Lehre von Marx" als „proletarische Ideologie" und Religionsersatz präsentieren, als ,,allmächtig[e]", „in sich geschlossene] und harmonischfe]" Doktrin, die „den Menschen eine einheitliche Weltanschauung gibt"41. Dem entsprechend wird auch der negative Ideologiebegriff zur Kategorie für die Seinsbestimmtheit des Bewusstseins überhaupt neutralisiert42. Alle diese Entwicklungen, die unzweifelhaft den Charakter einer theoretischen Regression annehmen, kulminieren schließlich im von Abram Deborin und Stalin ausgearbeiteten Marxismus-Leninismus. Gilt schon fur Lenin, trotz aller Betonung des Politischen, der Marxismus als „inhaltsreichere [...] Entwicklungslehre"43, die auch auf Brüche und Sprünge in Natur und Gesellschaft aufmerksam macht, so wird diese naturalistisch-objektivistische Strömung im ML zur Staatsdoktrin erhoben. Die zentrale Argumentationsfigur lautet dabei: „Was für die Natur gilt, muss auch für die Geschichte gelten" bzw. „die Natur macht Sprünge also auch die Geschichte". Politische Praxis versteht sich dabei als Vollzug eherner historischer Gesetze. Perfektioniert ist diese schlagende Logik in Josef Stalins über Jahrzehnte hinweg für die marxistische Theoriebildung des Ostblocks maßgebender Schrift Über dialektischen und historischen Materialismus: Der historische Materialismus steht für die „historische Abteilung" eines weltanschaulichen Systems i.S. einer „Anwendung" und .Ausdehnung" ontologischer Leitsätze auf die Gesellschaft, die einen epistemologischen Essentialismus (eine Abbildtheorie, die als DiaMat „Sein" und „Bewusstsein" unabhängig vom Praxisbegriff thematisiert) und sozialtheoretischen Naturalismus (eine vom menschlichen

dig sind". Zwar wehrt er sich gegen die Deutung von .notwendig' „in dem fatalistischen Sinne, daß eine höhere Macht sie von selbst uns schenken wird", doch unterstellt er einen unwiderstehlichen immanenten ökonomisch-geschichtlichen Zwang zur Revolution, wobei er immanente kapitalistische Zwangsgesetze und die Formierung des Proletariats zum auf erfolgreiche Weise revolutionär handelnden Subjekt in eine Linie stellt: „unvermeidlich in dem Sinne, wie es unvermeidlich ist, [...] daß die Kapitalisten in ihrer Profitgier [!] das ganze wirtschaftliche Leben umwälzen, wie es unvermeidlich ist, daß die Lohnarbeiter nach kürzeren Arbeitszeiten und höheren Löhnen trachten, daß sie sich organisieren, daß sie die Kapitalistenklasse und deren Staatsgewalt bekriegen, wie es unvermeidlich ist, daß sie nach der politischen Gewalt und dem Umsturz der Kapitalistenherrschaft trachten. Der Sozialismus ist unvermeidlich, weil der Klassenkampf, weil der Sieg des Proletariats unvermeidlich ist". 41

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Lenin 1965a, S. 3f. Kautsky (1965, S. 230) bezeichnet die Marasche Theorie gar als „frohe Botschaft, ein neues Evangelium". Allerdings gibt es auch andere, unexplizierte Aspekte des Leninschen Ideologiebegriffs, die nicht auf Klassenreduktionismus hinauslaufen und im ML ignoriert wurden. Vgl. dazu Busch-Weßlau 1990, S. 122ff., 132ff. Der Annahme des Marxismus als proletarischer Ideologie widerspricht Lenins These, die Arbeiterklasse bringe spontan nur ein systemimmanent-,trade-unionistisches' Bewusstsein hervor (vgl. Lenin 1958, S. 385f, 394f.). Die Konsequenzen aus dieser Einsicht haben aber weder er noch Lukács gezogen. Lenin 1960, S. 43.

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EINLEITUNG: LESARTEN DER MARXSCHEN THEORIE

Handeln unabhängige Entwicklungslogik, die von der Partei als oberstem Sozialtechnologen „bewusst angewendet" oder „beschleunigt" wird) 44 impliziert45.

Die historizistische Deutung der formgenetischen Methode Wenn der Leninsche Satz, „nach einem halben Jahrhundert" habe „nicht ein Marxist Marx begriffen" 46 - ein Diktum, das in diesem Fall allerdings auch auf ihn selbst zutrifft47 - , Rheinen Sachverhalt volle Gültigkeit beanspruchen darf, dann für den der Interpretation der

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Zur Paradoxic dieser Verknüpfung von Voluntarismus und Determinismus vgl. Taylor (1997, S. 729-731): „Die Gesetze, die von den Ingenieuren angewandt werden, die den Umständen ihren Willen aufzwingen, können nicht die Gesetze der ehernen Notwendigkeit sein, wenn das bedeutet, daß wir das Geschehen durch Bezug auf sie erklären können, ohne uns auf menschliche Entscheidungen zu berufen. Ein wahres Entwicklungsgesetz der Geschichte wäre ein Gesetz, dessen Antezedenzien nicht manipulierbar sind [...] Es wäre der Verwendung durch Ingenieure nicht zugänglich" (ebd., S. 730). Vgl. auch Poppers Kritik am Gedanken von historischen Entwicklungsgesetzen, die im Stile unbedingter Prognosen formuliert werden (Popper 1987, S. 35f.) sowie an dem paradoxen Praxisbegriff des ,Historizismus', der sich auf „Hebammenkunst" (ebd., S. 40) reduziere (vgl. auch ebd., S. 57f. ) Gegen Popper ist aber einzuwenden: a) seine auch vor Textfälschungen nicht zurückschreckende Unterstellung eines Historizismus im Wissenschaftsmodell des Kapital (vgl. ebd., S. 39, in der ein Marx-Zitat, in dem von der Behandlung der Gesetze der modernen Gesellschaft die Rede ist, kurzerhand in eines verfälscht wird, in dem von Gesetzen der „menschlichen" Gesellschaft gesprochen wird) sowie b) seine falsche Identifizierung von technologischen Prognosen mit solchen kurzer Reichweite (vgl. ebd., S. 35, 53f.).

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Stalin (1979) bestimmt die Komponenten der Marxschen Theorie wie folgt: Dialektik: Eine Diskontinuitäten betonende universelle Entwicklungslogik, die uns lehrt, dass alles im Werden und Vergehen begriffen ist; Materialismus·. Eine kontemplative Ontologie, die lehrt, dass das Bewusstsein nur ein Abbild des unabhängig und außerhalb seiner existierenden Seins darstellt; historischer Materialismus: Anwendung des DiaMat auf die Geschichte; universalhistorische Gesetze sind Klassenkampf, auf dem Primat der Produktivkraftentwicklung (causa-sui-Konzept der Produktivkräfte) fußende Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, schließlich das Fortschrittsgesetz der Abfolge der Gesellschaftsformationen. Lenin 1973, S. 170. Lenin stellt diese Diagnose im Kontext seiner Hegel-Lektüre. Er meint, man müsse die Hegeische Logik „durchstudiert und begriffen" haben, um das Kapital verstehen zu können (ebd.). Dieser Hinweis bleibt in seinen Philosophischen Heften aber abstrakt und darf nicht als Beitrag zu einer heterodoxen &/>/ta/-Lektüre gedeutet werden, was offenbar Haug (2007, S. 561) beabsichtigt. Der Hinweis auf die Bedeutung Hegels und die Erwähnung einer ,yLogik des ,Kapitals'" (Lenin 1973, S. 316) allein sind keine Anzeichen eines tieferen Verständnisses der Darstellungsweise im Kapital seitens Lenin. Vielmehr offenbaren die wenigen inhaltlichen Aussagen zu diesem Komplex Lenin als getreuen Vertreter der Engelsschen Orthodoxie: Die Betrachtung des Kapitals als „Geschichte des Kapitalismus" (ebd., S. 319), die Erwähnung einer historischen Untersuchung der Wertformen (vgl. auch Lenin 1960b, S. 49), der Rekurs auf „Überprüfung durch die Tatsachen [...] bei jedem Schritt der Analyse" derselben oder auf die Ware des Anfangs der Darstellung als empirische „gewöhnlichste, massenhafteste" Erscheinung (Lenin 1973, S. 319) (vgl. auch S. 340) belegen dies eindrücklich.

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Kritik der politischen Ökonomie. Noch 100 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Kapital-Bandes galten dabei Friedrich Engels' Kommentare weithin als einzig legitime und adäquate Einschätzungen der Marxschen Ökonomiekritik. Keine Lesart war in der marxistischen Tradition derart unumstritten wie die von Engels beiläufig in Texten wie der Rezension von Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) oder dem Nachwort zum dritten Band des Kapital (1894) entwickelte. Hier noch wesentlich deutlicher als in der objektivistischen Fassung des historischen Materialismus ist der Marxismus ein Engelsismus: Vor dem Hintergrund seiner Widerspiegelungskonzeption deutet Engels die ersten Kapitel des Kapital als zugleich logische und historische Darstellung eines , einfachen Warentauschs' bis hin zum kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnis, „nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten"48. Der Begriff,logisch' meint in diesem Kontext im Grunde nichts als vereinfacht'. Die Darstellungsweise, das Aufeinanderfolgen der Kategorien (Ware, einfache, entfaltete, allgemeine Wertform, Geld, Kapital) in der Kritik der politischen Ökonomie, kann demnach ,.nichts sein als das Spiegelbild, in abstrakter und theoretisch konsequenter Form, des historischen Verlaufs". Die Betrachtung der Genesis der Geldform wird verstanden als Beschreibung eines „wirklichen Vorgang[s], der sich zu irgendeiner Zeit wirklich zugetragen hat", nicht als ,,abstrakte[r] Gedankenprozeß, [...] der sich in unsern Köpfen allein zuträgt"49. An kaum einem anderen Punkt seines Werks reduziert Engels den historischen Materialismus derart drastisch auf einen vulgären Empirismus und Historismus, was die von ihm verwendeten Assoziationsketten ,Materialismus-empirisch konstatierbare Fakten-wirklicher Prozess' vs. ,Idealismus-abstrakter Gedankenprozess-rein abstraktes Gebiet' belegen50. Mit der ,logisch-historischen' Methode gibt Engels ein Stichwort vor, das in der marxistischen Orthodoxie ad nauseam strapaziert und rezitiert wurde. Bereits Karl Kautsky versteht in seinen enorm wirkmächtigen Darstellungen das Kapital als ein „wesentlich historisches Werk"51: „Es war Marx vorbehalten, das Kapital als historische Kategorie zu erkennen und seine Entstehung an der Hand der Geschichte nachzuweisen, statt sie aus dem Kopfe zu konstruieren"52. Auch Rudolf Hilferding meint, dass „gemäß der dialektischen Methode der begrifflichen Entwicklung überall die historische parallel"53 gehe. Sowohl der ML54 als auch der westliche Marxismus55 folgen ihnen in dieser Einschätzung. Wird die Kritik der politischen Ökonomie aber als Historiographie gedeutet, so stehen an deren Anfang folglich Ka-

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MEW 13, S. 475 (MEGA II/2, S. 253). Weil ihm noch 1894 die „logische Behandlungsweise [...] nichts andres als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten" (ebd.) zu sein hat, kann er auch im Vorwort zum dritten Band lakonisch vom „historischen resp. logischen Bildungsprozeß" (25, S. 20) (11/15, S. 16) der „Gedankenabbilder" wie abgebildeten Dinge und Entwicklungen sprechen. Beide Zitate: MEW 13, S. 475 (MEGA II/2, S. 253). Vgl. auch ebd., S. 473 (MEGA II/2, S. 251): Der Materialismus geht „von den hartnäckigsten Tatsachen" aus, der Idealismus „vom reinen Denken". Kautsky 1922, S. VIII. Kautsky zit. nach Hecker 1997. Hilferding 1973, S. 191. Vgl. Rosental 1973. Vgl. Mandel 1972.

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EINLEITUNG: LESARTEN DER MARXSCHEN THEORIE

tegorien mit unmittelbaren empirischen Referenten, z.B. eine ominöse, nicht-preisbestimmte vorkapitalistische Ware56 und auch die Wertformanalyse beginnt mit der Darstellung einer zufälligen, geldlosen Interaktion zweier Warenbesitzer - mit der von Engels so genannten „einfachen Warenproduktion"57, die er als ökonomische Epoche von 6000 v.u.Z. bis ins 15. Jahrhundert hinein datiert. Das Marxsche Wertgesetz58 gelte in dieser Epoche zuweilen in reiner, nicht von der Preiskategorie .verfälschter' Form, was Engels am fingierten Beispiel geldlosen ,Austausche' zwischen mittelalterlichen Bauern und Handwerkern illustriert: Hier haben wir es mit einem übersichtlichen sozialen Zusammenhang von unmittelbaren Produzenten zu tun, die zugleich Eigentümer ihrer Produktionsmittel sind, in dem der eine unter den Augen des anderen arbeitet und folglich „die für die Herstellung der von [ihnen] eingetauschten Gegenstände erforderliche Arbeitszeit ziemlich genau bekannt"59 ist. Nicht etwa ein normatives Kriterium, sondern die Abstraktion einer von den Akteuren bewusst und direkt gemessenen Arbeitszeit ist für ihn unter den Bedingungen dieses ,Naturaltauschs' „der einzig geeignete Maßstab für die quantitative Bestimmung der auszutauschenden Waren"60. Weder der Bauer noch der Handwerker seien so dumm gewesen, ungleiche Arbeitsmengen auszutauschen61: „Für die ganze Periode der bäuerlichen Naturalwirtschaft ist kein andrer Austausch möglich als derjenige, wo die ausgetauschten Warenquanta die Tendenz haben, sich mehr und mehr nach den in ihnen verkörperten Arbeitsmengen abzumessen"62. Der Wert einer Ware wird also Engels zufolge durch die bewusst in Zeit gemessene Arbeit einzelner Produzenten bestimmt. Geld spielt in dieser Werttheorie keine konstitutive Rolle. Es ist einerseits dem Wert äußerliches Hilfs- und Schmiermittel des Tauschs63, dient andererseits zur Verdeckung des Arbeitsaufwandes als Wertsubstanz: Statt mittels Arbeitsstunden wird irgendwann plötzlich mittels Kühen und schließlich Goldstücken ausgetauscht. Die Frage, wie es mit den Bedingungen privat-arbeitsteiliger Produktion vereinbar sein soll, dass jede Ware als ihr eigenes Arbeits-Geld auftritt64, stellt sich Engels nicht. Er praktiziert, wie

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„Danach wird es wohl klar sein, warum Marx am Anfang des ersten Buchs, w o er von der einfachen Warenproduktion als seiner historischen Voraussetzung ausgeht, um dann weiterhin von dieser Basis aus zum Kapital zu kommen - warum er da eben von der einfachen Ware ausgeht und nicht von einer begrifflich und geschichtlich sekundären Form, von der schon kapitalistisch modifizierten Ware" (MEW 25, S. 20) (MEGA II/15, S. 16).

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Ebd., S. 20 (MEGA II/15, S. 16). Diese Deutung der Wertformanalyse wird auch Kautsky (1922, S. 29-33) übernehmen. Also das von Marx im Kapital erörterte Wertgesetz. Vgl. MEW 25, S. 909 (MEGA II/14, S. 333). Ebd., S. 907 (MEGA II/14, S. 330). Ebd. (MEGA II/14, S. 331). „Oder glaubt man, der Bauer und der Handwerker seien so dumm gewesen, das Produkt zehnstündiger Arbeit des einen für das einer einzigen Arbeitsstunde des andern hinzugeben" (ebd.) (MEGA II/14, S. 331). Wer es dennoch tue, werde eben „erst durch den Schaden klug" (ebd., S. 908) (II/14, S. 332). Ebd., S. 907 (MEGA 11/14, S. 331). Auch in früheren Aibeiten hat Engels das wirkliche Geld als bloßen „Notbehelf (MEW 20, S. 288) (MEGA 1/27, S. 469) des Warentauschs mittels Arbeitszeitmengen betrachtet. Vgl. dazu Marx' Kritik an dem Gedanken eines Arbeitsgeldes, resp. prämonetären Warentauschs in Zur Kritik und den Grundrissen (MEW 13, S. 66ff.) (MEGA II/2, S. 155ff.); 42, S. 100-105 (II 1.1, S. 98-104)) und in der Erstauflage des Kapital (II/5, S. 39f.).

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die neue Marx-Lektüre herausarbeiten wird, in vielfacher Hinsicht das, was Marx an der Klassik, v.a. an Adam Smith, kritisiert: Projektion des nur im Kapitalismus systematisch entstehenden Scheins der Aneignung durch eigene Arbeit in die Vergangenheit 65 , Ausblendung des notwendigen Zusammenhangs von Wert und Wertform 66 , Verwandlung der o b jektiven Gleichung', die der gesellschaftliche Zusammenhang zwischen den ungleichen Arbeiten vollzieht, in subjektive Erwägungen der Produzenten 67 . Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein werden Engels' Theoreme nahezu unwidersprochen tradiert und bieten in Verbindung mit seiner (wiederum Hegel entnommenen 68 ) Formel von der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit und der Parallelisierung von Naturgesetzen und gesellschaftlichen Prozessen einem sozialtechnologischen Emanzipationskonzept Nahrung. Dessen Kernaussage lautet: ,Die im Kapitalismus anarchisch und unkontrolliert wirkende gesellschaftliche Notwendigkeit (v.a. das Wertgesetz) wird, mittels des Marxismus als Wissenschaft von den objektiven Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft, im Sozialismus planmäßig verwaltet und bewusst angewandt'. Nicht das Verschwinden der kapitalistischen Formbestimmungen, sondern ihre alternative Nutzung kennzeichnet diesen adjektivischen Sozialismus' (R. Kurz) und seine sozialistische politische Ökonomie' 69 . Es ist dabei eine signifikante Disproportion zwischen der ständigen Hervorhebung des ,Historischen' auf der einen Seite und der Abwesenheit eines historisch spezifizierten und gesellschaftstheoretisch reflektierten Begriffs ökonomischer Gegenständlichkeit auf der anderen zu verzeichnen. Dies belegt auch die Irrelevanz des Formbegriffs für die traditionsmarxistische Diskussion, in der dieser höchstens als Kategorie für ideelle oder marginale Sachverhalte, nicht aber als konstitutives Charakteristikum der Marxschen wissenschaftlichen Revolution berücksichtigt wird 70 .

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Vgl. M E G A II/2, S. 49. Vgl. M E W 23, S. 95 ( M E G A II/5, S. 43f. (Fn.)).

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Vgl. M E W 13, S. 45 ( M E G A II/2, S. 136f.).

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Bei Hegel freilich hat, worauf Thomas S. Hoffmann hinweist, die Behauptung einer Identität von Freiheit und Notwendigkeit einen gänzlich anderen Sinn, nämlich den der Selbstdetermination, des sich selbst begründenden Begriffs als causa sui (Hoffmann 2004, S. 344f.). Deterministisch wird sie erst durch ihre materialistische Adaption bei Engels. Denn erst hier kann von einer absoluten Selbstdetermination keine Rede mehr sein und wird die Bestimmtheit durch anderes an deren Stelle gesetzt.

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Im Sozialismus fungiere, so die ML-Position, „Wert als Instrument des planmäßig geleiteten [...], nach den Prinzipien der Rechnungsführung und Kontrolle über das Maß der Arbeit und des Verbrauchs gestalteten sozialistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses. Dementsprechend wird das Wertverhältnis bewußt eingesetzt" (Eichhorn 1985, S. 1291). Sozialismus besteht in diesem Rahmen „lediglich in der revolutionierten Rechnungsart der gleichen gesellschaftlichen Formbestimmung der menschlichen Arbeitsprodukte w i e in der kapitalistischen Warenwirtschaft" (wie Grigat (1997, S. 20) sich kritisch dazu äußert). Der angeblich Marasche Kommunismus regrediert dabei zu einer Art proudhonistischer Stundenzettelei, wie auch Behrens/ Hafner bemerken: „Alle bisherigen Vorstellungen vom Übergang zum Sozialismus rekurrieren auf Modelle unmittelbarer Arbeitswert- und Nutzenrechnung." (Behrens/ Hafner 1991, S. 226). Vgl. dazu auch Heinrich (1999, S. 385-392); Kittsteiner (1974, S. 410-415); Kittsteiner (1977, S. 40-47); Rakowitz (2000). Zum adjektivischen Sozialismus in der Rechts- und Staatstheorie vgl. Kapitel 2.2 dieser Arbeit.

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Vgl. dazu Haug 1999, Sp. 604-609.

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EINLEITUNG: LESARTEN DER MARXSCHEN THEORIE

Die Inhaltskritik des Staates Neben einigen beiläufigen Formulierungen in politischen Schriften von Marx71 markieren vor allem Engels' staatstheoretische Äußerungen im Ursprung der Familie, Ludwig Feuerbach, Anti-Dühring sowie in seiner Kritik des Erfurter Programmentwurfs der Sozialdemokratie von 1891 die Quellen der traditionsmarxistischen Staatsauffassung: Engels konstatiert im Ludwig Feuerbach, die Tatsache, dass alle Bedürfnisse in Klassengesellschaften durch den Staatswillen hindurch artikuliert würden, sei „die formelle Seite der Sache, die sich von selbst versteht". Die Hauptfrage einer materialistischen Staatstheorie sei dagegen „nur, welchen Inhalt dieser nur formelle Wille - des einzelnen wie des Staats - hat, und woher dieser Inhalt kommt, warum grade dies und nichts andres gewollt wird". Resultat dieser rein inhaltsbezogenen Frage nach dem Staatswillen ist für Engels die Erkenntnis, „daß in der modernen Geschichte der Staatswille im ganzen und großen bestimmt wird durch die wechselnden Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft, durch die Übermacht dieser oder jener Klasse, in letzter Instanz durch die Entwicklung der Produktivkräfte und der Austauschverhältnisse"72. Engels arbeitet bei seinen Überlegungen im Ursprung darüber hinaus mit universalhistorischen Kategorien, in die moderne Bestimmungen wie .öffentliche Gewalt' 73 projiziert werden und unterstellt doch stets „direkte Herrschaftsverhältnisse, unmittelbare Formen von Klassenherrschaft"74 zur Erklärung ,des' Staates, der dann konsequent als bloßes Instrument der herrschenden Klasse75 verstanden wird. Aus dieser Inhaltsfixiertheit und universalhistorischen Ausrichtung der Staatsbetrachtung kann gefolgert werden, dass Engels die eigentlich interessierende Frage, warum der Klasseninhalt im Kapitalismus die spezifische Form der öffentlichen Gewalt annimmt76, aus den Augen verliert. Die aus vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen gewonnene personale Definition von Klassenherrschaft führt schließlich zu einer Reduktion der sich im Staat institutionalisierenden anonymen 71

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Vgl. die Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich, z.B. die dortige Rede von einer „Maschine der Klassenherrschaft" (MEW 17, S. 336) (MEGA 1/22, S. 137: "engine of class despotism") oder auch das zusammen mit Engels verfasste Manifest, in dem vom Staat als „organisierte^] Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern" gehandelt wird (MEW 4, S. 482). Beide Zitate: MEW 21, S. 300. Vgl. ebd., S. 165 (MEGA 1/29, S. 107). Noch der Versuch Helmuth Schüttes, Engels' Überlegungen als über eine Konkretisierung mit der Formanalyse vermittelbare darzustellen, krankt an Anachronismen dieser Art. So redet Schütte stets vom Staat im universalhistorischen Sinn als einer „außerökonomischen Zwangsgewalt" (Schütte 1977, S. 14, vgl. auch S. 17). Hier wird die Trennung der Sphären von materieller Reproduktion und Zwangsausübung im Kapitalismus umstandslos in vorkapitalistische Produktionsweisen projiziert. Die Spezifik direkt gewaltvermittelter Aneignung als Charakteristikum vorkapitalistischer Klassenherrschaft wird dadurch unkenntlich gemacht. Schäfer 1974, S. XCVII. Schäfer bezieht sich u.a. auf Lucio Collettis Kritik an Engels' Staatstheorie, vgl. Colletti 1971, S. 74f. Vgl. MEW 21, S. 166f. (MEGA 1/29, S. 108). Vgl. Paschukanis' Frage an den Leninismus: „warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?" (Paschukanis 1969, S. 120).

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Form der Klassenherrschaft auf ideologischen Schein, der im Stile der Priestertrugtheorie als Produkt staatlicher Verschleierungstaktiken gedeutet wird. Engels jedenfalls will den Klassencharakter auch des demokratischen bürgerlichen Staates mit „direktefr] Beamtenkorruption" und „der Allianz von Regierung und Börse"77 plausibilisieren. Allerdings besteht bei Engels, bei allem Überwiegen der später in der Orthodoxie ausgearbeiteten instrumentalistisch-inhaltsfixierten Perspektiven, noch ein unvermitteltes Nebeneinander zwischen der Bestimmung des Staates als „Staat der Kapitalisten" und als „ideeller Gesamtkapitalist"78. Letztere Definition begreift den Staat „nicht als ein Werkzeug der Bourgeoisie[...], sondern als eine Instanz der bürgerlichen Gesellschaft"79, eine „Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten"80. Mit diesem Hinweis auf den Funktionsmechanismus ist allerdings der spezifische Formaspekt moderner Staatlichkeit noch nicht erklärt. Auch der StamoKap-Theorie hat Engels den Weg geebnet81. In der Kritik des Erfurter Programmentwurfs schreibt er: „Ich kenne eine kapitalistische Produktion als Gesellschaftsform, als ökonomische Phase; eine kapitalistische Pn'vafproduktion als eine innerhalb dieser Phase so oder so vorkommende Erscheinung. Was heißt denn kapitalistische Ρπνα/produktion? Produktion durch den einzelnen Unternehmer, und die wird ja schon mehr und mehr Ausnahme. Kapitalistische Produktion durch Aktiengesellschaften ist schon keine /Vj'vafproduktion mehr, sondern Produktion für assoziierte Rechnung von vielen. Und wenn wir von den Aktiengesellschaften Übergehn zu den Trusts, die ganze Industriezweige beherrschen und monopolisieren, so hört da nicht nur die Privatproduktion auf, sondern auch die Planlosigkeit82. Im Anti-Dühring spricht Engels schließlich vom Staat als reellem Gesamtkapitalisten: „Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus"83. Hier offenbart sich ein beschränktes Verständnis von Privatproduktion und die tendenzielle Gleichsetzung von staatlicher Planung und Monopolmacht mit unmittelbarer Vergesellschaftung84, die durch Engels' Konstruktion des Grund77

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MEW 21, S. 167 (MEGA 1/29, S. 109). Kaum verwunderlich, dass gerade Lenin sich affirmativ auf diese agenten- und einflusstheoretische .Begründung' bezieht (vgl. Lenin 1960b, S. 38)). Auch Kautsky bedient sich manipulationstheoretischer Argumente, vgl. kritisch dazu PKA 1976, S. 94. MEW 20, S. 260 (MEGA 1/27, S. 443). Busch-Weßlau 1990, S. 84. MEW 20, S. 260 (MEGA 1/27, S. 443). Vgl. dazu Paul 1978, S. 51-54. MEW 22, S. 231 f. MEW 20, S. 260 (MEGA 1/27, S. 443). Schäfer 1974, S. CXXXI. Esser versucht dagegen diese Formulierung zu retten, geht zu diesem Zweck aber dogmatisch versichernd davon aus, dass „die Methode der Kritik der politischen Ökonomie [...] bei Engels Grundlage seiner Aussagen ist" (Esser 1975, S. 125). Welchen Sinn der Satz haben soll, die Formulierung vom reellen Gesamtkapitalisten bringe „zum Ausdruck, daß die scheinhafte Trennung von Ökonomie und Politik in bestimmten historischen Erscheinungsformen durchbrochen und die immer real existierende gesellschaftliche Vermittlung beider Bereiche" (ebd., S. 127) dadurch offenbart werde, bleibt unklar. Engels spricht hier ersichtlich nicht einen immer existierenden, strukturellen Sachverhalt, sondern eine sich ausdehnende historische Tendenz aus. Zudem ist die Formulierung des reellen Gesamfkapitalisten mit Essers Deutung nicht abgedeckt.

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EINLEITUNG: LESARTEN DER MARXSCHEN THEORIE

Widerspruchs, mit seiner tendenziellen Identifizierung von betrieblicher mit gesellschaftlicher Arbeitsteilung, verfestigt wird. Zwar stellt Engels dann doch wieder fest, dass „weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften noch die in Staatseigentum die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte"85 aufhebt, doch zumindest stellt sich ihm zufolge damit ein unmittelbarer Übergang zum Sozialismus ein, während die Begriffe des Monopols und des Staatsinterventionismus „ökonomisch ganz und gar unbestimmt"86 bleiben. Der Gedanke, dass die Arbeiterbewegung die im Kapitalismus entwickelten Formen der assoziierten Rechnungsführung in den Aktiengesellschaften und der umfassenden Planung durch Monopole nur noch zu übernehmen brauche, wird damit nahegelegt. Die Bourgeoisie gilt Engels ja bereits durch die Trennung von Eigentümer- und Managerfunktion als überholt87. Die „Verwandlung der großen Produktions- und Verkehrsanstalten in Aktiengesellschaften und Staatseigentum" zeigt nach Engels „die Entbehrlichkeit der Bourgeoisie für jenen Zweck", der „Verwaltung der modernen Produktivkräfte". „Alle gesellschaftlichen Funktionen des Kapitalisten werden jetzt von besoldeten Angestellten versehn. Der Kapitalist hat keine gesellschaftliche Tätigkeit mehr, außer Revenuen-Einstreichen, Kupon-Abschneiden und Spielen an der Börse, wo die verschiednen Kapitalisten untereinander sich ihr Kapital abnehmen. Hat die kapitalistische Produktionsweise zuerst Arbeiter verdrängt, so verdrängt sie jetzt die Kapitalisten und verweist sie, ganz wie die Arbeiter, in die überflüssige Bevölkerung, wenn auch zunächst noch nicht in die Industrielle Reservearmee"88. In Anbetracht dieser (nur grob angedeuteten) Rezeptionsgeschichte, könnte man davon sprechen, der Marxismus in der hier präsentierten Gestalt sei das Gerücht über die Marxsche Theorie, ein Gerücht das von den meisten , Marx '-Kritikern dankbar aufgenommen und nur mit einem negativen Vorzeichen ausgestattet worden ist. Freilich macht es sich eine solche Behauptung, so zutreffend sie auch insgesamt sein mag, zu leicht, indem sie bestimmte Abgrenzungen gegenüber der dominanten Doktrin, die sich gleichwohl als Marxismen verstehen, nicht wahrnimmt, als auch die Fehlinterpretationen generell als der Marxschen Theorie vollkommen äußerliche betrachtet, mögliche Inkonsistenzen und Theorie-IdeologieAmbivalenzen bei Marx selbst von vornherein ausschließt. Insofern soll hier der traditionelle Marxismus vorwegnehmend eher als Ausarbeitung, Systematisierung und Dominantwerden der Ideologiegehalte im Marxschen Werk - im Rahmen der Rezeption seitens Engels und Epigonen - begriffen werden. Praktischer Einfluss jedenfalls war bisher nahezu ausschließlich diesen restringierten und ideologisierten Deutungen der Marxschen Theorie als Geschichtsdeterminismus oder proletarische Politökonomie beschieden.

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MEW 20, S. 260 (MEGA 1/27, S. 443). Schäfer 1974, S. CXXXIV. Dieser Topos wird dann u.a. von Wolfgang Pohrt in den 1970er Jahren als tiefe Einsicht in den Spätkapitalismus' präsentiert. MEW 20, S. 259f. (MEGA 1/27, S. 443).

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Westlicher Marxismus Die Formation eines .westlichen Marxismus'89 geht aus der Krise der sozialistischen Arbeiterbewegung im Gefolge des Ersten Weltkrieges (Zerbrechen der Zweiten Internationale an der Politik der .VaterlandsVerteidigung', Scheitern der Revolutionen in Mittel- und Südeuropa, Entstehen faschistischer Kräfte usw.) hervor. Hier sind es Georg Lukács und Karl Korsch, deren 1923 veröffentlichte Schriften Geschichte und Klassenbewußtsein sowie Marxismus und Philosophie paradigmatischen Charakter annehmen. Vor allem Lukács gilt als erster marxistischer Theoretiker, der auf gesellschaftstheoretisch-methodologischer Ebene die bis dahin geradezu selbstverständliche Annahme der Identität von Marxscher und Engelsscher Theorie in Frage stellt90. Im Zentrum seiner Kritik steht die Ausblendung der Subjekt-Objekt-Relation bei Engels sowie dessen Konzept einer Dialektik der Natu/ 1 , an der sich der Fatalismus des Marxismus der Zweiten Internationale orientiert. Gegen dessen Ontologisierung des historischen Materialismus zu einer kontemplativen Weltanschauung verstehen Lukács, wie der westliche Marxismus insgesamt, den Marxschen Ansatz als kritisch-revolutionäre Theorie gesellschaftlicher Praxis. Gegen die szientistische Rede von den ,objektiven Entwicklungsgesetzen' des geschichtlichen Fortschritts werden die Ideologiekritik des verdinglichten Bewusstseins, die Dechiffrierung der zur , zweiten Natur' erstarrten kapitalistischen Produktionsweise als historisch-spezifische Form sozialer Praxis, die Betonung der Revolution als kritischer Akt praktischer Subjektivität gesetzt92. Selbstbezeichnungen wie .Philosophie der Praxis' (Gramsci) oder .kritische Theorie der Gesellschaft' (Horkheimer) stellen deshalb auch keine bloßen Tarnwörter oder begriffliche Äquivalente für die parteioffizielle Lehre dar, sondern verdeutlichen einen Lernprozess, in dem ,.kritisches, auf Handeln zielendes Denken Marxscher Herkunft neu entsprungen ist"93. Nimmt der westliche Marxismus zunächst noch die aktivistischen Impulse der russischen Oktoberrevolution positiv auf94, so wenden sich seine bedeutendsten Vertreter schon frühzeitig gegen die Doktrin des Leninismus, v.a. dessen Fortschreibung des sozialtheoretischen Naturalismus und seine falsche Universalisierung der Erfahrungen der russischen Revolution95. Für ersteres mag als Beispiel Georg Lukács' Kritik an Bucharins Theorie des Historischen Materialismus dienen. 89

Der Begriff taucht zwar wahrscheinlich zuerst in einer leninistischen Polemik gegen Lukács' Geschichte und Klassenbewusstsein auf (vgl. Walther 1982, S. 968), erlangt aber weder als Kampfbegriff noch als zeitgenössische Selbstbezeichnung der gemeinhin darunter subsumierten Theoretiker (wie Lukács, Korsch, Bloch, die Frankfurter Schule, Gramsci, Lefebvre u.a.) größere Bedeutung. Hier wird weitgehend der Verwendung des Terminus durch Perry Anderson 1978 gefolgt. So fruchtbar der Begriff des westlichen Marxismus als heuristisches Modell auch sein mag, so klar müssen seine Grenzen aufgezeigt werden (vgl. die Kritik an Anderson bei Haug 1987 und Krätke 1996, S. 77).

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Vgl. Mehringer. H./ Mergner, G. 1973, S. 189 oder Stedman Jones 1988, S. 232. Lukács 1988, S. 6 l f ( 1 5 f . ) . Vgl. auch Brecht 1967, S. 469 oder Bloch 1990, S. 229. Haug 1996, S. 8; zur Kritik der ,Tarnwortthese' in Bezug auf Gramscis Werk, vgl. Haug 1995, S. 1195-1209. Vgl. Korsch 1993a, S. 337f.; Lukács 1990; Gramsci 1967, S. 23-27. Vgl. Korsch 1993b; Lukács 1974; Gramsci 1967.

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EINLEITUNG: LESARTEN DER MARXSCHEN THEORIE

In dieser wirft er Bucharin vor, mit seinen Konzepten des Primats der Produktivkraftentwicklung und der bruchlosen Anwendbarkeit naturwissenschaftlicher Methoden auf die Gesellschaft werde seine Theorie fetischistisch, verwische die „qualitative Differenz" der Gegenstandsbereiche von Natur- und Sozialwissenschaften, erhalte den „Akzent einer falschen .Objektivität'" und verkenne die Kernvorstellung des Marxschen Verfahrens, nämlich die Zurückfiihrung ,jämtliche[r] Phänomene der Ökonomie [...] auf gesellschaftliche Beziehungen der Menschen zueinander "96. Die revolutionsstrategische Festlegung auf den Weg der Oktoberrevolution kritisiert exemplarisch Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften. Er hatte die Oktoberrevolution zunächst als „Revolution gegen das .Kapital'" von Marx begrüßt, das heißt als Widerlegung der darin angeblich bewiesenen Unmöglichkeit sozialistischer Umwälzungen in industriell rückständigen Ländern. In geradezu religiöser Manier wurde die voluntaristische „sozialistische Verkündigung"97 von ihm als Quelle eines kollektiven sozialistischen „Volkswillens" gegen das mechanisch aus der Ökonomie und ihrem Produktivkraftlevel abgeleitete Klassenbewusstsein angeführt. Später begegnet Gramsci nun dem Etatismus der Dritten Internationale mit seiner Hegemonietheorie, die den .Bewegungskrieg' des frontalen Angriffs auf den repressiven Staatsapparat als fur die modernen westlichen Kapitalismen unbrauchbare Revolutionsstrategie ablehnt. Die Zivilgesellschaft stellt nach Gramsci in diesen Sozialformationen eine labyrinthische Struktur von Apparaten dar, in denen Denk- und Verhaltensmuster generiert werden, die ein durch großpolitische Aktionen nicht zu brechendes Beharrungsvermögen aufweisen. Das russische Revolutionsmodell musste im Westen auch deshalb scheitern, weil der Glaube an die Universalisierbarkeit der Erfahrungen der Bolschewiki mit einem zentralistisch-despotischen Zarismus zur Ausblendung der Relevanz ideologischer Vergesellschaftung über zivilgesellschaftliche Apparate und deren Effekt, die Unterwerfung in Form der Selbsttätigkeit, führte. Sowohl Lukács als auch Gramsci bleiben aber der ,arbeiterexklusiv' begründeten Revolutionsauffassung insofern treu, als bei jenem, trotz Reflexion des verdinglichten Bewusstseins, noch immer ein ökonomisch garantiertes Erkenntnisprivileg des Proletariats unterstellt wird98, und bei diesem eine Fixierung seiner strategisch motivierten Zivilgesellschaftstheorie auf die Handlungsspielräume der Arbeiterklasse - proletarische Hegemonie - zu verzeichnen ist. Mit dem Versuch der sozialpsychologischen Ergründung noch der triebstrukturellen Grundlagen der Reproduktion einer .unvernünftigen Gesellschaft', vor allem in Form von autoritären und antisemitischen Haltungen, wird erst im Rahmen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung seit der Direktoratsübernahme Max Horkheimers im Jahr 1931 ein Refle-

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Zitate der Reihenfolge nach in Lukács 1974, S. 289, 284. Vgl. auch Kofler 2000, S. 90f. Zitate der Reihenfolge nach: Gramsci 1967, S. 24, 25. Das aber diesem letztlich in Gestalt des revolutionären Klassenbewusstseins von den Parteitheoretikern zugerechnet" (Lukács 1988, S. 126 (62)) wird. Diese wiederum sind eine Art Registraturorgan der historischen Gesamttendenz und gesellschaftlichen Totalität und erkennen das, was das Proletariat, „einerlei, was es darüber denken mag" (ebd., S. 153), zu tun gezwungen sein wird. Obwohl Lukács auf Praxis und Subjektivität gegen Anschauung und objektive Gesetzlichkeiten rekurriert, wird das wirkliche Denken und Handeln, die wirkliche Subjektivität der Akteure und Klassen auch hier wieder einer geschichtsmetaphysischen Instanz - der Totalität des Geschichtsverlaufs und ihrer vermeintlichen Tendenz - unterworfen.

WESTLICHER MARXISMUS

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xionsniveau erreicht, das von anderen Vertretern und Richtungen des westlichen Marxismus nicht eingeholt wird" und den versichernden Rückhalt auf ein imaginiertes Klassenbewusstsein des Proletariats aufgibt 100 . Endlich wird das empirische Klassenbewusstsein als einzig wirkliches einer Analyse unterzogen und dabei die von anderen Theoretikern ignorierte irrationale', emotionale Dimension sozialer Praxis, wie die soziale Dimension des Triebhaften berücksichtigt. Diese theoretische Einsicht in die Rückhaltlosigkeit der kritischen Theorie ist zugleich Eingeständnis eines historischen Prozesses der zunehmenden Unvermitteltheit von emanzipatorischer Theorie und revolutionär perspektivierter Praxis: Mit der Propagierung des Sozialismus in einem Land, der Bolschewisierung der westlichen KPen und der Verordnung des ML als Leitideologie der Dritten Internationale seit Mitte der 20er Jahre beginnt die fur den westlichen Marxismus charakteristische Isolation seiner Vertreter. Weder politischer Einfluss noch (mit Ausnahme des Frankfurter Instituts für Sozialforschung vielleicht) institutionelle Grundlagen für eine normalwissenschaftliche Praxis sind gegeben. Was diese Formation des Marxismus als intellektuellen Lernprozess auszeichnet - seine Wahrnehmung des Hegeischen Erbes und des kritisch-humanistischen Potentials in der Marxschen Theorie, die Einbeziehung zeitgenössischer bürgerlicher' Ansätze zur Erhellung der großen Krise der Arbeiterbewegung, die methodologische Orientierung, die Sensibilisierung für sozialpsychologische und kulturelle Phänomene im Zusammenhang mit der Frage nach den Ursachen für das Scheitern der Revolution im , Westen' 101 - wird im Rahmen dieser Konstellation zur Quelle eines neuen Typs restringierter Marx-Auslegung. Diese ist im Wesentlichen durch die Ausblendung politik- und staatstheoretischer Probleme 102 , eine selektive Rezeption der Marxschen Werttheorie und das Vorherrschen einer „verschwiegenen Orthodoxie" 103 in Fragen der Kritik der politischen Ökonomie gekennzeichnet. Bereits im ,Gründungsdokument' des westlichen Marxismus, Lukács' Geschichte und Klassenbewusstsein, in dem immerhin zum ersten Mal auf den von Marx erkannten anonymen, verselbständigten und sachlich vermittelten Charakter kapitalistischer Herrschaft hingewiesen 99

Eine wissenschaftliche Psychologie z.B. ist in den Überlegungen der meisten Vertreter des Marxismus nicht anzutreffen, wenn man von positiven Bezügen auf Pawlows Behaviorismus absieht. Die Psychoanalyse wird zumeist abgelehnt, wenn nicht gar als ,bürgerlich-dekadent' dämonisiert. Eine kritische Übersicht zu solchen Reaktionsweisen bietet Helmut Dahmer (1982, S. 241-277); im Rahmen des westlichen Marxismus tat sich vor allem Lukács' in der Verdammung Freuds hervor (vgl. ebd., S. 273ff.). Gramsci hat nach eigenen Angaben „Freuds Theorien nicht studieren können" (Gramsci 1967, S. 404).

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Vgl. Horkheimer 1988, S. 188f., 215f. Als weitere Charakteristika für den westlichen Marxismus nennt Anderson den Rückgriff auf die vormarxsche Philosophie zur Klärung der Methode einer kritischen Gesellschaftstheorie; einen esoterischen Schreibstil; eine deutlich von der triumphalistischen Diktion des klassischen Marxismus wie des ML abweichende, eher pessimistische Einschätzung der historischen Entwicklung; eine Vorliebe für Probleme der Ästhetik.

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Als Ausnahme gelten Gramscis im faschistischen Kerker entstandene Arbeiten. Habermas 1993, S. 235. Hinsichtlich der kritischen Theorie ist das vor allem anhand der ,Staatskapitalismus'-These Pollocks (vgl. Pollock 1984; zur Kritik vgl. u.a. Brick/ Postone 1982) und den institutsinternen Diskussionen (vgl. Horkheimer 1985, S. 400, 404) über Methodenfragen des .Kapital' zu verifizieren.

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EINLEITUNG: LESARTEN DER MARXSCHEN THEORIE

wird, lässt sich eine Umgehung der Rekonstruktion der Marxschen Kapitalismustheorie erkennen: Statt Marx' Dialektik der Wertformen bis hin zur Kapitalform zu analysieren, die im Theorem der reellen Subsumtion eine, für Lukács doch so entscheidende, Erklärung des Zusammenhangs von Kommodifizierung und entfremdeter Struktur des Arbeitsprozesses bietet, findet sich hier lediglich eine analogisierende Kombination von einer auf das Motiv der quantifizierenden' Warenform reduzierten Werttheorie (die der Orientierung an Simmeis Kulturkritik des Geldes geschuldet ist) und einer an Max Weber orientierten Diagnose der formal-rationalen Versachlichungstendenzen des Arbeitsprozesses und modernen Rechts104. Bis in die Mitte der 60er Jahre hinein scheint es keinen westlichen Marxisten zu geben, der seine Auseinandersetzung mit dem traditionellen Marxverständnis auf das Gebiet der Werttheorie ausdehnt. Weiter als diese verschwiegene Orthodoxie gehen schließlich Positionen, die - ohne sich ernsthaft mit der Kritik der politischen Ökonomie auseinandergesetzt zu haben - den .humanistischen Kulturkritiker Marx' dem ,Ökonomen Marx' gegenüberstellen105 oder gar einen ,Marxismus' ohne Ökonomiekritik für möglich halten106.

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Vgl. Dannemann 1987, S. 80ff„ 93ff. So z.B. Fromm 1989, S. 339. Vgl. die Versuche einer Rekonstruktion des historischen Materialismus seitens Jürgen Habermas (Habermas 1990) oder Helmut Fleischers Ausspielen des ,Praxisdenkers' Marx gegen den Ökonomiekritiker (Fleischer 1996, S. 30f).

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wichtige Theoretikerlnnen traditioneller Marxismus [1878ff.]

[Engels], Kautsky, Bernstein, Lafargue, Mehring, Bebel, Plechanow u.a. (= 1. Generation) Lenin, Trotzki, Luxemburg, Bucharin, M. Adler, Hilferding, (= 2. Generation)

westlicher Marxismus [1923ff.]

Lukacs, Korsch, Bloch, Lefebvre, Frankfurter Schule. Gramsci, Kosik, jugoslawische Praxis-Gruppe (Petrovic, Vranicki u.a.), Budapester Schule (Heller, Markus u.a.), Kofler, Sartre | f [Vorreiter: Rubin, Paschukanis, Althusser, Rancière] Backhaus, Reichelt, D. Wolf, Kittsteiner, Heinrich, Projekt Klassenanalyse/ PEM, Breuer, V.M. Bader, Vertreter der Staatsableitung (B. Blanke, D. Läpple, MG, J. Hirsch, W. Müller/ Ch. Neusüß, u.a.)

neue MarxLektüre [1965ff.]

(Tabelle: Übersicht zu den Marxismen)

Kernvorstellung zentrale Marxsche Theorie Referenztexte bei Marx/Engels ΐ β § «ItM , Lehrsätze der materiaEngels: Antilistischen GeschichtsDühring, Ludwig Feuerbach, auffassung sind Zentrum des kongenialen Rezension zur MarxKrpÖ Engelsschen Werks' 1859 u.a. Marx: geschlossene Kapital Bd. 1 proletarische WeltKapitel 24.7, Voranschauung und Lehre wort zu KrpÖ der Evolution von Na1859, Manifest tur und Geschichte (M/E) (,Werden und Vergehen') .humanistisches Marx: Thesen über Frühwerk als DeutungsFeuerbach, Ökorahmen für szientistinom.sches Spätwerk' phil. Manuskripte 1844, Zur Judenkritisch-revolutionäre frage, Deutsche Ideologie Theorie gesellschaftlicher Praxis (M/E) u.a. (,subjektive Vermitteltheit des Objekts ) Marx: Grundrisse, Kapital Bd. 1 Erstauflage, Urtext, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Theorien über den Mehrwert u.a.

,den ganzen Marx wahrnehmen'/ , Deutung des Frühwerks vom Spätwerk her' Dechiffrierung und Kritik der Formen kapitalistischer Vergesellschaftung Mittels logischSystematischer Darstellungsweise (,Formentwicklung und -kritik')

1 Werttheoretische Grundlagenreflexionen

1.1 Quellen und Motive der neuen Marx-Lektüre Erst seit Mitte der 1960er Jahre spielen staats- und ökonomietheoretische Probleme außerhalb des ML wieder eine größere Rolle. Auch diese ,neomarxistische' Rezeptionswelle der Marxschen Theorie ist mehr oder weniger deutlich jenseits von Stalinismus und Sozialdemokratie angesiedelt1. Die Deutung des Marxschen Werkes „durch die geistigen und politischen Autoritäten in den sozialdemokratischen bis stalinistischen Zweigen der alten Arbeiterbewegung erschien diesen Zirkeln", wie Norbert Kostede aus eigener Erfahrung bemerkt, geradezu „als ein ,Zerfallsprozess', der die Authentizität der Marxschen Theorie und ihre analytische Potenz fur unser fortgeschrittenes Gesellschaftsstadium zudeckt"2. Die neue Lektüre-Bewegung kann sich nahezu ausschließlich außerhalb des realsozialistischen Machtbereichs - in den .westlichen' Staaten - entwickeln3. Ihre Genese fallt dort mit Phänomenen wie der Studentenbewegung, den ersten Erschütterungen des Glaubens an eine immerwährende, politisch steuerbare Nachkriegsprosperität und dem Aufbrechen des antikommunistischen Konsenses im Rahmen des Vietnamkrieges zusammen. Erstmals in der Geschichte des (nichtstaatlichen) Marxismus wird der akademische Raum zum bedeutendsten Wirkungsfeld marxistischer Theoriebildung4. Die für den westlichen Marxismus charak1 2 3

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Vgl. Krätke 1996, S. 83. Kostede 1980, S. 10. Allerdings gab es auch im ,Ostblock' einige wenige Ansätze, die sich Motiven der neuen MarxLektüre annäherten. Vgl. u.a. Hecker 1979, Schkredov 1987. Im - in Europa bisher weitgehend vernachlässigten - japanischen Marxismus gab es bereits seit den 1950er Jahren Debatten um die Methode des Kapital, in denen Ansätze zu einer Abkehr von der ,logisch-historischen' Lesart zu erkennen sind. Zu nennen wären hier v.a. die Werke Kozo Unos oder auch Sekisuke Mitas. Ich verdanke diesen Hinweis Jan Hoff. Zur Übersicht vgl. Otani/ Sekine 1987 sowie Hoff/ Petrioli/ Stützt e / W o l f 2006, S. 18f. Vgl. Krätke 1996, S. 83, Wetzel 1976 oder Jaeggi 1977, S. 146. Für die neue Marx-Lektüre im engeren Sinne werden neben einigen Lehrstühlen und Instituten (zu nennen wären die Lehrstühle von Helmut Reichelt (ab 1971 Frankfurt/M., ab 1978 Bremen), Margaret Wirth (in Bremen), Heide Gerstenberger (ab 1974 Bremen), Joachim Hirsch (ab 1972 Frankfurt), Elmar Altvater (ab 1971 in Berlin) sowie das Otto Suhr-Institut in Berlin mit solchen Mitarbeitern wie Berhard Blanke u.a.) sowie einer Vielzahl akademischer Kapitalseminare bzw. -Vorlesungen, eine Reihe neu gegründeter Zeitschriften und Schriftenreihen zum bedeutendsten institutionellen Fundament. Erwähnt seien

QUELLEN UND MOTIVE DER NEUEN MARX-LEKTÜRE

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teristische Ferne zur Arbeiterbewegung und politischen Praxis der sozialistischen Parteien bleibt erhalten5. Dafür bilden sich quer zu politischen Kriterien wissenschaftliche, durch unterschiedliche Gegenstands- und Methodenbegriffe geprägte Schulen des Marxismus 6 . Von dieser, kaum auf einen spezifischeren Nenner als ,Seminar'-, ,Neo'- oder .sozialwissenschaftlicher Marxismus' 7 zu bringenden Marx-Renaissance im Westen, soll das Paradigma der neuen Marx-Lektüre8 begrifflich abgehoben werden. Sie ist zwar ein Element dieser Renaissance, aber ein durchaus spezielles: Sie steht quer zur Einteilung in Schulen, d.h. ihre Vertreter entstammen z.B. sowohl strukturalistischen als auch an Hegel orientierten oder analytischen Ansätzen, und ist als spezifische Antwort auf die ,Krise des Marxismus' zu begreifen. In eine Krise, die erst seit Ende der 70er Jahre in ihrem ganzen Umfang wahrgenommen und thematisiert wurde9, gerieten sämtliche Kernelemente des traditionsmarxistischen Paradigmas: Eine sozialistische politische Ökonomie', die zur Legitimation autoritär verfasster, nachholender Modernisierungsregime verkommen war und sich auf Verteilungsfragen eines Reichtums konzentriert hatte, dessen gesellschaftliche Form und Qualität nicht mehr zur Debatte standen. Hier wurde Marx daher ausschließlich als A/e^nverttheoretiker und linker Ricardianer10 rezipiert; die Reduktion des Kapitalismus auf den ,StamoKap' als

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hier nur Prokla (197Iff.), Sozialistische Politik (1969-1978), Gesellschaft (1974-1981), Leviathan (1972ff.) und Mehrwert (1972-1991) als die wichtigsten. Vgl. Kostede 1980, S. 10. Krätke nennt als Beispiele „die Kapitallogiker, die analytischen Marxisten, die Regulationsschule" (1996), S. 83. So Therborn 1982 und Krätke 1996. Das Wort wird bereits 1973 von Arenz/ Bischoff/ Jaeggi (1973, S. XXXVI) verwendet; vgl. auch Jaeggi 1977, S. 146. Im präziseren Sinn wird der Terminus aber wohl erst seit Backhaus 1997a verwendet. Hoff/ Petrioli/ Stützle und Wolf (2006, S. 33) nennen die seit den 1960er Jahren zu verzeichnende Existenz .„neuer Marxlektüren'" als vom westlichen Marxismus unterscheidbare theoretische Formation eine „wissenschaftsgeschichtliche Tatsachenfeststellung". Vgl. u.a. Althusser 1977, Prokla-Redaktion 1979. Resümierend: Deppe 1991. Wenn im Folgenden der Terminus ,linker Ricardianismus oder .ricardianischer Marxismus' (vgl. dazu auch Postone 2003, S. 91-102) verwendet wird, so ist damit nicht die Traditionslinie des sog. ricardianischen Sozialismus gemeint (vgl. dazu Hoff 2008), sondern eine vornehmlich quantitativ orientierte Interpretation der Marxschen Kategorien, die 1 ) den qualitativen Aspekt der Frage nach Wert- und Wertsubstanz ausblendet, hinsichtlich der Bestimmungsgründe des Werts lediglich auf die quantitative Dimension der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeitszeit rekurriert, 2) den inneren Zusammenhang von Wert und Wertform, resp. Geld außer acht lässt, 3) sich gegenüber der Struktur dialektischer Darstellung ökonomischer Kategorien weitgehend indifferent verhält und 4) Abstraktionen meist als empirische Durchschnittsgrößen oder empirische Modelle begreift. So hält ein prominenter Vertreter des ricardianischen Marxismus im ,Westen', Maurice Dobb, erst die Frage nach der Vereinbarkeit von Wertgesetz und Ausbeutung für Marx' entscheidendes Anliegen. „Diesem Erklärungszweck entsprach die Werttheorie, wie er sie bei Ricardo fand, offensichtlich in hohem Maße" (Dobb 1977, S. 165). Marx' Differenzierung von konkreter und abstrakter Arbeit spielt hier keine Rolle (so auch bei Sweezy 1973, S. 76). Es ist beständig von Arbeit oder Arbeitsmengen die Rede. Wenn Dobb vom „qualitativen oder relationalen Aspekt" (Dobb 1977, S. 167) handelt, dann meint er das .Ausbeutungsverhältnis" als Grundlage der Einkommensverteilung (170). Ausgehend von einer als neutralem Boden verstandenen Werttheorie ist es also Dobb zufolge allein die Mehrwerttheorie, die Marx' Kapitalismuskritik und theoretische Revolution auszeichnet.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Form personaler Herrschaft in sachlich verschleierter Gestalt, in der einige wenige Monopolherren unmittelbare Macht über Staat und Aneignungsweise erlangen; aber auch die sozialdemokratische Variante einer ,Sozialstaatsillusion', die den Staat als Instanz des Gemeinwohls verherrlichte und ökonomische Krisen mit Hilfe eines keynesianischen Wohlfahrtsregimes ein für allemal erledigt sah; schließlich die ökonomistischen und objektivistischen Revolutionsauffassungen und Beschwörungen einer historischen Mission des Proletariats, die seit 1914 nichts dazugelernt hatten und statt wirklicher Individuen nur .historische Subjekte' kannten. Der paradigmatische Kern der neuen Marx-Lektüre besteht dagegen in einer Kritik der noch vom westlichen Marxismus und vielen Vertretern des Neomarxismus tradierten historizistischen bzw. empiristischen Lesart der Marxschen Formanalyse kapitalistischer Vergesellschaftung. Diese Kritik nimmt positiv gewendet die Gestalt einer Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie und ihrer staats- wie revolutionstheoretischen Implikationen an. Inhaltlich wird in den Hauptsträngen der Debatte - durchaus widersprüchlich und keineswegs von allen Vertretern geteilt - eine dreifache Abkehr von zentralen Topoi des Traditionsmarxismus vollzogen: Eine Abkehr vom werttheoretischen Substantialismus, von manipulationstheoretisch-instrumentalistischen Staatsauffassungen sowie von arbeiterbewegungszentrierten bzw. ,arbeitsontologischen' oder sogar generell von revolutionstheoretischen Deutungen der Kritik der politischen Ökonomie. Damit tritt die neue Marx-Lektüre an, die von der Orthodoxie bestenfalls proklamierte, aber niemals eingelöste (und mit ihren Mitteln auch gar nicht einlösbare) Programmatik einer Formtheorie des Sozialen auszuarbeiten, die nicht nur die Spezifik kapitalistischer Herrschafts- und Reichtumsformen zu fassen gestattet, sondern auch als im Marxschen Werk systematisch intendierte nachzuweisen ist. Es soll im Folgenden zunächst einigen wichtigen Quellen und Motiven der werttheoretischen Debatte der neuen Marx-Lektüre nachgegangen werden.

1.1.1. Zur falschen Zeit am falschen Ort: Ein ,westlicher Marxismus' im Osten Zwar scheint sich die Bezeichnung ,neue Marx-Lektüre' in letzter Zeit in den spärlichen wissenschaftshistorischen Beiträgen zum Marxismus durchzusetzen", doch hinsichtlich der Quellen und Motive der so benannten Forschungsrichtung finden sich nicht selten auffällige Verkürzungen, die den Stoff für eine .Frankfurter Legendenbildung' und eine unzulässige Einschränkung des Begriffs der neuen Marx-Lektüre liefern könnten 12 . Sicherlich sind die konstitutionstheoretischen Reflexionen der Kritischen Theorie, also eines genuin .westlichen Marxismus', Quellen einer die quantitativ-linksricardianisch orientierten Positionen des Marxismus der 50er und 60er Jahre transzendierenden, auf die Frage 11 12

Vgl. Heinrich 2002 , Kirchhoff u.a. 2004, Hoff 2004, Hoff/ Petrioli/ Stützle/ Wolf 2006. Vgl. bei Backhaus 1997a, Reichelt 2002, Kirchhoff u.a. 2004. Helmut Reichelt (2008, S. 11) meint gar, „Programm und Fragestellungen der ,neuen Marx-Lektüre' sind einem [...] ,zufälligen Fund' zu verdanken" - nämlich der Entdeckung der Erstauflage des Kapital durch Hans-Georg Backhaus in einem Frankfurter Studentenheim im Jahre 1963.

QUELLEN UND MOTIVE DER NEUEN M A R X - L E K T Ü R E

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nach dem originären Gegenstand des Kapital und der Eigentümlichkeit seiner wissenschaftlichen Darstellung abzielenden Lesart. Es ist aber längst kein Geheimnis mehr, dass es zwei Zeitgenossen13 des frühen Instituts für Sozialforschung gab, die auf einem zum Teil weitaus höheren Reflexionsniveau als dessen Vertreter, außerhalb ihres Schulzusammenhangs, in der jungen Sowjetunion Grundzüge einer neuen Marx-Lektüre erarbeiteten, die vom dissidenten .westlichen' Marxismus unbeachtet blieben und dennoch nicht in den Kanon des .östlichen' Marxismus, des ML, aufgenommen werden konnten. Erst und vor allem in der Bundesrepublik wurden seit den frühen siebziger Jahren Isaak Iljitsch Rubins und Eugen Paschukanis' lange verschüttete Impulse für die Deutung des Marxschen Werkes im Rahmen einer neuen Marx-Lektüre wieder aufgenommen und weitergedacht14. Wichtige Vorreiter dieser neuen Lesart sind also im ,Osten' zu finden. Im Gegensatz zum westlichen Marxismus Lukács-Korsch'scher Prägung thematisieren Rubin und Paschukanis wert- und staatstheoretische Kernfragen des Marxismus in einer der Orthodoxie meist radikal entgegengesetzten Weise. Die als Rekonstruktionen der originären wert- und staatstheoretischen Gehalte des Marxschen Denkens angelegten Bemühungen der beiden formulieren den Anspruch, die bis dahin noch nie freigelegten Potentiale einer Kritik der politischen Ökonomie als radikaler Infragestellung der Formen des gesellschaftlichen Reichtums und politischen Zwangs zu explizieren. Die ,Rekonstruktionsdebatte' der siebzi-

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Als weitere Ausnahme darf die Arbeit über den ,sozialen Gehalt der Marxschen Werttheorie' des Neukantianers Franz Petry aus dem Jahr 1916 gelten. Dieser fragt wohl als erster nach dem qualitativen Wertproblem (vgl. Petry 1974, S. 197) und kritisiert eine physiologische Deutung der abstrakten Arbeit (vgl. ebd., S. 213): „das rein physiologische Faktum der Arbeit ist nicht gemeint, wenn von abstrakt-allgemeiner Arbeit die Rede ist. Der spezifische Charakter der Arbeit kommt aber von ihrer gesellschaftlichen Form" (S. 213). Dieser Formbegriff wird allerdings mit dem apriorischen Kants kurzgeschlossen. Petrys hellsichtige Kommentare verfehlen den Marxschen Formbegriff bereits im Ansatz, indem sämtliche Kategorien der Ökonomiekritik in das Schema eines typisch kantianischen Dualismus gepresst werden. So unterscheidet Petry zwischen apriorischen und empirischen Momenten der Marxschen Werttheorie (vgl. ebd., S. 206) und ordnet ersteren die „ideellen sozialen Verhältnisse" (S. 211) zu, zu denen er die .faktischen Rechtsverhältnisse' zählt, welche wiederum als identisch mit Produktionsverhältnissen und anderen rein gesellschaftlichen Phänomenen, wie abstrakter Arbeit, verstanden werden (vgl. ebd., S. 200, 203, 207f., 213f.). Das gesellschaftliche Verhältnis der Warenbesitzer wird so abstrakt den „Sachenrelationen des Tauschverkehrs" (211) entgegengesetzt sowie das Marasche Begründungsverhältnis von Warenform und Rechtsform auf den Kopf gestellt. Auf Petry als Ausnahmeerscheinung der werttheoretischen Debatte um Marx weist u.a. Heinrich (1999, S. 205 (Fn.); 1994, Sp. 61) kritisch hin. Vgl. auch Lohmann 1989, S. 135 (Fn.). Auszüge des Buches von Petry wurden im Jahr 1974 von Nutzinger/ Wolfstetter veröffentlicht.

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Rubin kann kaum als Quelle bezeichnet werden, weil sein Werk erst in den 70ern erkennbar rezipiert wurde, obwohl bereits Roman Rosdolsky 1968 auf ihn hinweist. Rubin kommt eher der Stellenwert eines Vorreiters zu, dessen Relevanz allerdings später deutlich erkannt wurde. Damit sind auch Aussagen wie die von Johannes Weiß, der „wissenschaftliche oder akademische Marxismus in den westlichen Ländern" habe „spätestens seit Lenins Tod (und von den [...] ephemeren Wirkungen des Maoismus abgesehen) keinerlei intellektuelle Inspiration von Seiten des nachrevolutionären, zur Herrschaft gelangten sowjetischen Marxismus erfahren" (Weiß 1993, S. 273), durchaus zu relativieren.

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ger Jahre hätte also möglicherweise schon 192315 beginnen können - wenn sich der Marxismus neben der parteilichen Auslegung der ,Klassiker' eine unabhängige Wissenschaft geleistet hätte. Um auf der werttheoretischen Ebene zu verbleiben, sollen im Folgenden nur Rubins Überlegungen, in denen nahezu sämtliche Motive der späteren werttheoretischen Grundlagenreflexion der neuen Marx-Lektüre zu finden sind, betrachtet werden 16 : Rubin reflektiert als erster Marx-Interpret folgende Komplexe: - die Brüche im marxistischen Verständnis der Darstellungsweise im Kapital, vor allem zwischen den Kategorien Produktionsverhältnis und abstrakte Arbeit sowie zwischen Wert und Tauschwert/ Geld; - die Bedeutung des Begriffs abstrakte Arbeit und Ambivalenzen in der Marxschen Bestimmung dieses Begriffs; - die historizistische Deutung dialektischer Darstellung und die damit verbundene Theorie einfacher Warenproduktion, wie sie seit Engels' Kommentaren Gemeingut des Marxismus waren; - den notwendig monetären Charakter Marxscher Werttheorie; - die Frage des Werts als Resultat einer Arbeits- und/oder einer Tauschabstraktion. (I) Dialektik als Form wissenschaftlicher Darstellung wird von Rubin als „genetischefr]" 17 Begründungszusammenhang der Formen des gesellschaftlichen Reichtums verstanden, der eine notwendige Abfolge der diese Formen repräsentierenden Kategorien, ihren „inneren, unzertrennlichen Zusammenhang", entfaltet. Hinsichtlich der ersten drei Kapitel des Kapital, auf dessen Erstauflage Rubin sich häufig bezieht, bedeutet dies, dass die komplexere Kategorie des Geldes aus den einfacheren der abstrakten Arbeit, des Werts und des Tauschwerts hergeleitet und dergestalt die wechselseitige Implikation der Kategorien aufgewiesen wird. In der marxistischen Orthodoxie identifiziert Rubin nun zunächst einen „völligen Bruch" 18 zwischen dem Begriff Produktionsverhältnis (im Sinne der historischspezifischen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit 19 ) und dem der abstrakten Arbeit. Durch ein physiologisches Verständnis abstrakter Arbeit sei diese als „für alle historischen Epochen" 20 gültige Kategorie nicht mehr als Resultat spezifischer Produktionsverhältnisse begreifbar. Obwohl Marx durch ,,Ungenauigkeit[en] seiner vorläufigen Kennzeichnung der abstrakten Arbeit" 21 als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, d.h. von ,Hirn, Muskel, Nerv', die er in dieser Eigenschaft bereits als wertbildend 22 unter-

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In diesem Jahr sind die Studien zur Marxschen Werttheorie von Rubin (1973) im russischen Original erschienen. 1924 dann Allgemeine Rechtslehre und Marxismus von Paschukanis (1969). Zu Paschukanis' Beitrag zu einer Formtheorie des Rechts und Staats, der in die sog. .Staatsableitungsdebatte' der 1970er Jahre aufgenommen wurde, vgl. Kapitel 2.2 dieser Arbeit. Rubin 1973, S. 70. Genetisch meint hier eine sowohl analytisch als auch synthetisch verfahrende Methode der „Untersuchung verschiedener Aspekte ein und desselben Gegenstands", vgl. ebd. Zitate der Reihenfolge nach: Rubin 1975, S. 48, 49. Vgl. Brentels „Form III": Brentel 1989, S. 154f. Rubin 1975, S. 49. Rubin 1973, S. 110 (Fn.). Vgl. MEW 23, S. 58, 61 (MEGA II/6, S. 77, 79).

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stellt, einer solchen Lesart Nahrung geliefert habe23, müsse gerade durch Rekurs auf Marx' formanalytische Fragestellung, „wie die Arbeitsverhältnisse der Menschen ihren Ausdruck im Wert finden"24, gezeigt werden, dass die Wertsubstanz spezifisch gesellschaftliche Substanz und damit selbst eine historisch-spezifische Form der Vergesellschaftung konkreter Arbeit darstellt25. Es sei diese Frage nach der gesellschaftlichen Form der Arbeit und des Arbeitsprodukts, die Marx' Theorie grundlegend von der klassischen Ökonomie unterscheide26. Rubin fuhrt nun folgende Differenzierungen in den Arbeitsbegriff ein: (II) Neben konkreter Arbeit als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in bestimmter nützlicher Form unterscheidet er „drei Typen gleicher Arbeit"27: physiologisch gleiche, gesellschaftlich gleichgesetzte und abstrakte Arbeit. Die Kategorie der physiologischen Gleichheit der Arbeit berücksichtigt, dass alle konkret-nützlichen Arbeiten, ungeachtet ihrer spezifischen Form, die gemeinsame Eigenschaft aufweisen, Verausgabung menschlicher Energie (,Him, Muskel, Nerv') zu sein. Diese vom wissenschaftlichen Erkenntnissubjekt vorgenommene Abstraktion stelle aber nur eine Voraussetzung, nicht den Gegenstand ökonomiekritischer Analyse dar28. Betrachtet man nun die soziale Dimension konkreter Arbeiten, so die weitere Argumentation von Rubin, lässt sich feststellen, dass arbeitsteilige Produktion (in der die Produzenten Gebrauchswerte für andere herstellen) stets eine gesellschaftliche Gleichsetzung dieser Tätigkeiten bewirkt29. Dies geschehe im Zuge der proportionalen Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit auf die jeweiligen Produktionszweige, die Rubin als formationsübergreifenden Sinn der Marxschen Rede vom ,Inhalt der Wertbestimmung' identifiziert30. Diese gesellschaftliche Gleichsetzung qualitativ unterschiedlicher Arbeiten als bestimmte Quanta der Gesamtarbeitszeit habe aber in vor- bzw. nachkapitalistischen Produktionsweisen einen bloß ,,sekundär[en]", „ergänzend[en]"31 Charakter, da hier die Arbeiten bereits in ihrer konkreten Form (qua Gewalt, Normen oder bewusster Planung der Produktion) als gesellschaftliche anerkannt seien. Dieser abgeleitete, unselbständige Charakter gleicher Arbeit werde unter Bedingungen isolierter Privatproduktion zum primären, selbständigen: Abstrakte Arbeit als Wertsubstanz erweise sich als historisch-spezifische Form gesellschaftlich gleichgesetzter Arbeit32. Oder anders gesagt: Abstrakte Arbeit ist der „spezifisch gesellschaftliche Charakter der voneinan23 24 25 26 27 28 29 30

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Vgl. die vorsichtige Antizipation von Heinrichs späterer Ambivalenzthese in Rubin 1973, S. 95f. Rubin 1975, S. 10. Vgl. ebd., S. 44ff. Vgl. Rubin 1973, S. 74, 80. Ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 94, 97. Vgl. Rubin 1975, S. 13. Vgl. MEW 23, S. 85f. (MEGA II/6, S. 102); 32, 552f. Vgl. auch Rubin 1973, S. 75: „Wenn Marx vom Inhalt des Werts sprach, bezog er sich häufig auf etwas, das die gesellschaftliche Wertform annehmen mag, was aber ebenso eine andere gesellschaftlichen Form erhalten kann. Unter ,Inhalt' wird etwas verstanden, das unter verschiedenen gesellschaftlichen Formen auftreten kann". Rubin 1975, S. 14. Rubin zitiert folgenden Satz aus der Erstauflage des Kapital (ebd., S. 13): „In jeder gesellschaftlichen Arbeitsform sind die Arbeiten der verschiedenen Individuen auch als menschliche aufeinander bezogen, aber hier gilt diese Beziehung selbst als die spezifisch gesellschaftliche Form der Arbeiten" (MEGA II/5, S. 41).

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der unabhängigen Privatarbeiten"33, keine physiologische, sondern eine „gesellschaftliche und historische Kategorie". Eine Gleichsetzung der Arbeiten vollzieht sich, so Rubin, aber unter solchen Bedingungen nur „in sachlicher Form" 34, durch Gleichsetzung der Arbeitsprodukte. Hier betont er in aller Deutlichkeit, dass im sog. Fetischkapitel des Kapital nicht nur eine Theorie objektiven Scheins, sondern eine ,,allgemeine[...] Theorie der warenwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse" angelegt sei, die auf die Zentralität sachlich vermittelter Vergesellschaftung hinweise: „Die Wechselwirkung und die Wechselbeeinflussung der Arbeitstätigkeit einzelner Warenproduzenten verwirklichen sich ausschließlich vermittels der Sachen, ihrer Arbeitsprodukte, die auf den Markt gelangen". Denn in „der Warengesellschaft ist die Sache keine bloße .geheimnisvolle gesellschaftliche Hieroglyphe', keine bloße ,Hülle' unter der das gesellschaftliche Produktionsverhältnis der Menschen versteckt ist. Die Sache ist der Vermittler der gesellschaftlichen Verhältnisse, und die Bewegung der Sachen ist unzertrennlich mit der Etablierung und der Verwirklichung der menschlichen Produktionsverhältnisse verbunden". „Die Bewegung der Sachen - insofern sie besondere gesellschaftliche Eigenschaften [...] gewinnen - drückt das menschliche Produktionsverhältnis nicht nur aus, sondern erzeugt es auch"35. Die drei Typen gleicher Arbeit stellen so einerseits eine Hierarchie nicht hinreichender Ermöglichungsbedingungen dar, sie unterscheiden sich andererseits aber fundamental voneinander: Physiologische Gleichheit ermöglicht gesellschaftliche Gleichsetzung, die aber nur unter arbeitsteiligen Produktionsbedingungen stattfindet. Diese wiederum ist Ermöglichungsbedingung abstrakt-allgemeiner Arbeit, die aber nur in ρπναί-arbeitsteiligen Produktionsverhältnissen existiert36. Rubin meint, damit einen .Mittelweg' beschritten zu haben zwischen Auffassungen, die abstrakte Arbeit naturalisieren und solchen, die gesellschaftliche Gleichsetzung ausschließlich für warenproduzierende Gemeinwesen reklamieren37. Rubins Thesen zur abstrakten Arbeit sind in der neuen Marx-Lektüre Gegenstand heftiger Kontroversen geworden und prägen diese bis heute. Während Dieter Wolf - ohne Rubin zu erwähnen - dessen Dreiteilung des Arbeitsbegriffs in modifizierter Form übernimmt38, kritisieren vor allem das Projekt Klassenanalyse, Helmut Brentel, Michael Heinrich und Robert Kurz39 von unterschiedlichen Standpunkten aus die Vorstellung, die Verteilung der Gesamtarbeit impliziere eine Gleichsetzung unterschiedlicher Arbeiten. (III) Im Rahmen seiner Ausführungen über den Zusammenhang von abstrakter Arbeit/Wert und Tauschwert/Geld konstatiert Rubin den zweiten großen Bruch in der marxistischen Theoriebildung. Er fuhrt zwar diese Kritik am - wie Hans-Georg Backhaus es dann später nennen wird - ,prämonetären' Charakter der bisherigen marxistischen Werttheorie, also der Annahme einer Existenz von abstrakter Arbeit, Wert und Warentausch zeitlich vor 33 34 35

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MEW 23, S. 88 (MEGA II/6, S. 105) (zitiert in Rubin 1973, S. 101). Zitate der Reihenfolge nach: Rubin 1973, S. 106, 101. Zitate der Reihenfolge nach: Rubin 2008, S. 4, 4, 6, 6. Ich danke Devi Dumbadze für die Bereitstellung des Manuskripts. Vgl. auch die englische Übersetzung des 1. Kapitels in Rubin 1972. Vgl. Rubin 1975, S. 19. Vgl. ebd., S. 12f. Vgl. Wolf 1985a, Teil 1. Vgl. PKA 1975, S. 174; Brentel 1989, S. 147-153; Heinrich 1999, S. 213f.; Kurz 2004, S. 57-68. Vgl. dazu Kapitel 1.3.1.

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und logisch unabhängig vom Geld, nicht weiter aus40. Mit Helmut Brentel lässt sich aber dennoch Rubins „entwickelte Problembewusstheit hinsichtlich der konstitutiven Einheit von [...] Werttheorie und Geldtheorie"41 würdigen. Denn nach Rubin „führt der Begriff der abstrakten Arbeit unbedingt auch zum Begriff des Geldes" bzw. ist der „Begriff der abstrakten Arbeit bei Marx untrennbar mit dem des allgemeinen Äquivalents verbunden"42, da die Gleichsetzung der Arbeiten als abstrakte nur durch ihre Gleichsetzung mit einer als abstraktmenschliche schlechthin geltenden konkreten Arbeit möglich ist. Diese Gleichsetzung findet statt im Verhältnis aller Waren zum Geld43, erst hier sind abstrakte Arbeit und Wert als einfache, einheitliche und gesellschaftlich allgemeine Form „einfach und gemeinschaftlich, d.h. allgemein" dargestellt, „entspricht die Werthform dem WerthbegrifF'44. (IV) So wie die Entwicklung' vom Wert zum Geld ein begriffliches Explikationsverhältnis und keine vereinfachte Widerspiegelung empirisch-historischer Entstehungsprozesse bezeichne, so lasse sich auch die Analyse von Wert bzw. tauschvermittelter Aneignung nur als Untersuchung eines realen Moments der entwickelten kapitalistischen Klassengesellschaft verstehen. Die Bestimmungen des Werts und der gleichen Warenproduzenten in der einfachen Zirkulation unterstellten zum einen bereits die Klassenspaltung45, sie fanden sich zum anderen in den komplexer bestimmten sozialen Produktionsverhältnissen des Kapitalismus wieder: Geld, Kapital, Lohn und Profit seien „logische Varianten des Wertbegriffs", weil ,form von Verhältnissen zwischen unabhängigen Warenproduzenten" bzw. „privaten Wirtschaftseinheiten". Damit wendet sich Rubin einerseits gegen die Historisierung der Bestimmungen der einfachen Zirkulation zu solchen einer Epoche einfacher Warenproduktion, andererseits gegen eine frühe modelltheoretische Interpretation des Kapital, die Wert und Ware-Geld-Tausch (W-G-W) als Elemente des Konstrukts einer ,,imaginäre[n] Gesellschaft" „zum Zwecke der Kontrastierung und des Vergleichs mit der auf Ungleichheit beruhenden kapitalistischen Gesellschaft"46 begreife. Auch der Arbeitswert im ersten und der Produktionspreis im dritten Band des Kapital ließen sich nicht in Engelsscher Manier als historische Aufeinanderfolge deuten. Zwar liefere der dritte Band auch dieser Lesart einige Anhaltspunkte, wenn Marx z.B. vom logischen und historischen Prius des Werts vor dem Preis spreche47; dennoch sei der Engelssche Ansatz, demzufolge das Wertgesetz nur in einer vorkapitalistischen ,einfachen Warenproduktion' 40

Bei Pollock 1928 findet sich ebenfalls ein Hinweis auf den monetären Charakter der Marxschen Werttheorie, wenn er die Wertformanalyse als Deduktion des Geldes „als eine[r] conditio sine qua non der Warenwirtschaft" ( 199) bezeichnet und die Vorstellung von Geld als konventionell eingeführtem Mittel zur Erleichterung des Warentauschs ablehnt (200). (Es ist merkwürdig, dass Backhaus (1997, S. 109) diesen Hinweis nicht zustimmend erwähnt). Gleichwohl akzeptiert Pollock im Widerspruch dazu das Theorem einfacher Warenproduktion (208) und legt damit eine historizistische Deutung des Verhältnisses von Band 1 und 3 des Kapital nahe, wie sie auch in der übrigen Kritischen Theorie gang und gäbe war.

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Brentel 1989, S. 403. Rubin 1975, S. 21. Vgl. ebd., S. 21-24. MEGA II/5, S. 643. Vgl. Rubin 1973, S. 47 (Fn.). Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 47, 4 2 , 4 9 , 44 (gemeint ist die Position von Benedetto Croce). Vgl. ebd., S. 232.

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volle Gültigkeit besitze, nicht mehr dagegen im Kapitalismus, weil hier die .verfälschende' Preiskategorie hinzutrete, nahezu identisch mit den Mythen der ökonomischen Klassik, was auch Marx erkannt habe. Engels' Projektion eines aus dem Kapitalismus abstrahierten Gesetzes in vorkapitalistische Epochen - ein Verfahren, das sich bereits bei Smith, Torrens u.a. findet - begreift alle Kategorien als unmittelbar empirische. Dagegen muss laut Rubin Marx' Methode als schrittweise Rücknahme theoretischer Abstraktionen verstanden werden, womit sich die Kategorien Wert- und Produktionspreis als „zwei Abstraktionsgrade derselben Theorie der kapitalistischen Wirtschaft" entpuppen, „nicht als verschiedene Theorien, die für verschiedene historische Epochen Gültigkeit besitzen" 48 . Die Existenzweise der einfachen Kategorien wird mit Marx als die unterbestimmte, einseitige Beziehung einer gegebenen konkreten Totalität bestimmt 49 . Rubin sieht deutlich, wie die Historisierung der Methode im Kapital deren Gegenstand enthistorisiert, den „Wert in eine überhistorische Kategorie verwandelt", indem er als empirische Größe unmittelbarer Arbeitszeitrechnung aufgefasst wird. Indem Rubin den konstitutiven Zusammenhang von historizistischem Methoden- und substantialistischem Gegenstandsverständnis im Traditionsmarxismus aufdeckt, formuliert er bereits einen zentralen Topos der neuen Marx-Lektüre. (V) Die Existenz abstrakter Arbeit ist aber nicht nur konstitutiv an Geld gebunden, sie ist nach Rubin auch Resultat des Austauschprozesses. Ihre Abstraktifizierung ist ein „realer gesellschaftlicher Vorgang" 5 0 , die Tauschabstraktion zugleich eine Realabstraktion 51 . Auch hier antizipiert Rubin eine bis heute fortbestehende Konfliktlinie. Er sieht „deutlich die in der marxistischen Diskussion stets ungelöste Substanz- und Voraussetzungsproblematik von Wert und Wertform" 5 2 . Dem bis heute laut werdenden Vorwurf einer reinen Zirkulationstheorie des Werts begegnet Rubin mit der Differenzierung des Austauschbegriffs in einen Partikular- und einen Totalitätsbegriff: ,Tausch' stellt demnach nicht bloß eine temporäre, dem Produktionsprozess folgende, Phase dar, sondern ist als spezifische soziale Form des kapitalistischen Produktionsprozesses zu begreifen 53 - Warenproduktion ist als „auf dem Privattausch beruhende Produktion" beschreibbar. Tauschvermittelte Vergesellschaftung von Arbeit prägt daher auch den unmittelbaren Produktionsprozess, d.h. das Verhältnis des Produzenten zu sich selbst, zu seiner Tätigkeit und zum Produkt derselben. Hier tritt der Produzent immer schon als Warenproduzent auf. Ist auch der unmittelbare Produktionspro-

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Ebd., S. 235f. Vgl. ebd., S. 233f. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 235, 106. Die Reduktion der konkreten Arbeiten auf abstrakte vollzieht sich real allein „durch den Tauschakt, durch die [...] Gleichsetzung des Produkts der betreffenden Arbeit mit einer bestimmten Geldsumme" (ebd., S. 112). Diese Position wurde seit den 1930er Jahren von Alfred Sohn-Rethel ausgearbeitet. Er ist es auch, der den Terminus ,Realabstraktion', als einer im Tauschakt „durch Handlung" bewirkten „Kausalität", in die marxistische Debatte einführt; vgl. Sohn-Rethel 1973, S. 41 f., 49f. Brentel 1989, S. 404. Dabei soll hier nicht interessieren, dass Rubin sich für eine abweichende und z.T. irritierende Terminologie entscheidet: Die Form Wert (die Wertgegenständlichkeit) nennt er „Wertform", die Formen des Werts (die gegenständlichen Repräsentationen des Werts im Gebrauchswert einer anderen Ware) dagegen den „Tauschwert" (vgl. Rubin 1973, S. 74). Vgl. Rubin 1973, S. 112.

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zess derart auf Verwertung ausgerichtet, sind jedoch seine Produkte und die in ihm stattfindende Arbeit Rubin zufolge noch nicht reell Wert und abstrakte Arbeit. Die Wert-Form der Produkte sei dort nur ,ideell' oder ,latent' vorhanden, realisiert werde sie - als Verwandlung konkreter Arbeit in abstrakte - schließlich im Austauschprozess im engeren Sinne, worauf Marx im Zuge seiner Werkentwicklung „immer eindringlicher" 54 hingewiesen habe. Rubin wird 1930 von der sowjetischen Staatsmacht verhaftet und anschließend verbannt, bis er schließlich 1937 spurlos verschwindet 55 . Die folgende Epoche der dreißiger bis fünfziger Jahre ist mit Roman Rosdolsky als „eine für die marxistische ökonomische Theorie verlorene, eine tote Zeit" 56 zu bezeichnen. Auch die Edition der Marxschen Schriften liegt weitgehend brach - der Versuch einer ersten historisch-kritischen Gesamtausgabe scheitert zunächst am Stalin-Terror57. Die in aller Welt aufgrund von Faschismus und Krieg versprengten Vertreter des westlichen Marxismus gelangen ebenfalls nicht zu einer Reflexion auf der Höhe der Marxschen Ökonomiekritik. Nur höchst selten - und dann auf einem sehr abstrakt methodologischen Niveau - werden Motive erkennbar, die post festum als unorthodoxe Einsprengsel zu lesen sind. So, wenn Karl Kersch in seiner 1929 erschienenen Polemik gegen Kautskys Alterswerk Die materialistische Geschichtsauffassung die quantitative und darstellungslogische Marginalität historischer Betrachtungen im vermeintlichen G e schichtsbuch' 58 Kapital konstatiert und aus diesem Anlass bemerkt, die Entstehung des Kapitalismus sei „keineswegs der ganze Gegenstand oder auch nur das Kernproblem" von Marx' Untersuchung, eher deren „theoretisches Grenzproblem". Denn mit der Reflexion des Werdens der kapitalistischen Produktionsweise - anhand der Betrachtung der sog. ursprünglichen Akkumulation - sei der Grund ihres Daseins, der ,,ständige[n] Reproduktion und Akkumulation des Kapitals" 59 noch nicht freigelegt, es sei vielmehr die Erkenntnis der bürgerlichen Gesellschaft, von der aus „alle früheren geschichtlichen Gesellschaftsformationen materialistisch zu begreifen sind" 60 . Dabei bezieht sich Korsch neben der Marxschen Einleitung von 1857 auf Ausführungen Hegels in dessen Rechtsphilosophie61 - dem Werk, in dem 54 55 56 57 58 59 60 61

Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 112, 111. Vgl. Medwedew 1992, S. 292-296. Rosdolsky 1972, S. 11. Vgl. Vollgraf/ Speri/ Hecker 2001 sowie Hecker 2001. Vgl. Kautsky 1922, S. VIII. Zitate der Reihenfolge nach: Korsch 1971a, S. 66, 67, 67. Ebd., S. 34. Ähnliches bei Kosik 1986, S. 55. Es handelt sich um § 3 (in Hegel 1989, S. 35ff: „Das in der Zeit erscheinende Hervortreten und Entwickeln von Rechtsbestimmungen zu betrachten, diese rein geschichtliche Bemühung [...] hat in ihrer eigenen Sphäre ihr Verdienst und ihre Würdigung und steht außer dem Verhältnis mit der philosophischen Betrachtung, insofern nämlich die Entwicklung aus historischen Gründen sich nicht selbst verwechselt mit der Entwicklung aus dem Begriffe und die geschichtliche Erklärung und Rechtfertigung nicht zur Bedeutung einer an und fur sich gültigen Rechtfertigung ausgedehnt wird [...] Es geschieht der geschichtlichen Rechtfertigung, wenn sie das äußerliche Entstehen mit dem Entstehen aus dem Begriffe verwechselt, daß sie dann bewußtlos das Gegenteil dessen tut, was sie beabsichtigt. Wenn das Entstehen einer Institution unter ihren bestimmten Umständen sich vollkommen zweckmäßig und notwendig erweist und hiermit das geleistet ist, was der historische Standpunkt erfordert, so folgt, wenn dies für eine allgemeine Rechtfertigung der Sache selbst gelten

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der logisch-systematische Charakter dialektischer Darstellung deutlich formuliert wird62. Solche Überlegungen bleiben aber isoliert und unexpliziert63. Sie werden vor allem nicht im Hinblick auf werttheoretische Grundlagenprobleme konkretisiert. Diesbezüglich gehören einige Passagen aus Leo Koflers 1955 erschienenem Werk ,Geschichte und Dialektik' zum Äußersten an Verknüpfung von abstrakt-methodologischer Abhandlung und inhaltlicher Erörterung darstellungslogischer Probleme des Kapitals, das der westliche Marxismus zu bieten hatte. Aus der Anwendung des hundertfach repetierten Grundmotivs Georg Lukács', dass der Gesichtspunkt der Totalität das entscheidende Kriterium marxistischer Dialektik darstelle64, jedes scheinbar einfache und unvermittelte Einzelphänomen seine reale Bedeutung erst aus seiner Stellung im Verweisungszusammenhang eines gesellschaftlichen Ganzen erhalte, daher aber auch dieses Ganze bereits ,im Keim' enthalte, stößt Kofier auf ihm selbst wahrscheinlich nicht bewusste, teilweise heterodoxe Einsichten bezüglich der Anfangskategorien des Kapital. So bezeichnet er die Ware des Anfangs als „bewußte Abstraktion"65 von ihrem Charakter als Moment kapitalistischer Warenproduktion. Es sei „daher unmöglich, irgendein Phänomen der Warenbeziehung zu verstehen, wenn man es nicht gleichzeitig als ein Moment der Gesamtbeziehung der kapitalistischen Gesellschaft darzustellen vermag"66 - ein eklatanter Gegensatz zu Engels' Behauptung, das Kapital beginne mit der vorkapitalistischen Ware. Weder zieht Kofler aber explizit diesen Schluss - im Ge-

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soll, vielmehr das Gegenteil, daß nämlich, weil solche Umstände nicht mehr vorhanden sind, die Institution hiermit vielmehr ihren Sinn und ihr Recht verloren hat" (der zweite Teil zitiert in Korsch 1971a, S. 67 (Fn.)). Vgl. §32 in Hegel 1989 (S. 85ff.). Ebenso wie Korschs Aussage aus dem Jahre 1938, im Kapital würden „alle [...] ökonomischen Kategorien [...] in der spezifischen Gestalt und in dem spezifischen Zusammenhang aufgefaßt, wie sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft auftreten" (Korsch 1967, S. 13) - eine Paraphrase der Marxschen Formulierung in den Grundrissen (MEW 42, S. 41) (MEGA II/ 1.1, S. 42), die sich auch bereits im Jahre 1926 bei Georg Lukács findet (vgl. Lukács 1968, S. 684). Auch bei diesem wird aber nicht weiter erläutert, was es mit dieser These von Marx auf sich hat. Es wird lediglich kryptisch angemerkt, Marx habe die „Reihenfolge der Kategorien weder aus ihrem logischen Auseinander noch aus ihrem historischen Aufeinander" abgeleitet. Dieses Verfahren, irritierende Aussagen von Marx schlicht wiederzugeben, ohne deren Konsequenzen auszuloten, findet sich auch in einer zuerst 1951 veröffentlichten Arbeit von Otto Morf. Er betont zwar, dass für Marx „die logische Folge der Kategorien [...] gegenüber der historisch-genetischen den Vorrang hat", fährt dann aber fort, dies sei lediglich eine „scheinbare Verkehrung", die „nur eine des historischen Werdens selbst" darstelle (Morf 1970, S. 47). An anderer Stelle findet sich wieder die Behauptung, die „logischen Kategorien [...] sind die theoretisch-historisch verarbeiteten Formen des wirklichen Ganges der Geschichte" (146). Vgl. Lukács 1988, u.v.a. S. 77 (26f.), 94 (39). Kofler 1973, S. 64. Ebd., S. 67. Auch die notwendige Zirkularität der Argumentation im Kapital wird erwähnt: „So wird der Gegensatz von Gebrauchs- und Tauschwert als Einheit nur begreifbar, wenn man den Charakter der kapitalistischen Produktions- und Austauschverhältnisse als bekannt voraussetzt, wie auch umgekehrt der Charakter der kapitalistischen Ökonomie erst voll erfaßt werden kann durch die Analyse der inneren dialektischen Widersprüchlichkeit der Ware". Worin diese besteht und wie sie begrifflich entfaltet wird, bleibt aber unthematisiert.

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genteil versichert er scheinorthodox die Identität von Marx' und Engels' Methodenkonzept 67 - noch verfolgt er den hier begonnenen Gedanken der Ware als nicht-einfachem Sachverhalt, voraussetzungsvoller Abstraktion und real durch das Ganze der kapitalistischen Produktionsweise Vermitteltem weiter. Konträr kann anhand von Kofiers Überlegungen zu den Begriffen ,Form' und .Kategorie' bei Marx eine für weite Teile des westlichen Marxismus charakteristische objekttheoretische Unklarheit aufgezeigt werden: Zum einen wird der Formbegriff interaktionistisch verkürzt und der anonyme Herrschaftscharakter tauschvermittelter Aneignung derart als personale Herrschaft in sachlich verschleierter Gestalt verkannt. Auch hier ganz in der Tradition von Lukács stehend 68 , löst Kofier die im Kapitalismus entscheidende Tatsache der gesellschaftlichen Vermitteltheit der Menschen durch das gesellschaftliche Verhältnis von Sachen 69 gemäß dem Prinzip eines methodologischen Humanismus auf in soziale Verhältnisse, „die sich in den Schein dinglicher Beziehungen kleiden" 70 . Die Erkenntnis, dass es nicht die Sachen sind, die an sich Wert besitzen und diese auch nicht allein zu Markte gehen, wird verkehrt in die Irrealisierung des gegenständlich vermittelten Moments sozialer Beziehungen im Kapitalismus. Doch Kofier geht noch weiter - und hier kommt ein identitätsphilosophisches Motiv ins Spiel, das er mit Autoren wie Adorno teilt71: Er konfundiert ,Form' als historisch spezifisches, gegenständlich vermitteltes soziales Verhältnis mit ,Kategorie' und diese mit ideologischem Schein. So betrachtet er Geld als „einerseits reale, in den konkreten Prozeß der Ökonomie eingehende Macht", die „andererseits aber und in gleichem Maße ein bloß ideologisches Gebilde, eine täuschende Vorstellung von etwas anderem, nämlich von den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen" 72 darstelle. Geld ist aber nach Marx ein gegenständlich repräsentiertes Produktionsverhältnis, dessen Verkennung im Geldfetisch besteht, nicht in der Geldkategorie als solcher. Koflers Kategoriebegriff vermischt so Gehalte des Formbegriffs - ökonomische Verhältnisse als gesellschaftliche Verhältnisse von Sachen, die an Sachen erscheinen 73 - mit Aspekten systematisch verkehrter Reflexion dieses Verhältnisses - Schein der Sacheigenschaft der gesellschaftlichen Bedeutung Wert. Er kann weder den nichtmentalen Charakter der ökonomi67

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Vgl. ebd., S. 82: „Kein Zweifel, daß Marx in diesem Zeitraum [1845-57] in engstem Kontakt mit Engels (Deutsche Ideologie, Kommunistisches Manifest usw.) sich über die methodischdialektischen Voraussetzungen seiner Denkweise vollste Klarheit verschafft hat". In Geschichte und Klassenbewusstsein formuliert Lukács diesen methodologischen Humanismus wie folgt: „Das Wesen der Warenstruktur [...] beruht darauf, daß ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit und auf diese Weise eine .gespenstige Gegenständlichkeit' erhält" (Lukács 1988, S. 170f. (94)). Vgl. auch ebd., S. 79 (28), w o er das Zerreißen der „Dinghaftigkeitshülle" sozialer Beziehungen als Aufgabe der Totalitätsanalyse postuliert, oder S. 321 (203), w o von der Ableitung fetischistischer Formen „aus den primären menschlichen Beziehungsformen" die Rede ist.

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Vgl. MEGA II/2, S. 53: „Die Individuen treten sich nur als Eigenthümer von Tauschwerthen gegenüber, als solche, die sich ein gegenständliches Dasein für einander durch ihr Product, die Waare gegeben haben. Ohne diese objektive Vermittlung haben sie keine Beziehung zueinander" sowie ebd., S. 56ff. Vgl. bereits MEW 40, S. 462 (MEGA IV/2, S. 464f.).

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Kotier 1973, S. 87. Vgl. Adorno 1998, S.209. Kotier 1973, S. 78. Vgl. MEGA II/5, S. 30 oder auch MEW 25, S. 822 (MEGA II/4.2, S. 843).

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sehen Formen noch die Realität der gesellschaftlichen Eigenschaften von Sachen aufgrund ihres, durch Menschen unwillkürlich bewirkten, gesellschaftlichen Bezuges verstehen. Nach Kofler sind die von Marx analysierten ökonomischen Formen verkehrte Kategorien, „bloßer ideologischer Schein", welcher „in der Form dieses Scheins Existenzbedingung des praktischen Geschehens" wird. Der Kausalzusammenhang, den Kofler suggeriert, besteht damit in Folgendem: Wirkliche Produktionsverhältnisse - verstanden als direkte Interaktionen zwischen Menschen - werden in Kategorien verkehrt abgebildet, wobei diese Kategorien zu wirklichen Existenzbedingungen der Menschen mutieren, eine „reale Erscheinungsform" erhalten. Geld ist somit bestimmt als täuschender, aber praktisch wirksamer Schein, der sich über dem nicht dinglich vermittelten Sozialen ausbreitet. Kategorien erhalten eine Erscheinungsform', ,bloßer Schein' ist zugleich ,wirkliche' Form, weil die ,dialektische Einheit von Subjekt und Objekt' eine identitätsphilosophische Deutung erfährt: „Es macht die Eigenart der Kategorie aus, daß in ihr der Widerspruch zwischen Abstraktion und Realem zur dialektischen Identität gelangt"74. Dieser Theoriekomplex, von Louis Althusser später als spekulativer Empirizismus kritisiert, wird sich als genuines Erbe des westlichen Marxismus noch in prominenten Beiträgen der neuen Marx-Lektüre wiederfinden75.

1.1.2 Die verunsicherte Orthodoxie In den sechziger Jahren beginnt zwar auch im Ostblock eine rege wissenschaftliche Beschäftigung mit Marx' ökonomischem Werk, wie die Publikationstätigkeit dieser Jahre beweist, doch bleiben die im Einzelnen durchaus differenzierten Untersuchungen76 mit Ausnahme I.I. Narskis, der in der Debatte der Bundesrepublik noch eine Rolle spielen wird, letztlich Ausarbeitungen der Engelsschen Orthodoxie, welche die hier zu untersuchenden Grundlagen der Marxschen Ökonomiekritik als selbstverständlich gegeben unterstellt. (I) Bereits 1955 legt M.M. Rosental eine ausgiebige Reflexion zur ,logisch-historischen' Methodologie der Kritik der politischen Ökonomie vor. Er unterscheidet darin zwischen historischer' und .logischer' Methode, die allerdings - ganz im Sinne der Engelsschen Formulierungen - eine „dialektisch widersprüchlichfe]" „Einheit des Logischen und des

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Zitate der Reihenfolge nach: Kofler 1973, S. 76, 78, 78. Es ist verblüffend zu sehen, wie Hans-Georg Backhaus noch im Jahre 2000 die hier behandelte Passage aus Kofiers Werk geradezu wörtlich reproduziert (vgl. Backhaus 2000, S. 17). Dies spricht m.E. aber keineswegs für Plagiarismus, sondern für die Hartnäckigkeit identitätsphilosophischer Motive. Der Topos wird uns auch im Zusammenhang mit der Erörterung der Positionen von Robert Kurz und Helmut Reichelt noch näher beschäftigen. Bereits an dieser Stelle sei aber folgender Satz von Marx in Erinnerung gerufen: „Die ökonomischen Kategorien sind nur die theoretischen Ausdrücke, die Abstraktionen der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Herr Proudhon stellt als echter Philosoph die Dinge auf den Kopf und sieht in den wirklichen Verhältnissen nur die Fleischwerdung jener Prinzipien" (MEW 4, S. 130). Vgl. Rosental 1973, Iljenkow 1969, Wygodski 1967, Zeleny 1973, Tuchscheerer 1968, Narski 1973, Rosdolsky 1968.

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Historischen"77 darstellen soll. Dabei wird umstandslos die Historizität des Gegenstands des Kapital und der Kategorien, die ihn erfassen, mit dem Gegenstand der Untersuchung als historischem Prozess konfundiert78. Die klassische Engels-These wird dabei wie folgt begründet: Die historische Methode analysiere eine Abfolge konkreter Ereignisse und Handlungen, die der Betrachtung des geschichtlichen Prozesses „ein starkes Element des Zufalls"79 hinzufügten. Erklärt werde dabei Konkretes aus Konkretem. Die logisch-historische Methode hingegen behandle gesetzmäßige Zusammenhänge, historische Entwicklungslogiken. Die kategoriale Bewegung gehe dabei von Abstraktem auf Konkretes, ihr Resultat sei eine konstruierte Geschichte, für die konkrete Daten und Fakten nur eine illustrative Funktion hätten80. Rosental kommt indes nicht umhin, einige seinem Ansatz widersprechende philologische Fakten zu berücksichtigen: So stellt er fest, dass Marx, „ohne das Wesen des Kapitals zu kennen, nicht gewußt hätte, wo und worin die Voraussetzungen fur die Entstehung des Kapitals zu suchen sind"81, weshalb die historische Betrachtung der Kapitalgenese erst am Ende des ersten Bandes zu finden sei. Diese Einsicht von der logischen Analyse als „Schlüssel zur Geschichte des Kapitals"82 wird aber sogleich wieder zurückgenommen in das historizistische Paradigma: Einerseits meint Rosental, die historischen Passagen veranschaulichten und bestätigten die logischen Betrachtungen83, was nur plausibel ist, wenn man die logischen Aussagen lediglich als begrifflich-abstrakte Verdichtungen historischer Entwicklungen auffasst. Nicht plausibel ist das aber, wenn man bedenkt, dass Rosental gerade die Differenz von logischer Wesenserkenntnis und Darlegung geschichtlicher Bedingungen unterstellt hat. Zum anderen behauptet er, die Reproduktion der Produktionsbedingungen des Kapitals wiederholten nicht bloß die Resultate der ursprünglichen Akkumulation, sondern diese Geschichte selbst64, was auf eine auf unmittelbare Gewalt gestützte Ent-/ Aneignung in Permanenz hinausliefe, statt auf deren strukturelle Reproduktion. Rosental bestimmt nun aber tatsächlich die Kritik der politischen Ökonomie als Wesensanalyse des Kapitals, die mittels begrifflicher Abstraktionen vollzogen werde und die Ware des Anfangs der Untersuchung als „abstrakte und unentwickelte Form des Kapitals"85 fasse. Deren Entwicklung' wird allerdings sogleich wieder mit der historischen parallelisiert. Schließlich zitiert Rosental wahrscheinlich als erster Interpret einen Zentralsatz der sog. „short outline" der Wertformanalyse, wonach die Entwicklung der Geldkategorie als eine kommentiert wird, die aus dem „Widerspruch der allgemeinen Charaktere des Werts mit

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Zitate der Reihenfolge nach: Rosental 1973, S. 461, 469. Vgl. ebd., S. 464. Ebd., S. 467. Vgl. ebd., S. 468f. Ebd., S. 472. Eine offensichtliche Anspielung auf die methodischen Bemerkungen von Marx in den Grundrissen, v.a. den Satz:,Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höhres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist" (MEW 42, S. 39) (MEGA II/l.l, S. 40). Rosental 1973, S. 472. Vgl. ebd., S. 473. Vgl. ebd., S. 472. Vgl. ebd., S. 476. Hier referiert Rosental wohl einige Stellen aus dem Brief von Marx an Engels vom 2.4.1858 (vgl. MEW 29, S. 315) (MEGA III/9, S. 123).

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seinem stofflichen Dasein in einer bestimmten Ware"86 erfolgt. Rosental folgert daraus, die „Notwendigkeit des Geldes" sei bereits „in dem Widerspruch der Ware begründet"87. Was mit .Entwicklung' und Notwendigkeit' gemeint ist, bleibt ihm aber verborgen. Er unterstellt Marx die These, dass jedermann die Notwendigkeit des Geldes für den Austausch begreife. Dies hat Marx aber erstens niemals behauptet, er spricht vielmehr von dem Alltagswissen um die Existenz des Geldes 88 , und zweitens zeigt dies Rosentals rein pragmatischen Notwendigkeitsbegriff, der impliziert, dass geldvermittelter Tausch eben bequemer sei als direkter - und dies ist in der Tat bürgerlicher Alltagsverstand und vulgärökonomisches Grundwissen. Letztlich wird die Wertformanalyse als Darstellung der ,,historische[n] Entwicklung der Wertformen" gedeutet, die die Ergebnisse der logischen Ableitung „besser, gründlicher [...] erhärten" soll. Wenn die logische Ausführung aber bereits die logisch-historische ist, bleibt die Frage, wo denn dann die .logische', d.h. „theoretisch gefundene[...] Schlussfolgerung^..]"89 im Kapital zu finden sein soll. Während Rosental die kategoriale Bewegung von Ware zu Geld und Kapital, ebenso wie die vom ersten zum dritten Band des Kapital, als Nachzeichnung eines historischen Prozesses in bereinigter Form fasst 90 , stellt er - wieder durch klare Aussagen von Marx dazu genötigt9' - fest, dass im Falle von Handels- und Wucherkapital keine Parallelität zwischen be86

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MEW 29, S. 315 (MEGA III/9, S. 123) (zitiert in Rosental 1973, S. 477): „Aus dem Widerspruch der allgemeinen Charaktere des Werts mit seinem stofflichen Dasein in einer bestimmten Ware etc. - diese allgemeinen Charaktere sind dieselben, die später im Geld erscheinen - ergibt sich die Kategorie des Geldes". Rosental 1973, S. 477. Vgl. auch, bezogen auf die Proudhon-Kritik in den Grundrissen, Tuchscheerer 1968, S. 385. Auch weitere rudimentäre Hinweise auf einen inneren, also keineswegs historisch kontingenten Zusammenhang von Ware und Geld finden sich in Tuchscheerers 1968 postum veröffentlichter Dissertation aus dem Jahr 1963/66. Er entdeckt bereits in den 1844er Exzerpten (v.a. zu Mill und Ricardo, vgl. MEGA IV/2, S. 392-470) von Marx Hinweise „auf den inneren, keineswegs nur formalen, sondern wesentlichen Zusammenhang zwischen Warenproduktion und Geld" und betont die Marxsche Erkenntnis, dass die Waren nur in ihrem Bezug auf Geld als Wertdinge wirklich gegeben seien (vgl. ebd., S. 150f.). Allerdings verfolgt Tuchscheerer eine rein quantitative Argumentation zur Stützung des notwendigen Zusammenhangs und der notwendigen Nichtidentität von Ware und Geld, bzw. Wert und Preis: Nur bei Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage deckten sich Wert und Preis, dies sei aber im Kapitalismus lediglich als beständig über Disproportionalitäten vermittelte Tendenz der Fall. Marx komme über diesen Gedanken zur Einsicht in die Notwendigkeit des äußeren Wertmaßes Geld (vgl. ebd., S. 352, 356). Vgl. MEW 23, S. 62 (MEGA II/6, S. 80f.): Jedermann weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, daß die Waren eine mit den bunten Naturalformen ihrer Gebrauchswerte höchst frappant kontrastierende, gemeinsame Wertform besitzen - die Geldform". Beide Zitate: Rosental 1973, S. 477. Vgl. ebd., S. 479. Vgl. MEW 42, S. 41 (MEGA II/l.l, S. 42): „Es wäre also untubar und falsch, die ökonomischen Kategorien in der Folge aufeinander folgen zu lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben, und die genau das umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemäße erscheint oder der Reihe der historischen Entwicklung entspricht"; dazu auch MEW 25, S. 335ff. und 607ff. (MEGA II/4.2, S. 394ff., 646ff.) - wo Marx vorkapitalistisches Handelskapital und Zins behandelt, nachdem er sie in ihrer modernen Form entwickelt hat.

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grifflicher und historischer Abfolge besteht92. Auch diese Erkenntnis eines gegenläufigen Verhältnisses von logischer Analyse und historischem Nacheinander wird aber mit einem Kunstgriff in die Engelssche Rechtgläubigkeit eingemeindet. Der Leser ahnt es schon - es ist die Dialektik, die solches bewerkstelligt. Dieser Widerspruch sei eben ein ,,lebendig[er] dialektischfer]", „der den komplizierten und widersprüchlichen Verlauf der Wirklichkeit selbst"93 widerspiegele. Der Rückzug auf einen platten logischen Widerspruch als letzte Legitimationsstrategie zeigt endgültig, dass hier ein Deutungsmuster seine Grenzen überschritten hat. Der Versuch der Ausarbeitung des Engels-Paradigmas produziert nichts als Anomalien. Sie entstehen zuerst am widerständigen philologischen Material bis dato vernachlässigter oder schlicht unbekannter Marxscher Texte. Die Paraphrasierung dieser Texte, die den Nachlassverwaltern der ,Klassiker' aufgegeben ist94, da sie sich immer noch Marxisten' nennen, lässt dabei allerdings nicht auf heterodoxe Erkenntnis schließen. (II) Hinsichtlich der Ökonomiekritik kommt es allerdings im Rahmen des 1967 in Frankfurt am Main abgehaltenen Kolloquiums 100 Jahre ,Kapital' zu einer Kristallisation zentraler Fragen und Forschungsaufgaben der späteren Rekonstruktionsdebatte. Es wird eine Reinterpretation der Marxschen Kritik aus gesellschaftstheoretisch-methodologischer Perspektive anvisiert: Die Frage nach dem originären Gegenstand des Kapital (den ökonomischen Formbestimmungen), der Eigentümlichkeit seiner wissenschaftlichen Darstellung (Dialektik der Wertformen) sowie dem Zusammenhang der drei Bände (.Kapital im allgemeinen viele Kapitalien') wird in Abgrenzung zu quantitativ-linksricardianischen Ansätzen neu gestellt. Dabei wird der Stellenwert der Grundrisse besonders betont. Roman Rosdolsky, der mit Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ,Kapital' eines der bis dahin differenziertesten Werke zur Kritik der politischen Ökonomie vorlegen sollte, konstatiert in seinem Eingangsreferat die bisher ,,stiefinütterliche[...]"95 Behandlung von Methodenproblemen des Kapital und plädiert - entgegen der weitgehend fachökonomischarbeitsteiligen und allein quantitativen Betrachtung der Werttheorie im Marxismus - für einen qualitativ-gesellschaftstheoretischen Ansatz96, der den Formbegriff von Marx ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken soll97. Auf methodologischer Ebene weise vor allem der .Rohentwurf den philosophisch-sozialtheoretischen Gehalt der Marxschen Kategorien, ihren Totalitätsbezug, aus und zeige, „wie durch und durch dialektisch der Aufbau des [...] Kapital ist und welch entscheidende Rolle Marx in seiner Ökonomie den Hegel entlehnten Kategorien der Methode beimaß"98. Rosdolsky verlässt aber, obwohl er als Erster wieder auf die Existenz der Studien Rubins hinweist99, dennoch nicht den Boden der Methodenorthodoxie. Er konstatiert zwar eine verstörende Wirkung der Grundrisse, bei deren Lektüre man „zunächst stutzt und sich des Eindrucks nicht erwehren kann, es handle sich in diesem Werk 92 93 94 95 96 97

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Vgl. Rosental 1973, S. 479f. Ebd., S. 480. „Man kann an diesen Tatsachen nicht vorbeigehen" (ebd.). Rosdolsky 1972, S. 9. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 14: „auf diese gesellschaftlichen Formen - im Unterschied von dem naturgegebenen .Inhalt' - kommt es vor allem an!". Ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 11 und Rosdolsky 1968, S. 98.

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um bloße ,Begriffsdialektik', die die ökonomischen Kategorien mit Eigenleben ausstattet und sie in echt Hegelscher Weise auseinander entspringen und ineinander übergehen läßt"100, versucht aber, ähnlich wie Rosental, in einem hermeneutischen Gewaltakt Marx' logisch-systematischen Ansatz in die logisch-historische Lesart einzubauen. Seine Schlüsse sind dabei alles andere als plausibel: Er konstatiert mit Marx101, dass die historische Entwicklung der Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise die Grenzen dialektischer Darstellung markiert, um daraus zu folgern, also sei dialektische Darstellung nichts anderes als das korrigierte Spiegelbild des historischen Prozesses102. Er konstatiert mit Marx, die logisch-systematische Analyse liefere den Schlüssel zum Verständnis der Historie und folgert, also sei die systematische nichts anderes als die historische Analyse103. Auch hier sind falsche Schlussfolgerungen die Konsequenz einer vom Engels-Schema nicht mehr zu bewältigenden Marxschen Argumentations- und Textlage. Dabei bestimmt Rosdolsky - im Gegensatz zu einem historisch-empirischen Verständnis - das ,Kapital im Allgemeinen' als Gegenstand der ersten beiden Bände des Kapital. Erst im dritten Band würden die ,vielen Kapitalien' und ihre Konkurrenz einbezogen104. Zwar gilt auch diese Deutung inzwischen als widerlegt105, wichtig ist hier aber zunächst, dass Rosdolsky auf den hohen Abstraktionsgrad und den nichtempirischen Charakter der Kategorien des ersten Bandes hinweist106. Im Zuge seiner kurzen Betrachtung der Wertformanalyse in den Grundrissen zeigt sich Rosdolskys Traditionalismus dagegen in aller Deutlichkeit: Er erwähnt zwar, dass der immanente Widerspruch zwischen privater und gesellschaftlicher Arbeit, Gebrauchswert und Wert nur durch die Verselbständigung des Werts im Geld gelöst werden kann107, die einzelne Ware nicht unmittelbar austauschbar und ihr gesellschaftlicher Charakter daher nur in einer allgemeinen Ware auszudrücken ist108. Ja, er zitiert sogar Marx' Formulierung, dass Warentausch niemals ohne Geld stattfinden kann109. Aber der Sinn dieser Sätze bleibt ihm verborgen, denn er kann sich die in den Grundrissen angemahnte Korrektur der „idealistischein] Manier der Darstellung"110 ausschließlich im Rahmen des historizistischen EngelsParadigmas vorstellen, nach dem „ökonomische Kategorien" nichts „anderes als Abbilder wirklicher Verhältnisse" sind und die , Ableitung dieser Kategorien" niemals „unabhängig 100 101 102 103

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Rosdolsky 1972, S. 13. Vgl. MEGA II/2, S. 91. Vgl. Rosdolsky 1972, S. 13. Vgl. ebd. Dass Rosdolsky den „Unterschied zwischen historischer und logischer Entwicklung des Kapitals bei Marx [...] hervorgehoben" hat, wie Jappe 2002, S. 32 meint, ist nicht zu verifizieren. Vgl. Rosdolsky 1972, S. 16, 19. Vgl. Heinrich 1999, S. 181-195. Vgl. Rosdolsky 1972, S. 16: „daß die in den ersten zwei Bänden dieses Werkes durchgängige Annahme, die Waren würden zu ihren Werten ausgetauscht, rein methodologischen Charakters war und nichts über die konkrete Wirklichkeit aussagen wollte". Vgl. Rosdolsky 1968, S. 141f. Vgl. ebd., S. 138f. Vgl. ebd., S. 146f. MEW 42, S. 85f. (MEGA II/l.l, S. 85): „Es wird später nötig sein [...], die idealistische Manier der Darstellung zu korrigieren, die den Schein hervorbringt, als handle es sich nur um Begriffsbestimmungen und die Dialektik dieser Begriffe. Also vor allem die Phrase: Das Produkt (oder Tätigkeit) wird Ware; die Ware Tauschwert; der Tauschwert Geld".

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von der historischen erfolgen" kann. Rosdolsky teilt also unausgesetzt Engels' konkretistisches Verständnis der Wertformanalyse, das jeden werttheoretischen Begriff direkt „mit der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung konfrontiert" sehen will. Da demnach Begriffe wie ,einfache' und ,entfaltete Wertform' einer solchen „,Kontrolle durch die Tatsachen'"" 1 unterworfen werden müssen, ihr Realitätsgehalt darin gesehen wird, einst vorhandene einfache', geldlose Warentauschverhältnisse abzubilden, wundert es nicht, dass Rosdolsky in seiner ,historischen Ableitung' des Geldes dieses - wie die Klassik - aus den pragmatischen „Schwierigkeiten"112 des Austausche, als bloß technisches Instrument zu dessen Vereinfachung, einfuhrt. Dennoch ist es bereits Rosdolsky, der beispielsweise den Übergang zum Kapital, wie er in den Grundrissen und im Urtext zu finden ist, relativ ausführlich nachzeichnet. Er stellt dabei fest, dass zwar sowohl in den Grundrissen als auch im Kapital eine Erklärung der Verwandlung von Geld in Kapital aus dem Verhältnis des Werts zu seinem spezifischen Gebrauchswert (der Arbeit), der damit auch zu einer ökonomischen Kategorie werde113, erfolgt, im Kapital aber nur die abgeleitete Lösung ohne die Ableitung selbst präsentiert werde" 4 . Dies bleibt aber ebenso folgenlos fur das explizite historische Methodenverständnis Rosdolskys wie seine ,logische' Deutung des Übergangs als begriffliche Reproduktion des Zusammenhangs von einfacher Zirkulation und kapitalistischem Produktionsprozess, der Aufweisung der einfachen Zirkulation als ,abstrakter Sphäre' des Gesamtreproduktionsprozesses" 5 . Wenn Rosdolsky die Grenzen dialektischer Darstellung schließlich als „durch die tatsächliche geschichtliche Entwicklung"" 6 bestimmt sieht, stellt sich unwillkürlich die Frage, wie eine historische Entwicklung zugleich charakteristisches Element und Begrenzung solcher Darstellung sein kann" 7 . Rosdolsky ersetzt eine explizite Methodenreflexion schlicht durch das Verfahren des unkommentierten Paraphrasierens Marxscher Textstellen. Erst in den Schriften der späten Frankfurter Schule, zuerst bei Alfred Schmidt, werden wenn auch noch mit vielen „Wenns und Abers"118 - Marx' metatheoretische Aussagen vor allem aus den Grundrissen als Anomalie der logisch-historischen Methodenorthodoxie 111

Zitate der Reihenfolge nach: Rosdolsky 1968, S. 144, 144, 148 (Rosdolsky zitiert hier zustimmend Lenin). 112 Ebd., S. 146. Rosdolsky bezieht sich dabei selektiv auf einige tatsächlich konkretistischhistorisierend anmutende Äußerungen von Marx aus Zur Kritik (vgl. MEW 13, S. 36f.) (MEGA II/2, S. 129f.), lässt aber jeden Hinweis auf die dort ebenfalls dargelegte Kritik der Neutralitätstheorien des Geldes als „pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel" vermissen. 113 Vgl. Rosdolsky 1968, S. 111, 228, 230. 114 Vgl. ebd., S. 228. 115 Vgl. ebd., S. 229f. Marx spricht im Urtext von der einfachen Zirkulation als „abstrakte Sphäre des bürgerlichen Gesammtproductionsprocesses" (MEGA II/2, S. 68), die durch ihre eigenen Bestimmungen sich als Moment eines hinter ihr liegenden Prozesses, des industriellen Kapitals, erweise und gerade keine vorkapitalistische Epoche mit isolierter, empirischer Existenz ihrer einfachen' Bestimmungen (,einfache' Wareneigentümer,,einfache Geldbesitzer' usw.) bezeichne. 116 Rosdolsky 1968, S. 229. " ' E i n z i g die These, tatsächlich' heiße hier eben ,realhistorisch', kann als Rettungsversuch angebracht werden, wodurch aber lediglich gezeigt würde, dass die Grenze nicht korrekt bestimmt wird. Vgl. dazu Kapitel 1.2.1. 118 Backhaus 1997a, S. 11.

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wahrgenommen. Vorweg ist aber eine weitere, noch die Frankfurter Beiträge selbst beeinflussende Quelle der neuen Marx-Lektüre zu betrachten, die auf anderem Wege zur Aufsprengung des ML-Kanons beigetragen hat.

1.1.3 Der Einfluss des französischen strukturalen Marxismus Zwar heben z.B. Kirchhoff u.a. zu Recht die Bedeutung des Kolloquiums 100 Jahre ,Kapital' im Jahre 1967 als wichtiges Ereignis der Formulierung zentraler Fragen und Aufgaben der späteren Rekonstruktionsdebatte der neuen Marx-Lektüre hervor'19. In diesem Zusammenhang wird auch der Redebeitrag von Nicos Poulantzas kurz erwähnt. Dennoch fehlt jeder Hinweis auf den Einfluss der ,antihistorizistischen' Herausforderung der Orthodoxie seitens der französischen struktural-marxistischen Schule um Louis Althusser, Etienne Balibar, Poulantzas u.a. auf die bundesrepublikanische Debatte. Dabei finden Althussers Anregungen dort durchaus einen - wenn auch kritisch gebrochenen - Widerhall: (I) Bereits Mitte der sechziger Jahre120 konstatiert Louis Althusser mit Hilfe seiner ,symptomalen' Lektüre des Kapital, dass wir es im Marxschen Werk mit einer in der theoretischen Praxis der Analyse des Kapitalismus vollzogenen wissenschaftlichen Revolution zu tun haben, die auf der metatheoretischen Ebene von einem dieser Problematik unangemessenen Diskurs überlagert wird121. Die reale Methode von Marx sei im Diskurs des Kapital latent enthalten und entgegen der Marxschen Einschätzung nicht als Anwendung einer bereits existenten (nämlich der nur materialistisch ,gewendeten' Hegeischen Dialektik) auf die politische Ökonomie zu verstehen. Mit der Revolution auf diesem wissenschaftlichen Feld entstehe uno actu eine neue Ordnung wissenschaftlicher Argumentation. Althusser definiert dabei die Aufgaben einer Rekonstruktion als Abtragen des inadäquaten Metadiskurses und Transformation der in ihm vorherrschenden Metaphern, die als Symptome für die Abwesenheit einer dem wirklichen Vorgehen der Kapitalanalyse angemessenen Selbstreflexion gelesen werden. Diese Metaphern sollen Begriffe werden. In seinen Bemerkungen zur „Methode der Marx-Interpretation"122 auf dem Kolloquium von 1967 wird Alfred Schmidt den Gedanken eines Zurückbleibens des Marxschen Selbstverständnisses hinter seinen materialen Analysen aufgreifen, allerdings mit einer hegelianischen Pointe. Joachim Bischoff knüpft 1973 vor allem an Althussers Kritik des Anwendungsschematismus an123. (II) Die Anwesenheit eines hegelianischen Metadiskurses im Marxschen und marxistischen Denken fuhrt Althusser zufolge dazu, den Strukturwandel der Dialektik bei ihrer Verwendung im Rahmen der materialistischen Gesellschaftstheorie zu verkennen124. Die 1,9 120

121 122 123 124

Vgl. Kirchhoff u.a. 2004, S. 11. Im Original erschienen Althussers Hauptwerke dieser Periode, Für Marx und Das Kapital 1965, in deutscher Übersetzung 1968 und 1972. Vgl. Althusser 1972, S. 38-51, 65-67. Schmidt 1972, S. 32. Vgl. Bischoff 1973, S. 19f. Vgl. Althusser 1968, S. 56.

lesen,

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Metapher des ,Umstülpens' der Hegeischen Dialektik125 wird danach dem wirklichen Vorgehen im Kapital nicht gerecht, da sie ein bloßes Auswechseln ihres Substrats suggeriere von der Dialektik des Begriffs zur Dialektik der Gesellschaft126. Dagegen beschreibt Althusser den Prozess der Entstehung materialistischer Dialektik als radikalen ,Terrainwechsel'. Als materialistische vollziehe sie eine Veränderung der Begriffe gegenüber ihrem idealistischen Vorgänger (von der .bürgerlichen Gesellschaft' als , System der Bedürfhisse' zur .ökonomischen Basis' als .System der Akkumulation'; vom Staat als ,an und für sich seiender Allgemeinheit' zum ,Klassenstaat' usw.) und gruppiere diese Begriffe nicht in einem ,Hegeischen Verhältnis' zueinander127: Hegel fasse Totalität ausgehend von der Vorstellung einer ursprünglichen, sich in Verschiedenheiten und Gegensätze entfaltenden, einfachen Substanz. In diesem .expressiven' Totalitätsmodell gelten die Momente des Ganzen nur als Selbstmanifestationen dieser Substanz, wobei die Widersprüche der Erscheinungsformen letztlich in die Einheit des Wesens aufgelöst werden. Die Hegeische Totalität ist damit nur scheinbar in Sphären gegliedert, nur scheinkomplexe Einheit, wobei das einheitsstiftende Moment „niemals mit irgendeiner bestimmten Realität der Gesellschaft selbst übereinstimmt"128, da es in allen als Entfaltung eines geistigen Prinzips konzipierten Ebenen zugleich präsent ist. Bei Marx, so Althusser, sind dagegen Identität und Einfachheit nur als aufgespreizte, differentiell konstituierte zu denken. An die Stelle eines Ursprungs tritt ein ,schon gegebenes', komplex strukturiertes Ganzes mit Dominante129. Marx vollziehe dabei keine Umkehrung Hegels im Sinne der Auffassung des Überbaus als bloßer .Erscheinung' des .Wesens' der Basis, sondern begreife gesellschaftliche Totalität als Artikulation verschiedener, in ihrer Form, Ausdehnung und ihrem Verhältnis zueinander ,in letzter Instanz' durch die Produktionsverhältnisse determinierter Ebenen. Das Artikulationsverhältnis bezeichnet eine Verknüpfung interdependenter, aber in ihrer Funktionsweise nicht aufeinander reduzierbarer Praxisfelder. Die Produktionsverhältnisse bestimmen nicht den Inhalt dieser Instanzen, sondern weisen diesen ihre Funktion und exklusive, nichtsubstituierbare Wirksamkeit zu. Deren 125

Althusser bezieht sich auf Marx' Aussage aus dem Jahr 1873, man müsse die Hegeische Dialektik „umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken" ( M E W 23, S. 27) ( M E G A II/6, S. 709).

126

Bereits Karl Korsch hat 1924 diese Metapher für die Differenz zwischen idealistischer und materialistischer Dialektik als „oberflächliche^..] Auffassung" kritisiert, die mit der falschen Auffassung einer „unverändert bleibenden Methode" arbeite (Korsch 1971b, S. 134).

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Vgl. Althusser 1968, S. 76-79, 148ff.

128

Ebd., S. 150 (Fn.). Vgl. ebd., S. 143f. Althusser unterscheidet dabei zwischen ,Dominante', einem, wenn auch als wirkmächtigstes erkanntem, Feld unter anderen und .Determinante', den dieses institutionelle Set strukturierenden und einem Feld die Dominanz zuweisenden, Produktionsverhältnissen (vgl. ebd., S. 161 und Althusser 1972, S. 129f.). Er stützt sich dabei im Wesentlichen auf zwei Marx-Stellen: Vgl. M E W 23, S. 96 (Fn.) ( M E G A II/6, S. 112 (Fn.)): „Soviel ist klar, daß das Mittelalter nicht vom Katholizismus und die antike Welt nicht von der Politik leben konnte. Die Art und Weise, wie sie ihr Leben gewannen, erklärt umgekehrt, warum dort die Politik, hier der Katholizismus die Hauptrolle spielte" und M E W 42, S. 4 0 ( M E G A I I / l . l , S. 41): „In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluß anweist".

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relative Autonomie wird so als Moment des durch die spezifischen Produktionsverhältnisse bewirkten Artikulationstypus des sozialen Ganzen sichtbar, sie könnte als Bruch mit der Determination durch die Produktionsverhältnisse nur in einem reduktionistischen Modell der Gesellschaft als expressiver Totalität verstanden werden. Im Rahmen der neuen Marx-Lektüre wird diese Position unter anderem von Steffen Kratz aufgenommen und anhand der Kritik von Hegels Zurückweisung eines Totalitätsbegriffs als Ensemble von Instanzen konkretisiert, die sich in äußerlicher Wechselwirkung befinden: Das Verhältnis von Philosophie, Politik, bürgerlicher Gesellschaft usw. werde von Hegel nicht in der Kategorie des Einflusses dieser Instanzen aufeinander gedacht, sondern in der einer Teilhabe dieser Ebenen an einem nicht selbst als empirische Instanz anwesenden, vielmehr sich in diesen manifestierenden, höheren geistigen Prinzip. Ein solches Einheitsprinzip sei dagegen materialistisch uneinlösbar. Es komme Hegel auf „die Einheit aller dieser verschiedenen Gestaltungen" an, „dass ein Geist nur ist, der sich in verschiedenen Momenten manifestiert und ausprägt" 130 . Kratz betont, der Ökonomie könne bei Marx nicht analog zum Hegeischen Begriff die Rolle einer in allen Phänomenen anwesenden, höheren Einheit zugesprochen werden. Sie manifestiere sich nicht in der Wirklichkeit, sondern sei ihr immanent 131 . Althussers strukturales Determinationsmodell wird allerdings auch von stark an Hegel orientierten, bzw. .humanistischen' Marxisten wie Alfred Schmidt oder Karel Kosik im Ansatz geteilt 132 . Auch bei Ernst Bloch finden sich bereits hegelkritische Motive 133 , die Althussers Intentionen nicht so fern stehen, wie die polarisierende Debatte zwischen Strukturellsten und Humanisten bisweilen weis machen wollte. Auffallend ist nun, dass Althussers Überlegungen zur Differenz zwischen Marx und Hegel lediglich Fragen der Komplexität und Determinationsverhältnisse des Gegenstands der konkurrierenden Dialektiken gelten, aber kein alternatives Konzept für die Abfolge und den Zusammenhang der Kategorien im Kapital anbieten 134 . Die Logik wissenschaftlicher Dar130 131

Hegel 1975, S. 70 (zitiert in Kratz 1979, S. 26). Vgl. auch Kratz 1979, S. 26f., 29,40f. Da sich Kratz in seiner Dissertation nur mit den Marxschen Frühschriften beschäftigt, bleibt dieser Gedanke aber, wie zunächst bei Althusser, hinsichtlich der späteren Marxschen Ökonomiekritik unausgeführt. Hier müsste dann eine unkritische Analogisierung von Wert, resp. Kapital und Geist Gegenstand der Kritik werden.

132

Vgl. Schmidt 1971, S. 223 (in expliziter Anlehnung an Althusser) sowie Kosik 1986, S. 106-114 (die Differenz von Determinante und Dominante wird dort ersetzt durch die zwischen ökonomischer Struktur und ökonomischem Faktor). 133 Bloch kritisiert Hegels „emanatistische" Dialektik (Bloch 1985a, S. 464), betont die Singularität des Neuen gegenüber einem in den ,Bann der Anamnesis' verstrickten Systemdenken (vgl. ebd., S. 472, 478) sowie die relative Autonomie des Überbaus, der als „Topos" durchaus eine eigene Geschichte aufzuweisen habe (vgl. Bloch 1985b, S. 397ff.). Auch Althusser besteht in seiner Theorie der ideologischen Staatsapparate gegen Marx' und Engels' Formulierung in der Deutschen Ideologie auf der eigenen Geschichte, die dem Ideologischen gegenüber der Basis zukomme (vgl. Althusser 1973b, S. 146). 134

Vgl. den gleichlautenden Vorwurf in Müller 1975, S. 88: Althussers Verfahren bestehe lediglich in der „Anpassung des strukturalistischen Ansatzes an recht allgemeine Aspekte Marxscher Theorie (die obendrein im Kapital gar nicht Gegenstand sind)". Der kategoriale Rahmen werde „nicht eingebracht in Bezug auf die immanente Entwicklung im .Kapital'". Auch nach Steinvorth (1977a, S. 42) trägt Althusser „außer der These, er [der dialektische Widerspruch] sei [...] über- oder in sehr

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QUELLEN UND MOTIVE DER NEUEN MARX-LEKTÜRE

Stellung bleibt in den früheren Schriften Althussers eine Leerstelle, die, w i e Ulrich Müller anmerkt 1 3 5 , nur m ü h s a m durch A l l g e m e i n p l ä t z e w i e „Einwirkung einer Struktur a u f ihre Elemente" 1 3 6 kaschiert wird. O h n e selbst das strukturalistische Terrain zu betreten und g l e i c h s a m über Althusser hinaus, haben in der n e u e n Marx-Lektüre der Bundesrepublik u.a. Hans-Friedrich Fulda und - w i e d e r u m als Kritik an d i e s e m - Dieter W o l f Althussers T h e s e v o n e i n e m Strukturwandel der Dialektik a u f g e n o m m e n und die W a n d l u n g e n d e s Widerspruchskonzepts v o n H e g e l z u Marx untersucht, vor a l l e m in B e z u g a u f die Darstellungsw e i s e im Kapital131.

In e x p l i z i t e m B e k e n n t n i s zur strukturalen Tradition, aber bei differen-

zierterer W ü r d i g u n g H e g e l s c h e r Argumentationsfiguren in Marx' Werk, knüpft Hermann K o c y b a 1 9 7 9 an Althussers Kritik des M o d e l l s expressiver Totalität an, i n d e m er in der B e g r i f f s e n t w i c k l u n g d e s Kapital

ein h e t e r o g e n e s E n s e m b l e verschiedener Widerspruchsty-

p e n identifiziert, das sich nicht d e m K o n z e p t e i n e s sich entfaltenden, ursprünglichen G e g e n satzverhältnisses einverleiben lasse 1 3 8 . Im A n s c h l u s s an Althusser geriert sich K l a u s H o l z ' V e r s u c h einer v ö l l i g e n V e r a b s c h i e d u n g des K o n z e p t s materialistischer Dialektik a m radikalsten 1 3 9 . (III) D i e Kritik des e x p r e s s i v e n Kausalitätsmodells als w e s e n t l i c h e s Element einer, den Gegenstand

der M a r x s c h e n Theorie v e r f e h l e n d e n ,Jiistorizistischen

Problematik

des

Sub-

komplexer Weise bestimmt, während er bei Hegel nur einfach bestimmt sei, nichts zu seiner Klärung bei[...]'\ Ähnlich kritisiert Otto Kallscheuer (1986, S. 221), die Althusser-Schule habe nicht viel zur Rekonstruktion der Marxschen Theorie beigetragen, nicht einmal im Sinne eines NeuZusammensetzens der vorhandenen Kategorien. Nur wenig deutlicher als Althusser wird diesbezüglich Jacques Rancière (1972), dessen Aufsatz ursprünglich in der französischen Ausgabe von Das Kapital lesen enthalten war. Hoff/ Petrioli/ Stützte und Wolf (2006, S. 14f.) machen allerdings auf den geistes- und politikgeschichtlichen Kontext der Althusserschen Konzentration auf Fragen des ,historischen Materialismus' im allgemeinen aufmerksam: „Althussers [...] philosophische Initiative zur Kapital-Lektüre zielte historisch [...] in erster Linie darauf, [...] neue Grundlagen für den historischen Materialismus frei zu legen - und zwar sowohl als Grundlage für eine Erneuerung der Gesellschaftswissenschaften [...] als auch als Grundlage einer Erneuerung revolutionärer Praxis aus der Krise der kommunistischen Bewegung". 135

136 137 138 139

Vgl. Müller 1975, S. 88. Althussers Formulierung bleibe unausgeführt und sperre sich gegen das Moment des inneren Zusammenhangs wie der logischen Entwicklung der Kategorien. Althusser 1972, S. 34. Vgl. Fulda 1978, Wolf 1985a. Vgl. dazu Kapitel 1.2.2 dieser Arbeit. Vgl. Kocyba 1979, S. 151. Vgl. dazu Kapitel 1.2.2 dieser Arbeit. Vgl. die Althusser-Bezüge in Holz 1993, S. 135f„ 143, 150, 191f., 195f. Holz bietet aber lediglich eine terminologisch aufpolierte Version des Althusserschen Topos der „Antinomie zwischen seinen [Marx'] materialen Arbeiten und seinem methodologischen Selbstverständnis" (ebd., S. 215). Das hegelianische Modell expressiver Totalität heißt bei ihm nun Begründungslogik, Identitätslogik und Subjektlogik (vgl. ebd. S. 23f.), die im Widerspruch zu Marx' radikal historischer und immanenter Fassung des Gegenstands Gesellschaft stehen soll (vgl. ebd., S. 18, 25, 29). Holz will Dialektik deshalb verabschieden, weil sie ihm mit ihrer hegelianischen Gestalt identisch und materialistisch nicht reformulierbar erscheint. Sie rekurriere immer auf einen substanzhaften absoluten Grund, der außerhalb von Gesellschaft und Geschichte verortet und letztlich identitätsphilosophisch konstruiert werden müsse. Sein Beitrag ignoriert die Kritik keimzellendialektischer Ansätze vollends und hat nur unstrittige bis dürftige Altemativvorschläge zu bieten.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

jekts"'40 wird nun um einen weiteren Aspekt des Althusserschen ,Antihistorizismus' ergänzt, der - jenseits der klassischen Konfliktlinien um Subjekt und Struktur, Hegel und Marx - die Diskussionen der neuen Marx-Lektüre beeinflusste und in dem methodologisch bedeutsamen Hinweis besteht, dass, aufgrund eines radikalen Unterschieds zwischen Realund Erkenntnisobjekt141, reale historische Entwicklung und Begriffsentwicklung nicht parallelisierbar seien. Die These, man habe es bei Marx mit einer , logisch-historischen' Methode zu tun, wird als Ausdruck des Empirismus der Orthodoxie gedeutet142. In der mehr oder weniger geläufigen Bedeutung, die eine Konzeption von Theorie als bloßer Widerspiegelung empirisch konstatierbarer Fakten und Prozesse, eine allein in Beobachtung gründende wissenschaftliche Erkenntnis oder gar die Zuordenbarkeit jedes theoretischen Begriffs zu einem in der Erfahrung vorfindlichen Referenten143 bezeichnet, geht der Empirismusbegriff des strukturalen Marxismus allerdings nicht auf. Alle Positionen, die auch die Theorie als ,j>ars totalis der zirkulären sozialen Totalität"144 betrachten und damit eine „Identität oder Homologie von Subjekt und Objekt der Erkenntnis"145, die Zugehörigkeit der Theorie zu ihrem Gegenstand, unterstellen, gelten hier als ,empiristisch'. Sie praktizieren ein „Denken des Unterschiedes zwischen dem Realen und dem Gedanken als eines Unterschiedes, der entweder dem Denken [...] oder dem Wirklichen [...] eingraviert ist"146. Althusser dagegen begreift wissenschaftliche Praxis als Transformation von Allgemeinheiten I (Vorstellungen/ Begriffe) mittels Allgemeinheiten II (Methoden) in Allgemeinheiten III (wissenschaftliche Begriffe)147, die vollständig im Rahmen theoretischer Abstraktionen verbleibt. Die Erkenntnis des Objekts des Kapital sei darüber hinaus nicht durch eine Theorie der Genese der kapitalistischen Produktionsweise vermittelt, im Gegenteil: Erst die strukturale Analyse der synchronen Beziehungen der Elemente des Kapitalismus erlaube eine Thematisierung ihrer Vorgeschichte in einer diachronen Theorie148. Schließlich sei auch die Abfolge der Kategorien im Kapital nicht als Ausdruck einer historischen Entwicklungstheorie interpretierbar. Der Vorrang der Synchronie äußere sich darin, „dass das System der Begriffshierarchie die .diachronische' Ordnung ihres Auftretens im wissenschaftlichen Diskurs bestimmt. In diesem Sinne spricht Marx von der .Entwicklung der (begrifflichen) Formen' wie Wert, Mehrwert u. dgl. Diese Entwicklung der Formen ist [...] nichts anderes als die Manifestation der systematischen Abhängigkeit, die im System einer Gedankentotalität die ein-

140 141 142 143

144 145 146 147 148

Poulantzas 1972a, S. 59. Vgl. Althusser 1972, S. 52. Vgl. ebd., S. 59f. Oder, wie Hermann Kocyba (1979, S. 164) es ausdrückt, nach der , jeder Begriff der Theorie eine distinkte Entität der Realität bezeichnet". Vgl. auch Bohnen 1972, der drei elementare Aspekte des (modernen) Empirismus identifiziert: 1) Die klare Trennung von Theorie- und Beobachtungssprache; 2) der Sinn von Theorien sei nur durch den Bezug auf oder gar eine vollständige Definition durch Beobachtungssätze zu ermitteln; 3) die Beobachtungssprache bleibe bei Theoriewandel bedeutungsinvariant, Beobachtungen seien mithin nicht konstitutiv theoriegeleitet. Poulantzas 1972a, S. 60. Ebd. Vgl. auch Althusser 1972, S. 44. Ebd., S. 113. Vgl. Althusser 1968, S. 113, 126f. Vgl. Althusser 1972, S. 85.

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zelnen Begriffe miteinander verbindet" 149 . Diese Kritik der historizistischen Methodenorthodoxie wird in Rekurs auf Althusser von Alfred Schmidt 1971 in seiner These eines .kognitiven Primats des Logischen' in der Kritik der politischen Ökonomie 150 ebenso aufgenommen wie von Bader u.a. in ihrem 1975 erschienenen Beitrag151 und hat sich als methodisches Grundprinzip der neuen Marx-Lektüre durchgesetzt 152 . Althussers wissenschaftstheoretischer Ansatz wird allerdings in den meisten Beiträgen abgelehnt, die sich an Marx' Wissenschaftsverständnis und Ideologiekritik der politischen Ökonomie orientieren153 und explizit von .objektiven Gedankenformen' sowie ihrer Generierung in der Praxis des Warentauschs sprechen. Gefragt wird insbesondere, wie der Zusammenhang von Gegenstand und Erkenntnis innerhalb einer Theorie begriffen werden kann, die beide als „absolut verschieden" 154 bezeichnet. Dies betreffe sowohl das Problem der Entstehung verkehrten Bewusstseins als auch das der Sachhaltigkeit von wissenschaftlicher Erkenntnis. Ersterem werde mittels des Theorems einer Ewigkeit des Ideologischen ausgewichen 155 , die Sachhaltigkeit werde bloß beteuert, wobei sich Althusser jeglichen Realitätsbezugs durch das rein kohärenztheoretische Wahrheitskriterium der „Systematik des [begrifflichen] Systems" 156 entledige. Dieses Kriterium versäume es zudem, den Forschungsprozess und die Konstitution der Ausgangsabstrakta wissenschaftlicher Praxis zu thematisieren157. (IV) Bedeutsam ist schließlich auch Althussers Bestimmung der Differenz zwischen dem Gegenstandsverständnis der politischen Ökonomie und dem der Marxschen Kritik. Er hebt Marx' Kritik am Empirismus, Individualismus und Anthropologismus der politischen Ökonomie hervor, die ihren Gegenstand als homogene Fläche konzipiere, auf der alle Phänomene der direkten und quantifizierbaren Beobachtung zugänglich sind und die Ökonomie durch Rekurs auf ein Subjekt der Bedürfnisse, den homo oeconomicus, konstruiere 158 . Dagegen gehe Marx' Analyse nicht von einer imaginären Anthropologie des bedürftigen Subjekts, sondern von der Produktionsweise aus und fasse dementsprechend die Akteure als Träger bestimmter Strukturen. Die Identifizierung des ökonomischen Objekts setze bei Marx also einen Begriff determinierender Tiefenstrukturen, vor allem den der Produktionsverhältnisse als Kombination spezifischer Elemente (Arbeitskraft, unmittelbare Produzenten, Eigentümer

149 150 151 152

Ebd., S. 91. Vgl. Schmidt 1977. Vgl. Bader u.a. 1975, S. 74 (Fn.), 79. So konzediert auch Backhaus (1997e, S. 158) vorsichtig, dass die „strukturalistisch inspirierte[...] Althusser-Schule[...] in ihrer antihistorizistischen Einstellung in einigen Punkten mit der .logischen' Interpretation übereinstimmt".

153

Vgl. Reichelt 1974a, Heinrich 1997.

154

Althusser 1972, S. 52. Bei Althusser findet sich dieses Theorem v.a. in Althusser 1968, S. 18Iff. Vgl. kritisch dazu Müller 1975, S. 91.

155

156

Althusser 1972, S. 91: „Der [...] Erkenntniseffekt ist also möglich unter der Bedingung der Systematik des Systems". Die Formen der Erkenntnis garantieren demnach die Gültigkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis, indem sie „der betreffenden Erkenntnis den Charakter einer (.wahren') Erkenntnis verleihen" (ebd., S. 90).

157

So Müller 1975, S. 90f. und Kallscheuer 1986, S. 212, 215.

158

Vgl. Althusser 1972, S. 214-217.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

der Produktionsmittel etc.)159 voraus, der gegen die empiristische Vorgabe gerichtet sei, das Objekt der Gesellschaftstheorie „unmittelbar in der Sichtbarkeit des ,Feldes' geschichtlicher Phänomene ,lesen' zu können"160. Zunächst wird nur ein Aspekt in die Debatte aufgenommen und heftig kritisiert, die These von Individuen als Trägern von Produktionsverhältnissen. Im Rahmen der neuen MarxLektüre knüpft dann vornehmlich Michael Heinrich an Althussers Kategorie des theoretischen Feldes der politischen Ökonomie und einer Kritik an dessen Empirismus, Ahistorismus, Individualismus und Anthropologismus an161. Klaus Holz schließlich verarbeitet Althussers Kategorien zur These eines immanenz- oder konvergenztheoretischen Bruches des Marxschen Gegenstandsverständnisses von Gesellschaft als „Totalität einer selbstgeschaffenen Lebensform"162 mit bürgerlichen Ansätzen, die ein außerhistorisches bzw. nichtsoziales Prinzip zur Reduktionsbasis gesellschaftstheoretischer Erklärungen aufbieten163. Insgesamt lässt sich feststellen, dass Althussers Überlegungen aus der Mitte der sechziger Jahre einen deutlichen Einfluss auf die Begrifflichkeiten und das Problembewusstsein der neuen Marx-Lektüre ausgeübt haben und die „Hegeische Tradition des westlichen Marxismus" den strukturalen Ansatz keineswegs bloß „als unhistorisch und letztes ideologisches Bollwerk der Bourgeoisie"164 zurückgewiesen hat, wie Alex Demirovic meint. Es sind insbesondere Althussers Fragen nach Gegenstand und Methode der Ökonomiekritik, die als „für eine Weiterentwicklung des Marxismus notwendig" erachtet wurden. So sprechen Arenz, Bischoff und Jaeggi 1973 davon, es gelte die „theoretisch-praktischen Konsequenzen der ,neuen' Marxlektüre"165 Althussers zu ziehen und selbst ein Antistrukturalist wie Alfred Schmidt lässt sich von den hochabstrakten methodologischen Reflexionen des strukturalen Marxismus inspirieren. Ein widerspenstiger Stichwortgeber - Exkurs zu zwei Vorworten Althussers Zwar lassen sich Althussers Interventionen in den marxistischen Diskurs der 60er Jahre durchaus als Quellen einer neuen Marx-Lektüre verstehen, dennoch - und das zeigt insbesondere seine ÂTa/nW-Rezeption seit 1969 - hat sein weiteres Wirken so gut wie keinen Einfluss mehr auf Positionen der neuen Marx-Lektüre in der Bundesrepublik nehmen können. Seine Geringschätzung der Bedeutung der Waren- und Wertformanalyse war zu offensichtlich, als dass er die Diskussion noch entscheidend hätte befruchten können. Hier ist Peter Ruben ansatzweise zuzustimmen, der die ,,erhebliche[...] Bedeutung" Althussers für

159 160 161

162 163

164 165

Vgl. ebd., S. 236. Ebd., S. 246. Vgl. Heinrich 1999, u.a. S. 25, 82. Dies allerdings ohne Althussers Ablehnung des Fetischismuskonzepts zu teilen. Holz 1993, S. 19. Z.B. weise Marx den konstitutionstheoretischen Individualismus der Politökonomie sowohl inhaltlich als auch methodologisch zurück - und damit die Ableitung sozialer Phänomene aus dem vermeintlich natürlichen Wesen des Menschen als substanzhaftem Absolutem (vgl. ebd., S. 139f.). Demirovic 1987, S. 11. Beide Zitate: Arenz/ Bischoff/ Jaeggi 1973, S. XXXVI.

QUELLEN UND M O T I V E DER NEUEN M A R X - L E K T Ü R E

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die „Genesis" der kapitallogischen Debatte der BRD hervorhebt, aber Althusser selbst nicht zu dieser Strömung rechnen will, weil „er die Wertformanalyse und -entwicklung nicht als Modellbeispiel der Anwendung materialistischer Dialektik erkannte"166. Eine nähere Betrachtung zweier Vorworte aus den Jahren 1969 (dt. 1973) und 1978 (dt. 1983) kann zumindest Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage liefern, warum Althussers spätere Texte in der Debatte um die Logik167 des Kapitals keine Rolle mehr gespielt haben und ob hier nicht durchaus sachliche Gründe für eine Rezeptionsschwelle vorhanden waren: (I) Althussers Vorwort fiir die Leser des 1. Bandes des , Kapital ' bietet eine vulgäre Klassenstandpunkttheorie: Demnach ergeben sich fur das Proletariat „keine politischideologischen Schwierigkeiten" das Kapital zu verstehen, weil es „schlicht und einfach von ihrem" (der Arbeiter) „konkreten Leben" handelt. Intellektuelle hingegen hätten das Buch nicht begriffen, weil sie „der herrschenden Ideologie (die der herrschenden Klasse) unterworfen sind"168. Obwohl Althusser den nichtempirischen Charakter zentraler Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie hervorhebt - den Mehrwert könne man nicht mit Händen greifen169, der Gegenstand sei „ein abstrakter"170, nämlich die kapitalistische Produktionsweise in ihren Grundstrukturen jenseits konkret-historischer Gesellschaftsformationen, das Kapital damit ein theoretisches, nicht empirisch-historisches Werk171 - , verortet er die Bedingung der Möglichkeit ihres Verständnisses in der „unmittelbaren Erfahrung der Ausbeutung". Dass es eine solche nach Marx aufgrund der Lohnmystifikation gerade nicht gibt, kann Althusser wegen seiner unbegründeten Ablehnung des Fetischkonzepts als „schädliche[n]" Hegelianismus nicht zu Bewusstsein gelangen. Statt dessen konzipiert er die Ökonomiekritik als unmittelbare Systematisierung des Alltagsverstands der Arbeiterklasse, ihres ,,genau[en] Wissen[s]"172 um die Ausbeutung im Produktionsprozess - eine proletarische Vulgärökonomie. Dem abstrakten Gegenstand der Darstellung steht unvermittelt die sinnliche Wahrnehmung der Ausbeutung gegenüber, die - rein manipulationstheoretisch gefasst durch die bürgerliche Ideologie zu verschleiern versucht werde173. Um diese widersprüchliche Achse dreht sich Althussers Thematisierung des Kapital seit seiner ,antitheoretizistischen' Wende174, seiner Version des sich als ,Übergang zum proletarischen Klassenstandpunkt' artikulierenden sacrificium intellectus.

166

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168 169 170 171 172 173 174

Ruben 1977, S. 42. Allerdings ist Rubens Begriff der ,Kapitallogik' enger als der hier verwendete der neuen Marx-Lektüre und stellt letztlich einen polemischen Kampfbegriff des ML und seines Alleinvertretungsanspruchs auf Marx-Deutung dar. Logik ist hier in einem weiten Sinne zu verstehen. Der Begriff umfasst sowohl formal-logische als auch methodologische Aspekte. Schließlich ist auch häufig von einer Logik des Kapitals (ohne Anführungsstriche) die Rede, was wiederum die Struktur, die inneren Zusammenhänge oder Gesetzmäßigkeiten des Untersuchungsgegenstands meint. Zitate der Reihenfolge nach: Althusser 1973a, S. 80, 80, 79. Vgl. ebd., S. 82. Ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 84. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 86, 103, 107. Vgl. Althusser 1973a, S. 108. Vgl. sein Buch Elemente der Selbstkritik (Althusser 1975).

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Soweit sich inhaltliche Anmerkungen zum Kapital finden, also die Überreste des ,Theoretizisten' den .selbstkritischen' Maoisten überwältigen, lassen sie sich auf zwei zusammenhängende Komplexe reduzieren: 1. Auf die „imperative Empfehlung", die ersten drei Kapitel des ersten Bandes zu überspringen, die als der Marxschen Problematik inadäquater „Rest des Hegeischen Einflusses" 175 verstanden werden. Damit modifiziert Althusser auch seine These des epistemologischen Einschnitts als Bruch mit Hegel derart, dass er ihn als 1845 beginnenden und sich bis ins Spätwerk hinein erstreckenden Prozess bestimmt. Dies produziert 2. inhaltlich das Resultat einer traditionalistisch-ricardianischen Marx-Lektüre. Die Kempositionen des Kapital bestehen danach in der Mehrwerttheorie als Theorie der Klassenausbeutung 176 und der Entdeckung der „unglaublichen Methoden" 177 der ursprünglichen Akkumulation'. Einem solchen simplen, politpragmatisch im 19. Jahrhundert verwerteten Moralismus - die Arbeiter werden ausgebeutet und sind gewaltsam zur Klasse konstituiert worden - muss die Spezifik der Ökonomiekritik als Formtheorie der Arbeit entgleiten. Zu deren Darstellungsform weiß Althusser nicht mehr zu berichten, als dass sie systematisch, streng und nicht-beliebig sei178. (II) Gerade dieser Aspekt wird nun in Althussers Vorwort zum Werk von G. Dumenil näher und anders beleuchtet. Hier fehlen glücklicherweise klassenreduktionistische Parolen, an deren Stelle nun einige - allerdings hochabstrakte - Hinweise auf eine ,nichthegelianische' Konzeption der Logik des Kapital gegeben werden. Bezüglich dessen Darstellungsmodus hebt Althusser zwei Kernthesen hervor. 1. Die Betonung seines konstruktiven Charakters. Die Darstellung vollziehe sich nicht als .immanentes Hinausgehen', als ,¿Selbstherstellung der Begriffe" 179 , sondern durch die „Setzung eines Begriffs und die anschließende Erforschung (Analyse) des durch diese Setzung zugleich erschlossenen und geschlossenen (begrenzten) Raumes" 180 . 2. Im Kapital finde sich daher - zumal unter dem Aspekt der Berücksichtigung der historisch-deskriptiven Kapitel - eine Vielfalt heterogener Darstellungsformen, die eine unterstellte Einheit des Denkens in Marx' Hauptwerk in Frage stelle181. Anknüpfend an seine früheren Überlegungen wendet sich Althusser vehement gegen den „hegelianischen Schwindel" im Spätwerk von Marx. Weder sei einsehbar, was den gegensätzlichen Charakter von Wert und Gebrauchswert in der Ware des Anfangs ausmache („Das bleibt ein Geheimnis" 182 ) noch sei die Ableitung von Geld und Kapital aus der Ware möglich. Die „sinnlich nicht wahrnehmbare", .innere Bewegung' oder Gesetzmäßigkeit im Gegensatz zur sichtbaren „äußern", von der Marx spricht183, wird nun so definiert, dass er dabei „nur diejenigen Bestimmungen eines Begriffes [...] in seine Betrachtung aufnimmt], die innerhalb des auf dem jeweiligen Stand der Darstellung konstituierten theoretischen Feld [sie!] seinen Platz finden können". Andere Bestimmungen existieren ,für uns', die theoreti-

175 176 177 178 179 180 181 182 183

Zitate der Reihenfolge nach: Althusser 1973a, S. 88, 101. Vgl. ebd., S. 88. Ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 83. Althusser 1983, S. 130. Ebd. Vgl. ebd., S. 13Of. Beide Zitate: Ebd., S. 136. Vgl. MEW 23, S. 335 (MEGA II/5, S. 255).

QUELLEN UND MOTIVE DER NEUEN MARX-LEKTÜRE

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sehen Betrachter, nicht. Der Ausschluss bestimmter weiterer Bestimmungen ist damit als Resultat einer rein theoretischen Operation, nicht als reifizierte Eigenschaft des Objekts, zu kennzeichnen. Zwar trifft diese These einige Momente der Darstellung als logischbegriffliches Vorgehen und ist als Kritik empiristischer Fehldeutungen der Darstellungsniveaus durchaus angebracht, doch lässt sich die ,Wesen'-,Erscheinungsform'-,Schein'Problematik der Ökonomiekritik keineswegs derart reduzieren, ohne ihren erkenntniskritischen Gehalt zu negieren. Ein Zusammenhang von .Innen' und ,Außen', .Unsichtbar' und .Sichtbar' ist dabei nicht mehr festzustellen und damit auch jede ideologiekritische Intention obsolet. Auf den verschiedenen Ebenen der Darstellung hat man es nach Althusser jedenfalls mit einer vom Theoretiker konstruierten ,,logische[n] Totalität"184 von Begriffen zu tun. Zwischen diesen Feldern ließen sich Brüche konstatieren, die den Gedanken einer kontinuierlichen oder strengen Ableitung ad absurdum führten. Z.B. sei es unmöglich, den Kapitalbegriff aus der Ware (!) abzuleiten, weil der Mehrwertbegriff eben nicht zirkulationstheoretisch erklärbar sei185. Dass die .Ableitung' gerade in dem Übergang vom Geld (nicht der Ware) in die Produktion besteht, scheint Althusser ebenso wenig präsent zu sein wie die Tatsache, dass Marx bereits bei der Betrachtung der Ware des Anfangs vorgreifend deren Produktionsprozess berücksichtigt186. Eine innere Verbindung zwischen den theoretischen Feldern lässt sich mit Althusser nicht mehr behaupten. Der Bruch in der Darstellung wird sozusagen zu ihrem einzigen kontinuierlichen Prinzip187. Der Darstellungsgang ist von jeder Gegenstandsbedingtheit entkoppelt, ist nicht mehr eine eigentümliche Logik', die der .Eigentümlichkeit des Gegenstands' folgt188. Ein neues Feld entsteht vielmehr „durch das Hinzutreten eines neuen Begriffes". Ein spezifischer Modus des Setzens, eine spezifische Organisationsform des Übergehens von einem Strukturniveau in ein anderes lässt sich nicht mehr entdecken - und doch sollen diese Niveaus eine nur „begrenzte Autonomie" besitzen. Was die Begrenzung ausmacht und also die Abhängigkeit der Kategorien herstellt, bleibt unklar. Neben .Diskontinuität' wird .Kontingenz' zum Schlüsselwort. Althussers Überlegungen erweisen sich damit als negatives Spiegelbild .keimzellendialektischer' Ansätze, die gewöhnlich mit den Kategorien .Immanenz' und .Notwendigkeit' assoziiert werden. Dieses negative Verhaftetsein zeigt sich beispielsweise in der Behauptung des rein „kontingenten Charakter[s]"189 des Anfangs der Kritik der politischen Ökonomie. Althusser bewegt sich vermittlungslos zwischen der - wie sich später zeigen wird, klar widerlegbaren - These von der absoluten Zufälligkeit des Werts (!) als Anfang der Darstellung und der - nicht belegbaren - Unterstellung, Marx habe einen absoluten Anfang der Wissenschaft gesucht190. Wenn er schließlich dafür plädiert, „mit einer gewissen Komplexität"191 zu beginnen, so zeigt sich, 184 185 186 187

188 189 190 191

Zitate der Reihenfolge nach: Althusser 1983, S. 139, 140. Vgl. ebd. Ähnlich wie Althusser argumentiert - ohne Verweis - Dieter Riedel (1997, S. 13ff.). Vgl. Wolf 2007, S. 76, 78f. F.O. Wolf spricht denn auch treffend von der „.unordentlichen' - Ordnung des .Kapitals'" (F.O. Wolf 1983a, S. 127). Vgl. MEW 1, S. 296 (MEGA 1/2, S. 101). Zitate der Reihenfolge nach: Althusser 1983, S. 141, 141, 145. Vgl. ebd., S. 145. Ebd., S. 146.

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dass er offensichtlich weder den Resultatcharakter der Ware (!) des Anfangs als kapitalistisch produzierter berücksichtigt 192 noch die notwendige theoretische Abstraktion von diesem Resultatcharakter, ohne welche die Erklärung der komplexen Formen preisbestimmte Ware, Geld und Kapital unmöglich wäre. Durch die Unverbindlichkeit seiner Thesen zur Darstellungsweise eröffnet Althusser bei allen berechtigen Hinweisen auf die Grenzen dialektischer Darstellung und deren konstruktiven Charakter, den Weg einer ,,fatale[n], durch Feststellung theoretischer Brüche' induzierte[n] Beliebigkeit in der Begriffsentwicklung" 193 . Mit anderen Worten: Man hat hier ein Konzept von Grenzen und Brüchen einer Darstellung vorliegen, die, jedenfalls als dialektische, jegliche Konturen verloren hat. Letztlich bleibt Althusser seinem beharrlichen Schweigen über die Frage dialektischer Darstellung treu. Warum auf diesen Beitrag Althussers in der einschlägigen Literatur bisher nicht eingegangen wurde, lässt sich vielleicht mit dem generellen Abflauen der Debatte in den achtziger Jahren erklären. Möglicherweise hielten auch viele Protagonisten der neuen MarxLektüre Althusser aufgrund seiner kontinuierlichen Aversion gegen Hegel bereits für indiskutabel 194 . Ein ignorierter Vorläufer - Exkurs zum Beitrag Jacques Rancières In der französischen Erstauflage von Das Kapital lesen (1965), dem Manifest des französischen strukturalen Marxismus, findet sich auch ein aus den späteren Auflagen getilgter Beitrag von Jacques Rancière. Dieser Text ist unter dem Gesichtspunkt der Ergründung von Quellen oder zumindest Vorreitern der neuen Marx-Lektüre in mehrfacher Hinsicht erstaunlich. Zum einen behandelt er weit ausführlicher als die zu Berühmtheit gelangten Aufsätze von Althusser und Balibar werttheoretische Grundprobleme, die das Gegenstands- und Methodenverständnis der Kritik der politischen Ökonomie betreffen. Zum anderen nimmt Rancière viele der Motive und Einsichten vorweg, die in der bundesrepublikanischen Debatte der 1970er Jahre anzutreffen sein werden - allen voran die Kritik an Engels' Theorie einfacher Warenproduktion und die These einer strukturellen Homologie von spekulativem und ökonomiekritischem Diskurs. Umso erstaunlicher muss es anmuten, dass sein Aufsatz bis 1972 nicht ins Deutsche übersetzt und auch danach in Deutschland kaum wahrgenommen, geschweige denn angemessen gewürdigt wurde 195 .

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Ein weiterer Aspekt der Widerlegung der These eines beanspruchten absoluten Anfangs, ist Marx' Beginn mit Waren, die Arbeitsprodukte darstellen. Lindner 2004, Fn. 3. Meines Wissens knüpft erst Gallas 2003 wieder an Althussers Thesen für eine Kapitallektüre an. So findet sich keine Erwähnung bei den Interpreten, die sich zugunsten der These einer zweiten Hegelrezeption von Marx aussprechen, die seinen früheren Kritikmodus der Negation der spekulativen Problematik zugunsten ihrer Dechiffrierung modifiziere. Weder Reichelt (1973) noch Schmidt erwähnen Rancière überhaupt. Fischer (1978, S. 82f.) geht auf ihn im Zuge der Fetischismusproblematik ein. Kittsteiner führt ihn nur in einer Fußnote zum Beleg der Anwesenheit der Feuerbachschen Umkehrungsmethode beim frühen Marx an (1977, S. 9 (Fn.)). Selbst Arenz/ Bischoff/ Jaeggi (1973), Kocyba (1979) und Kratz (1979), die sich um eine Berücksichtigung des strukturalen Ansatzes im Rahmen einer neuen Marx-Lektüre bemühen, würdigen den Beitrag Ran-

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Rancière bemüht sich um eine Rekonstruktion des wissenschaftlichen Gehalts der Kritik der politischen Ökonomie in der Perspektive der von Althusser erarbeiteten allgemeinen strukturalen Konzeption. Dabei charakterisiert er die Spezifik des Marxschen Gegenstandsund Methodenverständnisses im Zuge einer doppelten Abgrenzung - vom Diskurs der anthropologisch fundierten Ökonomie- und Idealismuskritik des frühen Marx, sowie von der Argumentationsstruktur der ökonomischen Klassik. Die politische Ökonomie reduziere ihr Erkenntnisobjekt zunächst „zu einer einzigen Ebene"196, die keine Unterscheidung von empirischen und nichtempirischen Theorieniveaus197 zulasse. Dies trotz ihres Anspruchs, die innere Einheit, den kausalen Zusammenhang, wie die menschliche Quelle der Mannigfaltigkeit von Reichtumsformen zu entdecken198. Marx zufolge vernachlässige die politische Ökonomie nicht nur die genetische Entwicklung der Formen zugunsten ihrer analytischen Reduktion, sie vollziehe bereits dabei eine unvollständige analytische Abstraktion von Werten, Preisen, Profiten usw. auf .Arbeit'. Diese Kategorie, so Rancière, sei eine „nicht entwickelbar[e]", da sie nicht bei der abstraktesten und damit einfachsten Form der kapitalistischen Produktionsweise angelange199 und Stoffliches mit Gesellschaftlichem vermische: „wenn die kritische [d.h. hier: einen Unterschied machende] Frage nach der Form nicht gestellt wird, [...] kann man das Problem des Verhältnisses zwischen der Kerngestalt und den konkreten Formen nicht mehr stellen"200. Dies führe zu einer äußerlichen Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine, einem gewaltsam anmutenden Zusammenhang zwischen einfachen und komplexen Reichtumsformen, ohne ihren inneren Konnex zu erklären, sowie zu einem unvermittelten Nebeneinanderstehen entwickelter und einfacher Formen bereits zu Beginn der wissenschaftlichen Darstellung201.

cières nicht. Backhaus (1997e, S. 158f.) geht auf ihn nur im Zusammenhang mit der Erörterung der These ein, Marx habe die Leser über den nichthistorizistischen Charakter seiner Methode nicht im Zweifel gelassen. Die weitgehenden inhaltlichen Vorwegnahmen und Übereinstimmungen zwischen Rancières Beitrag und einigen Tendenzen der bundesrepublikanischen Debatte bleiben unthematisiert. 196 197

Rancière 1972, S. 66. Zum nichtempiristischen Sinn der Unterscheidung empirischer („Beobachtungssprachen") von nichtempirischen („theoretische Sprachen") Theorieebenen vgl. Bohnen 1972 sowie Poser (2004, S. 73-103), der konstatiert, „daß der Begriff,beobachtbar' ebenso wie der Begriff .theoretisch' immer relativ zu einer bestimmten Theorie T¡ gesehen werden muß" (101), weil direkte, theoriefreie Beobachtung nie möglich ist und dennoch Beobachtbarkeit innerhalb einer Theoriehierarchie definiert werden kann (102). Solche wissenschaftstheoretischen Aspekte werden allerdings in der neuen Marx-Lektüre kaum angesprochen.

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Vgl. MEW 26.3, S. 490f. (MEGA II/3.4, S. 1498): „Die klassische Ökonomie versucht die verschiednen fixen und einander fremden Formen des Reichtums durch Analyse auf ihre innere Einheit zurückzuführen und ihnen die Gestalt, worin sie gleichgültig nebeneinander stehn, abzuschälen [sie] will den innren Zusammenhang im Unterschied von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen begreifen" (zitiert in Rancière 1972, S. 77).

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Vgl. Rancière 1972, S. 97f. Ebd., S. 98. Vgl. MEW 26.2, S. 100 (MEGA If/3.3, S. 759) (zitiert in Rancière 1972, S. 95): „Einerseits ist ihm [Ricardo] vorzuwerfen, daß er nicht weit genug, nicht vollständig genug in der Abstraktion ist, also z.B., wenn er den Wert der Ware auffaßt, gleich auch schon durch Rücksicht auf allerlei konkrete

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An die Stelle der unvollständigen Abstraktion ,Arbeit' und ihrer bloß subsumtionslogischen Inbezugsetzung zu Ware, Geld und Kapitalformen, trete bei der Kritik der politischen Ökonomie eine Formtheorie der Arbeit und eine Formentwicklung der gegenständlich existierenden Reichtumsgestalten. Statt eines undifferenzierten Arbeitsbegriffs werde von Marx die Differenz zwischen konkreter und abstrakter Arbeit aufgemacht, das spezifisch ökonomische Objekt Ware als sinnlich-übersinnliche, d.h. stofflich-gesellschaftliche Gegenständlichkeit ausgewiesen. Bereits die Formtheorie der Arbeit ist so von Rancière als Spezifik des Marxschen Ansatzes bestimmt202. Die Wertquelle abstrakte Arbeit werde von Marx dabei als Struktureffekt privat-arbeitsteiliger Produktionsverhältnisse betrachtet - Arbeit trage das „Zeichen einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur". Dagegen reproduziere Marx noch in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten den empiristisch-anthropologischen Diskurs der politischen Ökonomie, der Reichtum als ein empirisches Objekt definiere, welches als Produkt eines sinnlich-handgreiflichen Subjekts (des Arbeiters und seiner konkreten Arbeit) gedeutet werde. Dabei werde einfach „kein einziger neuer ökonomischer Begriff [...] erzeugt"203, sondern schlicht die gegebenen, wie ,wertbildende Arbeit', in anthropologische übersetzt. Ökonomische Eigenschaften seien für den reifen Marx dagegen „funktionelle[...] Bestimmungen"204 innerhalb eines sozialen Relationsgefüges. Inhärente Eigenschaften werden so zu Trägern relationaler: die Elemente des ökonomischen Systems seien „nicht definiert [...] durch ihre Natur, sondern durch die Stelle, die sie einnehmen, durch die Funktion, die sie erfüllen"205. Als Formentwicklung mache Marx' Theorie nun deutlich, wie durch eine spezifische gegenständliche Repräsentationsstruktur der nicht unmittelbar empirisch erfassbaren Produktionsverhältnisse (des gesellschaftlichen Zusammenhangs der Arbeiten, den Marx als „vermittelnde Bewegung", „wirkliche, aber sinnlich nicht wahrnehmbare Bewegung", „verborgnen Hintergrund"206 bezeichne) die ideologische Verkehrung relationaler zu inhärenten Eigenschaften bewirkt werde: „Der Wert hat seine Manifestationsform [...] nur insofern im Austauschverhältnis [z.B.: 20 Ellen Leinwand sind 1 Pfund Gold wert], als er sich darin nicht manifestiert". Diesen Wirkungszusammenhang bezeichnet Rancière als durch eine „Abwesenheit der Ursache" gekennzeichnete „metonymische Kausalität". „Diese Abwesenheit der Ursache [...] ist gebunden an das Verschwinden der Vermittlungen, [...] der inneren Bestimmungen des Prozesses". Was soll nun an dieser, von Althusser ,struktural' genannten,

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Verhältnisse sich bestimmen läßt, andererseits daß er die Erscheinungsform nur unmittelbar, direkt als Bewähr oder Darstellung der allgemeinen Gesetze auffaßt, keineswegs sie entwickelt". Vgl. Rancière 1972, S. 43, 49, 65, 94. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 49, 34. Ebd., S. 65. Man könnte dies mit .Reflexionsbestimmungen' oder relationalen Eigenschaften übersetzen. Vgl. zur Unterscheidung von relationalen und intrinsischen Eigenschaften Esfeld 2002, S. 20f.: „Eine intrinsische Eigenschaft zu haben oder nicht zu haben ist unabhängig von Begleitung oder Alleinsein. Mithin hängt eine relationale Eigenschaft zu haben oder nicht zu haben von Begleitung oder Alleinsein ab". Relationale Eigenschaften zeigen Esfeld zufolge ontologische Abhängigkeiten an. Zur Differenz zwischen kausaler und ontologischer Abhängigkeit, vgl. ebd., S. 22ff. Rancière 1972, S. 65. Zitate der Reihenfolge nach: MEW 23, S. 107 (MEGA II/5, S. 58), S. 335 (II/5, S. 255), S. 564 (II/5, S. 439).

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Kausalität metonymisch sein? Der ökonomische Sachverhalt, dass sich ein nur begrifflich rekonstruierbarer Praxiszusammenhang empirisch in .Erscheinungsformen' manifestiert, die seine eigentliche Bedeutung in ihr Gegenteil verkehren, kann nicht als metonymisch bezeichnet werden, wenn dieser Begriff in der geläufigen linguistischen Bedeutung genommen wird. Allein schon deshalb nicht, weil es hier um sprachliche Zeichenrelationen, dort um gegenständliche, außersprachliche Repräsentationsverhältnisse geht. Als Analogie oder Metapher genommen, könnte Rancières Begriff wie folgt verstanden werden: In der Linguistik bezeichnet Metonymie den Ersatz eines Ausdrucks durch eine sachlich verwandte Bezeichnung, z.B. des Werks Das Kapital von Marx in ,Das Kapital lesen' durch den Autor Marx in ,Marx lesen'. Dieser semantische Zusammenhang der durcheinander ersetzten Kategorien kann zeitlicher, kausaler oder räumlicher Art sein. Nun mag man mit einiger Phantasie behaupten können, im Wertausdruck werde der Wert der Ware A vom Gebrauchswert der Ware Β repräsentiert, womit sich die Naturalform von Β als Wertform von A ,an die Stelle' des Werts von A setzt. Der gegenständliche Repräsentationsmodus des Werts in einem Gebrauchswert wird in diesem Sinne von Rancière als „metonymische Manifestation der Struktur" kapitalistischer Produktionsverhältnisse begriffen, die aber als solcher Zusammenhang nur dem Wissenschaftler bekannt sei und vom Alltagsverstand verkannt werde. Damit aber soll die Zeichenstruktur des Wertverhältnisses der Waren einen hieroglyphischen Charakter annehmen, der „dechiffriert werden muß"207. Diesen von Marx selbst erwähnten dunklen Hieroglyphen-Charakter208 eines seinen Sinn verbergenden Zeichens stellt Rancière einem geläufigen Zeichen, welches seinen Sinn offenbare, entgegen. Hier endet allerdings auch die Reichweite der linguistischen Metaphorik Rancières. Denn die Verbindung zwischen Substituens und Substituendum in der rhetorischen Substitutionsfigur der Metonymie produziert keine Hieroglyphen (oder genauer: keine Chiffren). Das legt Rancière aber nahe, wenn er den Fetischismus als ,,radikalste[...] Wirkung"209 der metonymischen Kausalität bezeichnet. Das Substituens ist einem normal Sprachbegabten immer noch auf das Substituendum hin durchsichtig, sonst würde die Metonymie gar nicht funktionieren und - der Metapher Rancières folgend - der Sprecher denken, man könne wirklich (den Autor) ,Marx' (als Person) lesen. Mit den Bezeichnungen „metonymische Kausalität" und „Hieroglyphe" werden also eher schiefe Metaphern an die Stelle strenger Begriffe gesetzt. Ein geeigneterer kategorialer Rahmen zur Entzifferung der eigentümlich petrifizierten „Warensprache"210, die gesellschaftliche Bestimmungen von Dingen nur in Dingen ausdrücken

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Zitate der Reihenfolge nach: Rancière 1972, S. 47, 47, 48, 122, 50, 53. Vgl. MEW 23, S. 88 (MEGA II/6, S. 105): „Es steht daher dem Werte nicht auf der Stirn geschrieben, was er ist. Der Wert verwandelt vielmehr jedes Arbeitsprodukt in eine gesellschaftliche Hieroglyphe. Später suchen die Menschen den Sinn der Hieroglyphe zu entziffern, hinter das Geheimnis ihres eignen gesellschaftlichen Produkts zu kommen, denn die Bestimmung der Gebrauchsgegenstände als Werte ist ihr gesellschaftliches Produkt so gut wie die Sprache". Rancière 1972, S. 108. Vgl. MEW 23, S. 66f. (MEGA II/6, S. 85): „Man sieht, alles, was uns die Analyse des Warenwerts vorher sagte, sagt die Leinwand selbst, sobald sie in Umgang mit andrer Ware, dem Rock, tritt. Nur verrät sie ihre Gedanken in der ihr allein geläufigen Sprache, der Warensprache. Um zu sagen, daß die Arbeit in der abstrakten Eigenschaft menschlicher Arbeit ihren eignen Wert bildet, sagt sie, daß der Rock, soweit er ihr gleichgilt, also Wert ist, aus derselben Arbeit besteht wie die Leinwand. Um

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kann, und ihrer paradoxen Effekte als die an Hegel orientierte von Wesen, Erscheinungsform und Schein - deren sich der Autor ja auch weiterhin bedient - ist das nicht. Ob es der folgenden Debatte gelingen wird, den Relationstypus von Wesen, Erscheinung und Schein nichthegelianisch zu bestimmen, wird sich noch zeigen. Transformation begriffsloser Beziehungen in begriffliche ist nach Rancière jedenfalls die zentrale Intention einer wissenschaftlichen Kritik nationalökonomischer Kategorien. Nach Rancière werden die Erscheinungsformen des Werts von den Alltagsakteuren und Politökonomen zwar richtig perzipiert, aber, indem die nicht empirisch erfassbaren kausalen Zusammenhänge zwischen ihnen nicht berücksichtigt, d.h. nicht gedanklich reproduziert werden, falsch aufeinander bezogen. So gelte Marx die Zinsform G-G' als die „begriffslose Form"211, die irrationelle In-Bezug-Setzung von G-G-W(A/Pm)-P-W'-G'-G'. Der ,,irrationelle[...] Ausdruck"212 habe lediglich die Reichtumsform des Zinses „von den gesellschaftlichen Verhältnissen, auf denen sie basiert, abgeschnitten"213. Das Aufmachen der wissenschaftskonstitutiven Differenz von Wesen und Erscheinungsform214 erkläre erst die Verwechslung und Verkehrung sozialer Eigenschaften mit ihren stofflichen Trägem215. Dagegen sei diese noch in der Deutschen Ideologie lediglich „als einfache Funktion einer Subjektivität" unvermittelt einem eindimensionalen, empiristischen Wirklichkeitsbegriff gegenübergestellt worden und damit „unfundiert" geblieben. Einen entscheidenden Beitrag zu einem neuen Marx-Verständnis stellt Rancières Kritik der ,,historizistische[n] Lektüre" des Kapital dar. Auch hier wird er wesentlich konkreter als Althusser und Balibar: Die Ware des Anfangs der Darstellung im Kapital sei „die abstrakteste Form der kapitalistischen Produktionsweise", von der aus alle komplexeren Reichtumsformen begriffen werden könnten. Das Warenkapitel biete „keineswegs eine Analyse der allgemeinen Charakteristika aller Ware, sondern eine Analyse der Warenform als einfachster Form einer bestimmten Produktionsweise, der kapitalistischen"216. Als „herrschende Form der Aneignung"217 setze sie kapitalistische Klassenverhältnisse voraus. Die später eingeführten komplexeren Kategorien des Kapitalismus ließen sich demnach „nicht einfach den einfachen Bestimmungen der Ware und des Warenaustauschs hinzufugen", sondern müssten „darin in gewisser Weise schon enthalten sein"218. Der genaue Modus der Entwicklung bleibt aber im Dunkeln. Rancière bezieht sich zwar einerseits auf das Prinzip der Wider-

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zu sagen, daß ihre sublime Wertgegenständlichkeit von ihrem steifleinenen Körper verschieden ist, sagt sie, daß Wert aussieht wie ein Rock und daher sie selbst als Wertding dem Rock gleicht wie ein Ei dem andern". MEW 24, S. 51 (MEGA 11/12, S. 25), vgl. auch MEGA II/4.2, S. 272, 421f. (MEW 25, S. 208, 361): „Die blosse Form des Capitals, Geld das als Summe A ausgegeben wird und als Summe A + 1/x A zurückkehrt within a certain period, ohne irgend eine andre Vermittlung ausser der Zeitperiode die zwischen Ausgabe und Rückzahlung verläuft. Die begrifflose Form der wirklichen Bewegung". MEW 23, S. 561 (MEGA II/5, S. 436). Rancière 1972, S. 66. Vgl. auch ebd., S. 75, 106, 110. Vgl. MEW 23, S. 335, 564 (MEGA II/5, S. 255, 439); 25, S. 219 (II/4.2, S. 279f.). Vgl. Rancière 1972, S. 67. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 86, 68, 97, 68f. MEW 13, S. 44 (MEGA II/2, S. 136) (zitiert in Rancière 1972, S. 69). Rancière 1972, S. 68.

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spräche innerhalb einfacherer Kategorien, die in komplexeren Bewegungsformen fänden 219 , er distanziert sich aber ohne Angabe einer Alternativkonzeption wiederum von Hegelianischer Keimzellendialektik 220 . Für das Jahr 1965 geradezu verblüffend deutlich ausgeführt hingegen ist seine klare Ablehnung der Engelsschen Konzeption Marxscher Darstellung als logisch-historische und deren objekttheoretische Konsequenz der Theorie einfacher Warenproduktion. Das Verhältnis der Kategorien Wert und Preis, Mehrwert und Profit sei eines zwischen zwei unterschiedlichen Abstraktionsniveaus der Theorie, deren ersterem ein nichtempirischer und deren zweitem ein empirischer Referent entspreche. Marx weise mehrfach deutlich auf diesen Aspekt seiner Theorie hin, so, wenn er beispielsweise die Relation von Mehrwert und Profit wie folgt charakterisiere: „Mehrwert und Rate des Mehrwerts sind, relativ, das Unsichtbare und das zu erforschende Wesentliche, während Profitrate und daher die Form des Mehrwerts als Profit sich auf der Oberfläche der Erscheinungen zeigen" 221 . Dieses Verhältnis von Wesen und Erscheinungsform als ein Prozess der begrifflichen In-Bezug-Setzung gleichzeitig existierender Ebenen eines Sachverhalts werde nun aber von Engels und seinen historizistischen Adepten in „eine chronologische Sequenz" umgedeutet. „Der Interpretationsirrtum von Engels" - den Hans-Georg Backhaus erst neun Jahre später in dieser Deutlichkeit wieder so benennen wird - liege darin, „unterschiedliche Abstraktionsebenen [...] als [...] Ausdruck unterschiedlicher Stadien der historischen Entwicklung" 222 zu betrachten. So gelte fur Engels das Wertgesetz eigentlich nur in vorkapitalistischen Zeiten in ,reiner' Form, während es im Kapitalismus durch das Hinzutreten der Preiskategorie verfälscht oder modifiziert werde223. Für Marx repräsentiere der Profit aber „keine im Verhältnis zum Mehrwert gestörte Form", er sei vielmehr „dessen Erscheinungsform" 224 . Das Wertgesetz setze sich für Marx erst wirklich in der kapitalistischen Produktionsweise durch225 und zwar in Form der Preisbewegung, also seines Gegenteils. Rancière identifiziert damit zwei zusammenhängende Momente der historizistischen Methodendoktrin: Einmal ein empiristisches Verständnis von Abstraktionen als Widerspiegelungen historischer, unmittelbar empirisch konstatierbarer Fakten und Entwicklungen („Die Abstraktion wird hier nur gedacht als abgelöstes Moment einer linearen Geschichte"). Dies bedeute eine Situierung der Kategorien in einem „linearen Kontinuum" 226 zeitlicher Abfolgen (historische Übergänge zwischen Ware, Geld und Kapital) und den Verzicht auf eine Relationierung von Wert und Preis,

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Vgl. ebd., S. 59. Vgl. ebd., S. 69. MEW 25, S. 53 (MEGA II/15, S. 46) (zitiert in Rancière 1972, S. 91). Zitate der Reihenfolge nach: Rancière 1972, S. 90, 93. Vgl. Engels in MEW 25, S. 909 (MEGA II/14, S. 333): „Mit einem Wort: das Marasche Wertgesetz gilt allgemein, soweit überhaupt ökonomische Gesetze gelten, für die ganze Periode der einfachen Warenproduktion, also bis zur Zeit, wo diese durch den Eintritt der kapitalistischen Produktionsform eine Modifikation erfahrt". Rancière 1972, S. 91. Vgl. MEW 13, S. 46 (MEGA II/2, S. 137): „das Gesetz des Wertes zu seiner völligen Entwicklung die Gesellschaft der großen industriellen Produktion und der freien Konkurrenz, d.h. die moderne bürgerliche Gesellschaft voraussetze" (sinngemäß zitiert in Rancière 1972, S. 93). Zitate der Reihenfolge nach: Rancière 1972, S. 93, 130.

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Mehrwert und Profit etc. als Wesen und Erscheinungsform, was letztlich die anachronistische Rückprojektion des modernen Vergesellschaftungstypus , Wertgesetz' in vorkapitalistische Zeiten bewirke. Engels' These von der Geltung des ,Marxschen Wertgesetzes' für die ganze Periode der einfachen Warenproduktion reproduziere schlicht die Theorie Adam Smiths, die Marx bereits in Zur Kritik, also einem Engels bekannten Text, kritisiert habe227. Engels reifiziere Marx' Wertgesetz, er wolle „Marx von der Ricardoschen Sünde der Abstraktion lossprechen, indem [er] ihn die Smithsche Theorie übernehmen lasset...]"228. Bei Engels sei keine Spur der Erkenntnis zu finden, die Marx' Kritik noch an dem vermeintlich , abstrakten' Ricardo leite, dieser sei „nicht weit genug"229 gegangen mit seinen Abstraktionen von empirischen Verhältnissen. Allerdings bietet Rancière keine Darstellung der Konsequenzen des Historizismus für das Verhältnis von Wert und Geld. Obwohl er nun die rationale Erklärung irrationeller Ausdrücke mittels eines spezifischen Kausalitätstypus, der eine mehrdimensionale Auffassung des Erkenntnisobjekts verlange, als Kennzeichen des Marxschen Kapital bestimmt230, neigt er selbst dazu, bestimmte Kategorien zu konfundieren und dabei irrationale Gedankenformen mit realen ökonomischen Verhältnissen zu verwechseln. Solche Unklarheiten und mystische Elemente schleichen sich in eine Erkenntnis ein, die man von einem strukturalen Marxisten nicht unbedingt erwartet hätte und die in der Bundesrepublik vor allem von hegelorientierten Autoren, wie Alfred Schmidt, Helmut Reichelt, Heinz Dieter Kittsteiner oder Helmut König verfochten wurde: In seiner frühen Kritik an Hegel, so Rancière, negiere Marx noch dessen spekulativen Diskurs in Feuerbachscher Manier. Die spekulative Bewegung bei Hegel bestehe für Marx „darin, ein Prädikat von seinem Subjekt zu trennen, es zu hypostasieren, um daraus eine abstrakte Kategorie zu machen, die man dann in irgendeiner empirischen Existenz verkörpert". Der wirkliche Zusammenhang zwischen Prädikat und empirischem Subjekt könne also lediglich „auf eine mystische Weise [...] durch eine Verkörperung" hergestellt werden. In der ausgereiften Ökonomiekritik tauche nun aber das Motiv der Verkörperung eines Abstrakten wieder auf. Rancière konstatiert, „daß die Figur, die in der anthropologischen Kritik das Verfahren der Spekulation bezeichnete, hier den Prozeß bezeichnet, der im Feld der Wirklichkeit 227

Vgl. MEW 13, S. 44f. (MEGA II/2, S. 136): „Adam bestimmt allerdings den Wert der Ware durch die in ihr enthaltene Arbeitszeit, verlegt dann aber wieder die Wirklichkeit dieser Wertbestimmung in die präadamitischen Zeiten. In andern Worten, was ihm wahr erscheint auf dem Standpunkt der einfachen Ware, wird ihm unklar, sobald an ihre Stelle die höhern und kompliziertem Formen von Kapital, Lohnarbeit, Grundrente usw. treten. Dies drückt er so aus, daß der Wert der Waren durch die in ihnen enthaltene Arbeitszeit gemessen wurde in dem paradise lost des Bürgertums, wo die Menschen sich noch nicht als Kapitalisten, Lohnarbeiter, Grundeigentümer, Pächter, Wucherer usw., sondern nur als einfache Warenproduzenten und Warenaustauscher gegenübertraten" (zitiert in Rancière 1972, S. 92). Lucio Colletti spricht 1968, drei Jahre nach Rancière, bezüglich des Engelsschen Nachtrags zum dritten Band ebenfalls von dem ,,große[n] Irrtum der Engelsschen Entgegnung", der mit der Theorie einfacher Warenproduktion „die (seinerzeit schon von Marx kritisierte) Position Smiths wieder herstellt, d.h. das Wirken des Wertgesetzes an die vorkapitalistischen historischen Bedingungen bindet" (Colletti 1971, S. 46).

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Rancière 1972, S. 93. MEW 26.2, S. 100 (MEGA II/3.3, S. 759) (zitiert in Rancière 1972, S. 95). Vgl. Rancière 1972, S. 63, 66, 106, 110.

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selbst abläuft" 231 . Denn in der Wertform werde ein empirisches Ding (die Naturalform der Ware B) Erscheinungsform einer übersinnlichen Abstraktion, des Werts (der Ware A). Rancière weist in diesem Kontext bereits auf eine Passage im Anhang der Erstauflage des Kapital hin, in der Marx eine „Verkehrung, wodurch das Sinnlich-Konkrete nur als Erscheinungsform des Abstrakt-Allgemeinen, nicht das Abstrakt-Allgemeine umgekehrt als Eigenschaft des Konkreten gilt"232 konstatiert. Dieser wertvolle Hinweis wird aber selbst mystifiziert, wenn Rancière das , Übersinnliche', das gesellschaftliche Verhältnis Wert, als ,,übernatürlich[...]", „die Wirklichkeit [als] von sich aus spekulativ" 233 bezeichnet und insistiert, Marx' Rede von den ,,theologische[n] Mucken" 234 der Ware sei „wörtlich zu nehmen. Er besagt also, daß die Ware theologisch ist in dem Sinne, den dieser Begriff in der Anthropologie Feuerbachs und des jungen Marx hat" 235 . Das Zitat, in dem Marx vom Konkreten als der „Verwirklichungsform des AbstraktAllgemeinen" spricht, der Erscheinungsform des Werts (eines Allgemeinen, einer relationalen Eigenschaft) im Gebrauchswert (einem Konkreten, einer intrinsischen Eigenschaft), bezieht sich auf „den Werthausdruck". Da im Wertausdruck 20 Ellen Leinwand 1 Rock wert sind, wird die Schneiderarbeit zur Erscheinungsform abstrakt-menschlicher Arbeit schlechthin. Es wird zugleich auf die mögliche Verkennung dieses Verhältnisses verwiesen („mystisch"), die durch das eigentümliche und als solches nicht empirisch zu erfassende Repräsentationsverhältnis bedingt wird. Dass Marx hier nicht selber beansprucht eine ,reale Mystik' entdeckt zu haben, sondern er lediglich Gesellschaftliches (Allgemeines) in nichtnominalistischer Weise theoretisiert, ist der Clou der Aussage. In der Tat ist ja der Topos einer Herrschaft von Abstraktionen 236 eine wesentliche Einsicht, die vor allem in den 1970er Jahren mit Marx' ,zweiter Hegel-Rezeption' in Verbindung gebracht werden wird. Es soll hiermit die Verselbständigung eines mittels realer Abstraktionen im Tauschakt bewerkstel-

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Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 40, 39, 52. MEGA II/5, S. 634. Der Passus lautet: „Innerhalb des Werthverhältnisses und des darin einbegriffenen Werthausdrucks gilt das abstrakt Allgemeine nicht als Eigenschaft des Konkreten, SinnlichWirklichen, sondern umgekehrt das Sinnlich-Konkrete als bloße Erscheinungs- oder bestimmte Verwirklichungsform des Abstrakt-Allgemeinen [...] Diese Verkehrung, wodurch das SinnlichKonkrete nur als Erscheinungsform des Abstrakt-Allgemeinen, nicht das Abstrakt-Allgemeine umgekehrt als Eigenschaft des Konkreten gilt, charakterisirt den Werthausdruck. Sie macht zugleich sein Verständniß schwierig. Sage ich: Römisches Recht und deutsches Recht sind beide Rechte, so ist das selbstverständlich. Sage ich dagegen: Das Recht, dieses Abstraktum, verwirklicht sich im römischen Recht und im deutschen Recht, diesen konkreten Rechten, so wird der Zusammenhang mystisch" (ab „Diese Verkehrung" zitiert in Rancière 1972, S. 53). Zitate der Reihenfolge nach: Rancière 1972, S. 51, 53. MEW 23, S. 85 (MEGA II/6, S. 102). Rancière 1972, S. 51. Vgl. MEW 42, S. 97 (MEGA II/l.l, S. 96): „Diese sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse im Gegensatz zu den persönlichen erscheinen auch so (das sachliche Abhängigkeitsverhältnis ist nichts als die den scheinbar unabhängigen Individuen selbständig gegenübertretenden gesellschaftlichen Beziehungen, d.h. ihre ihnen selbst gegenüber verselbständigten wechselseitigen Produktionsbeziehungen), daß die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind".

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ligten sozialen Zusammenhangs gegenüber den Intentionen von Individuen und den Plänen von Kollektiven verdeutlicht werden. Es gibt also Marx zufolge wirksame Abstraktionen, die von Menschen unwillkürlich im gesellschaftlichen Verhältnis ihrer Arbeitsprodukte hervorgebracht werden (daher sind sie auch nicht im wörtlichen Sinne .übernatürlich'237). Im hier fraglichen Kontext distanziert sich Marx aber zugleich von allen mystischen Auslegungen der mit dem Wert als Realabstraktion und seiner Erscheinungsformen einhergehenden Sachverhalte. So ist der Verwirklichungs-BegrifF nicht wörtlich zu nehmen. Es verwirklicht' sich der Wert nicht im Gebrauchswert der zweiten Ware in dem Sinne, dass er ihn schaffen würde, das Abstrakte aus sich heraus durch Selbstunterscheidung ein Besonderes hervorbrächte. Auch die ,abwesende Ursache', der durch kapitalistische Produktionsverhältnisse bedingte Gegensatz von konkreter und abstrakter Arbeit238, der sich als „Identität von abstrakter und konkreter Arbeit"239 erweise, gibt Anlass zu Missverständnissen. Das Verhältnis von Gegensatz und Einheit bleibt ungeklärt, die Deutung einer logisch widersinnigen Einheit von gesellschaftlicher und privater Arbeit, die ja gerade das Irrationelle des Warenfetischs ausmacht, zumindest nicht ausgeschlossen. Die Differenz von Form Wert und Wertform wird ebenfalls nicht klar herausgearbeitet240. Solche Probleme werden sich allerdings - z.T. noch potenziert - auch in der bundesrepublikanischen Debatte wiederfinden.

1.1.4 Die Frankfurter Traditionslinie Die für die Genese der neuen Marx-Lektüre wohl bedeutendste Quelle ist in der kritischen Theorie Frankfurter Provenienz auszumachen, die von den Texten und Seminaren Max Horkheimers und Theodor W. Adornos über die Arbeiten Alfred Schmidts bis hin zu den Beiträgen von Helmut Reichelt und Hans-Georg Backhaus reicht. Diese Traditionslinie wird in klassischen Gesamtdarstellungen der Frankfurter Schule, wie der von Rolf Wiggershaus241 und selbst in neueren Arbeiten zu deren Entwicklung in der Bundesrepublik, wie der von Alex Demirovic242, mit keinem Wort erwähnt. Auf der anderen Seite findet sich allerdings zuweilen sowohl bei Backhaus/ Reichelt selbst243 und ihren Schülern244 als auch bei

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Hier hätte die Berücksichtigung der semantischen Schichten des Naturbegriffes, wie sie David Hume vorgenommen hat, Rancière vor Missverständnissen bewahren können. Hume unterscheidet die Oppositionen natürlich-übernatürlich (supranatural), natürlich-unnatürlich (außergewöhnlich) und natürlich-konventionell (kulturell) (vgl. Hume 1978, S. 216). Wenn Marx vom übersinnlichen Charakter des Werts spricht, so meint er damit ein nicht unmittelbar wahrnehmbares natürliches (d.h. innerweltliches) Phänomen i.S. der ersten Opposition, und ein nichtnatürliches (d.h. gesellschaftliches) Phänomen i.S. der dritten Opposition.

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Vgl. Rancière 1972, S. 59. Ebd., S. 48, vgl. auch S. 47, 57. Vgl. ebd., S. 46, 54, 55. Vgl. Wiggershaus 1991. Vgl. Demirovic 1999. Vgl. Backhaus 1997a und Reichelt 2002, S. 142f., Reichelt 2008, S. 11. Vgl. Kirchhoffet al 2004.

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deren Kritikern die Tendenz, die ,neue Marx-Lektüre' mit den Beiträgen der späten Frankfurter Schule gleichzusetzen. Hier scheint sich, freilich in bescheidenerem Umfang, ein komplementäres Verhältnis positiver wie negativer Zuschreibungen zu wiederholen, wie es bezüglich des Terminus ,Marxismus' in Zeiten des kalten Krieges aufzufinden war: Man reduziert das Label auf eine ganz bestimmte Interpretation, um diese dann wahlweise zu affirmieren oder zu kritisieren. Dass dies hinsichtlich der Quellen der neuen Lesart nicht statthaft ist, sollte mit den bisherigen Bemerkungen einigermaßen plausibel geworden sein. Dass es auch hinsichtlich der Ausgestaltung des Paradigmas eine unzulässige Verkürzung darstellt, wird sich in den folgenden Kapiteln zeigen. Auf der Seite der Kritiker, die sich allesamt eine Verabschiedung des ,Hegelmarxismus' auf die Fahnen geschrieben haben, kann der Beitrag von Christoph Henning als exemplarisch gelten: So meint er, Michael Heinrich berufe sich zu Unrecht auf die neue Marx-Lektüre, weil diese Marx' ökonomische Theorie außer acht gelassen habe245. Nach Henning ist das Kennzeichen neuer Marx-Lektüre offenbar ihre philosophische' und dazu noch hegelianische Orientierung, die er vornehmlich an Backhaus bekämpft246. Doch weder der Hegelianismus noch eine - was immer das heißen mag - philosophische Lesart ist das Neue an der neuen Marx-Lektüre (das alles findet sich bereits bei Lukács), sondern - auch im Verständnis ihrer Frankfurter Vertreter - ihr logisch-systematisches Methoden-, und konsequent formanalytisches Gegenstandskonzept, was schließlich in der Kritik prämonetärer Werttheorie resultiert247. Der Sache nach taucht die Identifizierung von neuer Marx-Lektüre und Frankfurter Tradition, allerdings hier noch - wie bei Ruben - unter dem Label ,Kapitallogik' firmierend, auch bei Wolfgang Fritz Haug248 oder Otto Kallscheuer auf. Dieser spricht sogar pauschal vom ,,lange[n] Schatten der Frankfurter Schule", der auf den Neomarxismus der Bundesrepublik in den 1970er Jahren gefallen sei und meint, Adornos Beitrag zum Positivismusstreit habe „die folgenden Generationen westdeutscher Marxisten buchstäblich methodologisch verdorben"249. Es wird noch zu zeigen sein, dass mit Empiriefeindlichkeit, Verweigerung methodologischer Reflexionen, identitätsphilosophischem Totalitätsmodell und Kontamination deskriptiver mit normativen Aussagen, die Kallscheuer als schlechtes Adomitisches Erbe anführt250, welches von der Rekonstruktionsdebatte kritiklos angetreten worden sei, die Positionen dieser Debatte keineswegs zutreffend und hinreichend differenziert wiedergegeben werden. Dennoch ist in aller Deutlichkeit die Bedeutung des dissidenten Frankfurter Marxismus hervorzuheben. Dabei wird zu zeigen sein, wie Kernbestände eines klassischen westlichen Marxismus, der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos, in das neue Paradigma hinüberführen bzw. darin eingebaut werden. Eine wichtige Scharnier- und Vermittlerrolle nehmen hier die Überlegungen Alfred Schmidts ein, während Reichelt und insbesondere Backhaus bereits eine Ausarbeitung zentraler Motive der neuen Lesart vornehmen. Die Frankfurter Schule der neuen Marx-Lektüre beginnt, darin ist Peter Ruben zuzustimmen, „als Selbst245 246 247

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Vgl. Henning 2004. Vgl. Henning 2005, S. 170ff„ 332, 341. Auch diese versteht Henning allerdings falsch, wenn er sie als Erklärung von Reichtumsformen ausgehend vom Geld als logisch Erstem definiert (vgl. ebd., S. 171). Vgl. Haug 1984, S. 60ff. Zitate der Reihenfolge nach: Kallscheuer 1986, S. 226, 234. Vgl. ebd., S. 234, 239.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

aufhebung der kulturkritischen Orientierung"251 der klassischen Kritischen Theorie und in Gestalt der Hinwendung zu Methoden- und Gegenstandsproblemen der bereits von Horkheimer in seinem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie von 1937 als Musterbeispiel kritischer Gesellschaftsanalyse benannten252 Kritik der politischen Ökonomie. Dass die Vertreter der klassischen Frankfurter Schule, wie der gesamte westliche Marxismus, über eine verschwiegene Orthodoxie in Sachen Ökonomiekritik kaum hinauskamen, wurde bereits in der Einleitung bemerkt. (I) Alfred Schmidts Überlegungen kreisen seit den frühen 60er Jahren um ein klassisches Thema des westlichen Marxismus: die Ausarbeitung des Marxschen Materialismus als M a terialismus der zweiten Natur' 253 . Die Marxsche Theorie konstatiert demnach nicht einen Automatismus der Befreiung, sondern ihre kritische Intention zielt im Gegenteil auf die Befreiung vom Automatismus einer irrationalen Vergesellschaftungsweise. Die von Marxisten wie Anti-Marxisten als Beweis wahlweise höchster Wissenschaftlichkeit oder gerade unwissenschaftlicher Prophetie angeführte Behauptung Marx', er fasse die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise als „naturgeschichtlichen Prozess"254, muss demnach als kritische Aussage verstanden werden. ,Natur', bzw. ,Naturwüchsigkeit' sind negativ bestimmte Kategorien255, „ein einziges kritisches Urteil über die seitherige Geschichte, in der die Menschen sich zu Objekten ihrer blind ablaufenden ökonomischen Dynamik haben herabwürdigen lassen"256. Hegel wird dabei als Ontologe der Subjekt-Objekt-Verkehrung begriffen257, von dem historisch-materialistisch gewendet - der Gedanke der Herrschaft eines ,,begriffliche[n] Elements]" 258 über die Subjekte entlehnt werden kann. Das ,Begriffliche' stellt so eine spezifische Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs dar, „eine von der empirischen Welt selber vollzogene Abstraktion"259 - den Wert als Realabstraktion. Diesen .Begriffsrealismus' der Marxschen Kritik fasst Schmidt allerdings als einen ironisch gebrochenen auf260, 251 252 253 254 255 256 257

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Ruben 1977, S. 44. Vgl. Horkheimer 1988, S. 217. Vgl. Schmidt 1972, S. 29. Vgl. Horkheimer 1988, S. 203ff. MEW 23, S. 16 (MEGA II/5, S. 14). Vgl. Schmidt 1993b, S. 201. Schmidt 1993a, S. 35 Vgl. Schmidt 1972, S. 27. Dieser Hinweis auf Marx' ,zweite' Hegel-Rezeption - die dechiffrierende, nicht-nominalistische Hegel-Kritik - wird in der sog. ,hegelmarxistischen' Linie der neuen Marx-Lektüre eine wichtige Rolle spielen. Vgl. Krahl 1985a, S. 3Iff., Reichelt 1973, S. 75f., Tuschling 1978, S. 330, 335, Kittsteiner 1980, S. 65ff., König 1981, S. 122ff. Ohne jeden Hinweis auf diese Tradition: Postone 2003, S. 126ff. Ganz in diesem Sinne spricht auch Klaus Lichtblau später von der Bewahrheitung der Hegeischen Philosophie im Kapitalismus als einem System, in dem „die Verkehrung von Abstraktionen zu Subjekten der gesellschaftlichen Entwicklung" (Lichtblau 1978, S. 210) stattfinde. Erst die Revolution sei die „wahre Umkehrung des objektiven Idealismus in die Selbstbestimmung der assoziierten Individuen" (ebd., S. 211). Schmidt 1972, S. 26. Vgl. Adorno 1998a, S. 209. Schmidt 1972, S. 26. Diese These vom ,ironischen Charakter' der Marxschen Kategorien findet sich bereits in den internen Debatten des Instituts für Sozialforschung aus den 30er Jahren. Vgl. Horkheimer 1985, S. 402.

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einen .Begriff, der den Menschen in Gestalt ihrer in der kapitalistischen Produktionsweise „verselbständigten Verhältnisse" 261 aufgenötigt wird. Dies ist auch der Einsatzpunkt der Kritik Schmidts an Althussers .theoretischem Antihumanismus' 262 : Dieser beschreibe zwar zu Recht die Nicht-Zurückfuhrbarkeit kapitalistischer Produktionsverhältnisse auf das bewusste Handeln von Menschen resp. Individuen - es finden sich hier durchaus Parallelen zwischen Marx, Althusser und Adorno 263 . Zugleich erhebe er aber die Verselbständigung der Verhältnisse gegenüber den Individuen, die nur als deren ,Träger' in Betracht kämen, zur wissenschaftlichen Norm einer universalen Theorie der Produktionsweisen und ontologisiere sie damit 264 . In der Tat bieten vor allem Althussers transhistorischer Ideologiebegrifl" sowie sein Praxismodell Anhaltspunkte für eine solche Ontologisierung 265 . Dass sich der gesellschaftliche Zusammenhang ausgehend von den Subjekten und ihren Handlungen nicht erklären lässt, also ein methodisches Strukturprimat besteht, ist vom negativverselbständigten Charakter der Produktionsverhältnisse nicht vollständig abzulösen 266 . Dennoch tendiert Schmidt, ganz in der Tradition der Kritischen Theorie, dazu, den Emergenz-Charakter des Sozialen gänzlich mit Entfremdung zu identifizieren, sodass ein methodologischer Individualismus in emanzipatorischer Perspektive entsteht, der davon ausgeht, dass der Sozialnominalismus die korrekte Beschreibungsweise für kommunistische Gesellschaften sei: „Sobald die Menschen aufhören, sich [...] die dinghafte Herrschaft des Allgemeinen [...] gefallen zu lassen, gilt der ,Nominalismus' wieder, das heißt, es wird ein Zustand erreicht, in welchem die merkwürdigen Entitäten verschwinden, denen die Menschen ausgeliefert sind [...] Das Ganze geht planvoll aus bewußten und vernünftigen Akten der Individuen hervor" 267 . Marx habe „deutlich gesagt, daß er unter Kommunismus einen Zustand versteht, in dem es keine Verhältnisse und Mächte gibt, die von den Menschen unabhängig existieren" 268 . Dadurch verliert, Schmidt zufolge, auch der Bereich des Geistig-

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Schmidt 1972, S. 52. Vgl. Althusser 1968, S. 179. Marx: „meine analytische Methode, die nicht von dem Menschen, sondern der ökonomisch gegebnen Gesellschaftsperiode ausgeht" (MEW 19, S. 371); Althusser: „An den Menschen etwas erkennen kann man nur unter der [...] Bedingung, daß der philosophische [...] Mythos vom Menschen zu Asche reduziert wird" (Althusser 1968, S. 179); Adorno: „Der Mensch ist die Ideologie der Entmenschlichung" (Adorno 1998b, S. 452). Vgl. Schmidt 1977, S. 77, 103, 133. Zu letzterem vgl. kritisch Rheinberger 1975, S. 928f.: Althussers Definition von Praxis als „Veränderungsarbeit", die „in einer spezifischen Struktur Menschen, Mittel und eine technische Gebrauchsmethode der Mittel verwendet" (Althusser 1968, S. 104) abstrahiere von deren teleologischem Moment und verwandle Praxis in ein subjektloses Subjekt. Er führe damit als universelle Struktur von Praxis eine von Marx als historisch-spezifische ausgewiesene Form der Produktion ein, in der der Arbeiter dem in Produktionsmitteln vorgeschossenen Wert zur Verwertung dient, die Produktionsmittel dabei als reell subsumiertes Maschinensystem den Arbeiter anwenden, statt umgekehrt (vgl. MEW 23, S. 329) (MEGA II/5, S. 248). Das muss auch Heinrichs Kritik an Schmidt zugestehen (vgl. Heinrich 1999, S. 154). Schmidt 1972, S. 52. Ebd., S. 57. Schmidt rekurriert damit durchaus zu Recht auf einen Marx-Engelsschen Satz in der Deutschen Ideologie, den er aber halbiert: „Das Bestehende, was der Kommunismus schafft, ist eben die wirkliche Basis zur Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden,

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Kulturellen seinen „Überbaucharakter" 269 . Erst Jürgen Ritsert - selbst in der Tradition Adornos stehend - wird diesen Ansatz revidieren, indem er zwischen Emergenz und Entfremdung klar zu unterscheiden versucht 270 . (II) Während die Historisierung des historischen Materialismus noch als bloße Reformulierung zentraler Motive der klassischen Kritischen Theorie gelten kann, formuliert Schmidt in seinem Kolloquiumsreferat einen für die entstehende Rekonstruktionsdebatte wegweisenden Katalog programmatischer Forderungen, die die verschwiegene Orthodoxie der Kritischen Theorie in Sachen Ökonomiekritik 271 durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Marxschen Spätwerk seit den Grundrissen ersetzen sollen. Er hebt dabei drei Aspekte einer zeitgemäßen „Methode der Marx-Interpretation" 272 hervor: Erstens müsse von Differenzen zwischen den expliziten metatheoretischen Reflexionen von Marx und seinem realen Vorgehen in den materialen Analysen des Kapital ausgegangen werden. Es ist zwar unklar, ob Schmidt diesen Gedanken direkt von Althusser aufnimmt; klar ist hingegen, dass er damit - entgegen Althussers Pointe einer antihegelianischen Lesart - gerade die Bedeutung der Logik Hegels für die theoretische Struktur der Ökonomiekritik unterstreicht. Marx selber habe diese sogar zu Unrecht heruntergespielt, indem er von einem bloßen .Kokettieren' mit Hegels Ausdrucksweise gesprochen habe 273 . Zweitens müsse eine zukünftige Marx-Exegese zweischrittig, nämlich philologisch-rekonstruierend und deutend-applizierend, verfahren. Bereits der erste Schritt könne dazu beitragen, einige Unklarheiten der bisherigen MarxDiskussion „rein philologisch [zu] klären" 274 , während der zweite, als Inbezugsetzung der gründlich bearbeiteten Texte zu Problemen der Gegenwart, die Aktualität Marxscher Theoriein) prüfe. Drittens schließlich sei Marx' ökonomiekritisches Spätwerk als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis des Frühwerks heranzuziehen, nicht mehr dieses als philosophisch-humanistisches' jenem als ,fachökonomisches' oder gar ,ökonomistisches' abstrakt gegenüberzustellen. Dieses Plädoyer für eine ,rückwärtsgehende' Erschließung der Kontinuität des Marxschen Denkens wird insbesondere Helmut Reichelt in die Tat umsetzen. (III) Schmidt weist bereits in seinem Kolloquiumsreferat von 1967 deutlich auf den logisch-systematischen Charakter der Marxschen Darstellungsweise hin275. In seinem 1971 erschienenen Werk Geschichte und Struktur baut er diesen Gedankengang vor allem anhand Marx' metatheoretischer Reflexionen in den Grundrissen aus. Demzufolge wird eine „immanente Darstellung des Systems" 276 der kapitalistischen Produktionsweise durch dessen

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sofern dies Bestehende dennoch nichts als ein Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist" (MEW 3, S. 70f.) (MEJb 2003, S. 79). Schmidt 1993a, S. 143. Vgl. Ritsert 1996, S. 132, 273 sowie Ritsert 1997, S. 119, 209. Ellmers fuhrt zu diesem Zweck den Begriff der „Surplus-Emergenz" ein (vgl. Ellmers 2007, S. 35). Vgl. neben Habermas (1993, S. 235) auch Fetschers (1973, S. 10), Backhaus' (1997c, S. 76) und Reichelts (1973, S. 17) Kritik der unzulänglichen Marx-Rezeption der Kritischen Theorie. Schmidt 1972, S. 32. Vgl. MEW 23, S. 27 (MEGA II/6, S. 709). Schmidt 1972, S. 33. Vgl. ebd., S. 37. Schmidt 1977, S. 39.

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selbstreproduktiven Charakter ermöglicht. Einmal aus historisch-spezifischen Bedingungen entstanden, „bildet [...] der bürgerliche Zustand ein System, das rein aus sich erklärbar ist"277. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse reproduzieren nun ihre ursprünglich vorgefundenen, nicht-selbstgesetzten Bedingungen als ihre eigenen Resultate, weshalb es nach Marx ,glicht nötig [ist], um die Gesetze der bürgerlichen Ökonomie zu entwickeln, die wirkliche Geschichte der Produktionsverhältnisse zu schreiben"278. Umgekehrt, so Schmidt, sei das Begreifen des Wesens des Kapitals Voraussetzung zur Identifizierung der „historischen Voraussetzungen seines Entstehens", da Marx ohne solche durchgeführte Strukturanalyse „nicht einmal gewußt [hätte], wo und wie sie zu suchen sind"279. Der Systemcharakter des Gegenstands, der ,Jcon temporären Geschichte"280 als Reproduktionsprozess des Kapitals, erfordere und erlaube also eine dialektische Darstellung „im streng deduktiven Sinn"281. Das Kapital als komplexe Kategorie sei nämlich nur deshalb .immanent' oder ,deduktiv' aus einfachen Kategorien, wie Ware, Geld und einfacher Zirkulation, durch ,logisches' Übergehen dieser in jene zu entwickeln, weil alle diese Momente einander wechselseitig setzen und 282

voraussetzen . Im Gegensatz zur „im weitesten Sinn empirischen"283 Forschung, habe nun die Darstellung konstruktiven Charakter deshalb, weil ihre begriffliche Ordnung von der Reihenfolge des Auftretens der ökonomischen Formen unabhängig sei284, es „untubar und falsch"285 sei, sie mit dieser zu parallelisieren. Als Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten (in Gestalt des begriffenen Zusammenhangs der empirischen Phänomene) sei sie „dem Hegeischen Systemgedanken verpflichtet"286. Der Fortgang der Darstellung sei, wie bei Hegel, zugleich Rückgang in den Grund287 des Anfangs. Das scheinbar Unmittelbare des Anfangs - das ,Sein' dort, die .einfache Ware' hier - erweise sich damit als Vermitteltes, durch Bezug auf ein anderes Gesetztes. Bei Marx „ist das Fortschreiten von den äußeren, oberflächlichen ,Erscheinungen' der ökonomischen Wirklichkeit zu deren ,Wesen' (inneren Gesetzen) [...] ein Rekurrieren auf den ,Grund' der .Existenz' dieser Erscheinungen'. Auch Marx ist davon überzeugt, daß ,das rückwärts gehende Begründen des Anfangs [...] und das vorwärtsgehende Weiterbestimmen desselben' (Hegel) sich uno actu vollzieht". Der Anfang der Darstellung sei daher kein empirisch Konkretes und historisch Erstes, sondern „das im Hegelschen Sinn .Abstrakte'" als Unterbestimmtes, begrifflich zu konkretisierendes Moment des Gesamtzusammenhangs.

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Ebd. MEW 42, S. 373 (MEGA II/1.2, S. 369) (zitiert in Schmidt 1977, S. 41). Schmidt 1977, S. 42 (vgl. auch S. 65). Ebd., S. 56; vgl. MEW 42, S. 372 (MEGA II/1.2, S. 368). Schmidt 1977, S. 56. Vgl. ebd., S. 66. Ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 43, 47. MEW 42, S. 41 (MEGA II/l.l, S. 42). Schmidt 1977, S. 47. Vgl. Hegel 2007, S. 248 (§121): Der Grund bezeichnet den Sachverhalt, dass etwas „sein Sein in einem Anderen hat".

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Der Primat des Logischen vor dem Historischen sei allerdings „nur kognitiv zu verstehen", keinesfalls ontologisch, „als seien die Kategorien der Existentialgrund der durch sie vermittelten Wirklichkeit"288. Im Gegensatz zu Hegel, der die gedankliche Reproduktion des Konkreten mit dessen realer Hervorbringung durch das als ,Idee' hypostasierte Denken verwechsle, bestehe Marx auf der „Nicht-Identität von Erkenntnis und realer Genesis des Erkannten"289. Weder könne das Realobjekt der Ökonomiekritik derart als Resultat begrifflicher Bewegung verstanden werden noch drückten die es erfassenden Kategorien „zeitlose[...] Wesenheiten"290, ein ewig in sich subsistierendes absolutes System aus. Der Inhalt der strukturanalytischen Kategorien ist demnach ein historischer. Die Grenzen der Selbstbezüglichkeit des Gegenstands, die Verwiesenheit auf, aus seiner Prozessualität nicht ursprünglich hervorgehende, Voraussetzungen, markieren zugleich die Grenzen dialektischer Darstellung, die „Einbruchstellen lebendiger Geschichte ins naturhaft erstarrte System"291. Die gegebene Dynamik der Reproduktion erweise sich für Marx zudem, weil widersprüchlich' strukturiert, „als sich selbst aufliebende und daher als historische Voraussetzungen für einen neuen Gesellschaftszustand setzende"292. (IV) Schmidt arbeitet in Geschichte und Struktur zentrale Aspekte des logisch-systematischen Charakters der Darstellung heraus. Auch wenn er dies - auf der metatheoretischen Ebene verbleibend - in Anlehnung an Hegeische Argumentationsfiguren tut, konzediert er die Kritik am vorherrschenden historizistischen Methodenkanon293 als „das unbestreitbare Verdienst der Althusser-Schule"294. Umso verblüffender, dass sich Schmidt nur an einer Stelle seines Buches zu einer (gemäßigten) Kritik an Engels durchringen kann295. Hier wirken zwei Tendenzen zusammen. Einerseits das offensichtliche Bemühen, Engels im Stile einer simulierten Orthodoxie in die dissidente Strömung einer ,logischen' Kapitalinterpretation mit kognitivem Strukturprimat einzugemeinden. Erkennbar wird das, wenn im Zusammenhang mit der logischen Methode von ,,ihre[n] Begriinder[n]" die Rede ist oder Engels' Widerspiegelungsmodell von Theorie und Geschichte mit Verweis auf den historischen Gehalt der Kategorien als „im abstrakten Sinn richtig"296 eingeschätzt wird297. Engels historisiert aber damit die Form der Darstellung - und das ist die hier verschwiegene, entscheidende Differenz zu Marx. Seine Aussage unterstellt eine Parallelität zwischen geschichtlicher und darstellungsmäßiger Abfolge der Formen, die von einer adäquaten Historisierung

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Zitate der Reihenfolge nach: Schmidt 1977, S. 64, 61, 47. Ebd., S. 51; vgl. MEW 42, S. 35 (MEGA II/l.l, S. 36). Schmidt 1977, S. 45. Ebd., S. 66. Noch wenige Jahre zuvor (1965) galt Schmidt die Benennung der Grenzen der Dialektik im Urtext noch als ,,dunkle[...] Stelle" (Schmidt 1993b, S. 192). MEW 42, S. 373 (MEGA II/1.2, S. 369) (zitiert in Schmidt 1977, S. 74). Vgl. Schmidt 1977, S. 50, 106. Ebd., S. 107; vgl. mit Bezug auf Godelier ebd., S. 134f. Vgl. ebd., S. 44. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 43, 45. Hans-Georg Backhaus (1997d, S. 128) moniert denn auch, dass „Schmidt [sich] nicht entschließen [kann], die Engelssche ,Dialektik' von Logischem und Historischem als ein ,vulgärmarxistisches Mißverständnis zu kritisieren". Auch Stefan Breuer kritisiert an Schmidts Text, dass dieser „Engels' Mißverständnisse nicht thematisiert" (Breuer 1977, S. 249 (Anm. 3)).

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des Gegenstands, wie noch zu zeigen sein wird, weit entfernt ist. Hier tauchen andererseits begriffliche Unsicherheiten bei Schmidt auf. So ist die Formulierung, im Kapital handle es sich um .konstruierte' statt ,narrativer' Geschichte298, durchaus in eine logisch-historische Sichtweise integrierbar und das Zugeständnis an Lenin, die „Stufenfolge Ware-GeldKapital" gebe auch „den realen Prozeß"299 der Entstehungsgeschichte des Kapitals wieder, fuhrt direkt zur historizistischen Parallelitätsthese. Alfred Schmidt bleibt den Motiven der Kritischen Theorie treu, kommentiert sie aber nicht bloß, sondern wirkt entscheidend daran mit, sie wieder mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie in Verbindung zu bringen. Seine Arbeiten erfüllen eine Art Scharnierfunktion zwischen westlichem Marxismus und neuer Marx-Lektüre und haben einen guten Anteil an der späteren Rekonstruktionsdebatte, in die Schmidt allerdings dann nicht mehr eingegriffen hat. Doch nicht erst Schmidts Interventionen, sondern bereits Hans-Georg Backhaus' 1965 als Referat gehaltener und 1969 erstmals als Aufsatz erschienener Beitrag Zur Dialektik der Wertform300 kann als Initialzündung der Frankfurter neuen Marx-Lektüre gelten. Backhaus stellt hier als erster Interpret nach Rubin fest, „daß die Arbeitswerttheorie [von Marx] nur in einer grob vereinfachten und häufig gänzlich entstellten Form rezipiert oder kritisiert worden ist". Die Ursachen für eine solche Fehlrezeption sieht er neben der „Problemblindheit der Interpreten"301 in der unabgeschlossenen und ab dem Anhang zur Erstauflage des Kapital popularisierten Form, in der Marx seine Wertformanalyse hinterlassen habe. Unter Popularisierung wird dabei eine zunehmende Unkenntlichkeit der dialektischen Entfaltung von Reichtumsformen, oder, wie Jan Hoff es präzise ausdrückt, der „Verzicht auf eine systematische Ausarbeitung werttheoretischer und methodologischer Grundgedanken"302 verstanden. Im Vergleich zur Wertformproblematik sei aber, so Backhaus, die Analyse der Wertsubstanz, nach Marx' eigenen Angaben303, bereits in der Erstauflage des Kapital popularisiert worden, was sich darin ausdrücke, dass er nach der Herleitung der Kategorie des immanenten Werts „gänzlich unvermittelt, ohne Aufweis einer inneren Notwendigkeit, zur Analyse der Erscheinungsform"304 zurückkehre. Damit formuliert Backhaus die erste These eines illegitimen und zu behebenden Bruchs in der dialektischen Darstellung und zwar zwischen Wertsubstanz und Wertform, resp. zwischen dem 2. und 3. Unterabschnitt des ersten Kapitels der späteren Zweitauflage des Kapital. Dieser Bruch gilt Backhaus nun als Hauptquelle der isolierten Betrachtung der Wertsubstanzanalyse und der Herabsetzung der Wertformentwicklung zum akzidentellen Ornament in der bisherigen Rezeption305. Der Wert müsse aber, weil als Wert nicht ausdrückbar, notwendig in der „verkehr298

Vgl. Schmidt 1977, S. 139. Ebd., S. 60. 300 Nach Angaben des Autors wurde dieser Beitrag in 11 Sprachen übersetzt; vgl. Backhaus 1997a, S. 31. 301 Zitate der Reihenfolge nach: Backhaus 1997b, S. 41, 42. 302 Hoff 2004, S. 24. 303 Vgl. MEGA II/5, S. 11. 304 Backhaus 1997b, S. 43. 305 Vgl. ebd., S. 44. 299

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te[n] Gestalt" des Gebrauchswerts erscheinen, was nach dem bisherigen Deutungsansatz ebenso wenig nachvollziehbar sei wie die Entwicklung vom Tauschwert über den Wert zur Wertform als dialektische Bewegung „vom unmittelbaren ,Sein' über das ,Wesen' zur vermittelten .Existenz'". Ohne diese methodische Anlehnung an die Hegeische Logik, ohne die Fassung der Werttheorie als Prozess des ,„immanenten Über-sich-Hinausgehens'" des Werts und seiner Setzung als Geld, werde der notwendige, „innere Zusammenhang von Ware und Geld", den Marx aufzuzeigen versuche, auseinandergerissen. Hier kündigt sich bereits Backhaus' zuerst 1974 explizit formulierte Kritik der ,prämonetären' Rezeption der Marxschen Kritik seitens der marxistischen Orthodoxie an. Backhaus weist - gegen den linksricardianischen Mainstream des sechziger Jahre-Marxismus - auf die Formtheorie der Arbeit als differentia specifica zwischen Marx und Ricardo hin. Sinn der 0konomie£rz'í¿& sei es gegen den politökonomischen Empirismus eines , Standpunkts der fertigen Phänomene' - , „die sozialen Bedingungen aufzuzeigen, welche die Existenz der Wertform notwendig machen" 306 . Eine solche Formtheorie entwickle Wert und Geld als Effekt und Vermittlungsform widersprüchlicher privat-arbeitsteiliger Produktionsbedingungen 307 . Dieser Reflexion der historischen Spezifität ökonomischer Objekte sei zudem die „Forderung [...], die Wertrechnung aufzuheben" 308 , immanent, wie im Anschluss an Marcuse behauptet wird. Darüber hinaus sei endlich Marx' Kritik an der „falschefn] Geldtheorie" 309 Ricardos, an dessen Unfähigkeit, Arbeitswert und Geld zu vermitteln, ernst zu nehmen. Backhaus' Aufsatz enthält damit - 41 bzw. 45 Jahre nach Rubin - , in noch unentwickelter Form bereits ein Kernmotiv der später explizierten Auffassung des Marxschen Ansatzes als monetäre Konstitutionstheorie des Werts. Auch der Anspruch der Wertformanalyse, „fachökonomische Antinomien" 310 aufzuheben, dem Backhaus vor allem in seinen späteren Werken nachgeht 311 , sowie die These starker Kontinuitäten zwischen Marx' Früh- und Spätwerk hinsichtlich des formgenetischen Verfahrens 312 werden hier bereits thematisiert. Nach Althussers und Schmidts Rekonstruktionsbegriffen, die auf das Abtragen der Differenz zwischen Marx' Metatheorie und seinem realen Vorgehen im Kapital abheben, findet 306 307

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Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 44, 44, 45, 45, 51. Vgl. ebd.: „Daß in der Warenproduktion gesellschaftliche Arbeit nur als gesellschaftliche Arbeit privater Produzenten geleistet wird - dieser grundlegende Widerspruch äußert sich in dem abgeleiteten, daß der Austausch von Tätigkeiten und Produkten durch ein besonderes und zugleich allgemeines Produkt vermittelt werden muß". Vgl. MEW 13, S. 21 (MEGA II/2, S. 113): „Die Arbeit, die sich im Tauschwert darstellt, ist vorausgesetzt als Arbeit des vereinzelten Einzelnen. Gesellschaftlich wird sie dadurch, daß sie die Form ihres unmittelbaren Gegenteils, die Form der abstrakten Allgemeinheit annimmt". Backhaus 1997b, S. 51. MEW 26.2, S. 161 (MEGA II/3.3, S. 816) (zitiert in Backhaus 1997b, S. 52). Es heißt an dieser Stelle bei Marx: „Die Gestalt nun - die besondere Bestimmung der Arbeit als Tauschwert schaffend oder in Tauschwerten sich darstellend - , den Charakter dieser Arbeit untersucht RicfardoJ nicht. Er begreift daher nicht den Zusammenhang dieser Arbeit mit dem Geld oder, daß sie sich als Geld darstellen muß". Er begreife nicht die „Notwendigkeit der Waren zur Geldbildung fortzugehn. Dahr seine falsche Geldtheorie". Backhaus 1997b, S. 52. Vgl. u.a. Backhaus 1997i 2002. Vgl. u.a. Backhaus 1997g.

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sich hier nun ein weiterer, der seine Aufgabe in der Problematisierung der Kategorien marxistischer Ökonomie und einer Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie aus seinen „mehr oder minder fragmentarischen Darstellungen und [...] zahlreichen, in anderen Werken verstreuten Einzelbemerkungen" sieht. Aber auch Marx' eigene Darstellungsvarianten werden schon hier, wie gezeigt, im Rahmen einer rudimentären Popularisierungsthese kritisiert. Backhaus' Rekonstruktionsbemühungen um die Dialektik der Wertform bleiben aber bloße Skizze. Er zielt dabei auf die notwendige äußere Darstellung (Verdopplung) der inneren Widersprüchlichkeit der Ware ab, fasst den Wert als „sich in Unterscheidungen Entfaltendes"313, gesellschaftliche Objektivität schlechthin darstellendes ,Subjekt', dessen ontologischer Status eine „Realität sui generis" sei, die weder auf physiologisch-technologische Elemente des Arbeitsprozesses noch auf Bewusstseins- oder Unbewusstseins-Inhalte von Individuen zurückzuführen sei314. Sind Backhaus' Hinweise auf die problematische Rezeptionssituation der Marxschen Werttheorie am Ende der sechziger Jahre auch von eminenter Wichtigkeit und vor allem von erfrischender Nüchternheit, so bleibt in seinen positiven Hinweisen zur Wertformanalyse doch vieles unklar. Von verschiedenen Seiten wurde Backhaus' Aufsatz deshalb als „hegelianistische Version"315 einer ,Kapitallogik' kritisiert: (I) Wolfgang Fritz Haug versteht die Rede vom Wert als sich entfaltendes und verdoppelndes Subjekt als feststehenden Topos des ,,metaphysische[n] Roman[s] der KapitalLogik". Dessen ,,abgekürzte[s] Inhaltsverzeichnis" laute: „Die Ware verdoppelt sich in Ware und Geld, das Geld verdoppelt sich in Geld und - Staat"316. Georg Quaas, wie Haug ein Vertreter der historisierenden Lesart, kritisiert analog dazu die ,Wertlastigkeit' der Backhausschen Deutung aufgrund von dessen „Verwechslung der Marxschen dialektischen Methode mit einer spekulativen Konstruktion à la Hegel"317. Zunächst werde das Abstrakte, der Wert, verselbständigt, dann zum Wesen aller Gegenständlichkeit stilisiert318 und schließlich ein spekulativer Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten durch eine Selbstunterscheidung des Abstrakten319 beansprucht. Der von Backhaus behauptete Bruch in der Darstellung des Verhältnisses von Wert und Tauschwert sei nur aufgrund seiner Prämisse zu konstatieren, der Übergang zur Wertform müsse ,rein immanent' als Selbstunterscheidung des Werts ohne äußeres, ,empirisch vorgefundenes' Material vollbracht werden, was materialistisch tatsächlich unmöglich sei320 - bekanntermaßen bringt es, Marx zufolge, nur der Hegeische Begriff fertig, „sich ohne äußern Stoff zu objektiviren"321. Backhaus' Äußerungen werden

313 314 315 316 317 318

319

320 321

Zitate der Reihenfolge nach: Backhaus 1997b, S. 42, 56. Vgl. ebd., S. 57,61. Ruben 1977, S. 47. Beide Zitate: Haug 1984, S. 70. Quaas 1992, S. 68. .Abstrakte Wertgegenständlichkeit ist für Marx gesellschaftliche Objektivität schlechthin" (Backhaus 1997b, S. 57). „Wert ist also für Marx [...] ein sich selbst in Unterscheidungen Entfaltendes: Subjekt" (ebd., S. 56). Vgl. Quaas 1992, S. 72. MEGA II/5, S. 31. Worauf dann, genau in der hier verfolgten Problematik der Darstellung des Werts, der Satz folgt: „Die Leinwand kann sich nicht auf den Rock als Werth oder incarnirte

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so als einer Hegeischen Problematik der expressiven Totalität zugehörig erachtet, als ökonomistische Reduktion der relativen Eigenlogik nicht-ökonomischer Praxisfelder322, bzw. als identitätsphilosophische Reduktion des ökonomischen Gegenstands auf den Wert als , Substanz-Subjekt'323. Ob dies eine zutreffende Einschätzung ist, kann an dieser Stelle noch nicht entschieden werden - Backhaus' Thesen sind hier noch zu diffus formuliert. Auch Haugs im Zusammenhang mit Backhaus und der Frankfurter Traditionslinie vorgebrachter Vorwurf reiner Begriffsdialektik im Stile des Hegelianismus von Adolph Wagner wird an anderer Stelle genauer geprüft324. Ungerechtfertigt ist es jedenfalls, dass Haug gegen Backhaus den Marxschen Ökonomismus-Vorwurf gegenüber Franklin ins Feld führt325. Dieser Ökonomismus-Begriff meint nicht die inhaltliche Determination aller sozialen Felder durch die Ökonomie, sondern bezeichnet die unreflektierte empirische Unterstellung des Zusammenhangs von , Arbeit' und Wert, die Ausblendung der Frage, warum jene diese Form annimmt, also die Enthistorisierung der Wertform zur Naturform menschlicher Reproduktion326. (II) Allerdings lädt auch die Einschätzung der Wertgegenständlichkeit als „gesellschaftliche Objektivität schlechthin" zu Missverständnissen ein. Soll gesellschaftlich' auf den entbetteten Bereich der Ökonomie abzielen und damit auf die durch privat-arbeitsteilige Bedingungen („gesellschaftliche Arbeit privater Produzenten"327) in Gestalt von Ware, Geld und Kapital verselbständigten Produktionsverhältnisse hingewiesen werden (Reichelts ,Objektivitätsüberhang') oder soll jegliche Emergenz, also irreduzibel soziale Objektivität, mit Entfremdung identifiziert werden? Für diese Alternative spricht Backhaus' Identifizierung der Kategorie .Basis' mit der, rationaler Gestaltung entzogenen, verselbständigten Form gesellschaftlicher Reproduktion im Kapitalismus328. Hier steht Backhaus also klar in der Frankfurter Tradition eines Sozialnominalismus in emanzipatorischer Perspektive. Jahrzehn-

menschliche Arbeit beziehn, ohne sich auf Schneiderarbeit als die unmittelbare Verwirklichungsform menschlicher Arbeit zu beziehen". Oder wie Quaas sich korrekt ausdrückt: „Es ist unmöglich, allein vom Wert zum Tauschwert aufzusteigen" (Quaas 1992, S. 72), ohne den nicht aus dem Wert ableitbaren Gebrauchswert zu berücksichtigen (vgl. ebd., S. 71). 322 Vgl. Haug 1984, S. 78. 323 Quaas erwähnt zudem, dass nicht der Wert, sondern das Kapital, also nicht die - reduzierte - Anfangskategorie, sondern ein späteres Resultat der Darstellung von Marx als Subjekt - selbstreproduktiver, verselbständigter Zusammenhang - gefasst werde; vgl. Quaas 1992, S. 73ff. Vgl. auch die ähnlich gelagerte Kritik an Backhaus' ,identitäts'- und ,subjektlogischer' Theoriekonstruktion bei Holz (1993, S. 158f„ 162f.). 324 325 326

327 328

Vgl. Kapitel 1.3.1 dieser Arbeit. Vgl. Haug 1984, S. 70. „Die Arbeitszeit stellt sich sofort bei Franklin ökonomistisch einseitig als Maß der Werte dar. Die Verwandlung der wirklichen Produkte in Tauschwerte versteht sich von selbst" (MEW 13, S. 42 (MEGA II/2, S. 134)). Auf diesen Ökonomismus-Begriff weist auch Backhaus als einen Kernpunkt der Marxschen Formanalyse hin; vgl. Backhaus 1997b, S. 50. An anderer Stelle ist Haug die Bedeutung des Marxschen Ökonomismusbegriffs aber durchaus bewusst, vgl. Haug 1985, S. 130. Beide Zitate: Backhaus 1997b, S. 57. Vgl. ebd., S. 57f.: „Eine spezifische Form der materiellen Produktion - gesellschaftliche Arbeit privater Produzenten - ist der Grund dafür, daß im historischen Materialismus der Produktions- und Reproduktionsprozeß als ,Basis', die bewußten Beziehungen hingegen nur als ,Überbau' bestimmt werden". Vgl. auch Reichelt 1973, S. 53f.

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te später wird er diesen Topos durch den eigentümlichen Umgang mit einem Adorno-Zitat noch radikalisieren: Backhaus zitiert Adorno wie folgt: „.Fluchtpunkt des historischen Materialismus wäre seine eigne Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse'" 329 . Im Original geht der Satz aber weiter: „im Stand ihrer materiellen Erfüllung. Erst dem gestillten leibhaften Drang versöhnte sich der Geist [...]"33°. Was Adorno wenigstens noch vom gestillten Bedürfnis abhängig macht, womit er zugleich anerkennt, dass eine Befreiung von diesem gar nicht denkbar ist, wird bei Backhaus durch ein selektives Zitat also nochmals verkürzt. Wie auch immer der Gedanke einer Negation oder Selbstaufhebung des historischen Materialismus formuliert wird, er wäre, worauf Karel Kosik hinweist, niemals mit den Prämissen des historischen Materialismus im Marxschen Sinn vereinbar: „nur auf der Grundlage einer bestimmten, im gegebenen Falle kommunistischen ökonomischen Struktur wird die Befreiung der Menschen von der Vorherrschaft des ökonomischen Faktors verwirklicht werden"331. Das heißt, die Ökonomie als verselbständigte Sphäre (,Faktor') kann nur durch die Veränderung der Produktionsverhältnisse (.Struktur') aufgehoben werden332. Der Strukturprimat bleibt damit bestehen. (III) In die Charakterisierung des Werts als spezifisch gesellschaftliche Gegenständlichkeit mischt sich bereits eine dem widersprechende Formel vom Wert als ,Gedankending', als „dem Bewußtsein Immanentes", das sich „dem Bewußtsein als ein Fremdes entgegenstellt]" 333 . Wie ein Bewusstseinsimmanentes zugleich kein psychisches Phänomen sein und wie sich dieses ,entäußern' soll, bleibt ein Geheimnis. Auch hier wirkt sich eine idealistische Tendenz der Frankfurter Tradition, insbesondere Adornos, aus, der Wert als „in der Sache selbst waltende", objektive „Begrifflichkeit" beschreibt, als, wenn auch realen und wirksamen, „Schein" oder „bloß Gedachtes"334. Backhaus wird an diesem Topos hartnäckig festhalten335, doch erst in jüngster Zeit hat Helmut Reichelt versucht, diesen Ansatz zu präzisieren, worauf an späterer Stelle eingegangen wird336. Mit Dieter Wolf337 bleibt zunächst festzuhalten, dass Backhaus die Kategorie des Gedankendings nicht aus der Systematik der Marxschen Darstellung - als an der einzelnen Ware des theoretischen Anfangs nur zu denkendes, aber deshalb in seiner Wirklichkeit keineswegs kognitives Phänomen - begreift, sondern zur ontologischen Aussage hypostasiert. Bereits Ruben spricht hier von einem säku329 330 331

332

333 334 335

336 337

Adomo zitiert in Backhaus 2000, S. 19. Adorno 1998i, S. 207. Kosik 1986, S. 109. Vgl. auch Erckenbrecht 1976, S. 22, der die o.g. Position der Kritischen Theorie als „materialistisch gemeinte[n] Idealismus" kritisiert. Dies betont auch Lukács. Er ist hier vorsichtiger als die Kritische Theorie, wenn er von der emanzipatorischen Aufhebung der „Immanenz" und „Eigengesetzlichkeit" der Wirtschaft und damit ihrer Aufhebung „als Wirtschaft" im modernen Sinne spricht (Lukács 1988, S. 396f. (258)). Backhaus 1997b, S. 55. Vgl. auch S. 47. Adorno 1998a, S.209. Vgl. noch Backhaus 2000, S. 17. Die ökonomischen Kategorien werden nicht klar von den realen Formen unterschieden und logisch widersprüchlich als „Gegenständliches, das auch NichtGegenständliches, Schein ist" bezeichnet. So spricht auch schon im Jahre 1969/70 der AdornoSchüler Krahl (1985d, S. 375): „Das Kapital ist ein Schein, weil es keine reale Dingstruktur hat, gleichwohl beherrscht es die Menschen". Vgl. dazu Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit. Vgl. Wolf 1985a, S. 132.

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larisierten Hegelianismus Backhaus', der sich vom wirklichen Hegelianismus durch die Substitution des Gattungs- durch das Individualbewusstsein auszeichne338. Ruben bietet allerdings als Alternative einen kruden Naturalismus an, der die Wertsubstanz als physiologische Energieverausgabung im Arbeitsprozess anthropologisiert339. (IV) Dieter Wolf moniert an Backhaus' Darstellung, dass dieser systematisch die Ware durch den Gebrauchswert ersetze - also gerade das Umgekehrte praktiziert, was Quaas ihm vorwirft. Er spreche von einer Gleichsetzung von Gebrauchswerten oder einem Verhältnis des „Gebrauchswerts zu sich selbst als zu einem Anderen"340, während Marx behaupte, dass im Wertausdruck eine Ware (als Wertbestimmtes), vermittelt über den Gebrauchswert einer anderen, sich zu sich selbst als Wert verhält und sich damit von sich als Gebrauchsgegenstand unterscheidet. Backhaus bleibt damit, so Wolf 341 , in seiner Rekonstruktion der Wertformproblematik auf der Ebene des verkehrten Scheins des Tauschwerts als bloß quantitativem Verhältnis von Gebrauchswerten stehen. Dieser Schein werde aber bereits im ersten Unterabschnitt des Kapitals mit der Einführung der Kategorie des immanenten Werts destruiert und in der Wertformanalyse systematisch erklärt342. Backhaus überspringe die Wertbestimmung und versuche, entwickeltere Erscheinungsformen derselben, wie Geld und Preis, mit dem als quantitatives Verhältnis von Gebrauchswerten gedeuteten Verhältnis nicht-preisbestimmter Waren zu kombinieren. Er unterstelle, wie auch bereits die PEM kritisch anmerkt343, für die Wertbestimmung ein komplexes Verhältnis (Ware-Geld) und falle aus dem Bereich jeglicher ökonomischer Formbestimmungen heraus, wenn er einfachere, abstraktere Verhältnisse betrachte. (V) Auch die Rede vom Wert als sich nur in ,verkehrter Form' Ausdrückendes, wird bereits von Ruben kritisiert. Wert existiere in der Wertform nicht verkehrt, sondern als adäquater Ausdruck344. Während Ruben aus seiner empiristischen Position heraus aber generell nicht begreifen kann, was an Backhaus' These von der Nichtausdrückbarkeit des Werts als Wert legitim ist, zeigt Wolf, dass damit ein reales Phänomen getroffen ist, nämlich die Tatsache, dass der Wert einer Ware allein vom Gebrauchswert einer anderen repräsentiert werden kann, deren Gebrauchswert aber nur als das gilt, was die erste Ware als Wert ist, ohne damit dieser Wert selbst zu sein345, oder, wie Marx sich ausdrückt: „Der Rock [die Ware in Äquivalentform] kann ihr [der Ware in relativer Wertform] gegenüber jedoch nicht Wert darstellen, ohne daß für sie [d.h. als Geltung im Wertverhältnis] gleichzeitig der Wert die Form eines Rockes annimmt"346.

338 339 340 341 342

343 344 345 346

Vgl. Ruben 1977, S. 47 (Fn.). Vgl. ebd., S. 46, 58f. Backhaus 1997b, S. 56. Vgl. Wolf 1985a, S. 129f. Der Tauschwert als quantitatives Mengenverhältnis von Dingen, wie er dem Alltagsbewusstsein erscheint, werde von Backhaus mit der wissenschaftlichen Kategorie des Tauschwerts als gegenständlicher Erscheinungsform des Werts verwechselt (vgl. ebd., S. 131). Vgl. PEM 1973, S. 185. Vgl. Ruben 1977, S. 46. Vgl. Wolf 1985a, S. 133. MEW 23, S. 66. Vgl. auch ebd., S. 70 (MEGA II/6, S. 84, 88).

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(VI) Trotz der Anklänge einer Kritik prämonetärer Werttheorie macht Michael Heinrich noch bei Backhaus eine Lesart aus, derzufolge „Marx in den beiden ersten Unterabschnitten des ersten Kapitels des Kapital mit der Wertsubstanz bereits das , Wesen' des Wertes dargestellt habe und es im dritten Unterabschnitt lediglich darum gehe, die Erscheinungsform' dieses Wesens nachzutragen"347. Dies sei auch Grundlage von Backhaus' These eines Bruchs in der Darstellung des Zusammenhangs zwischen Wertsubstanz und -form. Eine monetäre Werttheorie, wie Backhaus sie ja später klar eingefordert hat, müsse jeden Eindruck vermeiden, Wert sei in den ersten beiden Unterabschnitten schon ein fertig bestimmter Begriff. Es gelte dagegen hervorzuheben, dass, da Waren Wertgegenständlichkeit nur „als gesellschaftliche Beziehung"348 besitzen, diese auch nur im Wertverhältnis der Waren erscheinen könne. Letztlich, so stellt bereits Ruben fest, existiere Wert nicht als primär Gegebenes, als metaphysischer allgemeiner Gegenstand', der sich dann verkehrt in einem Verhältnis darstelle, sondern „als Abstraktum auf der Basis einer Äquivalenz, also eines Verhältnisses. Dieses ist daher nicht eine ,verkehrte Erscheinung' jenes Abstraktums, sondern vielmehr seine hinreichende Bedingung"349. Die weitere Kritik an Backhaus' Behauptung eines Bruchs zwischen Wertsubstanz und -form, insbesondere Wolfs ausführliche Darlegung ihres notwendigen Zusammenhangs, wird an späterer Stelle wieder aufgenommen. Helmut Reichelts Untersuchung zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Marx stellt im Anschluss an Rosdolsky - in der Rückschau des Verfassers den ,,erste[n] Versuch einer Rekonstruktion der [...] dialektischen Methode im K a p i t a l 0 dar. (I) Wie von Schmidt gefordert, wendet Reichelt dabei das Aktualitätsprinzip auf die Marxschen Frühschriften an. Er identifiziert dort wesentliche Andeutungen auf das methodologische Konzept der Ökonomiekritik, die „als AndeutungfenJ erst vor dem Hintergrund des Spätwerks entschlüsselt werden" könnten. Als Grundthese Reichelts darf wohl gelten, Marx' Wertformanalyse i.w.S. sei als „Einlösung des Programms der vierten Feuerbachthese auf der Ebene der politischen Ökonomie"351 zu verstehen352. Was Feuerbach in seiner Religionskritik praktiziere, die Auflösung der (scheinbaren) Selbständigkeit und Substantialität Gottes durch dessen analytisch-reduktive Zurückfiihrung auf das einheitliche Wesen des Menschen, das finde sich in der politischen Ökonomie bei Smith und Ricardo als Reduktion der verselbständigten Reichtumsformen auf das einheitliche Prinzip menschlicher Arbeit. Es sei nun Marx' Projekt, eine genetische Rekonstruktion der Notwendigkeit dieser verselbständigten Formen und ihres gegenständlichen Scheins aus historisch-spezifischen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit heraus zu leisten. Die charakteristischen Verdopplun347 348 349 350 351 352

Heinrich 1999, S. 222f. MEGA II/6, S. 30 (zitiert in Heinrich 1999, S. 223). Ruben 1977, S. 46. Reichelt 2001, S. 7. Zitate der Reihenfolge nach: Reichelt 1973, S. 24, 151. Backhaus (1997g, S. 405f.) macht darauf aufmerksam, dass Marx bereits 1843 im Zuge seiner Kritik des Hegeischen Staatsrechts die kritisch-genetische Methode beansprucht: „So weist die wahrhaft philosophische Kritik der jetzigen Staatsverfassung nicht nur Widersprüche als bestehend auf, sie erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit" (MEW 1, S. 296) (MEGA 1/2, S.

101).

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gen des Kapitalismus - des Produkts in Gebrauchswert und Wert, der Ware in Ware und Geld usf. bis hin zur Verdopplung der bürgerlichen Gesellschaft in Gesellschaft und Staat seien aus „dem Sichselbst-Widersprechen" der „weltlichen Grundlage"353 zu begreifen. Bereits in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten aus dem Jahr 1844, Marx' erstem Versuch einer systematischen Erklärung der basalen Entfremdungsformen der bürgerlichen Gesellschaft, kritisiere dieser es als ein zentrales Versäumnis der Nationalökonomie, die Genese der Reichtums- und Zwangsformen nicht aus den strukturellen Widersprüchen dieser Gesellschaft abgeleitet zu haben. Statt dessen gehe sie „vom Faktum des Privateigentums aus"354, ohne es zu erklären und unterstelle damit, was sie selbst erst zu entwickeln hätte355. In diesem, von Marx später der .ökonomistischen Einseitigkeit' bezichtigten „Standpunkt der fertigen Phänomene"356 würden also bürgerliche, entfremdete Reproduktionsmechanismen unkritisch als ,,Letzte[s], nicht mehr Ableitbare[s]" hingenommen und somit nicht mehr als Formen begriffen. Marx kritisiert Reichelt zufolge also bereits in seinen Frühschriften auf programmatischer Ebene den Positivismus (Empirismus) der politischen Ökonomie und überwindet in der Werttheorie des Spätwerks dieses „äußerlich aufgreifende Verfahren des bürgerlichen Subjekts", indem nun „keine Kategorie eingeführt wird, die sich nicht vollständig legitimiert hat". Marx' .positive Wissenschaft', verstanden als „erstmalig ungetrübte[...] - nicht selbst noch durch das zu Erkennende präformierte[...] - Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit"357, stellt sich nach Reichelt in einem doppelten Sinn als Positivismuskritik dar. Der ,Positivismus' des bürgerlichen Zustande bestehe nicht nur in der scheinhaften Natürlichkeit ökonomischer Sachverhalte, sondern auch in der realen Verselbständigung der sozialen Verhältnisse in Gestalt der Herrschaft ökonomischer Gegenstände über die Menschen, die diese unter bestimmten Bedingungen hervorgebracht haben358. Den Konstitutionsprozess dieses „Überhangs an gesellschaftlicher Objektivität"359 könne Marx' Theorie aber nur aus der historisch generierten Perspektive unentfremdeter Vergesellschaftung heraus rekonstruieren360. Erst die modernen Produktivkräfte schaffen danach die Bedingungen 353

MEW 3, S. 534 (MEGA IV/3, S. 20). Backhaus hat zuerst auf diese Parallele hingewiesen und sogar die vierte Feuerbachthese in ricardokritischer Manier umformuliert: ,.Ricardo geht aus von dem Faktum der ökonomischen Selbstentfremdung, der Verdopplung des Produkts in ein Wertding, ein vorgestelltes, und ein wirkliches Ding. Seine Theorie besteht darin, den Wert in Arbeit aufzulösen. Er übersieht, daß die Hauptsache noch zu tun bleibt. Die Tatsache nämlich, daß das Produkt sich von sich selbst abhebt und sich, ein selbständiges Reich ökonomischer Kategorien, jenseits des Bewußtseins fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sich-selbst-Widersprechen der gesellschaftlichen Arbeit zu erklären. Diese selbst muß also erstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden" (Backhaus 1997b, S. 52).

354

MEW 40, S. 510 (MEGA 1/2, S. 363) (zitiert in Reichelt 1973, S. 24). Vgl. auch MEW 4, S. 126: „Die Ökonomen erklären uns, wie man unter den [...] gegebenen Verhältnissen produziert; was sie uns aber nicht erklären, ist, wie diese Verhältnisse selbst produziert werden". MEW 24, S. 218 (MEGA II/12, S. 183). Zitate der Reihenfolge nach: Reichelt 1973, 43, 142, 65. Vgl. ebd., S. 62,266. Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 38f„ 58.

355

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einer Aufhebung der Subjekt-Objekt-Verkehrung und bilden den geschichtsphilosophischen Anker der Marxschen Wissenschaft361. (II) Diese Position wird bereits seitens des PKA 1971 kritisiert. Erst am Ende des Marxschen Forschungsprozesses werden danach Umrisse einer Bestimmung emanzipierter Vergesellschaftung erkennbar. Bevor die von Reichelt als Voraussetzung unterstellte Antizipation dieses Zustands einen irgend bestimmten Inhalt besitzen könne, seien zuerst die gesellschaftlichen Ursachen, Strukturen und Bedingungen möglicher Aufhebung der .Entfremdung' zu klären362. Die Vorwegnahme des Kommunismus gehe somit „nicht ,in die theoretische Durchdringung' [...], sondern nur in die Darstellung" der kapitalistischen Produktionsweise ein. Den umgekehrten Weg schlägt Ulrich Müller 1974 ein: Er wiederum wirft Reichelt in traditionsmarxistischer Manier vor, keinen „Klassenstandpunkt zu beziehen", sondern den eines antizipierten Menschheitssubjekts und sich damit in einem „philantropische[n] Entfremdungslamento" zu ergehen, was der Zuordnung seines Werks zur „Phase des Übergangs der Studentenbewegung von Positionen der Frankfurter Schule und Marcuses zum Marxismus"363 geschuldet sei. Die starke Kontinuität zwischen Feuerbachthesen und Spätwerk, die Reichelt konstruiert, wird am radikalsten von Michael Heinrich in Zweifel gezogen. 1845/46 setzen Marx und Engels demnach an die Stelle der Abstraktionen des Feuerbachschen .menschlichen Wesens' und des Stirnerschen ,Einzigen' die .wirklichen Individuen' und ihre historischökonomischen Verhältnisse als ,empirisch konstatierbare' Voraussetzungen einer materialistischen Gesellschaftstheorie. Dieser Materialismus sei aber ein empiristischer364, die .Praxis', aus der, den Feuerbachthesen zufolge, alle verselbständigten und mystifizierten Entitäten herzuleiten sind, „nichts weiter als eine Leerformel"365. Erst im Zuge eines zweiten Bruchs im Jahre 1857 habe sich das für die Marasche Kritik der politischen Ökonomie relevante Methoden- und Gegenstandsverständnis wirklich herausgebildet: ,Praxis' werde dabei vom Explanans zum Explanandum einer in Struktur, Handlung und Funktion gestaffelten Darstellungsstrategie: Das Handeln der Warenbesitzer werde nun aus der sukzessive entfalteten Struktur der Produktionsweise heraus begriffen und sei „keineswegs [mehr] der transparente Erklärungsgrund"366. In Abkehr vom empiristischen Methodenkonzept werde Erkenntnis als begriffliche Reproduktion des Objekts durch das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten gefasst367, womit Marx erst explizit die Notwendigkeit einer ,jiichtempirischen Theorieebene"iM anerkenne, die der Existenz realer Abstraktionen als Gegenstand der Theorie geschuldet sei. Heinrichs Bemerkungen, die als Warnung vor empiristisch,praxeologischen' Kurzschlüssen von Feuerbachthesen und Wertformanalyse369 sicherlich zutreffend sind, blenden allerdings jeden Hinweis auf historische Strukturkategorien in der 361 362

Vgl. Reichelt 1974, S. 39. Vgl. PKA 1971a, S. 100.

363

Zitate der Reihenfolge nach: Müller 1974, S. 283, 283f„ 284.

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Vgl. Heinrich 2004g, S. 259ff.

365

Ebd., S. 261. Heinrich 2004e, S. 263.

366 367

Vgl. ebd., S. 262. Vgl. auch Heinrich 1999, S. 155.

368

Ebd., S. 157.

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Vgl. Haug 2003/2004. Dazu Heinrich 2004e, S. 264ff.

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Deutschen Ideologie, wie etwa den Begriff der Produktionsweise', aus, die Reichelt dazu veranlassen, hier gerade „keinen naiven Empirismus" 370 am Werk zu sehen. Bezeichnend ist auch, dass Heinrich auf die vierte These über Feuerbach, auf die Reichelt seine Behauptung einer Kontinuität der kritisch-genetischen Methode im Wesentlichen stützt, mit keinem Wort eingeht. Hier spätestens hätte er auf kaum von der Hand zu weisende Parallelen zum Kapital371 aufmerksam werden müssen. Von ganz anderer Warte aus, nämlich der der analytischen Wissenschaftstheorie, kritisiert Christof Helberger 1974 Reichelts Herausarbeitung der Marxschen Kritik des nationalökonomischen Empirismus. Reichelts Beanstandung einer bloß empirischen Aufnahme statt vollständigen Legitimation bzw. Erklärung der ökonomischen Kategorien wird zunächst als Vorwurf gegen die bürgerliche Wissenschaft verstanden, keine ,,historisch-genetische[n] Erklärungen" 372 liefern zu können. Gegenstand der von Helberger unbegriffenen 373 und von Reichelt zunächst postulierten .logischen' Analyse ist die systematische Re-/ Produktion bestimmter Reichtumsformen unter gegebenen, zugleich aber historisch-spezifischen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit. Reichelts Vorwurf besteht also weder darin, eine vermeintliche bürgerliche' Unfähigkeit zu historischen Erklärungen noch die Unfähigkeit zu Kausalanalysen sozialer Tatbestände überhaupt zu unterstellen. Marx' Antiempirismus ist ihm zufolge eine Kritik an der politischen Ökonomie (nicht eine wissenschaftstheoretische Aussage über bürgerliches' Denken in abstracto), die Differenz theoretischer und empirischer Begriffe nicht zu berücksichtigen und schließlich dem gegenstandsinduzierten Schein einer Naturgegebenheit historisch-spezifischer Verhältnisse zu erliegen. Die strukturanalytischen Erklärungen der politischen Ökonomie werden demnach nicht weit genug getrieben (unvollständige Abstraktionen), Empirie und Theorie konfundiert (falsche Abstraktion bzw. Fehlen der Mittelglieder zwischen Theorie- und Empirieebene) 374 und schließlich die Historizität des Gegenstands verfehlt (ökonomistische Einseitigkeit). Dieser Abbruch der Erklärung bzw. die Tatsache, dass diese Erklärungsansätze im Rahmen bestimmter, unkritisch vorausgesetzter Kategorien verbleiben, ist nicht ein Problem der willkürlichen „Auswahl der Fragestellungen", aus der Helberger die Differenzen zwischen .bürgerlichen' und marxistischen Ansätzen herleitet, sondern sachlich begründet: Das Objekt verleitet den wissenschaftlichen Beobachter zu bestimmten Evidenzannahmen über die Nichthistorizität der kapitalistischen Produktionsweise. Eine solche erkenntniskritische Dimension der materialen Analy-

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Reichelt 1973, S. 46. Vgl. auch Arndt (1985, S. 61), der betont, dass in der Deutschen Ideologie Wirklichkeit als „Vermittlungszusammenhang" gilt, als „Struktur von Verhältnissen, die sich der Unmittelbarkeit eines anschaulichen Verstehens entziehen"; ebenso Kittsteiner 1977, S. 10, 15. Vgl. auch MEW 23, S. 393 (Fn.) (MEGA II/5, S. 303 (Fn.)): „Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztre ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode". Vgl. auch König 1981, S. 208 (Anm. 46), der meint, dass die vierte Feuerbachthese als „bestimmendes Motiv" in die „Wertformund Fetischismusanalyse eingeht". Helberger 1974, S. 177. Vgl. ebd., S. 189. Vgl. MEW 26.2, S. 100, 171; 26.3, S. 491 (MEGA II/3.3, S. 759, 826; II/3.4, S. 1499); vgl. auch Reichelt 1973, S. 115, 117.

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se im Kapital kommt Helberger aber nicht in den Sinn. Sein positivistischer Ideologiebegriff geht auf im Abweichen „subjektive[r] Vorstellungen [...] von der tatsächlichen Realität" und in der Trübung deskriptiver Aussagen durch normative Erwartungen. Eine andere mögliche Deutung der Reicheltschen Kritik an der empirischen Aufnahme von Kategorien sieht Helberger in der „Idee einer abgeschlossenen Erklärung" 375 , d.h. der Forderung einer Erklärung alles Erklärbaren. Doch weder Marx noch Reichelt verfolgen dieses Ziel. Im Gegensatz zu Hegel 376 nämlich untersucht Marx kein absolutes, sondern ein endliches System, das auf Voraussetzungen beruht, die nicht von ihm selbst geschaffen wurden und deshalb im Rahmen der Erklärung des Systems ihrerseits nicht erklärt werden können und müssen. Eben dies nennt Marx die Grenzen der dialektischen Darstellung, auf die auch Reichelt hinweist. (III) Nach Reichelt sind es nun die Grundrisse, die mit ihrem innigen „Verhältnis von Ökonomie und Dialektik [...] erst den Zugang zu den eigentlichen Gehalten der Marxschen Ökonomiekritik und damit auch der logischen Struktur des Kapitals" eröffnen. Noch in dessen eher unphilosophischer, „höchst nüchterne[r] Sprache" fanden sich aber Spuren der von Schmidt betonten zweiten Hegel-Rezeption, die Marx' Rekurs auf eine dialektische Abfolge der Kategorien als Ausdruck eines vom Objekt selbst ausgehenden „Zwangfs]" nahe legten, was wiederum auf eine „strukturelle Identität" von Hegelschem Geist- und Marxschem Kapitalbegriff schließen lasse. Die Herrschaft eines Abstraktums als sich in Unterschiede Auslegendes und durch diese hindurch Reproduzierendes gilt Reichelt als objektive Grundlage der Praktikabilität dialektischer Darstellung: „Geltung hat sie nur dort, wo sich ein Allgemeines auf Kosten des Individuellen durchsetzt" 377 . In ihrer idealistischen Variante sei sie die mystifizierende Verdopplung dieser realen Subjekt-Objekt-Verkehrung, als materialistische reflektiere sie sich selbst als historisch begrenzte „Methode auf Widerruf*378. Während all dies bereits 1970 nicht ganz neu ist und Reichelt zudem, wie das PKA im Jahr darauf bemerkt, „über bloß abstrakte Verweise auf Parallelitäten" 379 zwischen Hegel und Marx ebenso wenig hinausgelangt wie Rosdolsky, dabei aber, so Ulrich Müller, eine Verabsolutierung von Wissenschaftskritik durch Äquivokationen der Formulierung einer ,Herrschaft des Allgemeinen' praktiziert 380 , ist es vor allem die Rekonstruktion der dialektischen Struktur der Wertformanalyse, die Reichelts Werk gegenüber vergleichbaren damaligen Arbeiten auszeichnet. Reichelt macht auf die in der Erstauflage des Kapital noch klar formulierte Programmatik der Wertformanalyse aufmerksam. Dort geht es Marx darum, „zu beweisen, daß die Werth-

375 376 377 378 379 380

Zitate der Reihenfolge nach: Helberger 1974, S. 177, 163, 177. Vgl. Taylor 1997, S. 344-351, 371-373. Zitate der Reihenfolge nach: Reichelt 1973, S. 132, 75, 75, 76, 81. Ebd. Dieser Topos findet sich bereits bei Korsch 1924 (vgl. Korsch 1971b, S. 135f.). PKA 1971, S. 102 (Fn.). Gleichlautend die Kritik von Müller 1974, S. 281. Vgl. Müller 1974, S. 283. Er bezieht sich auf folgende Formulierung Reichelts: „Wenn erst die Individuen zu ihrem Recht kommen und nicht mehr unter ein - von ihnen selbst noch in dieser Form produziertes - Abstrakt-Allgemeines subsumiert sind, werden generelle Aussagen unmöglich. Mit der Aufhebung gesellschaftlicher Objektivität, der abstrakten Negation wirklicher Individualität, verschwindet der Gegenstand aller Theorie" (Reichelt 1973, S. 40 (z.T. falsch) zitiert in Müller 1974, S. 283).

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form aus dem Werthôegri^entspringt" 381 . Was von den bisherigen Kommentatoren als ,bloße' Begriffsdialektik, der ein historischer Beweis beizufügen sei, beargwöhnt wurde 382 , wird damit als eigentliche Problemstellung von Marx erkannt, der Übergang vom Wert zur Wertform sowie von der einfachen zur allgemeinen Wert-, schließlich Geldform als begriffliche Entfaltung des bestehenden notwendigen Zusammenhangs zwischen Ware und Geld 383 dargelegt. Motor der Darstellung sei der „Widerspruch zwischen der Allgemeinheit des Wertes und der unzureichenden Form seiner Erscheinung". Erst im allgemeinen Äquivalent, so Reichelt, unterscheide nicht nur jede Ware für sich ihren Wert von ihrem Gebrauchswert, sondern alle Waren gemeinsam. Erst hier werde auch der Wert als das den Waren Gemeinsame - gesellschaftlich allgemeine Form - wirklich, nämlich „einfach (in einem einzigen Warenkörper) und einheitlich (in demselben anderen Warenkörper)" ausgedrückt. „Die Waren sind alle qualitativ gleichgesetzt, alle sind ausgedrückt als Materiatur derselben Arbeit und können jetzt auch quantitativ verglichen werden. Soll also die Arbeitszeit überhaupt als regelndes Gesetz der Produktion wirksam werden können, so muß die abstraktmenschliche Arbeit neben und außerhalb aller besonderen Waren selbst in Naturalform existieren" 384 . Damit wird erkennbar, dass - im Gegensatz zu Engels - von , Wertgesetz' und , Warentausch' vor der Existenz des Geldes keine Rede sein, der prämonetäre Begriff der Ware also kein empirisches Korrelat haben kann. Reichelt expliziert auch die Marxsche Unterscheidung zwischen .analytischem' und ,wirklichem' Verhältnis der Waren zueinander. Dieser zeige, dass innerhalb der Wertformanalyse die Ware in Gestalt der Wertform „erst im Kopf eine doppelte Existenz" gewinne, die selbständige Existenz der abstrakten Arbeit in Gestalt einer spezifischen konkreten hier nur Resultat einer „ideellen Verdopplung" 385 seitens des wissenschaftlichen Betrachters sei. Die „wirkliche Verdopplung" der Ware (in Ware und Geld) werde im Kapitel über den Austauschprozess verfolgt. Hier sei es nun der Widerspruch zwischen Gebrauchs- und Tauschwert (Wert), der die begriffliche Analyse antreibe386. Diese Aufteilung wird jedoch von Dieter Wolf in Zweifel gezogen. Reichelt trenne den warenimmanenten Widerspruch (Wl) zwischen Gebrauchswert und Wert künstlich von dem zwischen dem Wert der in relativer Wertform und dem Gebrauchswert der in Äquivalentform stehenden Ware (W2) und ordne sie falsch den Darstellungsebenen von Kapitel 1 und 2 des Kapital zu. Er finde ersteren nur im zweiten, letzteren nur im ersten Kapitel und meine, es sei Widerspruch 2, der zum selbständigen Ausdruck des Werts treibe. Diese Behauptung aber stelle einen logischen Widerspruch dar, denn der warenimmanente (Wl) sei Grundlage für den zwischen den Polen des Wertausdrucks (W2) und dieser bereits die erste Lösungsform von jenem 387 . Reichelt stoße aber erst nach dieser Lösung, auf der Ebene des, wenn auch noch unzureichenden,

381 382 383 384 385 386 387

MEGA II/5, S. 43 (zitiert in Reichelt 1973, S. 156). Vgl. u.a. Rosdolsky 1968, S. 144; Zeleny 1973, S. 80f., 85. Vgl. Reichelt 1973, S. 139. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 159, 158, 159 (Hervorhebung von mir, I.E). Zitiert nach ebd. Vgl. ebd., S. 159f. Bereits die PEM 1973, S. 201 erkennt dies: „Was Reichelt [...] entgeht, ist, daß [...] die Wertform je schon auf dem Gegensatz Gebrauchswert und Wert beruht", dieser also nicht erst nach jener einzuführen sei.

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gegenständlichen Ausdrucks des Werts, „überhaupt [...] auf einen Widerspruch" 388 . Wolf zufolge bleibt der immanente Widerspruch (Wl) als Grundlage der einfachen Wertform zwar Fundament der weiteren Wertausdrücke, weil diese nur die entwickelten Formen der einfachen sind, unterscheide sich aber nichtsdestotrotz von dem die Wertformentwicklung antreibenden (W2). Der Widerspruch der einfachen Wertform bestehe nämlich nicht mehr zwischen dem Wert und Gebrauchswert der ersten Ware (der ja hier gerade seine Bewegungsform gefunden hat), sondern, wie Reichelt beschreibe, zwischen dem gesellschaftlichallgemeinen Charakter des Werts der ersten und dem ungesellschaftlich-besonderen Charakter des Gebrauchswerts der zweiten Ware389. Aber erst nachdem Widerspruch 1 als immanenter ,gelöst' sei, entstehe Widerspruch 2 als äußerer, was Reichelt nicht beachte. (IV) Eine Tendenz zur retrospektiven Idealisierung des ersten Buches von Reichelt liegt dagegen vor, wenn z.B. Kirchhoff u.a. auf dessen vermeintliche Kritik des Engelsschen Theorems von der .einfachen Warenproduktion' hinweisen 390 . In der Tat macht Reichelt, wie schon Rosdolsky, auf Marx' Bestimmung der einfachen Zirkulation als ,abstrakte Sphäre' des kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozesses aufmerksam: Nur im Kapitalismus ist demnach die Warenproduktion universelle Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels - die einfache Zirkulation setzt das kapitalistische Produktionsverhältnis voraus391. Die Darstellungsweise als logisch-begriffliche 392 ist im Fortgehen von der einfachen Zirkulation zum Produktionsverhältnis daher Aufweisung jener als Moment von diesem und Destruktion des harmonischen Scheins „vom Aufeinandertreffen freier und gleicher Individuen in der Sphäre der Zirkulation" 393 . Die dialektische Verschränktheit beider Ebenen impliziert weiterhin eine Kritik an der Projektion der Aneignungsgesetze des Warentauschs und des von ihnen produzierten Scheins der Aneignung durch eigene Arbeit in die Realität vorkapitalistischer Gesellschaftsformationen 394 . Ausgehend von diesem Verständnis der einfachen Zirkulation als Abstraktionsebene der Begriffsentwicklung bei Marx zeichnet Reichelt den - in den Grundrissen im Vergleich zum Kapital „geschmeidiger durchgeführten" 395 - Übergang vom Geld zum Kapital anhand der Mängel der Geldform nach. Hier lässt sich eine Präzisierung seiner Bestimmung der Kritik der politischen Ökonomie als Konstitutionstheorie der Formen entfremdeter Vergesellschaftung und ihrer charakteristischen Verdopplungen in Gestalt logisch-begrifflicher Erklärung der Verselbständigung gesellschaftlicher Synthesis hin zum

388 389 390

W o l f 1985a, S. 181. Vgl. ebd., S. 178. Kirchhoff u.a. 2004, S. 12.

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Reichelt 1973, S. 130.

392

Vgl. ebd., S. 227.

393

Ebd., S. 165. Vgl. auch S. 243.

394

Vgl. ebd., S. 129f., 166. Mit dieser Kritik, so lässt sich mit Backhaus (1997b) feststellen, trifft Marx nicht nur Locke und Smith, sondern auch implizit Engels' Modell .einfacher Warenproduktion'. Auch dieser übernimmt die politökonomische Konstruktion v o m unverfälschten' Wirken des Wertgesetzes gerade in vorkapitalistischen Epochen, betrachtet abstrakte Arbeit als empirisches Wertmaß und fasst Geld lediglich als technisches Instrument zur Erleichterung des Austausche.

395

Reichelt 1973, S. 244. Tatsächlich ist im Kapital Vgl. dazu Heinrich 1999, S. 253ff.

von einem Übergang nichts mehr zu vernehmen.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

realen Systemzusammenhang, dem Kapital als prozessierenden, ,sich selbst' erhaltenden Wert, erkennen396. Dennoch - und dazu findet sich weder bei Kirchhoff u.a. noch bei Backhaus397 oder gar in Reichelts Vorwort zur Neuauflage seines Buches398 auch nur eine einzige kritische Bemerkung - bleibt Zur logischen Struktur noch weitgehend der historizistischen Methodenorthodoxie verhaftet und verspielt oder verunklart damit zumindest die oben angedeuteten Einsichten: Reichelt spricht diffus von einer „eigenartigen Verschlingung von historischbeschreibender und immanent-genetischer Methode"399, ordnet dem logischen Übergang von entfalteter zu allgemeiner Wertform ein historisch-empirisches Korrelat zu400, konzediert Engels' historisierender Methodenreflexion eine, wenn auch nur „Annäherungsweise"401, Korrektheit, konfundiert Marx' Rede von der .wirklichen Bewegung, worin das Kapital wird' mit einem geschichtlichen Prozess402 und fallt letztlich, wie bereits das PKA 1971 anmerkt403, vollständig in die logisch-historische Parallelitätsthese zurück, der zufolge die Entfaltung der Kategorien in der Ökonomiekritik als „abstrakte Darstellungsform jenes Prozesses zu begreifen [ist], der historisch zum Kapitalismus fuhrt" 404 . Charakteristisch fur Reichelts Unklarheit hinsichtlich der Darstellungsweise ist seine eigenartige', weil widersprüchliche, Vermischung logischer und historischer Elemente. So weist er auf eine Kapital-Passage hin, in der Marx betont, man müsse eine der kapitalistischen vorausgehende Phase ,ursprünglicher Akkumulation' unterstellen, in der die Bedingungen der kapitalistischen Form des materiellen Reproduktionsprozesses allererst geschaffen würden, wenn man sich nicht in dem fehlerhaften Zirkel herumtreiben wolle, dass das Kapital sich selbst ursprünglich in die Welt gesetzt habe405. Dieser Reflexion auf die Grenzen dialektischer Darstellung der Kapitalbewegung setzt Reichelt aber unversehens die Bemerkung hinzu, die Voraussetzung der kapitalistischen Produktion, die Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln, werde von Marx „ebenfalls noch als Ergebnis der Kapitalbewegung beschrieben"406, womit er sich auf eine Stelle in den Grundrissen bezieht407. Von welchem Kapital hier die Rede ist, bleibt unklar. Peter Römer hat, obwohl sich selbst als orthodoxer Engelsist bekennend408, daher zu Recht darauf verwiesen, Reichelts These habe,

396

Vgl. Reichelt 1973, S. 244-249. Vgl. Backhaus 1997a. 398 Vgl. Reichelt 2001. 399 Reichelt 1973, S. 166. 400 Vgl. ebd., S. 167. 401 Ebd., S. 133. 402 Vgl. ebd., S. 136. Dies kritisieren Bader u.a. 1975, S. 78f (Fn.). 403 Vgl. PKA 1971, S. 96 404 Reichelt 1973, S. 136; vgl. auch S. 254. W.F. Haug dankt ihm das im HKWM mit einer positiven Erwähnung, vgl. Haug 2004a, Sp. 360. 405 Vgl. MEW 23, S. 741 (MEGA II/8, S. 667). 406 Reichelt 1973, S. 260. 407 Vgl. MEW 42, S. 177 (MEGA II/1.1, S. 175)(z.T. zitiert in Reichelt 1973, S. 135Í). 408 Vgl. Römer 1978, S. 146, 155 u.a. 397

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wörtlich genommen, den Glauben an eine „mystische Selbsterzeugung"409 des Kapitals zur Konsequenz. (V) Auch die einzige explizite Engels-Kritik in seinem Buch verbleibt in diesem Rahmen: Engels deutet Marx' Ausführungen zum Umschlag des Aneignungsgesetzes als historische Darstellung der Hervorbringung der kapitalistischen Produktionsweise aus den Gesetzen der einfachen Warenproduktion ohne jede unmittelbare Gewalt410. Reichelt kritisiert dies zu Recht als „groteske Entstellung" der Marxschen Gedanken. Was er aber an Engels tadelt, ist nicht die historizistische Deutung des Umschlags - im Gegenteil wiederholt er an dieser Stelle sein Bekenntnis zu genau dieser Interpretation - , sondern lediglich dessen „abstrakte Entgegensetzung von Gewalt und ökonomischer Autodynamik". Dabei konfundiert Reichelt selbst wiederum die fundamentale Differenz zwischen gewaltkonstituierten Klassenverhältnissen als äußere Historizität (die Marx im Kapitel über die sogenannte ursprüngliche Akkumulation klar getrennt von der Analyse der Bewegung des Kapitalismus auf seiner eigenen Grundlage beschreibt) und Reproduktion der gewaltbegründeten Trennungen (von unmittelbaren Produzenten und Produktionsmitteln) durch strukturellen Zwang als ,kontemporäre' Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise, wenn er als einziges Argument anzuführen weiß, auch im Kapitalismus werde die Arbeitskraft „wenn nötig, mit brutaler Gewalt"41 1 zur Produktion von Mehrwert veranlasst. Ein „Nachweis, daß Marxens Theorie der ,einfachen Zirkulation' von Engels als sogenannte Theorie der ,einfachen Warenproduktion' gänzlich missverstanden worden ist"412 ist das nicht. Reichelt liefert mit seiner theoriehistorisch bedeutsamen Schrift höchstens das Material zu einer solchen Einschätzung, zieht dort aber selber noch keineswegs die nämlichen Konsequenzen und ist sich über das Verhältnis von logischer und historischer Betrachtung im Kapital noch nicht im Klaren. Die hier dargebrachte Skizze hat gezeigt, dass die bundesrepublikanische neue MarxLektüre internationale Quellen, wie bestimmte Auffassungen des französischen strukturalen Marxismus, oder zumindest Vorreiter, wie Rubins Beiträge zur Werttheorie, besitzt. Der zentrale Strang, in dem sich zuerst grundlegend neue Lesarten der Marxschen Ökonomiekritik herausbilden, ist hinsichtlich der Bundesrepublik eindeutig der des frankfurter Marxismus' um Alfred Schmidt und die neue Generation um Hans-Georg Backhaus sowie Helmut Reichelt. Hier, wohl auch bedingt durch das unmittelbare Schülerverhältnis gegenüber Horkheimer und Adorno, sowie Theoretikern wie Karl-Heinz Haag, herrscht eine stark an Hegel orientierte Methoden- und Gegenstandsreflexion vor, die sich, wie die Konfrontation mit nachfolgenden Kritiken zeigte, bisweilen in das Fahrwasser problematischer Analogien begibt. Hier sei vor allem auf hypostasierende und identitätsphilosophische Konstruktionen hingewiesen, wie die vom Wert als Subjekt (Backhaus) oder die vom wörtlich zu nehmenden automatischen Subjekt Kapital (Reichelt). 409

Römer 1978, S. 146 (Fn.). Auch Ulrich Müller (1974, S. 281 sowie 1977, S. 138 (Fn.)) sieht bei Reichelt eine idealistische Tendenz am Werk, die „die automatischen Subjektqualitäten [des Kapitals] für bare Münze nimmt".

410

Vgl. Reichelt 1973, S. 257f. Alle Zitate: Ebd., S. 259.

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Backhaus 1997a, S. 31.

1.2 Logisch, historisch, dialektisch Abkehr vom methodologischen Traditionsbestand und Debatten um die Spezifik der Marxschen Methode 1.2.1. Grundzüge der Methodenorthodoxie und das Entstehen der Neo-Orthodoxie Ein methodologisches Gegenkonzept zur logisch-historischen Orthodoxie ist Anfang der 1970er Jahre in den Beiträgen der Frankfurter Traditionslinie einer neuen Marx-Lektüre nur in Ansätzen vorhanden. Im Folgenden soll die vornehmlich in den Jahren 1970-1977 stattfindende Ausarbeitung dieses, künftig als ,logisch-systematische Methode' prominent werdenden Konzepts exemplarisch nachgezeichnet werden, das sich vor allem - „mit zeitlicher Verzögerung gegenüber der Frankfurter Diskussion"1 - in Beiträgen aus Westberliner Kreisen findet. Bereits auf dem Kolloquium 100 Jahre , Kapital ' wird die Frage des Verhältnisses von .Kapital im allgemeinen' und ,vielen Kapitalien/ Konkurrenz' diskutiert, auch wenn sich, insbesondere bei Roman Rosdolsky, anfangs noch einige Unklarheiten diesbezüglich nachweisen lassen2. Die in den 1960er Jahren beginnende und in den 70ern ausufernde sogenannte Planänderungsdebatte behandelt dabei die Fragestellung, ob die von Marx in seinem ursprünglichen 6-Bücher-Plan der Kritik der politischen Ökonomie3 formulierte Unterscheidung zwischen Kapital im allgemeinen und Konkurrenz auch noch einen strukturierenden Einfluss auf die Kategorienentwicklung im Kapital hat. Hier lassen sich drei grundlegende Positionen unterscheiden: 1) Marx habe die Differenzierung implizit beibehalten, aber die prinzipielle Trennung beider Ebenen im Kapital aufgegeben4; 2) er habe die Trennung auch im Kapital im strikten Sinne beibehalten5. Später wird noch eine weitere Position vertreten: 3) er habe die Konzeption im Kapital aus sachlichen Gründen fallen gelassen6 und durch die Gliederung in individuelles Kapital und gesellschaftliches Gesamtkapital ersetzt7. Ganz

1

2

3 4 5 6 7

Hoff/ Petrioli/ Stützle/ Wolf 2006, S. 26. Allerdings ist diese zeitliche Verzögerung nur gering, wenn man die Jahreszahlen der Veröffentlichungen vergleicht, denn die ersten Berliner Interventionen beginnen bereits 1970, wenn auch nicht im Rahmen umfangreicherer Untersuchungen. Vgl. Bader u.a. 1970. Vgl. Rosdolsky 1968, S. 61, 70, wo noch nicht klar zwischen Konkurrenz und realhistorischer Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft sowie zwischen Kapital im allgemeinen und allgemeinem Begriff des Kapitals differenziert wird. Zur Kritik daran vgl. Schwarz 1974, S. 235. Vgl. dazu Rosdolsky 1968, S. 24, 27, 78. Vgl. ebd., S. 36, 73. Vgl. Schwarz 1974, S. 225, 229. Vgl. Heinrich 1999, S. 185-189, 192. Vgl. ebd., S. 192-195. Vgl. dazu auch Kocyba 1979, S. 123-125, wo noch einmal zwischen individuellem und Einzelkapital unterschieden wird. Ersteres bedeute die Betrachtung des Kapitals als

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unabhängig von diesen Differenzen sind sich die Vertreter dieser Debatte aber in der Regel darin einig, dass sowohl das .Kapital im allgemeinen' - als Bestimmungen der Reichtumsform Kapital im Unterschied zum bloßen Geld sowie unter Absehung der Eigenschaften, die ihm durch die Aktion der Einzelkapitale aufeinander zukommen8 - als auch die Konkurrenz, verstanden als gesetzmäßige Aktion der Einzelkapitale aufeinander, - Gegenstand der Ökonomiekritik als „allgemeine[...] Analyse des Kapitals"9, bzw. seines „idealen Durchschnitts]" 10 sind". Das begriffliche Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten im Kapital bewegt sich demnach vollständig innerhalb des allgemeinen Kapitalbegriffs, d.h. deijenigen Bestimmungen moderner Reichtumsformen, die begrifflich als dem Kapital konstitutiv zugehörige zu entwickeln sind, und hat nicht die empirische Oberfläche im Sinne der realhistorischen Situation einer bestimmten Gesellschaft oder Epoche innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformation zum Gegenstand. Was Marx als „außerhalb unsere Plans" liegend benennt, nämlich die „wirkliche Bewegung der Konkurrenz"12, bezieht sich auf empirische Marktprozesse, wie Prellerei, reale Lohnentwicklungen bestimmter Länder oder Branchen13 oder „lokale Hindemisse" zur Herausbildung einer Durchschnittsprofitrate14. Im Kapital, so kann diese Diskussion resümiert werden, wird also ein allgemeiner Begriff des Kapitals entwickelt, der „neben der Darstellung des Wesens der kapitalistischen Produktionsweise", der empirisch nicht erfassbaren gesetzmäßigen Zusammenhänge, „auch die Darstellung der notwendigen Erscheinungsformen dieses Wesens [...], d.h. der Konkurrenz als allgemeiner"15 enthält. Gegenstand „sind die wesentlichen Bestimmungen des Kapitalismus, das, was bei aller historischen Veränderung gleich bleiben muss, damit wir überhaupt von Kapitalismus' sprechen können"16. Dazu gehören sowohl das kemstrukturelle Klassenverhältnis als auch die Bildung einer Durchschnittsprofitrate mittels Konkurrenz oder die verkehrten Erscheinungsformen der nichtempirischen Wesensbestimmungen im Geld-, Kapital- oder Zinsfetisch. Ein bestimmter Typus der /uj/»ta/-Rezeption vermische nun genau diese notwendigen Erscheinungsformen, bzw. diese .Oberfläche' der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem idealen Durchschnitt, mit realhistorischen Bestimmungen einer spezifischen Epoche. Die Diskussion um den Gegenstand des Kapital, die auch in der Orthodoxie gefuhrt wird und als eher unverfänglich und philologisch gilt, geht damit in die Zurückweisung zentraler

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„ungeteilte Einzelentität" (ebd., S. 124) unabhängig von seiner arbeitsteiligen Funktion im Gesamtreproduktionsprozess, während letzteres ein Element des als Vielheit von Einzelkapitalien begriffen Gesamtkapitals sei. Vgl. Rosdolsky 1968, S. 65. MEW 25, S. 245 (MEGA II/4.2, S. 305). Ebd., S. 839 (II/4.2, S. 853) (auch wenn der Begriff Durchschnitt als statistische Größe verstanden werden könnte, was hier nicht gemeint ist). Vgl. Schwarz 1974, S. 230, 234, Ebbinghausen/ Winkelmann 1974, S. 32f., Jordan 1974a, S. 139, 141. Beide Zitate: MEW 25, S. 839 (MEGA II/4.2, S. 853). Vgl. ebd., S. 245 (II/4.2, S. 305). Vgl. ebd., S. 152 (II/4.2, S. 215). Ebbinghausen/Winkelmann 1974, S. 32. Heinrich 2004a, S. 28f.

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methodologischer und objekttheoretischer Annahmen des bisherigen Marx-Verständnisses über. Diese Annahmen werden im Jahre 1970, in einer Rezension von Ernest Mandéis Buch Marxistische Wirtschaftstheorie', von einem Autorenkollektiv um Veit Michael Bader und Joachim BischofT schon deutlicher attackiert. Mandel versucht in seinem umfangreichen Werk u.a. die Engelssche Theorie einer einfachen Warenproduktion mit Hilfe ethnologischer Fakten zu stützen. Dagegen konstatieren Bader u.a., dass Mandel Jm Gegensatz zu Marx die sich aus der logischen Analyse von Tauschbeziehungen ergebenden Widersprüche historisch ableiten will". Sie kritisieren Mandéis Ausgang von einer „unmittelbaren Identität von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte" als „Unfähigkeit, methodische Abstraktionen zum Zweck der Untersuchung einzelner Momente aufrechtzuerhalten", als empiristisches ,,Kleben[...] an der Erscheinung"17, was auch Konsequenzen fur seine Geldtheorie zeitige, die als bloß historische Entwicklung des Zusammenhangs von Ware und Geld „nicht über die Positionen bürgerlicher Ökonomie hinaus"18 gelange. Diese Hinweise auf einen Gegensatz von historizistischem Methoden- bzw. Gegenstandsverständnis und der Marxschen .logischen' Entwicklung mittels Abstraktionsstufen gelangt aber seinerseits nicht über das Stadium von Andeutungen hinaus. 1972 werden die orthodoxen Kernaussagen bezüglich der Marxschen Darstellung der Werttheorie, allerdings lediglich in Gestalt von Lenins Verständnis der Ökonomiekritik, vom Westberliner Projekt Klassenanalyse um Joachim Bischoff einer ausfuhrlicheren Kritik unterzogen. Lenin begreift demnach das Kapital von Marx generell als Werk, das es sich zur Aufgabe macht, einen historischen Prozess, die kapitalistische Produktionsweise „in ihrer Entstehung, ihrer Entwicklung und ihrem Verfall"19 nachzuzeichnen. Dabei finden sich sämtliche Topoi des traditionsmarxistischen Historizismus und Empirismus: Marx beginne seine Darstellung mit einem empirischen, „milliardenfach zu beobachtende[n] Verhältnis'''20, dem Warentausch. Die daran anschließende Wertformanalyse habe „die Entstehung der Geldform des Wertes, die Untersuchung des historischen Prozesses der Entwicklung des Austausches, von den einzelnen, zufälligen Tauschakten (»einfache, einzelne oder zufällige Wertform' [...]) bis zur allgemeinen Wertform" 21 zum Gegenstand und gebe hinter ihrer „rein deduktive[n] Form der Darstellung [...] ein gewaltiges Tatsachenmaterial zur Entstehungsgeschichte des Austausches"22 wieder. Die einfache Zirkulation erscheint als Modell der Epoche einfacher Warenproduktion23. Der Umschlag des Aneignungsgesetzes wird als historisches Geschehen der Veränderung dieser einfachen in die kapitalistische Warenproduktion gedeutet24. Die gesamte Theorie des Kapitals von Marx bewege sich Lenin zufolge

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Zitate der Reihenfolge nach: Bader u.a. 1970, S. 219 (Hervorhebung von mir, I.E.), 221, 222. Ebd., S. 219. Vgl. auch bereits Müller 1969a, S. 76. Lenin 1960b, S. 48. Vgl. auch Lenin 1965a, S. 7: „Von der ersten Anfangen der Warenwirtschaft, vom einfachen Austausch an, verfolgte Marx die Entwicklung des Kapitalismus bis zu seinen höchsten Formen, bis zur Großproduktion" (zitiert in PKA 1972, S. 371). Lenin 1962, S. 346 (zitiert in PKA 1972, S. 357). Lenin 1960b, S. 49 (zitiert in PKA 1972, S. 362Í). Lenin 1960b, S. 50 (zitiert in PKA 1972, S. 364). Vgl. Lenin 1963d, S. 84f. Vgl. Lenin 1956, S. 356.

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schließlich auf der Erscheinungsebene. Wesenskategorien, wie die des Wertes, würden lediglich als statistische Durchschnittsbestimmungen empirischer Prozesse gefasst 25 . Wenn nach Lenin Marx' Kritik der politischen Ökonomie lediglich eine empirische Generalisierung bestimmter Erscheinungsformen historischer Epochen enthält26, wird die reine Darstellung des Kapitalismus als Darstellung des reinen Kapitalismus verstanden 27 . Das Kapital weise in dieser Lesart eine Darstellung zweier historischer Prozesse auf: Des Prozesses der Entstehung des Kapitalismus aus der einfachen Warenproduktion 28 sowie der Entfaltung des Kapitalismus von seinen „primitiven Formen, der einfachen Kooperation und der Manufaktur" 29 bis hin zur großen Industrie. Das Kapital könne dann aber auch nur „Darstellung des historischen Entwicklungsprozesses des Kapitalismus bis zu einem bestimmten Entwicklungsgrad" 30 sein, nämlich des Kapitalismus der freien Konkurrenz' 31 . Neue Erscheinungsformen verlangen daher eine neue Theorie der aktuellen Epoche des Kapitalismus, die Lenin ,Imperialismus' 32 , resp. Monopolkapitalismus' oder gar staatsmonopolistischer Kapitalismus' nennt und die eine grundlegende Revision der Marxschen Kategorien hin zu einer Theorie unmittelbar gewaltförmiger Herrschaft und Aneignung enthält. Die Kritik an den methodologischen Historisierungen der Darstellungsweise des Kapital ist hier bereits deutlich zu vernehmen, auch wenn dieser Aspekt noch eher kursorisch abgehandelt wird und sich die Debatte in Richtung staatstheoretischer Fragestellungen bewegt. Eine breitere Diskussion dieses Beitrags hinsichtlich des methodischen Aspekts der Marxschen Ökonomiekritik ist denn auch nicht zu verzeichnen. Die Debatte um ,Logisches oder Historisches in der Marxschen Darstellungsweise' wird erst durch einen Rettungsversuch der Orthodoxie aus dem Jahre 1974 richtig ins Rollen gebracht33. Klaus Holzkamps Aufsatz entfaltet ausfuhrlich die Grundpositionen der tradi-

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33

„Daß beliebige .Empiriker' den Durchschnittspreis in der Weise bestimmen, daß sie die Warenmasse nehmen und ihren Gesamtpreis durch die Zahl der Wareneinheiten dividieren- das ist [...] eine Tatsache. Die Statistik [...] zeigt uns auf Schritt und Tritt die Anwendung der von Marx benutzten Methode" (Lenin 1965b, S. 189f. (zitiert in PKA 1972, S. 354)). Diesen Kurzschluss von Abstraktionsbegriff und empirischen Durchschnittsbestimmungen findet man häufig im traditionellen Marxismus, so z.B. auch bei Tuchscheerer 1968, S. 124. Vgl. PKA 1972, S. 80, vgl. auch Jordan 1974b, S. 216. Vgl. Jordan 1974a, S. 141. Vgl. Lenin 1963e, S. 132. Lenin 1963c, S. 515 (zitiert in PKA 1972, S. 75). PKA 1972, S. 80. Vgl. Wirth 1973, S. 24. Der Grundzug dieser neuen Formation des Kapitalismus besteht Lenin zufolge in der „Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol" (Lenin 1960e, S. 102), der ,,alte[n] freiefn] Konkurrenz zersplitterter Unternehmer, die nichts voneinander wissen und für den Absatz auf unbekanntem Markte produzieren" (Lenin 1960f, S. 209) durch ,,ein[en] einizige[n] kollektive[n] Kapitalist[en]" (ebd., S. 218). „Nachdem die ältere Orthodoxie es vorgezogen hatte, die Ketzereien der neoorthodoxen Richtung jahrelang zu ignorieren, setzt sich hier erstmals einer ihrer Vertreter mit der ärgerlichen Behauptung auseinander, einige Klassiker des Marxismus-Leninismus, Engels und Lenin, hätten in gravieren-

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tionsmarxistischen Lesart der Marxschen Darstellung. Sein Text ist eine Reaktion auf die Herausforderung seitens der .logischen' Lesart in Gestalt der Bücher von Joachim Bischoff sowie der Projektgruppe Entwicklung des Marxschen Systems (PEM) aus dem Voijahr 34 . Holzkamps Konstruktion einer .logisch-historischen' dialektischen Methode nimmt ihren Ausgang von einer Interpretation der Engels-Rezension von 1859. Auf durchaus plausible Weise identifiziert er zwei Bedeutungen des Wortes .historisch' im Engelsschen Text. Wenn dieser sage, die Kritik der politischen Ökonomie könne auf zweierlei Weise, historisch oder logisch, angelegt werden, Marx entscheide sich für die logische, die aber „nichts andres als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten" 35 sei, so spreche Engels einmal von einer Historiographie realhistorischer Entwicklungen und ein anderes Mal von der Erstellung eines abstrakten Modells historischer Entwicklungslinien 36 . Ersteres wird als ,realhistorische', letzteres als ,logisch-historische' Dimension wissenschaftlicher Forschung und Darstellung bezeichnet. Holzkamp differenziert nun weiter drei entscheidende Funktionen 37 der seiner Ansicht nach „historischefn] Methode des wissenschaftlichen Sozialismus" 38 : 1) Die Darstellungsweise im Kapital als ,logisch-historische' Nachzeichnung der Entwicklungs/og«& eines realhistorischen Verlaufs. 2) Die Funktion realhistorischer Analysen bei der Klärung vergangener Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise. 3) Die Funktion realhistorischer Analysen als Beleg und Illustration der logischhistorischen Darstellung sowie als Ableitungsgrundlage der Forschung. Die Entwicklungslogik steht am Ende des Forschungsprozesses als eine empirische Generalisierung 39 , wobei Holzkamp forschungstechnisch von einer Wechselwirkung zwischen einem Vorverständnis der Gegenwart und der historischen Analyse der zu dieser führenden Entwicklungslogik ausgeht 40 . Aufgabe dialektischer Erklärung sei es dann, „das Wesen jeder konkreten Erscheinung durch Enthüllung ihrer Geschichte zu begreifen". Eine solche Erklärung könne - als Darstellung der Forschungsresultate - aber weitgehend von den berühmten ,störenden Zufälligkeiten', die hier „Gegebenheitszufälle" 41 genannt werden, abstrahieren. Hier dienen realhistorische Analysen nur noch als Illustration bzw. Beleg für das

34

35 36 37 38 39 40 41

den Punkten das Kapital und somit die .Methode des wissenschaftlichen Sozialismus' falsch verstanden" (Backhaus 1997e, S. 213). Bischoff 1973, PEM 1973. Der im Rahmen dieser Arbeit interessantere Beitrag der PEM wird im Zuge des Kapitels 1.3.2 ausführlicher gewürdigt. Ebenfalls in diesem Kontext wird die - bei Holzkamp nur angedeutete - traditionelle Einschätzung des Verhältnisses von erstem und zweitem Kapitel des Kapital anhand der Überlegungen Jindrich Zelenys behandelt und die logisch-historische Lesart wie deren Kritik dabei präzisiert. MEW 13, S. 475 (MEGA II/2, S. 253). Holzkamp 1974, S. 11. Vgl. ebd., S. 21. Ebd., S. 1. Vgl. ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 16. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 72, 34.

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historische Modell, nicht mehr als empirische .Ableitungsgrundlage" 42 . Davon zu unterscheiden ist noch die unter 2) gefasste Funktion, die die Grenzen der als logisch-historisch unterstellten Darstellung anzeigen soll. Darunter sei alles subsumierbar, was in der „entwicklungsnotwendigen Progression" nicht aufgehe, nämlich kontingente historische Akteure, Verläufe oder Fakten, wie die ursprüngliche Akkumulation in England, die Verbindung der Äquivalentfiinktion mit Gold und Silber usw. Gegenstand von Holzkamps Polemik ist nun die Bischoff -/ PEM-These einer .logischen' Darstellungsform im Kapital - gefasst als Strukturuntersuchung der ,kontemporären Geschichte' der kapitalistischen Produktionsweise. Sein Text ist dabei zu lesen als (unfreiwilliger) Detektor für Inkonsistenzen der BischofFschen Variante einer logischen Deutung, für dessen Verschleierung von Differenzen zwischen Marx und Engels sowie für historizistische Popularisierungen seitens Marx selbst. Bischoffs gewaltsame Uminterpretation von Engels' historisierender Methodenreflexion der Ökonomiekritik wird von Holzkamp allerdings mit einer nicht minder gewaltsamen Umdeutung der Marxschen logischen Konzeption beantwortet. Die Kontroverse zwischen Holzkamp und Bischoff zeugt damit von den dogmatischen Schranken dieser Debatte und auch der neuen Marx-Lektüre in diesem frühen Stadium. Das gemeinsame Dogma beider Seiten ist die Behauptung einer Identität zwischen Marx und Engels hinsichtlich ihres Methoden- und Gegenstandsverständnisses. Holzkamp erwähnt nun zu Recht, dass die Konsequenz von Bischoffs logischer Marx-Deutung „eine radikale Engels-Kritik? sein müsste, da damit „das Gegenteil ausgesagt wird, was im Text von Engels steht"43. Bischoff versucht aber argumentationslogisch diffus und widersprüchlich, Engels' Rezension als von historizistischer Seite „missverstanden^.,]" 44 auszuweisen. Auch die Behauptung, historische Passagen im Kapital hätten lediglich die Funktion einer Illustration der begrifflichen Ableitung45 wird von Holzkamp als unsinnig abgelehnt. Denn wie solle etwas Nicht-Historisches, Nicht-Empirisches historisch veranschaulicht werden? In der Tat scheint im Engels-Paradigma allein die Rede von einer historischen Illustration des Logischen sinnvoll - und zwar als beispielhafte Konkretisierung eines historischempirischen Modells. Dabei sind beide Operationen auf derselben Theorieebene angesiedelt, sie thematisieren also einen weitgehend empirisch konstatierbaren Prozess, nur eben auf verschiedenen Abstraktionslevels: Einmal als Beschreibung eines spezifischen Prozesses, dann als abstrahiertes, pointiertes und idealisiertes Modell historischer Verläufe und Zusammenhänge 46 .

42

43 44 45 46

Ebd., S. 38. Dieser Terminus legt wiederum ein rein induktives Verfahren der Forschungslogik nahe, während der Begriff des Vorverständnisses i.S. eines hypothetisch-deduktiven oder probabilistischen Verfahrens gedeutet werden könnte. Auf wissenschaftstheoretische Fragen dieser Art geht Holzkamp nicht ein. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 39, 6. Bischoff 1973, S. 110. Vgl. PEM, S. 179. Vgl. Holzkamp 1974, S. 35f. Damit begibt sich das logisch-historische Modell in die Nähe des Weberschen Idealtypus, was z.B. Simon-Schaefer (1973, S. 102) anhand der Darstellung der ,strukturell-genetischen' Methode bei Zeleny richtig bemerkt, aber als korrekte Beschreibung des Marxschen Vorgehens missversteht (vgl. auch noch Simon-Schaefer 1994, S. 200f.).

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Holzkamps Reinterpretation von Marx als Historizist kann sich auf keinen einzigen philologischen Nachweis in dessen metatheoretischen Reflexionen stützen47, weshalb er eine simple ,Übersetzung' von Marxschen Konzepten vornimmt: die logischen heißen nun ,logisch-historisch', die historischen ,realhistorisch'. Aussagen, die dem klar entgegenstehen, werden schlicht ignoriert, etwa die Gegenüberstellung von Werden und Dasein des Kapitalismus und die Bestimmung des letzteren als Gegenstand der Ökonomiekritik 48 . Oder es wird unterstellt, dass diese Aussagen gar nicht dieselben Gegenstände betreffen wie Engels' Thesen 49 . Da Holzkamp aber nicht methodologische Selbstthematisierungen, sondern die wirkliche Vorgehensweise Marx' bei der Analyse des Gegenstands zur Hauptquelle seiner Rekonstruktion machen will50, ergeben sich für seine historizistisch-empiristische Deutung am Beispiel der Wertformanalyse vier Anhaltspunkte, wobei einer als zutreffend, die anderen als fingiert zu betrachten sind: 1) Holzkamp macht sich die Ambiguität der Worte ,Entwicklung', ,Genesis' und Fortschritt' zunutze und deutet jede Verwendung dieser Worte im Rahmen der Wertformanalyse umstandslos als Beleg fur eine historisierende Lesart. Die Entwicklung' der Wertformen ist so in einen geschichtlichen Prozess, respektive dessen idealisierende Nachzeichnung, verwandelt. 2) Des Weiteren werden tatsächliche handlungstheoretische Aspekte der Darstellung der Geldgenese als Bestätigung herangezogen. Nach Holzkamps (falschem) Verständnis sind solche Aussagen nämlich nicht sinnvoll in den Kontext einer ,logischen' Ableitung integrierbar. Er konfundiert dabei einerseits handlungstheoretische Aussagen mit dem realen, außertheoretischen Prozess 51 , zum anderen gilt ihm das zweite Kapitel des Kapital als bloße „Erweiterung der Ableitung des Geldes" 52 , wobei die Erweiterung' in deren niedrigerem Abstraktionsgrad bestehen soll53. Schließlich zeigt seine Behauptung, eine logischbegriffliche Ableitung des Geldes aus dem allgemeinen Äquivalent sei unmöglich 54 , dass er die Argumentation der PEM nicht ansatzweise begriffen hat. Genau diese Feststellung ist nämlich, wie an anderer Stelle auszuführen ist, der Clou von deren Darstellung der qualitativen Differenz der ersten beiden Kapitel des Kapital. Allerdings bestreitet Holzkamp, anders als die PEM, auch der Bewegung von Form I zu Form III in der Wertformanalyse jegliche logische Notwendig- oder Begründbarkeit. 3) Es werden von Marx tatsächlich zu Unrecht in die Wertformanalyse eingefugte historische Aussagen, z.B. über den Prozess der Genese des Goldes zur bevorzugten Geldware, als Gegenargumente gegen eine logische Betrachtung der , Genesis der Geldform' ins Feld geführt 55 .

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54 55

Vgl. Holzkamp 1974, S. 12f. Vgl. MEW 42, S. 372ff. (MEGA II/1.2, S. 368ff.). Vgl. Holzkamp 1974, S. 17f. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 27 Fn. Ebd., S. 30; vgl. auch S. 39. Vgl. dazu die Behandlung Zelenys sowie der Kritik an seiner Position seitens der PEM in Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit. Vgl. ebd., S. 27f. Vgl. ebd., S. 29f. Auch zu dieser Einfügung Marx' vgl. Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit.

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4) Konnte sich Holzkamp schon in Punkt 3) auf eine Popularisierung der Marxschen Darstellung in der Zweitauflage des Kapital stützen, die von ihm aber weder als solche kenntlich gemacht werden kann noch wirklich im Widerspruch zum Erklärungsanspruch einer logisch-systematischen Darstellung der Genesis der Geldform steht, so bezieht er sich in einem letzten Schritt auf tatsächliche Historisierungen der Wertformanalyse seitens Marx 56 . Holzkamp spürt damit fehlerhafte Popularisierungen auf, die von der PEM noch überlesen werden, von ihm aber nicht als solche begriffen werden können, sondern ihm als Belege für sein Marx=Engels-Dogma dienen. Bezeichnenderweise gelingt es Holzkamp, seinem Ansatz fundamental widersprechende Aussagen von Marx zugleich (mit-) zu zitieren und zu überlesen57. Holzkamp begreift die Notwendigkeit des Zusammenhangs ökonomischer Formen - hier von Ware, einfacher, entfalteter, allgemeiner Wertform und Geld - als „materielle Entwicklungsnotwendigkeit" 58 , d.h. als Logik eines historischen Werdens komplexer aus einfachen Formen aufgrund der Bewältigung systematisch induzierter, pragmatischer Problemlagen. Die Mängel der Wertformen werden als praktische Vergesellschaftungsprobleme eines vergangenen, einfachen Tauschhandels 59 begriffen, die sich als .Not' 60 darstellen, die eine ,Wendung' verlangt, also die bewusste Problemlösung aufgrund ebenso bewusster Einsicht in die besagten Probleme. Die ,Not-Wendigkeit' der Entwicklung' ist weder als eine logischer Implikationen von Begriffen noch als historische Kausalreihe im Sinne deterministischer Gesetze gefasst, sondern als praktische Notwendigkeit eines empirischen ökonomischen Vergesellschaftungsproblems, das nur durch das bewusste Erkennen und Handeln seitens der Akteure gelöst werden kann, aber nicht muss6] - nämlich durch Einfuhrung, ja Erfindung einer ,höheren' ökonomischen Form. Eine bewusstlose, wenngleich bewusstseinsvermittelte, Konstitution von Reichtumsformen durch gesellschaftliche Praxis ist in Holzkamps Ansatz somit konzeptionell ausgeschlossen, denn eine einsichts- und bewusstlose Praxis verfehlt die anstehenden Problemlagen und deren Lösungen mittels komplexerer 56

Vgl. MEW 23, S. 80 (MEGA II/6, S. 97), wo Marx von einer tatsächlichen historischen Existenz der einfachen und entfalteten Wertform spricht und S. 102 (II/6, S. 116), wo er ein .Bedürfnis' einführt, das zur Grundlage der äußerlichen Darstellung des der Ware immanenten Gegensatzes von Gebrauchswert und Wert wird.

57

Vgl. Holzkamp 1974, S. 29f. So z.B. der Satz: „Ein Verkehr, worin Warenbesitzer ihre eignen Artikel mit verschiednen andren Artikeln austauschen, und vergleichen, findet niemals statt, ohne daß verschiedne Waren von verschiednen Warenbesitzern innerhalb ihres Verkehrs mit einer und derselben dritten Warenart ausgetauscht und als Werte verglichen werden" (MEW 23, S. 103) (MEGA II/5, S. 55). Oder: „Erst diese Form [das allgemeine Äquivalent] bezieht daher wirklich die Waren aufeinander als Werte oder läßt sie einander als Tauschwerte erscheinen" (23, S. 80) (ΙΙ/6, S. 97).

58

Holzkamp 1974, S. 31. Vgl. ebd., S. 18f„ 31. Den Motor der Entwicklung von Reichtumsformen in der Wertformanalyse, die von ihm ebenfalls empirisch-historisch begriffen wird, identifiziert W.F. Haug (1989, S. 148) denn auch im „Lebensinteresse" der Akteure. Die Übergänge zwischen den Wertformen sieht er durch das „Unpraktische, Disfunktionale einer Form, die den Tauschinteressen im Wege steht" (Haug 2001a, Sp. 266) bedingt.

59 60

61

Vgl. Holzkamp 1974, S. 33.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Formen62. Ein ,Handeln, bevor sie gedacht haben' (Marx), ja die gesamte Fetischismusproblematik, ist damit aus dem ,logisch-historischen' Konstrukt dialektischer Darstellung ausgeblendet - diese Fragen sind Holzkamp in der Tat nicht eine Erwähnung wert. Dialektik ist demnach nichts als eine historische Kausalanalyse auf hohem, teilweise idealtypischem Abstraktionsniveau, deren Kategorien allesamt empirischer Natur sind. Eine nichtempirische Theorieebene ist Holzkamp gleichbedeutend mit einem „wirklichkeitsentbundene[n], selbstgenügsame[n] [...] Gedankenspiel"63. Derart verkehrt sich der Begriff des Wesens hinsichtlich seines epistemologischen Status in den der Erscheinungsform - alle ökonomischen Sachverhalte sind den Akteuren offen zutage liegende, mittels historischempirischer Betrachtung aufzuspürende. Ihre Differenz besteht allein darin, dass das Wesen einen vergangenen und in der aus ihm resultierenden Gegenwart vergessenen empirischen Zusammenhang meint64. Dialektik wird so, im Anschluss an Lenin, zur inhaltsreicheren Entwicklungslehre65. Konsequenz dessen ist, worauf im bundesrepublikanischen Diskurs erst Hans-Georg Backhaus hinweisen wird, ein empiristisches Verständnis der Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie und eine prämonetäre Werttheorie, die nicht nur die ,Einfuhrung' des Geldes, sondern aller ökonomischen Formen nach dem Muster des ,pfiffig ausgedachten Auskunftsmittels', ja nach dem Modell emanzipatorischer, konsensualer und bewusster Praxis66 denkt. Die Waren und ihre Wertformen existierten isoliert und zeitlich vorgängig vor dem Geld in spezifischen Stufen geschichtlicher Entwicklung. Ihr Zusammenhang ist nur einer der historischen Aufeinanderfolge, der allein vom einsichtsvollen Handeln der Akteure hergestellt werden konnte, also äußerlich und kontingent ist. Die Kritik der politischen Ökonomie generiert nach Holzkamp also aus historisch-empirischer Forschung handlungstheoretische Problemlösungsmodelle. Schließlich müssen auf methodologischer Ebene die von Marx angeführten Grenzen dialektischer Darstellung dabei vom Ansatz her verfehlt werden. Im Gegensatz zu Holzkamp spricht Marx, wie schon Alfred Schmidt zeigen konnte67, nicht von Kontingenz als Grenze einer idealisierten Darstellung historischer Entwicklungen, sondern von der Grenze der Systematizität des Gegenstands als Grenze dialektischer Darstellung. Stößt die Selbstreproduktivität der untersuchten Produktionsweise an ihre Grenze - an die nicht selbstgesetzten Voraussetzungen - so muss die historische Betrachtung hereintreten, um deren Genese nachzuzeichnen und nicht in einen fehlerhaften Zirkel (Erklärung der ursprünglichen Entstehung des Kapitals aus dem Kapital) zu

62

Vgl. Holzkamp 1974, S. 33f.: „Die gesellschaftliche Praxis kann einerseits durch die Einsicht in gesellschaftliche Notwendigkeiten geleitet, damit bewußte Erfüllung der objektiven Entwicklungsmöglichkeiten einer bestimmten historischen Stufe sein; insoweit ist sie Träger der Verwirklichung der gesellschaftlich notwendigen ' Entwicklung-, gesellschaftliche Praxis kann aber auch gegenüber den gesellschaftlichen Entwicklungsnotwendigkeiten einsichtslos und bewußtlos verlaufen, damit die gesellschaftlichen Entwicklungsnotwendigkeiten verfehlen; insoweit werden die gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten nicht zur historischen Wirklichkeit.

63

Ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. Vgl. ebd., S. Vgl. ebd., S. Vgl. Kapitel

64 65 66 67

63, 72. 58. 66. 1.1 dieser Arbeit.

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verfallen68. Die Kenntnis der Genese ist aber weder Voraussetzung zum Verständnis des gewordenen Kapitals, wie Marx klar betont69, noch ist sie, auch nicht in noch so abstrahierter Form, Gegenstand der logisch-systematischen Darstellung. Dieser ist der .Syste/wZusammenhang der „gewordnen, auf ihrer eignen Grundlage sich bewegenden bürgerlichen Gesellschaft"70. Die Antwort des Projekts Klassenanalyse (PKA)71 auf Holzkamps Thesen erfolgt noch im selben Jahr. Dabei soll an dieser Stelle vom leninistischen Stil der Polemik wie vom kruden, bereits von Holzkamp zu Recht bemängelten72, Determinismus des PKA in Gestalt von Reflextheorie und Geschichtsphilosophie, abgesehen werden. Dies wird uns im dritten Teil dieser Untersuchung, der die revolutionstheoretischen Positionen der neuen Marx-Lektüre behandelt, noch beschäftigen. Doch auch im Kontext der hier interessierenden Thematik sind einige Bemerkungen zur argumentativen Vorgehensweise der diversen Projektgruppen um Joachim Bischoff angebracht, die eine Arbeit an der Marx-Rekonstruktion „im Milieu der Abgrenzung"73 exemplifizieren. Charakteristisch für diese ist nämlich eine, wie HansGeorg Backhaus es nennen wird, lutheranische74 Auffassung von Marx-Rekonstruktion. Wenn Bischoff das Nach-Denken der Marxschen Gedanken als Aufgabe seiner Bemühungen postuliert75, so steckt darin zunächst eine neo-orthodoxe Ausblendung der bisherigen Rezeptionsgeschichte. Bischoff et al gehen vor, als müsse man nur endlich ,lesen, was da steht', um eine .logische' Deutung der Ökonomiekritik zu generieren, denn ,die Schrift' gilt als eindeutig, einheitlich und verständlich. Es wird - trotz einiger Ansätze zur Erkenntnis von Popularisierungen bei Marx 76 - nicht einmal versucht, die Gründe und Ursachen der bis dato vorherrschenden Lesart zu ermitteln. Stattdessen werden nichtssagende äußerliche Zuordnungen von theoretischen Positionen zu verwerflichen .kleinbürgerlichen' Klassenstandpunkten praktiziert. Bezeichnend dafür ist einerseits die ohne jeden Anflug einer Erklä-

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Die Grenzen dialektischer Darstellung thematisiert Marx an vier Stellen, wobei v.a. die, das 24. Kapitel zur sog. ursprünglichen Akkumulation einleitende, Stelle im Kapital gerne übersehen wird: MEW 23, S. 741 (MEGA II/8, S. 667); MEGA II/2, S. 91; 42, S. 43 und S. 373 (II/l.l, S. 43; II/1.2, S. 369).

69

Vgl. MEW 42, S. 373 (MEGA II/1.2, S. 369): „zeigt unsere Methode die Punkte, wo die historische Betrachtung hereintreten muß oder w o die bürgerliche Produktionsweise als bloß historische Gestalt des Produktionsprozesses über sich hinausweist auf frühre historische Weisen der Produktion. Es ist daher nicht nötig, um die Gesetze der bürgerlichen Ökonomie zu entwickeln, die wirkliche Geschichte der Produktionsverhältnisse zu schreiben. Aber die richtige Anschauung und Deduktion derselben als selbst historisch gewordner Verhältnisse fuhrt immer auf erste Gleichungen [...], die auf eine hinter diesem System liegende Vergangenheit hinweisen".

70

Ebd., S. 178 (II/1.1. S. 175). Das PKA ist mit dem PEM nahezu personalidentisch. Vgl. Holzkamp 1974, S. 49, 53ff. Kallscheuer 1986, S. 229. Backhaus 1997e, S. 208. Vgl. Bischoff 1973, S. 22. Vgl. PEM 1973, S. 161. Diese Position wird allerdings vom PKA 1974 wieder stillschweigend zurückgenommen. Vgl. dazu Teil 1.3.2 dieser Arbeit.

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rung auskommende Zurückweisung der zutreffenden Kritik Holzkamps 77 an Bischoffs Konfundierung von Genesis- und Geltungsbegründung des wissenschaftlichen Sozialismus 78 : Das Fehlen eigener Argumente wird mit ätzender Polemik und dem Hinweis auf einen idealistischen Genie-Kult als vermeintliche Konsequenz der Forderung eigenständiger wissenschaftlicher Geltungsreflexionen kaschiert. Zum anderen wird Holzkamps Nachweis der Inkompatibilität von Engels' Rezension zur .Kritik' mit einer logischen Methodenreflexion keine Beachtung geschenkt. Hier verhindern schlicht Glaubensfragen eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Marxschen und Engelsschen Werk. Obwohl das PKA, wie gezeigt, bereits 1972 eine ausfuhrliche Kritik an Lenins historizistischer Deutung des Kapital vorbringt 79 , wird hier peinlichst jeder Hinweis auf die Engelsschen Quellen des Leninschen Marx-Verständnisses vermieden. Letztlich wird auch das Nach-Denken der Marxschen Argumentation allzu oft durch ein unkommentiertes Nacherzählen ersetzt. So werden ausgiebig Marx-Zitate in die theoretische Erörterung eingebaut, ohne sie als Zitate kenntlich zu machen oder die Marxsche Orthographie des 19. Jahrhunderts wird einfach übernommen - alles in allem eine ganz besondere Form der hermeneutischen ,Auslöschung des eigenen Selbst', die zutreffend als ,,schlichte[...] Ineinssetzung von Theorie, Philosophie und Philologie" 80 beschrieben worden ist. Trotz der reduktionistischen Erzählung über den Verrat am proletarischen Klassenstandpunkt - die allerdings auch der Gegner Klaus Holzkamp so gut beherrscht 81 , als ginge es darum, sich vor einem unsichtbaren Politbüro zu rechtfertigen - weist das PKA zunächst auch auf reale politische Implikationen der historizistischen Lesart hin: Wird demnach die Reihenfolge der Kategorien im Kapital als historische verstanden, so gilt der erste Band als bloße Darstellung der Epoche des Kapitalismus der freien Konkurrenz, der eine Epoche der Monopole folgen soll, die Konkurrenz durch Planung und Marktmacht ersetzt82. Dies zeitigt insbesondere hinsichtlich der Einschätzung moderner Staatlichkeit, ihrer Machtstruktur und Interventionskompetenz Konsequenzen, die im zweiten Teil dieser Arbeit untersucht werden83. Inhaltlich präzisiert das PKA seine ,logische' Deutung des Kapital gegen Holzkamps These, der ,Ansatz' der Analyse bei der gegebenen kapitalistischen Produktionsweise sei nur eine vorläufige und ansatzweise Erfassung derselben, während die Durchführung' als modellhafte Rekonstruktion ihrer historischen Genesis allererst das Begreifen der Gegenwart ermögliche 84 , was in Form des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten erfolge. Dagegen rekurriert das PKA treffend auf Marx' Kritik an den unvollständigen und falschen Abstraktionen der politischen Ökonomie, deren Stehenbleiben bei Arbeit überhaupt, ohne

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84

Vgl. Holzkamp 1974, S. 49; vgl. dazu auch Kocyba 1979, S. 38f. Vgl. PKA 1974a, S. 135. Vgl. PKA 1972, S. 75-81, 357-371. Hoff/ Petrioli/ Stützle/ Wolf 2006, S. 14. Vgl. Holzkamp 1974, S. 69 sowie Holzkamp 1978, S. 19. Vgl. PKA 1974a, S. 65f. Politisch folgte daraus in der Regel die Strategie einer ,antimonopolistischen Demokratie', wie sie in Kreisen der DKP beliebt war, um deren Gunst als theoretischer Kopf Holzkamp und Bischoff hier noch buhlen. Zum politischen Gehalt des StamoKap-Ansatzes vgl. Ebbinghausen/ Kirchhoff 1974. Vgl. PKA 1974a, S. 75f.

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Klärung ihrer Differenz als wertbildender zur konkreten Arbeit sowie ihrem Absehen von allen ,Mittelgliedern' zwischen theoretischer und empirischer Ebene in der Darstellung85. Während die Physiokraten noch eine bestimmte (Natural-) Form der Arbeit als wertbildend ansahen, konzentriert sich die politische Ökonomie nach ihnen auf das Wertquantum und nimmt Arbeit sans phrase als wertbildend an. Sie macht damit nach Marx eine unbewusste Unterscheidung zwischen konkreter und abstrakter Arbeit86, wie sie bewusst seit Smith zwischen Gebrauchs- und Tauschwert unterscheidet. Der bloß quantitative Unterschied von Arbeiten setzt nach Marx aber ihre qualitative Gleichheit voraus - abstrakte Arbeit, worauf die politische Ökonomie aber nicht reflektiert87. Nicht nur, so das PKA, reflektiere Marx damit auf die unausgewiesenen Voraussetzungen politökonomischer Argumentation, zudem erlaube erst die vollständige begriffliche Abstraktion auf Wert und abstrakte Arbeit, als spezifische Form wertkonstituierender Tätigkeit, ein methodisch korrektes Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten und damit ein hinreichendes Erklären der komplexeren Reichtumsformen, ganz gleich, ob dieses nun als historische oder Strukturanalyse gedeutet werde88. Insofern sei die Durchführung der Analyse des Gegebenen Grundlage der Einsicht in dessen historische Bedingtheit89 oder wie Marx es ausdrückt, die , Anatomie des Menschen [...] ein Schlüssel zur Anatomie des Affen" 90 . Laut PKA besteht die spezifische Darstellungsproblematik nun darin, die kapitalistische Produktionsweise in ihrer historischen Spezifität als ein gegebenes und selbstreproduktives Ganzes zu erfassen91. Dabei verhindere einzig die Annahme historischer Voraussetzungen des Systems - die „noch nicht von seiner Aktion als Kapital entspringen konnten"92 - die zirkuläre Vorstellung der ursprünglichen Selbstgesetztheit seiner eigenen Bedingungen. Die Reflexion auf diese Grenzen dialektischer Darstellung weise dieser aber zugleich ihren legitimen Geltungsbereich in der Analyse der „auf ihrer eignen Grundlage sich bewegenden"93 bürgerlichen Gesellschaft zu. Auch der voluntaristische Charakter von Holzkamps Theorie der Entwicklung von Reichtumsformen wird einer Kritik unterzogen94. Tatsächlich stilisiere dieser damit letztlich „die wissenschaftliche Methode [...] zur Ursache des gesellschaftlichen Fortschritts"95, denn ohne jene wäre dieser - verstanden als Entstehung komplexer ökonomischer Verhältnisse - nach Holzkamps Prämissen gar nicht denkbar. Damit verkenne die logisch-historische Lesart aber die Struktur der fundamentalen Subjekt-Objekt-Verkehrung in der bisherigen Geschichte. Die positive Darlegung der Lösung der Darstellungsproblematik eines Systems sich wech-

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Vgl. u.a. MEW 26.2, S. 100, 171; 26.3, S. 491 (MEGA II/3.3, S. 759, 826; II/3.4, S. 1499); 30, S. 207. Vgl. MEW 23, S. 94 (Fn.) (MEGA II/5, S. 48f. (Fn.)). Vgl. PKA 1974a, S. 81-85. Vgl. ebd., S. 87. Vgl. ebd., S. 78. MEW 42, S. 39 (MEGA II/l.l, S. 40). Vgl. PKA 1974a, S. 7If. MEW 42, S. 372 (MEGA II/l .2, S. 368) (zitiert in PKA 1974a, S. 71). MEW 42, S. 178 (MEGA II/l.l, S. 175). Vgl. PKA 1974a, S. 95, 108, 121f., 129. Ebd., S. 129.

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selseitig voraus-/ setzender Formen96 hinsichtlich der Entwicklung von der Ware zum Geld97 entspricht der Abhandlung der PEM, auf die in Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit ausführlicher eingegangen wird. An dieser Stelle soll zunächst nur die allgemeine methodologische These des PKA hervorgehoben werden, die besagt, dass begriffliche (, logische') Entwicklung .einfache' Kategorien, wie die Ware des Anfangs oder die einfache Wertform, als „reine Abstraktionen"98 begreift, als Darlegung nichtempirischer, das heißt weder als solche erfahrbarer noch als solche isoliert existierender Konstitutionszusammenhänge empirisch erscheinender Reichtumsformen (wie Geld), auf die sich die Akteure allererst bewusst beziehen99. Selbst wenn die Ware des Anfangs des Kapital also nicht, wie bei Engels, als vorkapitalistische begriffen wird, sondern als empirische kapitalistische Ware, ist dies ein empiristischer Fehlschluss, der sich in klassischer Form in Wolfgang Fritz Haugs zuerst 1974 formulierter These findet, der Anfang des Kapital sei (auch) ein didaktisch elementarer, da er mit dem „Blick des Käuferpublikums"100 auf im Schaufenster befindliche Waren beginne - einer Situation, die jeder kenne. Nach Haug beginnt das Kapital also mit der, wie er Marx dekontextualisierend zitiert, „in der Zirkulation erscheinenden Ware"101. Die Äußerung von Marx findet sich allerdings in Zur Kritik im Kontext der Erläuterung der ZirkulationsmittelFunktion des Geldes, also auf einer völlig anderen, komplexeren Ebene der Darstellung, als es der Anfang ist. Haug verwischt hier die Unterschiede der Abstraktionsebenen, um seine empiristische These zu stützen102. Die Rekonstruktion der Geld- aus der Warenform als nicht-preisbestimmter, also nichtempirischer, erweist sich dem PKA zufolge dagegen als eine Berücksichtigung der Unbewusstheit der Menschen gegenüber den realen Konstitutionsprozessen ökonomischer Formen sowie als Rekonstruktion der praktischen, unbewussten Hervorbringung dieser Formen durch die Akteure selbst: „Das bewußte Auspreisen der Ware ist selbst als Resultat versteckter gesellschaftlicher Vermittlungsprozesse"103 dargestellt. Dabei betont das PKA gegen Holzkamp die konstitutive Rolle der ersten beiden Kapitel des Kapital als qualitativ unterschiedlicher Abstraktionsebenen dieser Darstellung104 .gedachter' und ,wirklicher' Bezug der Waren aufeinander - sowie die Bedeutung des allgemeinen Äquivalents als notwendiger Existenzweise der Wertgegenständlichkeit der Waren105. All dies wird uns in den folgenden Kapiteln noch ausführlich beschäftigen. Festzuhal96

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102

Vgl. MEW 42, S. 203 (MEGA II/l.l, S. 201): „Wenn im vollendeten bürgerlichen System jedes ökonomische Verhältnis das andre in der bürgerlich-ökonomischen Form voraussetzt und so jedes Gesetzte zugleich Voraussetzung ist, so ist das mit jedem organischen System der Fall". Vgl. PKA 1974a, S. 97-104. Ebd., S. 102. Vgl. ebd., S. 99. Haug 1989, S. 50. Auch Alexander Gallas (2006, S. 110) meint, Marx beginne das Kapital mit einer .Alltagsbeobachtung". MEW 13, S. 69 (MEGA II/2, S. 158) (zitiert in Haug 1989, S. 50). Auch Georg Lohmann meint, Marx greife bereits mit den ersten Bestimmungen im Kapital, vor allem dem Tauschwert als quantitativem Mengenverhältnis von Gebrauchswerten, etwas auf, das „unmittelbar sichtbar ist" (Lohmann 1989, S. 136).

Vgl. auch die Kritik an dieser Operation Haugs in Heinrich 2008, S. 58. PKA 1974a, S. 100. 104 Vgl. ebd., S. 103 sowie die Behandlung der PEM in Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit. 105 Vgl. PKA 1974a, S. 103.

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ten ist hier zunächst nur, dass das PKA erkennt, wie die logisch-historische Konzeption dialektischer Darstellung als empiristische mit der Vorstellung von Reichtumsformen als bewussten menschlichen Reflexionsprodukten korreliert106 und im Gegenzug zeigt, dass sie als ,logische' Konzeption Vollzug der Entschlüsselung von Resultaten unbewusster, entfremdeter Vergesellschaftung ist, die Lösung des „Problem[s] der Darstellung einer fertigen, [...] in mystifizierter Form erscheinenden Totalität durch Analyse bzw. Abstraktion und schrittweise Entwicklung"107 der Kategorien. Ein Beispiel für neo-orthodoxes Lavieren zwischen impliziter Engels-Kritik und offensichtlicher Engels-Schonung bietet auch die Untersuchung der Projektgruppe zur Kritik der politischen Ökonomie. Zunächst wird dort in aller Klarheit eine Historisierung, Empirisierung und Autonomisierung der in den ersten drei Kapiteln des Kapital aufeinander folgenden Begriffe abgelehnt. Marx folge Hegels Diktum von der Disparität der „Ordnung des Begriffs" und der „Ordnung der Zeit"108 aus dessen Rechtsphilosophie und fasse wie dieser den Fortgang der Darstellung als Nachweis der ,Unwahrheit' und Nicht-Selbständigkeit der „abstrakten Formen"1 w des Anfangs. Bei Marx laute diese methodische Ausrichtung: Die einfache Kategorie „kann nie existieren außer als abstrakte, einseitige Beziehung eines schon gegebnen konkreten, lebendigen Ganzen"110. Weder sei deshalb der Wert als solcher „empirisch [...] faßbar" („er kann nur gedacht werden") noch dürften die „abstraktesten Bestimmungen, von denen das ,Kapital' ausgeht [...] als eigenständige gesellschaftliche Formen aufgefaßt werden, die der bürgerlichen Gesellschaft historisch vorausgingen". Die einfachen Kategorien seien deshalb nicht „in die autonome Gesellschaftsformation , einfache Warenproduktion'"" 1 transformierbar, sondern als voraussetzungsvolle vor dem Hintergrund des „ganzen System[s] der bürgerlichen Production"" 2 zu betrachten. Noch das Aufsteigen von der Kemgestalt zur Oberfläche, das Marx vom ersten zum dritten Band praktiziere, erreiche nie die realhistorische Empirie, sondern lediglich die „Gestaltungen der Oberfläche im allgemeinen"'l3, die jedes wirkliche kapitalistische System aufweise. Es werden allerdings auch Hegels und Engels' Parallelisierungen von historischer und begrifflicher Entwicklung angeführt" 4 . Die dabei konstatierte „Differenz ihrer Auffassungen" gegenüber Marx erkläre sich aber „aus dem Gegenstand ihrer Betrachtungen"115. Gehe es jenen um den „geschichtlichen Gesamtprozess[...]", so diesem nur um die Struktur der kapitalistischen Produktionsweise. Wäre diese Behauptung zutreffend, so müsste die Projektgruppe Engels' (ohne Nennung ihres Schöpfers) eben noch kritisierte Theorie einfacher Warenproduktion mit all ihren konkretistischen Implikationen von abstrakter Arbeit und

106 107 108 109 110 111 112 113 114 115

Vgl. ebd., S. 108. Ebd., S. 104. Hegel 1989, S. 86 (§32). Ebd., S. 87 (zitiert in Projektgruppe KrpÖ 1973, S. 28f.). MEW 42, S. 36 (MEGA II/l.l, S. 37) (zitiert in Projektgruppe KrpÖ 1973, S. 33). Zitate der Reihenfolge nach: Projektgruppe KrpÖ 1973, S. 35, 32, 32. MEGA II/2, S. 52 (zitiert in Projektgruppe KrpÖ 1973, S. 32). Projektgruppe KrpÖ 1973, S. 19. Vgl. Hegel 1975, S. 49 sowie MEW 13, S. 474f. (MEGA II/2, S. 252f.). Projektgruppe KrpÖ 1973, S. 32.

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Wert akzeptieren und die ersten Kapitel des Kapital doch wieder als idealtypisches Geschichtsmodell ansehen. Eine elaboriate Analyse der Marxschen Darstellungsweise findet sich ein Jahr nach der Holzkamp-PKA-Kontroverse im Beitrag eines Autorenkollektivs um Veit Michael Bader, Heiner Ganßmann u.a. Sie vertreten dabei die starke These, im Kapital handle es sich um eine neue, vom „gängigen Verständnis des Verfahrens der positiven Wissenschaften verschiedene Form des wissenschaftlichen Begreifens"116. Gerade diese Spezifitäts- und Differenz-These gegenüber der deduktiv-nomologischen Methode der Erfahrungswissenschaften wird allerdings nicht begründet. Zwar müsse ihr Begriff der logischen Methode der Ökonomiekritik „gegen formallogische Deduktion abgegrenzt werden"117, dies könne „hier" aber „nicht weiter entfaltet werden"118. Trotz dieses eklatanten Missverhältnisses zwischen programmatischem Anspruch und wissenschaftstheoretischer Explikation präzisieren Bader u.a. den Begriff logisch-systematischer Darstellung durchaus. Gegenstände dialektischer Darstellung in der Kritik der politischen Ökonomie sind demnach die „Struktur einer empirischen Totalität", das ,Dasein ' der kapitalistischen Produktionsweise, sowie ihre „strukturbedingten Entwicklungstendenzen"119, ihre innere Historizität. Entwicklung' der Formen gesellschaftlichen Reichtums bezeichne nicht die Rekonstruktion ihrer geschichtlichen Entstehung, sondern die Erklärung einer Struktur gleichzeitig existierender Formen. Dialektische Darstellung sei primär die begriffliche Reproduktion eines konstituierten und sich stets rekonstituierenden Gegenstands, der - als System wechselseitiger Voraussetzungen und Interdependenzen seiner Momente - ,an sich' real immer schon existiere, aber ,für uns', als begriffener, noch entwickelt werden müsse120. Für die begriffliche Entwicklung bestehe damit die Notwendigkeit eines „Nacheinanderfs] in der Darstellung"121. Pragmatisch bestehe die Unmöglichkeit, reell gleichzeitig existierende Formen sprachlich ebenso gleichzeitig zu reproduzieren122. Inhaltlich existierten wesentlichere, übergreifende Bestimmungen im Geflecht reziproker Abhängigkeiten123 sowie eine Differenz zwischen unsichtbaren realen Zusammenhängen, bzw. Konstitutionsprozessen und der empirischen Erscheinung derselben124. Zur Bezeichnung solcherart synchroner Zusammenhänge wird die von Marx selbst verwendete und vom PKA aufgegriffene Kategorie der ,kontemporären Geschichte' als irreführend kritisiert125. Die Kritik der politischen Ökonomie beinhalte Aussagen über historische Verläufe - im Rahmen der Analyse der kapitalisti-

116 117 1.8

1.9 120 121 122 123 124

125

Bader u.a. 1975, S. 30. Ebd., S. 78. Ebd., S. 70. Als Kronzeuge dient einzig Jindrich Zeleny; vgl. ebd., S. 93 (Fn.), der aber gerade ein historizistisches Konzept der Darstellungsweise vertritt. Zitate der Reihenfolge nach: Bader u.a. 1975, S. 74, 79. Vgl. ebd., S. 79, 96. Ebd., S. 79. Vgl. ebd. Vgl. auch Arndt 1985, S. 140. Vgl. M E W 4 2 , S. 29 (MEGA II/l.l, S. 30). Vgl. u.a. MEW 23, S. 90, 559, 562, 564 (MEGA II/5, S. 47, 435, 437, 439); 25, S. 324, 825 (II/4.2, S. 3 8 5 Í , 721). Vgl. Bader u.a. 1975, S. 80.

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sehen Produktionsweise - ausschließlich in deren strukturinduzierter Hinsicht, im Sinne der, wie Jürgen Ritsert es 1973 nennt 126 , inneren Historizität des Systems. Sie seien als Aussagen über die Dimension „.begrifflich notwendiger" 127 von solchen über empirisch reale historische Prozesse zu unterscheiden. Diese Dimension setze die synchrone Analyse voraus, weil sie nur strukturbedingte, d.h. von den allgemeinen Formbestimmungen des Kapitals ausgehende Dynamiken thematisiere und weder kontingente, nicht daraus ableitbare historische Entwicklungen noch die ,äußere Historizität', d.h. die Entstehung der historischen Voraussetzungen des Kapitals, zum Gegenstand habe. Solche historischen Darstellungen würden hinzutreten, wenn die Grenzen dialektischer Strukturanalyse erreicht seien. Nach diesen Vorgaben von Bader u.a. ist dialektische Darstellung daher zunächst bestimmbar als Erklärung (,Entwicklung für uns') einer Struktur gleichzeitiger, interdependenter und intraaktiver Formen gesellschaftlichen Reichtums unter der Berücksichtigung der Existenz übergreifender Bestimmungen (hierarchisierter Interdependenzen) und der Differenz zwischen realen, aber nicht unmittelbar empirisch erfassbaren, Konstitutionsprozessen und Zusammenhängen sowie deren verkehrter empirischer Erscheinungsweise. Auch Bader u.a. wollen aber (neo-)orthodox sein. Sie kritisieren zwar Engels schon deutlicher als Bischoff und die PEM dies tun - Marx' gehe es im Kapital „zunächst [?] nicht darum", einen inneren, gesetzmäßigen Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung aufzufinden, wie Engels 128 behaupte, sondern um die Gesetze, „die wesentliche Struktur", des Kapitalismus 129 . Sie können sich aber zu einer klaren Aufweisung der prinzipiellen Differenzen zu Marx nicht durchringen. Bei Engels sei der Unterschied zwischen begrifflicher und historischer Entwicklung „nicht eindeutig" formuliert und hinsichtlich der Frage der geschichtlichen Existenz einfacher Formen argumentiere Marx zwar „differenzierter als Engels, aber mit derselben Grundrichtung" 130 . Vollkommen unterbelichtet bleibt zudem der Widerspruchsbegriff, der doch den Autoren zufolge nichts Geringeres als den Motor begrifflicher Entwicklung im Rahmen einer dialektischen Darstellung bezeichnen soll. Die halbe Druckseite, die dem Widerspruchskonzept gewidmet wird, beinhaltet drei Aussagen, von denen die ersten beiden unexpliziert bleiben und die dritte logisch problematisch ist. Erstens bestehe das Prinzip dialektischer Widerspruchsentwicklung in der Herausarbeitung von Bewegungsformen innerer Widersprüche vermittelt über ihre äußere Darstellung. Diese seien zweitens auf der theoretischen wie der sozialen Ebene selbst zu finden und damit Mechanismen begrifflicher wie historischer Entwicklung zugleich. Widersprüche im Denken seien damit drittens Resultate realer gesellschaftlicher Widersprüche und nicht umgekehrt Real Widersprüche Produkte der Projektion theoretischer „in die an sich harmonische Wirklichkeit". Da der Widerspruchsbegriff nicht ansatzweise erläutert wird und sich die Ablehnung der Projektionsthese gegen Werner Beckers Kritik der Annahme logischer Widersprü126 127 128 129 130

Vgl. Zum Begriffspaar äußere/ innere Historizität: Ritsert 1973, S. 66f. Bader u.a. 1975, S. 78. Vgl. MEW 13, S. 474 (MEGA II/2, S. 252). Vgl. Bader u.a. 1975, S. 84f. (Fn.). Ebd., S. 85. Hier wird Bezug genommen auf MEW 42, S. 36f. (MEGA II/l.l, S. 37f.). Bader u.a. erwähnen aber zu Recht: „Wenn jedoch die einfacheren Kategorien historisch vor den komplizierteren auftreten, so haben sie gegenüber ihrem Auftreten im System einen spezifisch historisch modifizierten Charakter" (Bader u.a. 1975, S. 86).

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che in der Realität richtet, scheinen die Autoren ein ,logisch nicht-widersprüchliches' mit einem ,konfliktfrei-harmonischen' Wirklichkeitsverständnis kurzzuschließen. Die Anerkennung logischer Widersprüche in der Realität wäre damit Indikator für eine kritische Gesellschaftstheorie. Besonderes Gewicht legt das Autorenkollektiv auf den immanenten Charakter der Darstellung. Der Wert wird dabei als analytisch gewonnener, synthetischer Anfang der Darstellung bestimmt. Er sei die höchste Abstraktion, das Abstrakt-Allgemeine einer spezifischen Produktionsweise. Die Abstraktionsstufe des Anfangs ist demnach formanalytisch begrenzt: Aufgabe der Ökonomiekritik sei nicht die Herausstellung von allen Produktionsweisen gemeinsamen Kriterien, sondern die Untersuchung „der spezifischen Formen der Produktion des bürgerlichen Reichtums" 131 . Der stoffliche Inhalt der Produktion und ihrer Produkte werde formanalytisch nur dann berücksichtigt, „wenn er modifiziert wird durch die Formverhältnisse oder als sie modifizierend erscheint" 132 . Die Abstraktion noch von der Formbestimmtheit des Produkts, also seiner historisch-spezifischen Rolle in der Vergesellschaftung der Arbeit, führe dagegen aus der kapitalistischen Produktionsweise heraus zu transhistorischen Bestimmungen wie ,Gut' oder Produktion überhaupt'. „Die Abstraktionsebene des Anfangs darf also nicht zu hoch angesetzt werden". Sie dürfe „andererseits aber auch nicht zu niedrig angesetzt sein", weil sie die einfachste und allgemeinste Kategorie beinhalten müsse, „die Voraussetzung für die Bildung aller weiteren Begriffe dieser spezifisch historischen Form der Produktion ist" und daher in allen komplexeren und konkreteren Kategorien enthalten ist. Synthetische Entwicklung wird von daher als strikt immanente, als „Entwicklung der Formbestimmungen desselben Inhalts", der wiederum sozialtypische Form (Wert) ist, definiert. Insofern ist der Anfang nach Bader u.a. - gegen Althusser - weder eine diffuse .gewisse Komplexität' noch ein ,frei gewählter' oder „ausschließlich in die Theorie fallender" 133 kontingenter. Der Fortgang der Darstellung modifiziere nun den Begriff des Anfangs: Er erweise sich als notwendiger wie als vermittelter, unterbestimmter, von den komplexeren Formen abhängiger 134 . Die Ware bilde dagegen den analytischen Anfang der Darstellung135. Der Fortgang von ihren Bestimmungen als Gebrauchs- und Tauschwert zum immanenten Wert ist Bader u.a. zufolge nämlich eine analytische Bewegung. Neben Hans-Georg Backhaus, dessen Methoden- und Objektdimension in besonderer Weise verknüpfender Beitrag Gegenstand des folgenden Kapitels sein wird, ist es in den 70er Jahren vor allem Heinz-Dieter Kittsteiner, der die „Differenzen des Marxschen und Engelsschen Systems der Wissenschaft" 136 hinsichtlich einer Kritik der politischen Ökonomie in

131

Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 87, 88f. MEW 42, S. 741 (MEGA II/1.2, S. 715f.) (zitiert bei Bader u.a. 1975, S. 89). 133 Zitate der Reihenfolge nach: Bader u.a. 1975, S. 89, 89, 110, 90. 134 Vgl. ebd., S. 94. 135 Vgl. ebd., S. 91. Dies ist hervorzuheben, weil die ,Ware an sich' des Anfangs bereits Abstraktionsresultat ist und eher die preisbestimmte Ware der einfachen Zirkulation den analytischen Anfang der Forschung bildet. 136 Kittsteiner 1977, S. 1. 132

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aller bis dahin zu vermissender Deutlichkeit ausspricht137. Kittsteiner macht noch zu erörternde politische Implikationen des logisch-historischen Ansatzes dafür verantwortlich, dass die „Problematisierung des theoretischen Verhältnisses von Marx und Engels" im Realsozialismus „auf eine geschlossene Abwehr stößt". Auch gewichtige Beiträge der „neueren MarxRezeption", die das Kapital erstmals als logisch-systematische Analyse begriffen, zeichneten sich aber dadurch aus, zum Thema Marx vs. Engels „nicht eindeutig Stellung" zu beziehen (so die Kritik an Bader u.a.) oder sich gar (wie Bischoff) an der „kuregefaßten Versöhnung" 138 beider zu versuchen. Die laut Kittsteiner im ,ML' zum kongenialen methodologischen Kommentar stilisierte Rezension, die Engels anlässlich der Veröffentlichung von Marx' Zur Kritik der politischen Ökonomie im Jahr 1859 schrieb, erweise sich unter Einbeziehung des Briefwechsels zwischen Marx und Engels noch weit mehr als der Anti-Dühring als zeitgebundenes „Verlegenheitsprodukt" 139 . Marx drängt Engels dort, wegen des Totschweigens seiner Schrift in der Fachliteratur, zu einer Besprechung 140 , die dieser nur zögernd141 und unter Betonung eigener Inkompetenz 142 in Angriff nimmt. Engels geht dabei mit keinem Wort auf die beiden von Marx angemahnten inhaltlichen Punkte (Proudhonkritik und Nachweis des Werts als spezifisch gesellschaftlicher Form der kapitalistischen Produktionsweise 143 ) ein, begreift aber zumindest die Ökonomiekritik als System der Wissenschaft vom bürgerlichen Reichtum, „zusammenhängende Entwicklung der Gesetze der bürgerlichen Produktion und des bürgerlichen Austausches" 144 und damit zugleich als Kritik der diese Gesetze legitimierenden nationalökonomischen Literatur. Das Verständnis von Wissenschaft als System, das sowohl Marx als auch Engels in kritischer Anknüpfung an Hegel gewinnen, divergiert aber nach Kittsteiner bei beiden aufgrund „ihres unterschiedlichen Verhältnisses zur Hegeischen Philosophie" 145 erheblich. Marx'

137

Bis in die Mitte der 70er Jahre trauen sich das nur erstaunlich wenige Interpreten. So konstatiert die Marxistische Gruppe (MG 1974a, S. 45), dass Engels' „Kommentar zum Wertgesetz im .Kapital III' [...] im Widerspruch zur Kritik der politischen Ökonomie" steht, begründet wird dies hier - und m.W. auch in den folgenden Schriften der MG - nicht. 1978 ist es z.B. Hans Holger Paul, der Engels' ,Jiistorisierende[...] Kapital-Rezeption" (Paul 1978, S. 52) klar benennt und deren Folgen für die Imperialismustheorie der 2. Internationale rekonstruiert. 138 Zitate der Reihenfolge nach: Kittsteiner 1977, S. 1, 3, 4. 139 Ebd., S. 5. Backhaus wird diese kleine Kriminalgeschichte der Entstehung der Engels-Rezension (und darüber hinaus) ebenfalls detailliert untersuchen - in seinem erstmals 1997 erschienenen, 1978/79 verfassten, Teil IV der Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie (vgl. Backhaus 1997f, S. 252-265). 140 Vgl. MEW 29, S. 463 (MEGA III/9, S. 521). 141 Vgl. ebd., S. 464 (III/9, S. 522). 142 Vgl. ebd., S. 468: „Ich bin aus dieser Art von Schriftstellerei durch Mangel an Übung so heraus, daß Deine Frau über meine Unbeholfenheit sehr lachen wird. Kannst Du es zurechtmachen, so tu es". 143 Vgl. ebd., S. 463. 144 MEW 13, S. 472 (MEGA II/2, S. 250) (zitiert in Kittsteiner 1977, S. 6). 145 Kittsteiner 1977, S. 7.

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Verhältnis zu Hegel sei durch zwei Entmystifizierungsschritte gekennzeichnet146. In seiner ersten Entmystifizierung formuliere Marx eine nominalistische Kritik der Hypostasierung von Abstraktionen und des Verständnisses konkreter Eigenschaften als Manifestationen dieser Abstraktionen, entlarve die Verkehrung von Bestimmendem (Subjekt, Mensch, Gattung, Konkret-Empirisches, bürgerliche Gesellschaft) und Bestimmtem (Objekt, Geist, Abstrakt-Ideelles, Allgemeinheitsanspruch des Staates) als idealistische Illusion und kehre sie um147. Im Unterschied zu diesem Diskurs der illusorischen Verkehrung formuliere Marx nun im Rahmen seiner Ökonomiekritik eine „Aufschlüsselung" des „mystifizierten Problems einer ,Objektivation'" des Abstrakt-Allgemeinen. Marx begreife damit die Subjekt-ObjektVerkehrung als historisch-spezifisches Phänomen und als Theoretisierung eines realen Erfahrungsgehalts. Diese bereits in der Deutschen Ideologie anklingende Linie der HegelKritik begreife zugleich die geschichtsphilosophischen Kategorien, in denen die „empirische Wirklichkeit [...] zur Form der Verwirklichung einer zielbestimmten Idee"148 wird, als Mystifizierung des Kapitalprozesses. Dieser Zusammenhang werde nun besonders in der Erstauflage des Kapital verdeutlicht, in der sich eine metatheoretische Spur der HegelAneignung finde, die Marx aus späteren Auflagen getilgt habe: Um die Spezifik ökonomischer Gegenständlichkeit im Wertausdruck zu erläutern, konstatiere er für diesen eine wirkliche „Verkehrung [...], wodurch das Sinnlich-Konkrete nur als Erscheinungsform des Abstrakt-Allgemeinen, nicht das Abstrakt-Allgemeine umgekehrt als Eigenschaft des Konkreten gilt [...]. Sage ich: Römisches Recht und deutsches Recht sind beide Rechte, so ist das selbstverständlich. Sage ich dagegen: Das Recht, dieses Abstraktum, verwirklicht sich im römischen Recht und im deutschen Recht, diesen konkreten Rechten, so wird der Zusammenhang mystisch"149. Zusammen mit der Feststellung, ,,[b]loß der Hegel'sche ,Begriff bringt es fertig, sich ohne äußern Stoff zu objektivieren"150, werde damit Marx' Transformation einer spekulativen Formgenese in eine wissenschaftlich konstatierbare angezeigt: Der materielle Gegenstand, der dem Wert als Repräsentationsgestalt dient, wie das sich in diesem Gegenstand darstellende Allgemeine seien als Resultat des Doppelcharakters menschlicher Arbeit unter historisch-spezifischen Bedingungen zu begreifen. Die erste sei Verge146

Dabei lehnt Kittsteiner die These einer zweiten Hegelrezeption durch Marx seit 1857/58 ab. Er spricht dagegen von zwei Linien der Hegelaneignung, die „im gesamten Prozess der Kritik der ökonomischen Kategorien präsent" seien (ebd., 27 (Fn.)) und bereits in den Schriften der 1840er Jahre auftauchten (vgl. ebd., S. 10). Vgl. ausführlich Kittsteiner 1980, S. 44-89 sowie Stapelfeldt 1979, S. 147-150.

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Vgl. dazu bereits die Anmerkungen zu Rancière in Kapitel 1.1 dieser Arbeit sowie MEW 2, S. 60ff., 79. Kittsteiner weist auch auf die werttheoretischen Konsequenzen dieses Kritikmodus hin, indem er eine frühe Ricardo-Kritik von Marx zitiert: „p. 111 sagt Ricardo, daß er, wenn er von valeur échangeable spreche, immer den prix naturel meine, von den Accidenzen der Concurrenz, die er quelque cause momentanée ou accidentelle nennt, absehn wird. Die Nationalökonomie, um ihren Gesetzen einigermassen Consistenz und Bestimmtheit zu geben, muß die Wirklichkeit als accidenten und die Abstraktion als wirklich unterstellen" (MEGA IV/2, S. 405) (auszugsweise nach MEGA 1 zitiert in Kittsteiner 1977, S. 11 (Fn.)). Man beachte dagegen die spätere Kritik an Ricardo, dieser abstrahiere nicht weit genug.

148

Beide Zitate: Kittsteiner 1977, S. 9. MEGA II/5, S. 634 (zitiert in Kittsteiner 1977, S. 9). MEGAII/5, S. 31.

149 150

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genständlichung der Arbeit im Naturstoff, die zweite eine ,Vergegenständlichung', in der sich „nicht ein mystisches Subjekt"151, sondern eine bestimmte Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs konkretisiere. Die Verkehrung des Prädikats ins Subjekt wird bei Kittsteiner auch als Mystifikation „der Wirklichkeit selbst" umschrieben. Dies ist insofern missverständlich, als diese Verkehrung nicht impliziert, der Gebrauchswert, in dem sich das Allgemeine darstellt, werde wirklich Wert oder gehe gar aus diesem hervor. Auch Kittsteiner weist schließlich darauf hin, dass Marx trotz der Umkehrung seiner frühen Hegelkritik „nicht [...] im .Kapital' zum Mystifikateur geworden ist". Denn Marx gehe es um eine „rationale Theorie der Inkarnation eines realen ,Abstrakt-Allgemeinen'". Dieses sei als gesellschaftliches Verhältnis zwischen Menschen aber nun gegenständlich vermittelt und der Kontrolle der Akteure entzogen, damit auch eine rationale Bestimmung des menschlichnichtmenschlichen Konstituens der Geschichte in traditionellen Geschichtsphilosophien: „Die ,Werthsubstanz' ist im strikten Sinne keine menschliche, sondern eine nichtmenschliche, eine gesellschaftliche Substanz der Geschichte. Im Gegensatz zur Tätigkeit des Begriffs und seiner Objektivation ist diese Objektivierung einer gesellschaftlichen Substanz in ihren Formen nicht zugunsten irgendeines Zieles der Geschichte vorversichert. Der Akt ihrer Erkenntnis streift darum auch der Geschichte nicht ihre Fremdheit ab"152. Eine solche „materialistische Einlösung des idealistischen Systembegriffs" kann, so Kittsteiner, nur als „Wissenschaft von den gesellschaftlichen Formen" erfolgen, „denn nur ihr Gegenstandsbereich ist als Produkt abstrakt-allgemeiner menschlicher Arbeit begreifbar"153. Deren Aufgabe sei mithin eine Erklärung der Genese wie des Zusammenhangs von Abstraktem und Konkretem, Wert und Preis z.B. 154 , und werde von Marx als ,genetische Entwicklung' verselbständigter Reichtumsformen bestimmt155. Ist aber das dialektische System der Wissenschaft bei Hegel nichts als die „methodische Form eines geschichtsphilosophischen Entwurfs [...], die Welt als eine in sich sinnvolle Totalität darzustellen"156, obwohl sie nicht der endlichen Vernunft der Individuen gehorcht, so muss nach Kittsteiner die Ausblendung von Marx' Dechiffrierung dieses Systems auch zu einer anderen Konzeption von Wissenschaft fuhren. Genau dies sei bei Engels der Fall. Er spreche zwar auch von dialektischer Wissenschaft als - im Gegensatz zur ,metaphysisch'-isolierenden Betrachtung - Erschließung der inneren Zusammenhänge ihres Gegenstands, verstehe diese aber nicht ausgehend von der spezifisch gesellschaftlichen Form der Arbeit157. Er verbleibe im Kontext einer nominalistischen Hegelkritik, die weder die idealistische Form seiner Philosophie, die Herrschaft des als Subjekt gefassten Allgemeinen erklären, noch Dialektik als ,Methode' in einem inneren Zusammenhang mit Hegels System betrachten könne158. Engels konstruiert demnach ein empiristisches Wissenschaftsmodell, das von den „hartnäckigsten Tatsa-

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Kittsteiner 1977, S. 12. Zitate der Reihenfolge nach: Kittsteiner 1980, S. 70, 72, 74, 78. Beide Zitate: Kittsteiner 1977, S. 13. Vgl. ebd., S. 11. Vgl. MEW 26.3, S. 490f. (MEGA II/3.4, S. 1498). Kittsteiner 1977, S. 13. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 15-17.

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chen"159, der Welt „wie sie sich selbst einem jeden gibt, der ohne vorgefaßte idealistische Schrullen an sie herantritt"160 ausgehen will, um diese ,materialistisch' registrierten Tatsachen anschließend in eine Ordnung zu bringen. Theorie und Empirie würden so von Engels in ein Widerspiegelungsverhältnis gesetzt161, das weder den originären Gegenstand der .Kritik' - real Abstraktes als nicht-anschaulicher Gesamtzusammenhang privater Arbeiten noch dessen begriffliche Erkenntnis - als Herstellung eines Zusammenhangs von Abstraktem und Konkretem - zu fassen gestatte162. Die abbildtheoretische Umstülpung der Hegelschen Philosophie begründe damit auch Engels' Parallelitätsthese von ,Logischem' und Historischem': Eine theoretische Darstellung ohne direktes empirisches Korrelat sei für ihn undenkbar, was auch seine Bemerkungen zur Marxschen Darstellungsweise und Geldtheorie im Briefwechsel von 1858 belegen sollen163. Doch Marx selbst habe in den Jahren 1857/58 noch Probleme, logische und historische Analyse zu entmischen, wie seine Bemerkung belege, den „Übergang des Grundeigentums in die Lohnarbeit164 nicht nur dialektisch, sondern historisch"165 zu fassen. Gleichwohl weist allerdings die Gegenüberstellung von ,dialektisch' und ,historisch' auf Marx' klares Bewusstsein des logisch-systematischen Charakters dialektischer Darstellung hin. Die gleichzeitige Berücksichtigung von ,Werden' und ,Gewordensein' der Totalität, die Kittsteiner auch in einigen Passagen der Grundrisse identifiziert166, gilt ihm als Konsequenz eines methodisch zwar postulierten, materialiter aber noch nicht eingelösten Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten167. Dies widerspricht implizit Backhaus' noch zu untersuchender

159

MEW 13, S. 473 (MEGA U/2, S. 251). MEW 21, S. 292 (zitiert in Kittsteiner 1977, S. 15). 161 Vgl. MEW 21, S. 292f. 162 Marx vertrete, so Kittsteiner 1974, S. 427 (Fn.), höchstens eine negative Abbildtheorie, die gerade das fetischistische Bewusstsein der Zirkulationsagenten erklären solle. 163 „Auch die Entwicklung der Geldgeschichte ist sehr fein, mit einzelnem bin ich auch hier noch nicht im reinen, da ich mir oft die historische Unterlage erst zusammensuchen muß" (MEW 29, S. 319) (MEGA III/9, S. 126) (zitiert bei Kittsteiner 1977, S. 19). Auf Engels' spätere Forderung an Marx, „auf historischem Wege die Notwendigkeit der Geldbildung" (MEW 31, S. 303) nachzuweisen und im ,Kapital' einen Anhang zu verfassen, der die Wertformanalyse übersichtlicher gegliedert darstelle, machen fast zeitgleich Steinvorth (1977a, S. 54) und Backhaus (1997f, S. 258ff.) aufmerksam. Sie weisen auch (Steinvorth, ebd.; Backhaus, S. 262) daraufhin, dass nur an einer Stelle im Briefwechsel Marx Engels explizit wiederspricht: Marx antwortet nämlich Engels, er habe dessen „Rat befolgt und nicht befolgt". Er habe einen Anhang geschrieben, worin „dieselbe Sache " (= Rat der Historisierung nicht befolgt) „so einfach [...] und so schulmeisterlich als möglich" (MEW 31, S. 306) (= Rat der Vereinfachung der Darstellung befolgt) entfaltet werde. 164 Marx bezieht sich hier noch auf einen später fallengelassenen Aufbauplan der Kritik der politischen Ökonomie. 165 MEW 29, S. 312 (MEGA III/9, S. 122) (zitiert in Kittsteiner 1977, S. 18). 166 Vgl. MEW 42, S. 37, 203 (MEGA II/l.l, S. 38, 201) (zitiert in Kittsteiner 1977, S. 24). Dieses Werden, von dem auf S. 203 die Rede ist, kann aber auch als innere Dynamik der Totalität interpretiert werden, womit .Totalität' zwei Bedeutungen aufweisen würde: Einmal die eines selbstreproduktiven Zusammenhangs und einmal die eines sich erweiternden, sich tendenziell sämtliche Ebenen der materiellen Reproduktion unterordnenden Kreisprozesses. 167 Vgl. Kittsteiner 1977, S. 25f. 160

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These von einer zunehmenden .Historisierung des Logischen' in der Werkentwicklung von den Grundrissen zur Zweitauflage des Kapitalm. Dennoch beginnt Marx nach Kittsteiner bereits in der Einleitung von 1857 mit einer methodologischen Scheidung von logischformgenetischer und historischer Betrachtungsweise. Marx' Kritik an Hegel, „das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen" 169 , besage, „daß das Reale in seinem inneren Zusammenhang [...] nicht durch ein mystisches Subjekt, sondern durch eine bestimmte Art der Verausgabung gesellschaftlicher Arbeit konstituiert ist"170, das ,Wesen' also nicht selber Vernunft sei. Nach Kittsteiner ist Marx' zentraler Vorwurf gegenüber Hegel also nicht der, die Wirklichkeit aus der Idee hervorgehen zu lassen, sondern kein anderes als ein begriffliches Vermittlungsprinzip gelten zu lassen und damit Vernunft als Erkenntnisform und -inhalt zugleich zu postulieren: „Die Bewegung der Kategorien wird daher zugleich zum Produktionsakt - nicht der empirischen Gegenständlichkeit - sondern ihres als ,vernünftig' konstruierten inneren Zusammenhangs" 171 . Die Bestimmung der Differenz zwischen dem Abstrakten als Realabstraktion an der Arbeit und dessen begrifflicher Reproduktion, zwischen Real- und Erkenntnisobjekt, führe Marx auch zur grundsätzlichen Infragestellung der Einheit von Logischem und Historischem. Er betrachtet es nun als „untubar und falsch" 172 die historische Abfolge ökonomischer Formen zur Grundlage seiner Kapitalismusanalyse zu machen: „Ein .System' im strengen Sinn kann immer nur die Entwicklung der gewordenen Formen aus einem konstituierenden Prinzip sein; niemals aber die Geschichte des Werdens dieses Systems" 173 . Am Gegenstand kläre sich für Marx dieser Sachverhalt im Laufe der Grundrisse174 bis hin zur Feststellung der Grenzen dialektischer Darstellung im Urtext175 anhand der Vorausgesetztheit der Trennung von unmittelbaren Produzenten und Produktionsmitteln für die Erklärung der kapitalistischen Produktionsweise. Engels' Rezension ist daher nach Kittsteiner mit einer „doppelten Hypothek" 176 belastet: Er stütze sich auf Marx' Aussagen aus dem Briefwechsel von 1858, in denen synchrone und diachrone Übergänge noch enger verschränkt seien und interpretiere Zur Kritik zudem vor dem Hintergrund seiner eigenen nominalistischen Hegelkritik. Engels' Ausgangsfrage laute nun, ob die Theoriegeschichte der politischen Ökonomie als Leitfaden für die Begriffsentwicklung von deren Kritik dienen kann 177 . Dies, so Kittsteiner, ist mit Marx zunächst dahingehend zu bejahen, dass die historische Entfaltung der Widersprüche des Kapitalismus dessen gedankliche Verarbeitung in logische Widersprüche treibt, die qua Theoriekritik Aus-

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Vgl. Backhaus' These aus dem Jahr 1978/79 (in Backhaus 1997f, u.a. S. 229). MEW 42, S. 35 (MEGA II/l.l, S. 36). Kittsteiner 1977, S. 20. Ebd. Vgl. auch Arndt 2004, S. 43. MEW 42, S. 41 (MEGA II/l.l, S. 42). Kittsteiner 1977, S. 22. Vgl. MEW 42, S. 371-383 (MEGA II/l .2, S. 367-378), wo synchrone und diachrone Untersuchung schon klar getrennt werden. Vgl. MEGA II/2, S. 91f. Kittsteiner 1977, S. 26. Vgl. MEW 13, S. 474 (MEGA II/2, S. 252).

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gangspunkt der Erarbeitung einer systematischen Analyse in der Ökonomiekritik bilden können. „In diesem Sinne basiert die formgenetische Darstellung [...] auf der historischen Entwicklung der bürgerlichen Theorie"178. Engels behaupte aber eine spiegelbildliche Verbindung zwischen real- und theoriegeschichtlicher Entwicklung „von den einfachsten zu den komplizierteren Verhältnissen"179 und meine deshalb eine Anknüpfungsmöglichkeit an die nationalökonomische Literatur unterstellen zu können. Diese These sei aber bereits als deskriptive Aussage über die Dogmengeschichte unzutreffend. Diese bewege sich vielmehr von komplexen zu einfachen Kategorien180. Wenn Engels nun aber doch die „logische Behandlungsweise"181 allein für angebracht halte, so sei sein Begriff des Logischen als Widerspiegelung des „entwicklungsgesetzlichen Zusammenhang^] der empirischen Geschichte"182 weiterhin zum Marxschen konträr. Mit einer solchen Parallelitätsthese könne sich Engels zunächst auf Hegels Geschichte der Philosophie stützen183, denn beide „steigen vom einfachen Sein zum in sich bestimmten Begriff auf'. Die Vermischung von Wesentlichem und Unwesentlichem in den konkreten Gestalten der Philosophie kann nach Hegel aber nur entwirrt werden, wenn die Kenntnis des Wesens schon vorhanden ist: „Der ,Begriff der Philosophie und seine .Geschichte' stehen [...] als horizontales und vertikales System aufeinander. Das vertikale [...] ist das abgeleitete; begriffene Geschichte ist immer Konstruktion, in der das ,Wesentliche' aus der Mannigfaltigkeit des Empirisch-Historischen herausgehoben wird"184. Geschichte gebe also keineswegs, wie noch Engels meine185, selbst die Ordnungskriterien ihrer theoretischen Strukturierung an die Hand. Auch bei Hegel sei somit keineswegs die Geschichte der Philosophie der Schlüssel zu ihrer Erkenntnis als System. Diese methodische Einsicht bringt nun, so Kittsteiner, in der Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels konträre Folgen, nämlich die völlige Disparatheit von Wesenserkenntnis und Geschichtsschreibung, logischer und historischer Abfolge der Kategorien, hervor: Die Rechtsphilosophie als „,horizontales' System gewordener Formen"186, die in ihrem Zusammenhang nach Hegel keineswegs die historische Ordnung reflektieren187, sei der Geschichtsphilosophie vorgeordnet, diese nur ein „,System' 178

Kittsteiner 1977, S. 28. MEW 13, S. 474 (MEGA U/2, S. 252). 180 Vgl. Kittsteiner 1977, S. 29; vgl. MEW 42, S. 35, 38 (MEGA II/l.l, S. 36, 39); 13, S. 42f. (II/2, S. 135): „Sie behandeln also das Problem in komplizierter Form, bevor sie es in seiner elementarischen Form gelöst hatten [...] Im Unterschied von andern Baumeistern zeichnet die Wissenschaft nicht nur Luftschlösser, sondern fuhrt einzelne wohnliche Stockwerke des Gebäudes auf, bevor sie seinen Grundstein legt". 181 MEW 13, S. 475 (MEGA II/2, S. 253). 182 Kittsteiner 1977, S. 30. 183 „Man kann meinen, daß die Philosophie in den Stufen der Idee eine andere Ordnung haben müsse, als die Ordnung, in welcher in der Zeit diese Begriffe hervorgegangen sind. Im ganzen ist die Ordnung dieselbe" (Hegel 1975, S. 59) (zitiert in Kittsteiner 1977, S. 31). 184 Beide Zitate: Kittsteiner 1977, S. 31. 185 „ein korrigiertes Spiegelbild, aber korrigiert nach Gesetzen, die der wirkliche geschichtliche Verlaufselbst an die Hand gibt" (MEW 13, S. 475) (MEGA II/2, S. 253). 186 Kittsteiner 1977, S. 32. 187 Vgl. Hegel 1989, S. 85f. oder auch 524f.: Der Fortgang vom Willen über das formelle Recht zur Moralität und schließlich Sittlichkeit ebenso wie die Bewegung von der Familie über die bürgerli179

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zweiter Ordnung und von Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft abhängig"188. Dies sei nun das methodologische Vorbild des Marxschen Vorgehens im Kapital189, allerdings in einer Weise, die die Grenzen dialektischer Darstellung reflektiere und Historisches sowohl in den logischen Begriffen und den damit erfassten Systemzusammenhängen als auch im Sinne ihrer Abhängigkeit von Voraussetzungen oder Begrenzungen identifiziere190. Marx' formgenetische Darstellung weist nach Kittsteiner in ganz anderer Hinsicht diverse ,,historische[...] Implikationen" auf als von der logisch-historischen Orthodoxie behauptet. Die Formanalyse ist demnach erstens ein historisierender Theorietypus, weil sie Wert und Wertformen aus zwar gegebenen, aber doch historisch-spezifischen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit heraus erkläre. Ihr Gegenstand sei zwar kein historisches Werden, aber doch historisch-gesellschaftlich Gewordenes, Nicht-Natürliches und Nicht-Ewiges. Zweitens weise das gewordene System ökonomischer Formen eine immanente „Entwicklungsrichtung"191 auf - die Strukturbedingte historische Dynamik von Produktivkraftentwicklung, Profitratenfall etc., die Bader u.a. anfuhren, bzw. die innere Historizität. Drittens spiele Historisches als dem System der kapitalistischen Produktionsweise Vorgängiges und damit von der Erklärung dieses Systems nicht direkt Betroffenes die Rolle der äußeren Begrenzung der Formanalyse - die ,äußere Historizität'192 des Kapitals. Kittsteiner sieht dabei als einer der wenigen Interpreten193, dass die Grenze dialektischer Darstellung im Kapital auch auf Seite 741 durch den fehlerhaften Zirkel streng begründet wird, in den sich eine Erklärung begeben würde, die nicht unterstellte, dass die ursprünglichen Produktionsbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise (Geldvermögen und freie Arbeitskraft) nicht selbst Resultate des Kapitals sein können194. Eine weitere (vierte), die Formanalyse begren-

che Gesellschaft zum Staat impliziere „nicht im mindesten" eine zeitliche Abfolge (vgl. in Kittsteiner 1977, S. 32). Vgl. auch Arndt 1985, S. 140. 188 Kittsteiner 1977, S. 32. 189 Dagegen sei die „Einheit des .Logischen' und .Historischen' [...] nichts als ein - zu Unrecht - aus dem Verhältnis des Begriffs der Philosophie zu seiner Geschichte übernommenes Attribut der d i a lektischen Methode'" (ebd., S. 36). 190 Vgl. auch Arndt 1985, S. 140: „Marx unterscheidet seine Methode von Hegels Auffassung nicht dadurch, daß er Logisches und Historisches anders ins Verhältnis setzen will; der Unterschied besteht vielmehr in der geschichtlichen Spezifizierung des Logischen auf eine historisch bestimmte Totalität". Zu den Grenzen der Dialektik vgl. ebd., S. 82, 137, 154. 191 Zitate der Reihefolge nach: Kittsteiner 1977, S. 33, 34 (Hervorhebung von mir, I.E.). 192 Vgl. ebd., S. 66 sowie Arndt 1985, S. 137: „zwar kann die Produktion vorgefundene historische Voraussetzungen in innere des Systems, von ihr selbst gesetzte, verwandeln, doch bleibt die Härte, daß das System an der historischen Nahtstelle seiner Entstehung auf solche Voraussetzungen angewiesen, keiner Selbstbegründung seines Werdens fähig ist". 193 Auch Reichelt (1973, S. 260) erwähnt diese Stelle, ist sich über deren methodologischen Status aber noch im Unklaren. 194 Vgl. MEW 23, S. 741 (MEGA II/8, S. 667): „Indes setzt die Akkumulation des Kapitals den Mehrwert, der Mehrwert die kapitalistische Produktion, diese aber das Vorhandensein größerer Massen von Kapital und Arbeitskraft in den Händen von Warenproduzenten voraus. Diese ganze Bewegung scheint sich also in einem fehlerhaften Kreislauf herumzudrehn, aus dem wir nur hinauskommen, indem wir eine der kapitalistischen Akkumulation vorausgehende ursprüngliche' Akkumulation [...] unterstellen, eine Akkumulation, welche nicht das Resultat der kapitalistischen

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zende Bedeutung des Geschichtlichen sei schließlich Historisches als ,„Empirisch-Faktischefsj *'195, beispielsweise die von Marx erwähnte „wirkliche Bewegung der Konkurrenz", die Sphäre der singulären Begebenheiten des Geschichtsprozesses, die jenseits von Marx' Betrachtung der idealen Oberfläche des Kapitals liege und eine gesonderte Untersuchung von „empirisch gegebnen Umständen"196 erfordere. In diesem Kontext unterscheidet Kittsteiner einige Jahre später verschiedene Bedeutungsgehalte von ,Form' resp. ,-weise' in der Kritik der politischen Ökonomie. So sei von Produktionsweise in einem doppelten Sinn die Rede: Einmal als „Art und Weise der Bearbeitung der Natur" im Sinne von industrieller oder handwerklicher Produktionsart. Zum anderen hinsichtlich einer „bestimmten gesellschaftlichen Form ihres Produkts"197 als Spezifik der Reichtumsordnung einer bestimmten gesellschaftlichen Totalität. Hiermit betrete man den „formgenetischen Diskurs", der Formen als historisch-spezifische ökonomische Gegenständlichkeit, als Existenzweisen des Doppelcharakters der Arbeit im Kapitalismus begreife198. Steht hier ,Form' für eine sozialformations- (!) spezifische sachliche Gestalt des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit, so sei, eben im Begriff Gesellschaftsformation', ,Form' in einem „weitergefaßten Sinn"199 anzutreffen - als bestimmte Art und Weise der Organisation von „Grundverhältnissen [...], die mehreren Gesellschaften gemeinsam sind"200 - z.B. Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse, wenn von einem „Formwechsel d[...]er Knechtung"201 die Rede sei; so der Vergesellschaftungszwang arbeitsteiliger Produktion, wenn von „spezifisch gesellschaftliche[m] Charakter"202 der Arbeit gesprochen werde; so die Aneignung von Mehrarbeit, wenn deren typische Aneignungsform erwähnt werde, die die Gesellschaftsformationen voneinander unterscheide203. Schließlich deute der Begriff der Formation als metaphorisch auf Gesellschaftliches übertragene geologische Kategorie der ,Gesteinsformation' auf Überlagerungs- und Determinationsverhältnisse zwischen „Schichten und Ebenen"204 einer Epoche hin.

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Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt". Vgl. Kittsteiner 1977, S. 34 sowie Kittsteiner 1980, S. 106. Kittsteiner 1977, S. 34 (Hervorhebung von mir, I.E.). Vgl. auch bereits Kittsteiner 1974, S. 423. Zitate der Reihefolge nach: MEW 25, S. 839 (MEGA II/4.2, S. 853), S. 800 (II/4.2, S. 732). Beide Zitate: Kittsteiner 1980, S. 109. In diesem Sinne definiert auch Joachim Hirsch den FormbegrifF als „aus den allgemeinen Vergesellschaftungsprinzipien [des Kapitalismus] resultierende, den Individuen in fetischisierter und verdinglichter Weise gegenüberstehende VerObjektivierungen ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs" (Hirsch 1994, S. 173, vgl. auch S. 161). Kittsteiner 1980, S. 109. Ebd., S. 110. MEW 23, S. 743 (MEGA II/5, S. 576). MEW 23, S. 88 (MEGA II/6, S. 105); vgl. auch 32, S. 552f. MEW 25, S. 799f. (MEGA II/4.2, S. 732). Kittsteiner 1980, S. 112. Deutlich ausgearbeitet ist dies in Nicos Poulantzas' Unterscheidung von Produktionsweise (Kapitalismus in seinem idealen Durchschnitt) und Gesellschaftsformation (faktisches Ganzes einer Gesellschaft als Überlagerung verschiedener Produktionsweisen). Vgl. Poulantzas 1978, S. 16,23.

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Auch die objekttheoretischen Auswirkungen der historizistischen Dialektik-Interpretation im Denken von Engels werden von Kittsteiner herausgestellt, nämlich die pragmatische Ableitung des Geldes, die Deutung der ersten drei Kapitel des Kapital als Theorie einfacher Warenproduktion und die historisierende Lesart des Umschlags des Aneignungsgesetzes sowie deren politische Implikationen. Er beschreibt zunächst Marx' Formanalyse des Geldes treffend als Erklärung der „systemnotwendigen Einheit von Ware und Geld unter entwickelten kapitalistischen Verhältnissen"205. Erst auf Grundlage einer solchen Wesensanalyse des Geldes, deren unentfalteten Kategorien „gar keine historische Gestalt"206 entspreche, ergäben sich Perspektiven für die historische Untersuchung seiner Entwicklung. Engels und - im Anschluss an diesen - Holzkamp verkehren diesen Zusammenhang und enden so in einem technischen Geldbegriff, der dieses ausschließlich als Mittel zur Erleichterung des Zirkulierens zeitlich vorausgesetzter, .einfacher' ökonomischer Formen (Waren) fasst und den inneren Zusammenhang mit diesen Formen ausblendet. Marx' Vorwurf an die Nationalökonomie, „das Geld aus den äußern Schwierigkeiten" des ,einfachen Tauschhandels' „abzuleiten"207 und es so als ökonomischen Gegenstand systematisch zu verfehlen, trifft nach Kittsteiner daher auch Engels208. Kittsteiner konstatiert nun eine doppelte legitimatorische Funktion des EngelsParadigmas fur den Realsozialismus. Speise sich die eine, wie vom westlichen Marxismus herausgearbeitet, aus der Naturdialektik, die „Naturvorgänge als ,Probe' fur eine bestimmte Verlaufsform des historischen Prozesses betrachtete"209 und so vom Proletariat die Unterordnung unter eherne ökonomische Notwendigkeiten forderte210, so resultiere die andere aus Engels' Methodenverständnis und rechtfertige, vermittelt über seine historische Deutung des Umschlags des Aneignungsgesetzes, die Ideologie sozialistischer Warenproduktion'. Der .Umschlag' hat im Kapital seinen Ort im Rahmen der Erörterung der Kapitalisierung des Mehrwerts. Vollzieht sich schon die .ursprüngliche' Verwandlung von Geld in Kapital im Einklang mit den Appropriationsgesetzen des Warentauschs, hat aber ein asymmetrischexploitatives Produktions Verhältnis zum Inhalt 2 ", so wird im Laufe des Akkumulationsprozesses die Arbeitskraft mit einem Teil ihrer eigenen, vom Kapitalisten unentgeltlich angeeigneten, Mehrarbeit vergütet212. Diese Kapitalisierung des Mehrwerts213 erfolgt dabei in 205

Kittsteiner 1977, S. 38.

206

Ebd., S. 38f.: „Der für die ganze Analyse zentralen .einfachen Wertform' ist unmittelbar gar keine historische Gestalt adäquat".

207

M E W 13, S. 36 (MEGA H/2, S. 129).

208

Vgl. Kittsteiner 1977, S. 39.

209

Ebd., S. 2.

210

Vgl. dazu bereits Kittsteiner 1974, S. 410-415: Die Existenz widersprüchlicher Interessen im System .sozialistischer' Lohnarbeit wird demnach durch die Postulierung einer Interessenidentität von Arbeiter, Betriebskollektiv und gesamtwirtschaftlicher Planung ideologisch verdeckt und ergeht als moralische Forderung an die Arbeiter, die Einsicht in die Notwendigkeit von als universell deklarierten .ökonomischen Grundgesetzen des Sozialismus' zu gewinnen. Dass diese Gesetze alles andere als .sozialistisch' sind (vgl. die Aufzählung in Autorenkollektiv 1974, S. 11 (zitiert in Kittsteiner 1974, S. 4 1 2 f (Fn.)), sei dabei nur am Rande bemerkt.

211

Vgl. M E W 23, S. 611 ( M E G A 11/10, S. 524).

212

Vgl. zur Beweisführung ebd., S. 608ff. Vgl. ebd., S. 605ff.

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voller Übereinstimmung mit dem Äquivalenzprinzip: Die Tatsache, dass der Mehrwert nun partiell als Lohnfonds des variablen Kapitals dient, ändert nichts an der Tatsache, dass dieser Mehrwert legitimes Eigentum des Kapitalisten darstellt, der aus der Zahlung des „gerechten Preis[es]"214 des Arbeitsvermögens entstanden ist und nun wiederum zur Zahlung des g e rechten Preises' und dadurch vermittelt zu neuer Mehrwertabschöpfung dient215. Marx nennt dies etwas missverständlich einen ,Umschlag' bzw. eine .Umwälzung' der Aneignungsgesetze des Warentauschs: Damit ist aber nicht eine Verletzung derselben durch den erweiterten Reproduktionsprozess des Kapitals bezeichnet. Marx distanziert sich wiederholt von solchen in der sozialistischen Bewegung verbreiteten Positionen, die, wie Proudhon, „das kapitalistische Eigentum abschaffen" wollen, indem sie „ihm gegenüber die ewigen Eigentumsgesetze der Warenproduktion geltend" machen216. Auch unterstellt Marx damit, wie nun Kittseiner zeigt, keineswegs eine historische Entwicklung von einem nichtausbeuterischen System .einfacher Warenproduktion' hin zum ausbeuterischen Kapitalismus217. ,Umschlag' meint hier vielmehr zum einen die systematische Implikation von Ausbeutung und Unfreiheit der unmittelbaren Produzenten in einer Ordnung universalisierten Warentauschs, die darstellungstechnisch nacheinander abgehandelt wird. Zudem bezeichnet .Umschlag' die begriffliche Destruktion der zirkulationsbedingten Vorstellung des auf eigene Arbeit gegründeten Eigentums, den Nachweis, dass diese nur auf der Grundlage einer Produktionsweise entstehen kann, die (Privat-) Eigentum (an Produktionsmitteln) als Rechtstitel auf unbezahlte Arbeit218 konstituiert. Engels deute den Umschlag im AntiDühring aber als historische Entwicklung von der einfachen Warenproduktion zum Kapitalismus219. Erstaunlicherweise ist es auch hier erst wieder Kittsteiner, der, nach Backhaus220, klar Engels als Urheber dieses Theorems benennt. Das PKA dagegen erwähnt Engels z.B. in seiner ausführlichen Kritik an Karl Kautskys historizistischem Kapital-Kommentar1^, die sich auch gegen dessen Interpretation des Umschlags des Aneignungsgesetzes wendet, mit keinem Wort. Aus diesem von realsozialistischen Autoren aufgegriffenen Theorem resultiert nun nach Kittsteiner Engels' Begriff des den Kapitalismus charakterisierenden Grundwiderspruchs 214 215 216 217

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Wie Marx (ebd., S. 612) sich gegen rechtsphilosophische Kritikmodi ausdrückt. Vgl. ebd., S. 612. Ebd., S. 613 (Fn.). Vgl. auch ebd., S. 99 (Fn.). Dies behauptet später in mythodologischer Manier Wildt 1986, S. 169f. Kritisch dazu Heinrich 1999, S. 254f., 275ff. Vgl. MEW 23, S. 329 (MEGA II/5, S. 248); 42, S. 369-371 (II/1.2, S. 365-267); 26.3, S. 369 (II/3.5, S. 1818). „Die Scheidung zwischen Eigentum und Arbeit wird zur notwendigen Konsequenz eines Gesetzes, das scheinbar von ihrer Identität ausging" (23, S. 610) (II/5, S. 473). Vgl. MEW 20, S. 151 (MEGA 1/27, S. 354): „Nun aber hat Marx im .Kapital' sonnenklar nachgewiesen [...], daß auf einem gewissen Entwicklungsgrad die Warenproduktion sich in kapitalistische Produktion verwandelt und daß auf dieser Stufe 'das auf Warenproduktion und Warenzirkulation beruhende Gesetz der Aneignung oder Gesetz des Privateigentums durch seine eigne, innere, unvermeidliche Dialektik in sein Gegenteil umschlägt'". Vgl. Backhaus 1997c, S. 69. Vgl. PKA 1976, S. 27. Das PKA weist daraufhin, dass die historische Deutung des Umschlags dazu führt, die einfache Zirkulation als Relikt zu verstehen und den spezifisch anonym-sachlichen, weil austauschvermittelten Charakter kapitalistischer Aneignung zu verfehlen.

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zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung. Die ,einfache Warenproduktion' vereinzelter Kleinproduzenten werde nach Engels durch die gesellschaftliche Produktion' der durch innerbetriebliche Arbeitsteilung ermöglichten höheren Produktivität kapitalistischer Unternehmen verdrängt. Diese ,Gesellschaftlichkeit', so Kittsteiner, ist aber eine vom Kapital gesetzte222 und nicht mit einer „unmittelbar-gesellschaftlichen Verausgabung der Arbeit" auf der Ebene gesellschaftlicher Arbeitsteilung zu verwechseln. Diese Konfundierung stelle sich bei Engels aber sukzessive dadurch ein, indem er .gesellschaftliche Produktion' - die Tatsache, dass Produktionsmittel im kapitalistischen Betrieb nur kollektiv anzuwenden und Produktionsprozesse bis ins Detail zerlegt und dadurch aufeinander bezogen sind - und ,private Aneignung' einander historisch gegenüberstelle. Die privatexklusive Aneignung von Mehrarbeit erscheint Engels nun „als historisches Relikt"223 aus der Epoche ,einfacher Warenproduktion', d.h. als Eigentumsbeziehung, die nur einer Produktionsweise angemessen sei, in der Produktionsmittel und Produkte die Gegenstände, Mittel und Resultate .eigener Arbeit' von Kleinproduzenten sind224. Damit ist nach Kittsteiner das Fundament für eine künstliche Trennung von Produktionsund Aneignungsweise gelegt225, die unterstellt, der Kapitalismus organisiere auf der Ebene gesellschaftlicher Arbeitsteilung bereits die Produktion direkt-planmäßig, diese sei nur noch von der rechtlichen ,Hülle' des Privateigentums zu trennen und politisch anders in Dienst zu nehmen. Hier, so Kittsteiner die Auffassungen Moishe Postones vorwegnehmend226, verschwindet der Doppelcharakter der Arbeit als ,,wirkliche[r] Grundwiderspruch des Kapitalismus" vollends aus dem Blickfeld, wird die Zusammenfuhrung der Arbeitskräfte und ihre Verbindung mit den Produktionsmitteln nicht mehr als Akt des Kapitals begriffen und der private Charakter gesellschaftlicher Arbeitsteilung übersehen, kurz: .gesellschaftliche Produktion' „verliert [...] ihr Merkmal vom Kapitalverhältnis bestimmt zu sein"227. An diese Konstellation knüpfe nun die offiziöse Politökonomie des ML an und modifiziere sie zugleich in Richtung einer Theorie originär228 sozialistischer Warenproduktion. Die

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Vgl. MEW 23, S. 352f. (MEGA II/5, S. 270). Beide Zitate: Kittsteiner 1977, S. 45. Vgl. MEW 20, S. 252 (MEGA 1/27, S. 437): „So wurden also die nunmehr gesellschaftlich erzeugten Produkte angeeignet nicht von denen, die die Produktionsmittel wirklich in Bewegung gesetzt und die Produkte wirklich erzeugt hatten, sondern vom Kapitalisten. Produktionsmittel und Produktion sind wesentlich gesellschaftlich geworden. Aber sie werden unterworfen einer Aneignungsform, die die Privatproduktion einzelner zur Voraussetzung hat, wobei also jeder sein eignes Produkt besitzt und zu Markte bringt. Die Produktionsweise wird dieser Aneignungsform unterworfen, obwohl sie deren Voraussetzung aufhebt. In diesem Widerspruch, der der neuen Produktionsweise ihren kapitalistischen Charakter verleiht, liegt die ganze Kollision der Gegenwart bereits im Keim". Vgl. in diesem Punkt auch kritisch zu Engels: Heinrich 1999, S. 386f. sowie generell zur Trennung von Produktions- und Aneignungsweise: Bensch 1995, S. 17-27, 86 (Anm. 57). Vgl. dessen 1983 erstmals (Brick/ Postone 1983) und 1993 (im amerikanischen Original) dargelegte Kritik des traditionellen Marxismus. Vgl. aber auch schon Wolf Wagner 1976, S. 93. Beide Zitate: Kittsteiner 1977, S. 45. Dies ist zu betonen, weil beispielsweise noch Stalins These von der Warenproduktion im Sozialismus noch nicht mit einer vorbehaltlosen Affirmation von Ware und Geld einhergeht. Nichtsdestotrotz ist seine These von einer „Warenproduktion besonderer Art" (Stalin 1979e, S. 420) im Sozia-

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vom Kapitalismus ohne weiteres zu übernehmende gesellschaftliche Produktion' kann demnach durchaus „warenwirtschaftlich organisiertf...]"229 sein, so der Engels-Exeget Leontjew. Die Auflösung des derart gedeuteten .Grundwiderspruchs' besteht danach nur noch in der Ersetzung der privaten durch gemeinschaftliche Aneignung der „warenwirtschaftlich organisierten gesellschaftlichen Arbeit". Ist bei Engels noch diffus von .Produktionsweise' als eigentlich schon direkt-gesellschaftlich organisierter, also sozialistischer, die Rede, so würden hier nun - im Gegensatz zu Engels230 - auch Ware und Geld als Elemente unmittelbarer Vergesellschaftung der Arbeit unterstellt, womit die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie ad absurdum geführt und die realsozialistische Begrifflichkeit in sinnloser Weise an diese rückgekoppelt werde. Konkrete und abstrakte Arbeit gelten der .sozialistischen politischen Ökonomie' demnach als „.Erscheinungsformen der unmittelbar gesellschaftlichen Arbeit'" 231 , das Wertgesetz als neutrales .„Mittel' für die Kontrolle und Durchführung der vom Plan gestellten Aufgaben"232. Nach Kittsteiner wird somit der Doppelcharakter der Arbeit, der „gerade besagt, daß die gesellschaftliche Arbeit nicht unmittelbar, sondern privat verausgabt wird, [...] zur Erscheinungsform - der unmittelbar gesellschaftlichen Arbeit deklariert"233. Statt also die Frage zu stellen, ob die Fortexistenz von Ware und Geld im Ostblock etwas mit deren gerade indirekter Vergesellschaftung der Arbeit und den dieser zugrundeliegenden Produktionsverhältnissen zu tun habe234, würden - unter Verweis auf die Lösung eines vermeintlichen .Grundwiderspruchs' - einfach „alle nun einmal existierenden Kategorien mit dem Prädikat des .Sozialismus' [...] versehen"235. Dieser Kritikansatz an einem .adjektivischen' Sozialismuskonzept wird im Laufe der 80er und 90er Jahre noch vertieft, der Konnex von Engels' (aber auch Marx') Äußerungen mit der Theorie sozialistischer Warenproduktion noch enger gesehen werden. Einige Präzisierungen zur Reflexion des Historischen im Rahmen logisch-systematischer Darstellung sowie der Problematik ihrer Voraussetzungen finden sich in der 1977 erschienenen Dissertation Form und Geschichte von Ulrich Müller. Dieser wendet sich gegen die Identifikation des Nachweises einer Historizität des Gegenstands der Ökonomiekritik mit

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lismus sowie von der Planung des Wertgesetzes in seinen Auswirkungen auf die .vergesellschafteten' Produktionssektoren (ebd., S. 423) eine Quelle der späteren Positionen. Leontjew 1970, S. 216 (zitiert in Kittsteiner 1977, S. 46). Vgl. Kittsteiner 1977, S. 41. Autorenkollektiv 1974, S. 94 (zitiert in Kittsteiner 1977, S. 47). Kittsteiner 1974, S. 411. Bereits hier formuliert er Grundzüge seiner Kritik an der Wertontologie des ML. Eine solche Kritik findet sich in Ansätzen auch bei Colletti (1971, S. 58). Er moniert die realsozialistische Deutung von Markt und Profit als „ihrer Natur nach - sozialistische^..] Institute". Kittsteiner 1977, S. 47. Diese Operation der Postulierung von Ware und Wert zu originär sozialistischen Kategorien einer planmäßig-arbeitsteiligen Vergesellschaftung findet sich in extremer Form auch bei Wolfgang Jahn (1968, S. 30ff.) bzw. im gesamten ML-Lehrbuchmarxismus (vgl. u.a. Autorenkollektiv 1969, S. 273ff.). Vgl. auch Eichhorn (1985, S. 1291): „Wert als Instrument des planmäßig geleiteten [...], nach den Prinzipien der Rechnungsführung und Kontrolle über das Maß der Arbeit und des Verbrauchs gestalteten sozialistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses. Dementsprechend wird das Wertverhältnis bewußt eingesetzt". Vgl. Kittsteiner 1974, S. 411. Kittsteiner 1977, S. 46.

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der theoretischen Nachzeichnung von dessen historischer Genese 236 . Der „wirkliche historische Charakter der Marxschen Wissenschaft" bleibe bei Engels oder Lenin, die als prominente Vertreter dieser Fehldeutung angeführt werden 237 , „dabei unaufgehellt" 238 . Neben den bisher berücksichtigten Problemen der historisierenden Lesart erkennt Müller zusätzlich die Gefahr einer geschichtsphilosophischen Überhöhung derselben: Werde die Darstellung des Kapital als Nachzeichnung der historischen Entstehung der kapitalistischen aus der .einfachen' Warenproduktion verstanden, jene also aus dieser .abgeleitet', so könne dieser für sich schon falsche Ansatz generell „auf den Übergang früherer historischer Gesellschaftsformationen in spätere übertragen werden" 239 und sich so in ein Modell der gesetzmäßigen Aufeinanderfolge von Produktionsweisen verwandeln. Damit sei der Gegenstand des Kapital „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft" 240 als „Bestimmungsgrund systematischer und in sich entfaltender Wiederholungshaftigkeit ablaufender Prozesse" umgedeutet in die durch „übergeschichtliche Universalgesetze" gestiftete Bewegungsmechanik eines „teleologisch gedachten Weltganzen". Das epochenspezifische Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise werde zum Geschichtsgesetz per se - eine Unterstellung, die „Gegner des Marxismus" mit „viele[n] Marxisten" 241 gemein hätten 242 , aber von Marx klar abgelehnt worden sei 243 . Gegenstand des Kapital sei also ein historisch spezifischer Reproduktionszusammenhang, dessen Charakteristikum darin bestehe, in sich erweiternder Weise einen beständigen Umschlag von Voraussetzung in Resultat und Resultat in Voraussetzung zu vollziehen 244 . Die Zirkularität des Gegenstandes werde dabei im Rahmen einer zirkulären Darstellung gedanklich reproduziert 245 . Eine materialistische Darstellung des kapitalistischen Systems habe aber zu berücksichtigen, dass es ein sich von vorgefundenen Voraussetzungen zu selbster-

236

Vgl. Müller 1977, S. 202. Die Konstatierung des historischen Gehalts der Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie verleitet noch den ansonsten methodisch elaborierten Beitrag von Jürgen Ritsert aus dem Jahr 1973 dazu, die Historizität des Gegenstands mit der Historie als Gegenstand zu konfundieren (vgl. Ritsert 1973, S. 118). Dementsprechend handele die Wertformanalyse auch die „,Mängel' einer realen Praxis" ab, „die sich auf vorkapitalistische Austauschformen stützt" (ebd.). 237 Vgl. ebd., S. 11, 203ff. 238 Müller 1977, S. 203. 239 Ebd., S. 207. Folgerichtig spricht Engels dann auch davon, Marx habe „das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte" entdeckt (MEW 19, S. 335) (MEGA 1/25, S. 407), wobei hier aber zunächst nicht eine Ablaufsnotwendigkeit, sondern die Determination des .Überbaus' durch die .Basis' gemeint ist. Allerdings meint Engels später, „daß der Lauf der Geschichte durch innere allgemeine Gesetze beherrscht wird" (MEW Bd. 21, S. 296, Herv. von mir). Dies wurde im ML schließlich zum „,Gesetz der Abfolge der Gesellschaftsformationen'", das die „.allgemeine historisch notwendige Tendenz des Fortschritts der Gattung Mensch'" (G. Stiehler zitiert nach Jaeggi (1977, 153)) festlege. 240 MEW 23, S. 15 (MEGA II/5, S. 13f.). 241 Zitate der Reihenfolge nach: Müller 1977, S. 208, 207, 208, 208. 242 Vgl. Zu den Gegnern vgl. u.v.a. Popper 1987, S. 39. 243 Vgl. Müller 1977, S. 209. Er rekurriert v.a. auf MEW 19, S. 111 f. (MEGA 1/25, S. 116f.). 244 Dies bewirke zugleich eine innere Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise (vgl. Müller 1977, S. 194f.). Vgl. dazu bereits Ritsert 1973, S. 45ff. 245 Vgl. Müller 1977, S. 188f. Marx spricht vom „Cirkellaufunsrer Darstellung" (MEGA II/4.1, S. 24).

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zeugten Resultaten fortarbeitender Zusammenhang sei, dessen Resultate schließlich wieder in Voraussetzungen zurückgebogen würden. Die Hereinnahme empirischer, nicht vom System ursprünglich selbst gesetzter Voraussetzungen sei von daher ein konstitutives Moment materialistischer Reflexion von Systemhaftigkeit. Zugleich erweise sie sich als methodisch in den Darstellungszusammenhang integrierte Berücksichtigung des Gewordenseins des Systems246. Die gesellschaftsspezifische Historizität der Reichtumsformen werde also nicht durch die Analyse des Werdens, sondern durch die im Rahmen der Systementfaltung erreichte Berücksichtigung des Gewordenseins eingeholt247; es sei, so Marx, „nicht nötig, um die Gesetze der bürgerlichen Ökonomie zu entwickeln, die wirkliche Geschichte der Produktionsverhältnisse zu schreiben. Aber die richtige Anschauung und Deduktion derselben als selbst historisch gewordner Verhältnisse führt stets auf erste Gleichungen [...], die auf eine hinter diesem System liegende Vergangenheit hinweisen"248. Allerdings, so Müller, sind nicht alle Voraussetzungen der Entstehung des Systems auch im Zuge begrifflicher Entwicklung zu berücksichtigen. Es müsse zwischen kontingenten und systematischkonstitutiven Voraussetzungen unterschieden werden249. Systematische Voraussetzungen seien durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Sie seien nicht verschwindende, sondern als Resultate reproduzierte und für den Systemzusammenhang unverzichtbare Bedingungen, die wieder hervorgebracht werden müssen, um den Kapitalprozess nicht zum erlöschen zu bringen250. Den ersten, kontingenten Typ repräsentieren demzufolge Phänomene wie die mögliche Selbsterarbeitetheit des Geldvermögens von Kapitalisten oder die Landflucht von Leibeigenen251. Solche Phänomene wiederholten sich nicht im Kapitalismus und seien keine entscheidenden Determinanten. Zudem gebe es zwar reproduzierte, aber fur die Kapitalform nicht konstitutive Voraussetzungen, wie das Handels- oder Zinskapital252. Die vom Kapital reproduzierten konstitutiven Voraussetzungen seiner selbst werden vor allem in der Warenform schlechthin253 und in der Warenförmigkeit der Arbeitskraft254 ausgemacht. Als konstitutive seien sie aber nicht nur in die Darstellung empirisch aufzunehmen, sondern in ihrem Rahmen auch wieder als notwendige Resultate abzuleiten - die Ware sowie die von ihren Realisationsbedingungen getrennte und derart als Ware auftretende Arbeitskraft als Produkte des Kapitals. Erst im Zuge der weiteren Darstellung werde so die Integration äußerlicher, zunächst unableitbarer Momente legitimiert: „Wenn es sich [···] um eine systematische Bedingung der kapitalistischen Produktion handelt, so ist diese auf deren Reproduktion angewiesen, um nicht zu erlöschen. Die Darstellung [...] hat daher diese Voraussetzung als notwendiges Resultat abzuleiten". Sie hätte „ihren Zweck verfehlt, die systematische Genese des Kapitals theoretisch zu reproduzieren, wenn sie sein Fungieren erklärt hätte mit Hilfe

246

Vgl. Müller 1977, S. 188, 191. Vgl. Ebd., S. 169. 248 MEW 42, S. 373 (MEGA II/1.2, S. 369) (zitiert in Müller 1977, S. 169). 249 Vgl. Müller 1977, S. 179. 250 Vgl. ebd., S. 170. 251 Vgl. ebd., S. 180. Müller bezieht sich auf die Beispiele in MEW 42, S. 372 (MEGA II/1.2, S. 368). 252 Vgl. Müller 1977, S. 181. 253 Vgl. ebd., S. 177. Vgl. MEGA II/4.1, S. 24, 27f. 254 Vgl. Müller 1977, S. 170ff. Vgl. MEW 23, S. 603 (MEGA II/5, S. 468); MEGA II/2, S. 91f. 247

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einer zwingenden Bedingung, die in der so bestimmten Gesellschaft nicht stets und massenhaft wieder hervorgebracht würde. Sie hätte dann das Kapital nicht abgeleitet"255. Die Thematik der Voraussetzungen wird auch fast 30 Jahre später von Frieder Otto Wolf wieder im Zuge einer systematischen Reflexion der Grenzen dialektischer Darstellung aufgeworfen. Wie Müller sieht auch Wolf in dem bewussten und offenen Umgang der Manischen Darstellung „mit ihren eigenen Grenzen"256 die differentia specifica materialistischer Dialektik257. Über das bisher Entwickelte hinaus, weist er aber darauf hin, dass auch für den Kapitalkreislauf reproduktionsrelevante Momente jenseits dieser Grenzen dialektischsystematischer Darstellbarkeit liegen. Es gibt demnach fortwährende externe Grundlagen des Reproduktionsprozesses, die nicht von der Autopoiesis des Kapitals eingeholt werden bzw. werden können. Wolf erwähnt dabei unter anderem nichtkommodifizierte Momente der Reproduktion der Arbeitskraft258, den beständig umkämpften Prozess der Produktivierung der Arbeitskraft, die nicht automatisch als arbeitswillige und loyale unterstellt werden könne259, sowie die Naturbedingungen der Produktion von Mehrwert. Diese unterlägen sogar umgekehrt einer systematischen Gefahrdung seitens des Akkumulationsprozesses, der somit, weit entfernt von der Selbstreproduktion, eher zur Destruktion seiner stofflichbiosphärischen Grundlagen tendiere260. Ohne die Möglichkeit einer systematischen Darstellung zu leugnen und damit in eine handlungstheoretische Hybris zu verfallen261, erweitert Wolf die qua ,empirischem Aufgreifen' in die Darstellung zu integrierenden Sachverhalte, die „aus der Sicht [der] Begriffsentwicklung"262 als kontingent zu bezeichnen seien. Der auch in materialistischen Kreisen durchaus anzutreffende hegelianisch-methodologische Verbalradikalismus, keine bloß empirisch vorgefundenen Determinanten als legitim zu betrachten263, wird von Wolf damit weit grundlegender als in den bisher betrachteten Positionen in Frage gestellt. Beschreiben und Erzählen werden damit, ohne empiristische oder historizistische Schlagseite, als nicht nur legitime, sondern fiir eine materialistische Dialektik sogar notwendige Elemente wissenschaftlicher Darstellung des Kapitals erkennbar. 255 256 257 258 259

260 261

262 263

Müller 1977, S. 170. F.O. Wolf 2006, S. 179. Vgl. ebd., S. 177f. Vgl. ebd., S. 170. Vgl. ebd., S. 171, 174, 180. Demnach reicht es nicht aus, die Arbeiter einmal in die Disziplin der kapitalistischen Produktionsweise hineinzufoltern (MEW 23, S. 765) (MEGA II/5, S. 59If.). An diesem Aspekt macht sich auch der verzweigte Diskurs des Operaismus und Post-Operaismus fest, wie der Überblick bei Laclau/ Mouffe 2000, S. 115ff. zeigt. Freilich läuft deren Position auf die handlungstheoretische Fiktionalisierung des Warencharakters der Arbeitskraft und jeglicher ökonomischer Gesetzmäßigkeiten hinaus, während der (Post-)Operaismus den berechtigten Hinweis auf die ,Politizität' des Produktionsprozesses mit einem revolutionsromantischen Begriff von Widerständigkeit der Arbeiterschaft verbindet. Vgl. F.O. Wolf 2006, S. 177. Wie dies bei Laclau/ Mouffe und z.T. bei Alex Demirovic der Fall ist, vgl. dazu die Bemerkungen in Kapitel 2.3 dieser Arbeit. F.O. W o l f 2 0 0 6 , S. 178. Vgl. Reichelt 1973, S. 142: „daß das äußerlich aufgreifende Verfahren des bürgerlichen Subjekts überwunden wird und keine Kategorie eingeführt wird, die sich nicht vollständig legitimiert hat".

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Auch Alexander Gallas spricht mit einer von Nicos Poulantzas eingeführten Unterscheidung264 davon, dass „Gesellschaftsformationen auf der Grundlage kapitalistischer Produktionsweise nur dann [existieren], wenn zum Formzusammenhang kontingente, d.h. nicht von ihm vollständig determinierte Faktoren hinzutreten"265. Am Beispiel der Marxschen Darstellung des Kampfes um den Normalarbeitstag wird dieses Phänomen erläutert, das Gallas auch als Auseinanderfallen der Existenz- und Reproduktionsbedingungen des Kapitals bezeichnet266. Entgegen handlungstheoretischer und strukturalistischer Reduktionismen müsse auf die Formbestimmtheit des Klassenkampfes einerseits und die Nichtableitbarkeit von dessen Resultaten aus den strukturellen Handlungsbedingungen andererseits hingewiesen werden. Die nur partielle Bedingtheit des Verhältnisses zwischen Arbeitern und Kapitalisten durch die Warenform, die Tatsache, dass die Dauer des Arbeitstages nicht durch das Wertgesetz bestimmt werden kann, weil es sich hier um die Konsumtion einer Ware, der Arbeitskraft, handelt, die jenseits der Bestimmungen der Zirkulation verortet ist, während die gegensätzlichen Ansprüche der Tauschenden sich gleichermaßen auf die mit ihrem Status als Warenbesitzer einhergehenden Rechte berufen können (beliebige Anwendung der .erworbenen' Ware einerseits vs. Erhalt der Arbeitskraft und damit des Status des wieder auf den Markt tretenden Arbeitskraftbesitzers andererseits), habe zur Folge, „dass die Akteure in einer spezifischen Weise zueinander angeordnet und zugleich freigesetzt werden". Der Klassenkampf muss somit aus den Formen des Kapitalismus heraus begriffen, kann aber in seinen Resultaten gerade nicht aus diesen Formen hergeleitet werden. Im Falle des Arbeitstages wäre es also prinzipiell möglich, dass das Kapital zwar zunächst seine Existenzbedingungen vorfindet und reproduziert, auf Dauer aber dieselben gefährdet. Es sei denn, bestimmte dauerhafte Reproduktionsbedingungen treten hinzu, die als kontingente Resultate des Klassenkampfs zu begreifen sind: die gesetzliche Regulation der Arbeitszeit, welche der langfristigen Zerstörung der Arbeitskraft durch Überarbeitung entgegenwirkt. Die hier erläuterte „Unvollständigkeit der Form" erfordere nun eine andere als die logisch-systematische Darstellungsweise, nämlich ein ,,historiographische[s] Narrativ[...] exemplarisch-verallgemeinernden Charakters", die Hinwendung zu realhistorischen Prozessen einer bestimmten Gesellschaftsformation, die in keiner Weise als Illustration bereits formanalytisch gewonnener Einsichten verstanden werden könne, weil sie gerade die notwendige Ergänzung des formanalytischen Verfahrens darstelle. Dies zeitige auch Konsequenzen für das Verständnis des Verhältnisses von Struktur und Handlung, resp. Form und Kampf im Marxschen Kapital: Zwar seien handlungstheoretische, bzw. kampfzentrierte Positionen daran zu erinnern, dass Formen nicht nur den Index der historischen Spezifik kapitalistischer Produktionsverhältnisse darstellen, sondern auch die Praxis der Akteure beeinflussende „verstetigte Handlungsbedingungen". Doch letztlich sei eine prinzipielle Gleichrangigkeit von Form und Kampf zu konstatieren. Damit meint Gallas zunächst den Sachverhalt, dass beide „in- und durcheinander" und gleichzeitig „nicht vollständig aufeinander reduzierbar" existieren. Darüber hinaus folge aber aus dem darstellungslogischen Tatbestand, dass Kämpfe den 264

265 266

Vgl. Poulantzas 1974, S. 12f.: Gesellschaftsformation ist der Begriff für eine realhistorische Existenzform einer Produktionsweise, bzw. einer Kombination von Produktionsweisen, die wiederum als theoretisch-abstrakte Objekte eine Form der Vergesellschaftung repräsentieren. Gallas 2006, S. 118. Vgl. ebd., S. 113.

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Formen nachgeordnet thematisiert werden, „kein reales UnterordnungsVerhältnis". Die Ordnung der Darstellung im Kapital folge lediglich der Notwendigkeit, synchron existierende Sachverhalte in ein kategoriales Nacheinander bringen zu müssen und Handlungen nicht als in der Luft schwebende begreifbar machen zu können267. Dabei bezieht sich Gallas auf die Formulierung von Marx aus dem 18.Brumaire, die Menschen machten „ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen"268. Marx konzipiere damit Praxis als „Wahlfreiheit unter Bedingungen"269. Mit dieser Gleichrangigkeitsbehauptung in einem weiteren Sinne geht aber der Gedanke der Verselbständigung des kapitalistischen Formzusammenhangs gegenüber den individuellen wie kollektiven Handlungskompetenzen der Akteure verloren und wird vor allem der Gedanke der Unbewusstheit der in das bewusste Handeln der Menschen eingelassenen vergesellschaftungsrelevanten Mechanismen ignoriert. Gerade dies, und nicht nur ein formales soziologisches Modell von Bedingungen und Handlungen, legitimiert den strukturanalytischen Primat in Marx' Darstellungsweise. Charakteristisch für diese Haltung von Gallas ist seine zunächst banale These, der stumme Zwang der kapitalistischen Formen zum Verkauf der Arbeitskraft als Ware bestehe für die sich als eigentumslos vorfindenden Arbeiter nur solange, wie „die Arbeiter die dauerhafte Verweigerung von Lohnarbeit nicht als Handlungsoption ansehen"270. Doch besteht der perfide Charakter der kapitalistischen Formen ja gerade darin, „den Individuen in fetischisierter und verdinglichter Weise gegenüberstehende Verobjektivierungen ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs"271 darzustellen, d.h. mit ihrer bloßen Existenz eine innere Barriere von Handlungs- oder Wahlfreiheit zu errichten, die diese Formen gerade nicht als zur Disposition menschlicher Veränderungskompetenz stehende erscheinen lässt, sondern als Naturbedingungen menschlicher Vergesellschaftung (Fetischcharaktere) oder .gerechte' Formen sozialen Zusammenlebens (,Preis der Arbeit'/ gerechter Lohn' usw.). Dass es dennoch prinzipiell möglich ist, auch diesen, mit der Formbestimmtheit des Handelns im Kapitalismus gegebenen Objektivitätsüberhang zu durchbrechen, soll damit natürlich nicht abgestritten werden. Schluss: Genetischer Fehlschluss Mit dem analytischen Philosophen Norwood Russell Hanson lassen sich wesentliche Aspekte der ,logisch-historischen' Methode, respektive der Postulierung einer .dialektischen' Einheit von logischer und historischer Betrachtung, der zufolge das Logische nichts als das idealtypisch oder entwicklungslogisch vereinfachte Historische sei, als genetischer Fehlschluss bezeichnen. Hanson unterscheidet neun Typen genetischer Fehlschlüsse von denen zumindest die Typen 2 und 3 für die Kennzeichnung der marxistischen Methodenorthodoxie in Frage kommen: Diese charakterisiert Hanson wie folgt: (Typ 2 bedeutet) „daß ein genetischer Fehlschluß dann auftritt, wenn eine Erklärung von S die zeitliche Ordnung der zu S 267 268 269 270 271

Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 117, 117, 115, 102, 117, 117. MEW 8, S. 115 (MEGA 1/11, S. 96f.). Gallas 2006, S. 117. Ebd., S. 107. Hirsch 1994, S. 173 (Hervorhebungen von mir, I.E.).

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fiihrenden tatsächlichen Ereignisse mit der logischen Ordnung vermengt, in der S entwickelt werden mufîL; (Typ 3 liegt dann vor), „wenn eine Erklärung des Zustandekommens von S mit einer Erklärung der hier und jetzt gegebenen strukturellen Beschaffenheit von S verwechselt wird. Die historische Entwicklung wird dabei nicht mit einer logischen Abfolge bis hin zu S verwechselt [...], sondern vielmehr mit der begrifflichen Analyse dessen, was S ist. Genetische Erörterung tritt dann an die Stelle einer Erklärung ,des Wesens von S' und nicht an die Stelle einer .Argumentation zur Stützung von S', wie früher". Hanson betont, dass genetische Fehlschlüsse, im Gegensatz zu genetischen Erklärungen, aus einer „Vermengung von Diskursebenen" resultieren, die als solche nicht erkannt werden. Aussagen über historische Fakten operieren demnach „auf einer Ebene, die verschieden ist von der Ebene der Aussagen, die mit der Analyse von Strukturen [...] zu tun haben". Dies gelte auch dann, „wenn die genetische Darstellung und die strukturelle Analyse aus Behauptungen des gleichen logischen Typs aufgebaut sind, - d.h. wenn sie alle , faktisch, synthetisch, kontingent und aposteriorisch' sind"272. Diese wissenschaftstheoretischen Vorbehalte stimmen mit dem aus den Reihen einer neuen Marx-Lektüre geäußerten Argument überein, dass, selbst wenn bisweilen logischer (struktureller) Zusammenhang von Bestimmungen und historische Abfolge übereinstimmen sollten, diese historische Abfolge und ihre wie auch immer vereinfachte Darstellung keine Begründungsfiinktion für das Begreifen der Struktur kapitalistischer Formbestimmungen aufweisen können. So argumentiert beispielsweise Michael Heinrich: „Entscheidend ist aber nicht die Parallelität oder Nicht-Parallelität der kategorialen Darstellung mit der historischen Entwicklung. Denn selbst wenn eine Parallelität vorliegt, liefert sie für die Darstellung keine Begründung"273. Der Zusammenhang der Formen des gesellschaftlichen Reichtums, das Bestehen (und damit die Reproduktion) der kapitalistischen Produktionsweise ist demnach nicht mit Darstellungen ihrer historischen Genesis zu erfassen, sondern ausschließlich aus der Analyse selbstreproduktiver Prozesse dieser Formation heraus274. Das Dialektische an der Marxschen Darstellungsweise kann also nicht in der Konfundierung struktureller mit historischen Diskursebenen bestehen. Worin es aber dann besteht, das soll im nächsten Kapitel geklärt werden.

272 273 274

Zitate der Reihenfolge nach: Hanson 1978, S. 69, 70, 87, 83, 85. Heinrich 2003, S. 402. So stellt Norbert Kostede für die Trennung von Staat und Ökonomie im modernen Kapitalismus kontrastierend zum historischen Prozess ihrer Diremtion fest, die „notwendigef...] Diremtion des bürgerlichen Staates [...] kann ausschließlich, aus nichts anderem als aus der inneren Struktur der bürgerlichen Gesellschaft erklärt werden" (Kostede 1980, S. 66).

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1.2.2 Operative Dialektik oder: Darstellung in Widersprüchen Das Bemühen um einen emphatischen, dialektischen Wissenschaftsbegriff in Abgrenzung vom ,Positivismus' findet sich im marxistischen Diskurs bereits in den Schriften von Georg Lukács aus den 1920er Jahren und wird vom interdisziplinären Materialismus der kritischen Theorie Frankfurter Provenienz auf breiter Ebene fortgeführt. Allerdings bieten diese Ansätze keine genauere Explikation ihrer methodologischen Begrifflichkeit anhand des wirklichen Vorgehens in Marx' Kritik der politischen Ökonomie, selbst wenn dieser, wie bei Horkheimer, geradezu eine mit Descartes' Discours de la méthode vergleichbare Begründungsfunktion hinsichtlich dialektischen Denkens zugestanden wird1. Weil sie also Marx' „.operative Methode'"2, die im Kapital wirklich vorliegende Darstellungsweise, nicht untersucht haben, sollen diese Beiträge uns hier nicht weiter beschäftigen. Exemplarisch seien an dieser Stelle nur Aspekte von Theodor W. Adornos Explikationsversuch des Begriffs einer dialektischen, über kritisch-rationalistische Positionen hinausweisenden Wissenschaft erwähnt. Dabei wird deutlich, wie es Adomo nur mittels unzulässiger Äquivokationen und Präsuppositionen gelingt, eine methodologische Spezifität dialektischer Wissenschaft auszuweisen, indem er dialektische Widersprüche des Objekts in die Nähe logischer Widersprüche des Subjekts resp. der Theorie lanciert, um diese damit als ,dialektisch' zu legitimieren. Innerhalb eines „logisch-szientistischen Denksystems" seien die „realen Antagonismen" der kapitalistischen Produktionsweise nicht zu begreifen, denn: „Funktionieren kann auch der Schrecken ohne Ende, aber funktionieren als Selbstzweck, getrennt von dem, wofür es funktioniert, ist nicht weniger ein Widerspruch als irgendein logischer, und Wissenschaft, die davor verstummt, wäre irrational"3. Ganz rational ist allerdings Adornos Charakterisierung der Logik des Kapitals selbst nicht. Schließlich hat dieses nicht menschliche Zwecke im Sinne der Befriedigung von Bedürfnissen nach Gebrauchswerten zum Zweck, sondern die Akkumulation von Wert, also stofflich inhaltsleerer Gesellschaftlichkeit unter Bedingungen privatautonomer Produktion. Der Kapitalismus verselbständigt so zwar das immanente Ziel materieller Reproduktion von den Bedürfnissen der Menschen. Einen wie auch immer identitätslogisch unfassbaren Widerspruch stellt dies aber nicht dar: Das ,Wofür' des Funktionierens ist eben anders, stofflich-inhaltsleer, bestimmt. Auch das folgende, konkreter auf Marx' Ökonomiekritik eingehende Beispiel Adornos verfehlt sein hoch gestecktes Beweisziel, die (logische) Widersprüchlichkeit von Theorien durch den widersprüchlichen Charakter ihres Gegenstands zu rechtfertigen4 und damit den Popperschen Ansatz .dialektisch' zu überbieten: Adorno spricht von der „,logischen' Widersprüchlichkeit" des Tauschs, da die ,3ehauptung der Äquivalenz des Getauschten, Basis allen Tausches, [...] von dessen Konsequenz desavouiert" wird. Der Austausch verkehre sich durch Ausdehnung auf den zwischen Arbeitskraft und Kapital zu einem Unfreiheits- und Ungleichheitsverhältnis, dessen Formel laute:

1 2 3 4

Vgl. Horkheimer 1988, S. 217. F.O. Wolf 2006, S. 159. Beide Zitate: Adorno 1998c, S. 308. Vgl. ebd.: „Der dialektische Widerspruch drückt die realen Antagonismen aus, die innerhalb des logisch-szientistischen Denksystems nicht sichtbar werden".

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„daß beim Tausch alles mit rechten Dingen zugeht und doch nicht mit rechten Dingen"5. Marx' Pointe einer Erklärung der Entstehung von Profit auf der Basis des Äquivalententauschs beruht aber nicht auf der Aufstellung einer Aussage und ihres Gegenteils vom Tauschprozess, sondern zeigt, dass die reellen Bestimmungen der Freiheit und Gleichheit im Tausch mit denen von Fremdbestimmung und Ausbeutung auf einer anderen Ebene, dem unmittelbaren Produktionsprozess als Konsumtionsprozess von Arbeitskraft, intraaktiv6 verbunden sind. Damit kritisiert Marx zugleich die Projektion der Bestimmungen des Tausches auf den gesamten Reproduktionsprozess des Kapitals und ihre begriffliche Verfehlung als bloßes Struktur/wome/ji desselben. Die Beschäftigung mit dem dialektischen Charakter der ökonomiekritischen Darstellung oder auch nur einiger ihrer Aspekte bleibt bei Adorno also unausgegoren. Doch auch innerhalb der neuen Marx-Lektüre wird das Konzept einer logisch-systematischen Darstellung seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre durchaus kontrovers diskutiert. Die noch im Positivismusstreit der 1960er Jahre stark weltanschaulich aufgeladenen methodologischen Fronten7 weichen dabei aber auf und verlagern sich sukzessive in den marxistischen Diskurs hinein, was auch von zeitgenössischen Vertretern der parteioffiziellen Doktrin argwöhnisch konstatiert wird8. Es artikulieren sich auch an der analytischen Wissenschaftstheorie und am stnikturalen Marxismus orientierte Positionen, die im weitesten Sinn ,hegelmarxistischen' bleiben aber dominant. Sämtliche dieser Ansätze bemühen sich dabei um eine Klärung des von Marx postulierten dialektischen Charakters der Darstellung und eine Beantwortung der Frage, in welcher Hinsicht diese mit gängigen wissenschaftstheoretischen Erklärungsmodellen kompatibel ist. Die zuerst exemplarisch vorgestellten analytischen Positionen lassen eine Entwicklung von traditionell ,Popperianischen' über eine modelltheoretisch-,mythodologische' bis hin zu einer die darstellungsstrategische Funktion der Dialektik akzentuierenden Sichtweise erkennen. Sie alle speisen sich aus dem berechtigten Motiv, dem Missbrauch des Wortes .Dialektik' als „nichts aufschließendefs] Schlüsselwort[...]"9 den Kampf anzusagen. So schlägt beispielsweise Hubert Rottleuthner aus einer analytischen 5

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Alle Zitate: Ebd., S. 307. Damit könnte Adorno auf die Zirkulations-Produktions-Antinomie bei Marx anspielen, die lautet: „Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen und es kann ebensowenig aus der Zirkulation nicht entspringen. Es muß zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen" (MEW 23, S. 180) (MEGA II/5, S. 119). Vgl. zu diesem Begriff, der eine innere Relation im Gegensatz zu den Eigenschaften der Relata äußerlichen Wechselwirkungen meint, im Anschluss an Roy Bhaskar: Ritsert 1997, S. 106. Zur Entwicklung der Kontroversen zwischen Kritischer Theorie und logischem Empirismus bzw. kritischem Rationalismus vgl. die Darstellung von Dahms 1998. Obwohl er die zentralen objekttheoretischen Differenzen (z.B. Totalitätsperspektive vs. methodischer Individualismus) der konkurrierenden Ansätze systematisch ausblendet, zeigt er doch, dass die Geschichte der Positivismuskritik der Frankfurter Schule von elementaren methodologischen Missverständnissen und Unkenntnis des Gegenstands geprägt ist. Vgl. dazu die von politischen Unterstellungen nur so wimmelnde Polemik von Ruben/ Schnauss 1981, S. 55f. Korrekt heißt es dort aber, „daß sich jüngere Methodologen entschlossen haben, das Werk von Marx nunmehr nicht als Reflex des Vergehens gegen die Standards der bürgerlichen Wissenschaftstheorie zu denunzieren, sondern es vielmehr als [...] Ausdruck der Übereinstimmung mit diesen Standards der Öffentlichkeit zu präsentieren" (ebd., S. 55). Wie der Existenzialist Jean Améry sich 1967 ausdrückt (Améry 2004, S. 279).

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Perspektive vor, das Wort Dialektik zunächst als Platzhalter einer noch ausstehenden Präzisierung von Relationstypen zu begreifen: „immer wenn eine dialektische Beziehung behauptet wird, sollte man statt dessen zunächst von ,irgendeiner' sprechen. Der Ausdruck »dialektisch' würde dann nicht mehr als das lösend-erlösende Wort empfunden, sondern als Aufforderung verstanden werden können, nach den Beziehungen im einzelnen zu suchen"10. Solche Ansätze unterscheiden sich aber vom bisherigen Umgang mit Marx, vor allem in kritisch-rationalistischen Kreisen, dadurch, dass sie dem Kapital einen genuinen Wissenschaftsanspruch zubilligen". I. Marasche Dialektik in der Perspektive analytischer Positionen Roland Simon-Schaefer beansprucht, den rationalen Gehalt dialektischer Aussagen zu rekonstruieren und zugleich methodologische Missverständnisse auf Seiten der Dialektiker wie der Anti-Dialektiker zu kritisieren - beide verfehlen ihm zufolge nicht selten ihren Gegenstand12. Poppers kritischer Rationalismus, an den Simon-Schaefer anknüpft, ersetzt zunächst die Suche nach positiven, letzten Erkenntnisgründen durch das negative Prinzip einer Suche nach Widersprüchen zu falsifizierbar formulierten Hypothesen, um den logischen Fallstricken und wissenschaftspolitischen Konsequenzen des „Münchhausen-Trilemmas"13 absolutistischer Begründungsstrategien zu entgehen14. Simon-Schaefer folgt dabei Poppers Dialektikverständnis im Sinne eines deskriptiven Modells von Theoriendynamik als Erkenntnisfortschritt durch Kritik15 - also logischen Widersprüchen in oder zwischen Theorien: Eine unzureichende Theorie T p ruft Kritik seitens Theorie T„ hervor16, wobei der Streit

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Rottleuthner 1975, S. 262. Vgl. Steinvorths Popper-Kritik (1977, S. 62) und Simon-Schaefer noch im Jahr 1994, S. 203: „Der Versuch, der Marxschen Theorie die Wissenschaftlichkeit abzusprechen, muß erfolglos bleiben". Vgl. Simon-Schaefer 1974, S. 207; 1977, S. 366. Vgl. Albert 1991, S. 15 [13]: Letztbegründungsversuche resultieren demzufolge 1) in einem infiniten Regress, 2) einem logisch fehlerhaften Zirkel oder 3) einem Abbruch des Begründungsverfahrens. Keine dieser Varianten führe zu einer sicheren Grundlage der Erkenntnis. Die letztere, die als theologisches Erbe des neuzeitlichen Rationalismus wie Empirismus gleichermaßen identifiziert wird (vgl. ebd., S. 22 [19]), impliziere die Idee unmittelbarer Erkenntnis (ein „Offenbarungsmodell" (24) [21]) und ende im willkürlichen Dogmatismus, der letztlich jeden Erkenntnisfortschritt suspendiere. Ein dem Popper-Albertschen verblüffend ähnliches Plädoyer für eine „antiabsolutistische[...] Philosophie" findet sich in einem Text des polnischen Marxisten Leszek Kolakowski aus dem Jahr 1959 (vgl. Kolakowski 1960, S. 279). Auch er betont die theologischen Wurzeln und repressiven Implikationen der Suche nach Gewissheit („Die Offenbarung ist also ihrer Aufgabe nach ein Schulbuch fur den Inquisitor" (ebd., S. 261)) und widerlegt ihre Vorstellung eines unvermittelten Zugangs zur Wahrheit (vgl. ebd., S. 265). Allerdings rückt Popper in der Einschätzung sozialwissenschaftlicher Methoden von seinem Falsifikationismus ab, indem er hier statt revidierbarer Gesetzeshypothesen nichtrevisionsbedürftige Rationalitätssuppositionen bezüglich der Handelnden am Werke sieht. Zur Kritik dieser ,hermeneutischen' Wende Poppers vgl. Schmid 1993, S. 50f. sowie Albert 2003, S. 30f. Vgl. Popper 1966, S. 263-268 sowie Albert 1991, S. 52ff. [43ff.] Theorieentwicklung durch Widerspruch kann dabei nach Popper folgende Gestalten annehmen: 1) Identifizierung von Widersprüchen in T p ; 2) Negation der Thesen von T p insgesamt; 3) Aufzeigen

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beider Theorien in einer dritten, „die die Erklärungsleistungen von These und Antithese in sich vereinigt"17, gelöst wird oder T„ soweit modifiziert wird, dass sie die gültigen Erklärungen von Tp berücksichtigen kann. Dialektische Theorien als Metatheorien des Erkenntnisfortschritts setzen damit, so Simon-Schaefer, die Geltung des Non-Kontradiktionsgebots voraus18. Die Fehldeutung von Dialektik als Negation desselben und als Konjunktion logisch widersprüchlicher Aussagen führe dagegen zum Stillstand der Theoriendynamik sowie zum Irrationalismus19. Aus deskriptiven dialektischen Theorien ließen sich aber keine Gesetze der Wissenschaftsentwicklung gewinnen. Man könne aus ihnen keine Prognosen darüber erstellen, „welche Theorien in der nächsten Zukunft entwickelt werden", da „wir heute unser Wissen von morgen nicht kennen"20. Aus ihnen lasse sich mit Popper allenfalls ein methodisches Prinzip gewinnen: Die Beschreibung des Erkenntnisfortschritts als Prozess ohne „Gesamtsubjekt", der durch das „dialektische Zusammenwirken"21, d.h. durch Rede und Gegenrede, vieler Akteure bewirkt wird, ergebe für das Einzelsubjekt des Forschers die Anweisung, die Gegenrede (Kritik/ logischer Widerspruch) der anderen in sich zu antizipieren und seine eigenen Theorien beständig der Kritik auszusetzen - die Methode des Falsifikationismus22. Beim Übergang zum objekttheoretischen Gebrauch ändert Simon-Schaefers DialektikBegriff seine Bedeutung - von der Bezeichnung eines Prozesses der Generierung und Lösung logischer Widersprüche zwischen Theorien zur der eines Prozesses von Reziprozitäten zwischen Elementen der nichttheoretischen Wirklichkeit. Genau diese Differenz zu verwi-

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von Widersprüchen zwischen den Hypothesen von T p und Tatsachenaussagen. Vgl. Popper 1966, S. 266. Simon-Schaefer 1977, S. 367. Vgl. Simon-Schaefer 1974, S. 211; Popper 1966, S. 267. Bereits Aristoteles hat im vierten Buch der Metaphysik eine transzendentale Begründung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch formuliert (vgl. Aristoteles 2005, S. 102-113 (1005b-1009a)): Etwas aussagen heißt demzufolge immer etwas zu verstehen geben. Etwas zu verstehen geben bedeutet etwas Bestimmtes mitteilen. Etwas Bestimmtes mitteilen wiederum kann man nur, wenn ein Prädikat nicht zugleich sein Gegenteil bedeutet (vgl. ausführlich Tugendhat/ Wolf 2004). Nach Popper kann „aus einem Paar kontradiktorischer Aussagen [...] jede beliebige Aussage logisch gültig abgeleitet werden" (Popper 1966, S. 267). Vgl. im marxistischen Feld dazu u.a. F.O. Wolf 1983c, S. 115: „Wenn wahre Aussagen über die Welt notwendig kontradiktorisch sind, ist es weder möglich, irgend etwas Bestimmtes über die Welt zu erkennen - da aus einer formallogischen Kontradiktion jegliche beliebige andere Aussage ableitbar ist (sowie auch deren jeweilige Negation), noch gar irgendeine Behauptung über die Welt als wahr zu begründen, da jeder irgendwie begründeten Behauptung kraft der logischen Implikation der Kontradiktion wiederum jede beliebige andere Behauptung mit gleichem Recht entgegengestellt werden kann". Simon-Schaefer 1977, S. 368. Mit diesem Argument arbeitet auch Popper bei seiner Widerlegung der Möglichkeit geschichtsphilosophischer Prophetie; vgl. Popper 1987, S. Xlf. Simon-Schaefer 1977, S. 368. Auch Christoph Hubig versteht die Auflösung dialektischer Widersprüche als Prozess der „Prämissenrevision" (Hubig 1978, S. 121), versucht aber ein kritisch-rationalistisches von einem kritischmarxistischen Projekt derselben abzugrenzen (vgl. ebd., S. 120ff, 159f.).

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sehen, betrachtet er als zentralen Fehler der ,positivismuskritischen' Dialektiker23. Realdialektische Widersprüche werden als „Polaritäten, zwischen denen reale Wechselwirkung"24 besteht, als Spezialfälle kausaler Relationen in „Rückkoppelungssystemen"25, definiert. Ein dialektisches Gegenstandsverständnis impliziere zudem die Kritik sowohl an essentialistischen Holismen, die dem historischen Prozess ein Gesamtsubjekt und Telos unterstellen26, als auch an elementaristischen Positionen, die einzelne Größen isoliert betrachten und „aus sich heraus erklären"27 wollen. Die Darstellung dialektischer Sachverhalte erfordere aber keine spezifisch dialektische Methode (der Erklärung). Alle Versuche, eine solche als spezifisch Marxschen Typus wissenschaftlicher Argumentation zu rekonstruieren, müssen demnach scheitern und unsinnige „Begriffsmonstren" gebären. Marx' Methode im Kapital ist gemäß dieser einheitswissenschaftlichen Perspektive nichts anderes als eine deduktivnomologische Erklärung dialektischer Sachverhalte. Die Widersprüche seien dabei „keine [...], in die sich der Autor Marx verwickelt und die er durch dialektisches Argumentieren, d.h. durch Abwägen von Argument und Gegenargument löst", sondern Widersprüche (im metaphorischen Sinn) der Sache selbst, im Sinne von „Polarität[en], Gegenwirkung[en], Antagonism[en]"28. Verwendungsweise wissenschafts(meta-) theoretisch objekttheoretisch

Theorie deskriptives Modell der Theoriendynamik Theorie reziproker Kausairelationen

Widerspruchstyp logische (in oder zwischen Theorien)

Methode falsifikationistische Methode der Prüfung

»ichtlogische (zwischen Elementen der Realität)

deduktivnomologische Methode der Erklärung

(Tabelle: Dialektik nach Simon-Schaefer)

Auch die „Dialektik von Analyse und Synthese"29 - die Bewegung vom Konkreten zum Abstrakten und von dort aus wieder zum (begriffenen) Konkreten, die Marx in der Einleitung der Grundrisse schildert - , stelle keinen neuen wissenschaftlichen Rationalitätstypus dar, sondern eine gängige Kombination bekannter nichtdialektischer Methoden30. Die Diffe-

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Vgl. Simon-Schaefer 1977, S. 380: „Die begrifflichen Schwierigkeiten, in die viele Dialektiker sich selbst gebracht haben, rühren also daher, daß sie eine Terminologie aus dem Bereich der Metatheorie unkritisch in die Theorie übertragen haben". Simon-Schaefer 1974, S. 215. Simon-Schaefer 1977, S. 370. Vgl. ebd. S. 372. Ebd., S. 378. Zitate der Reihenfolge nach: Simon-Schaefer 1974, S. 216, 216, 222. Simon-Schaefer 1973, S. 104. Vgl. auch Ritsert/ Reusswig 1991, S. 30f., die auf die Verwandtschaft von Marx' in der Einleitung zu den Grundrissen propagierter Methode mit Descartes' analytisch-synthetischem und J.St. Mills

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renz zwischen einer deduktiven Entfaltung und einer dialektischen Behandlung von Theorien besteht dann allein darin, dass erstere logische Ableitungen aus als gültig erachteten Prämissen produziert, während letztere im Versuch der Falsifikation der Prämissen besteht31. Eine dialektische, d.h. falsifikatorische Methode der Theoriebildung sei also nur auf den Entdeckungszusammenhang einer Theorie, die ,Forschungsweise', zu beziehen32. Simon-Schaefers Betrachtungen zur Marxschen Methode bewegen sich auf einer hochabstrakten wissenschaftstheoretischen Ebene und verfehlen, sobald sie konkreter werden, die Spezifik der Kritik der politischen Ökonomie: Eine genaue Analyse der Bedeutungsschichten des Widerspruchsbegriffs bleibt Desiderat. Eine darstellungsstrategische Funktion33 desselben - neben einer deskriptiven - wird ausgeschlossen. Nicht einmal die Verwendung von Problemantinomien34, also, im Sinne des hier präsentierten Konzepts,, metatheoretischdialektischer' Elemente im Rahmen deduktiver Ableitung, wird wahrgenommen. Dagegen wird die logisch-historische Lesart akzeptiert35 und der Darstellungsgang im Kapital als Abfolge historisch-empirischer Modelle interpretiert (das Modell einer .warentauschenden Gesellschaft ohne Geld' wird abgelöst durch das von einer ,Geld verwendenden Sozialformation' und schließlich durch das einer Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie'36), was schließlich zur These einer methodologischen Identität zwischen Smith, Ricardo und Marx führt37 und durchaus als „Trivialisierungsstrategie'e% bezeichnet werden kann.

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induktiv-deduktivem Verfahren hinweisen. Vgl. auch, mit Bezug auf Simon-Schaefer, Henning 2005, S. 37 (Fn. 15). Vgl. Simon-Schaefer 1974, S. 212. Vgl. Simon-Schaefer 1973, S. 119. Zum Begriff vgl. Kocyba 1979, S. 95. Vgl. weiter unten in diesem Kapitel. Zum Begriff vgl. Narski 1973. Vgl. weiter unten in diesem Kapitel. Vgl. Simon-Schaefer 1973, S. 102; 1974, S. 222. Noch 1989 ist Simon-Schaefer der Ansicht, dass Marx im Kapital „eine idealtypisch vereinfachte historische Herleitung des Kapitalismus" (1994, S. 200) gibt. Vgl. Simon-Schaefer 1977, S. 379: Marx „geht [...] im ersten Band [...] aus von einer Waren produzierenden und Waren tauschenden Gesellschaft, zeigt die Veränderung auf, die die Einführung des Geldverkehrs bedingt, schreitet dann fort zur im eigentlichen Sinne kapitalistischen Wirtschaftsform und entwickelt die Theorie des Mehrwerts". Vgl. dazu die folgenden Anmerkungen zu Meek. Vgl. Simon-Schaefer 1974, S. 225. Hubig 1978, S. 6. Hubig verwendet den Terminus, um allgemein die Umgangsweise der konkurrierenden Positionen im Methodenstreit zwischen Dialektik und analytischer Wissenschaftstheorie zu kennzeichnen: Die andere Position werde um ihre Spezifik gebracht, indem sie auf eine vermeintlich längst bekannte und zudem präziser formulierte Theorie zurückgeführt wird. Doch selbst Ansätze, die, wie der Christoph Hubigs, mit enormem begrifflichem Aufwand auf metametasprachlicher Ebene die Kontroversen zwischen dialektischer und analytischer Methodologie (die wiederum die metasprachliche Ebene zu den Objektsprachen der Einzelwissenschaften und ihrer Methoden darstellt) zu klären beanspruchen (vgl. ebd, S. 7), arbeiten bisweilen mit dogmatischen Setzungen bezüglich der Leistungsfähigkeit des deduktiv-nomologischen Wissenschaftsverständnisses, um sich eine Spezifik dialektischen Denkens zu erschleichen: Die Spezifik dialektischer Theorie wird von Hubig dabei in deren Thematisierung von Widersprüchen zwischen subjektiven Sinngehalten von Akteuren (ihre Handlungsintentionen und Weltdeutungen) und objektiven, verselbständigten Sinngehalten gesellschaftlicher Zusammenhänge (nichtintendierte Handlungsfolgen und mit den Deutungen der Akteure unvereinbare Wirklichkeitsgehalte) gesehen (vgl. S. 69,

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Die hier unterstellte modelltheoretische Lesart der Manschen Kritik bewegt sich dabei noch vollends in den bereits in den 50er Jahren von Ronald L. Meek vorgezeichneten Bahnen. Meeks modelltheoretische Einordnung des Marxschen Ansatzes stellt eine modifizierte Version des historizistischen Paradigmas dar. Danach liegt einem ökonomischen Modell eine „,Vision' vom Wirtschaftsprozeß" zugrunde, ein Set sozialtheoretischer Grundannahmen über die Struktur des gesellschaftlichen Ganzen und seine vornehmlich determinierenden Faktoren. Nach der Prüfung ökonomischer Fakten werden diese daraufhin auf einer der Vision entsprechenden Relevanzskala eingeordnet. Die als wesentlich angesehen Fakten dienen zur Konstruktion konkreterer Begriffe, die spezifische Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten zu erfassen imstande sind. Solche Zusammenhangsaussagen stellen aber nur abstrakte Modelle der ökonomischen Wirklichkeit dar, die durch sukzessives Einbeziehen weiterer Fakten aus der Relevanzskala weitere Approximationen an die Fülle und Komplexität der Wirklichkeit produzieren, wobei die Gesetze der vorhergehenden Modelle durch die bisher ausgeblendeten Tatsachen modifiziert, kompliziert und sogar revidiert werden. Schließlich endet dieses Programm der Rücknahme von Abstraktionen und zunehmenden Konkretisierung von Modellen an dem Punkt, „wo die wesentlichen Gesetzmäßigkeiten und Tendenzen von Annahmen und Einschränkungen erstickt zu werden drohen". Dann wird das .fertige' Modell zu Prognosezwecken eingesetzt. Meek zufolge findet sich dieses allgemeine modelltheoretische Schema auch bei Marx. Als spezifisch für dessen Ansatz gilt lediglich der Inhalt der Modelle, bzw. der sie begründenden Vision. Marx setze Produktionsverhältnisse, nicht aber isolierte Individuen und ihre Dispositionen, als Erklärungsgrundlage wirtschaftlicher Phänomene an und stelle die Erklärung des ,,Kapitaleinkommen[s]" - also nicht bereits die Form Wert schlechthin, sondern den Mehrwert - an die Spitze seiner Relevanzskala. Meek kombiniert dabei Engels' Historizismus mit einer deutlicher auf den konstruierten' Charakter der einfachen Kategorien im Kapital abzielenden Sichtweise: Wie Smith geht Marx danach von dem methodisch eingesetzten Mythos, der ,Jrfythodologie" einer Epoche einfacher Warenproduktion, dem Modell des Vorherrschens der Warenbeziehung in einer Gesellschaft ohne Kapitalverhältnis, aus, um dieses als Instrumentarium zur Erfassung der spezifischen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise im Sinne der Klärung ihrer ,Quasi-Auswirkungen' auf die Aneignungsgesetze des einfachen Warentauschs zu verwenden. Dieses „Postulat einer abstrakten vorkapi-

87f., 108, 156) (In diesem Sinne sei A (subjektive Intentionen) " Ά (Folgen/ Wirklichkeit)). D e m deduktiv-nomologischen Ansatz wird nun schlicht unterstellt, er sei nicht in der Lage, solche .Widersprüche zwischen Individuen und Gesellschaft' zu thematisieren. Ja, er harmonisiere diese sogar (vgl. S. 88) und könne den Gegensatz des Besonderen zu den Gesetzmäßigkeiten einer Gesellschaft nicht erfassen (vgl. S. 93, 105). Solche Phänomene seien „nur der Methode einer präzisierten verstehenden Soziologie" (S. 79) zugänglich (vgl. auch S. 105). Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, die mannigfaltigen Missverständnisse Hubigs über den DN-Ansatz zu thematisieren. Da Hubig sich nicht näher auf die Sachproblematik der Ökonomiekritik bezieht und deren Darstellungsweise zudem beiläufig historizistisch deutet (vgl. S. 94), soll sein Beitrag hier nicht weiter interessieren. Zur Kritik an seinem Methodendualismus („die .Ereignisse' erklären wollen [...] und [...] die Handlungen verstehbar machen" (129f.)) sowie seinem fragwürdigen Rekurs auf den praktischen Syllogismus als alternatives Erklärungsschema zum HO-Modell, vgl. die Kritik von Thomas Haussmann an K.O. Apel (Haussmann 1991, S. 2 1 5 - 2 2 5 ) sowie G H. v. Wright (ebd., S. 198-213).

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talistischen Gesellschaft" soll nach Meek weder detaillierte oder besonders realitätsnahe Beschreibungen früherer Epochen noch den „Entwurf einer idealen Gesellschaftsform" 39 liefern40. Im Gegensatz zur Klassik wird Marx' Kritik aber zugestanden, dass deren Mythodologie nicht auf Vorgeschichtliches, direkt aus dem ahistorischen , Wesen des Menschen' sich Ergebendes ziele, sondern auf eine „historisch frühere Form eines bestimmten Zustands in der gesellschaftlichen Entwicklung". In der von Meek paradigmatisch formulierten modelltheoretischen Interpretation der Marxschen Darstellungsweise werden Engels' methodologische Kommentare nach wie vor als „bis heute unübertroffen"41 gewürdigt und eine - wenn auch deutlich fiktive Züge tragende - vorkapitalistische Vergangenheit als Gegenstand der ersten drei Kapitel des Kapital ausgemacht42. Arbeitswerttheoretische Aussagen gelten allerdings als Mythen mit didaktischer Funktion, die im Zuge der weiteren Darstellung zurückgenommen werden können. So kann wirtschaftshistorischen Einwänden ,mythodologisch' ausgewichen und das traditionelle Verständnis der Werttheorie doch aufrechterhalten werden. Eine methodologische Differenz zwischen Marx und der Klassik hat im modelltheoretischen Ansatz schließlich keinen Platz. Weder Marx' Kritik an Ricardos Abstraktionsverfahren und subsumtionslogischer Darstellungsweise43 noch die Kritik an den Geldtheorien der Klassik44, die Marx bereits im ersten, nach Meek doch so stark an Smiths und Ricardos Arbeitswertlehre angelehnten, Kapitel des Kapital vorbringt45, werden berücksichtigt. Von dialektischer Darstellung ist konsequenterweise auch keine Rede. Christof Helberger folgt in seinem Buch Marxismus als Methode konsequent dieser ricardomarxistischen Modelltheorie. Er begreift Marx' Werttheorie als substantialistische Arbeitsmengenlehre46 und konzentriert sich allein auf deren quantitative Aspekte. Obwohl er konstatiert, Wert sei legitimerweise eine nicht unmittelbar auf Beobachtungssätze zurückfiihrbare Kategorie47, gilt diese ihm, aufgrund des Eingehens der zahlungsfähigen gesellschaftlichen Nachfrage in die Bestimmung des Wertquantums48, als „der Preistheorie logisch äquivalent". Helberger betrachtet Marx vollends als werttheoretischen Ricardianer, der lediglich zur Ausbeutungsproblematik „selbst [...] mehr beigetragen" habe. Eine „reale Be-

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Zitate der Reihenfolge nach: Meek 1974, S. 12, 13, 15, 18, 18, 18. Andreas Wildt wird später genau dies behaupten. Ihm gelten die Aneignungsgesetze des Warentauschs als normativer Maßstab der Marxschen Kapitalismuskritik, als „Gesetze einer rationalen und legitimen Ökonomie" (Wildt 1986, S. 170). Dass diese Position auf einer historizistischen Fehldeutung des Theorems vom Umschlag des Aneignungsgesetzes beruht, zeigt Heinrich 1999, S. 375ff. Zitate der Reihenfolge nach: Meek 1974, S. 37, 16. Vgl. ebd., S. 19,21. Vgl. MEW 26.2, S. 100 (MEGA II/3.3, S. 759). Auch wenn dies eine theoretische und keine methodische Differenz ist, ist sie mit methodischen Aspekten, nämlich dem Verzicht auf eine Entwicklung' der Kategorien, verbunden. Vgl. MEW 23, S. 95 (Fn.) (MEGA II/5, S. 43f. (Fn.)). Vgl. Helberger 1974, S. 102, 104-109. Vgl. ebd., S. 105, 194. Vgl. ebd., S. 107, 109. Vgl. MEW 23, S. 121f. (MEGA II/5, S. 68f.).

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deutung"49 könne die Werttheorie nur als substantialistisch interpretierte erlangen. Als solche sei sie aber zu kompliziert50 und widerspreche schlicht der Erfahrung. Die theoretische Sprache51 der Wertebene entbehre somit jeder erklärungsstrategischen Funktion, mit ihr könnten einfach keine „Tatsachen erklärt" werden. Gegenüber den qualitativen Grundfragen der politischen Ökonomie legt Helberger dabei eine beispiellose Ignoranz an den Tag. Die Nichterklärbarkeit der Reichtumsformen in empirischen Preis- oder Handlungskategorien stellt sich ihm nicht einmal als Problem dar. Die Darstellungsweise im Kapital wird in Anlehnung an Meek als der „Methode der abnehmenden Abstraktion"52 folgend, als Konstruktion immer umfassenderer, empirisch konkreterer Modelle, charakterisiert. Marx gehe im ersten Band von der vereinfachenden Annahme eines Modells vollständiger Konkurrenz bei gleichgewichtigem Wachstum, Deckung von Angebot und Nachfrage, Identität von Werten und Preisen sowie Aneignung des Mehrwerts durch die kapitalistischen Unternehmer aus53, das er sukzessive revidiere und an die beobachtbaren Phänomene angleiche. Dabei gilt es Helberger als nicht statthaft, die Abfolge der Darstellung, bzw. die jeweiligen unterbestimmten und unrealistischen Modelle, zu Aussagen über raumzeitliche Prozesse zu reifizieren54: Die Aussagen und Begriffe des Anfangs der Marxschen Kritik seien keine eigenständigen, realen oder gar wichtigeren Prozesse, die durch die folgenden Kategorien (resp. die dadurch bezeichneten Formen) modifiziert würden. Die begriffliche Abfolge stelle somit keinen historischen Prozess dar. Dieser Ansatz der Deutung werttheoretischer Kategorien als „analytische Konstruktion[en]"55 wird aber, wie bei Meek, von historizistischen Methoden- und Gegenstandsauffassungen flankiert56 und verfehlt den erklärungskonstitutiven Sinn des Nacheinanders der Kategorien, das bei Marx auf die wechselseitige Implikation, bzw. den objektiven Zusammenhang einfacher und komplexer Verhältnisse verweisen soll. Dagegen wird nun der Prozess einer Rücknahme von Abstraktionen der Beliebigkeit des Theoretikers anheim gestellt. Die Abfolge der Kategorien soll nicht einen objektiven, inneren Zusammenhang ökonomischer Phänomene reproduzieren, sondern eine nominalistische Konstruktion darstellen, die den Leser allmählich durch eine ,,äußerliche[...] Anreicherung komplizierender Faktoren"57 an realistische wissenschaftliche Aussagen heranführt. Sie ist damit auf eine rein subjektive und didaktische Dimension, einen Lehrbuchstil und ein „dritt- und viertrangiges"58 Methodenproblem reduzierbar. Da es 49 50 51 52 53 54 55 56

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Zitate der Reihenfolge nach: Helberger 1974, S. 109, 110, 194. Vgl. ebd., S. 108. Vgl. ebd., S. 95f„ 194. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 194, 185. Vgl. ebd., S. 186. Vgl. ebd., S. 192ff. Ebd., S. 194. Helberger meint, der Anfang der Darstellung beschreibe historisch einfache Tauschprozesse (vgl. ebd., S. 189), während im Rahmen der Wertformanalyse nachgewiesen werde, „daß der Wert in verschiedenen historischen Stadien der Entwicklung der Marktwirtschaft verschiedene ,Formen' annehmen kann" (103) - nämlich einfache, entfaltete und allgemeine Wertform. Wie Ali Shamsavari (1997, Sp. 88) es kritisch gegen die Modelltheorie formuliert. Helberger 1974, S. 16. Modelltheoretische Interpretationen des ,Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten' sind auch im Rahmen der neuen Marx-Lektüre verbreitet, worauf insbesondere HansGeorg Backhaus aufmerksam machen wird. Beispiele sind Jasinska/ Nowak 1976 oder Christoph

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„letztlich nicht auf die einzelnen Aufbaustufen einer Theorie ankommt noch darauf, in welcher Reihenfolge die Gesetze der endgültigen Theorie aufgeführt werden" und „letztlich entscheidend [...] nur die endgültige Formulierung der Theorie"59 sei, empfiehlt Helberger als Alternative die Aufstellung empirischer Gesetzesaussagen gleich zu Beginn der Darstellung60. Eine zum weiteren Kreis analytischer Positionen zu zählende und in der bundesrepublikanischen Debatte aufgegriffene61 Betrachtung eines Aspekts der Marxschen Darstellung liefert bereits in den 60er Jahren der sowjetische Autor Igor S. Narski. Gegen prominente Vertreter der Orthodoxie, wie Iljenkow, Rosental und Elez, kritisiert dieser die These der Existenz wahrer, formallogisch widersprüchlicher Urteile62: Selbst wenn demnach im Zuge dialektischer Darstellung Urteile mit logisch widersprüchlichem Charakter auftauchen, haben diese den Charakter von bloßen ,Problemantinomien', die eine methodische Funktion ausüben, aber im Laufe der Untersuchung qua Präzisierung gelöst und das heißt ihres logisch widersprüchlichen Charakters entkleidet werden. Ganz in der Tradition analytischen Denkens tritt Narski an zu beweisen, dass es in der dialektischen Theorie „keine besonderen dialektischen Urteile und Schlüsse gibt, die sich in ihrer Struktur von den formallogischen unterscheiden würden". Problemantinomien stellen demnach im Rahmen der dialektischen Logik' eine vorläufige und unzureichende Reproduktion objektiv-dialektischer Widersprüche „auf der Ebene der subjektiven Dialektik" dar. Sie gelten als Phase der Darstellung, die die heuristische Funktion des Aufspürens dialektischer Widersprüche in noch unpräziser, den realen Verhältnissen nur ,„ähnlich[er]'" 63 Form erfüllt. Ihnen werde im Kontext der Kritik der politischen Ökonomie nur der Status ,,didaktische[r] Probleme" zuteil, die „die durchlaufene Erkenntnisbewegung reproduzieren, d.h. heuristisch vorher gestellte (und dabei gelöste) Probleme reproduzieren"64. Diese Struktur findet Narski vor allem in Marx' Zirkulations-ProduktionsAntinomie im Kapital wieder: Dort wird im Zuge der Thematisierung der , Widersprüche der allgemeinen Formel' (G-W-G) und der Frage der begrifflichen Fassbarkeit des Kapitals formuliert: „Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen und es kann ebenso wenig aus der Zirkulation nicht entspringen. Es muß zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen [···] Dies sind die Bedingungen des Problems"65. Die Synthese als Aufhebung dieses Widerspruchs darf nun, Narski zufolge, keinesfalls mit der Konjunktion der widersprüchlichen Aussagen verwechselt werden66. Solle die Antinomie einen dialektischen Wi-

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Henning, demzufolge dialektische Darstellung nichts als eine „didaktisch sinnvoll[e]" Ordnung chaotischen Materials repräsentiert (Henning 2005, S. 145). Helberger 1974, S. 190. Vgl. ebd., S. 189. Vgl. u.a. Kocyba 1979, S. 20,43ff.; Göhler 1980, S. 157f.; Brentel 1989, S. 343f. Vgl. Narski 1973, S. 15f, 19f. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 77 (Fn.), 78, 72. Vgl. auch S. 53, wo eine „annähernde [...] relative Wahrheit" der Antinomie-Elemente konstatiert wird. Ebd., S. 51. MEW 23, S. 180f. (MEGA II/5, S. 119). Vgl. Narski 1973, S. 20, 46.

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derspruch anzeigen, so müsse über sie hinausgegangen werden und sei ihre logische Struktur ,A - Non A' nur im Sinne einer unpräzisierten logisch nicht-widersprüchlichen als statthaft zu erachten67. Das heißt, die Struktur ,entsteht in Ζ und entsteht nicht in Z \ die als kontradiktorischer Widerspruch auftritt - Κ ist Β und Nicht-B zur selben Zeit und in derselben Hinsicht - , müsse als Schein-Antinomie68 erwiesen und in die Struktur des nicht-logischen, dialektischen Widerspruchs - Κ ist Β und Nicht-B in verschiedener Hinsicht zur selben Zeit oder in derselben Hinsicht zu verschiedenen Zeitpunkten - transformiert werden. Die Synthese bestehe hier in der Präzisierung69 der Bedeutung von These und Antithese und der dadurch bewirkten Überwindung ihres kontradiktorischen Charakters. Sie gilt somit als Resultat der bewussten Vermeidung logischer Widersprüche70. Die Lösung der ProduktionsZirkulations-Antinomie der Mehrwertgenese bestehe nun darin, Kapital als in der Produktion, vermittelt über die Zirkulation, konstituiert zu betrachten: Vermittelt über den Kauf der Ware Arbeitskraft (präzisierte Redeweise von ,in der Zirkulation') durch den Konsum des Gebrauchswerts' dieser Ware, mehr Wert zu setzen, als sie zu ihrer Reproduktion benötigt (präzisierte Redeweise von ,in der Produktion'). Die Lösung impliziere also weder die bloße Aufsummierung der partiellen Wahrheit von These und Antithese (,teils-teils') noch die Wahrheit bloß einer These (,A oder B'). Narski betont allerdings den begrenzten Umfang der Verwendung des Darstellungsmusters einer Lösung von Problemantinomien im Kapital1'', bietet für andere Widerspruchskonzepte in der Marxschen Kritik aber keine alternative Deutung an. Er scheint sich beispielsweise im Unklaren darüber zu sein, inwiefern der Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert ein kontradiktorischer, bzw. zunächst in logisch widersprüchlicher Weise formulierter ist. Die Feststellung „warenproduzierende Arbeit" habe „konkreten und nichtkonkreten, d.h. abstrakten Charakter"72 bewertet er als ein ,Sich-Abzeichnen' einer Antinomie. Gerhard Göhler moniert dann auch an Narski, das Modell einer „Widerspruchsentwicklung als Widerspruchsvermeidung" treffe nicht „die Widerspruchsentwicklung, die [...] in der Entwicklung von der Ware zum Geld [...] zur Debatte steht"73. Diesem Problem wird sich auch die folgende Position stellen müssen, die aber einen weitaus elaborierteren Charakter besitzt als die bisher vorgestellten bundesdeutschen Ansätze. Denn in den Texten von Ulrich Steinvorth wird einer dialektischen Widerspruchsentwicklung im Kontrast zu den bisher anhand von Simon-Schaefer und Helberger skizzierten analyti-

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Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 53. Vgl. auch MEGA II/3.1, S. 23: „die scheinbaren Widersprüche, die in dem Problem [...] liegen". Vgl. auch Tugendhat/ Wolf 2004, S. 62: „Der Satz vom Widerspruch [...] impliziert [...], daß wir in bestimmten Situationen genötigt werden, unsere Prädikate genauer zu bestimmen. Das genauere Bestimmtsein ist also etwas, was nicht von vornherein vorliegt, sondern sich gerade durch den Satz vom Widerspruch progressiv ergibt". Vgl. Narski 1973, S. 62. Vgl. ebd., S. 74. Ebd. Göhler 1980, S. 158.

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sehen Beiträgen - eine genuine darstellungsstrategische Funktion zugebilligt. Dialektik wird hier bestimmt als „Methode zum Aufbau einer deduktiven Theorie [...] durch Analyse von Verträglichkeitsbedingungen". Dieser .Aufbau' ist aber keineswegs bloß Teil des ,Entdeckungszusammenhangs', sondern Element der Darstellung der Forschungsergebnisse. Der von Marx verwendete rationelle Kern der Hegeischen Dialektik besteht nach Steinvorth in der „Herstellung eines Ableitungsmodells" als begriffliche Analyse von Regelzusammenhängen (.Gesetzen' der Produktionsweise) sowie in der historischen Prognose eines Regelzusammenhangs, der zum Zusammenbruch des Untersuchungsgegenstands führt, in der „Voraussage seines Endes"74. Dies meine Marx mit der Aussage, im positiven Verständnis des Bestehenden sei das „Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs"75 enthalten. Im Rahmen der begrifflichen Analyse greift Marx demnach - im Gegensatz zu Engels76 - kein bloß historisch-kontingentes Faktum auf, um dessen .widersprüchliche Entwicklung' (z.B. Umschlagen ins Gegenteil) zu verfolgen. Er geht stattdessen von zwei widersprüchlichen Eigenschaften als notwendigem Definiens eines Zustande77 aus dem Doppelcharakter der in Waren vergegenständlichten Arbeit, der hier als doppeltes „Ziel" der Arbeit, Gebrauchswerte hervorzubringen und Tauschwerte zu realisieren, bestimmt wird: Ein Gut ist nur dann als Ware bestimmbar, wenn es für den Austausch produziert wird, womit es „mit analytischer Notwendigkeit*78 Doppelcharakter erhält. Dagegen koppelt nach Steinvorth die historizistische Tradition im Marxismus ,Dialektik' an empirische Aussagen, deren Gegenständen kein notwendiger Doppelcharakter zukommt, z.B. Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse79. Dialektische Darstellung suche nun nach Verträglichkeitsbedingungen dieser beiden notwendigen, sich scheinbar ausschließenden Eigenschaften des Objekts. Die Form solcher Verträglichkeitsanalyse lautet: Nur wenn Objekt q gegeben ist, sind E und E' als Eigenschaften von Objekt ρ verträglich und ist Untersuchungsgegenstand ρ real gegeben. Diese Aussage impliziere logisch (durch Umkehrung) die Majorprämisse einer deduktivnomologischen Erklärung: Immer, wenn E und E' gegeben sind, ist q gegeben. Die Analyse setze nun an der Verträglichkeitsbedingung q an und identifiziere an ihr eine weiterentwickelte Form des ursprünglichen Gegensatzpaares (E und E' - das sind inhaltlich stets Gebrauchs- und Tauschwert), um für diese wiederum eine Verträglichkeitsbedingung zu finden. Dies geschehe solange, „bis ein Eigenschaftspaar gefunden ist, das tatsächlich unverträglich ist". Steinvorths Konzept dialektischer Darstellung lässt sich als analytisches Forttreiben kontradiktorischer Aussagen bis zur Entdeckung eines nichtlogischen Realwiderspruchs charakterisieren: Die notwendigen Eigenschaften werden durch eine kontradiktorische (logisch widersprüchliche) Aussage beschrieben, die sich durch das Auffinden einer Verträglichkeitsbedingung als „nur scheinbar kontradiktorisch" erweist. Dialektisches Argumentieren unterstelle damit die Gültigkeit des Non-Kontradiktionsgebotes. Da kontradiktorische Gegensätze nun ausschließlich in Aussagen, nicht in der Wirklichkeit existieren 74 75 76 77 78 79

Zitate der Reihenfolge nach: Steinvorth 1977a, S. 79, 49, 49. MEW 23, S. 28 (MEGA II/6, S. 709). Vgl. Steinvorth 1977a, S. 67. notwendigen, weil die Warenproduktion definierenden Eigenschaften" (ebd., S. 68). Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 10, 80. Vgl. ebd., S. 81.

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könnten, seien sie unwirkliche Gegensätze. Solange sie als solche nachgewiesen werden könnten, wobei die Verträglichkeitsbedingung mit der von Marx sogenannten ,Lösungs-, oder ,Bewegungsform' von Widersprüchen identifiziert wird, könne der durch sie beschriebene Gegenstand existieren. Sobald aber ein ,,reale[s] Bestehen[...], der vom kontradiktorischen Paar beschriebenen Sachverhalte" konstatiert werde, müsse auf die Nichtexistenz, bzw. das Zugrundegehen des Gegenstands geschlossen werden. Der die kapitalistische Produktionsweise auszeichnende Widerspruch zwischen Gebrauchs- und Tauschwert lässt sich damit als ,querst nur drohender, zuletzt bestätigter Widerspruch"80 charakterisieren. Der bestätigte' Widerspruch sei allerdings - sonst wäre er kein real existenter - kein logischer, der annehmen würde, dass Zustand r und seine Negation ~τ in derselben Hinsicht zeitlich zugleich bestehen. Die Negation von r, der deskriptive Widerspruchsbegriff des Umschlagens ins Gegenteil, sei Resultat von über eine „Zeitstrecke" ablaufenden Prozessen81 und so als gegenläufiger Prozess oder paradoxer Effekt - Negation eines Entwicklungsziels durch Ergreifen der Maßnahmen zu seiner Verwirklichung - logisch einwandfrei bestimmbar. Formal fuhrt Steinvorth Marx' Gesamtmodell der Bewegungsgesetze des Kapitalismus wie folgt an: ρ Ware - * Geld

&

q Geld

r Kapital

&

r Kapital -+ τ Zusaramenbruch

Die Bewegung von ρ (Ware mit widersprüchlichen Eigenschaften) zu q (Geld als Verträglichkeitsbedingung) und von q (Geld als Ware mit widersprüchlichen Eigenschaften) zu r (Kapitalform als Verträglichkeitsbedingung) sei als Strukturanalyse gegebener Objekte*2, als Analyse eines begrifflichen Regelzusammenhangs zwischen entwickeltem Warentausch, Geldgebrauch und industrieller Kapitalfunktion (Kapitel zwei bis vier des Kapital) angelegt. Dieser .Bewegung' als Bewegung der Analyse könnten keinerlei historische Entwicklungen entsprechen, wie Steinvorth in aller Deutlichkeit gegen die von Engels begründete Orthodoxie betont. Als Gesetzesaussagen bezeichneten sie das gleichzeitige Gegebensein von ρ und q (oder q und r), nicht eine zeitliche Abfolge von ρ nach q (oder q nach r)83. Diese durch Verträglichkeitsanalyse gewonnenen Gesetzesaussagen sind allerdings nach Steinvorth „keine logischen Implikationen", sondern bloße Regelzusammenhänge. Diese sind „begriffliche Zusammenhänge, die zwar im Unterschied zu logischen Implikationen gelegentlich verletzt werden können, deren Verletzung aber nicht zur Regel werden kann"84, ohne den zu erklärenden Gegenstand zu zerstören. Allein die Bewegung von r zu τ , der Widerspruch des Akkumulationsprozesses, der den Zusammenbruch des Kapitalismus herbeiführe, stelle nun die historische Prognose eines sich zeitlich erstreckenden Regelzusammenhanges im Sinne eines paradoxen Effekts dar85. Dies sei, im Gegensatz zu den Behauptungen von En80 81 82 83 84

85

Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 24, 6, 17, 26; vgl. auch S. 98. Vgl. ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 62, 72. Vgl. ebd., S. 22. Ebd., S. 25. Diese Kategorie ist meines Wissens im Laufe der Debatte nicht weiter thematisiert worden. Positiv auf Steinvorths Begriff des Regelzusammenhangs sowie auf dessen DialektikKonzept allgemein bezieht sich m.W. erst wieder Henning 2005, S. 174, 335 (Fn.), 563. Vgl. Steinvorth 1977a, S. 22, 62, 72.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

gels und Popper 86 , das einzige historische Gesetz des Kapital von Marx, das aber keinen sozialistischen Emanzipationsprozess aus der Ökonomiekritik heraus prognostizierbar werden lasse. Wie werden die angegebenen Regelzusammenhänge nun näher bestimmt? Steinvorth beginnt seine Rekonstruktion mit der Ausgangssituation des Austauschprozesses im zweiten Kapitel des Kapital: Der Tausch dient einerseits dem individuellen Bedürfnis - mittels Tausch eigener Ware soll ein spezifischer Gebrauchswert erlangt werden - , andererseits einem allgemeinen Bedürfnis - jeder Warenbesitzer will mittels Tausch soviel Gebrauchswerte erhalten, dass „ihnen der Tauschwert ihrer Ware realisiert scheinen kann" 87 . Diese Problemsituation unterstelle nicht die Marasche Werttheorie, die Steinvorth für einen metaphysischen Ballast hält88. Geld als Verträglichkeitsbedingung wird nun im Stile eines „pfiffig ausgedachte[n] Auskunftsmittel[s]" 89 eingeführt; denn als Resultat der Ausgangssituation, in der Warenbesitzer nichtpreisbestimmte Waren einander gegenüberstellen, gilt weder die logische Unmöglichkeit der Konstitution eines allgemeinen Äquivalents noch die Unmöglichkeit der Darstellung der Waren als Werte füreinander - der Wertbegriff wird ja von Steinvorth gerade ausgeblendet. Als Resultat gilt lediglich eine pragmatische Problemlage von Warenbesitzern, „zu lange suchen" zu müssen „bis sie einen Tauschpartner fanden, der mit ihnen Ware sowohl mit dem richtigen Gebrauchswert als auch mit dem verlangten Tauschwert tauschen könnte" 90 . Bezeichnenderweise wird Carl Menger als Ökonom angeführt, der ebenfalls auf diese Weise die Notwendigkeit' geldvermittelten Austausche aufgezeigt habe. Das derart gewonnene „Gesetz des Warenaustauschs"9I, welches darin besteht, dass entwickelter Warentausch nur existiert, wenn Waren vermittels Geld als Ersatzware getauscht werden, wird also rein pragmatisch, aufgrund von „Schwierigkeiten" 92 des prämonetären und .Erleichterungen' des monetären Tauschverkehrs, begründet. Auch eine weitere Passage, in der Steinvorth auf die Notwendigkeit' des monetären Charakters von Warentauschprozessen hinweist, kann nicht überzeugen. So schreibt er, Marx nenne „ein Gut erst dann Ware, wenn es schon für den Austausch produziert wird; ein Austausch [!] ohne Geldvermittlung ist deshalb [!] kein Warenaustausch, sondern .unmittelbarer Produktenaustausch' (MEW 23, S. 102). Warentausch ist deshalb [!] für Marx immer durch Geld vermittelter Austausch" 93 . Wo hier eine gültige Folgerung aus den unterstellten Prämissen vorliegen soll, bleibt ein Rätsel. In der Warenzirkulation (W-G-W) wird nun ein Widerspruch zwischen Zirkulationsmittelfunktion - gefasst als flüchtiges Mittel zur Aneignung fremder Gebrauchswerte - und Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes - gefasst als „Funktion, vor der Unsicherheit des

86 87 88

89 90 91 92 93

Vgl. ebd., S. 62ff. Steinvorth 1977b, S. 306. Vgl. dazu die Anmerkungen über die Wertsubstanzproblematik im Lichte des analytischen Marxismus in Kapitel 1.3.1 dieser Arbeit. MEW 13, S. 36 (MEGA H/2, S. 130). Steinvorth 1977a, S. 8. Ebd. Steinvorth 1977b, S. 307. Steinvorth 1977a, S. 58.

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Warentausches zu schützen"94 - identifiziert. Die Bedürfnisbefriedigung ist danach nur gesichert, wenn die Warenproduzenten stets im Besitz des allgemeinen Tauschmittels sich befinden. Zur Erlangung fremder Güter muss Geld aber als Zirkulationsmittel verausgabt werden95. Marx zeige, dass dieser Widerspruch nicht gelöst werden kann, indem jeder Warenbesitzer als Handelskapitalist sein Geld durch ungleichen Tausch vermehre, was auf ein Nullsummenspiel hinausliefe. Nur die industrielle Kapitalfunktion könne als Verträglichkeitsbedingung gelten. Nur wenn mit Geld eine Ware gekauft wird, deren Konsum mehr Geld, vermittelt über mehr Waren, erbringt, was den Investor vor Unsicherheiten im Austausch bewahrt, kann der Widerspruch gelöst werden. Dieses „Problem der Geldhortung"96 werde nur von Marx' Mehrwerttheorie plausibel gelöst. Das „Gesetz der Warenzirkulation"91 besagt deshalb, dass W-G-W als systematischer Prozess nur möglich ist, wenn er - in der Regel98 - Moment des industriellen Kapitalprozesses (G-W-G') ist. Zwar argumentiert Steinvorth plausibel gegen historisierende Lesarten der dialektischen Darstellung und spricht dabei vom Kapitalbegriff als „hinreichend spezifiziertfem]" Warenund Geldbegriff. Er versteht die Kritik der politischen Ökonomie als Analyse desselben Gegenstands, der kapitalistischen Produktionsweise, „in verschiedenen Abstraktionsgraden"99, ohne diese, wie noch Simon-Schaefer und Meek historischen Epochen zuzuordnen. Doch seine Auffassung des Status der jeweiligen Abstraktionsstufen ist die von pragmatischen handlungstheoretischen Modellen, die sich nicht an der Problematik der adäquaten Existenzweisen des Werts, sondern an statistisch gesehen100 unlösbaren Handlungsschwierigkeiten orientieren. Es sind die Akteure und ihre Bedürfnisse, aus denen Steinvorth letztlich die ökonomischen Formen ableitet, weshalb er auch den systematischen Stellenwert des ersten Kapitels des Kapital, in dem von den Warenbesitzem gerade abstrahiert wird, leugnen muss101. Schließlich erscheint es wenig plausibel, den Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert nur in einer Zusammenbruchskrise als realen zu betrachten. Es stellt sich die Frage, welche Strukturbedingungen in immanenten, z.B. zyklischen, Krisen wirksam werden, 94 95 96 97 98

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100

101

Stenvorth 1977b, S. 306. Vgl. Steinvorth 1977a, S. 13. Steinvorth 1977b, S. 308. Steinvorth 1977a, S. 16. Vgl. ebd.: „obgleich es einzelne Händler geben kann, für die Geldgewinn kein Ziel ist, können sie nicht die Regel sein, da die Warenzirkulation zusammenbrechen müßte wenn nicht einzelne Händler, die Geld gehortet haben, die Warenzirkulation wieder flüssig machen würden". Beide Zitate: Ebd., S. 33. Treffend erwähnt auch Henning von diesem Standpunkt aus Marx' Rekurs auf die Abstraktion als notwendige wissenschaftliche Verfahrensweise und stellt diesen einer empiristischen Lesart gegenüber: Marx habe verstanden, dass es der Naturwissenschaft „gelungen war, mit Konstruktionen, denen kein reales Ding entsprach, reale Phänomene zu erklären - so mit .Kräften' das Verhalten von Dingen, etwa mit der Schwerkraft das Verhalten des Apfels. Die Schwerkraft .beschreibt' nicht das Fallen des Apfels, denn dann müssten alle Äpfel immerfort herunterfallen" (Henning 2005, S. 335). Vgl. auch Henning 2005, S. 175: Hinter der Notwendigkeit eines äußeren Wertmaßes (Geld) verberge sich keine „transzendental-logische Notwendigkeit", sondern eine statistische: „Es lässt sich an vielen Phänomenen zeigen, dass Waren nicht oder nicht lange direkt getauscht werden, sondern sich alsbald aufeinander über ein Drittes beziehen". Vgl. Steinvorth 1977b, S. 309.

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wenn nicht der reale Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert in Gestalt von Ware und Geld. Der Sachverhalt der Krise ist somit in Steinvorths Ansatz lediglich als Zusammenbruchskrise denkbar, weil ihm zufolge erst hier ein realer Widerspruch auftaucht, der sich in einer zeitlichen Dimension als nicht-logischer entschlüsseln lässt (System und Negation desselben). Die Zusammenbruchskrise muss zudem als Resultat eines sich ansonsten krisenfrei reproduzierenden Systems begriffen werden. II. Eigentümliche Logik eines eigentümlichen Gegenstands Gegenüber Steinvorths abstrakter Entgegensetzung von (irrealem) Widerspruch und (realer) Verträglichkeitsbedingung, bzw. diese Bedingung nicht mehr aufweisendem Systemkollaps, die den Widerspruch und seine Lösungsformen letztlich auf ein „Arrangement der Darstellung" reduziert, beharrt vor allem Andreas Arndt auf der Wirklichkeit der im Kapital analysierten Widerspruchskonstellationen. Weder sei eine immanente Krise im analytischen Bezugssystem Steinvorths vorstellbar noch ein vermeintlicher Zusammenbruch rational begründbar: Dass „eine reale Gesellschaft [...] durch die Entwicklung scheinbarer Widersprüche vernichtet wird, für die sich eine neue als Verträglichkeitsbedingung anbiete, ist selbst ein Widerspruch"102. Widersprüche und ihre Lösungsformen markierten für Marx dagegen nicht das Ende des Objekts .Kapitalismus', sondern seien zunächst einmal immanente Bestimmungen. Darauf weise Marx explizit hin, wenn er konstatiere, die „Entwicklung der Ware" hebe die ,,wirkliche[n] Widersprüche" zwischen Gebrauchswert und Wert ,glicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können"103. Die Kategorie der „Bewegungsformf...]"104 bezeichnet Arndt zufolge einen Prozess, der „zugleich als Verträglichkeitsbedingung und Perpetuierung der Gegensatzbeziehungen verstanden wird". Verträglichkeitsbedingungen sind also keineswegs objekttheoretische Sätze, die Aussagen über imaginäre Widersprüche auflösen, sondern in Prozessen hervorgerufene und prozessierende Eigenschaften (wie Äquivalentform und Geldform) unter Fortexistenz und als Element der Vergesellschaftungsbedingungen, welche die hierin ,verträglich' gemachten widersprüchlichen Bestimmungen hervorbringen - Vermittlung von Elementen, deren Geschiedenheit sie stets voraussetzen und wieder aufs Neue hervorbringen: „Daß ein Widerspruch sich die Form schafft, worin er sich bewegen kann, ist mithin die immanente Form, wodurch ein Widerspruch sich löst", nämlich „unter der Voraussetzung deijenigen Totalität, die Bedingung seiner Existenz [...] ist"105. Davon sei eine der Vorstellung dessen, was gewöhnlich unter Auflösung von Widersprüchen verstanden werde, näher liegende Konzeption zu unterscheiden, welche die Zerstörung der Existenzbedingungen widersprüchlicher Bestimmungen selbst anzeige106. Allein diesem verständigen Alltagsbegriff von Widerspruchslösung, der gleichwohl das Ziel emanzipatorischen Handelns als Aufhebung spezifischer Widersprüche ist, begegnet man denn auch im Denken Steinvorths.

102 103 104 105 106

Beide Zitate: Arndt 1985, S. 249. MEW 23, S. 118 (MEGA II/5, S. 65). Ebd., S. 119 (II/5, S. 65). Zitate der Reihenfolge nach: Arndt 1994, S. 302, 305. Vgl. ebd., S. 306.

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Resümierend charakterisiert Arndt nun Marx' Konzept des realen Widerspruchs wie folgt: „der Widerspruch bei Marx ist,realer' Widerspruch als sich realisierender, prozessierender Widerspruch, dessen Extreme sich als verselbständigte Entgegengesetzte in dieser Bewegung immer wieder aneinander erneuern, wobei ihre Identität unter den Existenzbedingungen des Widerspruchs keine wesentliche Identität jenseits der Selbständigkeit der Entgegengesetzten aussagt, in die sie als bloße Momente aufgehoben werden könnten. Sie bedeutet nur, daß die Entgegengesetzten in ihrer Selbständigkeit nicht gleichgültig auseinanderfallen, sondern aufeinander bezogen bleiben" 107 . Mit diesen Bemerkungen sind wir bereits bei einer anderen Strömung der neuen MarxLektüre gelandet, deren Positionen im folgenden Teil näher erörtert werden sollen. Die Diskussion des Widerspruchsbegriffs in der Marxschen Theorie tritt dabei immer weiter in den Vordergrund der Auseinandersetzung. Hier hat nun, um einen zeitlichen wie argumentativen Schritt zurück zu machen, zunächst eine Untersuchung des italienischen Marxisten Lucio Colletti auf den bundesrepublikanischen Diskurs Einfluss ausgeübt 108 . Colletti wirft dem Marxismus die Konfundierung zweier Gegensatztypen - der Realopposition und des dialektischen Widerspruchs - vor, die darauf hinauslaufe, dass der „Zusammenstoß zweier Automobile, der ein typischer Fall von ,Realopposition' ist, nämlich von zwei Kräften entgegengesetzter Richtung, der tägliche Nachweis des dialektischen Materialismus ist"109. Die Differenz beider Typen lässt sich wie folgt beschreiben: dialektischer Gegensatz („mit Widerspruch")

Realopposition („Gegensatz ohne Widerspruch")

jedes Extrem erhält seine Bedeutung und Existenz nur im Entgegenstehen zum anderen (schließt das andere ein, indem es nur durch Ausschluss des anderen es selbst ist) Positives ist das Negative des Entgegenstehenden wechselseitig polarischer Gegensatz/ wechselseitige Implikation gegensätzlicher Bestimmungen

selbständige, gleichgültige Existenz der Extreme gegeneinander/ nicht vermittelbarer Gegensatz absolut selbständiger Größen

„A/ nicht A"

reine Positivität der Größen selbständige gegensätzliche Tendenzen/ „Realrepugnanz" als Abstoßung ohne konstitutiven wechselseitigen Bezug ,.A und B"

Ideen außertheoretische Tatbestände impliziert logischen Widervereinbar mit Non-Kontraspruch ^ Κ β Μ ^ ρ Ι Β β ί ^ ^ ^ β diktionsgebot (Tabelle: dialektischer vs. Realwiderspruch nach Colletti) 107

Ebd., S. 304. Vgl. u.a. Kocyba 1979, S. 21f., Wolf 1985a, S. 221-245, Jappe 2005, 158, 161, 192f.. ""Colletti 1977a, S. 14. 108

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Die marxistische Idee einer Realdialektik sei purer Hegelianismus, der das Endliche/ Sein nach dem Modell des polarischen Gegensatzes auf das Unendliche/ den Geist beziehe und es nicht als selbständiges Sein anerkenne 110 . Dieses „Drama des Marxismus" hat demzufolge gefahrliche politische Implikationen, wie am Beispiel Kolakowskis gezeigt wird, der die Verfahrensweisen der bisherigen Naturwissenschaften auf den als Ideologie denunzierten Positivismus reduziere. Wer, so Colletti, die Probleme der Naturwissenschaften mittels des DiaMat lösen will, „nimmt ein kritisch-negatives Verhältnis zu den bestehenden Wissenschaften ein", das sich mit irrationaler, theologischer Anti-Wissenschaftlichkeit im Einklang befindet. Wissenschaft verfahre dagegen zu Recht nach dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch als „Prinzip der materiellen Bestimmtheit und [...] der Kohärenz der Aussage" 111 . Dagegen gilt ihm eine Diskussion über Fragen der Logik in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie Anfang der 50er Jahre als Beispiel für die Aufrechterhaltung eines positiven Verhältnisses von Marxismus und Wissenschaft. In den Beiträgen von Linke, Harich und Ajdukiewicz werde der Nachweis erbracht, dass die Rede von einer Dialektik der Materie tatsächlich Realoppositionen meine und deshalb legitimerweise von ,objektiven Gegensätzen' ohne Verletzung des Non-Kontradiktionsgebotes gesprochen werden könne. Der Satz von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze, eines jener berühmten Grundgesetze der Dialektik' des ML, sei nach Ajdukiewicz deshalb wissenschaftlich, weil antagonistische Tendenzen, z.B. .„Aktion und Reaktion, Wirkung und Gegenwirkung [...] nicht dasselbe wie das Verhältnis zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein ein und desselben Sachverhaltes'" 112 bedeuteten. Eine Reaktion sei dann nicht das ,Nicht-Sein' der Aktion, sondern eigenständige Kraft. Nun bemerkt Colletti aber, dass Marx Hegels Verkehrungen (von Subjekt/ Objekt) und Hypostasierungen (des Abstrakten) nicht bloß nominalistisch als „fehlerhafte Weisen der Hegeischen Logik, die Realität widerzuspiegeln" 113 kritisiert, sondern sie in der kapitalistischen Wirklichkeit als reelle Verkehrungen und Hypostasierungen entdeckt, somit die Wahrheit des Idealismus dechiffriert. Die Formen des gesellschaftlichen Reichtums seien für den Kritiker Marx Produkte der Entfremdung und keine bloß positive Realität114. Um den Begriff der Verkehrung als Entfremdung zu bestimmen, zitiert Colletti nun aber Aussagen über die ,trinitarische Formel', die ,Verkehrung' zunächst eindeutig als ideologisches Phänomen - fetischistischen Schein des „unmittelbaren Zusammenwachenfs] der stofflichen Produktionsverhältnisse mit ihrer geschichtlich-sozialen Bestimmtheit" 115 - fassen. Nur in diesem Sinne des von den gegenständlich vermittelten Verhältnissen induzierten Scheins, dass Kapital Zins, Boden Grundrente und Arbeit Arbeitslohn erzeuge, spricht Marx davon, ,,[w]ie alles in dieser Produktionsweise sich verkehrt darstellt"116. Um zu .beweisen', dass Marx hier aber die Realität selbst als verrückte, irrationale Form beschreibe, zitiert Colletti nun die Bemerkung ,,[d]ie verdrehte Form, worin die wirkliche Verkehrung sich ausdrückt, 110

Vgl. ebd., S. 15ff. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 16,18, 19. 112 Ajdukiewicz zitiert nach Colletti 1977a, S. 21. 113 Colletti 1977a, S. 28. 114 Vgl. ebd., S. 28f. 115 MEW 25, S. 838 (MEGA II/4.2, S. 852; „geschichtlich" von Engels eingefügt). 116 MEW 26.3, S. 468 (MEGA II/3.4, S. 1474). 111

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findet sich natürlich reproduziert in den Vorstellungen der Agenten dieser Produktionsweise"117. Hinter „ausdrückt" findet sich Collettis „nota bene!". Er bemerkt nicht, dass die „wirkliche Verkehrung" die Entfremdung im Sinne der Verselbständigung der Produktionsverhältnisse gegenüber den Akteuren darstellt und nicht eine irrationale Verfasstheit der Wirklichkeit bezeichnet, nach der etwas zugleich historisch-gesellschaftlich und ahistorischungesellschaftlich ist. Colletti nimmt so Marx' Fetischismuskritik fur dessen positive Beschreibung der kapitalistischen Wirklichkeit118 und trennt auf dieser Grundlage Marx als Wissenschaftler von Marx als Kritiker der politischen Ökonomie" 9 . Einmal führe dieser die politische Ökonomie von Smith und Ricardo fort, wobei sein Gegenstand eine „positiv vorausgesetzte]" 120 Realität analog zu Naturgesetzen konzipierter ökonomischer Bewegungsgesetze sei. Zum anderen sei er Schüler Hegels und Feuerbachs, indem er die Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsweise als Produkt der Entfremdung der Gattung begreife121. Die Gesetze dieser Produktionsweise stellten in diesem Kontext für Marx „die fetischistische Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen"122 dar. Colletti gesteht zu123, nicht zu begreifen, wie die Anführung von .Naturgesetzen' des Kapitalismus und der Verkehrung von Subjekt und Objekt miteinander zusammenhängen. Er ahnt zwar, dass diese ,Naturgesetze' eine aufgrund historisch-spezifischer Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit bewirkte Verselbständigung der sozialen Synthesis darstellen, konstatiert aber einen mit wissenschaftlicher Rationalität unvereinbaren Charakter solcher Auffassungen: Marx begreife die Widersprüche des Kapitalismus als dialektische, z.B. die Krise als gewaltsame Herstellung der Einheit konstitutiv zusammengehöriger, aber gegeneinander verselbständigter Extreme. Die Pole des Widerspruchs (Ware und Geld) sind Colletti zufolge deshalb wirklich, weil getrennt (reale Opposition) und zugleich unwirklich, weil zusammengehörend (Einheit der Gegensätze): „Sie haben Wirklichkeit angenommen, insofern sie sich getrennt haben" (Gebrauchswert und Wert der jeweiligen Waren in Ware und Geld), „aber insofern sie untrennbar [...], sind sie real geworden, obwohl sie es nicht wirklich sind. Sie sind als Sachen real geworden, obwohl sie keine Sachen sind: sie sind [...] ein Produkt der Entfremdung, sie sind an sich irreale, wenn auch versachlichte Größen"124. Der Gegen117 118

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Ebd., S. 445 (II/3.4, S. 1453). Vgl. Colletti 1977a, S. 36: „Die Theorie des Fetischismus oder der kapitalistischen Entfremdung und die Theorie des Widerspruchs fügen sich hier ganz eng zusammen: sie erweisen sich lediglich als zwei verschiedene Ausdrucksweisen derselben Sache" (vgl. auch S. 30). Vgl. zur Kritik: Wolf 1985a, S. 223f. „daß es zwei Marx gibt" (Colletti 1977a, S. 29). Ebd. („der Marx der Vorworte zum .Kapital'" (ebd.)). Vgl. ebd., S. 38: Die Konstitution der Ware als Einheit von Gebrauchswert und Wert ist aus privatarbeitsteiligen Verhältnissen, aus der Trennung/ Entzweiung der Gattung heraus zu erklären: Das ursprünglich Zusammengehörige (Gattung) entfremdet sich in isolierte, konkurrierende Privateigentümer. Dieses Trennung muss historisch in einer höheren Einheit wieder aufgehoben werden, womit sich Marx in dem Augen Collettis als Erbe der Hegeischen Geschichtsphilosophie entpuppt. Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 31: „die beiden Aspekte des Marxschen Werkes [...] die einander entgegengesetzt sind und sich widerstreiten, sich andererseits jedoch auch wechselseitig verlangen [...], wenn auch nicht leicht zu sehen ist, auf welche Weise sie zusammengefügt werden könnten". Ebd., S. 35.

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stand der Marxschen Kritik stellt sich derart als irrationale Entität heraus, als WirklichUnwirkliches, Sachlich-Nichtsachliches125. Für Marx ist aber nach Colletti dialektische Darstellung exklusives Merkmal einer „verkehrtefn] Realität", während der DiaMat den dialektischen Widerspruch als „Eigenschaft jeder beliebigen Realität" betrachte. Es bleibt Colletti nur die Unklarheit darüber, ob Marx' Kritik für die Grundlegung der Sozial Wissenschaften „verhängnisvoll oder gewinnbringend"126 ist, ob Marx als Philosoph und Marx als Wissenschaftler zu vereinbaren sind und wenn, dann wie. Collettis Thesen, wenigstens sein verrätselnder Gestus, den Gegenstand der Ökonomiekritik so eigentümlich zu konstruieren, dass dessen eigentümliche Darstellung den analytischen Wissenschaftsstandards geradezu ins Gesicht schlägt, hat auch in der bundesrepublikanischen Debatte Schule gemacht127. Im Gegensatz zu Colletti beharrt Hans-Friedrich Fulda auf der Differenz zwischen Manischem und Hegelschem Widerspruchskonzept. Er lehnt sich an Althussers These an, die Umstülpung der Hegeischen Dialektik durch Marx wechsle nicht bloß deren Substrat aus, sondern verändere die Struktur der Dialektik selbst128. Im Gegensatz zu Althusser, der diese Frage nur auf der Ebene der Komplexität (.expressiven' Reduzibilität) des Gegenstands der konkurrierenden Dialektiken abhandelt, konstatiert Fulda einen Wandel des Widerspruchsbegriffs von Hegel zu Marx als Bewegung vom spekulativen' zum .wirklichen' Gegensatz sowie als Umkehrung der Korrelation Wesen-Einheit vs. Erscheinung-Widerspruch: Der Hegeische Widerspruch als „streng symmetrisch[es]"129 Verhältnis einander implizierender Extreme gehe zurück in das Wesen als ihren einheitlichen, harmonischen Grund und erweise sich damit als Widerspruch nur auf der Ebene der Erscheinung130. Marx dagegen führe Widersprüche in der Erscheinung auf tieferliegende, wesentliche Widersprüche zurück131: „Hegels Hauptfehler", so Marx 1843, „besteht darin, daß er den Widerspruch der Erscheinung als Einheit im Wesen, in der Idee faßt, während er allerdings ein Tieferes zu seinem Wesen

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Zur weiteren Kritik dieser Position vgl. die Bemerkungen zu Wolfs ausführlicher Colletti-Kritik in diesem Kapitel. Zitate der Reihenfolge nach: Colletti 1977a, S. 36, 35, 39. Dies erstreckt sich von Gerhard Göhlers Thesen, Marx' Dialektik enthalte notwendig einen logischen Widerspruch (vgl. Göhler 1980, S. 170) bis hin zu den kryptischen Verlautbarungen des ISF, der Kapitalismus sei eine ,logisch unmögliche' Vergesellschaftungsform (vgl. ISF 2000, S. 13), Frank Kühnes Behauptung, Geld setze die Prinzipien der Logik außer Kraft, weil es .zugleich und in derselben Hinsicht Ding und Nicht-Ding' sei (vgl. Kühne 1995, S. 32) oder Anselm Jappes abenteuerlichen .Einsichten' in die .reale Mystik' des Kapitals, in der tatsächlich ,4=5' sei (vgl. Jappe 2005, S. 161), bzw., wie Hans-Georg Bensch es ausdrückt, das Kapital .größer als es selbst sei' (vgl. Bensch 1995, S. 7). Vgl. kritisch dazu Elbe 2008. Vgl. Fulda 1978, S. 183. Fulda 1978, S. 198. Vgl. ebd., S. 189. Vgl. auch Arndt 2001, Sp. 1252: Bei Marx „ergibt sich ein spezifischer Unterschied zur Lösung der Widersprüche bei Hegel: sie gehen nicht in die Einheit des Grundes zurück, sondern können sich nur eine Form ihrer Bewegung unter den bestehenden Verhältnissen schaffen". Vgl. Fulda 1978, S. 194. Vgl. auch Arndt 1994, S. 297.

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hat, nämlich einen wesentlichen Widerspruch"132. Dabei erhielten die Extreme des Gegensatzes als wirklichem keine symmetrische Stellung und seien zugleich unvermittelbar. Gegenüber Colletti werden dem Begriff der realen Gegensätzlichkeit also deren .Wesentlichkeit' und die Figur des übergreifenden Extrems zugeordnet. Gegen die harmonisierende Pointe spekulativer Dialektik sei materialistische - als Darstellungsweise eines nicht dialektisch gewonnenen Stoffs 133 - Kritik des harmonischen Scheins, wie der Verschmelzung von Gebrauchswert und Wert, und Aufweisung von Widersprüchen als zugrundeliegender, Instabilitäten implizierender, ,,dysfimktionale[r] Eigenschaften" eines Systems, welche begrenzte Bewegungsformen im Sinne „widerspruchslösender Institutionalisierung[en]" finden, bis letztlich die Dysfunktionalität in einer (Zusammenbruchs-) Krise offen zutage trete und den Kollaps des Systems bewirke. Damit ist Marasche Dialektik als „Darstellungsform einer Katastrophentheorie" 134 qualifiziert. Ähnlich wie Steinvorth fasst Fulda Dialektik als systematische Darstellungsweise 135 , die zunächst nicht als Selbstbewegung des Gegenstandes, sondern als theoretische Operation „unserfes] Denken[s]" verstanden werden müsse, bis mit der Zusammenbruchskonstellation die Widersprüche als Dysftinktionalitäten „zur adäquaten Erscheinung gekommen" 136 seien. Im Gegensatz zu Steinvorth entdeckt Fulda aber wirkliche Gegensätze bereits in der Ausgangssituation des Austauschprozesses und behauptet ohne nähere Erläuterungen, die Begriffsentwicklung im ersten Kapitel des Kapital, z.B. von der Ware zur Wertform, beinhalte Übergänge ohne Widersprüche 137 . In seiner, dem strukturalen Ansatz nahestehenden, Dissertation Widerspruch und Theoriestruktur beansprucht Hermann Kocyba 1979, das Bedeutungsspektrum des Widerspruchsbegriffs in der Darstellungsweise der Ökonomiekritik aufzuhellen. Er wendet sich dabei zunächst, wie der analytische Marxismus, gegen Versuche, dialektische Widersprüche als logische zu konzeptualisieren 138 , verteidigt aber den Gedanken eines rationalen Gehalts der Hegeischen Dialektik. Nach Kocyba stellen die traditionelle kritisch-rationalistische Kritik 139 der Dialektik und die marxistisch-leninistische Affirmation 140 derselben als das Non132

MEW 1, S. 295f. (MEGA 1/2, S. 100). Marx bezieht sich auf Hegels Versuch in der Rechtsphilosophie, die gesetzgebende Gewalt als Vermittlung zwischen den Extremen von Fürst und Volk zu konstruieren, während Marx hierin nur eine Transposition unvermittelbarer Gegensätze in ein neues Medium sieht (vgl. ebd., S. 290). 133 Vgl. Fulda 1978, S. 193. 134 Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 215, 216, 195. 135 Im Gegensatz dazu habe Marx in den Pariser Manuskripten von 1844 noch eine historische Dialektik des Gattungssubjekts konzipiert (vgl. ebd., S. 203). 136 Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 212, 215. 137 Vgl. ebd. Zur Kritik an Fulda, vgl. die Bemerkungen zu Wolf in diesem Kapitel. 138 Vgl. Kocyba 1979, S. 19. 139 Vgl. Popper 1966, S. 266: „Nachdem die Dialektiker nun richtig festgestellt haben, dass Widersprüche [...] äußerst fruchtbar, ja tatsächlich die Triebkräfte jedweden Fortschritts des Denkens sind, schließen sie - fälschlicherweise [...] -, daß keine Notwendigkeit zur Vermeidung dieser fruchtbaren Widersprüche besteht". 140 Vgl. Elez zitiert nach Narski 1973, S. 20: „Vom Standpunkt der dialektischen Logik aus kann eine Behauptung und ihre Negation, These und Antithese zugleich wahr sein".

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Kontradiktionsgebot verletzende, bis in die 1960er Jahre hinein ein Komplementärsystem dar. Anhand von Positionen, die die Vereinbarkeit von dialektischen Widersprüchen und dem Satz der Identität postulieren, wird nun gezeigt, dass diese zwar tatsächliche Momente der Marxschen Redeweise von dialektischem Widerspruch' entfalten, aber weder der Bedeutungsvielfalt des Widerspruchsbegriffs im Kapital gerecht werden noch in ihrem Reduktionismus auf einen Widerspruchstypus ein korrektes Abgrenzungskriterium zur Unterscheidung rationaler von irrationalen Gegensätzen angeben. Insbesondere Collettis Begrenzung realer Gegensätze auf Realrepugnanzen verfallt der Kritik. Bereits der wechselseitig polarische Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital ist nach Kocyba weder als „Opposition unabhängiger Ursachenstränge" zu begreifen noch als irrationaler Gegensatz. Der Begriff der „Realopposition kann lediglich einen speziellen Typus nichtlogischer Widersprüche erfassen"141, nicht jedoch logisch ebenfalls völlig unbedenkliche polarische Gegensätze, wie die Relationen Lohnarbeit-Kapital142 oder relative Wertform-Äquivalentform143 als „wechselseitig konstitutive[...] Verhältnisse]", in denen beide Relata „nicht ohne Bezugnahme aufeinander definierbar"144, ja existent, sind. Der Arbeiter z.B. ist nur Lohnarbeiter im Verhältnis zum Kapitalisten und vice versa. Der Widerspruch, der durch die Bestimmungen Eigentümer-Nichteigentümer an Produktionsmitteln gesetzt ist, ist demnach kein logischer, der besagen würde, dass die Nichteigentümer zugleich und in derselben Hinsicht Eigentümer der Produktionsmittel wären. Auch „intentionale Gegensätze"™5, also Interessenantagonismen, seien logisch unbedenklich und würden von Marx angeführt146. Habe ein Akteur zwei Interessen, die nicht gleichzeitig zu realisieren seien, „sich in einer zu spezifizierenden Hinsicht ausschließen"147, so habe er gegensätzliche Interessen, was nicht bedeute, dass er die Interessen zugleich habe und nicht habe148. Auch der Interessengegensatz zwischen Akteuren beruhe nicht auf logischen Kontradiktionen, sondern zeige lediglich an, dass „zwei Parteien um dasselbe Gut streiten [...], wobei nicht beide Strebungen erfolgreich sein können" - klassisches Beispiel sind Nullsummenspiele, wie sie in Klassenkämpfen um Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhung etc. eine Rolle spielen. Marx' Formtheorie, so Kocyba, geht aber vom abgeleiteten, d.h. strukturdeterminierten Charakter intentionaler Gegensätze aus. Interessenantagonismen müssen danach „nichtintentionale [...] strukturelle Widersprü-

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145 146 147 148

Zitate der Reihenfolge nach: Kocyba 1979, S. 21, 22. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 72. Beide Zitate: Ebd., S. 22. Vgl. auch Taylor 1997, S. 342: „In einem polaren Gegensatz ist jeder Begriff so definiert, daß seine Wechselbeziehung mit einem anderen entgegengesetzten Dasein konstitutiv für seine eigene Realität ist". Kocyba 1979, S. 25 (Hervorhebung von mir, I.E.). Vgl. MEW 23, S. 249 (MEGA II/5, S. 181). Kocyba 1979, S. 23. Erscheint dies so, so müssen konfligierende Instanzen, wie ,Es' und ,Ich' im Akteur angenommen werden. Dies wusste schon Piaton in der Politela (2000, 436b, 439b/d).

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cAe"149 zugrunde liegen, die in den Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit verankert sind150. Auf logische Widersprüche werde bei Marx an keiner Stelle positiv rekurriert. Sie fánden sich, Marx zufolge, ausschließlich in Klassik und Vulgärökonomie, also den Gegenständen seiner Kritik. Dort stellen sie Inkonsistenzen der Theorie dar, die sich durch die gewaltsame Vereinheitlichung disparater Abstraktionsstufen der wissenschaftlichen Darstellung, letztlich den empiristischen Standpunkt der Betrachtung, hindurch ergeben151. Marx kritisiere das Fehlen einer Differenzierung zwischen Kernstruktur und empirischer Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft, moniere mangelhafte Abstraktionen, die Vermengung empirischer mit nichtempirischen Kategorien und das Fehlen von Mittelgliedern zwischen beiden. Die klassische Ökonomie zeichne sich fur ihn allerdings dadurch aus, dass sie die den Prinzipien der politischen Ökonomie zuwiderlaufende Empirie als solche festhalte und nicht verleugne oder theoretisch einebne. Logische Widersprüche sind in der Perspektive Kocybas aber nicht nur Gegenstand der Theoriekritik seitens Marx und gehören damit vor allem dem Forschungsprozess an152, sie erfüllen auch im Gang der Darstellung der Kritik der politischen Ökonomie eine quasi-positive Funktion, nämlich als Problemantinomien. Kocyba identifiziert im Kapital somit ein heterogenes Ensemble verschiedener Widerspruchstypen. Ein einheitliches dialektisches Widerspruchskonzept, das sich in „immer entwickeltere, komplexere Widerspruchsverhältnisse vervielfacht", vermag er nicht zu entdecken. Es existiere kein ,Urbild' des dialektischen Widerspruchs, kein sich entfaltendes, „zentrales, ursprüngliches Gegensatzverhältnis"153, wie in Anlehnung an Althussers Kritik des Modells expressiver Totalität154 formuliert wird. Neben ,,deskriptive[n] Verwendungskontexte[n]" spielen in den Augen Kocybas zwei Verwendungen des Widerspruchsbegriffs in „darstellungsstrategischefr]" Absicht eine für die Spezifik der Ökonomiekritik entscheidende Rolle: Das schon erwähnte Konzept der Problemantinomie, das den „Übergang zwischen zwei Strukturniveaus" der Darstellung organisiere und das Konzept der Bewegungsformen, welches durch immanente Widerspruchsentwicklung die „Entfaltung eines Strukturniveaus" bewirke. Im Rahmen seiner Nachzeichnung des Darstellungsgangs im Kapital identifiziert Kocyba zwei wesentliche Problemantinomien. Die des .immanenten Tauschwerts als contradictio in adjecto' in Kapitel 1.1 und die Zirkulations-Antinomie im 4. Kapitel. Beide, so Kocyba im Anschluss an Narski, sind keine Beschreibungen objektiv widersprüchlicher Sachverhalte, sondern rein „explikativ bedeutsame" Instrumente, die die Grenze einer begrifflichen Abstraktionsstufe anzeigen und - „im Interesse einer logisch konsistenten Weiterfuhrung der 149 150

151 152 153 154

Zitate der Reihenfolge nach: Kocyba 1979, S. 23, 24 (Hervorhebung von mir, I.E.). Als weitere nichtlogische Widersprüche in der Theorie des Kapitals werden gegenläufige Tendenzen, paradoxe Effekte, Widersprüche zwischen Akteursperspektiven und Strukturgesetzen sowie zwischen verschiedenen Strukturebenen der Darstellung (z.B. einfache Zirkulation-Produktion oder Kernstruktur-Oberfläche) genannt; vgl. ebd., S. 53-57. Vgl. ebd., Vgl. auch Zitate der Vgl. ebd.,

S. 51,81. Stapelfeldt 1979, S. 12-42; Stapelfeldt 2004, S. 287-299. Reihenfolge nach: Kocyba 1979, S. 147, 151. S. 34.

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Analyse" - „den Wechsel des analytischen Terrains"155 erzwingen. Hier sei es letztlich die Vermeidung von Widersprüchen, die die Analyse forttreibe. Erstaunlicherweise fehlt in Kocybas Rekonstruktion eine Erläuterung der Ausgangssituation des Austauschprozesses156, obwohl gerade hier deren Funktion als Problemantinomie - als „restlose Verlegenheit", „absoluter Widerspruch", der „keiner dialektischen Entwicklung zugänglich ist"157, bzw. als ,JDenkunmöglichkeit'^5S, wie sich Cesare Luporini und Hans-Georg Backhaus ausdrücken zwecks Übergang auf die Praxis der Warenbesitzer als weiterer Ebene der Darstellung immer wieder nahegelegt wurde. Ebenfalls ausgeblendet wird das Problem des Übergangs vom Geld ins Kapital, wie es im Urtext gestellt und gelöst ist. Dieser Übergang auf ein anderes begriffliches Feld scheint nämlich eher nach dem Muster des zweiten Widerspruchstypus aufgebaut zu sein, was aber Kocybas These von der Aufgabe der Problemantinomien im Gefüge des Kapital deutlich in Frage stellt. Vor allem Michael Heinrich und Dieter Wolf weisen darauf hin, dass der Übergang vom Geld zum Kapital als dialektische Widerspruchsentwicklung zu begreifen ist, auch wenn Marx sie im Kapital nicht mehr ausgeführt habe159. Wolf zufolge ist die Problemantinomie daher nicht mehr als eine didaktische Spielerei von Marx, ja, eine „unnötig Verwirrung" stiftende und ,,überflüssig[e]"160 Konstruktion. Der zweite Typus dient nach Kocyba, wie der Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert oder der zwischen relativer Wertform und Äquivalentform, zur „Ausarbeitung"161 eines theoretischen Feldes. Ausgehend von spezifischen Vergesellschaftungsbedingungen, die Arbeiten und Produkte (nicht-logisch) widersprüchlich bestimmen, werden die Erscheinungsformen der einfachen Zirkulation als äußere Bewegungsformen eines immanenten Widerspruchs dechiffriert162. Die widersprüchliche Bestimmtheit von Arbeiten und Produkten im Kapitalismus sei als nicht-logische qualifizierbar, weil konkrete Arbeit/ Gebrauchswert und abstrakte Arbeit/ Wert „auf unterschiedlichen kategorialen Ebenen lokalisiert" seien: „Zwar kann abstrakte Arbeit als .Negation' konkreter Arbeit betrachtet werden, doch ohne daß damit ein logischer Widerspruch vorläge: Arbeit ist nicht in derselben Hinsicht zugleich konkret und abstrakt". Der Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert im Kontext der Wertformanalyse „verdankt sich dem Unstand [sie!], daß der Wert als solcher nicht erscheinen kann, sondern nur in ihm widersprechenden Zirkulationsformen". Der immanente Widerspruch der Ware, der zur Wertform treibt, und der Widerspruch zwischen dem Wert von Ware A und dem Gebrauchswert von Ware Β - als inadäquater Erscheinungsform des Werts von A - werden in dieser Formulierung zusammengezogen. Kocyba stellt fest, dass, wenn Marx das Non-Kontradiktionsgebot damit hätte außer Kraft setzen wollen, „eine Analyse der Wertformen völlig überflüssig"163 gewesen sei, weil dann Wert

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Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 95, 95, 149, 149, 152, 61, 148. Vgl. ebd., S. 82f. Luporini 1974, S. 130f. Vgl. dazu Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit. Backhaus 1997f, S. 285. Vgl. Heinrich 1999, S. 255f„ Wolf 2007, S. 62f. Wolf 2007, S. 84. Kocyba 1979, S. 68. Vgl. ebd., S. 95, 151. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 64, 67, 95, 73.

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und Gebrauchswert als identisch gesetzt worden wären164. Die Wertform als Bewegungsform des Widerspruchs zwischen Gebrauchswert und Wert wiederum sei nicht als logischer Gegensatz konzipierbar, weil die Gleichung ,x Ware A ist y Ware Β wert' keine Gleichsetzung von Gebrauchswert und Wert impliziere165, sondern lediglich ein polarisches Gegensatzverhältnis166. Betrachte man das Kapital als Ganzes, entfalte Marx dort eine „hierarchische Verknüpfung und wechselseitige Überlagerung zweier aufeinander irreduzibler aber komplementärer Strukturniveaus des Gegenstands, die nicht distinkte Entitäten beschreiben und dann zusammenfügen, sondern jeweils denselben Gegenstand gleichzeitig unterschiedlich gliedern und über die .Mittelglieder der Analyse' ein komplexes begriffliches Transformationssystem entfalten". Dies ist klar gegen eine Abbildtheorie in der Tradition von Engels und Lenin gerichtet, nach der .jeder Begriff der Theorie eine distinkte Entität der Realität bezeichnet"167 und die Aufeinanderfolge begrifflicher Abstraktionsniveaus als eine historischer Epochen verstanden wird. Diethard Behrens und Kornelia Hafner 168 haben dazu kritisch angemerkt, dass die These vom begrifflich-konstruktiven Charakter der Architektur des Kapitals, die eine .Entwicklung' der Gegensätze nicht als historisch-empirische Genesis, sondern als „Explikationsstruktur der Theorie"169 fasse, mit der Behauptung des Realitätsgehalts der Widerspruchsstruktur, gerade auch der nichtempirischen Kategorien des .Wesens' 170 , merkwürdig unverbunden bleibe. Auch Helmut Brentel weist darauf hin, dass Kocyba den .„realdialektischen' Gehalt der Widerspruchsentwicklung" nicht hinreichend präzisiert und ihn so im Stile des analytischen Marxismus „in Richtung bloßer Darstellungslogik zurücknimmt"171. Auch wenn Kocyba die Kluft zwischen analytischem und deskriptivem Widerspruchsbegriff (ein Problem, das ja erst mit der logischen Lesart aufkommt) nicht schließen kann, so zeigt seine Arbeit doch zumindest, dass viele Rekonstruktionsversuche entweder mit einem irrationalen (z.B. Rosental) oder mit einem reduktionistischen (z.B. Colletti, Narski) Widerspruchskonzept gearbeitet haben. Ob die von Althusser aufgenommene und auf die Problematik des kategorialen Aufbaus der Ökonomiekritik angewandte These eines komplex strukturierten Ganzen ohne homogene Entfaltungsdynamik es gestattet, Kocyba als deutschen Vertreter einer strukturmarxistischen Lesart einzuordnen, wird durchaus bezweifelt. Behrens/ Hafner meinen, Kocybas methodologische Rekonstruktionsversuche blieben weitgehend „unverbunden"172 mit Althussers Überlegungen zur strukturalen Kausalität. Auch Kocyba selbst muss zugestehen, dass sich Althussers Ausführungen zu Widerspruch und Überdeterminierung „nur schwer auf speziel-

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Letztlich bezeichnet dies den Fehler der politischen Ökonomie im Begriff der wertschaffenden Arbeit (per se) oder des unveränderlichen Wertmaßes. Vgl. dazu auch Stapelfeldt 1979, S. 72f.; 2004, S. 296f., 303. Vgl. Kocyba 1979, S. 75. Vgl. ebd., S. 72. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 148, 164. Vgl. Behrens/ Hafner 1993, S. 123. Kocyba 1979, S. 87. Vgl. ebd., S. 139. Brentel 1989, S. 346. Behrens/ Hafner 1993, S. 127.

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le Fragen der Darstellung der Kritik der politischen Ökonomie [...] beziehen lassen"173. Dass Althusser ein Jahr zuvor seine Kritik expressiver Totalität methodologisch erweitert und zum Konzept einer Diffusion jeglicher Erklärungsstruktur im Kapital radikalisiert hatte174, scheint Kocyba noch unbekannt gewesen zu sein. Ein anderer Umgang mit der Problematik des Verhältnisses von Realwiderspruch und analytischem Widerspruchskonzept findet sich in der 1980 erschienenen Arbeit Die Reduktion der Dialektik durch Marx. Gerhard Göhler unterscheidet hier zwei Extreme der Dialektikauffassung hinsichtlich der Marxschen Darstellungsweise, die aber lediglich zwei bei Marx selbst vorhandene Dialektikkonzeptionen reflektieren sollen175 - eine ,emphatische' und eine reduzierte'. Im Rahmen der ersteren würden die „strukturellen Zusammenhänge" des Gegenstands „durch Umsetzung in eine denknotwendige Abfolge theoretisch reproduziert und damit in ihrer Gesetzmäßigkeit erkfajnnt". Der innere, notwendige Zusammenhang der aufeinander folgenden Kategorien werde durch Übergänge gestiftet, die „nicht nur überleitenden Charakter"176 im didaktischen Sinne haben sollen, sondern, ohne als unmittelbare Widerspiegelung der Realität verstanden werden zu können177, „aus der Sache selbst begründet" werden müssten. Der Widerspruch sei in diesem Paradigma wissenschaftlicher Begründung durch immanentes Über-sich-Hinausweisen der Kategorien treibendes Moment: Auf jeder Ebene der Darstellung, so Göhler, ergeben sich Widersprüche, welche die beschriebenen „Elemente vernichten und den Zusammenhang ihrer Bestimmungen erst gar nicht zustande kommen lassen würden". Eine begriffliche Darstellung, die diese Widersprüche weder als fiktive deuten noch sie theoretisch in dieser Weise stehen lassen könne, werde dann auf Bewegungsformen oder ,chiastische' Vermittlungsstrukturen verwiesen, „in deren Struktur sie (vorläufig) Bestand finden". Innerhalb reduzierter Dialektik sei die Begriffsfolge „nicht mehr die immanente, aus der Bestimmung der Sache selbst weitertreibende Ausrichtung der Entwicklung" und resultiere vielmehr „aus der Auswahl möglicher Schritte entsprechend dem sachgebotenen Ziel dieser Entwicklung"178. Der Widerspruch werde entweder vermieden oder büße zumindest die Funktion des die Darstellung forttreibenden Elements ein179, werde auf einen ,deskriptiven' Widerspruchstyp reduziert. Werkgeschichtlich könne die erste Form dialektischer Darstellung in Zur Kritik verortet werden - Marx' erstem Ansatz einer Geldentwicklung aus dem ,wirklichen' Bezug der Waren aufeinander innerhalb der Abstraktionsebene des Austauschprozesses. Hier werde letztlich vergeblich180 - versucht, in einem Geld und Struktur des Austauschprozesses zu

173

Kocyba 1979, S. 173. Vgl. Althusser 1983. Vgl. dazu bereits Kapitel 1.1 dieser Arbeit. 175 Vgl. Göhler 1980, S. 20,23. 176 Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 162, 129. 177 Vgl. ebd., S. 163. 178 Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 25, 165, 165, 25f. 179 Vgl. ebd., S. 43. 180 Vgl. ebd., S. 111 sowie 105: „Das allgemeine Äquivalent ist hier erst einmal Extrem (Geld gegenüber Ware), in der Struktur des Austauschprozesses muß es aber als Mitte auftreten. Beides zugleich zu entwickeln, schafft auch die dialektische Anstrengung von Marx hier nicht". 174

149

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erklären und damit das ,emphatische' Programm der immanenten Entwicklung von Bestimmungen der Reichtumsformen aus einem Prozess heraus beansprucht.

Forschungsprozess

i

Dinghafte Erscheinung/' Empirie

Vielheit

Darstellungsprozess

t

soziales Wesen

Einheit

isolierte Mannigfaltigkeit der Fakten innerer Zusammenhang der Fakten

bewusst Gegebenes

Konkretes

unbewusste Produktion

Abstraktes

(Tabelle: Modelle von emphatischer und reduzierter Dialektik nach Göhler)

Tatsächlich wird in Zur Kritik das allgemeine Äquivalent allein aus dem Austauschprozess hergeleitet181. Doch bereits hier ist, wenn auch nicht in gleicher Weise wie im Kapital, eine Trennung der Darstellung in „theoretische, gedachte"182 und wirkliche Beziehung der Waren aufeinander anzutreffen, welche die Konstruktion Göhlers schon an diesem Punkt in Frage stellt. So muss er denn auch postulieren, dass fiir diese Unterscheidung „eine [...] systematische Funktion [...] nicht ersichtlich"183 sei, um seine These eines Manischen emphatischdialektischen' Anspruchs aufrecht zu erhalten. In der Zweitauflage des Kapital sei nun von Marx die gemeinsame Entwicklung von Geld (aus dem Polaritätsverhältais der Wertformen, das Göhler Austauschverhältnis' oder .halbierte Austauschstruktur' nennt184) und Struktur des Austauschprozesses als geldvermitteltem Äquivalenzverhältnis aufgebrochen worden. Geld werde hier in Gestalt der ,Geldform' bereits innerhalb der theoretischen, gedachten oder .halbierten' Beziehung der Waren aufeinander in der Wertformanalyse abgeleitet, weshalb die verbleibende Gelderklärung aus dem wirklichen Warenverhältnis im Austauschprozess nur noch „als ein Relikt innerhalb der Überarbeitung" verstanden werden könne. Die modifizierte Version der Geldtheorie weise dabei „keine Widerspruchsentwicklung" mehr auf und vermeide zunächst logische Widersprüche. Das generelle, bereits den .emphatischen' Lösungsversuch kennzeichnende, Problem, „wie die Äquivalenzrelation der Austauschstruktur" (in Göhlers Terminologie: der Austauschprozess') „erst durch die Nichtäquivalenzen in der Struktur der Wertform" (die .halbierte Austauschstruktur') „gebildet werden kann"185, bleibe nun aber auch in der .reduzierten' Variante dialektischer Darstellung anwesend und führe diese in einen logischen Widerspruch186. 181

Vgl. MEW 13, S. 29-33 (MEGA II/2, S. 121-127). Was Marx später als Mangel der Darstellung in Zur Kritik erkennt, vgl. MEW 31, S. 306: „Die Schwierigkeit der Entwicklung [der Wertformen] habe ich in der ersten Darstellung (Duncker) dadurch vermieden, daß ich die eigentliche Analyse des Wertausdrucks erst gebe, sobald er entwickelt, als Geldausdruck erscheint".

182

MEW 13, S. 29 (MEGA II/2, S. 121). Göhler 1980, S. 56. Vgl. ebd., S. 55. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 55, 129, 84. Vgl. ebd., S. 170.

183 184 185 186

150

WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Auf diese Konstruktion eines logischen Widerspruchs sowohl aus der ,explikativemphatischen' als auch der ,deskriptiv-reduzierten' Dialektikkonzeption heraus wird im Zuge der Göhler-Kritik Dieter Wolfs noch näher einzugehen sein. Zugleich werden damit Dialektik-Kritiken in Frage gestellt, die sich auf Göhlers Unterscheidung beziehen und diese in Richtung analytischer Positionen weitertreiben wollen187. Dass Göhler mit seinen Einschätzungen der verschiedenen Varianten von Wertform- und Geldanalyse bei Marx, insbesondere ihres Verhältnisses zueinander, einer falschen Fährte folgt, wird sich in der ausfuhrlichen Nachzeichnung der Diskussion um die Einfügung der Geldform in die Wertformanalyse im Kapital erweisen. Mit dem Nachweis einer sachlichen Notwendigkeit der begrifflichen Trennung von Wertform- und Gelderklärung im Rahmen einer dialektischmaterialistischen Darstellung von Reichtumsformen - verstanden als Materialismus der zweiten Natur, der gesellschaftliche Entfremdungsprozesse der Verweisung des Menschen auf die ,Umwelt' eines Systems der Formgenerierung berücksichtigt - , werden dann auch implizit an Göhler orientierte Ansätze einer Kritik unterzogen, die, wie Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt im Jahre 1995, eine .Verhärtung' der monetären Werttheorie im Kapital in drei getrennte Kapitel beklagen188. In seiner zuerst 1985 erschienenen Arbeit Ware und Geld beansprucht Dieter Wolf, „den rationalen Charakter der materialistischen Dialektik"189 anhand einer minutiösen Rekonstruktion der Marxschen Darstellung in den ersten drei Kapiteln des Kapital herauszuarbeiten. Wolf begreift die Widerspruchsstruktur der Ökonomiekritik als Einlösung der in den Grundrissen formulierten methodologischen Programmatik190 und fasst daher die „innre Notwendigkeit des Zusammengehörigen und seine gleichgültige selbständige Existenz gegeneinander"191 als Bestimmungsgründe eines dialektischen Widerspruchs. Dieser gilt ihm unter zwei Bedingungen als rational: 1. „Die Bewegungsformen des Widerspruchs schließen die Vermittlung der Extreme ein, ohne daß diese miteinander vermischt werden" und 2. „Die Bewegungsformen [...] schließen ,die Entschiedenheit wirklicher Gegensätze, ihre Bildung

187

188 189 190 191

Hiermit ist vor allem der Ansatz von Otto Kallscheuer angesprochen, der seine Kritik des ,emphatisch'-dialektischen, ,hegelmarxistischen' Marx durch eine Kombination der Argumente Göhlers (vgl. Kallscheuer 1986, S. 265f.) und Hans Friedrich Fuldas (vgl. ebd., S. 269-271) abstützt. Die Kritik beider Positionen durch Dieter Wolf kann damit auch als Kritik an Kallscheuers Marx-Kritik gelesen werden. Vgl. Backhaus/ Reichelt 1995, S. 85. Wolf 1985a, S. 328. Vgl. auch W o l f 2 0 0 4 , S. 22. MEW 42, S. 328 (MEGA II/1.2, S. 326) (zitiert bei Wolf 1985a, S. 26). Auf diese logischsyntaktische Grunddimension von Dialektik rekurriert auch Jürgen Ritsert 1997, S. 72 (zu Kant), 76, 101 (zu Hegel), 107 (zu Bhaskar), 155 (zu Adorno). Allerdings wird sie hier nicht anhand der Marxschen Werttheorie exemplifiziert. Auch Andreas Arndts Charakterisierung eines dialektischen Reflexionsverhältnisses kommt der Wolfschen Auffassung durchaus nahe: „Weder ist die Differenz der Relate eines Reflexionsverhältnisses unmittelbar gegeben (denn sie sind zu differenten Extremen erst durch das Verhältnis des einen zum anderen geworden), noch ist ihre Indifferenz unmittelbar gegeben (denn dann könnten sie in keinen wesentlichen Gegensatz treten)". (Arndt 1994, S. 281).

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zu Extremen, [...] ihre Entzündung zur Entscheidung des Kampfes' - kurz, die Krise ein"192. Der Widerspruch bleibe damit in seinen Lösungs- oder Bewegungsformen erhalten, wobei diese Bewegungsformen von Wolf als extramentale „Problem lösende Strukturen"193 gefasst werden, die das Prozessieren der Widersprüche privat-arbeitsteiliger Produktionsverhältnisse ermöglichen. Diese Kriterien einer wissenschaftlichen Darstellungsweise in und von Widersprüchen sieht Wolf in den Beiträgen von Colletti, Fulda und Göhler verletzt. Colletti werden vier zentrale Fehler vorgeworfen: 1. Die Konfundierung von Schein und Sein, 2. die Aufspaltung der ökonomischen Objekte in zwei disparate Realitäten, 3. eine künstliche Trennung von Realopposition und dialektischem Widerspruch und damit 4. die Konstruktion eines logischen Widerspruchs zwischen Gebrauchswert und Wert. Das Fundament für alle vier Aspekte sieht Wolf darin, dass Colletti „aus dem Kapitalverhältnis [...] eine besondere Realität" macht, die aufgrund der in ihr herrschenden Entfremdung „durch und durch irrational ist". Dies geschehe erstens durch das Aufmachen einer ,,falsche[n] Alternative"194: Entweder seien nach Colletti die verrückten Formen bloße Produkte des falschen Verständnisses des Kapitalismus seitens der politischen Ökonomie oder sie bezeichneten die „Weise, in der sich die kapitalistische Wirklichkeit selbst darbietet"195, womit er aber nicht einen objektiv begründeten Schein meine, sondern eine irrationale Identität von Schein und Wirklichkeit. Zweitens mache Colletti die Natur zum „Maßstab für die Realität, die Gegenstand der Wissenschaft ist"196. In diesem Sinne verstehe er auch die Marxsche Rede von den ,Naturgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise'. Diese Diktion hat Wolf zufolge aber nichts mit der „Gleichsetzung von Gesetzen in der Natur und der Gesellschaft"197 zu tun. Wie Colletti richtig sage, aber für eine aparte zweite Realität reserviere, sei die Objektivität des Kapitals keine natürliche, sondern .Entfremdung'. Diese bearbeite der ,Philosoph Marx'. Der .Wissenschaftler Marx' müsse dann aber, folge man Colletti, vollständig aus der historisch-spezifischen Formbestimmtheit der kapitalistischen Produktionsweise herausfallen und seinen Gegenstand als Produktionsweise überhaupt definieren198. Exemplarisch für diese Aufspaltung der Wirklichkeit ökonomischer Formen sei nun Collettis Behandlung des Geldes. Er unterstelle, das Geld Ricardos, das ,Zählbare', sei etwas vollkommen anderes als das Geld Marx', der ,Gott der Entfremdung'. Wolf zufolge sind nun zwar die theoretischen Objekte beider verschieden, weil Ricardo eben keinen Begriff vom Geld habe, aber sowohl Geld als Wertmaß als auch seine Bestimmung als versachlichtes, verselbständigtes gesellschaftliches Verhältnis seien aus demselben Grund heraus zu entwickeln, der „Warenform der Arbeitsprodukte", die sie unter bestimmten Bedingungen annehmen. In der adäquaten theoretischen Reproduktion der ökonomischen Wirklichkeit sind daher nach Wolf beide Dimensionen des Geldes aufzufinden. Das heißt, beide Eigenschaften sind erst angemessen und in ihrem Zusammenhang auf der Ebene der Marxschen Kritik zu entwickeln. Geld als Maß stehe aber bei Colletti für eine Orientierung an messen192 193 194 195 196 197 198

Wolf 1985a, S. 328. Wolf 2005a, S. 14. Zitate der Reihenfolge nach: Wolf 1985a, S. 221, 223. Colletti 1977a, S. 29. Wolf 1985a, S. 225. Ebd., S. 226. Vgl. ebd., S. 227.

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der Naturwissenschaft, Geld als Entfremdung für die an einer spekulativen, mit irrationalen Objekten hantierenden Philosophie. Dieser Trennung ordne er schließlich, drittens, eine von Realopposition und dialektischem Widerspruch zu. Ihm sei mithin zwar Recht zu geben, dass der Grundwiderspruch des Kapitalismus der zwischen Gebrauchswert und Wert, Privatarbeit, die sich als gesellschaftliche darstellen muss, sei. Er irre sich aber darin, wenn er hierbei Realopposition und .Gegensatz mit Widerspruch' einander unvermittelt gegenüberstelle. Denn, obwohl „Gebrauchswert und Wert als unterschiedliche Daseinsweisen der gesellschaftlichen Arbeit unterschiedliche Existenzen ein und desselben Wesens sind, haben sie aufgrund der Gegenständlichkeit des Werts, d.h. aufgrund der gegenständlich sich darstellenden, abstrakt-menschlichen Arbeit den Charakter eines .wirklichen Gegensatzes' erhalten". Colletti fasse dagegen die Realopposition zwischen Ware und Geld als „äußerlich erscheinende Gestalt einer innerlichen, unsichtbaren, d.h. für Colletti irrealen inneren Zusammengehörigkeit"'99. Er versuche, die Trennung und Einheit von Gebrauchswert und Wert aus der Krise heraus zu erklären. Beide Momente sind nach Wolf aber bereits davor vorhanden - als selbständige, gegensätzliche Existenzweise von Ware und Geld, die die Bewegungsform des Widerspruchs zwischen Gebrauchswert und Wert und zugleich deren innere Verwiesenheit darstellt200: Die innere, notwendige Zusammengehörigkeit von Ware und Geld zeigt sich dem wissenschaftlichen Betrachter demnach schon vor ihrem gewaltsamen Geltendmachen in der Krise. Denn ohne Beziehung auf die Waren diene das Geld nicht als Wertausdruck. Es sei dann nicht mehr gegenständliche Existenzweise des Werts und regrediere zu bloßem Gebrauchswert (Metall, Papier etc.). Und ohne Beziehung der Waren aufeinander als Werte vermittelt über das Geld als ihnen gemeinsame Wertgestalt regredierten Waren ebenfalls zu bloßen Produkten. Nur in Form der gegenseitigen Verselbständigung von zugleich Zusammengehörigen gegeneinander existieren also Ware und Geld wirklich201. Mit seiner Identifizierung der Selbständigkeit von Extremen mit deren absolut indifferenter Entgegengesetztheit verfehle Colletti also schlicht jegliche ökonomisch-soziale Formbestimmtheit von Arbeitsprodukten. Was er als Realopposition ohne innere Einheit im Verhältnis von Ware und Geld fasse, sei ausschließlich Moment der Verabsolutierung ihrer Trennung in der Krise, in der ,jedes Extrem sich erhalten muß als das, was es ist, ohne sich auf das andere zu beziehen". Wären Ware und Geld daher in ihrer Selbständigkeit gegeneinander ,wirkliche Gegensätze' ohne jegliche Vermittelbarkeit, „dann hörten beide auf, sie .selbst zu sein'". Durch die Verabsolutierung ihrer Trennung in der Krise, so Wolf, geschieht tendenziell genau dies, bis zu dem Punkt, an dem ihre untilgbare Verwiesenheit aufeinander sich gewaltsam geltend macht, wodurch aber nur ihre verabsolutierte Trennung, nicht ihre Getrenntheit per se, aufgehoben wird. Colletti stelle hingegen, durch seinen reduktionistischen Blick auf die Krise, eine reziproke Selbständigkeit von Ware und Geld her, „die beide zugrunderichtet"202 und fasse zugleich die 199 200 201

202

Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 229, 231, 238. Vgl. ebd., S. 238f. Vgl. ebd., S. 240. Auf den dialektischen Relationstypus der Verwiesenheit und Selbständigkeit der Momente eines Reproduktionskreislaufs machen auch Ritsert/ Reusswig (1991, S. 51) aufmerksam. Als Beispiel dient ihnen allerdings das recht formale Modell des Zusammenhangs von Produktion, Distribution, Austausch und Konsumtion in der Einleitung der Grundrisse. Zitate der Reihenfolge nach: Wolf 1985a, S. 240,241,241.

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gewaltsame Herstellung ihrer Einheit als Aufhebung ihrer Getrenntheit auf. Der spezifische Modus von Zusammengehörigkeit und Getrenntheit entgehe Colletti. Das was für ihn nur real sei, wenn es absolut voneinander getrennt existiert, sei für Marx - im Falle von Ware und Geld - gerade nicht mehr als real bestehend aufzufassen. Die eigentümlich irrationale Wirklichkeit der Gegenstände der Ökonomiekritik zeichne sich für Colletti schließlich dadurch aus, dass Ware und Geld als ,Sachen real geworden' seien, obwohl ,sie keine Sachen sind'. Damit konstruiere er einen logischen Widerspruch, indem er von demselben Gegenstand in derselben Hinsicht sage, ihm komme die Eigenschaft ,Sache sein' und deren Gegenteil zu203. Das hieße, von der Seite, nach der hin Ware und Geld Sachen sind, ihrem Gebrauchswert, zu sagen, sie sei Gebrauchswert und zugleich Nicht-Gebrauchswert/ Wert. Die Ware, so Wolf, existiert aber nicht in dieser Gebrauchswert und Wert ,mystisch-irrational' konfundierenden Weise als Einheit dieser beiden Bestimmungen. Waren werden vielmehr im Austausch „in zwei voneinander verschiedenen Hinsichten aufeinander bezogen"204. Es existiere damit kein logischer Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert: Werteigenschaft erhalten Produkte erst in einem spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhang, während ihr Gebrauchswert etwas ist, was sie auch außerhalb des Austausche besitzen205. Wenn Colletti davon spricht, Ware und Geld würden als Sache real werden, dann ist dies in Wolfs Perspektive absurd, weil sie in ihrer Gebrauchswertgestalt immer schon wirkliche Sachen seien206. Als Sache real werde höchstens, recht verstanden, die Wertdimension der Waren in der Gebrauchswertdimension des Geldes, aber nicht im Sinne eines Wert-Werdens seines Gebrauchswerts, sondern im Sinne der gegenständlichen Repräsentation eines Ungegenständlichen, also des Geltens als etwas, das er selbst nicht unmittelbar ist. Auch hier ist also nach Wolf ein logischer Widerspruch nicht anzutreffen207. Wolf führt seine Kritik an irrationalen Rekonstruktionen der Marxschen Theorie am Beispiel Gerhard Göhlers fort. Dessen Behauptung einer durch die Trennung von Wertform- und

203

Dies geschieht auch - in explizitem Anschluss an Colletti - bei Anselm Jappe. Dieser versteigt sich sogar zu der Behauptung, die Ware sei „gleichzeitig Sein und Nichtsein" (Jappe 2005, S. 193). Mit allerdings negativem Vorzeichen geht auch der analytische Philosoph Jürgen Schampel vom mystischen Charakter des Marxschen Warenbegriffs aus, der „ein ,Ding'" bezeichne, „das doch kein Ding ist" (Schampel 1982, S. 15). Da die Ware als sinnlich-übersinnliches Ding ein irrationales und fingiertes Objekt sei, werde auch der Tauschwert „zum Ort einer spirituellen Materialisation: in ihm erscheint das Obersinnliche sinnlich" (ebd., S. 36). Letztlich findet sich die These bezüglich des Werts, dieser sei „die identische Präsenz des logisch einander Ausschließenden" bei der ISF (ISF 2000, S. 19).

204

Wolf 1985a, S. 243. Vgl. ebd., S. (143, 243), 187: Widerspruch nicht deshalb, Gebrauchswert ist, sondern Gebrauchswert, d.h. ein Stück sicht Wert".

205

206 207

Vgl. ebd., S. 243. Vgl. ebd., S. 244.

„Zwischen dem Gebrauchswert und dem Wert der Ware besteht der weil der Gebrauchswert zugleich Wert und der Wert zugleich weil die Ware in einer gesellschaftlich-unspezifischen Hinsicht bearbeiteter Natur ist, und in einer gesellschaftlich-spezifischen Hin-

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Austauschanalyse bewirkten Außerkraftsetzung immanenter Widerspruchsdynamik 208 in der Wertformentwicklung des Kapital beruht nach Wolf zunächst schlicht auf der Ignorierung zentraler Textbelege im Marxschen Werk209. Diese Ausblendung der Entwicklung eines inneren zu einem äußeren Gegensatz bewirke sodann eine reduzierte Fassung des Widerspruchsbegriffs, da Göhler den äußeren, polarischen Gegensatz der Wertform nicht im Zusammenhang mit und als Resultat der inneren Widerspruchsstruktur der Ware an sich betrachte. Gerade dieser Konnex von innerer Zusammengehörigkeit und gleichzeitigem Auseinanderstreben hin zur polarischen Verteilung der gegensätzlichen Elemente in ,äußeren' Bewegungsformen macht für Wolf also die Charakteristik dialektischer Widersprüche aus210. Der sprachliche Ausdruck dieser Widersprüche könne zwar durchaus kontradiktorische Formen annehmen, sei aber auch fiir den warenimmanenten Gegensatz von Gebrauchswert und Wert „vollkommen falsch bestimmt, wenn er darin bestehen soll, dass von einem Sachverhalt zugleich sein Gegenteil' ausgesagt wird"211. Gilt Wolf schon Göhlers These der Vermeidung einer immanenten, .explikativen' Widerspruchsdynamik im Kapital als verfehlt, so wird dessen Diagnose einer letztlich doch logisch widersprüchlichen Argumentationsstruktur im Kapitel über den Austauschprozess 212 als Projektion irrationaler Ansichten in den Marxschen Text gedeutet. Göhlers komplexes Verfahren einer Umdeutung der Marxschen Werttheorie beginne mit dessen Leugnung der Tatsache, dass das Polaritätsverhältnis der Wertform in logisch nicht-widersprüchlicher Weise das Äquivalenzverhältnis der dort in asymmetrischer Relation stehenden Waren (nur eine Ware drückt ihren Wert aus, die andere dient als Wertausdruck) impliziert213. Statt

208

Vgl. Göhler 1980, S. 142,146,148. Vgl. Wolf 1985b, S. 5. Vgl. auch Brentel 1989, S. 354 und Heinrich 1999, S. 229. Marx betont im Kapital deutlich: „Der in der Ware eingehüllte innere Gegensatz von Gebrauchswert und Wert wird also dargestellt durch einen äußeren Gegensatz, d.h. durch das Verhältnis zweier Waren, worin die eine Ware, deren Wert ausgedrückt werden soll, unmittelbar nur als Gebrauchswert, die andre Ware hingegen, worin Wert ausgedrückt wird, unmittelbar nur als Tauschwert gilt. Die einfache Wertform einer Ware ist also die einfache Erscheinungsform des in ihr enthaltenen Gegensatzes von Gebrauchswert und Wert" (MEW 23, S. 75f.) (MEGA II/6, S. 93). 210 Vgl. Wolf 1985b, S. 8f. 211 Wolf 1985a, S. 187. 212 Vgl. Göhler 1980, S. 170: Noch die reduzierte Dialektik' im Kapital verfange sich bei dem Versuch der Kombination der Wertformen zur wirklichen Austauschstruktur in logische Widersprüche. 213 Vgl. Wolf 1985b, S. 13. Vgl. auch Schwarz 1987, S. 209 und Heinrich 1999, S. 225: Die „Relation ,ist Tauschwert von'" ist eine „Äquivalenzrelation auf der Menge der Warenquanta" und hat „ihre Grundlage in der Wertgleichheit der ausgetauschten Waren". „Gesellschaftliche Gestalt erhält die Wertgegenständlichkeit einer Ware in ihrem Tauschwert. Ist Ware Β der Tauschwert von Ware A, so werden die beiden Waren nicht nur als Wert einander gleichgesetzt, der Wert der Ware A wird als ein bestimmtes Quantum der Ware Β ausgedrückt. Die beiden Waren spielen ungleiche Rollen, sie stehen in einer polarischen Beziehung zu einander. Diese Polarität ist eine inhaltliche Eigenschaft der Relation ,ist Tauschwert von'. Sie sagt etwas über die Beziehung von zwei Elementen aus, die zueinander in dieser Relation stehen. Daß diese Relation eine Äquivalenzrelation ist, sagt dagegen etwas über den Umfang der Relation auf der zugrundeliegenden Menge von Elementen aus. Die Polarität der Beziehung ,ist Tauschwert von' steht daher keineswegs im Widerspruch dazu, daß es sich hier um eine Äquivalenzrelation handelt". 209

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dessen begreife Göhler die Wertform bereits, ohne dies zu ahnen, in logisch widersprüchlicher Weise: Zwar konstatiere er zunächst korrekt, in der einfachen Wertform drücke der Wert von Ware A sich als Tauschwert im Gebrauchswert von Ware Β aus214, doch dann werde der Sachverhalt, dass der Gebrauchswert von Β im Wertverhältnis als Wert von Ware A gilt, als Gleichsetzung des Gebrauchswerts von Β mit dem Wert von A identifiziert: „Nicht die Ware A als solche", so Göhler, „kann mit der Ware Β als solche gleichgesetzt werden und auch nicht GWA mit GWB, sondern erst TWA abgesetzt von GWA mit GW B ". „So verdoppelt die Ware als Ware ihre Form, indem sie einen Gebrauchswert sich als Äquivalent gleichsetzt". Göhler verwandle derart die Wertform in eine ,einlinige' Gleichsetzung des Werts (von A) mit dem Gebrauchswert (von B). ,Einlinig' oder „einseitig gerichtet[...]"215 deshalb - und dies gilt ihm zugleich als Argument gegen die Symmetrie (also Äquivalenz) der Wertform-Relation - , weil der Gebrauchswert von Ware B, in der der Wert von Ware A ausgedrückt wird, nicht selbst noch durch jenen Wert ausgedrückt werde216. Göhler, so Wolf, begreife damit weder die Wertform noch das Verhältnis der Wertgleichheit, da eine Gleichsetzung von Werten und Gebrauchswerten niemals stattfinde, weder ,einlinig' (Göhlers Wertform) noch .rückbezüglich' (Göhlers Symmetrie-Kriterium). In der Wertform werde der Wert einer Ware A aber dem Gebrauchswert einer anderen nur dergestalt .gleichgesetzt', indem der Gebrauchswert von Β „selbst hinter seiner sachlichen Hülle verborgen Wert ist"217. Der Gebrauchswert von Β zähle hier also als das der ersten Ware Gleiche und dies sei er nicht als Gebrauchswert, sondern nur als Wert218. Der Gebrauchswert gilt als handgreifliche Wertgestalt von A: „Als etwas, das dem Wert der Leinwand gleich ist, kann der Gebrauchswert der Ware Rock nicht Gebrauchswert sein". Er „gilt [...] als etwas, das er unmittelbar nicht ist"219. Dieses komplexe, sich an Gegenständen festmachende, soziale Geltungsverhältnis werde von Göhler somit in eine mystische Gegenständlichkeit verwandelt. Die von ihm bislang vollständig ausgeblendete Äquivalenzrelation gewinne er nun durch die Kombination der einfachen Wertform mit ihrer Umkehrung220. Der Wert von A wird dergestalt im Gebrauchswert von Β und der Wert von Β im Gebrauchswert von A dargestellt. Erst hier ist nach Göhler die „Austauschstruktur"221 gegeben. Er versuche damit aus zwei Wertformen als Nicht-Äquivalenzverhältnissen eine Gleichheitsrelation herzustellen, was nichts anderes bedeute, sie, statt in der Gleichsetzung der Waren als Werte, in der gemeinsamen Eigenschaft der Waren zu begründen, als Erscheinungsformen des Werts zu gelten. Er versuche, „die Gleichheit der Waren als Werte dadurch zu erklären, daß es den unterschiedlichen Gebrauchswerten gemeinsam ist, jeweils im Wertausdruck einer andern

214 215 216

2,7 218 219 220 221

Vgl. Göhler 1980, S. 64. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 64, 6 5 , 6 8 . Vgl. ebd., S. 84: Die Wertform kann „nicht symmetrisch sein, denn es wird ein Tauschwert durch einen Gebrauchswert ausgedrückt, der nicht zugleich selbst durch jenen Tauschwert ausgedrückt wird". Wolf 1985a, S. 196. Vgl. Wolf 1985b, S. 25. Wolf 1985a, S. 196. Vgl. Göhler 1980, S. 79. Ebd., S. 78.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Ware als Erscheinungsform des Werts aufzutreten"222. Aus der Kombination der Polaritätsverhältnisse zweier Wertformen könne aber - unter Absehung des zugrundeliegenden Äquivalenzverhältnisses - nicht nachträglich eine Gleichheitsrelation konstruiert werden, weil die Gebrauchswerte durch ihre Funktion in den Wertformen eben nicht zu Werten mutierten223. Ausgehend von solchen - selbst paradoxen - Prämissen, sei es für Göhler ein Leichtes, die Ausgangsstruktur des Austauschprozesses als logisch nicht korrekt darstellbare zu betrachten. Gegen Hans-Friedrich Fulda erhebt Wolf den Vorwurf einer Konfundierung von Bestimmungen des Hegeischen spekulativen Widerspruchs mit Marx', in seinen Frühschriften expliziertem, Konzept eines ,wirklichen Gegensatzes'. Fulda unterstellt danach die Symmetrie der Extreme als Charakteristikum des spekulativen Vermittlungsmodells und das Übergreifen eines Extrems als das eines wirklichen Gegensatzes. Wolf zufolge begreift Marx dagegen, vor dem Hintergrund seiner Kritik des idealistischen Widerspruchskonzepts Hegels - in dem der absolute Geist als über den Gegensatz von endlichem Geist und Natur übergreifendes Drittes gefasst werde, wobei dieses Dritte aus einer Seite des Widerspruchs bestehe, die über sich und ihren Gegensatz übergreife224 - .Vermittlung' noch ausschließlich als mystische Konfundierung von Extremen, während er als , wirklichen Gegensatz' nur den aus nicht vermittelbaren Extremen bestehenden akzeptiert225. Das Vermittlungsmodell werde aber später im Kapital in nichtidealistischer Manier adaptiert. Dabei lasse sich der Gegensatz zwischen konkreter und abstrakter Arbeit als .Differenz innerhalb der Existenz eines

222

Wolf 1985b, S. 31. Vgl. Wolf 1985a, S. 198. 224 Vgl. ebd., S. 298. Wolf bezieht sich dabei auf den Zusatz des § 389 der Hegeischen Enzyklopädie. Dort stimmt Hegel den Philosophen von Descartes bis Spinoza zu, die Einheit von endlichem Geist und Materie sei in Gott, also einem absoluten Geist, zu finden. Unter anderem heißt es dort: „Indem aber die Einheit des Materiellen und Immateriellen von den genannten Philosophen in Gott, der wesentlich als Geist zu fassen ist, gesetzt wird, haben dieselben zu erkennen geben wollen, daß jene Einheit nicht als ein Neutrales, in welches zwei Extreme von gleicher Bedeutung und Selbständigkeit zusammenhingen, betrachtet werden darf, da [...] die Natur des Geistes [...] durch das gegen ihn unselbständige Materielle frei hindurchgeht, über dies sein Anderes übergreift, dasselbe nicht als ein wahrhaft Reales gelten läßt" (Hegel 1995, S. 48f.) (u.a. zitiert in Wolf 1985a, S. 298). 225 Vgl. Wolf 1985a, S. 309. Vgl. auch MEW 1, S. 292ff. (MEGA 1/2, S. 97ff.). Eine andere Position zum Marxschen Begriff des Widerspruchs in der Kritik des Hegeischen Staatsrechts findet sich bei Arndt (1994, S. 280). Obwohl auch er Marx' These der unvermittelbaren Extreme als Kennzeichen eines wirklichen Gegensatzes zitiert, meint er, Marx behaupte „keineswegs, daß .wirkliche Extreme' in keinem Verhältnis zueinander stehen und als indifferent auseinanderfallen". Er bestreite lediglich, „daß deshalb die Extreme als Momente eines Ganzen zu begreifen sind, in den sie nur als aufgehobene bestehen". Als Beleg wird nun der folgende Satz zitiert, der aber auch durchaus als Marx' Paraphrasierung der Hegeischen Position, nicht unbedingt als originäre Marxsche Behauptung, gelesen werden kann: „Denn so sehr beide Extreme in ihrer Existenz als wirklich auftreten und als Extreme, so liegt es doch nur in dem Wesen des einen, Extrem zu sein, und es hat fur das andre nicht die Bedeutung der wahren Wirklichkeit. Das eine greift über das andre über. Die Stellung ist keine gleiche" (MEW 1, S. 293f.) (MEGA 1/2, S. 98f.). Diese Sätze finden sich als Punkt 3 unter dem Abschnitt „dreifacher Irrtum" (ebd., S. 293) (1/2, S. 98) der Hegeischen Dialektik. 223

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Wesens' - ein in einem Dritten vermittelter Gegensatz - fassen, der sich erst im Kapitalismus, wenn abstrakte Arbeit die gesellschaftliche Form der konkreten Arbeiten darstelle und sich als Bestimmung real verselbständige, zu einem .wirklichen Gegensatz' entwickle: Gebrauchswert und Wert sind also nach Wolf als ,Differenz innerhalb der Existenz eines Wesens' bestimmbar, „wobei die Differenz zugleich den Charakter eines .wirklichen Gegensatzes besitzt"226. .Differenz innerhalb der Existenz eines Wesens', weil es ein und dieselbe Arbeit ist, die im Kapitalismus verschieden und entgegengesetzt bestimmt ist227. Zu einem .wirklichen Gegensatz' werden sie unter den Bedingungen privat-arbeitsteiliger Produktion. Den Unterschied zwischen konkreter und abstrakter Arbeit gibt es Wolf zufolge zwar in allen Gemeinwesen und zwar entweder als vom theoretischen Betrachter gedanklich fixierte Eigenschaft aller konkreten Arbeiten, auch menschliche schlechthin zu sein228 oder als Beziehung der konkreten Arbeiten aufeinander als abstrakte im Zuge der proportionellen Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit229. Erst in verallgemeinerten privatarbeitsteiligen Produktionsverhältnissen erhalte abstrakte Arbeit aber die Funktion, gesellschaftlich-allgemeine Form der konkreten Arbeiten zu sein, womit der abstrakten Arbeit eine Eigenständigkeit zuteil werde, die sonst „nur dem von ihr verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhang zukommt"230, und unterschieden sich konkrete und abstrakte Arbeit schließlich wie zwei unterschiedliche Wesen voneinander231. Während der soziale Zusammenhang also stets a priori selbständig gegenüber den konkreten Arbeiten existiere, z.B. als Geflecht von Normen und Gewalt, müsse sich abstrakte Arbeit als spezifische Form sozialer Synthesis erst den konkreten Arbeiten gegenüber verselbständigen, „d.h. in ihrer durch den gesellschaftlich-allgemeinen Charakter gewonnenen Eigenständigkeit so selbständig [...] existieren wie eine zweite .Sorte' Arbeit, obgleich sie keine solche ist"232. Auf welche Weise sie selbständig existiere, sei durch den nachträglichen Bezug der Arbeiten aufeinander über den Austausch der Arbeitsprodukte determiniert233. In der Wertform existieren Gebrauchswert und Wert, stofflicher Inhalt und soziale Form, als unterschiedliche Qualitäten „unabhängig voneinander und auf die gleiche selbständige Weise in Form zweier voneinander verschiedener Gebrauchswerte"234. Sie seien zu Beginn der Darstellung zunächst

226 227 228 229 230 231

232 233

234

Wolf 1985a, S. 312 Vgl. ebd., S. 187, 243, 312ÍT. Vgl. ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 50, 59. Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 1.3.1 dieser Arbeit. Ebd., S. 317. „Die konkret-nützliche und die abstrakt-menschliche Arbeit müssen sich so voneinander unterscheiden, wie sich sonst die einzelnen [...] Arbeiten - die jede für sich genommen, konkretnützliche und abstrakt-menschliche [...] sind - von dem gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem sie verausgabt werden, unterscheiden. Während der gesellschaftliche Zusammenhang schon immer selbständig existiert wie die in ihm verausgabten, einzelnen Arbeiten, existiert die abstraktmenschliche Arbeit in einem nicht aus dem Austausch der Arbeitsprodukte bestehenden gesellschaftlichen Zusammenhang niemals selbständig für sich" (ebd.). Ebd. Vgl. dazu Wolfs ausführliche Schilderung des Übergangs von der Wertsubstanz zur Wertform (ebd., S. 106-120), die in Kapitel 1.3.1 dieser Arbeit dargestellt wird. Ebd., S. 318.

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nicht vermittelte, ,wirkliche Extreme' 235 : Sie haben ,nichts miteinander gemein', sind als Konkret-Stoffliches und Abstrakt-Gesellschaftliches von absolut verschiedener Qualität Wert enthält „kein Atom Naturstoff' 236 . Sie ,verlangen einander nicht'. Zwar seien konkrete Arbeit und gesellschaftlicher Zusammenhang konstitutiv aufeinander verwiesen, aber nicht notwendigerweise konkrete Arbeit und soziale Einheit in Gestalt abstrakter Arbeit237. Der Gegensatz beinhalte die .gleiche Stellung der Extreme'. Wolf zieht als Beleg dieser Symmetrie allerdings exakt die Stelle aus dem zweiten Kapitel des Kapital heran - in der die Waren sich als Werte realisieren müssen, bevor sie sich als Gebrauchswerte realisieren können und vice versa238 - , die ihm zuvor239 als Kriterium für die innere notwendige Zusammengehörigkeit von Gebrauchswert und Wert gedient hat. Wie schon die Auseinandersetzung mit Colletti und Göhler gezeigt hat, ist es Wolfs Bestreben, auch die Einheitsdimension von Gebrauchswert und Wert - sowohl in der ,Ware an sich' als auch in der Wertform - grundlegend von einer ,mystisch-irrationalen' Vermischung beider Extreme, die die Ware zum logischen Widerspruch verklärt und gerade den von Marx kritisierten Fetischismus ausmacht, zu unterscheiden240. Zunächst gilt ihm der Wert selbst als gesellschaftliche Einheitsdimension von Privatprodukten241. Die isoliert voneinander produzierten Güter werden als Waren, das heißt durch das , Absehen' von ihren Gebrauchswerten und das ,Reduzieren' auf Produkte abstrakter Arbeit, in ihrer Wertdimension aufeinander bezogen und so vergesellschaftet. Davon zu unterscheiden sei die Ware als Einheit von Gebrauchswert und Wert, die zunächst nur das vermittlungslose Nebeneinanderbestehen zweier verschiedener Bestimmungen - stofflicher und gesellschaftlicher - desselben Gegenstands anzeige. Als Einheit von Gebrauchswert und Wert könne sich eine Ware nur im Verhältnis zu anderen darstellen242. Durch diese Darstellung des Werts von Ware A im Gebrauchswert von Β entstehe nun eine, von der Eigenschaft beider Waren jeweils für sich als Einheit von Gebrauchswert und Wert zu unterscheidende - „, Vereinigung' des Werts der ersten mit dem Gebrauchswert der zweiten Ware"243. Die Naturalform von Β gelte in diesem Verhältnis als Wertform von A. Weder verwandle sich der Wert von A dabei in 235

236 237 238 239 240 241

242

243

Marx charakterisiert diese wie folgt: „Wirkliche Extreme können nicht miteinander vermittelt werden, eben weil sie wirkliche Extreme sind. Aber sie bedürfen auch keiner Vermittelung, denn sie sind entgegengesetzten Wesens. Sie haben nichts miteinander gemein, sie verlangen einander nicht, sie ergänzen einander nicht. Das eine hat nicht in seinem eigenen Schoß die Sehnsucht, das Bedürfnis, die Antizipation des andern" (MEW 1, S. 292) (MEGA 1/2, S. 97). MEW 23, S. 62 (MEGA II/6, S. 80). Vgl. Wolf 1985a, S. 318. Vgl. ebd., S. 319. Vgl. ebd., S. 321. Vgl. MEW 23, S. lOOf. (MEGA II/5, S.52f.). Vgl. Wolf 1985a, S. lOOf. Vgl. ebd., S. 140. Vgl. MEGA II/5, S. 19: „Als Gebrauchsgegenstände oder Güter sind die Waaren körperlich verschlechte Dinge. Ihr Werthsein bildet dagegen ihre Einheit. Diese Einheit entspringt nicht aus der Natur, sondern aus der Gesellschaft". Vgl. ebd., S. 29: „Indem sie die andre Waare sich als Werth gleichsetzt, bezieht sie sich auf sich selbst als Werth. Indem sie sich auf sich selbst als Werth bezieht, unterscheidet sie sich zugleich von sich selbst als Gebrauchswerth". Wolf 1985a, S. 137 (Hervorhebung von mir, I.E.).

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den Gebrauchswert von Β noch der Gebrauchswert von Β in den Wert von A. Dies würde gerade den Warenfetisch bezeichnen, in dem die gesellschaftliche Funktion, die einer Ware nur in einem historisch-spezifischen Verhältnis als Reflexionsbestimmung zukommt, als Natureigenschaft der Ware erscheint244. Das ,Jlepräsentationsverhältnis", in dem der Gebrauchswert von Β (bzw. die in ihm verausgabte konkrete, private Arbeit) als Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts (bzw. der abstrakten, gesellschaftlichen Arbeit) fungiere, sei nicht als Gleichsetzung oder Verschmelzung von Gebrauchswert und Wert zu begreifen, wie eine Vielzahl marxistischer und nichtmarxistischer Interpreten unterstelle. Es „besteht keine [...] seinslogische Identität'2*5 zwischen diesen Bestimmungen. Wolfs Orientierung am sachlichen Gehalt der ökonomiekritischen Entwicklung wird zwar mit einer fehlenden metatheoretischen Explikation erkauft. In welchem Zusammenhang logische und dialektische Widersprüche generell stehen oder ob es verschiedene Widerspruchstypen im Marxschen Werk gibt, wird nicht thematisiert. Mit Ausnahme o.g. Unklarheit gelingt es Wolf aber, in engster Anlehnung an die materiale Darstellung im Kapital, den Begriff des Widerspruchs als dialektischen, nicht-logischen zu explizieren246. Dabei wird eine Problematik insbesondere des hegelmarxistischen Diskurses (nicht nur) der Bundesrepublik kritisch zurecht gerückt: Dialektisches Denken impliziert nicht selten eine emphatische Unterscheidung von Verstand und Vernunft. Verständiges Denken ist dabei als solches definiert, das bei unvermittelten Gegensätzen stehen bleibt und sie fixiert (also nur .Realoppositionen' kennt), vernünftiges aber als eines, das zudem deren Vermittlungen/ Einheit/ Zusammengehörigkeit berücksichtigt247. Wolfs Arbeit zeigt in dieser Hinsicht, dass es darauf ankommt, wie der Begriff der Vermittlung/ Einheit/ Zusammengehörigkeit verstanden wird. Das scheint der Kernpunkt der Frage zu sein, inwiefern der Gegenstand des Kapital ein rational (im Sinne von vernünftig) begreifbarer ist. In der Marxschen Dialektik ist, folgt man der Rekonstruktion Wolfs, ein Vernunfttypus präsent, der innere Vermittlungen denkt und zugleich auf „bleibende Differenzfen] innerhalb der Vermittlung"248 pocht (und sich so von hölzernen Eisen oder Dingen, die zugleich und in derselben Hinsicht Gesellschaftliches und Ungesellschaftliches sind, unterscheidet). Einen vorläufigen Abschluss der im weitesten Sinne an Hegel orientierten Reflexionen zum Status dialektischer Darstellung markiert Helmut Brentels Beitrag aus dem Jahr 1989. Wie im Falle Wolfs sollen dabei zunächst zentrale inhaltliche Aspekte der Methodendiskussion, wie die Kritik prämonetärer Werttheorie, außer acht gelassen und erst im folgenden Kapitel über den .Gegenstand der Kritik' ausführlich behandelt werden - auch wenn dabei notwendig Redundanzen in Kauf genommen werden müssen.

244

Vgl. ebd., S. 139. Beide Zitate: Ebd., S. 142. 246 Eine systematische Nachzeichnung seiner Argumentation bezüglich der Dialektik der Wertform(analyse) findet sich in Kapitel 1.3.1 dieser Arbeit. 247 Vgl. Hegel 2007, S. 169, 176: „Das Denken als Verstand bleibt bei der festen Bestimmtheit und der Unterschiedenheit derselben gegen andere stehen" (§ 80). „Das Spekulative oder PositivVernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung a u f ' (§ 82). 248 Arndt 2004, S. 42. 245

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Marx fasst nach Brentel seinen Gegenstand als sachlich vermitteltes soziales Verhältnis. Wertgegenständlichkeit, die in den Grundmustern wirtschaftswissenschaftlicher Gegenstandsauffassung systematisch verfehlt werde249, besitze „Oty'efeeigenschaften" und „existiert doch nur als soziales Verhältnis". Marx' Formanalyse habe, als Formtheorie der Arbeit und Fetischtheorie des Bewusstseins, den Anspruch, „die Konstitution der ökonomischsozialen Formen aus ihren antagonistischen Grundverhältnissen zu genetisieren und darin die systematischen Unterbestimmtheiten wie die Fetischismen der ökonomischen Begriffsbildung zu destruieren"250. Formentwicklung wird dabei vorläufig bestimmt als Einholung der notwendigen „gesellschaftlichen Voraussetzungen"251 scheinbar einfacher Phänomene, wobei deren ,,charakteristische[...] Bestimmtheiten [...] Spuren" ihrer „wesenslogischen Differenz" 252 aufweisen, also an sich selbst über ihr bloß unvermitteltes ,Sein' auf ihre Vermittlung durchs ,Wesen' hinweisen und sich derart als mangelhafte, unzulängliche und unselbständige Kategorien präsentieren. Die Kategorien des Anfangs der Darstellung sind nach Brentel253 ,einfach' nur als Abstraktionen vom sie konstituierenden Gesamtzusammenhang kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Die Waren- und Wertform des Anfangs sei immer schon faktisches Moment der Kapitalform, von der aber methodisch noch abstrahiert werden müsse. In diesem Sinne seien die Marxschen Abstraktionen unterbestimmte, auf ihren konstitutiven Zusammenhang hin weiterzubestimmende und als bestimmt (determiniert) nachzuweisende. In solcher „schrittweisen Auflösung und Zurücknahme von Abstraktionen" sei eine, gegen die falsche „Positivierung und Isolierung von Formmomenten"254 gerichtete, Kontextualisierung von Reichtumsformen enthalten, die nicht mit einem überhistorisch-allgemeinen Begriff der Ware beginne, der sukzessive historisch spezifiziert würde255. Vom Momentcharakter der einfachen Formen, ihrer Formbestimmtheit, abstrahierten aber wiederum die Kategorien der Politökonomie, die damit den Anfang „schlecht abstrakt" konzeptualisiere. Die Abstraktionen des Anfangs der Marxschen Kritik betreffen Brentel zufolge nun aber gerade ökonomische Objektivität, „wie sie sich im Horizont der Nationalökonomie darstellt". Für Kategorien wie die ,Warensammlung', die Ware als nützliches Ding mit einem Tauschwert oder den Tauschwert als quantitatives Mengenverhältnis von Gebrauchswerten, mag das zutreffen. Hier ist Brentels Hinweis, der Tauschwertbegriff werde im Kapital „zunächst so eingeführt, wie er in der nationalökonomischen Theorie, [...] bei Barbon [...] oder Bailey bestimmt ist, also subjektivistisch oder relativistisch"256 wichtig, um das falsche Verständnis des Konkretheitsbegriffs der Ware an sich zu korrigieren, das historizistische Positionen so nachdrücklich ins Feld führen. ,Die Ware' ist, worauf bereits die PEM 1975 hin-

249 250 251

252 253

254 255 256

Vgl. Brentel 1989, S. 275-278. Beide Zitate: Ebd., S. 273. Dieser Topos wurde wahrscheinlich zuerst von Rüdiger Bubner im Jahre 1973 in die neomarxistische Debatte eingeführt (vgl. 1973, S. 63ff., 76, 84). Brentel 1989, S. 274. Brentel stützt sich hier u.a. auf die erste eingehende Untersuchung über das Problem des Anfangs in der Kritik der politischen Ökonomie von Gerhard Stapelfeldt (vgl. Stapelfeldt 1979, v.a. S. 67-105). Beide Zitate: Brentel 1989, S. 282. Vgl. ebd., S. 283. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 282, 280, 281.

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weist257, ,konkret' als „Zusammenfassung vieler Bestimmungen"258, analytischer Anfang der Darstellung, der in Gebrauchswert und Wert zergliedert wird. Sie ist Konkretum, von dem abstrahiert wird. Dieses Konkretum im Sinne der Marxschen Grundrisse sei aber kein dem Alltagsbewusstsein zugängliches, empirisches Datum, sondern, als nichtpreisbestimmte Ware, immer noch theoretische Abstraktion259. Wenn Marx daher sagt, er analysiere die Ware zunächst in der porrti, worin sie erscheint"260, nämlich als Gebrauchsund Tauschwert - i.S. eines quantitativen Mengenverhältnisses von Gebrauchswerten - , so ist dies im strengen Sinne falsch. Brentels Ausführungen helfen hier weiter, denn die Gleichsetzung Ware-Ware (=Tauschwert) findet ihm zufolge real nur als solche von Ware und Geld statt. Tauschwert im Verständnis von Kapitel 1.1 des Kapital ist dann selbst schon als Produkt der Abstraktionen der politischen Ökonomie ausgewiesen. Es ist aber nicht unwichtig zu erwähnen, dass Marx durch seine Wortwahl bereits auf den scheinhaften Charakter jener Anfangsbestimmung des Tauschwerts aufmerksam macht („erscheint zunächst", „scheint daher") und unmittelbar darauf „die Sache näher"261 betrachtet und richtig stellt. Nun behauptet Brentel, dieses Verfahren werde von Marx auch hinsichtlich der Bestimmung der Wertsubstanz abstrakte Arbeit bewusst angewendet262. Hier werde zunächst auf die substantialistischen Arbeitswerttheorien eines Ricardo oder Proudhon rekurriert, um anschließend die Historizität und rein gesellschaftliche Spezifität dieser ,Substanz' aufzuzeigen. Warum Marx dann aber bei der ,Einführung' der verdinglichtnationalökonomischen Wertsubstanz-Definition in Kapitel 1.2 statt „Alle Arbeit scheint [...]" schreibt: „Alle Arbeit ist [...] Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, und in dieser Eigenschaft bildet sie den Warenwert"263 und erst etliche Seiten später264, ohne jeden Bezug auf diesen Passus, eine nicht-naturalistische Bestimmung präsentiert, bleibt unklar und sieht für ein „bewusst thematisierte[s] und provozierte[s] Missverständnis[...]"265 doch ein wenig zufällig aus266. 257 258

259

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Vgl. PEM 1975, S. 658f. Brentel erwähnt diesen Bezug nicht. MEW 42, S. 35 (MEGA II/l.l, S. 36). In diesem Sinne bestimmt auch Dieter Wolf die einzelne Ware als das „abstrakteste Konkretum" (Wolf 2003, S. 39) der kapitalistischen Produktionsweise, da sie aus mindestens zwei Elementen bestehe (Wert und Gebrauchswert) und eine weitere Abstraktion aus den ökonomischen Formbestimmungen herausführen würde (bloßer Gebrauchswert). „Sie hat nichteinmal das, was in Wirklichkeit jede Ware hat, einen Preis" (PEM 1975, S. 659); vgl. Brentel 1989, S. 287. MEW 19, S. 369. Alle Zitate MEW 23, S. 50f. (MEGA II/5, S. 18). Vgl. Brentel 1989, S. 281. MEW 23, S. 61 (MEGA II/6, S. 79) (Hervorhebungen von mir, I.E.). Vgl. ebd., S. 88 (II/6, S. 105): „Was nur für diese besondre Produktionsform, die Warenproduktion, gültig ist, dass nämlich der spezifisch gesellschaftliche Charakter der voneinander unabhängigen Privatarbeiten in ihrer Gleichheit als menschliche Arbeit besteht und die Form des Wertcharakters der Arbeitsprodukte annimmt [...]". Brentel 1989, S. 281. Auch Moishe Postone argumentiert in diese Richtung. In seiner Strategie der ,,immanente[n] Darstellung" (Postone 2003, S. 224) stelle Marx in der Warenanalyse „Denkformen vor, die für die Gesellschaft charakteristisch sind, deren grundlegende gesellschaftliche Formen er kritisch analysiert" (ebd., S.221).

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Formanalyse impliziert jedenfalls, soweit ist Brentel zuzustimmen, eine „Theorie der Erscheinung", deren Objekte zunächst ,ßewußtseinsgegenstände" sind, nämlich die Vorstellungen der Alltagsakteure wie deren Systematisierungen seitens der politischen Ökonomie. Diese Vorstellungen würden aber als systematischer Schein" dechiffriert: Soziale Reichtumsformen erscheinen den Akteuren demnach stets ,,dinglich-volumenhaft[...]"267 in gegenständlicher Form, in Gestalt nicht als solcher begriffener Erscheinungsformen des Werts. Diese Erscheinungsformen, als Oberfläche des Gesamtzusammenhangs, seien dabei ein reales Moment des Ganzen, dessen Wahrnehmung erst ohne Bezug auf ihren Begründungsund Verweisungszusammenhang falsch werde268. Der Marasche Darstellungsgang beinhaltet Brentel zufolge dagegen immer schon ein quasi-wesenslogisches ,JDifferenzbewußtsein" von den Kategorien des Anfangs. Diese seien für Marx nur der „abstrakteste Ausdruck der entwickelten kapitalistischen Verhältnisse" und besitzen eine „weiterreichende Bedeutung". Das Wissen um diesen Totalitätsbezug ist nach Brentel aber ein Vorgriff. So wie dieser zur Vermeidung eines konkretistischen Missverständnisses der einfachen Kategorien implizit notwendig sei, so sei es die Abstraktion vom konstitutiven, komplexen Gesamtzusammenhang zwecks systematischer Erklärung komplexer, empirisch gegebener Reichtumsformen explizit „Die vorläufigen Gegenstandsbestimmungen Marxens, die inhaltliches Vorwissen über den Gesamtzusammenhang enthalten [...], müssen [...] eine grundsätzliche Schwierigkeit parieren: die anfänglichen erscheinenden' Formbestimmtheiten weitergehend analysierend, dürfen sie zu deren Fortbestimmung keine Kategorien verwenden, die auf diesem Argumentationsstand noch gar nicht entwickelt sein können"269. Die positiven Gegenstandsbestimmungen des Anfangs müssen also einer „wei-

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Zitate der Reihenfolge nach: Brentel 1989, S. 283, 284, 285,287. Vgl. ebd., S. 285. Erscheinungsformen des Werts werden also richtig perzipiert, aber, indem die nicht empirisch erfassbaren kausalen Zusammenhänge (Marx' „unsichtbare" oder „vermittelnde Bewegung") zwischen ihnen nicht gedanklich reproduziert werden, falsch aufeinander bezogen. Beispiel: G-G' ist die „begriffslose" Form, die irrationelle In-Bezug-Setzung von G-G-W(A/Pm)-PW'-G'-G'. Vgl. dementsprechend Adornos Begriff der Ideologie als „Verschränkung des Wahren und Unwahren" (Adorno 1998h, S. 465) sowie für den Warenfetisch Berger 2003, S. 58: „Das Bewusstsein der Warenproduzenten ist in einem richtig und falsch. Richtig, weil es an den empirisch feststellbaren Sachbezügen anknüpft, falsch, weil es deren Entstehungsgeschichte ausblendet und verkürzt". Damit wird auch Eagletons an Althusser angelehnte These unplausibel, die Fetischtheorie impliziere die „empirizistische Doktrin", „daß das Wirkliche schon Wissen bzw. Unwissen über sich selbst enthält" (Eagleton 2000, S. 105). Denn es ist ja keine per se falsche Wahrnehmung, von der die Fetischtheorie spricht. Sie konstatiert lediglich: 1. Wir gehen im Alltag mit bestimmten Reichtumsformen um. 2. Wir nehmen dabei wahr, dass z.B. einem Stück Gold die Eigenschaft zukommt, universell austauschbar zu sein. 3. Uns ist die rein gesellschaftliche Genese universeller Austauschbarkeit als Eigenschaft dieses Dings nicht gegeben. 4. Wir deuten daher spontan die relationale Eigenschaft des Goldes als Geld in einer nicht relationalen Weise. Wenn Eagleton aber meint, der Fetischbegriff sei deshalb ,empirizistisch', weil er einen genetischen Zusammenhang von Warenform und Denkform offen legt, dann kann die Alternative nur eine dualistische Auffassung von Erkenntnis- und Realobjekt sein, eine Theorie, die von präexistenten Diskursen ausgeht und deren Formen nicht mehr herzuleiten vermag. Zitate der Reihenfolge nach: Brentel 1989, S. 287, 287, 288 sowie 358: „hat die Darstellungsfolge sich dem Problem zu stellen, daß die einzelnen Kategorien überhaupt nur im Gesamtzusammen-

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tergehenden Präzisierung" unterzogen werden, sonst werden ihre Bestimmungen reduktionistisch. Andererseits müssen sie verwendet werden, sonst sind die komplexeren Gegenstände nicht erklärbar und werden schlicht empirisch aufgegriffen. Formanalyse ist gemäß Brentels Rekonstruktion als Formkritik - Negation der abstrakteinfachen Formen als voraussetzungslose - zugleich Formentwicklung - Aufweisung der Determiniertheit der scheinbar einfachen Formen durch Rückführung „auf ihre weiterreichenden Implikate und Voraussetzungen". Die Frage nach den Bedingungen der Selbständigkeit ökonomischer Gegenständlichkeit sei dabei der ,,innere[...], geheime[...] Leitfaden ihres Fortschreitens"270, indem die einfachen Kategorien an diesem Maßstab ihrer Mangelhaftigkeit, „ihrer Erklärungsdefizienz für das eigentlich zu Erklärende" überführt würden. Zur Erklärung der Wirklichkeit des Werts seien sukzessive komplexere Bestimmungen und Voraussetzungen einzuführen, bis der Grund ihrer Verselbständigung gefunden würde. Brentel führt als Grundzug dialektischer Form-Entwicklung damit die Weiterbestimmung des Formcharakters gesellschaftlicher Arbeit an, die zunächst einen Rückgang in ihren konstitutiven Grund als selbständige ökonomische Gegenständlichkeit bedeute. Dabei werden die einfachen Formen durch das Auffinden von Spuren des Vermittlungszusammenhangs zum Grund als „dependente Momente" kapitalistischer Totalität ausgewiesen. Diese Spuren sollen logische Implikationen darstellen, die an sich schon in den Kategorien des Anfangs gegeben sind und nun entfaltet werden, aber nicht aus ihnen begründbar sind. Brentels Beispiel ist die Form G-W-G der einfachen Zirkulation, aus der sich die Behauptung aufstellen lasse, „daß aus den in ihr liegenden [...] Austauschakten von G-W und W-G das Geld selbst stetig hervorgehen, sich darin gerade als Form verselbständigen müsse". Aus den Bestimmungen der unentwickelten Formen lassen sich demnach Hinweise auf Bedingungen ihrer Setzung ableiten, die als ,JForderungen"llx an die adäquate Existenzweise des Werts formuliert werden272. In welcher Hinsicht Brentel dieses Verfahren in der Kritik der politischen Ökonomie inhaltlich eingelöst sieht, wird uns in den folgenden Kapiteln über den g e g e n ständ der Kritik' beschäftigen. Seine Überlegungen münden zunächst in der Konstatierung des Begriffs des ,Übergangs' als zentrales Element dialektischer Darstellung. Maßgeblich an ihm entzünden sich nach Brentel die Kontroversen um das Gegenstands- und Methodenverständnis der Ökonomiekritik. Vor allem drei Fragenkomplexe gelten ihm als strittig: 1. Was bedeutet ,übergehen' eine begriffliche Explikation, die strukturelle Zusammenhänge aufdeckt oder eine theoreti-

hang [...] der kapitalistischen [...] Gesellschaft hinreichend zu bestimmen sind, dennoch aber in einer Abfolge .entwickelt' werden müssen, die sogenannten .einfachen' Kategorien also als Abstraktionen derselben entwickelten Verhältnisse zu bestimmen sind". Vgl. auch Heinrich 1999, S. 173. 270 271 272

Zitate der Reihenfolge nach: Brentel 1989, S. 289, 292, 290. Vgl. auch Reichelt 2000, S. 124f. Zitate der Reihenfolge nach: Brentel 1989, S. 291, 293, 295, 294. Das formanalytische Verfahren charakterisiert Brentel schließlich als „methodische Anstrengung [...] die Einführung der wirklich gesellschaftlich-materialen Bedingungen und Voraussetzungen der Reproduktionsfahigkeit der Form (insofern die wirkliche Setzung der Form als Form) aus der formellen Formbetrachtung selbst heraus weitestgehend voranzutreiben und so für die Darstellung formanalytisch immanent noch vorzubereiten, die formelle Form noch an sich selbst zu vorentscheidenden Aussagen über den materialen Form -Inhalt zu zwingen" (ebd., S. 296).

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sehe Nachzeichnung historischer Abfolgen? 2. Was bedeutet .Immanenz' des Übergangs ist er zwingend in einer Keimzellenmetaphorik verwurzelt oder fuhrt diese nur in historisierende Ansätze? 3. Was ist das dialektische am Übergang und welcher Status kommt Dialektik als .Methode' zu - ein historisch begrenzter oder ein universeller? Immanente Darstellung ist nach Brentel Explikation dessen, was im o.a. Sinne im Begriff der Form „immer schon liegt". Den einfachen Kategorien werden dabei nicht unzusammenhängend komplexere hinzugefügt oder gar jene durch diese ersetzt, sie werden „in ihren wirklichen Bedeutungen, Inhalten und Voraussetzungen" entfaltet. Sachliche Ermöglichungsbedingung eines solchen Vorgehens sei die Tatsache des Systemcharakters ihres Gegenstands, der beständigen Vermitteltheit von „Form und Inhalt, Form und Substanz, Geld und Arbeit"273. Nur die Tatsache, dass die einfachen Formen immer schon Momente der Totalität seien, erlaube das .immanente' Auffinden von über sie hinausweisenden Bestimmungen an ihnen274. Der logische reproduziere so den faktischen Begründungszusammenhang der Reichtumsformen, wobei die Verschränkung von Gegenstand und Methode bei Marx aber nicht, wie bei Hegel, identitätsphilosophisch begründet sei275. Marx' Kritik sei vielmehr Totalitätsanalyse im Sinne der Erklärung eines selbstbezüglichen Systems, d.h. eines gegenständlich vermittelten Handlungszusammenhangs, der von spezifischen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit (Strukturen) ausgeht und diese seine Voraussetzungen - als Resultate reproduziert. Das Umschlagen von Voraussetzung in Resultat sei ein Charakteristikum von Totalität als System, dem auch die Darstellung gerecht werden müsse. Dieses System bestehe aus aufeinanderbezogenen und sich im Gegensatz zueinander befindlichen Elementen. Als solche seien sie vermittelte, d.h. sie bestünden nur in ihrem gegensätzlichen Bezug aufeinander (Reflexionsbestimmungen), seien sich wechselseitig (voraus-)setzende276. Die Kontextualisierung der Elemente im Rahmen ihres notwendigen Aufeinander-Bezogenseins sei ebenso Aufgabe dialektischer Darstellung wie die Herstellung eines begrifflichen Nacheinanders zwecks Rekonstruktion dieses Zusammenhangs. Im Gegensatz zu Hegel analysiere Marx also kein absolutes, sondern ein endliches System und müsse damit die als Systemanalyse praktizierte dialektische Darstellung in ihren Grenzen betrachten, denn endliche Systeme hätten Voraussetzungen, die nicht ursprünglich von ihnen selbst gesetzt, sondern erst nachträglich von ihnen reproduziert würden. Brentel schließt sich damit Helmut Reichelts These von Dialektik als „.Methode auf Widerruf " an. Zwar kennzeichnet Brentel Marx' Verfahren als immanentes, das Wissen um die Implikate der Formen ist ihm zufolge aber „Vorwissen als Resultat des Forschungsprozesses"277. Übergänge, obwohl sie sachliche Zusammenhänge aufspüren, seien vom um das Ganze bereits wissenden Theoretiker immer auch konstruiert. So sei weder reine Immanenz möglich, wie Gerhard Göhler oder Dieter Riedel es für dialektische Darstellung als unerlässliche 273 274

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Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 301, 301, 302. Die Möglichkeit immanenter Darstellung „ist allein der eigentümlichen Gegenstandsstruktur des ökonomischen Gegenstands geschuldet als immer schon ineinandergreifender, aufeinander verwiesen seiender, als im Totalitätszusammenhang nur bestehen könnender Formen" (ebd., S. 303). Vgl. ebd., S. 383. Brentel sieht bei Hegel eine Identität des Gegenstands und der Methode seiner Darstellung als .Begriff. Vgl. ebd., S. 303. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 304, 302f.

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Bedingung postulierten, noch sei die A b f o l g e der Kategorien rein didaktischen Erwägungen geschuldet, w i e Helberger u.a. meinten. Brentel versucht damit, im Anschluss an frühere Überlegungen Jürgen Ritserts 278 , eine dritte Position zwischen der von Hegel vorgegebenen Darstellungs-Alternative von „Zusehen" oder „Zutat" 279 zu entwickeln. All dies verbietet Brentel zufolge ein realistisches Verständnis der Marxschen Keimzellenmetaphorik 2 8 0 , die Ansicht, dass Geld und Kapital aus der Ware hervorgehen, w i e ein B a u m aus einem Keim. „Marx als Keimzellen-Dialektiker in diesem Sinne g e n o m m e n hieße allerdings, den eigentlichen Impetus seiner Kritik ökonomischer Gegenstandsauffassung ins Gegenteil zu verkehren" 281 . Der Begriff der Formentwicklung ist d e m z u f o l g e bei Marx weder ,„erzeugungsidealistisch[...]'" 2 8 2 noch „realgeschichtlich" zu verstehen, „sondern nur hinsichtlich der formkritischen Rekonstruktion eines selbstbezüglichen gesellschaftlichen

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Zur Kritik der Keimzellen-Dialektik vgl. Ritsert 1973, S. 38f„ 77, 99f. Vgl. Hegel 1989, S. 84f. (§31): „Dialektik ist [...] nicht äußeres Tun eines subjektiven Denkens, sondern die eigene Seele des Inhalts, die organisch ihre Zweige und Früchte hervortreibt. Dieser Entwicklung der Idee als eigener Tätigkeit ihrer Vernunft sieht das Denken als subjektives, ohne seinerseits eine Zutat hinzuzufügen, nur zu". Vgl. diese u.a. in MEW 23, S. 12, 76, 85 (MEGA II/5, S. 12; II/6, S. 93, 102); 42, S. 231 (II/I.l, S. 229). Brentel 1989, S. 304. Ebd., S. 303. Ein Beispiel für eine Tendenz zur .erzeugungsidealistischen' Deutung der Keimzellenmetaphorik findet sich u.a. bei Klaus Lichtblau, demzufolge „alle Terme der Ökonomiekritik [...] aus einem Begriff abgeleitet" seien - dem Wert, resp. seiner Substanz Arbeit" (Lichtblau 1978, S. 197; vgl. auch S. 201). Demnach müssten auch die stofflichen Elemente des ökonomischen Prozesses aus diesem Begriff abgeleitet werden und realiter Erscheinungsformen des Werts sein. Tatsächlich spricht Lichtblau denn auch im Zusammenhang mit dem Kapitalbegriff vom Aufgehen des Gebrauchswerts „in der Formbeziehung" (ebd., S. 288 (Fn.), ähnlich S. 306) (vgl. dagegen die von ihm selbst zitierte Marx-Stelle, in der dieser vom Kapital als Einheit von Ware und Geld, nicht etwa Gebrauchswert und Geld, spricht (ebd., S. 241)). Wir landen so bei der These, Wert sei das über Tauschwert und Gebrauchswert übergreifende Dritte, die hier sogar als „Notwendigkeit" (ebd., S. 236) postuliert wird. Ohne klare Bewertung spricht Lichtblau dabei auch, mit Verweis auf die bekannte Grundrisse-Passage (MEW 42, S. 193 (Fn.) (MEGA II/l.l, S. 190 (Fn.)), von Marx' Neigung, „nicht dem Begriff der Ware, sondern dem Begriff des Wertes die Bedeutung einer immanenten Einheit von Gebrauchswert und Tauschwert zuzusprechen" (ebd., S. 264f. (Fn.)). Ein weiteres Element dieser idealistischen Tendenz ist die Tilgung des Unterschieds zwischen Kategorie und Realität. So spricht Lichtblau denn auch von der Herrschaft „abstrakt-ökonomischer Kategorien" über die „konkreten Gebrauchswerte[...], Bedürfnisse^.] und Individuen" (ebd., S. 187). Bei den ökonomischen Formen habe man es mit der ,wirklichen' „Reifikation von Begriffen" (S. 201) zu tun. Marx spricht dagegen - in einer von Lichtblau selbst zitierten Passage - davon, „daß die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind. Verhältnisse können natürlich nur in Ideen ausgedrückt werden, und so haben Philosophen als das Eigentümliche der neuen Zeit ihr Beherrschtsein von Ideen aufgefaßt" (MEW 42, S. 97) (MEGA I I / l . l , S. 96). Die erzeugungsidealistische Gleichung lautet also, gegen Marx, ,Wertbegriff = Wert als Form = Wesen aller empirischen Phänomene' bzw. übergreifendes Drittes.

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Prozesses"283. Marx beabsichtige keineswegs die Nachzeichnung des historisch-empirischen Werdens eines Komplexen aus Einfachem, sondern vielmehr die begriffliche ,Entfaltung' der realen komplexen Voraussetzungen des scheinbar Einfachen. Das ,Enthalten' des Entwickelteren im Einfachen bedeute so nur den darstellungsmäßig noch unentfalteten Momentcharakter des Einfachen als abhängiger Teil des Ganzen. Das Einfache des Anfangs, die Ware als .Keimzelle' ist damit als theoretische Abstraktion ausgewiesen, die nirgends empirisch für sich existiert - im Gegensatz zu einem Keim in der Natur. Die Abfolge der Kategorien reflektiert in dieser Perspektive nicht eine idealisierte historische Realentwicklung, sondern ist Dechiffrierung der reziproken Determinationsverhältnisse eines gegebenen Formzusammenhangs284. Mit Michael Heinrichs Bemerkungen über dialektische Darstellung als Form wissenschaftlicher Begründung lassen sich Kernpunkte der bisherigen Debatte zusammentragen: Heinrich deutet Hegels Dialektik als eine der Selbstbewegung des Begriffs, die Marxsche dagegen als „Zusammenhang von Begriffen [...], die empirisches Material verarbeiten, ohne dabei [...] in bloß nominalistischen Abstraktionen aufzugehen". Solche Begriffsentwicklung impliziere die Herstellung einer Ordnung von Begriffen, die „wesentliche Beziehungen"285 derselben ausdrücke. Sie sei dabei vom Gegenstand selbst, einem System sich wechselseitig voraussetzender Formen286, erfordert. Um dieses System zu erklären,„muß dieses wechselseitige Voraussetzen begrifflich aufgesprengt"287 werden. Zu diesem Zweck erfolge die Unterscheidung in einfache und komplizierte Kategorien, wobei erstere zunächst ohne Bezug auf letztere einzuführen seien, obwohl beide in einem realen Verweisungszusammenhang stünden. Dieser mache sich an den einfachen, theoretische Abstraktionen darstellenden, Kategorien als darstellungslogisch notwendiger Mangel bzw. Unterbestimmtheit geltend. Dieser Mangel aber „weist über sich selbst hinaus" und liefere so den Übergang zu einer weiteren Bestimmung. Es entstehe so ein „Begründungszusammenhang" zwischen ihnen, der einen „spezifischen Informationsgehalt" besitze. Der Mangel einer Kategorie bezeichne den Widerspruch ihrer verschiedenen Bestimmungen, der die Einführung einer spezifischen neuen Kategorie erfordere, die als komplexere die Widersprüche der einfacheren löse. In der Realität der bürgerlichen Gesellschaft seien diese aber „immer schon ,ge-

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Brentel 1989, S. 304. Vgl. ebd., S. 357. Vgl. auch die Bemerkungen in Holz 1993, S. 195: „Der Warenbegriff [...] erfaßt [...] die elementare Form einer spezifischen strukturalen Organisation der Ökonomie. So wenig Element und Struktur identisch sind, so wenig sind sie unabhängig voneinander. Zwar gibt es Waren außerhalb einer kapitalistischen Ökonomie, aber erst Ware als Produkt des Kapitals lässt den ,Keim gedeihen'. Eben deshalb ist die Ware Elementarform, nicht aber Keimzelle des Kapitals als strukturaler Form der Ökonomie". Beide Zitate: Heinrich 1999, S. 172. Vgl. Heinrich 2008, S. 58: „Unter kapitalistischen Bedingungen finden wir Waren, die gegen Geld getauscht werden, Geld, welches Waren kauft, Kapital, das einerseits Produktionsmittel als Waren kauft, andererseits Waren produziert etc.". Heinrich 1999, S. 173. Vgl. auch bereits Bader u.a. 1975 sowie Arndt 1985, S. 140: Im Prozess dialektischer Darstellung „werden die gleichzeitig existierenden und einander stützenden Elemente des Ganzen zwangsläufig in ein darstellungslogisch bedingtes Nacheinander gesetzt".

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löst'". Es würden dort nur die Resultate, resp. empirischen Erscheinungsformen innerer Zusammenhänge gesamtgesellschaftlicher Art sichtbar, die sich damit als Unvermitteltes, schlicht Gegebenes präsentierten. Allein die „theoretische Konstruktion"288 dialektischer Darstellung kann, so Heinrich, diesen Schein der Unmittelbarkeit eines tatsächlich gesellschaftlich Vermittelten aufweisen und ist als Darstellung somit zugleich Kritik289 mystifizierter290 Auffassungen von Reichtumsformen. Dialektische Darstellung als Herstellung eines notwendigen Zusammenhangs von Begriffen stellt zwar nach Heinrich die „begriffliche Reproduktion" der „Ordnung des wirklichen Objekts"291 dar, ist aber als solche gerade nicht als empiristische Widerspiegelung konzipiert, die dem Schein der Unmittelbarkeit der Formen gerade aufsitzen würde. Sie sei Wesenserkenntnis im Sinne der Rekonstruktion eines empirisch nicht unmittelbar erfassbaren gesellschaftlichen Struktur- und Handlungszusammenhangs, der Erarbeitung von „nichtempirischen Begriffsbildungen, die das Begreifen der empirisch erscheinenden erst ermöglichen"292. Weder die einzelnen Kategorien der inneren Struktur noch deren Zusammenhänge (Übergänge) besitzen damit „unmittelbare empirische Referenten"293. Heinrich scheint aber nur zunächst ein rein analytisch-methodologisches Dialektik-Konzept zu verfolgen294. Denn die modelltheoretische Deutung Helbergers verfehlt in seinen Augen gerade die Spezifik dialektischer Darstellung, die im Gegensatz zu rein äußerlich-didaktischen Kriterien erst durch die .Entwicklung' der Begriffe deren realen Zusammenhang begründet. Nur durch die „gesamte Abfolge der begrifflichen Entwicklung"295 sind demnach die Gesetze der bürgerlichen Ökonomie zu begreifen. Zugleich werde durch den eigentümlichen Zirkellauf der Darstellung der systemische Reproduktionscharakter der kapitalistischen Produktionsweise erfasst. Heinrich geht also sehr wohl davon aus, dass die Eigentümlichkeit der Methode von der Eigentümlichkeit des Gegenstands erfordert ist296 und die Ordnung der Kategorien somit die des Objekts reproduziert. Zwar seien die Kategorien der Wesensebene nichtempirische, aber damit noch keineswegs rein nominalistische Abstraktionen297, sondern vielmehr gedankliche Erkenntnis realer Allgemeinheiten298.

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Zitate der Reihenfolge nach: Heinrich 1999, S. 173, 173, 175, 175. Vgl. dazu Marx' vielzitierte Äußerung im Brief an Lassalle vom 22.2.1858: „Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben" (MEW 29, S. 550) (MEGA III/9, S. 72). Zu Heinrichs Differenzierung zwischen Mystifikation und Fetischismus vgl. Heinrich 2004a, S. 96. Heinrich 1999, S. 175. Ebd. Vgl. auch bereits Brinkmann 1975, S. 180f. Heinrich 1999, S. 175. Vgl. seine These, Realdialektik-Positionen hätten vornehmlich in Engels' Anti-Dühring und Dialektik der Natur ihr Vorbild (ebd., S. 164). Ebd., S. 176. Vgl. ebd., S. 172. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 155.

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Welche Schlüsse lassen sich aus diesem kurzen Ausflug in die methodologische Debatte um ein sozialtheoretisch brauchbares Dialektik-Konzept ziehen? Zunächst können einige Thesen der analytischen Perspektive durchaus Plausibilität beanspruchen. So vollzieht das vielzitierte ,Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten', das Marx als die „wissenschaftlich richtige Methode"299 zur Analyse der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet, durchaus keinen Bruch mit dem traditionellen, seit Descartes gängigen, Methodenverständnis. Sogar die darstellungsstrategisch grundlegende Einführung komplexerer Kategorien mittels einer ,Widerspruchsentwicklung' ist, wie der Beitrag Steinvorths zeigt, deduktiv-nomologisch übersetzbar. Die Probleme des analytischen Zugangs sind aber in der hier anzutreffenden modelltheoretischen Deutung versteckt, die dialektische Konstruktionen des Zusammenhangs von Kategorien letztlich wieder auf „dritt- und viertrangige[...]"300 didaktische Fragen der kognitionspädagogisch sinnvollen Hinführung des Lesers zu realistischen Deutungsmustem herunterbrechen und letztlich einen nominalistischen Hintergrund aufweisen, der Marx' Anspruch, mittels dialektischer Darstellung reale Zusammenhänge der ökonomischen Formen offen zu legen, nicht gerecht wird (ein Abglanz findet sich noch bei Steinvorth, der von nicht-wirklichen Widersprüchen redet). Auch Prämissen, wie der methodologische Individualismus, der explizit bei Popper zu finden ist301, aber in einer abgeschwächten Form, als handlungstheoretischer Reduktionismus, auch noch Steinvorths Rekonstruktionsversuch prägt, widersprechen dem Marxschen Denken zutiefst. Dieses begreift Gesellschaft „nicht [als] aus Individuen" bestehend, sondern als strukturiertes Ganzes gegenständlich vermittelter „Beziehungen, Verhältnisse, worin diese Individuen zueinander stehen"302 und deutet den Gang der Darstellung im Kapital als adäquate Rekonstruktion einer Form von Vergesellschaftung, in der die Handlungen der Menschen von undurchschauten und ihrer Kontrolle entzogenen Strukturen bestimmt werden (die freilich nur durch ihr Handeln hindurch immer wieder re-/produziert werden)303. Die strukturelle, anonyme Zwangsordnung des Kapitalismus, in der die Individuen (und Kollektive) „von Abstraktionen beherrscht werden"304, ist mit einseitig handlungstheoretischen Modellen oder dem methodologischen Individualismus genauso wenig zu fassen, wie die historische Spezifität der Handlungslogiken der den Marktimperativen unterworfenen Akteure305.

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Vgl. MEW 42, S. 35 (MEGA II/l.l, S. 36). Helberger 1974, S. 16. Vgl. Popper 1987, S. 107, 123. MEW 42, S. 189 (MEGA II/l.l, S. 188). Deshalb beginnt Marx das Kapital auch nicht mit den Warenbesitzern, sondern den Waren. In deren Verhältnissen, die von den Menschen unter bestimmten, nicht selbstgewählten Bedingungen hervorgebracht werden, geschieht die Verselbständigung und Versachlichung ihres eigenen Vergesellschaftungszusammenhangs zu einem ihrer Kontrolle entzogenen Prozess. Vgl. dazu Wolf 2004 und Heinrich 2004b. MEW 42, S. 97 (MEGA II/l.l, S. 96). Vgl. MEW 42, S. 19f. (MEGA II/l.l, S. 21f.): Der vereinzelte Einzelne als Ausgangspunkt der ökonomischen Wissenschaften ist nach Marx Resultat einer ganzen historisch-gesellschaftlichen Formation.

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Schließlich lässt sich zeigen, dass alternative Konzeptionen von Dialektik nicht ,hegelmarxistisch' im Sinne einer identitätsphilosophischen Konzeption sein müssen306. Metatheoretisch ist ihr Verhältnis zum deduktiv-nomologischen Wissenschaftsprogramm aber bisher noch nicht hinreichend geklärt worden. Mit der weltanschaulich aufgeladenen .Positivismuskeule', die zu schwingen in der sich kritisch dünkenden akademischen Linken vor allem in der 70er Jahren Mode war, wird man aber nicht weit kommen.

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Dies widerlegt das in der Literatur der 1980er und 90er Jahre weit verbreitete und gut gepflegte Vorurteil, ein emphatischer Bezug auf dialektische Darstellung laufe per se auf Hegelianismus hinaus. Als Beispiel für solche Literatur seien genannt: Kallscheuer 1986 und - als extremste Variante - Holz 1993. Neuerdings auch wieder Henning 2005.

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1.2.3 Exkurs zum Forschungsprozess Es finden sich nur wenige explizit methodologische Reflexionen von Marx, in denen er sich dem Thema der .Forschung' widmet 1 . Sie sind gleichsam erläuterungsbedürftig: Wie geht Forschung vor? Was bedeutet,Kritik' im Gegensatz zu Dialektik? Wie und wovon wird im Forschungsprozess abstrahiert? Während die dialektische Darstellungsweise Gegenstand ausfuhrlicher innermarxistischer Debatten war und noch ist, wurde der Frage des Forschungsprozesses recht wenig Beachtung geschenkt. Bereits 1976 konnte Oskar Negt feststellen, dass in der Marx-Rezeption der Bundesrepublik „seit Jahren ein gewaltiger Überhang der Darstellungslogik im Verhältnis zur Forschungslogik von Marx" 2 bestehe. Auch in den wenigen Beiträgen zur letzteren, das kann schon vorweggenommen werden, kann von einer hinreichenden Klärung der Frage der Spezifik einer Marxschen oder marxistischen Forschungsweise nicht gesprochen werden. Oskar Negt bestimmt 1967 Marx' Forschungsweise als „begrifflich vermittelte empirische Vorbereitung der Theorie, die er ,Darstellung' nennt" 3 . An diese Definition knüpft einige Jahre später Jürgen Ritsert an. Ihm zufolge ist die Setzung der Ware als Anfang und die Ableitung weiterer Formbestimmungen abhängig von einem als Ergebnis der Forschung zu betrachtenden und in der Darstellung auf dieser Ebene noch nicht vorhandenen Begriff des Ganzen der kapitalistischen Produktionsweise, der sich „zum Zeitpunkt der Niederschrift des ,Kapital' [...] bei Marx von einem abstrakten Vorverständnis von Totalität zum differenzierten Begriff eines kapitalistischen Reproduktionszusammenhanges erweitert hatte". Richtung und Inhalte der Darstellung seien je schon abhängig von Vorgriffen auf die ausgeführte Darstellung der Totalität, „ohne daß die Totalität an dieser Stelle schon als entfaltete (dem Leser [...]) präsent sein kann". Bereits Ritsert weist also gegen eine Reifizierung der Keimzellenmetaphorik des ersten Kapitels des Kapital darauf hin, dass Darstellung einen Kreisprozess markiert, „welcher Einzelheiten im Vorgriff auf die Gesamtstruktur bestimmt, während sich gleichzeitig diese sukzessiven Vorgriffe durch die Bestimmung von Einzelheiten vertiefen und präzisieren können" 4 . Eine totale Immanenz der Ableitung sei

Zu nennen wären vor allem folgende: „Bei der Analyse der ökonomischen Formen kann außerdem weder das Mikroskop dienen, noch chemische Reagentien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen. Für die bürgerliche Gesellschaft ist aber die Warenform des Arbeitsprodukts oder die Wertform der Ware die ökonomische Zellenform" (MEW 23, S. 12) (MEGA II/5, S. 12). „Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden" (ebd., S. 27) (II/6, S. 709); „daß es ein ganz andres Ding ist, durch Kritik eine Wissenschaft erst auf den Punkt bringen, um sie dialektisch darstellen zu können, oder ein abstraktes, fertiges System der Logik auf Ahnungen eben eines solchen Systems anzuwenden" (MEW 29, S. 275). 2 3 4

Negt 1976, S. 38. Negt 1972, S. 46. Zitate der Reihenfolge nach: Ritsert 1973, S. 10, 10, 13.

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damit ausgeschlossen, weil die Menge aller Sätze über Ware und Wertform nicht identisch sei mit der Menge aller Sätze über den Kapitalismus im Ganzen5. Wenn Forschung den Begriff von Totalität gewonnen hat oder auf Totalität abzielt, bedeutet dies Ritsert zufolge nicht, dass damit eine totale oder vollständige Erklärung im Sinne einer „Universalerklärung"6 aller Aspekte und Relationen eines Phänomens gegeben oder anvisiert wäre. Auch sei der Totalitätsbegriff kein metaphysisch-hinterweltlicher, der eine von den empirischen Phänomenen unabhängige Realität bezeichnen würde: „,Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile' bleibt nur dann eine sinnvolle Wendung, wenn es die Tatsache bedeutet, daß das gleiche Moment je nach seiner veränderten Stellung im Kontext andere Funktionen verrichtet oder Eigenschaften zeigt"7. Forschung als Totalitätsanalyse wird so - in expliziter Abgrenzung vom methodologischen Individualismus8 - als „.pattern model of explanation'" 9 bestimmt, das spezifische Einzelphänomene im Hinblick auf das Vorverständnis eines grundlegenden Relationszusammenhangs - die „Kernvorstellung"10 interpretiert und derart sozial induzierte Reflexionsbestimmungen11 einbezieht. Damit werde zugleich ein emergenter Strukturkomplex analysiert, der Eigenschaften aufweise, die einem sozialen Zusammenhang nur als Zusammenhang zukämen und spezifische Handlungszwänge und Ermöglichungsbedingungen für das Handeln von Akteuren implizierten12. Diese Kern Vorstellung beanspruche, grundlegende Aspekte der Herstellung sozialer Einheit (.Synthesis'), der Ursachen und Bewegungsstrukturen gesellschaftlicher Entwicklung (,Dynamis') und der damit einhergehenden prinzipiellen Handlungsperspektiven der in diesen Zusammenhang eingelassenen Akteure (.Praxis') 13 begrifflich zu reproduzieren. Die begriffliche Erfassung des .Wesens' oder der .Kemgestalt' einer Produktionsweise zeichne sich nun entgegen keimzellenmetaphorischer Ansätze dadurch aus, dass es „keinen Begriff, Merkmalskomplex (,Bestimmungen') oder keine Teilmenge von Aussagen über Relationen (,Beziehungen')" gebe, „zu deren Sinn [...] nicht direkt oder über begriffliche Zwischenglieder Aussagen zur Kernvorstellung gehörten und/ oder bei denen nicht eine empirische Relation zu Momenten der Kernstruktur ausgewiesen werden könnte (empirischer Verweisungszusammenhang). Damit ist ausdrücklich nicht behauptet, die Bestimmungen aller Momente und ihrer Relationen gingen im Sinngehalt der Sätze der Kernvorstellung a u f . Damit sei aber auch die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Forschungsprozesses anerkannt, der „neue oder differenziertere Details der wirklichen Bewegung der Gesellschaft" erfasse, „die in den .Verweisungszusammenhang' und [...] die .Referenzstruktur' eingehend, Erweiterungen und Veränderungen der Theorie herbeiführen". Die marxistische Analyse des Kapitalismus bleibe so auf empirische Forschung angewiesen. Der damit gegebene „Sachverhalt theoretisch unableitbarer' Bestimmungen" stellt nach Ritsert aber nur auf dem Hintergrund 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Vgl. ebd., S. 15, 100. Ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 55. Vgl. ausführlich Ritsert 1976, S. 98f., 109ff. Ebd., S. 62. Ritsert 1973, S. 32. Vgl. MEW 6, S. 407; 23, S. 72 (MEGA II/6, S. 89f.); 42, S. 189 (II/1.1, S. 188). Vgl. Ritsert 1976, S. 104f. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. auch Ritsert 1996, S. 161f.

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des „Neo-Idealismus der Keimzellenthese" eine Anomalie dar. Die das Wesen einer Gesellschaft erfassende Kernvorstellung einer Theorie gerate erst in eine Krise, wenn die Kernstruktur der betreffenden Sozialformation selbst grundlegend transformiert werde: „Die .Orthodoxie' der Theorie hängt am .Dogmatismus' der Verhältnisse; dennoch ist diese Theorie eine .auf Widerruf " 14 . Auch Gert Schäfer identifiziert 1974 im Marxschen Werk „Momente, die sich aus dem Begriff des Kapitals nicht unmittelbar .ableiten', sondern nur mit der .Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft' vermitteln lassen" 15 . Marx habe daraufhingewiesen, indem er im dritten Band des Kapital konstatiert habe, „daß dieselbe ökonomische Basis - dieselbe den Hauptbedingungen nach - durch zahllos verschiedne empirische Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, von außen wirkende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebnen Umstände zu begreifen sind"16. Damit sei ein Begriff von Empirie und Erscheinung zugrunde gelegt, der nicht in den im Zuge der Ökonomiekritik begrifflich abgeleiteten Bestimmungen auf der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsweise aufgehe. Es muss demnach zwischen der .idealen' Oberfläche - ,ideal' bezogen auf die Formulierung der Darstellung des Kapitalismus in seinem , idealen Durchschnitt' 17 - und der historischkonkreten oder realhistorisch-singulären Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft unterschieden werden. Eike Hennig betont in diesem Zusammenhang die nicht nur theoriekritische Funktion unableitbarer Empirie: Im Rahmen der historisch-politischen Schriften erlange die empirische Forschung eine eigenständige Gestalt und praxisrelevante Funktion. Letztlich „liefern die politischen Analysen Materialien zur Theorie-Praxis und zur StrategieTaktik-Diskussion der revolutionären Arbeiterbewegung" 18 . In Übereinstimmung mit dem kritischen Rationalismus lehnen Bader, Ganßmann u.a. 1975 das empiristische Konzept reiner Erfahrung mit seinem tabula-rasa-Modell des Erkenntnissubjekts wie das empiristische Sinnkriterium ab19. Wirklichkeit und Erfahrung seien stets schon vorstrukturiert, enthielten ein Allgemeines, an das der Forschungsprozess empirischer Generalisierung anknüpfen könne. Die Notwendigkeit derart aufgefundener Merkmale und Zusammenhänge sei aber wegen des von Popper ausformulierten Induktionsproblems auf dieser Ebene nicht begründbar 20 . Die Kritik der politischen Ökonomie tritt Bader zufolge aber demgegenüber als Wesenserkenntnis der notwendigen Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten des Erkenntnisobjekts auf. .Wesen' meine dabei eine analytisch unterscheidbare, nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmbare Ebene der Wirklichkeit, den .inneren' Zusammenhang der empirischen Phänomene, der ihnen gegenüber keine eigenständige Realität besitze, in ihnen aber nicht offen zutage trete, bzw. von ihnen sogar verkehrt dargestellt werde 21 . Die Kategorien des Kapital bewegten sich aufgrund dieser spezifischen Struktur 14 15 16 17 18 19 20 21

Zitate der Reihenfolge nach: Ritsert 1973, S. 3 8 , 4 3 , 7 7 , 4 4 . Schäfer 1974, S. CXII. Vgl. auch Hennig 1974, S. LXIIff., LXXIVff. MEW 25, S. 800 (MEGA II/4.2, S. 732) (zitiert in Schäfer 1974, S. CXI). Vgl. MEW 25. S. 839 (MEGA II/4.2, S. 853). Hennig 1974, S. LXXVI. Vgl. Bader u.a. 1975, S. 40. Vgl. ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 46-53.

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des Erkenntnisobjekts daher nicht alle auf der derselben Ebene. Seine Erforschung erfordere eine gestufte Aufeinanderfolge von Abstraktionsschritten, die mit der empirischen Nichtreduzierbarkeit der theoretischen Kategorien einhergehe. Gerade einen solchen Reduktionismus, die unmittelbare Konfrontation sämtlicher Kategorien mit der Empirie, kritisiere Marx an der politischen Ökonomie und ihrem „empiristischen Selbstmißverständnis"22. Auch hier erwähnen Bader u.a. Anknüpfungspunkte an den kritischen Rationalismus und seine Preisgabe des Gedankens einer Zurückfuhrbarkeit theoretischer Kategorien auf Beobachtungssätze23. Die Erforschung von Wesensbestimmungen impliziert nach Bader u.a. allerdings keine Immunisierungsstrategie gegen empirische Kritik. Wesen und Erscheinung seien in spezifischer Weise verbunden, weshalb auch „Mittelglieder"24 bzw. „Interpretationsanker"25 zwischen beiden Ebenen existieren müssten. Die Wesensaussagen stünden somit „im Kontext einer Theorie, die als ganze der empirischen Überprüfung unterliegt"26. Wesenserkenntnis unterscheide sich von empirischer Generalisierung allerdings durch drei Merkmale: 1) Durch den Status der analytisch gewonnenen abstrakten Allgemeinheit. Diese sei dem .Begriff einer Sache notwendig zugehörige Bestimmung27. Die Notwendigkeit der Bestimmungen sei aber nur durch das synthetische Verfahren der Entwicklung der Erscheinungsformen aus dem Wesen zu belegen28. 2) Durch größere Reichweite und prognostische Kraft. 3) Durch die Herleitung empirischer Generalisierungen und Theorien aus dem Wissen um soziale Strukturen29. Wird in Punkt 1) der Nachweis der Spezifik der Forschungsweise und ihrer Resultate auf den Prozess der Darstellung verschoben und bleibt auch unklar, was mit .Notwendigkeit' gemeint sein soll, so bleiben die beiden anderen Punkte bloße Versicherung. Trotz der Nähe zu Hegel versuchen Bader u.a. aber zugleich Marx' Konzept von dessen emphatischem Begriff von Notwendigkeit abzugrenzen. Hegels Notwendigkeitsbegriff sei mit idealistischen Ansprüchen belastet. Sein Anspruch, noch die Prämissen wissenschaftlicher Deduktionen und Gegenstandsbereiche als notwendige abzuleiten30, verkenne die Grenzen der Dialektik, das heißt ihre Implikation nichtableitbarer Voraussetzungen. Gegen die Hegeische Klage eines äußerlichen Verhältnisses von Gegenstand und Erkenntnis könne Marx nur die Ableitung des Gegenstands und seiner Bewusstseinsformen aus dem Prinzip gesellschaftlicher Arbeit aufbieten31. Erhard Schäfer konstatiert 1976 für die bisherige marxistische Diskussion eine Vernachlässigung der Forschungsproblematik, was umso schwerer wiege, als die Darstellung als materialistische konstitutiv auf Forschung angewiesen sei, die Logik jener allererst aus

22 23 24 25 26

27 28 29 30 31

Ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 52; vgl. auch Helberger 1974, S. 95ff. MEW 26.2, S. 171 (MEGA II/3.3, S. 826). Stegmüller zitiert nach Bader u.a. 1975, S. 52. Bader u.a. 1975, S. 52. Vgl. auch die These von Klaus Holz zur theoretisch-empirischen Anlage der Mehr-/ Werttheorie in Holz 1993, S. 104, 120, 126. Diese These ist auch im Holismus der modernen Wissenschaftstheorie anzutreffen. Vgl. Esfeld 2002. Vgl. Bader u.a. 1975,S.48f. Vgl. ebd., S. 99. Vgl. dazu auch Holz 1993, S. 149. Vgl. Bader u.a. 1975, S. 53. Vgl. auch Taylor 1997, S. 346,427. Vgl. Bader u.a. 1975, S. 68.

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dieser resultiere 32 . Aufgabe einer marxistischen wissenschaftstheoretischen Reflexion sei demnach die Rekonstruktion der „empirisch-materialistische[n] Ableitung der logischen Darstellung" im Marxschen Forschungsprozess. Schäfer entdeckt dabei einen erweiterten, spezifisch historisch-materialistischen Erfahrungsbegriff bei Marx: „Dieser begreift nicht nur das Faktum, sondern auch die Tätigkeit, nicht nur das Ding als solches, sondern das Ding als Produkt, d.h. unter Einbeziehung seiner Produktion". Damit beziehe sich historisch-materialistische Forschung auf Empirie in einem zweifachen Sinn: Einmal auf das „gegebene Faktenmaterial", also Quellen, Überreste, eigene Beobachtungen, und zum anderen auf die Konstitution der Fakten durch ,Jcollektive[...] menschliche[...] Tätigkeit" 33 . Dagegen gehe ein empiristischer Forschungsprozess von den isolierten Fakten als schlicht Gegebenem aus, abstrahiere von deren Resultatcharakter und könne auf dieser Grundlage nur die „scheinbare Bewegung" 34 , einen PseudoZusammenhang der Fakten konstruieren 35 . Ein empiristisch-induktiver Forschungsprozess beziehe also nur einen eingeschränkten Empiriebegriff ein, der aus der Perspektive der Kritik der politischen Ökonomie als Oberfläche' oder .Erscheinung' zu dechiffrieren sei. ,Erscheinung' sei dabei das in seinem gesellschaftlichen Produktionszusammenhang begriffene Faktum, das vom Empirismus nicht als Erscheinung verstanden werde, denn „seine Bestimmung als Erscheinung setzt bereits begriffliche Erkenntnis voraus", bzw. impliziere eine Beziehung, „die die Fakten [...] an eine diese überschreitende Ordnung bindet". Der Forschungsprozess hat nun Schäfer zufolge die Aufgabe der empirischen Entwicklung der Theorie bzw. der Begriffe des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs. Der „empirische Ausgangspunkt" stellt sich somit als theoúebegründend, nicht bloß nachträglich theori^bestätigend oder -falsifizierend dar: Es gehe „nicht darum, für hypothetisch entworfene Aussagen über den sozialen Zusammenhang [...] im Nachhinein die empirische Bestätigung [sie!] zu suchen". Materialistische Forschung soll demnach weder induktivistisch noch hypothetisch-deduktiv, resp. falsifikationistisch sein. Als „Gang vom Konkreten zum Abstrakten" 36 vollziehe sich Forschung in Anlehnung an Marx' Bestimmung 37 vielmehr in drei Schritten: 1) Sammlung und Selektion von Fakten. 2) Aufweisung der sozialen Formbestimmtheit der Fakten. 3) Herausarbeitung des inneren, strukturellen Zusammenhangs der Fakten. Forschung stellt sich für Schäfer dar als Begriffsentwicklung vermittelt über den „Erkenntnisweg" 38 der historischen Formbestimmtheit menschlicher Praxis. Sie gehe aus von der Empirie im engeren Sinne als Erscheinung, dechiffriere diese als historisch formbestimmte durch die Analyse ihrer „Entwicklungsformen" und gelange somit zum Begreifen der Empirie im weiteren Sinne einer Struktur gesamtgesellschaftlich-kollektiver Lebenspra-

32 33 34 35 36 37

38

Vgl. Schäfer 1976, S. 96. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 97, 99, 65. Vgl. MEW 23, S. 335 (MEGA II/5, S. 255). Vgl. Schäfer 1976, S. 108f. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 127, 106, 119, 105, 99. Vgl. MEW 23, S. 27 (MEGA II/6, S. 709): „Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden". Schäfer 1976, S. 126.

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xis39. Forschung kann danach lediglich über die Formbestimmungen von der Erscheinung zum Wesen vordringen. Diese werden sehr dunkel bestimmt als „methodischer Weg, der erst im Zusammenhang mit der Verarbeitung der Fakten zur Ermittlung ihrer Struktur fuhrt, aber keineswegs diese schon setzt"40. Zwar wird gegen Negts Bestimmung von Forschung als begrifflich angeleiteter Entfetischisierung der Fakten41 zu Recht darauf hingewiesen, dass ein Begriff von Fetischismus allererst aus dem Forschungsprozess zu entwickeln sei42, wolle man ihn nicht idealistisch-apriorisch voraussetzen. Dennoch bleibt unklar, wie begriffliche Abstraktionen auf nicht-induktive Weise im Forschungsprozess selbst gewonnen werden sollen und woher dann das Verfahren der Formanalyse stammt. Schäfer scheint sich in dem Zirkel zu bewegen, dass die Abstraktionen, die zur Erkenntnis der Fakten benötigt werden, einerseits Resultat der Forschung selbst sein sollen, andererseits als Voraussetzung derselben die Bewegung von der Erscheinung zum Wesen leiten. In Schäfers Konzept gehen die Abstraktionen „in der Weise aus der Empirie hervor, dass durch ihre Entwicklung der Bezug auf die menschliche Arbeit als gegenstandssetzende Tätigkeit erhalten bleibt". Wie aber soll dies gelingen, ohne einen solchen Begriff zunächst hypothetisch vorauszusetzen? Und welchen Sinn macht ein Begriff von Erfahrung, der darunter etwas subsumiert, das als solches nicht erfahren, sondern nur begrifflich rekonstruiert werden kann - gesamtgesellschaftliche Praxiszusammenhänge? Was bedeutet der Begriff „kollektive soziale Erfahrung"43 in diesem Kontext? Soll ,Empirie' soviel wie ,Wirklichkeit' oder ,realer Zusammenhang' bezeichnen? Ein „eigenständiger methodischer Zugang zur sozialen Empirie" ist damit für die Marxschen Forschungsweise jedenfalls nicht nachzuweisen. Vielleicht resultieren die Aporien Schäfers aus seiner Ausblendung der Theoriekritik als Bestandteil des Marxschen Forschungsprozesses? Diesem Aspekt widmet sich nun vornehmlich der Ansatz Gerhard Stapelfeldts. Gerhard Stapelfeldt will Dialektik als Darstellungs- und Forschungsmethode verstanden wissen. Er bestimmt Dialektik zu diesem Zweck hochabstrakt als ,»Methode der Kritik unbewusster gesellschaftlicher Verhältnisse"44, die zugleich auf rationale Vergesellschaftung abzielt, bzw. als „aufklärerischen Rückgang [...] hinter bewusstlose Voraussetzungen"45. Als objektiv-soziale Bedingungen solcherart kritischer Reflexion identifiziert er „Systemkrisen", die als quasi-transzendentaler Rahmen subjektiv-kognitiver Forschungsleistungen fungieren,

39 40 41 42 43 44 45

Vgl. ebd., S. 127. Ebd., S. 63. Vgl. Negt 1972, S. 46. Vgl. Schäfer 1976, S. 122. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 110,64. Stapelfeldt 2004, S. 279. Ebd., S. 306. Damit knüpft er an Piatons Begriff von Dialektik als höchster Erkenntnisform an (explizit in Stapelfeldt 2006, S. 452), die das von den Mathematikern als Axiom Begriffene als wiederum Bedingtes, Hypothetisches erweise und auf seine endgültig nicht mehr hypothetischen, wirklichen Voraussetzungen hin befrage und so „bis zum Nichtvoraussetzungshaften an den Anfang von allem" (Piaton 2000, 511b) gelange. Allerdings hinkt der Vergleich Marx-Platon an mehreren Stellen: Zum einen ist diese Form der Dialektik eine ganz anders geartete als die Widerspruchsentwicklung in der Darstellungsweise, zum anderen fragt Marx nicht nach dem Voraussetzungslosen schlechthin, wie Piaton es tut.

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da in ihnen „die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht länger fraglos gelten, sondern schwankend werden". Wie dies genau geschehen soll, wird nicht näher erläutert. Bezogen auf diesen »objektiven' oder situierten Aspekt des Forschungsprozesses erhalte Dialektik die Form der „Reflexion als Erlangung des Krisenbewußtseins"46. Forschungsprozess

i

Dinghafte Erscheinung/ Empirie

Vielheit

Darstellungsprozess

Τ

soziales Wesen

Einheit

isolierte Mannigfaltigkeit der Fakten innerer Zusammenhang der Fakten

bewusst Gegebenes

Konkretes

unbewusste Produktion

Abstraktes

(Tabelle: Forschungs- und Darstellungsprozess nach Stapelfeldt)

Forschung wird bestimmt als gesellschaftlich-objektiv ermöglichter und subjektiv-kognitiv praktizierter Entmythologisierungsprozess, der unbewusste praktische Konstitutionsprozesse des scheinbar an sich Gegebenen freilegt47. Forschung beginne bei der Mannigfaltigkeit bewusst gegebener Erscheinungsformen gesellschaftlicher Verhältnisse, die aber nicht als solche bewusst seien, sondern den Akteuren nur fetischisiert, durch bewusstlose „Projektion übersinnlicher gesellschaftlicher Verhältnisse auf sinnliche Menschen und Dinge" zugänglich seien. Sie bewege sich durch „Reflexion", vor allem in Gestalt von „Theoriekritik"48, zum Wesen der Erscheinungen als ihnen zugrundeliegendes unbewusstes und sinnlich nicht wahrnehmbares gesellschaftliches Verhältais49. Als kritischer resultiere der Forschungsprozess in der radikalen Scheidung von Gesellschaftlichem und Natürlichem und damit als Vollendung eines politökonomisch ansetzenden, sich zugleich aber selbst blockierenden Forschungsprozesses50. Forschung habe dabei scheinbar die Gestalt eines induktiven Prozesses, „bei dem vom nichtidentischen Naturstoff und von den besonderen Arbeiten - vom Vielen - auf das identisch-Eine abstrahiert wird"51. Die Abstraktionen als Resultate des Forschungsprozesses der Klassik seien aber andere als die Marxschen: Stapelfeldt begreift nun die Theoriekritik an den .formalen Abstraktionen'52 der politischen Ökonomie als we46 47 48 49

50 51 52

Zitate der Reihenfolge nach: Stapelfeldt 2004, S. 283, 282. Vgl. ebd., S. 283. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 301, 301,295. „Könnte direkt beim Unbewußten begonnen werden, wäre es nicht unbewußt, sondern bekannt" (ebd., S. 301). Vgl. MEW 13, S. 37 (MEGA II/2, S. 130f.). Stapelfeldt 2004, S. 287. Vgl. MEW 26.2, S. 100 (MEGA II/3.3, S. 759): Ricardo sei vorzuwerfen, dass er „die Erscheinungsform nun unmittelbar, direkt als Bewähr oder Darstellung der allgemeinen Gesetze auffaßt, keineswegs sie entwickelt. Vgl. auch ebd., S. 171: Ricardo sehe nicht, dass die empirischen Kategorien der bürgerlichen Ökonomie ausgehend von den Wesensbestimmungen „erst durch eine Masse Mittelglieder zu entwickeln" sei, was sich als „sehr verschieden von einfacher Subsumtion unter das Gesetz der Werte" erweise. Dialektik wird als Darstellungsmethode (!) hier klar von der „Subsumtion einer Masse von .Cases' under a general principle" (MEW 30, S. 207) unterschieden.

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sentliches Element des Marxschen Forschungsprozesses. Theoriekritik als immanente Kritik des „seiner selbst bewußtlosen Bewußtseins" werde dabei als primäre Forschungsarbeit legitimiert durch das Geschehen bewusstloser Gesellschaftskonstitution: „Wenn die Welt bewußtlos geschaffen wurde, wenn diese Bewußtlosigkeit sich in den Institutionen und Handlungen der Menschen materialisiert hat, dann muß die Forschung ansetzen beim bewußtlosen Bewußtsein. Sie kann eine Geltung ihrer Resultate nicht durch Verweis auf die Ebene der gesellschaftlichen Faktizität erlangen, denn die soziale Welt erscheint gerade deshalb als unverrückbare Faktizität, weil sie bewußtlos konstituiert wurde". Vier Operationen sollen nun dialektische Forschung von der Forschungsweise der politischen Ökonomie unterscheiden: 1) Die Reflexion auf unausgewiesene Voraussetzungen politökonomischer Argumentation - den Wert und seinen Grund: Die Abstraktionen der Klassik, die Prämissen, von denen ihr Darstellungsprozess ausgehe, würden von ihr bloß vorausgesetzt, nicht als Gesetzte reflektiert. Sie stelle nicht die Frage nach der Genese des Werts (Tauschwerts), sondern „allein die Frage nach der Wertgröße"53. Die Differenzierung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, mit der die politische Ökonomie beginne, Gesellschaftliches und Natürliches zu trennen und damit zur „Ent-Mythologisierung der Welt" beitrage, werde von ihr „unmittelbar [...] widerrufen"54, da sie den Tauschwert/ Wert immer schon voraussetze und ihn damit auf Natur zurückprojiziere - auf Menschen und Dinge55. 2) Das reflexive Hinterfragen der Voraussetzungen der politischen Ökonomie verwandle deren .formale' in ,reflexive' Abstraktionen, spezifiziere deren Prämissen als historisch bestimmte und weise damit zugleich die logische Widersprüchlichkeit der politökonomischen Kategorien auf, ihre fetischistische Struktur der „Identifikation Nichtidentischer"56 qua Naturalisierung des Nicht-Natürlichen. Die qualitativ reflexionslose Suche einem unveränderlichen Wertmaß' stelle beispielsweise eine solche Suche nach einer irrationalen Identität von Ding und Nicht-Ding dar57. 3) Mit der Kritik an logischen Widersprüchen gehe die an zirkulären

53

Zitate der Reihenfolge nach: Stapelfeldt 2004, S. 295, 2 9 4 f „ 288. Vgl. M E W 23, S. 9 4 (Fn.) (MEGA II/5, S. 4 8 (Fn.)): Es fallt der Klassik „nicht ein, daß bloß quantitativer Unterschied der Arbeiten ihre qualitative Einheit oder Gleichheit voraussetzt, also ihre Reduktion auf abstraktmenschliche Arbeit".

54

Zitate der Reihenfolge nach: Stapelfeldt 2004, S. 296, 303.

55

Vgl. ebd., S. 288. Vgl. M E W 26.3, S. 491 ( M E G A II/3.4, S. 1499): „Die klassische Ökonomie fehlt endlich, ist mangelhaft, indem sie die Grundform des Kapitals, die auf Aneignung fremder Arbeit gerichtete Produktion nicht als geschichtliche Form, sondern Naturform der gesellschaftlichen Produktion auffaßt, eine Auffassung, zu deren Beseitigung sie jedoch durch ihre Analyse selbst den W e g bahnt".

56

Stapelfeldt 2004, S. 296.

57

Vgl. ebd., S. 304. sowie Stapelfeldt 2006, S. 351-378: Die klassische politische Ökonomie suche nach einem im Wert unveränderlichen Maß der Werte (vgl. u.a. Ricardo 1986, S. 15-17). Damit stelle sie sich dieses Maß immer schon als wertbestimmte Ware vor, die die Eigenschaft haben müsse, wertkonstante Ware zu sein. Indem das Wertmaß immer schon als Ware, als Einheit von Gebrauchswert und Wert unterstellt werde, werde auch die ein solches Wertmaß konstituierende Arbeit immer als ungeschiedene Einheit von abstrakter und konkreter Arbeit unterstellt. Im Begriff ,Wert der Arbeit', der als Wertmaßstab dienen soll (und der in diesem Sinne von Ricardo zunächst klar vom ,Wert der Arbeit' im Sinne von Arbeitslohn unterschieden werde), konfundiere Ricardo

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Begründungsstrategien der Klassik einher, der Kritik an Pseudoerklärungen von Werten durch Werte (im Begriff des unveränderlichen Wertmaßes oder des Werts der Arbeit)58. 4) Auf der Grundlage dieser drei Operationen beantworte Forschung als Ideologiekritik die Frage nach den Ursachen solcher theoretisch-methodischer Mystifikationen durch den Nachweis eines konstitutiven Zusammenhangs zwischen erscheinenden Reichtumsformen und politökonomischen Denkformen, die diese als ,objektive Gedankenformen' erkenne59. Als bürgerliche Theorie sei die politische Ökonomie damit durch ihre unreflektierte Voraussetzung und Fetischisierung der grundlegenden Reichtumsformen der bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet. Nur vermittelt über solche Theoriekritik ist nach Stapelfeldt die Empirie angemessen und das heißt nichtempiristisch und unverdinglicht anzueignen60. Die Differenz zu nichtdialektischen Forschungsprozessen bestehe dabei wesentlich in der weitergehenden Abstraktion6' - vom Stehenbleiben bei komplexen Phänomenen zum Rückgang auf den Wert - , der radikalisierten Unterscheidung von Gesellschaftlichem und Ungesellschaftlichem, bzw. historisch Spezifischem und Transhistorischem - Wert als rein gesellschaftliches Phänomen, Tauschwert als dessen Erscheinungsform - und damit in der historisch-reflexiven Spezifizierung politökonomischer Abstraktionen sowie ihrer widerspruchsfreien Darstellung. Diese weitgehend dem Marxschen Selbstverständnis entnommenen Bemerkungen Stapelfeldts lassen allerdings die Frage aufkommen, ob mit der Etikettierung der Forschungsweise als dialektischer' ein Erkenntnisgewinn erreicht wird und ob tatsächlich eine qualitative methodologische Differenz zu traditionellen Forschungskonzeptionen vorliegt und nicht vielmehr eine objekttheoretische Differenz zu einer methodologischen hochinterpretiert wird. Der analytische Philosoph Jürgen Schampel geht noch einen Schritt weiter als diese Vermutung. Er sieht in der Forschungsweise keinerlei Differenzen zur „.klassischen Abstraktionslehre'". Marx reformuliere geradezu „für die Sozialwissenschaften die analytische Methode der klassischen Physik"62. Unterschieden werden dabei die ,Generalabstraktion' von der Vorstellung des Ganzen der kapitalistischen Gesellschaft auf die Ware als einfachste Bestimmung63 und die .Teilabstraktion' von der Ware als komplexem Ganzen aus Tauschund Gebrauchswert auf den Wert als ihr gemeinsames Drittes. Erst nachdem Marx analytisch die Ware als Elementarform gewonnen habe und ihren Wert in einem weiteren Schritt herausdestilliert habe, verfahre er in seiner synthetischen Darstellung dialektisch, das heißt mittels einer Widerspruchsentwicklung, die zu immer komplexeren Bestimmungen führe. Objekttheoretisch gebühre so der analytischen Methode der Vorrang vor der dialektischsynthetischen, weil erst durch sie der Gegenstand der Warenanalyse begrifflich konstituiert worden sei: „Der Ausgangspunkt ,Ware' ist nur deshalb Ausgangspunkt im ,Kapital', weil

58 59 60 61

62 63

Arbeitstätigkeit und Arbeitsprodukt sowie Wertgrund und Ware. Abstrakte Arbeit werde so als (bestimmte Sorte) konkrete(r) Arbeit gesetzt (vgl. ebd., S. 361 f.). Vgl. Stapelfeldt 2004, S. 295f. Vgl. ebd., S. 297. Vgl. MEW 23, S. 90 (MEGA II/5, S. 47). Vgl. Stapelfeldt 2004, S. 299. Vgl. MEW 26.2, S. 188 (MEGA II/3.3, S. 840), Marx wirft der Klassik einen „Mangel an Abstraktionskraft" vor. Zitate der Reihenfolge nach: Schampel 1982, S. 73, 71. Vgl. ebd., S. 73f., 77.

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Ware vermittels der Forschungsmethode als Elementarform bestimmt worden ist"64. Dass Schampel gerade die hierdurch begründete Argumentationsstruktur für problematisch hält, weil so nicht vom Austausch, sondern der Ware ausgegangen werde und damit letztlich relationale Eigenschaften als einstellige Prädikate vorgestellt würden, wird uns im folgenden Kapitel noch näher beschäftigen. Ohne ausführliche metatheoretische Reflexionen, dafür aber stark an der inhaltlichen Problemstellung des Kapital orientiert, will Dieter Wolf die zentrale epistemologische Funktion, die Marx der „Abstraktionskraft" bei „der Analyse der ökonomischen Formen"65 zugesprochen hat, ausgehend von den komplexeren Formen des dritten Kapitels des ersten Kapital-Bandes belegen. Der Kern des Vorhabens von Wolf besteht in der Aufweisung des systematischen Zusammenhangs der ersten drei Kapitel und ihres Charakters als „methodisch erforderlichefr]"66 Abstraktionsstufen in der begrifflichen Entschlüsselung des „Daseins"67 der kapitalistischen Produktionsweise. Wolf beginnt seine Nachzeichnung des Abstraktionsganges im Kapital mit dem dritten Kapitel. Die einfache Zirkulation als Gegenstand dieses Kapitels werde durch eine Abstraktion von ihrem Resultatcharakter konstituiert: Die „Art und Weise, in der sie selbständig für sich betrachtet wird" verdanke sich ausschließlich „unserer Abstraktion von der Produktion", verstanden als ihr notwendig vorausgesetztes kapitalistisches Produktionsverhältnis („Das Kapitalverhältnis wird als historisch gewordene Bedingung vorausgesetzt, unter der die Warenzirkulation allgemein vorherrscht"). Die einfache Zirkulation sei daher als abstrakte Sphäre des kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozesses und nicht als dem Kapitalismus vorhergehende Warenzirkulation Gegenstand der Analyse. In der Ausgangssituation der Warenzirkulation stünden sich nun Besitzer preisbestimmter Waren und Geldbesitzer einander gegenüber, wobei ihnen die Existenz der Geldform und ihrer ideellen Antizipation im Preis bewusst sei, ohne dass ihnen allerdings der Grund der Geldeigenschaft (allgemeiner Austauschbarkeit) geläufig wäre. Geld sei hier immer schon vorausgesetzt: „Was sichtbar an den Waren erscheint, ist ihr Preis, ihre Gleichheitsbeziehung mit dem Geld"68. Wesen und Konstitution des Geldes könnten auf dieser Komplexitätsebene, die den Akteuren als einfachstes ökonomisches Verhältnis erscheine69, nicht erklärt werden70, da Geld und preisbestimmte Waren zirkulär aufeinander bezogen seien: „Die Waren haben einen Preis, weil es Geld gibt, und Geld gibt es, weil sich Waren im Preis auf eine Ware als Geld beziehen, indem sie ihm gleichgesetzt werden". Was macht dabei Ware und Geld kommensurabel, bzw. „als was sind Geld und Waren untereinander austauschbar"71? Der Preis der Waren könne es nicht sein, weil er nur in Bezug auf Geld bestimmbar ist. Das Geld könne es ebenso wenig sein, weil dann Geld Geld kommensurabel macht. Um 64 65 66 67 68 69 70

71

Ebd., S. 75. M E W 23, S. 12 (MEGA II/5, S. 12). Wolf 2004, S. 48. Vgl. M E W 42, S. 372 ( M E G A II/1.2, S. 368). Zitate der Reihenfolge nach: Wolf 2004, S. 42, 42, 91. Vgl. Wolf 2002, S. 321. Vgl. zu den zirkulären Erklärungsversuchen des Geldes aus Geldfunktionen in der Volkswirtschaftslehre: Wolf 2003, S. 11. Vgl. auch Rakowitz 2000, S. 121ff. und Iber 2005, S. 48, 98. Zitate der Reihenfolge nach: Wolf 2003, S. 11, 12.

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nicht dem Schein der Kommensurabilität der Waren aufgrund der Existenz des Geldes zu verfallen72 und damit Geld in einem fehlerhaften Zirkel nur scheinbar zu erklären, müsse die unmittelbare Austauschbarkeit des Geldes als „von der Austauschbarkeit selbst verschiedene Form der Austauschbarkeit"73 erwiesen werden. Dies könne nur geschehen, indem von der Geld- und Preisform der Waren abstrahiert und eine unsichtbare Gleichsetzung (,Wesen'/ »vermittelnde Bewegung') als Grundlage der sichtbaren (.Erscheinung'/ ,Resultat') herausgearbeitet werde74. Dieses »Absteigen' vom Konkreten/ Komplexeren zum Abstrakten/ Einfacheren fuhrt nach Wolf nicht in eine historisch vorgelagerte Epoche zurück, ist auch kein Zurückschreiten auf einer historischen Kausalkette innerhalb eines historiographischen Erklärungsmodells, sondern führt auf eine „methodisch erforderliche"75 Abstraktionsstufe der wissenschaftlichen Entschlüsselung der „kontemporären Geschichte"76 der kapitalistischen Produktionsweise. Diese Ebenefn] gebe es „isoliert für sich betrachtet [...] weder [...] in der historischen Vergangenheit noch in der gegenwärtigen Geschichte des Kapitals"77. Die damit erreichte Ebene bestehe in der Ausgangssituation des Austauschprozesses (Beginn des zweiten Kapitels des Kapital), in dem die Akteure einfache, nichtpreisbestimmte Waren aufeinander beziehen, die sich als bloße Einheiten von Gebrauchswert und Wert gegenüberstehen. Bevor darin die praktische Genese des Geldes durch das Handeln der Warenbesitzer innerhalb spezifischer Formbestimmungen erklärt werde, die das Geld noch nicht voraussetzen78, widerlege Marx fetischistische oder das Geld als „willkürliches Reflexionsprodukt der Menschen" fassende Erklärungsansätze der Genese einer unmittelbar austauschbaren Ware: Die Geldware als Gegenstand, worin alle anderen Waren ihre Werte darstellen, scheint ihre Eigenschaft als (allgemeine) Äquivalentform „unabhängig von dieser Beziehung als gesellschaftliche Natureigenschaft zu besitzen", womit die vermittelnde Bewegung [...] in ihrem eignen Resultat" verschwindet und „keine Spur zurück" lässt. Da Marx den Geldfetisch nur als weiterentwickelte, „sichtbar gewordne" Gestalt des Warenfetischs fasse, den er im ersten Kapitel dechiffriere, sei seine Klärung auf eine weitere Abstraktionsstufe verwiesen. Auch die „beliebte Aufklärungsmanier"79 das Geld als Reflexionsprodukt der Menschen durch un-/bewusste Gedanken der Einzelnen in einem imaginären vorgesellschaftlichen Zustand oder vertragstheoretisch durch bewusste Übereinkunft der Warenbesitzer zu erklären, muss nach Wolf scheitern: In der ersten Variante werde einem (und demselben) Gegenstand durch un-/bewusst im Kopf der isolierten Warenbesitzer ablaufende Denkakte die Eigenschaft unmittelbarer Austauschbarkeit und gesellschaftlicher Gültigkeit zugeschrieben. Ein gesellschaftlich Allgemeines sei aber vor dem gesellschaftlichen Kontakt der Einzelnen nicht aus ihren subjektiven kognitiven Leistungen heraus begründbar. Marx könne zudem 72 73 74 75 76 77 78 79

Vgl. Wolf 2004, S. 134. Wolf 2003, S. 12. Vgl. Wolf 2004, S. 92. Ebd., S. 48. MEW 42, S. 372 (MEGA II/1.2, S. 368). Wolf 2004, S. 48. Vgl. ebd., S. 96. Zitate der Reihenfolge nach: MEW 23, S. 106 (MEGA II/5, S. 57), S. 107 (II/5, S. 58), S. 107 (II/5, S. 58), S. 108 (II/5, S. 59), S. 106 (II/5, S. 57).

LOGISCH, HISTORISCH, DIALEKTISCH

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zeigen, dass die Interessenlage in der prämonetären Ausgangssituation des Austausche so viele allgemeine Äquivalente wie Waren(besitzer) hervorbringen und dies die Existenz eines tatsächlich allgemeinen Äquivalents ausschließen würde. In dieser Situation gebe es also „so viele allgemeine Äquivalente in den Köpfen der Warenbesitzer [...] wie Waren". Die zweite Variante einer vertraglichen, bewussten Verabredung zur Herstellung eines allgemeinen Äquivalents stelle „einen nachträglichen Versuch dar, das bereits Vorhandene unter Benutzung dessen zu erklären, was sich bereits mit dem Vorhandenen vor aller Augen sichtbar abspielt"80, nämlich der bewussten Beziehung auf das Geld als allgemeines Tauschmittel. Des Weiteren unterstelle sie die Einsicht in den Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit und die bewusste Herstellung dieses Zusammenhangs, setze also direkte Vergesellschaftung voraus, welche die Existenz von Ware und Geld gerade ausschlösse. Sowohl vertragstheoretisch-konventionalistische als auch subjektivistisch-psychologistische Wert- und Geldtheorien verfehlen nach Wolf die Konstitution der ökonomischen Formen im Kapitalismus als einem spezifisch gesellschaftlichen Verhältnis von Sachen (in das sie von Menschen unter bestimmten Bedingungen gestellt werden). Die in diesem Verhältnis an den Sachen stattfindende Realabstraktion von ihrem Gebrauchswertcharakter und die Darstellung des Werts im Gebrauchswert einer ausgeschlossenen Ware würden von o.g. Theorien in ein unmittelbares Verhältnis zwischen Menschen in Bezug auf eine Sache oder schlicht in die Psyche aller Einzelnen aufgelöst, wobei eine im Austauschprozess erfolgende Abstraktion nur als allen Einzelnen gleichermaßen, d.i. gesellschaftlich aufgenötigte Nominalabstraktion gedacht werden kann und die Naturwüchsigkeit dieses Prozesses in Gestalt des Unbewussten, in die Köpfe der Menschen verlagert, wieder auftauche81. Die wirkliche Konstitution von allgemeinem Äquivalent und Geld werde nun durch eine unbewusste gesellschaftliche Tat der Warenbesitzer vollzogen. Die Menschen ,handeln, bevor sie gedacht haben', sie ,wissen nicht', was sie da tun, aber ,sie tun es', so Marx. Ihre Unbewusstheit sei dabei „ein Nichtwissen über das [...], was im gesellschaftlichen Verhältnis der Sachen vor sich geht", über die Genese der ökonomisch-sozialen Eigenschaft der allgemeinen Austauschbarkeit der Geldware. Unbewusst meine hier also keinen dem Bewusstsein unzugänglichen psychischen Gehalt, in dem auf irgendeine mysteriöse Weise Wertformen konstituiert würden. Die gesellschaftliche Tat sei einerseits ein wirkliches Verhältnis der Akteure zueinander durch die Inbezugsetzung ihrer Arbeitsprodukte, also weder eine Form direkter Vergesellschaftung noch ein bloß innerpsychischer Akt, andererseits machten sich im bewusstseinsvermittelten Kontakt der Menschen „die ihnen unbewussten Bedingungen der Entstehung des Gesellschaftlich-Allgemeinen geltend". Bewusst bezögen sich die Akteure nur auf das Geld, das ihnen „aber nicht als Erscheinungsform des Werts" gegeben sei. Der Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert in den noch nicht preisbestimmten Waren der Ausgangssituation des Austausche, d.h. der „Widerspruch zwischen der individuellen und der gesellschaftlich allgemeinen Seite des praktischen Prozesses"82, der sich darin geltend macht, dass jeder Warenbesitzer seine Ware als allgemeines und alle anderen Waren als nur besondere Äquivalente betrachtet, finde seine Bewegungsform in der praktischen Hervorbringung eines allgemeinen Äquivalents, der realen Verdopplung von Ware(n) in Ware(n) 80 81 82

Zitate der Reihenfolge nach: Wolf 2004, S. 85, 136. Vgl. ebd., S. 33. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 33, 86, 175, 147.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

und Geld. Dieser Konstitutionsakt sei,unsichtbar' im alltäglichen Prozess der Warenzirkulation enthalten und werde von Marx durch gedankliche Abstraktion herausgearbeitet83. Das Resultat des Handelns der Warenbesitzer (im zweiten Kapitel) sei also durch ihnen unbewusste Bedingungen festgelegt, ihre Handlungslogik folge einem in ihre Handlungen immer schon eingelassenen Formzusammenhang gesellschaftlicher Sachen84: Die Produktionsverhältnisse nehmen im Kapitalismus den Charakter eines gesellschaftlichen Verhältnisses von Sachen an, eine gegenständliche Form, in der sich unbewusst der gesellschaftlich allgemeine Charakter der nützlichen Arbeiten herstellt. Das erste Kapitel des Kapital stelle dabei eine notwendige Abstraktion vom praktischen Verhalten der Wareneigner dar, eine „theoretische, gedachte"85 Beziehung der Waren aufeinander, in der die Genese ihrer spezifisch gesellschaftlichen Eigenschaften als Wertdinge bzw. als Geldding geklärt werde. Was hier z.B. in der Wertformanalyse ,sich entwickle' und .entstehe', das allgemeine Äquivalent, entstehe „durch einen logischen Schluss"86 des Wissenschaftlers, werde als logisch notwendig erwiesen, ohne dass damit dessen reale Entstehung, die nur Resultat des praktischen Verhaltens der Warenbesitzer sein könne, erklärt wäre. Marx gibt für diesen Abstraktionsstatus des ersten Kapitels, der von historisierenden bzw. „praxeologischen" Lesarten der Wertformanalyse verkannt wird87, tatsächlich eine Reihe expliziter Hinweise, so, wenn er erst zu Beginn des zweiten Kapitels anmerkt, dass die „Waren nicht selbst zu Markte gehn können"88 oder er die Differenz zwischen der gedanklichen und der praktischen Genese der Wertformen betont89. Auch das sog. ,Fetischkapitel', in dem die systematische Verkennung des Charakters der Reichtumsformen durch die Warenbesitzer erläutert wird, kann Wolf zufolge als Legitimation für das Absehen von den Akteuren im ersten Kapitel (Abschnitt 1 bis 3) verstanden werden90. Auch innerhalb des ersten Kapitels macht Wolf schließlich noch zwei Abstraktionsschritte aus. Es werde zunächst vom universellen Verhältnis aller Waren aufeinander abstrahiert, da „dasjenige, was im Verhältnis von Milliarden Arbeitsprodukten geschieht, auch im Verhältnis nur zweier Arbeitsprodukte geschieht"91. Schließlich werde auch noch von diesem Verhältnis zweier Waren abstrahiert. Die ,einzelne Ware' als Elementarform, im Sinne einer Einheit verschiedener Bestimmungen „abstraktestefs] Konkretum"92 der kapitalistischen Produktionsweise, sei Resultat dieser methodischen Operation, wobei zwar vom Warenverhältnis, nicht aber von dem, was die jeweilige Ware nur in diesem und durch dieses Verhältnis sei, abgesehen werde93. Zusammenfassend wird der jeweilige Gegenstand der ersten drei Kapitel des Kapital von Wolf wie folgt charakterisiert: „Das erste Kapitel hat zum Gegenstand [...] die durch das

83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93

Vgl. ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 51. M E W 13, S. 29 (MEGA W2, S. 121). W o l f 2004, S. 83. Vgl. dazu ausführlich Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit. M E W 23, S. 99 (MEGA II/5, S. 51). Vgl. M E G A II/5, S. 5 1 , 5 3 . Vgl. Wolf 2004, S. 55. W o l f 2005a, S. 16. W o l f 2003, S. 39. Vgl. ebd., S. 20f.

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LOGISCH, HISTORISCH, DIALEKTISCH

gesellschaftliche Verhältnis der Sachen bestimmte Struktur". Im zweiten wird ,¿lie durch das gegensätzliche Verhältnis zwischen Gebrauchswert und Wert bestimmte StrukturM der Warenbeziehung „und das dadurch bestimmte Handeln" analysiert. Im dritten Kapitel schließlich behandelt Marx die durch den „Gegensatz von preisbestimmter Ware und Geld bestimmte Struktur des gesellschaftlichen Verhältnisses der Sachen und das dadurch bestimmte Handeln"9*. Darstellungsebene Kapital (G-W-G') (Kapitel 4) Ö-

«f methodische Operation

4

Abstraktion vom Resultatcharakter der einfachen Zirkulation zwecks Erklärung des Kapitals

einfache Zirkulation (W-G-W): preisbestimmte Waren; Geld (Kapitel 3)

l

Abstraktion von Preis und Geld zwecks Erklärung derselben als bestimmter Formen der Austausch-

i^e^IÊÊÊÊÊBÊÊÊÊBtÊÊÊIÎÊÊÊÊtlÊIÊI Verhältnis der einfachen Waren als Einheiten von Gebrauchswert und Wert in der Ausgangssituation des Warentauschs (Kapitel 2) i

Abstraktion von den Warenbesitzern zwecks Erklärung des ihnen unbewussten Wesens der Austauschbarkeit

Verhältnis aller Waren als einfach bestimmte aufeinander (Kapitel 1) 1

Abstraktion vom universellen Warenverhältnis als methodische Vereinfachung

Verhältnis zweier Waren (Kap. 1) 1

,einzelne' Ware als abstraktestes Konkretum der kapitalistischen Produktionsweise (Kapitel 1)

Abstraktion von dem, was die jeweilige Ware nur im und durch den Austausch ist, zwecks analytischer Differenzierung von Gebrauchswert und

M

E

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(Tabelle: Abstraktionsstufen und -prozesse nach Wolf)

94

Wolf 2004, S. 55.

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1.3 Objekttheoretische Konsequenzen Bereits im letzten Kapitel konnte mehr als nur erahnt werden, dass die methodischen Differenzen, sowohl zwischen Historizismus und ,logischer' Deutung dialektischer Darstellung als auch zwischen analytischen und .hegelmarxistischen' Varianten der neuen Lesart, aufs engste mit objekttheoretischen Annahmen verbunden sind. Diese Annahmen betreffen keine Detailfragen, sondern gehören zum paradigmatischen Kern der jeweiligen Positionen. An ihnen ist abzulesen, was überhaupt als Gegenstand der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu gelten hat. Zunächst soll eine der wesentlichen Entdeckungen der neuen Marx-Lektüre, ihre Erkenntnis der Marxschen Theorie als monetärer Werttheorie, vorgestellt werden. Die in Kapitel 1.2 noch z.T. recht abstrakt anmutenden Rekonstruktionen der formgenetischen Methode werden in den folgenden Abschnitten nun sukzessive anhand der materialen Thematiken des Begriffs abstrakter Arbeit (1.3.1), der Untersuchung der Wertformen und des Austauschprozesses (1.3.2) sowie des Übergangs vom Geld ins Kapital (1.3.3) erörtert und präzisiert. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels (I) werden die zentralen Stationen rekonstruiert, die maßgeblich waren für den Weg der Marx-Rekonstruktion von der Konstatierung eines Widerspruches zwischen der Werttheorie von Marx und Engels bis hin zur Diagnose von Ambivalenzen in der Werttheorie der Marxschen Ökonomiekritik selber. Der zweite Abschnitt (II) beleuchtet in Gestalt eines Exkurses Kritiken am Modus der begrifflichen Darstellung einer monetären Werttheorie, während der dritte (III) alternative Formen eines Umgangs mit den Marxschen Ambivalenzen, oder dem, was dafür gehalten wird, innerhalb des Diskurses der neuen Marx-Lektüre aufzeigt.

1.3.1 Kritik prämonetärer Werttheorie - Abstrakte Arbeit, Wert und Geld I. Marx versus Engels und Marx versus Marx Es sind Hans-Georg Backhaus' Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie, die sich zuerst ausführlich den objekttheoretischen Implikationen einer konsequenten Formanalyse widmen. Im ersten Teil seiner Materialien aus dem Jahr 1974 kritisiert Backhaus erstmals Engels' historizistische Deutung der ersten drei Kapitel des Kapital als Theorie ,einfacher Warenproduktion', die bis zum Erscheinen von Helmut Reichelts Arbeit1 die Rezeptionsmuster der Marxschen Werttheorie geprägt habe. Er stellt fest, „daß von diesem fundamentalen Irrtum her die marxistische Werttheorie das Verständnis der Marxschen [...] blockieren mußte". In diesem Zusammenhang thematisiere die marxistische Tradition nicht die „innere Verschränkung" von Marx' Wert- und Geldanalyse und verbleibe so „auf dem Boden der vormarxschen Theorie". Die Grundlagenprobleme der marxistischen und bürgerlichen Nationalökonomie haben nach Backhaus „ein und denselben" Grund - den Ökonomismus im Sinne von Zur Kritik. Backhaus wirft damit der marxistischen Debatte um die Kategorien des Kapital nichts Geringeres vor, als in ihrem Kernbestand mit dem bisher 1

Gemeint ist Zur logischen Struktur (Reichelt 1973). Vgl. dagegen Kapitel 1.1 dieser Arbeit.

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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unerkannten Gegenstand der Ökonomiekritik übereinzustimmen. Daher sei die Marasche Werttheorie „in der Kritik der marxistischen und der bürgerlichen Wert- und Geldtheorie zu rekonstruieren". Diese Einschätzung markiert den bereits aus Zur Dialektik der Wertform bekannten Rekonstruktionsbegriff. Backhaus radikalisiert allerdings demgegenüber seine rudimentäre Popularisierungsthese, indem er konstatiert, die beständigen Fehldeutungen seien als Indiz dafür zu nehmen, „daß der Marasche Text aus sich heraus nicht verständlich ist". Noch werden daraus für den Rekonstruktionsbegriff aber keine Konsequenzen gezogen. Backhaus schwankt noch zwischen der Einschätzung einer „scheinbaren oder tatsächlichen Unbestimmtheit" 2 der Maraschen Grundbegriffe. In Teil zwei der Materialien von 1975 wird die These eines gemeinsamen theoretischen Bodens von marxistischer und bürgerlicher' Werttheorie weiter erläutert: Beide sind demnach bei der Einfuhrung ihrer Grundbegriffe auf eine „wirkliche oder fiktive Naturaltauschwirtschaft" bezogen und deshalb als „prämonetäre Werttheorien" zu kennzeichnen. Ihre Grundbegriffe seien einer „geldtheoretischen Fortbestimmung weder zugänglich noch bedürftig" 3 , was sich methodisch in einer nicht-dialektischen Strategie der Begriffsentwicklung niederschlage. In marxistischer wie bürgerlicher Politökonomie finden sich nach Backhaus deshalb auch die zwei - hier im letzten Kapitel behandelten - Methodenkonzepte des Historizismus und der Mythodologie, die eine empiristisch-reifikatorische und eine modelltheoretisch-fiktionalistische prämonetäre Werttheorie beinhalteten. Erstere knüpfe an Engels' Theorem einfacher Warenproduktion in der Form an, indem sie Marx' werttheoretische Aussagen als fiir vorkapitalistische Warenproduktion .vollgültig' erachte. Die von Backhaus angeführten Vertreter Ernest Mandel oder E. W. Iljenkow gehen dabei wie Adam Smith4 von der historischen Realität des Austausche von Waren durch bewusste Messung von Arbeitszeitmengen aus, betrachten die Bestimmungen des Anfangs des Kapital als Beschreibung einer „ökonomischefn] Wirklichkeit [...], die vor allen und außerhalb und unabhängig von allen Phänomenen existieren kann, die später auf ihrer Basis entstanden sind [...]. Diese Wirklichkeit ist der direkte Austausch einer Ware gegen eine andere" 5 . Begriffsentwicklung wird dem gemäß als Rekonstruktion einer realen historischen Entwicklung verstanden, die von dem einen äußeren zu einem anderen äußeren Wertmaß übergeht 6 . Die zweite Variante konzipiere die frühen Stadien wissenschaftlicher Darstellung als fiktive Modelle zwecks didaktischer Hinführung zur Komplexität moderner Vergesellschaftung und zur Verdeutlichung der .Auswirkungen' des Kapitals auf Gesetze einer solchen .Gesellschaft', in der die Arbeiter noch ihr Produkt zurückkaufen können, wobei die Kategorien , Wesen' und .Erscheinung' keine Rolle spielten. Beide Lesarten verkennen nach Backhaus, dass Marx mit dem Anspruch auftritt, „das Geld [...] begrifflich zu entwickeln" 7 und zugleich prämonetäre Werttheorien, wie sie von Smith, Ricardo oder Proudhon vertreten würden, einer Kritik zu unterziehen. Wert, so Backhaus, wird in der Klassik und bei ihren

2 3 4 5 6 7

Zitate der Reihenfolge nach: Backhaus 1997c, S. 69, 74, 80, 70, 70. Beide Zitate: Backhaus 1997d, S. 93. Darauf weist auch Jan Hoff (2004, S. 64f.) hin. Iljenkow 1970, S. 124 (zitiert in Backhaus 1997d, S. 114). Vgl. kritisch: Hoff 2004, S. 65. MEW 25, S. 203 (MEGA II/4.2, S. 267) (zitiert in Backhaus 1997d, S. 101).

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

utopisch-sozialistischen Erben lediglich als Regulator von Austauschverhältnissen zwischen Waren, nicht als im Geld notwendig erscheinendes Wesen begriffen 8 . Backhaus weist deutlich auf den konstitutiven Zusammenhang zwischen Engels' historischem Verständnis von Dialektik und seiner prämonetären, mit den Smithschen Fiktionen eines direkten, arbeitsmengenbestimmten Austausche von Waren zwischen Hirsch- und Bibeijägern9 operierenden, Werttheorie hin: Stehen die begrifflichen Mängel der unentwickelten Wertformen für reale Schwierigkeiten eines geldlosen Warentauschs, so wird diesen Kategorien ein empirischer Referent zugeordnet, Geld als konventionell eingeführtes, technisches Instrument zur Erleichterung des Austausche begriffen 10 , welches der Form Wert äußerlich ist, und Marx' Entwicklung der Geldform zur empirischen Hypothese über geschichtliche Prozesse uminterpretiert, die der historiographischen Illustration bedürfen11. Um die Berechtigung von Backhaus' These der vollständigen Identität zwischen der von Engels' Kommentaren ausgehenden und der klassisch politökonomischen Geldtheorie zu veranschaulichen, sei hier kurz näher auf die Argumentationsstrategie von Adam Smith in seinem Wealth Of Nations eingegangen. Nach Smith ist der ,wahre' Maßstab des Tauschwerts der Waren in einem „frühen und rohen Zustande der Gesellschaft"12 Arbeit, die nach den Kriterien von Zeit, Mühe und Qualifikation verglichen wird13. Diese Arbeit „war der erste Preis, das ursprüngliche Kaufgeld, welches für alle Dinge gezahlt wurde"14. Der Austausch gemäß einfacher Arbeitszeit, resp. -mühe, ist ein, wenn auch nicht ganz einfach, empirisch konstatierbarer, beobachtbarer15 Prozess geldlosen Warentauschs. Die Austauschenden wissen, wie mühevoll und zeitaufwendig jede austauschbare Produkte hervorbringende Arbeit ist16. Es sind empirische, pragmatische Probleme eines prämonetären Tauschs, die zur Einführung verschiedener Waren und schließlich einer Ware als Wertmaß führen: 1) Die Erreichung reziproker Bedürfnisbefriedigung ist im Tausch ohne allgemeines Tauschmittel nur schwer erreichbar. Wenn der Fleischer das Produkt des Bäckers, dieser aber nicht 8 9

10

11 12 13 14 15 16

Vgl. Backhaus 1997d, S. 95. Vgl. Smith 1776, S. 51. Bei Engels treten statt Hirsch- und Bibeijäger Schmied und Bauer auf, vgl. MEW 25, S. 907 (MEGA 11/14, S. 330f.). Vgl. Smith 1776, S. 34f.: „Wenn aber auch die Arbeit der wahre Maßstab des Tauschwerts aller Waren ist, so wird ihr Wert doch gewöhnlich nicht danach geschätzt. Es ist oft schwer, das Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Arbeitsmengen genau zu bestimmen" usw. „Auch verstehen die Menschen besser, was mit einer Quantität bestimmter Ware, als was mit einer Quantität Arbeit gemeint ist. Jenes ist ein einfacher handgreiflicher Gegenstand, dieses ein abstrakter Begriff'. Smith reflektiert dabei sogar im Gegensatz zu Engels auf das Reduktionsproblem, das für ihn aber ein bloß empirisches ist; vgl. MEW 25, S. 907fif. (MEGA II/14, S. 330ff.). Vgl. Backhaus 1997d, S. 1 lOf. Smith 1776, S. 51. Hier „gehört" noch „das ganze Arbeitsprodukt dem Arbeiter" (ebd.). Vgl. ebd., S. 34. Ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 31. „Wenn es z.B. unter einem Jägervolke zweimal soviel Arbeit kostet, einen Biber zu erlegen als einen Hirsch, so wird natürlich ein Biber zwei Hirsche wert sein oder dafür in Tausch gehen [...] Wenn die eine Art der Arbeit anstrengender ist als die andere, so wird natürlich eine Vergütung für die größere Mühe gewährt" (ebd., S. 51).

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dasjenige des Fleischers begehrt, „so könnte zwischen ihnen kein Tausch Zustandekommen". Daher „wird jeder kluge Mensch" einen Vorrat allgemein akzeptierter Tauschmittel anlegen. 2) Der Tausch mittels des wahren Wertmaßes Arbeit wird zunächst durch den mittels vielfaltiger Wertmaße ersetzt, weil es sich erstens „oft schwer" gestaltet, das Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Arbeitsmengen genau zu bestimmen" und weil zweitens Waren häufiger gegen andere Waren als direkt gegen Arbeit getauscht werden, es daher „natürlicher"17 ist, den Tauschwert nach der Menge anderer Waren zu messen, sowie drittens die meisten Menschen besser verstehen, was mit dem Quantum einer anderen Ware, als was mit dem von Arbeit gemeint ist18. 3) Im Vergleich zur Wertmessung in einer Reihe verschiedener Produkte ist die in einem Produkt, dem Geld, „natürlicher und leichter zur Hand". Der Fleischer sagt daher lieber, „das Pfund seines Fleisches sei drei oder vier Pence wert, als daß er sagt, es sei drei oder vier Pfund Brot oder drei oder vier Quart Dünnbier wert"19. Man findet hier bereits sämtliche Grundannahmen der traditionsmarxistischen Deutung von Wertformanalyse und Natur der Wertsubstanz wieder: Den Beginn mit einem historisch ursprünglichen, vorkapitalistischen Zustand20, in dem die Produktionsmittel noch den unmittelbaren Produzenten gehörten21 und der Tausch ihrer Arbeitsprodukte prämonetär mittels des empirischen, offen zutage liegenden22 Wertmaßes Arbeit vollzogen wurde23; die Konstitution von Wert durch Arbeitsmühe im vorsozialen Mensch-Natur-Verhältnis24; die empirische Gleichrangigkeit von innerem (wahrem) und äußerem (veränderlichem) Wertmaß25; die Entwicklung komplexerer Reichtumsformen als bewusste Reaktion auf reale Vergesell-

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Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 26, 27, 34, 34. Vgl. ebd., S. 34. Beide Zitate: Ebd., S. 35. Vgl. Engels in MEW 25, S. 20 (MEGA 11/15, S. 16) (einfache, vorkapitalistische Ware und Warenproduktion ist Ausgangspunkt Marxscher Betrachtungen) sowie Haug 1989, S. 123f. (Anfang des Kapital ist (historisch-)genetisch Erstes). Vgl. Engels in MEW 25, S. 905 (MEGA 11/14, S. 329) (Gegenstand sind selbstarbeitender Bauer und Handwerker als Eigentümer ihrer Produktionsmittel), S. 909 (11/14, S. 333) (Marxsches Wertgesetz gilt rein nur in dieser einfachen Warenproduktion). Erst nach der Einführung des Metallgeldes soll „die Wertbestimmung durch die Arbeitszeit nicht länger auf der Oberfläche des Warentausches sichtbar erschien[en]" (MEW 25, S. 909) (MEGA 11/14, S. 332) sein. Vgl. Engels in MEW 25, S. 907 (MEGA 11/14, S. 330) (zur Herstellung von Waren notwendiger Aufwand ist allen bekannt). Vgl. Engels in MEW 25, S. 907 (MEGA 11/14, S. 331) (Bauer und Handwerker sind nicht so dumm, ungleiche Arbeitszeiten auszutauschen, die mit der Uhr messbar und aus Erfahrung/ Anschauung bekannt ist), S. 908 (Notwendigkeit, auf seine Kosten zu kommen, macht aus Schaden klug) sowie Haug 1989, S. 113, 121 (Wertsubstanz abstrakte Arbeit als Naturprozess). Es gilt also auch für Engels, was Marx an Smith kritisiert: Er „versieht die objektive Gleichung, die der Gesellschaftsprozeß gewaltsam zwischen den ungleichen Arbeiten vollzieht, für die subjektive Gleichberechtigung der individuellen Arbeiten" (MEW 13, S. 45 (MEGA II/2, S. 136f.)). Vgl. Engels in MEW 25, S. 907, 909 (MEGA 11/14, S. 331f.) (zur Herstellung von Waren notwendiger Aufwand ist empirisch nachvollziehbar).

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schaftungsprobleme prämonetären Tauschhandels26, inklusive der Stufenfolge von real für sich existierenden, .entfalteten' Wertformen27 (x Fleisch = y Bier = ζ Brot usw.) hin zur handhabbareren und daher eingeführten allgemeinen Wertform; schließlich auch die methodische Abstraktion von ,störenden Zufälligkeiten' und die Herausarbeitung der ,Logik' eines historischen Prozesses28. Zwar herrscht nach Backhaus „keine Klarheit darüber"29, was begriffliche oder dialektische Ableitung des Geldes bedeutet. Weder der Status nichtempirischer Gesetze als , Wesensgesetze' noch das Verhältnis von Forschungs- und Darstellungsweise gelten ihm als geklärt30. Deutlich sei aber, dass Marx eine „Wesensdefinition"31 des Geldes angestrebt habe, die als rein logische Begriffsentfaltung jenseits der Beschreibung historischer Abläufe konzipiert sei. Was dies bedeuten könnte, wird von Backhaus nur im Anmerkungsapparat, im Anschluss an Klaus Hartmanns Ausführungen zur .transzendentalen' Problematik der Marxschen Werttheorie, angedeutet. Hartmann hält Marx' Werttheorie deshalb für transzendental, weil sie ihre Kategorien nicht sämtlich „,auf derselben Seinsebene'" ansiedle, sondern als .„Rekonstruktion der Ökonomie [...] aus [...] Prinzipien [...] einen Bereich von Phänomenen'" 32 erschließe. Hartmann geht offen gegen Engels' historische Lesart der Werttheorie vor: „,Die Engelssche Auffassung ist ein vulgärmarxistisches, historisch-vorstellendes Mißverständnis'"33. Er verbleibt aber, wie Backhaus zeigt, paradoxerweise auf derselben .vorstellenden' Ebene eines prämonetären Gegenstandsverständnisses, da er die Ware des Anfangs als .„anschaulichen, unmittelbaren Gegenstand' missverstehft]"34, dem eine Kennzeichnung der Wertformanalyse als Schilderung „.historisch frühe[r] Stadien der Ökonomie'" entspreche. Was Hartmann aber Backhaus zufolge zeigt, ist, dass eine realistisch verstandene prämonetäre Ware nicht fortbestimmbar ist, weil sie keine notwendigen Mängel aufweist und nur im Medium der .Vorstellung' mittels empirisch aufgenommener Kategorien erweiterbar ist35. Wird die Ware an sich zum isoliert existierenden Ding reifiziert, so lässt sich mithin eine immanente Entwicklung nicht mehr ausmachen und die Abfolge der Kategorien nur noch didaktisch rechtfertigen. Wert als von Hartmann sogenanntes ,Prinzip', 26

Vgl. Holzkamp 1974, S. 31, 33 (Entwicklung der Reichtumsformen als materielle Entwicklungsnotwendigkeit), S. 33 (auf die bewusst, aufgrund von Einsicht in diese Not-Wendigkeit, mit der Erfindung neuer Vergesellschaftungsformen reagiert wird); Haug 1989, S. 148f. (Lebensinteresse treibt Wertformentwicklung voran).

27

Vgl. Holzkamp 1974, S. 28 (Hinweis auf empirisch-historisches Vorkommen entfalteter Wertformen). Vgl. Engels in MEW 13, S. 475 (MEGA II/2, S. 253) (logische Methode = historische, unter Absehung der störenden Zufälligkeiten) sowie Holzkamp 1974, S. 11, 31 (Gegenstand sind Entwicklungslogiken historischer Progression) und Haug 2004, Sp. 342 (Genetisches als modellhaft begriffenes Historisches).

28

29 30 31 32 33 34 35

Backhaus 1997d, S. 95. Vgl. ebd., S. 98f. Ebd., S. 112. Hartmann zitiert nach Backhaus 1997d, S. 119. Backhaus bezieht sich auf Hartmann 1968, 1970. Hartmann zitiert nach ebd. Ebd. Vgl. ebd.

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OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

das ein ,transzendentales' Nacheinander „,seinsmäßig simultanefr]'" 36 Kategorien anzeigt, ist so nicht mehr zu rechtfertigen. Mit dieser Kritik trifft Hartmann, Backhaus zufolge, allerdings nicht Marx, sondern den Marxismus 37 . Der 1978 veröffentlichte dritte Teil der Materialien beginnt mit einer Revision des Rekonstruktionsbegriffes der ersten beiden. Dort ging Backhaus nach eigenen Angaben noch von einem klaren „Zwei-Schichten-Modell" aus, das zunächst einen Widerspruch zwischen .esoterischer' Marxscher und ,exoterischer' marxistischer Gegenstands- und Methodenkonzeption behauptete sowie die Ambiguität Marxscher Formulierungen als bloß scheinbare unterstellte. Uneindeutigkeiten im Marxschen Text, die der Orthodoxie Nahrung lieferten, wurden als Resultate „eines didaktischen Mißgeschicks" interpretiert. Nach der Re-Lektüre bisher ignorierter Textstellen müsse nun einerseits der Methodenstreit zwischen logischer und historischer Lesart stärker in den Blick genommen und andererseits postuliert werden, dass ,,[e]rst die Erkenntnis gewisser Zweideutigkeiten [...] ein adäquates Bild der Marxschen Werttheorie" vermittle. Gegen die Eindeutigkeits- und Einheitlichkeitsbehauptungen der alten wie der neuen Orthodoxie müsse die Aufmerksamkeit auf reale Ambivalenzen und Widersprüche im Marxschen Werk gelenkt werden, um die Hypothese einer konzeptionellen (nicht nur didaktischen) „Unsicherheit Marxens" zu prüfen. Dabei geht Backhaus über Althussers These einer Überlagerung von Marx' wissenschaftlicher Revolution durch einen inadäquaten Metadiskurs, den er im Gegensatz zum strukturalen Ansatz aber gerade nicht im Hegelianismus erblickt, hinaus und identifiziert ambivalente und „heterogene" 38 Elemente in den materialen Analysen des Kapital selbst 39 . Die Entwicklung der kritisch-rekonstruktiven Debatte kann damit bis hierher wie folgt veranschaulicht werden: traditionelle Lesart der Marxschen Theorie

Marx = Engels (einheitliches Paradigma, geschlossene .Weltanschauung')

Stufen der kritisch rekonstruktiven Lesart 1. Stufe: z.B.: Backhaus (.Materialien 1. und 2. Teil) 2. Stufe: z.B.: Althusser (Kapital lesen); A. Schmidt; Backhaus (Materialien) 3. Stufe: z.B.: Backhaus (Materialien 3. und 4. Teil)

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Engels —* exoterisch vs. Marx —* esoterisch Marx —> Metadiskurs exoterisch vs. Marx —• Realanalysen esoterisch Marx —• Metadiskurs exoterisch/ esoterisch Marx —> Realanalysen exoterisch/ esoterisch

Hartmann zitiert nach ebd. Vgl. ebd., S. 120. Zitate der Reihenfolge nach: Backhaus 1997e, S. 132, 133, 133, 132, 145. Vgl. ebd., S. 144f., 155f„ 162, 191, 193.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Backhaus spricht von einer „Pattsituation" der sich widersprechenden logischen und historischen Methodenansätze im Marxschen Werk selbst und entdeckt darin die wesentliche Ursache für den bereits erörterten „Trialismus marxistischer .Kapital'-Interpretationen". Zwar unterscheiden sich demnach ,,modellplatonistisch[e]" und historische Ansätze darin, dass erstere prämonetäre Tauschakte als fiktive Modelle auf meist nutzentheoretischer Grundlage begreifen, während letztere von der realen Existenz solcher Praktiken ausgehen. Doch beiden gilt „die ,Naturaltauschwirtschaft' [...] als das ,Wesen' der Geldwirtschaft"40, beide fassen Wert ausgehend von unmittelbaren Interaktionen oder vorsozialen Mensch-DingRelationen und beide können den Zusammenhang zwischen innerem (.Arbeit' oder .Nutzen') und äußerem Wertmaß (,abstrakte Recheneinheit' Geld) nicht begrifflich entwickeln ihnen gilt die .Erscheinung' als kontingent hinzutretender ,Geldschleier'41. Einen „nichttrivialen Aussagegehalt" gewinnt die Wertformanalyse Backhaus zufolge dagegen nur als Kritik prämonetärer Werttheorien, die wiederum nur auf Grundlage einer logischen Rezeption identifiziert und expliziert werden könne. Marx weist demnach den Begriff einer prämonetären Ware als ,,denkunmögliche[n]" aus und rekonstruiert das notwendige Scheitern „eines Austauschprozesses prämonetärer Waren". Es geht dabei um den Nachweis des Sachverhalts, dass „Wert [...] nicht als eine für sich existierende prämonetäre Substanz gedacht werden [kann], die äußerlich auf ein Drittes, genannt Geld, bezogen ist". Die Gesetze einer solchen monetären Werttheorie sind, wie nach Backhaus Grundrisse und Zur Kritik zeigen, .„logisch', aber durchaus nicht ,logisch-historisch' abgeleitet". Bei Marx sei nun aber, insbesondere im Rahmen der Wertformanalyse, ein schleichender „Prozeß der ,Historisierung' des ,Logischen'" 42 von den Grundrissen bis hin zur Zweitauflage des Kapital festzustellen43, womit gegen die logizistische „Eindeutigkeitsthese" erwiesen sei, dass, was die reine Textlage angehe, „die ,logisch-historische' Interpretation des Kapital nicht aus der Luft gegriffen ist"44. Diese wird nun aber als unhaltbar45 bestimmt: Sie umschiffe zielsicher die Hinweise auf eine logische Vorgehensweise, könne die kritische Stoßrichtung der Wertformanalyse gegenüber bürgerlichen Ansätzen nicht einmal benennen, weil sie sich vollständig auf deren Terrain bewege und löse nicht einmal ihren eigenen Anspruch ein - denn anstelle historischer Untersuchungen zur Geldgenese stünden reine a priori-Konstruktionen vermeintlicher Wirtschaftsgeschichte. Die Entwicklung von Zur Kritik bis zur Zweitauflage des Kapital sei also als Fehlentwicklung zu kritisieren und zu korrigieren". Der Versuch einer inhaltlichen Einlösung dieses neuen Rekonstruktionsvorhabens anhand der Marxschen Texte wird allerdings von Backhaus nicht unternommen. So geradezu ermüdend dauerhaft im Programmatischen verbleibend Backhaus' Materialien auch sind, so treffend ist seine Kritik an der Gestalt einer sich in der ersten Hälfte der 70er Jahre herausbildenden ,Neo-Orthodoxie'. Zunächst engt Backhaus die Genese der

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Zitate der Reihenfolge nach: Backhaus 1997e, 135, 139, 145, 147. Vgl. ebd., S. 148. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 154, 1 5 0 , 1 5 0 , 2 1 2 , 1 5 5 . Vgl. ebd., S. 155f., 157, 160, 182, 178, 193, 195, 197. Vgl. dagegen die Thesen von Kittsteiner in Kapitel 1.2.1 dieser Arbeit. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 159, 155. Vgl. ebd., S. 155, 163-169, 188,207.

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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,,neue[n] ,Kapital'-Lektüre" 46 auf den ,Umkreis der Frankfurter Schule', genauer, einen 1964 gegründeten Arbeitskreis am Frankfurter Institut für Politikwissenschaft, ein47, was höchstens gegen den Mythos, die neue Marx-Lektüre sei im Gefolge der Studentenbewegung entstanden48, seine Berechtigung hat. Auch Hans-Jürgen Krahl, Adorno-Schüler und Protagonist der 68'er Revolte, habe sich nur oberflächlich mit Marx' ökonomiekritischen Intentionen auseinandergesetzt49. Die neue Lesart verhalte sich gegenüber Marx und Engels nun ,,zwiespältig[...]": Sie genere sich ,orthodox' gegenüber der Marxschen Ökonomiekritik und .revisionistisch' gegenüber bestimmten „philosophischen Leitvorstellungen" von Marx und Engels (was übrigens, wie in Kapitel 1.1 gezeigt, zunächst auch auf Althusser zutrifft). Als ,logische' Deutung der Kritik der politischen Ökonomie könne sie derart eine „neue[...] Orthodoxie" genannt werden. Aus dem anfanglich antidogmatischen Impetus habe sich nun aber ein gegenüber dem Traditionsmarxismus spiegelverkehrter neuer Dogmatismus entwickelt: „Der Text des ,Kapital' gilt als sakrosankt, seine hundertjährige Wirkungsgeschichte hingegen als die [...] eines von Engels und Lenin in die Welt gesetzten großen Irrtums". Als kritikable Elemente der Neo-Orthodoxie gelten dabei zunächst ihre „Eindeutigkeitsthese" und die daraus folgende „Dissensthese"50: Marx habe seine logische Methode klar und deutlich vorgebracht, Engels u.a. sie dagegen vollkommen missverstanden51. Die Ursachen dafür blieben im Dunkeln. Dies impliziere nun eine „naive Selbsttäuschung": Man behaupte, im Gegensatz zur Tradition Marx eben intensiver studiert zu haben. Der Bruch mit der „mehr als siebzigjährigen Wirkungsgeschichte und Lehrtradition" werde, so er denn überhaupt reflektiert werde, aus der vermeintlichen Unmittelbarkeit der neuen Textlektüre heraus erklärt. Dabei, so Backhaus, stünden die hermeneutischen Einheitlichkeits-, Eindeutigkeitsund Unmittelbarkeitsbehauptungen der „marxistischen ,Lutheraner'" 52 im eklatanten Widerspruch zu ihrer systematischen Ausblendung irritierender historizistischer Passagen in den Marxschen Texten53. Sie nähmen es „gelegentlich nicht gar so genau mit dem ,Wort'" 54 . 46 47 48

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Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 178, 138. Vgl. ebd., S. 216 (Anm. 10). Vgl. auch Kallscheuer 1986, S. 229, der die Nicht-Identität von Studentenbewegung und westdeutschem Neomarxismus betont: „Zur expliziten Herausbildung neomarxistischer ,Schulen' kommt es nämlich [...] erst nach dem Höhepunkt der Oppositionsbewegung". Während Backhaus also den Beginn wenigstens einer dieser .Schulen' vor die Studentenbewegung datiert, vertritt Kallscheuer die gegenteilige Position. Vgl. Backhaus 1997e, S. 216 (Anm. 10); vgl. auch Kirchhoffu.a. 2004, S. 13. Zitate der Reihenfolge nach: Backhaus 1997e, S. 138, 138, 138, 159. Das scheint sich eher auf Backhaus selbst zu beziehen, denn eine derart klare Engels-Kritik ist bis zu den Texten von Backhaus (1974) und Kittsteiner (1977) kaum auszumachen. Zitate der Reihenfolge nach: Backhaus 1997e, S. 158, 221 (Anm. 38), 162, 208. Backhaus rekurriert auf die Lutheranische Theorie der Bibellektüre, die die Schrift als einheitliches, sinnvolles Ganzes ansieht und den unmittelbaren Wortsinn gegen die mehrfach geschichteten Bibelauslegungen der kirchlichen Tradition in Anschlag bringt. Die Schrift gilt Luther dabei als ,sui ipsius interpres' und ermöglicht so ein Bibelverständnis ohne Orthodoxie und ihre professionellen Verwalter (vgl. Grondin 1991, S. 52ff.) Vgl. näher zu Backhaus' Historisierungs- und Popularisierungsthese und deren Plausibilität: Kap. 1.3.2 dieser Arbeit. Backhaus 1997e, S. 208.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Letztlich werde die Zulässigkeit einer Geltungsreflexion von Marxschen Aussagen mit dem Argument der Untrennbarkeit von Methoden- und Gegenstandsproblematik 55 , mittels bloßer Glaubensbekenntnisse oder gar simpler Klassenherkunfts-Zuordnungen 56 bestritten. Resultate seien mithin „politisch und intellektuell monadologisch abgeschlossene[...] Gruppenmarxismen", die zu einer „Diskreditierung wissenschaftlicher Marx-Lektüre [...] führen müssen . Besondere Beachtung verdient schließlich auch Backhaus' Reflexion der politischen Implikationen der Wertformanalyse-Rezeption. Eine sozialistische Warenproduktion' wird, wie bei Kittsteiner ein Jahr zuvor, ausgehend von der Marxschen Werttheorie als „ein Unbegriff ' gekennzeichnet. Marx fasse nicht bloß den Mehrwert, sondern schon die Wert-Form an sich als historisch-spezifische und erkläre Wert, Preis und Geld aus dem „Gegensatz von privater und gesellschaftlicher Arbeit". Werde dieser Gegensatz aufgehoben, so könne das nur die Abschaffung jener Formen bedeuten. Ihre systematische Fortexistenz ist nach Backhaus daher mit dem Marxschen Ansatz in keiner Weise vermittelbar. Da im ,Realsozialismus' diese Formen auffindbar seien, aber behauptet werde, es existiere eine „planwirtschaftliche Koordination von Einzelarbeiten", so bleibt Backhaus zufolge nur, Marx' Werttheorie als falsifiziert anzusehen oder die Existenz derart gegensätzlicher Vergesellschaftungsbedingungen auch im Realsozialismus anzunehmen, was aber eine Präzisierung des Begriffs privater Arbeit nach sich ziehen müsse, sodass „sich unter ihn auch noch die individuellen Arbeiten genossenschaftlich organisierter Planwirtschaften subsumieren lassen" 57 . Backhaus selber postuliert gegen die legitimatorische Begriffsakrobatik des ML nun aber gerade die ,,Engelssche[...] bzw. linksricardianische[...] , Stundenzettel'-Doktrin [als] den wesentlichen Inhalt der Formanalyse" 58 von Marx. Ober er mit der Gegenüberstellung von Arbeitsmengenrechnung in Planwirtschaften einerseits und illegitimer Theorie sozialistischer Warenform andererseits nicht selber einer Ontologisierung des Wertsubstanz-Begriffs aufsitzt, wird uns in der Debatte um den Begriff abstrakter Arbeit noch näher beschäftigen. Erst im vierten Teil aus dem Jahr 1978/79, der bis 1997 unveröffentlicht geblieben ist, formuliert Backhaus erste, immer noch skizzenhafte, Ansätze zu einer kritischrekonstruktiven Auseinandersetzung mit den Marxschen und Engelsschen Texten. Er geht davon aus, dass Marx' Rohentwurf von 1857/58 den .logischen' und Engels' Nachtrag zum dritten Band des Kapital den .historischen' Extrempol der Methodenkonzeption repräsentieren. Logisches und historisches Verfahren seien aber keineswegs, wie in der Orthodoxie behauptet, als Pole eines dialektischen Verhältnisses zu beschreiben, sondern werden als sich logisch ausschließend charakterisiert59. Backhaus zeichnet nun minutiös Stadien der Engelsschen Rezeption der Marxschen Schriften nach und deutet seine „Mißverständnisse und Verzerrungen" als „Zerrspiegel" und „Vergrößerungsglas" 60 zugleich, mit denen sich reale Ambivalenzen bei Marx auffinden ließen. Daneben findet Backhaus allerdings auch zwei antihistorizistische methodologische Reflexionen zur Marxschen Kritik aus der Feder 55 56

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Vgl. ebd., S. 217. Vgl. ebd., S. 214f. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 217, 170, 175, 175, 177. Backhaus 1997f, S. 266. Vgl. Backhaus 1997e, S. 173f. Vgl. Backhaus 1997f, S. 229f. Ebd., S. 249.

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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von Engels im Konspekt zur Erstauflage des Kapital, in denen die Ware des Anfangs mit der hegelianischen Wendung „Ware an sich" gefasst wird. Backhaus' positive Ausführungen zur Problematik einer monetären Werttheorie bei Marx sind recht kursorisch: Anhand der aporetischen Wertform IV der Erstauflage62, die wiederum als Explikation des Satzes gilt, dass sich eine Ware im selben Wertausdruck nicht zugleich in relativer Wertform und Äquivalentform befinden kann63 sowie anhand der Schilderung des Scheitems eines prämonetären Warentauschs zu Beginn des zweiten Kapitels, wird die These formuliert, Marx gehe es im ,esoterischen' Teil des Kapital um den Nachweis der ,J)enkunmöglichkeit" einer prämonetären Ware, bzw. des „Austauschprozesses prämonetärer Waren"64. Da erst durch das Verhältnis aller Waren auf das Geld sich diese aufeinander als Wert beziehen können65, was Marx noch in der Zweitauflage des Kapital deutlich formuliert66, sei „die wirkliche Ware immer nur die preisbestimmte oder aber die Geldware"67. Die Ware ,an sich' des Anfangs der Darstellung könne daher auch nur als begrifflich unterbestimmte Ware einer Ware-GeldRelation verstanden werden68. Ein Austausch ohne Geld, auch darauf weise noch die Zweitauflage hin, sei nur als ,Tausch' von Produkten, nicht von Waren denkbar69. Auf Marx' Werttheorie als Kritik prämonetärer Werttheorie gehen im Laufe der 70er und 80er Jahre eine Reihe von Arbeiten70, meist mit explizitem Bezug auf Backhaus, ein. Die im vierten Teil der Materialien angerissene Argumentation wird aber insbesondere in den Arbeiten von Helmut Brentel und Michael Heinrich entfaltet und soll im Folgenden systematisch erläutert werden. Es wird sich aber erst in einem weiteren Durchgang durch die Diskussion - nämlich der Frage des Verhältnisses von Wertformanalyse und Geldbegriff zeigen, ob der im vierten Teil von Backhaus im Anschluss an Habermas eingeführte, radika-

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Vgl. MEW 16, S. 208, 245 (zitiert in Backhaus 1997f, S. 238, 290). Vgl. MEGA II/5, S. 43. Vgl. dazu sowie zu Backhaus' weiteren, im vierten Teil formulierten Popularisierungsthesen: Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit. Vgl. MEW 23, S. 63 (MEGA II/6, S. 82); Backhaus 1997f, S. 285. Zitate der Reihenfolge nach: Backhaus 1997f, S. 285, 287. Vgl. ebd. Vgl. MEGA II/6, S. 117. Backhaus 1997f, S. 288. Vgl. ebd., S. 291. Vgl. ebd., S. 286. Vgl. MEW 23, S. 101 (MEGA II/5, S. 53): „Sehn wir näher zu, so gilt jedem Warenbesitzer jede fremde Ware als besondres Äquivalent seiner Ware, seine Ware daher als allgemeines Äquivalent aller andren Waren. Da aber alle Warenbesitzer dasselbe tun, ist keine Ware allgemeines Äquivalent und besitzen die Waren daher auch keine allgemeine relative Wertform, worin sie sich als Werte gleichsetzen und als Wertgrößen vergleichen. Sie stehn sich daher überhaupt nicht gegenüber als Waren, sondern nur als Produkte oder Gebrauchswerte". Vgl. Kittsteiner 1977, S. 38f.; Fischer 1978, S. 59, 64-72, 91, 95; Kocyba 1979, S. 76; Göhler 1980, S. 93, 97f, 132, 147. Hier tauchen aber noch durchaus eine Reihe von Inkonsequenzen in der Argumentation auf. So geht bei Göhler, wie gezeigt, die Kritik prämonetärer Werttheorie mit einer logisch widersprüchlichen Darstellungsweise einher oder referiert Fischer unkommentiert, dass Marx den unentwickelten Wertformen „geschichtliche^..] Epochen" zuordnet (vgl. Fischer 1978, S. 171 (Anm. 26)).

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

lisierte Rekonstruktionsbegriff71 eine sinnvolle Rolle bei der Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk und dessen inhaltlichen Problemen spielt. Bereits an dieser Stelle kann aber konstatiert werden, dass Backhaus', in Anlehnung an F.O. Wolf formalistisch' 72 zu nennender, Rekonstruktionsbegriff das Feld einer Popularisierungskritik, ja eigentlich auch das einer Rekonstruktion verlässt. Dieser legt nämlich nahe, nicht mehr von im Marxschen Werk existenten und rekonstruierbaren konsistenten Argumentationsmustern73 oder sich überlappenden bzw. durchmischenden Diskursen74 auszugehen, sondern mit anderen theoretischen Mitteln Bruchstücke aus der Kritik der politischen Ökonomie neu zu gruppieren, um die dort formulierten Probleme zu lösen. Nicht von ungefähr stammt Backhaus' radikalisierter Rekonstruktionsbegriff, der eigentlich ein Konstruktionsbegriff ist, ursprünglich von Jürgen Habermas, der sich derart an eine .Rekonstruktion' des historischen Materialismus mittels systemtheoretischer, aus der kognitiven Entwicklungspsychologie stammender und sprechakttheoretischer Ansätze gemacht hat. Helmut Brentels Beitrag darf als einer der elaboriertesten Versuche gelten, den Gehalt der Marxschen Formanalyse zu explizieren. Dies geschieht auf der Ebene einer Klärung des Begriffs des Werts als Form sowie einer ausführlichen, an Hans-Georg Backhaus wie Dieter Wolf zugleich orientierten, Rekonstruktion der monetären Intentionen der Wertformanalyse. Brentel spricht zunächst von einem „doppelten Gebrauch" des Terminus ,Wertgesetz' bei Marx. Das ,¿uprahistorische , Wert '-Gesetz"15 bezeichne den gesellschaftlichen Charakter konkreter Tätigkeiten in arbeitsteilig verfassten Gesellschaften, die stoffliche Abhängigkeit der Arbeiten voneinander und die proportionale Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit auf die einzelnen Produktionssphären76. Nur in diesem Sinne eines Gesetzes des generellen Vergesellschaftungszwangs arbeitsteiliger Produktion wie der proportionalen Verteilung derselben kann danach vom ,Inhalt' 77 bzw. ,Wesen' 78 gesprochen werden, von dem eine historisch-spezifische ,Form' bzw. Erscheinungsweise' dieser Vergesellschaftung zu unterscheiden ist. Auch wenn Brentel die unglückliche Marxsche Ausdrucksweise übernimmt, bzw. noch verschärft, stellt er doch klar, dass der , Inhalt' im genannten Sinne absolut verschieden von der Kategorie der ,Wertsubstanz' ist. Diese sei selbst als ,Form', als eben historisch-spezifische Weise der Vergesellschaftung der konkreten Arbeiten zu fas-

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Rekonstruktion bedeutet [...], daß man eine Theorie auseinandernimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das Ziel, das sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen" (Backhaus 1997f, S. 297; dieser zitiert Habermas 1990, S. 9). Vgl. F.O. Wolf 2003. Vgl. Kühne 1995, S. 18, 123 (Anm. 86). Vgl. Heinrich 1999, S. 17. Zitate der Reihenfolge nach: Brentel 1989, S. 134, 137. Auf diesen formationsübergreifenden Sinn der Marxschen Rede vom ,Inhalt der Wertbestimmung' (Brentel weist auf folgende Stellen bei Marx hin: MEW 23, S. 85 (MEGA II/6, S. 102); 19, S. 375; 32, S. 552f.) hatte bereits Rubin (1975, S. 45f.) aufmerksam gemacht. Vgl. MEW 23, S. 85 (MEGA II/6, S. 102). Vgl. MEW 32, S. 552f.

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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sen79. Auf der Ebene des Historisch-Spezifischen sind nach Brentel80 drei Formdimensionen zu unterscheiden: Die „kapitalistische Gesellschafts-Form" (Form III) bezeichnet die aus dem Klassenverhältnis zwischen Kapital und Lohnarbeit resultierende universelle Form privat-arbeitsteilig organisierter Produktion, die Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit als antagonistischer „Grund ökonomischer Form [...], spezifische - widersprüchliche - Weise, durch die Arbeit als zur Gesamtarbeit erst zu vermittelnde gesetzt ist". Aus diesem Grund resultieren nun die ,Substanz', die Gegenständlichkeit' und die ,Form' des Werts: Die Wertsubstanz und der Wert als ihre Gegenständlichkeit (Form I) als spezifische Vermittlungsform dissoziierter Privatarbeiten bzw. -produkte, „Form der Einheit gesellschaftlicher Arbeit unter den Bedingungen ihrer systematischen Divergenz"81, sowie die notwendig gegenständliche Existenzweise dieser .Gegenständlichkeit', die Wertform (Form II) Geld. Formanalytik bestimmt Brentel als Erklärung der Konstitution des Werts (Form I als Vermittlungsform isolierter Privatprodukte) und seiner Formen {gegenständlichen Existenzweisen im Sinne von Form II) aus den spezifischen, widersprüchlichen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit (Form III), somit als Dechiffrierung dinghaft erscheinender Formen als Formen sozialer Synthesis unter historisch-spezifischen Bedingungen. Aus Brentels Ausführungen lässt sich also ein kleiner Katalog spezifizierter Formbegriffe, bzw. ihrer begrifflichen Korrelate erstellen: Soziale Form I: Historisch-spezifische Art und Weise des gesellschaftlichen Zusammenhangs der Arbeiten und Arbeitenden. Insofern ist sowohl die Wertsubstanz als auch ihr Produkt, der Wert, soziale Form. Soziale Form II: Historisch-spezifische Existenzweise der sozialen Form I - ihre gegenständliche Repräsentation in dem Wertformen (Formen des Werts). Formbestimmtheit I: Historisch-spezifische strukturelle Bestimmtheit eines Inhalts, z.B. Struktur einer Handlung, gesellschaftliche Eigenschaft eines Gegenstands. Formbestimmtheit II: Bestimmtheit der Form (des Reichtums) durch ihren Grund (ein ihr zugrundliegendes Produktionsverhältnis i.S. der Vergesellschaftungsbedingung der Arbeit). Die Form als einfache kann nur als einfache erscheinen aufgrund eines real vorausgesetzten komplexeren Verhältnisses. Formgehalt/ -inhalt: Nicht das Wie, sondern das Was der Vergesellschaftung. Im Falle der Form Wert: der Gebrauchswert als das durch den Wert Vergesellschaftete. Der Formgehalt kann noch durch die Form selbst geprägt sein (z.B.: reell subsumierter Arbeitsprozess) oder, wie im Falle der Rechtsform, ein Inhalt sein, der selber Form mit bestimmtem Inhalt ist, nämlich ökonomisches Verhältnis, dessen Form dann die Rechtsform darstellt, welches sie regelt. Substanz: Der historisch-spezifische Prozess, der die Form (z.B. Wert) hervorbringt.

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Auch Heinrich Brinkmann macht auf die ,Entdinglichung' des Substanzbegriffs bei Marx aufmerksam. Er treibt diese These allerdings in das erzeugungsidealistische Extrem der These, Marx habe „als die Substanz der verschiedenen Produkte [!] den Wert, bzw. die abstrakte Arbeit bestimmt" (Brinkmann 1975, S. 78). Auch hier implizit an Rubin anknüpfend, nämlich an seine Differenzierung in Produktionsverhältnis, abstrakte Arbeit/ Wert, Tauschwert. Vgl. Rubin 1975, S. 48f. Zitate der Reihenfolge nach: Brentel 1989, S. 154, 160.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Soziale Form III/ Grund: Historisch-spezifische Vergesellschaftungsóeí/wgwwge« der Arbeit, die die Arbeiten bzw. Arbeitsprodukte in ein durch eine spezifische Form (I) zu verbindendes Verhältnis setzen. Im Kapitalismus: Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln und der privat-isolierten Produktionseinheiten voneinander, die durch den Wert als Form (I) und seine Existenzformen (II) in einer diese Trennung reproduzierenden Weise vermittelt werden. Bezüglich Marx' Thematisierung des sozialformations-unspezifischen Vergesellschaftungszwangs arbeitsteiliger Produktion ist Brentels Aussage interessant, diese impliziere eine „ideale Gleichgewichtsaussage in bezug auf die Gesamtreproduktion gesellschaftlicher Einheiten"82. Leider wird dieser Gedanke nicht weiter verfolgt. Es tauchen dabei nämlich Fragen auf, die auch an eine Systemtheorie der Gesellschaft und ihre Zielbestimmung der Selbsterhaltung systemischer Einheiten gestellt werden können. Diese, z.B. von Habermas83 oder Giddens84 aufgeworfenen Fragen, werden im marxistischen Kontext m.W. nur von Helmut Reichelt85 angerissen. So etwas wie eine Diskussion dieser Fragen - welche ,Einheit' erhält sich und was ist das Kriterium für ,Selbsterhaltung'? - bezüglich des von Marx postulierten .Naturgesetzes gesellschaftlicher Produktion' ist aber nicht einmal in Ansätzen vorhanden. Man kann zwar, wie Reichelt, die These formulieren, dass nur für kapitalistische Gesellschaftsformationen ein objektives Kriterium der Selbstreproduktion angebbar ist86 die intertemporale Existenz des Werts als formationsspezifisches Kriterium sozialer Synthesis - , wie ist das aber für Gesellschaften möglich, die ihre Produktionsweise nicht weitgehend jenseits normenregulierter Interaktionen, in einer ,entbetteten' Sphäre also, organisiert haben? Hier ist nicht nur kein .nacktes Überleben' bestimmbar, hier ist Bestandserhaltung zudem an normative Deutungsmuster (der jeweils Herrschenden?) gebunden87. Schleicht sich also bei Marx' Rede von den „verschiednen Bedürfhismassen entsprechenden Massen von Produkten", die „verschiedne und quantitativ bestimmte Massen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erheischen" ein Krypto-Normativismus ein? Von wessen Bedürfnissen ist hier die Rede? Ist das Kriterium der Verhältnismäßigkeit auf alle Gesellschaftsmitglieder zugeschnitten? Von welchen Bedürfhissen ist die Rede? Nur von denen, die das „Verrecken"88 vermeiden wollen? Man könnte versuchen, diesen formations-übergreifenden Sachverhalt auf unproblematische Weise zu formulieren. Übrig bliebe dann m.E. erstens der Vergesellschaftungszwang arbeitsteiliger Produktion schlechthin und zweitens das Vorhandensein von Bedürfnis-, Produkt- und Arbeitsmengen, die in einem ex post als proportional bestimmbaren Verhältnis zueinander stehen. Problematisch dagegen ist die Annahme, dass der Zweck gesellschaftlicher Reproduktion, ungeachtet ihrer Form, der .Erhalt' ,der' Gesell-

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Brentel 1989, S. 134. Vgl. Habermas 1971, S. 149-153. Vgl. Giddens 1992, S. 288-292. Vgl. Reichelt 2000, S. 105. Wobei sich die .proportionale Verteilung' der Gesamtarbeit hier gerade in Form eines „Disproportionalitätsverhältnisfses]" durchsetzt (MEW 4, S. 95, zitiert in Brentel 1989, S. 221), als naturwüchsiger Prozess, in dem sich das Maß gesellschaftlich notweniger Arbeit unkoordiniert über den Markt vermittelt herstellt. Vgl. Habermas 1971, S. 151. Beide Zitate: MEW 32, S. 552.

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schaft89 durch Bedürfnisbefriedigung ihrer Individuen sei. Exemplarisch dafür sind Äußerungen Dieter Wolfs über die formations-unspezifische Struktur der Vergesellschaftung von Arbeit: „In der proportioneilen Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit wird [...] stets die insgesamt zur Verfugung stehende Arbeitszeit so auf die einzelnen Produktionszweige verteilt, dass die wechselseitige Befriedigung der Bedürfnisse garantiert ist"90. Auch hier müsste dagegen Marx' Satz Anwendung finden: „Die Gesellschaft als ein einziges Subjekt betrachten, ist sie überdem falsch betrachten"91. Brentel entfaltet nun eine ausfuhrliche Kritik an Engels' Theorem einfacher Warenproduktion. Marx unterscheidet demnach einerseits zwischen unmittelbar und mittelbar vergesellschafteter Arbeit, wobei nur letztere auf privat-arbeitsteilige Organisationsformen mittels spezifisch ökonomischer Gegenständlichkeit bezogen ist92 und andererseits, als Differenzierung im Begriff indirekter Gesellschaftlichkeit, zwischen vorkapitalistischem und universalisiertem Warentausch93. Als ,Minimalbedingungen"94 für ersteren nenne Marx im dritten Band des Kapital5 nun unter anderem kontinuierlichen Austausch systematisch aufeinander bezogener Überschussprodukte und Abwesenheit von Monopolen. Unabhängig von Fragen der historischen Gültigkeit dieser Kriterien ist es aber nach Brentel eine ganz andere Kategorie, die die marxistische Diskussion um die Reichweite der Wertkategorie bestimmt hat: der Engelssche Begriff .einfacher' Warenproduktion, der Marx' Differenzierungen konfundiere. Denn Engels gebe dem Begriff vorkapitalistischer Warenproduktion „den Sinn unmittelbarer Vergesellschaftung" über bewusste Arbeitsmengenrechnungen. Das .Einfache' im Konzept der ,einfachen' Warenproduktion stehe demnach für Durch- und Übersichtlichkeit des sozialen Zusammenhangs sowie empirische Offensichtlich- und Wahmehmbarkeit seines regelnden Prinzips, der Wertbestimmung durch Arbeitszeit, gleichermaßen. Damit, so Brentel, verleiht Engels den Marxschen Begriffen für einen nicht empirisch erfassbaren, gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, einen „empiristischen Charakter"96. Die Theorie 89 90 91 92

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Marx benutzt sogar den weitaus spezifischeren Begriff der ,Nation' (vgl. ebd.). Wolf 1985a, S. 50. M E W 42, S. 29 (MEGA 11/1.1, S. 30). Vgl. Brentel 1989, S. 137. Direkte Vergesellschaftung der Arbeit bedeutet, dass die Arbeiten der Menschen immer schon als Teile der gesellschaftlichen Gesamtarbeit anerkannt sind, weil die Akteure in einem direkten Herrschafts- oder Kommunikationszusammenhang qua Gewalt, Normen, Sprache etc. stehen. Indirekte Vergesellschaftung der Arbeit, wie sie im Kapitalismus stattfindet, bedeutet, dass der gesellschaftliche Zusammenhang den Akteuren in der Weise vorgeordnet ist, dass er ihre Arbeiten als privat-isoliert verausgabte bestimmt und die solcherart als Privatproduzenten Gesetzten ihre Arbeiten erst nachträglich oder .indirekt' über ihre Arbeitsprodukte, nämlich Waren als spezifisch gesellschaftliche Sachen, in ein stets prekäres soziales Verhältnis zueinander bringen. Vgl. Brentel 1989, S. 138, 140. Ebd., S. 139. MEW 25, S. 187 (MEGA II/4.2, S. 253). Zitate der Reihenfolge nach: Brentel 1989, S. 140, 145. Auch Backhaus betont, dass Wert einen yjnakroökonomischen Ursprung" (Backhaus 1998, S. 356) habe und wirft den marxistischen Debatten vor, die konstitutiv aufeinander verwiesenen Problemkomplexe Wert, Geld und Totalität unzulässig getrennt voneinander zu verhandeln (vgl. Backhaus 1997c, S. 76 sowie 1997e, S. 129).

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der Wertbestimmung durch gesellschaftlich notwendige oder durchschnittliche Arbeitszeit, durch „allseitige Relation der Produkte zur gesamtgesellschaftlichen Arbeit"97 werde dann in eine Theorie der Wertbildung durch subjektives, vorsoziales Arbeitsleid verwandelt98, wobei das Reduktionsproblem fur die Vergleichbarkeit qualitativ unterschiedlicher Arbeiten zudem vollständig ausgeblendet werde99. Der Übergang vom unterstellten prämonetären Warentausch zur Rechnung in Warenquanta bleibt Brentel zufolge nicht nur unklar100, Engels' Thesen widersprächen auch sämtlichen Äußerungen von Marx über die Unmöglichkeit eines solchen Warentauschs und über die Unbewusstheit der Akteure hinsichtlich der Quelle der Austauschbarkeit von Waren: Der gesellschaftliche Charakter sei den Produzenten nach Marx erst im Austausch, also in der gegenständlichen Erscheinungsform ,Tauschwert' bzw. Geld gegeben. Sie rechneten nur in Geld als einer als gesellschaftliche Form per se geltenden Ware und setzen ihre Waren nicht als Werte gleich, „weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es. Es steht daher dem Werte nicht auf der Stirn geschrieben, was er ist"101. Marx' Ökonomiekritik zeigt nach Brentel, was im Folgenden noch zu präzisieren sein wird, dass die Annahme von empirisch-konkreter Arbeit als wertbildend im Widerspruch zu privatarbeitsteiligen Vergesellschaftungsbedingungen als einzigem Grund für Wertbildung steht102, Waren somit immer nur mittelbar gesellschaftlich sind und ihr Austausch stets nur geldvermittelt stattfinden kann103. Nach Brentel gibt es für Marx also entweder monetär vermittelten Warentausch oder vorökonomische, durch Normen oder Gewalt vermittelte, Reziprozität von Gütern104. Bereits hier wird deutlich, dass demnach eine Vergesellschaftung von Arbeiten durch bewusstes Messen derselben qua Reduktion auf einfache Arbeitszeit niemals stattfindet. Doch dies scheint Marx nun auf den ersten Blick im sogenannten Fetischabschnitt des ersten KapitalBandes zu unterstellen105. Die Fiktion einer Arbeitszeitrechnung im Rahmen nichtwaren97 98

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Brentel 1989, S. 115. Vgl. auch Heinrich 1999, S. 40. Was Heinrich an Smith aufzeigt und Marx an diesem kritisiert, das gilt tendenziell auch für Engels: Er „versieht die objektive Gleichung, die der Gesellschaftsprozeß gewaltsam zwischen ungleichen Arbeiten vollzieht, für die subjektive Gleichberechtigung der individuellen Arbeiten" (MEW 13, S. 45 (MEGA II/2, S. 136f.)). Bereits Hilferding hat, ohne auf Engels einzugehen, auf den Gegensatz einer Arbeitsleidtheorie zur Marxschen Arbeitswerttheorie hingewiesen: „In der Tat ist im Begriff der Wert schaffenden Arbeit bei Marx jede individuelle Beziehung [auf Bedürfnisse oder Erwägungen der Produzenten] ausgelöscht" (Hilferding 1973, S. 183). Vgl. Brentel 1989, S. 142. Beides wird in Engels' folgendem Satz erkennbar: „Oder glaubt man, der Bauer und der Handwerker seien so dumm gewesen, das Produkt zehnstündiger Arbeit des einen für das einer einzigen Arbeitsstunde des andern hinzugeben?" (MEW 25, S. 907) (MEGA II/14, S. 331). Vgl. Brentel 1989, S. 143. MEW 23, S. 88 (MEGA II/6, S. 104f.) (zitiert in Brentel 1989, S. 143). Vgl. auch MEW 42, S. 103-105 (MEGA Π/1.1, S. 101-104). Vgl. Brentel 1989, S. 145. Vgl. MEGA II/5, S. 40f. Vgl. Brentel 1989, S. 144. Vgl. ebd., S. 145. Vgl. MEW 23, S. 90-93 (MEGA II/6, S. 107-109), v.a. das Robinson- und Sozialismus-Beispiel.

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förmiger Produktionsverhältnisse hat nach Brentel aber lediglich den methodischen Stellenwert eines Explikationsmodus der Arbeitswerttheorie. Marx „verdeutlicht ein ,Messen' der Arbeit an der Zeit mittels einer unterstellten, fiktiven Durchschnittsbildung dort, wo real gar kein .Messen' der Arbeit, keine Durchschnittsbildung stattfindet, weil jede besondere Arbeit unmittelbar schon gesellschaftlich ist, um eine Durchschnittsbildung dort, wo sie real stattfindet, aber [...] als gesamtgesellschaftliches Verhältnis nicht mehr anschaulich durchsichtig zu machen ist (weil gerade nicht ,gemessen' wird) begreiflich zu machen" 106 . Marx nenne hier in Bezug auf Robinsons Ökonomie der Zeit (die bewusste Einteilung seines Arbeitstages), die feudalistische Produktionsweise (wo die Arbeiten als Naturalleistungen vergesellschaftet sind) und die patriarchale Subsistenzwirtschaft (wo die Arbeiten direkte Familienfunktionen darstellen) die Einteilung der Arbeiten also gleichsam Messungen. Arbeit hat Brentel zufolge aber ihre gesellschaftliche Form aufgrund ihrer Bestimmung durch die direkt-herrschaftsförmigen Institutionen. Die proportionelle Verteilung der Arbeiten auf die einzelnen Produktionszweige und der Güter auf die Konsumenten sei a priori politisch'institutionell geregelt, „nicht durch ihre rechnerische Gleichheit und Gleichsetzung an der Zeit [...]. Die Arbeiten sind als ungleiche nach der Zeit eingeteilt - nicht als gleiche an der Zeit ,gemessen'" 107 . Damit widerspricht er gängigen Behauptungen, abstrakte Arbeit habe auch in vorkapitalistischen Gemeinwesen eine vergesellschaftende Funktion 108 . Auch fur den , Verein freier Menschen' unterstelle Marx, wie er deutlich formuliere, „nur zur Parallele mit der Warenproduktion" 109 eine Distribution von Arbeiten und Konsumtionsmitteln nach der Arbeitszeit. Werde insbesondere letzteres Beispiel realistisch missverstanden, so entstehe die Vorstellung konkreter Arbeitszeitrechnung als Vergesellschaftungsmodus, die eine Konfundierung gegensätzlicher Vergesellschaftungsweisen der Arbeit impliziere. Brentel ist damit der erste Autor, der ausgehend von einer monetären Werttheorie einen kritischen Blick auf diesen Teil des ,Fetischkapitels' wirft und auf die Möglichkeit eines ,umstandslosen Missverstehens'" 0 der dort „strapazierten Analogie[n]" n l hinweist. Die bereits bei Backhaus und Kittsteiner formulierte Engels-Kritik wird damit,tiefer gelegt' und auch der Gedanke einer sozialistischen Arbeitsmengenrechnung als erster Schritt auf dem Weg zur Ontologisierung der Form Wert kritisiert. Verblüffend ist vor diesem Hintergrund allerdings seine Einschätzung von Marx' Thesen über die ,erste Phase des Kommunismus' in den Randglossen zum Gothaer Programm - versteht er sie doch als Beleg einer Manischen Kritik quasi-proudhonistischer Konzeptualisierungen der Vergesellschaftung der

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Brentel 1989, S. 147. Ebd., S. 148. Marx spricht denn auch davon, dass „nur für diese besondre Produktionsform, die Warenproduktion, gültig ist, daß [...] der spezifisch gesellschaftliche Charakter der voneinander unabhängigen Privatarbeiten in ihrer Gleichheit als menschliche Arbeit besteht und die Form des Wertcharakters der Arbeitsprodukte annimmt" (MEW 23, S. 88) (MEGA II/6, S. 105). Vgl. auch MEGA II/5, S. 637: „Es ist eine bestimmte gesellschaftliche Beziehung der Producenten, worin sie ihre verschiedenen nützlichen Arbeitsarten als menschliche Arbeit gleichsetzen". Wie sie am deutlichsten und differenziertesten von Dieter Wolf (1985a, S. 50, 59) vertreten wird. Vgl. zur Kritik daran auch Heinrich 1999, S. 213 und Kurz 2004, S. 80ff. MEW 23, S. 93 (MEGA II/5, S. 45f.). Vgl. Brentel 1989, S. 149. Ebd., S. 150.

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Arbeit im Sozialismus. Marx propagiert hier aber im Gegenteil ein Stundenzettel-Modell, freilich ohne die Annahme weiterbestehender Warenproduktion112. Brentel weist nun, an dieser Stelle im Gegensatz zu Marx, auf das schier unlösbare Reduktionsproblem hin. Die Übertragung des Äquivalenz- als Durchschnittsprinzips auf „Maßoperationen an der einzelnen Arbeit" sei nicht nur eine sinnlose Operation in nicht-warenförmigen Verhältnissen, sie führe auch „in kaum lösbare Probleme der .gerechten' Bewertung"113 konkreter Arbeiten. Zudem kritisiere auch Marx diesen Verteilungsmodus als repressives Egalitätsprinzip: Die Verteilung proportionell zur .Leistung' - wie immer diese zu messen sei - berücksichtige nicht die ungleiche physische und psychische Konstitution der Tätigen und sei deshalb, wie alles Recht, ,Jlecht der Ungleichheit''14. Letztlich gehe es Marx darum, den Anteil am gesellschaftlichen Produkt von allen jenseits des individuellen Bedürfnisses liegenden Prinzipien zu entkoppeln. Wenn aber Brentel davon spricht, Marx begreife damit konkrete Arbeitszeitrechnung als „moralisch abzulehnende, möglicherweise unumgängliche, jedenfalls aber auch fiktive Durchgangsstufe einer kommunistischen Gesellschaft"115, dann bilden zumindest die beiden letzten Aspekte einen Widerspruch: Entweder ist konkrete Arbeitszeitrechnung als Modus sozialer Synthesis nicht nur in Formen indirekter, sondern auch unmittelbarer Vergesellschaftung ein unmögliches und sinnloses Unterfangen oder es ist .möglicherweise unumgänglich', jedoch ,moralisch abzulehnen'. Brentels Unterscheidung von ,Messen' der Arbeit an der Zeit und Einteilen der Arbeit nach der Zeit findet sich der Sache nach bereits in Wolfgang Müllers Rezension zu Ernest Mandéis Marxistische Wirtschaftstheorie aus den Jahr 1969. Mandel versucht, Engels' Theorem einfacher Warenproduktion als Konzept prämonetären Austausche durch direkte Arbeitsmengenrechnung ethnologisch zu stützen. Zwar weist Müller nicht explizit auf Mandéis anachronistische und widersprüchliche Argumentation hin. - Dieser führt als Beispiel für einfache Warenproduktion als Vergesellschaftung durch „Rechnungsführung in Arbeitsstunden"116 die Festsetzung von .Löhnen' für verschiedene Arbeiten in Quanta Gerste an117. Wie bei Engels wird das Reduktionsproblem (eine Stunde qualifizierte Arbeit ist gleich n+1 Stunde unqualifizierte) dabei vollständig ausgeblendet, obwohl es nur wenige Seiten später als für die einfache Warenproduktion gültig erachtet wird. Wie bei Engels erfolgt dies übrigens mit arbeitsleidtheoretischen Argumenten, da immer von empirisch offen zutage liegenden Phänomenen die Rede sein soll118. Dass zudem in einem dritten Gegenstand, dem äußeren Wertmaß Geld, ,gemessen' wird und gerade nicht in Arbeitsstunden, führt Mandel zu der mysteriösen Verlegenheitslösung, die Gleichwertigkeit qualitativ unterschiedlicher Arbeiten werde „unmittelbar als solche erkannt"119, ohne ein Bewusstsein von abstraktmenschlicher Arbeit zu haben. Eine Vergesellschaftung durch Arbeitsmengenrechnungen 112 113

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Vgl. MEW 19, S. 19-21 (MEGA 1/25, S. 13-15). Brentel 1989, S. 152. Vgl. zu diesem Problemkomplex auch die differenzierte Diskussion der Stundenzettel-Problematik in Reitter 2005. MEW 19, S. 21 (MEGA 1/25, S. 14). Brentel 1989, S. 153. Mandel 1972, S. 75. Vgl. ebd., S. 74 (Fn.). Vgl. ebd., S. 77. Ebd., S. 74 (Fn.).

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ohne Arbeitsmengenrechnungen, eine Gleichbewertung und Ungleichbewertung ungleicher Arbeiten sind das paradoxe Resultat der Mandelschen Argumentation. Zurück zu Müller: Dieser kritisiert allerdings deutlich Mandéis Ontologisierung des Wertgesetzes: Darin werde zufalliger Produkten- in wertgleichen Warenaustausch umgedeutet120 und bereits die Einteilung von Arbeiten in nicht-privat-arbeitsteilig verfassten Gemeinwesen durch das ,,allgemeine[...] Kriterium" der „Berechnung der Arbeitszeit"121 bestimmt. Müller führt dagegen an, dass hier aber höchstens eine Reziprozität „unmittelbar nützlichefrj Arbeitsstunden", also ungleicher Arbeiten, bestehe, die in ihrer Naturalform als unmittelbar gemeinschaftlich gelten. Die ,.rituell verfestigte Zusammenstellung [...] von nützlichen Arbeiten" impliziere gerade kein Absehen von deren spezifischer Nützlichkeit und Verschiedenheit - die Arbeiten werden also, um mit Brentel zu sprechen, als ungleiche nach der Zeit eingeteilt. Planmäßig aufgeteilte Gesamtarbeit bleibe, ohne jede Wert- oder Arbeitsmengenkalkulation, „eine Gesamtheit von [...] verschiedenen Einzelarbeiten"122. Trotz seines metatheoretischen Bekenntnisses zur historischen Lesart123 bemängelt er zudem Mandéis konventionalistische Theorie der Geldentstehung124, womit dieser in der Tradition der von Marx kritisierten bürgerlichen Politökonomie verbleibe. Dagegen betont er die Notwenigkeit der gegenständlichen Darstellung des Werts als „Notwendigkeit einer Ware als Geld"125. Brentel rekonstruiert nun im Anschluss an die Debatte der 70er Jahre Marx' Kritik als Kritik prämonetärer Werttheorie. In der reduktionistischen Gegenstandsauffassung der politischen Ökonomie werde Warentausch nach dem Muster unmittelbarer, übersichtlicher Interaktionen, dem geldlosen Produktentausch (Barter) konzipiert126. In solcher Tauschtheorie ökonomischer Gegenständlichkeit werde die einfache Wertform realistisch missverstanden, wogegen Marx sie als abstraktesten, begrifflich unentwickeltsten Ausdruck der Geldform dechiffriere. In den Ergänzungen und Veränderungen zur Erstauflage des Kapital, auf die Brentel hier nicht eingeht, schreibt Marx denn auch unmissverständlich: „Einfache wie entfaltete Werthform sind nur die vorbereitenden Entwicklungsstufen der wirklichen [!] Werthform"127. Die Abfolge der Wertformen sei hier „Herausarbeitung des immer schon monetären Gehaltes" des Wertbegrififs, die zugleich bezeuge, dass ökonomische Objekte nicht prämonetär zu begründen seien. Abstrakte Arbeit stelle, zu Beginn der Analyse „zunächst noch

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Müller 1969a, S. 73. Mandel 1972, S. 67f. 122 Zitate der Reihenfolge nach: Müller 1969a, S. 73 (Fn.), 75, 75. Vgl. auch Heinrich 1999, S. 219. Bereits ein Jahr zuvor kritisiert Lucio Colletti die „marxistischen [...] Ricardoschen Interpreten" von Marx und ihre Verwechslung der Tatsache, dass die Arbeitszeit in jeder arbeitsteiligen Produktionsweise von Interesse sein muss, mit der „ganz bestimmte[n] Art, mit der dieses Gesetz im Kapitalismus wirkt", in dem die Arbeitszeit den Charakter einer Eigenschaft von Dingen annimmt (Colletti 1971, S. 57f.). 123 Vgl. Müller 1969a sowie seine Zeieny-Rezension (Müller 1969b). 124 Vgl. Müller 1969a, S. 76. 125 Müller 1969a, S. 81. 126 Vgl. Brentel 1989, S. 306. 127 MEGA II/6, S. 26 (Ausrufezeichen von mir, I.E.). 121

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analytische Ebene för uns"128, eine noch in der Luft hängende, rein ungegenständliche, gespenstige Gegenständlichkeit dar, die nur mittels gedanklicher Abstraktionsleistungen des wissenschaftlichen Bewusstseins fixiert werden könne und somit auf dieser Ebene der Darstellung noch als „Gedankending"129 existiere. Ihre reale Abstraktion im Warenverhältnis130, wie ihre notwendige131 empirische Existenzform sei erst theoretisch zu entwickeln132. Die Darlegung dieses „inneren, nothwendigen Zusammenhangfs]"133 zwischen Wertsubstanz und Wertform sei - gegen die politische Ökonomie, die dieses Verhältnis nur als kontingent und äußerlich begreife134 - Beweisziel der Wertformanalyse. Dieser konstitutive Zusammenhang, die Tatsache, dass die Wertform aus dem Wertbegriff zu entwickeln ist135, wird zwar nach Brentel in der Zweitauflage des Kapital „in eine popularisierende Metaphorik übersetzt"136 (z.B. den Terminus ,Warensprache'), der Sache nach aber beibehalten137. In der einfachen Wertform werde erkennbar, dass der Wert von Ware A sich notwendig im Gebrauchswert von Ware Β ausdrücken muss, nicht an A allein darstellbar ist sowie ein und dieselbe Ware nicht als relative Wertform und Äquivalentform fungieren kann. Könnte die einzelne Ware dagegen ihren Wert an sich selbst darstellen, so existierte das Paradox, dass sie Gebrauchswert und Wert in derselben Hinsicht wäre, als Privatarbeit zugleich gesellschaftliche und vice versa. Zum anderen werde deutlich, dass erst das wirkliche Warenverhältnis - und zwar, wie sich zeigen wird, das universelle Interdependenzverhältnis als monetär vermitteltes - die Reduktion auf das immanente Wertmaß abstrakte Arbeit vollziehe138.

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Zitate der Reihenfolge nach: Brentel 1989, S. 307, 309. MEGA II/5, S. 30. 130 Vgl. MEW 23, S. 65 (MEGA II/6, S. 83). 131 Diese Notwendigkeit erläutern Kirchhoff/ Reutlinger (2006, S. 21 lf.) wie folgt: „Irgendwie muss der Wert in der materiellen Gegebenheit einer Gesellschaft verankert sein, andernfalls wäre nicht zu erklären, warum überhaupt irgendetwas Wert haben kann. Es muss daher eine Wertbezugsgröße geben". 132 Vgl. Brentel 1989, S. 309. 133 MEGA II/5, S. 43. 134 Vgl. MEW 23, S. 95 (Fn.) (MEGA II/5, S. 43f. (Fn.)): „Es ist einer der Grundmängel der klassischen politischen Ökonomie, daß es ihr nie gelang, aus der Analyse der Ware und spezieller des Warenwerts die Form des Werts, die ihn eben zum Tauschwert macht, herauszufinden. Grade in ihren besten Repräsentanten, wie A. Smith und Ricardo, behandelt sie die Wertform als etwas ganz Gleichgültiges oder der Natur der Ware selbst Äußerliches". 135 Vgl. MEGA II/5, S. 43, 643; MEGA II/6, S. 25, 30. 136 Brentel 1989, S. 309 137 Vgl. MEW 23, S. 66f. (MEGA II/6, S. 85). 138 Vgl. ebd., S. 65 (II/6, S. 83): „Indem z.B. der Rock als Wertding der Leinwand gleichgesetzt wird, wird die in ihm steckende Arbeit der in ihr steckenden Arbeit gleichgesetzt. Nun ist zwar die Schneiderei, die den Rock macht, eine von der Weberei, die die Leinwand macht, verschiedenartige konkrete Arbeit. Aber die Gleichsetzung mit der Weberei reduziert die Schneiderei tatsächlich auf das in beiden Arbeiten wirklich Gleiche, auf ihren gemeinsamen Charakter menschlicher Arbeit. Auf diesem Umweg ist dann gesagt, daß auch die Weberei, sofern sie Wert webt, keine Unterscheidungsmerkmale von der Schneiderei besitzt, also abstrakt menschliche Arbeit ist. Nur der Äquivalenzausdruck verschiedenartiger Waren bringt den spezifischen Charakter der wertbildenden Arbeit zum Vorschein, indem er die in den verschiedenartigen Waren steckenden, verschiedenartigen Ar129

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Abstrakte Arbeit als gesellschaftliche Form sei demnach im Austauschprozess „werdendes Resultat"139, das dem Austausch zugleich logisch als dessen Ermöglichungsbedingung vor• 140

ausgesetzt sei . Damit offenbare sich die doppelte Stoßrichtung der Wertformanalyse: Einerseits gegen zirkuläre Erklärungen ökonomischer Gegenständlichkeit ihr Rekurs auf abstrakte Arbeit „als non-valorer Konstitutionsbasis"141. Andererseits gegen substantialistische Identifizierungen von privater und gesellschaftlicher, konkreter und abstrakter Arbeit sowie immanentem und äußerem Wertmaß ein Rekurs auf die Notwendigkeit gegenständlich-äußerlicher Existenzformen des Werts142. Beides komme in der Rede von der - letztlich allgemeinen - Wertform als notwendigem Wertausdruck zum Vorschein143. Marx' Konstitutionstheorie des Werts ist nach Brentel somit Theorie des ,,gleich-ursprüngliche[n] Setzungsverhältnis[ses] [...] von Form und Substanz"144, da nur im Austausch die konkreten Arbeiten auf abstrakte reduziert würden145. Wert als spezifisch-gesellschaftliche Dimension" der Privatprodukte sei so analytisch (,fiir uns') vorausgesetzt und real (zeitlich-empirisch) im Austauschprozess gesetzt. Der Wertbegriff steht nach Brentel unter einer „Doppelstellung von Setzung und Voraussetzung". Als kapitalistisch produzierende/ produzierte stellen Privatarbeiten und -produkte „keineswegs schon allgemeine Arbeit dar. Sie sind solches nur potentiell oder ,latent'". Die wirkliche Gleichsetzung der Arbeiten als einheitsstiftendes Moment privat-dissoziierter Tätigkeiten finde „nur im Moment des Austausches" statt, weshalb abstrakte Arbeit immer schon als ,/ormbestimmte Substanz" gelte: „Es gibt keine Substanz ,vor' der Form". Wert ist Brentel zufolge aber nicht nur nicht ohne Wertform, er ist vor allem nicht ohne eine bestimmte Wertform begründbar. Das Kommensurabilitätsargument des qualitativen Einheitsgrundes, auf dem sich Waren überhaupt nur in ein quantitatives Verhältnis setzen können, ist also mit dem Formargument in spezifischerer Weise zu verbinden. Die Erklärung

beiten tatsächlich auf ihr Gemeinsames reduziert, auf menschliche Arbeit überhaupt" (zitiert in Brentel 1989, S.311). 139 MEW 13, S. 32 (MEGA II/2, S. 123). 140 Vgl. Brentel 1989, S. 403. 141 Ebd., S. 401. Vgl. auch Backhaus 1987, S. 412. 142 Vgl. Brentel 1989, S. 313: „Die Marasche Konstitutionstheorie des Wertes vermeidet so die zirkelhaften Begründungsverhältnisse zwischen (Wert-)Substanz und (Wert-)Form wie sie die substantialistische und subjektivistische Werttheorie kennzeichnen: wo einerseits die konkrete Arbeit selbst unmittelbar zur allgemeinen [...] erklärt wird, andererseits [...] der Wertbegriff implizit immer schon vorausgesetzt wird, indem eine (darin immer schon preisbestimmte) Ware (als ,bloßes' Relationsverhältnis) zum Maß der anderen erklärt wird". 143 Vgl. ebd., S. 310: Marx „identifiziert die 'Waren-Beziehung als einen Wert-Ausdruck und beweist im weiteren Durchgang der Wertform-Analyse, daß eine Theorie von Waren-Beziehungen als eine /Irieifi-Wert-Theorie nur mit der Konstitution einer allgemeinen [...] Äquivalentform konsistent sein kann". 144 Ebd., S. 313. Vgl. auch, mit Bezug auf Brentel, Hoff 2006, S. 295. 145 Vgl. MEW 23, S. lOlf. (MEGA II/5, S. 53): Die Warenbesitzer „können ihre Waren nur als Werte und darum nur als Waren aufeinander beziehn, indem sie dieselben gegensätzlich auf irgendeine andre Ware als allgemeines Äquivalent beziehn".

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des .inneren, notwendigen Zusammenhangs' zwischen Wert und allgemeiner Wertform beinhaltet nun den Nachweis der „Aporetik bloß einfacher Wertformen" 146 . So bestehe die Aporie sowohl der einfachen oder zufälligen (Darstellung des Werts von Ware A in irgendeinem, vom Theoretiker zufallig ausgewählten, besonderen Gebrauchswert einer Ware B, die damit als einzelnes Äquivalent fungiert 147 ) als auch der entfalteten Wertform (Darstellung des Werts von A in einer unendlichen Reihe verschiedener Waren, die damit als besondere Äquivalente von A fungieren 148 ) im Widerspruch zwischen Wertbegriff und Wertform: „Wenn die qualitative Gleichheit der Waren nur durch und in ihrem WertAusdruck existieren kann, dann muß dieser Ausdruck auch allgemeiner Ausdruck sein, soll in ihm eine alle konkreten Arbeiten übergreifende Gleichheit tatsächlich konstituiert sein". Weil die wirkliche Gleichsetzung im Austausch stattfindet, so Brentel, „muß die Setzung ihrer Gleichheit als Form allgemeingültige Form sein"149. Marx fasse dies in der Kategorie der Mängel der nicht-allgemeinen Wertformen: 1) In der einfachen Wertform (z.B. 20 Ellen Leinwand sind 1 Rock wert) existiert keine den Tausch ermöglichende Darstellung des Werts, der gesellschaftlichen Einheit, der Privatprodukte: Die Unterscheidung von Wert und Gebrauchswert bezieht sich nur auf eine Ware (Leinwandwert sieht aus wie ein Rock) und lediglich die Gleichheit zweier bestimmter Waren ist darin ausgedrückt. Unmittelbar austauschbar ist dabei nur der Rock in Bezug auf die Leinwand 150 . 2) In der entfalteten Wertform (z.B. 20 Ellen Leinwand sind 1 Rock, 10 Kilo Eisen, 1 Liter Wein usw. wert) besitzt der Wert der Leinwand keine einheitliche Erscheinungsform. Hier existieren nur besondere Äquivalente, die sich in ihrer Darstellung abstrakt-allgemeiner Arbeit gegenseitig aufheben151. Erst im allgemeinen Bezogensein aller Waren auf ein und dieselbe ausgeschlossene Äquivalentware ist, so Brentel, eine gegenständlich-empirische Existenzform abstrakter Arbeit, „abstraktes Form-Dasein" gegeben, damit „Non-Valores, Non-Monetäres - die Arbeit - zu Valorem und Monetärem, zu Wert und Tauschwert in eins konstituiert" 152 . Wert als gesellschaftlich-allgemeine Form eines ungesellschaftlich-besonderen Inhalts (Gebrauchswert), kann sich, so die Pointe der Argumentation, nicht in Form eines ungesellschaftlich besonderen Äquivalents angemessen (,seinem Begriff entsprechend') ausdrücken. Ein Äquivalent nur für eine Ware ergibt keines für alle Waren; so viele Äquivalente wie Waren ergeben ebenso kein allgemeingültiges Äquivalent 153 . Jede Ware als Geld gesetzt, setzt Identität von Gebrauchswert und Wert, privater und gesellschaftlich anerkannter Arbeit voraus, was in privat-arbeitsteiligen Produktionsverhältnissen unmöglich ist, weil deren Getrenntheit sie gerade definiert, in unmittelbar gemeinschaftlichen aber sinnlos ist, weil sich die Gesell-

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Zitate der Reihenfolge nach: Brentel 1989, S. 312, 312, 312, 313, 313, 315. Vgl. MEW 23, S. 76 (MEGA II/6, S. 93f.). Vgl. ebd., S. 78 (II/5, S. 95). Beide Zitate: Brentel 1989, S. 316. Vgl. MEW 23, S. 76 (MEGA II/6, S. 93). Vgl. ebd., S. 78 (II/6, S. 95). Beide Zitate: Brentel 1989, S. 311. Vgl. MEGA II/5, S. 43: „Stellt aber jede Waare ihre eigne Naturalform allen andern Waaren gegenüber als allgemeine Aequivalentform, so schließen alle Waaren alle von der allgemeinen Aequivalentform aus und daher sich selbst von der gesellschaftlich gültigen Darstellung ihrer Werthgrößen".

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schaftlichkeit der Arbeiten dort nicht als Wert und in Wertformen konstituiert154. Marx macht vor allem in der Erstauflage des Kapital auf diesen zentralen Aspekt seiner Werttheorie aufmerksam, indem er betont, unmittelbare Austauschbarkeit sei weder eine Eigenschaft der Waren noch unmittelbar des Geldes. Die Wertformanalyse erweist zugleich die vermittelte Unmittelbarkeit unmittelbarer Austauschbarkeit (diese kommt einer und derselben Ware nur im Rahmen einer spezifischen Funktion innerhalb eines spezifischen Wertverhältnisses zu 155 ) und die Angewiesenheit vermittelter Austauschbarkeit auf unmittelbare Austauschbarkeit (Wert können Waren nur im Bezug auf eine ausgeschlossene Geldware haben 156 ): die Formen „unmittelbarer Austauschbarkeitund ,/licht unmittelbarer Austauschbarkeit" sind Marx zufolge „ebenso unzertrennlich, wie die Positivität eines Magnetpols von der Negativität des andern"157. Damit präsentiert sich Marx' Werttheorie als monetäre, die im Gegensatz zu sämtlichen politökonomischen Positionen, wie ihrer auf Engels fußenden marxistischen Varianten, Wert und Geld in einen inneren, wechselseitig konstitutiven Zusammenhang stellt. Formentwicklung ist auch hier Einholung der notwendigen komplexeren Voraussetzungen des scheinbar Einfachen, Aufweisung des Scheiterns der Konstitution ökonomischer Gegenständlichkeit in einfachen Beziehungen, sukzessive Weiterbestimmung durch Darlegung der Aporien und 154

Vgl. ebd., S. 41: „Wäre die Arbeit unmittelbar gesellschaftliche, d.h. gemeinsame Arbeit, so erhielten die Produkte den unmittelbar gesellschaftlichen Charakter eines Gemeinprodukts für ihre Producenten, aber nicht den Charakter von Waaren für einander" sowie MEW 42, S. 103f. ((MEGA II/l.l, S. 102f.): „Um unmittelbar das allgemeine Geld zu sein, müßte sie von vornherein nicht besondre Arbeit, sondern allgemeine sein, d.h. von vornherein als Glied der allgemeinen Produktion gesetzt sein. In dieser Voraussetzung aber würde nicht erst der Austausch ihr den allgemeinen Charakter geben, sondern ihr vorausgesetzter gemeinschaftlicher Charakter würde die Teilnahme an den Produkten bestimmen". 155 Vgl. MEGA II/5, S. 635: „Unmittelbar gesellschaftliche Form hat es [das Arbeitsprodukt], soweit seine eigne Körper- oder Naturalform zugleich die Form seiner Austauschbarkeit mit andrer Waare ist, oder andrer Waare als Werthform gilt. 156 Vgl. ebd., S. 646: „Die stofflich ganz verschiedenen Arbeitsprodukte können nicht fertige Waarenform besitzen und daher auch nicht im Austauschprozeß als Waare funktionieren, ohne als dingliche Ausdrücke derselben gleichen menschlichen Arbeit dargestellt zu sein. Das heißt, um fertige Waarenform zu erhalten, müssen sie einheitliche, allgemeine relative Werthform erhalten. Aber diese [...] können sie nur dadurch erwerben, daß sie eine bestimmte Waarenart als allgemeines Aequivalent aus ihrer eignen Reihe ausschließen". 157 MEGA II/5, S. 40. Vgl. ebd: .Aber die Naturalformen, die sie als Gebrauchsgegenstände besitzen, gelten ihnen wechselseitig nur auf diesem Umweg, also nicht unmittelbar als Erscheinungsformen des Werths. Soweit sie unmittelbar sind, sind sie daher nicht unmittelbar austauschbar. Sie besitzen also nicht die Form unmittelbarer Austauschbarkeit für einander oder ihre gesellschaftlich gültige Form ist eine vermittelte [...] weil die Waare überhaupt sich von Haus aus nicht in unmittelbar austauschbarer oder gesellschaftlicher Form befindet, indem ihre unmittelbare Form die Form ihres Gebrauchswerths, nicht ihres Werthes. Man sieht es der Form allgemeiner unmittelbarer Austauschbarkeit in der That keineswegs an, daß sie eine gegensätzliche Waarenform ist, von der Form nicht unmittelbarer Austauschbarkeit ebenso unzertrennlich, wie die Positivität eines Magnetpols von der Negativität des andern. Man kann sich daher einbilden, man könne allen Waaren zugleich den Stempel unmittelbarer Austauschbarkeit aufdrücken, wie man sich auch einbilden kann, man könne alle Arbeiter zu Kapitalisten machen".

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Mängel prämonetären Austausche. Maßstab sind der Wertbegriff und seine .Forderungen' der Gleichsetzung von Waren als Werte, als Dingen von gemeinsamer, einheitlicher gesellschaftlicher Substanz158. Dieser Wertbegriff ist damit nur aufgrund der universellen gesellschaftlichen Beziehung aller Waren zu Geld eine gültige Beschreibung des Grundes sozialer Tauschbeziehungen. Der Übergang zur - zunächst - adäquaten Existenzform des Werts ist derart ein immanenter, als dass er durch bloße Umkehrung der entfalteten Wertform gelingt' 59 . Erst in der allgemeinen Wertform stellen die Waren ihre Werte „1. einfach dar, weil in einer einzigen Ware und 2. einheitlich, weil in derselben Ware. Ihre Wertform ist einfach und gemeinschaftlich, daher allgemein"160. Erst damit ist nach Brentel auch die „Wirklichkeits-Ebene der Wertform erreicht"161. Wenn erst, wie Marx behauptet162, diese Form die Waren wirklich aufeinander als Werte bezieht, ist, wie Brentel folgert, die einfache Wertform „immer schon Moment allgemeiner Wertform und insofern nur eine Abstraktion dieser - oder sie wird als solche bloß einfache Form als selbständig real existierend unterstellt, bezeichnet dann aber eigentlich keine wirklichen Wer/-Ausdrücke, sondern subjektiv zufallige, nicht interdependente ProJw&í-Relationen"163. Dieser Hinweis findet sich auch im, von der Orthodoxie sträflich vernachlässigten, zweiten Kapitel des Kapital164. Auch Brentel bemerkt allerdings, dass .wirklich' hier noch eine voreilige Charakterisierung darstellt, da .allgemeine Äquivalentform' auf der Darstellungsebene der Wertformanalyse und .wirkliches allgemeines Äquivalent' „nicht dasselbe" seien. Die tatsächliche „erste Wirklichkeitsebene" ökonomischer Formen ist demnach erst im dritten Kapitel mit dem Austausch preisbestimmter Waren gegen Geld gegeben. Die Logik der Wertformanalyse weist nun - als dialektische - eine spezifische Widerspruchsstruktur auf, die Brentel in engster Anlehnung an Dieter Wolfs Veröffentlichung über Ware und Geld zu klären bemüht ist. Es werden deshalb im Folgenden beide Untersuchungen berücksichtigt, wobei als Leitfaden die gedrängteren Ausführungen Brentels dienen. Brentel unterscheidet zunächst metatheoretisch logische Kontradiktionen von dialektischen Widersprüchen. Während diese sich auf reale Verhältnisse bezögen, seien jene nur in Aussagen aufzufinden. Allerdings verlange die sprachliche Repräsentation dialektischer Widersprüche ,,formale[...] Kontradiktionfen]", ohne in logischen Widersprüchen aufzuge-

158 159 160 161 162

163 164

Vgl. Brentel 1989, S. 316f. Vgl. ebd., S. 318. MEW 23, S. 79 (MEGA II/6, S. 97) (zitiert in Brentel 1989, S. 318). Brentel 1989, S.318. Vgl. MEW 23, S. 80 (MEGA II/6, S. 97). Vgl. auch II/5, S. 37: „Durch ihren gemeinschaftlichen Werthausdruck im Material Leinwand unterscheiden sich also alle Waaren als Tauschwerthe von ihren eignen Gebrauchswerthen und beziehn sich zugleich auf einander als Werthgrößen, setzen sich qualitativ gleich und vergleichen sich quantitativ" sowie MEW 23, S. 103 (II/5, S. 55): „Ein Verkehr, worin Warenbesitzer ihre eignen Artikel mit verschiednen andren Artikeln austauschen, und vergleichen, findet niemals statt, ohne daß verschiedne Waren von verschiednen Warenbesitzern innerhalb ihres Verkehrs mit einer und derselben dritten Warenart ausgetauscht und als Werte verglichen werden". Brentel 1989, S. 318f. Vgl. MEW 23, S. 103 (MEGA II/5, S. 55).

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hen. Marx führt nach Brentel nun die Bestimmungen der Ware als „reale Kontradiktion" ein. Die unterschiedlichen Eigenschaften von Gebrauchswert und Wert seien entgegengesetzte, die aus den spezifischen Bedingungen privat-arbeitsteiliger Produktionsverhältnisse resultieren. Hier müsse „privat dissoziierte Arbeit [...] zur Einheit gesellschaftlicher Gesamtarbeit zusammengeschlossen" 165 werden, womit Arbeit „verschieden und selbst entgegengesetzt bestimmt" 166 , d.h., um anerkannt zu werden, als „ihr unmittelbares Gegenteil, als abstrakt-allgemeine Arbeit" 167 darzustellen sei. Gebrauchswert und Wert stellen nun nach Brentel gegensätzliche Ansprüche an die Ware dar, sich als Gebrauchswert zu realisieren (was erst in der Konsumtion seitens des Käufers geschehe) und sich als Wert zu realisieren (was nur im Verkauf stattfinde). Beide Bestimmungen könnten aber „für die bloße Ware nicht zugleich realisiert werden" 168 . Im Anschluss an Wolf 169 wird nun die Ware als dialektischer Widerspruch bestimmt: 1. Die notwendige Zusammengehörigkeit von Gebrauchswert und Wert bestehe darin, dass ein Produkt nur als Resultat konkret-nützlicher Arbeit auch Wert besitzen könne, es potentieller Gebrauchswert für andere sein müsse, um anerkannter Teil des gesellschaftlichen Gesamtprodukts in privat-arbeitsteiligen Produktionsverhältnissen werden zu können und umgekehrt es seinen Gebrauchswert nur realisieren könne, wenn es sich als Wert für seinen Besitzer realisiere170. 2. Gebrauchswert und Wert der Ware strebten aber zugleich auseinander und „verselbständigen sich gegeneinander", weil die gesellschaftliche Dimension der Ware an ihrer eigenen Naturalform „keine eigene Existenzform haben kann" 171 . Der Wert von Ware A (soziale Form I) müsse sich im Gebrauchswert von Ware Β darstellen (die damit zur sozialen Form II avanciere) und verselbständige sich derart gegenüber dem Gebrauchswert vonA 1 7 2 . Die erste Stufe der Verselbständigung des Werts, der Übergang von der Ware zur Wertform, der von Backhaus als Bruch in der dialektischen Darstellung betrachtet wurde 173 , wird allerdings von Wolf in aller Ausführlichkeit als notwendiger Übergang dargelegt. Es wird dabei gezeigt, dass die Gesellschaftlichkeit der Warendinge, ihre Wertdimension, sich nur in 165 166 167 168 169 170 171 172

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Zitate der Reihenfolge nach: Brentel 1989, S. 404, 405, 321, 321, 322. MEGA II/5, S. 26. MEW 13, S. 54 (MEGA II/2, S. 144). Brentel 1989, S. 323. Vgl. ebd., S. 405 (Anm. 19). Vgl. ebd., S. 324; vgl. Wolf 1985a, S. 99ff. Beide Zitate: Brentel 1989, S. 324. Vgl. ebd., S.324, 329. Vgl. Wolf 1985a, S. 119: „Zwischen den Wert und dem Gebrauchswert besteht nun ein Widerspruch, weil der Wert u m seines Erscheinens willen nicht nur mit innerer Notwendigkeit zum Gebrauchswert gehört, sondern zugleich von diesem wegstrebt, sich ihm gegenüber verselbständigt; denn das einzige gegenständliche Material, worin er als etwas Gegenständliches erscheinen muß, ist ein Gebrauchswert, der aber vom Gebrauchswert der ersten Ware verschieden ist". Im Gegensatz zu Backhaus, der diesen vermeintlichen Bruch für einen Mangel hält, meint Alexander Gallas (2003, S. 32), „zwischen zweitem und drittem Teil des ersten Kapitels gibt es keine Überleitung, und sei sie auch nur rhetorisch". Im Anschluss an eine althusserianische Deutung der ,Logik' des Kapitals hält er den Bruch für ein Kennzeichen einer „multidirektionalen Darstellungsweise" (ebd., S. 29).

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der Gegenständlichkeit ihrer Gesellschaftlichkeit, der Gebrauchswertdimension der jeweils anderen Waren, äußern kann, was nach Wolf nicht nur in der rein gesellschaftlichen Existenzweise des Werts, sondern auch in der spezifischen Ausdrucksweise der Gesellschaftlichkeit von Gegenständen begründet liegt: „Da der Wert der einzelnen Ware in keinem von ihrem Gebrauchswert verschiedenen Medium erscheinen kann, (die Ware ist ein toter Gegenstand, der keine Gesten hat, keine Sprache besitzt usw.) kann der Wert an ihr überhaupt nicht erscheinen. Die Ware ist nicht als das vom Gebrauchswert verschiedene Gesellschaftliche, sondern einzig und allein als Gebrauchswert fassbar. Muss die Ware als Wert erscheinen und kann sie dies in keinem andern Medium als in dem des Gebrauchswerts tun, dann kann die Ware nur in einem Gebrauchswert erscheinen, der vom Gebrauchswert der Ware verschieden ist"174. Nur Menschen können nach Wolf in ihrer Existenz als gesellschaftliche Wesen füreinander ein von ihrer unmittelbaren physischen Dinghaftigkeit verschiedenes Medium entwickeln und verwenden. Die Gesellschaftlichkeit von Menschen erscheine an ihnen selbst in Gestalt von Gesten, Lauten, mündlicher und schriftlicher Sprache175. Es werde nicht ein Mensch ausgeschlossen und in seiner bloßen Körperlichkeit als gesellschaftlichallgemeine Existenzform des Menschen betrachtet. Genau dies geschehe aber mit Waren als spezifisch gesellschaftlichen Dingen: Unter privat-arbeitsteiligen Produktionsverhältnissen treten die Akteure nun gegenständlich, über den Austausch ihrer Produkte vermittelt zueinander in Kontakt. „Das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen ist über das gesellschaftliche Verhältnis der Sachen vermittelt"176. Die Vergesellschaftung ihrer eigenen Arbeiten trete den Menschen selbständig in Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses von Sachen gegenüber, ihre gesellschaftliche Einheit selbständig als Werteigenschaft ihrer Arbeitsprodukte. Gesellschaftliches Verhältnis von Sachen bedeute dabei, dass diese von Menschen unter bestimmten Bedingungen in ein Verhältnis gesetzt werden, in dem die Gegenstände nun eine über ihre physische Dingeigenschaft, die ihnen auch einzeln zukommt, hinausgehende Funktion bzw. Eigenschaft erhalten177. Aber, wie Marx betone: „Waaren sind Sachen. Was sie sind, müssen sie sachlich sein oder in ihren eignen sachlichen Beziehungen zeigen"178. Marx hat in der Tat auf diesen Aspekt einer Darstellung des Werts im Verhältnis der Waren zueinander mehrfach deutlich hingewiesen, wobei gerade die von Brentel erwähnte Metaphorik der , Warensprache' eine sachliche Erkenntnis anzeigt: Während der Wert als unsichtbare gesellschaftliche Einheitsdimension der Privatprodukte vom Theoretiker zunächst nur gedanklich fixiert werden kann, in der gesellschaftlichen Realität unbewusster Vergesellschaftung, in der gerade nicht mit Wertrechnungen hantiert wird, dies aber nicht möglich ist (das würde direkte, koordinierte Vergesellschaftung voraussetzen), können die Arbeitsprodukte „daher nicht als Werthe ausgedrückt werden". ,Nicht als Werte' meint, sie können nicht unvermittelt als Werte erschei-

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Wolf 1985a, S. 118. Vgl. ebd., S. 107, 114. Ebd., S. 107. Vgl. u.a. MEW 23, S. 87 (MEGA II/6, S. 104): „die Privatarbeiten betätigen sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittels derselben die Produzenten versetzt". Vgl. Wolf 1985a, S. 112. MEGA II/5, S. 30.

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nen, sondern müssen dies über den „Umweg"179 des Gebrauchswerts einer als allgemeine Äquivalentware ausgeschlossenen Ware tun. Dieses Gesellschaftliche findet nun nach Wolf eben nicht selber ein gesellschaftliches Medium vor, wie die Menschen die Sprache. Daher konstituiere sich eine andere Form der Symbolisierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs - die ,Warensprache', die .Sprache' der Dinge180, die das, was vorher der Theoretiker gedanklich ausgedrückt habe, nun „ohne Hirn"181 ausdrücken müssten. Die gesellschaftlichen Gegenstände können ihren spezifisch gesellschaftlichen Charakter also nur wiederum in gegenständlicher Form ausdrücken, indem ein Ding diese Gesellschaftlichkeit repräsentiert/ darstellt: „Man sieht, alles, was uns die Analyse des Warenwerts vorher sagte, sagt die Leinwand selbst, sobald sie in Umgang mit andrer Ware, dem Rock, tritt. Nur verrät sie ihre Gedanken in der ihr allein geläufigen Sprache, der Warensprache. Um zu sagen, daß die Arbeit in der abstrakten Eigenschaft menschlicher Arbeit ihren eignen Wert bildet, sagt sie, daß der Rock, soweit er ihr gleichgilt, also Wert ist, aus derselben Arbeit besteht wie die Leinwand. Um zu sagen, daß ihre sublime Wertgegenständlichkeit von ihrem steifleinenen Körper verschieden ist, sagt sie, daß Wert aussieht wie ein Rock und daher sie selbst als Wertding dem Rock gleicht wie ein Ei dem andern"182. Damit wird eine weitere Selbständigkeit des Werts generiert - die Darstellung der Gesellschaftlichkeit der Sachen in einer ausgeschlossenen Ware, die als gegenständliche Existenzform dieser Gesellschaftlichkeit gilt, so dass man den sozialen Zusammenhang in der Hosentasche mit sich herumtragen, ihn aber auch genauso leicht verlieren kann183. Brentel bestimmt den Widerspruch der Ware nun als ,,notwendige[...] Zusammengehörigkeit einerseits" sowie „Selbständigkeit und Verselbständigung gegeneinander andererseits"184, womit er Wolfs Anschluss an Marx' Charakterisierung in den Grundrissen exakt übernimmt185. Deutlicher als Wolf und in Anknüpfung an Backhaus betont Brentel dabei, dass sich die Ware des Anfangs damit als „stets schon vorauszusetzende Ware-GeldRelation" erweise. Die „formell aufgegriffenen Bestimmungen"186 der Ware seien erst real gegeben im Wechselverhältnis von Ware und Geld, im realen Prozess der einfachen Zirkulation. Ware existiere mithin nur als Warenbeziehung und diese als Ware-GeW-Beziehung187. Brentel macht nun drei Entwicklungsstadien der Widerspruchsstruktur der Ware in der Entwicklung zum Geld aus: 1. Die Widerspruchsstruktur der Ware an sich - zwischen Gebrauchswert und Wert - vor dem begrifflichen Übergang zur Wertform: Die Ware kann hier nicht zugleich und in derselben Hinsicht Gebrauchswert und Wert sein, da sie sonst kein Privatprodukt darstellte, sondern ein apriori gesellschaftlich anerkanntes, was ihren Warencharakter eliminieren

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Zitate der Reihenfolge nach: MEGA II/6, S. 32, 12. Diesen Sachverhalt wird Wolf später als objektive Semantik ökonomischer Gegenständlichkeit bezeichnen. Vgl. Wolf 2005a. MEGA II/6, S. 12. MEW 23, S. 66f. (MEGA II/6, S. 85). Vgl. M E W 4 2 , S. 9 0 ( M E G A I I / l . l , S. 90). Brentel 1989, S. 324. Vgl. Wolf 1985a, S. 26. Zitate der Reihenfolge nach: Brentel 1989, S. 325, 326. Vgl. ebd., S. 327.

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würde. Ihre gesellschaftlich-allgemeine Form ist deshalb nicht an ihrer stofflich für sich existierenden Naturalform darstellbar. Vorläufige Lösungsform dieses inneren Widerspruchs zwischen Gebrauchswert und Wert als unvermittelter Einheit in der Ware an sich oder „unmittelbarer Widerspruch"m, wie Marx ihn nennt, ist seine Darstellung als äußerer, polarischer Gegensatz von Ware A als relative Wertform und Ware Β als Äquivalentform. Indem der Gebrauchswert von Β als Wert von A gilt, Ware A sich vermittelt über ihr anderes als Wert auf sich bezieht, ist die einfache Wertform „erste vermittelte Einheit von Gebrauchswert und Wert"189 und die in der Ware angelegte „Verselbständigung des Werts gegen den Gebrauchswert im Verhältnis zweier Waren realisiert"190. 2. Die in der Wertformanalyse fortwirkende Widerspruchsstruktur zwischen allgemeinem Charakter des Werts (von A) und seiner partikularen Erscheinungsform im Gebrauchswert (von B, C, D usw.): Der Wert hat damit aber noch nicht seine adäquate Erscheinungsform erhalten. Das heißt, seine realen Existenzbedingungen sind begrifflich noch nicht eingeholt. Der Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert wirkt nun von der einfachen über die entfaltete bis zur allgemeinen Wertform in Gestalt des Widerspruchs zwischen der Allgemeinheit des Werts und der Partikularität seiner Erscheinungsformen191 „in je besonderen Gebrauchswerten, die darin die Allgemeinheit des Werts nicht zureichend zu repräsentieren vermögen"192. Hier schließen sich noch viele besondere Äquivalentformen wechselseitig als angemessener Repräsentant des Werts - allgemeine, gültige Wertform - aus. Der Wert ,sieht noch aus wie' ein Rock, wie Leinwand, Tee usw. Auch auf der Ebene der allgemeinen Wertform existiert dieser die entfaltete Wertform charakterisierende Widerspruch aber noch, da auf dem Abstraktionsniveau der Wertformanalyse noch jede Ware allgemeine Äquivalentform annehmen kann (paradoxe Form IV der Erstauflage)193. So schließt das erste Kapitel in der auch von Brentel favorisierten Erstauflage des Kapital mit einer unaufgelösten, weil in der nur theoretischen Beziehung der Waren aufeinander unauflösbaren, Widerspruchskonstellation. 3. Die Widerspruchsstruktur einer prämonetären Ausgangssituation des Austauschprozesses vor dem Übergang zur wirklichen Geldkonstitution: Die Konstellation von Form IV kehrt nun, unter Einbeziehung der Warenbesitzer, als Ausgangssituation des Austauschprozesses wieder, „indem in solcher Austauschbeziehung jede Ware in ihren beiden spezifisch gesellschaftlichen Bestimmtheiten [...] zugleich realisiert werden muß, in gegenständlich selbständiger Form dies für die einzelne Ware jedoch nur gegensätzlich gegen die andere

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MEGA II/5, S. 51. Arndt (1994, S. 302) betrachtet diese Formulierung als problematisch. Sie lege die Fassung der Ware als Subjekt in einem hegelianisierenden Sinne nahe. Zu Recht werde sie deshalb in der Zweitauflage des Kapital gestrichen. Was sich jetzt entwickle, sei nicht mehr der Widerspruch der Ware, sondern der Austauschprozess. Es stellt sich aber die Frage, welchen Sinn dann noch die, vom Austauschprozess abstrahierende, Wertformanalyse haben soll, die ja in der Zweitauflage nicht getilgt wird.

189

Brentel 1989, S. 329. Wolf 1985a, S. 119 Vgl. ebd., S. 178; vgl. MEW 29, S. 315 (MEGA III/9, S. 123). Brentel 1989, S. 329f. Vgl. ebd., S. 330. Vgl. dazu ausfuhrlich Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit.

190 191 192 193

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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Bestimmung möglich ist" 194 . Diese Widerspruchsstruktur wird von Marx aus der Perspektive von Akteuren eines, isoliert für sich genommen fiktiven, prämonetären Austauschprozesses formuliert: Jeder Warenbesitzer will, dass seine Ware als allgemeines Äquivalent unmittelbar austauschbar ist, alle anderen Warenbesitzer ihrer als allgemeine Ware bedürfen, während alle anderen Waren nur als besondere Gebrauchswerte für seine Bedürfnisse gelten sollen. Solcher .Austauschprozess' scheitert notwendig, weil alle Waren alle von der Übernahme der Äquivalentfunktion ausschließen, es so viele allgemeine' Äquivalente wie besondere Waren gibt. Damit verlieren die Waren mit dem allgemeinen Äquivalent zugleich auch ihre ökonomische Formbestimmtheit und fallen auf den Status bloßer Produkte zurück 195 . Neben Backhaus und Brentel kann Michael Heinrich als entschiedenster Verfechter einer monetären Interpretation der Marxschen Werttheorie gelten. Nach Heinrich wurde Marx im traditionellen Marxismus nur als einzelne politökonomische Ansätze verwerfender sozialistischer Politökonom gelesen. Marx' Kritik der politischen Ökonomie sei dagegen aber als Kategorienkritik am gesamten theoretischen Feld der politischen Ökonomie sowie der auf dieser Grundlage formulierten Lösungsversuche ökonomischer Probleme, damit als Theoriekritik und positive Formanalyse zugleich, zu begreifen 196 . Das theoretische Feld der politischen Ökonomie gilt Heinrich als durch spezifisch sozialstrukturell produzierte Evidenzen geprägtes, grundlegendes Wirklichkeits- und Wissenschaftsverständnis 197 . Der semantische und logisch-syntaktische Kembestand ihrer Theorien besteht demnach aus vier wesentlichen Elementen 198 : Anthropologismus - die Konstruktion ökonomischer Tatbestände ausgehend von einem ,Wesen des Menschen', welches aber tatsächlich nichts als anthropologisierte historisch-spezifische Eigenschaften von Warenbesitzem repräsentiert. Individualismus die Auffassung einzelner Individuen und ihrer Dispositionen als letzte Reduktions- bzw. Erklärungsbasis sozialer Sachverhalte. Ahistorismus - als Folge der ersten beiden Elemente, die zur Identifizierung von historisch-spezifisch Sozialem mit Sozialem überhaupt bzw. Natürlichem führt, also zur im- oder expliziten Unterstellung einer natürlichen Wirtschaftsordnung'. Empirismus - alle ökonomischen Phänomene sind der empirischen Beobachtung zugänglich und auf einer empirischen Theorieebene angesiedelt. Darüber hinaus konstatiere Marx aber auch das Scheitern der politischen Ökonomie bei der Lösung spezifischer Probleme, von denen hier zunächst das des Zusammenhangs zwi-

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Ebd., S. 331. Vgl. ebd., S. 323f., 332. Vgl. Heinrich 1999, S. 196ff. Vgl. ebd., S. 24f. Vgl. ebd., S. 82, 310. Hier knüpft Heinrich teilweise durchaus an Althussers Charakterisierung des Objekts der politischen Ökonomie an. Vgl. bereits Kapitel 1.1 dieser Arbeit. Die Kritik am Anthropologismus der politischen Ökonomie ist zudem ein gängiger Topos bereits des westlichen Marxismus. So moniert z.B. Hans Jürgen Krahl, die politische Ökonomie stehe „auf dem Standpunkt des klassischen Naturrechts" (1985d, S. 363). Sie sei daher nicht nur anthropologistisch, indem sie die Bestimmungen der Rechtsperson mit der des Individuums überhaupt identifiziere (vgl. ebd.), sondern zudem idealistisch, denn sie „basiert auf Rechtskategorien, die an sich erst abgeleitet werden müssten aus der Ökonomie" (ebd.).

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

sehen Wert und Geld von Bedeutung ist. Heinrich stellt dabei allerdings, im Gegensatz zu Interpreten wie Brentel und Wolf, in aller Deutlichkeit Ambivalenzen noch im begrifflichen Kernbereich der ,materialen' Analysen von Marx heraus und formuliert so den theoretischen Schlusspunkt einer sich noch als Rekonstruktion verstehenden Beschäftigung mit dem Marxschen Werk199. Bereits die Argumentationsstrategie des Schlusses auf den Wert als tertium comparationis und abstrakte Arbeit als dessen Konstitutionsgrund im Kapital verdankt sich nach Heinrich - Marx' eigene Äußerungen dazu aufnehmend200 - einer Popularisierung, an die von Seiten nationalökonomischer Kritiker angeknüpft werden konnte, um Marx „innerhalb ihrer eigenen empiristischen Problematikm20] ZU situieren und zu verabschieden. Zunächst werde in Zur Kritik, in den Randglossen zu Wagner und in einem Brief an Kugelmann202 deutlicher als im Kapital, dass der Gegenstand von Marx zunächst nicht Ware überhaupt sei, wie Böhm-Bawerk unterstelle, um anschließend zu monieren, Marx erschleiche sich den Beweis der Konstitution von Wert durch Arbeit, sondern Ware als gesellschaftliche Form des Arbeitsproduktes"203. Marx' Ziel sei es, die gesellschaftliche Form der Arbeit, die in diesem formspezifischen, nur in privat-arbeitsteiligen Produktionsverhältnissen existierenden Arbeitsprodukt zur Geltung komme, zu entziffern. Deshalb könne er es in Zur Kritik auch als Tautologie bezeichnen, Arbeit als einzige Quelle des Werts zu betrachten204. Zudem seien die Ware und der Tauschwert des Anfangs der Kritik keine empirisch vorgefundenen, einfachen Gegenstände oder Austauschverhältnisse nach Arbeitszeitmengen, für die Marx einen direkten Beweis erbringen wolle. Das einfache Verhältnis W-W ist Heinrich zufolge real immer schon das komplexe Zirkulationsverhältnis W-G/ G-W. Es müsse aber von diesem zunächst abstrahiert werden, um das empirisch gegebene Verhältnis preisbestimmter Ware zu Geld als theoretischen, begriffenen Gegenstand hervorzubringen. Der Anfang sei daher „eine begriffliche Konstruktion, um die allgemeinste Bestimmung der Warenproduktion zu untersuchen: Vermittlung des gesellschaftlichen Stoffwechsels durch den Tausch"205. Marx wisse sehr wohl, dass „die Durchschnittspreise nicht direkt mit den Wertgrößen der Waren zusammenfallen"206, er sei aber davon überzeugt, dass die komplexen Verhältnisse preisbestimmter kapitalistischer Waren „nur ausgehend von der Werttheorie adäquat dargestellt werden können"207.

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205 206 207

Vgl. Heinrich 1999, S. 198. Vgl. MEW 23, S. 11 (MEGA II/5, S. 11). Heinrich 1999, S. 205. Vgl. MEW 13, S. 16f„ 22 (MEGA II/2, S. 114); 19, S. 369; 32, S. 552f. Heinrich 1999, S. 203. Vgl. MEW 13, S. 22 (MEGA II/2, S. 114): „Indem der Tauschwert der Waren in der Tat nichts ist als Beziehung der Arbeiten der einzelnen aufeinander als gleiche und allgemeine, nichts als gegenständlicher Ausdruck einer spezifisch gesellschaftlichen Form der Arbeit, ist es Tautologie, zu sagen, daß die Arbeit einzige Quelle des Tauschwerts sei und daher des Reichtums, soweit er aus Tauschwerten besteht. Es ist dieselbe Tautologie, daß der Naturstoff als solcher keinen Tauschwert, weil keine Arbeit und der Tauschwert als solcher keinen Naturstoff enthält". Heinrich 1999, S. 200. MEW 23, S. 181 (Fn.) (MEGA 11/5, S. 119 (Fn.)) (zitiert in Heinrich 2008, S. 87). Heinrich 2008, S. 88.

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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Als Formtheorie der Arbeit ist Marx' Ansatz nach Heinrich klar dem naturalistischen und individualistischen Paradigma der politischen Ökonomie entgegengesetzt. Während dieses Arbeit ausschließlich als individuellen Prozess zwischen Subjekt und Objekt betrachte, den Tausch als direkte Folge arbeitsteiliger Produktion einführe, ihn letztlich nach dem Modell unmittelbarer Interaktion zweier Warenbesitzer begreife, die Kommensurabilität von Waren als schlicht gegeben hinnehme und das Wertmaß anthropologisch (Arbeitsleid/ Nutzen) definiere,,glimmt Marx den Warenaustausch nicht einfach als Vermittlungsform der gesellschaftlichen Reproduktion hin, er betrachtet ihn vielmehr als Ausdruck einer spezifischen Form der gesellschaftlichen Arbeit"208. Er frage nach den historisch-spezifischen, den Handelnden vorgelagerten Bedingungen (Brentels Form III), die die Vergesellschaftung der Arbeit in die ökonomische Form des Warentausches zwingen, nach der unbewusst hervorgebrachten Form, die den Zusammenhang isolierter Privatarbeiten als systematischen ermöglicht (Brentels Form 1 und II). Daher abstrahiere Marx auch zunächst von den Warenbesitzern und ihren Motiven, was ein wichtiges Argument gegen jeden Rekurs auf den Nutzen als möglichen Grund der Wertgleichung darstelle: Nutzen, auch ein ominöser .Nutzen überhaupt', rekurriere stets auf Motive der Warenbesitzer oder unterstelle - als Dringlichkeit eines Bedürfnisses verstanden - immer unsystematische Tauschverhältnisse, die durch ihn bestimmt seien209. Die systematische gesellschaftliche Einheit der konkreten Privatarbeiten wird nun als abstrakte Arbeit definiert. Arbeit nehme derart einen „doppelten gesellschaftlichen Charakter"210 an: Arbeitsteilige Produktion bringe gesellschaftliche Gebrauchswerte, Gebrauchswerte für andere, hervor, was den gesellschaftlichen Charakter konkreter Arbeiten ausmache. Als privat-isoliert verausgabte sei Arbeit aber nicht a priori Element gesellschaftlicher Gesamtarbeit. Sie müsse sich als ihr Gegenteil, abstrakte Arbeit, darstellen, um durch Tausch nachträglich als nützlicher Teil der Gesamtarbeit anerkannt zu werden. Um vergesellschaftet zu werden, müssen konkrete Arbeiten „einander gleich gelten, was einen weiteren, den für die Warenproduktion spezifischen, gesellschaftlichen Charakter der Arbeit ausmacht". Der Grund der Gleich-Geltung, bzw. die Gleichheit der Arbeiten, kann nach Heinrich nun in zweierlei Weise gedacht werden: Als Eigenschaft aller einzelnen Privatarbeiten jeweils für sich oder als gesellschaftliche Relation aller einzelnen Privatarbeiten aufeinander. Zunächst betont er die letztere, gesellschaftstheoretische, Bestimmung als Marx' revolutionäre Einsicht in die spezifisch gesellschaftliche Qualität warenproduzierender Arbeit, die das theoretische Feld der politischen Ökonomie transzendiere. Abstrakte Arbeit gilt als „spezifisch gesellschaftliche Bestimmung" 2 " konkreter Arbeiten, als ihr Zusammenschluss zur gesellschaftsreproduktiven Einheit, die, wie Marx in den Ergänzungen und Veränderungen besonders hervorhebe, „sich nur durch den Austausch"212 konstituiere - sie sei letztlich

208 209 210 211

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Heinrich 1999, S. 206. Vgl. Heinrich 2008, S. 66-68. MEW 23, S. 87 (MEGA II/6, S. 104). Beide Zitate: Heinrich 1999, S. 209. Vgl. auch Michael Bergers eng an Heinrich orientierte Definition: „Abstrakte Arbeit ist gesellschaftlich erzeugte Austauschbarkeit" (Berger 2003, S. 34). MEGA II/6, S. 41 (zitiert in Heinrich 2008, S. 178). Heinrich (ebd., S. 227) führt auch folgende Passage aus dem ,Kapital' an: „Der Geldkristall ist ein notwendiges Produkt des Austauschprozes-

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

,glicht natürliche[...], sondern spezifisch gesellschaftliche[...] Gleichheit"2^. Zugleich wird betont, dass die Abstraktion von den Konkreten und die Reduktion auf abstrakte Arbeit als reale Abstraktion jenseits aller kognitiven Leistungen der Warenbesitzer durch ihre Handlungen hindurch sich geltend mache: „Es handelt sich bei abstrakter Arbeit, wie auch bei Wert etc. gerade nicht einfach um nominalistisch gebildete Gattungsbegriffe" 214 . Dies sei auch gegen die These von Backhaus und Reichelt festzuhalten, die den „Abstraktionsleistungen der beteiligten Subjekte eine konstitutive Funktion"215 bei der Wertbildung zugestehe. In mehrerlei Hinsicht entdeckt Heinrich nun Ambivalenzen in Marx' Bestimmung der Wertsubstanz. 1) In Zur Kritik und der Erstauflage des Kapital identifiziert Marx demnach „abstrakte Arbeit noch weitgehend mit einfacher, unqualifizierter Arbeit"216, was als Erbe der Grundrisse anzusehen sei, wo abstrakte Arbeit noch mit „mechanischer, inhaltlich entleerter Arbeit"217 konnotiert werde. Dies versteht Heinrich als Konfundierung von konkreter und abstrakter Arbeit. Das Absehen von Qualifikation reduziere Arbeit auf einen empirisch auffindbaren, besonderen Typus konkreter Arbeit, während abstrakte Arbeit als Wertsubstanz „als besondere Art der Arbeitsverausgabung nirgendwo existiert"218. Heinrich entdeckt des Weiteren in Sätzen wie folgendem naturalistische Bestimmungen der Wertsubstanz219: „Alle Arbeit ist [...] Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, und in dieser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschli-

ses, worin verschiedenartige Arbeitsprodukte einander tatsächlich gleichgesetzt und daher tatsächlich in Waren verwandelt werden" (MEW 23, S. 101 f.) (MEGA II/6, S. 116). 213 Heinrich 1999, S. 209. Analog unterscheidet Michael Berger im folgenden Satz von Marx drei Bedeutungsschichten des Arbeitsbegriffs: „Indem aber diese konkrete Arbeit, die Schneiderei, als bloßer Ausdruck unterschiedsloser menschlicher Arbeit gilt, besitzt sie die Form der Gleichheit mit andrer Arbeit" (MEW 23, S. 73) (MEGA II/6, S. 90). .Konkrete Arbeit' gilt Berger als ungleiche „konkrete Produktionsarbeit", unterschiedslose menschliche Arbeit' als „konkrete Produktionsarbeit ohne bestimmten Inhalt" (Berger 2003, S. 49) oder ,,inhaltsleere[...] physische Arbeitsmenge" (ebd., S. 62), ,Form der Gleichheit' schließlich als die „Austauschbarkeit der Arbeitsprodukte" (ebd., S. 49). Erst die letztere sei eine genuin gesellschaftstheoretische Kategorie, während die Unterschiedslosigkeit der zweiten Bedeutungsschicht eine Eigenschaft jeder einzelnen Arbeit für sich darstelle. 214 Heinrich 1999, S. 210 (Fn.). 215 Backhaus/ Reichelt 1995, S. 90 (zitiert in Heinrich 1999, S. 210 (Fn.)). 216 Heinrich 1999, S. 210. Diesen Begriff abstrakter Arbeit findet man bereits bei Hegel (1989, S. 352 (§ 198): „Das Arbeiten des Einzelnen wird durch die Teilung einfacher und hierdurch die Geschicklichkeit in seiner abstrakten Arbeit sowie die Menge seiner Produktionen größer [...] Die Abstraktion des Produzierens macht das Arbeiten ferner immer mehr mechanisch"). 2,7 Heinrich 1999, S. 210. Vgl. MEW 42, S. 218f. (MEGA II/l.l, S. 217). 218 Heinrich 1999, S.211. 219 Ein Jahr nach der Erstveröffentlichung von Heinrichs Buch stellt auch Wulf D. Hund, ohne Verweis auf Heinrich, ein „heimliches Doppelleben" (1992, S. 119) des Begriffes abstrakte Arbeit fest, das sowohl eine rein gesellschaftliche als auch eine „substantiierende^..]" physiologischnaturalistische Bedeutung beinhalte (vgl. ebd., S. 117).

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cher Arbeit bildet sie den Warenwert" 220 . Hier werde nun abstrakte Arbeit auf,.Natureigenschaften von Arbeit, [...] die zwar immer vorhanden sind, [...] aber nur in der Warenproduktion als , wertbildend' relevant werden" 221 bezogen. Mit einer solchen Deutung werde zwar eine von der Klassik nicht vollzogene Unterscheidung nachgeholt, nämlich die zu deren Differenzierung in Gebrauchswert und Tauschwert analoge, das Terrain der politischen Ökonomie mit ihrer Auffassung von Arbeit als ungesellschaftlichem Prozess aber nicht verlassen 222 . Diese naturalistische Tendenz der ersten beiden Unterabschnitte des ersten Kapitels des Kapital werde noch von einer in die Zweitauflage eingefügten Popularisierung verstärkt, in der Marx zur Plausibilisierung abstrakter Arbeit als Wertsubstanz eine „auf die Rationalität des Warenbesitzers abhebende Argumentation" 223 verfolge. Solchen empiristischen, individualistischen und substantialistischen Hinweisen seien nun viele Marxisten gefolgt, die abstrakte Arbeit quasi als konkrete Arbeit im allgemeinen fassten 224 . Als Beispiel wird Wolfgang Fritz Haugs Äußerung zitiert, ,,[s]owohl .konkret-nützliche' als auch ,abstrakt-menschliche' Arbeit reduzierten sich letztlich auf Naturprozesse" 225 . Zum Schicksal der von Heinrich als naturalistisch gedeuteten Passus ist noch Folgendes zu ergänzen: Bereits in der Erstauflage findet sich die naturalisierende Äußerung, beim Absehen von der qualitativen Differenz der Arbeiten seien beide als „produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand u.s.w." 226 zu betrachten, was in die folgenden Auflagen übernommen wurde 227 . Dagegen wird an mehreren Stellen der Erstauflage der rein gesellschaftliche Charakter der abstrakten Arbeit als Wertsubstanz deutlich hervorgehoben 228 . In der Zweitauflage wird nun die von Heinrich bemängelte Passage in einen neuen, separaten Unterabschnitt zum Doppelcharakter der Arbeit eingefügt. Hier heißt es dann, wie bekannt: „Alle Arbeit ist einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn und in dieser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschlicher Arbeit bildet sie den Waaren-Werth. Alle Arbeit ist andrerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besondrer zweckbestimmter Form und in dieser Eigenschaft konkreter nützlicher Arbeit producirt sie Gebrauchswerthe". In den Ergänzungen und Ver220

221 222 223

224 225 2:!6 221 228

MEW 23, S. 61 (MEGA II/6, S. 79) (Hervorhebungen von I.E.). Er bezieht sich auch kritisch auf folgende Stellen: ebd., S. 58 („Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.") sowie MEW 13, S. 18 (MEGA II/2, S. 110). Heinrich 1999, S. 211. Vgl. ebd., S. 212. Ebd. Vgl. MEW 23, S. 61 (Fn.) (MEGA II/6, S. 80 (Fn.)): „Viel treffender sagt der Note 9 zitierte anonyme Vorgänger von A.Smith: ,Ein Mann hat eine Woche auf die Herstellung dieses Bedarfsgegenstandes verwandt... und der, welcher ihm einen anderen Gegenstand im Austausch gibt, kann nicht richtiger abschätzen, was wirklich gleichwertig ist, als durch die Berechnung, was ihm ebensoviel labour und Zeit kostet. Das bedeutet in der Tat den Austausch der labour, die ein Mensch in einer bestimmten Zeit auf einen Gegenstand verwandt hat, gegen die labour eines andren. In der gleichen Zeit auf einen anderen Gegenstand verwandt.' ('Some Thoughts on the Interest of Money in general etc.', p.39.)". Zur Rezeptionsgeschichte des Begriffes abstrakte Arbeit vgl. Heinrich 1994, Sp. 61-63. Haug 1989, S. 121 (zitiert in Heinrich 1999, S. 212 (Fn.)). MEGA II/5, S. 24. Vgl. MEW 23, S. 58f. (MEGA II/6, S. 77). Vgl. MEGA II/5, S. 19,41.

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änderungen zum ersten Band des Kapital finden sich nun drei unproblematischere Varianten dieses Satzes, die auf die, aus gesellschaftstheoretischer Sicht irreführende, Formulierung der Verausgabung „im physiologischen Sinn" verzichten, obwohl auch in ihnen konkretistisch von einer .Verausgabung' abstrakter Arbeit die Rede ist. Diese Varianten lauten: „Alle Arbeit ist einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft·, andrerseits Verausgabung aller Kraft in zweckbestimmter Form"; „Alle Arbeit ist einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft. Der Werth eines Products bedeutet, daß es nichts darstellt ausser verausgabter Arbeitskraft, menschlicher Arbeit schlechthin"; „[Alle Arbeit ist] einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft überhaupt, also abstrakt menschliche Arbeit', und in dieser Eigenschaft als abstrakt menschliche Arbeit bildet sie den Werth"229. Auch die von Wolf vertretene und jenseits eines solchen Naturalismus gelegene These von der Vergesellschaftungsrelevanz abstrakter Arbeit in vorkapitalistischen Gemeinwesen, „insofern die gesellschaftliche Gesamtarbeit auf die einzelnen Sphären verteilt werden müsse und dabei die einzelnen Arbeiten einander gleichgesetzt würden"230, leite sich von solchen Überresten der Klassik ab. Wolf übersehe, so Heinrich in impliziter Anlehnung an Brentel, „daß die bloße Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit keine Gleichsetzung der einzelnen konkreten Arbeiten impliziert: wenn eine selbst wirtschaftende bäuerliche Familie täglich neben zwei Stunden Bäckerarbeit auch noch eine Stunde Schneiderarbeit verausgabt, so ist dies keine Gleichsetzung (überhaupt in welcher quantitativen Proportion oder wird schon vorausgesetzt, daß jede Arbeit als gleich einfache Arbeit gilt?), sondern es werden die verschiedenen konkreten Arbeiten auf verschiedene Mitglieder der Familie verteilt. Die ,Gleichsetzung' ist hier der Akt des betrachtenden Theoretikers". In diesem Kontext lässt sich auch Heinrichs These verstehen, nicht nur in vorkapitalistischen Gemeinwesen, sondern auch in der kapitalistischen Produktionsweise, sei der Charakter der konkreten Arbeiten, also Gesamtarbeit als stofflicher Reproduktionszusammenhang, nichts „Homogenes", „keine Summe gleichartiger Quantitäten, sondern eine bloße Menge unvergleichbarer Größen, [...] die [...] im Tausch ,gewaltsam' verglichen werden"231. Dies erinnert an Wolfgang Müllers Begriff der „Gesamtheit von [...] verschiedenen Einzelarbeiten"232. Zu fragen wäre hier, ob Heinrich eine quasi-aristotelische Position233 vertritt - Gleichheit ist gewaltsam und künstlich hergestellt, zwar nicht wie bei diesem, weil es das Bedürfnis verlangt234, 229 230 231 232

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234

Zitate der Reihenfolge nach: MEGA II/6, S. 79f., 5. Heinrich 1999, S. 213; vgl. Wolf 1985a, S. 59. Zitate der Reihenfolge nach: Heinrich 1999, S. 213, 219. Müller 1969, S. 75. Moishe Postone nennt dies etliche Jahre später eine ,heterogene Ganzheit', vgl. Postone 2003, S. 236f. Vgl. Castoriadis 1981, S. 233. Dieser stellt hier ein Schwanken Marx' zwischen einer aristotelischen' (1) und einer hegelianischen' (2) Position fest: (1) „die kapitalistische Ökonomie verwandelt die Menschen und ihre verschiedenartigen Arbeiten tatsächlich in meßbares Gleichartiges und bringt erstmals dieses Etwas hervor, die .abstrakte einfache Arbeit'"; (2) „die kapitalistische Ökonomie läßt endlich erscheinen, was im Verborgenen immer schon da war, die substantielle, essentielle Gleichheit der Menschen und ihrer Arbeiten". Dieter Wolf wird sich gegen beide Aussagen wenden, vgl. weiter unten. Vgl. Aristoteles 2000, S. 216: „In Wahrheit allerdings können Dinge, die so weit voneinander verschieden sind, nicht kommensurabel werden, aber soweit es das Bedürfnis verlangt, ist es möglich".

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aber als Struktureffekt einer Vergesellschaftungsweise. Steht Heinrichs Position wirklich Wolfs These gegenüber, die Gleichheit der Arbeiten werde im Tausch nicht geschaffen, sie werde in privat-arbeitsteiligen Produktionsverhältnissen eben in anderer Hinsicht relevant und sei nur als gesellschaftliches Einheitsprinzip etwas Künstliches? Erst in der Wertformanalyse und im Fetischkapitel des Kapital sowie in Zur Kritik formuliert Marx nach Heinrich eindeutig, dass abstrakte Arbeit „spezifisch gesellschaftliche Form der Arbeit"236 ist, also nichtintentionales, gesellschaftlich praktiziertes Geltungsverhältnis"237. Bestätigt werde dieses als Effekt des Handelns der Akteure unter privatarbeitsteiligen Produktionsbedingungen durch die einzige Stelle im Kapital, an der Marx transhistorische Momente des Arbeitsprozesses thematisiere, im fünften Kapitel. Dort sei von abstrakter Arbeit nicht die Rede238. Diese Problematik kehrt nun hinsichtlich der Wertgegenständlichkeit und Wertgröße wieder. Für die gesellschaftstheoretische Lesart abstrakter Arbeit könne Wertgegenständlichkeit mithin nur „gegenständliche Reflexion eines spezifisch gesellschaftlichen Verhältnisses"239, bzw. gesellschaftlich praktiziertes Geltungsverhältnis"24° sein. Eine naturalistische Deutung abstrakter Arbeit führe unweigerlich zu einer substantialistischen Konzeptualisierung der Wertgegenständlichkeit als durch einen individuellen Prozess physischer Energieverausgabung in die einzelne Ware ,entäußertes' Substrat. Danach geht abstrakte Arbeit in die Ware ein, ,wie Marmelade in den Pfannkuchen'241. Noch „vor und unabhängig vom Tausch"242 enthält jede Ware für sich demnach Wert. Marx verdeutliche aber im Gegensatz zu den ersten beiden Unterabschnitten des Kapital in den Ergänzungen und Veränderungen aus dem Jahr 1871/ 72, dass Wert gesellschaftliche Form der Privatprodukte sei, Güter ihre Wert- und damit Wareneigenschaft nur im Verhältnis zueinander besitzen könnten - als „ihnen gemeinsame Gegenständlichkeit'243. Allein die stoffliche Gebrauchswert-Seite der 235

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237 238 239 240 241

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Vgl. MEW 23, S. 88 (MEGA II/6, S. 105); MEGA II/5, S. 41: „Nun besitzt aber keine dieser Privatarbeiten in ihrer Naturalform diese specifisch gesellschaftliche Form abstrakter menschlicher Arbeit". MEW 13, S. 24 (MEGA II/2, S. 115). „Schneiderarbeit z.B. in ihrer stofflichen Bestimmtheit als besondere produktive Tätigkeit, produziert den Rock, aber nicht den Tauschwert des Rocks. Letzten produziert sie nicht als Schneiderarbeit, sondern als abstrakt allgemeine Arbeit, und diese gehört einem Gesellschaftszusammenhang, den der Schneider nicht eingefädelt hat" (ebd.). Heinrich 1994, Sp. 60. Vgl. Heinrich 1999, S. 214. Ebd., S. 215. Heinrich 1994, Sp. 60. Ulrich Krause spricht deshalb auch von der „Pfannkuchen-Theorie des Werts" (Krause 1977, S. 143). Auf diese Charakterisierung bezieht sich auch Heinrich. Heinrich 1999, S. 215. MEGA II/6, S. 30 (zitiert in Heinrich 1999, S. 215). Der gesamte Passus lautet: „So wurden Rock und Leinwand als Werthe, jedes für sich, auf Vergegenständlichung menschlicher Arbeit schlechthin reducirt. Aber in dieser Reduktion wurde vergessen, daß keines für sich solche Werthgegenständlichkeit ist, sondern daß sie solches nur sind, soweit das ihnen gemeinsame Gegenständlichkeit ist. Außerhalb ihrer Beziehung auf einander - der Beziehung worin sie gleichgelten - besitzen weder der Rock noch die Leinwand Werthgegenständlichkeit oder ihre Gegenständlichkeit als blosse Gallerten menschlicher Arbeit schlechthin. Diese gesellschaftliche Gegenständlichkeit besitzen sie

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Waren sei eine unabhängig vom spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhang existierende Eigenschaft, während Güter als Waren von Menschen unter bestimmten Bedingungen in ein gesellschaftliches Verhältnis zueinander gestellte Sachen darstellten und darin erst eine über ihre stoffliche Besonderheit hinausgehende Bedeutung erlangten244. Die Eigenschaft' Wert stellt sich so für den wissenschaftlichen Blick als relationale dar, wie Heinrich plastisch illustriert: Die Eigenschaft ,Rot' könne zwei unterschiedlichen Gegenständen für sich zukommen, während die Eigenschaften .Vorgesetzter'/ ,Untergebener' nur innerhalb einer sozialen Hierarchie existierten und den Personen als Individuen außerhalb dieser nicht anhafteten245. Wertgegenständlichkeit, so stellt Marx nach Heinrich in der Wertformanalyse und im Fetischabschnitt klar heraus, ist derart ein rein soziales Objekt, das in einem gesellschaftlichen Verhältnis von Gegenständen besteht und sich in Wertform und Geld als gegenständliche Eigenschaft präsentiert, in das aber tatsächlich „kein Atom Naturstoff 1246 eingeht. In Anlehnung an Backhaus und Reichelt unterstreicht Heinrich den eigentümlichen Charakter der Wertgegenständlichkeit, der von der Klassik, wie von der subjektiven Werttheorie systematisch verfehlt werde. Reduziere jene ihn auf Physisches - „Ausdruck der Verausgabung einer Menge physischer Arbeit" - so begreife diese sie als Psychisches - „Nutzenschätzungen, Präferenzen". Wertgegenständlichkeit erweise sich dagegen aber mit Marx „als sachlich-objektiv, aber ohne daß in diese Objektivität irgendeine physische Größe eingehen würde"247. Gegen die von Backhaus/ Reichelt, aber auch aus dem Krisis-Umfeld vorgebrachte Kritik des Zirkulationismus, der Identifizierung von Wert und Wertform sowie einer Zwei-WeltenLehre von stofflicher Produktion und gesellschaftlicher Zirkulation248, beharrt Heinrich allerdings, wie seinerzeit Rubin, darauf, dass Arbeitsprodukte auch in der kapitalistischen Produktionsweise vor dem Austausch keinen Wert besitzen können: „Isoliert für sich betrachtet außerhalb des Austausche ist der Warenkörper nicht Ware, sondern bloßes Produkt. Er besitzt somit im Austauschverhältnis eine gegenständliche Eigenschaft, die er außerhalb dieses Verhältnisses nicht besitzt"249. „Wenn Marx", so Heinrich an anderer Stelle, „vom Wert einer Ware spricht, so ist dies [...] nur dann möglich, wenn wir ein Austauschverhältnis zweier Waren voraussetzen und eine davon herausgreifen"250. Bei der Frage des nichtsubstantialistischen Verständnisses des Werts geht es nach Heinrich letztlich um das Begreifen des ,,Charakter[s] kapitalistischer Vergesellschaftung": „Wird davon ausgegangen, dass die

auch nur als gesellschaftliche Beziehung, (in gesellschaftlicher Beziehung.)" (MEGA II/6, S. 30). „Ein Arbeitsprodukt, für sich isolirt betrachtet, ist also nicht Werth, so wenig wie es Waare ist. Es wird nur Werth, in seiner Einheit mit andrem Arbeitsprodukt, oder in dem Verhältniß, worin die verschiednen Arbeitsprodukte, als Krystalle derselben Einheit, der menschlichen Arbeit, einander gleichgesetzt sind" (ebd., S. 31). 244

245 246 247 248 249 250

Vgl. Heinrich 1999, S. 215f. Noch deutlicher insistiert Dieter Wolf auf diesem Aspekt, vgl. Wolf 2004, S. 29ff. Vgl. Heinrich 2004a, S. 51 f. MEW 23, S. 62 (MEGA II/6, S. 80). Beide Zitate: Heinrich 1999, S. 217. Vgl. Backhaus/ Reichelt 1995, S. 77, 80; Trenkle 1998, S. 9; Kurz 2004, S. 94f. Heinrich 1999, S . 2 1 7 . Heinrich 2008, S. 135.

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Arbeitsprodukte bereits während des Produktionsprozesses, also der .privaten' Verausgabung von Arbeit, Waren und Wertgegenstände sind, dann wird die Differenz der verschiedenen Formen von Gesellschaftlichkeit eingeebnet bzw. die ffir die bürgerliche Gesellschaft spezifische Vermittlung der Gesellschaftlichkeit über den Tausch wird zu einem untergeordneten nachträglichen Akt. Der Traditionsmarxismus hat daher die Tendenz, die Differenz zwischen der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie und der klassischen politischen Ökonomie faktisch einzuebnen"251. Heinrich macht damit auf die paradoxen Konsequenzen einer reinen , Arbeitstheorie' des Werts, wie sie z.B. Robert Kurz ins Feld führt, aufmerksam. Eine solche Theorie der ,Arbeitsabstraktion' behauptet, der Wert sei „die gesellschaftliche Gegenständlichkeit der Ware, auch der einzelnen Ware [...] vor dem und unabhängig vom sekundären Austauschverhältnis"252. Der Austauschprozess ist aber, so ließe sich mit Heinrich argumentieren, die einzige wirkliche gesellschaftliche Beziehung der Produkte als Waren aufeinander. Vorher sind sie - seien sie noch so sehr auf Verwertung ausgerichtet Privatprodukte, die in sie eingegangene Arbeit Privatarbeit. Die letztlich proudhonistische Konsequenz253 des Arbeitsabstraktions-Ansatzes wäre es, Privatarbeit und ihr Produkt bereits als abstrakte Arbeit und Wert aufzufassen, womit Privatarbeit unmittelbar gesellschaftliche Arbeit und jede Ware unmittelbar austauschbar wäre - man erinnere sich aber daran, dass abstrakte Arbeit Marx zufolge die spezifisch gesellschaftliche Form der (konkreten) Privatarbeiten sein soll. Der Substantialismus bestimmt Arbeit damit als unmittelbar gesellschaftliche und negiert somit die Bedingungen, unter denen sie erst zu abstrakt-allgemeiner werden muss, um als vergesellschaftet zu gelten254. Heinrich arbeitet also klar heraus, dass eine Alternative zu der „,Zwei-Weltenlehre', die sich auf die Differenz von privater und gesellschaftlicher Arbeit bezieht"255 auf Grundlage der Marxschen Theorie nicht plausibel gemacht werden kann. ,Latenter' Wert oder der ,Anspruch' (die Absicht) Wert zu produzieren, seien keine Gründe seiner Existenz. Der Wertbegriff sei dagegen nur im spezifischen Konnex von Produktion und Zirkulation - private Produktion und nachträgliche Gesellschaftlichkeit im Austausch"256 - konzipierbar257. Die von Backhaus und Reichelt aufgeworfene Frage nach der Begründung eines ,intertemporalen', die logische Sekunde des Austauschaktes258 überdauernden und damit erst selbstreproduktiven, objektiven Wertbegriffs259, bleibt damit aber bestehen.

251

Zitate der Reihenfolge nach: Heinrich 2004d, S. 2, 3. Kurz 2004, S. 96 (Hervorhebungen von mir, I.E.). 253 Vgl. bereits Rubin 1973, S. 115. 254 Vgl. MEW 42, S. 104f. (MEGA II/l.l, S. 103). Auch entfremdete Arbeit ist noch lange nicht abstrakte Arbeit im werttheoretischen Sinn. Das muss auch gegen Robert Kurz' Bemühungen vorgebracht werden. Vgl. dessen Aufzählung der .Arbeitsabstraktionen' im Stile der Ökonomischphilosophischen Manuskripte: Kurz 2004, S. 114ff. 255 Heinrich 1999, S. 217. 256 Heinrich 2004d, S. 1 (Hervorhebungen von mir, I.E.). Vgl. auch Heinrich 2004a, S. 53. /57 Wert ist damit auch nicht wie bei Dockerill 2005, S. 1 (Fn.) mit dem Zwang zum Austausch von Produkten, also mit den Vergesellschaftungs/W/ngungert (Brentels ,Form III'), die die Arbeiten der Akteure in ein nachträgliches gesellschaftliches Verhältnis zueinander setzen, identifizierbar. 258 Vgl. Brentel 1989, S. 313; Scheit 2004, S. 48f. 259 Vgl. Backhaus/ Reichelt 1995, S. 69, 83f. 252

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Wird abstrakte Arbeit als gesellschaftliches Verhältnis der Privatarbeiten gefasst, so kann nach Heinrich auch der Bestimmungsgrund der Wertgröße nicht in den technologischen Bedingungen gesellschaftlicher Durchschnittsarbeitszeit260 liegen. Diese stellen ihm zufolge nämlich eine Determination des Wertquantums .jeder einzelnen Ware unabhängig vom Austausch"261 in Aussicht, was konkrete Arbeitszeit zum Maß abstrakter mache. Da abstrakte Arbeit aber ein sozialer Zusammenhang sei - ein Verhältnis zwischen individueller Arbeit, bzw. privat-isolierten Produktionseinheiten und gesellschaftlicher Gesamtarbeit, nicht zwischen individueller Arbeit und Produkt262 - könne sie „überhaupt nicht verausgabt' werden"263. Weder ist demnach also eine einzelne Arbeit wertbildend noch ein einzelnes Arbeitsprodukt Ware (Wertding) noch besitzt es Wertgröße. Hier scheint Heinrich noch über die - von ihm ebenfalls angeführte264 - Kritik Brentels an Engels hinauszugehen. Rekurriert Brentel stark auf die Differenz zwischen gesamtgesellschaftlicher Durchschnittsbildung im Gegensatz zu empirisch messbarer und überblickbarer Privatarbeit als Wertgrund und -maß 265 , so präzisiert Heinrich das Wertmaß als .„abstrakte Arbeitszeit'" 266 . Auch die für den einzelnen Warenproduzenten unüberblickbare und nichtvorhersehbare technologisch bestimmte Durchschnittsarbeitszeit erscheint hier nicht als präzirkulatives Bestimmungsmoment, das erst durch die Determinante der gesamtgesellschaftlichen zahlungsfähigen Nachfrage zu ergänzen ist267. Bereits für die Durchschnittsar-

260

Vgl. MEW 23, S. 53 (MEGA II/5, S. 20). Heinrich 1999, S. 218. 262 Vgl. Heinrich 2004a, S. 53. 263 Heinrich 1999, S.218. 264 Vgl. ebd., S. 219 (Fn.). 265 Die nur im Geld sich darstellende Durchschnittsarbeit führt auch Behrens als Argument für eine monetäre Werttheorie an (vgl. Behrens 1993b, S. 179). Gegen ,spended labour' - in Zeit gemessene konkrete Arbeit - als Wertgrund und -maß in der politischen Ökonomie sei Durchschnittsaibeit nicht vor dem Austausch „als quantitativ bestimmte gegeben" (ebd., S. 179), sondern werde durch Geschick der Arbeiter, Arbeitsteilung innerbetrieblicher wie gesellschaftlicher Art und letztlich alle Bedingungen der Produktivität „modifiziert" (ebd.). Nach Heinrich wäre eine solche Argumentation noch als konkretistisch zu kritisieren: „Die so bestimmte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit' reduziert aber lediglich verschiedene individuelle Verausgabungen derselben konkreten Arbeitsart auf ein Durchschnittsmaß. Wird dies bereits als abschließendes Wort über das Maß der Wertgröße aufgefaßt, so hat man nicht nur konkrete Arbeit zum Maß der abstrakten Arbeit gemacht [...], sondern es wird dann auch unterstellt, der Wert eines einzelnen Gutes könne unabhängig vom Austausch gemessen werden" (Heinrich 1994, Sp. 60). 261

266

Heinrich 1999, S. 219. Der Terminus findet sich bereits bei Adorno (vgl. Backhaus 1997h, S. 507) und darf nicht mit Moishe Postones Kategorie der abstrakten Zeit verwechselt werden (vgl. Postone 2003, S. 287ff. sowie Berger 2003, S. 38f., 57). Abstrakte Zeit ist Postone zufolge der neuzeitliche Maßstab, in dem auch - in der Diktion Heinrichs - konkrete Arbeitszeit eines Einzelnen, unter Abstraktion von seiner bestimmten Tätigkeitsform, also ereignisunabhängig, bestimmt wird. Hier werden nicht mehr konkrete Zeiten (z.B. die, die man benötigt, um ein Feld zu bestellen) mit einer anderen konkreten Zeit in Bezug gesetzt, sondern konkrete Tätigkeiten einem einheitlichen, abstrakten, kontinuierlichen und konventionell bestimmten Maß unterworfen (vgl. Postone 2003, S. 310). 267 Vgl. Heinrich 1999, S. 218, 240-244.

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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beitszeit gelte, dass sie logisch nicht unabhängig vom Markt bestimmbar sei268. Abstrakte Arbeitszeit als Wertmaß ist nach Heinrich keine in Zeit gemessene konkrete Arbeit 269 , sondern eine sozial konstruierte Zeitgröße, die durch drei Reduktionen zugleich gekennzeichnet ist: die auf Durchschnittsarbeitszeit, die auf zur Befriedigung des gesellschaftlichen zahlungsfähigen Bedarfs notwendige Arbeit und die auf einfache Arbeit 270 . Das Wertmaß charakterisiert also denjenigen ,»Anteil der vom individuellen Produzenten verausgabten konkreten Arbeitszeit, der im Tausch als Bestandteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit anerkannt wird" 271 . Die Anerkennung als ,Quasi-Messung' erfolgt „nur vermittels des Geldes"212. In dieser Weise sei auch Marx' Äußerung zu verstehen, gesellschaftliche Arbeitszeit sei „nicht fertige Voraussetzung, sondern werdendes Resultat" 273 . Eine solche Deutung des Wertmaßes findet sich annähernd schon in Hinweisen auf die doppelte Bestimmung gesellschaftlich notwendiger Arbeit im Kapital™, die von Block, Pollock, Rosdolsky und Reichelt 275 gegeben und in den - ansonsten recht traditionellen - Diskussionen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung als „Zirkel in Marxens Wertlehre" diskutiert wurden: „Der Wert soll bestimmt sein durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Was gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist, soll sich im Tausch herausstellen. Und der Tausch selbst soll durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit geregelt werden. Die Begriffe Tausch und Arbeitszeit werden also wechselseitig durch einander bestimmt" 276 . Ulrich Steinvorth geht so weit, daraus eine konsequent preistheoretische Revision der Arbeitswerttheorie zu folgern: Er konstatiert die Unvereinbarkeit 277 der Werttheorie im ersten Band, die einen doppelten Begriff gesellschaftlich notwendiger Arbeit enthält, der durchschnittliche Arbeitszeit und zahlungsfähige Bedürfnisse, also Marktverhältnisse, als

268

Vgl. Heinrich 2008, S. 78: Was der durchschnittliche oder „normale Stand von Technik und Qualifikation ist, wird aber erst beim Tausch auf dem Markt bestimmt. Was ,normal' ist, hängt davon ab, welche Produzenten tatsächlich auf dem Markt erscheinen [...] So hängt die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zwar von den Produktionsbedingungen ab, aber erst im Tausch existiert jener Durchschnitt" der diese Zeit bestimmt. 269 Vgl. auch Reitter 2002, S. 8, der abstrakte Arbeit als Resultat der Abstraktion nicht nur vom konkreten Inhalt, sondern auch der konkreten Zeitdauer der Arbeit bestimmt. 270 Vgl. Heinrich 2004a, S. 49f. 271 Heinrich 1999, S. 219. Vgl. auch MEGA II/6, S. 38. 272 Heinrich 1999, S. 219. 271 MEW 13, S. 31 f. (MEGA II/2, S. 123) (zitiert in Heinrich 1999, S. 232). 274 Vgl. MEW 23, S. 121f. (MEGA II/5, S. 68f.) sowie MEW 25, S. 648f. Hier argumentiert Marx sowohl mit der durchschnittlichen Arbeitszeit als auch mit dem „Marktmagen", d.h. der zahlungsfähigen Nachfrage als Bestimmungsgründen der Wertgröße und spricht davon, dass „notwendige Arbeitszeit hier einen andren Sinn erhält" (ebd., S. 649) (II/4.2, S. 687). 275 Vgl. Block 1926, S. 49ff„ Pollock 1928, S. 197, 204f., Rosdolsky 1968, S. 116-124, Reichelt 1973, S. 176-182. 276 Horkheimer 1985, S. 401 f. Auch Joachim Nanninga hält die These vom Eingehen der zahlungsfähigen Nachfrage in die Wertbestimmung für zirkulär (vgl. Nanninga 1975, S. 9, 94, 110), weist damit aber zugleich die doppelte Bestimmung gesellschaftlich notwendiger Arbeit zurück (vgl. ebd., S. 83-112). 277 Vgl. Steinvorth 1977b, S. 310.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Determinanten der Wertgröße unterstellt, mit der des dritten Bandes, in der ein logisches und historisches Prius des Werts vor dem Preis behauptet wird278. Auf diese These stütze sich nun wiederum Engels' Theorie einfacher Warenproduktion, die als empirische Arbeitsmengentheorie für vornehmlich vorkapitalistischen Tausch auftrete. Nach dem ersten Band entscheide nun aber neben der technologisch bedingten Durchschnittsarbeitszeit innerhalb einer Branche auch das zahlungsfähige Bedürftiis darüber, welcher Teil der konkreten Privatarbeit als abstrakt-allgemeine gilt, als gesellschaftlich notwendig anerkannt wird279. Das bedeute, dass „allein der Markt [...] zwar nicht unbedingt unabhängig davon, ob die tatsächlich in die Ware eingegangene Arbeit den durchschnittlichen gesellschaftlichen Produktionsbedingungen entspricht oder nicht, aber möglicherweise auch ohne Rücksicht darauf*280, als Instanz der Bestimmung der Wertgröße in Frage komme. Es genüge eben einfach nicht zur Wertkonstitution, dass eine verausgabte konkrete Privatarbeit der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit entspreche281. Die Funktion des zahlungsfähigen Bedürfnisses sei also nicht auf die Rolle des Gebrauchswerts als Voraussetzung bzw. Träger des Werts reduzierbar282. Demnach „kann das Wertgesetz im ersten Band nicht die Funktion haben, die Preise zu bestimmen", können Werte und Preise gemäß diesen Prämissen „nicht voneinander abweichen", ja, sei zu schlussfolgern, dass der Preis den Wert bestimme und nicht umgekehrt: „Es ist nicht mehr die Menge der gesellschaftlichen Arbeit, die den Preis oder das Austauschverhältnis bestimmt, sondern der Preis oder das Austauschverhältnis, welches die Menge der gesellschaftlichen Arbeit bestimmt"2*3. Die im Tausch bewirkte und quantitativ letztlich durch die zahlungsfähige Nachfrage bestimmte284 Reduktion der konkreten Arbeiten auf Anteile an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, also abstrakte Arbeit, erlaube es prinzipiell nicht mehr, das heißt mache es logisch unmöglich, unabhängig vom im Zuge des Austausche erzielten Preis festzustellen, welches Quantum gesellschaftlicher Ar-

278

Vgl. ebd., S. 304. „Abgesehn von der Beherrschung der Preise und der Preisbewegung durch das Wertgesetz, ist es also durchaus sachgemäß, die Werte der Waren nicht nur theoretisch, sondern historisch als das prius der Produktionspreise zu betrachten" (MEW 25, S. 186) (MEGA II/4.2, S. 252).

279

Vgl. MEW 23, S. 121f. (MEGA II/5, S. 68f.): „Gesetzt endlich, jedes auf dem Markt vorhandne Stück Leinwand enthalte nur gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Trotzdem kann die Gesamtsumme dieser Stücke überflüssig verausgabte Arbeitszeit enthalten. Vermag der Marktmagen das Gesamtquantum Leinwand, zum Normalpreis von 2 sh. per Elle, nicht zu absorbieren, so beweist das, daß ein zu großer Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit in der Form der Leinweberei verausgabt wurde. Die Wirkung ist dieselbe, als hätte jeder einzelne Leinweber mehr als die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit auf sein individuelles Produkt verwandt".

280

Steinvorth 1977b, S. 305. Vgl. ebd., S. 312. Vgl. ebd., S. 313. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 305, 310, 310. Heinrich (2008, S. 84) zufolge bestünden aber im Falle des Überwiegens des Angebots über die zahlungsfähige Nachfrage zwei Möglichkeiten der Bestimmung der Wertgröße: Einmal, dass ein Teil der Produktion nicht verkauft werde, der Wert der verkauften Waren dann aber nach wie vor durch die durchschnittliche Arbeitszeit bestimmt werde. Zum anderen, dass die gesamte Produktion verkauft werde, der Wert der einzelnen Waren dann aber einen geringeren Wert darstelle.

281 282 283 284

OBJ EKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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beit in einer Ware .vergegenständlicht' sei, bzw. diese repräsentiere285. Daher müsse auch grundsätzlich zwischen abstrakter Arbeit und (technischer) Durchschnittsarbeit unterschieden werden286, was Marx aber auch im ersten Band nicht durchhalte, wenn er vom Schwanken der Marktpreise um den Wert spreche statt zu konstatieren, der Wert einer Ware sei J e d e beliebige Menge abstrakter Arbeit, die ihr im Austausch zugeteilt wird". Der Sinn der Werttheorie könne es daher nicht sein, einen Beitrag zur Bestimmung von Preisgrößen zu liefern, sondern lediglich, eine „Zuordnung der Preisgrößen zu der Form der Arbeit, die im Kapitalismus allein zählt"287 zu bewerkstelligen. Heinrich weigert sich allerdings, die Konsequenzen eines preistheoretischen Reduktionismus sowie einer - wie bei Steinvorth288 - letztlich doch wieder pragmatistischen Geldtheorie zu ziehen. Er konzipiert seine Kritik prämonetärer Werttheorie dagegen antiphänomenalistisch - er beharrt auf der Notwendigkeit einer begrifflichen Differenz zwischen Wert und Preis als auf zwei unterschiedlichen Abstraktionsebenen liegenden Kategorien289 - , antipragmatistisch - er fasst die Notwendigkeit des Geldes nicht als statistischen Regel- und praxeologischen Bequemlichkeitszusammenhang, sondern als für die Darstellung von Werten begriffliche Notwendigkeit290 - , und antiindividualistisch - er erklärt die Geldgenese nicht aus Nützlichkeitserwägungen der Akteure, sondern aus deren, durch die ,Gesetze der Warennatur' strukturierten, unbewussten sozialen Handlungen291. Gegen reine Zirkulationstheorien des Werts betrachtet Heinrich Marx' Rede von der Realisierung', nicht Schaffung des Werts im Austausch als durchaus legitim. Sie verweise darauf, „daß dem Wert ein bestimmtes Verhältnis der individuellen Privatarbeit zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit zugrunde liegt". Es sei auf der ,,logische[n] Differenz" 292 zwischen Wert und Preis, resp. Geld zu beharren, ohne die eine Erklärung letzterer nicht mehr zu leisten sei. In gegenläufiger Richtung zu den klassischen preistheoretischen Ansätzen, die die Preisform immer schon als empirisch Gegebenes aufnehmen, verwechseln aber Heinrich zufolge viele marxistische Positionen die logische Priorität des Werts mit einer zeitlichen. Sie erwiesen sich darin als empiristische Lesarten der Warenanalyse des Anfangs, die dort zwei auf derselben Seinsebene liegende Wertmaße - die Arbeitszeit und das Geld - vorliegen sähen. Der Übergang vom immanenten zum äußeren Wertmaß gelte dort als rein formale Übersetzung einer bereits vollzogenen Messung, die eine prämonetäre Existenz- und Erscheinungsweise des

285

m 287 28:< 289 290 291 292

Vgl. Steinvorth 1977b, S. 305, 311. Im selben Jahr stellt auch Ulrich Krause fest, „daß die abstrakte Arbeit aus der spezifischen Vermittlung konkreter Arbeiten in der Wertrelation resultiert und [...] daher die Größe des Werts nicht unabhängig von seiner Erscheinung als Preis zu bestimmen ist" (Krause 1977, S. 158). Dies wird gegen eine substantialistische, von ihm sogenannte „Pfannkuchen-Theorie des Werts" (ebd.) eingewandt, die nahe lege, „daß die Waren [...] gemeinsam mit Wert gefüllt sind, wie die Pfannkuchen mit Marmelade" (ebd.). Vgl. Steinvorth 1977b, S. 312. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 312, 311. Vgl. Steinvorth 1977a, S. 7f. Vgl. Heinrich 1999, S. 233, 242f. Vgl. ebd., S. 225ff. Vgl. ebd., S. 227-231. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 233, 243.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Werts - konkrete Durchschnittsaitoeitszeit - unterstelle293. Doch Wertgegenständlichkeit „existiert nur als gemeinsame Wertgegenständlichkeit im Austausch und der allseitige Austausch von Waren [...] existiert nur als Bezug der Waren auf Geld"29*. Eine Konstruktion, die von der Neutralität des Geldes als bloßes technisches Hilfsmittel des Tausches295 ausgehe, müsse aber wieder „unterstellen, daß die Differenz von privat[...] verausgabter und gesellschaftlich anerkannter Arbeit aufgehoben ist"296, also eine direkte, nicht-tauschvermittelte Vergesellschaftung der Arbeit. Gerade in der dritten Geldfunktion erweist sich dagegen nach Heinrich die Spezifik der monetären Werttheorie gegenüber klassischen sowie neoklassischen Ansätzen. Hier sei Geld als vorläufig selbständige Gestalt des Werts gefasst, als ,jnaterielle[s] Dasein des abstrakten Reichtums" - des Werts - wie als „materielle[r] Repräsentant des stofflichen Reichtums"291 - aller Gebrauchswerte. Gegenüber der Zirkulationsmittel-Funktion stelle sich Geld nicht nur als Wertaufbewahrungsmittel, Repräsentant von Wert „auch und gerade außerhalb des Tausches"298, sondern als möglicher Selbstzweck, Anfang und Ende des Tauschakts, dar299. Dieser Aspekt, so Heinrich, überschreitet das an Gebrauchswert, Naturaltausch und Gleichgewicht orientierte Paradigma der politischen Ökonomie und eröffnet allererst den Blick auf ein Wirtschaften, dessen immanentes Telos die Anhäufung abstrakten Reichtums, einer dinglichen Repräsentanz von Gesellschaftlichkeit ohne Inhalt, nicht die Mehrung des .Nutzens', ist und dessen Reproduktionskreisläufe eine intrinsische Krisenmöglichkeit aufweisen: Der Zerfall des Kaufakts in Kauf und Verkauf, die Zweckfunktion des Geldes, die einen Verkauf ohne anschließenden Kauf ermöglicht, bewirken, dass der „Bezug auf Geld, über den sich überhaupt erst ein kohärenter gesellschaftlicher Zusammenhang herstellt, [...] zugleich die Gefahr einer Zerstörung dieser Kohärenz"300 impliziert. Angesichts der Diagnose einer Demonetarisierung des Goldes301 fragt Heinrich nun, ob eine Geldware im Rahmen der Marxschen wissenschaftlichen Begründung von Reichtumsformen notwendig unterstellt werden muss. Seine These lautet: Die Wertformanalyse entwickelt zwar die Notwendigkeit eines allgemeinen Äquivalents, eines gegenständlichen Ausdrucks des Werts aller Waren in einem und demselben Objekt, die Notwendigkeit, dass dieses Ware sein muss, wird von Marx aber ohne Begründung unterstellt: „Genausowenig wie logisch deduziert werden kann, welche Ware die Warenbesitzer als Äquivalentware ausschließen, kann deduziert werden, ob sie überhaupt eine Ware ausschließen". Es gehe dabei „nicht darum, ob die Geldware durch bloße Zeichen repräsentiert werden kann, sondern ob es überhaupt einer Ware bedarf, die dann durch Zeichen repräsentiert wird". Dies eben bezweifelt Heinrich. Im Unterschied zur Abstraktion vom Gebrauchswert zweier Waren ist danach die Darstellung des Werts einer Ware in einem Gegenstand eine anders gear293 294 295 296 297 298 299 300 301

Vgl. ebd., S. 242. Ebd., S. 250 Vgl. ebd., S. 240. Ebd., S. 242. MEW 13, S. 102f. (MEGA II/2, S. 188). Heinrich 1999, S. 251. Vgl. ebd., S. 249. Ebd., S. 251. Vgl. ebd., S. 237 (Fn.).

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tete Abstraktion. In ihr repräsentiere ein Konkret-Stoffliches den Wert, „gilt als Materialisierung der abstrakten Gattungseigenschaft, die auf derselben Stufe wie die einzelnen Waren steht". Die individuelle Repräsentation der Gattung neben den konkreten, zusammen die Gattung bildenden Individuen, müsse aber „nicht [...] durch eines ihrer eigenen Individuen"302 geschehen. Dies wird in zwei Schritten begründet: Zunächst wird betont, dass mit der Formulierung der .materiellen Inkarnation' des Werts im Geld nicht gemeint sein kann, dass der als Äquivalent dienende Gebrauchswert unmittelbar Wert sei oder werde303. Das Übersinnliche, Allgemeine, Gesellschaftliche des Werts werde vielmehr durch ein Sinnliches, Besonderes, Stoffliches eines Gebrauchswerts nur im Rahmen eines Verhältnisses repräsentiert, symbolisiert. Auch Gold als Geldware gelte so nur als unmittelbare Austauschbarkeit, Wert schlechthin. Wert sei niemals wirklich handgreiflich zu haben, nur dessen Symbol/ Stellvertreter. Daher sei Jedes Geld ein Wertzeichen, auch wenn es einen eigenen Wert besitzt". Das Wertzeichen müsse aber, so Heinrichs zweites Argument, genauso wenig selbst Wert besitzen, um diesen bezeichnen zu können, wie das „Zeichen fiir ,Tier' selbst ein leibhaftiges Tier sein muß"304. Eine Ahnung davon habe Marx noch in den Grundrissen besessen305, sie sei aber im Kapital verloren gegangen. Hier verwende Marx den Terminus des Wertzeichens nur im Sinne des Stellvertreters des Werts einer Geldware und projiziere so eine realhistorische Konstellation der Geldstruktur in die Ableitung der Wertform aus dem Wertbegriff 306 . Die Konzeption des Geldes als Wertzeichen werde nicht von Marx' Kritik der Verwechslung von Wertmaß und Maßstab der Preise307 getroffen und präsentiere seine Geldtheorie als jenseits von geldtheoretischem Nominalismus und Metallismus zu verortende: „In beiden Richtungen wird nur danach gefragt, was Geld zu Geld macht - eine gesellschaftliche Konvention oder der Eigenwert der Sache. Die Frage, warum Geld überhaupt notwendig 302 303

304

305 306 307

Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 235, 234 (Fn.), 234, 235. Dies behauptet z.B. Kühne 1995, S. 32: „Geld ist zugleich und in derselben Hinsicht Ding und Nicht-Ding, nämlich gesellschaftliches Verhältnis". Beide Zitate: Heinrich 1999, S. 235. Noch weiter geht Jannis Milios. Er behauptet sogar, „dass Geld (sogar ,Warengeld') per Definition keine Ware sein kann" (Milios 2006, S. 105). Weil die Äquivalentform als solche keinen Wertausdruck erhalte, sei sie auch keine Ware, d.h. kein Arbeitsprodukt mit Wert- und Gebrauchswert-Eigenschaft (ebd. sowie S. 101). Damit identifiziert Milios allerdings das Darstellen als Wert und das Wert-Besitzen einer Ware und spielt das Polaritätsverhältnis der Wertform unvermittelt gegen das, von Marx klar betonte, Äquivalenzverhältnis derselben aus (vgl. besonders ebd., S. 100: „Die einfache Wertform hat also nicht den Charakter einer symmetrischen Gleichheitsbeziehung [...] oder einer konventionellen Gleichwertigkeit: χ Ware A = y Ware Β, was impliziert, dass y Ware Β = χ Ware A"). Dieter Wolf weist schließlich d a r a u f h i n , dass Geld nach Marx zwar keinen Preis habe, aber seine Wertgröße dennoch einen Ausdruck in der Gesamtheit der als relative Wertformen fungierenden Waren erhalte (Wolf 2006b, S. 59f.). Wolf bezieht sich dabei auf M E W 23, S. 110 ( M E G A II/5, S. 60): „Man lese die Quotationen eines Preiskurants rückwärts und man findet die Wertgröße des Geldes in allen möglichen Waren dargestellt. Geld hat dagegen keinen Preis. U m an dieser einheitlichen relativen Wertform der andren Waren teilzunehmen, müßte es auf sich selbst als sein eignes Äquivalent bezogen werden". Vgl. Heinrich 1999, S. 236; vgl. M E W 42, S. 79, 85 (MEGA I I / l . l , S. 78f„ 84). Vgl. Heinrich 1999, S. 236. Vgl. M E W 13, S. 54ff. (MEGA II/2, S. 144ff.).

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ist, wird aber gar nicht gestellt"308. Für beide Deutungsansätze gelte, „dass sie die vermittelnde Bewegung, die etwas zu Geld macht, nicht in den Blick bekommen, sondern einen Ersatz anführen"309, nämlich bewusste Interaktion einerseits, Natur andererseits. Weder die, eine Geldware begrifflich ausschließenden, Positionen von Levine und De Vroey noch Ganßmanns modelltheoretisches Argument der Aufstufung einer einfachen zur komplexen Geldtheorie oder die Darstellung der historischen Ablösung der Geldfunktion von der Geldware bei Koch u.a. können Heinrich zufolge eine Wertzeichentheorie im Rahmen des Manischen Ansatzes plausibel zurückweisen oder begründen310. Schließlich könne auch die quantitative Dimension der Wertmaßfunktion des Geldes eine Geldwarentheorie nicht stützen. Hier werde der von Marx als universaler Warenbezug gedachte Warentausch auf den Barter reduziert und die Analogie des Ware-Geld-Verhältnisses zu einer Gewichtsmessung auf einer Balkenwaage strapaziert, die aber nur für den Wertausdruck einer vereinzelten Ware Plausibilität beanspruchen könne. Geld dagegen beziehe alle Waren als Werte aufeinander311. Die Kritik an Heinrichs Verabschiedung der Geldware wird uns vor allem bei der Berücksichtigung des Ansatzes von Dieter Wolf beschäftigen312. Die Ablehnung einer prämonetären Werttheorie verlangt nach Heinrich auch die Aufgabe der Gravitationstheorie des Werts, die diesen als Gravitations- oder Oszillationspunkt der schwankenden Preise betrachtet313. Hier werden Wert und Preis als empirisch gleichrangige Phänomene konzeptualisiert, die quantitativ verglichen werden können. Beim Wert-PreisVerhältnis handelt sich aber Heinrich zufolge um ein Determinationsverhältnis: „Wert und Preis sind dann .kongruent', wenn das Verhältnis der individuell verausgabten Arbeit zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit [...] allein den Preis bestimmt und nicht etwa die zufällige Lage des einzelnen Warenbesitzer[s], der gezwungen sein mag, billig zu verkaufen"314. Dieses Verhältnis werde zudem im Laufe der Darstellung um das des individuellen Kapitals zum gesellschaftlichen Gesamtkapital erweitert, was ein völlig neues Licht auf das sogenannte Transformationsproblem werfen soll315. Dieser Übergang von Werten in Produktionspreise werde damit als begrifflicher deutlich, als Fortbestimmung des Wertbegriffs unter Bedingungen der Konkurrenz der Einzelkapitale, „nicht [als] [...] Veränderung in der realen Zeit"316. 308 309 310 311

312 313 314 315 316

Heinrich 1999, S. 237. Heinrich 2008, S. 236. Vgl. Heinrich 1999, S. 238f. Vgl. ebd., S. 244. Nach Ingo Stützle rekurriert diese von Heinrich kritisierte Argumentation damit auf eine prämonetäre Werttheorie. Wenn Geld danach selbst Wert besitzen müsse, um Wert ausdrücken zu können, stelle sich die Frage, wie dessen Wert „begrifflich fixiert werden kann" (Stützle 2006, S. 265). Es bleibt dabei allerdings unklar, was Stützle mit ,begrifflicher Fixierung' meint. Denn indem er vom Wert im Unterschied zum Geld redet, hat er diesen bereits begrifflich fixiert, auch wenn der Wert damit empirisch noch nicht,„fassbar'" (ebd., S. 266) ist, keine angemessene Existenzform gefunden hat und damit real nicht existieren würde, wenn er nicht zum Geld fortbestimmt würde. Vgl. Abschnitt III dieses Kapitels. Vgl. Heinrich 1999, S. 243f. Ebd., S. 244. Vgl. ebd., S. 278-284. Ebd., S. 284. Zur Differenz zwischen individuellem und Einzelkapital vgl. Kocyba 1979, S. 124f.

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Schließlich fragt auch Heinrich danach, ob und wie sich die Ambivalenzen der Manischen Werttheorie auf dessen Sozialismuskonzeption auswirken 317 . Es sind dabei vor allem die prämonetären Voraussetzungen von Marx' und Engels' Modell nachkapitalistischer Vergesellschaftung der Arbeit, die er einer Kritik unterzieht. Sowohl Engels 318 als auch Marx 319 stellen demnach zur Bezeichnung eines nicht-warenförmigen gesellschaftlichen Stoffwechsels Parallelen zur Warenstruktur her, die ein Bild von nicht-monetärer Warenproduktion unterstellen, in der bereits die konkreten Arbeiten die Wertgröße der Arbeitsprodukte bestimmen. Engels meint, was im Kapitalismus noch des .Notbehelfs' des Geldes bedürfe, werde im Sozialismus „direkt und absolut" vollzogen - die Messung der Arbeitszeitmengen als Maßstab des Austausche. Marx propagiert für die erste Phase des Kommunismus „dasselbe Prinzip, das den Warentausch regelt" - den Tausch von (konkreter) Arbeitszeit gegen (konkrete) Arbeitszeit. Zudem werden nach Heinrich Bestimmungen, die nur für warenproduzierende Gesellschaften gelten - die Reziprozität von Akteuren durch Arbeitsprodukte auf Grundlage einer Reduktion auf gleiche Arbeitszeit - in den Sozialismus projiziert. Dagegen wird geltend gemacht, dass im Rahmen einer monetären Werttheorie „die einzelnen konkreten Arbeiten nicht unmittelbar vergleichbar sind", weil „es sich um heterogene Arbeit handelt" und „Produktion und gesellschaftliches Bedürfnis erst auf dem Markt verglichen werden können". Abstrakte Arbeit, die von Marx hinsichtlich seiner Sozialismuskonzeption und von Engels generell konkretistisch verkürzt werde, sei dagegen eine soziale Eigenschaft, die erst im Austausch „hergestellt', nicht als vorsozial unterstellt werden könne. Bezeichnenderweise verlören Marx und Engels darüber, „wie diese Gleichheit der individuellen Arbeiten in einer nicht auf Warenproduktion beruhenden Produktionsweise hergestellt werden soll [...] kein Wort" 320 . II. Kritiken am Modus begrifflicher Entwicklung eines monetären Werts Kritische Auseinandersetzungen mit dem Paradigma einer monetären Werttheorie sind rar. Sie kreisen zudem um die immergleichen Problemkomplexe: ,Zirkulationismus', .Strukturalismus', ,Begriffsdialektik', .Wirklichkeitsfremdheit' und wurden teilweise bereits in die bisherige Darstellung eingestreut. Exemplarisch dafür ist eine in der Zeitschrift ,Argument' nach 30 Jahren wieder aufgeflammte Methodendebatte. Da der Zirkulationismusvorwurf bereits mehrfach behandelt wurde und die praxeologische Lesart der Wertformanalyse vor allem im nächsten Kapitel auf dem Prüfstand stehen wird, sollen hier nur die beiden übrigen Kritikpunkte angesprochen werden. (I) Bereits in den achtziger Jahren greift Wolfgang Fritz Haug auf Marx' methodologische Selbstreflexionen in den Randglossen zu Wagner (1879/80) zurück, um gegen Backhaus' und Walter Euchners hegelianisierende Lesart der Wertformanalyse in Analogie zu Marx' Wagner- Kritik zu polemisieren 321 . Dass Haug damit aber nicht nur tatsächlich vor317 318 319 320 321

Vgl. Heinrich 1999, S. 385. Vgl. MEW 20, S. 288 (MEGA 1/27, S. 468f.). Vgl. MEW 19, S. 19f. (MEGA 1/25, S. 13f.). Zitate der Reihenfolge nach: Heinrich 1999, S. 390, 390, 390f. Vgl. Haug 1984, S. 69.

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handene hegelianische Argumentationsmuster angreift, sondern eine .logisch-systematische' Formentwicklung per se zu erledigen beabsichtigt 322 , zeigt sich an seinem Aufgreifen der Randglossen-Analogie in der späteren Auseinandersetzung mit Michael Heinrich. Die Lesart Heinrichs sei bereits mit Marx' ,,sprachkritische[r] Wende" 323 in den Randglossen als Kritik der „Epigonen der Hegeischen Begriffsdialektik" erledigt. Die logische Lesart ignoriere Marx' Verachtung für die „professoraldeutsche Begriffsanknüpfungs-Methode" 324 , die er „voller Zorn auf diejenigen, die ihm just diese zuschreiben"325 kundgetan habe. Die Marxschen Hinweise gegen Wagner seien so auch als implizite Selbstkritik an Formulierungen aus der Erstauflage des Kapital zu verstehen, in der noch auf in „geschichtsmaterialistischer Sicht [...] nicht zulässig[e]" 326 Weise vom Entspringen der Wertform aus dem Wertbegriff die Rede sei. Dagegen weist Heinrich darauf hin, dass Marx in den Randglossen keinesfalls auf einen ihm gemachten Vorwurf der ,hegelianisierenden Begriffsdialektik' reagiere327 - ein solcher Vorwurf werde in dem Text kein einziges Mal erwähnt - , sondern die Titulierung der .Begriffsanknüpfungsmethode' selber eine vulgärökonomische Identifizierung von Gebrauchswert und Wert unterstelle: Wagners ,JScholastizismus" besteht nach Marx in der , Ableitung' von Gebrauchswert und Tauschwert aus dem „Wertbegriff'328 zwecks subjektivistischfetischistischer Abweisung der Arbeitswerttheorie: Im Gebrauchswert wird dabei das Wort ,Wert' entdeckt (Wertschätzung) um damit zu beweisen, dass sich der Gebrauchswert aus dem .allgemeinen Wertbegriff ableiten ließe und Gebrauchswert und Wert damit eine gemeinsame Qualität aufwiesen 329 . Während Heinrich aber meint, in Marx' Kritik gehe es

322

323

Ähnlich verfahrt Christoph Henning, wenn er auch, an Steinvorth geschult, nicht Haugs Empirismus und Historizismus teilt. Er leistet sich aber eine grobe Verzeichnung der um den Begriff (logisch-systematische) .Ableitung' gruppierten Ansätze zu einem hegelianisierenden „Deduktionsmarxismus" (Henning 2005, S. 332, 339). Auch hier werden wieder begriffliche Ableitung und Hegelianismus unzulässig kurzgeschlossen. Henning will diesen ausgehend von einem modelltheoretisch interpretierten Marx kritisieren. Kaum nachvollziehbar ist auch die, ganz in diesem pauschalisierenden Kontext verbleibende, Subsumtion Dieter Wolfs oder gar Klaus Holz' unter das Label ,hegelianisierende Marx-Lektüre' (vgl. ebd., S. 563 (Fn.)). Die radikalste Verkürzung liegt allerdings der Arbeit von Klaus Holz selbst zugrunde. Er identifiziert Dialektik schlechthin mit Ableitung', diese wiederum mit identitätsphilosophischen Begründungsmodi (vgl. Holz 1993, u.a. S. 152f., 158), wobei er sämtliche elaborierten Beiträge der neuen Marx-Lektüre zur Thematik der Darstellungsweise ignoriert (es fehlen z.B. Bader, Steinvorth, Kocyba, Wolf, Heinrich, Brentel, Arndt).

Haug 2001b, Sp. 961. MEW 19, S. 371 (zitiert in Haug 2001b, Sp. 961). 325 Haug 2001b, Sp. 961. 326 Haug 2003, S. 428. 327 Vgl. Heinrich 2004b, S. 97f. 328 Zitate der Reihenfolge nach: MEW 19, S. 362, 361. 329 Vgl. ebd., S. 364: „Es ist das .natürliche Bestreben' eines deutschen Ökonomieprofessors, die ökonomische Kategorie ,Wert' aus einem ,Begriff abzuleiten, und das erreicht er dadurch, daß, was in der politischen Ökonomie vulgo Gebrauchswert' heißt, ,nach deutschem Sprachgebrauch' in ,Wert' schlechthin umgetauft wird. Und sobald der ,Wert' schlechthin gefunden ist, dient er hinwiederum wieder dazu, Gebrauchswert' aus dem .Wert schlechthin' abzuleiten". 324

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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„nicht um irgendwelche Hegeleien"330, sieht Dieter Wolf in Adolph Wagners Ansatz durchaus eine hegelianisch-identitätsphilosophische Konzeptualisierung des Verhältnisses von Gebrauchswert und Wert: Marx werfe Wagner vor, Gebrauchswert und Wert zu konfundieren, indem dieser den Wert als gesellschaftliche Einheitsdimension der Waren mit der Einheit von Gebrauchswert und Wert der jeweiligen Waren vermische. Gebrauchswert und Tauschwert werden bei Wagner demnach einander gegenübergestellt und zugleich aus dem Wert als vermeintlich über beide Seiten übergreifender und ihnen zugrundeliegender Einheitsdimension heraus erklärt. Analog zu Hegels identitätsphilosophischer Lösung des Gegensatzes von Geist und Natur, in der der absolute Geist das über den endlichen Geist und die Natur übergreifende Dritte darstelle, das sich vermittelt über diesen Gegensatz zu sich selbst verhalte, verdopple sich bei Wagner der Wert in Gebrauchswert und Tauschwert, d.h. er „existiert sowohl in der Form des Gebrauchswerts als auch in der Form des Tauschwerts und ist zugleich auch noch Beziehung beider aufeinander"331. Das Verhältnis von Gebrauchswert und Wert werde so als mystische Identität von Identität und Nichtidentität begriffen. Sowohl Heinrich als auch Wolf beanspruchen so, die Analogie Haugs als unzulässige aufgezeigt zu haben332: Marx' begriffliche Ableitung ist demnach das gerade Gegenteil der Wagnerschen Operationen. Marx' Wertbegriff, dem die Wertform entsprechen bzw. aus dem sie ,entspringen' muss, sei weder eine sich entäußernde ideelle Entität (also nicht wörtlich ,der' Begriff, dem eine nichtbegriffliche Wertform entspringt) noch meine er eine mystische Einheitsdimension von Gebrauchswert und Wert. Er sei vielmehr ein ideell erfasstes soziales Verhältnis und Ergebnis der formanalytischen Differenzierung zwischen diesem Verhältnis und seinen stofflichen Trägem (Gebrauchswerten). Sein Zusammenhang mit der Wertform sei dahingehend zu verstehen, dass diese als gegenständliche Repräsentationsform des Werts als gesellschaftlich-allgemeiner Form (gesellschaftlicher Existenzform der konkreten Privatarbeiten) ebenso gesellschaftlich-allgemein, d.h. allgemein gültig und einheitlich beschaffen sein müsse. Diesen Sachverhalt expliziert Marx vor allem in den Ergänzungen und Veränderungen zum ersten Band des Kapital. Auf den Seiten 30f. zeichnet Marx den begrifflichen Prozess, „wie die Werthform aus der Natur des Werthes selbst entspringt"333 in konziser Form nach: Die analytische Gewinnung des Wertes aus dem Tauschwert bezeichnet er dabei als Finden des „W'erfAbegrifïIs]"334, der wiederum eine nichtbegriffliche, relationale, spezifisch gesellschaftliche Eigenschaft bezeichne335, die daher auch nur in einem gesellschaftlichen Ver-

330 331 332

333

334 335

Heinrich 2004b, S. 97. Wolf 1985a, S. 146. Bereits Kittsteiner 1980, S. 237 (Anm. 172) bemerkt, „daß Marx' Polemik gegen A. Wagner [...] dieser Problemstellung" - gemeint ist Marx' Aufgabenstellung an die Wertformanalyse, „zu beweisen, dass die Werth for m aus dem Werthbegriff entspringt" (MEGA II/5, S. 43) - durchaus nicht widerspricht, sondern sich nur auf Wagners Auffassung des ,WertbegrifTs' bezieht". MEGA II/6, S. 31. Eine ähnliche Formulierung findet sich in der Zweitauflage (ebd., S. 92). Allein die synonyme Verwendung von ,WertbegrifT und ,Natur des Warenwerths' in den .Ergänzungen' zeigt an, worum es Marx geht, nämlich dass ersterer letztere theoretisch erfasst. MEGA II/6, S. 30. Vgl. Heinrich 2008, S. 263: Es geht um die „Wertgegenständlichkeit, wie sie im Wertbegriff gefasst wird".

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hältnis der Waren zueinander erscheinen könne. Dieser Sachverhalt hat also nichts Idealistisches an sich. Bereits in der Erstauflage betont Marx, der Wert sei die gemeinsame Substanz der Waren, ihre Einheitsdimension, während der Gebrauchswert ihre Unterschiedlichkeit repräsentiere. Diese Einheit, die „nicht aus der Natur, sondern aus der Gesellschaft"336 entspringe, benötige eine ebenso einheitliche Erscheinungsform, da sie unvermittelt nicht darstellbar sei. Anders formuliert: Sinn der sowohl in der Erstauflage337 als auch in den Ergänzungen338 mehrfach bemühten Wendung von der Wertform, die dem Wertbegriff entsprechen müsse, ist die Notwendigkeit, dass „der spezifische Charakter der werthbildenden Arbeit [...] seinen entsprechenden Ausdruck" benötigt. In der allgemeinen Wertform drücken demnach „alle Waaren jezt allgemein aus, was die frühre Wertform nur beschränkt ausdrückte - den allgemein menschlichen oder abstrakt menschlichen Charakter der Arbeit, die sie zu Werthen macht". In der ,Warensprache' der Wertformen wird eine rein gesellschaftliche „Gegenständlichkeit, worin eine Waare aussieht wie die andre" in der Gestalt repräsentiert, „daß sie als Werthdinge alle wie Leinwand aussehn"339. Um schließlich allen idealistischen Missverständnissen seiner Formulierung vorzubeugen, so Heinrich340, kritisiere Marx bereits in der Erstauflage Hegels Hypostasierung des Begriffs. Im Zusammenhang mit der Erläuterung der Darstellung des Werts - etwas rein Gesellschaftlichem - im Gebrauchswert - also einem , äußeren Stoff - der dadurch als Äquivalentform dienenden Ware, findet sich der Satz: „Bloß der Hegel'sche ,Begriff bringt es fertig, sich ohne äußern Stoff zu objektiviren"341, womit er sich auf eine Formulierung Hegels aus der Enzyklopädie bezieht342. Etwas komplizierter stellt sich der Sachverhalt begrifflicher Entwicklung allerdings in den Grundrissen dar. So deutet etwa Fred Schräder die dort vorliegende „dialektischlogische Entwicklung des Werts"343 nicht bloß als „idealistische Manier der Darstellung"344. Wenn er auch nur begrenzte Parallelen zwischen Marx' und Hegels Methode konstatiert345, so gelten diese ihm doch inhaltlich als dem idealistischen Theorietypus einer Hegelianischen Begriffsentfaltung verhaftet. Er definiert dabei den in den Grundrissen analysierten Wert als ,,reine[n] Begriff" oder „begriffliche Verkörperung eines Verhältnisses zwischen Dingen", 336 337 338 339 340 341 342

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MEGA II/5, S. 19. Vgl. ebd., S. 43, 643. Vgl. MEGA II/6, S. 15,22, 25, 29f. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 2 7 , 2 8 , 28. Vgl. Heinrich 2008, S. 263f. MEGA II/5, S. 31. Marx zitiert diesen ebd. wie folgt: „,Der Begriff, welcher zunächst nur subjektiv ist, schreitet, ohne daß er dazu eines äußeren Materials oder Stoffs bedarf, seiner eignen Thätigkeit gemäß, dazu fort, sich zu objektiviren'". Vgl. Hegel 2007, S. 351 (§194). Schräder 1980, S. 117 MEW 42, S. 85f. (MEGA II/l.l, S. 85): „Es wird später nötig sein, eh von dieser Frage abgebrochen wird, die idealistische Manier der Darstellung zu korrigieren, die den Schein hervorbringt, als handle es sich nur um Begriffsbestimmungen und die Dialektik dieser Begriffe. Also vor allem die Phrase: Das Produkt (oder Tätigkeit) wird Ware; die Ware Tauschwert; der Tauschwert Geld". Er spricht von „Teilanalogien" zu Hegels Logik (Schräder 1980, S. 134 sowie S. 123), die aber zugleich von implizit mit dialektischen Argumentationsfiguren operierenden Texten der französischen Politökonomie gestützt würden (vgl. ebd., S. 135f.).

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während Preis als „vorgestellte Geldmaterie" 346 gefasst wird. Tatsächlich konstatiert Marx bezüglich des Werts: „Dies Dritte, von beiden verschieden, da es ein Verhältnis ausdrückt, existiert zunächst im Kopfe, in der Vorstellung, wie Verhältnisse überhaupt nur gedacht werden können, wenn sie fixiert werden sollen, im Unterschied von den Subjekten, die sich verhalten" 347 . Meint er damit aber, dass Wert nichts als ein Begriff sei, ein Gedankending, das sich, wie Schräder meint, „im Geld adäquat materialisiert", wobei „erst anschließend an diese logische Entwicklung [...] sich die empirischen Individuen bei der Bildung der Preisform auf die Geldmaterie [beziehen]" 348 ? Dies scheint eher eine Hochinterpretation von durchaus problematischen und unklaren Stellen zu sein. Marx missversteht in den Grundrissen den Begriff der ideellen Verdopplung der Ware 349 tatsächlich noch realistisch: „Er vermengt seine theoretische Reflexion, in der er die im Resultat verschwundenen Vermittlungsprozesse analysiert, mit der Reflexion, die in den Köpfen der agierenden Individuen vorgeht und dadurch erscheint das Geld eben doch als deren Reflexionsprodukt" 350 , wie die FEM: feststellt. Das ist aber kein Argument für die These einer hegelianischen Selbstentfaltung eines hypostasierten Begriffs. Eine Position, in der Marx das Verhältnis zwischen Tauschwert und Gebrauchswert noch in identitätsphilosophischen Kategorien zu fassen versucht, scheint lediglich in einer Fußnote der Grundrisse vorzuliegen, in der Marx fragt: „Ist nicht Wert als die Einheit von Gebrauchswert und Tauschwert zu fassen? An und für sich ist Wert als solcher das Allgemeine gegen Gebrauchswert und Tauschwert als besondre Form desselben?" 351 . Es ist auch kein Argument gegen die bloß gedankliche Möglichkeit einer Erfassung des Werts vor seiner Erscheinung im Austausch und einer Unterscheidung in theoretischen und wirklichen Bezug der Waren aufeinander, die Marx beibehält 352 . Schräder hingegen meint, die seit dem Jahr 1858 sich herauskristallisierende neue Konzeption einer Warenanalyse - statt (!) dialektischen Wertentwicklung - fasse die ökonomischen Bestimmungen nun erst als Resultate des Austauschverhältnisses der Waren „und nicht mehr aus der Entwicklung eines Begriffs" und gehe nicht mehr „von der ideellen und dann wirklichen Verdoppelung des Produkts als Ware in Arbeitszeit und Geld aus" 353 . 346 347 348 349

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Ebd., S. 117. MEW 42, S. 78 (MEGA II/1.1, S. 77f.). Beide Zitate: Schräder 1980, S. 118. Vgl. MEW 42, S. 78f. sowie S. 77 (MEGA II/l.l, S. 77): „Jeden Augenblick, im Rechnen, Buchführen etc. verwandeln wir die Waren in Wertzeichen, fixieren wir sie als bloße Tauschwerte, abstrahierend von ihrem Stoff und allen ihren natürlichen Eigenschaften. Auf dem Papier, im Kopf geht diese Metamorphose durch bloße Abstraktion vor sich; aber im wirklichen Umtausch ist eine wirkliche Vermittlung notwendig, ein Mittel, um diese Abstraktion zu bewerkstelligen". PEM 1973, S. 39. MEW 42, S. 193 (Fn.) (MEGA II/l.l, S. 190 (Fn.)). Marx selbst hat diesen Gedanken nie wieder aufgegriffen. Bezeichnend ist, dass sich einige Vertreter der neuen Marx-Lektüre auf diese mystifizierende Position affirmativ beziehen. Vgl. ISF 2000, S. 19 oder Pohrt 2001, S. 107. Der Schritt, den Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie als paradoxen, logisch-irrationalen zu verstehen (vgl. ISF 2000, S. 13, 20) ist nur die unmittelbare Konsequenz dieses Ansatzes. Vgl. MEW 13, S. 29 (MEGA II/2, S. 121) („theoretische, gedachte" Beziehung der Waren aufeinander) sowie MEGA II/5, S. 30 („Gedankending"), S. 51 („analytisch[e]" Betrachtung der Waren und ihre „wirkliche Beziehung [...] aufeinander"). Zitate der Reihenfolge nach: Schräder 1980, S. 205, 204. Vgl. dazu Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit.

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(II) Eine weitere Anknüpfung an die Randglossen zu Wagner wird sowohl von paradigmainternen wie -externen Theoretikerinnen dazu verwendet, gegen einen bestimmten Modus begrifflicher Darstellung vorzugehen. So meint Haug, dass Marx mit der Formulierung des ,Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten' „den Theorieaufbau bei Adam Smith und v.a. bei David Ricardo beschrieben hat und die Spezifik seiner dialektischen Methode darin ausgelöscht ist"354. Eine ähnliche Position vertritt Nadja Rakowitz. Sie weist auf die Überschrift des Methodenkapitels in Marx' Einleitung von 1857 hin, die lautet: „Die Methode der politischen Ökonomie" 355 . Daher sei anzunehmen, „dass die Methode der zu kritisierenden Wissenschaft, nämlich die Methode der politischen Ökonomie, nicht die Methode der Kritik derselben sein wird". Als weitere Begründung dieser These merkt sie an, die Ökonomiekritik gehe vielmehr „von einem Konkretum aus" 356 , was mit einer Aussage aus den Randglossen belegt wird, in der Marx das ,JConkretum der Ware" als Ausgangspunkt seiner Darstellung hervorhebt und von begrifflogischen Ansätzen abgrenzt. Auch einige Seiten später spricht Marx von der Ware als „einfachste[m] ökonomische[m] Konkretum" 357 der bürgerlichen Gesellschaft. Rakowitz' Argumentationsstrategie wird seitens Dieter Wolf vehement widersprochen. Einmal zeige ein Blick in die Einleitung, dass Marx die klassische Ökonomie dort dafür lobe, das Verfahren des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten zu verwenden 358 - es sei, so Marx, „offenbar die wissenschaftlich richtige Methode" 359 . Ergänzend zu Wolf könnte auch darauf verwiesen werden, dass Marx beispielsweise Ricardo nicht dafür rügt, von analytisch gewonnenen Abstraktionen auszugehen, sondern, im Gegenteil, die Abstraktion nicht weit genug getrieben zu haben, „nicht weit genug, nicht vollständig genug in der Abstraktion" 360 zu sein, d.h. bestimmte Abstraktionsstufen zu konfundieren und vor allem mit dem Begriff der wertbildenden .Arbeit' noch nicht zwischen konkreter und abstrakter unterschieden zu haben. Lediglich Wagners Ableitung von Gebrauchs- und Tauschwert aus dem Wertbegriff wird nun Wolf zufolge von Marx mit der Betonung des Konkretums Ware als Ausgangspunkt der Darstellung gekontert. Entgegen der Wagnerschen These sei damit betont, dass Wert niemals ohne Gebrauchswert existiere, d.h. ohne einen stofflichen Träger und so eine Ableitung des einen aus dem anderen irrational sei361. Die Ware des Anfangs dürfe aber umgekehrt auch nicht als empirische missverstanden werden. Sie sei eine mittels theoretischer Abstraktionen gewonnene, nichtpreisbestimmte Ware, die allererst als Ausgangspunkt zur Erklärung komplexerer und empirisch wahrnehmbarer Reichtumsformen, wie preisbestimmter Waren und Geld, diene. Sie sei Konkretum, „weil sie aus zwei Faktoren besteht" 362 und Abstraktum, weil mit ihrer Werteigenschaft die höchstmögliche Abstraktion von komplexeren kapitalspezifischen Reichtums-

354 355 356 357 358 359 360 361 362

Haug 2004a, Sp. 350. Wiederholt wird diese Behauptung auch in Haug 2006, S. 450. MEW 42, S. 34 (MEGA II/l.l, S. 35). Zitate der Reihenfolge nach: Rakowitz 2000, S. 90, 91. Zitate der Reihenfolge nach: MEW 19, S. 362, 369. Vgl. Wolf 2006a, S. 49. MEW 42, S. 35 (MEGA II/l.l, S. 36). MEW 26.2, S. 100 (MEGA ΙΙ/3.3, S. 759), vgl. auch 26.2, S. 188 (II/3.3, S. 840). Vgl. Wolf 2006a., S. 49f. Wolf 2006a, S. 50. Vgl. MEW 42, S. 35 (MEGA II/l.l, S. 36): „Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen".

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formen erreicht sei, hinter die nicht mehr abstrahierend zurückgegangen werden könne, ohne die soziale Formbestimmtheit schlechthin zu negieren und bei formationsunspezifíschen Kategorien zu landen. Rakowitz' eigenes methodisches Vorgehen in ihrem Buch Einfache Warenproduktion widerlege schließlich ihre methodologische These und erweise sich als Vorgang der systematischen Rücknahme von Abstraktionsstufen. Sie beginne mit der Ware als abstraktestem Konkretum der bürgerlichen Gesellschaft und entwickle sukzessive daraus konkretere, immer komplexer zusammengesetzte Reichtumsformen363. Auch die von Bader u.a. als analytischer Anfang der Darstellung bezeichnete Austauschbeziehung zweier Arbeitsprodukte, kann nach Wolf nicht als Gegenargument gegen ein Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten herhalten. Vielmehr erfordere die Natur des Werts als gesellschaftliches Verhältnis dieses Vorgehen. Es könne also nicht unvermittelt von einer isoliert betrachteten Ware auf ihren Wert, die gemeinsame Eigenschaft der Waren, geschlossen werden364. (III) Zurück zu Haug: Die geschichtsmaterialistische Unzulässigkeit der logischsystematischen Interpretation resultiert für ihn nun aus der von ihm konstruierten Alternative ,Wirklichkeitsfremdheit - Theorie - Struktur - begrifflicher Zusammenhang' vs. .Geschichtsmaterialismus - empirische Konstatierbarkeit - Praxeologie - historischer Zusammenhang'. ,Geschichtsmaterialistisch' heißt für Haug beispielsweise, dass die einfachen Wertformen „praktisch-tatsächlich"365 vorkommen müssen. Dagegen „kappen" in seinen Augen die „logizistischen Kapitalinterpreten [...] jenen Realitätsbezug"366. Heinrich legitimiert begriffliche Analyse dagegen mit der Spezifik des Marxschen Gegenstandsverständnisses, das Haugs praxeologischer Zugang bereits im Ansatz verfehle: „Bei Marx wie bei Hegel handelt es sich [...] um eine begriffliche Entwicklung, nur ist es einmal der Begriff (Singular), der sich unabhängig von aller Empirie aus sich selbst heraus entwickelt, während es das andere Mal um den Zusammenhang von Begriffen (Plural) geht, die empirisches Material verarbeiten, ohne dabei aber in nominalistischen Abstraktionen aufzugehen: es handelt sich bei ihnen um das ,Real-Allgemeine'"367. Dies stelle die Struktur gesellschaftlicher Verhältnisse dar, von der Marx ausgehe368 und die nicht unmittelbar wahrnehmbar sei, sondern sich nur begrifflich erfassen lasse: „Die Begriffe drücken im Unterschied zu Hegel [...] nicht die Vergegenständlichung des Geistes, sondern die Struktur der Verhältnisse wirklicher Menschen aus"369. Ein dem Haugschen verwandtes Deutungsmuster liegt auch Alexander Gallas' Rezension vori Dieter Wolfs Kritische Theorie und Kritik der politischen Ökonomie zugrunde. Das Verhältnis von erstem und zweitem Kapitel verstehe Wolf als solches zwischen Theorie und deren „praktischefr] Umsetzung". Während die Wertformanalyse ,„am Schreibtisch' des

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Wolf 2006a, S. 51 f. Vgl. ebd., S. 53. Haug 1984, S. 73. Vgl. Haug 2004b, S. 705. Damit bedient sich Haug der bereits von Engels zur Abgrenzung des Marxschen Ansatzes kultivierten Rede vom ,Materialismus - empirisch konstatierbaren Fakten wirklichem Prozess' vs. Idealismus - abstraktem Gedankenprozess - rein abstraktem Gebiet'. Heinrich 1999, S. 172. Vgl. MEW 42, S. 189 (MEGA II/l.l, S. 188) sowie 19, S. 371: „meine analytische Methode, die nicht von dem Menschen, sondern der ökonomisch gegebnen Gesellschaftsperiode ausgeht". Heinrich 1999, S. 155.

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Theoretikers" stattfinde, werde im zweiten Kapitel die Praxis der Akteure berücksichtigt. Dieses Missverständnis wird im folgenden Kapitel betrachtet. Wichtig ist hier vielmehr, dass auch Gallas gegen diese vermeintliche Position Wolfs einwendet, die prämonetäre Ausgangssituation des Austauschprozesses zu Beginn von Kapitel 2 betrachte dieser als real nie vorkommend, es sei „lediglich ein Produkt von Abstraktionen [...] ohne Realgehalt" 370 . Dagegen wendet Wolf ein, die Tatsache der Abstraktheit der Bestimmungen der ersten Kapitel des Kapital habe „nichts mit einem Verlust an Realitätsgehalt zu tun [...] noch mit der seltsamen Vorstellung das erste Kapitel sei im Unterschied zum zweiten ,reine Theorie', während das zweite dann im Vergleich dazu irgendetwas mysteriöses Praktisches wäre". Die Ausgangssituation des Austauschprozesses sei dagegen Resultat einer methodisch erforderlichen Abstraktion, um das Geld zu erklären, ohne es bereits als gegeben zu unterstellen: „So wie auf der Abstraktionsstufe des ersten Kapitels ausgegangen werden musste von dem gesellschaftlichen Verhältnis der Arbeitsprodukte zueinander, in denen das Geld noch nicht unterstellt sein darf, um beide wissenschaftlich korrekt erklären zu können, so darf das allgemeine Äquivalent und damit auch das Geld in der Ausgangssituation des Austausche, wo es um das Entstehen des allgemeinen Äquivalents im Handeln der Menschen geht, auch nicht unterstellt werden" 371 . Diese Situation könne es „isoliert fiir sich [...] betrachtet [...], weder in der gegenwärtigen Geschichte des Kapitals noch in der historischen Vergangenheit geben" 372 . Den Realitätsgehalt der Ausgangssituation des Austauschprozesses sieht Wolf aber in deren Thematisierung der „mit der Gleichsetzung der Waren [...] einhergehende[n] Abstraktion von den verschiedenen Gebrauchswerten der Waren" 373 , die auch im WareGeld-Tausch eingeschlossen sei. Analog lasse sich der Realitätsgehalt z.B. der einfachen Wertform darin sehen, dass hier der Wert einer Ware sich im Gebrauchswert einer anderen darstellt, was ebenfalls im Ware-Geld-Verhältnis impliziert sei. Wolf rekurriert also auf Marx' methodische Bemerkung aus den Grundrissen, um die Frage des Objektivitätsgehalts der Abstraktionsstufen zu klären. Hier heißt es, die einfachen ökonomischen Kategorien des Anfangs können „nie existieren außer als abstrakte, einseitige Beziehung eines schon gegebnen konkreten, lebendigen Ganzen" 374 . Wolf differenziert dabei nicht noch einmal - wie im Zuge der Debatte um die Differenz zwischen den Widerspruchstypen .Problemantinomie' und ,Bewegungsform' - bloß .didaktisch' eingefugte und notwendig gegenstandsinduzierte Passagen im Kapital. Haugs Alternative zum vermeintlich wirklichkeitsfremden logisch-systematischen Ansatz besteht in der altbekannten These, in der Wertformanalyse werde die Entwicklungslogik eines historischen Prozesses entschlüsselt375, wobei die Übergänge zwischen den Wertformen durch das „Unpraktische, Disfunktionale einer Form, die den Tauschinteressen im Wege steht" 376 , bedingt seien. Dagegen macht Heinrich bereits auf der Ebene der Absichts370 371 372 373 374 375

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Zitate der Reihenfolge nach: Gallas 2005, S. 403, 403f. Zitate der Reihenfolge nach: Wolf 2008b, S. 2 9 , 4 8 . Wolf 2004, S. 141. Wolf 2008b, S. 45. M E W 4 2 , S. 36 (MEGA II/l.l, S. 37). Vgl. Haug 2004a, Sp. 342: „Das Genetische kann aber in der Tat als das modellhaft begriffene Historische gleichsam ,in laboratoriumshafter Reinkultur' [...] verstanden werden". Haug 2001a, Sp. 266.

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erklärung von Marx deutlich, dass Entwicklung', resp. ,Genesis' bei dem Anspruch, „die Genesis dieser Geldform nachzuweisen", „was von der bürgerlichen Ökonomie nicht einmal versucht ward"377, nur .begriffliche Entwicklung' bedeuten kann. Marx spreche nämlich nirgendwo davon, eine historische Entwicklung des Geldes aufarbeiten zu wollen und betone im Gegenteil, es handle sich um die kapitalistische Ware, die es zu begreifen gelte. Schließlich sei der (vermeintliche) Vorwurf an die politische Ökonomie, keine historischen Skizzen der Geldentstehung geliefert zu haben, schlichtweg falsch. Gerade die weitgehende Übereinstimmung der empirisch-pragmatischen Geldherleitung bei Smith und in der auf Engels zurückgehenden Orthodoxie beweise das Gegenteil378. Marx, so Heinrich, habe keine alternative Geschichte des Geldes liefern, sondern das „Geldrätsel"379 lösen wollen, d.h. die Eigenschaft unmittelbarer Austauschbarkeit der Geldware, die weder aus ihrer bloßen Wareneigenschaft (sonst wären alle Waren unmittelbar austauschbar) noch aus ihrem Material (das historisch wechsle) hervorgehen könne, aus einem gegebenen, aber nicht unmittelbar beobachtbaren sozialen Zusammenhang, der Wert- bzw. Geld/öwi, zu erklären beansprucht380. (IV) Eine weitere Kritik Haugs betrifft die Reihenfolge der Kategorien einer monetären Werttheorie. In seiner „starken Form" besage diese, „dass der Warencharakter und die Wertbestimmung vom Geld ausstrahlen. Nicht, wie bei Marx, ist es die Aktion der Warenwelt, die das Geld zu Geld stempelt, sondern erst das Geld stempelt die Produkte zu Waren". Heinrich mache aus Marx' Aussage, dass die Form unmittelbarer Austauschbarkeit untrennbar mit der nicht-unmittelbarer Austauschbarkeit verbunden sei, den „Umkehr-Fehlschluss, dass die Waren- oder Wertform unzertrennlich sei von der Geldform"381. Haug sieht also dort, wo es um dialektische wechselseitige Implikationen geht, nur eine historische lineare Kausalität und reproduziert damit lediglich die Konfundierung zwischen logischer und empirischer Voraussetzung des Geldes. Dagegen muss dem monetären Ansatz zufolge das Geld logisch aus der Ware hergeleitet werden, um begründungstheoretische Zirkel zu vermeiden382. Marx zeigt daher, dass Geld „eine Form von etwas ist, das nicht selbst wieder Geld ist [...], sondern endogen, also aus etwas anderem erklärlich"383, wie Christoph Henning sich ausdrückt. Empirisch ist das Geld allerdings mit der Ware gleichzeitig, oder, wie Brentel meint, gleichursprünglich. Begriffliche Entwicklung des Geldes aus der Ware weist nun das Geld als Form des Werts auf und damit zugleich die Notwendigkeit des Geldes für den Wa-

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MEW 23, S. 62 (MEGA II/6, S. 81). Vgl. Heinrich 2003, S. 400: „Und erst recht ist nicht das von Haug als Triebkraft der Wertformentwicklung verstandene ,Unpraktische, Disfunktionale', das zur Aufhebung einer Form führen soll (2001, 266), ein Argument gegen die klassisch-neoklassische Elimination des Geldes aus der Theorie. Dort wird ja keineswegs bestritten, dass Geld praktisch und funktional ist". Die Einführung des Geldes wird dort sogar ausschließlich aus solchen Bequemlichkeitsgesichtspunkten der Tauschenden heraus begründet. Dass sowohl Smith als auch Engels Geld als pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel verstehen, wurde zu Beginn dieses Kapitals gezeigt. MEW 23, S. 62 (MEGA II/6, S. 81). Vgl. Heinrich 2008, S. 109f. Zitate der Reihenfolge nach: Haug 2004b, S. 707, 709. Vgl. Wolf 2003, S. 11. Henning 2005, S. 172.

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rentausch384. Da Haug dialektische Darstellung lediglich als idealtypisch abgekürzte Darlegung historisch-empirischer Prozesse begreift, muss er folglich auch die Aufeinanderfolge der Kategorien in der Werttheorie empirisch deuten. Dann kann der Sinn von Gelderklärung nur der sein, dass es Waren im eigentlichen Sinne vor und unabhängig von Geld gibt und jede andere Deutung einen geldtheoretischen Standpunkt der fertigen Phänomene implizieren würde, der Geld als autonome, nicht weiter begründbare Entität fasst. Dass Marx und die monetäre Lesart aber weder das eine noch das andere behaupten, kann ausgehend von Haugs Prämissen nicht einleuchten. Doch erst, wenn ein monetärer Ansatz die logische Priorität des Geldes behaupten würde, könnte von einer verdinglichten, „exogen"385 argumentierenden, Geldtheorie gesprochen werden. Dies wirft Christoph Henning nun Backhaus' Variante einer monetären Werttheorie vor, die noch dazu mit monetärer Werttheorie per se identifiziert wird386. Backhaus, so Henning, „rät dazu"387 „die Kategorie Geld als das logisch Erste der ökonomischen Theorie"388 zu betrachten. Doch nimmt es Henning hier mit der Aussage seines Antipoden nicht allzu genau. Zwar kann man, wie bereits dargelegt, Backhaus zu Recht vorwerfen, er setze faktisch fur die Wertbestimmung ein komplexes Verhältnis (Ware-Geld) voraus, woraus dann eine Reihe selbst fabrizierter theoretischer Probleme entstehen. Doch er „rät" an der von Henning zitierten Stelle keineswegs zum Geld als letztem ökonomietheoretischen Ausgangspunkt. Das Zitat lautet vielmehr unmissverständlich: „Wenn sich nämlich herausstellen sollte, daß der Marxsche Weg einer ,Entwicklung' des Geldes aus der Ware nicht gangbar ist, dann wird man die Kategorie Geld als das logisch Erste der ökonomischen Theorie, als ihren mit den Mitteln der ökonomischen Analyse irreduziblen Grundbegriff akzeptieren müssen"389. In seinen wenigen positiven Rekonstruktionsbemühungen ist denn auch der Versuch zu finden, das Geld aus der Ware abzuleiten, ohne eine prämonetäre Werttheorie zu unterstellen, die Waren als autonome empirische Entitäten voraussetzt. Hier heißt es denn auch deutlich: „Marx setzt die Ware als ein logisch [!] Erstes, die Vulgärökonomie hingegen das Geld"390. In die Nähe der von Henning kritisierten Theorie gerät eher Helmut Reichelt, wenn er jüngst behauptet, Marx begebe sich mit dem Ansatz beim Verhältnis zweier, nicht-preisbestimmter Waren am Beginn des Kapital in eine „Scheinargumentation", da doch „immer schon die Existenz der Geldform unterstellt werden muss"391. Diese Gegenüberstellung legt es in der Tat nahe, derart darstellungslogische Konsequenzen aus der Tatsache der empirischen Gleichzeitigkeit von Waren und Geld zu ziehen, indem eine Entwicklung des Wertbegriffs aus ,allen Formen zugleich' praktiziert wird. Wie dies geschehen soll, ohne in fehlerhaften Zirkeln zu argumentieren, bleibt auch bei Reichelt unklar. (V) Weit davon entfernt, diese Differenzen zu bemerken, meint Haug nun, durch eine Gegenüberstellung der methodologischen Reflexionen der Grundrisse mit denen des Kapital 384 385 386 387 388 389 390 391

Vgl. auch Iber 2005, S. 49. Henning 2005, S. 172. Vgl. ebd., S. 171f. Ebd., S. 171 (Fn. 115). Backhaus 1997e, S. 181 (zitiert in Henning 2005, S. 171 (Fn. 115)). Backhaus 1997e, S. 181. Backhaus 1997f, S. 275 (Einfügung von mir, I.E.). Zitate der Reihenfolge nach: Reichelt 2005, S. 5, 4.

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ein weiteres Argument für seine These zu finden, der kognitive Primat des Logischen impliziere eine paradoxe Umkehrung des wissenschaftlichen Begründungszusammenhangs von einfachen und komplexen Reichtumsformen. Werkgeschichtlich sei aber - entgegen der Popularisierungsthese der .Logizisten' - kein Verfall, sondern ein theoretischer Fortschritt zwischen Grundrissen und Kapital zu verzeichnen. Behaupte Marx nämlich in der MenschAffe-Metapher der Grundrisse noch, „in der Anatomie des Entwickelteren sei der Schlüssel zu der des weniger Entwickelten zu finden", so arbeite er im Kapital „der Sache nach" mit der These, „die Anatomie der einfachen Wertform berge den Schlüssel zum Bau aller Wertform" 392 . Auch hier konfundiert Haug, wie Dieter Wolf in seiner Kritik bemerkt 393 , aufgrund seines historizistischen Methodenverständnisses völlig heterogene Methodenaspekte der Ökonomiekritik. Denn die erste Feststellung, die Anatomie des Menschen sei Schlüssel zu der des Affen, bezieht sich Wolf zufolge auf das Verhältnis eines fertigen, sich reproduzierenden Systemzusammenhangs zu historisch vorhergehenden Produktionsweisen, bzw. zwischen den dort voll ausgebildeten Vergesellschaftungsformen und Kategorien zu den hier nur rudimentär als „bloße Andeutungen" 394 vorhandenen. Hier werde also das Verhältnis des Verständnisses der Gegenwart zum Verständnis der Vergangenheit (in Bezug auf Gegenwärtiges) thematisiert. So müsse zuerst bekannt sein, was Kapital ist, um seine Vorformen und ihm zeitlich vorhergehenden Konstitutionsprozesse thematisieren zu können 395 . Die methodische Implikation hingegen, die einfache Wertform berge den Schlüssel zum Verständnis der Geldform 396 (als entwickeltere, komplexere Wertform), beziehe sich auf das Verhältnis gleichzeitig existierender und einander implizierender Bestimmungen, die in eine explanatorische Abfolge gebracht werden müssten 397 . III. Umgang mit oder Umgehung von Ambivalenzen? Paradigmainterne Varianten in der Diskussion um die nicht-/substantialistische Werttheorie von Marx Das Problem der Formtheorie der Arbeit in Gestalt einer nicht-substantialistischen Werttheorie beschäftigt seit Mitte der 1970er Jahre auch eine Reihe von Theoretikern, deren Beiträge die Grenzen zwischen naturalistischer und gesellschaftstheoretischer Bestimmung der Wertsubstanz auf andere Weise als Brentel und Heinrich ziehen (U. Müller, K. Holz, D. Wolf, Iber, Postone, Kurz, Krämer sowie Nanninga, Krause, Schampel, Steinvorth, Böhler).

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Haug 2003, S. 428. Vgl. Wolf 2008b, S. 7Iff. MEW 42, S. 39 (MEGA II/l.l, S. 40). Vgl. Heinrich 1999, S. 178, Heinrich 2004a, S. 29. Vgl. MEW 23, S. 63 (MEGA II/6, S. 81): „Das Geheimnis aller Wertform steckt in dieser einfachen Wertform"; vgl. auch ebd., S. 62, 72 oder MEW 31, S. 306. Da auch Haug sich missbräuchlich auf den Marxschen Terminus der „contemporären Geschichte" beziehe, müsse dieser klar von historizistischen Interpretationen abgegrenzt werden. Wolf zufolge bedeutet „contemperare Geschichte" weder a) vergangene Geschichte, noch b) die Geschichte des Kapitals von seiner Entstehung bis heute, noch gar c) die Geschichte des Kapitals zu Zeiten von Marx (vgl. Wolf 2007, S. 60). „Contemporäre Geschichte" stehe bei Marx vielmehr für das Kapital als System, als gegenständlich vermittelter Handlungszusammenhang, der seine eigenen Voraussetzungen als seine Resultate reproduziert.

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Wenn noch im Jahr 2004 konstatiert werden kann, dass die „Interpretation der Kategorie abstrakte Arbeit [...] wohl auf absehbare Zeit einefs] der meistdiskutierten und umstrittensten Probleme der internationalen Marx-Forschung bleiben"398 werde, so kann der folgende Abschnitt vielleicht dazu beitragen, sich einen Begriff von der Heterogenität und Vielfalt der Deutungsansätze zu machen, die allein in der Bundesrepublik zu verzeichnen sind bzw. waren. Bereits in den 70er Jahren versucht Ulrich Müller sich einen Reim auf Ambivalenzen in der Marxschen Wertsubstanz-Bestimmung zu machen. Für Marx' Äußerung, die Verausgabung von Arbeitskraft im physiologischen Sinn konstituiere den Wert einer Ware, hält er folgenden „terminologischen Präzisierungsvorschlag[...]" parat: „Streng gesprochen [...] müßte ausfuhrlicher gesagt werden: Die abstrakte Arbeit bildet den Wert, dort wo dieser Abstraktionsprozeß sich gesellschaftlich wirklich vollzieht, wird sie somit, weil dies Produktion für den Austausch ist, zur Bildnerin des Warenwerts". Marx zeige nicht klar genug auf, dass er hier „wieder von der allgemeinen Betrachtung der Wertsubstanz abgeht". Müller verdoppelt also den Wertbegriff, um die Marx-Passage in ein konsistentes Deutungsmuster zu integrieren: Einmal werde Wert durch Arbeit schlechthin produziert, was den physiologischen Ansatz legitimieren soll: „Der Wert des Dinges [...] wird dadurch konstituiert, daß zur Herstellung des nützlichen Gutes Arbeit aufgewandt wurde", weshalb Arbeitsprodukte „nie wertlos" seien. Darüber hinaus bringe aber erst austauschbezogene Arbeit den Waren-Wert als historisch-spezifische Form hervor, was dem erstgenannten „Werthaben eine gesellschaftliche Relevanz"399 zukommen lasse. Was Marx, wie oben bereits ausführlich dargelegt, als ,Inhalt der Wertbestimmung' anspricht400 - die soziale Verwiesenheit arbeitsteiliger Produktion und Tatsache des Interesses an Arbeitszeit-Einteilung in allen Sozialformationen - , wird von Müller zum Wertbegriff stilisiert. Was zunächst als überflüssige und die terminologischen Unschärfen, die Müller rügt, nur noch potenzierende, rein nominelle Operation erscheint, mutiert durch seine These, Marx spreche bei der Einführung der Wertsubstanz in Abschnitt 1.1. des Kapital generell nicht vom Warenwert, sondern vom Wert im ahistorischen Sinn einer impliziten Bestimmungsgröße jeden Wirtschaftens, zum werttheoretischen Substantialismus. Müller verdoppelt nicht nur terminologisch den Wert, sodass Waren als ,Gebrauchswert-Wert-Warenwert'-Einheiten auftreten, er ordnet die auf der Abstraktionsebene des ersten Abschnitts, in der von Austauschverhältnissen der Waren noch abgesehen wird, obwohl sie real unterstellt sind, bloß analytisch festzuhaltende Kategorie der Wertsubstanz, bzw. des Werts, einer ahistorischen verständigen Abstraktion zu. Wie der Begriff .Arbeit' nach Marx erst rein unter kapitalistischen Bedingungen entwickelt werden könne, aber Gültigkeit für den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur in allen Produktionsweisen beanspruchen dürfe401, so entstehe auch der Wertbegriff erst durch das Vorherrschen 398

Hoff 2004, S. 30. Zitate der Reihenfolge nach: Müller 1977, S. 30,28, 33,16, 26,16. 400 Vgl. MEW 23, S. 85f. (MEGA II/6, S. 102); 32, 552f. 401 Vgl. Müller 1977, S. 16 sowie MEW 42, S. 38f.: „Dies Beispiel der Arbeit zeigt schlagend, wie selbst die abstraktesten Kategorien trotz ihrer Gültigkeit - eben wegen ihrer Abstraktion - für alle Epochen doch in der Bestimmtheit dieser Abstraktion selbst ebensosehr das Produkt historischer Verhältnisse sind und ihre Vollgültigkeit nur für und innerhalb dieser Verhältnisse besitzen" (ebd., S. 39) (MEGA II/1.1, S. 40). 399

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tauschinduzierter Realabstraktionen vom Gebrauchswert, sei aber gültige Beschreibung der Zeitdimension jeder Ökonomie. Wert und Wertsubstanz, wie sie zu Beginn des Kapital präsentiert würden, seien also, weil sie begriffliche Abstraktionen darstellen, Nominalabstraktionen fur gemeinsame Eigenschaften aller menschlichen Produktion, „gesellschaftsunspezifische[...], vielfaltig analytisch anwendbare[...] Begriffne]"402. Deshalb sei auch der Wert ebenso wie die Arbeit als Anfang der Darstellung kapitalistischer Reichtumsformen unbrauchbar, weil von dieser transhistorischen Kategorie kein Weg hin zu den modernen Reichtumsbestimmungen führe403. Mit der Einführung der Kategorie der Wertsubstanz sei demnach eine Abstraktionsebene angegeben, die „sich inhaltlich aus der bestimmten Gesellschaft heraushebt": „Die Darstellung der Wertsubstanz und ihres Größenmaßes bewegt sich auf einer Abstraktionsebene, die den ,Wert' von jeder spezifischen Gesellschaft unabhängig macht"404. Damit landet die Argumentation wieder bei W.F. Haugs These, mit der Wertsubstanz-Analyse werde, ebenso wie mit der des Gebrauchswerts, „eine Naturbasis-Ebene"405 erreicht. Müller kommt nicht auf die Idee, die Bezeichnung der Wertabstraktion als „Gedankending"406, bzw. zunächst nur durch „unsre Analyse"407 zustande gekommene Kategorie, als Hinweis darauf zu deuten, dass dies als Beschreibung der im Austauschprozess generierten Realabstraktion ,Warenwert' zu lesen ist, die solange nur gedanklich vom Theoretiker festgehalten werden kann, wie der Austauschprozess den Wertcharakter der Ware noch nicht „durch ihre eigne Beziehung zu der andern Ware"408 hervortreten lässt. Die analytische Reduktion qua Gedanken ist zudem notwendig, weil die reale Abstraktion im Austausch den Wert niemals als solchen, sondern stets in der sachlichen Form des Tauschwerts erscheinen lässt. Die begrifflich notwendige Operation zur Erkenntnis der Spezifik moderner Reichtumsformen wird bei Müller also in eine Reflexion ahistorischer Inhalte verkehrt. Was er Mara als fehlende begriffliche „Strenge"409 ankreidet, nämlich nicht klar genug zwischen verständiger Abstraktion Wert mit transhistorischem Inhalt und Realabstraktion Warenwert mit historisch-spezifischem Inhalt zu unterscheiden, ist nichts als seine eigene kategoriale Vermischung von transhistorischem Inhalt der Wertbestimmung (Inhalt der Form Wert) und historisch-spezifischer Wertsubstanz (abstrakte Arbeit als historisch-spezifische Form). Statt die Ambivalenz in der Marxschen Bestimmung der Wertsubstanz klar herauszuarbeiten, konstruiert er nur eine weitere Ambivalenz, die er dann Marx unterschiebt. Klaus Holz sieht zwar, anders als Müller, richtig, dass der sich noch nicht im Austausch zeigende Wert, den Marx als Gedankending bezeichnet, der Warenwert ist410, auch er fallt aber auf die Marasche Terminologie vom ,Inhalt der Wertbestimmung' herein und enthistorisiert die Form Wert daraufhin. Anhand des Robinson-Abschnitts im Fetischkapitel, dessen

402 403 404 405 406 407 408 409 410

Müller 1977, S. 19. Vgl. ebd., S. 18. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 27, 31. Haug 1989, S. 113. MEGA II/5, S. 30. MEW 23, S. 65 (MEGA II/6, S. 83). Ebd. (auch (fehlerhaft) zitiert in Müller 1977, S. 29 (Fn.)). Müller 1977, S. 28. Vgl. Holz 1993, S. 156 (Fn.).

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darstellungslogischer Status Holz, wie so vielen Interpreten, unbekannt bleibt 411 , behauptet er, nach Marx hätten für Robinson seine Arbeitsprodukte zwar „Wert, aber keine Wertform und damit keine Warenform" 412 . Tatsächlich spricht Marx davon, in der Tatsache, dass Robinson zur Produktion bestimmter Gebrauchswerte bestimmte Mengen von Arbeitszeit verausgabt, deren durchschnittlicher Umfang ihn interessieren muss, wenn er überleben will, seien „alle wesentlichen Bestimmungen der Werts enthalten" 413 . Mit dieser missverständlichen Formulierung ist aber lediglich der Sachverhalt angesprochen, den Marx mit dem .Inhalt der Wertbestimmung' wenige Seiten zuvor fassen will. Danach ist der Wert die historisch-spezifische Form gesellschaftlicher Arbeit, eines Inhalts, der in allen arbeitsteiligen Sozialformationen existiert - der Notwendigkeit des Arbeitens der Menschen füreinander in einer bestimmten Proportion. Zunächst zeigt dies, wie (bewusst) schief bereits das Robinson-Beispiel ist. Des Weiteren wird deutlich, das der Wert nicht selbst Inhalt im transhistorischen Sinn ist, wie Holz unterstellt414, sondern die Form eines transhistorischen Inhalts - der Verausgabung von Arbeitszeit bei der Herstellung von Produkten und der Vergesellschaftung der Arbeiten 4 ' 5 . In einer von Holz nur wenige Seiten zuvor selbst ausgiebig zitierten Passage aus den Randglossen zu Wagner spricht Marx dies klar aus: „daß der ,Wert' der Ware nur in einer historisch entwickelten Form ausdrückt, was in allen andern historischen Gesellschaftsformationen ebenfalls existiert, wenn auch in andrer Form, nämlich gesellschaftlicher Charakter der Arbeit, sofern sie als Verausgabung ,gesellschaftlicher ' Arbeitskraft existiert"416. Zwar erwähnt Holz zu Recht, dass der Warenwert, obgleich jener logisch vorgeordnet 417 , ohne Wertform nicht reell sein kann, also Wesen (Warenwert) und Erschei-

411

Holz rezipiert, obwohl seine Arbeit 1993 erscheint, keine der jüngeren werttheoretischen Arbeiten der neuen Marx-Lektüre, weder Wolf (1985) noch Brentel (wo sich die einzige Reflexion zu den ,Beispielen' des Fetischkapitels findet) (1989) oder Heinrich (1991). Als „neuere Darlegung der Wertformproblematik" (Holz 1993, S. 158) gelten ihm allein Texte von Hans-Georg Backhaus aus den Jahren 1969, 1974 und 1975. Dies hat allerdings Methode, will Holz doch Backhaus' hegelianisierende Lesart mit Dialektik schlechthin identifizieren, um diese verabschieden zu können. Umso erstaunlicher ist es, dass Christoph Henning Holz ohne nähere Erläuterung zum Ansatz des .Hegelmarxismus' rechnet (vgl. Henning 2005, S. 563). 412 Holz 1993, S. 155 (Fn.). 413 MEW 23, S. 91 (MEGA II/5, S. 45). 414 Vgl. Holz 1993, S. 156: „Erst wenn der Produktenwert sich in Wertform darstellt, wird diese universale Bedingung zur spezifischen Form [...] Marx hätte eine klarere Unterscheidung zwischen einem allgemeinen Begriff des Arbeitsproduktes und dem der Ware treffen können". Vgl. auch ebd., S. 162 (Fn.). 415 Vgl. allgemein die kritische Diskussion des Begriffs des ,Inhalts der Wertbestimmung' bei Wolf 2006a, S. 71 und Heinrich 2008, S. 166f., 194 (speziell zum Robinson-Beispiel). 4,6 MEW 19, S. 375 (zitiert in Holz 1993, S. 155). Vgl. auch Andreas Arndt, der sich ebenfalls auf diese Stelle bezieht, aber anders als Holz erkennt, dass Marx hier den Wert „eindeutig zur spezifischen historischen Form" erklärt (Arndt 1985, S. 180). 417 Holz 1993, S. 160 sowie 164: „Der Wertbegriff ist die gedankliche Konstruktion des Warenwertes, der analytisch von der gleichursprünglichen Wertform unterscheidbar ist, weil er im Unterschied zur Wertform die Herkunft der Waren aus dem Arbeitsprozeß bezeichnet".

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nungsform (Wertform) empirisch „gleichursprünglich"418 sind, die einzelne Ware einen immanenten Gegensatz von (Waren-)Wert und Gebrauchswert nur aufweise, insofern dieser sich bereits äußerlich im Austausch dargestellt habe419, was zugleich jede historisierende Deutung ad absurdum führe. Seine These, ohne Wertform hänge die Wertbestimmung daher „unmittelbar an der konkreten Arbeit selbst" ist aber nicht nachvollziehbar. Auch hier wird unter dem Label einer Marx-Präzisierung eine heillose Begriffsverwirrung praktiziert, die den Wertbegriff unnötig in Produktenwert (nicht Gebrauchswert!) und Warenwert verdoppelt und so die Möglichkeit einer substantialistischen, ahistorischen Werttheorie suggeriert, die auch „eine Subsistenzproduktion arbeitswerttheoretisch"420 zu betrachten imstande sein soll. Es ist kaum eine spekulative Frage, ob auch diesem ,Präzisierungsversuch' insgeheim die Äußerungen über die physische Determiniertheit der Wertsubstanz zugrunde liegen: Offensichtlich will Holz die von ihm ganz im Sinne der Klassik als formunspezifisch verstandene Aibeitswertlehre (Arbeit bildet Wert)421 gewaltsam mit der gesellschaftlichen Arbeitswerttheorie von Marx422 in Einklang bringen. Eine weitere Variante der Thematisierung des Wesens abstrakter Arbeit findet sich in Christian Ibers systematischem Kommentar zu Band 1 des Kapital·. Zunächst versucht er, den Charakter des Werts als nicht bloß horizontales Verhältnis von Waren im Austausch, sondern auch vertikale Relation zur gesellschaftlichen Arbeit aus dem Umstand zu begründen, dass die „Zweckbestimmung" der Ware als Produkt für den Austausch „schon bei ihrer Produktion in Betracht kommt". Während hier die subjektiven, wenn auch nicht willkürlichen (weil ja durch die Produktionsverhältnisse bedingten), Zwecksetzungen der Produzenten im unmittelbaren Produktionsakt zum Wertgrund erhoben werden, gestaltet sich Ibers Bestimmung der Wertsubstanz abstrakte Arbeit wenige Seiten später anders: Gegen eine zirkulationsfixierte Vorstellung von Realabstraktion, die die Wertsubstanz als Resultat des Gleichsetzens im Austausch betrachtet, will er Marx' Formulierung des Charakters abstrakter Arbeit als Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv als adäquate Bestimmung der Wertsubstanz verstanden wissen. Abstrakte Arbeit ist demnach eine „gesellschaftlich verursachte Naturalisierung" konkreter Arbeit, die damit „tendenziell auf Verausgabung im Sinne von Verschleiß natürlicher Körperkräfte [...] reduziert wird"423. Bereits das von Iber angeführte424 Beispiel aus den Grundrissen, in dem Marx davon spricht, die „Gleichgültigkeit gegen eine bestimmte Art der Arbeit" setze eine universelle gesellschaftliche Arbeitsteilung vor-

418

Ebd., S. 160. Holz verwendet, ohne entsprechenden Verweis, hier exakt Brentels These und Vokabular (vgl. Brentel 1989, S. 313).

419

Vgl. Holz 1993, S. 162 sowie 172 (Fn. 98): „Der Versuch, die Wertform aus dem Wert abzuleiten, geht fehl, wenn er nicht von der Konstitution der Warenform und damit von der Gleichursprünglichkeit von Warenwert und Wertform ausgeht". Genau dies ist die Pointe der Kritik von Ritsert, Brentel und Heinrich an jeder Keimzellendialektik.

420

Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 157, 156. Vgl. auch ebd., S. 162 (Fn. 93).

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Vgl. ebd., S. 164. Hier wird der Wertbegriff korrekt bestimmt als „abstrakteste und allgemeinste Regel dieser [der kapitalistischen] ökonomischen Struktur: Relationierung der Arbeitsprodukte durch ihren Charakter, Arbeitsprodukt zu sein".

423

Zitate der Reihenfolge nach: Iber 2005, S. 35, 39.

424

Vgl. ebd., S. 38.

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aus, in der die unmittelbaren Produzenten „mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre Übergehn und die bestimmte Art der Arbeit ihnen zufallig, daher gleichgültig ist"425, lässt befurchten, dass Iber damit abstrakte Arbeit mit einer bestimmten Sorte konkreter Arbeit, nämlich entqualifizierter manueller Tätigkeit, oder wenigstens mit konkreter Arbeit im allgemeinen konfundiert426. Damit sind abstrakte und konkrete Arbeit zwar nicht mehr zwei Sorten Arbeit, aber dafür ein und dasselbe. Wenn Iber meint, es sei die „Herrschaft des Werts über die gesellschaftliche Arbeit, die diese zur abstrakt-menschlichen macht, weil sie ganz praktisch bewirkt, daß sich die Arbeit gleichgültig gegen ihren eigenen Charakter als konkret-nützliche verhalten muß"427, so wird die Konfusion dadurch noch gesteigert. Hier wird plötzlich das, was gerade noch Produkt des Wertgrunds abstrakte Arbeit gewesen sein soll, der Wert, zur Ursache seiner eigenen Ursache erklärt - ein fehlerhafter Zirkel, der mit Dialektik nichts zu tun haben dürfte: Es wird vielmehr ein logisches und historisches Resultat der reellen Subsumtion des Arbeitsprozesses unter das Kapital428 zur logischen Erklärung des Werts herangezogen. Moishe Postone429 erkennt im Rahmen seiner Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie zwar einen Gegensatz zwischen einer universalhistorisch-physiologischen und einer gesellschaftlich-spezifischen Bestimmung abstrakter Arbeit im Kapital und lehnt erstere vehement ab - mit I.I. Rubin stellt er fest, abstrakte Arbeit sei entweder eine physiologische Bestimmung oder historisch-spezifische Kategorie430 - , seine Einschätzung dieses Widerspruchs bleibt aber uneindeutig: Postone vermeint zunächst im Kapital eine Strategie der „immanentefn] Darstellung" des Doppelcharakters warenproduzierender Arbeit zu erkennen. Marx stellt demzufolge in der Warenanalyse „Denkformen vor, die für die Gesellschaft charakteristisch sind, deren grundlegende gesellschaftliche Formen er kritisch analysiert". Dadurch würden die Kategorien des Anfangs der Kritik der politischen Ökonomie „bereits in mystifizierter Form präsentiert", die Ausgangsbestimmungen der abstrakten Arbeit z.B. als transhistorische. Da sich das historisch Spezifische - die Synthesisfunktion der Arbeit im Kapitalismus als Ontologisches - als Eigenschaft von Arbeit als Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur - darstelle, muss nach Postone Marx' Darstellung als „Analyse 425 426

427 428

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430

MEW 42, S. 38 (MEGA II/l.l, S. 39). Dieter Wolf kritisiert die Heranziehung dieser Marx-Passage zum Zwecke der Klärung des Begriffs abstrakte Arbeit bereits im Rahmen seiner Kritik an Helmut Reichelt; vgl. Wolf 2004, S. 66f., 71 f. Es gehe darum, dass konkrete Arbeit nicht mehr mit den unmittelbaren Produzenten als soziale Bestimmung verwachsen sei (Trennung von persönlichem Individuum und Klassenindividuum), nicht um die Arbeit als Wertgrund (vgl. ebd., S. 71). Wenn von der empirischen Abstraktifizierung der Arbeit die Rede sei (Wolf zitiert MEGA II/l.l, S. 217), gehe es um die durch den Verwertungsprozess bedingte Veränderung des Arbeitsprozesses, die die Arbeit „inhaltsärmer" (Wolf 2004, S. 67) mache. Von dieser Arbeit als Wertsubstanz zu sprechen sei widersinnig, weil ihr der Wert bereits vorausgesetzt sei (vgl. ebd.). Iber 2005, S. 40f. Das von Iber dann auch konsequenter- (und korrekter-) weise an späterer Stelle noch einmal eingeführt werden muss, vgl. ebd., S. 177f. Postone gehört aus zwei Gründen in diese Arbeit: Er hat seine Position in Auseinandersetzung vornehmlich mit der bundesrepublikanischen Debatte entwickelt und auch seine ersten Ansätze dazu in Deutschland veröffentlicht (vgl. Postone/ Reinicke 1976 sowie Brick/ Postone 1983) Vgl. Postone 2003, S. 225f.

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des Kapitalismus in dessen eigenen Begriffen", die physiologisch-ontologische Bestimmung zunächst aufnehmen, um sie dann im Laufe der Darstellung zu destruieren. Wegen dieser Immanenz sei die Ökonomiekritik leicht als positiv-affirmative politische Ökonomie misszuverstehen. Neben diesen anhand der Literatur kaum weiter belegten Thesen, findet Postone jedoch „die Bestimmungen der abstrakt menschlichen Arbeit, wie er [Marx] sie im 1. Kapitel des .Kapitals' ausfuhrt, äußerst problematisch". Zu einer Feststellung realer Widersprüche und Ambivalenzen im Kapital kann er sich allerdings nicht durchringen. Dabei will es nicht einleuchten, die Anfangsbestimmungen der abstrakten Arbeit als „äußerst problematisch" und den systematischen Intentionen der Ökonomie£n'/i'& zuwiderlaufend einzuschätzen und sie zugleich als notwendiges Moment einer ausgeklügelten Kritik objektiver Gedankenformen zu postulieren. Es scheint, als sei sich Postone seiner Diagnose selbst nicht sicher. Schließlich entscheidet er sich aber für das Theorem immanenter Kritik, das ihm nunmehr zur Eskamotierung möglicher Ambivalenzen bei Marx dient: Die Kategorien des Anfangs würden von Marx im Grunde bewusst verkehrt dargestellt, als später zu kritisierende. Jede andere Annahme unterstelle ihm „ein unerklärliches Maß an Inkonsistenz" 431 . Da Postone sich nicht bemüht, seine Ausführungen zum Marxschen Programm einer Darstellung als Kritik der ökonomischen Kategorien 432 weiter auszuführen, diese Lesart aber weitgehend identisch ist mit Helmut Brentels These von den Anfangskategorien der Kritik der politischen Ökonomie als „bewusst thematisierte[r] und provozierte[r] Missverständnisse" 433 , soll die Frage nach der Plausibilität dieser Lesart am Beispiel Brentels diskutiert werden. Brentels gut belegte Grundthese lautet, dass der Fortgang der Darstellung im Kapital keineswegs die begrifflich stringente Nachzeichnung einer historischen Entwicklung, sondern logisch-formkritischer Rückgang in den Grund der Kategorien des Anfangs ist, die somit den falschen Schein ihrer Selbstbegründetheit, Natürlichkeit, Unmittelbarkeit und Harmonie verlieren. Formanalyse „fuhrt die als einfach und selbständig gefassten Kategorien der politischen Ökonomie als Abstraktionen eines Gesamtzusammenhanges vor, durch den sie als solche überhaupt nur gesetzt sein können" 434 . Dies ist z.B. am Begriff des Tauschwerts nachweisbar, der in Kapitel l.l 4 3 5 zunächst als bloß quantitatives Mengenverhältnis von Gebrauchswerten eingeführt wird - also wie er der politökonomischen Abstraktion von der unmittelbaren Alltagserfahrung erscheint und u.a. in der Theorie Samuel Baileys auftaucht - und schon auf der nächsten Seite mit dem Kommensurabilitätsargument seiner logischen Inkonsistenz überführt wird, was dann notwendig die Einführung der Kategorie eines immanenten Werts bedingt 436 . Es ist aber nicht unwichtig zu erwähnen, dass Marx durch seine Wortwahl bereits auf den scheinhaften Charakter jener Anfangsbestim-

431 432 433

434 435 436

Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 224, 221, 221, 264, 224, 264. Vgl. MEW 29, S. 550 (MEGA III/9, S. 72). Brentel 1989, S. 281. Postone erwähnt Brentel allerdings ebenso wenig, wie den Großteil der relevanten werttheoretischen Literatur der 70-90er Jahre überhaupt. So ist es leicht, der eigenen Arbeit den Anstrich des nie Dagewesenen zu geben, wie Postone es ad nauseam tut, obwohl er tatsächlich ständig unausgewiesen Positionen referiert, die bereits vor 1993, als das Buch im englischen Original erschien, bekannt waren. Am deutlichsten wird dies im Teil zum Verhältnis Hegel-Marx. Ebd., S. 279. Vgl. MEW 23, S. 50 (MEGA II/5, S. 18). Vgl. ebd., S. 51(11/5, S. 18f.).

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mung des Tauschwerts aufmerksam macht („erscheint zunächst", „scheint daher") und unmittelbar darauf „die Sache näher"437 betrachtet und richtig stellt. Nun behauptet Brentel, wie Postone, dieses verfahren werde von Marx auch bewusst hinsichtlich der Bestimmung der Wertsubstanz abstrakte Arbeit angewendet 438 . Hier werde zunächst auf die substantialistischen Arbeitswerttheorien eines Ricardo oder Proudhon rekurriert, um anschließend, nach Postone vor allem im Fetischkapitel 439 , die Historizität und rein gesellschaftliche Spezifität dieser ,Substanz' aufzuzeigen. Warum Marx dann aber bei der .Einfuhrung' der verdinglicht-nationalökonomischen Wertsubstanz-Definition in Kapitel 1.2 statt „Alle Arbeit scheint..." schreibt: „Alle Arbeit ist [...] Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, und in dieser Eigenschaft [...] bildet sie den Warenwert"440 und erst etliche Seiten später441, ohne jeden Bezug auf diesen Passus, eine nicht-naturalistische Bestimmung präsentiert, bleibt in diesem Interpretationsrahmen unklar442.

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Alle Zitate ebd., S. 50f. (II/5, S. 18). Vgl. Brentel 1989, S. 281. 439 Vgl. Postone 2003, S. 95,264. 440 MEW 23, S. 61 (MEGA II/6, S. 79) (Hervorhebungen von mir, I.E.). 441 Vgl. u.a. ebd., S. 88 (II/6, S. 105): „Was nur für diese besondre Produktionsform, die Warenproduktion, gültig ist, dass nämlich der spezifisch gesellschaftliche Charakter der voneinander unabhängigen Privatarbeiten in ihrer Gleichheit als menschliche Arbeit besteht und die Form des Wertcharakters der Arbeitsprodukte annimmt". 442 Diese These vom .immanent kritischen' Charakter der Marxschen Kategorien hat im selben Jahr des Erscheinens von Brentels Beitrag, zwar mit signifikanten Unterschieden, aber hinsichtlich der Deutung der Anfangsbestimmungen des Kapital durchaus vergleichbar, bereits Georg Lohmann vertreten (vgl. v.a. Lohmann 1989, S. 122f., 168ff.). Auch die Physiologie-Passage wird dort, gegen Castoriadis' These von widersprüchlichen Positionen im Denken von Marx (vgl. Castoriadis 1981, S. 233), als eine Einführung von ökonomischen Kategorien im Modus der von „der Zirkulation ausgehendefn], vorstellende[n] Erkenntnisweise, die die spezifisch bürgerliche Selbstverständigung charakterisieren soll" (Lohmann 1989, S. 130) gedeutet. Daher könne man auch nicht, „was sich als Selbstwiderspruch einer befangenen Vorstellung enthüllen soll, dem antinomischen Charakter der Marxschen Theorie (!) zurechnen" (S. 159 (Fn.)). Auch bei Lohmann wird diese Behauptung allerdings nicht plausibler. Er geht sogar so weit, bereits im Gebrauchswertbegriff der ersten beiden Seiten des Kapital eine „von Anfang an [...] durch das Kapital bestimmte Ausrichtung" (S. 122) zu erkennen. Generell muss diese Lesart einer ,immanenten' Darstellung, die sämtliche Widersprüche des ersten Kapitels mit dem Hinweis auf Marx' uneigentliches Sprechen eskamotieren will, als gescheitert gelten. Das heißt nicht, dass Marx nicht bisweilen tatsächlich so verfahrt, wie das Beispiel der anfänglichen Tauschwertbestimmung zeigt oder auch die These, Gegenstände erhielten ihre Eigenschaften nicht in Relationen, sondern .betätigten' sie dort nur (vgl. MEW 23, S. 72) (MEGA II/6, S. 89f.), die Marx in der Wertformanalyse im Zusammenhang mit der Deutung der Eigentümlichkeiten der Äquivalentform verwendet. Diese Äußerung, in der Marx tatsächlich den Alltagsverstand persifliert, hat regelmäßig empörte Einwände von Seiten analytischer Philosophen geerntet, die Marx hier ein reduktionistisches Verständnis zweistelliger Prädikatoren vorwerfen wollten (vgl. dazu weiter unten in diesem Kapitel). Hier trifft denn auch Lohmanns Generalprämisse ins Schwarze, wenn er meint, dies sei nicht Marx' These, sondern gelte nur „[f]ür das vorstellende Denken" (Lohmann 1989, S. 145), das derart relationale Eigenschaften reifiziere (S. 141, 146). 438

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Wie bestimmt Postone nun abstrakte Arbeit und Wert? „In der warenförmigen Gesellschaft"443 werde die Arbeit des Produzenten Mittel, um die von anderen erzeugten Güter anzueignen444. Ein Produkt werde dadurch zur Ware, indem es einen Gebrauchswert für die anderen und einen Tauschwert für den Produzenten darstelle. Die Arbeit des Produzenten erhalte dadurch einen Doppelcharakter: „einerseits ist sie eine spezifische Art der Arbeit, die besondere Produkte für Andere produziert" - was den gesellschaftlichen Charakter konkreter Arbeit ausmacht - andererseits „dient Arbeit, unabhängig von ihrem besonderen Inhalt, dem Produzenten als Mittel, die Produkte Anderer zu erwerben". In der kapitalistischen Produktionsweise, deren Existenz dieser Darstellung vorausgesetzt sei, „wird Arbeit auf ganz besondere Weise zum Mittel, Güter zu erwerben": „Hinsichtlich der Produkte, die die Käufer dank ihrer Arbeit erwerben, abstrahieren sie von der Besonderheit der Arbeit der Produzenten. Es besteht keine innere Beziehung zwischen der spezifischen Beschaffenheit der verausgabten Arbeit und der spezifischen Beschaffenheit des Produkts, das mittels dieser Arbeit erworben wird". Als Gebrauchswerte produzierende sei Arbeit als konkretzweckbestimmte Tätigkeit zu begreifen, als Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur. Die „Funktion der Arbeit als gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit" hingegen sei im Begriff der abstrakten Arbeit gefasst. Arbeit im Kapitalismus ist also über ihre konkretnützliche Dimension hinaus Medium gesellschaftlicher Vermittlung, die Ware nicht nur Gebrauchsgegenstand, sondern auch Mittel - gesellschaftliche Form des Privatprodukts. Weit stelle eine rein gesellschaftliche Vermittlungskategorie, eine „sich selbst verteilende Form des Reichtums", dar. Arbeit im Kapitalismus ist demnach bestimmbar als das, was vergesellschaftet wird (konkrete Arbeit) und zugleich als das, was vergesellschaftet (abstrakte Arbeit). Im Gegensatz zu dieser Synthesis (der konkreten) durch (abstrakte) Arbeit, finde in nichtkapitalistischen Produktionsweisen eine Fremdvermittlung, eine „gesellschaftliche Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte auf der Basis einer großen Vielfalt von Gebräuchen, traditionellen Bindungen, transparenten Machtverhältnissen oder [...] bewussten Entscheidungen" statt. Durch diese Einbettung produktiver Tätigkeiten in eine „Matrix [...] manifester gesellschaftlicher Verhältnisse", seien die Arbeiten nur als „qualitativ besondere bestimmt"445, würden symbolisch aufgeladen und seien als solche, in ihrer Naturalform, durch Formen direkter Interaktion vergesellschaftet. Stofflicher Reichtum als Resultat konkreter Arbeit konstituiere als solcher somit keinen sozialen Zusammenhang446. Abstrakte Arbeit wird nun aber paradoxerweise einmal bestimmt als „Funktion der Arbeit als gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit", dann wiederum soll es „die gesellschaftliche Funktion der Arbeit" sein, „die sie allgemein machtM1. Einmal ist die Synthesisfunktion von Arbeit (weil identisch mit abstrakter Arbeit) Explanandum, ein anderes Mal ist die Vermittlungsfunktion Explanans, die Abstraktheit der Arbeit Explanandum. Wünschenswer443 444

445 446 447

Postone 2003, S. 231. Dass dies allerdings für eine entscheidende Klasse sogenannter .Produzenten' nicht gilt und es in dieser Form ausgeführt eher den Schein der einfachen Zirkulation, Eigentum werde durch eigene Arbeit konstituiert, reproduziert, hätte Postone wenigstens erwähnen können. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 231, 231, 233, 239, 231, 232f., 233. Vgl. ebd., S. 239. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 233, 235 (Hervorhebung von mir, I.E.). Vgl. auch ebd., S. 237: Der abstrakt-allgemeine Charakter der Arbeit „verdankt" sich ihrer Synthesisfunktion.

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te Klarheit in der Beantwortung der Frage, wo genau die Realabstraktion von den konkreten Arbeiten stattfindet, im Austausch und/ oder im unmittelbaren Produktionsprozess, lässt auch Postones Beitrag vermissen. Da die o.g. Erklärung abstrakter Arbeit als Vergesellschaftungsfunktion aus ihrer Vergesellschaftungsfunktion nicht gerade zufriedenstellend ist, an Alfred Sohn-Rethel aber kritisiert wird, die Wertabstraktion stelle bei ihm „keine Abstraktion der Arbeit, sondern eine Tauschabstraktion"448 dar, scheint Postone doch eher den unmittelbaren Produktionsprozess als Abstraktionsquelle zu favorisieren. Allerdings ist mit diesem Zugang, der, wie Norbert Trenkle meint, „konsequent auf der Ebene der Arbeit selbst"449 verbleibt, die Problematik verbunden, dass der Wert im direkten Verhältnis zwischen Mensch und Sache begründet werden muss. So kann eine Formulierung wie die, die Produzenten abstrahierten von der Besonderheit ihrer Arbeiten450, auch so ausgelegt werden, als ob abstrakte Arbeit dabei auf ein Resultat bewusster (oder ebenfalls im Kopf der Akteure stattfindender unbewusster) Abstraktionstätigkeit reduziert würde, also auf eine gesellschaftlich aufgenötigte Nominalabstraktion. Dies wird nun auch von Robert Kurz versucht. Dieser spricht zunächst von einer „Aporie" im Marxschen Arbeitsbegriff, die in der Bestimmung von Arbeit „als kapitalistischer Realabstraktion und zugleich als ontologisches Prinzip"451 bestehe. Diese Differenzierung, die bereits einer Arbeitsontologie verhaftet sei, gehe schließlich im Marxismus zugunsten einer „transhistorischen" Fassung noch der Realabstraktion abstrakte Arbeit verloren, begründe mithin eine Arbeitsontologie zweiter Potenz. Gegen diese Zurücknahme der Marxschen Unterscheidung ins Übergeschichtliche versucht Kurz nun, sie vollends ins Historische aufzulösen: Gerade die formanalytische Differenzierung zwischen konkreter und abstrakter Arbeit im Kapital soll in diesem Zuge rückgängig gemacht und ausnahmslos der Formseite zugeschlagen werden. (Konkrete) Arbeit selbst ist demnach als kapitalistische Realabstraktion zu entziffern452. Dies will Kurz zunächst an den Kategorien der konkreten Arbeit und des Gebrauchswerts - die von Marx als stofflicher Inhalt des Reichtums, welches immer seine gesellschaftliche Form sei, eingeführt werden - vollziehen. Beide seien ,Realparadoxien' und „insofern selber Bestandteil der modernen Realabstraktion", da in ihnen, als ,konkrete' Arbeit oder .abstrakte' Nützlichkeit, „das Attribut im Widerspruch zum Begriff' 453 stehe. „Gebrauchs-Wert" sei nichts als eine im Zirkulationsprozess von der Konsumtion getrennte abstrakte „GebrauchsPotenz schlechthin"454, wobei die Frage auftaucht, was die .konkrete Nützlichkeit', die sich im Gebrauch erweist, dann sein soll. Dagegen sei .abstrakte Arbeit' ein Pleonasmus455. Noch abenteuerlicher wird die Gedankenffihrung, wenn Kurz auf die Funktion des Gebrauchswerts der in Äquivalentform stehenden Ware zu sprechen kommt. Hier sei es nun der „abstraktifizierte Gebrauchswertkörper" dieser Ware, der den „Tauschwert", er meint wohl Wert, der in relativer Wertform befindlichen Waren ausdrücke. Damit trete das „Para448 449 450 451 452 453 454 455

Ebd., S. 275. Trenkle 2004. Vgl. Postone 2003, S. 231, 279. Kurz 2004, S. 58. Vgl. ebd., S. 60. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 61, 60. Beide Zitate: Kurz 1992, S. 139. Vgl. auch Kurz 1995, S. 10.

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dox der Warengesellschaft, das buchstäbliche körperliche Erscheinen der Abstraktion" des Werts zutage, wobei auf die ,Thier'-Passage aus der Erstauflage des Kapital verwiesen wird, die somit als begriffsrealistische oder ,realmetaphysische' verstanden wird. Die Wertform in Gestalt der Geldform generiert demnach eine wirkliche Vermischung von Stoff und Form, das Realwerden des Abstrakten, was Kurz mit der Behauptung unterfiittert, die gegenständliche Dimension der Geldware sei nun „kein sinnlicher Stoff mehr, sein Inhalt ist die abstrakte Form selber geworden" 456 . Dieser Irrationalismus hat denn auch im Zusammenhang der Krisis Schule gemacht. ,Paradoxie',,Mystik',,Realmetaphysik' werden umstandslos als Beschreibungen der Realität moderner Reichtumsformen ins Feld geführt, selbstfabrizierte logische Widersprüche in einem apokalyptischen Duktus als objektives Schicksal der Wertvergesellschaftung präsentiert. Sowohl konkrete als auch abstrakte Arbeit, als vermeintlich übergeschichtliche Kategorien, bezeichnen Kurz zufolge letztlich eine „spezifische materielle Zugriffsweise der abstrakten Arbeit auf den natürlichen oder sozialen Stoff'. Die Nominalabstraktionen ,konkrete Arbeit' resp. .Gebrauchswert' scheinen geradezu restlos in den Realabstraktionen - die fur Kurz aber, wie noch zu zeigen, nur nach der Seite der Wertsubstanz hin reale sind - abstrakte Arbeit und Wert aufzugehen, wenn er feststellt, der Gebrauchswert sei „nur" eine Erscheinungsform des Werts, konkrete Arbeit „eigentlich" 457 abstrakte 458 . Bereits auf dieser Ebene erweist sich Kurz' Entontologisierungs-Versuch als absurdes Unterfangen, das letztlich in einem regressus ad infinitum oder purem Irrationalismus enden muss. Zunächst benötigt eine formanalytische Strategie, die historisch-spezifische Organisationsweisen materieller Reproduktion ausweisen will, eine Differenz zwischen Form und Inhalt, wobei letzterer abstrakt und transhistorisch, für alle Produktionsweisen gültig, gefasst

456 457 458

Zitate der Reihenfolge nach: Kurz 1992, S. 139, 140, 140. Zitate der Reihenfolge nach: Kurz 2004, S. 61, 103. In eine ähnliche Richtung argumentiert - ohne Rekurs auf Kurz - Georg Lohmann. Er spricht von einer ,,reduktive[n] Bestimmung" (Lohmann 1989, S. 122) des Gebrauchswerts und der ihn hervorbringenden nützlichen Arbeit seitens Marx (vgl. ebd., S. 168-172). Der Gebrauchswertbegriff habe dort „von Anfang an eine durch das Kapital bestimmte Ausrichtung" (ebd., S. 122), weil er den konkreten Bedürfnissen gegenüber gleichgültig formuliert sei und damit auf die „Restbestimmung, überhaupt in irgendeiner Art nützlich zu sein" (ebd., S. 123) schrumpfe. Doch wird hier der eigentümliche Charakter der Abstraktion ,Gebrauchswert' verkannt und zuviel in die Anfangskategorien des Kapital hineingedeutet. So meint Lohmann beispielsweise, Marx spreche nur dann von .Gebrauchswert', „[sjobald ein Arbeitsprodukt [...] als Ware auftritt" (ebd., S. 122), ansonsten verwende er den Terminus ,Gebrauchsgegenstand*, der gerade die situations- und bedürfnisspezifische Verwendungsweise anzeigen solle. In der Tat ist im Zusammenhang der Erläuterung von Differenzen zwischen Produkten- und Warentausch im zweiten Kapitel des Kapital deutlich von .ausgetauschten' ,Gebrauchsgegenständen' die Rede (vgl. MEW 23, S. 102) (MEGA II/5, S. 54). Doch ist Lohmanns weitere These, nur im Kontext von Waren werde der GebrauchswertbegrifT verwendet, schon rein philologisch nicht verifizierbar. So liest man auf S. 50 von MEW 23 folgenden Satz: „Gebrauchswerte bilden den stofflichen Inhalt [...], welches immer seine gesellschaftliche Form sei". Auf S. 75 verwendet Marx die Kategorie Gebrauchsgegenstand auch fur die stoffliche Seite der Ware und in den Ergänzungen und Veränderungen zum ersten Band wird die transhistorische Bedeutung des Gebrauchswert-Begriffs ebenfalls deutlich: „Das Arbeitsprodukt ist in allen gesellschaftlichen Zuständen Gebrauchswerth oder Gebrauchsgegenstand" (MEGA II/6, S. 23).

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sein muss. Abstrakt, weil konkrete Arbeit und Gebrauchswert als bestimmte, in der Geschichte auftauchende Ereignisse und Dinge immer schon historisch singular geformt sind konkrete Arbeit ist dann z.B. Schneiderarbeit im England des 19. Jahrhunderts. Diese Aspekte interessieren aber zunächst nicht. Auf weiteren Darstellungsebenen des ökonomischen Gegenstands wird der Gebrauchswert in anderer Hinsicht für die Analyse relevant, weil soziale Form und gegenständliche Stoffdimension in ein formationsspezifisches Verhältnis zueinander treten: Als Repräsentanten des Historisch-Sozialen im Stofflichen (Wertformen), als wertschöpfender Gebrauchswert für das Kapital (Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft), als auf den Verwertungsprozess zugeschnittener Arbeitsprozess (reelle Subsumtion). Trotz dieser Nicht-Neutralität der singulär-stofflichen oder der sozialformationstypisch-stofflichen Ebene auf den komplexeren Darstellungsniveaus der Kritik der politischen Ökonomie, wird diese aber niemals identisch mit der Formebene459. Der stoffliche Inhalt der Produktion und ihrer Produkte wird bei Marx formanalytisch nur dann berücksichtigt, „wenn er modifiziert wird durch die Formverhältnisse oder als sie modifizierend erscheint"460. Erst durch die analytische Unterscheidung von Form- und Stoffdimension kann also die historischspezifische Reichtumsform Wert erkannt und ihre formspezifische Prägung von Arbeitsprozessen und Produkten dechiffriert werden. Diese Trennung und Inbezugsetzung ist damit alles andere als eine Inkonsistenz, wie Kurz gegen Postone unterstellen zu können glaubt461. Kurz meint, es sei nur dann legitim, von Arbeit im formationsübergreifenden Sinn zu sprechen, wenn es diese auch als ,reine' in der kapitalistischen Produktionsweise gebe, womit er gerade den Sinn der analytischen Differenzierung verfehlt. Betrachtet man nun, wie Kurz, konkrete Arbeit als „contradictio in adjecto", will aber an einer Formtheorie festhalten, so ist man genötigt, eine andere Kategorie für das Formunspezifische zu finden. Statt ,konkrete Arbeit' ist bei Kurz derart von „Tätigkeit", statt .Gebrauchswert' von „Stoff' 462 die Rede. Auch dies sind aber Allgemeinbegriffe für etwas je Konkretes und unterschiedlich Bestimmtes, auch diese könnten somit - freilich allein aufgrund der mehr als fragwürdigen Evidenz, dass es sich hier um Abstraktionen handelt als bloße Resultate der kapitalistischen Realabstraktion gedeutet werden. Schließlich wären alle Abstraktionen, damit alle Begriffe und alles Begreifen durch eine derartige ,Aufklärungskritik' diskreditiert. Kurz scheint sich hier auf den Standpunkt der sinnlichen Gewissheit zu stellen, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes' kritisiert463. Gerhard Stapelfeldt macht dagegen bereits lange vor Kurz' abstraktionskritischen Reflexionen und in gänzlich anderer Weise auf die „Problematik des Begriffs vom Gebrauchswert" bzw. der Gebrauchswerte hervorbringenden konkreten Arbeit, aufmerksam, „das Verschiedene gerade benennen zu sollen und es doch nur als Nicht-Verschiedenes aussprechen zu können"464. Das Sinnlich-Einzelne kann nur im Medium der Sprache und daher auch nur allgemein

459

460 461 462 463 464

Vgl. dazu auch Kolja Linders Differenzierung von Gebrauchswert überhaupt und gesellschaftlichem Gebrauchswert in Lindner 2007, S. 232f.. MEW 42, S. 741 (MEGA II/1.2, S. 716) (auch zitiert in Bader u.a. 1975, S. 89). Vgl. Kurz 2004, S. 90 Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 60, 60, 61. Vgl. Hegel 1991, S. 82-92. Stapelfeldt 1979, S. 114f.

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ausgedrückt werden465. Der Abstraktionsprozess (im Tausch) schließe nun den Gebrauchswert aus, weil dieser „Verschiedenes benennt und das Gemeinsame deshalb nicht anzeigt"466. Daher könne auch das gemeinsame Dritte der Waren, welches ihren Austausch ermögliche, nicht ein mysteriöser .Gebrauchswert schlechthin', als Produkt einer nicht minder mysteriösen nützlichen Arbeit schlechthin, sein, weil Gebrauchswerte immer in Beziehung eines Menschen zu einem realen und ganz bestimmten Stück Natur geschaffen würden, konkrete Arbeit somit zwar ein Allgemeinbegriff sei, aber immer nur konkretspezifische Tätigkeiten wie Weberei oder Schneiderei bezeichne467 (die natürlich auch wiederum nur Allgemeinbegriffe sind): „Gebrauchswerte produzierende Arbeit, insofern sie unauflöslich an Naturstoff gebunden ist, kann gerade nicht als Gleichheit begriffen werden; sie ist so verschieden wie ihre Produkte". Hier liege die Differenz zum Begriff abstrakter Arbeit begründet. Zunächst sei der Gegenstand dieses Begriffs zwar Abstraktion, die vom Konkreten gewonnen werde, aber keine, die „ A n d e r e s benennt, sondern selbst etwas ist: das gesellschaftliche Verhältnis". Während also .konkrete Arbeit' etwas Einzelnes benenne, es aber notwendig als Einzelnes verfehle, bezeichne .abstrakte Arbeit' etwas ebenfalls Abstraktes, „trifft" dieses genau468. Als doppelte Abstraktion will Kurz .Arbeit' schlechthin nun als sozialstrukturelles Phänomen dergestalt verstanden wissen, dass hier neben der gewaltsamen Zusammenfassung unterschiedlichster Tätigkeiten zu ,Arbeit schlechthin' auch eine Trennung derselben vom sonstigen Lebensprozess der Menschen stattfinde. Arbeit konstituiere sich damit zum Realabstraktum, weil der „warenproduzierende Mensch [...] nicht nur von der sinnlichen Qualität seiner Gegenstände, sondern in und hinsichtlich der ,Arbeit' auch gleichzeitig von den anderen Lebensmomenten ,absieht'" 469 . Dieser von Marx angeblich vernachlässigte Aspekt der Sphärentrennung tritt bei Kurz ins Zentrum seiner Bemühungen um eine ,produktionszentrierte' Theorie der Realabstraktion Arbeit. In der „abstrakten Raumzeit der Betriebswirtschaft", die sich durch die Herauslösung der Arbeitsstätte aus den sonstigen Lebensvollzügen, also die Konstitution der Fabrik, und die abstraktifizierte homogene Zeit auszeichne, werden ihm zufolge drei Abstraktionsprozesse generiert: Die Abstraktion der Arbeitenden von ihren Bedürfnissen (Inhalt und Form des industriellen Arbeitsprozesses sind den Menschen heteronom vorgegeben), die Abstraktion der Akteure voneinander im Produktionsakt (der ökonomische ,Funktionsraum' ist nicht ihr Lebensraum) und die Abstraktion von der Qualität der Arbeitsprodukte (der herzustellende Gegenstand ist den Produzenten „gleichgültig und fremd"470). Bei dieser stark an die Schilderung der Merkmale entfremdeter Arbeit in den Pariser Manuskripten erinnernden Aufzählung handelt es sich allerdings um die Betrachtung von Konsequenzen der Kommodifizierung der Arbeitskraft, der Umstellung der materiellen Reproduktion auf Profitproduktion als Selbstzweck und damit der Entbettung der Ökonomie im Sinne tauschvermittelter Aneignung fremder Arbeitskraft aus Formen 465 466 467

468 469 470

Vgl. ebd., S. 132. Ebd., S. 115. Dies wird gegen Böhm-Bawerk ins Feld geführt, vgl. ebd., S. 114f. Stapelfeldt übernimmt diese Argumentation wiederum von Joachim Nanninga (1975, S. 19, 169f.). Zitate der Reihenfolge nach: Stapelfeldt 1979, S. 121, 133, 133. Kurz 1995, S. 10. Zitate der Reihenfolge nach: Kurz 2004, S. 114, 117.

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moralischer Ökonomie oder direkt herrschaftsförmiger Aneignung. Keiner dieser Abstraktionsprozesse konstituiert Wert als ökonomische Form471. Eine interessante Wendung nimmt Kurz' Historisierungsvorhaben bei der Behandlung der Kategorie abstrakte Arbeit. Auch er wendet sich gegen Heinrichs und Postones These, Marx' Bestimmung der Wertsubstanz als Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv' sei eine naturalistische Enthistorisierung. Zunächst werde abstrakte Arbeit zwar tatsächlich vom Traditionsmarxismus naturalisiert, insbesondere Heinrichs Kritik daran sei aber nicht mehr in der Lage, die quantitative Dimension der Wertsubstanz begrifflich zu fassen: „Denn damit etwas vermehrt oder vermindert werden kann, muss es substantiell wirklich in einem materiell-inhaltlichen Sinne da sein; eine bloße Form als Substanz kann kein Quantitätsverhältnis darstellen"472. Abstrakte Arbeit als bloße Verausgabung menschlicher Energie sei stofflich nicht von der konkreten Form derselben zu trennen. Diese Trennung geschehe als nichtnatürliche in der kapitalistischen „Arbeitsabstraktion", deren Residuum aber ein „durchaus materieller Inhalt" sei. Die „Reduktion auf den körperlichen Verbrennungsvorgang" - die im Wertbildungsprozess allein interessierende Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in einem bestimmten Zeitrahmen - ist Kurz zufolge also „eine gesellschaftliche Abstraktion"473. Dass damit hinsichtlich der Wertbildungsfunktion von abstrakter Arbeit noch nicht viel gewonnen ist, wird nun die Auseinandersetzung mit Kurz' substantialistischer ,Arbeitsabstraktionstheorie' des Werts zeigen: Hier erweist sich Kurz' vollständige Ignoranz gegenüber der Logik der Abfolge der Kategorien im Kapital als besonders fatal: Er löst die spezifisch gesellschaftliche Form von Arbeit - abstrakte Arbeit - und Produkten - Wert - in ein Verhältnis von materiellen Prozessen im gegenständlichen Sinne einerseits und Denkakten andererseits auf474. Da die mit abstrakter Arbeit identifizierten physischen Verbrennungsvorgänge „Vergangenheit und nicht mehr greifbar" sind, sobald die Produkte hergestellt sind, könne die Darstellung der Wertsubstanz als Werteigenschaft von Produkten „nur in den Köpfen" der Akteure geschehen - als „fetischisierte praktische Wahrnehmung und .Behandlung' ihrer eigenen Gesellschaftlichkeit"475. In einem früheren Text bemüht sich Kurz 471

Die Verwechslung von Ursache und Wirkung, Form und formbestimmten Stoff, findet sich auch in der These von der „abstrakten, repetitiven, allein ,wertproduktiven' Produktionsarbeit" (Kurz 1991, S. 86) wieder. Hier wird abstrakte Arbeit mit einer bestimmten Sorte konkreter Arbeit konfundiert. Abstrakte und entfremdete Arbeit werden bereits von Colletti (1971, S. 50-54) identifiziert. Daraus resultiert schließlich seine These des „engsten Zusammenhang^]" der Werttheorie mit den Frühschriften.

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Vgl. Kurz 2004, S. 62. Vgl. auch die Position von Dieter Wolf weiter unten. Beide Zitate: Ebd., S. 63. Vgl. auch Behrens/ Hafner u.a. 2000, S. 6: „Kurz' Konstruktion fällt also auseinander in eine Vorstellung vom Arbeitswert als Produkt lebendiger Arbeit, als Gegenstand, und eine Vorstellung vom Wert als Abstrakt-Allgemeinen, der sich letztlich als Normorientierung der Zirkulationsagenten präsentiert. Die Revolution bestünde dann nur im Wechsel des normativen Paradigmas: ,Einfach nicht mehr daran glauben!'".

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Beide Zitate: Kurz 2004, S. 63. Vgl. dagegen Heinrich 2004, S. 72: „Der Fetischismus besteht nicht bereits darin, dass Arbeitsprodukte als Wertgegenstände angesehen werden - in der bürgerlichen Gesellschaft besitzen Arbeitsprodukte, sofern sie ausgetauscht werden, ja tatsächlich Wertgegenständlichkeit - sondern darin, dass diese Wertgegenständlichkeit als eine .selbstverständliche Naturnotwendigkeit' (MEW 23, S. 95f.) gilt".

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um eine nähere Begründung dieser These: Im Rahmen der ,Arbeitsabstraktionstheorie' will er Wertkonstitution völlig unabhängig von der Zirkulationsebene nachzeichnen und erklärt diese aus einer „doppelten Trennung und Getrenntheit" des unmittelbaren Produzenten 1) von der „konsumtiven Zwecksetzung seiner eigenen Produktion" - er stellt Gebrauchswerte für andere her - und 2) von der Arbeit der anderen, die privat-isolierte ist. Aufgrund der ersten Trennung sei die Arbeit von Produzent A „für ihn" 476 abstrakte Arbeit und sein Produkt Wertgegenständlichkeit, aufgrund der zweiten die Produkte und Arbeiten der anderen Produzenten. Um die Verwandlung von abstrakter Arbeit in eine durch die Trennung von Produktion, Konsumtion und Produzenten bewirkte, subjektiv empfundene Gleichgültigkeit gegenüber eigenen und anderen Arbeiten sowie die Identifizierung der Wertkonstitution mit der Betrachtung der eigenen und fremden Objekte als Austauschbare mit Marx zu belegen, behandelt Kurz dessen Äußerungen über das analytische Vorgehen und die theoretische Abstraktionsebene der Darstellung ökonomischer Gegenständlichkeit als letztgültige Beschreibungen dieser Gegenständlichkeit 477 . Die Marxsche Reflexion auf eine darstellungsnotwendige Abstraktion wird kurzerhand in das Unbewusste der Wareneigner verpflanzt, die im gesellschaftlichen Verhältnis von Privatprodukten stattfindende Realabstraktion derart in eine gesellschaftlich aufgenötigte Nominalabstraktion verwandelt: Wert ist für Kurz entweder Ding, was er ablehnt, oder Gedanke, nämlich „bewusstlos im Kopf der Menschen Existierendes [...] bloßes Gedankending" 478 . Wert sei zugleich „Hieroglyphe" für vergangene, von Kurz als materiell gefasste, Arbeit und „dinglicher Schein" 479 , womit schließlich Wert und Fetisch konfundiert werden 480 . Wert ist demnach „gesellschaftliches Phantombild" 481 vergangener Arbeitsmühe 482 , die auf das Produkt projiziert wird. Kurz weiß zwar, dass der Wert erst im Geld erscheint, andererseits soll er beständig ,für ihn' - den Produzenten bereits an seinem Produkt vor dem Austausch erscheinen: Die Arbeiten sind jur die Produzenten abstrakt, sie abstrahieren von den Gebrauchswerten 483 . Wenn bereits der einzelne Produzent vor seinem austauschvermittelten gesellschaftlichen Kontakt durch seine ,abs-

476 477

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Zitate der Reihenfolge nach: Kurz 1987, S. 86, 85, 85. Vgl. dazu ausführlich die Kritik an Helmut Reichelts analogem Vorgehen in Kap. 1.3.2 dieser Arbeit. Kurz 1987, S. 89, 94. Vgl. ebd., S. 96-99. Diese Konfundierung findet sich u.v.a. auch bei Stephan Grigat, der sich dabei wiederum auf Backhaus/ Reichelt (1995, S. 89f.) bezieht. Grigat zufolge existiert der „Wert [...] nur in den Vorstellungen der Menschen, die auf ihren alltäglichen Erfahrungen beruhen. Gerade dadurch wird er real". Damit wird der Wert letztlich symbolisch-interaktionistisch im Sinne des Thomas-Theorems konzipiert ("If men define situations as real, they are real in their consequences" (Thomas/ Thomas 1928, S. 572)) und die sachliche Vermittlung der Produzenten im Kapitalismus ignoriert. Kurz 1987, S. 100. Vgl. Behrens/ Hafner u.a. (2000, S. 8), die feststellen, dass bei Kurz .Arbeit als quantitativ gedachte, individuell aufgewandte Mühe - wie bei Smith - gedacht ist". „Die subjektiv quantifizierte Zeit, der Smithsche Arbeitsaufwand, stelle sich in der Warenproduktion dar als ,Form des Werts' oder ,Wertgegenständlichkeit des Produkts'" (ebd., S. 4). Vgl. Kurz 1987, S. 86.

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trakte' Arbeit wie seine Abstraktions- und Projektionsleistungen Wert schaffen soll484, muss auch die Ware des Anfangs der Darstellung im Kapital als einzelner, bereits für sich Wertgegenständlichkeit besitzender Gegenstand 485 erscheinen. Doch wie erscheint etwas (Wert an der Ware) ohne zu wirklich zu erscheinen (Wert im Geld)? Wie funktioniert der Projektionsmechanismus, wo doch abstrakte Arbeit nach Kurz gar nichts ,Inneres' ist, das nach außen gespiegelt werden kann? Wie kann Wert als gesellschaftlich Allgemeines „a priori" 486 im Hirn von Produzenten existieren? Wie ist seine gesellschaftlich gültige Darstellung in einer und derselben Ware ausgehend von solchen unbewussten Denkakten der Einzelnen zu erklären? Wie kann bereits im einzelnen Produktionsakt abstrakt-menschliche und in dieser Form gesellschaftlich allgemeine Arbeit existieren, wenn Privatarbeit als solche gerade noch nicht gesellschaftlich anerkannt ist? Auf all diese Fragen gibt Kurz keine Antwort. Zwischen 1987 und 2004 hat er seine abstruse .Psychoanalyse' des Werts weder vertieft noch revidiert. Für einen zum metaphorischen Feuilleton-Marxismus mutierten Ansatz und dessen Anhänger reicht die Verwendung unverdauter Worthülsen wie ,Fetisch-Konstitution" 487 offensichtlich aus. Das ist bedauerlich, denn hinter dem inzwischen extrem verbiesterten und seine ML-Vergangenheit kaum noch verbergenden Stil der Kurzschen Texte verschwinden geradezu interessante Hinweise auf eine Kritik des Traditionsmarxismus. So stellt er gegen die von Rubin und Wolf formulierte These einer Vergesellschaftungsrelevanz abstrakter Arbeit im Sinne der gesellschaftlichen Gleichsetzung konkreter Arbeiten in vorkapitalistischen Produktionsweisen zwecks proportionaler Verteilung der Gesamtarbeit fest, dass ein Begriff gleicher oder abstrakter Arbeit sinnlos sei, wenn die konkreten Arbeiten bereits als solche Elemente der Gesamtarbeit sind488. Anknüpfend an Postone verweist er darauf, dass vormoderne Zeitbegriffe für eine bewusste Gleichsetzung ungleicher Tätigkeiten untauglich seien. Zeit sei dort nämlich gerade als aufgabenorientierte und ereignisabhängige Variable qualitativ bestimmt. Die Formen ihres Messens beruhten selbst auf qualitativ unterschiedlichen Ereignissen bzw. auf variierenden Zeiteinheiten489. Wenn jede Tätigkeit und jedes Ereignis ihre bzw. seine Zeitlichkeit habe, existiere auch keine ereignisunabhängige, quantitativ gleichförmig bestimmte Größe, auf die sie reduziert, in der sie verglichen werden könnten. Diese Kritik geht aber, mit Ausnahme der von Postone stammenden Reflexion auf den Zeitbegriff, nicht über die sparsamen Bemerkungen von Brentel und Heinrich hinaus. Auch die Kritik des weitergehenden Theorems eines sozialistischen Wertgesetzes 490 findet sich, wie gezeigt, bereits 1977 bei Kittsteiner. Der rhapsodische und beliebige Umgang mit der Darstellungsfolge im Kapital bildet aber den prägenden Hintergrund der Kurzschen Überlegungen. Nicht allein anhand der Fehlinterpretationen der formanalytischen Differenz und der Gedankending-Passage des ersten Kapitels der Erstauflage zeigt sich, dass Kurz alle Erkenntnisse der Ökonomiekritik sozusagen 484

485 486 487 488 489 490

Vgl. Kurz 2004, S. 96: Der Wert sei „die gesellschaftliche Gegenständlichkeit der Ware, auch der einzelnen Ware [...] vor dem und unabhängig vom sekundären Austauschverhältnis". Vgl. ebd., S. 95. Ebd. Vgl. Kurz 1993, S. 78. Vgl. Kurz 2004, S. 80, 82. Vgl. Postone 2003, S. 308ff. Vgl. Kurz 2004, S. 71-76.

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auf einmal haben und auf den ersten Seiten der Darstellung vorfinden will. So versteht er die Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten nicht als Weise der systematischen Erklärung komplexerer Phänomene, wie z.B. des Geldes, aus nichtempirischen einfacheren, sondern als Rückführung des Werts (=Abstraktum) auf die „wirkliche lebendige Arbeit"491. Damit endet das Aufsteigen bereits nach den ersten drei Seiten des Kapital. Der analytische Gang von der Ware zum Wert und von dort zum Doppelcharakter der Arbeit wird dabei von Kurz mit dem synthetischen Gang des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten verwechselt. Zusätzlich stellt sich die Frage, was ,wirklich' und .lebendig' anderes als lebensphilosophische Metaphern sein sollen. Dieser metaphorische Marxismus macht sich auch bei seiner Marx-,Rekonstruktion' bemerkbar. Hier werden Marasche Metaphern ohne weiteres wörtlich genommen: Spricht Marx im Zuge seines theoretischen Schlusses vom Tauschwert auf den Wert davon, dass das Absehen vom Gebrauchswert, welches auf dieser Darstellungsebene nur ,wir' als wissenschaftliche Betrachter vollziehen, die sinnlichen Eigenschaften der Gegenstände .auslöscht' und damit ihr nützlicher Charakter .verschwindet' 492 , so wird dies von Kurz schlicht zur Beschreibung der ,/eale[n] Zerstörungspotenz des Werts", seiner „lebensvernichtenden Qualität"493 umgedeutet. Weder im analytischen Absehen von den Gebrauchswertqualitäten der Waren durch den Theoretiker Marx noch in der Realabstraktion des wirklichen Tauschakts wird aber der Gebrauchswert zerstört, es wird eine Reduktion auf eine soziale Eigenschaft jenseits des Gebrauchswerts vollzogen, damit qualitativ unterschiedliche Dinge getauscht, also quantitativ gleichgesetzt werden können. Die reale Verselbständigung des Werts im Kapital, die dann in der Tat für die stoffliche Dimension der Vergesellschaftung destruktive Wirkungen hervorbringt, ist hier weder erreicht noch gemeint. Ähnlich wie Kurz und in expliziter Abgrenzung zu Heinrich deutet Ralf Krämer den strittigen Marx-Passus als Hinweis darauf, dass im Kapitalismus „die Arbeitenden aus dem Einsatz ihrer lebendigen Arbeitskraft und Zeit den Anspruch auf entsprechende Gegenleistung begründen". Doch geht es Marx im zweiten Unterabschnitt des ersten Kapitels um Ansprüche und deren Legitimierung seitens der Produzenten? Krämer unterstellt eben dies im Rahmen eines umfassenderen Versuchs, Wert und Wertsubstanz im Anschluss an die kritische Psychologie Klaus Holzkamps als soziale Objekt- [...] und Mittelbedeutung" zu fassen. Solche Bedeutungen seien durch die Funktionen von Gegenständen innerhalb gesellschaftlicher Praktiken hervorgebracht und weder subjektive Zuweisungen Einzelner noch natürliche Eigenschaften der Objekte. Was bereits hinsichtlich der Gebrauchswertdimension

491 492

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Kurz 1987, S. 66. Vgl. MEW 23, S. 52 (MEGA II/6, S. 72): „Abstrahieren wir von seinem Gebrauchswert, so abstrahieren wir auch von den körperlichen Bestandteilen und Formen, die es zum Gebrauchswert machen. Es ist nicht länger Tisch oder Haus oder Gam oder sonst ein nützlich Ding. Alle seine sinnlichen Beschaffenheiten sind ausgelöscht. Es ist auch nicht länger das Produkt der Tischlerarbeit oder der Bauarbeit oder der Spinnarbeit oder sonst einer bestimmten produktiven Arbeit. Mit dem nützlichen Charakter der Arbeitsprodukte verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die verschiedenen konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit". Zitate der Reihenfolge nach: Kurz 1987, S. 71, 56.

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von Dingen gelte, dass z.B. spezifische Objekte als nützlich im Kontext spezifischer Praktiken eingeschätzt werden (ein Stein als Faustkeil, ein Gänsekiel als Schreibfeder usf.), das gelte auch für ihre soziale Bedeutung als Mittel zur Aneignung eines Teils der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Diese Bedeutung erhielten Arbeitsprodukte auf Grundlage kapitalistischer Produktions- und Austauschverhältnisse, was zugleich die konkreten Arbeiten der Produzenten zur Wertsubstanz bestimme. Wert ist demnach ein innerhalb des Austausche formulierter Anspruch auf Anteile am gesellschaftlichen Produkt, der sich „letztlich aus der in der Produktion geleisteten notwendigen Arbeit"494, die damit als Wertsubstanz qualifiziert wird, begründet. Diese Bestimmungen stellen Krämer zufolge objektive, d.h. gesellschaftlich generierte Bedeutungen dar, die von den Warenbesitzern subjektiv angeeignet werden, in ihrem Bewusstsein präsent sind und bereits ihre Handlungen innerhalb des unmittelbaren Produktionsprozesses ,psychisch regulieren' sollen495. Die Akteure produzieren im Kapitalismus also nicht nur mittels ideeller Antizipationen der von ihnen hervorzubringenden Gebrauchswerte, der Vorwegnahme der im Kontext einer Praxis bestimmten nützlichen Gestalt von Dingen, sondern auch mittels ideeller Antizipation dieser Güter als zum Zwecke des Austausche hergestellter496. Wie diese intersubjektive Bedeutungsproduktion genau vonstatten geht, bleibt aber ebenso im Dunkeln, wie die unterstellte .Präsenz' der Wertbedeutung in den individuellen Psychen der Warenproduzenten im Widerspruch zu ihrer Unbewusstheit hinsichtlich des Charakters des sozialen Einheitsprinzips privat-arbeitsteilig geschaffener Produkte und Arbeiten steht. Dabei ist es Krämer selbst, der seinen Ausgangsthesen beständig widerspricht: Zwar existiere im Alltagsverstand eine diffuse Vorstellung von einem ,Wert' der Waren, der sich im Geld ,ausdrücke' 497 , doch sei diese sprachlich artikulierte Wertbedeutung „in hohem Maße fetischisiert" und werde den stofflichen Eigenschaften der Waren zugeschrieben. Mehrfach wird betont, es sei der Preis, der für die Subjekte „unmittelbar bedeutungsvoll"498 ist oder dass die Kapitalisten ihre Ansprüche auf Profitrealisierung, bzw. auf Anteile am gesellschaftlichen Wertprodukt, mit Verweis auf ihre sämtlichen Kosten geltend machen499, nicht aber mit Rekurs auf geleistete (konkrete) Arbeit. Dass dieser Rekurs auf Kosten als Bestimmungsgrund von Preisen und Profiten nichts daran ändert, „dass dem in letzter Instanz Verhältnisse gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit zugrunde liegen"500, ist zwar korrekt, kann aber gerade als Gegenargument zur These von in der Psyche der Warenbesitzer anwesenden Wertbedeutungen verstanden werden. Dass bei der Produktion verausgabte konkrete Arbeitszeit jeden Kapitalisten bzw. auch jeden kleinen Warenproduzenten interessiert und als ein Faktor des zu erwartenden Gewinns betrachtet wird, ändert nichts an der Tatsache, dass der Grund allgemeiner Austauschbarkeit den Akteuren nach wie vor unbekannt bleibt und sie in Preisen, vorgestellten Quanta der Geldware, kalkulieren. Krämer kann sich also in die Reihe der Interpreten einreihen, die die monetären

494

Zitate der Reihenfolge nach: Krämer 2006, S. 252 (Anm. 13), 237, 240. Vgl. ebd., S. 237, 238. 496 Vgl. ebd., S. 240. 497 Vgl. ebd., S. 237. Krämer nennt diese Vorstellung zu Unrecht ,ßegriff". 498 Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 239, 237. 499 Vgl. ebd., S. 241. 500 Ebd. 495

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Gewinnerwartungen von Warenproduzenten innerhalb des unmittelbaren Produktionsprozesses mit der Existenz von Wert als ökonomischer Qualität in eins setzen. Wir sahen bisher, dass auch innerhalb des logisch-systematischen Paradigmas einer neuen Marx-Lektüre eine Tendenz vorherrscht, die Begriffe Wert und/ oder abstrakte Arbeit losgelöst vom Darstellungsgang im Kapital zu bestimmen und sich auf bestimmte Formulierungen von Marx einen Reim zu machen, der tendenziell zu einer verdinglichenden Resubstantialisierung der formtheoretischen Kategorien auf der einen und ihrer kognitiven Verflüchtigung auf der anderen Seite führt. Der Ansatz von Dieter Wolf beansprucht dagegen, diese Dualismen zu destruieren und die originäre historisch-spezifische Gegenständlichkeit der ökonomischen Formen herauszuarbeiten. Er unterscheidet neben der konkret-nützlichen Arbeit als „ewig gültige[m] Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur"501 drei Bedeutungsebenen des Begriffs .abstrakte Arbeit'. Zunächst wird der Begriff im Sinne einer Nominalabstraktion verwendet: Mittels einer vom „Betrachter vorgenommenen Abstraktion"502 wird von der Besonderheit spezifischer Arbeiten abgesehen und diese auf ihre gemeinsame Eigenschaft, „Verausgabungen menschlicher Arbeitskraft schlechthin" zu sein, reduziert. Diese ideelle Fixierung abstrakt-menschlicher Arbeit gegenüber konkreten Tätigkeitsformen müsse allerdings scharf von der reellen Verselbständigung ersterer gegenüber letzteren geschieden werden503. Abstrakte Arbeit beinhalte im Unterschied zur konkretnützlichen „kein produktives Verhalten zu verschiedenen Naturstoffen". Schon bei ihrer Betrachtung als Nominalabstraktion wird also von Jeglichem produktiven Verhalten zu Naturstoffen abstrahiert, während im Falle der Bestimmung der konkreten Arbeit als Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur nur „von den Besonderheiten des Stofflichen, nicht aber von der Stofflichkeit selbst, d.h. nicht von dem produktiven Verhalten zu Naturstoffen abstrahiert ist". Abstrakte Arbeit ist damit Wolf zufolge gerade nicht als .konkrete Arbeit im allgemeinen' bestimmt, auch nicht in ihrer transhistorischen Dimension. Erst die Vermischung dieser beiden Dimensionen sei als substantialistisch zu kritisieren: Alle „naturalisierenden Substantialisierungsversuche" der abstrakten Arbeit seien demnach „zum Scheitern verurteilt"504, weil dort abstrakte Arbeit als besondere Art von Arbeit - eben eine konkrete Arbeit als Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, nicht als allgemeine Eigenschaft begriffen würde. Wolf betont dagegen mit Marx ausdrücklich, dass konkrete und abstrakte Arbeit „nicht zwei verschiedene Sorten von Arbeit sind"505, daher stets nur konkret-nützliche Arbeiten selbständig existieren. Bei abstrakter Arbeit im ersten Sinne handelt es sich damit „um eine weder sinnlich wahrnehmbare noch sinnlich selbständig

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503 504 505

Wolf 1985, S. 82. Ebd., S. 55. Vgl. auch Wolf 2004, S. 60: „Eine abstrakt allgemeine Eigenschaft im Sinne eines den verschiedenen Dingen Gemeinsamen kann lediglich von einem Betrachter denkend in Begriffen erfasst und sprachlich zum Ausdruck gebracht werden". Vgl. Wolf 1985a, S. 94. Zitate der Reihenfolge nach: Wolf 2004, S. 56, 58, 58, 58. Ebd., S. 56; vgl. MEGA 11/ 5, S. 26, wo Marx feststellt, „daß in der Waare zwar nicht zwei verschiedene Sorten Arbeit stecken, wohl aber dieselbe Arbeit verschieden und selbst entgegengesetzt bestimmt ist, je nachdem sie auf den Gebrauchswerth der Waare als ihr Produkt oder auf den Waaren-Werth als ihren bloß gegenständlichen Ausdruck bezogen wird".

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existierende abstrakt allgemeine Eigenschaft506. Die in den bisher betrachteten Ansätzen kritisierte Marx-Formulierung, abstrakte Arbeit als Wertsubstanz repräsentiere „Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn"507 dürfe damit nicht wörtlich, als naturalistische Definition gelesen werden: „Die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft enthält daher auch in ihrer physiologischen Bestimmtheit nichts naturhaft Stoffliches, das vom Menschen auf irgendeinen von ihm verschiedenen Gegenstand übergeht [...]. Ohne produktives Verhalten zu unterschiedlichen Naturstoffen508 ist sie auch kein naturhafter Prozess, worin nur chemisch-physikalische Vorgänge im ,Hirn' ablaufen, Energie verbrauchend, Muskeln betätigend, Schweiß abgesondert wird, sich Hände bewegen, um etwas zu berühren usw."509. Der Gedanke einer Verausgabung' abstrakt-menschlicher Arbeit wird demnach auch von Wolf abgelehnt510. Verausgabt werden könne nur konkrete Arbeit, da nur sie wirkliche Arbeit in Auseinandersetzung mit der Natur sei. Wolfs Versuch, den Physiologie-Passus aus dem Kapital formanalytisch kompatibel und substantialistischen Deutungen streitig zu machen, darf als originell bezeichnet werden. Er schlägt hier vor, abstraktmenschliche Arbeit zunächst als „unsinnliche allgemeine Eigenschaft" konkreter Arbeiten zu deuten, die nicht als solche empirisch existieren kann und in einem zweiten Schritt diese Eigenschaft als Träger einer durch den Austausch, im Sinne einer Inbezugsetzung der Arbeitsprodukte als Produkte menschlicher Arbeit schlechthin, bedingten, ebenso unsinnlichen gesellschaftlichen Bedeutung aufzufassen. Wolfs These aber, dass Marx im Physiologie-Passus „in aller erforderlichen Deutlichkeit"511 den Doppelcharakter der Arbeit kenntlich mache, muss zurückgewiesen werden. Zwar ist es in der Tat absurd anzunehmen, Marx artikuliere hier zweimal hintereinander dieselbe .physiologische Tatsache' einer konkreten Arbeit im allgemeinen und kontrastiere diese zudem im selben Satz („einerseits Verausgabung menschlicher Arbeit im physiologischen Sinn [...] andrerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besondrer zweckbestimmter Form"512), doch gerade der von Wolf als notwendig erachtete zweite Schritt, der diesen Satz einer naturalistischen Deutung entziehen würde, wird an dieser Stelle von Marx nicht getan. Es erfolgt kein Hinweis auf die erst durch den Austauschprozess bewirkte gesellschaftliche In-Bedeutung-Setzung abstrakt-menschlicher Arbeit als Wertsubstanz. Zudem wird von Verausgabung' einer abstrakt-unsinnlichen Eigenschaft gesprochen, was die empiristische Interpretation zusätzlich nährt. Wolf rettet sich durch die These, Marx habe mit allen hier erwähnten Kategorien - sowie mit solchen wie ,Gallerte' bezüglich der Wertgegenständlichkeit - eine „Umschreibung" der abstrakten Arbeit als Wertsubstanz bzw. des Werts als sozialer Gegenständlichkeit versucht, „die dem unsinnlichen gesellschaftlichen Charakter" dieser Phänomene „nicht ganz gerecht" werden könne. Damit widerspricht er nicht nur seiner eigenen Eindeutigkeitsthese, er äußert darüber hinaus noch die extrem be506

507 508 509 510 511 512

Wolf 2004, S. 57. Daher nennt Wolf wohl auch diese abstrakte Arbeit als allgemeine Eigenschaft aller konkreten Arbeiten nicht, wie Rubin, ,physiologisch gleiche' Arbeit. MEW 23, S. 61 (MEGA II/6, S. 79). Vgl. dazu MEGA II/5, S. 31 : „nur der bestimmten Arbeit steht ein Naturstoff gegenüber". Wolf 2004, S. 76f. Vgl. ebd., S. 63 (Fn. 44). Zitate der Reihenfolge nach: Wolf 2006a, S. 110, 73. MEW 23, S. 61 (MEGA II/6, S. 79f.).

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griffsskeptische These, „das, was sich in dem gesellschaftlichen Verhältnis der aus Arbeitsprodukten bestehenden Sachen hinsichtlich der originären Entstehung des Werts abspielt" sei „nicht wirklich sprachlich vermittelbar [...], es sei denn mit einem Ausweichen ins Literarische, in die dichterische Phantasie, die sich in Metaphern ausdrückt"513. Damit begibt sich Wolf, zumindest auf dem ersten Blick, in die Nähe von Positionen wie der Heinz-Dieter Kittsteiners. Dieser konstatiert eine nicht vollständig zu bewerkstelligende Übersetzbarkeit geschichtsphilosophischer Metaphern in ökonomiekritische Begriffe, solange „das Grundproblem, das diese Metaphern bezeichnen, die ,Naturwüchsigkeit' des historischen Prozesses"514 fortbestehe. Sowohl für Wolf als auch für Kittsteiner wäre der Wert demnach nur mittels „absolutefr] Metaphern" beschreibbar, die sich auf einen „nicht unmittelbar erzeugbaren, fremden Prozeß"515 beziehen, während vollständige Klarheit mittels begrifflicher Analyse für von Menschen intentional hervorgebrachte Gegenstände reserviert bleiben müsste. In einem weiteren Schritt konstatiert Wolf nun gegenüber der bloß gedanklichen Abstraktion eine sozialformationsunspezifische, reale gesellschaftliche Funktion abstrakter Arbeit: Demnach ist es der Vorgang der proportionalen Verteilung der Gesamtarbeit auf die einzelnen Produktionszweige per se, in dem die jeweils bestimmten Arbeiten als abstraktmenschliche aufeinander bezogen werden: „Die Arbeiten werden qualitativ als Glieder der Gesamtarbeit gleichgesetzt, weil die wechselseitige Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse nicht auskommen kann, ohne die einzelnen Arbeiten als quantitativ bestimmte Teile der Gesamtarbeit zu setzen. Bei dieser an der Zeit gemessenen Dauer ihrer Verausgabung zählen die einzelnen, voneinander verschiedenen nützlichen Arbeiten nur als Daseinsweisen der ihnen gemeinsamen, abstrakt-menschlichen Arbeit"516. Über die spezifischgesellschaftliche Form der Arbeit sei damit allerdings noch nichts ausgesagt: In nichtkapitalistischen Produktionsweisen bestehe, aufgrund der Vorgegebenheit des sozialen Zusammenhangs vor den Tätigkeiten der Akteure, eine Identität von Naturalform und gesellschaftlicher Form der Arbeiten. Quantität und Qualität gesellschaftlicher Gesamtarbeit würden bewusst (Kommunismus) oder „im Wesentlichen unbewusst"517 nach normativen Kriterien eingeteilt - die einzelnen Arbeiten seien a priori als gesellschaftliche bestimmt. Im Gegensatz zu Rubin lässt sich aus Wolfs Perspektive also feststellen, dass der sowjetische Autor die Geltung gesellschaftlicher Gleichsetzung der Arbeiten auf Formationen beschränkt, in denen eine soziale Schließung des Zugangs zu Tätigkeitsbereichen nicht existiert518. Dies ist aber gegenüber der proportionalen Verteilung der Gesamtarbeit ein neues, engeres Kriterium, das von gesellschaftlich gleichgesetzter Arbeit nur in Bezug auf den Kapitalismus zu reden übrig lässt. Erst, wenn der soziale Zusammenhang der Produzenten über das gesellschaftliche Verhältnis der Arbeitsprodukte, den Tausch, indirekt vermittelt ist, wird nun abstrakte Arbeit Wolf zufolge zur spezifisch gesellschaftlichen Form der konkreten Arbeiten und verselb5,3 514 515 516 517 518

Zitate der Reihenfolge nach: Wolf 2006a, S. 73, 160, 160. Vgl. Kittsteiner 1980, S. 24. Ebd., S. 23. Kittsteiner bezieht sich damit auf einen Ansatz von Hans Blumenberg. Wolf 1985a, S. 58; vgl. auch ebd., S. 69. Ebd., S. 64. Vgl. Rubin 1975, S. 14.

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ständigt sich diesen gegenüber real im Wert. Auf die jeweils unterschiedliche Rolle abstrakter Arbeit in vorkapitalistischen und kapitalistischen Gesellschaften weise Marx ausdrücklich mit dem Satz hin, dass „in jeder gesellschaftlichen Arbeitsform [...] die Arbeiten der verschiedenen Individuen auch als menschliche aufeinander bezogen [sind], aber hier gilt diese Beziehung selbst als die spezifisch gesellschaftliche Form der Arbeiten"519. Wolf spricht denn auch von abstrakt-allgemeiner Arbeit oder ,abstrakt-menschlicher und in dieser Form gesellschaftlich allgemeiner Arbeit'. Das Dritte, die Gleichheit der Arbeiten, werde somit nicht im Austausch generiert, wie der Ansatz Heinrichs unterstelle, sondern sei umgekehrt bereits mit ihrer transhistorischen Eigenschaft gegeben520 und erfülle hier nur eine neue Funktion, die der gesellschaftlichen In-Bezug-Setzung der konkreten Pnvaiarbeiten 521 . Der werttheoretische Substantialismus, der mit der Wertsubstanz eine Naturbasis bzw. einen Naturprozess thematisiert sehe522, betreibe dagegen eine irrationale Vermischung der spezifisch gesellschaftlichen Funktion der abstrakten Arbeit, die sie „allein im Austausch der Arbeitsprodukte besitzt" mit ihrer transhistorischen Bestimmung als allgemeine Eigenschaft aller konkreten Arbeiten. Doch seien die Waren eben „Werte, nicht weil sie nur Arbeitsprodukte schlechthin sind, sondern weil sie als Arbeitsprodukte schlechthin auf eine historisch spezifische Weise aufeinander bezogen werden". Abstrakte Arbeit als gesellschaftliche Form der konkreten Tätigkeiten, als Wertsubstanz also, wird nach Wolf „einzig und allein in [sie!] und durch den Austauschprozess ,gesetzt'". Vorher könne es abstrakte Arbeit nur als „allgemeine Eigenschaft geben, die dann aber gerade nicht die historisch spezifische gesellschaftliche Form der einzelnen konkret nützlichen Arbeiten ist"523. Sowohl dem Ansatz Heinrichs als auch dem Haugs wird letztlich eine Verwandlung von abstrakter Arbeit in eine besondere Sorte Arbeit vorgeworfen. Während Haug unzulässig die Funktion der gesellschaftlichen Form der Privatarbeiten mit der allgemeinen Eigenschaft abstrakter Arbeit konfundiere und sie damit als Naturbasis verkenne, reduziere Heinrich diese allgemeine Eigenschaft auf eine ausschließlich vom privat-arbeitsteiligen Zusammenhang hervorgebrachte Gleichheit524 und vermöge es dabei auf andere Weise als Haug nicht, die Träger der gesellschaftlichen Bedeutung von dieser selbst zu unterscheiden525. Ob Heinrich eine solche ,aristotelische' Position526 zugeschrieben werden kann, bleibt m.E. allerdings offen, auch

519 520 521

522 523

524

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MEGA 11/ 5, S. 41 (zitiert bei Wolf 2004, S. 62). Wolf 2004, S. 61. Wolf weist auch auf die folgende Passage im ,Kapital' (MEW 23, S. 72) (MEGA II/6, S. 90) hin: „Beide [konkreten Arbeiten] besitzen daher die allgemeine Eigenschaft menschlicher Arbeit und mögen daher in bestimmten Fällen, z.B. bei der Wertproduktion, nur unter diesem Gesichtspunkt in Betracht kommen". Vgl. Haug 1989, S. 113, 121. Zitate der Reihenfolge nach: Wolf 2004, S. 64, 64, 65 (dies unterscheidet Wolfs Position auch radikal von Robert Kurz' Arbeitsabstraktionstheorie des Werts). „Genauso mystisch irrational wäre es, wenn der Tausch die abstrakt allgemeine Eigenschaft, welche die konkret nützlichen Arbeiten auch außerhalb des Tauschs besitzen, gleichsam aus dem Nichts heraus schaffen würde" (ebd.). Wolf 2005a, S. 5. Vgl. dazu ausfuhrlicher die Darstellung von Wolfs Konzept objektiver Semantik in Teil 1.3.2 dieser Arbeit. Vgl. Castoriadis 1981, S. 233 sowie Reitter 2002, S. 9f.

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wenn einige seiner Formulierungen dies nahezulegen scheinen527. Wolf zufolge impliziert der Begriff Realabstraktion also nicht, dass die Abstraktion menschlicher Arbeit schlechthin nicht wirklich oder nur im Kopf des Theoretikers existiert, bis im Tausch die Reduktion auf abstrakt-menschliche Arbeit vollzogen wird. Er impliziert demnach lediglich, dass zur Herstellung des gesellschaftlichen Zusammenhangs privat-isolierter Arbeiten im Tausch diese Abstraktion - die auch unabhängig vom Tausch als reale Eigenschaft aller konkreten Arbeiten existiert (nicht nur ,flatus vocis' ist) - in spezifischer Weise Bedeutung erlangt (oder Träger einer spezifischen Bedeutung wird), die sie nicht bereits unabhängig vom Tausch hatte und die ihr nicht bewusst-konventionell von den Tauschenden zugeschrieben, sondern vom sozialen Zusammenhang des gesellschaftlichen Verhältnisses der Sachen, sachlichen Verhältnisses der Personen528 konstituiert wird. Äea/abstraktion bedeutet damit nicht, dass die Abstraktion erst im Tausch real wird, sondern dass sie im und durch den Tausch ohne das bewusste Zutun der Tauschenden eine bestimmte Bedeutung erhält - gesellschaftliche Form der Privatarbeiten zu sein. Insofern bietet sich der von Wolf für diesen Sachverhalt verwendete Begriff einer .objektiven Semantik' 529 als Substitut für den Begriff der Realabstraktion an. In Auseinandersetzung mit Helmut Reichelt, der hier fur eine ganze Reihe bereits erwähnter Theoretiker stehen kann, schlägt Wolf schließlich eine Präzisierung der Marxschen Abgrenzung von der klassischen politischen Ökonomie vor. Reichelt, dessen Versuch einer kognitivistischen Geltungstheorie des Werts ausgehend von der Tauschabstraktion im folgenden Kapitel behandelt wird, meint, „die Tauschabstraktion allein" helfe „nicht weiter", um die Problematik eines objektiven, aufaddierbaren Werts zu lösen. Daher sei neben der gedanklichen Tauschabstraktion der Subjekte zugleich auf die Hervorbringung des Werts im unmittelbaren Produktionsprozess zu rekurrieren, wobei Marx den Wert ,der' Ware des Anfangs ohne Rücksicht auf den Austausch konzipiere, da dieser hier ,ja noch gar nicht stattgefunden" habe. In der folgenden Marxschen Stellungnahme zur Politökonomie entdeckt Reichelt daher eine „identische Bedeutung" des ArbeitsbegrifFs der Klassik und der Ökonomiekritik, die beide mit einer „vorab gegebenfen]"530 wertschaffenden Arbeit rechnen würden, die der abstrakten Qualität des Werts analog sei. Die Passage aus dem Kapital lautet: „Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen Wert und Wertgröße analysiert und

527

528 529 530

Vgl. Heinrich 2008, S. 72: „Abstrakt-menschliche Arbeit ist aber nicht einfach vorhanden, wenn z.B. ein Tischler einen Tisch oder eine Schneiderin einen Rock fertigt. Diese abstrakt menschliche Arbeit erhalten wir erst als Resultat eines Abstraktionsvorganges, wenn im Austauschverhältnis von den Gebrauchswerten der getauschten Produkte und damit auch vom nützlichen Charakter der jeweiligen Arbeiten abstrahiert wird". Vgl. auch ebd., S. 177. Vgl. MEW 23, S. 87 (MEGA 11/6, S. 104). Vgl. Wolf 2005a. Vgl. dazu auch Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit Zitate der Reihenfolge nach: Reichelt 2005, S. 1, 2, 4, 4. Vgl. auch Reichelt 2008, S. 97: „Marx spricht von der Arbeit als Inhalt der Form, und stellt zugleich die Frage, warum dieser Inhalt jene Form annimmt? Die Voraussetzung präformiert seine Aussagen: da die Waren als unmittelbare Einheit vor dem Austausch existieren, müssen sie auch diesen allgemeinen Inhalt' vor dem Austausch und vor der Geldbildung aufweisen. Marx untersucht also einen Inhalt, der abgelöst von der Form untersucht werden kann".

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den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt?" 531 . Hier, so Wolf kritisch gegen Reichelt, sei zu konstatieren, dass die von Marx angesprochene Arbeit als Inhalt, der die Form des Werts annimmt, ebenfalls eine historisch-soziale Form darstelle: Es sei die „abstrakt-menschliche Arbeit [...], die als [...] gesellschaftlich allgemeine Form der einzelnen konkret nützlichen Arbeiten, der Inhalt ist, welcher die Formen des Werts annimmt". Sie sei daher keineswegs identisch zu setzen mit der Kategorie ,Arbeit' der Politökonomie, was aber „Marx' Formulierung [...] falschlicher Weise [...] nahe legt". Ricardo u.a. haben demnach zwar den Inhalt der gegeneinander verselbständigten Reichtumsformen auf die einheitliche 'Substanz' Arbeit zurückgeführt, diese stelle aber noch einen „Mischmasch" 532 aus konkret-nützlicher und abstrakt-allgemeiner Arbeit dar. Man könnte Marx' Kritik im Anschluss an Wolf auch doppelt formulieren, je nachdem, wie der Begriff Inhalt verstanden wird. Der erste, grundlegendere, Satz würde lauten: ,Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum also die konkrete Arbeit die Form der abstrakten, wertbildenden annimmt', während der zweite lauten müsste: ,Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die abstrakte Arbeit im Wert darstellt'. Der erste Satz geht auf die Formgebung eines transhistorischen Inhalts, der nur konkret-nützliche Arbeit sein kann, der zweite auf die sachliche Darstellung der abstrakt-menschlichen und in dieser Form gesellschaftlich-allgemeinen Arbeit im Wert als ihrem .Produkt'. Reichelts Gleichsetzung von Ricardo und Marx kann Wolf zufolge also hier keine Plausibilität beanspruchen und unterstellt Marx eine substantialistische Position, die er so im Kapital533 nicht vertreten hat. Reichelt arbeite dabei nicht nur mit der missverständlichen Marxschen Formulierung von Inhalt und Form, er isoliere die ,einzelne' Ware des Anfangs der Darstellung im Kapital in unzulässiger Weise, indem er behaupte, Marx zufolge müsse diese vom Bezug auf die anderen Waren isoliert, als einzelner Gegenstand, Wert besitzen, der dann nur noch aus dem direkten Arbeitsprozess hergeleitet werden könne 534 . Eine einzelne Ware ist aber nach Wolf eine contradictio in adjecto. Reichelt reifiziere damit eine methodisch intendierte Abstraktion des Theoretikers Marx. Dieser halte die Eigenschaften Gebrauchswert und Wert als solche der 531 532 533

534

MEW 23, S. 94f. (MEGA II/5, S. 48f.). Alle Zitate: Wolf 2006a, S. 71. In den Grundrissen sei dies noch anders. Hier, so Wolf, betrachte Marx die Frage der abstrakten, wertbildenden Arbeit noch nicht aus der Perspektive ihrer Entstehungsquelle, der Zirkulation, und vermische noch konkrete Arbeit im allgemeinen mit abstrakt-wertbildender Arbeit im Terminus , Arbeit sans phrase' (vgl. Wolf 2008a, S. 10f.). Später hingegen verwende Marx den Begriff der Arbeit sans phrase nur noch kritisch, um auf die fehlende Unterscheidung der politischen Ökonomie zwischen abstrakter Arbeit, spezifischen Formen konkreter Arbeit und konkreter Arbeit im allgemeinen (ewig gültigem Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur) hinzuweisen. Er zitiert (S. 11) aus einem Brief an Engels aus dem Jahr 1868: „Sonderbar ist's [...] daß den Ökonomen ohne Ausnahme das Einfache entging, daß, wenn die Ware das Doppelte von Gebrauchswert und Tauschwert, auch die in der Ware dargestellte Arbeit Doppelcharakter besitzen muß, während die bloße Analyse auf Arbeit sans phrase wie bei Smith, Ricardo etc. überall auf Unerklärliches stoßen muss" (MEW 32, S. 11). Vgl. Wolf 2006a, S. 30.

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einzelnen Ware „unter Abstraktion von der Beziehung zu der anderen Ware [fest], aber unter Einbeziehung dessen, bzw. mit dem Wissen über das, was sie über den Gebrauchswert hinaus durch die gesellschaftliche Beziehung zur anderen Ware als Wert isfi5ii. Die Reicheltsche Theorieanlage, die auch bei einer Vielzahl weiterer Kapital-Interpreten anzutreffen ist, enthält Wolf zufolge nun eine elementare Vermischung von Quantitäts- und Qualitätsdimension des Werts. Auch hier artikuliert er eine originelle Konzeption, die sich zugleich von substantialistischen Positionen und Heinrichs Variante einer nichtnaturalistischen Werttheorie abzugrenzen bemüht. Wolf zufolge hat Reichelt536 insofern recht mit seiner Aussage, die Dimensionen des Werts seien nicht vollständig durch die Tauschabstraktion zu erfassen, als dass die quantitative Seite des Werts nicht innerhalb der Warenzirkulation allein bestimmt werden könne. Reichelt unterscheide aber nicht klar zwischen Quantität, die aus dem Produktions- und Qualität, die aus dem Zirkulationsprozess heraus zu erklären sei und schwanke daher beständig zwischen einer Herleitung von Quantität und Qualität des Werts rein aus den, zudem auf Gedankenbewegungen der Subjekte reduzierten, Austauschakten und rein aus dem ,vorgängigen' Produktionsprozess der Waren. Die gesellschaftliche Eigenschaft (Qualität) Wert und ihre Substanz, abstrakte Arbeit als gesellschaftliche Form der Privatarbeiten, sind zunächst in den Augen Wolfs nicht quantifizierbar, weil sie unsinnliche Eigenschaften und soziale Beziehungen darstellen537. Hier wird der - auch von Heinrich vorgebrachte - Gedanke zu Ende geführt, abstrakte Arbeit könne weder in ihrer Bedeutung als allgemeine Eigenschaft aller konkreten Arbeiten noch in der einer gesellschaftlichen Form der Privatarbeiten verausgabt werden, d.h. aber, auch nicht in der Zeit existieren. Da die Qualität des Werts zudem aus dem spezifisch gesellschaftlichen, im Austausch verorteten538, Verhältnis von Arbeitsprodukten als bloßen Produkten menschlicher Arbeit überhaupt bestehe, das als gesellschaftliche Form der Gebrauchswerte fungiere, könne sie auch in keiner Weise aus dem Produktionsprozess als solchem abgeleitet werden539. Jeder Versuch in diese Richtung münde in einen werttheoretischen Substantialismus und bedeute eine „Unterschätzung der Warenzirkulation". In ähnlicher Radikalität wie Heinrich weist also Wolf die gängigen Zirkulationismus-Vorwürfe zurück und moniert dazu einen ,Produktivismus' marxistischer Deutungen der Wertsubstanz und -gegenständlichkeit. „Von Wertgröße zu reden", so die vorläufige Schlussfolgerung, „scheint also eine contradicho in adjecto zu sein". Nur „auf dem Umweg über die konkret nützliche Arbeit", die allein eine zeitliche und damit quantifizierbare Dimension aufweise, sei es möglich, die Wertgröße begrifflich einzuholen. Die Quantität des Werts werde nun bestimmt durch gesellschaftlich allgemeine[...] Arbeitszeit" als Durchschnittsgröße einfacher Arbeit, die durch die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge von Produktivkraftentwicklung (welche die jeweiligen durchschnittlichen Produktionsbedingungen definiert) und zahlungsfähiger Nachfrage bestimmt werde. Diese gesamtgesellschaftlichen, die Wertgröße determinierenden Zusammenhänge wiederum seien „durch Formen des Werts und damit durch gegenständliche Ausdrü-

535 536 537 538 539

Ebd., S. 34. Dies würde dann auch für die oben zitierte Position von Robert Kurz gelten. Vgl. Wolf 2006a, S. 127. Vgl. M E W 23, S. 87 (MEGA H/6, S. 103f.). Vgl. Wolf 2006a, S. 7.

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cke der abstrakt menschlichen Arbeit bestimmt"540, die Marx im ersten Kapitel des Kapital durch einen Vorgriff einführe541. Dabei müsse die Differenz zwischen individuell verausgabter und gesellschaftlich allgemeiner Arbeitszeit berücksichtigt werden. Da auch diese ein gesellschaftliches Geltungsverhältnis darstelle, das allein in der Geldform gemessen werden könne (nicht vor dem Austausch, vor dem noch nicht klar ist, welche konkrete Arbeitszeit unter durchschnittlichen Produktionsbedingungen verausgabt wurde, wie viel davon also als durchschnittliche Arbeitszeit gilt) und sich auch erst im Geld realisiere, sei die soziale Zwangsnorm der durchschnittlichen Arbeitsdauer nicht mit der Uhr meß- oder auf eine energetisch-physikalische Aufwandseinheit reduzierbar542. Auch Wolf spricht in diesem Falle, wie Heinrich, von einer „abstrakten Arbeitszeit"543. Qualität und Quantität werden so offensichtlich durch folgende Sachverhalte in Verbindung gebracht: 1. Die Wertqualität konstituiert eine gesamtgesellschaftliche Dynamik, die die im ersten Kapitel nur vorgreifend eingeführten Produktionsbedingungen beeinflusst, welche die Wertgröße bestimmen (einfache Durchschnittarbeit als epochen- und gesellschaftsspezifische Größe544). 2. Die Quantität besitzt einen der Qualität „entsprechenden" sozialen Charakter: Beide sind gesamtgesellschaftliche Geltungsverhältnisse („Wie konkret nützliche Arbeit in der von ihr verschiedenen Form abstrakt menschlicher Arbeit als gesellschaftlich allgemeine gilt, so gilt die in konkret nützlicher Arbeit verbrauchte Arbeitszeit in einer von ihr verschiedenen abstrakten Arbeitszeit als gesellschaftlich allgemein verbrauchte Arbeitszeit"); beide werden im Geld repräsentiert („Im Geld gilt die unmittelbar individuell in Form konkret nützlicher Arbeit verbrauchte Arbeitszeit als davon verschiedene allgemeine gesellschaftliche Arbeitszeit") und beide sind gegenüber einer bestimmten, individuellen, konkret-nützlichen Arbeit gleichgültig („der Wert verhält sich gleichgültig zum Gebrauchswert, in dem Sinne, dass es irgendein Produkt sein muss, das als Vergegenständlichung der abstrakt menschlichen Arbeit zählt, und es nicht darauf ankommt, um was für ein konkret nützliches Produkt es sich handelt. Entsprechend kommt es bei der wirklich in Form der konkret nützlichen Arbeiten verbrauchten Arbeitszeit darauf an, dass und wie viel Arbeitszeit verbraucht wird und nicht darauf, in welcher besonderen konkret nützlichen Form sie verbraucht wird. Dass es nur auf die Zeit ankommt, ist ein Charakteristikum der gesellschaftlichen Qualität, die mit der formellen Gleichgültigkeit des Werts gegenüber dem Gebrauchswert und der abstrakt menschlichen Arbeit gegenüber der konkret nützlichen Arbeit beginnt, und sich verwirklicht in der Gleichgültigkeit des Kapitals gegenüber dem Arbeitsprozess"545). Wenn bisher die Vorstellung geherrscht haben sollte, Wert oder dessen Substanz sei die qualitative Grundlage auf der sich die Waren quantitativ vergleichen könnten (so Brentel), so wird diese nun problematisch. Was Wolf plausibel zeigt, ist, dass die These der Identität von Qualitäts- und Quantitätsdimension des Werts in Konfimdierungen von konkreter und abstrakter Arbeit führt, indem einfache Durchschnittsarbeit mit abstrakter Arbeit gleichge540 541 542 543 544 545

Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 8, 127, 127, 121, 123. Vgl. ebd., S. 13Of. Vgl. ebd., S. 126f. Ebd., S. 125. Vgl. MEW 23, S. 59 (MEGA II/6, S. 77f.). Zitate der Reihenfolge nach: Wolf 2006a, S. 122, 125, 123, 126.

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setzt, jene nicht als gesellschaftliches Resultat einer bereits wertbestimmten Dynamik begriffen wird und letztlich Wertproduktion in die Nähe physiologischer Verausgabungen rückt, die auch ohne den sozialen Kontakt privat-arbeitsteilig organisierter Produktionseinheiten durch eine besondere Sorte von Arbeit bewerkstelligt werde. Die Thematisierung der Wertgröße bei Heinrich und Wolf scheint allerdings in einen Dualismus zu fuhren. Wolf spricht davon, die Quantität des Werts enthalte einen seiner Qualität „entsprechenden" Charakter, jene müsse aber auf dem Umweg über die, wenn auch formbestimmte, konkrete Arbeit erklärt werden. Die Frage, die sich dann aber stellt, ist, warum dann noch von der Quantität des Werts die Rede ist? Wolf scheint sie damit zu begründen, dass hier stets ein Geltungsverhältnis vorliegt und eine über das Geld vermittelte, indirekte Gesellschaftlichkeit sowohl die Qualität als auch die Quantität auszeichnet. Doch ist nicht zumindest Ersteres eine bloße Analogie? Es spielt sich nichts Quantitatives innerhalb der abstrakten Arbeit ab. Wir bleiben vollständig auf der Ebene der konkreten, wenn auch nicht unbedingt individuellen Arbeit. Zudem muss konstatiert werden, dass durchschnittliche Arbeitszeit, aufgrund .durchschnittlicher Produktionsbedingungen' einer Branche oder Gesellschaft, zwar durch den wertbestimmten gesamtgesellschaftlichen Prozess der Produktivkraftentwicklung bedingt ist, sie auch keineswegs identisch mit jeder individuellen Arbeitszeit ist, sie aber doch, wenn sie nicht falschlich als gewichteter Durchschnitt definiert wird546, identisch ist mit der empirischen (!) Arbeitszeit der „Mehrheit der Produzenten" - so zumindest Rojas547 - , bzw. mit der Arbeit, der die .mittlere Produktivitätsklasse' repräsentierenden Produzenten, wie Rosdolsky meint548. Müsste dann auch diese Arbeitszeit, auch wenn sie sich erst im Nachhinein als durchschnittliche herausstellt, mit der Uhr gemessen werden können? Ein weiteres, zentrales Problem thematisiert Gerhard Stapelfeldt: Die Tendenz, die Frage der Wertgröße im Rahmen konkret-sinnlicher Arbeit abzuhandeln, führe in werttheoretische Aponen. Hier liege nämlich eine Verschiebung des Kommensurabilitätsproblems vom Wert hin zum Gebrauchswert vor, insbesondere wenn das Wertquantum des Produkts komplizierter Arbeit durch das multiplizierter einfacher Arbeit bestimmt werde, da nun auch auf der Ebene der konkreten Arbeiten ein Gemeinsames gefunden werden müsse. Doch „die Gleichsetzung qualitativ unterschiedener Arbeiten kann [...] nicht - wie Ricardo es konzipierte - auf der Grundlage einer dieser Arbeiten vorgenommen werden [...] es ist nicht möglich, die Arbeit eines Bauernknechts einerseits zum Maßstab zu erklären, der die verschiedenen Arbeiten kommensurabel macht [...], andererseits aber diese Arbeit als ungleiche festzuhalten"549. Es bleiben also wichtige Probleme ungelöst, gerade weil Autoren wie Heinrich und Wolf in aller Deutlichkeit die substantialistischen „Kategorienfehler"550 der Identifizierung von konkreter und abstrakter Arbeit benennen.

546

Wie bei Brinkmann (1975, S. 41), der sie als ,,statistische[n] Durchschnitt aller für die Herstellung des Produkts aufgewendeten Arbeitszeit" definiert. Dann würde aber mit jedem Fallen eines .individuellen Werts' auch der wirkliche fallen oder anders ausgedrückt: mit jeder Verlangsamung individueller Arbeit die Durchschnittsarbeitszeit ansteigen; vgl. Rojas 1989, S. 247f.

547

Rojas 1989, S. 247. Vgl. Rosdolsky 1968, S. 119. Stapelfeldt 1979, S. 126. Rakowitz 2000, S. 103.

548 549 550

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Wolf formuliert im Zusammenhang mit dem Problem der Klärung des Wesens der Wertsubstanz schließlich auch eine grundlagentheoretische Kritik an Heinrichs Verabschiedung der Notwendigkeit einer Geldware. Die an Heinrich zu stellende Frage lautet dabei, ob seine These vom ,tieferliegenden' Zeichencharakter des Geldes, vom Gebrauchswert eines wertgleichen Arbeitsprodukts abgelöst, nicht-konventionalistisch begründbar ist, was Marx ja explizit verneint551. Dies zweifelt Wolf an: Genau der Übergang von der These, jedes Geld sei Zeichen, weil es ein als Wert schlechthin geltender Gebrauchswert sei, zu deijenigen, die mit dem Vergleich zum ,Zeichen für Tier' arbeitet552, macht einen Bruch sichtbar, an dem seine Kritik implizit ansetzt. Ersteres nämlich müsse als Konstitution des Zeichencharakters - einer objektiven Semantik, wie Wolf sich ausdrückt - innerhalb eines gesellschaftlichen Verhältnisses von Sachen ohne Zutun des Bewusstseins der Akteure begriffen werden 553 . Letzteres aber unterstelle immer schon eine konventionelle Verabredung über die Verwendung eines Symbols für eine Gattung, da dasselbe nicht selbst aus der bezeichneten Gattung stamme. Nach Wolf spielt beim „Ersetzen der Äquivalentware durch Zeichen ihrer selbst [...] immer die konventionalistische mit bewusstem Eingreifen der Wirtschaftssubjekte verbundene Verabredung herein". Heinrich konfundiere also die korrekte These 1) mit der konventionalistischen These 2), denn er könne sich ja „vorstellen, bereits die zweite Ware auf der Abstraktionsstufe der Betrachtung der einfachen Wertform im ersten Kapitel könne durch [...] Zeichen ihrer selbst ersetzt werden" 554 . Dies sei aber nicht möglich, da es sich im ersten Kapitel um die Darstellung eines naturwüchsigen, unbewussten Tatbestandes handele, der sich - wie auch Heinrich an anderer Stelle anmerkt - unabhängig von den kognitiven Gehalten der Warenbesitzer abspielt. Heinrich praktiziere letztlich eine unvermittelte Zuordnung von Zeichengeld zum Warenwert. Indem er behaupte, bereits auf der Darstellungsebene der Wertformanalyse sei die Äquivalentware durch ein nichtwarenförmiges, „ Wert als solche[n]"S5S symbolisierendes ,Etwas' ersetzbar, konfundiere er die Abstraktionsebene, auf der Menschen sich bewusst zu bereits konstituierten Reichtumsformen verhalten (die einfache Zirkulation im dritten Kapitel des Kapital) mit derjenigen, auf der sich etwas unbewusst im gesellschaftlichen Verhältnis der Arbeitsprodukte abspiele (der Wertformanalyse). Der Terminus ,Wert als solcher' bereite diese, den eigenen Überlegungen Heinrichs zum Sinn der einzelnen Darstellungsstufen widersprechende, Konfundierung vor, indem hier der Wert 551

Vgl. MEW 23, S. 105f. (MEGA Π/5, S. 57f.). Das Wertzeichen müsse, so Heinrich, genauso wenig selbst Wert besitzen, um diesen bezeichnen zu können, wie das „Zeichen für ,Tier' selbst ein leibhaftiges Tier sein muß" (Heinrich 1999, S. 235). 553 „ergibt sich in der im Verhältnis zweier Waren zueinander analysierten einfachen Wertform die Besonderheit, dass der Gebrauchswert der Äquivalentware im Sinne eines Zeichens etwas bedeutet, dass er nicht selbst ist, aus der Besonderheit des gesellschaftlichen Verhältnisses von aus Arbeitsprodukten bestehenden Sachen. Der Wert einer Ware stellt sich in dem von ihm und dem Gebrauchswert der Ware verschiedenen Gebrauchswert der zweiten Ware dar. Kraft der gesellschaftlichen Beziehung der ersten Ware auf die zweite, gilt deren Gebrauchswert ohne weiteres Zutun der Menschen innerhalb dieser Beziehung bzw. innerhalb des gesellschaftlichen Verhältnisses der Sachen als Wert, d.h. gilt als etwas Gesellschaftliches, das er als Gebrauchswert selbst nicht ist" (Wolf 2006b, S. 52). „Das bewusste Zutun der Menschen - auf der Darstellungsebene der Warenzirkulation notwendig - kommt immer zu spät" ebd., S. 51). 552

554 555

Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 51,40. Heinrich 1999, S. 235.

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von dem ihn konstituierenden gesellschaftlichen Verhältnis der Arbeitsprodukte abgetrennt werde. Der nächste Schritt sei dann im Rahmen der Wertform-Betrachtung, den nicht mehr auf das gesellschaftliche Verhältnis der Sachen angewiesenen ,Wert als solchen' sich auch nicht mehr innerhalb dieses Verhältnisses darstellen zu lassen, sondern direkt in einem nichtwarenförmigen Zeichen 556 . Letztlich spiele Heinrich mit seinem Tier-Zeichen-Beispiel mit verselbständigten Evidenzen von Illustrationen und lasse den von ihm an anderer Stelle zu Recht betonten Aspekt der unbewussten Konstituierung von Reichtumsformen außer acht. Wolf zieht also die Konsequenz, dass obwohl „Geld gerade auch im Hinblick auf seine praktische Entstehung im Handeln der Warenbesitzer entsteht, [...] die absolut notwendige und einzig wissenschaftlich zu rechtfertigende Voraussetzung darin" zu sehen sei, „dass es aus der Beziehung einfacher als Einheiten von Gebrauchswert und Wert bestimmter Waren hervorgehen muss, in der das mit ihm qualitativ gleiche allgemeine Äquivalent noch nicht zirkulär unterstellt ist"557. Daher könne aus logisch-systematischen Gründen nur eine Ware unter anderen als Geld ausgeschlossen werden. Jeder andere Ansatz bewirke eine unzulässige Historisierung der Geldware. Die Marxschen Begriffe Wert und Wertsubstanz werden vor allem in den 70er Jahren auch von einer Reihe sprachanalytischer Philosophen untersucht und vorgeblich deren substantialistische Lesarten kritisiert. Joachim Nanninga, dessen Text fur die analytischen Positionen zu Marx' Werttheorie in den 70er Jahren als paradigmatisch gelten darf, beansprucht in seiner Arbeit aus dem Jahre 1975 zunächst, den Marxschen Schluss vom Tauschwert auf den Wert auf den ersten Seiten des Kapital einer Kritik zu unterziehen. Diese sei einerseits radikaler als die bekannte Kritik Eugen Böhm-Bawerks, andererseits, im Gegensatz zu dieser, ein Versuch der Befreiung des Marxschen Ansatzes „von einem unnötigen Ballast" 558 . Böhm-Bawerk kritisiert an Marx' Schluss auf den Wert, bzw. die abstrakte Arbeit als gemeinsames Drittes, vor allem die erschlichene Einführung der auszutauschenden Güter als Arbeitsprodukte 559 und eine angebliche Konfundierung von Abstraktionsverfahren. Marx verwechsle die „Abstraktion von einem Umstände überhaupt mit Abstraktion von den speziellen Modalitäten, unter denen dieser Umstand auftritt" 560 . Hinsichtlich des Gebrauchswerts abstrahiere Marx von den besonderen Gestalten desselben und halte dies fälschlicherweise für ein Absehen vom Gebrauchswert schlechthin. Bezüglich der Eigenschaft, Arbeitsprodukte zu sein, abstrahiere Marx aber plötzlich nur von den besonderen Formen der Arbeit, nicht aber von Arbeit schlechthin. Böhm-Bawerk meint nun, ein Gebrauchswert schlechthin könne sehr wohl das gesuchte Dritte sein561. Nanninga grenzt sich nun in formaler wie inhaltlicher Weise von Böhm-Bawerk ab. Inhaltlich müsse konstatiert werden, dass 556 557

Vgl. Wolf2006b, S. 47. Ebd., S. 39. Vgl. auch Hilferdings Argumentation gegen Böhm-Bawerk in Hilferding 1973, S. HS-

MO. 558 559

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Nanninga 1975, S. 56. Auch Schampel (1982, S. 91), der uns weiter unten noch beschäftigen wird, verweist darauf, dass der Charakter der Waren als Arbeitsprodukte nicht aus der Wertgleichung zu entwickeln ist: „.Arbeit' als inhaltliche Bestimmung gewinnt Marx nicht durch eine logische Operation". Böhm-Bawerk 1973, S. 87. Vgl. ebd., S. 89.

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der Gebrauchswert „nur ein Obertitel för alle möglichen verschiedenen Zwecke ist" 562 , denen verschiedene Gegenstände dienlich sein könnten 563 . Er bezeichne also jeweils Singuläres. Die Abstraktion einer Nützlichkeit überhaupt bedeute „lediglich, daß man von dem Satz ,a dient den Zwecken x, y ...' übergeht zu dem Satz ,es gibt Zwecke, denen a dient'. Für den Beweis des letzten Satzes steht nichts anderes als die Angabe der Zwecke selbst zur Verfügung. Diese Angabe verbietet man sich aber mit der ,Abstraktion'. Man kann also nicht vom Nutzen als Gebrauchswert,allgemein' oder .überhaupt' sprechen" 564 . Umgekehrt biete auch das Absehen von allen konkreten Zwecken, den verschiedene Gegenstände fur Menschen haben können, noch keine Vergleichsmöglichkeit gerade dieser verschiedenen Zwecke 565 . Formal gesehen schlage Böhm-Bawerk lediglich eine alternative inhaltliche Ausgestaltung des Schlusses auf das Dritte vor, moniere aber nicht Marx' „Weglaß-Methode" 566 . Genau dies müsse aber geschehen, um Marx' Ansatz von metaphysischem Ballast zu befreien. Nanninga beansprucht nämlich, den Abstraktionsschritt vom Tauschwert auf den Wert als „formale Scheinbegründung" 567 zu entlarven: Marx gehe im Kapital zunächst von der Transitivität der Austauschrelationen der Waren aus und formuliere diese durch die Forderung, die Tauschwerte (als quantitative Mengenrelationen von Gebrauchswerten) müssten „durch einander ersetzbare oder gleich große Tauschwerte sein" 568 . Diese Transitivität werde von Marx aber nicht eigens begründet, was allerdings leicht nachgeholt werden könne: Es sei die Annahme systematischer Austauschbeziehungen, welche die Transitivität und damit auch Äquivalenz der Tauschrelation nahe lege 569 . Zwar könne eine zufällige Tauschkette zwischen drei Waren immer Inkonsistenzen in dem Sinne aufweisen, dass durch deren geschickte Ausnutzung aufgrund bloßen Tauschs Gewinn gemacht werden könne (z.B.: 1 Tuch tauscht sich gegen 2 Röcke, 2 Röcke gegen 1 kg Weizen, dieser wird schließlich wieder getauscht, und zwar gegen 2 Tücher), doch führe dies langfristig zur Aufhebung dieser Gewinnmöglichkeit, wenn alle drei Warenbesitzer sich dieser Gelegenheit bedienen wollten 570 . Mit dieser Reflexion sei nun aber bereits Äquivalententausch hinreichend bestimmt 571 .

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Nanninga 1975, S. 19. Dabei weist Nanninga auf den Unterschied des Marxschen Gebrauchswert- (Nützlichkeit einer Ware als ihre Dienlichkeit für spezifische Zwecke) und des neoklassischen Nutzen-Begriffs (Nutzen als Dringlichkeit des Bedarfs nach einer speziellen Ware) hin (vgl. ebd., S. 152, 155, 169f.). Er zeigt auch, dass - entgegen der Illusion einer Begründungsfunktion des Tauschwerts durch den Nutzen in der Grenznutzenschule - sowohl Gebrauchswert als auch Tauschwert Voraussetzungen für den ,Nutzen' im subjektiven Paradigma sind (vgl. ebd., S. 170). Ebd., S. 170. „Die Dienlichkeit für die je verschiedenen Zwecke von chinesischer Tinte und Mottenkugeln wird nicht dadurch untereinander vergleichbar, daß man aufhört, von den verschiedenen Zwecken zu reden" (ebd., S. 60). Nanninga 1975, S. 56. Nanninga 1979, S. 440. MEW 23, S. 51 (MEGA II/8, S. 69). Ein Äquivalenzverhältnis ist formal durch drei Eigenschaften bestimmt: Reflexivität, Symmetrie, Transitivität. Vgl. Nanninga 1975, S. 50f.; vgl. auch Krause 1977, S. 146f. und Heinrich 2004a, S. 38f. Vgl. Nanninga 1975, S. 36.

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Statt nun aber mit dieser formalen „Lösung"572 des Gleichheitsproblems zufrieden zu sein, frage Marx unzulässigerweise weiter, welche positive Eigenschaft der Waren es erlaube, sie in die Gleichheitsrelation zu setzen. Für Nanninga ist dies eine überflüssige Operation, da bereits die Aussage, jede Ware sei gleich, weil sie Tauschwert sei, die Reduktion auf die gemeinsame Eigenschaft der Nützlichkeit für den Tausch darstelle. Dabei sei Marx' Ansicht, der Tauschwert sei Abstraktion von allem Gebrauchswert, in einem trivialen Sinne wahr, weil dies eben bereits aus der Begriffsunterscheidung Tausch-/ Gebrauchswert folge573. Marx suche aber nun mittels einer ,,naive[n] Methode des Weglassens"574 nach einem Dritten, das als positive Eigenschaft der Waren die Vergleichsmöglichkeit allererst begründe und als abstrakte Arbeit identifiziert werde. Formal gehe dieses Verfahren nicht auf, weil das bloße Weglassen von Eigenschaftszuschreibungen nicht zu einer verbleibenden, eindeutig bestimmbaren Eigenschaft von Objekten führen könne. Die „verbliebenen Prädikationsmöglichkeiten" hinsichtlich der Objekte seien also „nur negativ bestimmt"575. Bereits die Frage nach diesem ominösen Dritten entstehe aus der sprachlichen Ungenauigkeit, mit der Marx die Tauschgleichheit als konkrete Gleichheit einführe, indem er ,x Ware A ist y Ware Β wert' einfach als ,x Ware A = y Ware Β' schreibe576, bzw. den Terminus Tauschwert zu Beginn des Warenkapitels als asymmetrischen einführe - als unterschiedliche Warenmengen, die für eine Ware eintauschbar seien: „Statt zu der Frage, inwiefern man Waren, die sich untereinander austauschen, tauschwertgleich nennen kann, kommt man jetzt zu der Frage, inwiefern die Tauschwerte einer Ware gleich sein können"577. Dagegen definiert Nanninga die Begriffe Gebrauchs- und Tauschwert sowie Tauschwertgleichheit wie folgt: Gebrauchswert sei die Nützlichkeit einer Ware „in Handlungszusammenhängen außerhalb des Tausches", während Tauschwert die „Nützlichkeit der Waren für den Zweck des Tausches"578 sei. Von Tauschwertgleichheit sei zunächst nur als einer abstrakten Gleichheit zu reden, da sie die Gleichheit oder Ersetzbarkeit von Aussagen über eine Warenmenge durch die über eine andere beschreibe579. Von allen Aussagen über die Waren, die nicht ihr Tauschverhältnis betreffen, werde dabei abgesehen. Im Gegensatz zu dieser abstrakten Gleichheit bestehe konkrete Gleichheit oder Identität von Gegenständen nur dann, wenn man sie nicht unterscheiden könne, „obwohl man sich keinerlei Restriktionen in den Unterscheidungsmöglichkeiten auferlegt hat", das heißt bei Gleichheit ihrer sämtlichen Eigenschaften. Umgangssprachlich werde diesem Unterschied dadurch Rechnung getragen, indem nicht gesagt werde, 2 kg Mehl seien 1 kg Zucker gleich, sondern 2 kg Mehl seien 1 kg Zucker wert. Wie gezeigt, sieht Nanninga die hinreichende Bedingung für Tauschwertgleichheit in der Eigenschaft der Transitivität gegeben. D.h., wenn χ Ware A sich mit y Ware Β tausche, y Ware Β mit ζ Ware C, so müsse sich auch χ Ware A mit ζ Ware C tauschen. Dies stelle die 572 573 574 575 576 577 578 579

Nanninga 1979, S. 448. Vgl. ebd., S. 451. Ebd. Nanninga 1975, S. 34. Vgl. Nanninga 1979, S. 449. Nanninga 1975, S. 28. Nanninga 1979, S. 444. Vgl. ebd., S. 441.

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„formale Voraussetzung" für Tauschwertgleichheit, bzw. „allgemeine Nützlichkeit für den Austausch" dar. Waren sind also dann .tauschwertgleich', „wenn sie zum Erwerb jeder anderen Ware gleich nützlich sind", womit zugleich noch nichts darüber ausgesagt werde, „warum bestimmte Warenmengen tauschwertgleich sind"580. Transitivität lege nur bestimmte Verhältnisse zwischen den Proportionen fest, was die Proportionen determiniere, die nicht jede beliebige, sondern ganz bestimmte Warenmengen (hier mit x, y und ζ bezeichnet) zueinander in ein Transitivitätsverhältnis setzen, bleibe also im Unklaren. Diese „Größenbestimmung einer Proportion für sich"581 wird deshalb bei Nanninga vom Tauschwert unterschieden und „Wert" genannt. Resümierend lässt sich zweierlei feststellen: Nanningas Abstraktionsverfahren, das zur Tauschwertgleichheit führt, setzt die Schaffung von Ausgrenzungskriterien für Prädikationsmöglichkeiten auf der formalen Grundlage einer Äquivalenzrelation voraus582. Dieses Kriterium besteht in der Verträglichkeit von Aussagen mit den Bedingungen der Gleichheitsrelation, d.h. der Ersetzbarkeit der Objekte hinsichtlich ihrer Rolle in derselben583. Die Kategorie der abstrakten Gleichheit der im Tauschverhältnis stehenden Relata kann damit lediglich als veränderte „Redeweise" über die Eigenschaften der Tauschrelation begriffen werden, die keinerlei weitere „inhaltliche Einsichten" liefert. Die Frage nach der qualitativen Grundlage von Tauschrelationen wird als Sprachverhexung ad acta gelegt. Was von dieser Frage übrig bleibt, ist einzig die quantitative Dimension der Größenbestimmung der auszutauschenden Proportionen, das Quantum ihrer Nützlichkeit für den Austausch': „Die Menge gesellschaftlicher Arbeitszeit, die ein Produkt auf sich vereinigt, heiße ihr Wert". Dieser wird als quantitative Residualkategorie eingeführt, die mit einem Kommensurabilitätsproblem nichts mehr zu tun hat, denn ,,[d]er Tauschwert ist ein vom Wert unabhängiger Begriff' 584 . Nicht nur die quantitative, auch die qualitative Dimension der Frage nach der Möglichkeit von Kommensurabilität bleibt so letztlich unbeantwortet. Mit Georg Lohmann kann konstatiert werden, dass in den analytischen Kritiken am Begriff des tertium comparationis, die sich auch bei Autoren wie Ulrich Krause585 oder Ulrich Steinvorth586 findet, „die Kommensurabilität der Waren vorausgesetzt wird"587. Ein signifikantes Beispiel dafür liefert ein, auch von Lohmann beanstandetes, Beispiel Steinvorths, mit dem die Überflüssigkeit des von den Relata „unterscheidbaren Gehalts"588 als Ermöglichungsbedingung einer Relation illustriert werden soll: „Die Aussage etwa", so Steinvorth, „daß A in einem Glücksspiel so viel Punkte gewann wie B, impliziert nicht die Existenz einer Eigenschaft (etwa eines Spielglücks), die verschieden ist vom bloßen Verhältnis, in das die Punkte von A und die von Β

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Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 4 4 2 , 4 4 2 , 4 4 4 f . , 443. Nanninga 1975, S. 51 (Fn.). Vgl. ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 48. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 48, 75, 80. Vgl. Krause 1977, S. 152ff. Vgl. Steinvorth 1977a, S. 29ff. Lohmann 1989, S. 138. MEW 23, S. 51 (MEGA II/8, S. 69).

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gesetzt werden" 589 . Auch wenn die Unzulässigkeit der Argumentation als Gegenposition zu Marx ins Auge springt, soll hier erwähnt werden, dass Steinvorth, indem er vorab die Punkte von zwei Personen A und Β vergleicht, die als Menschen so verschieden sind wie 20 Ellen Leinwand und 1 Rock, er diese Personen bereits hinsichtlich des ihnen gemeinsamen Dritten - der Spielpunkte eben - als qualitativem Grund, auf dem sie sich nur quantitativ vergleichen können, bestimmt. Die Rolle der .Punkte' übernimmt bei Marx die .abstrakte Arbeit'. Steinvorths Beispiel bestätigt also gerade das, was es zu widerlegen beansprucht. Eine Begründung oder wenigstens Plausibilisierung der Arbeitswerttheorie findet Steinvorth erst im vierten Kapitel des Kapital. Im dritten Kapitel entwickelt Marx demnach das „Problem der Geldhortung": Mit dem monetär vermittelten Austausch werde zwar der Warentausch „leichter", aber deswegen nicht sicherer gemacht, da nun Kauf und Verkauf nicht mehr notwendig zusammenfielen und die Warenbesitzer mit der Unverkäuflichkeit ihrer Waren rechnen müssten. Das Geld, so Steinvorth, habe „deshalb" (!), sowie als Mittel zur unmittelbaren Erlangung jeder Gestalt des gesellschaftlichen Reichtums, zusätzlich die „Funktion, vor der Unsicherheit des Warenaustausches zu schützen" 590 . Zur (Zirkulations-) Mittelfunktion des Geldes (Geld als Mittel, um an andere Waren zu gelangen) trete damit die Wertaufbewahrungsfunktion, die es als „eigenes Erwerbsziel" 591 konstituiere. „Mit mehr entwickelter Warenproduktion", so Marx, „muß jeder Warenproduzent sich den nervus rerum, das .gesellschaftliche Faustpfand' sichern. Seine Bedürfhisse erneuern sich unaufhörlich und gebieten unaufhörlichen Kauf fremder Ware, während Produktion und Verkauf seiner eigenen Ware Zeit kosten und von Zufallen abhängen" 592 . Wenn das Geld aber gehortet werde und damit der Zirkulation entzogen, werde es auch in Gegensatz zu seiner Zirkulationsmittelftinktion gebracht. Dies würde, bei entsprechend umfangreicher Schatzbildung, nach Steinvorth nun „genug Geld der lebensnotwendigen Warenzirkulation entziehen und dadurch den Warenaustausch lahmlegen". Die Verträglichkeitsbedingung zwischen diesen widersprüchlichen Bestimmungen sei nun im industriellen Kapital als sich durch Zirkulation und Konsumtion einer bestimmten Ware hindurch erhaltende (und vermehrende) Geldsumme gefunden. Mit anderen Worten: Indem der Tauschwert erhalten, sogar vermehrt werde (,Sicherheit'/ Wertaufbewahrung), werde zugleich die Zirkulation „flüssig" 593 (Zirkulationsmittel) gehalten. Die wechselseitige Übervorteilung durch Handelskapitalisten oder der geschickte Handel einzelner Warenproduzenten scheide als Kriterium der Verträglichkeit aus, da hier letztlich ein Nullsummenspiel vorliege, das wieder zur bloßen einfachen Zirkulation führe und somit wieder zum Spannungsverhältnis zwischen Wertaufbewahrungs- und

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Steinvorth 1977a, S. 30. Steinvorth hält diese Beispiel offenbar für so schlagend, dass er es wiederholt verwendet (vgl. auch Steinvorth 1977b, S. 310 (Fn.)). Zitate der Reihenfolge nach: Steinvorth 1977b, S. 308, 307, 307. Wie ersichtlich wird, legen die vagen Formulierungen Steinvorths zwei Ursachen dieser Funktion nahe. Einmal habe das Geld „deshalb" diese Funktion, weil die Warenbesitzer „immer fürchten [müssen], auf ihren Waren sitzen zu bleiben" (ebd.) - eine eigenwillige „Begründung". Dann wird aber diese Funktion aus der allgemeinen Austauschbarkeit des Geldes hergeleitet: „denn mit Geld als der allgemein absatzfähigen Ware kann man jeden Gebrauchswert erhalten" (Hervorhebung von mir, I. E.). Steinvorth 1977a, S. 13. MEW 23, S. 145 (MEGA II/5, S. 88f.) (teilweise zitiert in Steinvorth 1977a, S. 13). Zitate der Reihenfolge nach: Steinvorth 1977a, S. 13, 16.

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Zirkulationsmittelfunktion. „Das Problem", so Steinvorth, „kann nur behoben werden, wenn mit dem Geld Ware gekauft wird, durch deren Verbrauch neue Ware entsteht"594, was schließlich die Existenz der Ware Arbeitskraft voraussetze. In der Analyse der Vermeidung bloßer Geldhortung als .Sicherheit' vor den Unwägbarkeiten des Tauschs (und damit langfristiger Lahmlegung des Tauschs selbst) durch tauschvermittelte Produktion erweise sich nun die Plausibilität der Marxschen Arbeitswerttheorie, die allen anderen Theorien der Werterhaltung durch Wertvermehrung überlegen sei595. Insbesondere Böhm-Bawerks Einwand gegen die Arbeitswerttheorie, auch durch geschickten Tausch oder durch nachwachsende Naturgüter (wie „Holz auf dem Stamm") könne der Warenbesitzer vermittelt über die Zirkulation und ohne Produktion seinen Wert erhalten/ vermehren, erscheint Steinvorth konstruiert. Der erste Einwand laufe auf die wechselseitige Übervorteilung und damit keinen Gewinn hinaus, der zweite beziehe „zu wenigfe]" Güter ein, „als daß durch sie die Geldhortung dauerhaft überwunden würde"596. Marx' Grundthese der Wertbildung durch Arbeit gewinne also erst hier „an Überzeugungskraft"597, ja, es sei erst die Mehrwerttheorie die die Arbeitswerttheorie begründe598. Daher sei zwar die Ableitung der Wertsubstanz (abstrakte) Arbeit im ersten Kapitel unhaltbar, der Sinn dieses Kapitels ergebe sich aber retrospektiv von der Kapitaltheorie her und lasse es als vorweggenommenes Resümee verständlich werden599. Zurück zu Nanninga: Diesem scheint die qualitative Fragestellung von Marx, nämlich eine Erklärung empirisch erscheinender Reichtumsformen mittels einer nichtempirischen Theorieebene zu liefern, gar nicht präsent zu sein. Dies wird besonders in seinen Ausführungen zur Wertformanalyse deutlich. Zwar konstatiert auch er das vielbeschworene Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten als Marx' Verfahren im Kapital, dennoch entgeht ihm der spezifische Sinn der Abstraktionsniveaus der ersten Kapitel. Darauf deuten zunächst zwei Sachverhalte hin: Zuerst die verwunderte Frage, warum denn die Kategorienentwicklung in der Wertformanalyse in derart idealistischer oder begriffsdialektischer Manier erfolgen müsse600. Sodann die fehlerhafte Kennzeichnung der Entwicklung der Darstellung des Verhältnisses von immanentem und äußerem Wertmaß von den Grundrissen bis zum Kapital. Zwar stellt Nanninga zunächst korrekt fest, dass einiges, was Marx „in den Grundrissen in Zusammenhang mit dem Gelde ausführte, sich auch schon systematisch unabhängig vom Geld entwickeln ließ", wobei insbesondere auf die spätere Einführung der Kategorien von einfacher und entfalteter Wertform hingewiesen wird. Nun wird allerdings daraus der Schluß gezogen, die noch in den Grundrissen wie in Zur Kritik enthaltene Unterscheidung

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Steinvorth 1977b, S. 307. Dies begründet das „Gesetz der Warenzirkulation" (Steinvorth 1977a, S. 16): Systematischer Warentausch ist nur auf Grundlage kapitalistischer Produktionsbedingungen, der Existenz des industriellen Kapitals möglich. Ebd., S. 308. Gegen Böhm-Bawerk muss zudem geltend gemacht werden, dass selbst nachwachsendes Holz gefallt, bearbeitet und transportiert werden muss, seine Nutzbarmachung als .nachwachsende' Ware also Arbeit involviert. Ebd. Vgl. ebd., S. 307. Vgl. ebd., S. 309: „Marx faßte die Implikationen seiner Analysen im ersten Kapitel zusammen". Vgl. Nanninga 1975, S. 114.

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zwischen analytisch ,im Kopfe' des Wissenschaftlers festgehaltener Vergleichung der Waren anhand gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit einerseits und im realen Tauschakt von den Akteuren anhand des Geldes vorgenommener Gleichsetzung andererseits, sei im Kapital damit aufgehoben: „Wenn aber im wirklichen Austausch [!] der Vergleich der Waren ohne das Geld allein durch die Qualität der Tauschwerte als Werte vonstatten gehen sollte, mußte Marx konsequenterweise auch die Gegenüberstellung von Vergleich im Kopf - Vergleich im wirklichen Austausch aufgeben"601. Dieser Schluss ist, wie noch gezeigt werden wird602, falsch. Gerade im Kapital, vor allem aber in dessen Erstauflage, unterscheidet Marx konsequent zwischen den nur theoretisch vom wissenschaftlichen Bewusstsein vorgenommenen Abstraktionen und Bezügen der Waren aufeinander und deren wirklichem Verhältnis, in das sie von den erst im zweiten Kapitel systematisch eingeführten Warenbesitzern gestellt werden, sowie den darin wirklich existierenden, wenn auch nach wie vor für die Warenbesitzer unerkennbaren, Abstraktionen. Ein empirisch realer Tausch wird auch in den ersten drei Abschnitten des ersten Kapitels des Kapital nicht beschrieben. Nanninga ist da anderer Meinung. Er versteht die Wertformanalyse als Darstellung eines einfachen, geldlosen Tauschs. Während Marx noch in Zur Kritik nahe lege, „daß einfacher Tausch" - von wertbestimmten Waren ohne Geld - „ein Ding der Unmöglichkeit sei", so argumentiere er im Kapital „gerade umgekehrt"603. Die Tatsache, dass Marx hier versucht, das Phänomen unmittelbarer Austauschbarkeit nicht-zirkulär - und damit ohne Rückgriff auf Geld als Prämisse - zu erklären, wird von Nanninga als These eines empirischen Vorrangs nicht-monetärer Tauschwerte vor geldvermitteltem Austausch verkannt. Konsequent erscheint ihm auch die Wertformanalyse lediglich als „verquere"604 Redeweise über das Äquivalenzverhältnis605. D.h. für Nanninga besteht die Problematik der Erklärung unmittelbarer Austauschbarkeit gar nicht, da diese bereits als gegeben unterstellt wird. So reduziert er das Polaritätsverhältnis von relativer Wertform und Äquivalentform auf ein Äquivalenzverhältnis, in dem beide Waren zugleich relative Wertform und Äquivalentform, damit unmittelbar austauschbar, seien606. Das Polaritätsverhältnis sei nur aus der Teilnehmerperspektive der Warenbesitzer heraus konstatierbar607, die als selbstverständlich in das erste Kapitel des Kapital gehörig betrachtet wird. Dabei kann sich Nanninga auf eine Passage im Anhang zur Erstauflage des Kapital beziehen. Diese lautet: „Denken wir uns Tauschhandel zwischen Leinwandproducent A und Rockproducent Β [...] A sagt: 20 Ellen Leinwand sind 1 Rock werth, und Β sagt: 1 Rock ist 20 Ellen Leinwand werth. Hier befinden sich beide, Leinwand und Rock, gleichzeitig in

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Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 4 1 , 4 2 . Vgl. Kap. 1.3.2 dieser Arbeit. Nanninga 1975, S. 45. Ebd., S. 123. Damit gleicht die Position Nanningas deijenigen Kautskys, der die Wertformanalyse als Beschreibung historischer Perioden prämonetären Warentauschs deutet (Kautsky 1922, S. 28-33). Kautsky muss dann aber die von Marx als Polaritätsverhältnis auf der Grundlage eines Äquivalenzverhältnisses verstandene Wertform auf ein bloßes Äquivalenzverhältnis reduzieren. Vgl. Nanninga 1975, S. 129. Vgl. ebd., S. 121. Auch für Ernst Michael Lange handelt es sich in der Wertformanalyse um eine Beschreibung einfachen Produktenaustausche (Lange 1978, S. 10 (Fn.)), aus der „BeteiligtenPerspektive" (ebd., S. 12) der Warenbesitzer.

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relativer Werthform und in Aequivalentform. Aber, n o t a b e n e , ^ zwei verschiedene Personen"608. Hier handelt es sich aber um eine tatsächlich empiristisch popularisierte Illustration' der Wertformentwicklung, die für den ,dialektisch ungebildeten Leser' gedacht gewesen sein mag, diesen aber, wie das Beispiel Nanningas zeigt, umso mehr verwirrt hat. Die Stellen im Kapital, in denen Marx nach wie vor klar zeigt, dass ein prämonetärer Austausch von Waren unmöglich ist609, werden denn auch von Nanninga systematisch ignoriert. Da Marx in der Wertformanalyse erklären will, wie ein systematischer Tausch möglich ist und wie die darin empirisch konstatierbaren Reichtumsformen zu erklären sind, ohne dieselben immer schon begrifflich vorauszusetzen, stellt er entgegen seinem oben genannten Beispiel und dessen Deutung als Indiz fiir eine prämonetäre Tauschtheorie bereits zu Beginn der Wertformanalyse fest, dass ,,[d]ieselbe Ware [...] in demselben Wertausdruck nicht gleichzeitig in beiden Formen [der relativen Wertform und der Äquivalentform] auftreten"610 kann. Wir befanden uns ansonsten wieder in der paradoxen Proudhonschen Situation, dass ein systematischer Warentausch möglich sein soll, in dem alle Waren unmittelbar austauschbar, ihr eigenes Geld, sein sollen, was den Bedingungen, unter denen Güter zu Waren werden - und die auch Nanninga ausführlich als indirekte Form der Vergesellschaftung der Arbeit unter privat-arbeitsteiligen Produktionsbedingungen beschreibt611 - aber fundamental widersprechen würde. Das verblüffende Resultat dieser .analytischen' Variante einer Kritik an vermeintlich substantialistischen Gehalten der Marxschen Werttheorie ist also ein insgeheimer Substantialismus, der mit einer prämonetären Tauschtheorie einhergeht. Obwohl die These einer logisch-systematischen Struktur der Marxschen Darstellungsweise von den meisten analytischen Autoren akzeptiert wird612 sind offensichtlich viele von ihnen nicht willens, den Sinn des Abstraktionsschrittes vom zweiten zum ersten Kapitel des Kapital nachzuvollziehen. So kann sich Nanninga die Erörterungen über theoretische, gedachte' Verhältnisse der Waren in der Wertformanalyse nur tauschtheoretisch - und das heißt in diesem Fall empiristisch - als Darstellung eines realen geldlosen Warentauschs plausibel machen. Einen Schritt weiter als Nanninga geht dabei die Arbeit von Jürgen Schampel aus dem Jahr 1982. Er wirft Nanninga vor, das „,Scheinproblem' der Warentheorie" zu übernehmen, indem er die Bedeutung der Wertgleichung lediglich „in formallogischen Äquivalenzbedingungen" suche, statt vorab die konstruktivistisch-sprachpragmatisch formulierte Frage nach der Legitimität der Marxschen Gegenstandskonstitution zu stellen. Er übernehme damit die von Marx falsch gestellte Frage der Wertgleichung, die im übrigen kein totales Gleichheitsverhältnis postuliere, wie Nanninga unterstelle, sondern gezielt nach einem spezifischen Gleichheitsverhältnis"613 von Gegenständen in einer bestimmten Hinsicht fahnde. Marx' Frage beziehe sich nun auf die Wertgleichung ,x Ware A = y Ware Β' und laute „Was be608 609 610

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MEGA II/5, S. 628. Vgl. nur MEW 23, S. 101, 103 (MEGA II/5, S. 53, 55). Ebd., S. 63 (MEGA II/6, S. 81 f.). Dies bezeichnet Backhaus zu Recht als den „Grundgedankefn]" der „Marxschefn] Kritik prämonetärer Werttheorien" (Backhaus 1997f, S. 285). Vgl. Nanninga 1975, S. 10-17, 72-75. Vgl. Schampel 1982, S. 69, 77; Steinvorth 1977a, Kap. IV. Zitate der Reihenfolge nach: Schampel 1982, S. 88, 89, 89.

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sagt diese Gleichung?"614, statt zu lauten: „Was drücken die Tauschsubjekte in ihr aus?"615. Erst diese methodische Abstraktion von den Warenbesitzern und ihren wirklichen Tauschhandlungen bringe die Frage nach einem gemeinsamen Dritten in den Waren als Dingen hervor. Schampels Grundthese lautet damit, Marx unterliege einer methodisch induzierten Sprachverhexung: Indem er die Warenanalyse nicht von vornherein als Tauschanalyse konzipiere, also begrifflich mit der Ware, bzw. dem Verhältais von Waren und nicht dem von Tauschenden beginne, substantialisiere und reifiziere er die den Gütern nur durch den Austausch zukommenden Eigenschaften616 und betrachte den Tausch letztlich als „unvermittelte[s] Verhältnis von Dingen". Marx substituiere im ersten Fall (,die Ware') zweistellige Prädikate, bzw. „relationale Begriffe" durch „(einstellige) Gegenstands- oder Eigenschaftsbezeichnungen", und sehe im zweiten Fall vom gesellschaftlichen Bezugssystem der Relationen ab, das im zweiten Kapitel des Kapital unvermittelt nachgereicht werde. Dieser Objektivismus (Absehen von den konstituierenden Eigenschaftszuschreibungen im Tausch) münde daher konsequent in einen Mystizismus, der „die ,Warendinge' vermenschlicht", sie zu sich austauschenden Handlungsträgern hypostasiere. Die Abstraktion vom Tausch, der ja erst die Bedeutung der Gegenstände als Waren hervorbringe, sei damit prinzipiell unzulässig. Erst dieses Absehen bringe Marx in die ,,merkwürdige[...] Lage f...] über Dinge, die nur im Tausch als Ware gelten, etwas sagen [zu müssen], ohne den Tausch selbst zum ausdrücklichen Gegenstand der Untersuchung machen zu dürfen"617. So würden die Funktionen von Gegenständen, die ihnen in Austausch- (Güter als Tauschmittel) oder Konsumakten (Güter als Gebrauchsmittel618) zukommen „zwangsläufig zu einem Begriff für ein Ding mit unsichtbaren Eigenschaften, ein Ding von gespenstiger Gegenständlichkeit'"619. Aber noch die Formulierung ,durch den Austausch zukommende' Eigenschaften muss in der Perspekti614 6,5 616

6,7 618 619

MEW 23, S. 51 (MEGA II/5, S. 19) (zitiert in Schampel 1982, S. 90). Schampel 1982, S. 90. Mit der Betrachtung der Bestimmungen der Ware in Gestalt ,einer' Ware können auch stark hegelianisierende Interpreten, wie Klaus Lichtblau, wenig anfangen. Weil das Konkretum Ware, von der Marx im Zuge der „werttheoretischen Axiomatik" (Lichtblau 1978, S. 280) in Kapitel 1.1 ausgehe, den Anschein erwecke, Marx arbeite mit einer „arelationalefn] Bestimmung der , Substanz des Tauschwertes'" (ebd., S. 268, vgl. auch S. 286), sein Anspruch aber sei, „a//e ökonomiekritischen Kategorien" (ebd., S. 272) als relational-gesellschaftliche auszuweisen und er auch daraufhindeute, dass Tausch- und Gebrauchswert erst im, resp. im Gefolge des Austausche werdende Bestimmungen seien (vgl. ebd. S. 284), müsse eine rationale Rekonstruktion des Wertbegriffs von der Wertform ausgehen. In diesem Zusammenhang unterscheidet auch Lichtblau, in Analogie zu Nanninga, Lange, Schampel und Böhler (s.u.) einen Relationstypus, „der die Glieder der Relation in den Vordergrund der Betrachtung rückt und als reale Substanzen auffaßt (Ontologie), und einer Betrachtungsweise, welche umgekehrt die Bezogenheit selbst als das Primäre ansetzt (Funktionalismus)" (ebd., S. 286f. (Fn.)). Schampel geht allerdings noch weiter als Lichtblau: Auch die Wertformanalyse, die dieser als alternativen Ansatzpunkt der Werttheorie anvisiert, sei nichts als eine mystifizierende und verdinglichende Redeweise über fingierte Gegenstände. Eine Problematisierung der Widerspruchsentwicklung ausgehend von ,der' Ware findet sich auch bei Arndt (1994, S. 302). Zitate der Reihenfolge nach: Schampel 1982, S. 42, 81, 81, 43, 77. Vgl. ebd., S. 78f. Ebd., S. 40.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

ve Schampels als hypostasierend abgelehnt werden. Korrekt muss es demnach vielmehr lauten: konstituierende Akte der Tauschenden'. Die Wertgleichung wird hier in eine symbolisch vermittelte Interaktion620 zwischen Privateigentümern aufgelöst. Dementsprechend verweise die petrifizierende Rede von ,Wert' auf .Werten', der Begriff,Wertausdruck' auf ,Wert (sprachlich) ausdrücken' und das .Wertmaß' auf,Wert messen' 621 . Während bei Marx „die Waren innerhalb der verdinglichten Wertgleichung ihren Wert vermittels des Gebrauchswertes" artikulieren und damit die Waren „zu Zeichen ihrer selbst und zum Subjekt des Zeichenprozesses" mutierten, artikulierten „im realen Austausch die Individuen den Tauschwert ihrer Produkte (Signifikat) in der Wertgleichung (Signifikant)"622. Wertgleichung und -ausdruck seien Sprechakte, in denen die subjektiven Zwecksetzungen (als Verhältnisse zwischen Individuen und Dingen) die Eigenschaft von Arbeitsprodukten als Tauschmittel (Waren als Gegenstände, die den Zweck haben, getauscht zu werden) generieren und intersubjektive Verhandlungsleistungen623 mit bewusstem Bezug auf die gesellschaftliche Durchschnittsarbeitszeit den Tauschwert der Waren (als quantitative Dimension der Tauschmittel, ,Größe ihrer Nützlichkeit für den Tausch') konstituieren. Die Äquivalenzrelation, das Gleichheitszeichen zwischen den Waren, bezeichne damit nichts anderes als „die gegenseitige Anerkennung und die Gleichheit des Willens" der Tauschsubjekte, sei nur ein sprachlicher Ausdruck für das „intersubjektive Verhältnis der Tauschenden"624. Es sind also letztlich Rechtsverhältnisse als privatautonome Willensverhältnisse, welche die Gestalten des Reichtums hervorbringen: Tauschhandlungen und sämtliche in ihnen aufzufindende Bestimmungen sind bedeutungsgleich mit Vertragshandlungen625. Wenn Marx dagegen die Reichtumsformen isoliert von diesem ganz speziell gefassten „Handlungskontext" untersuche, „in dem die Wertausdrücke als sprachliche Zeichen verwendet werden", er also in der Warenanalyse nicht auf Regeln von Sprachspielen, sondern auf gegenständliche Eigenschaften verweise, so müsse er als Vertreter eines mechanischen Materialismus betrachtet werden, dem der praktische Materialismus eines Ludwig Wittgenstein entgegenhalten werden könne626. Doch auch Marx' eigener historisch-materialistischer Programmatik widerspreche die Warenanalyse, die weder seiner nominalistischen Kritik der Hegeischen Verkehrung von Subjekt und Prädikat, die dessen Mystifizierung von Eigen-

620 621 622 623

624 625 626

Vgl. ebd., S. 83: „der Tausch eine zeichenvermittelte Interaktion ist". Vgl. ebd., S. 43, 46. Ebd., S. 93f. Vgl. ebd., S. 85: „Im Sprachspiel des Austausches [...] bedeutet es [das Gleichheitsverhältnis χ Ware A = y Ware Β] das Verhältnis von Geben und Nehmen, und zwar, je nachdem an welcher Stelle der Vertragshandlung man sich befindet, in je verschiedener Weise. Am Anfang der Verhandlung z.B. kann der Wertausdruck dasjenige quantitative Verhältnis der Waren bedeuten, in dem einer der Tauschpartner tauschen will; der Wertausdruck wird hier als Sollensaussage geäußert. Nach Abschluß der Verhandlung dagegen bezeichnet der Wertausdruck das Verhältnis, in dem getauscht wurde; er wird als Ist-Aussage über das real vollzogene Verhältnis von Geben und Nehmen geäußert". Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 85, 40. Hier kreuzen sich Schampels und Franz Petrys Auffassungen (vgl. Petry 1974, S. 214). Vgl. Schampel 1982. S. 87 (Fn.).

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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Schäften menschlichen Handelns zu selbständigen Handlungssubjekten moniere627, noch seiner in den Thesen über Feuerbach formulierten Abkehr vom anschauenden Materialismus, der die Wirklichkeit nur unter der Form des Objekts, nicht subjektiv-praktisch betrachte628, gerecht werde. Nun ist die Rede einer Existenz von Abstraktionen gerade in der hegelorientierten Marx-Rezeption als zweite, dem Wesen des Kapitalismus angemessene, Entmystifizierung geschichtsphilosophischer Argumentationsmuster begriffen worden629. Die Rede von realen Abstraktionen, die solche Ansätze dabei präferieren, ist aber keineswegs mit der von Schampel unterstellten, tatsächlich mystischen Personifizierung ökonomischer Kategorien zu vermengen. Dies betrifft auch den Terminus der Ware als Subjekt. Dieser ist auch ausgehend vom Bezugssystem hegelorientierter Autoren, wie Brentel oder Kittsteiner, in mehrerlei Hinsicht als irreführend zu bewerten: Zunächst, weil Waren eben keine Handlungssubjekte seien. Darüber hinaus auch deshalb, weil das, was mit dem Subjektbegriff hier ausgesagt werden solle, erst hinsichtlich des Kapitalverhältnisses zutreffe. Erst hier werden demnach die von den Menschen hervorgebrachten, aber nicht beherrschten Gehalte und Formen des Reichtums (.Substanz') durch ein historisch-spezifisches und gegenständlich vermitteltes Produktionsverhältnis hindurch beständig reproduziert. Dies sei die Dechiffrierung des rationalen Gehalts der Hegeischen Rede von der .Substanz als Subjekt', die zudem noch eine weitere, ideologiekritische, Dimension besitze, insofern damit der Schein, hier setzte ein vermeintliches Ding (G) vermittlungslos sich selbst in einem größeren Volumen (G'), angezeigt werden solle: Das .automatische Subjekt' ist nach Marx ein .automatischer Fetisch'630. Dagegen ist Schampels kategorialer Apparat nicht in der Lage, solcherlei Verselbständigungen sozialer Zusammenhänge zu erfassen. Zwar gesteht auch er zu, dass „die Menschen schon gehandelt, bevor sie gedacht haben"631. Doch es fehlt ein Strukturbegriff, der dies artikulieren könnte. Seine Postulat gebliebene „Theorie [...] der ökonomischen Lebensformen", welche die von den Akteuren im Tausch befolgten „Regeln"632 erarbeiten soll, bezieht sich auf den Regelbegriff im Wittgensteinschen Bezugssystem. Dort sind Regeln aber lediglich handlungsermöglichende Normen und bedeutungsgenerierende sprachliche Symbolsysteme. Der Ansatz der Sprachspieltheorie geht - wie Adorno - vom Motiv der begrifflichen Strukturiertheit des Objekts der Sozialwissenschaften aus, das heißt von real wirksamen Allgemeinheiten, die aber als ideelle, intersubjektiv gültige Regelkomplexe gefasst werden, also kollektive „ideelle Größen"633 darstellen. Daher kann dieser Ansatz auch als eine Form des nicht-introspektiven634 und nicht-individualistischen63S symbolischen Reduktionismus 627

628 629 630

631 632 633 634

Vgl. ebd., S. 92 (Fn.), 93, 103. Zitiert werden Stellen auy der Kritik des Hegeischen Staatsrechts ßfEW 1, S. 224) (MEGA 1/2, S. 24f.) und der Heiligen Familie (MEW 2, S. 60), die die Hypostasierung von Abstraktionen zu eigenständigen Entitäten kritisieren. Vgl. Schampel 1982, S. 103. Vgl. Kittsteiner 1980. Vgl. dazu ausführlich Kittsteiner 1980, S. 82ff.; Brentel 1989, S. 268; Lohmann 1989, S. 154; Rakowitz/Behre 2001. MEW 23, S. 101 (MEGA II/5, S. 53). Schampel 1982, S. 100. Ritsert 1988, S. 92. Vgl. Winch 1974, S. 153.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

bezeichnet werden, der den originären Marxschen Gegenstand, „sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen"636, systematisch verfehlt 637 und den „Standpunkt des Oekonomen, der nur handgreifliche Dinge kennt oder Ideen - Verhältnisse existiren nicht fur ihn"638 - einnimmt 639 . Dieser Linie entspricht auch Schampels Deutung des zweiten Kapitels des Kapital. Hier sieht er ein zum ersten Kapitel widersprüchliches Paradigma am Werk, weil Marx „in der Warenanalyse [...] von Dingen und ihren Eigenschaften, in der Tauschanalyse aber von Menschen und ihren Handlungen"640 spreche. Das praxeologische Argumentationsmuster, das sich nun deutlich dem historizistischen Verständnis annähert, wird unterstrichen durch die vom Autor getätigten Hervorhebungen Marxscher Termini in diesem Kapitel. Da Schampel auf eine nähere Analyse derselben verzichtet und eher suggeriert, denn erklärt, dass hier eine handlungstheoretische Reduktion und Widerlegung der Kategorien des ersten Kapitels vorliege, seien diese Hervorhebungen nur zu illustrativen Zwecken angeführt: absichtlich zum Behuf des Austausches produziert"; Nützlichkeit zum Tausch"·, „Gewohnheit fixiert sie als Wertgrößen"; „Tauschmittel för ihren Besitzer"; ,J3edütfnis"\ Naturinstinkt der Warenbesitzer" usw. Jedes Auftauchen strukturtheoretischer Kategorien oder Relationierungen wird hingegen zur objektivistischen Kontamination des Argumentationsflusses des

635

Vgl. ebd., S. 162. MEW 23, S. 87 (MEGA II/6, S. 104). 637 Indirekt weist auch Hartmut Neuendorff auf diese Verfehlung des Marxschen Gegenstands hin, wenn er bemerkt, die „entscheidende Differenz" zwischen Normen und Preisen liege darin, „daß das gesellschaftliche Verhältnis der Individuen in ihren produktiven Tätigkeiten im Marktverkehr als ein Verhältnis von Sachen erscheint, und zwar vermittelt durch die in Preisen erscheinenden Wertrelationen der Waren. Eine derartige Verkehrung gesellschaftlicher Verhältnisse in ein Verhältnis von Sachen tritt [...] nie im normgeregelten Verhalten zwischen Interaktionspartnern auf'. 638 MEGA II/3.1.S. 133. 639 Dazu passt auch der Marx-Engelssche Satz aus der Deutschen Ideologie „ Verhältnis för die Philosophen = Idee" (MEW 3, S. 63) (MEJb 2003, S. 97) . Vgl. auch Marx' Bemerkung in den Grundrissen: „Diese sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse im Gegensatz zu den persönlichen erscheinen auch so (das sachliche Abhängigkeitsverhältnis ist nichts als die den scheinbar unabhängigen Individuen selbständig gegenübertretenden gesellschaftlichen Beziehungen, d.h. ihre ihnen selbst gegenüber verselbständigten wechselseitigen Produktionsbeziehungen), daß die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind. Verhältnisse können natürlich nur in Ideen ausgedrückt werden, und so haben Philosophen als das Eigentümliche der neuen Zeit ihr Beherrschtsein von Ideen aufgefasst" (MEW 42, S. 97 (MEGA II/l.l, S. 96)). Nach Peter Winch, der bereits 1958 Wittgensteins Thesen auf die Sozialwissenschaften anwendet, sind gesellschaftliche Verhältnisse ausschließlich durch Rekurs auf das Wirklichkeitsverständnis der Handelnden zu begreifen (vgl. ebd., S. 34f.). Ja, für ihn gilt, „daß die sozialen Beziehungen zwischen Menschen und den in den Handlungen der Menschen verkörperten Ideen in Wahrheit dieselbe Sache" (ebd., S. 154) sind, gesellschaftliche Verhältnisse „zwischen Menschen nur in ihren Ideen und durch diese" (ebd., S. 157) existieren. Solche Ideen seien auch Geld, Eigentum oder ökonomische Transaktionen (vgl. ebd., S. 151). 636

640

Schampel 1982, S. 96.

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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zweiten Kapitels stilisiert641. Die zu Recht als relationale Eigenschaften angeführten Reichtumsformen werden so auf zwei ganz spezifische Relationen (Mensch-Ding/ MenschMensch) zurückgeführt, da Schampel nur handgreifliche Dingeigenschaften physiologischer Art, zu vermeintlichen Dingeigenschaften mystifizierte Prädikationen oder eben subjektiv/ intersubjektive Eigenschafitszuschreibungen kennt. Sein Gegenstandsverständnis ignoriert die Tatsache, dass im Kapitalismus das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten ausschließlich durch das ihrer Arbeitsprodukte vermittelt ist, kein unmittelbarer Bezug der Produzenten in Bezug auf ihre Produkte existiert, oder, wie Heinz-Dieter Kittsteiner es ausdrückt, „hinter dem Verhältnis von 20 Ellen Leinwand zu 1 Rock [...] nicht noch ein weiteres ,menschliches' Verhältnis [steht], sondern ihr [der Produzenten] gesellschaftliches Verhältnis ist dieses eine von Dingen und kein anderes"642. Auch wenn die Akteure im Tausch Sprechakte vollziehen, so konstituieren diese keineswegs ökonomische Objekte. Genau nach einem solchen, höchstens Verhältnissen direkter und planmäßiger Vergesellschaftung angemessenen, Modell versteht aber Schampel ökonomische Gegenständlichkeit. Damit ist aber die Problematik der Herstellung des gesellschaftlichen Zusammenhangs unter privatarbeitsteiligen, also ungeplanten und nicht apriori koordinierten Produktionsprozessen im Ansatz negiert643. Schampel kann die These nicht akzeptieren, dass im Verhältnis zwischen Arbeitsprodukten, in welches sie von Menschen als Privatproduzenten gesetzt werden, diese Sachen eine Bedeutung/ Geltung erhalten, die nicht mit einer auf menschliche Sprache bezogenen Semantik, sondern nur mit Hilfe einer objektiven, der .Warensprache', wie Marx es metaphorisch (!) nennt, adäquaten Bedeutungstheorie entschlüsselt werden können. Da im ersten Kapitel des Kapital nichtintendierte Struktureffekte unbewusster und gegenständlich vermittelter Vergesellschaftung thematisiert werden, Bedeutungsgehalte, die in den intentionalen Akten der Akteure und ihrem sprachlichen Bezugssystem nicht aufgehen, muss Marx auf einen sich in einem Sachenverhältnis abspielenden und sich in Sachen ausdrückenden Konstitutionsprozess rekurrieren und feststellen: „Aber Waaren sind Sachen. Was sie sind, müssen sie sachlich sein oder in ihren eignen sachlichen Beziehungen zeigen"644. Das bedeutet nicht, dass Marx soziale, relationale Eigenschaften zu ,einstelligen' Sacheigenschaften verdinglicht645 oder er behaupten würde, soziale Beziehungen entstünden ohne das bewusste, regelgeleitete Handeln der Akteure und seien im Zuge einer physikalischen Beobachtungssprache formulierbar. Wie Dieter Wolf es ausdrückt, machen sich im bewusstseinsvermittelten Kontakt der Menschen „die ihnen unbewussten Bedingungen der Entste-

641

Vgl. ebd., S. 97. Hier liege letztlich eine dualistische, „bewußtseinstheoretische Erklärung des Zusammenhangs von Ware und Gesellschaft" (ebd., S. 98) vor: Die Eigenschaften der Waren würden nämlich demnach im Bewusstsein abgebildet und nicht konstituiert.

642

Kittsteiner 1998, S. 174. Vgl. Wolf 2004, S. 136: „Zielt die bewusste Verabredung gar auf das gemeinschaftliche Herstellen eines bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhangs, wobei es um die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit geht, dann hätten die Beteiligten Einsichten in die gesellschaftliche Organisation der Arbeit und würden alles andere tun, als sich um einen Austausch der Arbeitsprodukte bemühen, um für die gesellschaftliche Anerkennung der einzelnen konkret nützlichen Arbeiten zu sorgen".

643

644 645

MEGA II/5, S. 30. Vgl. dazu die Bemerkungen zu Böhler weiter unten.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

hung des Gesellschaftlich-Allgemeinen geltend"646. Schampel kann sich letztlich nur einen unvermittelten Bezug im Austausch in dem Sinne vorstellen, dass ein direktes Verhältnis von Menschen ohne eine mediatisierende Funktion von Sachen stattfindet, oder in dem mystischen Sinne, dass die Sachen selbst ein - ohne die ,Dazwischenkunft' menschlicher Handlungen - unmittelbares Verhältnis zueinander eingehen. Daher muss er den Fetischcharakter der Waren als fingiert ansehen und ist zur Feststellung des „Fetischcharakterfs] der Warentheorie"647 genötigt. Hier rächen sich die von Wolfgang Fritz Haug treffend formulierten blinden Flecken im Denken Wittgensteins: „Wo Wittgenstein die Reflexion auf die epistemischen Fallen der Sprache lenkt, kennt Marx die Reflexion auf die epistemischen Fallen der Sache im Spiegel ihrer Ausdrucksform, also des von ihr bedingten Sprachgebrauchs". Unklar bleibe auch, wie .trügerische' Sprachcharaktere anders rational begriffen werden könnten, „denn auf dem Boden einer Analyse der trügerischen Sachcharaktere"648. Ansätze zu einer solchen, mit einem für die Marxsche Gegenstandsproblematik sensibilisierten Blick vorgenommenen, materialistischen Erdung Wittgensteins finden sich auch bei Jürgen Ritsert, dem es vornehmlich um die Frage geht, inwiefern es emergente Eigenschaften gibt, die nicht auf Ideen oder sprachliche Symbolsysteme reduziert werden können und der darauf hinweist, dass das Verhältnis der Begriffe Sprache, Sprachspiel und Lebensform bei Wittgenstein ungeklärt ist649. Weder bei Haug noch bei Ritsert finden sich allerdings detailliertere Aussagen hinsichtlich der Auffassung ökonomischer Gegenständlichkeit, weshalb beide Positionen hier nicht weiter berücksichtigt werden. Auch wenn im Vorangegangenen der Versuch einer sprach- und handlungstheoretischen Konzeption ökonomischer Gegenständlichkeit von mir sehr kritisch eingeschätzt wurde, so muss es doch als bedauerlich angesehen werden, dass solche Konzeptionen im Rahmen des marxistischen Diskurses bloßes Postulat geblieben sind und ihre Intuitionen nicht zu einer konkurrierenden und damit detaillierter kritisierbaren Theorie ausformuliert wurden. Dies gilt sowohl für die an Wittgenstein (,Nr. 2') orientierten Substantialismus- und Naturalismus-Kritiken, als auch für gänzlich anders fundierte, wie die von Cornelius Castoriadis. Ein durchaus in der handlungstheoretischen Tradition situierter, wenn auch vornehmlich mit hegelianischen Termini arbeitender Ansatz, wird im folgenden Kapitel mit Helmut Reichelts Geltungstheorie noch näher erörtert werden. Martin Böhler präzisiert und revidiert in seinem Rückblick über die analytische MarxRezeption vor allem einige Argumente Nanningas. Nicht die logische Stringenz des Manischen Schlusses auf das den Tausch ermöglichende Dritte könne bezweifelt werden650, sondern die inhaltliche Plausibilität der Prämissen. Derer identifiziert er zwei: 1) Der Warentausch ist eine Form der Gleichsetzung von Waren. 2) Das Gleichheitsverhältnis ist vom 646 647 648 649

650

Wolf 2004, S. 86. Schampel 1982, S. 81 (Hervorhebung von mir, I.E.).. Zitate der Reihenfolge nach: W.F. Haug 1996, S. 92, 94. Vgl. Ritsert 1988, S. 38, 69-92. Ritsert identifiziert drei mögliche Lesarten ihres Verhältnisses: Die der Identität von Sprachspiel und Lebensform (S. 83), die des Schnittmengenverhältnisses von Sprache und Lebensform (S. 85) sowie die einer Begründungsfimktion von Lebensformen für Sprachspiele (S. 86). Vgl. Böhler 1989, S. 248.

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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Typ einer ,,exteme[n] Relation", der zufolge Gleichheit zwischen zwei Gegenständen dann besteht, wenn sie in mindestens einer Eigenschaft übereinstimmen, die ihnen unabhängig von ihrer Beziehung aufeinander zukommt. Diese Prämisse werde von der analytischen Kritik verworfen. Böhler zitiert nun drei Passagen aus dem ersten Kapitel des Kapital, bzw. der Marxschen Bailey-Kritik in den Theorien über den Mehrwert, die belegen sollen, dass Marx mit dem Wert bzw. der abstrakten Arbeit als gemeinsamem Dritten, aufgrund dessen sich Waren überhaupt vergleichen können sollen, eine objekttheoretische Vorentscheidung getroffen habe, die Eigenschaften von Gegenständen mit diesen auf eine „ontologisch gleichursprünglich[e]" Stufe stelle und die Relationen von Objekten als sekundäre Phänomene begreife: „Diese Auffassung von Verhältnis impliziert ein ontologisches Primat von Einzeldingen und ihren Eigenschaften vor den Beziehungen und Verhältnissen, in denen diese stehen und in denen sich ihre Eigenschaften nur .betätigen'". Dies wiederum, so Böhler im Anschluss an Ernst-Michael Lange, entspreche einer klassischen Logikkonzeption, in der Eigenschaftsausdrücke, also Prädikate, den logischen „Vorzug [...] vor Relationsausdrücken genießen" 651 . „Der Wert", so Lange, „als Eigenschaft muß der Relation Tauschwert zugrunde liegen, weil Relationen einer Subjekt-Prädikat-Logik nicht als primitiv [gemeint ist hier wohl: .ursprünglich'] gelten" 652 . Zwei dieser von Böhler angeführten Beispiele von Marx sind tatsächlich als substantialistisch im oben genannten Sinne aufzufassen: Messen der Schwere 653 (nach Böhler tatsächlich eine externe Relation, die ihren Relata äußerlich ist) und Kraft eines Dinges 654 . Schließlich

651

Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 249, 250, 250. Lange 1978, S. 17 (Fn.) (zitiert in Böhler, ebd.). Bei Lange heißt es weiter, Marx arbeite mit der „ontologischen These des Vorrangs von Einzelnem" (Lange 1978, S. 16 (Fn.)) und unterstelle, „Subjekte seien irgendwie wirklicher als ihre Verhältnisse zueinander" (ebd., S. 17). 653 „Dies veranschauliche uns das Beispiel eines Maßes, welches den Warenkörpern als Warenkörpern zukommt, d.h. als Gebrauchswerten. Ein Zuckerhut, weil Körper, ist schwer und hat daher Gewicht, aber man kann keinem Zuckerhut sein Gewicht ansehn oder anfühlen. Wir nehmen nun verschiedne Stücke Eisen, deren Gewicht vorher bestimmt ist. Die Körperform des Eisens, fiir sich betrachtet. Ist ebensowenig Erscheinungsform der Schwere als die des Zuckerhuts. Dennoch, um den Zuckerhut als Schwere auszudrücken, setzen wir ihn in ein Gewichtsverhältnis zum Eisen. In diesem Verhältnis gilt das Eisen als ein Körper, der nichts darstellt außer Schwere. Eisenquanta dienen daher zum Gewichtsmaß des Zuckers und repräsentieren dem Zuckerkörper gegenüber bloße Schwergestalt, Erscheinungsform von Schwere. Diese Rolle spielt das Eisen nur innerhalb dieses Verhältnisses, worin der Zucker oder irgendein anderer Körper, dessen Gewicht gefunden werden soll, zu ihm tritt. Wären beide Dinge nicht schwer, so könnten sie nicht in dieses Verhältnis treten und das eine daher nicht zum Ausdruck der Schwere des andren dienen Werfen wir beide auf die Waagschale, so sehn wir in der Tat, daß sie als Schwere dasselbe, und daher in bestimmter Proportion auch von demselben Gewicht sind. Wie der Eisenkörper als Gewichtsmaß dem Zuckerhut gegenüber nur Schwere, so vertritt in unsrem Wertausdruck der Rockkörper der Leinwand gegenüber nur Wert" (MEW 23, S. 71) (MEGA II/6, S. 89). 652

654

„Die Kraft eines Dinges ist [...] etwas dem Dinge Innewohnendes, wenn auch diese innere Eigenschaft sich nur in Relation zu anderen Dingen offenbaren mag. So ist z.B. die Kraft der Anziehung eine Kraft dieses Dinges selbst, obwohl diese Kraft .latent' bleibt, solange kein Ding da ist, das angezogen werden könnte" (MEW 26.3, S. 138) (MEGA II/3.4, S. 1327) (zitiert in Böhler 1989, S. 249).

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

äußere sich Marx auch zu seiner generellen Auffassung von möglichen Relationstypen, in dem er behaupte, dass „Eigenschaften eines Dings nicht aus seinem Verhältnis zu andern Dingen entspringen, sich vielmehr in solchem Verhältnis nur betätigen"655. Nach dieser Lektüre müsse es als ausgemacht gelten, dass Marx damit den Wert substantialistisch als Eigenschaft begriffen habe, „die den Waren unabhängig von dem Akt des Tauschens selbst zukommt. Er ist eine absolute Größe, keine relative, die dem Austausch entspringt"656. Doch im Gegensatz zu Böhlers Ansicht657, muss die Gültigkeit der letzten Aussage für Marx' generelles Verständnis von Relationen entschieden zurückgewiesen werden. Man beachte nämlich den Kontext, in dem diese Aussage fällt und der sie gerade als fetischistische Auffassung kritisiert: Der Passus ist Teil der Darstellung der ersten Eigentümlichkeit der Äquivalentform (Wert von Ware A stellt sich im Gebrauchswert von Ware Β dar) und lautet im Zusammenhang:„Da aber Eigenschaften eines Dings nicht aus seinem Verhältnis zu andern Dingen entspringen, sich vielmehr in solchem Verhältnis nur betätigen, scheint auch der Rock seine Äquivalentform, seine Eigenschaft unmittelbarer Austauschbarkeit, ebensosehr von Natur zu besitzen wie seine Eigenschaft, schwer zu sein oder warm zu halten"658. Marx spricht mit den „Eigenschaften eines Dings" tatsächlich nur stoffliche Eigenschaften an659 und unterscheidet sie gerade von den sozialen, relationalen Eigenschaften, die ein Ding als Ware im Wertverhältnis annimmt. Den Unterschied zwischen stofflich-essentieller und sozial-relationaler Eigenschaft nicht zu sehen, ist ihm zufolge gerade das, was „den bürgerlich rohen Blick des politischen Ökonomen"660 ausmacht. Die Eigenschaften der Waren als relative Wertform und Äquivalentform kommen ihnen Marx zufolge lediglich innerhalb dieses Bezugs aufeinander zu661, sind also Reflexionsbestimmungen. Dasselbe gilt nun aber auch, wenn man Marx' Aussagen in den Ergänzungen und Veränderungen folgt, für die Wertqualität der Waren selbst, die von ihm explizit als gemeinsame Eigenschaft bestimmt wird: „Außerhalb ihrer Beziehung auf einander - der Beziehung worin sie gleichgelten besitzen weder der Rock noch die Leinwand Werthgegenständlichkeit oder ihre Gegenständlichkeit als blosse Gallerten menschlicher Arbeit schlechthin. Diese gesellschaftliche Gegenständlichkeit besitzen sie auch nur als gesellschaftliche Beziehung, (in gesellschaftlicher Beziehung.) [...] Und nur durch dieß Verhältniß werden aus blossen Arbeitsprodukten, nützlichen Gebrauchsgegenständen - Waaren. Ein Arbeitsprodukt, für sich isolirt betrachtet, ist also nicht Werth, so wenig wie es Waare ist. Es wird nur Werth, in seiner Einheit mit and-

655 656 657

658 659

660 661

MEW 23, S. 72 (MEGA II/6, S. 89f.). Böhler 1989, S. 249. Allerdings bemüht bereits Nanninga diese Passage aus dem Kapital, um Marx ein „eigentümliches Verhältnis zu zweistelligen Prädikatoren" (Nanninga 1975, S. 119 (Fn.)) zu unterstellen. MEW 23, S. 72 (MEGA II/6, S. 89f.). Dies wird deutlicher in den Ergänzungen und Veränderungen. Statt von „Eigenschaften eines Dings" ist hier von der „Körpereigenschaft eines Dings" die Rede, die „nicht aus dem Verhältniß zu andren Dingen entspringt" (MEGA II/6, S. 19). MEW 23, S. 72 (MEGA II/6, S. 90). Die Äquivalentform „besteht ja gerade darin, daß ein Warenkörper, wie der Rock, dies Ding wie es geht und steht, Wert ausdrückt, also von Natur Wertform besitzt. Zwar gilt dies nur innerhalb des Weitverhältnisses, worin die Leinwandware auf die Rockware als Äquivalent bezogen ist" (ebd.). Vgl. auch die Illustrationen dieser Reflexionsbestimmungen in MEGA II/6, S. 18, 89 (Fn.).

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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rem Arbeitsprodukt, oder in dem Verhältniß, worin die verschiednen Arbeitsprodukte, als Krystalle derselben Einheit, der menschlichen Arbeit, einander gleichgesetzt sind"662. Mit Kirchhoff/ Reutlinger ist deshalb festzuhalten, dass für Marx „die Eigenschaften ökonomischer Objekte selbst nur als relationale Prädikate korrekt zu theoretisieren sind"663. Dagegen versteht Böhler die methodische Abstraktion ,der Ware' des Anfangs bzw. der .beiden Waren' des Anfangs offenbar als realistische Beschreibung. Er sieht nicht, dass Marx hier anhand der einzelnen Ware, bzw. des Verhältnisses zweier Waren, das betrachtet, was diese Waren nur im und durch den systematischen, gesamtgesellschaftlichen Austausch darstellen: gleichwertige Waren. Auch das realistische oder isolierende Missverständnis scheint Marx in den Ergänzungen' antizipiert zu haben: „Sage ich, dieses Arbeitsprodukt ist Werth, weil menschliche Arbeit in ihm verausgabt ist, so ist das blosse Subsumtion des Arbeitsprodukts unter den Werthbegriff. Es ist ein abstrakter Ausdruck, der mehr einschließt, als er sagt [...] Das Verhältniß zu andren Arbeitsprodukten ist also unterstellt"664. Böhler zufolge gibt es nun aber auch Messvorgänge, die interne Relationen darstellen (Temperaturmessungen z.B.), d.h. solche, in der „die Eigenschaft hinsichtlich derer die Relation besteht, von der Relation selbst beeinflußt wird". Bei Marx' Beweisführung handle es sich somit „um einen Schluß aus einer unzureichenden Prämissenmenge". Die von Nanninga gegebene Definition der Tauschwertgleichheit der Waren bewege sich dagegen auf dem Terrain der modernen Logik im Anschluss an Frege und Lorenzen und überwinde die ,,gegenstandsorientiert[e]" Position, die keine Gleichursprünglichkeit einstelliger (Eigenschaften) und mehrstelliger Prädikatoren (Relationen) zulasse. Folglich ließen sich die Bedingungen einer Äquivalenzrelation (Symmetrie, Reflexivität, Transitivität) durch die der Komparativität ersetzen: „Sind zwei Dinge einem dritten gleich, dann sind sie auch untereinander gleich"665, weshalb das von Marx gesuchte tertium comparationis nur eine dritte Ware, das Geld, sein könne, was er auch bestätige666. Im Anschluss an Ulrich Krauses Überlegungen zur Logik der Wertform behauptet Böhler nun, dass dies „gegen Marx"667 bedeute, dass man von einem isoliert betrachteten Tausch zweier Waren niemals sagen könne, es handle sich um einen Äquivalententausch, da sich, so Krause, die Äquivalenzrelation „nicht auf einen einzelnen Tauschakt, sondern auf die gesamte Tauschstruktur [bezieht] [...] Von einem einzelnen Tauschakt kann nur als äquivalentem Tausch gesprochen werden, insofern

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664 665 666 667

MEGA II/6, S. 30f. Dieser Text erscheint 1987. Er hätte Böhler also bekannt sein können. Doch selbst das Kapital der MEW-Ausgabe widerlegt, wie gezeigt, Böhlers These. Kirchhoff/ Reutlinger 2006, S. 216. Der Gebrauchswert, den Marx ja zunächst nicht als ökonomische Kategorie behandelt, ist zwar auch eine Relation (die Nützlichkeit von Gegenständen für Menschen), aber erstens ist diese Nützlichkeit nicht ohne objektive Eigenschaften dieser Gegenstände zu denken (Marx' Rede vom ,NaturstofF) und zweitens ist es nicht von bestimmten sozialen Verhältnissen abhängig, daß es überhaupt Gebrauchswerte gibt. In die Werteigenschaft hingegen geht M i n Atom Naturstoff' (MEW 23, S. 62 (MEGA II/6, S. 80) (Hervorhebung von mir, I.E.)) ein und sie stellt gerade eine historisch-spezifische soziale Relation dar. MEGA II/6, S. 32. Zitate der Reihenfolge nach: Böhler 1989, S. 251,252, 253, 255. Vgl. MEW 23, S. 103 (MEGA II/5, S. 55). Böhler 1989, S. 255.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

dieser ein Akt in einer Struktur äquivalenten Tauschs ist"668. Marx handele sich, so weiter Böhler, also ein Scheinproblem ein, wenn er den isolierten, prämonetären Tauschakt zwischen Eisen und Weizen an den Anfang seiner Darstellung setze und versuche, die Ermöglichungsbedingung ihrer Gleichsetzung zu ermitteln. Dies führe ihn zur Annahme der unnötigen und überdies essentialistisch konnotierten Entität ,Wert' als gemeinsames Drittes. Doch wird hier nicht der Wert vorschnell und ohne Bewusstsein des Problems der Erklärung des Geldes dem Ockhamschen Rasiermesser geopfert? Wird hier nicht genau das von Marx behauptet, was der Traditionsmarxismus immer unterstellt hat, nämlich dass Marx das Äquivalenzprinzip anhand eines realistisch verstandenen Produktentauschs erläutere? Wird hier überhaupt zwischen theoretisch gedachtem und wirklichem Bezug der Waren aufeinander unterschieden? Wird schließlich nicht quasi-aristotelisch behauptet, es sei das Geld, das die Waren kommensurabel mache und so die empirische mit der logischen Vorausgesetztheit des Geldes verwechselt? Doch Böhler will offenbar nicht den Wertbegriff als solchen opfern, sondern nur seine Deutung als ,,abstrakte[...] Entität"669, die mit einer essentialistischen Deutung und einer Hypostasierung von Abstraktionen einhergehe670. Gemäß der Gleichheits- und Abstraktionstheorie, die Nanninga im Anschluss an Lorenzen einführt, sei ,Wert' eine Redeweise über konkrete Gegenstände und keine real existierende Abstraktion: Man könne daher von Wertgleichheit zweier Waren reden, „wenn sie genau dieselbe Tauschwertreihe erfüllen, genau dieselben Quanta anderer Waren eintauschen, und d.h. nichts anderes, als daß sie genau dieselben Aussagen über den Tauschzusammenhang erfüllen"671. Da der Wert im analytischen Paradigma invariante Aussagen über bestimmte Warenmengen hinsichtlich ihrer Bedeutung in der Tauschrelation bezeichne (vgl. die Transitivität von χ Ware A, y Ware Β und ζ Ware C), sei nun auch die Marxsche Unterscheidung von absolutem und relativem Wert, bzw. Wert und seinen relativen Ausdrücken in verschiedenen Warenmengen in dieser Perspektive sinnvoll aufrecht zu erhalten672.

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Krause 1979, S. 26 (zitiert in Böhler 1989, S. 255). Böhler 1989, S. 257. Vgl. auch die Ablehnung des Begriffes Realabstraktion in Nanninga 1979, S. 453. Böhler 1989, S. 259. Vgl. ebd., S. 259f.

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1.3.2. Wertformanalyse und Geld Zur Debatte über Popularisierungen, Brüche und Versteckspiele in der Marxschen Darstellung Eine neue Marx-Lektüre hat also seit Ende der 1960'er Jahre sukzessive darüber aufgeklärt, dass das Hauptwerk des sog. wissenschaftlichen Sozialismus' seinen Kritikern wie seinen Anhängern lange Zeit ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist. Insbesondere die ersten Kapitel des Kapital wurden im empiristischen kategorialen Rahmen von Nationalökonomie und Marxismus gleichermaßen zum Anlass eines „fundamentalen Irrtumfs]"1 - der inzwischen sprichwörtlichen Verwandlung der Kritik der politischen Ökonomie in eine alternative Volkswirtschaftslehre. Doch auch die neue Lesart der Ökonomiekritik, wenn sie sich nicht gerade in eine für die Fehler der Vergangenheit verständnislose Neo-Orthodoxie verwandelte2, fragte sich bald, ob nicht auch Marx selbst solchen Irrtümern und Missverständnissen Vorschub geleistet habe, ja vielleicht gar selbst solchen aufgesessen sei. Dieser Frage soll im Folgenden anhand der Debatte um die Einfügung der Geldform in den dritten Abschnitt des ersten Kapitels der 2. Auflage des ersten Kapital - Bandes (1872/73), bzw. bereits als IV. Wertform in den Anhang der Erstauflage (1867) nachgegangen werden. Sie ist als Diskussion um den Gegenstand der ersten beiden Kapitel des Kapital sowie um die Frage einer unzulässigen Popularisierung3 der Darstellung dieses Gegenstandes zu begreifen. Was zunächst als skurrile philologische Schrulle erscheint, berührt also den Kern des Gegenstands- und Methodenverständnisses der Kritik der politischen Ökonomie. Innerhalb der neuen Marx-Lektüre (also überhaupt) ist die Ersetzung der aporetischen Form IV durch die Geldform wahrscheinlich zuerst von der PEM (1973) kritisch thematisiert worden. Hans-Georg Backhaus (1978/79) und Winfried Schwarz (1987) (sowie die Antwort von Backhaus (1987)) nehmen sich der Problematik im Zusammenhang einer umfassenderen Diskussion um Popularisierungs- und Historisierungstendenzen in den verschiedenen Varianten der Wertform- und Geldanalyse an (Göhlers Arbeit zur Reduktion der Dialektik bei Marx von 1980 und die Kritik an seinen Thesen gehören ebenfalls teilweise in diesen Diskussionsrahmen). Schließlich wird das Thema in jüngster Zeit ausgehend von Heinrichs These eines Bruchs in der dialektischen Darstellung (1991/99), von Rakowitz (2000) und Wolf (2004) sowie im Kontext der Auseinandersetzung mit historisierenden Lesarten von Heinrich (2004) diskutiert. I. Die Redundanz-These der, logisch-historischen' Orthodoxie Am Anfang steht jedoch das Schweigen, bzw. eine umständlich überspielte Ratlosigkeit im traditionsmarxistisch, ,logisch-historischen' Lager. Innerhalb dieses Deutungshorizonts kann von einer m.o.w. impliziten Redundanz-Annahme hinsichtlich des Gegenstands des 2.

1 2 3

Backhaus 1997c, S. 69. Vgl. zu dieser kritisch: Backhaus 1997e, S. 138, 158f., 221. Popularisierung der Methode meint in diesem Kontext „den Verzicht auf eine systematische Ausarbeitung werttheoretischer und methodologischer Grundgedanken" (Hoff 2004, S. 24).

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Kapitels ausgegangen werden. In der fur den methodologischen Traditionalismus paradigmatischen4 Untersuchung Jindrich Zelenys von 1962/67 bemüht dieser sich zwar, die für die Annahme einer logisch-historischen Methode bei Marx irritierenden Aussagen aus den Grundrissen zu berücksichtigen. So konzediert er, dass es im Kapital Korrespondenzen, aber auch Inkongruenzen zwischen theoretischer und historischer Abfolge der Kategorien gebe5. Letztlich reproduziert er aber die Engelssche Position, derzufolge es zwar einen Unterschied zwischen logischer und historischer Betrachtung gibt, die logische aber wiederum nichts anderes darstellt als den idealen Ausdruck des historischen Werdens eines Gegenstands6. Diese qualitative Ununterscheidbarkeit beider Darstellungsweisen hat fundamentale Konsequenzen für die Deutung der ersten beiden Kapitel: Die Wertformanalyse des ersten wird als „dialektisch-logischef...] notwendige[...] Ableitung" der Geldform, d.h. als „idealer Ausdruck" ihrer historischen Genese begriffen. Hier werde „von zahlreichen Faktoren und Umständen abstrahiert, die bei der Realisierung der erforschten Formen in der wirklichen Geschichte eine Rolle gespielt haben" und damit der innere Zusammenhang einer historischen Kausalkette sozusagen in begrifflicher Reinform erfasst - die „Essenz des historischen Prozesses"7. Dagegen scheint Zeleny zunächst einen ganz anderen Weg einzuschlagen: Die Übergänge und Mängel der jeweiligen Wertformen im ersten Kapitel beziehen sich danach auf das „Wesenf...] der Wertform". Zeleny konstatiert, dass der WertbegrifF als Maßstab für die logische Ableitung der Wertformen bis hin zur allgemeinen Äquivalentform dient. Er zitiert sogar (wie bereits M.M. Rosental) die Formulierung Marx' über den Widerspruch zwischen der Allgemeinheit des Werts und der Partikularität seiner Erscheinungsformen als Motor der Darstellung in der Wertformanalyse aus einem Brief an Engels vom 2.4.18588 oder die Feststellung aus der Erstauflage, dass die Wertform aus dem Wertbegriff entspringt9. Das Aufeinanderfolgen der Kategorien in der Wertformanalyse setzt nach Zeleny, um als notwendig begriffen zu werden, einen Begriff von der „ontologischen Struktur"10 des Werts (und seiner Substanz) voraus. Derselbe Vorgang11 wird nun aber, so Zeleny, von Marx durch Rekurs auf historische Vorgänge und die Praxis von Warenbesitzern im Austauschprozess ,geerdet' und damit die idealistische Struktur der Darstellung' zurückgenommen12. Rückbezüglich lassen sich nun die Mängel der einfachen und entfalteten Wertform als reale Probleme vorkapitalistischen und prämonetären Austausche dechiffrieren13. Zeleny weist auch - zum Beleg seiner historizistischen Lesart des ersten Kapitels - auf Veränderungen im zweiten Kapitel der Zweitauflage hin: Hier wird die Veränderung eines Sat-

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5 6 7 8 9 10 11 12 13

Letztlich stellen z.B. die Positionen von Holzkamp (1974) und Haug (2004), um nur zwei der prominentesten Vertreter eines historizistischen Methodenkonzepts in der bundesrepublikanischen Debatte zu erwähnen, kaum mehr als Paraphrasierungen des Textes von Zeleny dar. Vgl. Zeleny 1973, S. 66. Vgl. ebd., S. 81. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 81, 81, 83. Vgl. MEW 29, S. 315 (MEGA III/9, S. 123) (zitiert in Zeleny 1973, S. 84). Vgl. MEGA II/5, S. 43. (zitiert in Zeleny 1973, S. 89). Zeleny 1973, S. 89. Vgl. ebd., S. 84f. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 90.

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zes aus der Erstauflage deutlich, der mit dem „immanentefn] Widerspruch der Ware" argumentiert, der nicht „ruht und rastet", bis er zur Verdopplung in Ware und Geld fortgeschritten sei14. In der Zweitauflage spricht Marx an dieser Stelle plötzlich von der „historische[n] Ausweitung und Vertiefung des Austausches" und einem mysteriösen „Bedürfnis", den Gegensatz der Bestimmungen der Ware äußerlich darzustellen15. Nicht zufällig ist dieser Passus einer der Hauptanknüpfungspunkte fur historisierende Deutungen der ersten beiden Kapitel geworden16. Der Unterschied zwischen ,dialektisch logischer' und .historischer' Darstellung ist also bei Zeleny nur als quantitativer, die „Anzahl der Abstraktionen"17 betreffender, bestimmbar. Während das erste Kapitel als „idealer Ausdruck" der Historie verstanden wird, soll nun das zweite die „von der Zufälligkeit befreite Ausdrucksform" derselben sein, aber - und dies mache die Differenz zum ersten aus - ein ,glicht von allen Zufälligkeiten befreiter Ausdruck"18. Ein qualitativer Unterschied zwischen Wertformanalyse und Betrachtung des Austauschprozesses besteht damit nicht. Letztere zeichnet sich nur als hermeneutischer Schlüssel zum ,ent-idealisierenden' und empirisierenden Verständnis der ersteren sowie als höherer, quasi-illustrativer Grad der Annäherung an die Komplexität und Kontingenz historischer Prozesse aus. Die Einfügung der Geldform in das erste Kapitel der Zweitauflage muss damit nicht mehr eigens problematisiert werden. Dabei stellt sie - neben der o.g. Veränderung im 2. Kapitel - eine zentrale Evidenz für Zelenys Lesart zur Verfügung. Dieser ebnet aber nicht nur die Differenz zwischen logischer und historischer Darstellung sowie zwischen erstem und zweitem Kapitel historizistisch ein, er verkennt damit auch notwendig den darstellungslogischen Status des zweiten Kapitels19. II. Die Klärung des Verhältnisses der ersten beiden Kapitel - Popularisierung, Bruch, Historisierung? Dies wird deutlicher, wenn wir uns in das Paradigma der neuen Marx-Lektüre hineinbegeben. Die Einfügung der Geldform in die Wertformanalyse wird wahrscheinlich zuerst von der Projektgruppe Entwicklung des Manschen Systems (PEM) im Jahr 1973 explizit thematisiert und hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Darstellungsgang des Kapitals interpretiert. Die PEM um Joachim Bischoff u.a. geht konsequent von einer logischen Methode im Kapital aus. Gegenstandsbezogen heißt dies, dass der Anfang der Kritik der politischen Ökonomie weder eine vorkapitalistische Ware und deren vermeintlich einfachen, geldlosen Tausch noch eine empirische, und d.h. preisbestimmte Ware (die das Geld immer schon

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MEGA II/5, S. 54. MEW 23, S. 102 (MEGA II/6, S. 116): „Die historische Ausweitung und Vertiefiing des Austausches entwickelt den in der Warennatur schlummernden Gegensatz von Gebrauchswert und Wert. Das Bedürfnis, diesen Gegensatz für den Verkehr äußerlich darzustellen, treibt zu einer selbständigen Form des Warenwerts und ruht und rastet nicht, bis sie endgültig erzielt ist durch die Verdopplung der Ware in Ware und Geld". Vgl. auch Haug 1989, S. 148f. PEM 1973, S. 177. Zeleny 1973, S. 81 (Fn.). Vgl. PEM 1973, S. 177.

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voraussetzt), behandelt. Die wechselseitige Voraussetzung von preisbestimmter Ware und Geld, den Schein der Ware-Geld-Beziehung als „einfaches Verhältnis von selbstverständlich existierenden Gegenständen"20, gilt es demnach für Marx zu durchbrechen mittels eines abstrahierenden Rückgangs von der erscheinenden Preis-/ Geldform auf die einfache Wertform als das „,Αη-sich des Geldes'" 21 . Dabei werden erstmals Marx' Hinweise auf den Abstraktionsgrad der ersten beiden Kapitel aufgenommen: Während der Gegenstand des ersten eine „theoretische, gedachte"22 Beziehung der Waren aufeinander sei, werde die naturwüchsige Entstehung des Geldes aus dem Handeln der Warenbesitzer, durch die .wirkliche', praktische Beziehung der Waren aufeinander im zweiten Kapitel betrachtet23 (warum die Abstraktionen in Kapitel 1 notwenig sind, wird aber nicht ausfuhrlich begründet). Während Marx in Zur Kritik den theoretischen Bezug der Waren aufeinander mit der entfalteten Wertform enden lasse, die Notwendigkeit eines allgemeinen Äquivalents aus dem Austauschprozess heraus begründe24, womit er „zwei Darstellungsebenen ineinanderschieb[e]"25 und sich damit noch nicht vollends von der Geldherleitung als ,pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel' abgrenzen könne26, würden die Abstraktionsebenen in der Erstauflage des Kapital zunächst klar voneinander geschieden. Die aporetische Form IV der ,theoretisch-analytischen' Untersuchung der Verdopplung der Ware spielt dabei, so die PEM, eine entscheidende Rolle. Sie drücke aus, dass auf der Ebene der begrifflichen Ableitung des ersten Kapitels nur die Notwendigkeit der allgemeinen Äquivalentform (alle Waren müssen ihren Wert in irgendeiner als Äquivalentform dienenden Ware und damit erst gesellschaftlich gültig ausdrücken), nicht aber die Wirklichkeit der Geldform (die Funktion der allgemeinen Äquivalentform verwächst mit der Naturalform einer bestimmten Ware) erklärt werden könne: „Die ,IV. Werthform' unterscheidet sich also [...] dadurch von der III. Form, dass die allseitige Beziehung der Waren auf eine Äquivalentware sich verfestigen muss"27. Auf der begrifflichen Ebene lasse sich aber nur feststellen, dass überhaupt eine Ware als allgemeines Äquivalent dienen müsse, nicht aber welche dies sei und wie dies geschehe. Die Wertformanalyse ende also mit der Konsequenz, dass hier noch jeder Ware „die Möglichkeit des Ausgeschlossenwer20 21 22 23 24 25 26

27

PEM 1973, S. 39. Ebd., S. 36; vgl. auch S. 119. MEW 13, S. 29 (MEGA II/2, S. 121). Vgl. PEM 1973, S. 36, 111, 114. Vgl. MEW 13, S. 32 (MEGA II/2, S. 123f.). PEM 1973, S. 117. Noch deutlicher zeige sich dies in den Grundrissen, wo Marx den Begriff der ideellen Verdopplung der Ware (vgl. MEW 42, S. 77f. (MEGA II/1.1, S. 77)) noch realistisch missverstehe: „Er vermengt seine theoretische Reflexion, in der er die im Resultat verschwundenen Vermittlungsprozesse analysiert, mit der Reflexion, die in den Köpfen der agierenden Individuen vorgeht und dadurch erscheint das Geld eben doch als deren Reflexionsprodukt" (PEM 1973, S. 39). Fred Schräder bearbeitet ebenfalls diesen frühen Marxschen Ansatz (vgl. Schräder 1980, S. 114ff.), enthält sich aber merkwürdigerweise jeden kritischen Kommentars dazu und affirmiert ihn vielmehr als Marx' vermeintliche Entdeckung, „ohne die intellektuelle Leistung, von allen besonderen Produkteigenschaften zu abstrahieren und ihr eine ideelle Verkörperung zu geben" sei Austausch „gar nicht möglich" (ebd., S. 116). Dies korrespondiert mit Schräders These, Marx habe in den Grundrissen an die pragmatische Theorie der Geldentstehung von Storch angeknüpft (vgl. ebd., S. 131,134). PEM 1973, S. 160.

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dens"28 zukomme. Bereits im Anhang „Die Werthform" zur Erstauflage werde nun diese Form, die den notwendigen Übergang zu einer anderen Abstraktionsstufe, zur ,wirklichen' Beziehung der Waren aufeinander, anzeige29 - was durch den letzten Satz des ersten Kapitels der Erstauflage bekräftigt werde30 - durch die Form IV bzw. D) Geld ersetzt. Der PEM zufolge legt dies das „verbreitetet·..] Missverständnis"31 nahe, Marx habe damit das Geld bereits im Rahmen der Wertformanalyse ableiten wollen. Dies sei aber weder möglich noch Marx' Intention gewesen, wie eine Briefstelle vom 27.6.1867 an Engels beweise: „nur des Zusammenhangs wegen"32 sei hier vom Geld die Rede. Bereits die PEM weist also darauf hin, dass die logische Stringenz der Ableitung, zumindest aber die trennscharfe Abgrenzung der Abstraktionsebenen und die Deutlichkeit der Übergänge zwischen ihnen, von Marx zugunsten einer popularisierenden Darstellung geopfert wurde. Diese - aus theoriepolitischen Gründen eher versteckte33 - Popularisierungsdiagnose wird nicht mit der Behauptung einer konzeptionellen Verwirrung bei Marx verbunden, ist aber m. E. von einem, wie Michael Heinrich meint34, bloß beiläufigen Hinweis auf den Problemkomplex der ,Einfügung' weit entfernt. Zudem wird bereits hier die Genese der Geldform im zweiten Kapitel klar als Element der logischen Darstellung der kontemporären Reproduktionsdynamik des Kapitalismus ausgewiesen. Der Prozess der wirklichen Verdopplung von Ware in Ware und Geld sei „alles andere als ein vergangenes historisches Faktum", vielmehr „beständig werdendes Resultat". Ohne den Abschnitt zum Austauschprozess „wäre die Ableitung des Geldes und damit der preisbestimmten Ware nicht geleistet"35. Im weiteren Verlauf der Diskussion werden nun aber Popularisierungs- und Historisierungsdiagnose enger miteinander verbunden. Zuvor bezieht sich aber die Marxistische Gruppe kritisch auf die PEM36. Mit einem für diesen Zirkel typischen hemdsärmeligen Hinweis darauf, dass „es sich bei der Warenanalyse um wirklich [sie!] Kategorien handelt"37 und nicht bloß um eine ,theoretische, gedachte Beziehung', wird die These der PEM, es benötige zwei Abstraktionsschritte zur Erklärung der Geldform, als fehlerhaft abgekanzelt. Obzwar sich die MG oberflächlich von der Re28

Ebd. Vgl. MEGA II/5, S. 43: „Die allgemeine Aequivalentform kommt immer nur einer Waare zu im Gegensatz zu allen andern Waaren; aber sie kommt jeder Waare im Gegensatz zu allen andern zu. Stellt aber jede Waare ihre eigne Naturalform allen andern Waaren gegenüber als allgemeine Aequivalentform, so schließen alle Waaren alle von der allgemeinen Aequivalentform aus und daher sich selbst von der gesellschaftlich gültigen Darstellung ihrer Werthgrößen".

29

Vgl. PEM 1973, S. 161. Vgl. ebd., S. 163. Ebd., S. 161. M E W 3 1 , S . 316. Von der Erkenntnis, dass die Trennung von Wertform- und Geldanalyse die „Einsicht in die logische Struktur des ersten und zweiten Kapitels" erleichtert (PEM 1973, S. 163), ist in einer Veröffentlichung des mit der PEM nahezu personalidentischen PKA 1974 nichts mehr zu spüren. Dort wird umgekehrt behauptet, die Umarbeitungen der Wertformanalyse nach der Erstauflage dienten lediglich der „Erleichterung des Verständnisses" (PKA 1974, S. 107).

30 3! 32 33

34 35 36 37

Vgl. Heinrich 1999, S. 226 (Fn.). Beide Zitate: PEM 1973, S. 177. MG 1974b, S. 77f (Fn.). Ebd., S. 78 (Fn.).

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dundanzthese der traditionellen Lesart abgrenzt38, unterstellt sie, dass die Wertformanalyse „zum Geld gefuhrt" habe, zum „gesellschaftlich gültig fixiertefn] allgemeinefn] Äquivalent", und im zweiten Kapitel eine „erneute ,Ableitung' des Geldes" stattfinde, „also auf anderer Ebene noch einmal dasselbe" herauskomme wie im ersten Kapitel. Diese Ableitung wird in Anführungsstriche gesetzt, weil es sich der MG zufolge bei der Betrachtung des Austauschprozesses lediglich um den Hinweis handelt, dass die Individuen Charaktermasken des versachlichten ökonomischen Zusammenhangs seien - ohne jede zusätzliche Information hinsichtlich der Gelderklärung. Wenn diese Einsicht, wie erwähnt wird, aber „schon im Warenfetisch als Charakteristikum des Kapitalismus erschlossen wurde", stellt sich nochmals die Frage nach dem Sinn des zweiten Kapitels. Die Antwort der MG erinnert doch ein wenig an Zeleny: Marx führe in Kapitel zwei „nun weiter aus"39, was er bereits im ersten Kapitel nachgewiesen habe. Hans-Georg Backhaus diagnostiziert in seinen Materialien III (1978) und IV (1978/79) eine „Historisierung der logischen Entwicklungsmethode" von Zur Kritik bis hin zur letzten Fassung der Werttheorie, dem „irreführenden Text"40 der Zweitauflage des Kapitals. Gegen die Eindeutigkeitsbehauptungen einer ,lutheranisch' auftretenden ,Neoorthodoxie' in der neuen Marx-Lektüre41 will er historizistische ,Kontaminationen' der Darstellungsweise der Ökonomiekritik aufspüren und der Frage nachgehen, inwieweit deren Häufung eine grundlegende Revision der methodischen Konzeption von Marx indiziert42. Hierbei entwickelt er die These von einer ,Pattsituation' zwischen den inkommensurablen logischen und historischen Elementen. Zwar gebe es eine Reihe von Anhaltspunkten, die zeigten, dass Marx auch in der zweiten Auflage noch an der logischen Konzeption festhalte43, dennoch seien die Popularisierungen qua Historisierungen letztlich nur durch eine konzeptionelle Unsicherheit Marxens zu erklären44. Auf verschiedenen Ebenen der ersten beiden Kapitel sowohl der Erst- als auch der Zweitauflage findet Backhaus nun verfälschende Historisierungen vor. Gemäß seiner Auffassung der Formanalyse als Kritik prämonetärer Werttheorie weist er zunächst auf einen Widerspruch zwischen dieser Darstellungsintention und praxeologischen (mit dem Handeln von Warenbesitzern argumentierenden)45 sowie empiristischen (mit der vorkapitalistischen Existenz einer empirischen entfalteten Wertform argumentierenden)46 Passagen des ersten Kapitels der Zweitauflage hin47. Dagegen zeige die aporetische Form IV

38 39 40 41 42 43 44 45

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47

Vgl. ebd., S. 78f. (Fn.) sowie S. 83 (Fn.). Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 77, 77 (Fn.), 8 3 , 7 7 , 77. Zitate der Reihenfolge nach: Backhaus 1997f, S. 230, 231. Vgl. Backhaus 1997e, S. 208. Vgl. Backhaus 1997f, S. 231. Vgl. ebd., S. 280-285. Vgl. Backhaus 1997e, S. 156. Vgl. MEW 23, S. 79 (MEGA II/6, S. 96): „Wenn ein Mann seine Leinwandware mit vielen andren Waren austauscht" usw. (zitiert in Backhaus 1997f, S. 286). Heinrich (2008, S. 103f.) weist auf eine weitere ,praxeologische' Kontamination im ersten Kapitel hin. Vgl. MEW 23, S. 80 (MEGA II/6, S. 97): „Diese Form kommt offenbar praktisch nur vor in den ersten Anfangen, wo Arbeitsprodukte durch zufälligen und gelegentlichen Austausch in Waren verwandelt werden" (zitiert in Backhaus 1997f, S. 286). Vgl. Backhaus 1997f, S. 286.

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der Erstauflage noch klar das Scheitern einer prämonetären Warenform und verdeutliche, dass der Gegenstand des ersten Kapitels eine Abstraktion, die noch nicht hinreichend bestimmte „Ware an sich"48 sei49, kein realer geldloser Austausch in vorkapitalistischen Zeiten oder eine wirkliche nicht-preisbestimmte Ware (eine solche wäre sogleich auf den Status des bloßen Produkts zurückgeworfen, wie Marx im 2. Kapitel zeige). Auch das zweite Kapitel ist demnach nicht die Betrachtung eines empirischen Austauschprozesses - das würde wiederum „Prähistorisches" vorspiegeln, wo es statt dessen um das Paradoxon des Austauschprozesses von ,Waren' [geht], die keine wirklichen Formen besitzen" 50 (was Marx mehrfach betone, denn nur, wenn sich alle Waren auf eine als allgemeines Äquivalent ausgeschlossene beziehen, können sie sich als Werte aufeinander beziehen 51 ). Gegenstand des zweiten Kapitels sind damit die yyDenkunmöglichkeiten des Austauschprozesses prämonetärer Waren"52. Backhaus arbeitet nun detailliert verschiedene Vulgarisierungen dieser Kritikabsicht hin zu einer ricardianischen Werttheorie qua Historisierung logischer Abschnitte heraus. Die - hier bereits im Zusammenhang mit Zeleny erwähnte Stelle im zweiten Kapitel der zweiten Auflage (,historische Ausweitung und Vertiefung' usw.) 53 bereite einer empiristischen Deutung des Begriffs Austauschprozess den Weg54. Doch schon die Zuordnung eines historischen Gehalts zum Begriff der allgemeinen Äquivalentform im zweiten Kapitel der ersten Auflage, „so dass mit demselben Begriff einmal das bloß in der , logischen Sekunde' existierende .Moment' dieser Form und zum andern eine selbständige historische Stufe bezeichnet wird" 55 , wird als grober Verstoß gegen die systematische Darstellungsabsicht gewertet. Backhaus' Hypothese besteht nun darin, dass Marx diesen Widerspruch zwischen dem logischen Status des Begriffs im ersten Kapitel der ersten Ausgabe und seiner Historisierung im zweiten Kapitel durch Einfügung der Geldform ins erste Kapitel der zweiten Auflage im historizistischen Sinne tilgen wollte56. Durch diese Einfügung kann nun demnach die rein begriffliche Abfolge .einfache - entfaltete - allgemeine Wertform' vollends als historische missverstanden werden. Das erste Kapitel erscheint nun „als ein abgeschlossenes Ganzes" 57 , das des zweiten eigentlich nicht mehr bedarf. Die Einfügung gilt ihm damit als letztliche Ursache fiir die isolierend-historisierende Rezeption von Kapitel 1 und die nahezu vollständige Nichtbeachtung von Kapitel 2 in der Orthodoxie. Durch die Einfuhrung der historischen Bestimmung des Geldes würden die Begriffe Ware, Wert, Wertform des ersten Kapitels, die nur ,an sich' oder ,fiir uns' wissenschaftliche Beobachter als analytisch gewonnene ,Gedankendinge' existieren, mit .gesetzten', empirischen

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MEW 16, S. 245. Vgl. Backhaus 1997f, S. 290. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 291, 292. Vgl. MEGA II/5, S. 39f. Ebd., S. 287; vgl. MEW 23, S. 101 (MEGA II/5, S. 53). Vgl. MEW 23, S. lOlf. (MEGA II/5, S. 53f.). Vgl. Backhaus 1997f, S. 293 f. Ebd., S. 294. Vgl. ebd. Backhaus 1987, S. 405.

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Bestimmungen verwechselt 58 . Auch Engels' - von Backhaus erstmals herausgearbeitete antihistorizistische Ansätze zur Methodologie des Kapitals59 aus dem Jahre 1868 würden nun durch die Überarbeitung der ersten Ausgabe zunichte gemacht und zugunsten seiner historizistischen Tendenz verschüttet 60 . Beweisziel der Formanalyse als einer logischen Konstitutions-, nicht historischen Tauschtheorie des Werts61 sei dagegen: Die Aufhebung des nationalökonomischen Standpunkts der fertigen Phänomene in der Gelderklärung (Empirismus, Funktionalismus und Zirkularität), die Ergründung der spezifischen Qualität ökonomischer Quantitäten durch Erklärung der systematischen Re-/ Produktion der empirischen Wertform (Geld) aus einer „nicht-valoren Struktur" 62 . Winfried Schwarz will Backhaus' These von der methodologischen Verfallsgeschichte der Varianten der Werttheorie und Marx' konzeptioneller Unsicherheit entgegentreten. Zunächst nimmt er aber Backhaus' Historisierungsthese auf: Während der Gegenstand der Wertformanalyse in der Erstauflage die .ideellen Wertformen' seien und das Ergebnis der Untersuchung das negative der paradoxen Form IV - der begrifflich nicht zur Geldform zu verfestigenden allgemeinen Äquivalentform - , werde statt dieser bereits im Anhang die inhaltlich entgegengesetzte, „historisch-gesellschaftlich verfestigte[...]" Geldform eingefügt. Das erste Kapitel spricht demnach klar die Grenzen der begrifflichen Ableitung (i.S. des bloß gedanklichen Bezuges der Waren aufeinander) aus und leitet explizit zum zweiten Kapitel als Analyse der Entstehung der ,,real-historische[n] Wertform" 63 Geld über. Hier wiederholt sich die Form IV-Paradoxie in der Anfangssituation des Austausche unter Einbeziehung der Warenbesitzer. Dabei wird erwiesen, dass keineswegs die praktischen Probleme eines vermeintlich geldlosen Tauschs, sondern die in der Wertformanalyse abstrakt entwickelten ,Gesetze der Warennatur' Grundlage der naturwüchsigen Geldkonstitution sind - , dass ein als notwendig Erwiesenes real hervorgebracht wird64. Damit ist der notwendige Zusammenhang von erstem und zweitem Kapitel, so Schwarz, als „.Einheit von Logischem und Historischem' bei der Gelderklärung" erwiesen - und zwar nicht, wie in der Orthodoxie noch eines Zeleny, im Sinne einer Historisierung des ersten Kapitels, sondern als notwendiges Nacheinander von „begrifflich-logischer Wertformanaly58

Vgl. ebd., S. 405f. Auch der analytische Marxist Ulrich Steinvorth macht etwa zur gleichen Zeit, in der Backhaus' Materialien III und IV entstanden sind, auf historisierende Effekte der Einfügung der Geldform aufmerksam: Da das Geld - im Gegensatz zum allgemeinen Äquivalent - keine logische Implikation der einfachen Wertform darstelle, sei dessen Einfügung in die Wertformanalyse als „Ableitung ,sui generis'" verstanden worden, „deren Gültigkeit nur durch Beziehung auf den historischen Prozeß zu retten sei" (Steinvorth 1977a, S. 58).

59

Vgl. Backhaus 1997f, S. 239, 287, 290. Vgl. Backhaus 1987, S. 414. Vgl. ebd., S. 412. Ebd. Beide Zitate: Schwarz 1987, S. 204. ,,[D]ass im Austauschprozess nur das praktisch wahr wird, was zuvor im Abschnitt ,Wertform' ideell analysiert wurde, dass nämlich der allgemeine Wertbezug der Waren untereinander nur indirekt über den Bezug auf den Gebrauchswert der ausgeschlossenen dritten Ware möglich ist. Wird der ideelle Wertbezug realer Wertbezug, wird das ideelle allgemeine Äquivalent zum realen - zu Geld" (ebd., S. 206). Das reale allgemeine Äquivalent ist also in eins immer schon Geld, lässt sich nicht wiederum einer historischen Epoche zuordnen.

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se und Betrachtung des real-historischen Austauschprozesses" 65 . Zwar trennt Schwarz damit klar zwischen den Abstraktionsebenen der ersten beiden Kapitel und kann auch die Notwendigkeit beider erfassen. Das Verständnis des zweiten wird aber durch die unterschiedslose Bezeichnung als ,real-historisches' eher erschwert. Die Frage ist nun, in welchem Zusammenhang dessen erster und zweiter Teil zueinander stehen. Das zweite Kapitel wird zwar nicht mehr als gegenüber dem ersten redundantes gedacht, ist aber dafür sozusagen intern redundant: Wenn schon Teil 1 ein ,real-historischer' ist, welchen Unterschied hat er dann gegenüber Teil 2, der historischen Illustration'? Die Antwort bleibt Schwarz schuldig66. Er meint nun, die Einfügung der Geldform verändere zwar nicht diese „dialektische Struktur der Geldentwicklung" 67 , nähre aber, soweit sei Backhaus recht zu geben, historizistische Fehldeutungen des ersten und die orthodoxe Ratlosigkeit über die Bestimmung der spezifischen Funktion des zweiten Kapitels. Sie sei also in der Tat als durchaus irreführende Popularisierung zu kennzeichnen. Schwarz weist sogar auf eine noch weitergehend popularisierte, weil vollends historisierte, Variante der .Wertform'analyse hin, die aus Marx' Feder stammt - das von Marx überarbeitete erste Kapitel Ware und Geld der populären Zusammenfassung des Kapitals durch Johann Most 68 . Hier ordnet Marx alias Most der einfachen, entfalteten und allgemeinen Wertform (die „der Sache (nicht dem Namen nach)" 69 aufgeführt werden) jeweils historisch unterschiedlich entwickelte Epochen des Tauschhandels zu. Jeder Hinweis auf eine begriffliche Entwicklung der Wertformen ist getilgt, sollen diese doch als „nach und nach aus und mit dem Productenaustausch" 70 entstehende beschrieben werden. Konsequenterweise sucht man auch Ausführungen zu den spezifischen Inhalten des zweiten Kapitels vergebens 71 . Trotz der endgültigen Aufsprengung der dialektischen' Konzeption der Gelderklärung 72 mit dieser Darstellungsweise sieht Schwarz deren „Haupterkenntnisziel", die Darlegung des ,inneren, notwendigen Zusammenhangs' zwischen Ware und Geld, nach wie vor gewahrt und dem Leser „klar vermittelt" 73 . Dies kritisiert Backhaus angesichts der prämonetären Wirkungsgeschichte solcher Historisierungen zu Recht als „erstaunliche Behauptung" 74 .

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Beide Zitate: Schwarz 1987, S. 207. Vgl. ebd., S. 210. Ebd., S. 207. Vgl. ebd., S. 21 Of. Zur Entstehungs- und Editionsgeschichte des von Marx überarbeiteten MostKommentars vgl. auch Hecker 2004. Schwarz 1987, S. 211. MEGA II/8.S. 741. Vgl. ebd., S. 741f., w o direkt von der .Wertform'analyse zur Darstellung der Geldfunktionen übergegangen wird. Vgl. Schwarz 1987, S. 212. Ebd. Hecker (2004, S. 9) nennt Marx' Darstellung gar die „vierte Fassung der Wertformanalyse", die allerdings,.nicht die Terminologie [...] aus dem ,Kapital' verwendet" (ebd., S. 10). Backhaus 1987, S. 406. Brentel 1989 (S. 363) vertritt eine dritte Position. Im Most-Kapitel würden „keineswegs prähistorische Tauschwerte und Waren behauptet". Es liege also weder eine Historisierung des Logischen (Backhaus) noch eine ,der Sache nach' beibehaltene Wertformenentwicklung (Schwarz) vor. Warum Marx aber in einem A'apifaZ-Kommentar unter der Überschrift „Ware und Geld" solche Produktentausch-Konstrukte vorlegt, keinen Hinweis auf eine begriffliche Wert-

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WERTTHEORETISCH E G R U N DL AGENREFLEXIONEN

Tatsächlich existiert spätestens in der Most-Variante der ,Wertform'analyse nicht mehr die Spur eines inneren, notwendigen Zusammenhangs zwischen Ware und Geld. Es werden dort nämlich .einfache Ware' und prämonetärer Tausch einerseits und Geld andererseits in eine diachronische Abfolge gestellt, als zeitlich nacheinander empirisch für sich existierender .Wertformen'. Der Zusammenhang ist also nur noch äußerlich und ¡contingent. In diesem Zusammenhang ist auch Schwarz' Rede von einer „historisch-illustrativefn] Argumentation"75 mit Backhaus in Frage zu stellen. Betont dieser doch zu Recht, eine begriffliche Entwicklung bedürfe keiner „als Historisches ausgegebener Schreibtischkonstruktionen"76. Sie sei eine gegenüber der historischen Abfolge vollständig disparate Ebene der Argumentation und insofern auch nicht durch stets kontingente historische Kausalketten illustrierbar. Zudem sei der Sinn einer Veranschaulichung kapitalistischer Wertkategorien durch Rekurs auf vorkapitalistische Verhältnisse nicht einzusehen77. Schwarz geht letztlich irrtümlich davon aus, Marx habe stets denselben Gegenstand78 schlicht populärer, also auf Breitenwirksamkeit ausgerichtet, dargestellt. Tatsächlich ist aber das, was Marx „wirkungsvoller machen wollte"79 nicht mehr seine Wertformanalyse, sondern eine Variante dessen, was er mit ihr zu kritisieren angetreten war - der klassischen politischen Ökonomie und ihrer theoretischen Einfuhrung des Geldes als .pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel'. Gerade vor dem Hintergrund von Schwarz' Ausführungen erscheint seine These, keine methodische Unklarheit, sondern die bloße Intention der Breitenwirkung bei prinzipieller Beibehaltung der Pointe der Gelderklärung - sowohl im Kapital 1/ Anhang bzw. zweite Auflage80 als auch im Most-Buch81 - habe Marx zu Popularisierungen qua Einfügung der Geldform und weitgehender Historisierungen veranlasst, eher unplausibel. Besonders die ,Most-Variante' der .Wertform'analyse gibt in dieser Hinsicht zu denken. Denn weder ist die Notwendigkeit der Geldbildung historisch - durch Exkurse auf vorkapitalistische ,Tauschprozesse' - nachweisbar noch lässt die Veränderung der „wissenschaftlichen Form der Darstellung"82, die Marx selbst für eine adäquate Popularisierung eingefordert hat, den wissenschaftlichen Inhalt unberührt, wie Schwarz annimmt83. Mit Backhaus muss vielmehr gefragt werden, ob Marx nicht zumindest bei seinen Überarbeitungen zum Most-Buch hätte klar geworden sein müssen, dass er damit die Pointe seiner Ökonomiekritik - die ihm doch auch theoriepolitisch so wichtig war, man vergleiche seine enge Verknüpfung von Kritik der politischen Ökonomie und endgültiger Erledigung des Proudhonismus aufgibt84. Das zu Verstehende um des leichteren Verständnisses Willen zu opfern, eine sol-

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formanalyse zurücklässt und schon auf der untersten Stufe des Produktentauschs von der Darstellung des Werts einer Ware spricht, kann Brentel nicht ansatzweise erklären. Schwarz 1987, S. 212. Backhaus 1997f,S. 249. Vgl. Backhaus 1997e, S. 156. Vgl. Schwarz 1987, S. 211. Ebd., S. 202. Vgl. ebd., S. 207. Vgl. ebd., S. 212. MEW34.S. 384. Vgl. Schwarz 1987, S. 211 f. Vgl. Backhaus 1997e, S. 156.

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che paradoxe Konsequenz hatte Marx noch im Jahre 1862 abgelehnt: „Wirklich populär können wissenschaftliche Versuche zur Revolutionierung einer Wissenschaft niemals sein"85. Es ist nun nicht endgültig entscheidbar, welches Gewicht der Most-Variante für Marx' methodologisches Selbstverständnis zukommt. Entweder war er über die katastrophale Rezeption seines Werks derart desillusioniert, dass er eine Vermittlung seiner originären Gedanken weitgehend aufgegeben hatte oder es tauchten bei ihm in späteren Jahren tatsächlich zunehmende Unklarheiten bezüglich der Darstellungsweise auf. Hier betreten wir das Reich einer subjektzentrierten Hermeneutik und ihrer Spekulationen, denen sich vor allem Backhaus so gerne hingegeben hat. Michael Heinrich geht davon aus, dass die von Backhaus im Kapital entdeckten historisierenden Passagen nicht einer Marxschen methodologischen Unsicherheit entspringen, sondern einer äußerlichen Popularisierungsintention, die aber tatsächlich problematische Ambivalenzen im Text erzeuge86. Vor allem87 die Einfügung der Geldform bedeute dabei einen ,ßruch in der dialektischen Darstellung der Wertformen"88: Zwischen allgemeiner Äquivalentform und Geld bestehe kein Formunterschied, die Geldform sei schlicht „durch gesellschaftliche Gewohnheit"89 mit einer spezifischen Ware verbundenes Äquivalent. Dies, so Heinrich, bedeutet aber einen Ebenenwechsel von der „begrifflichen Entwicklung der Formen" hin zu den Handlungen der Warenbesitzer"90. Die Einbeziehung beider Ebenen als aufeinanderfolgende Stufen in die Wertformanalyse, diese von Marx selbst durchschaute Popularisierung91, verwische den Unterschied der Abstraktionsebenen der ersten beiden Kapitel und sei Grundlage der Ratlosigkeit der traditionellen Lesart über den Sinn des Austauschkapitels92.

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M E W 3 0 , S. 640. Vgl. Heinrich 1999, S. 226. Heinrich (2008, S. 103f.) weist auch auf weitere, unabsichtliche, .praxeologische' Kontaminationen der Formanalyse des ersten Kapitels hin. Marx führe in einer Fußnote von MEW 23, S. 61 (MEGA II/6, S. 80 (Fn.)) „einen anonymen Vorgänger von Smith an, der, statt wie Smith das Quantum wertbildender Arbeit mit dem ,Wert der Arbeit' zu verwechseln, geschrieben hatte, ein Mann könne im Austausch ,nicht richtiger abschätzen, was wirklich gleichwertig ist, als durch die Berechnung, was ihm ebensoviel labour und Zeit kostet' (61, Fußnote 16). Dieser Vorgänger unterliegt zwar nicht der bei Smith stattfindenden Verwechslung" - worauf es Marx in dieser Fußnote wohl allein ankam - , „allerdings begründet er - in dieser Hinsicht ganz wie Smith - das Austauschverhältnis aus der subjektiven Schätzung der Austauschenden: weil die Tauschenden wissen, dass in den beiden Produkten die gleiche Arbeitsmenge enthalten ist, sind sie bereit, sie in diesen Quantitäten auszutauschen. Diese Art der Begründung ist jedoch problematisch". Dieselbe Stelle habe Marx aber in Zur Kritik kritisch kommentiert: Smith „versieht die objektive Gleichung, die der Gesellschaftsprozeß gewaltsam zwischen den ungleichen Arbeiten vollzieht, für die subjektive Gleichberechtigung der individuellen Arbeiten" (MEW 13, S. 45 (MEGA II/2, S. 136f.), zitiert in Heinrich 2008, S. 104). Heinrich 1999, S. 227. MEW 23, S. 84 (MEGA II/6, S. 101). Heinrich 1999, S. 227. Vgl. ebd., S. 228. Vgl. ebd. sowie bezogen auf Haug: Heinrich 2004b, S. 101.

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In aller Schärfe betont Heinrich dagegen den Unterschied der Abstraktionsstufen der ersten beiden Kapitel: Während das erste eine begriffliche Form- oder Strukturanalyse der ,Ware(n) an sich' und des gedanklichen Bezugs solcher Waren aufeinander zwecks Nachweis der Notwendigkeit einer selbständigen, gegenständlichen Erscheinungsform des Werts liefere, gehe es im zweiten um die wirkliche Beziehung der Waren, die nur durch die InBezug-Setzung seitens der Warenbesitzer vonstatten gehen könne93. ,Wirklicher' Bezug sei aber nicht zu verstehen im Sinne eines der Theorie schlechthin gegenüberstehenden realen Geschehens, sondern als Handlungen thematisierende Theorieebene94, als Analyse der „logische[n] Struktur des Handlungsproblems der Warenbesitzer, die ihre Waren austauschen wollen". Insofern handle es sich bei der Einfügung der Geldform auch „nicht um die Vermischung einer logischen mit einer historischen Ebene [...], sondern einer formanalytischen mit einer (abstrakt) handlungstheoretischen". Das zweite Kapitel behandle also die strukturelle Determination des Handelns der Warenbesitzer. Es zeigt, wie Heinrich meint, dass sie den .Gesetzen der Warennatur' folgen müssen, wenn sie ihre Waren austauschen wollen. Ein zentraler Effekt dieses formbestimmten Handelns sei die naturwüchsig-unbewusste Hervorbringung der Geldform. Dabei tauche die paradoxe Form IV der Erstauflage, die die Grenzen der theoretischen Darstellung unter Absehung von der Austauschpraxis markiert, im zweiten Kapitel wieder auf als „logische (nicht historische) Grundstruktur des Handlungsproblems der Warenbesitzer"95, welches durch die Geldkonstitution gelöst werde und in der Realität des Warentauschs immer schon gelöst sei. Auch in diesem Zusammenhang erweist sich also die Kritik der politischen Ökonomie als monetäre Werttheorie. Sowohl im ersten als auch im zweiten Kapitel wird danach gezeigt, dass Waren sich ohne allgemeine Wertform nicht als Werte aufeinander beziehen können, ein prämonetärer Tausch scheitern muss und sich Geld nicht als nachträglich durch Konvention diesem Tausch hinzugefügtes technisches Instrument konzipieren lässt96. Im Gegensatz zur ökonomischen Klassik und Neoklassik entwickelt Marx, wie Heinrich zeigt, also ökonomische Verhältnisse nicht ausgehend vom individuellen Handeln und der Rationalität der Akteure97. Auch gegen einen undifferenzierten Rekurs auf,Praxis' als Gegenstand der Ökonomiekritik, der die spezifischen Funktionen der einzelnen Darstellungsebenen desartikuliert98, wird das darstellungslogische Nacheinander von Struktur- und Handlungstheorie im Kapital als notwendig hervorgehoben. ,Praxis' (der Wareneigner) sei dort nicht Explanans, sondern Explanandum: Es wird also nach der Logik einer Praxis gefragt, „deren Subjekte nicht wissen, was sie tun, die also in ihrer Praxis etwas umsetzen, das sie nicht kennen". Die .umzusetzenden' Formen, ihre nachzuvollziehenden Anforderungen und der Zwang zu ihrer Reproduktion sind folglich zuerst zu entwickeln, auch wenn in der 93 94

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Vgl. Heinrich 1999, S. 230. Vgl. ebd., S. 230 (Fn.). Dieses Missverständnis der Gegenüberstellung von Struktur- und handlungstheoretischer Ebene als eine Kontrastierung einer theoretischen mit einer außertheoretischen Ebene findet sich z.B. bei Gallas 2005, S. 403. Zur Kritik daran vgl. auch Wolf 2008b. Zitate der Reihenfolge nach: Heinrich 1999, S. 231, 227 (Fn.), 231. Vgl. Heinrich 2004a, S. 61 f. Vgl. zu letzterem Aspekt auch ausführlich die Thesen von und zu Wolf 2004. Vgl. Heinrich 1999, S. 231. Vgl. u.a. Haug 2003, 2004.

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gesellschaftlichen Realität Handlung und Struktur „immer schon verbunden"99 sind. Der Gang der Darstellung im Kapital trägt demnach einer Form von Vergesellschaftung Rechnung, in der die Handlungen der Menschen von undurchschauten und ihrer Kontrolle entzogenen Strukturen bestimmt werden (die freilich nur durch ihr Handeln hindurch immer wieder re-/produziert werden)100. Heinrichs Begriff der Formanalyse und seine Struktur-Handlungs-Konzeption werden von Nadja Rakowitz in einigen kurzen Anmerkungen im Zusammenhang mit ihrer Rekonstruktion der Wertformanalyse kritisiert. Sie hält sich dabei an die Erstauflage und thematisiert nicht eigens den Anhang oder die Umarbeitungen der Zweitauflage101. Rakowitz differenziert, ohne wirklich von Heinrich abzuweichen, zunächst klar zwischen den Abstraktionsebenen der ersten beiden Kapitel, stellt die Funktion der IV. Wertform dar und betont wie Heinrich - eigens den theoretischen Charakter des , wirklichen' Verhältnisses der Waren im Abschnitt über den Austauschprozess102. Gleichwohl lehnt sie entschieden Heinrichs Unterscheidung von Formanalyse und Handlungstheorie ab. Einen Bruch zwischen beiden zu konstatieren offenbare einen „sehr verkürzte[n] FormbegrifF', da es gerade das „kritische Potential der Marxschen Formanalyse" sei, Formbestimmungen als Existenzweisen sozialer Verhältnisse zu dechiffrieren. Heinrich begreife dagegen objektivistisch ökonomische Formen unabhängig von sozialer Praxis und hypostasiere die von Marx nur „zunächst als getrennte" eingeführten Ebenen von Wertformanalyse und Austauschprozess, die von ihr als „nicht getrennt vorstellbar"103 bezeichnet werden. Rakowitz' Einwände bleiben aber unterbestimmt und scheinen ihrem Gegenstand unangemessen: Zunächst bezieht sich Heinrichs Kategorie des Bruchs in der dialektischen Darstellung nicht auf die Verschiedenheit von Form- und Handlungstheorie per se, sondern auf die unzulässige Einbeziehung von Handlungskategorien in die Darstellung der Wertformen im ersten Kapitel (zu der sie sich ausschweigt). Die These eines »positivistischen' Formbegriffs104 bleibt reine Unterstellung, zumal Rakowitz in ihrer Nachzeichnung der Entwicklung von der Ware zum Geld die Heinrichsche Prämisse notwendig zu unterscheidender Darstellungsebenen eines real nicht getrennten Form-Praxis-Zusammenhangs unausgesetzt teilt. Ob man diese Ebenen mit der Terminologie von Heinrich versieht oder nicht, ist zunächst eine rein nominelle Frage und hat nichts mit einem vermeintlich verdinglichten Formbegriff zu tun. Dieter Wolfs Beitrag zur Debatte ist eingebettet in eine ausführliche Darstellung des systematischen Zusammenhangs der ersten drei Kapitel und des methodologischen Sinns ihrer jeweiligen Abstraktionsstufen. Wolf arbeitet sich an Backhaus' und vor allem Heinrichs Bruch-Thesen ab. Er fragt: „warum soll Marx [...] nicht auf die Geldform eingehen?"105, wo

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Zitate der Reihenfolge nach: Heinrich 2004b, S. 100, 101. Vgl. Ebd. Dies betont auch bereits ausführlich Wolf 1985a, S. 107, 206ff., 218. Wie sie dazu genau steht, wird auch nicht aus der einzigen Anmerkung deutlich, in der sie auf Veränderungen in weiteren Auflagen des Kapital eingeht. Vgl. Rakowitz 2000, S. 299 (Anm. 54). Vgl. ebd., S. 117: „Für uns wird nun im Austausch diese eine Ware in der Darstellung Geld. Natürlich bleibt das Geld real immer Voraussetzung des Austausche von bepreisten Waren" (Hervorhebungen von mir, IE). Alle Zitate ebd., S. 118. Vgl. ebd., S. 119. Wolf 2004, S. 151.

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es doch in den ersten drei Kapiteln insgesamt um die Erklärung des Geldes gehe und fuhrt zwei grundlegende Argumente an, die belegen sollen, warum die Einfügung der Geldform kein Bruch oder keine Kontamination von Logischem und Historischem sei: Zum einen bestehe kein qualitativer Formunterschied zwischen allgemeinem Äquivalent und Geld, zum anderen könne der gesellschaftliche Prozess, in dem beide entstehen, nicht Gegenstand der von der Praxis der Warenbesitzer abstrahierenden, gedachten Beziehung der Waren sein106. Seine Beweisführung läuft darauf hinaus, zu konstatieren, wenn man wisse, auf welcher Darstellungsebene man sich befinde, könne man auch keinen Bruch in der Entwicklung der Wertformen entdecken107. Er behauptet sogar, die Geldform müsse eingefügt werden108, um auf die Grenzen der dialektischen Darstellung hinzuweisen, welche durch die historischpraktische Konstitution des allgemeinen Äquivalents zu Geld bezeichnet seien109. Die reale Konstitution beider Formen wird nach Wolf im zweiten Kapitel dargelegt, im ersten nur die Notwendigkeit des allgemeinen Äquivalents, was in der zweiten Auflage „auf höherem Reflexionsniveau"110 verdeutlicht werde. Worin dieses höhere Niveau bestehen soll, bleibt aber unerfindlich, ist es doch gerade Form IV der Erstauflage, die die Grenzen des begrifflichen Abstraktionslevels der Wertformanalyse klar benennt und zu einem anderen überleitet. Zumal der von Marx in der zweiten Auflage konstatierte „Fortschritt"111 der Geldform gegenüber der allgemeinen Äquivalentform einer ist, der nur auf der Darstellungsebene des Austauschprozesses benennbar ist. Heinrichs Bruch-These erscheint Wolf dennoch absurd, weil auch das allgemeine Äquivalent erst im Austauschprozess ,real' hervorgebracht werde. Wer Marx daher die Einfügung der Geldform vorwerfe, müsse ihm auch die Betrachtung der allgemeinen Äquivalentform im Rahmen der Wertformanalyse ankreiden. Aber steht das wirklich zur Debatte? Der Unterschied besteht doch vielmehr darin, dass das allgemeine Äquivalent als notwendiges unter Absehung des Warentauschs konstruierbar ist, das Geld aber nicht. Dies führt Wolf an anderer Stelle detailliert aus: Auch in seinem Buch Ware und Geld vertritt er die These, hinsichtlich der allgemeinen Wertform müsse über die gedankliche Umkehrung der entfalteten Wertform hinaus „auf das wirkliche Aufeinanderwirken der Waren im Austauschprozess" hingewiesen werden. Er zieht hier daraus aber nicht den Schluss, das Geld müsse deshalb in die Wertformanalyse einbezogen werden: Zunächst stellt er fest, dass es sich bei dem Verhältnis von Form II und III um ein logisches Implikationsverhältnis handelt. Form III entstehe durch einen logischen Schluss, „insofern man von einer Wertform auf die in ihr rückbezüglich eingeschlossene andere Wertform schließt"112. Die eine und selbe Ware, in der alle anderen Waren ihren Wert - und damit erst einheitlich, einfach und gesellschaftlich gültig - darstellen, sei also bereits mit der entfalteten Wertform implizit gegeben: „Es ist das wissenschaftliche Bewusstsein, das mit der entfalteten Wert106 107 108 109 110 111 112

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 152. Vgl. ebd., S. 153. Vgl. ebd., S. 152, 156. Ebd., S. 153. MEW 23, S. 84 (MEGA II/6, S. 101). Zitate der Reihenfolge nach Wolf 1985a, S. 163, 165. Vgl. zum rein begrifflichen Charakter der Übergänge in der Wertformanalyse Heinrich 2008, S. 140f.

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form bereits eine Ware fixiert, in der dann alle anderen Waren ihren Wert darstellen"113. Diese entfaltete Wertform könne hier aber noch jeder beliebigen Ware zukommen. In der Ausgangssituation des Austauschprozesses sei eine solche Ware allerdings nicht bereits vorhanden. Ihr Status sei der einer analytischen Vorhandenheit ,für uns'. Wird die Genese des allgemeinen Äquivalents durch theoretische Umkehrung der entfalteten Wertform erläutert, so Wolf, wird noch angenommen, jede Ware drücke ihren Wert für sich in einer anderen aus. Dass alle Waren dies in ein und derselben tun, könne so aber nicht begründet werden. Es sei nämlich nicht erklärbar, wie die Waren ohne wechselseitigen gesellschaftlichen Kontakt eine solche Ware ausschließen können114 - dies werde, worauf Wolf ausdrücklich hinweist, in Form IV der Erstauflage und der scheiternden Ausgangssituation des Austauschprozesses dargelegt. Form III entstehe so zwar durch Umkehrung der Form II, diese gelte aber noch für alle Waren115. Deshalb gebe es hier auch noch ebenso viele Rückbezüge wie Waren. Die Summe der isoliert-,privatgeschäftlichen' Darstellungen des Werts der Waren (entfalteten Wertformen) ergebe rückbezüglich ebenso viele allgemeine' Wertformen wie entfaltete: „Durch die Umkehrung der Summe aller entfalteter Wertformen entsteht eine Situation, in der sich die gewonnenen allgemeinen Äquivalentformen wechselseitig aufheben im Sinne von ,Zerstören'". Damit sei bewiesen, dass das allgemeine Äquivalent real weder mit der theoretischen Umkehrung der zweiten Form noch (was dasselbe meine) als Resultat des „privatgeschäftlichen Tuns der einzelnen Waren"116 erklärt werden könne117. Es könne im ersten Kapitel nur dargelegt werden, dass es ein allgemeines Äquivalent geben muss, nicht aber, welche Ware diese Rolle einnimmt und wie es real entsteht. Im zweiten Kapitel entstünden also zugleich das allgemeine Äquivalent und das Geld, es werde nicht ein, theoretisch ja gar nicht hervorzubringendes, allgemeines Äquivalent dort nur noch mit der Naturalform einer bestimmten Ware verbunden. Wolfs Anmerkung, dass bereits im ersten Kapitel auf diesen Sachverhalt notwendig sich unterscheidender Abstraktionsebenen hingewiesen werden muss, wird nun aber interessanterweise an Form IV der Erstauflage

113

Wolf 1985a, S. 165. Vgl. ebd., S. 167. 115 Vgl. auch Iber 2005, S. 60: „Marx greift für die Verallgemeinerung des allgemeinen Äquivalents in Form IV der Erstauflage im Ausgang von der allgemeinen Wertform (III) auf die erweiterte Form der entfalteten Wertform (II) auf Seiten der relativen Wertform zurück". Vgl. Heinrich 2008, S. 261: „Dass die entfaltete Wertform der Leinwand betrachtet wurde [welche rückbezüglich die allgemeine Wertform ergibt], war aber keineswegs notwendig, es hätte auch die entfaltete Wertform jeder anderen Ware betrachtet werden können". 116 Beide Zitate: Wolf 1985a, S. 168. 117 Form IV der Erstauflage ist also Konsequenz von Form III, womit auch Christian Ibers These, die Ersetzung von Form IV durch die Geldform in den späteren Versionen der Wertformanalyse sei sachlich motiviert, weil Form IV „faktisch hinter Form III zurückfallt", nicht haltbar ist. (Iber 2005, S. 61). Sein Argument läuft darauf hinaus, Marx habe in der Zweitauflage die Form IV durch das Geld ersetzt, weil die Thematisierung von Form III in der Erstauflage „nicht den Begriff einer einzigen von allen anderen Waren ausgeschlossenen Ware als allgemeines Äquivalent ergibt" (ebd., S. 59). Genau dies kann aber auch in der Wertformanalyse nicht geschehen. Da er dies anders sieht, muss Iber letztlich auch wieder den klassischen Topos von der doppelten Gelderklärung bemühen (vgl. ebd., S. 48). 114

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festgemacht. Sie dient als Beleg des Scheitems einer theoretischen Hervorbringung des allgemeinen Äquivalents. Die These, dass die Geldform als Form D) bzw. IV) der Wertformanalyse behandelt werden muss, kann Wolf in seiner Auseinandersetzung mit Heinrich letztlich nicht belegen, von den rezeptionsgeschichtlichen Wirkungen dieser Einfügung sieht er vollends ab. Ebenso unklar bleibt seine Behauptung, Heinrichs These eines Bruchs laufe darauf hinaus, ein auf mystische Weise bereits real vorhandenes allgemeines Äquivalent zu unterstellen, welches anschließend (quasi nach seiner ungesellschaftlichen Konstitution) im Austauschprozess zu Geld werde118. Obwohl Wolf, entgegen der Textlage119, behauptet, der strukturanalytische Teil des zweiten Kapitels der Zweitauflage ende „deutlich" mit dem Satz „So wird sie Geld"120, muss auch er die Existenz von Popularisierungen in Gestalt historischer Exkurse im Rahmen der systematischen Darstellung zugestehen, die dort eigentlich „nichts [...] zu suchen"121 haben. Marx wolle damit aber lediglich das Verständnis von Schwierigkeiten „erleichtern [...], die die logisch systematischen Ausführungen mit sich bringen". Er lege so das „gleichzeitige Nach- und Nebeneinander des Austauschprozesses in ein zeitliches Nacheinander auseinander". Letzteres bestätige „indirekt"122 die logische Abfolge der Kategorien, was möglich sei, weil an dieser Stelle Synchronie und Diachronie weitgehend übereinstimmten. Neben den in den Augen Wolfs wohl zumindest durchaus verzichtbaren historischen Illustrationen, erkennt auch er im ersten Kapitel noch weitere Mängel der Darstellung an, die sich auf die Erwähnung von Warenbesitzern im Rahmen der eigentlich systematisch von diesen abstrahierenden Darlegungen zum theoretisch gedachten Verhältnis der Waren aufeinander beziehen. Marx unterstelle diese Abstraktion zwar im ersten Kapitel des Kapital, „versäumt es aber zu erklären - vom Warenfetisch abgesehen - , warum er aus logischsystematisch nicht vorhandenen Gründen die Warenbesitzer mehrmals einbezieht, ohne dass dies etwas zur Erklärung dessen beiträgt, was sich in den den Warenbesitzern nicht bewussten gesellschaftlichen Beziehungen der Waren zueinander hinsichtlich des Werts und der Entwicklung seiner Formen abspielt"123. III. Neue Konfusionen? Die Heinrich seitens Wolf unterstellte These einer Geldwerdung des bereits mystisch als real unterstellten allgemeinen Äquivalents scheint sich eher in drei Positionen zum Verhältnis von Wertformanalyse und Geld zu finden, die im folgenden kursorisch dargestellt werden sollen. Roberto Fineschi vertritt die These, das allgemeine Äquivalent (als eine und dieselbe für alle anderen Waren ausgeschlossene und so deren Wert gesellschaftlich gültig darstellende 118

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Vgl. Wolf 2004, S. 155. Ähnliches, nämlich eine Identifizierung des Handelns der Warenbesitzer im zweiten Kapitel mit der intentionalen Hervorbringung des Geldes, unterstellt Iber (2005, S. 91) Heinrich. Einen Beleg für seine Behauptung bleibt Iber allerdings schuldig. Vgl. dazu die Anmerkungen in diesem Kapitel zu Zeleny und Backhaus. MEW 23, S. 101 (MEGA II/6, S. 115). Wolf 2004, S. 159. Alle Zitate ebd. Wolf 2006a, S. 18.

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Ware124) sei schon im Rahmen der Wertformanalyse „entwickelt" und zwar als „Leistung der gesellschaftlichen Tat der Waren". Nicht abgeleitet werden könne auf dieser Ebene, welche Ware diese Funktion ausfülle, was auf die Bestimmung des Geldes als „allgemeines Äquivalent und als angemessene Naturalform"125, bzw. den besonderen Warenkörper126 hinweise. Fineschi vergisst bei der Aufzählung der Grenzen der begrifflichen Ableitung hinzuzufügen, dass in der Wertformanalyse auch nicht abgeleitet werden kann, auf welche Weise dieses Ausschließen einer und derselben Ware als allgemeines Äquivalent geschieht127. Denn eine „gesellschaftliche Tat der Waren" erscheint - wörtlich genommen erstens als ein Unding (die Waren gehen eben nicht selbst zu Markte und tauschen sich nicht selbst aus) und ist zweitens auch nicht in der Wertformanalyse vorhanden, weil hier die Darstellung des Werts letztlich noch als „Privatgeschäft" der jeweiligen Waren stattfindet. Wenn Marx von der Konstitution des allgemeinen Äquivalents als „gemeinsames Werk der Warenwelt"128 spricht (darauf bezieht sich Fineschi wohl implizit), dann abstrahiert er gerade notwendigerweise immer noch von der entscheidenden praktisch-gesellschaftlichen Dimension dieses „Werks", das allein erklären könnte, wie sie das machen, sich auf ein und dieselbe Ware als Wertform zu beziehen. Was Fineschi als gedachte oder ,,abstrakt[e]" Ausschließung des allgemeinen Äquivalents bezeichnet129 ist nur die Feststellung, dass ein und dieselbe Ware ausgeschlossen werden muss, dies notwendig ist. Die logische Herleitung der Form III durch Umkehrung von Form II bringt ebensoviele .allgemeine' Äquivalente wie entfaltete hervor, also gerade nicht ein und dieselbe Ware, in der Wert gültig dargestellt ist. Die in Form II fixierte Ware, die ihren Wert in der unabschließbaren Kette aller anderen Waren(arten) darstellt und durch Umkehrung in Form III als allgemeine Äquivalentform gilt, in der alle anderen Waren ihren Wert darstellen, ist ja nur durch eine begriffliche Operation vom Theoretiker beliebig ausgewählte Ware. Auch die Umkehrung ist nur eine logische Operation, die nicht einen realen Konstitutionsakt bezeichnet oder erklärt. Eine eklatante Konftindierung der Abstraktionsebenen von Wertformanalyse und Austauschprozess findet sich neuerdings bei Helmut Reichelt. Er tritt an, im Rahmen eines neuen, vermeintlich implizit in der Erstauflage des Kapital anwesenden130 Geltungskonzepts, die Frage nach dem ontologischen Status von Wert und Geld zu klären. Es ist der, sich gegen eine hermeneutisch-individualistische Rationalisierung wie gegen eine strukturalistische Verdinglichung gleichermaßen wendende, Gesellschaftsbegriflf Adornos, der das Interpretationsraster Reichelts prägt. Um den Wert als verselbständigten, nicht ,verstehbaren'

124 125 126 127

128 129 130

Vgl. Fineschi 2006, S. 123. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 129, 131. Vgl. ebd., S. 126. Vgl. auch Heinrich 2008, S. 149: „An dieser Stelle liegt die Frage auf der Hand, wie dieses gemeinsame Werk der Warenwelt überhaupt möglich ist. Unterstellt es nicht eine Koordinationsleistung, so dass man fragen muss, welche Instanz diese Koordinationsleistung vollbringt? Marx geht auf diese Frage nicht ein. Warum? Im ersten Kapitel untersucht er nur die Formbestimmungen der Ware, aber nicht den Prozess der Durchsetzung und Aufrechterhaltung dieser Formbestimmungen in den Handlungen von Personen". MEW 23, S. 80 (MEGA II/6, S. 97). Vgl. Fineschi 2006, S. 125. Vgl. Reichelt 2002, S. 148, 150.

300

WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

(d.h. nicht auf die rationalen Motive der Einzelnen zurückführbaren) Vergesellschaftungszusammenhang zu fassen, ihn aber zugleich einer Ontologisierung zu entziehen, verwendet Adorno den Terminus vom Wert als „in der Sache selbst waltende", objektive „ B e g r i f f l i c h keit"131. Wert gilt so als Resultat einer im Tausch generierten, nicht auf bewusste Abstraktionsleistungen der Subjekte reduzierbaren, realen Abstraktion. Reichelt betrachtet es nun als seine Aufgabe, dieses Konzept von Realabstraktion zu explizieren und konkretisieren132, weil nur so die spezifisch sozialen Gegenständlichkeiten Wert, Geld und Kapital wissenschaftlich erfassbar würden. Ausgehend von der folgenschweren neoidealistischen Umdeutung des Realabstraktionstheorems in eines des objektiven Begriffs, beginnt Reichelt nun mit der Konstruktion seiner Prämisse mittels des ,Auseinandernehmens' und ,neu Zusammensetzens' 133 der Marxschen Theorie. Die willkürliche Dekontextualisierung und Umdeutung von Marx-Zitaten, die er dabei betreibt, führt nicht nur zu einer logisch inkonsistenten Konstitutionstheorie ökonomischer Gegenständlichkeit, sie wird auch nicht als Reinterpretation kenntlich gemacht und präsentiert sich nach wie vor als Explikation Marxscher systematischer Intentionen und Konzepte, die dieser nur nicht präzise genug formuliert habe134. Zwei hermeneutische Operationen führen Reichelt dabei zu seiner Ausgangsthese des Werts als unbewusst im Kopf der Warenbesitzer existierendes Abstraktionsprodukt135. Erstens wird Marx mit dem Satz zitiert: „Aequivalent bedeutet hier nur Größengleiches, nachdem beide Dinge vorher in unsrem Kopf stillschweigend auf die Abstraktion Werth reducirt worden sind"136. Der Kontext der Äußerung im Darstellungsgang des Kapital zeigt aber, dass Marx hier von der analytischen Erfassung des Werts durch das wissenschaftliche Bewusstsein spricht. Hier geht es darum, dass die Wertgröße der in Äquivalentform stehenden Ware im Wertverhältnis „nur indirekt", durch Umkehrung des Polaritätsverhältnisses ^ e s s bar' ist. D.h. das Polaritätsverhältnis ist zwar auch ein Äquivalenzverhältnis, in ihm kann aber nicht zugleich der Wert der relativen Wertform und der Äquivalentform ausgedrückt (.gemessen') werden. Als bloßes Äquivalenzverhältnis (wie im späteren ersten Unterab131

132 133

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136

Adorno 1998, S.209. Vgl. auch Adorno nach Backhaus 1997h. Zur Kritik an Adornos Position vgl. Wolf 2002. Reichelt 2002, S. 144. Vgl. Backhaus' radikalisierten, nicht von ungefähr von Jürgen Habermas übernommenen, (,Re') Konstruktionsbegriff in Backhaus 1997f, S. 297. Vgl. Reichelt 2002, S. 145f„ 152. Dieses Konzept findet sich zuerst in Backhaus/ Reichelt 1995, S. 89 („Da es sich beim Wert um einen Abstraktionsvorgang handelt, an dem die Warenbesitzer und deren Köpfe beteiligt sind, kann der Wert auch nur im Bewußtsein gebildet werden"). Programmatisch formuliert in Reichelt 2001, S. 16f., ausgeführt in Reichelt 2002. Allerdings bescheinigt bereits 1974 Ulrich Müller Reichelts Werk ,Zur logischen Struktur des KapitalbegrifFs' eine merkwürdige „Festlegung auf den .Kategorien'-Begriff, der von Marx zuweilen ambivalent verwandt wird" (Müller 1974, S. 282). D.h., bereits dort werden Kategorie und Form bei Reichelt in Ansätzen konfundiert und zu wenig reflektiert, „daß die Kategorien gesellschaftliche Verhältnisse ausdrücken" (ebd.) und nicht etwa sind. Übrigens verfährt Robert Kurz bereits 1987 (auch 1993 und 2004) ähnlich und stellt die These vom Wert als Gedankending auf. Reichelts Geltungstheorie ist über weite Strecken nichts als eine Reformulierung des Kurzschen Ansatzes. MEGA If/5, S. 632 (zitiert in Reichelt 2002, S. 146).

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schnitt) gefasst, d.h. unter Absehung von dem nur im Polaritätsverhältnis realen Wertausdruck, ist die Größengleichheit beider Waren eben nur theoretisch, ,für uns', im Kopf festzuhalten. Diese Aussage über die nur theoretische Darstellbarkeit des Werts beider Waren jenseits der Wertform beinhaltet also in keinster Weise eine These über die vermeintliche gedankliche Hervorbringung desselben. Ein ähnlicher Sinn steckt auch hinter der Formulierung, dass Wert (im späteren ersten Unterabschnitt) erst noch bloßes „Gedankending"137 sei. Da die reale Abstraktion Wert außerhalb des Tauschvorgangs nicht stattfindet, kann auf der Ebene der Betrachtung der durch theoretische Abstraktion gewonnenen .einzelnen' Ware der spezifisch gesellschaftliche Charakter derselben nur im Kopf des Theoretikers fixiert werden138. Wert ist eben als solcher nur denkbar, nicht beobachtbar. Solche methodisch bedingten Aussagen nimmt Reichelt nun kommentar- und umstandslos als solche über den ontologischen Status des Werts per se139. Zweitens gelingt es Reichelt nicht, klar zwischen ökonomischen Formen und Kategorien zu unterscheiden. Marx' Äußerung, dass der gegenständlich induzierte Schein der Sacheigenschaft unmittelbarer Austauschbarkeit als „objektive Gedankenform[...]" „die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie" bildet, wird von Reichelt vom Bezug auf den fetischistischen Schein, den die Formen im Wertausdruck produzieren, wie auf dessen Verarbeitung im Diskurs der Politökonomie .gereinigt'. Nicht mehr die „verrückten Formen"140 als fetischisierte reale Formen, sondern diese Formen selbst gelten ihm danach als objektive Gedankenformen141. Objektive Gedankenformen sind nach Marx aber weder der Wert noch das Geld als ökonomische Form, sondern die gedankliche Reproduktion dieser Formen in ihrer fertigen, die gesellschaftlichen Vermittlungsprozesse ihrer Hervorbringung nicht mehr aufweisenden, sachlichen Gestalt. Die Vermengung von objekttheoretischen (,Wert ist...') und metatheoretischen (,Wert ist hier nur so begrifflich erfassbar...') Reflexionen sowie von Form und Fetisch142 fuhren Reichelt nun zu seiner Geltungstheorie und zur Konfundierung der Darstellungsebenen von Wertform- und Austauschanalyse. Die Konstitution ökonomischer Gegenständlichkeit stellt sich demnach wie folgt dar: Unter privat-arbeitsteiligen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit („Aufgrund der strukturierten Ausgangssituation") werden die Warenbesitzer „genötigt", einen „ihnen selbst nicht bewussten Gleichsetzungsakt" zu vollziehen, den Wert 137

Zitate der Reihenfolge nach: MEGA II/5, S. 632,30. Vgl. dazu Wolf 1985a, S. 108, 132, 175f sowie 2006a, S. 38: Nach Wolf geht es „darum, dass der wissenschaftliche Betrachter - stellvertretend für das, was hinsichtlich des Erscheinens des Werts in der Beziehung zur zweiten Ware geschieht - , den Wert, der an der einzelnen Ware nicht erscheint, in dem von dem Gebrauchswert der Ware verschiedenen Medium des Denkens festhält. Dies geschieht mit dem Wissen, dass das hierbei entstehende „Gedankending" nicht der mit den anderen metaphorischen Umschreibungen gemeinte Wert selbst und auch nicht seine originäre Erscheinungsweise ist". 139 Wolf weist zudem darauf hin, dass die „methodisch erforderliche Umschreibung des Werts als ,Gedankending' [...] sich fundamental von den anderen Umschreibungen für den Wert", wie .Kristall', .Gallerte' oder .gespenstige Gegenständlichkeit', „unterscheidet" (Wolf 2006a, S. 37). Diese seien Umschreibungen des Produkts eines Prozesses, der sich unabhängig vom Bewusstsein des Wissenschaftlers (oder der Akteure) im gesellschaftlichen Verhältnis der Arbeitsprodukte abspiele. 140 Beide Zitate: MEW 23, S. 90 (MEGA II/5, S. 47). 141 Vgl. Reichelt 2002, S. 160 sowie 2001, S. 17. 142 Auch dies eine Spezialität von Kurz 1987, S. 96ff. 138

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durch eine „logisch unbewusste" Gedankenbewegung hervorzubringen, die sich in den Köpfen aller Einzelnen unabhängig voneinander einstellt und sich somit - entgegen Reichelts Beteuerungen - nicht als Real-, sondern als gesellschaftlich aufgenötigte Nominalabstraktion darstellt. Diese zuerst noch ,subjektive' Gleichsetzung der Waren, die in Form II der Wertformanalyse beschrieben sein soll, wird nun durch eine - ebenfalls in den Köpfen der Akteure vor ihrem gesellschaftlichen Kontakt stattfindende - ,Umkehrung' der entfalteten zur allgemeinen Wertform, zur ,objektiven' (Gleich-) Setzung der Waren. Die Wertformanalyse zeigt demnach den „Umschlag von der subjektiven zur objektiven Gedankenform"143. Die Geldgenese geschieht nun durch die Kombination dieser unbewussten Hervorbringung des allgemeinen Äquivalents mit der bewussten Auswahl der die Äquivalentfunktion erfüllenden Ware. Von technologischen Neutralitätstheorien des Geldes („pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel"144) soll sich Marx' Geldbegriff nun dadurch unterscheiden, dass die „allgemeine Akzeptanz" (Geld), die die Gedankenbewegungen der Subjekte „verallgemeinert und vereinheitlicht", an die unbewusste allgemeine Geltung' rückgebunden wird. Von subjektivistischen Theorien trennt sie nach Reichelt die Erklärung des ,,Umschlag[s]"145 von subjektiver zu objektiver kognitiver Tätigkeit. Dieter Wolf hat diese Konzeption einer ausführlichen Kritik unterzogen146: Zwar unterscheidet Reichelt demnach vorgeblich zwischen theoretischem (1.Kapitel) und wirklichem (2. Kapitel) Bezug der Waren aufeinander147, er praktiziert aber eine heillose Vermischung beider Abstraktionsebenen. Dabei werden die Erkenntnisse des wissenschaftlichen Bewusstseins dem Unbewussten der Warenbesitzer supponiert. Was in einem außerpsychischen Vorgang im spezifisch gesellschaftlichen Verhältnis der Sachen (in das sie unwillkürlich von Menschen unter bestimmten Vergesellschaftungsbedingungen ihrer Arbeiten gestellt werden) geschieht - die Gleichsetzung und Darstellung als Werte - wird in die Köpfe der Wareneigner projiziert, womit die Genese ökonomischer Gegenständlichkeit von einem sachlich vermittelten Verhältnis zwischen Menschen in ein direktes Verhältnis zwischen ihnen in Bezug auf eine Sache verwandelt wird. Mehr noch: Nach Reichelt geschieht die Hervorbringung einer spezifisch gesellschaftlichen Gegenständlichkeit (Wert und allgemeines Äquivalent) vor jedem gesellschaftlichen Kontakt in den Köpfen der Warenbesitzer, denn - wie er ja selbst betont - das wirkliche Verhältnis ist erst Gegenstand des Austauschkapitels. Damit entsteht die gesellschaftlich gültige Form des Werts, das allgemeine Äquivalent, in präsozialen Denkakten148 und die wirkliche Beziehung der Warenbesitzer aufeinander wird auf die bewusste Auswahl einer speziellen Geldware reduziert. Dort, wo von Warenbesitzern noch systematisch abstrahiert wird, in der Wertformanalyse, und damit gezeigt

143 144 145 146 147 148

Zitate der Reihenfolge nach: Reichelt 2002, S. 159, 159, 157, 162. MEW 13, S. 36 (MEGA II/2, S. 130). Zitate der Reihenfolge nach: Reichelt 2002, S. 160, 160, 160f„ 162. Vgl. Wolf 2004. Vgl. Reichelt 2002, S. 159. Ein gesellschaftlich Allgemeines ist aber vor dem gesellschaftlichen Kontakt der Einzelnen nicht aus ihren subjektiven kognitiven Leistungen heraus begründbar. Marx kann zudem zeigen, dass die Interessenlage in der prämonetären Ausgangssituation des Austausche so viele allgemeine Äquivalente wie Waren(besitzer) hervorbringen und dies die Existenz eines tatsächlich allgemeinen Äquivalents ausschließen würde. Vgl. Wolf 2004, S. 85f.

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werden soll, dass es sich beim Wert um einen die Handlungslogik der Akteure bestimmenden Formzusammenhang gesellschaftlicher Sachen als Arbeitsprodukte handelt 149 , operiert Reichelt bereits mit psychischen Akten von Warenbesitzern. Dort, wo die wirkliche Genese von allgemeinem Äquivalent und Geld durch eine unbewusste gesellschaftliche Tat erklärt werden soll, im zweiten Kapitel, - wobei die Unbewusstheit „ein Nichtwissen über das" ist „was im gesellschaftlichen Verhältnis der Sachen vor sich geht" 150 , also kein innerpsychischer Prozess, und die Tat ein Verhältnis der Menschen zueinander durch die Inbezugsetzung ihrer Arbeitsprodukte - , dort beschränkt Reichelt die Tat auf eine konventionelle Bestimmung der Naturalform der bereits als real unterstellten Äquivalenzfunktion. Letztlich wird damit auch die von Backhaus formulierte Erkenntnis, Wert könne weder auf Psychisches noch auf Physisches zurückgeführt werden, sondern stelle eine soziale Objektivität sui generis dar 151 , von Reichelt aufgegeben 152 , indem er ihn als individuelles und doch auch irgendwie, man weiß nicht wie, kollektives unbewusstes Phänomen bestimmt. Auch dagegen hatte sich seinerzeit Backhaus ausgesprochen 153 . Wolf versucht diese weder auf bloße Dinghaftigkeit noch auf reine Intersubjektivität oder gar psychische Gehalte reduzierbare soziale Objektivität des Werts in seinem Konzept objektiver Semantik näher zu bestimmen: Die Gleichheitsbeziehung der Waren, in der die gemeinsame Eigenschaft der Arbeitsprodukte, Arbeitsprodukte schlechthin zu sein („Modus des Seins"), als gesellschaftliche Form der Privatarbeiten gilt, als Eigenschaft, die der Gleichheit nur innerhalb des Austausche zukommt (Wert als erster , Modus des Geltens"154), wird dabei von der zweiten semantischen Struktur der Darstellungsbeziehung der Wertform, in der der Gebrauchswert der zweiten Ware (Modus des Seins) als Wert der ersten gilt (Wertform als zweiter Modus des Geltens) unterschieden. Im Modus des Seins befinden sich Waren also hinsichtlich der Eigenschaften, die sie unabhängig von jedem besonderen gesellschaftlichen Zusammenhang aufweisen - ihrer Eigenschaft, Gebrauchswerte und Produkte menschlicher Arbeit überhaupt zu sein. Die doppelte Semantik des gesellschaftlichen Verhältnisses von Sachen besteht nun in Eigenschaften, die die Sachen im und durch den spezifischen Bezug, in den sie von Menschen unbewusst gesetzt werden, erhalten. Formanalyse hat nach Wolf nun den Charakter der kognitiven Freilegung von extramentaler Bedeutungsentstehung und Abstraktionsvorgängen 155 . Die im Kapitalismus erzeugte objektive Semantik 149

Vgl. ebd., S. 51. Ebd., S. 33. 151 Vgl. Backhaus 1997d, S. 101. Vgl. auch Sohn-Rethel 1978, S. 114. 152 Auch Ritsert/ Reusswig wollen eine hypostasierte Keimzellendialektik, welche „die Ware wie ein Hegelsches Übersubjekt" (Ritsert/ Reusswig 1991, S. 25) darstelle, dadurch vermeiden, indem sie der „.Teilnehmerperspektive'" (S. 26) im Rahmen der Werttheorie einen größeren Stellenwert zubilligen. Auf welche Weise dies geschehen soll, bleibt dort aber unklar. Konsequent wird dabei allerdings nahegelegt, das gesellschaftliche Verhältnis der Sachen sei bloßer Schein (vgl. ebd, S. 25f.). Damit wird das erste Kapitel des Kapital selbst in die nähe verdinglichter Theorie gerückt. 153 Vgl. Backhaus 1997b, S. 57. 154 Beide Zitate: Wolf 2005a, S. 21. 155 Vgl. Wolf 2003, S. 36f. Vgl. zur Wertabstraktion bereits Sohn-Rethel 1973, S. 41: „Das Wesen der Warenabstraktion aber ist, daß sie nicht denkerzeugt ist, ihren Ursprung nicht im Denken der Menschen hat, sondern in ihrem Tun". Vgl. auch Sohn Rethel 1978, S. 114: „Die im Austausch stattfindende Abstraktion entspringt im Austauschverhältnis selbst. Sie entspringt nicht der dinglichen Na150

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von Wert und Wertform, die hier zugleich „die praktische Wirksamkeit des Seins" erhält, also einen strukturellen Zwang auf das Handeln der Akteure ausübt, ist Grundlage der bewussten, intersubjektiv konstituierten Semantik, der ,,bewusste[n] Verabredung, in der ein Ding f...] um des Funktionierens der Warenzirkulation willen die von ihm verschiedene Bedeutung der unmittelbaren Austauschbarkeit [...] erhält"156. Die bewusste Auswahl eines als Geld fungierenden Gegenstands, aber auch die bewusste Auspreisung der Waren157, bestätigt nach Wolf damit nur eine „bereits vorhandene gesellschaftliche Bedeutung"158, einen unbewussten, außerhalb der Köpfe der Akteure stattfindenden Konstitutionsprozess sozialer Formen der Vermittlung von Privatarbeiten159. Die Reichtumskonstitution ist demnach, wie vielleicht in Anlehnung an systemtheoretisches Vokabular formuliert werden könnte, ein alltäglich sich wiederholender Prozess, bei dem die Individuen als psychische Systeme nur dessen Umwelt darstellen oder, wie Stephan Krüger sich im Anschluss an Wolf ausdrückt: „Der Vollzug der Wertabstraktion geschieht durch das Gleichsetzen zweier Waren im Austauschverhältnis, zu der zwar Handeln der beteiligten Personen vorausgesetzt ist, aber nicht als intentional auf das Wertsein der Ware bezogenes Handeln"160. Gegen diese objektive Semantik wurde bislang nur wenig Überzeugendes vorgebracht. So bemüht Martin Eichler als Argument gegen Wolf, Tauschakte seien ohne Antizipationen gedanklicher Art kaum vorstellbar: „Ich mache mir Gedanken darüber, was ich für ein Produkt bekomme. Damit setze ich ein anderes Produkt meinem gleich; eine Gedankenbewegung, die sich dann im Austausch zu realisieren hat" 16 '. Auf diese Tatsache verweist aber auch Wolf. Allerdings ist sie für ihn nicht als Hinweis auf eine gedankliche Konstitution der Form Wert interpretierbar, sondern als Akt, der sich auf komplexere, wesentliche Momente des Prozesses ihrer

tur der Waren, weder ihrer Natur als Gebrauchswerte noch ihrer Natur als Arbeitsprodukte. Sie entspringt somit auch nicht dem Verhältnis der Menschen zu dem Warengegenstand in der Produktion oder in der Konsumtion"; sowie S. 127: „Die Abstraktion ist also Wirkung eines faktischen raumzeitlichen, geschichtlichen, dem gesellschaftlichen Sein, nicht dem Bewußtsein angehörigen Vorgangs. Freilich dem gesellschaftlichen Sein angehörig, nicht dem natürlichen!". Es ist also eine soziale Relation, die diese Bedeutung hervorbringt. Vgl. aber folgende Ausführungen: „Denn das bedeutet, daß die Abstraktion nur für Menschen Wirksamkeit besitzt, nämlich nur für Wesen, für die das zugrunde liegende Tun den Sinn der Tauschhandlung [...] hat [...] Die Abstraktion existiert also überhaupt nur für uns, d.i. nirgend anders als in unserem Denken" (ebd.). Hier scheint wieder die Realabstraktion, deren Ursache nur in kognitiv vermittelten Handlungen von Menschen auf Menschen über Dinge auf Dinge gesehen werden kann, in das Unbewusste der Menschen verlegt zu werden. Vgl. dazu auch kritisch Reichardt 2008, S. 247f. 156 157

158 159

160 161

Zitate der Reihenfolge nach: Wolf 2005a, S. 21, 6. Vgl. ebd., S. 14: „Sie geben mit dem Preis ihren Waren bewusst die im Geld verkörperte gesellschaftliche Bedeutung des allgemeinen Äquivalents. Ohne zu wissen, dass der Preis die für sie sichtbare Erscheinungsform des für sie nicht sichtbaren Werts ihrer Waren ist". Ebd. Vgl. auch Heinrich 2008, S. 119: „Die Geltung, um die es hier geht, ist also weder eine von den Tauschenden vereinbarte noch eine von einem Staat auferlegte Geltung. Es ist vielmehr ein mit der auf Tausch beruhenden Ökonomie strukturell gegebenes Verhältnis". Vgl. zudem Heinrichs Unterscheidung von Sein und Gelten ebd., S. 127. Krüger 2006, S. 4. Eichler 2006, S. 35.

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Konstitution bereits verdeckende, Wertformen bezieht: Preis und Geld. Was ich ideell gleichsetze, ist eine Ware mit Geld - diese ideelle Antizipation nennt sich bei Marx Preis162 und sagt über den Grund der Austauschbarkeit, d.h. über das Wesen der sozialen Formen Preis und Geld als nur spezifische Formen der Austauschbarkeit (also des Werts), nichts aus. Eichlers Beispiel geht damit am Problem der Hervorbringung der Formen vorbei' 63 . Gebrauchswert* und Gleichheit im Modus des Seins/ Inhalt Wert (Semantik 1)/ Soziale Form I Wertformen (Semantik 2)1 Soziale Form II Geld und Preis (Semantik 3)

y

,.wird im Austausch als Gleiches in gesellschaftliche Bedeutung gesetzt"164 [extramental] >?' N T ¡j * wird im Austausch als Ungleiches in gesellschaftliche Bedeutung gesetzt [extramental] „bereits vorhandene gesellschaftliche Bedeutung [wird] bestätigt"165 [bewusst]

(Tabelle: Hierarchie der Semantik von Reichtumsformen nach Wolf)

Die Ausführungen von Gerhard Scheit sind auf zweierlei Weise interpretierbar. Entweder meint er, die Geldgenese müsse analytisch in Konstitution des allgemeinen Äquivalents durch die unbewusste Praxis der Warenbesitzer und bewusste Auswahl bzw. Festsetzung einer bestimmten Geldware durch staatliche Maßnahmen („Organisation des Naturinstinktes 162

163

164 165

Vgl. M E W 23, S. 118 (MEGA II/5, S. 65): „Neben ihrer reellen Gestalt, Eisen z.B., kann die Ware im Preise ideelle Wertgestalt oder vorgestellte Goldgestalt besitzen, aber sie kann nicht zugleich wirklich Eisen und wirklich Gold sein" (Hervorhebung von mir, I.E.). Auch ein - in der mageren Diskussion um Wolfs Argumente noch nicht zu findender - Bezug auf den Ansatz von Hans-Dieter Bahr würde den Gegenstand verfehlen: Maße von Waren, als die „quantitativ differenzierbaren Qualitäten von Warenkörpern als Mengen" (Bahr 1973, S. 61), sind nach Bahr intelligible Bestimmungen der Naturalform von Waren, die „gegen die unmittelbare Gebrauchswertform abstrakt" (ebd., S. 65) seien. Er bezeichnet Maße als Vermittlungsformen von Gebrauchs- und Tauschwert, welche sich aus „ehemals gültige[n] besondere[n] Wertmaße[n]" (ebd., S. 60) entwickelt hätten, aber zugleich als Leistungen des Verstandes ausgegeben werden (vgl. ebd., S. 65). Der Wert könne nur aufgrund dieser Maßverhältnisse erscheinen, sei als erscheinender (Wertform) aber zugleich nicht identisch mit diesen, da er eine Gleichsetzung inkommensurabler Gebrauchswerte und Maßeinheiten bedeute („Die Erscheinung der Wertgröße [...] drückt aus, daß die Wertgröße an den bestimmten Mengenmaßverhältnissen der Waren erscheinen [sie!]: fünf Scheffel Weizen sind zwei Quadratmeter Tuch wert" (ebd., S. 61)). Bahrs Folgerung lautet nun: „Ohne die Tätigkeit des Verstandes könnte eine ideelle Form des Wertmaßes als Preisform gar nicht bestehen" (ebd., S. 65). Ungeachtet der Frage, wie besondere Wertmaße jemals .gültig' gewesen sein können, bezieht sich auch Bahr hiermit lediglich auf die Preisform. Wolf 2003, S. 28. Wolf 2005a, S. 14.

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der Warenbesitzer" bzw. „Staat, der dem allgemeinen Äquivalent zum Geld verhilft"166) unterschieden werden. Oder er folgt in verschiedener Hinsicht einer falschen Fährte: Zwar zitiert er noch Marx mit den Worten, dass „nur die gesellschaftliche That [...] eine bestimmte Waare zum allgemeinen Aequivalent machen"167 könne. Doch anschließend ist von der Konstitution des allgemeinen Äquivalents keine Rede mehr und er verwandelt Marx' Formulierung, die Gesetze der Warennatur betätigten sich bei der praktischen Hervorbringung des Geldes im „Naturinstinkt der Warenbesitzer", diese Metapher für eine strukturdeterminierte, unbewusste Tat, unter der Hand in eine Umschreibung des rechtlichen Willensverhältnisses zwischen den Warenbesitzern. Diese Deutung liegt nahe, weil Scheit meint, dass sich der besagte .Instinkt' jenseits des .bürgerlichen Systems', im Staat,,verkörpern' müsse, was aber nur für die faktischen Rechtsverhältnisse zutrifft, die aufgrund der antagonistischen Struktur der Vergesellschaftung, der Tendenz zur systematischen Verletzung der Aneignungsgesetze des Warentauschs, als allgemeiner Wille durch den Staat repräsentiert werden müssen. Scheit unterstellt dann letztlich das allgemeine Äquivalent als bereits - wie auch immer konstituiert - dabei ist es in der Wertformanalyse, wie gezeigt, nur als notwendiges entwickelt und existiert dort nur für den theoretischen Betrachter - und reduziert den Akt der Geldgenese auf die bewusste Auswahl einer spezifischen Geldware, auf eine in den Reproduktionsprozess des Kapitals beständig eingebundene „Festsetzung [...] des Goldes als der Geldware". „Die gesellschaftliche Tat, die das Geld konstituiert", gerät so zur ,.Haupt- und Staatsaktion", die begriffliche Unterscheidung von ökonomischen und staatlich-rechtlichen Bestimmungen - auch wenn sie, wie Scheit zu Recht betont, nicht getrennten Sphären von .Basis' und .Überbau' zugeordnet werden können - wäre damit hinfällig, eine konventionalistische Geldtheorie das Resultat. Der Eindruck einer solchen Argumentationsstrategie wird bestärkt, wenn Scheit die Geldgenese als unfreie Tat umstandslos mit staatlicher Gewalt korreliert. Das Unfreie an der Geldkonstitution wäre dagegen zunächst einmal die Unbewusstheit und Strukturdeterminiertheit des die ökonomische Form Geld hervorbringenden Handelns als Implikation systematischen und damit monetären Warentauschs. Erst dann wäre im nächsten analytischen Schritt die staatlich geregelte Festsetzung einer spezifischen Geldware zu betrachten. Vom ersten Schritt ist aber bei Scheit keine Rede: „Die gesellschaftliche Tat, die erst das Geld wirklich konstituiert, ist nicht die Handlung freier Individuen, sie kann nur erfolgen, wenn diese unterm Zwang des Staates vereint sind"168. Der Eindruck einer solchen gleichsam etatistischen Wert- und Geldtheorie setzt sich in Scheits Interpretation des Krisenbegriffs fort. Wenn Marx Krise als .gewaltsame Herstellung' der Einheit der verselbständigten Momente Ware und Geld bzw. Produktions- und Zirkulationsprozess beschreibt169, so fasst Scheit dies als „ex negativo"170- Hinweis auf staatliche Gewalt. Dass diese in Krisen de facto immer auch eine Rolle spielt, so wie in der gesellschaftlich gültigen Bestimmung einer Geldware, soll hier nicht in Abrede gestellt 166 167 168 169 170

Zitate der Reihenfolge nach: Scheit 2004, S. 143, 149. MEGA II/5, S. 53 (zitiert in Scheit 2004, S. 142). Zitate der Reihenfolge nach: Scheit 2004, S. 144,143,151. Vgl. MEW 23, S. 128 (MEGA II/5, S. 74); MEW 25, S. 259 (MEGA H/4.2, S. 323). Scheit 2004, S. 153.

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werden, umso mehr aber, dass bei Marx der Staat im Begriff der Krise a priori anwesend sei. Marx weist den Begriff der Krise vielmehr als immanent ökonomischen, deren Gewaltsamkeit als strukturellen Zwang aus. Verselbständigung und Vereinheitlichung als Momente des Krisenbegriffs sind, auf dieser Ebene der Darstellung, Implikate der Gesetze kapitalistischen Warentauschs und rekurrieren nicht auf die außerökonomische Zwangsgewalt des Staates. Dieser Überblick über die Debatte lässt, trotz aller manchmal kleinlich erscheinenden Differenzen, einige Grundpositionen der ,neuen Marx-Lektüre' erkennen, die für ein angemessenes Verständnis der Marxschen Ökonomiekritik von Bedeutung sind: Gegen den noch heute fortwesenden methodologischen Traditionsbestand und dessen geradezu empiristische Gegenstandsauffassung wird die Bedeutung der Abstraktionsstufen in der Marxschen Darstellungsweise und damit auch erst der eigentliche Sinn (und Unterschied) der ersten beiden Kapitel des Kapital herausgearbeitet. Geldtheoretisch wird damit der Gedanke einer ,praxeologischen' Tauschtheorie des Geldes, den die marxistische Orthodoxie, analytische Deutungen des Kapital und die bürgerliche' Volkswirtschaftslehre gemein haben, destruiert. Schließlich gibt die Diskussion Hinweise darauf, wie Marx den Zusammenhang von Ware und Geld mittels dialektischer Darstellung als Teil der Erklärung eines selbstreproduktiven Systems konzipiert, in dem .jedes ökonomische Verhältnis das andere in der bürgerlich-ökonomischen Form voraussetzt und so jedes Gesetzte zugleich Voraussetzung ist"171. Marx wird damit als Denker der organisierten Komplexität' präsentiert, dessen Ansatz von linearen Kausalitätsvorstellungen weit entfernt ist und der zudem eine plausible Analyse des die soziologische Grundlagendebatte umtreibenden Verhältnisses von Handlung und Struktur anbietet. Was die Problematik der Einheit des Marxschen Werks sowie die Frage nach den Ursachen der Popularisierungen im Kapital betrifft, so gehen die Positionen auseinander. Die diesbezüglichen Extrempositionen im Rahmen der neuen Marx-Lektüre bilden zweifellos Backhaus auf der einen und Dieter Wolf auf der anderen Seite, was auch Konsequenzen für deren Rekonstruktionsbegriffe hat (,Die Theorie auseinandernehmen und neu zusammensetzen, um das Ziel besser zu erreichen' vs. ,Nach-Denken' der entwickeltsten Variante der Ökonomiekritik im Kapital). Dabei ist es erst Helmut Reichelt, der den Backhausschen Rekonstruktionsbegriff in die Tat umsetzt, dabei aber in konstitutionstheoretische Paradoxien verfallt und nahezu sämtliche Erkenntnisse der Diskussion über den Darstellungsgang des Kapital einkassiert. Klären lässt sich die Frage, ob im Laufe der Entwicklung der Marxschen Darstellungsvarianten der Ökonomiekritik „eine konzeptionelle oder bloß sprachliche Popularisierung"172 vorliegt, aber nicht allein anhand der Thematisierung der Einfügung der Geldform. Dazu sind weitere Aspekte der Marxschen Kritik und ihrer Versionen einzubeziehen.

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MEW 42, S. 203 (MEGA II/l.l, S. 201). Hoff 2003, S. 1.

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1.3.3 Exkurs zur Werttheorie als Kapitaltheorie Nicht nur hinsichtlich des Verhältnisses von Wert und Arbeit oder der Beziehung von Wertform- und Austauschanalyse entzünden sich Kontroversen innerhalb der neuen MarxLektüre. Auch der Übergang vom Geld zum Kapital ist als zentrale theoretische Scharnierstelle des Marxschen Werks Gegenstand methodologischer Auseinandersetzungen geworden. Im Gegensatz zu den bisher rekonstruierten Debatten ist diese aber noch wenig entwickelt, obwohl Marx' Anspruch einer systematischen Darstellung bzw. einer Darstellung des systematischen Zusammenhangs der modernen Reichtumsformen hier eine große Beweislast auf sich lädt, die zu der These geführt hat, eine Werttheorie sei nur als Kapitaltheorie rational begründbar1. Auch politische Implikationen der Debatte sind leicht auszumachen: Wer den Zusammenhang zwischen Wert und Geld einerseits und Kapital andererseits als bloß kontingenten begreift 2 und Marx' Kritikprogramm zudem erst mit dem vierten Kapitel des ersten Bandes beginnen lässt3, dem drängt sich ein marktsozialistisches Emanzipationsmodell quasi automatisch auf 4 . Gerade hier ist eine „unmittelbar politische Qualität"5 der Marxschen Analysen auszumachen, die zu seiner Zeit insbesondere die proudhonistisch6 und linksricardianisch7 inspirierte Arbeiterbewegung betrifft, der Marx die „Unfähigkeit" vorwirft, „zu sehn, wie der Austausch der Waren auf dem Austausch zwischen Kapital und 1

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Was W.F. Haug halb ironisch als noch zu ziehende Konsequenz aus der monetären Werttheorie betrachtet (vgl. Haug 2004b, S. 707), ist also schon längst ausgesprochen worden. Vgl. u.a. Schräder 1980, S. 207, Brentel 1989, S. 265, Heinrich 1999, S. 256, Iber 2005, S. 119. Wie Engels, der den von Marx im Kapital nachgezeichneten systematischen Zusammenhang der Bestimmungen der einfachen Zirkulation mit dem Kapital als historische Abfolge begreift. Der Umschlag des Aneignungsgesetzes gilt ihm daher als Ablösung einer Epoche einfacher Warenproduktion durch den Kapitalismus: Vgl. MEW 20, S. 151 (MEGA 1/27, S. 354): „Nun aber hat Marx im .Kapital' sonnenklar nachgewiesen [...], daß auf einem gewissen Entwicklungsgrad die Warenproduktion sich in kapitalistische Produktion verwandelt und daß auf dieser Stufe ,das auf Warenproduktion und Warenzirkulation beruhende Gesetz der Aneignung oder Gesetz des Privateigentums durch seine eigne, innere, unvermeidliche Dialektik in sein Gegenteil umschlägt'". Wie Andreas Wildt (1986), der die Bestimmungen der einfachen Zirkulation als „vereinfachendet...] Modellannahme[...]" (S. 155) der „Gesetze einer rationalen und legitimen Ökonomie" (170) versteht, von denen aus dann die kapitalistische Aneignung kritisiert werde. Zur Kritik an Wildt vgl. Heinrich 1999, S. 373-379. Vgl. u.a. Bischoff/ Menard 1990, S. 114ff. Schräder 1980, S. 211. Vgl. dazu die instruktive Konfrontation der Proudhonschen Theorie einfacher Warenproduktion mit den Einsichten der Marxschen Ökonomiekritik bei Brentel 1989, Kap. V. Jan Hoff weist auf den problematischen Charakter dieser Bezeichnung hin. Die ,Linksricardianer' oder ,ricardianische Sozialisten' genannten Vertreter einer populären politischen Ökonomie in den 1820er/ 30er Jahren haben nicht nur sehr heterogene ,antikapitalistische' Positionen vertreten, sie waren oft auch gar keine Sozialisten oder Ricardianer. So der prominente Vertreter dieser Strömung Thomas Hodgskin, der nicht für Gemeineigentum, sondern für das individuelle Recht auf Eigentum durch eigene Arbeit und nicht auf Ricardos, sondern eigentlich auf Smiths Werttheorie rekurriert, da er die Wertbestimmung durch Arbeit nicht in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern erst in einer von unentgeltlicher Aneignung befreiten Gesellschaft realisiert sieht; vgl. Hoff 2006, S. 288, 291, 298f. (Anm. 6 und 7) sowie Hoff 2008.

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

309

Arbeit beruht"8 (und vice versa). Der folgende Exkurs soll aber nicht dieses zentrale Element der Marxschen Ökonomiekritik im Detail nachzeichnen9, sondern lediglich einen kurzen Einblick in die Grundargumentation einer Wert- als Kapitaltheorie und der Problematisierung dieses Zusammenhangs anhand der Diagnose eines popularisierten oder gar scheiternden Übergangs vom Geld zum Kapital geben. Bereits Roman Rosdolsky zeichnet den Übergang zum Kapital, wie er in den Grundrissen bzw. dem Urtext zu finden ist, relativ ausführlich nach. Er stellt dabei fest, dass zwar sowohl in den Grundrissen als auch im Kapital eine Erklärung der Verwandlung von Geld in Kapital aus dem Verhältnis des Werts zu einem spezifischen Gebrauchswert, der damit zu einer ökonomischen Kategorie werde10, erfolgt, im Kapital aber nur die abgeleitete Lösung ohne die Ableitung selbst präsentiert werde". Diese erste Popularisierungsdiagnose wird aber noch von Rosdolskys bereits beschriebener historizistischer Methodenvorstellung flankiert. Zu einer Herausarbeitung des dezidiert nicht-historischen Charakters des Übergangs als struktureller Zusammenhang kommt er in seiner Arbeit nicht. Während Helmut Reichelt im Jahr 1970 den Übergang im Urtext noch „geschmeidiger"12 findet als den im Kapital - und damit implizit unterstellt, es gebe dort einen, ist es wahrscheinlich zuerst die PEM, die 1973 auf der Grundlage eines logisch-systematischen Deutungsansatzes die Übergänge in Rohentwurf und Urtext mit dem Kapital vergleicht und die These einer mangelhaften Darstellung in letzterem formuliert. Die Nachzeichnung der Marxschen Argumentation sieht dabei wie folgt aus: Im Rohentwurf entwickle Marx zunächst die Dialektik der Geldfimktionen. Während Geld als Wertmaß nur ideell gesetzt sei, um den Waren einen Preis zu geben, wozu keine einzige reale Münze nötig sei, dafür die Dimension der Qualität die zentrale Rolle spiele - die Tatsache der vorgestellten Gleichsetzung mit einer bestimmten, ausgeschlossenen Ware - , werde im Geld als Zirkulationsmittel seine Quantität wesentlich, seine Qualität dagegen sekundär: Es diene nur dem Formwechsel der Gebrauchswerte und könne als bloßes Tauschmittel durch Zeichen der zu repräsentierenden Äquivalentware ersetzt werden13. Geld als Geld hingegen sei weder bloß vorgestelltes Goldquantum noch bloßes Mittel des Stoffwechsels, in ihm seien Qualität und Quantität gleichermaßen bedeutsam. Als materieller Repräsentant des gesellschaftlichen Reichtums diene es als Wertaufbewahrungsmittel, repräsentiere Wert in seiner leiblichen Gestalt - d.h. auch außerhalb des und gegenüber dem reellen Zirkulationsprozess. Als in seiner „metallischen Leiblichkeit [...] fixiertfe] [...] Wertgestalt"14 mache sich in ihm der Widerspruch zwischen universeller Qualität (Repräsentant des allgemeinen Reichtums, gesellschaftlicher Form) und partikularer Quantität (reelle Exis-

8

M E W 42, S. 7 3 4 ( M E G A II/1.2, S. 709).

9

D i e m.W. bisher ausführlichsten Rekonstruktionen des Übergangs finden sich in PEM 1973 und Friedrich 1999.

10

Rosdolsky 1968, S. 111, 228, 230. " Vgl. ebd., S. 228. 12

Reichelt 1973, S. 244. Zu Reichelts Behandlung des Verhältnisses von einfacher Zirkulation zur Produktion vgl. Kapitel 1.1 dieser Arbeit.

13

Vgl. PEM 1973, S . 4 9 f .

14

Ebd., S. 65.

310

WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

tenz als bloß begrenzte Geldsumme) geltend15. Dieser Sachverhalt wird der PEM zufolge im Kapital noch klar ausgesprochen16: Im Geld als Geld sei die Möglichkeit, in seinem inhärenten Widerspruch die Triebkraft zur maßlosen und Geld als Selbstzweck setzenden Akkumulation begründet. Die Verselbständigung des Werts im Geld gehe auf dieser Ebene der Darstellung über die erste Gestalt der Selbständigkeit - als Wertmaß und Zirkulationsmittel gegenüber allen anderen besonderen Waren, d.h. gegenüber dem Gebrauchswert als solchem - hinaus17. Der Wert sei im Geld als Geld nun auch gegenüber seinen verschwindenden' Funktionen als Wertmaß und Zirkulationsmittel verselbständigt18. Auf der Ebene der einfachen Zirkulation sei diese Verselbständigung und dieses selbständige Fixieren des Werts im Geld aber nur in Form von Schatzbildung, Bereicherung durch Entzug des Geldes aus der Zirkulation, möglich (W-G), womit sich die selbständige Existenzweise des Werts als illusorisch erweise. Es stehe als dinghaft fixierte Repräsentation des Werts in einem negativen Spannungsverhältnis zur Zirkulation19: Werde es in die Zirkulation geworfen, verliere es seine Formbestimmtheit, gehe in die Funktion als ideelles Maß oder ephemeres Tauschmittel über, verliere letztlich im Akt der Konsumtion seine ökonomische Gestalt und werde als besondere Form des Reichtums verzehrt. Werde es der Zirkulation vorenthalten, verliere es ebenso seine Formbestimmtheit, da es nur in Bezug auf den Austausch Reichtum darstelle, und regrediere zum bloßen Gebrauchswert20. Dieser Widerspruch der Geldform, der zugleich anzeige, dass die einfache Zirkulation zu keiner Selbstreproduktion fähig sei, bedinge - am Maßstab der adäquaten Form der selbständigen Existenz des Werts - den Übergang zum Kapital. Dieser Übergang sei Marx zufolge kein historischer, sondern erkläre den notwendigen Zusammenhang gleichzeitig existierender und sich wechselseitig stützender Systemmomente: „Wir haben es hier jedoch nicht mit historischem Uebergang der Circulation in das Capital zu thun. Die einfache Circulation ist vielmehr eine abstrakte Sphäre des bürgerlichen Gesammtproductionsprocesses, die durch ihre eigenen Bestimmungen sich als Moment, blose Erscheinungsform eines hinter ihr liegenden, ebenso aus ihr resultirenden, wie sie producirenden tieferen Processes - das industrielle Capital - ausweist"21. Geld werde aus dem bloßen ,Gespenst' des gesellschaftlichen Reichtums zu seiner sich erhaltenden wirklichen Existenzweise nur, wenn es aus seiner dinghaften in eine prozessuale Form übergehe. Das Eingehen des Geldes in die Zirkulation müsse, so Marx, dabei Moment der Erhaltung des Werts sein, ebenso wie der Akt der Konsumtion der Ware, gegen die das Geld eingetauscht wird, was Marx in der Hegeischen Figur des ,Beisichbleibens im anderen'

15 16 17

18 19 20

21

Vgl. ebd., S. 64, 97. Vgl. MEW 23, S. 147 (MEGA II/5, S. 90f.). Präziser formuliert: Hier gelten die Waren als bloße Gebrauchswerte, während der Gebrauchswert der Geldware als Wert schlechthin gilt. Nur so unterscheidet sich der Wert auf der Erscheinungsebene wirklich von allem Gebrauchswert. Vgl. auch Friedrich 1999, S. 179f., 191, 323. Vgl. PEM 1973, S. 56, 65, 97. Vgl. MEGA II/2, S. 74: „Solange es der Circulation entzogen bleibt, ist es ebenso werthlos, als läge es im tiefsten Bergschacht vergraben". MEGA II/2, S. 68f.

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

311

beschreibt22. Die Formel G-W-G wird damit zur Lösungsform des Widerspruchs der Geldform erklärt. Die zunächst als Voraussetzung gefasste, in ihrem bloßen Sein als Unvermittelte dargestellte einfache Zirkulation erweise sich dabei in mehrfacher Hinsicht als Resultat eines .hinter ihr liegenden' Prozesses: Als universelle Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels existiere sie nur auf Grundlage des kapitalistischen Klassenverhältnisses - nur dann nehmen Arbeitskraft und Konsumgüter der unmittelbaren Produzenten systematisch Warenform an; als bloße Vermittlungsform des Reichtums sei sie darauf angewiesen, dass ihr Waren stets von außen, seitens der Produktion, zugeführt werden. Als den Wert nicht selbständig setzende sei sie nicht der Ort autonomer Reproduktion ökonomischer Formen. Sie erweise sich - auch unter Berücksichtigung ihrer formbestimmten sozialen Beziehungen23 - als „abstrakte Sphäre"24, heteronomes Moment, deren Kategorien noch systematisch unterbestimmt seien25. Die Bestimmungen der einfachen Zirkulation (Ware/ Geld, Käufer/ Verkäufer, Gläubiger/ Schuldner, Schatzbildner) als formelles, die Formbestimmungen der Waren (Gebrauchswert/ Wert) nicht eigenständig setzendes und erhaltendes, Austauschverhältnis sind demnach darstellungsmäßig notwendige, aber noch nicht hinreichend bestimmte „reine Abstraktionen"26, noch nicht in ihren notwendigen Vermittlungszusammenhang mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen gesetzte Kategorien, die aber dem zirkulationsfixierten Blick als einfache, im Sinne von unabhängig, selbstkonstitutiv gegenüber den entwickelteren Formen erscheinen27: „Diese einfache Zirkulation für sich betrachtet, und sie ist die Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft, worin die tiefern Operationen, aus denen sie hervorgeht, ausgelöscht sind, zeigt keinen Unterschied zwischen den Subjekten des Austausches, außer nur formelle und verschwindende"28. Der Übergang vom Geld zur allgemeinen Formel des Kapitals wird aber der PEM zufolge im Kapital durch eine bloße Konfrontation zweier an der Oberfläche erscheinender Formbewegungen ersetzt29. Die Form G-W-G werde dort nur faktisch ,vorgefunden' 30 und aufgegriffen, was explizit als „Mangel [...] der Darstellung im ,Kapital'" bewertet wird. Es werde „nicht mehr deutlich, in welchem inneren Zusammenhang Warenzirkulation und Kapitalzirkulation stehen", was das historizistische Missverständnis befördere, dass die abstrakteinseitig bestimmten einfachen Kategorien der einfachen Zirkulation empirisch reifiziert und historisch verselbständigt „nur in unentwickelter Warenzirkulation gelten"31. Insbesondere die Aneignungsgesetze des Warentauschs und die in ihm generierten sozialen Beziehungen (Freiheit, Gleichheit, Eigentum) würden so ihrem konstitutiven Zusammenhang mit den widersprechenden Bestimmungen der kapitalistischen (Re-) Produktionssphäre entledigt und

22 23 24 25 26 27 28 29 30

31

Vgl. ebd., S. 77. Vgl. PEM 1973, S. 80f. MEGA II/2, S. 68. Vgl. PEM 1973, S. 73, 101. MEW 42, S. 173 (MEGA II/l.l, S. 171). Vgl. dazu vor allem Brentel 1989, S. 243ff. MEW 29, S. 317 (MEGA III/9, S. 125). Vgl. PEM 1973, S. 102. Vgl. MEW 23, S. 162 (MEGA II/5, S. 102f.): „Neben dieser Form [W-G-W] finden wir aber eine zweite, spezifisch unterschiedne vor, die Form G-W-G". Zitate der Reihenfolge nach: PEM 1973, S. 93, 103, 93.

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letztlich einer selbständigen historischen Epoche zugewiesen. Marx' fehlender Übergang im Kapital stelle so für die Vertreter der Theorie einfacher Warenproduktion' Scheinevidenzen zur Verfugung. Diese Kritik am ,fehlende[n] Übergang zum Kapital12 in der Darstellung des Kapital wird Michael Heinrich dann in den 1990er Jahren aufgreifen und als Resultat der Popularisierungstendenzen bei Marx deuten. Erst der Widerspruch der allgemeinen Formel des Kapitals - die ZirkulationsProduktions-Antinomie - , so die PEM, werde im Kapital wieder dialektisch entfaltet. Hier unterscheiden sich demnach die Lösungen durch Rekurs auf den Tausch zwischen Geld und Arbeitskraft und die Realisierung des spezifischen Gebrauchswerts der Arbeitskraft im Produktionsprozess nicht von der Darstellung im Rohentwurf3. Die von Marx im Urtext konstatierten Grenzen dialektischer Darstellung, die historische Existenz der Ware, deren Kauf Wert erhält, ja vermehrt und so Wert als selbstreproduktiven Prozess konstituiert, werden schließlich als Indiz für die Nicht-Ableitbarkeit der historischen Voraussetzungen des Kapitals aus seiner immanenten Logik bestimmt. Gegenstand dialektischer Darstellung sei daher eine von nicht selbstgesetzten Voraussetzungen abhängige, aber diese einmal vorausgesetzten, vorgefundenen Bedingungen beständig als Resultate ihrer selbst setzende Systemdynamik34. Während die PEM und andere lediglich eine Popularisierung bzw. ein durch die Hinzuziehung der Grundrisse und des Urtextes behebbares Fehlen des Übergangs vom Geld zum Kapital im Kapital diagnostizieren, geht Dieter Riedel von einem folgenreichen Scheitern des Übergangs in den ökonomiekritischen Arbeiten der späten 1850er Jahre aus. In Anknüpfung an Gerhard Göhlers These einer Reduktion der Dialektik bei Marx identifiziert Riedel eine Krise des Methodenverständnisses von Marx im Jahr 1858. Er stellt zunächst fest, dass Marx in der Einleitung zu den Grundrissen (1857) sowie im Heft IV des Rohentwurfs (1857) den Unterschied zwischen ,Werden' (Entstehungsprozess) und .Dasein' (Reproduktionsprozess aufgrund historischer Resultate) des Kapitals einführe, der sich seiner ReLektüre der Hegeischen Logik verdanke. Marx entdecke so das Rationelle an Hegels Konzept der Selbstvermittlung" und seiner Unterscheidung von linear-endlichen und zirkulärunendlichen Prozessen, was in Engels' Methodenreflexion aus dem Jahr 1859 „vom Ansatz her verfehlt" werde. Marx' Unterscheidung zwischen ursprünglich vorgefundenen Bedingungen (des historischen Entstehens) und selbstgeschaffenen (als Umschlagen von Voraussetzungen in „Resultate dessen, wovon sie Voraussetzungen sind") entsprechen nach Riedel die Unterscheidungen in lineare Prozess- und zirkuläre Systemform als Modi der „Entwicklung aus Bedingungen" sowie zwischen der historischen Darstellung der ersteren und der systematischen der letzteren. Sowohl jene Geschichts- als auch diese Systemdarstellung könnten dabei in dem Sinne als genetische verstanden werden, als beide einen Gegenstand aus seinen Bedingungen heraus rekonstruierten.

32 33 34

Heinrich 1999, S. 2 5 3 , 2 5 6 f . Vgl. PEM 1973, S. 102. Vgl. ebd., S. 104.

313

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

exteme, historischer Entstehungsprozess vorgefundene ¡¡81 Bedingungen (»Werden') immanenter Reprodukinterne, tionsprozess (,Dasein') selbstgenerierte Bedingungen

lineare Prozessform

genetische Geschichtsdarstellung

zirkuläre Systemform

genetische Systemdarstellung

(Tabelle: Wissenschaftliche Darstellungsformen nach Hegel und Marx gemäß Riedel)

Marx folge Hegel in dessen Bestimmung dialektischer Begriffsentwicklung als rein immanentem Über-sich-Hinausgehen in Form einer Keimzellenentwicklung. Dialektische Darstellung habe zur Voraussetzung, „daß die Sache, die im Resultat Existenz gewinnt, im Anfang der Entwicklung an sich schon vorhanden ist [...] ohne sie ist keine dialektische Entwicklung möglich [...] Hegel illustriert diese Voraussetzung dessen, was er Entwicklung oder ,innere Selbstbewegung' nennt, am Keim einer Pflanze: ,Dieser enthält bereits die ganze Pflanze in sich'". Das Modell eines reinen Prozesses, dessen Anfang (Bedingungen) und Ende (Resultate) identisch sind und seine dialektische Darstellung seien nun auf linear-historische Entwicklungen nur aufgrund geschichtsphilosophischer Prämissen anwendbar. Genau dies geschehe bei Hegel: Die Bedingungen historischer Prozesse seien ihm zufolge nicht kontingent, sondern „in Rücksicht auf die Sache, die [...] im Resultat Existenz gewinnt" entstanden, also teleologisch in Gestalt einer List der Vernunft konzipiert. Damit sei das Resultat im Anfang, d.h. im Entstehen seiner Bedingungen bereits vorweggenommen, erhalte Geschichte „eine Verwandtschaft mit der organischen Bewegungsform" und sei somit dialektisch darstellbar. Diese geschichtsmetaphysischen Prämissen würden nun von Marx radikal verworfen. Bereits 1858 kämen ihm danach „Zweifel [...], ob historische Prozesse"35 dialektisch dargestellt werden können. Er mache damit den Systemcharakter des Gegenstands zur Voraussetzung der Gültigkeit dialektischer Entwicklung und unterscheide konsequent historischen Prozess und Systemform. In den folgenden Jahren werde Marx immer deutlicher, dass die Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln und die Aufhäufung von Geldvermögen als historische Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise kein notwendiges Produkt der Waren- und Geldzirkulation seien, wie er noch in den Grundrissen unterstellt habe36. Sowohl diese jeweiligen Bedingungen als auch ihr Verhältnis zueinander gelten fur Marx nun als Resultate kontingenter Prozesse, worauf die 1877/81 eingeführte Kategorie des historischen Milieus' 37 reflektiere, die „im Kontext der Geschichtsdarstellung aufeinander folgende Entwicklungsstufen"38 vermittle. Erst wenn die Bedingungen und ihr Verhältnis zueinander im Rahmen eines solchen historischen Milieus hervorgebracht worden seien, beginne die Systemdynamik einer Selbstreproduktion dieser Voraussetzungen.

35 36

37 38

Zitate der Reihenfolge nach: Riedel 1997, S. 7, 8, 5, 8, 28, 31, 32, 18. Vgl. ebd., S. 36. Riedel verweist auf MEW 42, S. 183, vgl. aber auch ebd., S. 201f. (MEGA II/l.l, S. 180, 183, 199f.). Vgl. MEW 19, S. 112 (MEGA 1/25, S. 117). Riedel 1997, S. 37.

314

WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

Riedel behauptet nun, Hegels ,Standpunkt der Reflexion', der von Marx erst 1861 zur Erforschung und Darstellung selbstbezüglicher Systeme übernommen worden sein soll39, stelle nichts anderes als die „regressiv-analytische Methode" 40 dar. Diese bestehe im Einholen der Vermitteltheit eines scheinbar Unvermittelten, im ,„rückwärtsgehende[n] Begründen des Anfangs'" 41 . Der Anfang werde dabei als Resultat eines - in diesem Resultat ausgelöschten - Prozesses verstanden und auf seine Bedingungen zurückgeführt. Diese seien als Bedingungen einer Sache, eines Prozesses nur vom Resultat her bestimmbar 42 . Stelle die Entwicklung des Resultats aus den Bedingungen den wirklichen Prozess dar, so die Erschließung der Bedingungen aus dem Resultat mittels einer abstrahierend-isolierenden Methode den Weg des analytischen Erkennens, das „in Hegels spekulative Methode eingewoben" sein soll. Riedel vertritt letztlich die These, mit der Erkenntnis der Grenzen dialektischer Darstellung im Jahre 1858, die im Folgenden anhand des Übergangs vom Geld zum Kapital im Urtext expliziert wird, sei eine ,JCrise im Methodenverständnis von Marx" zu konstatieren, der ein „Übergang vom synthetischen zum analytischen Paradigma" gefolgt sei. Da weder historisch noch systematisch das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise im Anfang der Darstellung schon gegeben sei, müsse dies als Verabschiedung des Anspruchs „einer dialektischen Begriffsentwicklung" gewertet werden. Die einfache Zirkulation ist nun nach Riedel zwar auch historische Vorstufe des Werdens der kapitalistischen Produktionsweise, der Urtext thematisiere sie aber allein „im Kontext einer Sysiemdarstellung"43. Marx trete nun mit dem Anspruch einer Darstellung dieses Systems sich wechselseitig voraussetzender Formen an: Die einfache Zirkulation solle sich „,durch ihre eigenen Bestimmungen als Moment'" 44 des Systems erweisen, d.h. sie soll durch sich selbst über sich selbst auf komplexere Formen hinausweisen: Geld, so Riedel, sei nun in der einfachen Zirkulation aber als gleichgültig gegen die Besonderheit der Waren bestimmt 45 . Der Schritt, der letztlich den Übergang vom Geld ins Kapital bewirke, sei der Kauf der Ware Arbeitskraft und deren Anwendung - also die Beziehung des Geldes zu einer besonderen Warenart. Dieser Schritt, der zur Fortbestimmung des Geldes als Kapital führe, werde durch den Rekurs auf arbeitswerttheoretische Voraussetzungen ermöglicht: Nur .lebendige Arbeit' schaffe Wert. Diese sei nicht in der einfachen Zirkulation gegeben. Marx wechsle nun aber „unvermittelt" 46 zwischen den Ebenen von Ware Arbeitskraft (Zirkulation) und Arbeit (Produktion/ produktive Konsumtion), was zunächst zu einigen terminologischen Konfusionen führe, wenn er z.B. von der „Waare [...] Arbeit" spreche47. Schon im

39 40 41 42 43 44 45 46 47

Vgl. ebd., S. 23. Ebd. Hegel zitiert in Riedel 1997, S. 22. Vgl. ebd., S. 25. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 40, 39,40,40, 9. Vgl. MEGA II/2, S. 68f. (zitiert in Riedel 1997, S. 9, Hervorhebung von Riedel). Vgl. Riedel 1997, S. 10. Ebd., S. 11. MEGA II/2, S. 90 (zitiert in Riedel 1997, S. 12). Helmut Brentels Versuch, im Urtext die Variante eines immanenten Übergangs vom Geld zum Kapital zu identifizieren, welche den Schluss auf den Tausch von Geld mit der spezifischen Ware Arbeitskraft als formerhaltenden, „substantiellen Wechsel" „am Begriff der Arbeit selbst" (301) vollziehe, kann deshalb nicht überzeugen, weil er

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

315

Urtext unterscheide Marx allerdings „der Sache nach" 48 zwischen Gebrauchswert in der Zirkulation (als Vermögen oder möglicher Gebrauchswert) und in der Konsumtion (wirklicher Gebrauchswert), während dann in den Resultaten schon klar zwischen den wechselseitig aufeinander verwiesenen Prozessen differenziert werde, in denen Geld zu Kapital wird (Kauf des Arbeitsvermögens in der Zirkulation - Konsumtion der Arbeitskraft als Wirken der Arbeit in der Produktion) 49 . Das Hinausweisen über die einfache Zirkulation werde also durch Betrachtung des spezifischen Gebrauchswerts der Arbeitskraft, ihrer wertschaffenden Eigenschaft als im kapitalistischen Produktionsprozess angewandte - bewerkstelligt. Die Realisierung des Gebrauchswerts finde aber außerhalb der Zirkulation statt, weshalb in dieser kein Selektionskriterium für die Arbeitskraft als wertbildende Ware aufzufinden sei50. Damit sei das »Auffinden' der Arbeitskraft als spezifische Warenart, die die begriffliche Entwicklung weitertreibt, nicht .immanent', aus den .eignen' Bestimmungen der einfachen Zirkulation abgeleitet. Die Auswahl werde von Marx aufgrund seines Wissens um die außerhalb der Zirkulation liegenden Bestimmungen .empirisch aufgreifend', ,faktisch"51, vorgenommen. Theoretisch sei demnach zwar am Ende des Urtexts die Funktion von Arbeitskraft und Arbeit bei der Verwandlung von Geld in Kapital geklärt, methodisch ergebe sich aber das Problem, dass Marx den Übergang von der einfachen Zirkulation ins Kapital nicht mehr immanent vollziehen könne. Es finde ein Vorgriff sowie eine Aufnahme von nicht-abgeleiteten Kategorien statt: „In der einfachen Zirkulation, aufgefaßt als [...] .Moment' des bürgerlichen Gesamtproduktionsprozesses, ist [...] die Ware Arbeitskraft vorhanden - aber innerhalb der einfachen Zirkulation nur als Ware wie alle anderen Waren. Das Geld entwickelt dieser Ware gegenüber ein besonderes Verhältnis aufgrund der Besonderheit ihres Gebrauchswerts, daß seine Konsumtion ,Tauschwerthsetzende Consumtion' ist. Die letztere Besonderheit gehört nicht zu den ,eigenen Bestimmungen' der einfachen Zirkulation und läßt sich daraus auch nicht ableiten52, ist aber eine notwendige Bedingung für die Entstehung des wirklichen Kapitals. Diese theoretische Struktur, und damit zugleich die Tatsache, daß die Arbeitskraft auf dieser Stufe der Darstellung .vorgefunden' wird, hat Marx später im Kapital klar herausgearbeitet" 53 . Riedels Hinweise auf bestimmte Vor- bzw. Rückgriffe sowie kategoriale Unschärfen in der Argumentation des Übergangs in den Manuskripten der Jahre 1857/58 werden zwar als

gerade diese Unscharfe der Terminologie des Urtextes nicht thematisiert. Im Gegensatz tote - lebendige Arbeit, den Marx hier für den Übergang verwendet, gehen die zu unterscheidenden Sachverhalte von .lebendiger' Arbeit als potenzieller (Arbeitsvermögen) und aktualer (Arbeit) noch oft durcheinander. 48 49

50 51 52 53

Riedel 1997, S. 12. Diese Differenzierung findet sich allerdings auch, wenn auch immer wieder verschleiert durch den noch unspezifisch verwendeten Begriff .lebendige Arbeit' (der einmal die Arbeitskraft, dann die Arbeit bezeichnen soll), im Urtext, vgl. MEGA II/2, S. 90: „Das Arbeitsvermögen selbst ist der Gebrauchswerth, dessen Consumtion unmittelbar mit der Vergegenständlichung der Arbeit, also der Setzung des Tauschwerths zusammenfällt". Vgl. Riedel 1997, S. 13. Ebd., S. 14. Diese These findet sich bereits bei Schräder 1980, S. 147. Riedel 1997, S. 15.

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durchaus treffend bezeichnet54, doch die Folgerungen, die er daraus für die Entwicklung des Marxschen Methodenkonzepts zieht, stoßen in der Debatte auf einhellige Ablehnung55. Es wird dabei allerdings nicht ausführlicher auf Riedels Behauptung eingegangen, Marx habe nach der Entdeckung der Grenzen dialektischer Darstellung eine analytische Darstellungsform gewählt. Hier scheint er den Fortgang der Darstellung moderner Reichtumsformen, der von Marx als Einholen notwendiger Voraussetzungen der zunächst thematisierten Formen, als Nachweis ihrer spezifischen Vermittlung, konzipiert wird, mit einer analytischen Reduktion zu verwechseln. Doch die Darstellung bleibt ungeachtet ihres progressiv-,regressiven' Charakters (des Rückgangs in den ,Grund' der Form, in die ursächlichen gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhänge ihres universellen und systematischen Bestehens56), auch im Kapital noch eine synthetische, die immer komplexere Abstraktionsniveaus thematisiert und ausgehend von einfacheren entschlüsselt. Es mag auch schlicht der überzogene Begriff der Immanenz dialektischer Darstellung sein, der Riedel den Begriff einer analytischen Darstellung unspezifischer gebrauchen lässt. Jedenfalls lassen sich alle Argumente, die Helmut Brentel bereits 8 Jahre vor Riedels Aufsatz zum Problem der Übergänge und gegen deren keimzellendialektische Interpretation angeführt hat57, auch gegen Riedels Identifizierung von Dialektik mit dem Konzept einer Hegeischen Dialektik des ,Zusehens ohne Zutat' ins Feld fuhren. Helmut Reichelt begreift den Übergang vom Geld zum Kapital als konstitutives Element der gedanklichen Reproduktion realer Verselbständigung des Werts, bzw. des scheinbar harmlosen ,Mediums' Geld, hin zu einem wirklich selbstreproduktiven Systemzusammenhang58. Sowohl die „intertemporale"59 Existenz des Werts als auch seine Verkehrung zum objektiven Zweck der Vergesellschaftung werde von Marx hier nachgewiesen. Dialektische Darstellung sei in diesem Kontext bestimmbar als „Konfrontation des Begriffs des verselbständigten Wertes [...] mit der Wirklichkeit des Austausches". Gegen Riedels keimzellendia54 55 56 57 58

59

Vgl. Heinrich 1999, S. 177 (Fn.). Vgl. ebd. sowie Reichelt 2000, Wolf 2007. Vgl. ausführlich Brentel 1989, S. 257ff. Vgl. ebd., S. 302-306 sowie Kapitel 1.2.2 dieser Arbeit. Im Anschluss an Reichelt thematisiert Hanno Pähl (2003, 2004) in kritischer Auseinandersetzung mit Habermas und Luhmann die Bedeutung des Übergangs und seiner dialektischen Darstellung als theoretischer Erfassung der realen Autopoiesis des ökonomischen Systems, als Einlösung des von Simmel (.objektive Synthesis') bis Luhmann (,es gibt Systeme') in der Soziologie nur postulierten essentialistischen Systembegriffs. Weder sei mit der Kategorie des Geldes als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium die Wertaufbewahrungs- und Kapitalfunktion des Geldes zu erklären (vgl. auch Ganßmann 1996, S. 128-162) noch könne über das Einheitsprinzip .Zahlung' die Selbstreproduktion der Ökonomie erklärt werden. Marx weise im Gegensatz zu diesem grundbegrifflichen Verbleiben der Soziologie in der einfachen Zirkulation diese als bloß analytischen Systembegriff aus, dessen „Einheit [...] nur vom Standpunkt des Beobachters aus vorhanden" sei (MEW 42, S. 537 (MEGA II/1.2, S. 522), zitiert in Pähl 2003, S. 7). Vgl. auch Wolf 2007, S. 72: „Mit der Rolle, die das Geld im doppelseitig polaren Gegensatz spielt, ist die Stufe der Vermittlung erreicht, während mit der Rolle, die das Geld in der neuen, über den doppelseitig polaren Gegensatz hinausgehenden, Bewegungsstruktur spielt, die Stufe der Selbstvermittlung erreicht ist". Backhaus/ Reichelt 1995, S. 83. Vgl. auch Heinrich 1999, S. 255.

OBJEKTTHEORETISCHE KONSEQUENZEN

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lektische Programmatik verweise die im Zuge einer solchen Begriffsentwicklung auftauchende Grenze - die Konstatierung der ,Jiistorische[n] Existenz der freien Arbeit" - nicht auf das Scheitern der Dialektik per se, sondern auf die Existenz einer gegenstandsadäquaten ,„begrenzte[n] Dialektik'"60, welche die historische Begrenztheit, nicht absolute Selbstgesetztheit und Endlichkeit des Objekts .kapitalistische Produktionsweise' erfasse. Zwar werde die dialektische Darstellung dieses Übergangs im Kapital versteckt61, sie bleibe aber kompatibel mit dessen methodischen Prämissen. Die in den Manuskripten aus den Jahren 1857/58 dargelegte Begriffsentwicklung präformiere auch diejenige des Kapital, bilde dessen „Geheimgeschichte"62. Zwar lehnt auch Frieder Otto Wolf Riedels These vom Bruch im Marxschen Methodenverständnis aufgrund der Entdeckung von Grenzen der dialektischen Darstellung im Urtext ab, doch gegen Michael Heinrichs These vom fehlenden (dialektischen) Übergang vom Geld ins Kapital im Kapital behauptet er, diese greife nicht, weil es „eine wirkliche dialektische Darstellung f...] hier nicht geben" könne, „da es für die Tatsache des Auftretens der Ware Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt keine ,kategoriale Ableitung' gibt"63. Dieter Wolf wendet nun dagegen ein, dass zwar die wirkliche Existenz der Arbeitskraft als Ware und deren historisch-konkrete Ursachen nicht dialektisch ableitbar seien, die Notwendigkeit der Existenz der Ware Arbeitskraft und des Klassenverhältnisses als Grund der Bewegungsform der Widersprüche des Geldes als Geld aber sehr wohl logisch-systematisch hergeleitet werden könnten. Er meint, „dass sich bis zu einem bestimmten Punkt der Darstellung innerhalb der einfachen Warenzirkulation mit Hilfe einfacher Schlussfolgerungen nachweisen lässt, dass es die Arbeitskrafteigentümer und Produktionsmitteleigentümer geben muss, womit aber noch nicht begründet ist, warum es sie tatsächlich gibt. Wenn die Existenz der Ware Arbeitskraft also letztendlich als historisch geworden unterstellt werden muss, und wenn die Produktion und Reproduktion des Kapitalverhältnisses das Verstehen der kapitalistischen Gesellschaft erlaubt und der Methode ihren eigentümlichen Charakter verleiht, dann müssen diese historisch gewordnen Bedingungen dennoch auch innerhalb der Darstellung als notwendige nachweisbar und beschreibbar sein"64. Auch Heinrichs Hinweis auf den fehlenden Übergang im Kapital, dem Dieter Wolf prinzipiell zustimmt, meint ja nicht, es fehle hier die Ableitung der historischen Existenz der Ware Arbeitskraft und ihrer konkreten Ursachen, sondern genau dieses Weitertreiben der Widerspruchsentwicklung von Wert und Gebrauchswert bis hin zu einem bestimmten Punkt, an dem die Bedingungen der Lösung desselben als Prozess der Kapitalform G-W-G' erkennbar werden: Es tauchen dann die .Forderungen' auf, der Wert müsse sich vermittelt über das Eingehen in die Zirkulation und Produktion (produktive Konsumtion) erhalten; es müsse eine Ware existieren, deren Konsumtion Wert erhält/ schafft usw. Dieter Wolf kritisiert denn auch die Verwendung des Terminus „Vorfinden" für die Entdeckung der Formel G-W-G bei Marx, da dieser die Formel - zumindest in den Grundrissen und im Urtext - sehr wohl dialektisch entwickle. Was 60 61 62 63 64

Zitate der Reihenfolge nach: Reichelt 2000, S. 124, 119. Vgl. ebd., S. 126 sowie Reichelt 1996, S. 95. Reichelt 2000, S. 112. F.O. Wolf 2006, S. 182 (Anm. 11). Wolf 2007, S. 62, vgl. ebd. 78f.

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WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXIONEN

wirklich nicht entwickelt werden könne, sondern vorgefunden werde, sei die Existenz dieser Ware, die nicht als immanentes Resultat der Zirkulation bzw. nicht als ursprünglich von der hier abstrakt betrachteten kapitalistischen Vergesellschaftungsform hervorgebracht zu denken sei - dies würde zu einem logischen Zirkel und einer metaphysischen Absolutsetzung des Systemzusammenhangs (als sich selbst setzender, unvermittelter) führen. Welche Voraussetzungen für die Formel G-W-G' unterstellt werden müssen, ist Wolf zufolge also ausgehend von den Bestimmungen der einfachen Zirkulation ableitbar: Waren sind Arbeitsprodukte. Diese Arbeitsprodukte verweisen auf Arbeit als Prozess ihrer Hervorbringung. Arbeit ist nur möglich, wenn Arbeitskraft als ihre Ermöglichungsbedingung existiert. Wenn diese Arbeitskraft selbst als Ware gekauft werden können soll, müssen die unmittelbaren Produzenten von den Realisierungsbedingungen ihrer Arbeitskraft getrennt existieren, weil sie sonst nur Arbeitsprodukte, nicht aber ihre Arbeitskraft verkaufen würden. Dass und aufgrund welcher Ursachen es diese Voraussetzung der Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln gibt, sei allerdings nicht mehr immanent herzuleiten65. Wolf geht dabei zumindest implizit auf die These Riedels ein, Marx müsse, um die Ware Arbeitskraft als die zu suchende, wertschaffende Ware zu qualifizieren, die immanenten Bestimmungen der einfachen Zirkulation verlassen und auf den Produktionsprozess betreffende arbeitswerttheoretische Aspekte eingehen. Wolf fuhrt nun an, dass es Marx zunächst generell nur um den Austausch von Waren als Arbeitsprodukten gehe. Er entwickle dabei die historisch spezifische Qualität des Werts gerade ausgehend vom Austauschverhältnis, nämlich durch Analyse der dort stattfindenden Inbezugsetzung von Produkten menschlicher Arbeit als Produkte menschlicher Arbeit schlechthin aufeinander. Die Entdeckung der Wertqualität sowie der Qualität der wertbildenden Arbeit sei damit „kein der einfachen Warenzirkulation fremder ihr äußerlicher Sachverhalt"66.

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Vgl. ebd., S. 79. Ebd., S. 76.

2. Staatsableitung

2.1 Form, Funktion und Ausgangspunkt. Grundlagen und -fragen der Debatte 2.1.1 Allerhand Illusionen Neben der bis heute anhaltenden Auseinandersetzung um werttheoretische und methodologische Grundlagenprobleme darf die sog. Staatsableitungsdebatte als zweiter wesentlicher Strang einer neuen Marx-Lektüre in der Bundesrepublik gelten. In Abgrenzung zu den eher an konkreten politischen Fragestellungen der Nachkriegsdemokratie orientierten Forschungen der fünfziger und sechziger Jahre1, werden nun grundlegende Strukturen moderner Staatlichkeit selbst ins Visier genommen. Es ist ein ganzer Fragenkatalog, der diese Debatte strukturiert: Es wird gefragt, warum eine ,neben' und ,über' der Ökonomie existierende Zwangsgewalt im Kapitalismus notwendig ist und zwar in einer im weitesten Sinne rechtsstaatlichen Gestalt. Geklärt werden soll zudem, in welchem systematischen Zusammenhang diese mit dem Kapital, Klassenverhältnissen und politischer Demokratie steht und welche Grenzen ihrer Interventionsfahigkeit in die Produktionsverhältnisse auszumachen sind. Schließlich wird eine Erklärung dafür gesucht, dass diese Gewalt den Bürgern in der Regel als legitime und neutrale Instanz erscheint. Der Artikel Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital aus dem Jahre 1970 wird dabei als Initialzündung der westdeutschen Staatsableitungsdebatte verstanden, da „alle Themen, die im folgenden die Diskussion bestimmen sollten, f...] hier aufgeworfen" 2 werden. Die politische Motivation dieses Beitrags darf angesichts der Verfasstheit des linken Diskurses in der Bundesrepublik zu Beginn des 21. Jahrhunderts wohl kaum nur distanziert ,historisierend' betrachtet werden. Angesichts der Hegemonie des Neoliberalismus gibt es zwar nur wenige Stimmen, die sich am Rande der politischen und akademischen Öffentlich-

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Zentrale Problemkomplexe sind .soziale Demokratie' (Abendroth), ,Funktionswandel des Parlaments' (Agnoli, Habermas) sowie ,CDU-Staat' (Schäfer) bzw. .autoritärer Staat' (Horkheimer, Krahl). Einen Überblick über die bundesrepublikanische Diskussion bis 1970 gibt Rudel 1981, S. 15-76. Kostede 1976, S. 161, vgl. ebd., S. 158 sowie Esser 1975, S. 135 und Kannankulam 2000, S. 18.

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STAATSABLEITUNG

keit oppositionell äußern. Diese Opposition artikuliert sich dabei aber meist linkskeynesianisch-parlamentarismuszentriert und orientiert sich nicht selten explizit an der ,guten alten Zeit' des .Rheinischen Kapitalismus' bzw. der sozialdemokratischen Ära eines sozialstaatlich abgefederten Kapitalismus - eine radikalere Option ist aus dem Bewusstsein des Mainstreams linker Politik offenbar verschwunden. Die politisch-theoretische Ausrichtung der Linken, in die Wolfgang Müller und Christel NeusüB intervenieren, weist damit erschreckende Ähnlichkeiten zu der unsrigen auf - mit der Ausnahme, dass die zu kritisierenden linken Ansätze nun in hoffnungsloser Marginalität dahinvegetieren und das, was damals kurze Zeit hegemonial war nun als ,utopische Antizipation' verkauft wird. Müller/ Neusüß treten an, die - wie es noch orthodox versichernd heißt - „revisionistischen"3 Staatsauffassungen einer radikalen Kritik zu unterziehen, die sich im wesentlichen durch die Behauptung einer Autonomie des Staates gegenüber den Widersprüchen der Gesellschaft und die daraus abgeleitete Ernennung des Staates zum Subjekt emanzipatorischer Veränderung auszeichnen sollen4. Eine zentrale Bedeutung bei der Kritik dieser Positionen spiele die Frage nach den Handlungsspielräumen des Staates, die in der bisherigen linksradikalen marxistischen Theorieproduktion der 60er Jahre unterbelichtet geblieben sei. Es bestehe damit die Notwendigkeit einer Ausdehnung der politischen Analyse, die sich bislang auf die Funktion des Parlamentarismus zur manipulativen Integration des Proletariats konzentriert habe5. Die positiven Fragestellungen einer Formanalyse des bürgerlichen Staates grenzen sich dabei zugleich von traditionellen Vorstellungen marxistischer Politikanalyse ab: Aufgabe sei erstens die Erklärung der Funktionen des Staates für die Reproduktion des Kapitalverhältnisses und zweitens die Bestimmung der Schranken dieser Funktionen ausgehend von den „Widersprüchen des kapitalistischen Produktionsprozesses". In expliziter Abgrenzung von Lenins Staat und Revolution und der Verwendung dieser Schrift als Einführung in die marxistische Staatsauffassung werden eine universalgeschichtliche Ausrichtung und eine manipulationstheoretische Konzeptualisierung der Staatstheorie abgelehnt: Es gehe gerade darum, die Grenzen der dort behaupteten Manipulation des und mittels des Staates sichtbar zu machen und drittens die Differenzen der Gewaltorganisation von „feudalem und bürgerlichem Staat", die dort „verblassen"6, begrifflich einzuholen. Damit sei viertens zugleich die Aufgabe einer Freilegung der Herkunft des falschen Bewusstseins über den Staat und ideologischer Systematisierungen7 desselben gestellt: Gemeinsamer Hintergrund sowohl der .revisionistischen' Theorie als auch des falschen Bewusstseins der Arbeiter sei die „Erfahrung von .sozialpolitischen' Gesetzen des bürgerlichen Staates", die verkehrt als „Einschränkung der Herrschaft des Kapitals über die lebendige Arbeit" und als Indikator für

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6 7

Müller/Neusüß 1972, S. 7. Vgl. ebd., S. 7f. Vgl. ebd., S. 10. Als Klassiker dieser Analyse können Jürgen Habermas' Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas 1996, zuerst 1962) und Johannes Agnolis Transformation der Demokratie (Agnoli 1990, zuerst 1967) gelten. Beide Zitate: Müller/ Neusüß 1972, S. 10. Als theoretische Varianten der Sozialstaatsillusion werden genannt: Der Bernsteinsche Revisionismus, die Theorie des organisierten Kapitalismus und der Wirtschaftsdemokratie von Hilferding und Naphtali, der StamoKap-Ansatz und die Spätkapitalismustheorie von Habermas und Offe (vgl. ebd., S. 11).

FORM, FUNKTION UND AUSGANGSPUNKT

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eine emanzipatorische, sozialistische Indienstnahme des Staates erschienen, „zumal ihre Durchsetzung immer auch vermitteltes Ergebnis der Klassenkämpfe war". Welchen Charakter die faktische Sozialstaatsfunktion und ihre Erkämpfung nach Müller/ Neusüß tatsächlich haben, soll nun näher betrachtet werden. Die Vorstellung staatlicher Autonomie steht nach Müller/ Neusüß im Zentrum des revisionistischen' ,„Politizismus'" 8 . Dieser begreife nicht nur das politische Feld als selbständig, ja vorrangig gegenüber der Ökonomie, sondern reduziere auch den kapitalistischen Produktionsprozess auf die Bestimmungen des einfachen Arbeitsprozesses, dem dann als sozialer Kontext nur noch ein davon unabhängiger institutioneller Rahmen normenregulierter Interaktion gegenüberstehe9. So entstehe das Bild vom Kapitalismus als System zur Produktion von Gütern, die nach beliebigen Kriterien normativ verteilt werden können, und welches als herrschaftliches, resp. kapitalistisches nur durch das ,„persönliche[...] Profitinteresse des Eigentümers'" 10 oder in Gestalt der Despotie des Fabrikregimes nur durch blanke Unternehmerwillkür gekennzeichnet ist. Die Personalisierung der Produktionsverhältnisse auf der einen und ihre technizistische Verschleierung als Subsystem zweckrationalen Handelns auf der anderen Seite lasse soziale Emanzipation als eine lediglich durch politischen Druck der Arbeiterklasse, Unternehmensethik oder Auswechslung des Führungspersonals, bzw. der ,„monopolistische[n] und finanziellefn] Oligarchie'" 11 , erreichbare Aufgabe erscheinen12. Dieser Politizismus sei als gemeinsamer Boden von Sozialdemokratie und StamoKapAnsatz des ML zu betrachten. Gehe es doch beiden „um die allmähliche Übernahme des ,Apparates zur Lenkung und Leitung der Wirtschaft' und seine .Unterordnung unter die Interessen des Volkes'" 13 . Bei der Kritik an der Illusion einer Autonomie des Staates steht daher zunächst die Bestimmung der Grenzen staatlicher Redistribution im Vordergrund: Es müsse zunächst an die banale Tatsache erinnert werden, dass die Produktion von Wert die Voraussetzung seiner Verteilung darstellt, also ein prosperierender und stabiler Akkumulationsprozess der gesamten Verteilungstätigkeit des Staates vorgeordnet sei. Das zentrale soziale Verhältnis kapitalistischer Produktion bestehe dabei nicht in beliebigen politischen Konstellationen pluraler Akteure, sondern in der vorgängigen Struktur der Monopolisierung der Produktionsmittel in den Händen Weniger sowie der Enteignung der unmittelbaren Produzenten von den Realisationsbedingungen ihrer Arbeitskraft, die im Austauschprozess Kapital-Arbeitskraft beständig reproduziert werde. Der kapitalistische Produktionsprozess sei so zugleich immer schon Reproduktionsprozess der Produktionsbedingungen im Sinne des Produktionsverhältnisses zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter und damit der primären Verteilungsverhältnisse. Er beinhalte ein gegenständlich vermitteltes soziales Verhältnis und sei nicht auf die Bestimmungen des einfachen Arbeitsprozesses reduzierbar. Kapitalistische 8

Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 11, 13. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. als Beispiel Habermas' Trennung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses in „Systeme zweckrationalen Handelns" einerseits und den „institutionellen Rahmen symbolisch vermittelter Interaktion" andererseits in Habermas 1989, S. 62-65. Vgl. zur Kritik: Wolf 2005b. 10 Sering zitiert nach Müller/ Neusüß 1972, S. 18. " Sering zitiert nach Müller/ Neusüß 1972, S. 18. 12 Vgl. Müller/Neusüß 1972, S. 14 (Fn.), 19. 13 Ebd., S. 19.

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STAATSABLEITUNG

Produktion zeichne sich schließlich konstitutiv dadurch aus, dass Profit erzielt werden muss, damit Lohn gezahlt werden kann14. So sei bereits mit der Kategorie des Lohnes ein ursprüngliches Distributionsverhältnis verbunden, das nicht beliebig reguliert werden könne, ohne wiederum die Quellen staatlicher Redistributionstätigkeit, den Prozess der Wertproduktion selbst, zu gefährden. Dabei verweisen Müller/ Neusüß auf Untergrenzen kapitalistischer Investitionstätigkeit. Darüber hinaus spreche der Akkumulationszwang durch Konkurrenz der privat-isolierten Produktionseinheiten der Vorstellung vom höchstens durch geschickte Interessenpolitik bestimmter Lobbys begrenzten Zugriff auf den ,Kuchen' des Sozialprodukts15 Hohn. Ihre Kritik am zweiten Aspekt der Sozialstaatsillusion, der Auffassung eines klassenneutralen oder gar den Kapitalismus transzendierenden, systemfremden' Charakters sozialstaatlicher Interventionen, verbinden Müller/ Neusüß mit ihrer grundlegenden Absicht, einen theoretischen Ansatz zur Erklärung der Notwendigkeit politischer Eingriffe in den kapitalistischen Produktionsprozess zu präsentieren. Moderne Sozialpolitik müsse aus den widersprüchlichen Strukturen des kapitalistischen Produktionsprozesses - „und zwar jeweils in ihren konkreten historischen Erscheinungsformen" - heraus begründet werden. Die Ableitung der Sozialstaatsfunktion müsse also einerseits „aus grundlegenden Widersprüchen des Arbeits- und Verwertungsprozesses"16 erfolgen, andererseits sei dazu die Überschreitung der Abstraktionsstufe des .Kapitals im Allgemeinen' nötig, wie insbesondere das 8. Kapitel des ersten Ä"a/Hta/-Bandes beweise. Zunächst analysiere Marx dort die strukturelle Notwendigkeit des Klassenkampfs: Der Status als Rechtssubjekt verbleibt demzufolge für die Besitzer von nichts als Arbeitskraft zunächst zusammen mit ihrer Charaktermaske als Verkäufer in der Zirkulationssphäre, indem sie die Verfügung über ihre Ware, in voller Übereinstimmung mit den Funktionsbedingungen des Warentauschs, dem Käufer ihrer Arbeitskraft abtreten: Gekauft wird das Arbeitsvermögen als wertbestimmte Ware, konsumiert wird die Arbeit als wertschaffende Tätigkeit, wobei der Konsum der Ware aus dem Zirkulationsprozess herausfallt und seine Aneignungsgesetze nichts angeht. Aufgrund des spezifischen Charakters der Arbeitskraft als Ware - sie ist von der physischen und psychischen Konstitution ihres Anbieters nicht zu trennen - treten die Austauschenden während ihres Konsumtionsprozesses in ein anderes Verhältnis zueinander, ein Verhältnis der Unfreiheit und Ungleichheit, wechseln ihre Charaktermasken17. Dieses spezifische Verhältnis ist Grundlage der Tatsache, dass mit der gegebenen Länge des notwendigen Arbeitstages noch nicht die Länge des Gesamtarbeitstages gegeben ist. Die Grenzen des Arbeitstages werden also nicht durch die Gesetze des Warentauschs bestimmt18. Daraus entsteht eine dem Austausch Kapital-Arbeitskraft eigentümliche, 14 15 16 17 18

Vgl. ebd., S. 23, 36. Vgl. ebd., S. 45. Beide Zitate: Ebd., S. 46. Vgl. MEW 23, S. 190f. (MEGA II/5, S. 128) sowie MEGA II/2, S. 91f. Vgl. Müller/ Neusüß 1972, S. 48: Im unmittelbaren Produktionsprozess erweist sich das Verhältnis zwischen Kapitalist und Arbeiter als „ein Verhältnis innerhalb der warentauschenden Gesellschaft, das der normalen Form der Regulierung in dieser Gesellschaft nicht unterliegt, nämlich der den Austausch der Waren, des Privateigentums regelnden allgemeinen Gesetze".

FORM, FUNKTION UND AUSGANGSPUNKT

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ökonomisch induzierte, rechtliche Pattsituation19, welche wiederum den Klassenkampf notwendig aus sich hervortreibt20. Der Kapitalist besteht auf seinem Recht als Käufer, den Arbeiter so lange wie möglich arbeiten zu lassen, er nötigt ihn, „für den Preis seiner gewohnheitsmäßigen Lebensmittel seine ganze aktive Lebenszeit"21 zu verkaufen. Der Arbeiter dagegen besteht - durch die spezifische Natur seiner Ware dazu genötigt - darauf, diese (also sich selbst) nicht durch Überbeanspruchung zu ruinieren, wieder als Warenbesitzer auf den (Arbeits-) Markt treten zu können: „Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar - ein Kampf zwischen [...] der Klasse der Kapitalisten, und [···] der Arbeiterklasse"22. Erst in diesem Rahmen werden Teile der nur als latente Merkmalskomplexe, Ensembles von Akteuren mit relativ homogenen Lebensbedingungen, Denk- und Verhaltensweisen existierenden Klassen, zu politisch mobilisierten Einheiten, bzw. kollektiven Akteuren. Im achten Kapitel zeige Marx nun weiter am englischen Beispiel, wie in einem komplexen Geflecht sozialer Kräfteverhältnisse, das Arbeiterorganisationen, Staatspersonal, konkurrierende Kapitalfraktionen und andere umfasst23, das Kapital in seinem „WerwolfsHeißhunger nach Mehrwert" durch die Festlegung eines Normalarbeitstages in den diversen Fabrikgesetzgebungen „an die Kette gesetzlicher Regulation" gelegt wird. Der Normalarbeitstag als Resultat eines „vielhundertjährigen Kampfes zwischen Kapitalist und Arbeiter"24 biete nach Marx durch die ersten Ansätze einer Verkürzung der Arbeitszeit nicht nur mehr„Raum zu menschlicher Entwicklung"25 für die unmittelbaren Produzenten, er erweise sich auch, langfristig gesehen, als systemfunktionale Bestandssicherung der Existenzbedingungen des Gesamtkapitals sogar gegen die unmittelbaren Interessen der Einzelkapitalisten, welche lediglich die naturwüchsige betriebswirtschaftliche Verwertungslogik zur Geltung bringen. Denn die Tendenz zur Verselbständigung gegenüber seinen notwendigen stofflichen Existenzbedingungen (vor allem Arbeitskraft und Natur26), die oft genug an .Vernichtung durch Arbeit' grenzte, sei dem kapitalistischen Verwertungsprozess, als Prozess der quantitativen Aufhäufung abstrakter Tauschwerte, inhärent27. Das Bestreben der einzelnen 19

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26 27

Vgl. ebd., S. 47f. Zur Frage der Rechtsantinomie vgl. die Kontroverse zwischen Wildt 1986, S. 161-166 einerseits und Maihofer 1992, S. 70f., 254 (Anm. 15) sowie Heinrich 1999, S. 374f. andererseits. Vgl. Müller/ Neusüß 1972, S. 53. MEW23, S. 287 (MEGA II/5,S. 213). Ebd., S. 249 (MEGA II/5, S. 181) (zitiert in Müller/ Neusüß 1972, S. 48). Vgl. Müller/ Neusüß 1972, S. 49, 54. Zitate der Reihenfolge nach: MEW 23, S. 280 (MEGA II/5, S. 208), S. 258 (II/5, S. 188), S. 286 (II/5,S. 212). MEW 16, S. 144 (MEGA 1/20, S. 180). Inwiefern die gesetzliche Festlegung von Grenzen des Arbeitstags das Kapital zur Intensivierung der Arbeit veranlasst, was den Arbeitern wiederum den Kampf um weitere Arbeitszeitverkürzung nahe legt, kann hier nicht entwickelt werden; vgl. dazu u.a. 23, S. 440 (II/5, S. 343) und 16, S. 145 (1/20, S. 180). Vgl. MEW 23, S. 529f. (MEGA II/5, S. 410,413). Vgl. Müller/Neusüß 1972, S. 48.

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STAATSABLEITUNG

Kapitalisten nach absoluter Verlängerung des Arbeitstages entspringe allerdings nicht ihrem »Innersten', z.B. moralischer Verwerflichkeit oder angeborener ,Profitgier', sondern stelle einen strukturbedingten Effekt, ein Resultat der Personifikation ökonomischer Kategorien, dar: „Im großen und ganzen hängt dies aber auch nicht vom guten oder bösen Willen des einzelnen Kapitalisten ab. Die freie Konkurrenz macht die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion dem einzelnen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Zwangsgesetz geltend"28. Marx' Darstellung der Genese ,sozialstaatlicher' Regulation des Arbeitstages hat für Müller/ Neusüß damit eine Reihe für das Staatsverständnis generell wichtiger Implikationen: Wenn Marx im Zuge seiner Schilderung der Erkämpfung gesetzlicher Beschränkungen der Arbeitszeit vom ,Sieg eines Prinzips' oder gar der „politischefn] Ökonomie der Arbeiterklasse"29 spreche, so sei dies in der .revisionistischen' Literatur irrtümlich als Hinweis auf den systemtranszendierenden, sozialistischen Charakter dieses Erfolges verstanden worden30. Mittels staatlicher Maßnahmen könne demzufolge schrittweise der Sozialismus im und gegen den Kapitalismus eingeführt werden. Dagegen zeige das Marxsche Beispiel klar, dass durch die Kausalreihe .strukturell induzierter Widerspruch der Rechtsforderungen von Arbeitern und Kapitalisten - naturwüchsiger, dem Überlebenswillen der Arbeiter geschuldeter, ergebnisoffener Klassenkampf - Erkämpfung von Staatsgesetzen' nicht nur die unmittelbarsten materiellen Interessen der Arbeiterklasse, sondern auch die langfristige Bestandserhaltung des Gesamtkapitals gewährleistet werde. Der Klassenkampf und sein politischer Effekt, ein allgemeines Gesetz, das den Einzelkapitalen aufgezwungen werden muss, sei daher notwendig, um dem Widerspruch zwischen Interessen des Einzelkapitals und systemischen Existenzanforderungen des Gesamtkapitals, der sich als Variante des Widerspruchs zwischen Form (Verwertungszwang des Werts) und Stoff (gegenständliche Existenzbedingungen des Werts) erweise, im Staat eine Bewegungs- und Lösungsform zu geben: „Die Erhaltung der kapitalistischen Produktionsweise selbst erfordert die Organisation der Arbeiter als Klasse"31 und den Staat als sekundäre, gesonderte Form der sozialen Synthesis unter privat-dissoziierten Produktionsbedingungen32. Erst diese Bedingungen bringen Müller/ Neusüß zufolge also eine Instanz hervor, die als besondere neben der Sphäre materieller Reproduktion angesiedelt ist und in der sich die exekutive Funktion der Zwangsgewalt monopolisiert hat33. Dagegen sei die staatliche „Funktion der direkten Unterdrückung"34 gerade kein typisches Merkmal kapitalistischer Gewaltorganisation. Direktes Instrument einer Klasse könne der Staat nur im Zuge der gewaltsamen Herausbildung der Produktionsbedingungen des Kapitalismus - der Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktions-

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MEW 23, S. 286 (MEGA II/5, S. 212) (zitiert in Müller/ Neusüß 1972, S. 53). MEW 16, S. 11 (MEGA 1/20, S. 10) (zitiert in Müller/ Neusüß 1972, S. 51 (Fn.)). Vgl. Müller/Neusüß 1972, S. 46. Ebd., S. 53. Vgl. auch ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 60: „Die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Form des Staates, ihre Zusammenfassung also in einer Institution, die ihr selbst als äußerlich erscheint, die über ihr als .besondere Existenz' zu schweben scheint, ist deshalb notwendig, weil nur so die Existenz der Gesellschaft (nämlich als kapitalistischer) überhaupt gewährleistet werden kann". Vgl. ebd., S. 58. Ebd., S. 60.

F O R M , FUNKTION UND AUSGANGSPUNKT

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mittein - sein. Im Kapitalismus müsse er schon aus Gründen der Bestandserhaltung die abstrakt-allgemeine Form einer Herrschaft des Gesetzes auch über die Kapitalisten annehmen - ansonsten setzten sich die Interessen der Einzelkapitale gegen die Erfordernisse des als Handlungssubjekt nicht existierenden Gesamtkapitals durch. Wird damit aber nicht die Wirkung der Bestandserhaltung zur Ursache der Existenz der bestandserhaltenden Institution gemacht? Dies unterstellt John Kannankulams Funktionalismus-Vorwurf. Es fiihre „definitiv zu weit", die Organisation der Arbeiter als Klasse aus einem „Erfordernis für den Bestand des Kapitalismus erklären zu wollen"35. Das Argument von Müller/ Neusüß überschreitet demnach die Grenze zur funktionalistischen Erklärung im strengen Sinne. Diese würde die funktionale Hypothese , Struktur A ist notwendig/ funktional/ hat reproduzierende Wirkung f für System B' in die Pseudoerklärung ,also existiert Struktur A' transformieren, womit eine Ursache (A) durch eine Wirkung (f) erklärt würde36. Eine korrekte Argumentationsstruktur wäre dagegen: Hypothese: ,Damit Β aufrechterhalten werden kann, muss A geschehen'. Erklärung: ,A ist Resultat der Praxis C und ist funktional für B'. Die Notwendigkeit einer Struktur A fiir ein System Β darf also nicht mit der Wirklichkeit von A gleichgesetzt werden. Die Realisierung von A ist immer an eine Praxis gebunden, deren Erfolg, im Sinne der, meist unbewussten, nicht intendierten Institutionalisierung einer funktional-notwendigen Struktur, nicht vorhersagbar ist. Die Antwort auf die Frage nach der Genese funktionaler Strukturen muss fundiert sein in einem „handlungs- und strukturtheoretischen Ansatz, der die Konstitution von Funktionen und der sie bewirkenden Institutionen aus strukturell determinierten Konfliktlagen interagierender Akteure [...] zu begründen sucht"37. Dies betonen Müller/ Neusüß aber mehrfach: Die staatliche Regulation der kapitalistischen Produktion als Notwendigkeit der Reproduktion des Systems setze sich „keineswegs automatisch durch"38, sie sei Resultat eines ergebnisoffenen Kampfes, müsse dem Kapital aufgezwungen werden und könne nicht als Resultat staatlicher Vernunft oder irreversible Errungenschaft gedeutet werden39. Der ideelle Gesamtkapitalist Staat ist also ohne, zwar strukturell verursachte, aber in ihren Resultaten kontingente Kämpfe, nicht vorstellbar40. 35 36

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Kannankulam 2000, S. 33. Vgl. Giddens 1992, S. 350: „man hält soziale Gegenstände bzw. Aktivitäten für existent, weil sie funktionalen Erfordernissen entsprechen", womit sozialen Systemen eine ,,teleologische[...] Qualität" (ebd.) zugeschrieben wird. Marxistisch formuliert: Das Gesamtkapital müsste als reales, planendes Kollektivsubjekt neben den konkurrierenden und unkoordinierten Einzelkapitalen vor aller Staatlichkeit existieren, womit direkte Vergesellschaftung der Arbeit als Kennzeichen des Kapitalismus behauptet und der Begriff des Kapitals somit hinfallig wäre. Dagegen gibt es nach Giddens soziale Erfordernisse „als der sozialen Reproduktion implizite, kausale Faktoren nur dann, wenn sie als solche von denjenigen erkannt werden, die an irgendeinem Punkt von ihnen berührt und in ihrem Handeln beeinflußt werden" (ebd., S. 351 f.). Daher ist folgende Frage von Müller/ Neusüß eindeutig antifunktionalistisch: „Wie kommt es zur gewaltsamen und mehr oder weniger wirksamen Beschränkung des Arbeitstages durch den [...] Staat, wenn der vernünftige Gesamtkapitalist, wie Marx gründlich darstellt, eine Fiktion ist?" (Müller/ Neusüß 1972, S. 53). Hübner/ Stanger 1986, S. 147. Müller/Neusüß 1972, S. 49. Vgl. ebd., S. 54, 57. Vgl. ebd., S. 55f.

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STAATSABLEITUNG

Eine andere Kritik Kannankulams trifft den Argumentationsgang von Müller/ Neusüß eher: Während einmal die Notwendigkeit einer exekutiven Funktion der Staatsgewalt aus der den Erfordernissen des Gesamtkapitals widersprechenden, konkurrenzbedingten Interessenstruktur der Einzelkapitale hergeleitet wird41, ist ein anderes Mal von einem „Janusgesicht des Staatsapparates" aus Fürsorge und Unterdrückung die Rede, das aus der vermeintlichen Doppelnatur des Klassenkampfs erklärt wird. Zwar könnten Klassenkämpfe „dem Dilemma nicht entgehen, daß sie als Kämpfe der Arbeiterklasse um Erhaltung ihrer Arbeitskraft gleichzeitig ,systemerhaltende Funktion' haben können". Doch andererseits konstituierten sie „immer auch die Arbeiter als Klasse im Sinne eines handelnden Subjekts, damit aber auch die Tendenz zur Aufhebung des Kapitalverhältnisses selbst"42. Zu Recht merkt Kannankulam dazu an, dass der Schluss von der Organisation der Arbeiter als Klasse auf die .Tendenz zur Aufhebung des Kapitalverhältnisses und seines Staates' „angesichts der faktischen historischen Entwicklung [...] merkwürdig"43 anmutet. Hier werde der bürgerliche Staat hinsichtlich seiner repressiven Apparate letztlich wieder „verschwörungstheoretisch[...]" hergeleitet, ohne die Frage nach ihrem öffentlichen Charakter beantworten zu können. In der Tat mutet das Festhalten an der - nun tendenziell' genannten - systemsprengenden Wirkung von Klassenkämpfen befremdlich an, wird diese doch einfach gesetzt bzw. aus der bloßen Tatsache der kollektiven Organisation der Klasse ,erklärt', während genau diese Kollektivität vorher aufwendig als Bedingung kapitalistischer Systemreproduktion erwiesen wurde. Dies geschieht auch auf der Ebene der Bewusstseinsformen des Proletariats. Nicht die Besonderung des Staates aus den Widersprüchen der ökonomischen Verhältnisse im Kapitalismus, sondern die Selbständigkeit und emanzipatorische Verfügbarkeit des Staates gelten Müller/ Neusüß dabei als .Illusion'. Diese sei mit der Form der Besonderung selbst gesetzt, indem auch hier, wie im Falle des Geldfetischs, der Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert eine spezifische Bewegungsform finde, die die vermittelnde Konstitutionsbewegung im Resultat verschwinden lasse44. Wie beim Geld werde im Falle des Staates ein im Reproduktionsprozess privat-arbeitsteiliger Vergesellschaftung beständig reproduziertes Resultat als natürliche Institution oder - bei Unterschlagung der gegenständlichen, strukturellen Vermitteltheit - als willkürliches Reflexionsprodukt der Menschen begriffen. Dem Geldfetisch entspreche so der Staatsfetisch: „Nach der bürgerlichen Auffassung hat es entweder den Staat immer schon gegeben, ist der Mensch ,νοη Natur auf den Staat hin geschaffen', bzw. ist der Staat für ein menschliches (d.h. bürgerliches) Leben unentbehrlich, oder aber er wird durch Vertragsschluß bewußt begründet". Dabei seien es im Falle des Staates gerade die Konstitution seiner Funktionen im Zuge von Klassenkämpfen und die gleichzeitige Bedienung proletarischer Überlebens- und gesamtkapitalistischer Bestandsanforderungen, die zudem den einzelnen Kapitalisten aufgezwungen werden müssten, die die Jllusion 41

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Vgl. ebd., S. 58: „weil die Eingriffe in den immanenten Zwang zur Kapitalverwertung dem Kapital als Zwangsgesetze, von einer ihm äußerlichen Institution aufgedrängt werden müssen, muß diese Institution mit Kontrollbefiignissen und einer wirksamen Sanktionsgewalt [...] ausgerüstet sein". Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 5 6 , 6 2 , 56. Kannankulam 2000, S. 34. Das Motiv einer isomorphen Struktur von (Religions-,) Geld- und Staatsableitung taucht zuerst bei Reichelt 1973, S. 21f„ 63f. auf.

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der Klassenneutralität" bewirkten und befestigten. Mögliche objektive Tendenzen zur Auflösung der Sozialstaatsillusion sehen Müller/ Neusüß allerdings in einer weiteren Grenze staatlicher Regulation angelegt: Während die absolute Ausdehnung der Mehrarbeitszeit noch durch ein allgemeines Gesetz geregelt werden könne, versagten generelle Bestimmungen bei der Regulierung der Strategie relativer Mehrwertproduktion. Deren beständige organisatorische und technologische Umwälzungen seien immer schon über ein mögliches, aufwendig gestaltetes, weil alle Details des Arbeitsprozesses regelndes, Gesetzeswerk hinweg und würden einen enormen bürokratischen Aufwand der Kontrolle jedes einzelnen Arbeitsplatzes verlangen. Hier sei der Anspruch auf Regulierung schon beinahe bei der ,,absolute[n] Grenze" des Staatseingriffs, „der Form der Ausbeutung" 45 , angelangt und würde die Trennung von Staat und Ökonomie in Frage stellen. Da der Staat somit als Adressat weiterer Forderungen der Arbeiterklasse, wie der nach Herabsetzung von Akkordnormen oder der Begrenzung der Arbeitsintensität, nicht mehr in Frage komme, schwinde auch allmählich die Illusion seiner Allmacht und seiner emanzipatorischen Instrumentalisierbarkeit 46 . Der Beitrag von Müller/ Neusüß wirft eine Reihe von Fragen auf, die fiir die weitere Debatte zentral sein werden. Angemessen beantwortet werden diese Fragen hier aber noch nicht, wie auch Norbert Kostede in seinem resümierenden Beitrag aus dem Jahr 1976 feststellt47. Seine Einwände betreffen vor allem den Ausgangspunkt der Erklärung der Besonderung des Staates, d.h. die nähere Bestimmung der widersprüchlichen' materiellen Basis, von der aus der Staat zu begreifen sei. Die Ableitung des Staates werde bei Müller/ Neusüß erst aus den Widersprüchen des kapitalistischen Produktionsprozesses in seiner bestimmten Funktion der Regulierung des Arbeitstages vollzogen, während die Zirkulationssphäre als Ausgangspunkt noch völlig unbeachtet bleibe. Es müsse dagegen gefragt werden, ob die Illusion der Klassenneutralität dementsprechend nicht bereits viel tiefer, in der ,,staatliche[n] Garantie formeller Rechtsgleichheit", fundiert sei, die „gegen alle Rechtsbrecher - sei es Bourgeois oder Lohnarbeiter" 48 gesichert werde. Aber in der Entwicklung der Debatte, wie sie uns hier beschäftigt, sind solche Fragen noch Zukunftsmusik und antizipieren einen weitaus entwickelteren Stand der Auseinandersetzung. Zunächst versucht sich das Projekt Klassenanalyse im Jahr 1971 an einer Kritik und Weiterführung der Motive des Sozialstaatsillusions-Aufsatzes. Während der Begriff und methodologische Gehalt der Ableitung dort noch eher diffus gehalten war, wird er nun ins Zentrum der Reflexion gestellt. Zunächst leide der Ansatz von Müller/ Neusüß an einer zirkulären Herangehensweise: Einmal werde die theoretische Erklärung der Besonderung politischer Funktionen sowie der Grenzen staatlicher Interventionen zur Voraussetzung der historisch-empirischen Analyse „der konkreten Erscheinungsformen der sozial- und wirtschaftspolitischen Staatstätigkeit" 49 erklärt, anschließend aber werde die Darstellung der Besonderung einer zudem bloß speziellen Staatsfunktion, der Regulierung der stofflichen Produk-

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Zitate der Reihenfolge nach: Müller/ Neusüß 1972, S. 57, 63, 68. Vgl. ebd., S. 70. Vgl. Kostede 1976, S. 161. Ebd., S. 162. Müller/Neusüß 1972, S. 7.

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tionsbedingung Arbeitskraft, aus den „konkreten historischen Erscheinungsformen"50 des Antagonismus der ökonomischen Basis als einzig möglicher Weg der Staatstheorie postuliert: „Hatten die Verfasser ursprünglich Schwierigkeiten mit der empirischen Untersuchung ihres Gegenstandes, die durch begriffliche Klärung beseitigt werden sollten, so wollen sie jetzt ihre Schwierigkeiten beim Umgang mit den Marxschen Bestimmungen durch die Empirie überwinden"51. Dies verweise auf ein grundlegendes Missverständnis des Verhältnisses von logisch-begrifflicher und historischer Darstellung52, werde hier doch eine bloße Illustration, die Nachzeichnung der Erkämpfiing einer gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit im England des 19. Jahrhunderts, mit einer systematischen Staatstheorie verwechselt. Die „Verdopplung der Gesellschaft in Gesellschaft und Staat"53 - ein Topos, der bereits 1970 von Helmut Reichelt in die Diskussion eingebracht wurde54 - dürfe aber weder auf eine isolierte Staatsfunktion begrenzt, noch ausgehend „von der historischen Veränderung des Verhältnisses von Ökonomie und Politik"55 erläutert werden. Die Konstruktion von Müller/ Neusüß verwandle das logisch-begriffliche Nacheinander der Darstellung von absoluter und relativer Mehrwertproduktion nämlich in ein Epochenverhältnis und gerate damit in eine paradoxe Situation: Da ihrer Ansicht nach die staatlich abgestützte Regelung der Widersprüche des Produktionsprozesses mit der einsetzenden relativen Mehrwertproduktion ihre Grenze erreiche, müsste die mit der gesetzlichen Normierung des Arbeitstages einhergehende Sozialstaatsillusion spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Luft hängen56 und könnte bloß manipulativ seitens der Führer der Arbeiterbewegung in die Klasse hereingetragen werden. Dagegen bestehe die Aufgabe einer Ableitung des Staates zunächst in der Herleitung allgemeiner, allen kapitalistischen Staaten gemeinsamer Bestimmungen, denn, so wird Marx zitiert, „die verschiedenen Staaten der verschiednen Kulturländer, [haben] trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle das gemein, daß sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn, nur einer mehr oder minder kapitalistisch entwickelten. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein"57. Der methodische Status dieses hier extensiv beschworenen , Ableitungszusammenhang[s]" bleibt allerdings unklar. Zum einen erhält er eine ökonomistische Schlagseite, wenn behauptet wird, es sei „notwendig, um den inneren Zusammenhang der Phänomene eines Stücks Zeitgeschichte nachweisen zu können, die politischen Begebenheiten zurückzuführen auf Wirkungen von in letzter Instanz ökonomischen Ursachen"58. Hier wird eine inhaltliche Reduzierbarkeit politischer Verhältnisse auf ökonomische suggeriert und schließlich vulgärmaterialistisch im Anschluss an eine Marx-

s0 51 52 53 54 55 56 57 58

Ebd., S. 46. PKA 1971, S. 199. Vgl. ebd., S. 200. Ebd. Vgl. Reichelt 1973, S. 21 f. PKA 1971, S. 199. Vgl. ebd., S. 201. MEW 19, S. 28 (MEGA 1/25, S. 21) (zitiert in PKA 1971, S. 195). Zitate der Reihenfolge nach: PKA 1971, S. 202, 204.

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Engelssche Formulierung aus der Deutschen Ideologie59 die relative Autonomie von Überbaupraktiken schlichtweg geleugnet60. Auch inhaltlich kann der erste alternative Ableitungsversuch des PKA nicht überzeugen. Wird doch hier nur eine bestimmte Staatsfunktion, die Garantie der Reproduktion allgemeiner Produktionsbedingungen (zu denken ist an Infrastruktur, Ausbildung der Arbeitskraft und ähnliches), abgeleitet - von der Garantie faktischer Rechts- und Eigentumsverhältnisse im Zirkulationsprozess ist keine Rede. Der Widerspruch zwischen diesen allgemeinen Produktionsbedingungen, die durch „apriori gemeinschaftliche" Arbeiten sicherzustellen seien, und der privat-isolierten Form der einzelkapitalistischen Produktion finde nun in der Verselbständigung der gesellschaftlich allgemeinen Aufgaben ,Rieben und außer der Gesamtheit der die Gesellschaft konstituierenden Privaten" im Staat als außerökonomischer Instanz seine Lösungsform. Der Staat als Verkörperung der gemeinschaftlichen Interessen der Privatproduzenten wird dabei einmal aus einer grundlegenden, strukturbedingten Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise hergeleitet:„Die gemeinschaftlichen Arbeiten werden also bedingt durch die Gesellschaftlichkeit der Produktion überhaupt und werden zugleich durch die spezifische Art der Gesellschaftlichkeit an der Ausführung verhindert". Dann wiederum werden konjunkturelle Argumente bemüht, die von einer prinzipiellen Unmöglichkeit privater Reproduktion gesellschaftlicher Produktionsbedingungen weit entfernt sind: „Die allgemeinen Produktionsbedingungen des Kapitals [...] werden vom Staat hergestellt, sobald sie für die Verwertung des Kapitals notwendig sind, aber ihre Erstellung nicht profitabel genug ist, um von einzelnen Kapitalen übernommen zu werden"61. Der Widerspruch von erforderter direkter Vergesellschaftung und privat-isolierter Form der Produktion einerseits und das Kriterium der Nicht-/ Profitabilität sind aber keineswegs deckungsgleich. Sind doch - auch für Marx62 - Bedingungen denkbar, die die Erstellung von z.B. Infrastrukturanlagen für ein Einzelkapital profitabel werden lassen. Zudem fallt die Argumentation gegenüber der von Müller/ Neusüß dahingehend zurück, als hier ohne Hinweis auf soziale Kämpfe und politische Strategien das funktionale Erfordernis mit der Ursache einer staatlichen Maßnahme kurzgeschlossen wird, wie das letzte Zitat eindrucksvoll belegt. Dies würde aber gerade einen a priori koordinierenden Akteur Gesamtkapital voraussetzen, der die Existenz der staatlichen Form gerade hinfallig werden ließe. Auch die Doppelfunktion des Staates, die der Linie .Wahrnehmung allgemeiner/ besonderer Interessen' nachgebildet ist, wird nicht plausibler hergeleitet als bei Müller/ Neusüß. Die „Unterdrückungsfunktion"63 bestehe im Gegensatz zur Reproduktionsfiinktion in der Ausübung außerökonomischer Gewalfl64, die dem Staat durch die permanente Verschär-

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Vgl. MEW 3, S. 26f. (MEJb 2003, S. 116): „Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens". Vgl. PKA 1971, S. 207. Alle Zitate: Ebd., S. 198. Vgl. MEW 42, S. 437 (MEGA H/1.2, S. 430f.). PKA 1971, S. 198. Ebd.

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fiing der Klassenkämpfe in Krisenzeiten aufgezwungen werde. Nicht nur wird hier eine ökonomistische Revolutionstheorie unterstellt, derzufolge wirtschaftliche Erschütterungen notwendig und in aufsteigender Linie mit sich radikalisierenden Kämpfen der Ausgebeuteten verbunden sind65. Auch der Begriff der außerökonomischen Gewalt ist mit Äquivokationen behaftet - ist doch der außerökonomische Charakter der Gewalt gerade eine den modernen Staat überhaupt kennzeichnende Formspezifik und keineswegs identisch mit Ausnahmezustand und außergesetzlicher oder offen gegen die Arbeiterklasse gerichteter Gewalt, wie es hier nahegelegt wird. Schließlich wird die Unterdrückungsfunktion, wie bei Müller/ Neusüß, der Reproduktionsfunktion vermittlungslos gegenübergestellt66. Jene scheint - im Gegensatz zu dieser - durch direkte Einflussnahme der Kapitalisten zustandegebracht zu werden, gilt die Repressionsfunktion doch als Repräsentant „gemeinsamer Interessen der herrschenden Klasse der Gesellschaft gegenüber der beherrschten Klasse, die die Mitglieder der herrschenden Klasse als Einzelne nicht zu vertreten vermögen"67. Warum nicht? Gilt doch der Repressionsapparat als direkter Ausdruck partikularer Untemehmerinteressen. Auch hier ist die Frage noch nicht zu Gehör gekommen, warum der Staat nicht Privatapparat der Kapitalisten ist, sondern sich als öffentliche Gewalt konstituiert. Insbesondere Sybille von Flatow und Freerk Huisken verweisen auf das fundamentale Misslingen der Ableitung des Staatsapparates in seiner exekutiv-repressiven Funktion seitens des PKA: Es unterstelle dabei zunächst immer schon den Gegensatz zwischen .Klassen für sich', also den systemtranszendierenden Kampf um die politische Macht seitens der Arbeiterklasse, ohne die Konkurrenzbeziehungen und verkehrten Bewusstseinsformen auch der Anbieter von Arbeitskraft auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft zu berücksichtigen68. Daraufhin werde mit der wie gehabt gekennzeichneten Repressionsfunktion gerade keine allgemeine Funktion des bürgerlichen Staates erfasst, die ihn wesentlich bestimme, sondern lediglich eine historisch spezifische Ausnahmeform unter der Hand in eine allgemeine Strukturbestimmung verwandelt, die zugleich jeder spezifisch bürgerlichen Form - Besonderung gegenüber der Gesellschaft, nur vermittelter Klassencharakter durch Garantie der gemeinsamen Interessen der Warenbesitzer - entbehre69. Abschließend sei noch eine Bemerkung zum Stil der Auseinandersetzung gemacht. Bereits in diesem Text etabliert sich die für Teile der folgenden Debatte eigentümliche Mi65

Vgl. ebd., S. 205: „Erst in den Krisenphasen des industriellen und kommerziellen Lebens, wo der Klassenantagonismus zu unglaublicher Höhe gespannt ist und beständig in Kollisionen von Klasse mit Klasse eklatieren muß, wird die Erhaltung des ökonomischen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisses durch die Anwendung außerökonomischer Gewalt zur vorwiegenden Funktion des Staates und tritt dieser daher auch in einen offenen, sich mit dem Gang der Klassenkämpfe verschärfenden Gegensatz zum Proletariat".

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Obwohl bereits hier erkannt wird, dass auch die Reproduktionsfimktion der Bereitstellung allgemeiner Produktionsbedingungen bereits einen impliziten Klassencharakter aufweist, vgl. ebd., S. 199. Ebd., S. 199. Vgl. Flatow/Huisken 1973, S. 100 (Fn.), 125. Vgl. ebd., S. 126-129. „Es sind die zwei polaren Existenzweisen des bürgerlichen Staates als tatsächlicher und adäquater Ausdruck der Besonderheiten des bürgerlichen Staates (Verdoppelung der Gesellschaft) auf der einen Seite und als in der bürgerlichen Produktionsweise zugleich angelegte Negation dieser differentia spezifika des bürgerlichen Staates" (ebd., S. 128).

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schung aus inhaltlicher Schärfung der Argumentation und scharfer, bisweilen inquisitorischer Polemik70 mit pseudoorthodoxen Rückversicherungen71, die auch den heutigen innerlinken Debatten leider nicht ganz fremd ist. Damals allerdings herrschte noch die Auffassung, Theorie, Geschichte, Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung bildeten eine unzertrennliche Einheit, weshalb theoretische Kontroversen auf höchstem Abstraktionsniveau, über die Eigendynamik wissenschaftspolitischer Eitelkeiten und Distinktionsbedürfnisse hinaus, als unversöhnliche Grabenkämpfe um vermeintliche Parteilinien oder Politstrategien gefuhrt wurden - gerade auch innerhalb der ,antirevisionistischen' Linken72. Die Problematik der allgemeinen Produktionsbedingungen des Gesamtkapitals ist auch Ausgangspunkt des Beitrages von Elmar Altvater aus dem Jahr 1972. Doch ist damit weder eine reduktionistische Ableitungsprogrammatik anvisiert73, noch folgt er der Argumentation des PKA. Altvater identifiziert mit der Sicherstellung allgemeiner Produktionsbedingungen, der Garantie der Rechtsbeziehungen der Warenbesitzer74, der Regulierung des Klassenkonflikts sowie der nationalen Zusammenfassung und Repräsentation der Einzelkapitale im Weltmarktzusammenhang vier wesentliche staatliche Funktionskomplexe75 im Kapitalismus, wobei er sich ausschließlich dem ersten zuwendet. Hier gehe es um das Problem der Konstituierung der gesellschaftlichen Einheit von Einzelkapitalen zum Gesamtkapital. Dieses bezeichne die ,,reale[...] Durchschnittsexistenz der vielen Einzelkapitale", die sich vermittelt über die Konkurrenz herstelle, aber zugleich „in Form der Konkurrenz allein gar nicht angelegt sein kann"76. Es existieren demnach mit der Herstellung allgemeiner Produktionsbedingungen77 Anforderungen an die Reproduktion des Gesamtkapitals, die im Rahmen einer antagonistischen Interdependenz isolierter Produktionseinheiten nicht zu erfüllen sind und nach einer die Grenzen der Konkurrenz überschreitenden Instanz verlangen, die sich gleichsam als ideeller Gesamtkapitalist78 verhält. Der einzelkapitalistische Produktionspro70

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„Vorurteile" (PKA 1971, S. 199); „vollständige Begriffslosigkeit", „hilflosen Lamento", „lächerlichen [...] Verfahren" (S. 208); „pseudowissenschaftlichen Verhunzung", „doktrinäre Phrase", „Konfusion" (S. 209). „ist von Anfang an der Boden des wissenschaftlichen Sozialismus verlassen" (ebd., S. 199). Vgl. zu den politischen und psychologischen Hintergründen ansatzweise Rudel 1981. Speziell zum PKA: Rudel 1981, S. 116-118. Vgl. Altvater 1972, S. 5 sowie Rudel 1981, S. 104. In diesem Zusammenhang wird auch das erste Mal im Rahmen der Staatsableitungsdebatte i.e.S. auf Paschukanis hingewiesen, vgl. Altvater 1972, S. 13. Vgl. ebd., S. 9-15. Zitate der Reihenfolge nach: Ebd., S. 5f., 7. Vgl. MEW 42, S. 437 (MEGA H/1.2, S. 431): „allgemein nützliche Arbeiten [...], die zugleich als allgemeine Bedingungen der Produktion erscheinen und daher nicht als besondre Bedingung für irgendeinen Kapitalisten". Als Beispiele werden genannt: Herstellung eine Kommunikationssystems, Qualifikation und Reparatur des Arbeitsvermögens, Wasserversorgung, Abfallbeseitigung usf. (vgl. Altvater 1972, S. 18). Der Begriff stammt von Engels, vgl. MEW 20, S. 260 (MEGA 1/27, S. 443): „Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine

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zess bedürfe „als Arbeitsprozeß bestimmter Voraussetzungen, um seinem Charakter als Mittel des einzelkapitalistischen Verwertungsprozesses gerecht werden zu können, die nicht Anlagesphären fiir Einzelkapitale sind"79. Zwar würden bestimmte materielle Produktionsbedingungen auch von Einzelkapitalen fiir andere Einzelkapitale hergestellt, andere aber würden aufgrund der Orientierung der Produktionsprozesse an der Verwertung des Werts nicht bereitgestellt werden können80, wenn ihre Herstellung oder Betreibung nicht profitabel sei, der Umfang der erforderlichen Reproduktionsanforderungen einzelkapitalistische Unternehmungen sprengen würde, ihre Produkte unmittelbar keinen Warencharakter annehmen könnten oder ihre einzelkapitalistische Herstellung wiederum andere materielle Produktionsbedingungen (wie die natürliche Umwelt) gefährden würde81. Die Wahrnehmung solcher Aufgaben verlange nach einer Instanz, die den Beschränkungen und Zielvorgaben einzelkapitalistischer Produktion nicht direkt unterworfen sei und „auf der unangetasteten Grundlage des Kapitals den immanenten Notwendigkeiten nachkommt, die das Kapital vernachlässigt"82. Die Notwendigkeit des Staates als außerökonomischer Instanz ergebe sich also aus den Anforderungen der ökonomischen Reproduktion des Gesamtkapitals, wobei der Staat die Widersprüche zwischen Arbeits- und Verwertungsprozess nicht aufhebe, nur ideeller oder fiktiver, niemals aber reeller Gesamtkapitalist werde, wie hingegen Engels unterstellt habe83. Als direkter kapitalistischer Produzent konstituiere sich diese Instanz zwar zum Kapitalisten, allerdings nur in Gestalt eines großen Einzelkapitals, welches den Gesetzen und Widersprüchen der Konkurrenz der Kapitale untereinander unterworfen sei, „wie andere große Einzelkapitale auch"84. Auf diese Tatsache weist auch Johannes Agnoli 1975 in seinem Beitrag zur Ableitungsdebatte hin: Der Staat als ,Unternehmer' könne sich „keinen Ersatzmarkt schaffen und keine mehrwertenthobene Produktion leisten". Er müsse deshalb trotz Veränderung des formellen Eigentumstitels bei Verstaatlichung eines Unternehmens das Klassenverhältnis im unmittelbaren Produktionsprozess aufrecht erhalten und seine „Produkte als Tauschwerte zwecks Akkumulation auf den Markt" werfen. Der Staat könne also „durchaus realer Kapitalist sein, aber nur als Unternehmer neben anderen", der dem Konkurrenzdruck und somit der bornierten kurzfristigen Interessenstruktur des Einzelkapitals unterworfen ist. Als realer Kapitalist höre er damit auf, seine allgemeinen Reproduktionsleistungen für das Gesamtkapital zu erbringen. Ein angenommener realer Gesamtkapitalist müsse dagegen das Kunststück fertig bringen, neben der Akkumulation des eigenen Kapitals auch die Kosten fur die materielle Reproduktion der Produktionsbedingungen des

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Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist" (zitiert in Altvater 1972, S. 8 (Fn.)). Altvater 1972, S. 12. Vgl. ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 7 , 1 8 . Ebd. Vgl. MEW 20, S. 260 (MEGA 1/27, S. 443): „Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus" (zitiert in Altvater 1972, S. 8 (Fn.)). Altvater 1972, S. 8 (Fn.).

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Gesamtkapitals in seinen Betrieben zu erwirtschaften und so „mit dem eigenen Gewinn den Erfolg der eigenen Marktkonkurrenten zu finanzieren"85. Doch zurück zu Altvater: Staatliche Regulation allgemeiner Produktionsbedingungen ermöglicht ihm zufolge also erst die Vergesellschaftung über den Wert, statt sie sukzessive aufzuheben86. Ebenso wenig wie als autonomer, die kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten aufsaugender Apparat direkter Vergesellschaftung könne der Staat aber als direktes Instrument einer Klasse oder Klassenfraktion verstanden werden. Er müsse eben in bestimmter Weise neben und außer der Konkurrenz und den Interessen der Einzelkapitale stehen, um die Gefahrdung der Reproduktion des Gesamtkapitals durch kurzfristige Verwertungsstrategien zu vermeiden87: „So macht der Staat die Konstituierung der in Einzelinteressen zerfallenden Gesellschaft historisch erst möglich gerade aufgrund der Tatsache, daß er ihre Existenzgrundlage sichert (wie Erhaltung der Lohnarbeiterklasse als Ausbeutungsobjekte, Schaffung allgemeiner Produktionsbedingungen, Rechtsverhältnisse), die das Kapital entweder infolge seines durch die Konkurrenz aufgeherrschten Zwangs zur maximalen Kapitalverwertung immer wieder zu destruieren tendiert [...] oder aber gar nicht erzeugen vermag". Durch die Reproduktionsaufgabe, die der Staat zu erfüllen habe, errichte er dem Kapital gegenüber zugleich eine negative Verwertungsschranke: Er setze absolute Grenzen des Arbeitstages fest (Grenze der absoluten Mehrwertproduktion), ziehe Steuern ein, die auch Abzüge vom Mehrwert sein können, und entziehe dem Verwertungsprozess Arbeitskräfte, die der Erhaltung des Rechtssystems oder der Organisation nichtkapitalistischer Arbeitsprozesse dienen. Der bürgerliche Staat könne damit allgemein gekennzeichnet werden als „Einrichtung der kapitalistischen Gesellschaft neben und außer ihr, gleichzeitig auf ihrer Grundlage und als negative Verwertungsschranke" bestehend. In Abgrenzung zur Ableitungsvariante des PKA stellt Altvater allerdings fest, dass einerseits zwar die Notwendigkeit einer Besonderung des Staates in den Wesensgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise begründet liege, ,