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German Pages 370 [372] Year 2007
Robert Michels Soziale Bewegungen zwischen Dynamik und Erstarrung Herausgegeben von Timm Genett
Schriften zur europäischen Ideengeschichte Herausgegeben von Harald Bluhm
Robert Michels
Soziale Bewegungen zwischen Dynamik und Erstarrung Essays zur Arbeiter-, Frauen- und nationalen Bewegung
Herausgegeben von Timm Genett
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung des Michele Sicca Trust, Washington, D.C. Abbildung auf S. 7: Porträt von Robert Michels, wahrscheinlich 1919; Privatarchiv Maria Gallino, Turin.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004388-3 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Daten Verarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck: MB Medienhaus Berlin GmbH Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort Einleitung: Robert Michels - Pionier der sozialen Bewegungsforschung
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I. Soziale Bewegungen 1. Der Sozialismus in Italien [1901]
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2. Der italienische Sozialismus auf dem Lande [1902]
78
3. Begriff und Aufgabe der „Masse" [1902]
88
4. Ein italienisches Landarbeiterinnen-Programm [1902]
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5. Frauenstimmrecht - schon heute eine Notwendigkeit [1902]
100
6. Monarchie oder Republik? [1904]
103
7. Landleute, Kinder und Frauen in Süditalien [1905]
107
8. [Entstehen der sozialen Frage] [1911]
110
9. Die Grenzen der Brautstandsmoral [1911]
113
10. [Analyse einer Verlobungskarte] [1911]
120
II. Zum Problem: Solidarität und Kastenwesen [1914]
127
11. Parteien, Eliten, Klassen 12. Die deutsche Sozialdemokratie im Internationalen Verbände [1907]
135
13. Der konservative Grundzug der Partei-Organisation [1909]
198
14. Zum Problem der zeitlichen Widerstandsfähigkeit des Adels [1914]
214
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Inhalt
15. Vilfredo Pareto [1927]
230
16. [Klassenbildung und Kreislauf der Eliten] [1934]
245
III. Nation, Nationalismus & Patriotismus 17. Judentum und öffentliche Achtung [1903]
277
18. Patriotismus und Ethik [1906]
281
19. Pazifismus und Nationalitätsprinzip in der Geschichte [1909]
298
20. Materialien zu einer Soziologie des Fremden [1925]
311
21. Über einige Ursachen und Wirkungen des englischen Verfassungsund Freiheitspatriotismus [1926]
332
22. Prolegomena zur Analyse des nationalen Elitegedankens [1927]
349
Personenverzeichnis
363
Quellenverzeichnis
369
Vorwort
Viel zitiert und doch kaum bekannt: in dieser Einschätzung sind sich alle einig, die sich näher mit Robert Michels beschäftigt haben. Diese Edition präsentiert den Elitetheoretiker Robert Michels von einer neuen Seite. Der Klassiker der Soziologie hat sich vor und nach seiner Entdeckung der elitären Struktur demokratischer Organisationen derart intensiv mit den neuen sozialen Bewegungen seiner Zeit beschäftigt, dass man von einem ,Pionier der Bewegungsforschung' sprechen kann. Sein dreidimensionaler Begriff der „sozialen Frage" beinhaltet gleichermaßen das Streben nach ökonomischer, sexueller und nationaler Emanzipation als den drei wesentlichen und prinzipiell gleichrangigen Herausforderungen der Moderne. Daher liegt der Schwerpunkt der Edition auf Michels' frühen Schriften zur Arbeiter-, zur Frauen- und zur nationalen Frage. Michels' Aufsätze analysieren aber nicht nur die dynamischen Entstehungsmuster sozialer Bewegungen, sondern auch die Mechanismen ihrer Erstarrung und ihres Wandels, bei dem sich das ursprüngliche Programm in sein Gegenteil verkehren kann. Werkgeschichtlich wie systematisch lässt sich Michels' Einstieg in die Organisationssoziologie als Fortsetzung der Bewegungsstudien mit anderen Mitteln verstehen, da die Organisation mit ihren autoritären und strukturkonservativen Tendenzen das Schicksal jeder sozialen Bewegung ist. Insofern ist die Edition ein unverzichtbarer Ergänzungsband zu Robert Michels' berühmtem elitetheoretischen Hauptwerk, seiner „Soziologie des Parteiwesens" von 1911. Sie vertieft und verbindet gleichzeitig Überlegungen meiner Dissertation über Michels' politische Theorie und Biographie mit dem Titel „Der Fremde im Kriege", die ebenfalls zur Jahreswende 2007/2008 im Akademie Verlag erscheint.
Der nunmehr zweite Band der „Schriften zur europäischen Ideengeschichte" wäre ohne finanzielle, konzeptionelle und redaktionelle Unterstützung nicht zustande gekommen. Ich danke dem Michele Sicca Trust in Washington D.C., namentlich Luigi R. Einaudi, fur die monetäre Förderung des Projektes. Harald Bluhm danke ich fur die hervorragende konzeptionelle Zusammenarbeit, Mischka Dammaschke für die optimale Betreuung von Verlagsseite. Mein großer Dank und insbesondere Respekt gilt Monika Schumacher, die die Originaltexte nicht nur präzise transkribiert, sondern sie auch
10 sorgfältig gelesen und so viele wichtige redaktionelle Impulse für die Edition gegeben hat. Katja Guske und Till Leibersperger haben diese Transkription in ebenso dankenswerter Lektüre kritisch geprüft, Frau Guske zudem das Personenregister erstellt.
Berlin, im Oktober 2007
Timm Genett
Einleitung Robert Michels - Pionier der sozialen Bewegungsforschung
I. Zwischen freiheitlichem Kosmopolitismus und neuem Nationalismus: eine wechselhafte Biographie Auf dem Campo Verano, dem größten Friedhof Roms, findet sich in Feld Nr. 30 des ,Pincetto vecchio' neben monumentalen Tempeln und Grabsteinen ein in dieser Kulisse geradezu bescheiden wirkendes Grab. Der Suchende wird es schon deshalb leicht verfehlen, weil es offensichtlich nur wenige gibt, die es von dem rankenden Pflanz- und Blätterwerk gelegentlich befreien. Trotz der etwas kleineren Dimensionen teilt es mit den umliegenden Gräbern den Anspruch, ein veritables biographisches Denkmal zu sein. Neben Geburts- und Todesdatum (9. Januar 1876 - 2. Mai 1936) präsentiert der Grabstein den Kopf des Verstorbenen aus einer Seitenperspektive auf einem bronzenen Medaillon. Um das Medaillon steht in aufgesetzten Lettern ein Satz geschrieben, der fur die Nachgeborenen das Leben des Mannes auf den Begriff bringen soll: „FIGLIO DI COLONIA SUL RENO VISSE NELL'AMORE DI ROMA LE ITALICHE VIRTÙ ADDITANDO AL MONDO FECE SUA LA PATRIA ITALIANA"1 Die Grabinschrift ist von ihrem kulturgeschichtlichen und politischen Kontext kaum zu trennen, hat der Sohn des Verstorbenen doch dem „Duce" des italienischen Faschismus, Benito Mussolini, höchstpersönlich eine Dublette des Bronzereliefs geschenkt. Dem Zeitgeist dürfte zu einem nicht geringen Teil auch die „Liebe zu Rom"2 geschuldet sein sowie der Umstand, dass die Inschrift nicht wie üblich den Beruf des Toten nennt, sondern stattdessen die Berufung, nämlich als wesentliche Aktivität zu Lebzeiten die nationale Propaganda in der ganzen Welt, nur in freundlicheren Worten. Das patrio-
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Zu deutsch: „Sohn Kölns am Rhein - lebte in der Liebe zu Rom - der Welt die italienischen Tugenden aufzeigend - machte er die italienische Heimat zu seiner eigenen".
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„Roma" steht im zeitlichen Kontext für „Italien", auch weil der faschistische Neoimperialismus rhetorisch das antike Römische Reich beerbt und damit sehr populär ist. Im Fall von Robert Michels können wir auch von einem autobiographischen Mythos sprechen, seiner Vision einer kulturellen Identität der lateinischen Völker. Vgl. ders., Una figlia di Roma: Colonia, a. a. O.
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Einleitung
tische Engagement erhält aber erst durch die zentrale Aussage der Inschrift seine spezifische, außergewöhnliche Kontur: derjenige, der sein Leben offensichtlich ganz in den Dienst der italienischen Sache gestellt hat, unterscheidet sich von den meisten seiner Zeitgenossen, die ähnlich ,national' empfinden, dadurch, dass er kein Italiener von Geburt gewesen ist, sondern als geborener Deutscher erst in reiferen Jahren Italien zu seiner Patria gemacht hat. Pointierter: was anderen in die Wiege gelegt, ist bei ihm die Frucht einer bewussten Entscheidung gewesen. Wäre der „Sohn Kölns", wäre Robert Michels zu einem anderen Zeitpunkt gestorben, hätten auch andere Begriffe3 das Grab schmücken können: Sozialist, Kosmopolit, Radikalliberaler, Pazifist, Soziologe, Elitentheoretiker, Ökonom, ja, wie wir in diesem Band noch sehen werden, auch „Feminist und Sexualreformer" hätte einen authentischen Aspekt dieser in der Bandbreite ihrer politischen Identitäten außergewöhnlichen und für die meisten Nachgeborenen daher zunächst „zutiefst beunruhigenden Biographie"4 angezeigt. Vor dem Ersten Weltkrieg noch ein leidenschaftlicher Verfechter der Werte der europäischen Aufklärung, verwurzelt im Menschenrechtsdiskurs der französischen Revolution, wird Michels in den zwanziger Jahren exemplarisch für die Krise dieser Ideen stehen, insbesondere für die Krise der Demokratie, für die Erosion des politischen Liberalismus und - ,positiv' gewendet - für die Faszinationskraft der neuen sozialen Bewegungen von Rechts, in diesem Fall des italienischen Faschismus.
Europäische Kultur, intellektuelles Reisefieber und italienisches Exil: Michels bis 1901 Geboren als Sohn einer wohlhabenden Kölner Textilfabrikantenfamilie mit französischen und spanischen Wurzeln,5 hat Robert Michels eine Ausbildung von europäischer Dimension genossen. Schon als Teenager liest er Dantes „Göttliche Komödie" und die Philosophie der französischen Aufklärung im Original. Nach einer ersten Grundausbildung durch seine Mutter Anna Schnitzler besucht er das Collège français in Berlin (1885-1888), danach das Gymnasium in Eisenach (1888-1894). Als er im November 1900 mit 24 Jahren in Halle promoviert wird, nennt sein lateinisch geschriebenes Cur-
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Begriffe, die selbstverständlich immer nur indirekt das Selbstbild des Verstorbenen wiedergeben, weil die Verbliebenen das Grabmal gestalten und dabei notgedrungen das Selbstbild des Toten deuten müssen - in der Regel in dem aufrichtigen Wunsch, diesen in ein positives Licht zu rücken bzw. in das, was man selbst dafür hält. Michels' Sohn Mario wird sicherlich bei „Rom" das faschistische Neoimperium gemeint haben, hat er doch in einem Schreiben an den „Duce" vom 8. Mai 1937, als er Mussolini die Dublette zusendet, seinen alten faschistischen Schwur von 1921 erneuert. (Kopie des Briefes im Privatarchiv von Michels' Enkelin Maria Gallino). Joachim Milles, Brüche und Kontinuitäten eines radikalen Intellektuellen, a. a. O., S. 7. Vgl. zur Familiengeschichte aus Michels' Feder: Peter Michels, a.a.O.; ders., Don Juan van Halen, a. a. O.
Einleitung
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riculum Vitae in seiner Dissertation neben dem verkürzten6 Militärdienst im Regiment „Großherzog Sachsen" auch einen mehrmonatigen Aufenthalt in England sowie Studienaufenthalte in München, Leipzig, wo er als Präsident eines internationalen universitären Zirkels fungiert, sowie Halle und Paris.7 Ein gedruckter Lebenslauf aus dem Jahr 1912 nennt zudem Studienreisen nach Belgien und Holland, wo der Promovend Material für seine Dissertation über die Motive Ludwigs IV. zum Krieg gegen Holland von 1672 recherchiert haben dürfte.8 Die dank Lektüre, Ausbildung und Reisen vermittelte europäische Kultur ist für Michels sowohl politisch, wie wir noch sehen werden, als auch privat zum Programm geworden. Seine Kinder wird er signifikanterweise nach den Figuren europäischer Opern Mario (1901), Manon (1904) und Daisy (1906) nennen - was ihm etwas später im nationalistischen Klima des Ersten Weltkrieg als Beispiel seiner deutschfeindlichen Gesinnung vorgeworfen werden wird: „nach der Entente getauft!" 9 Anders als die spätere, sich erst infolge des Ersten Weltkrieges entwickelnde persönliche Mythologie vom „romano di renania"10 nahelegt, ist Michels' Lebensweg als wohl „kosmopolitischster Intellektueller der Jahrhundertwende"11 vor dem Krieg keinesfalls auf ein Land festgelegt gewesen. Sein frühes publizistisches Eintreten für die italienische Irredenta in Österreich bedarf keiner nationalistischen Triebfeder, sondern begründet sich aus dem Universalismus des Nationalitätenprinzips einerseits, sowie aus seiner Ablehnung der großen Vielvölkerreiche mit monarchischer Spitze andererseits.12 Zwischen 1902 und 1907 hat Michels zwar seinen Hauptwohnsitz in Marburg, laut
6 Es gibt keine Quelle, mit der sich klären ließe, ob Michels zunächst eine militärische Karriere einschlagen wollte oder ob er von Anfang an die Möglichkeit eines „Einjährig-freiwilligen Dienstes", jener Ausnahmeregelung für Personen mit einer höheren Bildung, ausnutzen wollte. Vgl. Corrado Malandrino, Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon, a.a.O., S. 496. Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß seine antikonformistische und antiautoritäre Haltung als junger Politiker durch persönliche Erfahrungen während der Militärzeit geprägt worden ist. Zahlreiche Äußerungen belegen eine leidenschaftliche Abneigung gegen den Militärdienst. Deutschland nennt er einmal das „Land der Soldaten-Mißhandlung par excellence" (Brief an Augustin Hamon, 10. November 1904, in: Malandrino, Lettere di Michels e Hamon, S. 534: „le pays des maltraitements de soldats par excellence") und im Institut der Kaserne erblickt er die Synthese aus „Irrenhaus und Zuchthaus" (Michels, Die Frau und der Militarismus, in: Die Gleichheit, Nr. 9, 13. Jg., 22.4.1903, S. 70.) 7 Michels, Zur Vorgeschichte von Ludwigs XIV. Einfall in Holland, Diss. Halle 1900. 8 „Professore Roberto Michels Torino", in: Archivio Roberto Michels Fondazione Einaudi (ARMFE). 9 „Deutsche Juristen im feindlichen Lager", in: Deutsche Juristen-Zeitung, XX. Jg., Nr. 17/18, 1915, Spalte 895-896. 10 Vgl. die persönliche Widmung „A Luigi e Mario Einaudi Romani del Piemonte con amicizia Roberto Michels Romano di Renania", handschriftlich auf dem Exemplar von „Una Figlia di Roma", a.a.O., in der Bibliothek der Fondazione Luigi Einaudi. 11 Frank R. Pfetsch, Einfuhrung in Person, Werk und Wirkung, in: Michels, Soziologie des Parteiwesens, 4. Aufl., Stuttgart 1989, S. XVII-XLI, S. XVIII. 12 Michels, Das unerlöste Italien in Österreich, a. a. O.
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Einleitung
Lebenslauf dürfte er indes die „Hälfte jener Jahre" mit akademischen und politischen Reisen in Deutschland, Italien, Frankreich, Holland und England verbracht haben, übrigens meist von seiner in dieser Zeit ebenso sozialwissenschaftlich wie sozialistisch engagierten Frau begleitet. 13 Unter anderem lehrt Michels von 1903 bis 1905 regelmäßig als Gastdozent an der Université Nouvelle in Brüssel sowie im Jahr 1905 am Collège Libre des Sciences Sociales in Paris. In Paris wird er auch 1904 Mitglied der „Société de Sociologie de Paris" und 1906 des berühmten „Institut International de Sociologie", beide unter der Ägide von Réné Worms. Gleichwohl stellt sich eine außergewöhnliche Affinität zu Italien schon früh ein und sie wird durch ganz besondere Umstände verstärkt. Nach seiner Hochzeit mit Gisela Lindner, der Tochter des Leipziger Historikers Theodor Lindner, im Mai 1900 fuhrt die Hochzeitsreise die beiden Jungvermählten nach Norditalien, ausgerechnet ins Biellesische 14 , in einen kleinen Ort namens Cossila San Grato, wo sie sich bis Dezember aufhalten. Es könnte sich um eine Art Exil gehandelt haben. 15 Im August 1900 nämlich wird in dem Örtchen ihre Tochter Italia geboren, die nur wenige Monate später, im Dezember, verstirbt. Italias früher Geburtstermin nur drei Monate nach der Ehe ist ein Verstoß gegen das Gebot der geschlechtlichen Enthaltsamkeit vor der Ehe und seinerzeit in bürgerlichen Kreisen ein Skandal. Michels' spätere Kritik der „Brautstandsmoral" 16 dürfte somit auch von den ganz persönlichen Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit dieser Moralvorstellung beeinflusst sein. Nach dem Tod ihrer Tochter ziehen die Michels' weiter nach Turin und sind dort bis in den Mai 1901 regelmäßige Nutzer des Staatsarchivs. Dieser relativ lange Zeitraum von einem guten Jahr 17 , den Michels zunächst aus privaten Gründen, dann auch zur Vorbereitung einer Habilitationsarbeit 18 in Norditalien verbracht hat, erklärt, warum er so plötzlich über zahlreiche Kontakte in das Turiner Geistesleben, insbesondere die damals recht philosozialistisch gestimmte akademische Intelligenz verfügt, 19 warum sich seine frühen Bewegungsre-
13 „Professore Roberto Michels Torino", ARMFE [m.Übs.]. 14 Das Textilunternehmen der Familie Michels hatte auch Geschäftspartner in der Industriestadt Biella in der Nähe von Turin. Robert Michels hat möglicherweise die eine oder andere Repräsentationsreise dorthin unternommen. Vgl. Corrado Malandrino, Roberto e Gisella Michels e il socialismo piemontese, a. a. O. 15 Die These vom Bielleser Exil verdanken wir Francesco Tuccari, Una città di idealisti e scienzati, a.a.O. Tuccaris Recherchen korrigieren in diesem wichtigen biographischen Punkt die immer wieder zitierte Angabe, Italia sei wenige Tage nach ihrer angeblichen Geburt im Dezember gestorben. Vgl. Claudio Pogliano, Tra passione e scienza. Robert Michels a Torino, a. a. O., S. 20/21. 16 Die Grenzen der Brautstandsmoral. 17 Im o. g. Lebenslauf „Professore Roberto Michels Torino" von höchstwahrscheinlich 1912, heißt es lapidar: „Er verbrachte das erste Jahr der Ehe (1900-01) in Italien [...]" [m.Übs.]. 18 Arbeitstitel der Habilitation war: „Die diplomatischen und militärischen Beziehungen zwischen den Höfen Berlin und Turin am Ende des 17. Jahrhunderts". Vgl. Michels' Brief vom 13.9.03 in: Corrado Malandrino, Lettere di Michels e di Hamon, a.a.O., S. 523. 19 Paolo Spriano, Storia di Torino operaia e socialista, a. a. O. Vgl. Tuccari, Una città di idealisti, a. a. O.
Einleitung
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ports mit Vorliebe um italienische Arbeiterinnen- und Arbeiterfragen drehen 20 und warum nicht nur sein erster Aufsatz - übrigens zur Frauenfrage in Deutschland - gleich auf italienisch erscheint, sondern auch der zweite und der dritte21, von seinen ersten Büchern über den Marxismus und die sozialistische Bewegung in Italien ganz zu schweigen. 22
1 9 0 2 - 1 9 0 6 : Sozialismus, Republikanismus und Antimilitarismus In Italien macht Michels die offenbar exzeptionelle Erfahrung, „daß der Sozialist dort keineswegs gesellschaftlich geächtet erscheint und seine Meinung frei und offen zu sagen sich nicht scheuen braucht."23 In Deutschland liegen die Dinge da ganz anders: Die Habilitation, die Michels in Marburg anstrebt, wird am faktischen akademischen Berufsverbot für Sozialdemokraten scheitern. Max Weber hat den Fall Michels als Exempel für die politischen Grenzen der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland öffentlich gemacht 24 und eine „Schmach und Schande für eine Kulturnation" genannt. 25 Es ist indes umstritten, wann Michels genau der SPD - und in etwa zeitgleich dem Partito Socialista Italiano (PSI) - beigetreten ist. Irgendwann zwischen Ende 1900 und dem 31. Dezember 1902 muss es gewesen sein. 26 Eines der Motive für den Eintritt in die SPD ist dagegen klar aus seiner sozialdemokratischen Publizistik zu entnehmen: „Es gibt in Deutschland keinen Republikanismus außerhalb des sozialistischen [Spektrums]."27 „Der deutsche Sozialismus ist der Erbe der demokratischen und liberalen
20 Vgl. die entsprechenden Studien in diesem Band. 21 Michels: Attorno ad una questione sociale in Germania, a.a.O.; sowie ders., Il dramma moderno tedesco, in: La Commedia, Nr. 9, 7.4.1901; ders., La ,Pochade' in Germania, in: La Commedia, Nr. 7, 24.3.1901. 22 1) Michels, Proletariato e borghesia nel movimento socialista italiano, Torino 1908 - hier steht die Analyse der heterogenen sozialen Zusammensetzung der sozialistischen Arbeiterbewegung in Italien und der daraus resultierenden inneren Divergenzen im Vordergrund; 2) Michels, Storia del marxismo in Italia, Roma 1910 - hier steht die ideengeschichtliche Rekonstruktion des italienischen Marxismus im Vordergrund, insbesondere der Einfluss Bakunins. 23 Vgl. Michels, Der Sozialismus in Italien, Original: S. 497; in diesem Band, S. 76. 24 Max Weber, Die sogenannte „Lehrfreiheit" an den deutschen Universitäten, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 262, 20.9.1908. 25 Brief von Weber an Michels, 24.1.1907, Max Weber Gesamtausgabe (MWG) II, 5, S. 223. 26 Im Archivio Roberto Michels der Fondazione Luigi Einaudi finden sich Mitgliedsausweise vom 15.11.02 (PSI; bis 1909) und 1.1.1903 (SPD, bis 1907). Es gibt Äußerungen von Michels, die dies bestätigen (vgl. Corrado Malandrino: Patriottismo, Nazione e Democrazia nel Carteggio MoscaMichels, a. a. O., S. 223) und solche, die ein gut zwei Jahre früheres Eintrittsdatum behaupten (vgl. Tuccari, Una città di idealisti..., a.a.O.). 27 Michels, Psicologia e statistica delle elezioni generali politiche in Germania, a.a.O., S. 552: „Come ho già detto non c'è repubblicanesimo in Germania fuori del socialistico."
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Einleitung
Traditionen des Landes."28 In anderen Worten: wenn es nach Michels gegangen wäre, hätte die SPD die politische Modernisierung Deutschlands in Richtung einer republikanischen Ordnung forcieren müssen. Das Bürgertum ist ihm zufolge als Modernisierungsagent ausgefallen, weil sich der Liberalismus nach der deutschen Einheit von 1871 weitgehend auf die ökonomische Modernisierung des Landes beschränkt hat, politisch aber einen historischen Kompromiss mit den alten Eliten eingegangen ist, der die Bastionen von Monarchie und Adel konserviert - mit dem mentalen Effekt, dass sich das Bürgertum in der aristokratisch geprägten Ordnung einrichtet, feudalisiert und auch militarisiert.29 Die republikanische Frage ist für den jungen Michels die revolutionäre Herausforderung des wilhelminisch geprägten deutschen Nationalstaats. Kein anderes Thema der sozialistischen Arbeiterbewegung scheint ihm subversiver zu sein als die Forderung einer republikanischen Ordnung: „Sollte sich in Deutschland jemals eine [...] republikanische Partei bilden - und sie könnte [...] noch so gutbürgerlich sein - Justiz und Polizei würden sie noch sehr viel schärfer behandeln als zur Zeit uns [Sozialdemokraten; T. G], Der Angriff auf das Gottesgnadenthum gilt der deutschen Bourgeoisie als verdammenswerther wie der Angriff auf das Privateigentum".30 Michels ist so gesehen ein Sonderwegstheoretiker avant la lettre, der überdies aufgrund der historischen, institutionellen und mentalen Prägungen des Reiches „exklusiv im offiziellen Deutschland" den „genetischen Schwerpunkt" eines eventuellen europäischen Krieges sieht.31 Dass ausgerechnet die deutsche Bourgeoisie die Kriegsgefahr durch ein fragwürdiges nationales Prestige- und Großmachtdenken vorantreibt, ist für Michels ein Beweis ihrer historischen Fehlentwicklung: „Nicht der Krieg, sondern die Zollunion mit Frankreich müsste die Devise eines Kapitalismus in Deutschland sein", wenn er „selbstbewusst" wäre.32 Ein weiteres wesentliches Postulat der von ihm propagierten nachholenden politischen Modernisierung des Reiches ist die Emanzipation der Frau. Michels dürfte in einer Arbeiterpartei, die Oda Olberg zufolge die klassische bürgerliche Rollenteilung wie selbstverständlich verinnerlicht hatte,33 als Radikalfeminist gegolten haben34 - so
28 Michels, Le congrès socialiste de Dresden, a.a.O., S. 747: „II résulte de tout ce qui précède que le socialisme allemand est l'héritier de tout ce qu'il y a eu de traditions démocratiques et libérales dans le pays." 29 Vgl. exemplarisch die Analyse einer Verlobungskarte. 30 Vgl. Monarchie oder Republik? 31 Michels, Divagazioni sullo Imperialismo germanico..., a.a.O., S. 5: „Infatti, pare non esserci permesso qualsivoglia dubbio, che la gravità della situazione odierna ha da ricercare il suo punto genetico quasi esclusivamente nella Germania ufficiale" 32 Michels, Imperialismo germanico..., S. 23: „Non la guerra, ma l'unione doganale con la Francia, ecco quale dovrebbe essere il motto d'ordine di un capitalismo in Germania, non più vegetativo in materia politica, ma conscio di sè stesso". 33 Vgl. Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 138.
Einleitung
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wenn er August Bebels Wort, dass der Feminismus auf die Verwirklichung des Sozialismus angewiesen sei, umdreht und behauptet, dass der Sozialismus nicht minder des Feminismus bedürfe, weil der Sozialismus ohne die politische und wirtschaftliche Emanzipation der Frau und ohne „eine homogenere Verteilung der Berufs- und selbst der Familienpflichten" scheitern werde 35 . Zum innerparteilichen Kritiker, der zum Verdruss der SPD-Führung die Widersprüche und Schwächen sozialdemokratischer Politik gleichermaßen in deutschen, italienischen und französischen Organen der Arbeiterbewegung sowie in bürgerlichen' Zeitschriften analysiert, entwickelt sich Michels, als ihm deutlich wird, dass sich die angeblich revolutionärste Partei Europas im Kaiserreich nicht weniger eingerichtet hat als das einst liberal-republikanische deutsche Bürgertum. So sieht er einen verhängnisvollen Fehler der sozialdemokratischen Taktik in der ausschließlichen Nutzung der von der Reichsverfassung konzedierten parlamentarischen und legalen Mittel: „Es ist absurd, alles auf eine Karte setzen zu wollen, und es ist noch absurder, wenn man diese Karte nur mit der Erlaubnis seiner Majestät, des Kaisers von Deutschland spielen kann". 36 Anstatt den Bruch mit einer Tradition der Passivität und Staatshörigkeit voranzutreiben und sich in politischer Zivilcourage auch außerhalb der legitimierten Institutionen einzuüben, scheint sich die SPD insgeheim der fatalen Hoffnung hinzugeben, eines Tages „die Republik mit der Unterschrift des Kaisers proklamieren zu können". 37 Mit seiner Akzentuierung der zweifellos systemsprengenden republikanischen Frage muss sich Michels wohl über kurz oder lang in der SPD isolieren, dient der Partei der revolutionäre Verbalradikalismus auf Parteitagen doch tatsächlich nur als phraseologischer Milieuschutz, während zu Michels' Zeit ein De-facto-Reformismus mit entsprechender Anpassung an die politischen Gegebenheiten des Kaiserreiches längst zum inoffiziellen Leitmotiv ihres politischen Handelns avanciert ist.38 Michels sucht und findet neue Verbündete, vor allem im französischen und italienischen Syndikalismus. Nicht nur dessen Kritik am Elektoralismus macht er sich zu eigen, er sympathisiert auch mit der Idee einer revolutionären Gewerkschaftsbewegung - nicht anstelle, aber doch als revitalisierenden Faktor des notgedrungen eher ,diplomatisch' sich am statistischen
34 Michels schrieb u. a. für die Zeitschriften „Die Frau" (hrsg.v. Helene Lange), „Die Gleichheit" (Clara Zetkin), „Die Frauenbewegung" (Lily Braun und Minna Cauer), „Frauenrundschau" (Helene Stöcker), „Mutterschutz", „Neue Generation" und „Unione Femminile". 35 Michels, Feminismus und Sozialismus, a.a.O. 36 Michels, Les dangers du parti socialiste allemand, a.a.O., S. 205: „II est absurde de vouloir tout miser sur une seule carte, et c'est plus absurde encore quand cette carte n'est jouable que par la permission de Sa Majesté l'Empereur d'Allemagne!" 37 Michels, Les dangers ..., S. 206: ,,Espère-t-on proclamer la République en Allemagne ... avec la signature de Guillaume II?". 38 Vgl. Dieter Groh: Emanzipation und Integration. Beiträge zur Sozial- und Politikgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Konstanz 1999; Hans-Josef Steinberg: Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem I. Weltkrieg, Bad Goseberg/Hannover 1967.
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Einleitung
Medianwähler orientierenden Parteisozialismus. Ihn trennen freilich von dieser neuen, u. a. von Arturo Labriola, Hubert Lagardelle und Georges Sorel inspirierten Arbeiterbewegung deren Leitmotive des exklusiven Proletarismus und der gewalttätigen ,action directe'. Seine Vision einer alternativen sozialen Bewegung lautet dagegen: „Wir müssen antilegalitär im juridischen Sinn sein, nicht im physischen Sinne." 39 Der Höhepunkt und gleichsam das doch frühe Ende von Robert Michels' Mitgliedschaft in der SPD leiten die in der ersten Marokko-Krise von 1905 kulminierenden Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich ein. Für Michels ist ein Krieg zwischen den beiden europäischen Nachbarn nur noch eine Frage der Zeit, wenn es der Arbeiterbewegung nicht gelingen sollte, eine internationale Bewegung gegen den Krieg ins Leben zu rufen. Was er auf dem SPD-Parteitag zu Jena 1905 fordert, ist nicht weniger als die Vorbereitung des antimilitaristischen Widerstands, um mit einem solchen im Kriegsfall glaubhaft drohen zu können: „Je deutlicher wir unseren Willen zeigen, den Frieden zu erzwingen und je deutlicher wir zeigen, daß hinter diesem Willen eine feste Macht steht, bereit, jeden Augenblick in Kraft zu treten, desto mehr werden sich die regierenden Klassen hüten, das Volk in einen Krieg hineinzustürzen. Wenn wir der Regierung zeigen, daß wir nicht gewillt sind, einen Krieg mitzumachen, dann wird sie es sich nicht zweimal, sondern dreimal überlegen, ob sie einen Krieg beginnen soll. Wir zwingen die regierenden Klassen, den Weg nach [Den] Haag zu gehen, den sämtliche Fürsten mit dem Väterchen Nikolaus ohne Hülfe des Proletariats nicht gehen würden." 40 Eine Zeitlang versucht er sich als Vermittler zwischen den französischen und deutschen Sozialisten, stellt dabei aber fest, dass von letzteren keinerlei antimilitaristische Aktion im Kriegsfall zu erwarten sei. In dieser Konstellation erleben wir einen Verantwortungspazifisten Michels, der den französischen Genossen vom antimilitaristischen Widerstand abrät, da dieser angesichts der mit Sicherheit zu erwartenden Passivität der deutschen Sozialdemokratie im Konfliktfall auf eine Schwächung der französischen Republik und auf eine Stärkung des deutschen Kaiserreiches hinausliefe. 41 Das Versagen der SPD im Angesicht der Kriegsgefahr - und nicht wie oft unterstellt die illusionäre Suche nach direktdemokratischen Verfahrensweisen im Parteiwesen - , ist die zentrale, letztlich den Bruch mit der SPD einleitende politische Frage während seines parteipolitischen Engagements gewesen. Die Konfrontation mit der Kriegsfrage ist es auch, die Michels bei seiner Ursachensuche fur die Passivität der SPD auf den
39 Michels, Violenza e legalitarismo come fattori della tattica socialista, a.a.O.: „Dobbiamo essere antilegalitari in senso giuridico, non nel senso fisico". 40 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Jena vom 17. bis 23. September 1905, Berlin 1905 [Reprint Osaka 1970], S. 217. 41 Vgl. einen im Hausorgan der ,Lokalisten', wenn man so will: den deutschen Syndikalisten, veröffentlichten Vortrag in Paris: Michels, Die Kriegsgefahr und die deutsche Arbeiterbewegung, a. a. O.
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Weg in die Organisationspsychologie und damit zur soziologischen Elitentheorie fuhrt. Schon anlässlich des Parteitages zu Mannheim 1906 notiert er: Die „Organisation der Mittel, um das verfolgte Ziel zu erreichen, ist - peu à peu und ohne dass sich die Organisierenden selbst dessen bewußt sind - zum Ziel-an-sich geworden." 42 Der politikwissenschaftliche Höhepunkt von Michels' Auseinandersetzung in diesem Kontext ist seine Studie „Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände", die am Vorabend des Stuttgarter Kongresses der II. Internationale im August 1907 im „Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" erscheint, was Michels' Streben nach politischer Wirkung unterstreicht. Er konstatiert hier den Verlust der sozialdemokratischen Führungsrolle im europäischen Sozialismus und gibt einen Ausblick auf das Scheitern der Zweiten Internationale, insofern er resümiert, dass sich eine „Abneigung" der „gesamten europäischen Demokratie gegen Preußen-Deutschland" nunmehr auch gegen die SPD selbst richte: deren „Unfähigkeit, sich dieses gemeinsamen ,Feindes aller Zivilisation' zu erwehren, [...], wirft auf sie den Schatten der Komplizität". 43 Das Fazit von Michels' Studie lautet, dass die SPD gerade aufgrund ihrer Organisationserfolge politisch immobilisiert sei. „In einem Lande von so ausgeprägt autokratischer oder [...] oligarchischer Staats- und Geistesverfassung wie Deutschland" sei die Partei de facto „Sklavin jedweder Situation". 44 Eduard Bernstein wird Jahre später, 1917, mit Blick auf das Verhalten der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg an Michels' Analyse von 1907 erinnern und sie mit den Worten bestätigen: „Es gibt Vorhersagungen, die man lieber nicht in Erfüllung gehen sehe." 45
Unverschämt erfolgreiche Synthesen: Die Turiner Jahre (1907-1914) Michels verlässt nicht nur die SPD, sondern auch Deutschland. In Italien beginnt für ihn endlich die in Marburg vergeblich angestrebte akademische Lehrtätigkeit. Seine Zulassung als ,libero docente' ermöglichen ihm nicht zuletzt die guten Kontakte zu Gaetano 42 Michels, Le Socialisme allemand après Mannheim, a.a.O., S. 20: „Mais cette organisation des moyens pour atteindre le but poursuivi est devenue, peu à peu et sans que les organisateurs euxmêmes s'en rendent compte, le but à
elle-même."
43 Die deutsche Sozialdemokratie
im Internationalen
Verbände, (Original S. 223; hier S. 192.
44 Die deutsche Sozialdemokratie
im Internationalen
Verbände, S. 231; hier S. 197.
45 Brief von Eduard Bernstein an Robert Michels, 19.6.1917, ARMFE. Auch andere Zeitgenossen haben dies so gesehen. Der ehemalige Krupp-Direktor und zum Antimilitarismus konvertierte Wilhelm Muehlon schlägt 1918 eine Neuausgabe der Vorkriegsschriften vor. Vgl. den Brief von Michels an Muehlon, 9.2.1918, Archiv des Institutes für Zeitgeschichte München, Signatur ED 142/18; Nr. 3159. Michels gibt hier sein Einverständnis zu einem Neudruck von „Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände." Von den hohen Wellen, die Michels 1907 ausgelöst hat, berichtet Emest Beifort Bax noch 1918 in einer Reflexion über den Ersten Weltkrieg (Reminiscences and Reflexions of a mid and late Victorian, London 1918, S. 145-147). Michels selbst bezeichnet den Krieg im Mai 1916 als „Debakel der Arbeiterinternationale". Vgl. Michels, La Débâcle de l\,Internationale Ouvrière" et l'Avenir, a.a. O.
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Mosca, Luigi Einaudi und Achille Loria.46 Seine Berufung wäre allerdings um ein Haar daran gescheitert, dass sich der deutsche Sozialdemokrat fachwissenschaftlich schwer zuordnen lässt. Michels selbst versteht sich als Soziologe, als interdisziplinärer „Grenzwissenschaftler".47 Damit kann er in der damaligen Ordnung der Fächer bestenfalls an einer nationalökonomischen Fakultät unterkommen, was problematisch ist, weil er bislang zur Wirtschaftswissenschaft fast gar nichts, zu politischen Fragen und zur Geschichte und Sozialstruktur der Arbeiterbewegung dagegen sehr viel beigetragen hat. Das wird sich ändern. In den nahezu drei Jahrzehnten von 1907 bis 1936 hat sich Michels eine ansehnliche wirtschaftswissenschaftliche Publikationsliste erarbeitet allerdings sind seine Studien über den Boykott48 oder zum psychologischen Moment im Welthandel49 nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch rezipiert worden. Ein Grund dürfte in Michels' weitgehender Beschränkung auf die ökonomische Dogmengeschichte liegen.50
46 Hierzu zuletzt Tuccari, Una città di idealisti, a. a. O. 47 Riccardo Faucci, Intorno alla ,giusta' collocazione ..., a.a.O.; und Vintantonio Gioia, Roberto Michels e la scienza economica: dall'economia pura alla Grenzwissenschaft, in: Faucci (Hg.), Michels, a.a.O., S. 45-67. 48 Michels, Le boycottage international, Paris 1936. 49 Michels, Das psychologische Moment im Welthandel, Leipzig 1931. 50 Vgl. ζ. Β. Michels, Introduzione alla storia delle dottrine economiche e politiche, Bologna 1932; ders., Note sull'influenza dell'economia classica inglese sull'economia italiana del tempo (17751848), in: Giornale degli economisti, 1935, S. 21-37. Selbst italienische Wirtschaftshistoriker bemerken heute eine „übertriebene Sympathie, die Michels den italienischen Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts entgegengebracht" habe. Und gemessen an dem von Michels angekündigten ehrgeizigen Programm einer interdisziplinären Neukonzeption der Wirtschaftsgeschichte, könnte das Urteil kaum vernichtender sein: Michels gelinge es nicht einmal, eine Rahmenidee der anvisierten soziologischen Rekonstruktion des von ihm gesammelten reichhaltigen dogmengeschichtlichen Materials zu vermitteln. So das Urteil von Riccardo Faucci, Intorno alla .giusta' collocazione intellettuale, S. 42-43. Dies bestreiten auch nicht die Analysen von Michels' wirtschaftswissenschaftlichen Beiträgen im selben Band, die auf seine Einwände gegen die „puristische" Analyse des Wirtschaftshandelns nach Maßgabe des Homo Oeconomicus eingehen: Vitantonio Gioia, Roberto Michels e la scienza economica: dall'economia pura alla Grenzwissenschaft, a.a.O.; sowie Antonio M. Fusco, Sui criteri „ispiratori" o „direttivi" del Michels per la storia delle dottrine economiche, in: Faucci, S. 69-81. Auffällig auch, dass Michels die Geschichte der ökonomischen Ideen um ihrer selbst willen zu betreiben scheint. Wer erfahren will, wer wann und wo zum Teil ganz ähnliche verelendungstheoretische Aussagen getätigt hat wie Karl Marx, der greife zu: Michels, Die Verelendungstheorie. Studien und Untersuchungen zu internationalen Dogmengeschichte der Volkswirtschaft, Leipzig 1928. In jüngster Zeit sind Michels' intellektuelle Beziehungen zur „Ökonomischen Schule von Turin" näher untersucht worden Vgl. C. Malandrino: Michels e la scuola di economia di Torino, in: http://www.scuolaeconomiatorino.unito.it/paperl410-05/ paperMalandrinol4-10-05.pdf, Oktober 2005; sowie C. Malandrino: La discussione tra Einaudi e Michels sull'economia pura e sul metodo della storia delle dottrine economiche, in: Working paper η. 65, Dipartimento di Politiche Pubbliche e Scelte Collettive - POLIS, Università del
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Die sieben Jahre in Turin von 1907 bis 1914 sind für Michels aus anderen Gründen die vielleicht wichtigsten seiner gesamten akademischen Laufbahn geworden. Er befreit sich vom naiven Fortschrittsdenken früherer Tage51 und auch vom polaren Klassenkampfschema, ja er rezipiert sogar mit vorurteilsloser Offenheit die zeitgenössische ,arbeiterbewegungsfeindliche' Wissenschaft in Gestalt der Theorie der politischen Klasse eines Gaetano Mosca, 52 der Massenpsychologie Gustave Le Bons oder gar biologische Deutungen der sozialen Ungleichheit, wie sie seinerzeit Alfredo Niceforo unternimmt, den Michels sogleich ins Deutsche übersetzt und einführt. 53 In diesem tabulosen geistigen Klima unverschämter Synthesen ohne Rücksicht auf politische Korrektheiten, in dem Michels sich übrigens auch nach seinem Rückzug aus der Parteipolitik weiter als unabhängiger philosozialistischer Intellektueller in die Debatte einbringt, 54 in diesem Klima gedeiht sein wichtigstes Buch, die „Soziologie des Parteiwesens". Es enthält starke Indizien für das Festhalten am Programm der Aufklärung und Demokratisierung wie auch für seine Erledigung. Einerseits zeigt es in eindringlichen Worten und mit einer stringenten Beweisführung, dass sich an der oligarchischen Grundstruktur allen gesellschaftlichen Lebens qualitativ nichts - auch in einem sozialistischen Zukunftsstaat nichts! - ändern kann und demokratische Revitalisierungsimpulse immer wieder wirkungslos im strukturkonservativen Getriebe der Organisation verpuffen. Andererseits erhebt es den Anspruch einer sozialpädagogischen Aufklärung nicht zur Schwächung, sondern zur Stärkung der Demokratie. Dabei handelt es sich freilich nicht mehr um den naiven Erziehungsoptimismus früherer Tage, sondern um einen pessimistisch geläuterten. Die Parteiensoziologie ist ein Projekt der demokratischen Aufklärung aus der Einsicht in die immanenten Sinnverkehrungstendenzen der Demokratie: „Caveant proletarii ne quid aristocratiae capiat socialismus!", 55 schreibt Michels unmittelbar nach seiner ersten Mosca-Rezeption. Seine Parteiensoziologie folgt diesem Appell, insofern sie den Herrschaftsunterworfenen das Wissen um die Mechanismen der sukzessiven Verselbständigung der politischen Klasse bereitstellt und mit
Piemonte Orientale „amedeo Avogadro" Alessandria, Januar 2006, 21 Seiten, (http://polis.unipmn.it/ pubbl/ index.php?paper=1247). 51 Michels: Vorwärts mit Kant und Marx!, in: Volksstimme, 16. Jg., Nr 48, 1905. 52 Michels, Die oligarchischen Tendenzen der Gesellschaft, a. a. O. 53 Alfredo Niceforo, Anthroplogie der nichtbesitzenden Klassen. Studien und Untersuchungen, Leipzig/Amsterdam 1910; mit einer Einführung von Robert Michels: „Das Proletariat in der Wissenschaft und ökonomisch-anthropologische Synthese, S. 3-28. 54 Michels, Appunti sulla situazione presente del socialismo italiano, a.a.O.; ders., La Crisi psicologica del Socialismo, a.a.O.; ders., Le côté éthique du Socialisme positiviste, a.a.O. 55 Michels, La democrazia socialista e l'aristocrazia democratica, in: Il Grido del Popolo, Nr. 57, 5.11.1907; zit.n. Ferraris, Saggi, S. 162. Michels paraphrasiert hier den Satz „videant cónsules, ne quid respublica detrimenti capiat" (= mögen die Konsuln darauf achten, daß die Republik nicht zu Schaden kommt), mit dem im republikanischen Rom die Konsuln, wenn Gefahr im Verzuge war, mit größeren Vollmachten ausgestattet wurden. Mein Übersetzungsvorschlag für Michels' Paraphrase: „Mögen sich die Proletarier vorsehen, daß der Sozialismus nicht eine aristokratische Form annimmt."
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ihrem unbezweifelbaren Notwendigkeitsnachweis soziomoralischer wie kognitiver Gegengewichte gegen die Oligarchisierung eine Desillusionierung der Demokraten um der Demokratie willen betreibt.56 Die Parteiensoziologie wird zum Welterfolg. Fast in Vergessenheit geraten ist, dass Michels zeitgleich zur Jahreswende 1910/11 noch einen zweiten internationalen Bucherfolg verbuchen kann: die sexualpädagogischen „Grenzen der Geschlechtsmoral", die in kurzer Zeit auch ins Italienische, Englische, Französische und Spanische übersetzt werden57. Die Turiner Jahre laufen für Michels sogar so gut, dass sie fast - wenn nicht die internationale Politik dazwischen gekommen wäre - die Professur an einer deutschen Universität ermöglicht hätten. Denn Michels macht von Turin aus akademische Karriere auch in deutschen Institutionen. Er wird nicht nur Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, sondern im Januar 1914 sogar in den Vorstand gewählt. Ab Juli 1913 ist er Mitherausgeber des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik". Seit Mai 1913 arbeitet er überdies an einem besonders renommierten Projekt zur Institutionalisierung der Soziologie in Deutschland: er soll das erste „Handwörterbuch für Soziologie" herausgeben. Wäre der Weltkrieg nicht dazwischen gekommen, wäre dieses auf drei Bände projektierte Lexikon mit Einträgen zu Vordenkern, Schlüsselautoren und Schlüsselbegriffen der Soziologie im Leipziger Veit-Verlag58 erschienen. Es wird Jahre dauern, bis die deutsche Soziologie in einem zweiten Anlauf 1931 dieses Projekt realisiert - unter demselben Namen, herausgegeben von Alfred Vierkandt.59
Der Erste Weltkrieg: zwischen Fremdheit und nationaler Propaganda Alfred Vierkandt ist es auch, der gut zwanzig Jahre vorher mit Blick auf das unter Michels' Verantwortung reifende Handwörterbuch Mitte August 1914 schreibt: „ Jetzt könnten Sie wohl auch bei uns eine Professur bekommen?" 60 Zu diesem Zeitpunkt hat Michels diese Hoffnung indes gerade aufgeben müssen. Unmittelbar nachdem die deutsche Regierung am 31. Juli 1914 den „Zustand drohender Kriegsgefahr" ausgerufen hat, schreibt Michels an seine Frau: „Der Krieg zerstört viele meiner schönsten Hoffnungen u. nimmt mir den letzten Rest Optimismus u. Idealismus, d. h. Glaube an die Vernunft im Menschenleben." Und er fügt hinzu: „An Professur in Deutschland ist
56 Vgl. zu den demokratiepädagogischen und pessimistischen Sinngehalten der Parteiensoziologie Timm Genett, Der Fremde im Kriege, Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1876-1936, Berlin 2008. 57 Vgl. Literaturverzeichnis. 58 Der Verlag „Veit & Comp." fusioniert nach dem Ersten Weltkrieg mit anderen Verlagshäusern zur „Vereinigung Wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co.". 59 Alfred Vierkandt, Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931. 60 Brief von Alfred Vierkandt an Michels, 19.8.1914, ARMFE. [Kursives im Original unterstrichen].
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nunmehr kaum noch zu denken." 61 Tatsächlich vereitelt der Kriegsausbruch Michels' damals sehr ernste Ambitionen deshalb, weil er ein Jahr zuvor, 1913, einen Antrag auf die italienische Staatsbürgerschaft gestellt hat. Dafür wird er sich von nun an rechtfertigen müssen: „Es stimmt, dass ich aus dem deutschen Staatsverband ausgetreten bin, um in den italienischen einzutreten. Als das geschah, Hess nichts einen nahenden Weltkrieg vermuten. Außerdem waren beide Länder damals verbündet." 62 Der „Dreibund" zwischen Deutschland, Österreich und Italien steht aber im August 1914 nur noch auf dem Papier. Aus deutscher Sicht hat Italien bereits mit der Erklärung seiner Neutralität Verrat begangen. Michels steht nun hinsichtlich seiner akademischen Ambitionen in Deutschland auf der falschen Seite. Die Lage ist umso ärgerlicher, als er im Sommer 1913 von der Universität Basel auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Statistik berufen worden ist, er die Professur aber offensichtlich eher aus karrierestrategischen Gründen als Durchgangsstation in Richtung Deutschland und weniger aus einer echten Präferenz für Basel angetreten ist.63 Mit der neuen politischen Konstellation hat sich diese Strategie erledigt. Die durchaus als kosmopolitischer Lebensentwurf zu verstehende Vision, als italienischer Wahlpatriot an eine deutsche Universität zu gehen, zerbricht definitiv am Ersten Weltkrieg. Von nun an wird es fur Michels nur eine „Lösung des Problems meines Lebens" geben: „die baldige und definitive Rückkehr nach Italien". 64 In den Kriegsjahren - und nicht vorher - entdeckt Michels signifikanterweise für sich auch die ideale Heimat der Latinität. 65 Wenn er aber von Italien spricht, dann meint er eigentlich immer Turin. Bis zum Lehrjahr 1926/27 wird er seine 1907/08 begonnene Privatdozentenstelle für Politische Ökonomie an der Universität Turin pa-
61 Brief von Robert Michels an seine Frau Gisela, 2.8.1914, ARMFE. 62 So Michels an den Verleger Julius Springer, 2.9.1915, in: Lettere di Roberto Michels e di Julius Springer, a.a.O.; S. 551. 63 Vgl. Genett, Der Fremde im Kriege, a.a.O., sowie exemplarisch den Brief von Max Weber an Michels, Heidelberg, 21.10. 1915, Abschrift in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 30, Bd. 14, Blatt 24, anlässlich eines Streites über intellektuellen Opportunismus im Weltkrieg: „ich würde die Professuren meines Heimatlandes nicht nur als .Durchgang' fur die Karriere anderwärts schätzen wie Sie: das nenne ich .Opportunität'." 64 Brief von Michels an Einaudi, 23.1.1922 (Archivio Luigi Einaudi in der Fondazione Einaudi): „la separazione della mia figlia Manon [ . . . ] mi fa sempre più sentire la necessità di una pronta soluzione del problema della mia vita nel senso di un pronto e definitivo ritorno in Italia." 65 Beginnend im Ersten Weltkrieg arbeitet Michels bis zu seinem Tode immer wieder an der Vision einer lateinischen oder romanischen Zivilisation, der Italien, Frankreich und das Rheinland, nicht aber Preußen zugehören. Geographisch ist die „Latinität" also identisch mit den Grenzen des alten Römischen Reiches, ideell verbindet sie sich mit den entsprechenden kulturhistorischen Traditionen wie dem Katholizismus sowie mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit zur Assimilation des Fremden. Michels' „Rom-Mythos" ist das Modell eines .freiheitlichen' transnationalen lateinischen Patriotismus, mit dem er übrigens bis zu seinem Tode seinen außenpolitischen Rat an das faschistische Regime begründet, kein Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland einzugehen, sondern stattdessen sich an die Seite des republikanischen Frankreich zu stellen. Vgl. Michels, La sphère historique de Rome, a.a.O.; ders., La Latinité, a.a.O.
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rallel zu seiner Professur in Basel ausüben.66 Seine Hoffnung auf eine Professur in Turin wird er auch noch unablässig artikulieren, als seine Rückkehr nach Italien mit seiner Berufung an die faschistische Parteihochschule in Perugia 1928 längst erfolgt ist. Sie wird unerfüllt bleiben. Vieles spricht dafür, dass die Formulierung „Visse nell' amore di Torino" auf seinem Grabstein präziser gewesen wäre. In dem Brief an seine Frau Anfang August 1914 zeigt sich Michels aber nicht nur von den Auswirkungen des Krieges auf seine akademischen Ambitionen betroffen, sondern artikuliert auch seine Kriegsverachtung und Verzweiflung. Das muss verwundern angesichts des tradierten Michels-Bildes vom bellizistischen Voluntaristen,67 der sich angeblich als „Propagandist für Italiens Kriegseintritt gegen Deutschland"68 betätigt habe. Michels schreibt aber noch am Tag des italienischen Kriegseintritts, am 24. Mai 1915: „Meine Meinung über den Krieg? [...] Ich verachte ihn. Ich glaube nicht, daß er irgendetwas Nützliches herbeiführen wird."69 Tatsächlich ist die gesamte Zeitspanne zwischen dem August 1914 und dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 für Robert Michels eine Phase der resignativen Skepsis gewesen. Weder beteiligt er sich am Krieg der Intellektuellen70 noch verfallt er der „manichäischen Optik", die für den intellektuellen Diskurs im Ersten Weltkrieg typisch ist. Bis zum italienischen Kriegseintritt tritt Michels im übrigen für die Neutralität seiner Wahlheimat ein.71 Freilich dürfte Michels als Präsident des Baseler Komitees der Società Nazionale Dante Alighieri über die Verhandlungen der italienischen Regierung mit der Entente informiert gewesen sein und seine öffentliche Zurückhaltung auch dadurch zu erklären sein, dass der Ausgang dieser Verhandlungen über Neutralität oder Intervention lange offen bleibt. Als die Würfel indes gefallen sind, zieht Michels eine vorbereitete Erklärung aus der Schublade, seine „dichiarazione dell'italianità", in der er nicht nur seine „Italianität" deklariert, sondern auch seine bedingungslose Solidarität mit dem italienischen Kriegskurs
66 Malandrino, Corrado: La discussione tra Einaudi e Michels, a.a.O., S. 3. 67 So schreibt Röhrich (1972: S. 116), Michels „verfolgte inmitten einer kriegsbegeisterten Minderheit die Kundgebungen Mussolinis". Vgl. auch Heinrich A. Winkler, Robert Michels, a.a.O., S. 72: „Von den Positionen her, die er schon vor 1914 bezogen hatte, war es kaum noch verwunderlich, daß Michels während des Krieges seine Sympathien jener Richtung innerhalb der Linken zuwandte, die mit dem parteioffiziellen Pazifismus resolut brach." 68 So Paul Honigsheim, Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 1, 11. Jg., 1959, S. 3-10, S. 10. 69 Zit.n. Malandrino, Lettere di Michels e Hamon, S. 554: „Mon avis sur la guerre? Le voilà, en quelques mots. Je la déteste. Je ne crois pas qu'elle aboutira à quelque chose d'utile." 70 Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996. 71 Luciano Tosi, Michels, la prima guerra mondiale e le relazioni internazionali, a.a.O., S. 178: Michels „cercò di far opera di pacificazione degli animi, evitando le rigide contrapposizioni e rifiutando l'ottica manichea tipica allora di molti intellettuali [...]." „alla vigilia dell'intervento [...] Egli tentava di giustificare la neutralità dell'Italia [...]."
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erklärt. 72 Michels tritt nun doch in den Krieg mit der Feder ein, veröffentlicht allein in der Schweizer Presse gut zwanzig Artikel zur Rechtfertigung des italienischen Kriegskurses, die ersten sogar anonym, wobei einer im damaligen nationalistisch aufgeheizten Klima regelrecht zum Eklat fuhrt, weil die Redaktion die Unterzeile „von einem Deutschen" eingefügt hat. 73 Michels rechtfertigt Italiens Politik mit dem Nationalitätenprinzip. Auch wenn er der Befreiung nicht nur der italienischen Irredenta, sondern aller nationalen Minderheiten in Europa das Wort redet, ist die Kohärenz mit Positionen aus seiner sozialdemokratischen Zeit allerdings nur eine scheinbare, weil er im italienischen Fall eine Expansionspolitik legitimiert, die de facto über die italienischen Siedlungsgebiete hinausgeht und auch in deutschsprachige Gebiete Österreichs vorstößt. Noch 1909 hatte Michels dagegen die „megalomanen Strömungen" eines auch in Italien sich verbreitenden aggressiven Nationalismus kritisiert, weil - würden seine Forderungen realisiert - „ein guter Teil des [...] unzweifelhaft deutschen Tirol, insbesondere die Stadt Bozen italienisch werden würde". 74 Kohärent wäre es gewesen, die faktischen Verstöße gegen das nationale Selbstbestimmungsrecht im Namen desselben öffentlich zu benennen. Michels hat sie kaschiert und dies ist sein erster „Verrat des Intellektuellen" (Benda) gewesen. Er folgt einem Muster, das für Michels im Bezug auf Italien typisch ist, insbesondere für seine Reaktion auf den Faschismus in den Zwanziger Jahren typisch ist: abwarten — anpassen - verteidigen. Im Krieg entwickelt sich Michels zu einem informellen Sprecher der italienischen Regierung. Im gewissen Sinn setzt er damit seine proitalienischen publizistischen Aktivitäten aus der unmittelbaren Vorkriegszeit fort, als er ζ. Β. 1912 der deutschen Öffentlichkeit die demographischen, ökonomischen und außenpolitischen Prestigegründe erläutert, die die italienische Annexion Tripolis' und den anschließenden Krieg gegen die Türkei um Libyen motiviert haben und - dies die offenkundige Intention - verständlich machen.15 Insofern Michels in seiner Imperialismusstudie aber auch den Tripoliskrieg als Bruch mit dem Selbstbestimmungsrecht und der garibaldinischen Tradition des Risorgimento-Nationalismus kenntlich macht und er gleichzeitig zeigt, dass der italienische Imperialismus die Ziele, die ihn motivierten, allesamt verfehlt hat, wird doch ein Unterschied sichtbar: derart kritische Töne sind in den Kriegsschriften nicht zu vernehmen. Aus den öffentlichen Bekenntnissen zu Italien und seiner Rechtfertigung der italienischen Politik hat die Forschung fast durchgängig auf den Nationalisten Michels geschlossen und dabei insgeheim eine gelungene Integration zum Italiener unterstellt. Max Weber war da anderer Meinung: „in Italien bleibt er ein Fremder. Dort nutzt ihm
72 Michels, [dichiarazione dell'italianità], ARMFE. Das Dokument ist unterschrieben mit „Robert Michels. Basilea (Svizzera) semestre d'estate il 24 Maggio 1915". Ich benutze den an „prof. L. Einaudi e Signora" adressierten Druck 73 [Michels], Zum Thema Deutschland und Italien, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 899, 13.7.1915. Zu den übrigen Texten und Hintergründen: Genett, der Fremde im Kriege, a.a.O. 74 Vgl. Pazifismus
und Nationalitätenprinzip
in der Geschichte.
(Original S. 420, hier: S. 308).
75 Michels, Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien, a. a. O.
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das Alles gar nichts und er sitzt zwischen zwei Stühlen". 76 Zwischen zwei Stühlen - das trifft Michels' Befindlichkeit auf den Punkt. In Basel, einer im Ersten Weltkrieg durchweg deutschfreundlichen Stadt, ist Michels ein Außenseiter, steht er doch, obwohl rechtlich immer noch deutscher Staatsbürger, ausgerechnet der nationalen Interessenvertretung Italiens im Ausland vor: der Società Dante Alighieri. In Italien liegt sein Antrag auf Staatsbürgerschaft auf Eis. Seine Bewilligung wird bis zum 3. März 1921 dauern - für den Betroffenen sind das über siebeneinhalb Jahre faktische Staatenlosigkeit - , auch deshalb, weil bei staatlichen Behörden oder universitären Gremien in Italien Hinweise eingehen, Michels' patriotisches italienisches Empfinden sei gar nicht echt. In solchen Situationen erweisen sich insbesondere Gaetano Mosca und Luigi Einaudi als echte Freunde, die für Michels Zeugnis ablegen. 77 Selbst im italienischen Innenministerium befindet sich eine Akte mit Robert Michels' Namen, die nicht nur Erkenntnisse über seine aktive sozialistische Phase enthält, als er noch „Antimilitarist" und „Syndikalist" war, „Artikel für revolutionäre Zeitungen" schrieb und engen Kontakt „mit bekannten und gefährlichen Subversiven" hielt, kurz: als er für die staatlichen Beobachter noch ein tendenziell „gefahrlicher Mann" war. Die Akte befasst sich auch mit Michels' Entwicklung nach 1914, bemerkt einen politischen Wandel zum „Antisozialisten" und enthält die Notiz, dass Robert Michels im Verdacht stehe, ein „Spionageagent in deutschen Diensten" zu sein.78 Seine Isolation im nationalistisch aufgeheizten Klima des Krieges ist dem italienischen Wahlpatrioten Michels mehrfach schmerzhaft bewusst geworden, etwa wenn Behördenschreiben ihn vor schweizerisch-italienischen Grenzüberschreitungen warnen, weil er ein „Feindstaaten angehöriger Ausländer" sei.79 Vor diesem persönlichen Erfahrungshintergrund gewinnen auch Michels' Reflexionen über den „Fremden im Kriege" eine neue autobiographische Dimension. 80
Michels als akademischer Botschafter des Faschismus Folgt man dem soziologiegeschichtlichen Grundwissen, ist Michels schon im Jahr des Marsches auf Rom oder kurz darauf Mitglied des Partito Nazionale Fascista (PNF) geworden. 81 Diese zeitliche Datierung entspricht einer weit verbreiteten Erwartungshal-
76 Brief von Max Weber an Gustav von Schmoller, 10. Januar 1916, GstA Berlin, Rep.92, Nl. Gustav von Schmoller, Nr. 208a. 77 Malandrino, Corrado: Pattriotismo, Nazione e Democrazia nel Carteggio Mosca-Michels, a.a.O., S. 215-217. 78 Tuccari, Una città di idealisti ..., a.a.O. Möglicherweise ist dieser Verdacht von einem missgünstigen Kollegen lanciert worden, der vom im Kriegszeiten verstärkten Misstrauen gegen Ausländer profitieren wollte. 79 Vgl. Genett, Der Fremde im Kriege, a. a. O. 80 Vgl. die Materialien zu einer Soziologie des Fremden. 81 Dies gilt ibs. auch für lexikalische bzw. einführende Darstellungen, die für die meisten Studenten und Gelehrten den ersten Zugriff auf Michels überhaupt darstellen dürften. Vgl. Erhard Stölting,
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tung: schließlich hat die Rezeption 82 Michels' politische Entwicklung als exemplarisch, ja prototypisch für die intellektuelle Entstehungsgeschichte des Faschismus verstanden. Vor diesem Deutungshintergrund mag ein relativ früher Parteieintritt sicherlich plausibel erscheinen. Der einzige Faschist der ersten Stunde aus der Familie Michels ist aber sein Sohn Mario gewesen (der später die Dublette des Grabmedaillons für den Duce anfertigt). Was dagegen Robert Michels betrifft, belegen italienische Archivfunde Anfang der neunziger Jahre, dass er erst am 6. Juni 1928 Mitglied des PNF wird, als er nach 14-jähriger Lehrtätigkeit in Basel nach Italien zurückkehrt und eine Professur an der faschistischen Parteihochschule in Perugia annimmt, an der ohne Parteiausweis weder studiert noch gelehrt werden darf. 83 Dieser offenkundige ,deal' ändert nichts an seiner Einordnung als authentischen Sympathisanten des Regimes. Aber er schärft den Blick auf eine Quellenlage, die keinen anderen Schluss lässt als den, dass Michels mit dem „fascismo movimento", also dem Faschismus der Bewegungsphase und seiner Gewaltmethoden, nichts, aber auch gar nichts zu tun gehabt hat, dass er auch kein , Vordenker' des Faschismus gewesen ist. Im Gegenteil: in den Jahren 1918 bis 1922 bleibt Michels sich, seiner patriotischen Mission und damit jeder italienischen Regierung treu. Michels' Loyalität auch mit den liberalen italienischen Regierungen der Nachkriegszeit beruft sich dabei auffalligerweise auf den Wert der politischen Stabilität und der ausgleichenden, antiextremistischen „goldenen Mitte", wie er selber als Marschroute wörtlich ausgibt.84 Der Frühfaschismus ist für Michels kein antisozialistischer Rettungsanker, sondern ein Störfaktor, der die Krise der italienischen Nachkriegsgesellschaft verschärft und von ihm als eine Bedrohung für Staat und Gesellschaft dargestellt wird. Dagegen hat Michels von Beginn an den „fascismo governo", 85 also den Regierungsfaschismus, als Beendiger des Bürgerkrieges begrüßt: „Es herrschte wieder Ordnung im Lande." 86 Erst jetzt wird er sich, anfangs noch unter Vorbehalten, mit dem Faschismus als Regime voll identifizieren -
Robert Michels, a.a.O., S. 232: „1922"; Frank R. Pfetsch (1989, S. XX: „1923"); sowie Joachim Milles, a. a. O., S. 15: „Noch in seiner Baseler Zeit trat Michels, wie viele andere italienische Nationalisten auch, kurz nach dem ,Marsch auf Rom' im Oktober des Jahres 1922 dem .Partito Nazionale Fascista' (PNF) Benito Mussolinis bei". Das Online-Lexikon „50 Klassiker der Soziologie" von der Universität Graz datiert Michels' Eintritt in den Partito Fascista Nazionale auf das Jahr 1923: http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/michels/34bio.htm (Stand: 17.9.2007). Derartig zementiert, geht das vermeintliche Datum wieder in allgemeinere Darstellungen ein, zuletzt bei Stefan Breuer (Nationalismus und Faschismus, Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005, S.55). 82 Zur Rezeption s. u. 83 Loreto di Nucci, Roberto Michels ,ambasciatore' fascista, a.a.O. 84 Michels, Aus dem neuen Italien, a.a.O.; ders., Die italienische Bevölkerung nach dem Kriege, a.a.O. 85 Vgl. zu dieser Differenzierung von .fascismo movimento' und .fascismo governo': Renzo de Felice, Intervista sul fascismo, a cura di Michael A. Leeden, Roma-Bari 1975, S. 28f., sowie die Introduzione di Francesco Perfetti, in: De Felice, Fascismo, Milano 1998, S. 24. 86 Michels, Sozialismus und Faszismus, a.a.O., S. 322.
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vor allem in seiner Verkörperung durch Benito Mussolini. Michels' Wende, die sich anhand dreier Schriften zum Thema aus den Jahren 1921 und 1922 nachzeichnen lässt, 87 korrespondiert mit dem sozialgeschichtlichen Befund, dass die Bewegungsphase des Faschismus im Herbst 1921 ihr Ende findet und aus der „Antipartei" eine Regierungspartei wird. 88 Insofern steht Michels exemplarisch für die weit verbreitete Faszinationskraft des italienischen Faschismus in der bürgerlichen Intelligenz der 20er und 30er Jahre und die Erosion freiheitlicher politischer Kultur in der Krise der parlamentarischen Institutionen. 89 Dieser politische Wandel hat auch Folgen für seine Demokratie- und Elitentheorie. Aus politisch nachvollziehbaren Gründen unterlässt Michels eine Anwendung der machtanalytischen, ja herrschaftskritischen Instrumente seiner „Soziologie des Parteiwesens" auf den Faschismus. Seine oberflächliche Indienstnahme des Weberschen Charisma-Begriffes für Mussolinis Herrschaft 90 dient legitimatorischen Zwecken, ohne am soziologischen Analysepotential des Charismas wirklich interessiert zu sein. Seine Demokratiekritik in den Zwanziger Jahren wiederum steht beziehungslos zu seinem parteiensoziologischen Hauptwerk, weil sie schlichter Nachkriegszeitgeist ist: mangelnde Dezisionsfähigkeit der Parlamente, massendemokratische Dimension der Wahlen und daraus folgende mangelnde Qualität der Führerauslese. Sein Philofaschismus hat Michels in der damaligen akademischen Welt indes kaum kompromittiert. Er ist in den zwanziger und dreißiger Jahren ein international anerkannter Sozialwissenschaftler gewesen, der aufgrund seiner wissenschaftlichen Autorität in Fragen der politischen Soziologie und sozialer Bewegungen, des Nationalismus, der Migrations- und Demographieforschung, zur Rolle des Intellektuellen, zu ökonomischen wie außenpolitischen Fragen in seriösen Organen wie dem „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik", der „Encyclopaedia of the Social Sciences" 91 , ja sogar im „Handwörterbuch für Theologie" (!) 92 und dem „Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens" 93 sowie zahlreichen, meist nicht faschistischen Presseorganen veröffentlicht. Michels hat auch nicht nur am „Archiv", sondern an allen deutschen Zeitschriften mit soziologischer Ausrichtung mitgearbeitet. 94 Seine Mitarbeit an der Institutionalisie-
87 Michels, Zu den italienischen Neuwahlen. Kommunisten und Faschisten, a.a.O.; ders., Der Fascismus und Genua, a.a.O.; ders., Der Aufstieg des Fascismus in Italien, Broschüre, a.a.O., Dezember 1922. 88 Emilio Gentile, Storia del partito fascista 1919-1922. Movimento e Milizia, Roma-Bari 1989. 89 Vgl. zur zeitgenössischen Faschismus-Diskussion Wolfgang Schieder, Das italienische Experiment: der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift, 262 (1996), 1,S. 73-125. 90 Michels, Corso di Sociologia politica, Milano 1927. 91 Art. „Authority", in: Vol. II, Art. „Bissolati Leonida" und „Colajanni Napoleone", in: Vol. III; „Conservatism", in: Vol. IV; „Intellectuals", in: Vol. Vili; New York 1931. 92 Und zwar ausgerechnet den Art. „Fascismus", a. a. O. 93 Art. „Anarchismus", a. a. O. 94 Vgl. Erhard Stölting, Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1986.
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rung des Fachs in Deutschland unterstreicht auch seine Einfuhrung in die „Soziologie als Gesellschaftswissenschaft". 95 Die zügige Reintegration in die deutsche Soziologenzunft nach dem Krieg verdankt er u. a. seinen guten Kontakten zu den jeder Faschismusfreundlichkeit unverdächtigen Emil Lederer 96 und Leopold von Wiese 97 . Indikatoren seiner außerordentlichen Reputation sind auch Michels' Berufung als Gastprofessor durch die Universitäten Chicago und Williamstown 1927, wo er vor den amerikanischen Studenten u.a. Vorlesungen über das „neue Italien" hält, 98 oder auch seine Aufnahme in wissenschaftliche Gesellschaften, Institute und Akademien mit Rang und Namen, seien es die Deutsche Gesellschaft fur Soziologie, an deren Kongressen er nach der weltkriegsbedingten Unterbrechung ab 1924 wieder teilnehmen wird, bis sie 1933 aufgelöst wird, seien es die nationalen soziologischen Gesellschaften in Paris, Brüssel, Genf, Prag und Tokio, sei es die damals noch königliche und 1939 von den Faschisten wegen liberaler Tendenzen geschlossene „Accademia Nazionale dei Lincei" in Rom. Neben seiner fachwissenschaftlichen genießt Michels aber bis in die dreißiger Jahre auch eine Anerkennung als friedenspolitische Autorität. So lädt ihn am 26.1.1934 die Pariser Zentrale der angesehenen Carnegie-Stiftung zum Vortrag. Michels wirbt hier in einem „Epos des Friedens" 99 für ein gemeinsames Europa, in dem „alle mit allen in guten Beziehungen" stehen und gleichzeitig einen Block der Zivilität gegen Gefahren von außen bilden. Schrittmacher auf diesem Weg sollten die romanischen Länder sein, deren Befähigung zur Herausbildung einer transnationalen Identität Michels mit seinem Konzept der „Latinität" begründet. Politische Systemunterschiede zwischen Italien und Frankreich seien da kein Hinderungsgrund, sondern sollten im „brüderlichen Wettstreit" zum Ausdruck kommen. 100 Der Text weist einerseits Affinitäten zur liberalen antifaschistischen Opposition auf, 101 liegt andererseits aber auch auf einer Linie mit zwei Eckpfeilern der Europapolitik Mussolinis: erstens die Gefahr einer deutschen Revanchepolitik für Versailles zu verhindern und zweitens koloniale Expansionsziele Italiens
95 Als Band IV der Reihe „Lebendige Wissenschaft. Strömungen und Probleme der Gegenwart", Berlin 1926. 96 Vgl. Korrespondenz im ARMFE. Lederer ist es, der Michels in den zwanziger Jahren ausgerechnet die Seiten des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" für dessen ersten großen Beitrag zum italienischen Faschismus geöffnet hat. 97 Leopold von Wiese, Herausgeber der „Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie", gewinnt Michels 1921 für zwei Beiträge zu seinem Projekt einer internationalen Bildungssoziologie mit dem Titel „Soziologie des Volksbildungswesens". Vgl. Michels, Die Volkshochschulbewegung in Frankreich, sowie ders., Die Volkshochschulbewegung in Italien, in: Leopold von Wiese, Soziologie des Volksbildungswesens, München 1921, S. 486-511 sowie S. 512-536. 98 Vgl. zur zeitgenössischen U.S.-amerikanischen Faschismus-Diskussion Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschisten, Nationalsozialismus, New Deal 1933-1939, München/Wien 2005. 99 So das Urteil von Giuseppe Panella, Origini e caratteri del fascismo italiano, a. a. O., S. 161 100 Michels, Les bases historiques de la Politique Italienne, a. a. O. [m. Übs.]. 101 Vgl. Jens Petersen, Der italienische Faschismus..., a.a.O., S. 341.
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so zu vertreten, dass in Reaktion darauf kein antiitalienischer Block entstünde. 102 Michels' prinzipielle Präferenz für Frankreich als Bündnispartner Italiens, seine Ablehnung des deutschen Antisemitismus sowie seine Klarstellung, dass ein revanchistisches Deutschland niemals auf Italien als Verbündeten zählen könnte, haben auf jeden Fall in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre Michels' Nimbus als Anwalt eines friedlichen Europas gestärkt. Noch 1936 wird er als Experte für Völkerverständigung Interviews in französischen Zeitungen geben. 103 Für das Regime in Rom dürfte dieser „akademische Botschafter des italienischen Faschismus" 104 ein echter Glücksfall gewesen sein. Denn Michels schreibt nicht wie ein Parteipropagandist. Seine Propaganda steht in der Kontinuität seiner Italienberichterstattung und ist subtil. Sie äußert sich eher im Verschweigen und Auslassen von Störendem, im euphemisierenden Zudecken sowie in gelegentlicher Kritik. Propaganda liest sich anders. Aber möglicherweise besteht der besondere propagandistische Effekt von Michels' Faschismusschriften seinerzeit gerade in dieser pseudoneutralen Perspektive, zumal sie auch noch höchst informativ gewesen sind: sie bieten, so Juan J. Linz, eine „Mischung aus Objektivität und Oberflächlichkeit, aus Sympathie und Widerspruch". 105 Viele Beobachter teilen die Einschätzung, dass dies, in Verbindung mit Michels' Reputation, den Faschismus über Italien hinaus salonfähig gemacht hat. 106 Michels' Bild vom schönen Schein einer zwanglosen faschistischen Konsensdiktatur, sein moderates, fast schon pazifistisches Bild der faschistischen Herrschaft dürfte Sympathiedispositionen gegenüber dem italienischen Experiment bestätigt und verstärkt haben und so auch liberalkonservativen Deutungseliten der Weimarer Republik den Übergang zu philofaschistischen Positionen erleichtert haben.
102 So Giuseppe Panella, Origini e caratteri del fascismo italiano, S. 160. 103 Un entretien avec le Professeur Roberto Michels, in: Sept, 10. Januar 1936. Michels setzt sich hier als Vermittler zwischen den guten Willensabsichten und dem politischen Realismus in Szene. 104 Loreto di Nucci, Roberto Michels ,ambasciatore' fascista, a.a.O. 105 Juan J. Linz, Michels e il suo contributo alla sociologia politica, a.a.O., S. XXXII: „un misto di obiettività e superficialità, di simpatia e contraddizioni". 106 Jens Petersen zufolge haben Michels' Faschismus-Studien eine enorme publizistische Wirkung gehabt: sie „haben indes nicht unbeträchtlich dazu beigetragen, liberal-konservativen Teilen der deutschen Öffentlichkeit in den Endjahren der Weimarer Republik den Übergang zu philofaschistischen Positionen zu erleichtern." Vgl. Jens Petersen, Der italienische Faschismus aus Sicht der Weimarer Republik, a.a.O., S. 343; Dies bestätigen auch Dirk Käsler und Thomas Steiner in einer Studie über soziologische Analysen des Faschismus vor 1933: Michels' Arbeiten seien in Deutschland „very seriously" genommen und Michels selbst „as an expert in this area" betrachtet worden. Den beiden entgeht auch nicht Michels' bewußte Popularisierungsstrategie, die sie etwa an seinem Buch „Italien von heute" (Zürich 1930) festmachen, das sich, erschienen als 5. Band in einer Reihe über den Aufbau moderner Staaten, an eine breitere politisch interessierte Leserschaft richtete: „Michels tried to reach a broader audience and succeeded." Vgl. Käsler/Steiner, a.a.O., S. 95.
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II. Der relative Misserfolg der Rezeption Der weit über das akademische Publikum hinausgehende Rezeptionserfolg zu Lebzeiten ist nach dem Ende der faschistischen Diktaturen in Europa in einen spezifischen Misserfolg der Rezeptionsgeschichte umgeschlagen. Trotz etwa dreißig Monographien und gut 800 Aufsätzen zu einer erstaunlichen Themenvielfalt aus dem sozialen und politischen Leben gilt Michels als „vir unius libri" 107 - als Mann eines einzigen Buches. Immerhin verdankt er diesem aber nicht weniger als den Status eines „Klassikers der Soziologie" 108 . Und tatsächlich beeinflusst seine „Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie" und die dort formulierte Demokratietheorie das politische Denken bis in die Theoriebildung unserer Tage. Dass sein „ehernes Gesetz der Oligarchie" die Tendenz jeder politischen Organisation ist, wird von niemandem ernsthaft bestritten. Lange Zeit hat man diskutiert, ob es reiche, daraus die Schumpetersche Konsequenz zu ziehen und Demokratie als Elitenpluralismus analog zum ökonomischen Marktmodell zu verstehen, d. h. als Angebotskonkurrenz von mindestens zwei Parteien um die Mehrzahl der nachfragenden Wählerstimmen, oder ob der oligarchische Verstoß gegen das innerparteiliche Demokratieprinzip nicht doch durch institutionelle Prophylaxen gemildert, wenn nicht sogar durch basisdemokratische Verfahren korrigiert werden müsse. 109 Von solchen Grundsatzdebatten scheint die heutige Parteiensoziologie weit entfernt, die vielmehr einen so hohen Grad der Ausdifferenzierung und Verselbständigung ihrer Teilbereiche erreicht hat, dass selbst ihre Vertreter den Überblick verloren haben. 110 Mag also das Theoriedesign der Michelsschen Parteiensoziologie mit der Komplexität heutiger Analysemodelle schwer mithalten können, so ist sie dank ihres Untersuchungsgegenstandes - immerhin der am Anfang des 20. Jahrhunderts wohl modernsten Parteiorganisation Europas - auch heute noch aufschlussreich. Die Lebendigkeit von Michels' demokratietheoretischen Meisterwerk hat unlängst Paul Tiefenbach nachgewiesen, indem er die Entwicklungsgeschichte der „Grünen" anhand von Michels' Kommentierungen von 1911 durchgängig unterlegt und plastisch gemacht hat.111 Wenn auch aus der Anschauung einer in vielerlei Hinsicht fernen, vergangenen politischen Epoche destilliert, klingen nicht zuletzt aufgrund Michels' sprachlicher Prägnanz seine Thesen aktueller und weniger verstaubt als die historischen Beispiele, denen sie abgeschaut wurden. So etwa sein Befund der politisch instrumentellen Moral: „Im Zeitalter der Demokratie ist die Ethik eine Waffe, deren sich jeder bedienen kann." 112
107 Heinrich August Winkler, Robert Michels, a.a.O., S. 65. 108 Sowohl 1978 und 1999 hat Dirk Käsler Michels in seine Klassiker-Bände aufgenommen. Vgl. die Beiträge von Stölting und Röhrich, je a. a. O. 109 Vgl. Pfetsch 1989, S. XVII-XLI und die ausführliche Rezeptionsgeschichte in Hetscher 1993, S. 145-224. 110 Vgl. Ludger Helms, Die „Kartellparteien"-These und ihre Kritiker, in: Politische Vierteljahresschrift, 42. Jg., Heft 4, 2001, S. 698-708, S. 698. 111
Paul Tiefenbach, Die Grünen, a. a. O.
112 Soziologie des Parteiwesens, 1989, S. 17.
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Oder denken wir an sein Gesetz der psychologischen Metamorphose politischer Karrieren: „Die Revolutionäre der Gegenwart sind die Reaktionäre der Zukunft". 113 Oder hören wir die Ex-ante-Absage an das Experiment einer klassenlosen Gesellschaft: „Die Sozialisten könnten demnach siegen, nicht der Sozialismus, der im Augenblick des Sieges seiner Bekenner untergeht."114 Dennoch, obwohl seine Thesen ansprechend - auch das nicht-wissenschaftliche Publikum ansprechend - formuliert sind, trotz der Kanonisierung seiner Parteiensoziologie, ist ein Misserfolg zu konstatieren. Vielzitiert, ist der „legislator of the iron law" (Arthur Mitzmann) dennoch relativ unbekannt geblieben. Das hat drei Gründe. Der erste ist banal, aber nicht unwichtig. Michels war ein Vielschreiber, der Publizistik als während der Phase seines aktiven sozialistischen Engagements (1900-1907) sogar einzige - Finanzierungsquelle nutzte, für die fünfköpfige Familie, aber auch für den repräsentativen Lebensstil mit Salonkultur zu Hause115 und vielen Reisen in die akademische und politische Welt ganz Europas, die er in einer bemerkenswerten Rastlosigkeit vollzogen hat, zum Schluss auch gegen die eigene körperliche Erschöpfung und sich häufende Krankheiten.116 Die Folge ist eine ganze Reihe von Stückwerken oder auch von Sekundär- bzw.-Tertiärverwertungen älterer Aufsätze im neuen Einband. „Multa, non multum" 1 ' 7 , lässt sich diese von Michels selbst aufgebaute Rezeptionsbarriere auf den Begriff bringen. Zweitens wird jeder, der sich näher mit Michels beschäftigen möchte, auf eine spezifische Rezeptionsbarriere seiner Textproduktion nach 1914 stoßen. Hervorstechendes Merkmal vor allem der sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen ist der Mangel an greifbaren Thesen. So mancher Kritiker vergleicht Michels' Bücher der 20er und 30er Jahre mit einem „, Warenhaus', auf einem glänzend organisierten Zettelkasten fußend".118 Wer vom Nachkriegs-Michels eine prägnante These erwartet, die dann ähnlich systematisch entwickelt würde wie sein „ehernes Gesetz der Oligarchie", wird enttäuscht werden.
113 Soziologie des Parteiwesens, 1989, S. 196. 114 Soziologie des Parteiwesens, 1989, S. 367. 115 So berichtet Claudio Pogliano (Tra passione e scienza Robert Michels a Torino; a.a.O., S. 24) von den berühmten „Dienstagen" im Hause Michels, wo die Turiner intellektuelle Elite mit Gästen aus ganz Europa zusammentraf. Im Zentrum standen oft durch einen Redner eingeleitete Themen wie, so das Programm für Dezember 1907, „Konsumgenossenschaften", „Berufskrankheiten", „Verschuldung der öffentlichen Hand", „der Einfluss der Arbeit auf schwangere Frauen" und die „Beziehungen zwischen Klasse und Rasse". Aber nicht immer war es der Ernst der Sozialpolitik, der die Gäste zur lebhaften Konversation bis in die Nacht animierte. Im „fröhlichen Salon" applaudierten die eleganten Damen und Herren auch den Pianokünsten von Michels' Frau Gisela oder Vorträgen über die italienische Musikkunst des 18. Jahrhunderts. 116 Dass Michels nicht vom relativ frühen Tod überfallen worden ist, sondern ihn durch seine Lebensweise fast schon selbst provoziert hat, legt ein Bericht seiner Frau nahe: vgl. das Manuskript „Malattie", Documenti personali di Roberto Michels, ARMFE. 117 Heinrich August Winkler, Robert Michels, ebd. 118 Vgl. Michels' Vorwort in „Der Patriotismus" (a.a.O., 1929), S. VII, wo er sich gegen diese Kritik verteidigt.
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Es gibt sie nicht. Wer sich dagegen die Phänomenologie des Patriotismus in allen Facetten, vom Nationallied und den demokratischen Missionskrieg bis zur Heimatliebe und zum Verlust der Heimat in der Fremdheit, vergegenwärtigen möchte, und dies nicht nur durch Zitate aus den Schriften der aktuell amtierenden ,Experten', sondern auch aus Poesie, Prosa, ja sogar dem Volksmund aller Länder, der wird bei Michels fündig. Dabei gibt es viel zu entdecken, etwa dass der Begriff „Verfassungspatriotismus" nicht von Jürgen Habermas oder Dolf Sternberger stammt, sondern von Michels am Beispiel der angelsächsischen Vaterlandsliebe geprägt worden ist: „Blut und Boden", so Michels' Paraphrase des englischen Verfassungspatriotismus, „sind keine Werte, wo nicht Staat und Gesellschaft Zustände schaffen, die des Einsatzes der Bürger wert sind. Erst aus dem Vorhandensein eines Bürgerrechts und eines Bürgersinnes entsteht das Vaterland." Mit diesem Satz hätte man Michels problemlos in die Verfassungspatriotismusdebatte der achtziger und neunziger Jahren einschmuggeln können." 9 Instruktiv wie inspirierend ist auch die perspektivische Varianz in seinem Beitrag zur Lehre von der Klassenbildung, 120 der den Marxschen Klassenbegriff in seiner sozialen, ökonomischen und historischen Begrenztheit in die Schranken weist und gleichzeitig die gesellschaftlichen Scheidungslinien in einer derartigen phänomenalen und kausalen Mehrdimensionalität darstellt, dass er den Klassenbegriff als Instrument der Gesellschaftsbetrachtung de facto über seine Zeit rettet. 121 Mit diesen zwei Beispielen soll nur angedeutet werden, dass die zweite Rezeptionsbarriere relativ leicht zu überwinden ist, wenn man nicht durch die Vorkriegsschriften motiviert - unerfüllbare Erwartungen hat. Insbesondere auf die Freunde der politischen Ideengeschichte wartet eine Fundgrube. Der dritte und sicherlich bedeutendste Grund für Michels' relative Unbekanntheit hingegen besteht darin, dass seine Biographie, sein Werk, ja selbst noch sein parteiensoziologisches Hauptwerk in der Rezeption vom späten philofaschistischen Engagement überschattet worden sind. Kennzeichen aller bisherigen Gesamtinterpretationen von Michels ist die Konzentration auf die Links-Rechts-Wende ,vom Sozialisten zum Faschisten' und ein interpretatorischer Ansatz, der unter der Hand Michels' frühe Phasen der späteren faschistischen Option funktional subsumiert. Dieser Erklärungsansatz ist - egal welche konkrete ,Lösung' er vorschlägt - immer gezwungen, die Brüche in Michels' politischer Biographie auf einer abstrakten ideologiegeschichtlichen
119 Uber einige Ursachen und Wirkungen des englischen Verfassungs- und Freiheitspatriotismus, Original: S. 185; hier: 334. Neben diesem und den anderen ausgewählten Aufsätzen zur Nationalismusforschung im Teil III dieses Bandes ist hier insbesondere zu verweisen auf Michels' Patriotismus-Buch von 1929, a.a.O., sowie seinen umfangreichen Aufsatz „zur historischen Analyse des Patriotismus" von 1913 (a.a.O.). 120 Vgl. Klassenbildung und Kreislauf der Eliten. 121 Die aktuelle postmarxistische Diskussion über die neue Klassengesellschaft, dessen prominentestes Beispiel der Armutsbericht der Bundesregierung ist, findet bei Michels ζ. B. gute Gründe dafür, dass alle rein einkommens- oder vermögensstatistisch messbaren Klassenbegriffe unzureichend sind und man auch trotz guten Einkommens aus kulturellen Gründen unterklassig sein kann und umgekehrt.
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Ebene in ein logisch-kontinuierliches Entwicklungsmuster zu reintegrieren und läuft damit notwendigerweise auf eine Kohärenz hinaus, die vom Leben des antiwilhelminischen bürgerlichen Renegaten, deutschen Emigranten, für die Jahre des Ersten Weltkriegs und der frühen Nachkriegszeit (1915-1921) praktisch Staatenlosen und schließlich italienischen Staatsbürgers, doch stark abstrahiert. Die Michels-Rezeption seit den sechziger Jahren ist eine Geschichte von Kontinuitätshypothesen - vom vermeintlich sorelianischen Syndikalisten zum Faschisten,122 vom angeblich demokratietheoretischen Rousseauisten zum Propagandisten der Syntonie von Masse und capo carismatico123 oder von der scheinbar konsequenten Weiterentwicklung des elitentheoretischen Ansatzes zur Legitimitätsformel der faschistischen politischen Klasse.124 Die narrative Struktur dieser Rezeptionsgeschichte ist nicht nur problematisch, weil sie implizit von der Fiktion der Einheitlichkeit der Lebensgeschichte ausgeht.125 Sie hat auch zu einer allenfalls fragmentarischen Rezeption des Klassikers geführt - mit der paradoxen Folge, dass stets die Neigung groß war, die spätere philofaschistische Phase von Michels aus seinen früheren Lebensabschnitten zu erklären, obwohl das zu Erklärende - der ,Nachkriegs-Michels' - selbst eine weitgehend unklare Größe geblieben ist.126 Dies ist freilich ein Allgemeinbefund, von dem Michels' Wahlheimat Italien abweicht, weil dort, beginnend in den achtziger Jahren und verstärkt seit den Neunzigern, die politisch-biograpische Gesamtinterpretation ,mit rotem Faden' kaum noch eine Rolle gespielt hat und stattdessen Michels' Leben und Werk in zahlreichen, höchst innova-
122 Wilfried Röhrich, Robert Michels, a. a. O. Zum hohen Stellenwert von Röhrichs Buch etwa in der angelsächsischen Diskussion vgl. Scaff, Max Weber and Robert Michels, a.a.O., S. 1270: „the best study of Michels is Röhrich 1972". Röhrich zufolge ist der imperiale Nationalismus Enrico Corradinis für Michels wie für viele andere revolutionären Syndikalisten der Transmissionsriemen in den faschistischen Neonationalismus gewesen. Diese Position teilen auch Juan J. Linz, a.a.O.; H. Stuart Hughes, a.a.O., sowie Sternhell, Sznaijder und Asheri, a.a.O. Sowohl der Sorelianismusthese als auch der Corradini-These widerspricht dagegen Corrado Malandrino. Vgl. Malandrino, Corrado: Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon, a.a.O., S.506, sowie ders., Note a margine di nuovi e vecchi studi su Michels, a. a. O. Die materialreichste Arbeit zum jungen Michels in Italien hat Röhrichs These ebenfalls verworfen: Pino Ferraris, Saggi su Roberto Michels, a. a. O. 123 So Pfetsch in seiner Einleitung zur Soziologie des Parteiwesens, 4. Aufl. 1989, S. XVII-XLI, S. XXIII. Vgl. auch Pfetsch, Die Entwicklung zum faschistischen Führerstaat in der politischen Philosophie von Robert Michels, a. a. O. Ähnlich wie Pfetsch argumentiert Francesco Tuccari, I Dilemmi della Democrazia Moderna. Max Weber e Roberto Michels, a. a. O. 124 David Beetham, From Socialism to Fascism - The Relation between Theory and Practice in the Work of Robert Michels, a. a. O. 125 Vgl. Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, I, 1990, S. 75-81, S. 75. Wie fruchtbar Bourdieus Kritik der biographischen Illusion ist, zeigt für die biographische Geschichtsschreibung Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863-1941. Eine Biographie, München 1994. 126 Jean-Luc Pouthier, Robert Michels et les syndicalistes révolutionnaires français, a. a. O.
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tiven Kontextstudien neu unter die Lupe genommen worden ist. So hat Pino Ferraris als erster - nur mit Blick auf die ersten zehn Jahre von Robert Michels - dessen intellektuelle Verwurzelung im positivistischen libertär-demokratischen Diskurskontext entdeckt und damit eine der tradierten Version vom neoidealistischen, sorelianischen revolutionären Syndikalisten diametral entgegenstehende Deutungsalternative formuliert: „Der Politiker Michels war [...] ein deutscher Sozialdemokrat der Zweiten Internationale, mit einer stark vom positivistischen Marxismus erfüllten Kultur, in der Krise seiner Epoche." 127 . Ferraris' These vom „marxistischen Positivismus" des jungen Michels hat sich zwar auch in Italien nicht allgemein durchgesetzt, aber die alte Einordnung in den Syndikalismus ist auch von ihren Befürwortern so weit inhaltlich differenziert worden 128 , dass unter italienischen Sozialwissenschaftlern Michels' Beziehung zu den italienischen und französischen Syndikalisten ihre integrale Scharnierfunktion für das Verständnis seiner Gesamtentwicklung nahezu vollständig eingebüßt zu haben scheint.129 Zentrale Quelle der neuen Michels-Forschung ist das Anfang der neunziger Jahre erheblich erweiterte Archivio Roberto Michels in der Fondazione Luigi Einaudi in Turin, dessen umfangreiches Material der frühen Michels-Forschung in den sechziger und siebziger Jahren noch gar nicht zur Verfügung gestanden hat. Über 10 000 Dokumente, vor allem Briefe, aber auch unveröffentlichte Dokumente, Notizen und Fotografien aus den Jahren 1890 bis 1936 warten dort zum größten Teil immer noch auf ihre Entdeckung, Deutung und gegebenenfalls Veröffentlichung. Wer in der Michels-Forschung irgendetwas Substantielles beitragen will, kommt um Turin nicht mehr herum, zumal sich dort inzwischen auch zahlreiche Kopien aus anderen europäischen Archiven finden, die die Korrespondenz - in der Regel um die Michels-Briefe - komplettieren. Aber auch bibliographisch sind in den verschiedenen italienischen Kontext- und intellektuellen Beziehungsstudien 130 erstmals Texte von Michels berücksichtigt, die vorher nie eine Rolle gespielt haben, weil sie übersehen wurden oder schlicht unbekannt waren. Dieser Trend hält an und es wäre wünschenswert, wenn er zu einer komplettierten, auch um die hunderte von Rezensionen ergänzten, neuen Michels-Bibliographie führte.
127 Ferraris' Aufsätze über den jungen Michels sind alle in den achtziger Jahren publiziert worden und 1993 in Buchform veröffentlicht worden: Pino Ferraris, Saggi su Roberto Michels, a.a.O., S. 8. Ferraris' These von Michels' Identifikation mit Kautsky konnte durch einen Archiv-Fund bestätigt werden: er sei mehr „Kautskyaner" als „Bernsteinianer", lautet eine bis dato unbekannte politische Selbstverortung Michels' vom August 1903 in einem Brief an Augustin Hamon vom 5. August 1903 (Malandrino, Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon, a.a.O., S. 520) 128
So konzediert Furiozzi (in seiner „Introduzione" zu ders., a.a.O. 1984, S. 16), dass der revolutionäre Syndikalismus weder theoretisch noch praktisch eine homogene Bewegung gewesen sei, sondern als buntes, gemischtes Feld ohne „Evangelium" betrachtet werden könne, auf dem sich Michels unter Beibehaltung seiner kritischen Autonomie betätigt habe.
129 Vgl. Corrado Malandrino, Note a margine di nuovi e vecchi studi su Michels, a.a.O., S. 452. 130 Vgl. die entsprechenden Arbeiten von Pino Ferraris, Corrado Malandrino, Francesco Tuccari, Loreto di Nucci und Pier Paolo Portinaro sowie die Einzelbeiträge in den Bänden von Gian Bagio Furiozzi und Riccardo Faucci, sofem noch nicht im biographischen Abriss zitiert, in der Bibliographie am Ende dieser Einleitung.
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Zu welchen Ergebnissen und neuen Kontroversen die sich seit einigen Jahren intensivierende Michels-Revision auch noch kommen wird - die tradierte Einordnung von Robert Michels als Elitentheoretiker hat allzulange verdeckt, dass er auch ein Pionier der sozialen Bewegungsforschung gewesen ist. Michels' Markenzeichen ist dabei, dass er in der Arbeiter- und der Frauenbewegung sowie in den nationalen Autonomiebewegungen drei gleichberechtigte Dimensionen der sozialen Frage gesehen hat. Mag dies schon ein Alleinstellungsmerkmal sein, so kommt ein zweites hinzu, insofern Michels' Einstieg in die Organisationssoziologie werkgeschichtlich wie systematisch in der Kontinuität seiner sozialen Bewegungsstudien steht. Pointiert: die Organisationsund Elitentheorie ist die Fortsetzung der Bewegungsforschung mit anderen Mitteln. Nur mit Blick auf letztere lässt sich erstere angemessen begreifen.
III. Drei Dimensionen der sozialen Frage und zwei Typen von sozialer Bewegung Für den Sozialdemokraten Robert Michels ist die „soziale Frage" weder mit der ökonomischen Situation der lohnabhängigen Unterschichten identisch noch ließe sie sich allein durch die organisierte Arbeiterbewegung lösen. Mit dem Begriff der „sozialen Frage" hat er vielmehr die Herrschaft des Menschen über den Menschen in einem dreidimensionalen Sinn zu fassen versucht: ökonomisch, sexuell und ethnisch. So fließen in seine Definition von „sozialer Frage" die für ihn drei „wichtigsten Zeitfragen" ein: die „Gegensätze zwischen den einzelnen Klassen, Rassen und Geschlechtern".131 Dies in die Sprache politischer Wertüberzeugungen übersetzt, sind Sozialismus, Feminismus und Nationalismus (im Sinne der nationalen Autonomie) drei gleichberechtigte und eigenständige Essentials von Michels' frühem politisch-publizistischen Programm. Was diese drei Programmpunkte miteinander verbindet, ist der normative Bezugspunkt ihrer praktischen Umsetzung: das demokratische Prinzip. Der Sozialismus wird von Michels an die politische Form der Republik gebunden,132 der Feminismus an die individuelle
131 Michels, Grenzen der Geschlechtsmoral, a.a.O., S. 130-131, in diesem Band: [Entstehen der sozialen Frage], S. 110-111. 132 Vgl Monarchie oder Republik?. Vgl. auch die Soziologie des Parteiwesens, 1989, S. 360: „Der Begriff Diktatur bildet aber den Gegensatz zum Begriff Demokratie. Ersteren im Dienste des letzteren verwerten wollen, hieße also den Krieg als die tauglichste Waffe des Friedens, den Alkohol zur Bekämpfung des Alkoholismus verwenden."
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Autonomie und gleiche Teilhabe an den politischen Rechten, 133 der Nationalismus an das Selbstbestimmungsrecht der Völker. 134 Robert Michels' Optik auf soziale Bewegungen ist aber nicht nur durch diese thematische Dreifaltigkeit geprägt, sondern auch durch implizite bewegungstheoretische Grundannahmen, die sich in Form von zwei Paradigmen sozialer Bewegung, eines ,guten' und eines schlechten', explizieren lassen. Das vorbildliche Modell lässt sich an Michels' Beitrag „Der italienische Sozialismus auf dem Lande" 135 exemplifizieren. Die Nachricht von Mobilisierungserfolgen unter der italienischen Landbevölkerung hat im damaligen Diskussionskontext der Arbeiterbewegung Sensationswert gehabt. Die Bauern galten - aus Sicht der deutschen Sozialdemokratie - als hoffnungslos rückständig, auch weil ein bornierter Parteimarxismus das Bemühen um die Landarbeiterschaft zeitweise schlicht für überflüssig erklärt hatte, da die mit Naturnotwendigkeit kommende Verelendung die Bauern ohnehin zu Sozialdemokraten machen werde. Als ausgerechnet den modernen reaktionären Massenorganisationen wie dem „Alldeutschen Verband" die Politisierung der Landbevölkerung gelang, war offenkundig, dass nun andere in die von der SPD hinterlassene Mobilisierungslücke vorstießen, die diese Wählerschichten dann erst recht gegenüber der SPD immunisierten. 136 Das bemerkenswerteste Ergebnis von Michels' Analyse besteht nun darin, dass die Initialzündung für die Landarbeiterbewegung nicht von den Regionen ausgegangen ist, in denen die miserabelsten Arbeitsbedingungen und die höchsten Krankheits- und Todesraten herrschten: „Bezeichnend für die ganze Bewegung nun ist die Thatsache, daß eine Gegend hiermit den Anfang machte, welche sowohl moralisch als wirtschaftlich zu den bestgestellten von ganz Italien gehört. Das Proletariat im Mantovano hatte es weit besser als die Landarbeiterschaft aller übrigen Provinzen." 137 Die moralischen Vorzüge des Mantovano liegen für Michels gewissermaßen objektiv auf der Hand, verbuche die Provinz in der Kriminalitätsstatistik Italiens doch die niedrigsten Werte und spielen in ihr vor allem Eigentumsdelikte und Gewaltverbrechen keine nennenswerte Rolle. Die relativ gute wirtschaftliche Lage erweist sich ebenfalls als ein die mantuanische Zivilität begünstigender Faktor: der mantuanische Landmann zeichne
133 Michels hat sich vom Wahlrecht der Frau versprochen, dass dieses die „Demokratisierung der Massen" vollenden werde, weil nur unter der Bedingung der gleichen politischen Teilhabe auch unter den Frauen ein Reifungsprozeß, eine „Erziehungsarbeit" in Gang gesetzt werde, der sie langfristig aus ihrer subalternen Position gegenüber dem Mann befreien werde. Vgl. Michels, Antwort auf die Umfrage „II voto alla donna?", in: Pubblicazioni della Rivista .Unione Femminile', Milano 1905, S. 94-98, S. 97. Vgl. auch Frauenstimmrecht 134
- schon heute eine
Notwendigkeit.
S.u.
135 Vgl. Der italienische
Sozialismus
auf dem
Lande.
136 Dieter Groh: Emanzipation und Integration. Beiträge zur Sozial- und Politikgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Konstanz 1999, S. 67f. 137 Der italienische
Sozialismus
auf dem Lande, Original S. 8, hier: S. 82. Vgl. hierzu auch Ferraris,
Saggi, S. 17, der als erster auf Michels' unorthodoxen Interpretationsansatz aufmerksam gemacht hat.
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sich nämlich durch ein gesteigertes „Bildungsbedürfnis" aus. Aus diesen Indizien folgert Michels: „Hier konnte also eine Bewegung, die sich eine höhere Menschlichkeit als Ziel setzte, eher festen Fuß fassen als irgendwo sonst." 138 Nicht die Verelendung und ihre Existenznöte, sondern im Gegenteil eine relativ gute soziale Lage der Lohnabhängigen, in der dem einzelnen Arbeiter die Teilhabe an Bildungsgütern bereits ein Bedürfnis ist - so Michels' implizite Absage an die „Verelendungstheorie" - , waren der Nährboden für den solidarischen Kampf sozial recht ausdifferenzierter Gruppen. Liest man die Studie über die mantuanische Landarbeiterbewegung nicht isoliert, sondern betrachtet man sie in einer Synopse mit den übrigen Frühschriften, dann wird deutlich, dass sich in der 1891 gegründeten „Federazione Mantovana delle Società di Operai e Contadini" für Michels ganz offensichtlich ein seinen Überlegungen implizit zugrunde liegendes normatives Paradigma sozialer Bewegung exemplifiziert; ein Modell, welches wiederum in einem starken Spannungsverhältnis zu einem zweiten, negativ konnotierten Bewegungsmodell steht. Ob Michels sich mit Streik- oder Lohnbewegungen, mit den Selbstorganisationen der Zigarrenarbeiterinnen, den Reisarbeiterinnen oder sogar Kinderprotestgruppen beschäftigt - durchgängig kommt er immer wieder auf diese zwei Modelle zu sprechen: In dem ersten, ich nenne es in Anlehnung an Paolo Farneti 139 das zivilgesellschaftliche Bewegungsparadigma, worunter auch die mantuanische Landarbeiterbewegung fällt, zeigt sich die „zunehmende soziale Reife" 140 der disprivilegierten Klassen. Praktisch ist dieses Modell durch die Fähigkeit kollektiver „Selbsthilfe" 141 , psychologisch durch das „Gefühl der Selbstverantwortlichkeit", 142 durch das gesteigerte Selbstbewußtsein der Akteure wie auch durch ihre Fähigkeit zur Selbstbeherrschung gekennzeichnet. Die notwendigen Milieubedingungen für das zivilgesellschaftliche Paradigma bestehen in den Fortschritten der Allgemeinbildung einerseits und der Abnahme der Delinquenz andererseits: „Wie der Analphabetismus, sind auch die Kapitalverbrechen im Rückgang begriffen." 143 Die moralische Ressource dieses Bewegungsmodells der Arbeiterselbsthilfe wiederum ist der ausgeprägte „Sinn fur Solidarität, der sich zunächst in gegenseitiger Hilfe äußerte, sodann aber zu einem festen Zusammenschluß in Schutz-
138 Der italienische Sozialismus auf dem Lande, ebd. 139 Paolo Farneti, Sistema politico e società civile, a.a.O., S. 47: „Per Michels la società civile è il locus della solidarietà mentre la società politica è il locus della leadership e della autorità". Vgl. dazu auch die Reflexion von Ferraris, R. Michels e l'eclissi della „solidarietà spontanea e volontaria", in: ders., Saggi su R. Michels, a.a.O., S. 263-272. 140 Michels, Das ,böse Jahr' 1898, in: ders., Rückblick auf die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung in Italien, a.a.O., in: Die Gleichheit, Nr. 17, 13. Jg., 12.8.1903 , S. 131-133, S. 131. 141 Der Begriff der „Selbsthilfe" ist ein Leitmotiv von Michels' Bewegungsreports. Vgl. Michels, Das ,böse Jahr' 1898, a.a.O., S. 132.; in diesem Band Ein italienisches Landarbeiterinnen-Programm und Landleute, Kinder und Frauen in Süditalien sowie Michels, Ein Kapitel aus den Kämpfen der Florentiner Cigarrenarbeiterinnen, a.a.O. S. 15. 142 Michels, Landleute, Kinder und Frauen ..., Original: S. 9, hier: S. 107. 143 Michels, Der italienische Sozialismus auf dem Lande, hier S. 84.
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und Trutzvereinen führte". 144 Demgegenüber kommt Michels immer wieder auch auf ein zweites Modell zu sprechen, das im Gegensatz zu dem oben skizzierten positiven Paradigma die soziale Unreife des Proletariats dokumentiert. Prominenteste Symptome der Unreife sind das Abdriften von Lohn- und Streikbewegungen in Exzesse kollektiver Gewalt sowie das Phänomen des Führerkults. Ich nenne es das sentimentale Modell mit dem Begriff des „sentimentalismo" nämlich hat Michels die gewalttätige Tendenz kollektiver Emotionen in Arbeitskämpfen als ein Indiz dafür gewertet, „daß das Proletariat noch nicht gelernt hat, seiner Instinkte Herr zu werden", und „die doch so einfache Wahrheit" vergessen habe, „daß das Leben auch im Streikbrecher und im Carabiniere heilig ist" 145 . Die beiden Modelle, das zivilgesellschaftliche und das sentimentale, sind offenkundig Manifestationen unterschiedlicher Entwicklungsstufen, die sich obendrein regional zuordnen lassen. Zeichnet man anhand der Michelsschen Bewegungsreports eine Geographie der sozialistischen Bewegungen Italiens, wird man unweigerlich eine NordSüd-Dichotomie erkennen, die einem zivilisationstheoretischen Koordinatensystem regionaler Entwicklung und Unterentwicklung aufliegt. Michels stimmt nämlich vorbehaltlos dem positivistischen Kriminalisten Alfredo Niceforo zu, der in einer seinerzeit Aufsehen erregenden Studie über Süditalien dieses als „L'Italia barbara contemporanea" 146 bezeichnet hat: „Und es ist ganz richtig, eine ganze Welt scheidet Nord- und Süditalien voneinander. In mehr als einer Beziehung befindet sich Süditalien auf einer durchaus barbarischen Vorstufe. Der ganze Süden der Appeninen-Halbinsel, in welchem sich nach der Hyperbel Enrico Ferris nur wenige Oasen guter Menschen in einer Wüste von Korruption befinden, und welcher nicht nur in der Kultur des Geistes, sondern auch in der des Bodens unendlich weit hinter dem Norden zurücksteht, ist von den Mikroben des Sozialismus - gleichzeitig auch fast von jedem die Schaffenskraft stärkenden Gefühl der Selbstverantwortlichkeit und Selbsthilfe weit entfernt." 147 Die fortschrittlichen Tendenzen, die den jungen Michels von Beginn an so fasziniert auf den caso italiano blicken lassen, verkehren sich auf Sizilien und in den südlichen Provinzen des Festlandes in ihr Gegenteil. Vom „Bildungsbedürfnis" des mantuanischen Landmanns gewissermaßen ganze Entwicklungsepochen entfernt, sind hier fast achtzig Prozent der Bevölkerung Analphabeten und somit vom Wahlrecht ausgeschlossen, wodurch sich die „Machtlosigkeit des südlichen Proletariats" vollendet, eines Proletariats,
144 Michels, Das ,böse Jahr' 1898, a.a.O., S. 132. 145 So in einem Interview für den „Grido Proletario die sindacalisti torinesi" (numero unico vom 2.11.1907) unter der Überschrift „II Pensiero di Robert Michels", S. 2-3 [m.Übs.]. 146 Alfredo Niceforo, L'Italia barbara contemporanea: studi e appunti sull'Italia del Sud, Palermo 1898; Vgl. ders., Italiani del Nord e italiani del Sud, Torino 1901. 147 Michels, Landleute, Kinder und Frauen ..., Original: S. 9, hier: S. 107 [meine Hervorhebung].
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das den „Zufälligkeiten der Jahre" und den „Launen der Latifondisti" schutzlos gegenübersteht. Das Elend der Landarbeiter manifestiert sich hier in der „entsetzlichsten Kinderausbeutung" der minderjährigen „Servitorini", die als „Waren in Menschengestalt" an Grundbesitzer vermietet werden. Die alternative Laufbahn für diese Unterschichtkinder ist ihre frühe Einarbeitung ins „Delinquententum". Auch das Verhältnis von Mann und Frau ist unterentwickelt: während im norditalienischen Proletariat ein „freier Verkehr und ein kameradschaftliches Gefühl" zwischen den Geschlechtern eine Selbstverständlichkeit ist, dominiert im Süden die „fast sklavische Unterordnung des weiblichen Geschlechtes unter das männliche". Elend, Delinquenz, Analphabetismus, Mangel an „kameradschaftlichem Gefühl" eine derartige soziale Konfiguration scheint die Lösung der sozialen Frage im zivilgesellschaftlichen Sinne gerade zu verhindern: „Arbeitsausstände", deren erfolgreiche Durchführung wie oben gesehen einer organisatorischen Infrastruktur und kognitiver wie soziomoralischer Kompetenzen der Akteure bedarf, „gehören zu den Seltenheiten, [...] Hungerrevolten sind an der Tagesordnung."148 Die Unterschichten des Südens entbehren „zum grössten Teil noch gänzlich der beruflichen Organisation, welche es zur Erlangung eines gewissen Selbstbestimmungsrechts so notwendig bedarf."149 Der prominenteste Akteur des sentimentalen Paradigmas, und damit der Antipode zum zivilgesellschaftlichen Paradigma der Lega mantovana sind die sizilianischen „Fasci" [Bünde] des Jahres 1893. Von den Höhen des norditalienischen Klassenbewußtseins betrachtet, fällt an den „Fasci" das „orientalische Wesen" [!], der „kindlich-religiöse Aberglaube" und die „Autoritätsanbetung" auf: „Den Führern der Bewegung brachten Männer und Frauen eine fast abergläubische Verehrung entgegen. In ihrer naiven Verquickung der sozialen Frage mit religiösen Zutaten glaubten sie, die geistigen Leiter der Bewegung [...] seien direkt vom Himmel herabgestiegen, um das arme Volk auf Erden zu erlösen. Bei ihren Umzügen sah man oft das Kruzifix mitgetragen werden, neben der roten Fahne und den Tafeln, auf denen Marxsche Sentenzen standen. Zu Vorträgen holten Männer wie Frauen mit Musik, Fackeln und Lampions ihre Führer ab. Viele warfen sich zur Begrüßung selbst auf die Erde, genau so, wie sie es früher
148 Michels, Landleute, Kinder und Frauen ..., Original: S. 10-11, hier: S. 108. 149 Michels, Landleute, Kinder und Frauen ..., Original: S. 11, hier: S. 109. Vgl. auch Michels, Die deutsche Sozialdemokratie, a.a.O., S. 513-514, wo Michels auf das Lumpenproletariat zu sprechen kommt, das den eigentlichen Kern der „Hurrahkanaille" bilde, „die bei allen Festen und Feiern grundsätzlich dem jeweilig Machthabenden zujauchzt, und, wenn nötig, als Machtmittel gegen das bewußte Proletariat sich gebrauchen läßt" [m. Hvhbg.]. Demgegenüber seien die sozialdemokratischen Vereine „in der Regel ebenso frei von den Ärmsten und Allerärmsten, als von den Unehrlichen und gemeiner Verbrechen wegen Vorbestraften. Sie bestehen aus den Besten [ . . . ] - die Elite der industriellen Arbeiterschaft." Vgl. auch ebd., S. 517, wo Michels am Beispiel der ungelernten Arbeiter den Zusammenhang von kollektiver Solidarität und Bildungsressourcen reflektiert.
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zur Begrüßung ihrer Bischöfe getan hatten. In Piana de' Greci standen bei den Versammlungen Männer und Frauen nach orientalischem Ritus getrennt. Andächtig hörten sie zu, sie faßten den Sozialismus auf wie einen neuen großen Glauben, dem sie nicht nur mit dem Zutrauen, sondern auch mit den äußeren Zeichen des alten begegneten."150 Wie unter einem Brennglas verdichtet, finden sich das sentimentale Paradigma und seine geographisch-zivilisatorischen Koordinaten auch in einem anderen Kommentar wieder, den Michels dem blutigen Volksaufstand der separatistischen Lega siciliana widmet, die sich mit einem korrupten Minister solidarisiert, weil dieser der einzige Sizilianer im Kabinett ist: „Die Sehnsucht nach dem ,großen Mann', der .starken Faust' und ähnlichen Inventarstücken eines Raritätenkabinetts ist stets das Zeichen noch primitiven politischen Reifegrades."151 Umgekehrt gilt, dass nur selbstbewusste Akteure in sozialen Bewegungen der Verselbständigung von einzelnen zu selbstherrlichen Parteidiktatoren Einhalt gebieten können: „Hätte er - statt blindlings folgenden Jüngern selbstbewusste Proletarier um sich gehabt, Lassalle wäre ein anderer geworden."152
Der massenpsychologische Hintergrund von Michels' Bewegungsforschung Bei seiner Bewegungsanalyse bezieht Michels nicht nur seine Anschauungsbeispiele, sondern auch seine Argumente und theoretischen Grundannahmen aus dem italienischen Kontext: namentlich aus der Schule des philosozialistischen Kriminalanthropologen Cesare Lombroso. Wenn Michels die norditalienische Landarbeiterbewegung positiv von der rebellischen Gewalt der „Fasci" abhebt, wenn er seine Nord-Süd-Topographie ,ziviler' und sentimentaler' Bewegungsformen entwickelt, dann zitiert er gelegentlich aus den Schriften Alfredo Niceforos und Enrico Ferris. Beide sind Vertreter der positivistischen Kriminalistik, die um die Jahrhundertwende die Sozialwissenschaft um einen neuen Untersuchungsgegenstand bereichert hat: die „Folla delinquente", die verbrecherische Menge. Robert Michels gehört - wahrscheinlich bereits seit 1901,153 infolge seines fast einjährigen Aufenthalts in Turin und Umgebung - zum „eisernen Bestände des Lombrosianischen Freundeskreises".154
150 Michels, Fortschritte, Rückschritte und Aussichten der Frauenbewegung im Jahre 1893, in: ders., Rückblick auf die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung in Italien, in: Die Gleichheit, Nr. 8, 13. Jg., 8.4.1903, S. 58-60, S. 60. 151
R. Michels, Ein Volksaufstand für einen diebischen Minister, a. a. O.
152 Michels, Ferdinand Lassalle, in: Mitteldeutsche Sonntagszeitung, 11. Jg., Nr. 35, 1904. 153 Die im ARMFE aufbewahrten Briefe Lombrosos an Michels datieren von 1901 bis zu Lombrosos Tod 1909. 154 Einem Zirkel von Intellektuellen, Politikern und Künstlern - darunter der Nationalökonom Achille Loria, an dessen Lehrstuhl Michels von 1907 an als Privatdozent tätig ist, der Mediziner Pio Foà, der Bildhauer Leonardo Bistolfi, Max Nordau, Ellen Key, Ferdinand Dómela Nieuwenhuis, Enrico
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Auch wenn Michels - im Gegensatz zu seinen späteren soziologischen Arbeiten den intellektuellen Mode- und Denunziationsbegriff der „Masse" nur sparsam gebraucht bzw. ganz bewusst in Anführungszeichen setzt, 155 bewegt sich der junge Sozialist kognitiv wie thematisch auf dem epistemischen Feld des massenpsychologischen Diskurses der Jahrhundertwende. Die Fundamentalunterscheidung des Massendiskurses besteht darin, das selbstbewusste und selbstbeherrschte, kurz: zivilisierte' Individuum normativ auszuzeichnen und von der Triebmacht kollektiver Gefühle zu separieren, von der größte Gefahr drohe, weil sie die Vernunft und Affektkontrolle des Einzelnen aufhebe und ihn wieder in ein vorzivilisatorisches Stadium regredieren lasse. 156 Bei Michels finden wir dieselbe dichotomische Trennlinie wieder, die der Massendiskurs zwischen Individuum und Masse zieht, aber diese Trennlinie wird von Michels im Spektrum der Massenbewegungen selbst gezogen: Kollektive Selbstbeherrschung, kollektives Selbstbewusstsein, Selbsthilfe, Selbstverantwortlichkeit versus kollektive Affekte und „Delirien" wie die Straßenschlacht und die „abergläubische Verehrung" des leitenden Polit-Personals. Nicht nur kognitiv, auch thematisch bewegt sich Michels auf massenpsychologischem Terrain, nehmen seine frühen Bewegungsreports doch die beiden zentralen Themenstränge der Massenpsychologie auf: einerseits ist „Masse" der Inbegriff der Ordnungsdestruktion infolge der kollektivpsychologischen Entfesselung barbarischer Gewaltpotentiale. Blicken wir auf Michels' Unterscheidung zwischen dem gebildeten mantovanischen Landarbeiter' und den ,rebellischen Analphabeten' der Fasci, dann steht hier unüberhörbar das Theorem der „verbrecherischen Masse" im Hintergrund. Andererseits ist „Masse" aber auch der Inbegriff der autoritätshörigen Gefolgschaft, der „Herde". Die doppelte Optik des massenpsychologischen Diskurs
Ferri, der Diplomat Marchese Raniero Paulucci di Calboli - die sich Sonntagabends zu einem regelmäßigen Gedankenaustausch in Lombrosos Haus versammelten, das „lange Jahre hindurch eines der wenigen gesellschaftlichen intellektuellen Zentren der hochintellektuellen Stadt" Turin war. Hier hat Michels höchst wahrscheinlich auch die persönliche Bekanntschaft mit Gaetano Mosca gemacht. Und in Lombrosos Kreis hat er auch seinen Freund Max Weber eingeführt, allerdings ohne daß sich zwischen den „beiden bedeutenden Männern ein geistiges gegenseitiges Verstehen entwickelt hätte"; was Michels auf Webers mangelnde Italienisch-Kenntnisse zurückführte, ohne in Erwägung zu ziehen, daß hier fundamentale gesellschaftstheoretische Divergenzen eine Rolle gespielt haben mögen. Alle Zitate in: Michels, Cesare Lombroso, in: ders., Bedeutende Männer, a.a.O., S. 80-82. 155 Vgl. Begriff und Aufgabe der , Masse '. In diesem Aufsatz behandelt Michels den Massenbegriff, der ja semantisch immer auch ein Denunziations- und Distanzierungsvehikel ist, mit einem Problembewusstsein, das ihm später als Soziologe gänzlich abhanden gekommen ist. Michels bemerkt nämlich im alltäglichen Sprachgebrauch eine individuell millionenfache Differenzierung des Massebegriffs, weil der „unhistorisch denkende Mensch [...] den Begriff der Masse eben haarscharf unter seinen eigenen konventionell festgesetzten sozialen Stellung beginnen läßt". „Masse" sei daher „etwas unendlich Variables" und erweise sich „wissenschaftlich als nicht verwertbar" (Original S. 3, hier: 88). 156 Vgl. Helmut König, Zivilisation und Leidenschaften. Die Massen im bürgerlichen Zeitalter, Hamburg 1992.
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erblickt, was zunächst paradox anmutet, in der „Masse" sowohl einen Faktor der Ordnungsdestruktion als auch - in Form der psychischen (Selbst)-Unterwerfung von Kollektiven unter politische Führer - einen Faktor der Ordnungsstiftung. In Le Bons „Psychologie der Massen" sind beide Momente sogar logisch miteinander verzahnt, insofern das „Rätsel der Sphinx", d. h. die Frage, wie die Politik auf das Zeitalter der Massen reagieren soll, cäsaristisch, mithilfe des politischen Virtuosen gelöst wird, der die Affekte der Massen herrschaftstechnisch verwertet und sie nur so am Abdriften in die Anarchie hindern kann. 157 Robert Michels hat auch diesen zweiten Themenstrang des massenpsychologischen Diskurses von Anfang an in seinem publizistischen Programm, und hat ihn nicht erst als Soziologe und Elitentheoretiker ,entdeckt'. Michels' Thematisierung des politischen Führerkults der „Fasci siciliani" und seine Denunziation der politischen Unreife des süditalienischen Proletariats antizipieren bis in die Begrifflichkeit und die Phänomenschilderungen hinein jene Passagen aus seiner Massenpsychologie, die in seinem Hauptwerk von 1911 unter dem Aspekt des Führungsbedürfnisses der Massen als mitursächlich für die Stabilisierung oligarchischer Macht behandelt werden. Ein dezidierter Evolutionsoptimismus und die geographische Verortung des Anbetungsbedürfnisses in eine zivilisatorisch rückständige Region erlauben es ihm freilich, dieses nicht als massenpsychologische Gesetzmäßigkeit, sondern als mentalitätsgeschichtliches Relikt vormoderner Sozialstrukturen zu interpretieren. Der Sozialdemokrat Michels ist bereits ein verkappter Elitist, der nicht nur - auf der Eben der Bewegungsreports - die Gefahr der verbrecherischen Masse in seinen Bewegungsreports reflektiert, sondern der - auf der Ebene der kulturellen Wertschöpfung auch deutlich zwischen dem genialen Einzelnen und der passiven Vielheit unterscheidet. Aus der Ungleichheit zwischen „Individualität" und „Kollektivität" deduziert Michels allerdings eine geschichtsphilosophische Funktion der Vielen, die diese gegenüber den Wenigen, die der Masse immer schon eine Epoche voraus sind, rehabilitiert. „Der Gegensatz von Kollektivität und Individualität besteht [...] in der Verschiedenartigkeit der Kulturaufgaben, welche sie zu erfiillen haben, nämlich die Individualität als Trägerin des intellektuellen und die Kollektivität als Trägerin des moralischen Fortschritts der Menschheit"m Im Unterschied zum intellektuellen Fortschritt, der mit dem Namen Einzelner - Voltaire, Rousseau, Montesquieu, Descartes usw. - illustriert werden kann, bleibt die Moral namenlos, ihr Fortschritt ist anonym, weil er aus der „langen mühsamen Arbeit der Kollektivität" resultiert. Michels' Moralbegriff nimmt damit von vornherein die Moral der sozialen Praxis in den Blick. Sein moralgeschichtlicher bzw. moralsoziologischer Ansatz privilegiert die konkrete, aktuell wirksame Sittlichkeit einer
157 Vgl. Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, mit einer Einführung von Peter R. Hofstätter, 15. Aufl., Stuttgart 1982, S. 34, 46, 78; Helmut König, Zivilisation und Leidenschaften, a.a.O., S. 168; Sidonia Blättler, Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts (= Politische Ideen Bd. 3), Berlin 1995, S. 233f.; Timm Genett, Angst, Haß und Faszination. Die Masse als intellektuelle Projektion und die Beharrlichkeit des Projizierten, in: npl, Jg. 44, 2/1999, S. 193-240, S. 21 Of. 158 Michels, Begriff und Aufgabe...,
Original: S. 5, hier: S. 90.
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Gesellschaft vor dem moralphilosophischen Traktat. Für ihn werden moralische Prinzipien interessant, wenn sie empirisch werden. So, wenn etwa die Florentiner Zigarrenarbeiterinnen sich in einen „moralischen Ausstand" begeben und nicht für die eigene Lohnerhöhung streiken, sondern sich mit dem Ausstand der Arbeiter einer Eisengießerei solidarisieren, um deren Forderungen Nachdruck zu verleihen, und, damit nicht genug, wenn sie obendrein noch aus ihren geringen finanziellen Mitteln einen Solidaritätsgroschen für die Streikkasse entrichten: „Der Nationalökonom [...] hat in seiner Wissenschaft gelernt, dass der Streik ein Kampfmittel zwischen Arbeit und Kapital ist, in welchem erstere möglichst viele materielle Vorteile für sich zu erringen bestrebt sei [...] Den sigariae nicht zum wenigsten gebührt das Verdienst, der Welt einmal gezeigt zu haben, dass es nicht nur wirtschaftliche, sondern auch moralische Ausstände gibt, dass nicht nur Hunger, sondern auch Entrüstung über Ungerechtigkeiten, die anderen zugefügt worden, Ursache zu einem anscheinenden Wirtschaftskampfe werden kann."159 Der Altruismus von politischen Streikbewegungen indiziert für Michels das Erwachen des politischen Selbstbewusstseins,160 Dies ist auch das Leitmotiv seines Berichts über die „weißen Sklavinnen" auf den Reisfeldern der Po-Ebene: „Lange hat der todähnliche Schlummer gedauert, den diese Frauen schliefen."161 Der politische Schlaf hat Michels zufolge so lange gedauert, wie die Kirche ein gesellschaftstheoretisches Deutungsmonopol beanspruchen konnte. Erst als die unter entsetzlichen Bedingungen schuftenden Frauen lernten, die Welt auch anders zu interpretieren, nämlich so, dass nichts bleiben muss, wie es ist, war die Voraussetzung für ihre politische Selbstorganisation geschaffen: „An die Stelle des Beichtstuhles trat das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die oberflächlich-kirchliche Moral machte der rein menschlichen Moral gegenseitiger Hilfe Platz. Nicht nach dem Tode galt es nun glücklich sein zu wollen, sondern möglichst in diesem Erdenleben."162 Derartige „Muster proletarischer Selbsthilfe"163 sind auf moralische Ressourcen angewiesen, die alles andere als selbstverständlich sind. Michels' Interesse an den motivationalen Voraussetzungen solidarischer Arbeitskämpfe und „moralischer Ausstände" - sei es die kognitive Ressource des Gerechtigkeitssinns, sei es die moralische Ressource altruistischer Orientierungen - , resultiert aus einer generellen Einschätzung menschlicher Handlungsmotive, die durch und durch der Tradition des Realismus verhaftet bleibt:
159 Michels, Florentiner Cigarrenarbeiterinnen, a. a. O., S. 17. 160 Bzw. das „Erwachen eines sozialen Gewissens". Vgl. Michels, Ein Kinderstreik, in: Die Frau, Heft 1, 10. Jg., 1902, S. 16-19. 161 Vgl. Ein italienisches Landarbeiterinnen-Programm. 162 Michels, Landarbeiterinnen-Programm, Original S. 161, hier: S. 95. 163 Michels, Florentiner Cigarrenarbeiterinnen, S. 15.
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„Im sozialen Leben darf man nicht allzuviel mit dem Faktor der Moral rechnen. Sicherlich wird auch dieser bei Bestimmung der treibenden Gewalten nicht außer acht gelassen werden dürfen, aber als erstes Movens jeder Bewegung wird doch stets der menschliche Egoismus zu gelten haben." 164 Michels ist viel zu sehr Positivist, als dass er dieses Grundmovens dementieren könnte; aber er macht geltend, dass soziale Bewegungen nicht allein aus dem Selbsterhaltungstrieb und aus dem Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung hervorgehen, sondern dass sie stets auch von interpretativen Leistungen der Akteure begleitet werden müssen, von kollektiven Sinndeutungen, ohne welche die „soziale Frage" sich gar nicht als solche stellen würde. Die vom ,Kampf ums Dasein' ausgehende materialistische Motivationshierarchie stellt er nicht in Frage, sondern bestätigt sie, wenn er schreibt: „neben der materiellen Seite, wohl abhängig von ihr, aber deshalb von nicht weniger offenbarer Wichtigkeit, liegt die moralisch-kulturelle Seite des Problems." 165 Wenn Michels die „moralisch-kulturelle" Dimension der sozialen Frage hervorhebt, dann hat er die Fundamentaldemokratisierung der „Kulturvölker Europas" im Blick. Denn hier - und nicht in der antiken Sklavenhaltergesellschaft, nicht im mittelalterlichen Lehnswesen, und weder in Indien, Ägypten noch in China - ist etwas völlig neues entstanden: „Dieses Bewußtsein sozialer, nationaler und ökonomischer Verunrechtung ist erst in neuerer Zeit entstanden oder doch wenigstens erst in neuerer Zeit in weite Massen hineingetragen worden". Wiederum, wie bei den „risaiole", ist die neue Qualität von Moralvorstellungen - der Altruismus, die universal-menschliche an Stelle der tradierten universal-theologischen Orientierung, die Selbstverpflichtung auf eine radikal innerweltliche Daseinsbewältigung an Stelle der Vertröstung auf das , Jenseits' eng mit kognitiven Kompetenzen verzahnt, welche die Akteure sich erst aneignen mussten, um die Verhältnisse überhaupt als gerecht oder ungerecht beurteilen zu können. „Erst wenn eine Masse aufgeklärt ist und ihren Zustand als eine Unterdrückung, ein Unrecht empfindet, [...] erst dann entsteht aus der Verschiedenheit ein Gegensatz, das heißt eine soziale Frage." 166 Die kognitive bzw. moralische Dimension der sozialen Frage hat bei Michels einen besonderen sozialen Träger: „Die Arbeiterbewegung könnte nicht ohne eine Gruppe Intellektueller existieren, die ihr als Aufklärer dienen." 167 Die Unverzichtbarkeit des Intellektuellen für die sozialistische Arbeiterbewegung begründet Michels historisch wie funktional. Historisch sind die Träger sozialistischer Ideen meist bürgerliche Intellektuelle gewesen, die ihre Visionen einer sozialistischen Gesellschaft zum Teil bereits vor dem Entstehen eines Industrieproletariats formuliert haben. Schließen sie sich
164 Michels, Die deutsche Frau im Beruf, in: Die Gleichheit, 14. Jg., Nr. 11, 18. Mai 1904. 165 Vgl. in diesem Band: [Entstehen
der sozialen
Frage],
im Original: S. 130; hier: S. 110-111
[meine Hervorhebung]. 166 [Entstehen
der sozialen Frage], Original: S. 132, hier: S. 111.
167 Michels, Controverse socialiste, a.a.O., S. 283: „Le mouvement ouvrier ne saurait exister sans une troupe d'intellectuels lui servant d'éclaireurs".
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der Arbeiterbewegung an, dann bedeutet diese Solidarisierung in der Regel eine Selbstdeklassierung wider alle ökonomische Vernunft. Der klassentranszendierende moralische Impetus des bürgerlichen Renegaten wiederum prädestiniert ihn - im Gegensatz zu den Funktionären proletarischer Herkunft, die die Massenorganisation als „Klassenerhöhungsmaschine" 168 nutzen - zu einer besonderen Funktion: zum Moral-Anwalt in einer äußerst differenzierten Arbeiterbewegung mit vielfältigen Sonderinteressen. Ohne diese moralische Integrationsfunktion würde allein der ökonomische Branchenegoismus das Interesse diktieren. Der Arbeiter bei Krupp wäre folgerichtig ein Anhänger des Militarismus. Michels' Folgerung lautet daher: „Der ökonomische Faktor ist fruchtlos ohne den Koeffizienten der moralischen Pädagogik. Ohne ihn wird sich die ,Mission des Proletariats' nie vollenden." 169 Die mit der Moralpädagogik verbundene elitäre Dimension sozialer Bewegungen in Michels' politischer Theorie zeigt sich aber nicht nur auf der Seite der ,lichtbringenden' Renegaten, sondern auch auf der der Rezipienten: „Aber ein Phänomen ist allen Bewegungen fur eine gerechtere Lösung der strittigen sozialen Fragen eigen: sie entstammen keineswegs der Hefe der betreffenden Klassen, Rassen und Geschlechter, sondern gehen stets zuerst von der privilegierten Klasse usw. angehörigen Idealisten aus, um dann von der Elite der benachteiligten Klasse aufgenommen zu werden." 170 Dass die politische Wirksamkeit von Intellektuellen dabei weniger auf der Rationalität moralischer Argumente basiert als vielmehr auf emotionaler und quasi religiöser Überzeugungskraft, wird in Michels' späteren Schriften stärker akzentuiert als in seinen frühen: der Intellektuelle müsse „Priesterqualitäten besitzen und Priesterfunktionen erfüllen." 171 Die historische wie soziologische Bedeutung der Intellektuellen für Sozialismus und Nationalismus ist indes eine werkgeschichtliche Konstante: „ohne Studenten und Professoren, Journalisten und Schriftsteller keinen Nationalstaat". 172 Allerdings wird Michels auch konstatieren müssen, dass der dominierende Intellektuellentypus der zwanziger und dreißiger Jahre das traditionelle Bündnis mit der Aufklärung längst aufgekündigt hat: „seine passion universaliste ist dahin." 173 Den historischen Optimismus seines zivilgesellschaftlichen Bewegungsmodells hat Michels nicht erst nach dem Krieg, sondern bereits in der Phase seines sozialdemokratischen Engagements zu revidieren begonnen, als er nämlich erkennt, dass vom not-
168 Michels, Die deutsche Sozialdemokratie, a.a.O., S. 543. 169 Michels, Controverse socialiste, a.a.O., S. 281: „Le facteur économique est impuissant sans le coefficient de la pédagogie morale. Sans lui, la ,mission du prolétariat' ne s'accomplira jamais." 170 [Entstehen der sozialen Frage], Original: S. 133, hier: S. 112 [meine Hervorhebung]. 171 Michels: Historisch-kritische Untersuchungen zum politischen Verhalten der Intellektuellen, a. a. O., S. 29. 172 Ebd., S. 34. 173 Ebd., S. 55.
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wendigen Übergang jeder sozialen Bewegung zur politischen Organisation ganz neue erzieherische Impulse ausgehen, die mit dem programmatischen Ursprung der Bewegung in Konflikt geraten und dazu neigen, ihn zu ersetzen. Sein zivilgesellschaftliches Modell kann offensichtlich nur für die Frühphase einer sozialen Bewegung Gültigkeit beanspruchen.
IV. Organisationssoziologie und Elitentheorie als fortgesetzte Bewegungsforschung Robert Michels' Sonderstellung als Elitentheoretiker besteht darin, dass bei ihm die .politische Klasse' nicht aus einer through time and space gültigen dichotomischen Zweiteilung der Gesellschaft in Herrscher und Beherrschter resultiert, sondern sich immer erst von der gesellschaftlichen Basis emanzipieren muss. Die Oligarchie entsteht bei Michels aus der Demokratie, d. h. auf der Grundlage und unter den Bedingungen einer prinzipiell egalitären Gesellschaft. 174 Die „Soziologie des Parteiwesens" von 1911 lässt sich als perspektivischer Übergang der Michelsschen Optik lesen: von der zivilen zur politischen Gesellschaft, von der sozialen Bewegung zur Parteiorganisation. War die soziale Bewegung für Michels - zumindest in dem Bewegungsparadigma, das wir als ,zivilgesellschaftliches' herausgearbeitet haben - der Ort der Solidarität und kollektiven Selbsthilfe, so wird die „politische Gesellschaft" für ihn vorrangig zum „Ort der Führerschaft und Autorität" (Farneti), zum Emanzipationsvehikel der politischen Klasse von der Gesellschaft, welch letztere sich auf ein passives Konsumentendasein reduziert. Laut Paolo Farneti besteht die Originalität der Michelsschen Elitentheorie gerade darin, die Mechanismen dieses Übergangs von der assoziativen und solidarischen Bewegung zur autoritären Ebene der politischen Organisation entdeckt zu haben. Michels sei ein „Säkularisierer der Elitentheorie" 175 , weil sein Ausgangspunkt die fundamentaldemokratisierte moderne Massengesellschaft ist. Diese mit Blick auf die „Soziologie des Parteiwesens" entwickelte These lässt sich mit Hilfe der - zum Teil in diesem Band wiederveröffentlichten - Frühschriften von Michels verifizieren und vertiefen. Die Konflikte der egalitären Gesellschaft, welche Solidarität immer nur als Teilsolidarität sozialer Gruppen und Milieus hervorbringen und den unausweichlichen Konflikt der Teilsolidaritäten auf die Techniken der Macht verweisen, 176 führen zur Organisation.
174 Diese Einsicht verdankt die Forschung vor allem Fameti (a.a.O., S. 46-51) und Ferraris, L'influenza di Gaetano Mosca su Roberto Michels, in: ders., Saggi, a. a. O., S. 169-208. 175 Farneti, a.a.O., S. 50: „L'importanza di quest'analisi di Michels sta, in primo luogo, nell'aver individuato i meccanismi 'di passaggio' dalla società civile alla società politica."; „Michels [...] ha avuto il ruolo assai importante di 'secolarizzatore della teoria delle élites"'. 176 Vgl. Solidarität
und Kastenwesen,
Original S. 55, hier: S. 128: „Die Himmelsblume der Soli-
darität wächst und gedeiht bloß auf dem vulkanischen Boden der Interessengegensätze. [...] Bei Betrachtung des Phänomens der Solidarität auf dem ökonomischen und sozialen Gebiete ist unter
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Einleitung
Der demokratische Fortschritt verliert dabei in dem Maße an Linearität, wie das Projekt der Emanzipation immer größere Massen umfasst und auf das Prinzip der Massenorganisation angewiesen ist. Denn die Organisation der Massen wirkt, vom Standpunkt der demokratischen Pädagogik gesehen, dysedukativ: sie fördert antiemanzipative Gehorsamsdispositionen, Disziplin und Konformismus. Das ist nach Michels das unauflösbare Scylla-oder-Charybdis-Dilemma der modernen Demokratie. Sie ist ohne Organisation nicht konzipierbar. Die Organisation aber, die unverzichtbare Waffe der vielen Schwachen gegen die wenigen Starken, tendiert zur Oligarchie: „die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler." Denn der Organisation wesentlich sind Arbeitsteilung und Kompetenzdifferenzierung. Diese wiederum leiten eine Professionalisierung der Amtsinhaber ein, die ihre Funktion berufsmäßig statt ehrenamtlich ausüben. Diese strukturelle Weichenstellung ist bei Michels die Voraussetzung fur das Entstehen eines stabilen, praktisch so gut wie unabsetzbaren Führertums in der Demokratie. Dass es so kommt, resultiert nicht allein aus einem Automatismus der Spezialisierung, sondern liegt vielmehr an der psychologischen Beschleunigung der technischen Differenzierung. Die Funktionäre entwickeln im Zuge der Ausübung der Amtsgeschäfte immer mehr „Machtbewusstsein". Die Basis wiederum überlässt ihnen weitgehend das Feld; froh darüber, dass andere sich um ihre Angelegenheiten kümmern, wächst ihr Führungsbedürfnis in dem Maße, wie die Delegierten den Kompetenzabstand zu den Delegierenden stetig vergrößern. Hinzu kommt das Verehrungsbedürfnis. Die Massendemokratie kürt weltliche Götter - zumindest in Augen der jeweiligen Anhängerschaft. „Was die Bedürfnisse der Organisation, Administration und Strategie begonnen hatten" - so Michels' prägnante Querschnittanalyse seiner eigenen Oligarchiethese - „wird vollendet durch die Bedürfnisse der Psychologie." 177 Der Nachweis oligarchischer Tendenzen in der modernen Demokratie ist für Michels aber nicht die einzige Erkenntnis, die er aus seiner organisationssoziologischen Analyse der Degeneration sozialer Bewegungen gewinnt. Mindestens gleichrangig sind seine Thesen, dass „die Partei mit wachsender Organisation immer mehr immobilisiert" und dass „die Organisation aus einem Mittel zum Zweck zu einem Selbstzweck" wird. Eine wesentliche Ursache für diese Prozesse ist die Dialektik von Bekämpfung und Anpassung an den politischen Gegner, die die revolutionäre Bewegung in einen Agenten des Strukturkonservatismus verwandelt: „Entstanden, um die zentralisierte Macht des Staates zu überwinden, hat sie sich selber machtvoll zentralisiert. Sie wird zu einer Regierungspartei, d. h. zu einer Partei, die, organisiert wie eine Regierung im Kleinen, hofft, dereinst die Regierung im Großen übernehmen zu können." 178 Erstmals sind Michels die dramatischen politischen Konsequenzen des Organisationsdilemmas angesichts des absehbaren Scheiterns einer antimilitaristischen Bewegung gegen den drohenden deutsch-französischen Krieg 1905/1906 bewusst geworden: diesem Terminus ohne weiteres eine partielle Solidarität zu verstehen." Vgl. auch Michels, Appunti sulla solidarietà, a. a. O. 177 Der konservative Grundzug der Partei-Organisation, hier S. 204. 178 Alle Zitate aus Der konservative Grundzug der Partei-Organisation.
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die „Organisation um der Organisation willen" sei zum „Fetisch" 179 der deutschen Arbeiterbewegung geworden. Dem Erhalt der Organisation werde alles, nötigenfalls auch der Friede geopfert. Den sozialdemokratischen „Organisatonsfetischismus" (Dieter Groh) 180 hat Parteichef August Bebel selbst auf dem Mannheimer Parteitag 1906 auf den Punkt gebracht, als er den Vorwurf, die Partei habe sich in zentralen Fragen von der Basis entfremdet, mit der „Zunahme der organisierten Genossen", der „steigenden Abonnentenzahl der Parteipresse" und den „Erfolgen bei den Landtags-, bei den Gemeindewahlen oder bei den Reichstagswahlen" pariert. 181 Exakt diese Erfolgsbilanz hinterfragen Michels' erste organisationssoziologische Studien, wenn sie konstatieren, dass die quantitative Rekrutierung von Wählern, Mitgliedern und Abonnenten zum eigentlichen Leitmotiv der Partei avanciert und die qualitative Frage nach ihrer kollektiven Identität dabei suspendiert. Letztere werde als unangenehm empfunden, weil sie für Unruhe sorgen könnte, und daher möglichst mit einer geeigneten „Vertuschungspolitik" - gerade zum Zwecke der Gewinnung immer neuer Mitglieder und Wähler - zum Verschwinden gebracht. Theoretische Grundsatzdebatten ums Prinzip werden als das „persönliche Gezänk" der Intellektuellen dargestellt, um schließlich „unbemerkt ganz von der Oberfläche beseitigt zu werden". 182 Die Gründe für diesen Wandlungsprozess liegen auf der Hand. Eine Partei mit 400000 Mitgliedern und Beitragszahlern bedarf administrativer Regeln. Eine „streng abgegrenzte Hierarchie" und die Pflicht zur „Einhaltung des Instanzenweges" prägen zunehmend die Parteibinnenkommunikation. Demokratische Diskursideale eignen sich aber vor allem auch aus außenpolitischen' Gründen „nicht für den Hausgebrauch politischer Parteien". Denn die Partei ist „Kampfesorganisation" und „hat sich den Gesetzen der Taktik zu fügen". 183 Insbesondere die Kohärenz vor dem politischen Gegner wird zum Überlebensprinzip, weil allzu lange interne Diskussionen in der medialen Öffentlichkeit als Schwäche und Handlungsunfähigkeit ausgelegt werden. Das gilt gerade auch für die Kritik am politischen Führungspersonal, zweifellos eine demokratische Tugend, die aber Wahlchancen gefährdet und damit nicht nur die Arbeitsplätze von Parlamentariern, sondern auch die der Funktionäre, die ebenso die „Politik als B e r u f (Max Weber) gewählt haben. Mit der Zeit sind sie am Bestand der Organisation ebenso interessiert sind wie der Kaiserliche Beamte an der Monarchie. In kognitiver Hinsicht befördert die arbeitsteilige Verwaltungslogik der Organisation bei ihren Angestellten
179 Michels, Le Socialisme allemand après Mannheim, S. 21: „L'organisation pour l'organisation, voilà [...] le fétiche auquel la social-démocratie allemande semble si souvent prêt à immoler tout, même le socialisme." 180 Groh, Emanzipation, S. 449. 181
Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Mannheim vom 23.-29. September 1906, Berlin 1906 (Reprint Osaka 1970), S. 237.
182 Der konservative
Grundzug der Partei-Organisation,
hier S. 210..
183 Der konservative
Grundzug der Partei-Organisation,
in diesem Band S. 201.
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zudem eine Priorität der Kurzzeit- vor den Langzeitperspektiven, 184 was auf Dauer zur Folge hat, dass die Gründungsprinzipien sozialer Bewegungen mit der Zeit von den spezialisierten Organisationszielen konsumiert werden. Die Organisation ruft bei ihren Mitgliedern und Angestellten eine „psychologische Metamorphose" hervor, wie es später in der „Soziologie des Parteiwesens" heißen wird, die den gesamten politischen Horizont mit seinen Notwendigkeitspostulaten und Unmöglichkeitsannahmen neu definiert. Mit diesem Ansatz negiert Michels den auf der radikalen Linken weitverbreiteten Vorwurf an die Führer, dass deren , Verrat' der Grund fur die opportunistischen Tendenzen sei, und nimmt vielmehr stattdessen jene Mechanismen in den Blick, die hinter dem Rücken der Parteiaktivisten greifen und ihre habituelle Anpassung an die bürokratische Rationalität der Organisation bewirken: „Es ist das Prinzip der Arbeitsteilung, das den Internationalismus langsam abtötet." Bei dieser These stützt sich Michels 1907 übrigens nicht auf zeitgenössische bürokratietheoretisch versierte Soziologen wie Max und Alfred Weber, sondern er zitiert einen unveröffentlichten Text des polnischen Sozialisten Ladislaus Gumplowicz, der den historischen Trend zur Arbeitsteilung am Aussterben des „Polyhistors" und an der Substitution des „Universal-Zoologen" durch den „Ornithologen" sowie der Verdrängung des ,universalen' Insektenforschers durch den spezialisierten Ameisenforscher exemplifiziert. 185 Folge dieser Entwicklung - Vorrangigkeit quantitativer Wachstumsimperative, kognitive Bomierung des politischen Problembewusstseins durch arbeitsteilige Spezialisierung und demonstrative Geschlossenheit nach außen - ist die Inversion von Instrumenten und Zielen: das Mittel Organisation mutiert zum Selbstzweck und diktiert der Bewegung zunehmend ihre Ziele. Dies hat auch gravierende Folgen für das demokratische Projekt: Der Partei, so Michels, widerstrebe allem, „was in die Speichen ihres Räderwerks eingreifen, ihren Organismus [...] bedrohen könnte. [...] und sie scheut es, das großartige Menschenmaterial, das ihr zur Verfügung steht, zu höheren Pflichten als einer im letzten Grunde ziemlich bleiernen und initiativlosen Disziplin zu erziehen. Sie scheut vor allem Opfer und rät - exempla abundant - in Fällen, die sittliche Kraft erfordern, ihren Anhängern zur Feigheit. Sei erzieht nicht Menschen, sondern bemüht sich, Maschinenteilchen für ihre komplizierte Maschinerie zu gießen, disziplinierte Parteigenossen, deren höchste Eigenschaft in dem großen Plus - oder Minus? - des
184 Claus Offe und Helmut Wiesenthal, Two Logics of Collective Action, in: Offe, Disorganized Capitalism. Contemporary Transformations of Work an Politics, sec. print, Cambridge, Massachusetts 1989, S. 170-220, S. 211-214. 185 Vgl. Die deutsche Sozialdemokratie im Internationalen Verbände. Original S. 223-224, hier S. 192. Vermutlich zitiert Michels hier aus einem persönlichen Brief von Gumplowicz. Vgl. dazu T. Genett, Lettere di Ladislaus Gumplowicz a Roberto Michels, a.a.O., S. 429, Anm. 54. In seiner Parteiensoziologie hat Michels diese Argumentation Gumplowicz' wortwörtlich übernommen. Vgl. Soziologie des Parteiwesens, 1911, S. 160-161, 2. Aufl. 1989 (1925), S. 165-166.
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deutschen Volkscharakters, der organisationsfáhigen Herdenqualität des Gehorchenkönnens, der Unterordnung im Verwaltungsfach besteht." 186 Die psychische Verfassung der deutschen Sozialdemokratie erscheint Michels schon Jahre vor seinem Hauptwerk immer weniger als ein Gegenentwurf, sondern vielmehr als ein Imitat des reichsdeutschen Ambientes. Sie hat mit der bürgerlichen Gesellschaft mehr gemein als ihr antagonistisches Verhältnis zu ihr und ihre Isolation im Reich zunächst vermuten lässt. 187 Die Fortschrittlichkeit der SPD als im damaligen europäischen Kontext modernste Parteiorganisation hat somit einen vom emanzipativen Standpunkt her gesehen fürchterlichen Revers. Denn dasselbe Organisationsniveau ist in Michels' Perspektiven dafür mitverantwortlich, dass die SPD im Milieu des Kaiserreichs faktisch zu einem passiven Organ mutiert, den vielbeklagten wilhelminischen Untertanengeist konserviert und sich in eine Anstalt konservativer Stagnation verwandelt. Wie sehr Michels' Organisationssoziologie in ihrem Erkenntnisinteresse den ursprünglichen Bewegungsansatz fortführt, zeigt auch sein beständiges Fragen nach den Innovationspotentialen demokratischer Politik - gerade auch in ihrer oligarchischen Gestalt. Da gibt es einerseits die legendäre pessimistische Antwort, wonach selbst der Eliten-, der Regierungswechsel alles beim alten belässt: „Cambia il maestro di cappella, ma la musica è sempre quella" - „Der Wechsel des Kapellmeisters ändert nichts an der Musik." 188 Tatsächlich ist Michels aber nicht ganz so hoffnungslos, wie das der Tenor seiner Argumentation zuweilen suggeriert: „Innerhalb eines gewissen engen Rahmens wird auch die oligarchisch geleitete demokratische Partei allerdings in demokratischem Sinne auf den Staat einzuwirken vermögen." 189 „Zumal", ergänzt Michels exakt an dieser Stelle in der Erstausgabe der Parteiensoziologie von 1911 in der zugehörigen Fußnote, „wo ein allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht besteht, und die Arbeiterklasse zahlreich organisiert und auf ihr Interesse bedacht ist [...] In diesem Fall haben die Führer alles Interesse daran, allen möglichen Druck in demokratischem Sinne auf den Staat auszuüben." 190 Organisationswachstum und Innovationsfahigkeit verhalten sich bei Michels nicht wie ein Nullsummenspiel, wonach mit jeder neueingerichteten Sekretärsstelle und jedem neuen Abgeordnetenmandat die Verwässerung der Prinzipien zunimmt und die Bewegung immer unbeweglicher wird. Dies würde ja auch dem Scylla-und-CharybdisDilemma widersprechen, mit welchem Michels ausdrücklich sagt, dass nur über eine starke Organisation die kollektiven Interessen der Arbeiterschaft wirkungsvoll vertreten
186 Internationaler
Verband, Original S. 230, hier S. 197.
187 Michels, Soziologie des Parteiwesens, 1. Aufl. 1911, S. 43: „Es gibt kaum einen Ausdruck der Heerestaktik, der Strategie und des Kasernenhofs, kurz, des militärischen Jargons, der sich nicht in den Leitartikeln der sozialdemokratischen Presse wiederfánde." 188
Soziologie des Parteiwesens, 4. Aufl. 1989, a.a.O., S. 369.
189 Der konservative
Grundzug der Partei-Organisation,
S. 212.
190 Soziologie des Parteiwesens, 1. Aufl. 1911, a.a.O., S. 350, FN 1.
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werden können. Michels' pessimistische Hypothese zum Organisationswachstum darf nicht linear gelesen werden, sondern im Sinne einer Parabel, bei der bis zu ihrem Scheitelpunkt das Organisationswachstum mit einem Gewinn von Handlungsspielräumen und innovativen Einflussmöglichkeiten einhergeht. Vor diesem Scheitelpunkt befördert das Erstarken der Organisation „tatsächlich eine gewisse Umwertung der Werte": „die Organe der Gesetzgebung und Verwaltung gewöhnen sich daran, nicht mehr nur dem Druck von oben, sondern auch dem Druck von unten nachzugeben [...] theoretisch bedeutet diese Umwertung einen unschätzbaren Fortschritt in der Richtung auf einen der Ethik näherkommenden staatsrechtlichen Zustand".191 Auf einem bestimmten Niveau der akkumulierten politischen Erfolge aber ist der Scheitelpunkt erreicht, ab dem Organisationserfolg und Innovationsfähigkeit sich in ein dysfunktionales Verhältnis setzen. Der Stichtag hierfür ist bei Michels der Eintritt in die Regierung. Innovative Inputs sind möglich, bis „es den herrschenden Klassen gelungen ist, die Opposition der äußersten Linken zur Mitarbeit an der Regierung selbst heranzuziehen".192 Mag die grundsätzliche Logik in Michels' Scheitelpunkttheorie auch einleuchtend und empirisch äußerst belastbar sein, so ließe sich gegen den Scheitelpunkt selbst viel entgegnen - u. a. mit Verweis auf die deutsche Sozialdemokratie, die ja nicht als Regierungspartei, sondern als Oppositionspartei im Kaiserreich bereits den von Michels kritisierten Anpassungsprozess vollzogen hat. Eng verbunden mit dem Veränderungspotential politischer Organisationen ist die Frage nach ihrem personellen Selbsterneuerungspotential. Und auch an dieser Stelle hebt sich Michels von seinen Zeitgenossen ab. Hat Vilfredo Pareto die Geschichte als einen „Friedhof der Eliten" bezeichnet, als einen Prozess der „circulation des élites", in dem die jeweiligen Machtinhaber nötigenfalls blutig durch die Machtaspiranten verdrängt werden, so verdanken wir Michels die These, dass Eliten in der Regel ihre Macht durch Kooptation sichern. In diesem Fall lautet die Signatur der Geschichte: „fusion des élites". Michels' Theorem der Elitenfusion geht zeitlich, logisch wie systematisch die Überlegung voraus, dass aufgrund des Organisationsdilemmas in der Regel nicht die Eliten gegen die Massen kämpfen, sondern die Konflikte innerhalb der Organisation sich weitgehend als „Kampf zwischen den Führern um die Macht" darstellen lassen.193 Zwar gibt es auch in Michels' Parteienwelt das gelegentliche „Aufeinanderprallen zwischen den Führern und den Massen". Aber dabei bleiben erstere stets Sieger - „sobald sie nur einigermaßen untereinander einig sind".194 Dieser Nebensatz ist durchaus voraussetzungsvoll: die Kooptationswünsche und Leitanträge des Parteivorstandes laufen immer dann Gefahr, am Willen der „Massen" scheitern, wenn ein „Führer" ausschert und im Namen der Masse der Führung den Kampf ansagt. Verfügt dieser über eine gewisse Popularität unter den Mitgliedern und gelingt es ihm, die Unzufriedenheit
191 192 193 194
Soziologie des Parteiwesens, 1989, S. 342. Der konservative Grundzug der Partei-Organisation, S. 212. So auch der Titel eines Kapitels der Parteiensoziologie. Soziologie des Parteiwesens 1989, S. 154; 1911, S. 152.
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der Basis zu artikulieren und in einer personellen Alternative - seiner Gegenkandidatur zu verdichten, dann wird es für die amtierende Elite gefährlich, dann riskiert sie ihre Mehrheit in der Vollversammlung. Wie treffend Michels' Nebensatz von der Einigkeit als einer Bedingung für die Reproduktion der politischen Klasse ist, zeigt sich an dem typischen Verhalten der in einer solchen Konfliktsituation herausgeforderten Amtsinhaber. Sie werden den „revolutionären Impetus" des Gegenkandidaten durch eine „Teilnahme an der Macht bändigen". „Die Führer der Opposition erhalten hohe Ämter und Ehren in der Partei und werden dadurch unschädlich gemacht." Die Wiederherstellung der Einigkeit durch Einbindung der innerparteilichen Konkurrenten wird insbesondere dann zu einem grandiosen Schachzug, wenn das den letzteren angetragene Amt nur begrenzte Einflußmöglichkeiten bietet, die so Eingebundenen aber gleichzeitig aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Führungskreis „die Verantwortung für die von den Führern als Gruppe begangenen Handlungen nunmehr mit ihren ehemaligen Widersachern teilen." 195 Ein aktives kollektives Revoltieren der Massen gegen die politische Klasse hingegen wird somit in den seltensten Fällen eine quasi ,selbst-organisierte' Aktion sein, sondern in der Regel unter Anleitung eines Führungsaspiranten vonstatten gehen. Für die europäische Revolutionsgeschichte heißt das: „Nicht die Massen verschlangen die Führer, sondern die Führer selbst verschlangen sich untereinander". 196 Wenn sich der ,normale', nicht-revolutionäre Wandel der politischen Machtverhältnisse aber bei Michels durch ein Fusionieren alter und neuer Führer vollzieht, setzt dies gleichwohl den zumindest passiven Konsens der Basis in der Elitendemokratie zwingend voraus. Auch darin unterscheidet sich sein Fusionsmodell von Paretos Elitenzirkulation: „Der Weg der neuen Führer zur Macht ist ein überaus mühseliger. Er führt über Gestrüpp und Hindernisse aller Art, und nur die Gunst der Masse kann ihn ebnen. Selten schließt der Kampf zwischen alten und neuen Führern mit der völligen Überwindung der ersteren ab. Der Schlußakt des Prozesses besteht weniger in einer circulation des élites als vielmehr in einer fusion des élites; es findet eine Amalgamierung beider Elemente statt." 197 Die oligarchische Stagnation als Verfallsform der Demokratie erzeugt somit an ihren Rändern immer wieder das ,Rettende'. Indem erfolgreiche politische Bewegungen nach Überschreiten des Scheitelpunktes unaufhörlich auf ein Legitimitätsdefizit zusteuern, provozieren sie die Attacken der aus der zivilen Gesellschaft kommenden demokratischen Erneuerer. Auch dies unterstreicht die Bedeutung der massendemokratischen Responsivität in Michels' Theorie der Elitenfusion:
195 Soziologie des Parteiwesens 1989, S. 190, 1911, S. 184. 196 Soziologie des Parteiwesens, 1989, S. 181. 197 Soziologie des Parteiwesens, 1989, S. 194. [zweite kursive Stelle von mir]; Vgl. 1. Aufl. 1911, S. 185, wo es statt „fusion" „réunion des élites" heißt.
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Einleitung „Die demokratischen Strömungen in der Geschichte gleichen mithin dem steten Schlage der Wellen. Immer brechen sie an der Brandung. Aber auch immer wieder werden sie erneut. Das Schauspiel, das sie bieten, enthält zugleich Elemente der Ermutigung und Verzweiflung. Sobald die Demokratie ein gewisses Stadium ihrer Entwicklung erreicht hat, setzt ein Entartungsprozeß ein, sie nimmt damit aristokratischen Geist, bisweilen auch aristokratische Formen an und wird dem ähnlich, gegen das sie einst zu Felde zog. Dann entstehen ihr aus ihrem eigenen Schoß neue Ankläger, die sie der Oligarchie zeihen. Aber nach einer Periode glorreicher Kämpfe und einer Periode ruhmloser Teilnahme an der Herrschaft gehen auch sie zu guter Letzt in der alten dominierenden Klasse auf: Jedoch gegen sie erheben sich nun namens der Demokratie wieder neue Freiheitskämpfer [...] Stets neue Wellen tosen gegen die stets gleiche Brandung. Das ist die tiefinnerste Signatur der Parteigeschichte." 198
Die Prognose, dass die soziale Erneuerung nicht aus einer wie auch immer gearteten Oligarchie kommt, sondern von den Rändern, ist in jedem Fall auch als politisches Plädoyer zu verstehen: die Revitalisierung der Demokratie bedarf jener Fundamentalkonflikte, die der „unheilbare Idealismus der Jungen" gegen die „unheilbare Herrschsucht der Alten" auf die politische Tagesordnung setzt. 199 Wenn man will, kann man hier den Sympathisanten der sozialen Graswurzelbewegungen von einst wiedererkennen. Dafür spricht auch die kleine Parabel vom Schatzsucher, die Michels ein Jahr nach der deutschen Erstveröffentlichung erstmals in die italienische Ausgabe der Parteiensoziologie eingefügt hat: „Die Aufgabe des einzelnen wird also die des Schatzgräbers sein müssen, der von seinem sterbenden Vater einen Schatz angezeigt erhielt: der Schatz ist zwar nicht auffindbar, aber die an die Suche nach ihm gesetzte Arbeit des Sohnes macht den Acker fruchtbarer. Die Suche nach der Demokratie wird keine anderen Früchte liefern." 200
V. Von der Bestimmung des Selbst zur Bestimmung der Anderen: Die Ambivalenz des Nationalen und die Dialektik des Selbstbewusstseins Die Beschäftigung mit dem Patriotismus und der nationalen Identität durchzieht Michels' Œuvre von seinen Anfängen bis zu seinem Ende. 201 Im Gegensatz zur Thematisierung von Demokratie gibt es in Michels' Beschäftigung mit der Idee der Nation durchaus
198 199 200 201
Soziologie des Parteiwesens, 1989, S. 378. Soziologie des Parteiwesens, 1989, S. 378. Soziologie des Parteiwesens, 1989, S. 376-377. Erstmals in der italienischen Erstausgabe, S. 425. Michels, Nationalismus, Nationalgefühl, a. a. O. Ders., Orme italiane nei paesi renani, a. a. O.
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auch Fixpunkte einer normativen Kontinuität: So bleibt sein Begriff der Nation durch all die Jahre seiner politisch-ideologischen Entwicklung mit ihren politischen Brüchen und Wendungen dem sogenannten ,westlich-subjektiven' Ansatz treu, wonach die Letztbegründung nationaler Identität nicht in .objektiven' Merkmalen wie Abstammung oder Sprache zu suchen sei, sondern im Willen des einzelnen, in seinem persönlichen Zugehörigkeitsgefuhl. Und im Hinblick auf die internationale Politik bleibt das „Selbstbestimmungsrecht der Völker" eine Norm, die Michels zeitlebens vertritt, wenn auch nicht immer mit letzter Konsequenz in der Praxis, wie unter anderem auch seine Schriften zum italienischen Imperialismus in Afrika 1912 (Libyen) und 1936 (Äthiopien) zeigen. Dabei ist freilich auch ein Eurozentrismus in der praktischen Auslegung des Selbstbestimmungsrechts in Rechnung zu stellen, der im übrigen bereits - aller universalen Menschenrechtssemantik zum Trotz - die Publizistik des jungen Sozialdemokraten charakterisiert. 202 Beim näheren Hinsehen unterscheidet sich Michels' Beschäftigung mit der Nation allerdings erheblich und lässt sich in vier Phasen gliedern. 203 In der ersten Phase ( 1 9 0 2 - 1 9 0 7 ) favorisiert er einen republikanischen Patriotismus mit einer sozialpatriotischen Komponente nach innen und einer kosmopolitisch-internationalistischen Komponente nach außen 204 . Michels' Definition der „sozialen Frage", 205 die den Nationalitätenkampf auf eine Stufe mit dem Klassenkampf stellt, ist dabei in der sozialistischen Bewegung höchst umstritten gewesen. Ebenso umstritten wie seine programmatischen Äußerungen im Vorfeld des Kongresses der II. Internationale in Amsterdam 1904, als er deklariert, dass die „nationale Autonomie der Nationalitäten" zu den „absoluten und unverletzlichen Prinzipien des internationalen Sozialismus" zähle. 206 Derartige Thesen liegen quer zur sozialistischen Bewegung, in der einerseits ein abstrakter Internationalismus die Indifferenz gegenüber nationalem Autonomiestreben befördert, ja diese zuweilen auch als „bürgerliche Ideologie" bekämpft, und in der andererseits längst ein empirischer Prozess der De-facto-Nationalisierung die ,Bruderparteien' ergriffen hat. Michels hat diese Doppeltendenz in zahlreichen Kritiken aufgegriffen. Als August Bebel etwa 1904 auf dem Bremer Parteitag in einem Anflug
202
So argumentiert Michels 1905 in einem Beitrag zum Problem des Kolonialismus, dass eine zivilisierte sozialistische Gesellschaft - im Gegensatz zur militaristischen bürgerlichen Gesellschaft - durchaus die „heilige Pflicht" haben könnte, den „barbarisch oder halbbarbarisch gebliebenen Gesellschaften" durch kolonialen Oktroi die „auf Gerechtigkeit und persönlicher Integrität basierende Zivilität" zu verordnen. Vgl.
Michels, Il problema coloniale di oggi e di domani, in: Il
Divenire sociale, 1. Jg., Nr. 19, S. 307-308: „E poi la società socialistica [...] avrà il sacrosanto dovere di dar parte della sua relativa felicità [...] anche a quest'altra società rimasta barbara o semibarbara, dandole [...] questa vera civiltà che consiste nella giustizia e nella integrità personale [...]"· 203
Die für die Orientierung nützliche zeitliche Gliederung stammt von Corrado Malandrino, Pareto e Michels, a.a.O., S. 371.
204 Vgl. Michels, Die Formen des Patriotismus, a.a.O., S. 27. Vgl. auch Patriotismus 205
[Entstehen der sozialen
und Ethik.
Frage],
206 Vgl. Michels, Le Incoerenze intemazionali del socialismo contemporaneo, a.a.O., S. 11 [m. Übs.].
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von Reichspatriotismus verkündet, er würde im Fall eines Angriffskrieges das Deutsche Reich verteidigen und „keinen Fetzen Landes preisgeben" wollen, erinnert Michels an die imperiale Ausdehnung des Reiches, das über die Siedlungsgebiete der deutschen Nation hinaus expandiert sei und auch polnisches, dänisches und elsässisches Terrain umfasse. Bebels Vorsatz, kein Stück des Reichsgebietes herausgeben zu wollen, stehe daher im Widerspruch zum Parteiprogramm: „Ich bin allerdings der Meinung, daß der Satz, wir würden jeden Fetzen des Reiches verteidigen, dem Parteiprogramm widerspricht. (Bebel: Na, na!) Ich meine den Satz unsres Programms über das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ja, hätten wir den abgeschlossenen Nationalstaat, so hätte Bebel Recht. Aber wir leben in einem Staatswesen, welches sich dänische, französische und polnische Gebietsteile angeeignet hat. Denken Sie sich nun den Fall, die Hakatisten 207 trieben die polnische Bevölkerung zum Aufstande; müßte dann nicht unsre Sympathie auf seiten der Polen stehen? Sollten wir da bis zu unsrem letzten Blutstropfen kämpfen, um die Polen zaristisch niederzuwerfen?" 2 0 8 In Michels' zweiter Phase von Patriotismus-Studien, im Kontext der Parteiensoziologie (1907-1913), folgt darauf eine desillusionierte Analyse des Nationalismus: hier wird Michels auf die universalistischen Implikationen des nationalen Autonomiegedankens Stichwort: Nationalitätenprinzip - nur noch als Facette in der Theoriegeschichte zu sprechen kommen und den Akzent auf ihre Instrumentalisierbarkeit im Kampf um Herrschaft setzen. 209 In den Jahren 1913 bis 1923, verstärkt durch den Ersten Weltkrieg, sind Michels' Patriotismusarbeiten thematisch sehr auf seine politisches Engagement für Italien zugeschnitten. Nach Mussolinis Regierungsantritt folgt eine vierte Phase, in der Michels sukzessive die Wiedergeburt der italienischen Nation im Zeichen des Faschismus verkündet. Seine Patriotismusstudien wenden sich jetzt den mythologischen Fundamenten der Nation zu. Mag dies im italienischen Fall die Topoi vom „alten Rom" und der „Latinität" bedeuten, so kennzeichnet Michels' Länderstudien doch ein gleichzeitig bemerkenswertes Interesse für die Vielfalt nationaler Selbstlegitimationsvarianten und ihrer Ideographie. 210 Bei aller Akzentuierung der Unterschiedlichkeit von Michels' Schaffensphasen und ihrer Abhängigkeit von den jeweiligen politischen Leitkulturen', gibt es doch gemeinsame Leitmotive, die seiner dreigestaltigen Bewegungsforschung insgesamt den Stempel
207 Bezeichnung für Mitglieder des 1904 von //ansemann, ÄTennemann und Tiedemann gegründeten „Vereins zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken". 208 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Bremen vom 18.-24. September 1904, Berlin 1904 (ND Osaka 1970), S. 206. 209 Pazifismus und Nationalitätenprinzip in der Geschichte. 210 Vgl. die Studien zum Patriotismus in diesem Band, die selbst die Befindlichkeit derjenigen zu Wort kommen lassen, die sich nicht in die großen Erzählungen der Nation integrieren lassen.
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aufdrücken. Eingeleitet wurde das Schwerpunktthema dieses Editionsbands mit dem Befund, dass Michels die „soziale Frage" in einem dreidimensionalen Sinne verstanden hat: ökonomisch, sexuell und ethnisch; und dass allen drei Fällen ein demokratischer Lösungsansatz gemeinsam ist. Es gibt aber noch eine weitere Gemeinsamkeit, die möglicherweise ein Schlüssel für Michels' gehaltvolles Demokratieverständnis ist: alle drei sozialen Bewegungen und die in ihnen agierenden Individuen werden an ihrer Befähigung zu „Selbstbewusstsein" gemessen. Wie anspruchsvoll das ist, zeigt sein Leitbild einer emanzipierten Frau, das Michels in einer Stellungnahme zur Gewalt gegen Frauen entwickelt, die wohl auch heute noch manche Leserin und mancher Leser als ketzerisch empfinden werden: „Von Fällen absoluter Wehrlosigkeit abgesehen - [...] - ist die Genotzüchtigte an der an ihr verübten Handlung in irgendeiner Form mitschuldig. Meist ist es die gliederlähmende Feigheit, die sie ihrem Schicksal überliefert. Feigheit aber ist Schuld. Die Schuld mag durch eine unselbständige weibliche Erziehung, durch die künstlich genährte übertriebene Vorstellung von der grenzenlosen physischen Überlegenheit des Mannes sowie die Suggestion, die manches Mädchen vor jedem Mannsbild hat, gemildert werden. Getilgt wird sie dadurch nicht. Geglückte Notzucht setzt bei der Frau einen hochgradigen Mangel an körperlicher und geistiger Widerstandsfähigkeit, an Energie und Selbstverteidigungskunst voraus [...] Man mag trotzdem diesen Frauen das Mitleid nicht versagen, das alle Schwachen verdienen. Aber solche Frauen gehören einem alten Typus, von dem wir hoffen, daß er in der Zukunft immer mehr verschwinden wird, dem Typus der Leiderinnen und Dulderinnen aus Feigheit, derer, die es nicht wagen, ein Joch, das sie erniedrigt, abzuschütteln. Solche Frauen lassen in der Ehe alles über sich ergehen, Schimpf und Schmach, Prügel und Betrug, nicht so sehr aus einem Gefühl tiefer, alles überwindender, alles verstehender Liebe zum Manne, als aus blöder Resignation und jenem Fatalismus, der zwar nicht selbst Böses schafft, weil er nichts zu erschaffen vermag, aber der doch durch seine Passivität allem Bösen Vorschub leistet und deshalb als die kulturwidrigste Mentalität des Menschen angesehen werden muß. Eine freie Frau, wie der moderne Mann sie sich wünschen muß zur stolzen, selbstbewußten, mitschaffenden Gefährtin, die klaren Blickes sich selbst beherrschen und andere in Distanz zu halten gelernt hat, die durch festes Auftreten zu imponieren weiß und ein hochgespanntes Ehrgefühl im Leibe hat, eine solche Frau ist der Gefahr der Notzucht bei Überfällen so gut wie nicht ausgesetzt."211 Der Typus der „freien Frau" deutet an, welche Konnotationen sich bei Michels hinter den Begriffen „Demokratisierung" und „Emanzipation" verbergen. Dieses Format von selbstbewusstem Staatsbürger ist ein elitärer Typus mit zuweilen heroischen Zügen. Er
211 Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 90, 91.
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erinnert an den idealen Sozialtypus der bürgerlich-liberalen Revolution von 1848, welche die politische Mündigkeit an Kriterien der alteuropäischen societas civilis wie Selbstbestimmung und Selbstbeherrschung festgemacht hat - und damit die unreifen Massen zumindest zeitweilig aus ihrem Demokratiekonzept ausschließen musste. Auch wenn sich der junge Michels viel von der erzieherischen Wirkung durch Sofortintegration und Voll-Partizipation versprochen hat212 - die Messlatte ist bei ihm ähnlich hoch wie im radikalen Liberalismus. Die besondere Rolle des Selbstbewusstseins prägt auch Michels' Theorie vom „demokratischen Nationalismus". Hier geht es um mehr als die nüchterne Konstatierung, dass eine Gruppe von Menschen eine gemeinsame Vorstellung ihrer kollektiven Identität und nationalen Zusammengehörigkeit hege. Selbstbewusstsein hat hier auch den normativen Überschuss von Selbstsicherheit und Ehrgefühl. Welche Verachtung all denjenigen entgegenschlägt, die dem Michelsschen Maßstab nicht genügen - das verdeutlicht ein Beitrag zur Antisemitismus-Debatte: „Judentum und öffentliche Achtung". 213 Dieser in der Michels-Forschung bislang völlig übersehene Aufsatz zeigt - für die europäische Ideengeschichte möglicherweise gar nicht außergewöhnlich - , mit welcher Selbstverständlichkeit dieser Vertreter eines unzweifelhaft ,westlich-rationalistischen-subjektiven' Begriffs von Nation die zeitgenössische Rassenanthropologie rezipiert und angenommen hat. Noch überraschender mag - zweitens - die Kernaussage anmuten. Implizit reformuliert Michels nämlich das Argument Heinrich von Treitschkes aus dem Berliner Antisemitismusstreit 214 , wonach die Juden selbst am Antisemitismus schuld seien. Seine Begründung ist allerdings eine völlig andere. Während Treitschke in seiner Schuldzuweisung an die Juden über zwanzig Jahre zuvor diesen den Vorwurf machte, dass sie Widerstand gegen die Assimilation an das Deutschtum leisteten215, lautet Michels' Vorwurf an die Juden umgekehrt, dass sie zuviel Assimilation betrieben. Der Nährboden des Antisemitismus ist Michels zufolge das „mangelnde Selbstbewusstsein" der deutschen Juden. 216 Das in demonstrativer Affinität zum Zionisten Max Nordau entwickelte Fazit seines Artikels lautet, dass die „Überwindung des Antisemitismus [...] nur durch eine Stärkung des Nationalbewußtseins im Judentum möglich" sei.217
212 Und dies trotz der offenkundigen Defizite: vgl. Frauenstimmrecht - schon heute eine Notwendigkeit. 213 Judentum und öffentliche Achtung. 214 Vgl. Walter Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt/M. 1965. 215 Vgl. Heinrich von Treitschke, Aufsätze, Reden und Briefe, hrsg. V. Martin Schiller, 5 Bd., Merseburg 1929, Bd. IV: Unsere Aussichten (1879), S. 466-482; Noch eine Bemerkung zur Judenfrage (1880), S. 494-503; Zur Judenfrage (1880), S. 504-505. 216 Michels, Judentum und öffentliche Achtung (Original S. 152; hier S. 279). 217 So fragwürdig seine Empfehlungen im einzelnen auch sein mögen, ist andererseits nicht zu verkennen, dass Michels' Beitrag in der „Jüdischen Rundschau" ein gerade auch in der inneijüdischen Debatte seinerzeit thematisiertes Erfahrungssubstrat zugrunde liegt: eine Identitätsunsicherheit, die sich für viele deutsche Juden aus der Gleichzeitigkeit der unterschiedlich gerichteten Prozesse der Emanzipation und der Assimilation ergab. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, 2. Aufl., München 1993, a.a.O., S.292.
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Von den Pauschalaussagen über die deutschen Juden einmal abgesehen, lässt sich aus dieser und anderen Schriften synoptisch eine Theorie nationaler Bewegungen ableiten, die in modifizierter Form auch Michels' Analysen der sozialen Bewegungen des Sozialismus und des Feminismus leitet. Seine Theorie macht das nationale Selbstbewusstsein zum zentralen Angelpunkt im Kampf um Emanzipation und Anerkennung, gelangt aber - sukzessive zu den allmählichen Erschütterungen ihres Emanzipationsoptimismus - auch zur Kehrseite des Selbstbewusstseins. Es erscheint zunächst sicher plausibel, dass ohne diese psychologische Ressource der Kampf um politische Rechte misslingen muss. Aus Mitleid wird in der Regel nicht das Staatsrecht reformiert. Nur durch mutige Selbstbehauptung werden sich Minderheiten jene öffentliche Achtung und Beachtung erkämpfen, ohne die ihre Anliegen schlicht übersehen werden und ohne die eine corporate identity als politische Bewegung nicht generiert werden kann. Selbstbewusstsein ist aber auch Machtbewusstsein, und dieses kann die schöne demokratischaltruistische Rahmung, die der junge Michels dem Nationalismus verpassen will, schnell sprengen, weil Machtbewusstsein - das Bewusstsein eigener Fähigkeiten und Möglichkeiten, die der andere nicht hat - zur Verstetigung der eigenen Möglichkeiten in Herrschaft tendiert. Die Neigung, von allen sich bietenden Möglichkeiten, die ,anderen' vom Zugang zu Ämtern und Pfründen auszuschließen, auch Gebrauch zu machen, ist gerade beim auf den eigenen Nationalstaat zielenden Nationalismus besonderes ausgeprägt. Der junge Michels selbst hat durchaus diese Dialektik des Selbstbewusstseins auf den Punkt gebracht, als er den Chauvinismus als eine perverse Steigerungsform des nationalen Selbstbewusstseins deutete: als „grauenhafte Umkehrung des schönen und stolzen Gedankens: ,ich bin ich' in die tollhäuslerische Prahlerei: ,ich bin mehr als du' und die damit zusammenhängende Forderung: ,weil ich mehr bin als du, musst du werden wie ich und mir gehorchen'." 218 Lässt sich der Chauvinismus noch als pathologische Verirrung des - an sich guten - nationalen Selbstbewusstseins verstehen, so wird Michels wenig später grundsätzlich feststellen müssen, „daß dem ethnischen Ausgleich ein Wesenselement der Psyche aller Völker entgegensteht, das sich als Tendenz zur Transgression bezeichnen lässt". „Der Patriotismus [...] ist immer egozentrisch. Die Völker begreifen das Nationalitätenprinzip nur bezüglich ihrer selbst. [...] Das Nationalitätenprinzip wird nur zum eigenen Hausgebrauch in Anwendung gebracht. Es ist ein Monopol." 219 Ein ähnlicher Prozess der Sinnverkehrung lässt sich auch für die sozialistische Arbeiterbewegung feststellen. Das von Michels vielgelobte Erwachen der Unterschichten zu kollektivem politischem Selbstbewusstsein bleibt auf die Frühphase der Bewegung beschränkt. Infolge der Organisation trennt sich sowohl soziologisch als auch psychologisch das Führungspersonal von der Gefolgschaft. Selbstbewusstsein wird hier zum Vorrecht des Arrivierten. Der Berufspolitiker entwickelt sich zum ,Machtmenschen' mit der entsprechenden „psychischen Transmutation". 220 Die ursprüngliche Charakter218
Michels, Entwicklung und Rasse, a.a.O., S. 156.
219 Vgl. Pazifismus
und Nationalitätsprinzip,
220 Soziologie des Parteiwesens 1911, S. 197.
hier S. 302.
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disposition des Politikers ist fiir diesen Prozess relativ nebensächlich: ob „Idealisten" oder „Ehrgeizlinge", unterliegen sie gleichermaßen „allen Gelüsten des Machtbesitzes": „Jedes Machtbewußtsein verleiht Großmannsdünkel, und Herrscherqualitäten - je nachdem gute oder schlechte - schlummern in jedes Menschen Brust [...] Das Bewußtsein vom eigenen Wert und die Einsicht vom Führungsbedürfnis der Masse konvergieren und haben die Wirkung, im Führer die Herrschernatur zu wecken."221 Neben dem Bewegungsbegriff der Innovation ist Selbstbewusstsein ein Schlüsselmotiv des Michelsschen Denkens, das zwischen 1900 und 1936 viele Bearbeitungen erfahrt, mitunter auch verschwindet, um dann in völlig neuer Gestalt aufzutauchen. In dieser Kategorie erfasst der junge Michels gleichermaßen die Defizite des Wilhelminischen Bürgertums222 als auch die politischen Erfolge der italienischen Landarbeiterbewegung. Es ist das Schicksal - zumindest in Michels' theoretischer Entwicklung - dieser spätaufklärerischen bürgerlichen Leitkategorie mit ihren Wurzeln in der bildungsbürgerlichen Romanfigur vom ,innengeleiteten Menschen' (Riesman), dass sie sich von ihrem ursprünglichen soziokulturellen Träger infolge von dessen Feudalisierung und ,Prussifizierung' loslöst, dann an der Realität der organisierten Arbeiterbewegung scheitert, um schließlich in Gestalt des vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden, charismatischen wie heldenhaften Diktators noch einmal scheinbar zum Leben erweckt zu werden.
Editorische Notiz Die Edition präsentiert die Texte, nach drei thematischen Unterkapiteln gegliedert, in der chronologischen Reihenfolge ihres Erscheinens. Hervorhebungen sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, von Robert Michels. Die Rechtschreibung der Originale wurde beibehalten; nur offenkundige Satz- oder Flüchtigkeitsfehler wurden korrigiert. Anmerkungen des Herausgebers erscheinen in einer *-Fußnote. Die Titel sind in fast allen Fällen Originaltitel. Nur in drei Fällen war eine redaktionelle Titelgabe nötig. Diese sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. Die Auswahl der Texte erfolgte nach formalen und qualitativen Kriterien: 1.) Bei allen Transkriptionen handelt es sich um deutschsprachige Originale. Diese Beschränkung ist sinnvoll angesichts der Fülle von italienischen, französischen und Arbeiten von Michels in weiteren Sprachen, die eine besondere Übersetzung im Einzelfall schwer begründbar macht. 2.) Alle Texte werden hier erstmals neu ediert. Es gibt keine Überschneidung mit anderen Editionen in deutscher Sprache. 3.) Bei allen Texten handelt es sich mit Blick auf das analytische Potential sowie die ideengeschichtliche Originalität und Lesbarkeit um besonders qualifizierte Beiträge.
221 Soziologie des Parteiwesens 1989, S. 204. 222 Analyse einer Verlobungskarte
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VI. Literatur 1. Werke von Robert Michels 1.1. Bibliographie Opere di Roberto Michels, Estratto da: Studi in memoria di Roberto Michels; Vol. XLIX degli Annali della Facoltà di Giurisprudenza della R. Università di Perugia, Padova 1937,42 Seiten.
1.2. Ausgewählte Einzelschriften 223 Attorno ad una questione sociale in Germania, in: Riforma Sociale, Jg. 8, fase. 4, Bd.6, Sonderabdruck, 1901, 19 Seiten. Nationalismus, Nationalgefuhl, Internationalismus, in: Das freie Wort, 2. Jg., Nr. 4, 1902, S. 107-111. Das unerlöste Italien in Österreich, in: Politisch-Anthropologische Revue, 1. Jg., Nr. 9, Dezember 1902, S. 716-724 Ein Kapitel aus den Kämpfen der Florentiner Cigarrenarbeiterinnen, in: Neues Frauenleben, XV. Jahrgang, Nr. 3, 1903, S. 14-17. Entstehung der Frauenfrage als soziale Frage, in: Die Frauenbewegung, IX. Jg., 1903, Nr. 3, S. 17-18. I progressi del Repubblicanesimo in Germania, in: Rivista popolare di politica, lettere e scienze sociali, anno IX, Nr. 15, 1903, S. 400-402. Le congrès socialiste de Dresden et sa psychologie, in: L'Humanité Nouvelle. Revue internationale, 7e année, N. 53, S. 740-754. Le elezioni politiche in Germania e la pace, in: La Vita internazionale. Organo ufficiale della Società per la pace e la giustizia internazionale, anno VI, Nr. 15, 5.8. 1903, S. 462-464. Psicologia e statistica delle elezioni generali politiche in Germania (Giugno 1903), in: Riforma Sociale, Vol. XIII, fase. 7, 1903, S. 541-567. Rückblick auf die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung in Italien, in: Die Gleichheit, Jg. 13, Nr. 1, S. 2-3, Nr. 2, S. 11-13, Nr. 5, S. 36-38, Nr. 8, S. 58-60, Nr. 11, S. 83-85, Nr. 17, S. 131-134, alle Nr. 1903. Le Incoerenze internazionali del socialismo contemporaneo, in: Riforma Sociale, Heft 8, Jg. 10, Bd. 13, 1904, Estratto, 11 Seiten. Feminismus und Sozialismus, in: Arbeiterinnen-Zeitung (Wien), Nr.22, 13. Jg., 3.11.1904, S. 4-5. Les dangers du parti socialiste allemand, in: Mouvement Socialiste, VI. Année, Nr. 144, 1.12. 1904, S. 193-212. Die Formen des Patriotismus, in: Ethische Kultur, 13. Jg. Nr.3, S. 18-19, Nr. 4, S. 26-28, 1905, S. 27. Entwicklung und Rasse, in: Ethische Kultur, 13. Jg., Nr. 20, S. 155-157, Nr. 21, S. 163-164, 1905. Violenza e legalitarismo come fattori della tattica socialista, in: Il Divenire Sociale, anno I, Nr. 2, 16.1.1905, S. 25-27. Le socialisme allemand et le congrès d'Ièna, in: Mouvement Socialiste, Doppelnummer vom 1./15. 11.1905, S. 281-307. Die deutsche Sozialdemokratie. I. Parteimitgliedschaft und soziale Zusammensetzung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXIII, Heft 3 1906, S. 471-556.
223 Die Texte der Edition finden sich im Quellenverzeichnis.
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Der Sozialismus in Italien
Die Sozialdemokratie - oder sagen wir lieber der Sozialismus, da diese letztere Bezeichnung in allen außerdeutschen Ländern Europas die gebräuchliche ist - verdankt entschieden seinen Ursprung dem nördlicheren Europa. Die Esse, in der er geschmiedet, lag in Paris und London. Die Staaten, bei denen er als Partei zunächst und am kräftigsten Eingang gefunden, waren Frankreich und Deutschland, bei ersterem bereits in den vierziger, bei letzterem in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Von diesen Centren breitete sich der Sozialismus dann über die niederländischen, skandinavischen und Donau-Länder hin schnell aus. Der Süden Europas blieb diesem neuen mächtigen politischen Faktor lange Zeit verschlossen. In Italien war, ähnlich wie in Spanien, der Anarchismus und der radikale Republikanismus im Sinne Giuseppe Mazzinis die einzige Art, in der man sich dort von Zeit zu Zeit wie in vulkanischen Stößen gegen die bestehende Ordnung der Gesellschaft und des Staates aufzulehnen wagte. Erst Anfang der achtziger Jahre begann sich unter dem gewaltigen Eindruck, den das elementare Wachstum der neuen Heilstheorie in den nördlichen Nachbarländern machte, und unter dem Einfluß der eben in die italienische Sprache übersetzten Werke von Lassalle, Marx und Louis Blanc, auch in Italien allmählich eine sozialistische Partei zu bilden. Als erster Deputierter trat der Nationalökonom und Publizist Costa 1882 unter dem Ministerium Depretis in das Parlament. Von diesem Moment an, wo sich der neue Glaube einmal festgesetzt hatte, erstarkte er von Jahr zu Jahr in ganz ungeheuerlichem Maße, viel schneller noch, als er es je in Frankreich oder Deutschland, Belgien oder Dänemark gethan. Es war als ob die Sonne des Gluthimmels selbst die junge Pflanze zu schneller, ungeahnter Höhe emportriebe. Allerdings lagen die politischen Verhältnisse Italiens so, - und sie liegen größtenteils noch heute so, - daß der Boden für eine Erscheinung wie die des Sozialismus durch die Macht der Verhältnisse und auch durch das Getriebe der Regierung besonders günstig vorbereitet erschien. Die bei der Wiedervereinigung des Landes zu einem Staate in glühender Begeisterung entstandene Hoffnung der Patrioten auf eine schnelle, glänzende Zukunft hatte sich als nichtig erwiesen. Italien war ein Kleinstaat geblieben und hatte von einem Großstaat nur die kostenreichen Allüren angenommen. Das hatte tiefe Erbitterung in allen Ständen des Volkes hervorgerufen, eine Erbitterung, die ebensowohl dem Schicksal als der Regierung galt. Zudem fehlte letzterer ja auch der Ruhm vergangener großer Thaten, der, wie es in Deutschland und Frankreich der Fall war, der
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bestehenden Ordnung als Gegengewicht gegen Umsturzbestrebungen hätte dienen können. Das Volk sah die leitenden Männer außer stände, auch nur eines der alten Erbübel des Landes endgültig zu beseitigen. Die Briganten, obgleich dezimiert, konnten nie ganz ausgerottet werden, und auch jetzt noch sahen wir aller Polizei und allem Militär zum Trotz den großen Musolino sein Unwesen treiben. Im Süden sowie auf den Inseln konnte die Camorra, allen Regierungsmaßregeln spottend, ihr gleißnerisches Leben ruhig weiterführen. Der Kampf zwischen Königtum und Papsttum, der das Land tief zerfurcht, war auch nicht dazu angethan, das Volk in großer Achtung vor seinem Herrn zu belassen, kann doch selbst jetzt die italienische Nationalflagge zu Festlichkeiten nicht einmal in die Kirche mitgenommen werden, weil die Regierung es nicht wagt, in das „Besitztum der Papstgewalt" frevelnd einzudringen! Nimmt man dazu die Korruption eines großen Teiles der Beamtenschaft und zumal die fast im ganzen Lande gezahlten Hungerlöhne, durch die jährlich ein ungeheuer großer Prozentsatz der Bevölkerung gezwungen wird auszuwandern, so kann die schnelle Ausbreitung sozialistischer Ideen in Italien uns wahrlich nicht Wunder nehmen. Nach einer von Augusto Torresin in dem am 15. August 1900 erschienenen Bande der „Riforma Sociale" aufgestellten Statistik befanden sich im Parlament von sozialistischen Deputierten: 1882 1886 1890 1892 1895 1897 1900
(Ministerium ( „ ( ( ( ( „ (
Depretis) Depretis) Crispi) Giolitti) Crispi) Rudini) Pelloux)
1 ? 7 15 16
Außer in einigen Provinzen Süd-Italiens, in denen kein Handel und keine Industrie besteht, und wo die Latifundienbesitzer Macht genug haben, ihnen gefährliche Strömungen zu unterdrücken, ist die sozialistische Partei heute nirgends mehr gering zu schätzen. Viele Provinzen, wie die der Lombardei, sind fast ganz in ihrer Gewalt, und selbst in Venetien, dessen Bewohner von jeher besonders stark konservativ gesinnt waren, ist es ihr in den letzten Wahlen gelungen, festen Fuß zu fassen. Die Siege in Verona, Treviso und Vicenza beweisen das zur Genüge. Wenn auch das Schwergewicht der Partei wohl in Mailand liegen dürfte, wo einer der begabtesten und geistreichsten ihrer Führer, Filippo Turati, die populär-wissenschaftlich gehaltene Zeitschrift „La Critica Sociale" herausgiebt, so erscheint doch die angesehenste Zeitung der Sozialisten in der Hauptstadt, der „Avanti", welcher, nebenbei gesagt, außer relativ großer Sachlichkeit in Behandlung politischer Fragen auch noch den großen Vorzug hat, daß er wohl fast das einzige Journal Italiens sein dürfte, in welchem die ausländischen Städte- und Eigennamen ohne Druckfehler zu erscheinen pflegen. Es liegt in der Natur des Internationalismus der Partei, daß die Ziele, die in dem Programm der italienischen Sozialisten kundgegeben werden, sich mit denen der deutschen Genossen decken. Nur die Idee eines Zukunftsstaates scheint mir in Italien eine
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geringere Rolle zu spielen. Das mag wohl teilweise daher kommen, daß das religiös längst entnüchterte italienische Volk mehr nach handgreiflichen Erfolgen strebt, als nach weitliegenden problematischen. Andererseits mag aber die Idee des Zukunftsstaates zur der Zeit, da der Sozialismus in Italien die Massen eroberte, überhaupt schon seine erste Frische verloren gehabt haben. Der Kampf um den Achtstundentag ist dagegen in vollem Gange, und Lohnerhöhungen sind mit meist durchschlagenden Erfolgen zumal in den industriellen Bezirken Norditaliens durchgesetzt worden. Die letzten großen Lohnkämpfe im Frühjahr 1901 haben einerseits gezeigt, was eine eifrige Propaganda der Führer und eine selbstlose Unterstützung der Arbeiter untereinander vermögen, andererseits aber auch, wie ein jeder solcher Kampf, wenn sich einmal die Regierung vorurteilsfrei auf neutralen Boden stellt, völlig innerhalb der Gesetze vor sich gehen kann. - Ebenso unentwegt streitet die Partei für die Emanzipation des weiblichen Geschlechtes. Im Gegensatz zu Deutschland ist in Italien die Mehrzahl der Arbeiterinnen organisiert und haben sich diese zu wiederholten Malen als völlig fähig bewiesen, gleich ihren männlichen Standesgenossen eine Lohnerhöhung nicht nur zu fordern, sondern auch zu erwirken. Die Partei selbst weist in ihren vordersten Reihen tapfere weibliche Führer auf, es möge hier nur der talentvollen Paola Lombroso, der Tochter des berühmten Kriminalisten und Psychiaters und jetzigen Gattin des sprachgewandten Publizisten Guglielmo Ferrerò Erwähnung gethan werden, welche im „Grido del Popolo", der sozialistischen Zeitung ihrer Vaterstadt Turin so lange Zeit schon eine tüchtige Mitarbeiterin war. Der schärfte Kampf der italienischen Sozialdemokratie richtet sich gegen das Heer. Es wird als Ballast bezeichnet und mit großem Nachdruck immer wieder darauf hingewiesen, wie das ganze Volk unter dem Kostenaufwand, den dieses teuere Spielzeug alljährlich verursache, zu leiden habe. In seinem Buch „II Militarismo" will Guglielmo Ferrerò beweisen, daß die stehenden Heere und die allgemeine Wehrpflicht logischer Weise die Ursache des Zerfalles fur alle Länder, zumeist aber für das geldarme Italien sein müsse. Mit der Bekämpfung des vielgehaßten „esercito" Hand in Hand geht das kräftige Eintreten der italienischen Sozialdemokraten für die Friedensbestrebungen Bertha von Suttners. Die alljährlich unter dem Titel „La Bandiera Bianca" erscheinenden Friedensalmanache weisen unter den Reihen ihrer Mitarbeiter eine große Anzahl von Sozialisten und sozialistisch Denkenden auf, und der hervorragendste Führer der Partei selbst, Enrico Ferri, hat es einmal in ihnen unternommen darauf hinzudeuten, wie jeder Friedensliebhaber Sozialist sein müßte, da nur die Ziele dieser Partei den Frieden endgültig zu erhalten vermöchten (in seinem Artikel „La Pace è il Socialismo", 1894). Wir haben in kurzen Zügen gesehen, daß der Sozialismus in Italien eine dem deutschen ziemlich parallele Erscheinung bietet. Gleichartig sind demgemäß auch die Vorwürfe, die ihm von seinen Gegnern gemacht werden. Außer der Religionslosigkeit und Vaterlandslosigkeit wird ihm auch seine Unduldsamkeit gegen politisch Andersgläubige heftig zum Vorwurf gemacht. „Es scheint uns nicht", ruft die Turiner „Stampa" einmal aus, „daß diese Leute, welche mit dem Programm aufgetreten sind, gegen die sogenannten reaktionären Gesetze das Banner der Freiheit hochzuhalten, selbst eine klare Idee davon haben, was Freiheit eigentlich ist." Und ebenso hört man wie in Frankreich und in Deutschland so auch in Italien davon die Rede gehen, daß die Partei sich allmählich
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umwandele. Wie man in freisinnigen Zeitungen bei uns oft den Glauben aussprechen hört, die Sozialdemokraten würden ganz allmählich in ihr Lager übergehen, so nähren die Liberalen Italiens ganz genau dieselben Hoffnungen. Und doch besteht bei aller Gleichheit des Programms und aller Ähnlichkeit ihrer Gegner doch ein gewaltiger Unterschied zwischen den Sozialisten Italiens und ihren außeritalienischen Gesinnungsgenossen in der politischen Stellung zu den übrigen Parteien des Landes. Während beispielsweise in Deutschland die Partei in starrer Abgeschlossenheit verharrt und ein Bündnis mit anderen einem Gifittrunk gleich erachtet, so scheut sich der italienische Sozialismus keineswegs, sich zur Erreichung ähnlicher Ziele mit ihm verwandten Parteien zu verbinden. Man sieht in der Kammer die Sozialisten mit den Mitgliedern der Radikalen und der Republikaner meist in großer Eintracht zusammen. Diese drei Parteien bezeichnen sich selbst gemeinsam als „partiti popolari" und werden auch von ihren Gegnern gemeinsam als „partiti estremi oder sovversivi" genannt. Dieses Zusammengehen hat sein Gutes. Während in Deutschland die extrem liberalen Elemente oft nichts besseres zu thun wissen als sich mit ihrer ganzen Schärfe gegen den Feind zur Linken zu wenden, mit dem sie doch weit weniger Unterschiede der Gesinnung haben als mit denen zur Rechten, während bei uns ein Eugen Richter mit seiner Broschüre „Sozialdemokratische Zukunftsbilder (1891)" die Sozialdemokratie unsterblich lächerlich zu machen versucht, fallt es in Italien den Radikalen und Republikanern nicht ein, ihre Hauptfront gegen die Sozialisten zu kehren. Daher kommt es, daß der Mailänder „Secolo" ihnen zumeist keineswegs feindlich gesinnt ist, und einer der geistreichsten Republikaner, Napoleone Colajanni, der sich vor einem Jahre in der Chinesendebatte einen Namen gemacht hat, scharf auf der Messerschneide des Sozialismus steht und in seinem Buch , Appunti sul Socialismo" ganz offen eingesteht, die Existenz dieser Partei bedeute nichts anderes als die Fortentwicklung des altruistischen Gewissens der Menschheit. Einen noch größeren Unterschied als in der Taktik zeigt der italienische Sozialismus in der Zusammensetzung seiner Anhänger. Während in Deutschland die Partei sich hauptsächlich aus den Arbeiterklassen rekrutiert und die große Mehrzahl der Begüterten und Gebildeten den neuen Ideen feindlich oder im besten Falle gleichgültig gegenübersteht, so sind in Italien fast alle Bevölkerungsschichten gleichmäßig in ihren Gedankenkreis hineingezogen. Freilich drängt sich beim Betrachten der Fraktionen in Deutschland und Italien die gewaltige Verschiedenheit auf, daß hier überhaupt sämtliche Parteien bedeutend weiter nach links stehen. Diejenigen, die sich in Italien „conservatori" nennen, würden bei uns etwa zum Anhang Heinrich Rickerts gehören, und für die Grundsätze der extremen Deutsch-Konservativen dürften sich in Italien kaum noch Anhänger finden lassen. Dieser demokratische Zug des ganzen Volkes hat den Sozialismus naturgemäß sehr gefördert. Außer dem arbeitenden Volke in Stadt und Land sind es besonders die Studenten in den großen Städten, welche das Hauptkontingent zur sozialistischen Partei stellen. Dieser Umstand und die dem Italiener angeborene Duldsamkeit bei Meinungsunterschieden mögen es wohl bewirkt haben, daß der Sozialist dort keineswegs gesellschaftlich geächtet erscheint und seine Meinung frei und offen zu sagen sich nicht zu scheuen braucht. Es erscheint einem Deutschen kaum glaubhaft, daß Denunziationen wegen Majestätsbeleidigung zu den Seltenheiten gehören.
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Aber nicht nur die Jugend an Jahren Italiens strömt in Massen der neuen Fahne zu, unter welcher sie Besserung in der Zukunft erhofft, auch die Jugend an Geist und Schwungkraft, die, welche den Namen ihres Vaterlandes bis in die entferntesten Gegenden berühmt macht, steht der neuen Bewegung freundlich gegenüber, soweit sie sich ihr nicht ganz anschließt. Alles, was das heutige Italien an klingenden Namen besitzt, ist sozialistisch beeinflußt, Arturo Graf, Vilfredo Pareto, und selbst Antonio Fogazzaro, der doch gewiß mit allen seinen Fasern an Konventionellem hängt, giebt gerne zu, daß in seiner negativen Kritik der Sozialismus fast überall Recht habe, und erklärt selbst an die Notwendigkeit der sozialen Umgestaltung der Dinge auf Grund der höchsten Gerechtigkeitssätze zu glauben. („Solamente le Armi"? - In „Giù le Armi" 1894). Der Historiker Corrado Corradini, der bereits öfters genannte Guglielmo Ferrerò, sowie Cesare Lombroso stehen mit der Partei in engster Verbindung, deren Führer selbst, Enrico Ferri, einer der bedeutendsten Prozessualisten und Soziologen sowie Professor an der Universität Rom ist. Die junge Dichterin Ada Negri bekennt in ihrer unter dem Namen „Fatalità" veröffentlichten Gedichtsammlung sich zu einem kräftigen, gesunden Sozialismus. Auch sie erklärt, daß die Dinge in diesem Schlendrian nicht weitergehen können, und daß der Staat seine Pflichten bisher nur in ganz ungenügendem Maße erfüllt habe. Selbst Bekehrungen sind dem italienischen Sozialismus geglückt, Bekehrungen sogar seiner heftigsten Feinde. Ist nicht doch der Monarchist par excellence selbst, der Soldatenfreund, Verfasser der „Bozzetti Militari" und Kavallerieoffizier a. D., Edmondo De Amicis, von dem Elend der Masse im Innersten ergriffen, mit dem ihm eigenen vor nichts zurückscheuenden Idealismus auf seine Seite getreten, und hat er nicht letzthin in den „Lotte civili" seinen neuen Glauben nach allen Richtungen hin zu verteidigen versucht und ihn als den alleinseligmachenden aufgestellt? Auch der bewundertste Dichterstern des modernen Italien, Gabriele d'Annunzio, hat sich diesem Einfluß des Sozialismus nicht entziehen können. Mit dem höchsten Adel Süditaliens verwandt und verschwägert, als Deputierter der konservativen Partei ins Parlament gewählt, ist er dort plötzlich zum gegnerischen Lager übergegangen. Aber wenn es auch kaum zu leugnen ist, daß diese Geistesrichtung und ihr frischer Kampf gegen den modernden Staatsorganismus dem Lande nur von Heil sein können und ihm neues Leben einzuhauchen vermögen, so haben sie für uns Deutsche einen unverkennbaren Nachteil. Denn alle extremen Parteien Italiens haben sich als ihr nächstes politisches Ziel die Bekämpfung des Dreibundes gesetzt, in dem sie nichts anderes als eine Vereinigung autokratischer Gewalten zur Bekämpfung der Volksrechte sehen. Daher streben sie trotz des dort so mächtigen Militarismus und Nationalismus einer Annäherung an das republikanische Frankreich zu. Und man muß gestehen, daß die letzthin in Deutschland immer unverhüllter hervortretende Reaktion zumal mit den Italien peinlich bedrohenden Zollerhöhungen nicht gerade dazu angethan ist, uns die linken Parteien Italiens zu Freunden zu machen. Bereitet sich doch selbst in den Regierungskreisen unserer alten Verbündeten eine scharfe Wendung nach dem Zweibund hin vor!
Der italienische Sozialismus auf dem Lande
In der Reichstagssitzung des 2. Dezember 1901 hat der sozialdemokratische Abgeordnete Hermann Molkenbuhr behauptet, unsere deutschen Bauern ließen sich viel gefallen, denn, so bewies er, wäre das nicht der Fall, würden keine Konservativen mehr im Reichstag sitzen! - Man kann aus diesen Worten wohl entnehmen, daß der Sozialismus bei uns auf dem Lande noch keine allzugroßen Fortschritte gemacht hat. Und in der That hat Molkenbuhr recht. Bei der unbegreiflichen Rückständigkeit unserer Bauern, dieses schwerfälligen Altmöbelstückes aus dem Mittelalter, in allen die Politik betreffenden Dingen, stehen wir vor dem Kuriosum, daß uns die Landbevölkerung mit einer langen Reihe von konservativen, ultramontanen, antisemitischen, im besten Falle noch bayrisch-partikularistischen Parteimännern beschenkt und auf diese Weise nicht zum wenigsten mit daran schuld ist, daß wir - entgegen der numerischen Mehrheit unseres Volkes - Brotverteuerung und ähnliche Dinge zum Gesetz erhoben werden sehen müssen. Es kann wirklich noch so kommen, daß, wie Ladislaus Gumplowicz meint, selbst in späteren Zeiten, wenn die Gesellschaft bereits ganz andere Formen angenommen haben sollte, in manchen Agrargegenden noch jahrhundertelang Rudimente vorzeitlicher Zustände persistieren werden.1 Auch in Italien lagen die Dinge lange Zeit ähnlich. Auch hier war der Bauer lange Zeit schwerfällig in seinen Gedanken und Empfindungen und wenig geneigt, die Dinge der Welt anders als vom Giebel seiner Hütte aus anzusehen. Auch hier überließ er die Vertretung seiner Interessen in der Politik nur allzu gem seinem begüterten „Standesgenossen", dem Gutsbesitzer, zumal wenn er ein „pezzo grosso", ein „großes Stück", d. h. ein cavagliere, ein commendatore oder gar ein Herr vom Adel war! Noch 1891 konnte Filippo Turati klagen, daß die Bauernschaft Italiens noch immer in mittelalterlichem Schlummer läge und nur dann und wann einmal einen vagen Klagelaut, etwa wie der Ton eines im Traum Redenden von sich gäbe.2 Noch 1895 durfte ein Ordnungsparteiler, der ehrenwerte Francesco Ambrosoli, das allgemeine Wahlrecht als Kampfesmittel gegen die sozialistischen Ideen anpreisen, da durch dieses der Einfluß des Landes dem der Stadt gegenüber gehoben werden würde.3 1 2 3
Ladislaus Gumplowicz, Ehe und freie Liebe, 4. Aufl. Berlin 1902, p. 26. Filippo Turati, „Le 8 Ore di Lavoro", 4. ediz., Milano 1897, p. 7. Francesco Ambrosoli, „Salviamo il Parlamento!" Milano 1895, p. 72.
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Binnen wenigen Jahren haben sich die Dinge aber sehr geändert. Der Sozialismus, der in Italien wie in Deutschland seinen Sitz zuerst in den großen Industriestädten hatte, ist mit fliegenden Fahnen a u f s Land hinausgezogen, freilich ohne deshalb die Städte zu verlieren. Die Provinzengruppe, welche ganz in Händen der Sozialisten ist, und die von den Konservativen daher mit Vorliebe die „striscia nera" (schwarzer Streifen) genannt wird, besteht sogar vorwiegend aus Agrarelementen. Das Zentrum der fortschrittlichen Bauernbewegung ist die Poebene in ihrem ganzen Umfange. Die Bedingungen, unter denen der Landmann dort lebt, sind je nach den einzelnen Gegenden sehr verschiedene. Auch hier möge uns ein kurzer historischer Rückblick den Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart bieten. Die Entwicklung der heutigen ländlichen Verhältnisse in Italien ist der unseren so ziemlich parallel. Als es mit den Formen der altpatriarchalischen Wirtschaftsweise endgültig aus war und die Erbunterthänigkeit verschwand, da konnten tausende von kleinen Betrieben unter dem Einflüsse der schweren und ungewohnten Steuern und bei der noch sehr zurückgebliebenen Art der Bodenkultur sich nicht halten und waren hierdurch gezwungen, ihr Stückchen Land zu verkaufen. Aus kleinen, aber freien Bauern wurden hierdurch Tagelöhner oder kleine Pächter. Allein in den Jahren von 1874-79 hatten 4700 gerichtliche Zwangsverkäufe von Bauerngütern stattgefunden. 4 Da die großen Gutsbesitzer überdies noch eine große Anzahl von Bauern „legten", wurde der Unterschied zwischen besitzenden und nichtbesitzenden Landwirten immer bedeutsamer. 5 Wir sehen, alles wie bei uns in Ostelbien! Schließlich verschärfte noch ein im übrigen sehr glücklicher Umstand die bereits vorhandenen schroffen Gegensätze zwischen Arm und Reich. Es bildete sich nämlich eine große Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe, zum Teil mit Hilfe eines mit städtischen Kapitalien eingreifenden Unternehmertums, welche alle Errungenschaften moderner Agrartechnik anwandten und hierdurch die Bodenerträge um ein Bedeutsames vermehrten. Der kleine Landmann, der kleine Pächter, behindert durch ihre Unkenntnis moderner Technik und den Mangel an Kaufkraft, blieben dieser Fortschritte gänzlich unteilhaftig. Während reichen Grundbesitzern und reichen Pächtern eine große Anzahl landwirtschaftlicher Institute zur Verfugung stand, 6 konnte der Bauernsohn vom Bauernvater nichts als ein veraltetes System erlernen. Trotzdem aber nun die Bodenrente bedeutend stieg, blieben - wie bei uns - die Löhne der Landarbeiter zumeist stehen. 7 Auch die Pacht- und Halbpachtverträge paßten sich ebensowenig der ökonomischen Weiterentwickelung an.8 Natürlich waren die Grundbesitzer zur Erklärung dieses Phänomens sogleich mit wissenschaftlichen ökonomischen Begründungen bei der Hand. Der Senator Graf D'Arco erklärte eine Steigerung der Löhne mit einem Bankerott des
4
Ivanoè Bonomi e Carlo Vezzani, „II Movimento Proletario nel Mantoano", Milano 1901, p. 25.
5
Ing. A. Ferretti, „La Questione dei Contadini", Mantova, 1878.
6
Dott. Prof. Francesco Coletti, „Le Associazioni Agrarie in Italia dalla Metà del Secolo Decimottavo alla fine del Decimonono", Roma 1901.
7
Bonomi e Vezzani, loco cit. p. 29.
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Prof. Giovanni Montemartini, „Le Leghe di Miglioramento fra i Conta dini nell' Oltrepò Pavese", Milano 1901, p. 26.
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gesamten Großgrundbesitzes fur gleichbedeutend.9 Er dachte dabei weder an die Möglichkeit eines Ausgleichs durch intensiveren Betrieb, noch an die Erleichterung der Steuerlast durch die schon begonnene Bodenbewässerung.10 Die Zustände, die als folgen dieser Entwicklung betrachtet werden müssen, sind wegen der Eigentümlichkeiten des Landes ungeheuer kompliziert. Neben dem Gutsbesitzer finden wir den Großpächter (fittaiuolo, auch conduttore di fondo genannt), den Halbpächter, den sogenannten mezzadro, welcher die Hälfte des Bruttoertrags dem Besitzer auszuliefern hat, sowie den massaio, der nur ein Drittel davon behalten darf. Daneben giebt es noch die obbligati, auch spesiati genannt. Es sind das Bauern, welche sich auf ein Jahr hin mit festem Gehalt zur Arbeit auf einem bestimmten Grundstück verpflichtet haben und außerdem meist ein Haus, immer aber Wein und Holz umsonst zu ihrer Verwendung erhalten. Eine Nebenerscheinung ist der bifolco, auch famiglio genannt, welcher auf dem Gute verpflegt wird und auf ein Jahr hin zum Stalldienst gemietet ist. Alle diese Leute befinden sich in einer schweren Lage; die Kleinpächter vor allem leben in steter Sorge, weil der Besitzer nach dem § 1958 des codice civile das Recht hat, bei der geringsten Verletzung des Pachtvertrages den Mann ohne weiteres von Haus und Hof zu jagen, selbst wenn z. B. das Obst eben reif ist und somit Aussicht für jenen vorhanden wäre, seinen Verpflichtungen in kürzester Frist nachzukommen. Auch ist bei den Pachtbauern die Pacht sehr hoch, bei den Lohnbauern der Lohn sehr gering. Nicht sehr viel besser stehen auch die verhältnismäßig wenigen noch erhaltenen selbständigen Kleinbauern, die sich oft nur durch Übernahme erdrückender Hypotheken erhalten können. Ihr Stück Land ist meist so gering, daß sie im Durchschnitt nicht mehr als 57V2Tag im Jahr zu dessen Bewirtschaftung brauchen. Freilich sehen sie sich in der Zeit der Ernte gezwungen, zur Bewältigung ihrer Arbeit andere Kräfte zu kaufen, spielen also einige Tage lang den Unternehmer, andererseits aber sehen sie sich genötigt, die übrigen Tage des Jahres selbst auf Arbeit auszugehen.11 So vermehren sie noch die Zahl der Tagelöhner (braccianti, disobbligati), welche sowieso schon mehr als die Hälfte der ländlichen Arbeiterschaft ausmachen. Diese befinden sich in noch weit elenderer Lage als die anderen. Was am meisten ins Gewicht fällt, ist der Umstand, daß sie bloß auf einen Tag gemietet werden und deshalb einen sehr beträchtlichen Teil des Jahres (fast den ganzen Winter) der Arbeitlosigkeit anheimfallen.12 Dazu wird ihre Arbeitsstundenzahl auf durchschnittlich 1 0 - 1 3 Stunden täglich gerechnet, und erhalten manche von ihnen, wie in der Provinz Rovigo, nicht mehr als 40 - 50 Centesimi pro Tag, und das ohne Verpflegung. Wie sich das Jahresverdienst einer Arbeiterfamilie, bestehend aus einem arbeitenden Mann, einer arbeitenden Frau und zwei unmündigen Kindern gestaltet, mögen folgende Zahlen veranschaulichen, welche von der Lega di Miglioramento in Montubeccaria bei Stradella festgestellt 9 Antonio D'Arco, „II Fermento nelle Campagne Mantovane", in der „Nuova Antologia" vom 1. April 1901. 10 Bonomi e Vezzani, loco cit. p. 32. 11 Montemartini, loco cit. p. 16 ff. 12 Bonomi e Vezzani, loco cit. P. 26.
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worden sind. Da der Mann durchschnittlich 204 Tage im Jahre, und zwar in den verschiedensten Beschäftigungszweigen arbeitet, in denen der Verdienst zwischen 1 Lira und 2,50 Lire schwankt, hat er eine Jahreseinnahme von 363,40 Lire. Rechnen wir als Gesamtlohn der Frau 50 Lire jährlich hinzu, so ergiebt sich im ganzen als Jahreseinnahme einer Landarbeiterfamilie die Summe von 413,40 Lire. Hiervon muß also die Familie leben, (an Naturalien erhält sie nichts) und Verluste an Arbeitstagen durch Krankheitsfälle sind nicht einmal mit in Betracht gezogen! 13 Die schlimmsten Zustände treffen wir aber in den Reisfeldern an, auf denen Tausende und Abertausende von Frauen und Kindern im Mai und Juni jeden Jahres eine Arbeit verrichten, wie sie kein Tolstoi grausenhafter schildern könnte. Die härteste und grausamste Arbeit in den sibirischen Bergwerken kann nicht so furchtbare Verheerungen unter jungen blühenden Körpern anrichten, wie die sogenannte cura der risaiole (Reismädchen). Da stehen diese Frauen Tag aus Tag ein im Sumpf, das Wasser bis an die Knie und arbeiten mit gebeugtem Rücken im glühendsten Sonnenbrand. Entsetzlich wütet unter ihnen die schleichende Malaria. Welchen Einfluß eine solche Arbeit auf Schwangere und junge Mütter ausüben muß, braucht nicht erst gesagt zu werden. 14 Nun sollte man jedenfalls denken, daß, einem alten ökonomischen Gesetz folgend, die risaiole allein wegen der ungeheuren Schädlichkeit ihrer Arbeit einen Lohn gezahlt erhielten, der sie wenigstens relativ für ihre ganz oder teilweise eingebüßte Gesundheit entschädigte. Nun, die Mädchen arbeiten bis zu 13 Stunden täglich, müssen früh morgens und spät abends die im Durchschnitt 8 Kilometer weite Entfernung bis zu ihrer Behausung zurücklegen, und für alles dieses erhalten sie meist nicht mehr als eine Lira (nicht ganz 78 Pf.) 15 . - Unter diesen Umständen ist es wohl erklärlich, wenn es vielfach vorkommt, daß die Mädchen Blutegel, welche sich während der Arbeit an ihren Waden festsaugen, ruhig dort sitzen lassen, um sie abends für einige Soldi dem Apotheker verkaufen zu können. 16 Zu solchen Mitteln müssen diese armen Geschöpfe greifen, um ihren kärglichen Lohn wenigstens um etwas zu erhöhen. Aber, was noch schlimmer ist, auch Kinder arbeiten in den risaie. Sie erhalten selten mehr als 50 Centesimi. Das Gesetz von 1886 über die Fabrikarbeit der Kinder erstreckte sich weder auf häusliche, noch auf Feld-Arbeit. So kommt es, daß selbst Kinder unter 15 Jahren mit in den Reisfeldern verwendet werden. 17 Die Folgen sind klar. Es seht statistisch fest, daß im Sommer 1901 von den 96 Toten einer Bevölkerung von rund 4200 Menschen nicht weniger als 55 Kinder waren, ohne daß in jener Zeit auch nur eine einzige Epidemie dort gewütet hätte! 18
13 Montemartini, loco cit. p. 7. 14 Dottor Lincoln Guastalla: „Le Donne e i Fanciulli nelle Risaie Mantovane" im Venetianer „Adriatico" vom 23. Februar 1901. 15 Ivanoe Bonomi e Carlo Vezzani, loco cit. p. 40. 16 Prefazione von Mario Malfettani zu Maria Cabrini, „II Canzoniere dei Socialisti", Firenze 1900. 17 Relazione dell' on. F. Lacava, 1893. 18 Lincoln Guastalla, loco cit.
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Diesen bestehenden Zuständen, oder sagen wir lieber Mißständen gegenüber erstreben nun die Bauern im Verein mit den ihnen den Weg weisenden sozialistischen Führern weitgehende Änderungen. Zunächst sollen die Landarbeiterverbände ein Minimum des Lohnes bestimmen können, unter welchem ihre Mitglieder keinen Arbeitsvertrag eingehen dürfen. Dieser Wenigstlohn soll so bemessen sein, daß der Arbeiter in der guten Jahreszeit so viel sparen kann, um bei Arbeitslosigkeit davon leben zu können. Zur Regelung von Lohnstreitigkeiten zwischen Kapitalisten und Proletariern sollen aus beiden Parteien zu gleichen Teilen zusammengesetzte Schiedsgerichte eingesetzt werden, wie solche für die Industrie schon geraume Zeit bestehen. Den Gemeinden soll jeder Verkauf noch restierenden Gemeindelandes untersagt sein. 19 Ferner wird Abschaffung der Erbschaftssteuern für Erbschaften unter einem bestimmten Geldwert, Errichtung staatlicher Invaliditäts- und Altersklassen, Widerrufung des bereits genannten § 1958 des Codice civile und endlich Wegräumung der indirekten Steuern, zumal der drückenden Taxe auf Salz, sowie besonders des mit Recht gehaßten, in Ländern von höchster Kultur, wie England und Belgien, schon längst bis auf den letzten Rest abgeschafften Dazio consumo (Innenzoll) erkämpft werden. 20 Zum Schutz der Frauen- und Kinderarbeit werden strenge Gesetze gefordert, welche zumal hygienische Maßregeln verlangen, und die am 1. Mai 1901 von den Sozialisten in Form eines Gesetzesentwurfs aufgestellt sind.21 All diese Reformforderungen - auch die von mir aus Raummangel hier nicht genannten - haben selbst im Lager der heftigsten Feinde des Sozialismus, nämlich in dem schon genannten Kriminalisten Garofalo einen Fürsprecher gefunden, welcher ähnlich wie unsere Bodenreformler, behauptet, die an und für sich unsinnige Idee des Kollektivismus wäre, wenn sie auf das Land beschränkt bliebe, nicht ganz indiskutabel. 22 Da so zwar ein Universitätsprofessor, nicht also aber ein Grundbesitzer reden kann - und man darf ihm das keineswegs verübeln - so lag die Notwendigkeit für die Landproletarier vor, sich zusammenzuthun, um durch einen gemeinschaftlich ausgeübten Druck Besserung ihrer Lage zu erzwingen. Bezeichnend für die ganze Bewegung nun ist die Thatsache, daß eine Gegend hiermit den Anfang machte, welche sowohl moralisch als wirtschaftlich zu den bestgestellten von ganz Italien gehört. Das Proletariat im Mantovano hatte es weit besser als die Landarbeiterschaft aller übrigen Provinzen. Schon seit vielen Jahren wurde es offiziell als diejenige Landschaft bezeichnet, welche in der kriminalistischen Statistik als letzte prangte. Sowohl schwere Vergehen gegen das Leben als gegen das Eigentum kamen
19 P. di Fratta, „La Socializzazione della Terra", Milano 1892. 20 f. die von Turati (Mailand 1893) herausgegebene Broschüre „La Conquista delle Campagne", welche das von Paul Lafargue für die französischen Sozialisten verfaßte Agrarprogramm enthält. Man vergleiche die Forderungen des „Programma Minimo del Partito Sozialista Italiano", Roma 1900 p. 8! 21 Sul Lavoro delle Donne e dei Minorenni, Milano 1901. 22 Garofalo, „La Superstizione Socialista" Torino 1895 p. 66.
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hier nur in wenigen Fällen vor.23 Dafür hatte der Mantuanische Landmann ein weit größeres Bildungsbedürfnis als seine Nachbarn. 24 Hier konnte also eine Bewegung, die sich eine höhere Menschlichkeit als Ziel setzte, eher festen Fuß fassen als irgendwo sonst. Als erste Vereinigung entstand 1891 unter Leitung des rührigen Dr. Romeo Romei die Federazione Mantovana delle Società di Operai e Contadini. Mehrfach von der Regierung aufgelöst - in den Reaktionsjahren 1893 und 1898 - gewann sie destotrotz einen stetig wachsenden Einfluß auf die Landbevölkerung, die ihr in Scharen zuströmte. Schon 1893 hatte sie beschlossen, mit fliegenden Fahnen in das Lager der sozialistischen Partei überzugehen. Von ihr erhielt die ganze Bewegung erst die feste Organisation 25 . Bei den Lohnkämpfen des Jahres 1898 vermochte sie zum ersten Mal ihre Kraft zu entfalten. 26 Wie Pilze wuchsen durch das ganze Land Verbesserungsvereine, (Leghe di Miglioramento) Arbeitsbureaus (Camere di Lavoro) und eine große Anzahl von Erwerbsgenossenschaften und Schutz- und Trutzgesellschaften aller Arten aus der Erde. Buntscheckig ist ihre Zusammensetzung. Die verschiedensten Interessen kreuzen sich. Vom mittleren Pächter bis zum Tagelöhner sind alle Schichten in ihnen vertreten. Dennoch hat man bis jetzt geeint vorgehen können. Ihre Aufgabe erfaßten sie in ihrer ganzen Tiefe. Allabendlich werden für Analphabeten Stunden angesetzt, in welchen diese nach gethaner Tagesarbeit lesen und schreiben lernen, um nach bestandenem Examen Wähler zu werden. 27 Die Arbeit der Mitglieder wird nach festen Plänen organisiert. Damit die Arbeitslosigkeit den einzelnen nicht so trifft, ist eine Art von Arbeitslosenversicherung ins Leben gerufen. Die Camere di Lavoro verschaffen allen Mitgliedern der Verbände der Reihe nach Verdienst, sodaß die arbeitslosen Tage sich auf die Gesamtheit verteilen. 28 Kranke und Schwache werden je nach ihren Bedürfnissen unterstützt. Kein Ausstand darf ohne vorher eingeholte Bewilligung der Lega ausbrechen. Wird diese, sei es, daß der Zeitpunkt nicht für günstig, sei es, daß die Sache nicht für gerecht erachtet wird, verweigert, so darf kein einzelner sich erdreisten zu widersprechen. Auch dieses ist eine offenbare Anlehnung an die englischen Trade Unions! Ist der Streik aber einmal beschlossen, so wird er energisch fortgesetzt, und großartige Leghe di Resistenza sorgen dafür, daß die Ausständigen in ihrem Kampfe durch Geld und Lebensmittel unterstützt werden. Nach dem Vorbilde der Mantuaner entstanden in rascher Folge in ganz Italien eine große Reihe von Vereinen mit ähnlichen Zwecken. Alle haben als Ziel eine Verringerung der Arbeitszeit und Erhöhung des Lohnes, sowie Erwirkung günstiger und langzeitiger Pachtverträge. Da werden Konsumvereine gegründet zum Einkauf agrarischer Chemikalien, die zu billigeren Preisen verkauft und landwirtschaftlicher Maschinen, die
23 Bonomi e Vezzani, loco cit. p. 16. 24 ibidem p. 45. 25 Giovanni Bacci, „La Questione Agraria e le Leghe dei Contadini" IV im „Secolo" vom 21./22. Juni 1901. 26 Romeo Romei, „Le Case del Popolo Campagnolo", S. Benedetto Pò 1901. 27 Bonomi e Vezzani, loco cit. p. 22. In Italien haben nur Alphabeten Wahlrecht. 28 ibidem p. 45 ff.
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zumeist gratis „auf Ehre" an die Mitglieder verliehen werden.29 Da entsteht eine Reihe von sogenannten Cantine Sociali, in welchen der Verkauf von Wein und anderen Dingen unter Umgehung der Zwischenhändler genossenschaftlich vor sich geht.30 Überall ein starkes Vorwärtsdringen auf kollektivistischer Basis.31 Daneben wird gekämpft zu gunsten der kleinen, Seidenbau treibenden Pachtbauern. Ihre enge, nur aus Küche und Schlafzimmer bestehende Hütte, ist für ihren Erwerb zu eng. Sie müssen deshalb unter freiem Himmel oder gar in der durch die Raupen muffig und ekelhaft gewordenen Luft der Stube schlafen. Hier wird fur eine Häuserreform gefochten. Das großartige ist, daß während all der Kämpfe, welche eine solche Evolution erfordert, die Moral des Landvolkes sich ungeheuer gebessert hat. Wie der Analphabetismus, sind auch die Kapitalverbrechen im Rückgang begriffen. Von vielen Seiten hört man jubelnd, daß selbst die Trunkenheit, dieses alte Bauernlaster, nur noch selten anzutreffen sei. Was nun den Lohnkampf im Frühjahr 1901 anbetrifft, so wurde er mit einer Zähigkeit geführt, deren sich die Großgrundbesitzer und Großpächter nicht versehen hatten. Nicht die einzelnen Arbeiter, sondern die Gewerkschaft selbst, setzte den Beginn an. Die „Leghe di Resistenza" sorgten dafür, daß die Streikenden in der Kampfeszeit nicht Hunger zu leiden brauchten. Selten in der Geschichte wirtschaftlicher Kämpfe hat sich das Proletariat so selbstbewußt aber auch gleichzeitig selten so opferfreudig und uneigennützig gezeigt. Die Landarbeiter- und Kleinbauernschaft vieler Provinzen (Bologna, Ferrara, Mantova, Modena, Verona, Rovigo) focht wie ein Mann. In Veronese nahmen die kleinen Grundbesitzer Hypotheken auf ihr Stück Land, um den allgemeinen Ausstand weiter unterstützen zu können. Das großartigste Bild eines nicht wankenden Zusammengehörigkeitsgefühls boten aber die Frauen. Die Reisarbeiterinnen von Molinella haben es wahrlich verdient, von dem Soziologen Leonida Biffolati unter der Arbeiterschaft Italiens der höchsten Aristokratie in des Wortes edelster Bedeutung beigezählt zu werden.32 Wenn auch von der sozialistischen Partei mit Rat und That unterstützt, (Bissolati selbst war im Cremonese und Bolognese, Badaloni im Polefine) war der Kampf für die Streikenden doch keineswegs leicht, denn die Großgrundbesitzer hatten sehr bald auch ihrerseits einen großen Verband gebildet, dem auch die Großpächter beitraten. Für die einzelnen Gemeinden in Agrarklubs (Circoli Agrari) eingeteilt, nahmen sie den ihnen zugeworfenen Fehdehandschuh mit einer Ritterlichkeit auf, die man beinahe Donquichotterie nennen möchte. Ihre erste That war, die Bauerngenossenschaften nicht anzuerkennen, und sich infolgedessen zu weigern mit ihnen auch nur irgendwie in Unterhandlungen zu treten. Hierdurch erwirkten sie nichts anderes als steigende Erbitterung. 29 L. Mabilleau, C. Rayneri et de Rocquigny, „La Prévoyance Sociale en Italie", Paris 1889. 30 P. Ghio, „Les dernières Crises Agraires en Italie" im „Journal des Économistes", vom September 1901. 31 Ettore Reina, „Le Opere Pie e i Contadini" im „Avanti!" vom 25. November 1900. 32 „Un quinto Stato?", im „Avanti" vom 23. Mai 1901.
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Darauf verfielen die Herren auf ein Mittel, das sie vielleicht unseren Ostelbiern abgesehen hatten. Nach dem Prinzip „hab ich nicht den Einen, so hol' ich mir den Andern" begannen sie, die Veroneser, und, im Mantovano, der Baron Franchetti an der Spitze fremde Arbeiter auf ihre Güter herüberzuziehen. Als auch dies keinen dauernden Erfolg hatte, wandten sie sich schmollend an den Staat und baten in Bittschriften über Bittschriften, er möge ihnen beistehen, um die höchsten Güter der Menschheit, unter denen sie sonderbarerweise auch die Freiheit anführten, nicht zu schänden werden zu lassen. Als selbst das nichts nützte, und die Regierung in ihrer seltenen Unparteilichkeit verharrte, schlugen die Stützen von Thron und Altar, ähnlich wie sie es bei uns zu thun pflegen, einen weniger liebenswürdigen Ton an. In Ferrara wagte es eine Versammlung von 500 Grundbesitzern sogar, sich zu der Drohung zu versteigen, daß, wenn der Lohnkampf ihnen die Ernte verderben sollte, sie sich durch Nichtzahlung der Steuern schadlos halten würden. 33 Erbitterter, weil noch direkter, war der Kampf der Streikenden gegen die katholischen Vereine (Leghe Cattoliche), welche sich unter reichlichem Beistand der Priester als eine Art Mittelspersonen aufspielen wollten. Diese, von der Democrazia Cristiana, einer in mancher Beziehung den deutschen Nationalsozialen ähnlichen Erscheinung, ausgehende Bewegung, ein buntes Gemisch von Baronen, Hauslehrern und Pfaffen, wie sie Achille Loria benennt, 34 vermochte jedoch bei dem mangelnden kirchlichen Sinne der norditalienischen Bevölkerung auf die Dauer nichts auszurichten. Schließlich sahen sich die Besitzer fast auf der ganzen Linie - Bologna, Mantua, Ferrara, Masi, Santhià - zum Nachgeben gezwungen. Sie hatten für die Streikenden keinen Ersatz bekommen können, weil soeben bei den großen Landaustrocknungsarbeiten bei Bonifica Gonzaghese viele tausende von Arbeitern beschäftigt und infolgedessen alle Landstriche weit und breit nur dünn mit Arbeitskräften besät waren. Auch war ihre Verteidigung gegen den Ausstand keine einheitliche gewesen. Es hatten sich zwischen den Latifundienbesitzem, denen es nicht so sehr auf die Ernte ankam, einerseits, und ihren Großpächtern, denen wegen ihres unerläßlichen Pachtgeldes allein alles an der Ernte lag, andererseits, starke Meinungsverschiedenheiten herausgestellt. 35 Die Lohnerhöhung, welche die Landtagelöhner schließlich durchsetzten, schwankt selbst innerhalb der einzelnen Gemeinden erheblich, in den Gegenden des Mantovano ζ. Β. zwischen 6,54 % und 23, 24 %. Die risaiole konnten ihren kargen Lohn um 15 20 % erhöhen. Sie erreichten die Festlegung einer bestimmten Stundenzahl im Arbeitskontrakt und die Zusicherung, etwaige Überstunden bezahlt zu erhalten (meist mit 25 Centesimi). Auch eine Ruhepause von festgesetzter Minutenzahl wurde ihnen zugebilligt. Ferner mußten die Herren die Stellenvermittlungsbureaus der Landproletarier anerkennen und die Hälfte der geforderten Arbeitskräfte bedingungslos von denselben anzunehmen versprechen. Die bifolchi besserten ihre Gehälter um 15 bis 25 %, welches
33 „II Corriere della Sera", v o m 20. Juni 1901. 34 Achille Loria, „Problemi Sociali Contemporanei", Milano 1895, p. 62. 35 Bonomi e Vezzani, loco cit. p. 58.
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ihnen halb in Bargeld und halb in Naturalien ausgezahlt wird. Die 2 000 Bauern in Spinazzola erhielten ζ. B. einen jährlichen Mehrverdienst von je 70 Lire. 36 Der höchste Siegespreis dürfte aber wohl in der vom Provinziallandtag der Provinz Mantua votierten Gründung agrarischer Schiedsgerichtskammern bestehen. 37 Wir sehen, daß wenn die Löhne auch immer noch recht niedrig sind, die Dinge sich dennoch schon wesentlich gebessert haben. Daß die italienischen Bauern aber nicht daran denken, bei diesen ersten Erfolgen stehen zu bleiben, das beweist der im Dezember 1901 zu Bologna abgehaltene erste große Kongreß der circa 800 ländlichen Vereine, die insgesamt bereits über eine Mitgliederzahl von mehr als 150000 Menschen verfügen. Unter der Ägide des Nestors der sozialistischen Partei, Andrea Costa, wurde dort ein großes neues Programm entworfen, das sich in folgenden Hauptpunkten dokumentiert: Bildung eines allgemeinen Bauernbundes, Errichtung eines statistischen Nachrichtenbureaus zur Regelung der Arbeitslosigkeit, Forderung ländlicher Schiedsgerichte, Anerkennung der Vereine durch den Staat und Verbesserung der hygienischen Verhältnisse auf dem Lande. Pasquale Villari, der bedeutendste der heute lebenden Historiker Italiens und zugleich der hervorragendste Vertreter des Staatssozialismus in seinem Vaterlande, hat einmal gesagt, es würde binnen kurzem bloß noch drei Parteien in Italien geben, nämlich: Sozialisten, ferner Leute, die den Sozialismus auf alle Weise und mit allen Mitteln bekämpfen würden und endlich eine Partei, welche aus kühnen Vorkämpfern praktischer Reformen zu Gunsten der Arbeiterschaft bestände. Freilich zweifle er daran, ob letztere noch zur Zeit kämen. Edmondo De-Amicis hat darauf erwidert, daß, wenn wirklich solche Männer jemals erstehen sollten, dies doch nichts anderes sein könnte als die Frucht eines heilbringenden Schreckens vor dem Sozialismus, 38 also sei der Kampf jener Partei auf alle Fälle der Menschheit nützlich. Es ist in der That sehr thöricht, die Lohnkämpfe, welche im Frühjahr 1901 auf dem Lande geführt worden sind, und welche sich sicherlich dieses Frühjahr wiederholen werden, von oben herab zu verdammen. Villari selbst hat zugestanden, daß der Bauer oft ein Leben führe, das dem eines Sklaven nur allzu ähnlich sehe. 39 Die aus den Lebensbedingungen des Landvolkes sich ergebende Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen hat keineswegs, wie Garofalo meint, seinen Grund in den aufhetzenden Reden sozialistischer Rädelsführer. 40 Ferri hat unbedingt Recht, wenn er sagt, die individuelle Arbeit der Propagandisten könne doch unmöglich eine psychologische Kollektivlage schaffen, ohne daß diese bereits durch eine entsprechende und vorher bestehende soziale
36 Alessandro Schiavi, „Sviluppo Capitalistico e Organizzazione Proletaria" II in der „Critica Sociale", vom 1. November 1901. 37 Bonomi e Vezzani, loco cit. p. 65 ff. 38 Edmondo De-Amicis, „Lotte Civili", Firenze 1899, p. 116. 39 „Lettere Meridionali", Roma-Torino-Firenze 1885, p. 26 ff. 40 R. Garofalo, „La Superstizione Socialista", Torino 1895, p. 221 und 228.
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Gestaltung der Dinge vorher bestimmt sei.41 Eine Entwicklung können selbst sobillatori (Aufhetzer) nicht aus dem Boden stampfen. Ebensowenig dürfte die Behauptung stichhaltig sein, dass die Sozialisten nur aus dem Grunde dem Landvolk beigestanden haben, um für die nächsten Kammerwahlen Stimmen zu fördern. Denn fast sämtliche Agrargenossenschaften sind erst entstanden, nachdem bereits das ganze Land der Partei längst anhing. 42 Es liegt also bei diesem Vorwurf ganz einfach eine Verwechslung von Ursache und Wirkung vor. Auch darf es niemanden Wunder nehmen, daß es gerade der sozialistischen Partei vergönnt war, dem Agrarproletariat in seinem Kampfe beizustehen. Denn als Partei ist sie die einzige, welche den Bauern, wie Giuseppe Oggero sich einmal ausdrückt, nicht als „ein Lasttier ansieht, welches nur gut genug dazu ist, dem Konsumenten Wein und Fleisch zu beschaffen. 43 Die Ziele der wirtschaftlichen Bewegung auf dem Lande sind zudem in diejenige des Sozialismus förmlich eingewoben, und das ist sicherlich bei keiner anderen Partei Italiens der Fall. 44 Der Sozialismus hat aber der Agrarbewegung nicht nur ihre Direktion verliehen, er hat auch - und das ist sein großes Verdienst, wofür ihm Staat und Gesellschaft nicht genug dankbar sein können - die Bewegung in ruhige, würdige, gesetzmäßige Bahnen gelenkt, was in früheren Jahren, als er bei den Lohnkämpfen der Bauern noch nicht seine Hand mit im Spiel hatte, wie bei dem Ausbruch der sizilianischen „Fasci", von keiner Seite irgendwie zu thun versucht worden war. Der Fortschritt der radikalen Parteien, insbesondere der Sozialisten in Italien, ist unbestreitbar. Augusto Torrefín, der diese Bewegung einmal mit einem Triumphmarsch ohne geschlagene Schlachten vergleicht, kann nicht umhin zu gestehen, daß mit diesem Sieg Hand in Hand eine beständige Abschwächung, wie er es nennt, „revolutionärer" Tendenzen, geht. 45 Mit derselben Tiefinnerlichkeit und demselben souveränen, man möchte sagen, klassischen Humor, mit dem August Bebel hier in Deutschland für seine Ideale kämpft, zieht in Italien vor allem Filippo Turati zu Felde. Was er vom Klassenkampf im allgemeinen sagt, trifft auch auf die Kämpfe der Landbevölkerung im besonderen durchaus zu: „Nur hierdurch kann ein edler Geist noch von heiligem Feuer gepackt, nur hierdurch die in sich zusammenfallenden Religionen ersetzt, nur hierdurch dem Leben ein Wert und ein Ideal neu gegeben werden". 46
41 Prof. Enrico Ferri, „Discordie Positiviste sul Socialismo", 2. ediz. Milano-Palermo 1899, p. 75. 42 Bonomi et Vezzani, loco cit. p. 12. 43 Giuseppe Oggero, „II Socialismo", Milano 1896, p. 23. 44 vgl. Oda Lerda-Olberg, „Die Ausstände der Landarbeiter in Norditalien" in „Der Lotse", Heft 41. 45 Augusto Torresin, „Progressi Socialisti in Italia e nell'Estero", in der „Stampa" vom 2. September 1900. 46 Filippo Turati, „La Moderna Lotta di Classe", Milano 1897, p. 10.
Begriff und Aufgabe der „Masse"
Die Arten menschlicher Gemeinschaften sind mannigfaltiger Natur. Als wichtigste von ihnen mögen hier Familie, Staat, Volk, Partei, Religion und Genossenschaft genannt sein. Sie sind ihrem Wesen nach entweder Lebensgemeinschaften, d. h. sie bedingen körperliche Annäherung und körperliches Zusammenleben, oder aber Ideengemeinschaften, d. h. sie werden von einem intellektuellen, ethischen, kulturellen oder schließlich nicht zum wenigsten traditionellen Band zusammengehalten. Die Mehrzahl der Gemeinschaften läßt sich aber nicht in eine der genannten zwei Unter- und Sonderarten ohne weiteres hineinklassifizieren, sondern sie stellen ein ungeheuer kompliziertes Gemisch aus beiden dar. Nur die - rein äußerliche - Gemeinschaft der sogenannten ,.Masse" läßt sich anstandslos unter die Rubrik der Lebensgemeinschaften setzen. Freilich ist eine Definition des Begriffes der Masse sehr schwer erschöpfend zu geben. Im Sprachgebrauch bedeutet das Wort etwas ganz anderes, als es historisch sagen will. Sprachlich ist Masse eine fast identische Bezeichnung für Proletariat, freilich im nicht sozialen Sinne genommen. Unter dem Wort Masse wird die Majorität der Ungebildeten und Besitzlosen verstanden. Vielfach sinkt es sogar bis zum Synonymon fur Pöbel, Plebs, Mob. Immer aber hat die Auslegung in der bürgerlichen Phraseologie etwas, ich möchte sagen, sonntagnachmittagsmäßiges an sich. Natürlich ist der Begriff Masse nicht einheitlich, sondern er ist individuell millionenfach differenziert. Die Vorstellung der Masse wird beim geburtsaristokratischen Kavallerieoffizier eine ganz andere Größe sein als beim geistesaristokratischen Universitätsprofessor. Der erstere wird den Begriff viel umfassender nehmen als der letztere, ja, der letztere wird vom Standpunkt des ersteren aus in den meisten Fällen noch selbst mit in den Begriff der Masse fallen, denn der unhistorisch denkende Mensch läßt den Begriff der Masse eben haarscharf unter seiner eigenen konventionell festgesetzten sozialen Stellung beginnen. So wird sich, um ein Beispiel zu bringen, zwar weder der Regierungsbeamte noch der Richter noch der Rechtsanwalt noch der Rechnungsrat zur Masse zählen, wohl aber sehr oft, sei es nun innerlich oder aber sogar äußerlich, der Regierungsbeamte den Richter, der Richter den Rechtsanwalt, der Rechtsanwalt den Rechnungsrat u. s. w. Der sprachliche Massenbegriff erscheint uns also als etwas unendlich Variables, Differenzierbares, eine Größe, die sich weder mathematisch berechnen noch sozial fixieren läßt, und die sich deshalb wissenschaftlich als nicht verwertbar erweist.
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Auch historisch ist der Begriff der Masse schwer faßbar. Das beweisen unter anderem schon die vielfachen meist mehr oder weniger ergebnislosen Anstrengungen akademischer und nichtakademischer Historiker, eine genügende Definition des Wortes zu geben. So befindet sich in dem neuestens erschienenen ausgezeichneten Buch „Geschichtsphilosophie" von Theodor Lindner 1 folgende Erklärung des in Frage stehenden Begriffes: „Masse ist die Gesamtheit der in irgend welchen Verbänden jeweilig lebenden Menschen." - Meiner Meinung nach ist auch diese Definition keineswegs ausreichend, ja ich glaube, sie kann nicht einmal als überhaupt treffend bezeichnet werden. Kann diese Begriffserklärung nicht ebensogut das Wort „Staat" definieren: „Der Staat ist die Gesamtheit der in irgendwelchen Verbänden (Familien, Genossenschaften etc.) jeweilig lebenden Menschen?" Meines Erachtens würde die Erklärung für den Begriff Staat sogar weit besser passen als für den Begriff Masse. Muß man nicht nach der Lindnerschen Definition annehmen, daß ζ. B. im heutigen Deutschland, um nur einige besonders bedeutende Männer aus allen Klassen zu nennen, auch Wilhelm II., v. Liszt, Bernstein, Bebel, die doch auch Teile der „Gesamtheit" sind und „in irgend welchen Verbänden" leben, zur „Masse" zu rechnen seien? Wenn aber, wie ich glaube, mit der angeführten Definition auch nichts zu machen ist, so gibt Lindner dennoch in den ihr folgenden Sätzen, wenn wohl auch mehr unbewußt als bewußt, den Weg an, der zu einer leidlichen Begriffserklärung der „Masse" führt. Er sagt nämlich weiter: „Sie ist nichts als eine Zusammenfassung von Individuen, deren Tätigkeit so sehr als einheitliche und gleichmäßige erscheint, daß der Einzelne hinter dem Ganzen verschwindet." 2 Das Wertvolle an diesem Zusatz ist der kleine Nebensatz. In der Tat verschwindet der Einzelne hinter dem Ganzen. Nur aus diesem Grunde läßt sich der Begriff der Masse einheitlich zusammenfassen und kritisch betrachten. Aber - und darauf kommt es hier an - nicht alle einzelnen schwinden in der Gesamtheit und gehen in ihr auf. Wenn sie es täten, so erhielten wir wieder den eben angefochtenen Lindnerschen Massebegriff. Man erklärt deshalb, glaube ich, die Masse begrifflich am besten negativ, d. h. durch Hervorkehrung der Elemente, die nicht zu ihr gehören. Wollte man aber durchaus eine positive Definition haben, so müßte man schon zu dem Nietzscheschen Paradoxon der „Vielzuvielen" greifen. Masse ist also - so fasse ich wenigstens den Begriff auf - die Allgemeinheit der humanitas überhaupt ohne die physisch oder psychisch oder schließlich intellektuell auf einen größeren Teil derselben dauernd einwirkenden Individuen, besser gesagt, Individualitäten. Ich bin mir nun sehr wohl bewußt, auch mit dieser Begriffsbestimmung nichts als Stückwerk gegeben zu haben. Wo fangt, wird man mir einwerfen, diese Einwirkung der Individuen auf die Masse an, und wo hört sie auf? Wie stark muß das Individuum die Masse beeinflussen, um nicht mehr unter ihren Begriff zu fallen? Wer will den Maßstab 1 2
Theodor Lindner: „Geschichtsphilosophie. Einleitung zu einer Weltgeschichte seit der Völkerwanderung". Stuttgart 1901, Cotta. S. 39. An anderer Stelle (p. 43 u. 44) scheint Lindner seine eigene Definition des Begriffes der Masse selber umzustoßen, indem er die Frage aufwirft - die er freilich nur ungenügend beantwortet - ob die Masse aus der Gesamtheit aller Mitlebenden oder nur aus einem Teil derselben bestehe.
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geben, mit dem hier gemessen werden soll? Wo liegt die Grenze zwischen Einwirkung und Nichteinwirkung? Hat nicht schließlich fast jeder Mensch irgend eine physische oder psychische Einflußsphäre auf der Welt, und möge sie auch nur aus zwei oder drei seiner Mitbürger, etwa seiner Familie, bestehen? Wird da nicht am Ende der Begriff der Masse auf Null reduziert, weil bei der gegenseitigen Wechselwirkung kein Mensch übrig bleibt, der nicht auf die Nebenmenschen in seiner Weise einwirkt? - Die Berechtigung aller dieser Einwirkung gebe ich bedingungslos zu. Und doch besteht, meine ich, ein ausgesprochener Gegensatz zwischen der Masse - oder sagen wir lieber mit einem begrifflich viel präziseren Worte - zwischen der Kollektivität und der Individualität, welch letztere ja freilich insofern natürlich in die erstere mithinein gehört, als sie tausendfach von ihr angeregt und beeinflußt wird, ja ohne sie nicht einmal menschlich existieren kann, denn ein neugeborenes Kind, fern von der Kollektivität und Individualität steht also nicht so sehr in der Beeinflussung der einen durch die andere - denn diese ist unter allen Umständen eine wechselseitige - als in der Verschiedenartigkeit der Kulturaufgaben, welche sie zu erfüllen haben, nämlich die Individualität als Trägerin des intellektuellen und die Kollektivität als Trägerin des moralischen Fortschritts der Menschheit? Alle Fortschritte auf intellektuellem Gebiet sind einzelnen besonders hervorragenden Individualitäten zu verdanken. Diese Behauptung bedeutet noch keineswegs eine Übereinstimmung meiner These mit der Große-Männer-Theorie. Denn diese einzelnen intellektuellen Schöpfer sind nicht als alleinstehend noch gar als aus dem Nichts schöpfend zu denken, sondern sie bauen auf unendlich vielen Vorarbeiten auf, und selbst ihre eigene Hauptarbeit schaffen sie stets in Gemeinschaft mit anderen. Voltaire, der geistige Befreier des XVIII. Jahrhunderts aus dem Banne der weltlichen und geistigen Kirchenherrschaft, stand bekanntlich ganz auf den Schultern von Bayle, Descartes, Spinoza, Fénélon und Montesquieu, und er hätte voraussichtlich trotzdem nicht einmal ein Befreier zu werden vermocht, wenn ihm in seiner intellektuellen Arbeit nicht andere, Rousseau, Holbach, Buffon, Diderot, d'Alembert u.s.w. beigestanden hätten. Aber alle diese Helfer und Vorgänger sind wiederum Individualitäten. Es kann ein geistiger Fortschritt gewiß das Werk vieler Individualitäten sein, bisweilen sogar so vieler, daß kaum einer aus diesen vielen namentlich hervorragt, aber die eigentliche Masse bleibt stets durchaus passiv. Sie empfängt, verallgemeinert und erhält, wenn auch in fast allen Fällen das Geschenkte nicht in seiner Tiefe durchdringend, ja, es beinah immer verflachend. So ist z. B. der Faust von Goethe ein - wenn auch natürlich tausendfach beeinflußtes und infolgedessen, wenn man so will, unselbständiges - so doch ein entschieden individuelles, nicht kollektivistisch zu nennendes Werk. Der Faust ist kein Erzeugnis der bebrillten Kollektivintelligenz oder der klein-deutschen Hofjunkerklasse, nicht einmal der damaligen Bourgeoisie, sondern eben die eigene Schöpfung des Dichters Wolfgang Goethe. Aber ohne die Masse hätte alle Geistesarbeit des Individuums Goethe die Welt
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cf. hierüber auch den zum Teil in der Numero unico del P. S. I., I e Maggio 1902 zu Rom erschienenen Aufsatz des bekannten Soziologen Scipio Sighele „L'Anima Collettiva".
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nicht vorwärts gebracht. Die Masse - die sogenannte gebildete ebenso wie die sogenannte ungebildete - war dazu berufen, das Goethesche Geisteswerk aufzunehmen, zu verbreiten und sich an ihm „emporzubilden", welche Emporbildung natürlich mit einem gewissen Herunterziehen des Vorbildes auf eine niedere Stufe Hand in Hand ging und gehen mußte, denn nach einem uralten Gesetz - dem einzigen, welches den Gang der Geschichte wahrhaft beherrscht - bewegt sich die Entwicklung nur in sanften Übergängen, und sind daher plötzliche Steigerungen wie diejenige vom Niveau eines Durchschnittsmenschen zu dem eines Goethe unmöglich. Wir haben gesehen, für die Erringung intellektuellen Fortschritts spielt die Kollektivität nur eine passive, eine untergeordnete Rolle. Anders verhält es sich aber bei der Gewinnung moralischen Fortschritts. Dieser ist das Werk nicht von Individualitäten, sondern der gesamten Kollektivität. Man kann, glaube ich, von der Moral das sagen, was Ernst Bernheim von einem verschwindenden Teile derselben, dem Patriotismus gesagt hat. Sie existiert nur in Vorstellung und Empfindung der einzelnen und bildet erst in ihrer Summe ein eigenartiges Ganzes, welches nach außen und innen eigenartige Wirkungen ausübt, namentlich jedoch nach innen, indem gerade das Bewußtsein, daß dieselbe Gesamtvorstellung auch in den übrigen Volksangehörigen lebt, bei jedem einzelnen die - moralische - Empfindung erhält und steigert.4 Die Entstehung des moralischen Gedankens und seine sehr allmähliche Weiterbildung hat bereits Fustel de Coulanges angedeutet. Wie der Gottesbegriff der ersten Generationen klein war und die Menschen ihn nach und nach größer gemacht haben, so war auch der Begriff der Moral zunächst sehr eng und unvollständig; er hat sich aber unmerklich erweitert, bis daß er, Fortschritt auf Fortschritt häufend, schließlich dahin gekommen ist, die Pflicht der Liebe gegen alle Menschen zu proklamieren.5 Es kommt mir darauf an, hier das Unmerkliche des Moralfortschrittes besonders zu betonen, denn gerade hierdurch unterscheidet sich der Fortschritt auf dem Gebiete der Moral von dem auf dem Gebiete des Intellekts. Der erstere kann durch keine Namen illustriert werden, der letztere besteht fast nur aus Namen. Der Fortschritt der Moral beruht auf Einzelvorgängen, die sich so oft aneinanderreihen, bis man von einer Kollektivität sprechen kann, der Fortschritt des Intellekts beruht auf Einzelvorgängen weniger einzelner. Gewiß haben einzelne Menschen auf die Moral eingewirkt. Savonarola machte seine Florentiner zu Feinden des Wuchers und der kapitalistischen Ausbeutung, Goethe vervielfältigte mit seinen Werthers Leiden den Hang junger Liebender zum charakterlosen Selbstmord, Georges Sand leistete durch ihre Schriften und ihr Leben zugleich der Moral der freien Liebe Vorschub, August II., Katharina II. und die französischen Bourbonen übten unbedingt auf ihre Höfe einen entsittlichenden Einfluß aus, und Bismarcks sogenannte „Realpolitik" findet noch heutzutage kleine und große Nachahmer - aber bei alledem ist dreierlei zu bedenken. Erstens wirkten alle diese Männer nur auf einen
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Ernst Bernheim: „Lehrbuch der historischen Methode". Leipzig 1889. S. 451.
5
Fustel de Coulanges: „La Cité Antique". Paris 1864. S. 600.
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sehr engen Kreis. Der Hof Ludwigs XV. war vielleicht durch das sittenlose Beispiel des Regenten Philipp von Orléans und später des Königs selbst verderbt. Auf die Kollektivmoral Frankreich war diese Tatsache jedoch sicherlich ohne jede weitere Bedeutung. Wie wenig Einfluß der moralische oder unmoralische Lebenswandel selbst derjenigen Individuen, auf denen die meisten Blicke konzentriert sind, also der regierenden Fürstlichkeiten, auf die Kollektivität hat, das beweist die spanische Moralstatistik der letzten Jahrzehnte, nach der die geschlechtliche Moral zur Zeit der tugendhaften KöniginRegentin Christine niedriger stand als zur Zeit der ausschweifenden Reina Isabel. Ferner hält der moralische Einfluß des Individuums auf die Masse, selbst wenn er einmal, wie bei Savonarola, stattgefunden hat, historisch nachweisbar nur kurze Zeit an. Er durchdringt sie eben nicht, sondern berührt sie nur an der Oberfläche, und die Kollektivmoral bleibt deshalb unverändert. Nach Savonarolas Tod war die Moral weder begrifflich noch angewandt höher stehend als vor seinem Auftreten. Drittens wirkt eine Moral oder Unmoral nur dann überhaupt zeitweise auf eine Masse ein, wenn sie zugleich mit einer Lehre oder in eine Lehre inkarniert auftritt, d. h. also mit dem Intellekt verbunden ist. Das allein erklärt die Wirkung Savonarolas und Georges Sands. Männer, die ohne eine besondere Lehre zu entwickeln, in sittenreiner Strenge ihr Leben verbringen, wie Giuseppe Garibaldi und Edmondo De Amicis, sind noch stets auf die öffentliche Moral völlig einflußlos gewesen. Wie unmöglich es ist, der Kollektivität eine fortschrittliche Moral aufzudrängen, wenn sie noch nicht reif dazu ist, zeigt uns auch das lehrreiche Beispiel der französischen Februar-Revolution von 1848. In den Jahren vor dem Entstehen derselben hatte eine Anzahl bedeutender Individualitäten, Louis Blanc, Ledru-Rollin, Proudhon, Raspail, Pierre Leroux, Blanqui u. a. eine neue Moral ausgedacht, welche der bestehenden unendlich überlegen war. Sie hatten nun auch einen Teil der Macht in die Hände bekommen, so daß die Möglichkeit gegeben schien, diese Moral der Masse gleichsam als von der Regierung selbst inspirierte Verfugung zu dekretieren. Die Kollektivität nahm aber die neue Moral nicht an und setzte die Moralisten in Anklagezustand. Nie in der Geschichte ist es mit größerer Klarheit zutage getreten, wie wenig sich die Moral der Majorität von derjenigen der Minorität beeinflussen läßt. Eine Gesellschaft, sagte Louis Blanc später, läßt sich nicht leicht über das, was sie fühlt und denkt, hinausführen.6 Die Richtigkeit dieser Beobachtung ist heute längst allenthalben erkannt worden. Selbst der strengste Marxismus anerkennt, daß nur durch eine stufenweise Evolution die Ablösung des individualistischen Systems durch das sozialistische geschehen kann. „Die soziale Umgestaltung", sagt der auch als Kriminalist berühmte Enrico Ferri7 einmal, „wird erst dann möglich sein, wenn im Proletariat der zivilisierten Welt, als natürliche Wirkung seiner jetzigen ökonomischen Lage, sich bereits vorher die Moral umgewertet hat."
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Louis Blanc: „Page d'Histoire de la Révolution de Février 1848". Bruxelles 1850. S. 83. Enrico Ferri: „Discordie positiviste sul Socialismo" Milano Palermo, 2 a edit. 1899. S. 91.
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Die Moral kann sich aber, wie gesagt, nur umwerten durch eine lange mühsame Einzelarbeit der Kollektivität. Eine unbemerkte, undankbare Arbeit, niemand sieht sie, ihr strahlt kein Ruhm und kein Dichter wird sie besingen. Wer die Masse aber schilt, sie als leichtgläubig und ewig zurückbleibend verhöhnt, tut ihr also bitterstes Unrecht. Die Geschichte ist ihr ewigen Dank schuldig, denn sie leistet mehr als die Individualität je zu leisten vermag, sie entwickelt unsere Moral.
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Wenn je mit Recht von schamloser Ausbeutung gesprochen werden kann, so trifft dies Wort auf die Lohnverhältnisse zu, denen das ländliche Proletariat Italiens, und zwar zumal das weibliche, sich bis vor Kurzem unterwerfen musste. Neben einer geradezu crassen „Ueberanstrengung" bestand eine jämmerliche „Unterlöhnung" und damit zusammenhängend natürlich auch „Unterernährung". Neben einem Arbeitstag bis zu 16 Stunden finden wir da einen Taglohn, der bei erwachsenen Arbeiterinnen zwischen 70 Centesimi und 1,25 Lire schwankt. Unter besagten Umständen erscheint es Jedem, der auch nur einigermaßen über die gesundheitlichen oder vielmehr ungesundheitlichen Folgeerscheinungen schlechter Ernährung Bescheid weiss, vollauf erklärlich, dass die Mortalität unter dem ländlichen Proletariat Italiens eine ganz abnorme war, beziehungsweise ist. Zumal unter den weiblichen Arbeiterinnen auf den weit ausgedehnten Reisfeldern der Poebene, den sogenannten risaiole - und noch mehr unter ihrer Nachkommenschaft - wüthen alljährlich die furchtbarsten Epidemien: Malaria, Pellagra, Auszehrung vernichten der Reihe nach das Lebensmark dieser „schiave bianche" (weißen Sclavinnen), wie man sie, leider nicht mit Unrecht, genannt hat. Lange hat der todähnliche Schlummer gedauert, den diese Frauen schliefen. Sie waren von einer Genügsamkeit, die man beinahe rührend nennen könnte. An das Leben stellten sie keine weiteren Anforderungen. Wenn sie so viel zu essen hatten, daß sie wenigstens nicht Hungers sterben brauchten, und so viel freie Zeit, dass sie ihren kirchlichen Verpflichtungen nachkommen konnten, so priesen sie ihr Leben noch glücklich. Ihr Verstand reichte eben aus für ihre Frohnde , ihr Blick ging nicht weiter als der Campanile ihres Heimatdorfes. Für die grosse Menschheit draussen, in der man um Brot und Ideen kämpft, waren sie todt. Nutzen brachten sie nur den Grossgrundbesitzern und Grosspächtern, die ihre Söhne mit Hilfe der ausgebeuteten Arbeitskraft Fannulloni werden lassen konnten. In der Welt, in der Presse hörte man nichts von diesen Frauen. Höchstens las man einmal von irgend einer Vendetta, welche eine von ihnen an ihrem treulosen Geliebten begangen hatte. In den grossen Industriestädten des Nordens hatte sich das weibliche Proletariat schon längst kraftvoll gerührt, auf dem platten Lande herrschte noch Kirchhofsstille. Die Agrararbeiterschaft, vor allen Dingen die weibliche, *
Fronde (veraltet): Fron.
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war für die fortschreitende Cultur einfach nicht vorhanden, schlimmer noch, sie war für sie ein Hemmschuh. Und so ist es in vielen Gegenden des Landes, zumal in dem so sehr zurückgebliebenen Süden, noch heutigen Tages. In einer sehr großen Anzahl Provinzen Italiens haben sich diese Zustände aber bedeutend geändert. An diesem wohlthätigen Umschwung der Dinge ist der Sommer 1901 schuld. Wie eine Springfluth bemächtigte sich in ihm der Socialismus des Landes, in welches er schon lange vorher eingedrungen war. Aber er bemächtigte sich diesmal nicht nur der männlichen Bevölkerung, sondern ganz besonders auch der weiblichen. Ungeheuer gross war die Welt, die er an Gedanken sowohl wie an Hoffnungen diesen armen geknechteten Frauen eröffnete. Mit der Schmach ihrer Lage lernten sie gleichzeitig auch die Möglichkeit einsehen, sie auf gesetzlichem Wege zu bessern. In ihr dumpfes, ödes Leben brachte der Socialismus neue Ideale. An die Stelle des Beichtstuhles trat das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die oberflächlich-kirchliche Moral machte der rein menschlichen Moral gegenseitiger Hilfe Platz. Nicht nach dem Tode galt es nun glücklich sein zu wollen, sondern möglichst in diesem Erdenleben. Und so wurden aus den Arbeitsthieren allmälig freudig schaffende Menschen. Und wahrlich, nicht die schlechtesten Elemente des weiblichen Landvolkes waren es, welche die ihnen gebotene Hand classenbewusst ergriffen und auf ihr Banner das Wort „Selbsthilfe des Proletariats" geschrieben haben. Beweis dafür sei, dass die tiefsten Wurzeln des weiblichen Socialismus auf dem Lande in der Provinz Mantua und Bologna sitzen, den Provinzen des Königreichs also, in welchen die Frauen noch verhältnissmässig am besten bezahlt wurden und in denen auch die Criminalstatistik der letzten Jahre am günstigsten lautete. Mit geradezu bewunderungswürdigem Eifer wurde die neue Bewegung aufgenommen und weiter verbreitet. Die jungen Berufsgenossenschaften wuchsen wie Pilze aus dem Boden. Eine Reihe von kühnen Agitatorinnen, allen voran Argentina Bonetti-Altobelli, durchzogen das Land, um die Frauen zur Organisation anzufeuern. In einer Reihe meist glücklich durchfochtener Arbeitsausstände grossen Massstabes erhielten die jungen Schöpfungen ihre w i r t s c h a f t l i c h e Feuerprobe und erzielten vielfach verhältnissmässig erhebliche Besserstellungen ihrer Anhängerinnen. So konnte bereits vergangenen Herbst in Bologna der erste grosse Bauerncongress tagen, in welchem sich die damals circa 800 männlichen und weiblichen Agrarvereine, die insgesammt schon über eine Mitgliederzahl von mehr als 150000 Menschen verfügten, zu der grossen, alle umfassenden Federazione Nazionale dei Lavoratori della Terra (Volksverein der Landarbeiter) zusammenschlossen, welche, den täglichen Nachrichten des „Avanti!" zufolge, auch jetzt immer noch weiter und weiter wächst. Es ist bemerkenswerth, dass die italienischen Bäuerinnen und Taglöhnerinnen sogleich erkannten, dass sie nur durch eine straffe Organisation etwas zu erreichen vermöchten. Die Bedingungen, welche sie bei ihrem Eintritt in die Lega di Miglioramento (wörtlich Besserungsverein) eingehen müssen, sind schwer und laden ihnen eine grosse sociale Verantwortlichkeit auf. Es spiegelt sich in ihnen sowohl die Festigkeit des Wollens als auch das hohe sittliche Gefühl wieder, welches der ganzen Bewegung eigenthümlich ist und das ihr den Anstrich wahrer Größe zu verleihen vermag.
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In ihrem vorzüglichen Buch „II Movimento Proletario nel Mantovano 1 haben zwei der bedeutendsten praktischen Reformarbeiter Norditaliens, der Doctor Ivanoe Bonomi und der Secretär des genannten grossen Bauernbundes, Carlo Vezzani, ein Programm aufgenommen, welches zur Gründung neuer Frauenvereine als Modell dienen soll und offenbar im Wortlaut einem der bereits existirenden entnommen ist. Dasselbe bietet des Interessanten so viel, dass es sich lohnen dürfte, es eines näheren zu beleuchten, zumal da es für den „neuen Geist" typisch ist. „Aufgenommen wird jedes Mädchen, welches über 15 Jahre alt ist und sich zur Feldarbeit zu verdingen pflegt." Die letztere Bedingung ist keineswegs so zu verstehen, dass nur Taglöhnerinnen zum Eintritt in die Lega berechtigt sind und also die selbstständige Bäuerin davon ausgeschlossen wäre. In Italien ist der Bauernbesitz in all seinen Schattirungen so parcellirt, dass selbst die begüterteren Kleinbauern für einen grossen Theil des Sommers ihre Kräfte auf den Arbeitsmarkt anbieten müssen, weil dieselben durch das eigene Stückchen Land nicht absorbirt werden können. „Das ausgesprochene Ziel der Lega ist, die wirtschaftlichen, moralischen und intellectuellen Verhältnisse ihrer Mitglieder (Socie) nach und nach zu bessern, denn die völlige Gleichstellung der Frau kann nur die Frucht langsamer und stufenweiser Eroberungen sein, in denen die Frau ihre bürgerlichen Tugenden beständig geltend machen muss." „Dieses Ziel der Lega soll nun mittelst des Coalitionsrechtes, sowie aller derjenigen persönlichen und allgemeinen Freiheiten, welche durch das Statut des Königreiches Italien gewährleistet und geheiligt worden sind, auf dem Weg der Solidarität aller Mitglieder, und zwar mit den erprobten Kräften der Ueberzeugungskunst, der Brüderlichkeit, der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe erreicht werden." Aus diesem Grunde stellt die Lega folgende Satzungen auf: 1. Die Contraete und Tarife, welche nach gemeinsamer Uebereinkunft der Arbeiterinnen und Gutsbesitzer abgeschlossen worden sind, müssen respectirt werden. Die Lega wird ihre ganze Kraft darauf verwenden, dass dies von beiden Seiten gleichmässig geschieht. Sie wirft sich also zum Contrôleur der Arbeit auf. 2. Die Arbeit ist so zu regulieren, dass in den Gegenden, in denen zu starkes Angebot herrscht und deshalb ein Theil der Frauen arbeitslos ist, alle Mitglieder abwechselnd arbeiten. Ein collectivistischer Gedanke, der sich ja auch in unseren Versicherungsgesellschaften wiederfindet. Das altruistische Princip ist, dass lieber viele weniger verdienen sollen, als dass Eine darbt. 3. Es muss ein (gleicher) Einheitslohn für alle Arbeiterinnen festgesetzt werden, gleichgiltig, ob sie jung oder alt, schwach oder stark sind, auf dass alle auf anständige Weise ihr Leben fristen können. Also eine Lohnbestimmung aus reinem Gerechtigkeitssinn, ohne Rücksicht auf den Wert der einzelnen Arbeitsleistungen. Es ist bekannt, dass sich die Grundbesitzer in Italien gerade gegen diesen Paragraphen stets heftig sträuben. 4. Wenn Mitglieder wegen Krankheit oder Schwangerschaft verhindert sind zu arbeiten, so sollen sie, soweit möglich, von der Vereinscasse unterstützt werden, ebenso 1
Milano, Uffici della Critica Sociale, 1901, p. 91 ff.
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den letzten Monat vor, sowie den ersten Monat nach der Geburt eines Kindes. Die Ruhepause ist also hier länger bemessen, als in allen europäischen staatlichen Frauenschutzgesetzen, die des Canton Glarus ausgenommen! 5. Die gesunden Mitglieder sind verpflichtet, soweit es die Rücksicht auf die eigene Familie nur irgendwie gestattet, den kranken Mitgliedern bei Führung ihres Haushaltes kräftigst zur Hand zu gehen. 6. Diejenigen Mitglieder, welche mit ihrem Brotherrn in Process liegen, weil dieser die eingegangenen Verpflichtungen nicht gehalten hat, werden von der Vereinscasse unterstützt. Eine sehr wichtige Bestimmung, da bekanntlich unsere gesammte Rechtspflege schwer daran krankt, dass der Arme sich in den meisten Fällen sein Recht nicht suchen kann, weil er eben arm ist. Der Paragraph corrigirt also hier ein Recht, das sich als Classenrecht documentirt hat. 7. Die Lega wird denjenigen Mitgliedern, welche arbeitslos sind, eine geeignete Stelle verschaffen. Dieses soll dadurch erreicht werden, dass möglichst in all denjenigen Ortschaften, in denen eine Lega besteht, Uffici di Collocamento (Stellenvermittlungsbureaux) errichtet werden, welche die Rolle der Vermittler zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer übernehmen sollen. Als Ziel ist zu erreichen, dass kein Mädchen sich mehr ihrem Herrn direct verdingt, so dass letzterer gezwungen ist, alle Arbeitskräfte ohneweiters anzunehmen, die ihm durch die Uffici überwiesen werden. Da sich die meisten Gutsbesitzer auf das Hartnäckigste weigerten, diesen Paragraphen anzuerkennen, so gab er zu sehr vielen Streitigkeiten und Ausständen Anlass, doch ringt sich dieses Princip immer mehr durch. 8. Zur Verminderung, beziehungsweise Abkürzung der für das Proletariat immer mit Entbehrungen aller Art verknüpften Arbeitsausstände, verpflichtet sich die Lega auf gütliche Beilegung mittelst eines (von beiden streitigen Parteien zu gleichen Hälften gewählten) Schiedsgerichtes hinzuwirken. Auch dieser Paragraph gibt zu vielen Kämpfen Veranlassung, da sich die Gutsbesitzer in der Mehrzahl der Fälle weigern, die Leghe anzuerkennen und deshalb verlangen, mit den Frauen einzeln zu verhandeln. Doch haben sie auch in diesem Paragraphen meist nachgeben müssen. 9. Die Lega vertritt der Gemeinde, sowie den anderen Local- und Regierungsbehörden gegenüber die Interessen ihrer Mitglieder. Um die - noch immer nicht entschiedene - officielle Anerkennung dieser Leghe durch den Staat dreht sich ein guter Theil der heutigen parlamentarischen Debatten in Rom. Auf diese mehr wirthschaftlichen Bestimmungen folgen solche, welche, sich nicht mehr auf die enge Scholle beziehend, auf das politische Leben des Staates selbst einwirken sollen. Zumal fassen sie die Förderung der jetzt eben, wenn auch in nur sehr kleinem Massstabe, verwirklichten Schutzgesetzgebung fur Frauen ins Auge. 10. Die Lega verpflichtet sich, die Eingabe solcher Gesetzesentwürfe anzuregen und zu unterstützen, welche im Stande sind, der Frau denjenigen Rang zu verleihen, welche die Natur und eine vorgeschrittene Gesellschaft ihnen geben muss. 11. Ebenso will sie dafür Sorge tragen, dass die Frau in den schweren groben Arbeiten, wie z. B. in der Bewässerung und Gypsüberdüngung und dem „Ziehen" des Flachses, im Dreschen des Getreides, in der Befeuchtung der Weinstöcke, im Walzen oder
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Austreten des Reises und in der Erntearbeit, den Mann nicht noch weiter verdränge. Diese Bestimmung zielt sowohl auf eine durch Verhütung jeder dem weiblichen Organismus schädlichen Ueberanstrengung gewährleistete Besserung und Gesundung der Rasse, sowie auf die Vermeidung der die Löhne der Männer bekanntlich so schwer drückenden Schmutzconcurrenz der Frau. 12. Die Lega nimmt sich vor, auch die intellectuellen und moralischen Eigenschaften ihrer Mitglieder zu heben, indem sie Schriften und Zeitungen moralischen sowie pädagogischen Inhaltes unter sie vertheilt und fur Abhaltung populärwissenschaftlicher Vorträge Sorge trägt. - Dieser Paragraph wird auf das Genaueste befolgt, und das Steigen des weiblichen Bildungsgrades auf dem Lande ist ein geradezu enormes. Auch der früher die Regel bildende Analphabetismus nimmt stetig ab. Hiernach folgt (im Artikel 5) die Aufzählung der Pflichten der Mitglieder, d. h. derjenigen Pflichten, von denen bisher noch nicht die Rede war und die mehr allgemeiner Natur sind. Die Socie werden angehalten: 1. Sich stets um das materielle und moralische Beste ihrer Gefährtinnen zu bemühen; 2. anständig zu leben und tugendhafte und liebreiche Mütter, Frauen und Töchter zu sein und immer daran zu denken, dass die Mission der Frau eine Mission der reinen Sinnenliebe und der Nächstenliebe ist; 3. jede Religion zu achten. Im Uebrigen steht es ihnen frei, ob sie fromm sind oder nicht und welcher Confession sie sich entschliessen wollen. Also Grundsatz: Religion ist Privatsache. In den Agrargegenden Italiens, wo der Socialismus sich eingenistet hat, wüthet ein ununterbrochener Kampf des Landvolkes gegen die katholische Geistlichkeit, an welchem besonders die Frauen mit einem wahren Feuereifer theilnehmen. Folge davon ist, dass viele Mädchen - zumal im Mantovano trifft das zu - entweder zum Protestantismus übertreten oder aber jedenfalls eine unüberwindliche Scheu vor einer kirchlichen, und, da die Magistratsbeamten zumeist auch auf Seiten ihrer Gegner stehen, auch vor der bürgerlichen Trauung haben. Daher hält es die Lega fur nöthig, noch ganz besonders zu verlangen, dass 4. die Mädchen, bevor sie sich verheiraten, sich wenigstens standesamtlich trauen lassen, „um sich nicht schweren Schädigungen der Familie und der Nachkommenschaft auszusetzen, welche ja nur aus gesetzlich bekundeten Ehen erstehen dürfen". - Gleichzeitig erfüllt diese Bestimmung noch den zweiten Zweck: dem auf dem Lande grassirenden Verhältnisswesen kräftig entgegenzutreten. Wahrhaft rührend in seiner einfachen Herzensnatürlichkeit klingt der nächste Passus, der mir wie kein anderer dazu angethan zu sein scheint, der ganzen Bewegung in die tiefste Seele hineinzuschauen. 5. „Es ist den Mitgliedern zwar nicht verboten, Jemandem seine Liebe zu schenken, wohl aber lasterhaft und unehrlich zu sein. Denn die Frau soll die Mitberatherin und Gefahrtin des männlichen Herzens sein. Sie muss den ganzen Gehalt ihrer Liebe an die moralische und sociale Besserung der Familie setzen, denn diese ist das Vaterland des Herzens, dessen Schutzgeist wiederum die Frau ist. Sei sie nun Gattin oder Schwester, sie ist immer die Zärtlichkeit des Lebens und die Süßigkeit der Liebe, Trösterin im Unglück und Führerin in die Zukunft."
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6. Jedes Mitglied wird streng darauf hingewiesen, dass es nicht nur selber fremdes Gut unangetastet zu lassen hat, sondern alles daran setzen muss, dass in der Gegend überhaupt nichts gestohlen wird. Die innere Organisation, von welcher der übrige Theil der Statuten handelt, lässt sich kurz zusammenfassen. Die Lega ist in ihrer Structur naturgemäß streng demokratisch. Die Generalversammlung aller Mitglieder hat die alleinige Vollmacht. Nur sie kann eine eventuelle Statutenänderung vornehmen. Der aus fünf Frauen bestehende Ausschuss ist einer alljährlichen genauen Controle unterworfen. Abstimmung über Dinge geschieht offen durch Armaufheben, über Personen geheim durch Zettelabgabe. Die Zahlung des - meist sehr geringen - Beitrages der Mitglieder darf nicht länger als längsten zwei Monate gebucht werden. Da alle diese Bestimmungen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern mit peinlicher Genauigkeit befolgt werden, wüsste ich nicht, warum der Kampf der Landarbeiterinnen nicht Jedem - und sei er der kurzsichtigste Feind proletarischer Selbsthilfe - Sympathien abgewinnen müsste. In Italien jedenfalls stösst er sogar bei Gegnern nur auf Bewunderung. Erscheint es uns unter diesen Umständen nicht erklärlich, dass selbst eine reiche Gutsbesitzersfrau aus dem Parmesischen, Enrichetta Clerici, von der geläuterten Moral socialistischer Weltanschauung hingerissen, neulich ganz unerwartet die Partei der Arbeiterinnen ergriffen hat und nun von Dorf zu Dorf zieht, um den neuen Ideen immer neue Anhänger zu verschaffen?
Frauenstimmrecht - schon heute eine Notwendigkeit
Die Frauenstimmrechtfrage ist eine der schwierigsten theoretischen Fragen der Zeit, von deren Lösung aber ein vielleicht größerer Teil der sozialen Frage abhängt, als sich der Biertisch- wie auch der Gelehrtentisch-Philister in der Regel denken mag. Darum halte ich eine Erörterung über diese Frage für durchaus am Platze und habe auch den darauf bezüglichen Artikel1 im „Freien Wort" freudig begrüßt. Denn ich erhoffe von allem, was darüber je geschrieben wird, stets eine günstige Wirkung. Nicht, als ob ich etwa allen Ernstes glaubte, daß diese Frage in absehbarer Zeit bei uns in Deutschland einmal greifbare Gestalt annehmen und also das Gebiet der grauen Theorie verlassen könnte, aber ich bin der festen Ueberzeugung, daß jede offene Aussprache über ein Argument von so tief einschneidender Wichtigkeit uns doch einen kleinen Schritt der Lösung näher führt, zumal wenn eine solche Aussprache in einer vielgelesenen Zeitschrift mit gebildetem und obendrein modern fühlendem Lesepublikum vor sich geht. Ich sage es gleich voraus. Ich bin keineswegs der Ansicht des Autors jenes Artikels im „Freien Wort". Verständigen wir uns! Auch ich verkenne durchaus nicht die große Gefahr, die darin läge, wenn man schon der heutigen Frau, über deren politische Qualifikation oder vielmehr Nichtqualifikation ich in allen Punkten mit dem von jenem Gesagten übereinstimme, plötzlich das Stimmrecht in die Hand gäbe. Die Frau ist heute sicherlich noch zu einem weit höheren Prozentsatz als der Mann allen Einflüsterungen reaktionärer Gesinnung zugänglich. Alle Formen versteinerter Konvention, von der kirchlichen bis zur staatlichen, von der gesellschaftlichen bis zur ökonomischen, haben in ihr ihren mächtigsten Fürsprecher. Das ist zwar alles nicht inhärente Eigenschaft des Weibes an sich, sondern lediglich Schuld falscher Erziehung und geschlechtlicher wie ökonomischer Präpotenz des oft für seine eigene Person recht „freidenkenden" Mannes. Aber es ist so und man muß deshalb mit diesem Zustand der Dinge rechnen. Die Zulassung der Frau zum Stimmrecht würde für die reaktionären Parteien Deutschlands, welche wir alle, jeder auf seine Weise und mit seinem besonderen Ziel vor Augen, bekämpfen, allerdings aller Voraussicht nach zunächst nichts anderes als eine Verstärkung ihrer an und für sich schon genügend starken Position bedeuten. Was wir alle für ein Postulat einfachster Gerechtigkeit halten und was wir deshalb alle ersehnen, das Frauen1
„Das Freie Wort", 5. Novbr. 1902, Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt. Herausgeber Max Henning, Frankfurt a. M.
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stimmrecht, würde also etwas zur Folge haben, was wir befürchten, nämlich eine Stärkung des Gegners. Und wer gäbe je seinem Feinde Munition? Höchstens ein Geisteskranker oder ein Duellnarr würde so naiv sein. Und doch halte ich den Schluß, den der Autor des bewußten Artikels im „Freien Wort" aus alle diesem zieht, für falsch. Die Zulassung der Frauen würde ein Uebel sein? Sie würde manche bereits geschehene Arbeit modern gesinnter Männer wieder rückgängig machen? - Gut! Zugegeben! Aber es würde meiner Ansicht nach noch eine weitere Frage bestehen bleiben und zwar die, ob das Frauenstimmrecht ungeachtet des heutigen noch so unendlich niedrigen Kulturzustandes unserer Frauen nicht dennoch trotz aller Hemmnisse des Fortschrittes, welche es zweifellos mit sich bringen müßte, im Grunde dem Fortschritt der Menschheit nützlich sein würde. Was mich anbelangt, so glaube ich, daß die Verleihung des Stimmrechtes an die Frau sogar nicht bloß nützlich, sondern zur Erreichung demokratischer und sozialer Ziele sogar durchaus notwendig ist, selbst wenn es bereits heute erfolgen sollte. Diese meine Meinung mag nach dem, was ich kurz zuvor von den Folgen einer solchen Wahlrechtsreform gesagt habe, manchem wenig logisch zu sein scheinen, und doch ist sie nichts weniger als paradox. Entriamo nell' argomento! Das Frauenstimmrecht wird von uns allen, auch vom Verfasser des bewußten Artikels in Nr. 15 vom 5. Novbr. als ein Ziel betrachtet, auf das wir lossteuern müssen. Nur muß dieses Ziel, meint er wohl, vorläufig noch „umsteuert" werden. Es soll uns zwar ein leuchtendes Gestade sein, aber wir dürfen unseren Kiel nicht danach lenken. Kurz, man darf nicht ohne reservatio mentalis daran denken. Das Ziel bleibt für die Zukunft aufgespart. Nun ist es aber mit dem Aufsparen als theoretisch für wünschenswert, aber praktisch für gefahrlich erachteter Reformen so ein Ding. Sie schlafen stets im allgemeinen Dormatojo „guter Wünsche" ein und man tut nichts oder wenig, sie aus diesem Schlafe zu erwecken. Jetzt ist die betreffende Klasse, die betreffende Rasse oder das betreffende Geschlecht, welches aus moralischer oder ökonomischer Tyrannei befreit werden soll, wirklich oder vermeintlich „noch nicht r e i f , aber diejenigen, die auf diesem Standpunkte stehen, sie für noch nicht reif zu halten, tun in der Regel nichts, um die betreffende Menschenkategorie allmählich reif zu machen, und so bleibt diese denn ewig im Stadium der Unreife. Wenden wir dieses Axiom meiner historischen Philosophie auf den konkreten Fall des Frauenwahlrechts an, so sehen wir, daß die Frauen zwar tatsächlich noch nicht reif sind, aber daß sie, falls man das Stimmrecht für die Gegenwart noch als nicht wünschenswert erachtet, auch niemals, oder doch wohl höchstens erst zu Zeiten unserer Urenkel reif sein werden. Darum stehe ich nicht an zu erklären, daß ich der felsenfesten Ueberzeugung bin, daß die Verleihung des Wahlrechts an die Frauen die Menschheit in ihrer Entwicklung nicht rückwärts, sondern nur vorwärts bringen, und daß, je eher dieser Zeitpunkt erfolgt, desto eher auch die Demokratisierung der Massen vor sich gehen wird. Denn - und das ist meiner Ansicht nach der springende Punkt und das entscheidende Faktum in dieser ganzen Frage - die Frau ist heutzutage noch zu rechtlos, um sich ohne jegliche Hilfe selbst befreien zu können, und die Männer — werden sich erst dann ernsthaft bemühen, die Frauen aus ihrem jahrhundertelangen Schlafe zu
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entreißen und sie den modernen Ideen zugänglich zu machen, wenn die Frauen das Stimmrecht in Händen haben. Erst wenn die Männer sehen, daß die Frauen eine Macht besitzen, mit welcher sie ihnen und ihren Idealen Schaden tun können, erst dann werden sie auch unter ihnen die Propaganda machen, die sie heutzutage nur unter ihren Geschlechtsgenossen zu treiben pflegen. Die politisch rechtlose Frau ist dem Manne nicht viel anderes als ein Objekt instinktiver Bedrückung, nicht wert, erzogen zu werden, nicht wert, Kameradin, Mitkämpferin zu sein, die wahlrechtsfähige Frau wird dem Manne aber etwas bieten können, was sie seiner aufklärenden Arbeit wert macht. Die rechtlose Frau von heute wird stets dem Pfaffen gehorchen, dem Kapital dienstbar sein und den Junker vergöttern, auch wenn ihr Mann, ihr Bruder, ihr Sohn immer mehr zu freien Menschen werden. Die wahlrechtsfähige Frau von morgen aber wird, mitten in den Kampf moderner Weltanschauungen hineingerissen, ein Streitapfel aller Parteien, sehr bald zu einem sehr großen Prozentsatz verlernen, ein Hort überlebter Reaktion zu sein. Sicherlich wird der Kampf in seinem allerersten Stadium unseren Wünschen nicht ganz entsprechen, sicherlich wird zunächst Klerikertum und Junkertum dabei gewinnen, aber diese Gefahr würde auch bleiben, wenn die Frau selbst erst nach zwei bis dreihundert Jahren das Stimmrecht erhielte. Das feige Aufsparen einer Kampfesperiode aber, die doch nicht umgangen werden kann und doch einmal kommen muß, ist unwürdig. Und außerdem gibt es für den Schwarzseher noch eine große Beruhigung. Die große Masse der proletarischen und wohl auch einen großen Teil der kleinbürgerlichen Frauen - also ein gutes Dreiviertel der gesamten Frauenwelt! - wird allein das materielle Bedürfnis dazu nötigen, keinem reaktionären Kandidaten, und träte er selbst in Apostelform auf, die Stimme zu geben. Das Klassenbewußtsein ist gerade in diesen Kreisen stark erwacht und verlangt gebieterisch - nicht nach einem feinen Souper im Himmel! - sondern nach einem Stückchen Brot auf Erden. Noch einmal! Das Frauenstimmrecht würde schon jetzt von größter Nützlichkeit fur die Zwecke moderner Weltanschauung sein. Ohne das Frauenstimmrecht ist aber der Traum einer Emanzipation der Frau überhaupt nicht zu verwirklichen.
Monarchie oder Republik?
Es ist in neulichen Parteidebatten viel von einem angeblichen republikanischen Vorurtheil die Rede gewesen. Der Ausdruck ist nicht deutsch, er ist Einfuhr aus dem Auslande. So viel ich weiß, stammt er aus Italien. Als in den Kämpfen der beiden Parteirichtungen der Führer der „Radikalen", Genösse Professor Arturo Labriola, der jeder Staatsform gegenüber neutralen Politik des „revisionistisch" gesinnten Genossen Filippo Turati heftig angriff und die Nothwendigkeit einer offen ausgesprochenen und ... bethätigten republikanischen Politik der sozialistischen Partei betonte, erwiderte ihm Turati auf dem Parteitage von Imola mit den Worten: „Eine solche Politik würde nichts Anderes bedeuten, als uns den Weg für den Fortschritt unserer Partei in Italien durch ein republikanisches Vorurtheil zu versperren." Nun aber dient derselbe Ausdruck von „republikanischem Vorurtheil", mit welchem in Italien der Revisionismus den Radikalismus der Lächerlichkeit preiszugeben versucht hatte, neuerdings in Deutschland dem Genossen Kautsky als Keule gegen anders denkende deutsche Genossen, die übrigens das Kautsky'sche „Vorurtheil" nicht einmal besitzen. Es ist aber politisch sehr unangebracht, den Sprachschatz der deutschen Sozialdemokratie um das Schlagwort vom „republikanischen Aberglauben" zu bereichern. Einmal versteht die Masse dieses Schlagwort nicht in der gekünstelten Auslegung, bei der es den Glauben an die höhere Arbeiterfreundlichkeit der Bourgeoisie im republikanischen System bedeuten soll, sondern seinem natürlichen Inhalte nach; republikanischer Aberglauben wird so verstanden, als wenn das republikanische Ideal ein Aberglauben wäre. Dann aber haben wir auch fachlich alle Ursache, uns vor Wegen zu hüten, die uns neuerdings von der wichtigen Frage abführen. Schon heute herrscht in unserer Partei über die Republik in der Regel Schweigen. Daran ändert auch nichts, daß der oder jener aus unseren Reihen in großen Momenten die Republik der Zukunft seiner platonischen Liebe versichert. Wo und wann ist zu unserer Zeit von sozialdemokratischer Seite aus eine Versammlung abgehalten worden, auf deren Tagesordnung ein Vortrag über die Vortheile der Republik vor der Monarchie gestanden hätte? Und man wird doch wohl kaum behaupten wollen, daß das Thema zu wenig aktuell sei, weniger aktuell, als etwa das des seiner Verwirklichung sicher noch weiter entfernten Achtstundentages? Es wird bei uns viel zu wenig Werth gelegt auf die republikanische Agitation, ein Fehler, der wohl zur Hälfte einer gewissen Parteibequemlichkeit, zur anderen Hälfte aber ... eben unseren monarchistischen Einrichtungen mit ihrem Kautschukparagraphen der Majestätsbeleidigung usw. zuzuschreiben ist.
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Was unseren Zielen eine Republik werth sein würde, speziell in Deutschland, oder was dementsprechend die Monarchie den herrschenden Klassen werth ist, gerade in Deutschland, darüber sollte uns die Haltung unserer Gegner, an deren Klarheit in Fragen der Staatsform kein Zweifel aufkommen kann, belehren. Die Bourgeoisie hat ein so feines Gefühl für das, was ihrer Herrschaft am zuträglichsten, also der aufstrebenden Arbeiterschaft am nachträglichsten ist, daß von ihren sämmtlichen Parteien, von den Konservativen Ostelbien bis zu den Nationalsozialen seligen Angedenkens und den Frankfurt-Demokraten, keine einzige auch nur republikanische „Anwandlung" hat. Sie sind alle monarchistisch vom Scheitel bis zur Sohle. Gewiß wird heute noch die sozialdemokratische Partei von Justiz und Polizei gehudelt und gebüttelt. Aber es ist wohl kein Zweifel: sollte sich in Deutschland jemals eine ausgesprochen und energisch republikanische Partei bilden - und sie könnte in ihrem wirtschaftlichen Programm noch so gutbürgerlich sein - , Justiz und Polizei würden sie noch sehr viel schärfer behandeln, als zur Zeit uns. Der Angriff auf das Gottesgnadenthum gilt der deutschen Bourgeoisie als verdammenswerther, wie der Angriff auf das Privateigenthum. Das bedeutet nicht, daß der Bourgeoisie das „Ideal" der Monarchie höher stände, als die „Materie" des Mammons. Aber das bedeutet, daß sie sich sehr wohl bewußt ist, daß die „Materie" des Mammons ihr durch nichts sicherer garantirt zu werden vermag, als durch Aufrechterhaltung des „Ideals" der Monarchie. In der im Vorwärts anläßlich der Amsterdamer Debatten entstandenen Polemik über den Werth von Monarchie und Republik für die politisch organisirte Arbeiterklasse hat es sich zum Theil darum gedreht, den Nachweis zu führen, welche von beiden Systemen (es ist hier natürlich nur vor der sog. „bürgerlichen Republik" die Rede) den Kämpfen des Proletariats brutaler gegenübertrete. Kautsky hat Stoff angefahren zum Beweis dafür, daß die Monarchie in vielen Dingen dem Proletariat und seinen Wünschen weiter entgegenkäme, als die den bürgerlichen Klassencharakter nackter zur Schau tragende bürgerliche Republik. K. E.* im Vorwärts ist umgekehrter Meinung. Soweit ist das ein Streit um des Kaisers Bart. Das mehr oder weniger große Entgegenkommen, oder, negativ ausgedrückt, der Grad der Brutalität in der Bekämpfung des Proletariats, den die einzelnen bourgeoisen Regierungen für richtig halten, hängen überhaupt nicht von der Staatsform ab. Versuche, die Aktion des Proletariats durch Bewilligung von Schutzgesetzen zu lähmen, oder durch Heranziehung von Führern zur „Antheilnahme an der Macht" prinzipiell zu korrumpiren, sind von monarchischen Regierungen ebenso gut gemacht worden, als von republikanischen, und auch in streikende Arbeitermassen geschossen und durch Ausnahmegesetze zu wirken versucht haben beide. Die jedesmalige Stellungnahme der Regierungen gegenüber den sozialistischen Parteien ihrer Länder hängt - wenn sie sich überhaupt in Gesetze bringen läßt - höchstens von dem Grade der Macht ab, den die Arbeiterschaft in ihnen erlangt hat, nicht von der Staatsform. Der Werth der Republik für eine sozialistische Arbeiterpartei liegt tiefer und erschöpft sich nicht darin, daß in ihr „der Klassengegensatz zwischen Proletariat und *
Vermutlich Kurt Eisner, von 1899 bis 1905 Redakteur des sozialdemokratischen Parteiorgans „Vorwärts"
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Bourgeoisie am schärfsten und am klarsten zum Ausdruck kommt". Es thut noth, einmal an all' Dasjenige zu erinnern, was die Republik - auch die blaueste - vor der Monarchie voraus hat. Zunächst viel Negatives, das Fehlen erblicher Privilegien in der Politik, des Gottesgnadenthums mit seinem Majestätsbeleidigungsparagraphen, der Unkosten der prinzlichen Unterhaltung aller Familienmitglieder des Staatsoberhauptes durch das Volk usw. Aber auch viel Positives: Ministerverantwortlichkeit, allgemeines, gleiches Wahlrecht, Preßfreiheit usw. Ein Grundunterschied zwischen Monarchie und Republik besteht aber in der staatsrechtlichen Thatsache, daß während der Volkswille in der Monarchie nur dann zum Ausdruck kommen kann, wenn er zufällig mit dem Willen des Dynasten zusammenfallt - jedes Gesetz in Deutschland bedarf der Zustimmung des Bundesraths und der Unterschrift des Kaisers! - , in der Republik sämmtliche Beamte vom Volke selbst wähl- und absetzbar sind und die von der Volksvertretung genehmigten Gesetze zur Rechtskraft keiner Bestätigung mehr bedürfen. Sind in einer Monarchie ungesunde Verhältnisse, so kann das die Schuld des werkthätigen Volkes mit sein. Es kann aber auch die Schuld der Monarchie allein sein, der das Recht zusteht, den Wünschen des Volkes die Gewährung zu versagen und so die Entwicklung hintanzuhalten. In der Republik sind die ungesunden Verhältnisse stets auf die Unreife der großen Masse der Bevölkerung selber zurückzufuhren, da sie alle gesetzlichen Mittel in der Hand hat, um die ihr nicht genehmen Zustände und Persönlichkeiten zu entfernen. Je mehr die deutsche Sozialdemokratie praktisch arbeiten wird, desto mehr wird sie diesen Unterschied erfassen müssen, desto mehr wird sie die Forderung einer - und sei es noch so blauen - Republik als eine aktuelle empfinden. Wir müssen den „republikanischen Aberglauben" im Wortsinn verlieren und den Glauben an die Republik an seine Stelle setzen!
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Eine glückliche Zeit hat sich gerade jetzt nach allem Vorstehenden Genösse Frohme für die Veröffentlichung eines neuen Buches gewählt. Aus seiner Feder ist soeben erschienen: Monarchie oder Republik? Kulturgeschichtliche Streifzüge (Hamburg 1904, Verlag von Auer & Co., XII und 323 Seiten). Durch den Untertitel hat Frohme allerdings selbst schon angedeutet, daß er keine grundsätzliche Auseinandersetzung in allen einschlagenden Fragen vom Standpunkte der materialistischen Geschichtsauffassung aus in seinem Buche beabsichtigt. Er macht nur „kulturgeschichtliche Streifzüge", auf denen er Alles sammelt und ordnet, was in der neueren Geschichte über und um das Königthum an Legenden einerseits, und an beißender Kritik andererseits gehäuft worden ist. In gefälliger Darstellung und unter außerordentlich fleißiger Benutzung namentlich der bürgerlichen Literatur fuhrt er uns vom Ursprung des Königsthums zur Kritik der Erbmonarchie und des Gottesgnadenthums, wobei sich Gelegenheit findet, die schlau berechnete Rolle sehr hübsch zu zeichnen; welche die Kirche mit ihrer angeblich treuen Unterstützung der Dynastien seit Jahren auf Kosten der Völker spielt. Für die Agitation finden sich hier alle nur wünschenswerthen Daten aus dem Doppelspiel der
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Pfaffen mit Monarchie und Republik zusammengetragen. Dann stellt Frohme die monarchischen und antimonarchischen Theorien der humanistischen Gelehrsamkeit zusammen, behandelt die Lehre vom Tyrannenmord bis auf die Neuzeit, bis zur serbischen Episode herunter, rollt die Kämpfe zwischen dem Absolutismus seit Ludwig XIV. und dem Konstitutionalismus seit der englischen Revolution auf, die er in kritischen Betrachtungen der Geschichte der Hohenzollerndynastie (namentlich auch mit Benutzung des durch Bismarck konfiszirten Tagebuches von Kaiser Friedrich) ausgehen läßt, und behandelt zum Schluß das soziale Königthum in vier interessanten Abschnitten, um hier nunmehr auch zu dem grundsätzlichen Nachweis zu gelangen, daß die Klassengegensätze und die Klassenkämpfe heute das der Staatsform Uebergeordnete geworden sind, und daß der Austrag der großen sozialen Auseinandersetzungen unserer Zeit zur demokratisch-republikanischen Verfassung fuhren muß. Schließen wir die Empfehlung des für unsere Genossen an den kommenden Winterabenden sehr nützlichen Lesebuches, für das wirklich ein praktisches Bedürfnis vorhanden war, mit dem trefflichen Satze des Verfassers: „Aus den Unterlassungs- und Begehungssünden, deren die Bourgeoisrepubliken sich stets schuldig gemacht haben und immer noch schuldig machen, läßt sich vernünftiger Weise nicht folgern, daß die unerläßliche Vorbedingung für Sozialreform ein monarchisches Regiment ist. ... Wie in Monarchien, so kommt es auch in Republiken nur darauf an, daß die Arbeiterklasse ein politischer Machtfaktor wird, um entscheidenden Einfluß auf Gesetzgebung und Verwaltung zu gewinnen und so das zu erreichen, was vergeblich nur vom „persönlichen Gewissen der Monarchie" erwartet werden kann." Es wird das Verdienst des Frohme'schen Buches bleiben, zum ersten Male in unserer populären Belehrungsliteratur für die lange vernachlässigte Beschäftigung der großen Masse unserer Genossen mit diesen Lebensproblemen unserer Bewegung gesorgt zu haben.
Landleute, Kinder und Frauen in Süditalien
Der bekannte italienische Kriminalist, Professor Alfredo Niceforo, hat vor einigen Jahren ein Buch geschrieben, dessen Titel allein schon, wie man zu sagen pflegt, Bände spricht: „L'Italia barbara contemporanen, studi ed appunti sull'Italia del Sud." Und es ist richtig, eine ganze Welt scheidet Nord- und Süditalien voneinander. In mehr als einer Beziehung befindet sich Süditalien auf einer durchaus barbarischen Vorstufe. Der ganze Süden der Appeninen-Halbinsel, in welchem sich nach der Hyperbel Enrico Ferris nur wenige Oasen guter Menschen in einer Wüste von Korruption befinden, und welcher nicht nur in der Kultur des Geistes, sondern auch in der des Bodens unendlich weit hinter dem Norden zurücksteht, ist von den Mikroben des Sozialismus - gleichzeitig auch fast von jedem die Schaffenskraft stärkenden Gefühl der Selbstverantwortlichkeit und der Selbsthilfe weit entfernt. Hier überall lastet auf dem Bauern wie auf dem Städter noch schier unüberwindlicher Druck. Ueber das Elend der Ackerbauern in Sizilien hat uns Pasqual Villari1 schon vor einer Reihe von Jahren viel Trauriges zu berichten gewusst. Die Hungerrevolte im Jahre 1893, die sogenannten Fasci, haben gezeigt, wie schutzlos das ländliche Proletariat dort den Zufälligkeiten der Jahre, sowie den Launen der Latifondisti gegenübersteht. 2 Selbst ein Mann wie der bekannte konservative Politiker Baron Sidney Sonnino glaube bezüglich Siziliens die Forderung aufstellen zu müssen, dass die Zunahme des Vermögens, welche, in der Form der Bodenrente, ganz und gar in die Taschen der Gutsbesitzer flösse, auch den allgemeinen Verhältnissen des Arbeiters zugute käme! 3 Nicht viel besser liegen die Dinge in den südlichen Provinzen des Festlandes. Nach der Einverleibung des Königreiches Neapel in das geeinte Italien 1860 ist die Lage der dortigen Bauern um nichts besser geworden. Der vom Kriegszehnten befreite Grossgrundbesitz ist zwar durch die Crispischen protektionistischen Tarife von 1887 wieder schwer geschädigt, hat aber durch die Kornzölle einen mehr als reichlichen Kompens erhalten. Das ländliche Proletariat hingegen bekam nichts, um seine Lage aufzubessern.
1
Pasquale Villari, „Le Lettere Meridionali ed Altri Scritti sulla Questione Sociale in Italia", Roma, Torino, Firenze 1885, p. 26 ff.
2
s. Napoleone Colajanni, „Gli Avvenimenti in Sicilia e le loro Causo", 2. ediz. Milano, Palermo,
3
Sidney Sonnino c. L. Franchetti, „La Sicilia nel 1876", Firenze 77, p. 128.
1897.
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Landleute, Kinder und Frauen in Süditalien
Es musste zusehen, wie Garibaldi, der Volksfreund, sich vergeblich bemühte, die einzogenen Kirchengüter unter die nichts Besitzenden verteilen zu lassen. Dafür stiegen die Steuern, direkte sowie indirekte, ins Ungeheure. Ein Wahlsystem, wie es ungerechter nicht gedacht werden kann, zumal wenn man bedenkt, dass in Süditalien fast 80 Perz. der Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann, vollendet dadurch, dass es die Analphabeten vom aktiven und passiven Wahlrecht ausschliesst, die gänzliche Machtlosigkeit des südlichen Proletariats. Nicht zu Unrecht hat man gesagt, dass eine einzige demokratische Wahl im Norden 4 reaktionären Wahlen in Süditalien an Wert gleichstände. Zum Beweis ein Beispiel: Der sozialistische Abgeordnete Rigola in Biella bedurfte, um gewählt zu werden, 2 965 Stimmen, der konservative Ungaro kam im zweiten Wahlkreis von Neapel mit nur 800 Stimmen durch.4 Auf einer die letzten Wahlen veranschaulichenden Karte des gesamten Königreichs sehen wir den ganzen Süden mit Ausnahme der beiden Calabrien und Sizilien weiss gelassen.5 Es ist dies das grosse Reservoir ministerieller Mehrheiten. Das traurigste Bild bietet Apulien. Dort leiden selbst die oberen Stände Not, und es ist gar nicht abzusehen, wie das noch enden soll. Arbeitsausstände gehören zu den Seltenheiten, Arbeitslosigkeit und Hungerevolten sind an der Tagesordnung. Die königlichen Kommissäre, die alle halbe Jahre einmal zur Inspizierung in jene entlegenen Provinzen entsandt werden, tun ihre Pflicht offenbar nur in sehr ungenügendem Masse.6 Hier wie in dem naheliegenden Basilicata grassiert auserdem noch die entsetzlichste Kinderausbeutung. Knaben von 8 bis 13 Jahren verrichten den Dienst der Hausmädchen. Sie erhalten dafür keinen Lohn. Man glaubt ihre Arbeit mit Kleidung und Nahrung genug bezahlt, und dabei bekommen sie noch mehr Prügel wie Essen. Auf das geringste Versehen folgt die härteste Strafe. Diese armen Servitorini gehören zu der nomadischen und anonymen Masse der Elternlosen. Kaum dem Findelhause entwachsen, werden sie von gewissenlosen Weibern angenommen, die sie nach kurzer Zeit fur Geld und Geldeswert an die Grundbesitzer vermieten. Unendlich viele dieser Waren in Menschengestalt gehen in ihrem harten Dienst elendiglich zu Grunde. Der Rest stellt einen hohen Prozentsatz zu dem Delinquententum aller Art.7 Nicht viel besser steht es in Calabrien, wo kaum ein Bauerngut ohne Hypothekenlast ist, wo man schon des öfteren die Obstbäume niedergeschlagen und verkauft hat, nur um überhaupt Geld zum Leben zu bekommen.8 Wir haben nur in ganz kurzen, summarischen Strichen gezeigt, wie unendlich gross das Elend der Landbevölkerung in Süditalien ist. Wenn auch Anzeichen vorzuliegen scheinen, welche darauf hinweisen dürften, dass für den vielbesprochenen Mezzogiorno die Stunde des Erwachens bald schlagen wird - wir brauchen nur an das Reinigungs-
4 5 6 7 8
Rerum Scriptor, „La Questione Meridionale e il Federalismo", Milano 1900, p. 27 ff. Augusto Torresio, „I Partiti d'Italia", in der „Riforma Sociale", August 1900. Man lese hierüber die geistreiche Satire von Goliardo, „L'Inchiesta in Puglia", in „L'Asino", anno X, No. 5. Francesco Ciccotti, „La Vita del Mezzogiarno, Piccoli Martiri", im „Avanti!" vom 19. Oktober 1900. Giuseppe Mantica, „Si provveda alle Calabrie", in der „Tribuna", vom 9. Mai 1901.
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werk zu denken, welches die Zeitung „La Propaganda" und der Professor Ettore Ciccotti an dem Augiasstall Neapels vor nicht allzu langer Zeit vorgenommen haben so ist doch bis jetzt nur ein ganz minimaler Teil von Arbeit vollbracht. Das süditalienische Proletariat entbehrt dort zum grössten Teil noch gänzlich der beruflichen Organisation, welche es zur Erlangung eines gewissen Selbstbestimmungsrechtes so notwendig bedarf. In einem kulturell so zurückgebliebenen Lande ist es kaum anders denkbar, als dass die Frau, wie es ja auch tatsächlich der Fall ist, eine in jeder Beziehung untergeordnete Rolle spielt. In Provinzen, wo sich nicht einmal die Männer beruflich zusammenzuschließen vermögen, da wird es fur die Frau fast ein Ding der Unmöglichkeit sein, sich ihrer Haut selbst zu wehren. Dazu kommt noch die in Süditalien so stark ausgeprägte, fast sklavische Unterordnung des weiblichen Geschlechtes unter das männliche. In einem Lande, in welchem der grundlos oder mit Recht eifersüchtige Mann seiner Geliebten, so wie es in Neapel alle Tage vorkommt, einfach einen als entehrende Strafe angesehenen Messerschnitt quer über die Backe beibringen darf, in einem Lande, in welchem die Frau in orientalischer Abgeschlossenheit vor den Freunden des Mannes gehalten wird, da ist ein freier Verkehr und ein kameradschaftliches Gefühl, so wie sie in den Camere di Lavoro gepflegt werden von vornherein unmöglich. Jede Betrachtung der durch die Einrichtung der Camere di Lavoro geschaffenen Zustände kann sich also vorderhand - im ganzen nur auf Norditalien und allenfalls noch auf gewisse Teile Mittelitaliens beziehen, denn die süditalienische Frau ist nicht allein Italienerin, sondern Orientalin.
[Entstehen der sozialen Frage]
Wer immer in Landen deutscher Zunge täglich seine Zeitung liest und deshalb ohne weiteres annimmt, er beschäftige sich mit innerer Politik, spricht oft und gern von der „sozialen Frage der Zeit", trotzdem er vielfach nicht einmal ahnt, was unter dieser Spitzmarke verstanden werden könnte. Aber selbst ein Teil der wenigen, welche mit dem vielgenannten Worte einen gewissen Begriff verbinden, bestreitet der Frage als solcher kühn jede Existenzberechtigung. Wieder andere, zwar nicht eigentlich der wissenschaftlichen Welt, wohl aber den oberen Klassen, der sogenannten besseren Gesellschaft angehörig, meinen eine Lösung der Frage, die sie im übrigen anerkennen, dadurch zu erleichtern, daß sie sie als einfache „Magenfrage" bezeichnen. Die Verneiner der Existenzberechtigung der sozialen Frage müssen unberührt an alledem, was Geist und Herz bewegt, vorbeigegangen sein, oder, noch schlimmer, aus Furcht, sich durch schwierige Erörterungen die Gemächlichkeit des Lebens zu zerstören, oder vielleicht auch in dem freilich nicht berechtigten Glauben, durch Ignorieren müsse die ganze Frage von selbst zerfließen, sie wissentlich achtlos abseits liegen lassen. Es ist für jeden, dem der Fortschritt menschlichen Intellektes am Herzen liegt, ein trauriger Anblick zu sehen, ein wie großer Bestandteil gerade der gebildeten Stände den wichtigsten Zeitfragen gegenübersteht, als ob sie ihn nichts angingen. Es ist das genau derselbe kindlich-kindische Egoismus und genau dieselbe Unfähigkeit, sich in die Lage anderer zu versetzen, die aus den Worten jener sagenhaften Prinzessin sprechen, welche, nachdem man ihr auf ihre Frage, warum nur das Volk vor den Toren des elterlichen Palastes lauere, geantwortet hatte, die armen Leute litten Hunger, weil sie kein Brot hätten, voll Erstaunen ausrief: Aber wenn sie kein Brot haben, warum essen sie dann nicht Kuchen? Diejenigen Verächter der „sozialen Frage" jedoch, welche sie mit dem Schlagwort Magenfrage zu verkleinern und wohl auch lächerlich zu machen gedenken, übersehen in ihrem persönlichen, unhistorischen Materialismus völlig die Entstehungsursachen der modernen Erscheinungen überhaupt. Denn neben der materiellen Seite, wohl abhängig von ihr, aber deshalb von nicht weniger offenbarer Wichtigkeit, liegt die moralisch-kulturelle Seite des Problems. Eine sogenannte soziale Frage entsteht, sobald sich in einem Staate, einem Volke, einer Klasse die dem obwaltenden sozialen Zustand entsprechenden Ansprüche auf Befriedigung körperlicher wie geistiger, materieller wie ideeller Bedürfnisse, sich in
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einem Mißverhältnis zu den hierfür gebotenen Befriedigungsmitteln befinden, vorausgesetzt, daß diese Befriedigungsmittel nicht etwa Imponderabilien der Natur, sondern bereits in Händen eines bestimmten Volkes, einer Klasse, eines Geschlechts usw., also greifbar vorhanden sind. Der Gegensatz von Wunsch und Erfüllung läßt ein Mißvergnügen, eine Gärung entstehen und, da die Mißvergnügten ihre Lage naturgemäß mit der ihrer mehr begünstigten Nachbarn vergleichen, so wird sich leicht persönliche Gehässigkeit bemerkbar machen, wenn von seiten der Intelligenteren unter den Benachteiligten nicht stets von neuem darauf hingewiesen wird, daß man für eine Änderung der gesamten Zustände kämpfen müsse, anstatt subjektiv die Gegner zu hassen. Dieses Bewußtsein sozialer, nationaler und ökonomischer Verunrechtung ist erst in neuerer Zeit entstanden oder doch wenigstens erst in neuerer Zeit in weite Massen hineingetragen worden. Es ist deshalb im historischen Sinne nicht unrichtig, wenn man behauptet, die Gegensätze zwischen den einzelnen Klassen, Rassen und Geschlechtern hätten sich zugespitzt und spitzten sich mit dem Fortschreiten der verschiedenen Bewegungen immer weiter zu. Die Sklaven des Altertums, die hörigen Bauern des Mittelalters waren - und die Parias in Indien sowie die Fellahs in Ägypten sind noch heute - von den herrschenden Klassen durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt. Keine Möglichkeit vielfach selbst für ein einzelnes Individuum, sich in eine andere Kaste emporzuarbeiten. Selbst eine eheliche Verbindung zwischen Angehörigen zweier verschiedener Kasten war zumeist ausgeschlossen. Ebenso scharf umrissen war ehemals auch die Scheidung zwischen den beiden Geschlechtern in ihrer eherechtlichen und öffentlich-rechtlichen Schätzung und Stellung. Das Weib des Altertums und noch weit mehr das Weib des Mittelalters und auch derjenigen neuzeitlichen Länder, in denen das Mittelalter immer noch andauert, ist nichts anderes als ein warenhaftes Besitzstück des Mannes. Die Gegensätze zwischen Hoch und Niedrig, Arm und Reich, Mann und Weib waren, und sind bei stehengebliebenen Völkern noch heute, gewiß ungleich ausgeprägter als bei den Kulturvölkern Europas. Dennoch gab es, weder im Altertum und Mittelalter, noch gibt es heutzutage in Indien, Ägypten oder China, eine fortgeschrittene „soziale Frage". Der Schlüssel zur Lösung dieses anscheinenden Rätsels liegt in folgendem: Die unterdrückten Klassen, Rassen, Geschlechter usw. waren sich zwar auch früher des starken Unterschiedes, der zwischen ihnen und den herrschenden Klassen usw. bestand, bewußt, aber sie faßten diesen Zustand als etwas natürlich Gegebenes, „Gottgewolltes" auf. Erst wenn eine Masse aufgeklärt ist und ihren Zustand als eine Unterdrückung, ein Unrecht empfindet, und sich überdies darüber klar wird, dass es nichts oder doch wenigstens fast nichts Gegebenes und Gottgewolltes gibt, sondern daß alles Menschenwerk ist und wieder beiseite geschoben oder in wichtigen Bestandteilen geändert werden kann, erst dann entsteht aus der Verschiedenheit ein Gegensatz, das heißt eine soziale Frage. Die zahlreichen Einzelfragen nun, aus denen die sogenannte soziale Frage zusammengesetzt ist, erscheinen, wenn sie auch untereinander auf das innigste zusammenhängen, nach Ursprung, Äußerung und Zielen dennoch so verschieden, daß man eigentlich nicht von einer sozialen Frage, sondern nur von sozialen Fragen reden müßte, zumal da, auch wenn wir unsere Betrachtung nur auf Europa beschränken, die einzelnen
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Länder, wenn auch keines von ihnen davon verschont geblieben ist, so doch keineswegs die gleichen sozialen Fragen aufweisen, und auch die Bedeutung derselben fur die arischen Länder eine sehr verschiedenartige ist, je nach der historischen, sozialen, politischen und ökonomischen Entwicklung jedes einzelnen Volkes. Aber ein Phänomen ist allen Bewegungen für eine gerechtere Lösung der strittigen sozialen Fragen eigen: sie entstammen keineswegs der Hefe der betreffenden Klassen, Rassen und Geschlechter, sondern gehen stets zuerst von der privilegierten Klasse usw. angehörigen Idealisten aus, um dann von der Elite der benachteiligten Klassen aufgenommen zu werden. Diese letztere erlangt das Bewußtsein, daß sie bzw. die Klassen usw., welche sie vertritt, von der sogenannten Ordnung der Dinge, d. h. von den Menschen und Zuständen, von denen diese abhängt, unterdrückt wird, und deshalb zieht sie in den Streit. Daß dieses Gefühl der drückenden Lage beim weiblichen Geschlecht von einem zwar quantitativ kleinen, qualitativ aber auf das höchste einzuschätzenden Bestandteil der Frauen stark empfunden wird, darin besteht unseres Erachtens einer der wesentlichsten Fortschritte der neuesten Zeitepoche. Die Frauenfrage, historisch begründet, sozial, intellektuell und ökonomisch empfunden, ist kein Märchen zum Zeitvertreib für einige um ihr Gleichgewicht gekommene Weiber, sondern ein sehr ernstes Problem, das zu seiner Lösung die Arbeit der Besten einfordert. Heute befinden wir uns, trotz Eroberung mehrerer akademischer Fakultäten und einiger Wahlrechte durch die Frauen, erst am Anfang der Lösung. Noch fehlt in weitesten Kreisen der Frauen jene Empfindung des Unrechtes, die, wie wir sahen, die Entstehung einer sozialen Frage überhaupt erst einleitet. Allerdings nicht nur in weitesten Kreisen der Frauen.
Die Grenzen der Brautstandsmoral
Die landläufige Moral verlangt v o n den Brautleuten den Verzicht auf ihr Geschlecht und stempelt sie, in der ekstatischen Zeit der heißesten Liebe, zu geschlechtslosen Wesen. Das Grundprinzip der Brautstandsmoral ist die Enthaltung v o m Geschlechtsgenuß. Braut und Bräutigam dürfen um keinen Preis in sexuelle Beziehungen zueinander treten. U m sie daran zu verhindern, wird in den meisten Ländern ein wahres Spionagesystem in Anwendung gebracht; überall gilt die Übertretung des Gebotes für verwerflich. Anständige bürgerliche Familien halten sich fur entehrt auch dann, wenn die Tochter v o m Bräutigam-Vater noch rechtzeitig geheiratet wird, d. h. das erscheinende Kind, wenngleich es nicht in der Ehe empfangen ist, standesamtlich als eheliches gebucht werden kann. 1 Eine solche Auffassung ist unsittlich, um so mehr als die mit ihr verbundenen Gebräuchen, die ich anderen Ortes ausführlicher beschrieben habe, die Ungeschlechtlichkeit des bräutlichen Lebens als innerlich widersinnig erscheinen lassen. 2 Sie ist es
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Vgl. p. 28. In meiner Broschüre Brautstandsmoral (Leipzig 1906, Magazinverlag), auf die hiermit ausdrücklich verwiesen sei, finden sich folgende Ausführungen: Die Eltern des jungen Mädchens, das zu verheiraten ist, setzen einen Tag fest, an dem die Hochzeit, das heißt das Fest stattfinden soll, nach dessen Beendigung die jungen Leute der Brautstandsmoral ledig sind. Dieser Tag kann auf jedes beliebige Datum fallen. Jedenfalls aber wird er so bestimmt werden, daß das junge Mädchen fähig ist, die sexuellen Pflichten ihrem angetrauten Manne gegenüber erfüllen zu können; gerade herausgesagt: der Tag darf nicht in die Menstruationsperiode fallen. Um dessen ganz sicher zu sein, fragt die vorsorgliche Mutter darob bei ihrer Tochter persönlich an. Also: während die Keuschheit der Braut über alles gesetzt wird, schont man sie dennoch so wenig, daß man sich nach dem Tage erkundigt, an dem sie imstande ist, sie verlieren zu können. Ist die Gefahr, dem jungen Ehemann seine Frau nicht zum Sinnengenuß bereit zu überliefern, glücklich umgangen, so beginnen allmählich die Vorbereitungen zu dem „Freudenfest", das natürlich orbi et urbi bekanntgegeben werden muß. Es wird eine Gesellschaft geladen, Verwandte, Freunde, Bekannte, oft selbst Freunde von Bekannten, Bekannte von Bekannten, und sonstige dem jungen Paar Wildfremde. Inzwischen arbeitet man krampfhaft an der Ausstattung der jungen Frau. Wenn der Bräutigam in dieser Zeit seine Braut besucht, findet er sie hinter einem Berg von weißer Leinwand, feinen Spitzen und bunten Stoffen versteckt. Er hat den ganzen mysteriösen Apparat
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aber ganz besonders, weil sie zur Voraussetzung die Einrichtung der Brautnacht hat. Es sei mir gestattet, mich an dieser Stelle auf einige der bereits erwähnten Quelle entnommene eigene Darlegungen aus früheren Jahren zu stützen: Die Liebe - und, wohlgemerkt, ich verstehe unter diesem Wort jenes Mixtum compositum von gegenseitigem geistigen Verstehen, Kameradschaftsgefuhl und Sinnlichkeit, ohne das die Liebe degradiert und prostituiert wird - ist ein unendlich feines und zumal im Anfang leicht zerbrechliches Ding. Ihre Weiterentwicklung verlangt viele und sanfte Übergänge und kann kein schroffes und rüdes: „gestern nichts, heute aber alles!" vertragen. Das (intellektuelle) Sichverstehen und die (sexuelle) Begier müssen Hand in Hand gehen, von dem ersten Erzittern der jungen Körper bis zum gegenseitigen Wunsche vollständigen Besitzes, der erst nach und nach entstehen darf. Die Begier hat nur dann eine sittliche Existenzberechtigung, - eine physische hat sie ja immer! - wenn sie nur die letzte Stufe einer langen und stets wachsenden Intimität, der höchste Ausdruck einer intellektuell schon längst vollzogenen, nur noch körperlich zu vollziehenden Verbindung ist. Auf den Augenblick, wo die Augen ihre Blicke zum ersten Male tief ineinander versenkt haben, muß naturgewollt der folgen, in dem man mit zitternder Stimme und bleichem Gesicht die naive und zärtliche Litanei der Liebe flüstert, weiter der, in dem sich die Lippen zum ersten Male zum nicht endenwollenden Kusse finden, der, in dem man zuerst das Haar, die Wangen der Geliebten liebkost ... bis zu dem, in dem man Körper und Seele zugleich dem Menschen schenkt, von dem man ein glück-
vor sich, der die Braut binnen kurzem als junge Frau in das Haus ihres Gatten begleiten soll und der aus vielen Dingen zusammengesetzt ist, die keinen anderen Zweck haben, als die menschliche Nacktheit zu verbergen, und die ihm gerade dadurch Begierde erregen und Lustgefühle versprechen müssen. Fast immer wird ein ganz besonderer Wert darauf gelegt, daß die Braut für ihren „Ehrentag" auch genügend mit Kleidungsgegenständen herausgestutzt ist. An den Füßen muß sie „Brautschuhe", an den Beinen „Brautstrümpfe" tragen, um ja nur recht weiß wie eine Taube zu erscheinen. Das Hauptgewicht legen Mutter und Tochter jedoch auf das „Brauthemd", das aus feinster Leinwand verfertigt und mit möglichst wertvollen, natürlich durchsichtigen Spitzen garniert sein muß, damit, wie man es oft sagen hört, der junge Ehemann seine Freude daran haben soll. „Ist es denn nicht ein alter und heiliger Brauch, daß die Frau sich ölt und schminkt, um das süße Geschenk ihres Körpers noch verführerischer zu gestalten?" ruft die als unmoralisch verschrieene, aber jedenfalls mit einem gesunden Blick für die Schäden der Gesellschaft begabte Helene von Monbart einmal ironisch aus. (In ihrer unter dem bekannten Pseudonym Hans von Kahlenberg geschriebenen Novelle: „Nixchen". Dresden-Leipzig 1900, p. 90). Sind die Vorbereitungen, in denen, wie beschrieben, die Wäsche eine Hauptrolle spielt, vorbei, so naht der Hochzeitstag selber. Die Braut nimmt am Vorabend noch schnell ein Bad, der Bräutigam ebenfalls, wenn auch nicht mit der gleichgroßen Feierlichkeit. Jetzt endlich erscheinen die beiden Liebenden würdig und bereit, sich anzugehören. Die jungen Leute werden zunächst auf dem Standesamt, dann in weiterem Kreise in der Kirche und schließlich in einem langen und üppigen Festmahl, an dem teilzunehmen man sie zwingt und allwo sie noch den Treffpunkt für allerhand schlechte Späße abgeben müssen, noch einmal öffentlich und ausführlich ausgestellt. Erst dann dürfen sie sich in die Arme fallen.
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seliges und menschlich bessermachendes Zusammenleben und die Fortpflanzung Heiligsten und Besten in der Spezies erwartet. Statt, daß man in der Brautnacht die junge Frau ihrem Bräutigam überliefert, man eine gefangene Maus dem Kater vorwirft, damit er sie verschlinge, sollten Brautleute also vielmehr einer an der Seite des anderen wie zwei treue Freunde
des wie die und
getreue Kameraden leben, die, geschlechtsverschieden, allmählich erst das Bewußtsein ihres Geschlechts erlangen und allmählich erst davon Gebrauch machen. Statt der plötzlichen Revolution im Geschlechtsleben eine langsame Evolution des Geschlechtslebens. Das müßten die ersten Forderungen jeder Reform auf diesem Gebiete sein. Die graduale Evolution ist der natürlichste und gleichzeitig auch der sittlichste Weg der Sinnenliebe. Eine wirkliche Moral folgt immer der Natur. Sie besiegen wollen, heißt, sie unterdrücken wollen, ein um so törichteres Unterfangen, als sie sonst im gegebenen Moment nur desto wilder und tierischer hervorbricht. Wäre die Moral der Verlobten eine freie, so würde die Ehe nicht, wie man heute so vielfach und mit Recht klagt, so oft eine bittere und schmerzvolle Enttäuschung nach einem kurzen Moment der Wollust sein. Die Brautstandsmoral, wie sie heutzutage unter uns wütet, ist mit zwei Verbrechen gegen die Natur, die Sittlichkeit und die Vernunft zugleich verknüpft: 1. sie zwingt die Liebenden zu einer sehr gefahrlichen Nervenüberreizung, indem sie sie nötigt, bei monatelanger und oft jahrelanger beständiger Nervenüberreizung dennoch geschlechtlich abstinent zu leben; 2. sie zwingt bzw. verführt die Liebenden zu einer zweiten sehr gefahrlichen Nervenüberreizung, indem sie sie - in der sogenannten Brautnacht und den darauffolgenden Wochen - zu plötzlichem und deshalb zumeist widernatürlich und widergesundheitlich intensivem Liebesgenuß auffordert. Die Roheit der Brautnacht ist der Totengräber mancher Liebe. Denn häufig ist Balzacs Wort wahr: Le sort d'un ménage dépend de la première nuit 3 . Sie und die darauffolgenden Nächte bergen aber auch häufig die Keime des körperlichen Todes. Das Hochzeitsbett mit seinen Mühen ist häufig der Ausgangspunkt langen Siechtums, das den Mann dem frühen Grab, die Frau dem Irrenhaus überliefert 4 . Aus der Übergangslosigkeit im Liebesgenuß ist auch in 99 Fällen von 100 die Angst zu erklären, die das moderne Mädchen vor der Brautnacht empfindet. Es ist auffallend, wie oft und mit welchem Nachdruck gerade von Frauenhand die bis zum physischen Ekel gehende, mit Scham und furchtbarer Angst untermischte Scheu der Neuvermählten vor dem ersten Alleinsein mit dem jungen Ehemann geschildert wird 5 . Diesen meist mit
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Honoré de Balzac: Physiologie du Mariage, l. c. p. 76. Chr. von Ehrenfels: Sexuales Ober- und Unterbewußtsein, in der Pol. Anthrop. Revue, 1. c., p. 405. Ehrenfels bringt eine längere Beschreibung der gesundheitsschädlichen Folgen der Brautnacht. Einige Beispiele: die Hochzeitsnacht Orys in Amalie Skram: Verraten (1. c., p. 14fF.); die Fannys in Grete Meisel-Hess: Fanny Roth (Berlin, Seemann, p. 56); vgl. auch Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin (München 1909, Langen, p. 13). In einer Skizze von Ella Grün: Ehen werden im Himmel geschlossen (Zukunft, XIX. Jahrg., Nr. 10), heißt es zum Schluß: „Orgelklang und Priesterwort
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großem Aufwand von Leidenschaft niedergeschriebenen Klagen steht die häufige Bestätigung, die ergraute Matronen in Stunden der Intimität und der Expansion ihren Kindern ins Ohr flüstern, zur Seite. Es gibt sogar Frauen, die die Ereignisse der Brautnacht geradezu als Vergewaltigung empfinden6. Das Bangen der jungen Frau vor ihrem Mann hat freilich mehr als eine Ursache. Die krasse Unwissenheit, in der man hier und da in den oberen Gesellschaftsklassen das junge Mädchen vor der Ehe immer noch in allen Geschlechtsdingen läßt, und die in ihm, das durch Witze, Bücher und Gespräche immerhin einige und zwar häufig gerade die am abstoßendsten klingenden, weil aus dem Zusammenhang gerissenen und der gesunden Phantasie des Mädchens am entferntesten liegenden Einzelheiten „aufgeschnappt" hat, ein unwiderstehliches Gefühl der Beklommenheit und der angsterfüllten Erwartung der gefährlichen Dinge, die da kommen sollen, zurückläßt. Ferner, die Furcht vor den sicher zu erwartenden körperlichen Schmerzen beim Verlust des sogenannten Jungfernhäutchens. Vor allem aber ist es das Ex-abrupto der Handlung selbst, auf das wir hingewiesen haben, das diesen Seelenzustand erzeugt. Bei allmählicher gradueller Hingabe kann kein Angstgefühl entstehen. Es würde, zusammen mit dem Schwestergefühl der Scham, im Wonnegefühl der Liebe, der erwachten Lust ersterben. Die heute bestehende Brautstandsmoral vergiftet den Brautstand und den heiligen Akt der Vereinigung zweier sich liebender Wesen auf das schlimmste, indem sie das junge Mädchen nur durch das infame Tor der öffentlichen Zurschaustellung in das geschlechtliche Leben eintreten läßt - von der Hochzeitsreise und sonstigen Schäden soll nicht einmal die Rede sein - , geschmückt wie eine Pfauhenne und in ihrer jungfräulichen Würde auf das tiefste verwundet, weil sie Stunde und Bett vorher kennt, in dem sie sie nolens volens verlieren soll. Die Öffentlichkeit, die man einem Akt gibt, der zwar einer der feierlichsten, aber auch zugleich der heimlichste des Lebens sein müßte, beweist, daß sich die Brautstandsmoral noch in einem primitiven Zustand befindet und einer Revision von Grund aus bedarf. Heute freilich würde es eine Gewissenlosigkeit sein, die sich kein Sozialwissenschaftler zuschulden kommen lassen darf, die Abschaffung der Brautstandsmoral und ihren Ersatz durch ein evolutives sexuelles Einleben, gleichgültig ob vor oder nach der offiziellen Registrierung der Ehe auf dem Standesamt, zum Thema einer Agitation zu machen oder auch nur warm zu empfehlen, ohne der Empfehlung gewisse Ergänzungen und Einschränkungen hinzuzufügen. Diese betreffen vorzüglich folgende zwei wichtigen Punkte.
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besiegelten den Glücksbund. Meine Schwester, die das Glück solchen Bundes nun schon kannte, gab mir vor Tisch den Rat mit auf den Weg:,Betrinke dich so, daß du nichts mehr von dir weißt'." Marcel Prévost bezeichnet die, welche „trouvent brusque et désagréable la surprise de l'alcôve et crient à la trahison et au viol", als Hysterische. Marcel Prévost: Les Demi-Vierges. (Paris 1894, Lemerre, p. 71.) Er bekämpft mit diesen Worten aber wohl mehr die Tendenz des Alles-WissenWollens vor der Ehe, die ihm zufolge zum Demi-viergisme führt, als daß er dem brüsken Übergang das Wort redete.
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1. Ein geschlechtliches Zusammenleben der zur Ehe Bestimmten (Brautleute) - und nur dieses, nicht aber die Verfuhrung, welche eine wissentliche geschlechtliche Ausbeutung ist, haben wir hier in den Kreis unserer Betrachtungen gezogen - vor dem für die Moral gleichgültigen und höchstens für den Staat interessanten Termin der sogenannten Eheschließung sollte von Sittlichkeits wegen bei allen jenen Paaren ausgeschlossen sein, denen eine unvernünftige Gesellschaftsordnung es nicht gestattet, ein als Folge des geschlechtlichen Zusammenlebens etwa erscheinendes Kind zu ernähren oder, mit anderen Worten gesagt, sich innerhalb einer gewissen Frist einen eigenen Haushalt, und sei er auch noch so klein, zu gründen. Die Zahl dieser Paare würde sich durch Verminderung der Ansprüche auf allen Seiten der Beteiligten (das „in das gemachte Bett kommen" der Frau) allerdings sehr bedeutend verringern lassen. 2. Ein eventuelles geschlechtliches Zusammenleben im Brautstand, welches heute in manchen Schichten der Bevölkerung bereits de facto besteht, ohne daß es bei ihnen im allgemeinen entsittlichende Folgen gehabt hätte, würde allerdings in anderen, und zwar nicht zuletzt in gewissen Kreisen „der Bildung und des Besitzes", vielfach ein Sitzenlassen des Mädchens zur Folge haben, zum mindesten so lange, als die Mädchen jener Kreise in ihrem aus sentimentalem Idealismus und laxem Realismus gemischten Bildungsstand verharren. Die Umgestaltung der heutigen ungesunden Brautstandsmoral wird deshalb erst dann restlos erfolgen können, wenn sich Wirtschaft und Recht und mit ihnen die Moral umgestaltet und höher entwickelt haben werden. Der mittlere Mann von heute entbehrt noch gänzlich einer sexualethischen Erziehung, die ihn befähigte, sich in allen seinen Handlungen ihrer Tragweite bewußt zu bleiben. Das geliebte Mädchen ist fur ihn der Gegenstand heißester geschlechtlicher Sehnsucht; sich in seinen Besitz zu setzen höchstes Ziel, dem alles geopfert wird, wenn es nicht anders geht, auch das Junggesellentum. Wir sprachen es bereits aus, daß die Ehe häufig nichts anderes ist als das einzige Mittel, ein geliebtes, aber tugendhaftes Mädchen geschlechtlich zu erobern 7 . Das Ziel der Sehnsucht ist das Bett. Aber der Moment des Besitzes bedeutet deshalb meistens auch den Gipfelpunkt der Liebe. Das Sprichwort, das die unglückliche Liebe als eine Liebe, die mit Heirat endet, definiert,
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Das wird von Bräutigamen in Privatgesprächen mit ihren intimsten Freunden häufig zugegeben. Besonders oft wird die Weigerung der Geschlechtsliebe seitens der begehrten Frau gerade in solchen Fällen für die Männer Motiv zur Ehe, w o sie ihrer gesellschaftlich nicht ebenbürtig ist. Hübsche und kluge Ladenmädchen, Kontoristinnen, Artistinnen usw. können mit fast absoluter Sicherheit auf einen „besseren" Mann, vielleicht gar einen Grafen, rechnen, wenn es ihnen gelingt, den Verführungsversuchen ihres späteren Ehemannes als Verehrer auf kokette Weise zu widerstehen (vgl. die Skizze Die Probiermamsell
von Alfred Deutsch - German in den Wiener Mädel.
Berlin,
Seemann, p. 29). Dieser Widerstand gelingt natürlich kalten und berechnenden Naturen leichter als warmherzigen und ehrlichen. Darum sind es nicht immer die schlechtesten Elemente der exponierten Mädchenwelt, welche „fallen", und nicht immer die besten, welche, wie die verständnislose öffentliche Meinung in solchen Fällen zu sagen pflegt, sich „in bewundernswerter Weise jahrelang allen Anfechtungen erwehrt" haben und nun, zur Belohnung für so löbliches Verhalten, in den Himmel der Ehe eingehen.
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hat einen tiefen Sinn. Der Abstieg von dem Gipfel der Hochzeit ist oft erschreckend rasch und steil abfallend, manchmal selbst ein jäher Absturz. Es gibt Männer, die für ein erobertes Weib jedes Interesse verlieren, andere (die sittlich noch tiefer stehen), welche das Mädchen, das, ihrem Drängen weichend und vielleicht gar von tiefer Liebe erfüllt, ihnen zu Diensten war, als eine Gefallene ansehen und es als ihrer nicht wert verachten. Solchen Männern würde durch eine Anerkennung der Brautstandsmoral, wie wir sie oben entwickelt haben, ein Freibrief zur Liederlichkeit und Gewissenlosigkeit ausgestellt werden. Eine Vermehrung der sitzengelassenen Bräute und unehelichen Mütter würde die Folge sein. Heute werden die von mir entwickelten Grundsätze nur für eine kleine Elite sittlich hochstehender Menschen Geltungskraft haben können, von Menschen, die durch den Besitz vor der Ehe das Ziel der Ehe nicht aus den Augen verlieren, weil ihnen die allmähliche Geschlechtsgemeinschaft während des Brautstandes ein sittlicher Gewinn ist. Die freie Liebe als Selbstzweck hat als Theorem längst abgewirtschaftet. Die Sozialisten, die einst der freien Liebe begeisterte Lobsinger waren, sind längst verstummt und sind, soweit sie es nicht längst in der Praxis schon waren, teils mit ihren alten Geliebten, teils mit neuen in den heiligen Stand der Ehe getreten. Freie Liebe ist heute für die Allgemeinheit eine Gefahr, die im Sumpf allgemeiner Korruption enden muß, für den einzelnen ein schöner Gesinnungssport, der mit dem Erscheinen des ersten Kindes in legale Bahnen überlenkt 8 . Die alte Ehe blutet aus tausend Wunden, welche eine ebenso scharfsinnige wie unerbittliche Kritik ihr geschlagen 9 . Da sie auf dem Grundsatz der ehelichen Pflicht, d. h. des Geschlechtszwanges, ruht, wird sie der Gefahr nicht entgehen, eine offiziell konzessionierte Notzuchtsanstalt zu werden, wenn der Sinn für Takt und das Gefühl für die Grenzen des ethischen Rechtes der Männer auf Sinnlichkeit die juristisch rechtliche Lage nicht individuell korrigieren. Sie ist nichtsdestoweniger die beste Form geschlechtlicher Konvivenz und bildet die notwendige Zelle jedes Kulturlebens. Sie ist als solche also zwar reformabel, aber nicht abschaffbar. 10 Die Änderung
8 In Italien erklärt der leidenschaftlichste Theoretiker der freien Liebe, der sozialistische Abgeordnete Guido Podrecca, in vielen seiner Artikel im Avanti 1907 ausdrücklich, daß sie praktisch heute eine weitere geschlechtliche Ausbeutung des Weibes durch den Mann bedeuten würde und deshalb nicht ratsam sei. Auch eine deutsche theoretische Anhängerin der freien Liebe, Grete Meisel-Hess, meint treffend, die Frau sei heute in einem freien Verhältnis dem Manne ausgeliefert und „äußerlich tausendmal bedrohter, innerlich tausendmal abhängiger als in der Ehe" (s. ihre Schrift: Die sexuelle Krise. Jena 1909, Diederichs, p. 216). 9 Anbei einige bibliographische Notizen. Zu den besten neueren Kritikern der Ehe und gleichzeitigen Propagandisten für eine edel aufgefaßte freie Liebe gehören: Jacques Mesnil: Le Mariage Libre, Paris 1900, Temps Nouveaux (deutsch: Die Freie Liebe, übersetzt von Karl Federn, 2. Aufl. 1904, Schmargendorf-Berlin, Verlag Renaissance); Ludwig [Fehler im Original: der Autor ist Ludwigs Sohn Ladislaus] Gumplówicz: Ehe und freie Liebe, Berlin 1900. Verlag d. Sozial. Monatshefte; ferner, im großen Stil, der Historiker und Ästhet Mathieu Schwann: Liebe, Leipzig 1901, Diederichs; endlich August Bebel: Die Frau und der Sozialismus, Stuttgart, Dietz, 35 Auflagen. 10 Unter den französischen Sozialisten tritt vor allem der syndikalistische Philosoph Edouard Berth mit vieler Energie gegen jede Propaganda auf, welche den Prozess der Dissolvierung der Ehe
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der heutigen Brautstandsmoral hat deshalb nur Sinn, wenn die, welche sie für sich abändern, sich bewußt bleiben, daß die Zustände, die sie an ihre Stelle setzen, nicht die Abschaffung der Ehe zur Folge haben dürfen, sondern vielmehr nur dazu dienen sollen, den möglichst vernunftgemäßen und sittlichen Weg zu finden, durch eine Schärfung des Verantwortlichkeitsgefiihles eine Gesundung der Ehe überhaupt erst einzuleiten. Ohne diese Begrenzung würde die neue Brautstandsmoral in das alte, sozial beklagenswerte Verhältniswesen einmünden.
beschleunigen könnte. Er erklärt die Einrichtung der Ehe für die Quelle alles moralisch Guten. Sein Losungswort lautet auf eine Wiederherstellung der Familie (s. sein Essay Le Centenaire de Proudhon, in d. Zeitschrift Le Mouvement Socialiste, Année XI, No. 206, 1909, sowie seinen Band: Dialogues Socialistes, Paris 1901, Jacques, p. 274ff.).
[Analyse einer Verlobungskarte]
Vor mir liegt eine beliebige Verlobungsanzeige. Auf der Innenseite des schönen, starken Bogens steht in feiner lithographischer Schrift folgendes zu lesen: links: „Die Verlobung ihrer Tochter Eva mit Herrn Rittergutsbesitzer Α. B. auf Groß-J. b. R. beehren sich anzuzeigen M. N. und Frau Marie, geb. T." rechts: „Meine Verlobung mit Fräulein Eva N., einzigen Tochter des Herrn M. N. und seiner Frau Gemahlin Marie, geb. T., beehre ich mich anzuzeigen. Rittergut Groß-J. bei R. Α. B." Wer diese Anzeige ohne viel Nachdenken durchliest, wird zweifellos nicht viel Absonderliches an ihr finden; ja, dem in die Verhältnisse der betreffenden Familie M. N. Eingeweihten wird die Abfassung der Anzeige sogar ganz besonders würdig und bescheiden vorkommen. Hat Herr M. N., der in seiner Jugend einmal die Würde eines königlich preußischen Reserveoffiziers bekleidete und der außerdem noch Ritter mehrerer Orden ist, diese seine ihn über die gewöhnliche Herde der bürgerlichen Welt heraushebenden Prärogativen in der Anzeige von der Verlobung seiner Tochter ja doch noch nicht einmal, wie das doch sein gutes Recht gewesen wäre, erwähnt. Auf solche und ähnliche Gedanken möchte der Eingeweihte wohl kommen. Im übrigen aber wird er in der Abfassung der Anzeige absolut nichts Anormales entdecken können. So tief sitzt der heutigen Generation die Gewohnheit im Blute, auch das Anormalste als normal zu empfinden und deshalb mit in den Kauf zu nehmen. Lesen wir die Verlobungsanzeige noch einmal langsam durch! Der Bräutigam ist also Rittergutsbesitzer. Was ist das, Ritterguts„besitzer"? Ist das die Bezeichnung eines Erwerbstandes? Daß der Landwirt zufälligerweise ein „Rittergut" besitzt, scheint mir von Bedeutung nur für den Steuereinnehmer zu sein. Was für eine kuriose Art von Berufsangabe ist doch dieses schöne Wort „Rittergutsbesitzer"! Eine Angabe nicht der
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Qualität, sondern der Quantität des Besitzers. Warum hat der Mann da nicht lieber ohne weiteres auf seine Verlobungsanzeige drucken lassen, daß er in der ersten Steuerklasse sitzt? Rittergutsbesitzer = Besitzer eines Rittergutes. Wie nun, wenn jeder alles das als „Stand" angeben wollte, was er „besitzt"? Da würden wir schöne Berufsarten erleben! Und doch wäre etwa der „Markensammlungsbesitzer" oder der „Kanarienvogelbesitzer" oder der „Besitzer von zweihundert silbernen Löffeln" als Standesbezeichnung nicht unsinniger als der „Rittergutsbesitzer", im Gegenteil, nach Sinn und Wortbildung durchaus eine Analogie zu diesem Titel. Wir sehen also, daß der Bräutigam Α. B. auf Groß-J. auf seiner in alle Welt hinausgesandten Verlobungsanzeige nicht angegeben hat, was er tut, sondern, was er hat, nicht, worin er arbeitet, sondern, was er besitzt. Jemand kann sehr gut „Besitzer" eines Rittergutes sein, ohne daß er sich um diesen Besitz in anderer Weise zu kümmern braucht, als daß er dort einen Verwalter hinsetzt und am Ende jeden Jahres seinen Gewinn aus diesem Besitztum zieht. Er kann als Ritterguts„besitzer" ganz gut aktiver Offizier, Beamter, ja auch Nichtstuer sein, und ist es tatsächlich oft genug. Erst das Wort „Landwirt" würde angeben, daß der betreffende Mann sich überhaupt mit Landwirtschaft beschäftigt. Besitzt dieser „Landwirt" ein ganz besonders stattliches Gut, eine ganz besonders große Anzahl von Schweinen, Kühen usw., so steht es ihm ja schließlich, wenn er durchaus seiner Eigenschaft als Agrarkapitalist auch äußerlich Ausdruck verleihen will, immer noch frei, sich als „Großlandwirt" oder „Überlandwirt" oder „Länderwirt" zu bezeichnen. Das Wort „Rittergutsbesitzer" - ein reicher Kaufmann müßte sich dementsprechend als „Millionenbesitzer" vorstellen - gibt uns kein Bild von dem Wesen des Herrn Α. B. auf Groß-J. Ein Berufsgenosse des Herrn in England, Frankreich oder Italien würde in Verlegenheit geraten, wenn er dieses ihm unbekannte Wort in seine Muttersprache übersetzen sollte. Ich habe es in einer Gerichtssitzung in Verona, in welcher ich als Dolmetscher fungieren mußte, einmal selbst erlebt, daß einem des Einschmuggeins von Tabak angeklagten deutschen Korpsstudenten, der als Stand seines Vaters eben den des Rittergutsbesitzers angab, bei Übersetzung dieses Monstrums von Begriff vom Gerichtspräsidenten lachend erwidert wurde: „Wir wollen nicht wissen, was Ihr ritterlicher Herr Vater alles besitzt, sondern welche Profession er ausübt!" Also, wir hatten gesehen, der Bräutigam der glücklichen Eva „ist" Rittergutsbesitzer". Der Vater des jungen Mädchens aber, Herr M. N., ist, wie die unterlassene Berufsangabe zu beweisen scheint, offenbar berufslos, höchstens ein Rentier. Weit gefehlt! Wer Herrn M. N. kennt, weiß, daß er Kaufmann ist, bereits ein halbes Jahrhundert als solcher tätig und Besitzer eines großen Tuchgeschäftes, und trotz seines nunmehr hohen Alters immer noch überaus fleißig an der Arbeit, überdies noch der alten Patrizierfamilie einer süddeutschen Großstadt entstammend. Nun drängt sich aber die Frage auf: Wie ist es zu erklären, daß sich der junge Herr Α. B. auf „Groß-J.", der sich seinen „Rittergutsbesitz" erst vor etlichen Monaten erkauft hat, stolz als „Rittergutsbesitzer" geriert, der seit seiner Jugend geschäftlich tätige und in Ehren ergraute Herr M. N. jedoch es vorgezogen hat, Amt und Würden zu verschweigen? Ist das Bescheidenheit? Oder etwa eine gewisse Scham?
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Es ist tatsächlich Scham. Der Kaufmann betitelt sich nicht gern als solcher. Um das zu verstehen, müssen wir in aller Kürze uns den sozialen Zuständen in Deutschland zuwenden. Trotzdem Deutschland schon längst im Zeitalter des Industrialismus steht, hat es doch noch lange nicht den Feudalismus überwunden. In Deutschland haben die sozialen Zustände in ihrer Weiterentwicklung mit den ökonomischen Fortschritten nicht gleichen Schritt gehalten. Wirtschaftlich schon längst über die Periode des Agrarstaates hinaus, steckt es gesellschaftlich und politisch immer noch tief in dessen Auffassungen drin. Während in den sozial fortgeschritteneren Ländern, wie in England und Amerika, ja selbst in ökonomisch noch weit hinter ihm liegenden Ländern, wie ζ. B. Italien, sich die industrielle Bourgeoisie, wenn auch noch nicht ganz, so doch immerhin schon bis zu einem sehr hohen Grade vom Feudalismus emanzipiert hat und im Staate und in der Gesellschaft die Rolle spielt, welche ihr die heutige Entwicklung des Wirtschaftslebens anweist, ist die roture in Deutschland sozial immer noch nicht faktisch gleichberechtigt. Wenn sie „gesellschaftlich" etwas bedeuten will, kann sie das nur, indem sie feudales Wesen annimmt, d. h. so gut es eben geht zu kopieren sucht. Und selbst dann noch bleiben ihr die ersten Stellen im Heer, in der Marine und in der Verwaltung hermetisch verschlossen. Eine der tausendundeins Folgeerscheinungen dieses krankhaften Zustandes, dessen Dauerhaftigkeit vorwiegend der politischen und sozialen Rückgratlosigkeit des deutschen Bürgertums zuzuschreiben ist, besteht in dem höheren Ansehen, in welchem der Agrarkapitalismus im Vergleich mit dem industriellen und merkantilen steht. Der „Rittergutsbesitzer", selbst wenn er, wie wir annehmen wollen, einer sogenannten „Parvenu"familie angehört, gilt weit mehr als der Handelsherr. Während ersterer mit seinem Besitztum bewußt oder unbewußt zu protzen pflegt, empfindet der letztere eine unüberwindliche Scheu vor dem Namen „Kaufmann". Während der eine als seinen „Stand" einen Besitz angibt, der dazu noch nicht einmal logisch mit einem Beruf verbunden sein braucht, zieht der andere es vielfach vor, den seinen überhaupt zu verschweigen. Der erstere erfreut sich eben eines feudalen Abglanzes, der letztere entbehrt dessen nicht nur, sondern ihm wird auch noch obendrein sogar eine gewisse, freilich nicht immer unverdiente, Geringschätzung zuteil. Aber die vor uns liegende Verlobungsanzeige zeigt uns noch mehr. Sie lehrt uns auch unsere Rückständigkeit auf sexualethischem Gebiet kennen. Der Herr „Rittergutsbesitzer" A. B. „auf Groß-J." hat sich mit Fräulein Eva, „der einzigen Tochter" des Herrn M. N. und seiner „Frau Gemahlin Marie, geb. T." verlobt, und, wie wir aus der Verlobungsanzeige ebenfalls ersehen können, Herr und Frau M. N. „beehren sich", „die Verlobung ihrer Tochter Eva mit Herrn Rittergutsbesitzer usw. anzuzeigen." Wohlgemerkt, Herr und Frau M. N., nicht ihre „einzige Tochter" Eva selbst.1 Wir haben hier 1
Diese Skizze erschien, soweit sie sich auf die Analyse der Verlobungskarte bezieht, zuerst in der Ethischen Kultur vom 4. Juli 1903, XI. Jahrg., Nr. 27, und wurde u. a. auch von der Frankfurter Zeitung (Nr. 183 desselben Jahres) abgedruckt. In Nr. 186 dieses Blattes erschien in einem Eingesandt folgende treffliche Ergänzung unserer Ausführungen: „In der scheinbar so bescheidenen Ver-
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einen Überrest barbarischer Ausdrucksweise aus der Zeit der patria potestas vor uns. Der Vater, Eigentümer über Leib und Seele seiner Tochter, hat dieselbe, natürlich ohne deren Zustimmung abzuwarten, gegen genügendes Entgelt einem Manne zur Ehe versprochen - oder verkauft? - , und zeigt den Abschluß des Geschäftes Freunden und Verwandten nunmehr gebührend an. Wohl ist die Genesis der Verlobung heute vielfach, wenn auch noch lange nicht in gebührendem Maße, evolutioniert, wohl kommt es heute vor, daß sich das junge Mädchen wirklich selbst verlobt, die Form der Kundgebung dieser Verlobung aber ist die alte erniedrigende geblieben. Die Braut ist dem Bräutigam bei der Schließung des wichtigsten Aktes in ihrem Leben von vornherein nicht gleichgestellt. Nicht sie, sondern ihre Eltern zeigen die Verlobung an, während die Eltern des jungen Mannes, welche doch bei der Verlobung nicht selten ein gewichtiges Wort mitzureden hatten, offiziell ebenfalls ganz aus dem Spiele bleiben und nicht nur die Verlobung ihres Sohnes nicht anzeigen, sondern sogar in den sie kundgebenden Worten überhaupt nicht einmal genannt werden, also durch ihr bescheidenes Zurücktreten die moralische Selbständigkeit ihres Sohnes vor aller Welt offen anerkennen. Auch an diesem Beispiel sehen wir also wieder die ganze künstlich aufrecht erhaltene Verschiedenheit der sexuellen Unabhängigkeit von Mann und Weib, die Kettung der Braut an den Willen der Eltern und ihre Unfreiheit in den wichtigsten Lebensentschließungen, kurz ihren Besitzwechsel aus der Hand des Vaters in die Hand des Bräutigams. Der Anzeige nach zu schließen, „verlobt" sich der Bräutigam eigentlich nicht so sehr mit seiner Braut als mit ihren Eltern. Die vor uns liegende Verlobungsanzeige birgt also trotz ihres anscheinend simplen und harmlosen Aussehens gar vieles in sich, was der Beachtung wert ist. Sie stellt ein wirkungsvolles Dokument von dem Tiefstand unserer sozialen Zustände dar. Sie weist auf die Macht des Agrarkapitalismus sowie gleichzeitig auf eine diesem entspringende
lobungsanzeige findet sich ein bemerkenswertes Attribut; zutreffendenfalls kehrt es auf deutschen Verlobungskarten so regelmäßig wieder, daß kaum jemand mehr daran Anstoß nimmt und daß es sogar dem kritischen Auge des Herrn Verfassers entgangen ist. Es ist das harmlos klingende: .einzig'. Welchen Zweck, so frage ich mich jedesmal, verbindet eigentlich der glückliche Bräutigam damit, daß er besonders hervorhebt, er habe sich mit der einzigen Tochter des Herrn X. verlobt? Soll man glauben, es rege sich in ihm eine Art von Mitglied mit den armen Eltern, die ihr Ein und Alles an ihn verlieren sollen? Das wäre rührend, ist aber recht unwahrscheinlich. Dieses Attribut hat vielmehr als das Äquivalent für das Fehlen der anderen Attribute zu gelten, die man im kastenfrohen Deutschland auch an seinen Schwiegereltern nur höchst ungern vermißt. Wenn eine Mandarine sich zur Verlobung mit der Tochter eines Müller oder Schulze entschließt, dann ist er sich selbst wie den Angehörigen seiner Kaste eine Entschuldigung oder Erklärung für die Deklassierung seiner Person schuldig. Das Wort .einzig' gibt sie. Man begreift sofort, was den Herrn Grafen oder den Rittmeister der Landwehr-Kavallerie zu dieser Mesalliance bewogen hat. Das Wappenschild bedurfte dringend der Vergoldung. Nur eine .einzige Tochter' war dazu imstande. So ist die ,einzige Tochter' auf der einen Seite das Korrelat zu dem Herrn .Rittergutsbesitzer' auf der anderen, auch eine ,Quantität', keine .Qualität', eins so geschmackvoll wie das andere, aber dem deutschen Ohre klingt es nicht mehr befremdlich. Wer in Frankreich seine Verlobung mit der fille unique anzeigen wollte, würde sich geradezu lächerlich machen."
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ethische Schwäche und soziale Mißachtung des deutschen Bürgertums, ganz besonders aber auch auf eine Aufgabe hin, deren Lösung der modernen Frauenbewegung noch vorbehalten bleibt, auf eine harte, aber notwendige Arbeit. Eine in konsequentem Denken geübte Frauenbewegung müßte sich gegen alle äußeren Formen des öffentlichen Lebens wenden, hinter denen sich eine Geringschätzung oder doch eine geringere Einschätzung des Weibes dem Manne gegenüber versteckt. Auch wenn sie anscheinend bloß den Sprachgebrauch betreffen oder gar durch eine jahrhundertelange Tradition so tief eingebürgert sind, daß der großen Mehrzahl der Betroffenen der in ihnen liegende tiefere Sinn entschwunden ist. Das prägnanteste Beispiel für solche Gebräuche haben wir in der Zweiteilung der für die Frauenwelt bestehenden Titulatur. In allen Ländern europäischer Kultur unterscheidet man zwischen Frau (madame, mistress, signora, señora, senhora, mevrouw usw.) und Fräulein (mademoiselle, miss, signorina, señorita, senhorita, mejuffrouw usw.). Unter ersterer Bezeichnung versteht man das regelrecht verheiratete, legitime Weib; unter letzterer das noch unverehelichte Weib, gleichgültig, ob dieses eine jugendlich-jungfräuliche Anwärterin auf die Ehe, eine unverehelicht gebliebene alte Dame oder eine sich zwar geschlechtlich betätigende, aber mit keinem Mann in gesetzliche Beziehungen getretene Freiliebende ist. Dieser amtliche Stempel bedeutet eine der Frauenschaft als Ganzes genommen durchaus unwürdige, unerlaubte staatliche, d. h. männliche Einmischung. Bei näherer Prüfung des Problems muß sich die Frage erheben: Was geht es die große Menge an, zu wissen, ob eine Frau geschlechtlich berührt oder unberührt ist, oder ob sie ihren Fuß je ins Standesamt gesetzt hat oder nicht? Zu dieser Frage gesellt sich die zweite: Fragt man nach den gleichen Dingen auch beim Mann? Nein, denn bekanntlich fehlt für die Männer der die Frauen in zwei große Lager teilende Dualismus der Bezeichnung gänzlich. Ob Ehemann oder Junggeselle, Jüngling oder Schürzenjäger und alter Sünder, alle sind sie „Herren". Der Junggeselle würde es sich fuglich verbitten, als Unverheirateter nach dem Muster des Fräulein zum Unterschiede von den verehelichten Herren etwa als Herrchen angeredet zu werden. So bei Vorstellungen: Fräulein Helene Lange Herrchen Paul Singer. Auf diese Weise würde wenigstens das gleiche Maß beide Teile messen; von beiden würde man auf drei Meilen im Umkreis die schon im Namen zum Ausdruck gelangende Tatsache erfahren, daß sie dem heiligen Ehestand nicht beigetreten sind. Unter denselben Gesichtswinkel fallt auch die völlige Namensänderung der Frau bei der Heirat. Man kann sagen, daß, zumal in den kaufmännischen Kreisen Englands, Frankreichs und Deutschlands, in denen es nicht üblich ist, daß die Frau, wenigstens in ihren gesellschaftlichen Beziehungen, ihren Vornamen weiter führt, die Gattin in der Ehe vom Ehemann, soweit der Name in Frage kommt, sozusagen mit Haut und Haaren verschlungen wird. Es bleibt von ihr keine Spur übrig. Fräulein Mariechen Müller wird Frau Zacharias Winkelfink. Die Frau tauscht also den Namen, der die Herkunft angibt, gegen einen Namen ein, der angibt, in wessen Besitz sie übergegangen ist. Denn die Frau Zacharias Winkelfink ist nicht mehr da. Sie hat sich entäußert. Die Frau Zacharias Winkelfink ist eigentlich ein grammatikalischer Fehler, ein für einen Genitiv gesetzter Nominativ. Frau Zacharias Winkelfink ist ja nur eine Umschreibung für die Frau des
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Zacharias Winkelfink. Mariechen Müller hat ihre ganze Eigenheit verloren. Der Eigentumscharakter der verheirateten Frau kommt im Namen folgerichtig auch dadurch zum Ausdruck, daß sie, wenigstens in Deutschland, selbst die Titel und Würden ihres Mannes in ihren Namen übernimmt, eine Sitte, durch die die Frau, die sich ihren Doktortitel in ehrlichem jahrelangen Studium erworben hat, sich nicht vom ersten besten Gänschen unterscheidet, das einen Doktor geheiratet hat. In den anderen Ländern würden Benennungen, die der deutschen „Frau Geheimrat", „Frau Leutnant" und ähnlichen Monstrositäten entsprächen, nicht bloß aufs äußerste lächerlich wirken, sondern auch als unwürdige Anmaßungen, als ein Sichschmücken mit fremden Federn, empfunden werden. In Italien, Frankreich, England genügt auch den Ehefrauen der titelreichsten, ja titelsüchtigsten Männer als Anrede das einfache Madame usw., wovon nur bei Adelstiteln, die als zum Namen selbst gehörig betrachtet werden können, eine Ausnahme gemacht wird. Die offiziellen Einladungen französischer Minister pflegen folgende Fassung zu haben: Le ministre des Affaires Étrangères et Madame X (folgt der erheiratete, aber titellose Name der Ministergattin) se donnent l'honneur usw. Während in Deutschland der Name der Ehegattin, wenn auch vielfach mit fremden Titeln überbürdet, in der Anrede verschwindet, haben andere Völker wenigstens den Vornamen im intimeren gesellschaftlichen Verkehr zu erhalten gewußt. So wird die vornehme Russin in weitesten Kreisen von sozial Gleichgestellten mit dem Vornamen und dem Patronymicon, ohne Hinzufugung des Frauentitels angeredet, ζ. B.: Anna Theodorowna, d. h. Anna, Tochter des Theodor, oder: Wera Paulowna, d. h. Wera, Tochter des Paul. Ähnlich erfolgt in vornehmen Kreisen in Italien bei größerer Intimität die Anrede der Frau als Signora Giulia, oder, wenn die Angeredete einer Adelsfamilie entstammt, Donna Giulia, d. h. Frau Julie, wie im Russischen ohne Hinzufugung des ehemännlichen Namens. Das sind äußerliche Symptome, die auf eine höhere Wertung des Weibes in der Schätzung der Männer deuten, da die Frau in diesen Arten der Anrede nicht als Weib (Madame) oder als Anhängsel ihres Mannes (Frau Geheimrat), sondern als sie selbst erscheint und als solche geachtet wird. Bei der Nachkommenschaft bleibt in fast keinem Lande Europas vom Namen der Mutter, die sie doch zeugte, eine Spur übrig. Wenn wir in Deutschland bisweilen Bestrebungen von Einzelpersonen, den Namen der Mutter weiter zu fuhren, im Gange sehen, so können wir sicher sein, daß sie nicht dem Gefühl der Gerechtigkeit und der Liebe zur Mutter, oder den Eingebungen der Logik, die fordern würde, auf das Produkt auch äußerlich den Stempel der Gesamtfirma, d. h. der beiden verantwortlichen Erzeuger zu setzen, sondern lediglich der Eitelkeit und Äußerlichkeit entspringen. Es sind Nachkommen bürgerlicher Väter mit adligen Müttern und dergleichen, die hier in Frage kommen. Gerechter und vornehmer ist in dieser Hinsicht nur der Brauch der Spanier, bei denen sich auch der Name der Mutter, der an die zweite Stelle gesetzt und mit dem des Vaters durch ein vermittelndes und die Gemeinsamkeit der Arbeit bezeichnendes Y (und) verbunden wird, auf die Kinder überträgt. Heiratet also eine Señorita Quejedo einen Señor Chotuno, so fuhren sämtliche dieser Ehe entsprießenden Kinder den Namen Chotuno y Quejedo. Die Kinder dieser Kinder behalten dann aus begreiflichen Gründen - der Name würde sonst schon im dritten Gliede acht Namen umfassen -
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Analyse einer Verlobungskarte
freilich nur noch den vordersten Namen des väterlichen Großvaters (und den vordersten der Mutter) bei, während die Namen der beiden Großmütter fallen gelassen werden. Aus technischen Gründen sind da also der Vererblichkeit der weiblichen Namen bedauerliche, aber natürliche Grenzen gezogen. Innerhalb dieser Grenzen hingegen könnte aber, wie eben das Beispiel des verachteten Spanien beweist, den Gesetzen der Gerechtigkeit und Logik jener Spielraum gelassen werden, der ihnen zukommt. Daß Deutschland (Deutsch-Österreich nicht ausgenommen) in bezug auf die Erfüllung dieser Gesetze heute an letzter Stelle steht, erhellt aus den hier angeführten Tatsachen mit unbestreitbarer Klarheit.
Zum Problem: Solidarität und Kastenwesen
Die Solidarität ist der direkte Ausfluß der Klassenantagonismen. Diese stehen zu jener im gleichen Verhältnis wie die Ursachen zur Wirkung. Wenn in einem Lande die Solidarität der Klassen vielleicht einen höheren Grad erreicht hat als in den meisten übrigen Ländern, so ist die Erklärung für die Tatsache darin zu suchen, daß in ihm eben die Gegensätze ökonomischer, sozialer, intellektueller, konfessioneller und traditioneller Natur zu bedeutenderer Höhe gestiegen sind als in der Mehrzahl der übrigen Länder. Darum bin ich auch sehr weit davon entfernt, gleich dem Baron Raffaele Garofalo auf dem Internationalen Soziologenkongreß in Bern 1909, die Gewerkschaften und die Streiks als Störungen, ja als handgreifliche Negationen des Geistes der Solidarität zu bezeichnen 1 , sondern erblicke in ihnen umgekehrt eine der wenigen heute möglichen Arten praktischer Anwendung der Solidarität. Gewiß ist selbst die begrenzte, aus dem gemeinsamen Haß gegen einen gemeinsamen Gegner geborene Solidarität mit Dornen bedeckt. Oft fehlt ihr selbst einer ihrer wesentlichsten logischen Koeffizienten: die Freiwilligkeit und Unmittelbarkeit, wie denn z. B. die Arbeiter die starke Tendenz haben, der Solidarität einen koerzitiven Sinn zu geben, indem sie ihre Genossen gern zum Eintritt in die Gewerkschaften sowie, in noch höherem Maße, zur Kohäsion in den Arbeitsausstellungen zwingen. Indes, auch wenn wir von der koerzitiven Solidarität absehen und uns auf die Untersuchung der spontanen Solidarität beschränken, sehen wir doch in der Solidarität zwei Elemente vorhanden und sich die Wage halten: Opferfreudigkeit und Eigennutz. Der Begriff des Nutzens ist von der praktischen Solidarität nicht zu trennen. Also sind Altruismus und Egoismus gleich notwendige Ingredienzien der angewandten Solidarität. Nicht Sympathie und Gerechtigkeitsgefühl allein geben die Basis zu der Vereinigung und Zusammenarbeit. Wir vermögen mit Squillace und anderen nicht völlig darin übereinzustimmen, daß Gefühle wie der Haß Hindernisse für soziale Bindung darstellen. 2 Ich möchte sagen: es kommt hier auf das Objekt an. Gewiß wird der Hassende mit dem Gehaßten nicht zusammenarbeiten. Er wird aber, von diesem Haß getrieben, nach Personen suchen und sich mit ihnen zusammenfinden, welche
1
Annales de l'Institut Internationale de Sociologie. Tome XII: „La Solidarité Sociale dans le Temps et dans l'Espace." Paris 1910. Giard et Brière, p. 62.
2
Fausto Squillace, „Dizionario di Sociologia" (2. Aufl.). Palermo 1911. Sandron, p. 275.
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Zum Problem: Solidarität und Kastenwesen
die gleichen Objekte mit ihrem Haß verfolgen. Ich möchte den Haß insofern als die bedeutendste Triebfeder der Solidarität bezeichnen. Die Himmelsblume der Solidarität wächst und gedeiht bloß auf dem vulkanischen Boden der Interessengegensätze. Eine allgemeine Solidarität der Gesellschaft - die Solidarität in ihrer reinsten Form - besteht nur gewissen elementaren Naturereignissen gegenüber - gegen die Epidemien, die Erdbeben und eventuelle Einfalle barbarischer Volksstämme3 - , ohnehin auch dort nicht ihren Charakter der Abwehr verleugnend. Bei der Betrachtung des Phänomens der Solidarität auf dem ökonomischen und sozialen Gebiete ist unter diesem Terminus ohne weiteres eine partielle Solidarität zu verstehen. Die Solidarität des Menschengeschlechts ist, gleich der Interessengemeinschaft der Gesellschaftsklassen, eine Utopie, weil sie die Lösung teils noch ungelöster, teils überhaupt unlösbarer wesentlicher Probleme voraussetzt. Heute kann die Solidarität, oder was wir so nennen, nur als Folgeerscheinung eines fehlerhaften Equilibriums betrachtet werden. Zur Bildung eines Solidaritätskreises ist a priori die Existenz scharfer Gegensätze erforderlich; man ist nur solidarisch gegen jemand. Die Solidarität, dieser unentbehrliche Kern jeder Kooperation, birgt also ein überwiegend negatives Element in sich. Die Einzelindividuen werden durch das Schmerzgefühl vereinigt, welches sie veranlaßt, gegen sie drückende Leiden zu reagieren. Die Sonderinteressen, Unglück wie Wohlergehen, üben auf die Menschheit eine lediglich trennende Wirkung aus. Intellektuelle Verschiedenheit und wirtschaftliche Ungleichheit machen die Individuen gegeneinander gleichgültig oder feindlich. Nur der Schmerz, im Verein mit dem Verständnis für die Gemeinsamkeit bestimmter Bedürfnisse, vermag in ihnen ein Gefühl für die Notwendigkeit gegenseitiger Hilfe zu erwecken. Die Gemeinsamkeit nicht gesättigter Interessen ist die Mutter sozialer Solidarität. Es besteht also ein nahes Verhältnis zwischen den sozialen Antagonismen und der partiellen Solidarität: die Intensität der Solidarität wächst oder sinkt je nach dem Wachsen oder Sinken der Antagonismen. In einem Milieu, in dem keine Antagonismen vorhanden wären, würde auch die Solidarität sich nicht entfalten können. Auf diese Prämissen gestützt möchten wir eine These aufstellen, deren Richtigkeit wir im folgenden beweisen werden: Obgleich das rein humanitäre und individuelle Gefühl der Solidarität in Deutschland vielleicht weniger entwickelt ist als in anderen Ländern, wie ζ. B. in Italien - was darzustellen freilich aus dem Rahmen unserer Aufgabe herausfällt - , so gibt es doch andererseits vielleicht kein Land, in welchem die partielle Solidarität einen so hohen Grad erreicht hat, als Deutschland. Um das zu beweisen, brauchen wir nur die Größe der Antagonismen anzudeuten, welche die verschiedenen Interessensphären in jedem Lande unterscheiden. Zu diesem Behufe darf wohl in erster Linie daran erinnert werden, wieviel das moderne Deutschland noch von dem alten Kastendeutschland bewahrt hat. Die Quintessenz des Kastensystems besteht besonders in einer sehr starken, aber sehr eng begrenzten Solidarität. Die Solidarität verbündet nur Gleiche und derselben Kaste Angehörige. Es ist das
3
Vgl. p. 43.
Zum Problem: Solidarität und Kastenwesen
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Charakteristikum der Kaste, daß sie für alle ihre nicht angehörigen Elemente nur Gefühle der Geringschätzung oder doch der Interesselosigkeit besitzt. Darum bewahrt sie trotz aller persönlichen Zwistigkeiten, trotzdem Ehrgeiz, Eigenliebe und Charakterverschiedenheiten auch ihre eigenen Komponenten voneinander scheiden und trennen, ihre geschlossene Einheit gegen jedweden, der ihr als Ganzem, d. h. ihren kollektiven Interessen zu nahe tritt. Daher das Vorhandensein jenes sog. Korpsgeistes, welcher die deutsche Gesellschaft je nach dem Grade des Wohlstandes, den Berufen, der sozialen Herkunft, der Religion usw. in tausend kleine Kreise einteilt und untereinteilt, und welcher die Mehrzahl der deutschen Kleinstädte fur denjenigen, welchem geistige Freiheit und Menschenwürde lieb ist, so unbewohnbar macht. Aus der gleichen Quelle ist auch jener beklagenswerte Mangel an Toleranz, welcher das soziale und politische Leben Deutschlands charakterisiert entsprungen, dem zufolge es genügt, Sozialist zu sein, um von den herrschenden Klassen und dem Staat wie ein Aussätziger behandelt und nicht nur aus den Salons der sogenannten guten Gesellschaft, sondern auch von den Lehrstühlen der Universitäten und selbst dem bescheidenen Amt eines Landbriefträgers ausgeschlossen zu werden, und dem zufolge andererseits das Wort Bourgeois in einzelnen sozialistischen Arbeiterkreisen einen wahren Horror auslöst. Aber dieser Korpsgeist bringt andererseits eine ganze Reihe von auf Kastensolidarität begründeten Einrichtungen hervor, welche ausgezeichnet funktionierende Organisationen ins Leben gerufen haben, wie ζ. B. die studentischen Korps und, auf wirtschaftlichem Gebiet, eine große Anzahl von Instituten, Unterstützungskassen für Studenten, Söhne und Töchter altadeliger Familien usw. Bisweilen erinnert der in ihnen herrschende Geist der Engigkeit und Heimlichkeit in den gegenseitigen Hilfeleistungen ihrer Mitglieder an die Freimaurerschaft oder auch an gewisse Formen der süditalienischen Camorra. Der Kastengeist ist durch den Industrialismus, oder besser gesagt durch die Faktoren der modernen Wirtschaft noch stärker, wenn auch mehr in die Breite, entwickelt worden. Wenn der siegreiche Kapitalismus einerseits ohne Zweifel durch die riesengroßen Differenzen, welche er in der Verteilung der Güter hervorgebracht hat, einen wahren Abgrund zwischen den beiden wesentlichsten Gesellschaftsklassen geschaffen und dadurch die bereits vorher bestehenden Kontraste noch vertieft und vergrößert hat, so ist er andererseits gerade deshalb zu einer Musterschule der Solidarität geworden. Besonders die Arbeitermassen sind durch den Kapitalismus vorzüglich in der Solidarität geschult worden. Sie leiden heute unter denselben Übeln, sie hegen heute dieselben Wünsche und Hoffhungen; sie sind außerdem auch durch den großindustriellen Produktionsmechanismus in gigantischen Werkstätten zu gemeinsamer Arbeit vereinigt und durch die dadurch bedingte ständige technische Zusammenarbeit und den psychologischen Kontakt untereinander leicht organisierbar geworden. 4 So sind die Arbeitermassen des industriellen Deutschlands sozusagen dazu prädestiniert, die Avantgarde der mächtigen Solidaritätsarmee dieses Landes zu bilden. Aber diese Prädestination hat ihren Ursprung nicht nur in den technischen Verhältnissen der modernen Industrie; sie
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Vgl. p. 14.
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Zum Problem: Solidarität und Kastenwesen
entspringt zugleich auch aus dem deutschen Nationalcharakter, aus jenem Geist des Zusammenschlusses und der Disziplin, aus jenem Bedürfnis nach Führung, welche auch von Georges Blondel in seinen Studien über Deutschland hervorgehoben werden 5 , aus jener Neigung zur Systematisierung, welche, einem anderen ausländischen Sachkenner, William Harbutt Dawson, zufolge, den Schlüssel zu allen deutscherseits auf den verschiedensten Gebieten erfochtenen Siegen bietet 6 und welche einen Landsmann des letzteren, B. H. Thwaite, zu dem Ausspruch veranlaßte, der wesentlichste Unterschied zwischen Deutschland und England sei ebenderselbe, welcher zwischen dem Kosmos und dem Chaos, zwischen dem Verantwortlichkeitsgefühl und der Unverantwortlichkeit besteht. 7 Die Kaste im älteren, strengeren Sinne des Wortes ist ausgestorben. Durch geschriebenes Gesetz voneinander gesonderte Gesellschaftsschichten existieren nicht mehr. Selbst in Indien ist die Kaste in diesem Sinne durch das Gesetz abgeschafft. Die moderne Demokratie hat, auch in der Mehrzahl der überwiegend aristokratisch regierten Länder, alle Schranken, die eine geschlechtliche Vermischung verschiedenen Kreisen angehöriger Menschen sowie das Aufsteigen von einem dieser Kreise in einen anderen verhinderten, eliminiert. Das von Rechts wegen. Die Sitte hat diese Entwicklung, welche zur Zerstörung der alten Kasten geführt hat, zum großen Teile mitgemacht. Die moderne Geldwirtschaft stellt sich als ein fürchterlicher Hexenkessel dar. Alle Schranken der alten Ordnung wurden niedergebrochen und für eine Zeitlang der soziale Austausch zwischen den Klassen beschleunigt. Trotzdem ist die Kaste auch heute nicht völlig getilgt. Teils hat sie auch in der Demokratie und trotz des Zustandes der Schutzlosigkeit, in welcher sie vom Gesetz gelassen worden ist, die Stürme der Zeit überdauert, teils sind ihr aus der geordneten Arbeitsteilung, in welcher schon Friedrich Albert Lange den Keim der Kastenbildung erblickte 8 , neue Lebenselemente entstanden. Letztere dürfen freilich bei der großen Leichtigkeit, mit welcher insbesondere die moderne Arbeiterbevölkerung vielfach von einem Beruf zum anderen überzugehen und innerhalb kurzer Zeitspanne eine große Anzahl von verschiedenen Gelderwerbsarten zu versuchen pflegt 9 , nicht überschätzt werden. In den oberen Ständen indes ist der Mangel an Kastengeist nur scheinbar. Vielfach möchte man den Satz aufstellen: auf der Straße Gleichheit, im Salon Ungleichheit. Der italienische Aristokrat verkehrt in der Volksversammlung, im Café, im Bureau, auf dem
5 6 7 8 9
Georges Blondel, „L'Essor économique de l'Empire Allemand". Paris 1898, p. 31. William Harbutt Dawson, „The German Workman. A Study of national Efficiency". London 1906, King, p. VIII. B. H. Thwaite, „The Rise of Germany 1870-1905". London 1906, King, p. 23. Fr. A. Lange, „Die Arbeiterfrage, ihre Bedeutung in Gegenwart und Zukunft". 3. Aufl. Winterthur 1875, Bleuler, p. 55. Vgl. Werner Sombart, „Das Proletariat. Bilder und Studien". Frankfurt a. M. 1906, Rütten u. Loening, p. 64 ff. Für gelernte Arbeiter jedoch scheint sich diese Beobachtung nicht zu bewahrheiten. (Vgl. Marie Bernays, „Berufswahl und Berufsschicksal des modernen Industriearbeiters". Archiv für Sozialwiss. u. Sozialpol., Bd. 36, Heft 3, p. 890 ff.)
Zum Problem: Solidarität und Kastenwesen
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Sportplatz, mit den Angehörigen der anderen Stände ohne jede ostensible Distanzierung. Aber über die Schwelle seines Hauses und insbesondere die des Salotto seiner Frau läßt er doch nur solche Personen treten, die der gleichen gesellschaftlichen Sphäre angehören wie er selbst. Bei der Analyse der Entstehung und Erhaltung der Kaste verdient die Lebensführung der Frau besondere Beobachtung. In fast allen Kulturstaaten ist die Erziehung der Frau enger, mehr an das Haus gebunden, als die des Mannes. Das Mädchen hat infolgedessen weit weniger Gelegenheit, seinen Blick zu weiten, es bleibt viel tiefer in den Lebensgewohnheiten der Familie und des Menschenkreises, den diese Lebensgewohnheiten umfassen, stecken als der Mann, den die freiere Lebensführung mit sehr verschiedenen Kreisen in Kontakt bringt. Das Gesagte bezieht sich zumal auf das Schulwesen. Überall, zumal in der Schweiz, Österreich, Deutschland und Italien, aber auch, obgleich in geringerem Maße, in Frankreich und England (in welchen Ländern einige exklusive Schulen bestehen), verleben die jungen Leute die Schulzeit in von zahlreichen Knaben ihres Alters, die, wennschon natürlich nicht aus allen Klassen, so doch aus allen Schattierungen einer großen Klasse stammen, besuchten großen, innerhalb der angedeuteten Grenzen von demokratischem, kameradschaftlichem Geiste getragenen Schulen: Gymnasium, Universität. Gewiß macht sich auch dort die immanente Anziehungskraft homogener Elemente geltend, aber die Auswahl des Verkehrs geht doch keineswegs allein nach Kastenkriterien vor sich. Auch wirkt die erwähnte demokratisch-kameradschaftliche Atmosphäre häufig doch auf eine Fusion der in ihr lebenden Elemente. Nicht so bei den jungen Mädchen. Sie werden entweder nur zu Hause unterrichtet oder besuchen doch, zumal was die höheren Kreise der Bourgeoisie und des Adels, und unter ihnen wieder zumal die katholischen, betrifft, Anstalten, die auf einen weit weniger zahlreichen Kreis von Schülerinnen reflektieren und deshalb bewußt oder unbewußt, absichtlich oder unabsichtlich, nur von einem bestimmten Ausschnitt ein und derselben sozialen Klasse besucht werden: Pensionate, Klöster. Die gesellschaftliche Abgeschlossenheit und Einseitigkeit des Verkehrs, das Untersichsein ganz bestimmten Kreisen angehöriger junger Mädchen ist die Regel höherer weiblicher Erziehung. So atmen die Mädchen mit vollen Lungen Kastenluft in sich ein und, einmal verheiratet, suchen sie auch den Umgang ihres Mannes nach Möglichkeit nach Kastenrücksichten zu bestimmen. Ihre Ansichten sind enger als die ihrer Männer, weil das Milieu, in dem sie ihre Entwicklungsjahre verbrachten, enger war als das ihrer Männer, als sie noch junge Leute waren. So wird die Frau in der Regel zur stärksten Basis für die Fortdauer des Kastenbewußtseins in der Familie. Das sicherste Kriterium für die Existenz gesellschaftlicher Kasten besteht in der starken Anziehungskraft gesellschaftlich homogener Teile und der ebenso starken Abstoßungskraft gesellschaftlich heterogener Teile, wie sie bisweilen beim Vergleich der Ziffern der Nuptialität zum Ausdruck kommt. Dieser gibt freilich Ergebnisse, die jeden in Erstaunen setzen, der nicht mehr als oberflächliche Kenntnisse auf diesem Gebiete besitzt. Wenn wir zum Beispiel unser Augenmerk auf einen Vergleich der Heiraten zwischen Juden und Geburtsaristokraten in den einzelnen Ländern richten, werden wir gewahr, daß die Leichtigkeit der Verheiratung zwischen Mitgliedern der beiden Grup-
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Zum Problem: Solidarität und Kastenwesen
pen keineswegs der Leichtigkeit der sonstigen gesellschaftlichen Beziehungen und der Gradstärke der in den einzelnen Ländern vorhandenen demokratischen Einrichtungen oder auch nur Anschauungen entspricht, sondern, anscheinend ganz unlogisch, die entgegengesetzte Tendenz verfolgt. Die Attraktion zwischen Juden und „Ariern", wenigstens insoweit sie in den Eheziffern zum Ausdruck kommt, nimmt mit zunehmender Abgeschlossenheit der alten christlichen Gesellschaft zu. In keinem Lande der Welt sind die Juden im Besitz so geringer Rechte als in Rußland. Keine Kaste der Welt ist in ihrem gesellschaftlichen Verhalten den Juden gegenüber so zurückhaltend und abweisend wie der preußische Adel. Andererseits spielen die Juden in keinem Lande der Welt eine so mächtige Rolle als in Italien, dessen Regierungsspitze sowohl wie Hauptstadt im Jubiläumsjahr der nationalen Einheit durch Juden vertreten war, wo die ausgesucht feinsten Umgangsformen alle Kreise der Gesellschaft verbindet und der Antisemitismus nicht einmal dem Namen nach besteht. Demungeachtet sind im russischen und, noch mehr, im preußischen Adel die Heiraten mit Jüdinnen äußerst häufig, im italienischen hingegen äußerst selten. Die abgeschlossene russische und preußische Aristokratie besäße, an diesem Kriterium gemessen, also einen geringeren Grad Kastencharakter als die leutselige und allgemein menschlich empfindende Aristokratie Italiens. Die Erklärung für diese an sich seltsame Erscheinung liegt vornehmlich in der Geschichte des Judentums selbst. In Italien ist die Emanzipation des Judentums politisch längst restlos vollzogen. Eine Zurücksetzung der Juden findet in keiner Weise mehr statt. Wenn dort deshalb die Juden auch in der Ehe fast durchweg unter sich bleiben, so entspricht das eben lediglich der Tatsache, daß der italienische Jude, um Karriere zu machen, weder der Taufe noch der Heirat mit einer den obersten Ständen des Volkes angehörigen Christin bedarf. Nicht so in Preußen: hier gilt der Jude nur in der Verkleidung, in der Assimilation oder wenn man will, in der Dissimulation. Hier ist das gräfliche Ehebett meist die einzige Passage zur Eröffnung des Feldes gesellschaftlicher Ambition. Darum macht in Preußen die reiche Jüdin Jagd auf den Titulierten; in Italien, wo sie auch als Frau eines Juden Kriegsministerin werden kann, läßt sie ihren natürlichen Gefühlen freien Lauf und heiratet einen Vetter aus der Familie. Auf diese Weise erhellt, daß Kaste und immer relativ zu nehmende Blutreinheit nicht zusammenfallen, vorausgesetzt natürlich, daß keine ausgesprochenen Eheverbote obwalten. Das Bestehen einer Kaste in der Demokratie, d. h. in einer Gesellschaftsordnung ohne gesetzliche Schranken, ist ein Inzentivum; durch es werden Aspirationen entzündet, welche zur Blutmischung fuhren. Darum wird eine Aristokratie nur in der unverfälscht aristokratischen Herrschaftsform oder in der reinen Demokratie rein bleiben können. In den Zwischenformen wird sie stets starken Legierungsprozessen unterliegen. Sie wird Kaste bleiben können, aber nicht Rasse.
II. Parteien, Eliten, Klassen
Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände Eine kritische Untersuchung
1. Die fuhrende Rolle des deutschen Sozialismus im sozialistischen Internationalismus „Das schlagendste Zeugnis für die unerschöpfliche Kraft der Partei (der deutschen Sozialdemokratie) lag eben darin, daß sie sich inmitten aller Bedrängnis (des Sozialistengesetzes) anschickte, die Leitung der internationalen Arbeiterbewegung zu übernehmen." - So Franz Mehring in seiner Geschichte der deutschen Sozialistenpartei 1 . Es ist kein Zweifel daran, daß er mit diesem Ausspruch recht hat. Lange Jahre hat die Leitung der Angelegenheiten des internationalen Sozialismus fast ausschließlich in den Händen der deutschen Sozialdemokratie gelegen. Schon die alte Internationale stand in gewissem Sinne unter deutscher Führung. Zwar war die sozialistische Arbeiterbewegung der damaligen Zeit in Deutschland keineswegs einheitlicher, geordneter, theoretisch klarer, respektgebietender als in der Mehrzahl der anderen Länder - im Gegenteil, sie spielte eigentlich in jeder Hinsicht eine weit geringere Rolle als die Sektionen der Internationalen in Frankreich, Italien, der Schweiz und Belgien - aber die gewaltigen, wennschon nicht in Deutschland wohnhaften deutschen Persönlichkeiten von Marx und Engels, die nicht nur durch ihr Wissen und Können, sondern auch durch ihre Tatkraft und Rücksichtslosigkeit weit über alle übrigen Persönlichkeiten des damaligen Sozialismus herausragten, brachten doch ein Ueberwiegen des „deutschen Einflusses" im Generalrat mit sich, auf das sie nicht wenig stolz waren, wie sie denn überhaupt durchaus als die Stammväter jenes von den ausländischen Sozialistenparteien so häufig als fremd empfundenen deutschsozialdemokratischen Patriotismus, d. h. einer leidenschaftlichen, selbst agressive Formen annehmenden Liebe zur eigenen, vaterländischen Form des Sozialismus, anzusehen sind. Dieser überwiegende „deutsche Einfluß" - von K. Marxens unbändigem Selbstgefühl einfach als „deutsche Wissenschaft" bezeichnet 2 - wurde bald zur Ziel-
1 2
Franz Mehring, „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie". 2. Aufl. Stuttgart 1904.1. Bd., p. 295. Es sei hier an das erboste Wort von Marx erinnert: „In den Augen dieser „Internationalen" ist es überhaupt schon eine Sünde, daß „deutscher" Einfluß (weil deutsche Wissenschaft) im General Council vorwiegt". (Brief von Karl Marx aus London vom 9. November 1871 an F. A. Sorge:
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Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände
scheibe der Kritiken und Angriffe fast aller außerdeutschen Arbeiterparteien, die in ihm arge unsozialistische Ueberhebung und Intoleranz und gefahrliche Herrschsucht erblicken wollten, insbesondere da auch durch die Konzentrierung der Internationalen in die Machtsphäre des Londoner Generalrats, der nichts mehr und nichts weniger war als Marx selber, die Hegemonie in eine rechtliche Form gebracht werden sollte. Zwar wurde der „deutsche Sozialismus" der Opposition, die sich gegen ihn erhoben hatte, am Ende Herr. Sowohl die Jurassiens, als auch die Bakunin und sein italienisch-spanischer Anhang wurden aus der Partei teils herausgeärgert, teils herausgeworfen. Aber da es kurz darauf auch mit den französischen Blanquisten und den englischen Arbeiterführern zu entscheidenden Auseinandersetzungen kam, so sah der „deutsche Sozialismus" sich am Ende doch so isoliert, daß er es vorzog, sich nach Amerika zu flüchten. Bekanntlich wurde der Generalrat nach New-York verlegt, und war damit dieser Zweig der Internationalen endgültig von der Bühne verschwunden. Der andere, der sich um Bakunin gebildet hatte, vegetierte noch eine Zeitlang, um dann nach wenigen Jahren ebenfalls abzusterben. Fast vier Lustren blieb nun der internationale Sozialismus international unorganisiert. Erst Ende der achtziger Jahre taten sich hier und dort wieder Bestrebungen kund, die sich für den engeren Anschluß der einzelnen sozialistischen Landesparteien untereinander aussprachen. Aber die „neue Internationale" ahmte ihre Vorgängerin nicht darin nach, daß sie sich die gleiche Struktur gab. Auf der Erkenntnis fußend, die Engels in den Satz goß: „Die Massen sind nun einmal nur auf dem, jedem Lande und den jedesmaligen Umständen entsprechenden Wege - der meist ein Umweg ist - in Bewegung zu bringen"3, war sie nicht mehr wie vorher eine ohne Rücksicht auf Grenzen, Rassen und Traditionen organisatorisch einheitlich zusammengefaßte, einem Normalstatut unterworfene und durch ein Einheitsprogramm zusammengeschweißte Masse, sondern sie lebte wieder auf als eine lose Aneinanderreihung national streng gesonderter und theoretisch wie taktisch fast vollständig autonomer Einzelparteien, deren gemeinsames Leben sich in der Hauptsache auf die Abhaltung internationaler Kongresse beschränkte. Wenn auch durch diese neue Form der Diktatur eines Generalrats ausgeschlossen war und auch auf den Kongressen, auf denen man nicht mehr nach Köpfen (Delegierten), sondern nach Nationen abstimmte, die ausgesprochene Vorherrschaft einer einzelnen durch Ueberstimmung der anderen Nationen nicht mehr möglich war, so blieb doch, wenngleich in veränderter Form, auch in der neuen Internationalen Deutschland Trumpf. Es ist zweifellos, daß sowohl in ihrer Taktik, als auch insbesondere in der Organisationsform, die sie sich gab, und dem Geist, der sie beseelte, die große Mehrzahl der außerdeutschen Sozialistenparteien sich an der deutschen ein Muster nahmen. Dómela Nieuwenhuis geht sogar so weit, die übrigen sozialistischen Parteien in Europa, die sich des Parlamentarismus als Waffe bedienen, überhaupt nur als „Verb r i e f e und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u. a. an F. A. Sorge und andere". Stuttgart 1906. J. H. W. Dietz Nachf. p. 33.) 3
Brief von Fr. Engels aus London vom 16. September 1887 an F. A. Sorge. Briefe und Auszüge loco cit. p. 280.
Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände
137
takkingen" (Verzweigungen) der deutschen Sozialdemokratie zu werten 4 , nicht ohne leisen Tadel: als Parteien, die ihr Modell aus Deutschland holen, in ihr aufgehen, Ableger von ihr sind, Filialen, die eröffnet werden und auch wieder geschlossen werden können. Sicherlich ist an sklavischer Nachäfifung deutscher Formen von den ausländischen Parteien viel geleistet worden. Sicherlich auch hat die deutsche Partei häufig als ein abgöttisch angebetetes Idol gegolten, das zu kritisieren einem crimen laesae socialismi gleichgekommen wäre. In Oesterreich, in Italien, in Ungarn, in Spanien wurde das deutsche Reis häufig auf einheimische Bäume gepfropft, mit denen es keine Verwandtschaft hatte. In Holland ist die deutsche Form des Sozialismus (die heutige sozialdemokratische Partei) sogar gegen die bodenständige Form des Sozialismus (Sociaaldemokratische Bond) mit deutschem Gelde gegründet worden 5 . Die schon vorher vorhandene allgemein günstige Voreingenommenheit gegenüber der deutschen Sozialdemokratie stieg noch, als das Sozialistengesetz fiel, eine Begebenheit, die in staatsmännischer Uebertreibung lediglich als durch die übermäßige Kraft der Partei, die das wilde Raubtier Bismarck auf die Rniee gezwungen habe, verursacht dargestellt wurde. Auf dem ersten Kongreß nach dem Fall dieses Gesetzes, der vom 12.-18. Oktober 1890 in Halle a. S. abgehalten wurde, erschienen die Abgeordneten der Bruderparteien des Auslandes wie die kleinen Schüler, die ihrem Herrn und Meister, der soeben ein unsterbliches Werk geschaffen, ihre Huldigung überbringen 6 . Die deutsche Sozialdemokratie war „ganz direkt zur ausschlaggebenden Partei Europas" geworden. Ihre moralische Stärke war so groß, daß sie „selbst bei fehlerhafter Taktik" auf den Kongressen zu siegen hoffen durfte 7 . Der deutsche Sozialdemokrat spielte sich nun, wo immer er konnte, auch in anderen Ländern als der geborene Lehrer des dortigen Proletariats auf. Die Deutschen in Amerika gründeten eine eigene Partei, deren Taktik, nach einem anarchistischen Text, in einer minutiösen Nachäffung der deutschen Sozialdemokratie
4
S. z. B. das Kapitel: „De Duitsche Socialdemokratie en haar Vertakkingen in andere Landen", in F. Dómela Nieuwenhuis:
„De Geschiedenis van het Socialisme". Amsterdam 1902. Van Looy. Vol. II,
p. 235-315. 5
Vgl. den Brief, welchen der Zentralrat des sozialdemokratischen Bundes an den deutschen Parteitag in Frankfurt a. M. (1894) richtete, und in welchem er die Tatsache beklagte, daß die deutsche sozialdemokratische Reichstagsfraktion der neuen, von der alten abtrünnigen holländischen Partei 1500 Mk. Unterstützung gesandt hatte. Kein internationaler Kongreß habe doch der deutschen Fraktion „das Mandat verliehen als europäische Parteijustiz"! (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Frankfurt a. M. vom 21. bis 27. Oktober 1894. Berlin 1894. Verlag d. Exp. d. „Vorwärts", p. 75.)
6
Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Halle a. S. v o m 12. bis 18. Oktober 1890. Berlin 1890. Verl. d. Exp. des „Berliner Volksblatt". (Reden von: F. Domela-Nieuwenhuis-Haag, p. 20, Dr. Viktor Adler-Wien, p. 21, Mundberg-Kopenhagen, p. 25, Beck-Zürich, p. 26, Branting-Stockholm, p. 27, Anseele-Gent, p. 29.)
7
Brief von Friedrich Engels aus London am 27. September 1890 an F. A. Sorge. Briefe und Auszüge, loco cit. p. 347.
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Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände
bestand 8 , und deren Verfall, nach einem deutsch-sozialdemokratischen Text, wegen „ihrer lächerlichen theoretischen Unklarheit, ihrer dementsprechenden Hochnäsigkeit und ihrem Lassalleanismus für ein wahres Glück" erklärt werden konnte 9 , unfreiwillige Karikaturen, die eben doch nichts anders bewiesen als die Tiefe des Bedürfnisses, die deutsche Sozialdemokratie anzuerkennen und ihr, auf möglichst gleichen Wegen, nahezukommen. Die deutsche Sozialdemokratie teilte das Schicksal aller deutschen Einrichtungen seit dem großen Kriege, des militärischen Organismus sowohl wie der staatlichen Struktur, der Rechtspflege sowohl wie des Universitätswesens: für die analogen Einrichtungen des Auslands als Muster zu dienen und zur Nachahmung empfohlen zu werden. Man hat, im Lager der Feinde der deutschen Sozialdemokratie im internationalen Sozialismus, insbesondere der Anarchisten, dieser bêtes noires sozialdemokratischer Geschichtsschreibung und ersten Opfer der procédés der Partei auf den internationalen Kongressen, den Grund zu diesem offenbaren Uebergewicht darin finden wollen, daß die Sozialdemokratie die internationalen Kongresse einfach terrorisiert habe. Man hat sie beschuldigt, einzelne gefügige Elemente aus den kleinen und kleinsten Nationen mit Mandaten versehn und dann als „Vertreter" auf den Kongressen haben erscheinen zu lassen, in der Rolle von Pseudonationen, die immer Ja sagen und auf diese Weise der deutschen Sozialdemokratie zu einem leichten Siege verhelfen 10 . Man hat ihr nachgesagt, daß sie, vereint mit einigen Freunden aus Frankreich und Rußland zu einer „Familie Marx", sich durch Intrigen und brutales Auftreten der Geschäftsleitung, insbesondere der Präsidien und der Verdollmetschungsposten, zu bemächtigen verstehe und diese in der schändlichsten Weise für ihre Sonderwünsche ausnutze 11 . In allen diesen Vorwürfen ist ein Körnchen Wahrheit enthalten. Nicht umsonst haben sich ζ. B. in London 1896, wo die Klage am lautesten war, Männer wie die Franzosen Edouard Vaillant und Marcel Sembat, die Engländer Keir Hardie und Bernhard Shaw und der Belgier E. Vandervelde, die doch sachlich auf ihrer Seite standen, mit aller Entschiedenheit gegen die Führung der Deutschen zur Wehr gesetzt. Wer die kürzlich herausgegebenen Briefe Engels' an Sorge aufmerksam verfolgt hat, dem kann weder entgangen
8 John Most: „Der kommunistische Anarchismus". 2. Aufl. Ohne Verlagsvermerk gedruckt. (Internationale Bibliothek, 1890.) 9 Brief von Fr. Engels aus London vom 8. Februar 1890 an F. A. Sorge. Briefe und Auszüge, loco cit. p. 330. Vgl. auch den Brief von Fr. Engels an F. A. Sorge aus London vom 12. Oktober 1889. p. 323. Man vergleiche auch die äußerst scharfen, zum Teil auf Erzählungen von Adolph Hepner beruhenden Urteile über das Wesen der deutschen Sozialdemokratie in Amerika aus der Feder eines amerikanischen Sozialisten (Daniel De Leon·. „Flashlights", loco cit. p. 42-45). 10 So ζ. Β. in der Gelegenheitsschrift „Der Londoner Kongreß". Zur Beleuchtung der Vorgänge auf demselben. Separatabdruck aus dem „Sozialist" Berlin 1896. Verl. Gustav Friedrich, p. 39, sowie Léon Remy: „Le Congrès de Londres" in d. Zeitschrift La Revue Blanche, VII, No. 77 (Paris 1895). 11 Vgl. „Der Londoner Kongreß" p. 39, 43, sowie „Les Révolutionnaires au Congrès de Londres". Conférences Anarchistes. Paris 1896. Ed. des „Temps Nouveaux", p. 12/13, 14.
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sein, wie fein und wie stark die Fäden waren, die gesponnen wurden, um die „Familie Marx" am Ruder zu erhalten, noch gar, in wie unglaublich hochmütiger Weise man deutscherseits ein moralisches Anrecht auf die Führung im internationalen Bunde prätendierte 12 . Aber so einig die sozialistischen Kritiker auch über das „unverschämte Gebahren" der deutschen Sozialdemokratie sind und so recht sie in vielen Punkten haben mögen, so ist es doch ganz ausgeschlossen, daß sie damit eine hinreichende Erklärung der Hegemonie dieser Partei gegeben hätten. Im Gegenteil: Die Erscheinung, daß die deutsche Sozialdemokratie, sei es auch mit Zuhülfenahme von Intrigue und diplomatischem Spiel, sich in den Besitz der tatsächlichen Leitung auf internationalen Veranstaltungen hat setzen können, reizt uns erst recht zur Wiederholung der Frage nach den kausalen Zusammenhängen. Durch Intrigen allein hält man keine differenzierte Riesenbewegung fünfundzwanzig Jahre lang in seinem Bann. Also nochmals: was sind die Ursachen für die deutsche Hegemonie im internationalen Sozialismus? Wenn wir von der der Sozialdemokratie, der sie ihre endgültige Entfernung aus dem internationalen Verbände verdankten, gegenüber von ehrlichem Haß beseelten Literatur der sogenannten Anarchisten - soweit sie nicht Individualisten sind, besser und verständlicher als antiparlamentarische Sozialisten zu bezeichnen - absehen 13 , finden wir längste Zeit in der sozialistischen Literatur des Auslandes der Sozialdemokratie gegenüber fast nur Worte des Lobes und der Bewunderung. Selbst an sich kritisch veranlagte Männer urteilten über sie nur mit der größten Hochachtung. Bertrand Russell bestaunte ihre herrliche Organisation, dieses masterpiece of ingenuity and efficiency 14 , Antonio
12 Vgl. die Stelle eines Briefes von F. Engels aus London vom 30. Dezember 1893 an F. A. Sorge: „Trotz alledem krähen die Herren Franzosen wieder siegestrunken in die Welt hinaus und möchten wieder an die Spitze der Bewegung treten. Sie haben einen Antrag auf Verwandlung der stehenden Armee in ein Milizheer eingebracht (Vaillant) und Guesde will einen einbringen auf einen europäischen Entwaffnungskongreß. Der Plan ist, die Deutschen und Italiener sollen einen ähnlichen in ihren Parlamenten einbringen, w o sie dann natürlich als Nachtreter der „führenden" Franzosen erscheinen würden. Was die paar - noch dazu höchst konfusen - Italiener tun, ist wurst, ob aber unsere Deutschen sich so ohne weiteres ins französische Schlepptau begeben, ist zweifelhaft. Wenn man seine Machtstellung durch 25jährigen harten Kampf erobert, und zwei Millionen Wähler hinter sich hat, so hat man das Recht, sich das scratch lot etwas näher anzusehen, das so plötzlich kommandieren will. Um so mehr als die Herren Franzosen selbst äußerst kitzlich sind, sobald ihnen gegenüber die geringste Etikettenverletzung geschieht". (Briefe und Auszüge, loco cit. p. 405.) 13 Anbei einige der bedeutenderen unter ihnen: Francesco Saverio Merlino·. „Le Socialisme Allemand" in La Révolte, 9. Mai 1891. P. Argyriadès:
„La Crise du Socialisme en Allemagne" in de
Monatsschrift „La Question Sociale". Paris 1891. Hans Müller. „Der Klassenkampf in der deutschen Sozialdemokratie". Zürich 1892, 141 Seiten. Ferdinand Dómela Nieuwenhuis:
„Les Divers
Courants de la Démocratie Socialiste Allemande". Bruxelles 1892. 28 Seiten. Wladimir Tscherkesoff: „Pages d'Histoire Socialiste: Doctrine et Actes de la Socialdémocratie Allemande". Paris 1896. Edition des Temps Nouveaux, V e 4, Rue Broca. 14 Bertrand Russell·. „German Social Democracy". Six Lectures. London, New-York and Bombay 1896. Longmans, Green and Co. p. 116.
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Labriola ihren zielbewußten Enthusiasmus15, Guglielmo Ferrerò ihre großartige Kritik an den bestehenden Zuständen Deutschlands, ihr feines Gefühl für das journalistisch Wirksame16, Filippo Turati endlich sogar ihre Energie und ihre Resolutheit17. Es gab keine Eigenschaft, die einer politischen Weltanschauung zum Ruhm gereicht, die der deutschen Sozialdemokratie nicht aus berufenem Munde nachgesagt worden wäre. Selbst der Hyperkritikus Arturo Labriola bewunderte ihre taktische Ehrlichkeit in der Frage der Monarchie18 und sprach sein Bedauern darüber aus, daß die italienische Sozialdemokratie die deutsche nicht mehr immer zum Muster nähme19. Selten mischte sich in den Dithyrambus der Begeisterung ein Anflug von Kritik. So meinte z. B. ein italienischer Kritiker, der das Agrarprogramm, das die bekannte Kommission dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Breslau vorgelegt hatte, für teils überholt, teils direkt reaktionär erklärt hatte, entschuldigend, wenn eine große Partei sich energischen Feinden gegenüber befände, habe sie ein Recht darauf, die Hälfte ihrer wahren Absichten klüglich zu verschweigen und den Diplomaten vieux jeu zu spielen20. Aber selbst diese leisen Kritiken bedeuteten Ausnahmefalle. In der Regel war die Bewunderung schlackenrein. Wir besitzen Skizzen über die deutsche Sozialdemokratie, die uns anmuten wie das Hohelied Salomonis21. Der Jaurésist Edgard Milhaud, Pro-
15 Der mit einem trefflichen Blick für wenn auch nicht immer das Wirkliche, so doch das Notwendige begabte Antonio Labriola, bekanntlich ein warmer Verehrer der deutschen Arbeiterpartei, mit deren Führern ihn vielfache Bande der Freundschaft verknüpften, hat der Sozialdemokratie zumal ob ihrer klaren Erkenntnis der Klassenlage ein Loblied gesungen: „... quando io esamino dappresso la storia precedente e le presenti condizioni della Soziaaldemokratie tedesca, non è l'incremento continuo dei successi elettorali che mi riempia proprio principalmente l'animo di ammirazione e di speranza. Più che almanaccare su quei voti come arra dell' avvenire, secondo i calcoli qualche volta fallaci della illazione e della combinatoria statistica, mi sento ripieno di viva ammirazione per questo caso veramente nuovo ed imponente di pedagogica sociale: e, cioè, che in così stragrande numero di uomini, e segnatamente di operai e di piccoli borghesi, si formi una coscienza nuova, nella quale concorrono, in egual misura, il sentimento diretto della situazione economica, che induce alla lotta, e la propaganda del socialismo, inteso come meta o punto d'approdo". (Ant. Labriola: „Discorrendo di Socialismo e di Filosofia". 2a Ediz. Roma 1902. Erm. Loescher, Edit. p. 40.) 16 Guglielmo Ferrerò·. „L'Europa Giovane. Studi e Viaggi nei Paesi del Nord". Milano 1897. Frat. Treves edit. p. 62. 17 Filippo Turati in der Vorrede zu Aug. Bebel: „Alla Conquista del Potere. Dai discorsi al Parlamento Tedesco nelle tornate del 3 e 6 febbr. 1893". 3. ediz. con giunte. Milano 1896. Uff. della Lotta di Classe. 18 Arturo Labriola: „Perchè siamo Repubblicani". Avanguardia Socialista, II, No. 35. Milano 23 agosto 1903. 19 Arturo Labriola·. „Ministero e Socialismo". Risposta a Filippo Turati. Firenze 1901. G. Nerbini edit. p. 28. 20 Lucio·. „La Conquista delle Campagne". Polemiche Agrarie fra Socialisti. Milano 1896. Uff. della Critica Sociale, p. 5 ss. 21 Vgl. ζ. Β. Félicien Challaye: „L'Empire Allemand ed ie Socialisme". Pages Libres, III, No. 114, 7 mars 1903.
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fessor der Nationalökonomie an der Universität Genf, hat fast 600 Seiten Lobes über die deutsche Sozialdemokratie zusammengetragen, ohne daß sich in sie überhaupt auch nur ein halbwegs ernster Tadel hineinmischte. Das sonst mit vielem Geschick und anerkennenswertem Fleiß geschriebene Werk schließt sogar mit einer Apotheose, die in die Versicherung ausklingt, welche Hindernisse sich der deutschen Sozialdemokratie immer in den Weg stellen möchten, sie sei ohne jede Frage im Stande, sie alle spielend zu überwinden 22 . Es ist der Geist völliger Kritiklosigkeit und Kurzsichtigkeit, der aus derartigen Aeußerungen spricht. Aber er ist uns interessant als Zeuge von der Hochachtung, die ausländische Genossen der deutschen Partei entgegenbrachten.
2. Die Motivreihen der deutschen Hegemonie im internationalen Sozialismus Die Sieghaftigkeit des deutschen Typus des Sozialismus auf dem Gebiete der Arbeiternationalen, die sich auch auf allen bisherigen internationalen Kongressen der Arbeiterbewegung sowohl rechts wie links gegenüber bewährt hat und nicht nur so tüchtige nichtdeutsch-sozialistische Theoretiker wie den Holländer Christiaan Cornelissen und den Italiener F. Saverio Merlino, sondern auch, was mehr bedeutet, so einflußreiche politische Kraftgestalten wie Ferd. Dómela Nieuwenhuis (Zürich 1893), Enrico Ferri (Paris 1900) und Jean Jaurès (Amsterdam 1904) niedergerungen und so bedeutsam wiederholtermaßen in die innerpolitischen Zustände eines großen Landes wie Frankreich eingegriffen hat, hat ihre Ursachen in folgenden Momenten: Die deutsche Sozialdemokratie ist zum internationalen Vorbild geworden: 1. Weil es seit etwa dem Anfang der 80er Jahre des XIX. Jahrhunderts immer schärfer zu Tage trat, daß die übrigen Lehrgehalte und Theorien des Sozialismus immer mehr, wenn auch nicht völlig aus dem Felde geschlagen, so doch, zumal auf dem wichtigen Gebiete der internationalen wissenschaftlichen Literatur, zur Seite geschoben wurden vom Marxismus. Theorien, die vorher ihre wärmenden Strahlen bis in die tiefsten Gründe der leidenden Menschheit entsandt hatten, wie die Ideengänge von Männern wie Proudhon, Bakunin, Blanqui, verblaßten immer mehr in ihrer Wirkung 23 . Dafür entstanden allenthalben marxistische Gruppen, oft durch ebenso unmerkliche als intensive Penetration wirkend, die bereits vorhandenen Sozialismen der anderen Systeme in den Parteimassen sozusagen von unten aushöhlend und sie endlich restlos erobernd wie in Italien, Oesterreich und den skandinavischen Ländern, sowie, wenn auch in geringerem Maße, in Belgien, Holland und der Schweiz - oft, und zwar wo, wie in England, Frankreich, Rußland und Spanien, andere Richtungen des Sozialismus sich noch so viel Lebenskraft zu wahren gewußt hatten, um der „friedlichen Durchdringung"
22 Edgard Milhaud: „La Democratic Socialiste Allemande". Paris 1903. Félix Alean édit. p. 580. 23 Vgl. den glückseligen Artikel von Friedrich Engels im Volksstaat über das Programm der blanquistischen Kommune-Flüchtlinge („Internationales aus dem Volksstaat" (1871-75), Berlin 1894. Verl. d. Exp. „Vorwärts", p. 46), w o er mit Jubel konstatiert, daß dies das erste Manifest sei, „worin französische Arbeiter sich zum jetzigen deutschen Kommunismus bekennen".
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durch die Marxschen Gedankenmoleküle kraftvollen Widerstand zu leisten, durch selbständiges, bewußtes Auftreten in der Form von besonderen marxistischen Parteien. Fast überall beriefen sich die Führer der internationalen Arbeiterbewegung auf Marx, viele, auch unter den hervorragendsten Männern anarchistischer Richtung, erklärten sich öffentlich als seine Schüler. Hand in Hand, und nachweisbar in demselben Verhältnis des Wachstums, stieg mit der allmählichen Erlangung der Vorherrschaft in der internationalen Arbeiterbewegung seitens des Marxismus auch das internationale Prestige der deutschen Sozialdemokratie. Denn die deutsche Sozialdemokratie galt als die reinste Vertreterin eben der Marxschen Ideen. Die Gründe liegen auf der Hand. Die Geburtszufalligkeit stempelte Marx zu einem Deutschen. Seine literarische und wissenschaftliche Tätigkeit, zum guten Teil auch seine Vorbildung, waren vorzugsweise deutsche. Der Mann, der nach Marxens frühzeitigem Tode lange Jahre hindurch im internationalen Sozialismus als der Testamentsvollstrecker des Geistesriesen galt und die Rolle eines Nestors spielen durfte, zu welchem die Arbeiter aller Sprachen und Stämme ratbittend gepilgert kamen, Friedrich Engels, war nach Herkunft, Geblüt und Art ein Deutscher, wie er im Buche stand. In Deutschland lebten und webten die bedeutendsten Marx-Engels-Schüler, Karl Kautsky und Eduard Bernstein. Die deutsche Literatur des Marxismus, lange Zeit die an Zahl und Gewicht reichste, in alle Sprachen der Erde übersetzt, wurde zu einem klassischen Schatz des internationalen Sozialismus, zu einer wertvollen geistigen Schöpfquelle aller geistigen Arbeiter auf den Gefilden der Arbeiterfragen. Auch der erste große theoretische Taktikstreit, der den wissenschaftlichen Sozialismus bewegte und welcher mit der Wendung Bernsteins zum Revisionismus verbunden war, und der wiederum von Deutschland ausging, war eher dazu angetan, die geistig fuhrende Stellung der deutschen Partei zu stärken als sie zu schwächen. Auch war allgemein die Annahme verbreitet, daß die Marxschen Lehren nirgendwo tiefer in die Arbeiterseele eingedrungen seien, als gerade in Deutschland 233 . 2. Weil die deutsche Sozialdemokratie auf die Bruderparteien des Auslandes eine mächtige Wirkung durch ihre Taktik, die, anscheinend gleich weit entfernt von den hirnverbrannten Versuchen anarchistischer Rebellion wie von den Unklarheiten eines die Ziele des Sozialismus aus den Augen verlierenden Possibilismus, die goldene Mittelstraße gesetzlichen Zielbewußtseins zu wandeln schien 24 , ausübte. Was den Sozialisten jenseits der deutschen Grenzpfahle so imponierte, das war die deutsche Sozialdemokratie in ihrer Eigenschaft als Oppositionspartei, als unentwegte, konsequente Kämpferin im Sinne Marxens, als energische Durchfuhrerin der Negation im Parlament,
23a
So ζ. B. Werner Sombart,
der die „Durchdringung mit marxistischen Ideen bis zur Sättigung"
sogar als eines der Hauptmerkmale der deutschen Sozialdemokratie gelten lassen will. („Sozialismus und soziale Bewegung", 5. Aufl. p. 138). 24 „Das eben ist der große Vorzug unserer deutschen
Bewegung - ein Vorzug, der nicht auf persön-
liches Verdienst, sondern auf unsere eigentümliche, in anderer Hinsicht nachteilige historische Entwicklung zurückzuführen ist - daß sie v o m ersten Moment an ein in den Grundzügen feststehendes Programm, eine wissenschaftliche
Weltanschauung und eine realpolitische
Taktik hatte".
(Wilhelm Liebknecht'. „Hochverrat und Revolution". Berlin 1892. Verl. Th. Glocke, p. IX.)
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als in gewolltem Stolze Isolierte auf dem Terrain der Wahlkämpfe, kurz als Klassenkämpferin in Wort und Tat. Keine Bündnispolitik, keine Ministerunterstützung wie in Frankreich, auch kein Zusammenarbeiten mit politisch undefinierbaren Arbeiterelementen wie in England, sondern die stählerne Logik Marxscher Deduktionen übertragen auf die Kunst des Agierens auf der Bühne des Parteilebens. In Wirklichkeit: die seltsame Verquickung von Glück und Unglück, die für die Sozialdemokratie Deutschlands in der Tatsache lag, in einem noch halb-absolutistischen Staatswesen ohne Parlamentarismus, Ministerverantwortlichkeit und öffentliche Meinung wirken zu müssen, noch dazu als Minorität, mit anderen Worten, bon gré mal gré von den Gefahren eines Ministerialismus, ja, einer Teilnahme an der Regierung unter welcher Form immer, verschont und jeder Verantwortlichkeit dem Volksganzen gegenüber überhoben zu sein, eine Lage, die ihr andererseits doch - oder gerade deshalb - gestattete, im Reichstage nach Herzenslust sozialistisch sprechen und in unentwegter Intransigenz als die getreue Hüterin des Marxistischen Schatzes dastehen zu können. 3. Weil die sichtbaren Erfolge, welche die Sozialdemokratie in Deutschland aufzuweisen hatte, von keiner sozialistischen Partei anderer Länder auch nur im Entferntesten nachgemacht werden konnten. Sie, der ein gütiges Schicksal, früher als allen anderen Arbeiterparteien, ein leidlich günstiges Wahlrecht in die Arme geworfen, ist im gesetzlich-parlamentarischen Kampfe allen anderen vorangegangen und allen zum Vorbild geworden. Die ungeheuren, ohne Unterbrechung und in steigendem Maße sich wiederholenden Siege bei den Wahlen und, damit zusammenhängend, das Anschwellen der Abgeordnetenfraktion im Reichstag wirkten nahezu verblüffend. Die Zahlen der für die Partei abgegebenen Wahlstimmen, die die für die sozialistischen Kandidaten des ganzen übrigen Weltalls abgegebenen Stimmen addiert weit hinter sich liessen, mußten die Kameraden des Auslandes wie ein Märchen aus Utopia anmuten und sie in demselben Maße bestricken, wie die sozialistischen Parteien auch anderwärts allmählich ihre revolutionären Allüren und inbrünstigen Idealismen mehr und mehr aufgaben und sich auf die Gegenwartsarbeit, die in der Hauptsache als eine Wahlsache verstanden wurde, einrichteten. Bis Ende der 1870er Jahre waren die fur die deutschen Reichstagsabgeordneten abgegebenen Stimmen fast die einzigen auf der ganzen Erde und noch 1878 entfielen von den insgesamt 438231 sozialistischen Stimmen in allen Ländern der Erde 437158 auf die deutsche Sozialdemokratie 243 . 4. Weil die ebenfalls anderswo unerreichte Engheit und Festigkeit der Maschen einer über das ganze deutsche Land verzweigten Organisation, und zwar einheitlichen Organisation, mit ihrem glänzenden bureaukratischen Kopfputz und der freiwilligen Disziplin, die der Partei eine Stoßkraft zu verleihen schienen, die allen anderen Parteien völlig abging, allerwärts eine mit Ehrfurcht gemischte Bewunderung einflößte. 5. Weil die die deutsche Arbeiterschaft großenteils eben dank ihrer mustergültigen Organisation auszeichnenden Eigenschaften im internationalen Verkehr, die sie in gewissen Dingen geradezu unentbehrlich machen und ihr, möchten wir sagen, eine beinah
24a Wemer Sombart. „Sozialismus und soziale Bewegung". 5. Aufl. p. 142.
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organisatorisch begründete Hegemonie über die Bruderparteien des Auslandes verleihen. Hierzu gehört vor allen Dingen die großartige Bereitwilligkeit der deutschen Sozialdemokratie zu finanziellen Opfern. Ihre ausgezeichnet versehenen Kassen erlauben ihr das. Es ist keine Frage, daß die deutsche Sozialdemokratie den sozialistischen Arbeiterparteien des Auslandes in Notfällen ganz bedeutend stärker unter die Arme greift, als es umgekehrt geschieht, geschehen kann. Neben den großen Spenden, die aus der deutschen Parteikasse dem sozialistischen Tageblatt „Humanité" zugeflossen sind und den enormen Summen, die sie der russischen Revolution zuwandte, muß, um nur ein Beispiel zu nennen, die bescheidene Summe von ganzen 50 Lire, welche die sozialistische Fraktion der italienischen Kammer den streikenden Bergleuten im Ruhrrevier zuwandte, in ihrer Geringfügigkeit geradezu lächerlich erscheinen. Noch stärker aber als in Geldsachen in engerem Sinne wirkt die Ueberlegenheit der deutschen Sozialdemokratie auf internationalen Kongressen und bei der Handhabung internationaler Korrespondenzen und Organisationen, kurz überall da, wo außer ihrem Plus an Geld auch noch ein Plus an Bureaufleiß, Peinlichkeit, Sorgfalt und Disziplin in Betracht kommt. Während die Franzosen keinen geordneten Kongress zusammenbringen, die Engländer kein internationales Zentral-Sekretariat zur Zufriedenheit innehaben können, sind die deutschen Arbeiterorganisationen geradezu Muster in der Kunst der Veranstaltung von Kongressen und der Uebernahme und Einhaltung internationaler Verpflichtungen dieser Art. Diese überwiegend mechanisch-technischen Eigenschaften sind es auch, die insbesondere fast die gesamte Leitung auf dem gewerkschaftlichen Gebiete in die Hände der Deutschen gespielt haben. 6. Weil die Geschichte selbst die deutsche Sozialdemokratie zur internationalen Führerin prädestinierte. Der Sieg Deutschlands über Frankreich 1870/71, der in die Geschicke der Internationalen so entscheidend eingriff, war im Grunde ein Sieg der Organisation über die Desorganisation gewesen. Was Wunder, wenn der Sozialismus des siegreichen Landes sich diese Lehre zum Muster nahm? So übertrug sich der Geist der straffen Organisation, der Zentralisation von dem Reichsdeutschland, das sich dreißig Jahre lang aus der schwächenden Kleinstaaterei heraus nach der Zucht und Einheit gesehnt hatte, auf das Arbeiterdeutschland 24 \ das gleichzeitig hoffte, durch die Konzentration der eigenen Kräfte die Konzentration der feindlichen Kräfte - den Staat - überwinden zu können240. Die deutsche Sozialdemokratie wurde zu einer Regierungspartei, wie sie ein scharfsinniger portugiesischer Beobachter einmal genannt hat24d, d. h. zu einer Partei, die, organisiert wie eine Regierung im kleinen, glaubt, dereinst die Regierung im großen übernehmen zu können. Das Rezept schien gut und die übrigen proletarischen Parteien nahmen keinen Anstand, es auch ihrerseits eifrig zu gebrauchen.
24b Peter Krapotkin: „Parole di un ribelle." Prefazione all'edizione italiana. Ginevra 1904. Ediz. del Risveglio, p. Vili. 24c S. Osvaldo Gnocchi Viani·. „Le Tre Internazionali." Lodi-Milano-Roma 1875. Ediz. della Plebe, p. 123. 24d Magalhäes Lima·. „ 0 Primeiro de Maio." Lisboa 1894. Typ. da Companhia Nacional Editora, p. 40.
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3. Die Unfruchtbarkeit der Hegemonie der deutschen Sozialdemokratie Es wäre Unrecht, zu leugnen, daß der Einfluß der deutschen Sozialdemokratie als führende Partei auf den internationalen Sozialismus nicht in mancher Beziehung eine heilsame Wirkung ausgeübt hätte. Sicher war die deutsche Sozialistenpartei den übrigen Parteien in vieler Hinsicht überlegen. In Fragen von geringerer Bedeutung, wie in der Duellfrage, nimmt die Partei kraft ihrer vorzugsweise kleinbürgerlich-proletarischen Führerschaft, der die Duellsitte ab origine sozial fremd ist, einen weit klareren sozialistischen Standpunkt ein, als die große Mehrzahl der Bruderparteien, deren stark akademische Führerschaft von kleinauf gewöhnt ist, das Duell als eine Notwendigkeit zu betrachten. Auch die Einheit und Geschlossenheit der Partei, ihre fast militaristisch zu nennende Disziplin, wie sehr letztere auch häufig befremden mußte, ja selbst für das Symptom einer inneren Krankheit gehalten wurde 25 , übten auf die stark zur Dissolvenz und prinzipiellen Eigenbrödeleien neigenden, vielfach zersplitterten Parteien des Auslandes einen im ganzen günstigen Einfluß aus, zumal es auf die Dauer doch immer klarer wurde, daß diese Geschlossenheit und Disziplin ihre Quelle nicht nur in vielen sehr realen Dingen, sondern doch auch in einer guten Dosis ehrlichen Solidaritätsgefühls und aufopferungsvoller Hingabe an das Ganze hatten. Aber eine andere, wichtigere Frage drängt sich uns auf: Wie benutzte nun die deutsche Sozialdemokratie ihre Machtstellung innerhalb des internationalen Sozialismus? Was schenkte sie, die Herrscherin, ihm an neuen Ideen? Lagardelle gibt uns folgende Antwort auf diese Frage: „Le socialisme allemand ne nous a pas habitués aux idées neuves" 26 . Leider müssen wir uns diesem Urteil im wesentlichen anschließen. Sein Verhalten auf den Kongressen war äquivok, seine Resolutionen nichtssagend oder doppelsinnig, seine Handlungen sprunghaft und inkonsequent. Die in Paris 1889 mit großer Begeisterung votierte Resolution zur Maifeier wurde deutscherseits nicht eingehalten. Die wenigstens logische und klare Resolution der Holländer und Franzosen zur Kriegsfrage wurde deutscherseits durch eine andere ersetzt, von der man sagen kann, daß sie à force de mots ne disait rien. Wir werden uns mit ihr noch zu beschäftigen haben. Der „Gipfel ihrer Macht" - der Sieg über Jaurès in Amsterdam 1904, errungen wenige Monate nach den Drei-Millionen-Wahlen - löst sich bei Lichte besehen in eine große Mystifikation auf. Die Dresdener Resolution Kautsky gegen die Revisionisten, mit der Jaurès in Amsterdam geschlagen wurde, verurteilt auf das Ent-
25 „Na Allemanha, as mesmos pruridos militaristas que se observant ñas altas regiöes, reflectem-se, con maior ou menor intensidade, no partido socialista. Nota-se, principalmente, este facto nos congressos, onde, a um simples aceno do deputado Singer, todos os delegados appovam ou reprovam, consoante as instrucçôes de ante-mào estabelecidas. A mesma disciplina do exercito estendese aos partidos e aos agrupamentos políticos. E ai! d'aquelle que se desviar d'estas normas: corre o risco de ser expulso, sem mais appêlo nem aggravo". (Magalhäes Lima: „O Primeiro de Maio". Lisboa 1894. p. 40.) 26 Hubert Lagardelle: „Mannheim, Rome, Amiens". Mouvement Socialiste, Vili, serie II No. 179 (octobre 1906). p. 6.
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schiedenste die Bestrebungen, die bisherige sieggekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik zu ändern und an die Stelle der Eroberung der politischen Macht durch Ueberwindung der Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge zu setzen und erklärt, daß die Sozialdemokratie einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben könne, begeht aber dabei die Unvorsichtigkeit, sich auf die Resolution zu berufen, mit der die Deutschen um Kautsky auf dem Kongreß 1900 zu Paris die Italiener und Guesdisten geschlagen hatten 27 , die in unbeugsamer Opposition jede Teilnahme an der Regierung prinzipiell negiert wissen wollten, eine Resolution, die den Eintritt eines Sozialisten in ein Ministerium, wenn auch nur als anormalen Notbehelf, zuließ 28 . Die Resolution von Dresden, die die Guesdisten zur Resolution von Amsterdam machten, trug also ausgemacht kautschukartigen Charakter, der zu allen Deutungen berechtigte, sodaß selbst die französischen Reformisten, hätte sie nicht ein Gefühl der Würde zurückgehalten, sie ruhig hätten akzeptieren können. So sind aber die deutschen Resolutionen auf den internationalen Parteitagen immer gewesen: viel Rhetorik und wenig Logik. Was Enrico Ferri von dem Kautskyschen Antrag zur Ministerfrage Paris 1900 sagte, trifft auf sie alle zu: sie sind aus Wenn und Aber zusammengesetzt und mit Hintertürchen versehen. Die Tür wird verschlossen, aber das Fenster wird geöffnet. 29 Das Merkwürdigste dabei war, daß die deutsche Sozialdemokratie trotz aller Toaste und Reden in dem internationalen Milieu innerlich ein Fremdkörper blieb, dem es nicht gelang, sich zu akklimatisieren. Schon in der Zeit der alten Internationalen hatte Deutschland, wie das Jaeckh sehr richtig bemerkt, wenn ihm auch die tieferen Ursachen dieser Erscheinung entgehen, die allerdürftigste sozialistische Geschichtsschreibung gehabt. Die Geschichte keiner nationalen Arbeiterbewegung hängt mit der Internationalen durch so lockere Fäden zusammen, wie die deutsche 293 . In der neuen Internationalen wurde das nicht besser. Der persönlichen freundschaftlichen Beziehungen, die deutsche Sozialdemokraten an auswärtige Sozialisten binden, sind wenige, die wenigen nicht sehr stark. Schon rein äußerlich vermochten sich die Deutschen auf den internationalen Kongressen nicht anzupassen. Ein Detail, das aber charakteristisch genug ist: die deutschen Delegierten kennen nicht einmal die gebräuchlichsten internationalen Sozialistenlieder, und wenn die „Internationale" angestimmt wird, stehen sie verlegen da und schweigen 30 . Das innerliche Interesse an den Angelegenheiten der ausländischen Par-
27 Protokoll des Parteitags zu Dresden, p. 418. 28 Internat. Sozialisten-Kongreß zu Paris 1900, Berlin 1900. Verlag Vorwärts, p. 17, 19. 29 Ibidem, p. 19. 29a Gustav Jaeckh: „Die Internationale", loco cit. p. III. 30 Dr. Ludwig Frank erzählt aus Amsterdam: „Als darauf der Präsident feierlich den Kongreß für geschlossen erklärte und die Delegierten begeistert die „Internationale" anstimmten, schauten wir Deutschen uns verlegen an und - hielten den Mund. Ein französischer Reporter sprang eifrig auf unsere Gruppe zu und wollte wissen, warum wir nicht mitsingen. Ich erwiderte ihm mit tiefem Ernste, es sei auf Antrag des Revisionisten Bernstein von uns beschlossen worden, an dem Absingen aufreizender revolutionärer Lieder uns nicht mehr zu beteiligen. Die Wahrheit ist natürlich,
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teien blieb bei den Deutschen außerordentlich gering. Die „Naivität, mit der sie 1889 in die internationale Bewegung einsprangen, die absolute Unwissenheit über das, was draußen vorging" - wie Engels sagte31 - hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Im ausländischen Sozialismus mochte geschehen, was wollte, nichts hinterließ einen bleibenden Eindruck auf das gleichsam mit chinesischen Mauern umschlossene Aktionsgebiet der deutschen Sozialdemokratie. Selbst die russische Revolution wurde nur melodramatisiert. Die russischen Revolutionäre, die, mit den revolutionären Theorien des deutschen Sozialismus im Kopf, nach Deutschland kamen, waren verblüfft über die freundlich-ruhige Bourgeois-Philister-Stimmung, die sie in der Partei vorfanden, die ihre geistige Nährmutter gewesen war 32 . Nicht einmal das elementarste internationale Empfinden war in diese Führerin der internationalen Arbeiterbewegung eingedrungen. Von der polnischen Partei verlangte sie - freilich vergeblich - den gänzlichen Verzicht auf die Wiederherstellung des eigenen Nationalstaates und die Aufgabe der Forderung, daß die in überwiegend polnischen Kreisen aufgestellten Kandidaten der Landessprache mächtig sein müßten. Mit Recht meinte Simon Katzenstein, welcher mit Konrad Haenisch und Georg Ledebour unter der auf deutschen Parteitagen stets bei Behandlung internationaler Fragen üblichen Teilnahmslosigkeit in Dresden 1903 die Haltung der polnischen Sozialdemokraten verteidigte, man greife sich an den Kopf, daß die Polen überhaupt erst derartige Forderungen aufstellen müßten 33 . Die internationalen Parteitage, die zuerst zweijährlich stattfinden sollten, wurden auf Wunsch der Deutschen, die sogar fünfjährige Pausen vorgeschlagen hatten, auf je drei Jahre hinausgeschoben. Während Vandervelde auf die Bedeutung der internationalen Kongresse hinwies, die darin bestehe, „daß die Bande der Brüderlichkeit immer enger geknüpft werden und die Vorkämpfer des Sozialismus möglichst oft in nähere Bezie-
daß wir weder Melodie noch Text kannten und peinlich überrascht waren, als nicht die
Marseil-
laise intoniert wurde. Wir wußten nicht, daß in Frankreich, der Heimat der Marseillaise, dieses Lied von den Reaktionären aufgenommen worden ist ..." (Ludwig Frank: „Briefe aus Amsterdam". Offenburg 1904. Verl. v. Adolf Geck. p. 31.) 31 Briefe und Auszüge loco cit. p. 315. 32 Der Korrespondent des „Temps" auf dem Parteitag in Jena, Mr. Edgar Roels, berichtet aus eigener Anschauung: „Les dispositions paisibles des socialistes allemands ont d'ailleurs produit une impression singulière sur les Russses qui sont venus en grand nombre assister comme curieux au congrès. Etudiants et étudiantes tout vibrants d'enthousiasme révolutionnaire paraissent un peu déroutés devant ce congrès à allure bourgeoise des socialiste allemands, qui ont fait cependant, par leurs théories, l'éducation de la Russie révolutionnaire, et qui viennent en outre d'envoyer 100,000 francs par delà la frontière pour y soutenir ceux qui luttent et se battent". (Le Temps, XLV Nr. 16164,21 septembre 1905.) 33 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Dresden von 13. bis 20. September 1903. Berlin 1903. Verlag der Buchhandlung Vorwärts, p. 276. Siehe auch den Aufsatz von Ignacy Daszynski:
„Nationalität und Sozialismus",
in den Sozialistischen Monatsheften, VI (Vili) No. 9 (September 1902), in welchem der bekannte Führer des österreichisch-polnischen Sozialismus sich über das Verhalten der deutschen Partei gegenüber der polnischen beschwert, sowie viele Artikel in der polnischen Presse.
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D i e deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände
hungen zu einander treten" 34 , tat Singer diese Bedenken mit der Bemerkung ab: „Wir Deutsche glauben nicht, daß die internationale Solidarität und Brüderlichkeit davon abhängt, ob wir uns alle zwei, drei oder fünf Jahre sehen; w e n n sie nicht tiefer wurzelte, wäre sie keinen Schuß Pulver wert" 35 . Eine Ansicht, die, logisch weiter ausgebaut, zum Abbruch aller internationalen Beziehungen fuhren müßte. Ueberhaupt ist der Internationalismus der deutschen Sozialdemokratie häufig in hohem Grade unbequem gewesen. Zumal hat sie, die die ausländischen Parteien so gern am Gängelband führte, stets Sorge gehabt, es möchte ihr etwas von jenen aufoktroyiert werden. „Wohin soll das führen? Schließlich bestimmen auf internationalen Kongressen die Engländer, Botokuden und Chinesen, was wir in Deutschland zu tun haben" 36 . In diesen Sätzen offenbart sich ein guter Teil der Psychologie der deutschen Sozialdemokratie. Jedoch die Darstellung der Psychologie der deutschen Sozialdemokratie im internationalen Sozialismus wäre lückenhaft, würden wir nicht kurz auf die großmächtige Art hinweisen, den „ton cassant", mit dem die deutsche Sozialdemokratie auf internationalen Kongressen und in ihrer Presse, alles über einen Kamm scheerend, die Befolgung ihrer Taktik auch den ausländischen Brüdern aufzuzwingen sich anschickte 3 7 . Durch-
34 Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Paris, 23. bis 27. September 1900. Berlin 1900. Verlag Buchhandl. Vorwärts, p. 21. 35 Ibidem, p. 22. 36 Leimpeters auf dem Gewerkschaftskongreß in Köln. (Protokoll der Verhandlungen des fünften Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, abgehalten zu Köln a. Rh. vom 22. bis 27. Mai 1905. Berlin. Verlag der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands (C. Legien). p. 239.) Vgl. damit auch die in Anm. 12 zitierte Briefstelle Engels'. 37 Als ein weißer Rabe gab nach dem Amsterdamer Kongreß Dr. Max Quarck in Frankfurt ein treffendes Bild von dem hochfahrenden und undemokratischen Gebahren, durch welches das Verhalten der deutschen Delegation auf dem internationalen Parteitag sich durchweg auszeichnete. Quarck meinte im Hinblick auf den Versuch, die bekannte Dresdener Resolution als auch fur die französischen Verhältnisse maßgebend zu gestalten, daß doch die deutsche Partei selbst noch sehr viel zur Ausprägung des Klassenkampfstandpunktes ihrer Mitglieder zu tun habe und daß die wahrhafte demokratische Auffassung ihrer Aufgaben auch bei der deutschen Sozialdemokratie selbst noch mancher Vertiefung bedürfe. Ferner berichtete Quarck einige interessante Einzelheiten aus den Verhandlungen des Kongresses: „Wie war nun die Haltung der deutschen Delegation in der Taktikfrage und wie kam endlich die Abstimmung zu Stande? Der Mangel an demokratischem Gefühl, der leider auch bei anderen Fragen zutage trat, ist Schuld daran, daß den deutschen Delegierten, die doch mit den Groschen der Arbeiter nach Amsterdam gesendet wurden, die Möglichkeit gar nicht geboten war, den Standpunkt ihrer Wähler zu vertreten. Man begnügte sich damit, Bebel und Kautsky in die Taktikkommission zu entsenden, damit war die Sache erledigt. Erst kurz vor der Gesamtabstimmung war es uns möglich, eine kurze Aussprache der deutschen Delegation herbeizuführen, möglich nur dadurch, weil ich in letzter Stunde, genau so wie man es bei den „Demokraten" im Frankfurter Stadtparlamente machen muß, Unterschriften bei deutschen Mitdelegierten sammeln mußte, um Bebel und Kautsky zu veranlassen, wenigstens kurz vor der Abstimmung uns Gelegenheit zur Rücksprache zu geben. Und in dieser letzten Besprechung, die hastig in der Dämmerung des Abstimmungsabends gehalten werden mußte, stellte Bebel dann sofort die Vertrauensfrage; er erklärte, sich für die unabgeänderte Dresdener Resolution so weit
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drungen von dem Bewußtsein, „die klassische Stätte der modernen Arbeiterbewegung", das „geistige Zentrum der neuen Internationalen" geworden zu sein, an dessen Erfolgen die Arbeiterbewegungen in den anderen Ländern einen Maßstab besitzen, um zu erkennen, wieweit sie hinter dem deutschen Proletariat zurückgeblieben seien, ja mittelst dessen sie sogar „dem geschichtlichen Grund ihres Nachhinkens" auf die Spur zu kommen vermögen372, fühlte die deutsche Sozialdemokratie sich als Herr und Meister ihrer aller. Für Differenzierung hatte sie keinen Sinn. Daß die Demokratie unter Umständen andere Kampfesformen Platz greifen müssen als ihr Verbal-Revolutionarismus, wollte sie nicht anerkennen38. Bebels Versuch der Verächtlichmachung der französischen Republik, der er die halbabsolutistische deutsche Staatsform vorzuziehen schien, erregte selbst in den Kreisen solcher ausländischer Genossen Kopfschütteln, die ihm sonst Wort
engagiert zu haben, daß er nicht mehr zurückkönne. Niemand wollte unserem verehrten Führer ein Mißtrauensvotum ausstellen. Er hätte aber wohl als alter Demokrat umgekehrt sagen können: „Ich bin nur euer Vertreter, bestimmt und beschließt ihr, ich habe mich danach zu richten". Das geschah nicht, und so scheuten die meisten unserer deutschen Delegierten den Schein, als sollte Bebel desavouiert werden, was gesagt werden muß, nachdem Genossin Zetkin in Stuttgart bei der Berichterstattung von der verschwindenden Minderheit gegen Bebel gesprochen hat. Auch darf ruhig ausgesprochen werden, daß die Ketzerrichterei Kautskys nicht viel Anklang bei den anderen Nationen in Amsterdam gefunden. Wo haben wir auch jemals gehört, daß eine ausländische Partei sich herausgenommen habe, so absprechend und rücksichtslos über unsere deutschen Parteiverhältnisse zu urteilen, wie das von deutscher Seite oft über ausländische versucht wurde? Und doch wäre dazu oft genug Gelegenheit gegeben gewesen. Man wirft in einem Teile unserer Presse Jaurès vor, daß er angeblich für jede beliebige Kolonialausgabe stimme. Wäre es da für die Franzosen nicht geradezu verlockend gewesen, demgegenüber den Standpunkt der deutschen Fraktion in der Hererofrage zu halten, die sich bei der Abstimmung über die ersten 1 '/ 2 Millionen der Stimme enthielt mit der mehr als eigentümlichen Begründung, daß man nicht gut gegen den Schutz der deutschen Ansiedler stimmen könne? Oder wenn Jaurès gar Anlaß genommen hätte, den Standpunkt Kautskys zur Wahlrechtsfrage zu kritisieren, jene eigentümliche, gänzlich undemokratische Erklärung, wir dürften keine Neueinteilung der Wahlkreise fordern, um die Gegner nicht zu veranlassen, mit der Forderung: Abschaffung des Wahlrechts zu antworten? Oder die geringe Fühlung zwischen Partei und Gewerkschaften in Deutschland, aus der auch ein großer Teil unserer taktischen Meinungsverschiedenheiten fließt und die ich s. Zt. durch meine Gewerkschaftsvorschläge zu verbessern gesucht habe, wobei ich aber auf den lebhaften Widerspruch Auers und anderer stieß? Wenn wir prinzipielle Kritik üben wollen, dann finden wir in Deutschland soviel Gelegenheit dazu, daß wir gar nicht nach Frankreich zu gehen brauchen, während wir umgekehrt fur diese unsere eigene Kritik sehr viel von Frankreich lernen können". (Referat, gehalten am 8. September 1904 in einer Versammlung des sozialdemokratischen Vereins von Frankfurt a. M. Volksstimme, Jahrg. XV, No. 21,1. Beil.) Die Ausführungen des Dr. Quarck wurden von Seiten Bebels lebhaft, aber den sachlichen Inhalt nicht wesentlich alterierend, bekämpft. 37a G Jaeckh: „Die Internationale", loco cit., p. 4. 38 Vgl. u. a. James Ramsay Macdonald: „The International Socialist Congress" in „The Speaker, the Liberal Review". Vol. X, N. 256. Eduard Bernstein·. „Ein offenes Wort zum Amsterdamer Kongreß". Das Neue Montagsblatt, I., N. 18.
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für Wort gegen Jaurès beipflichteten. Daniel De Leon meint, Bebel sei hier denn doch perilously near sounding like German nativism39. Es waren - trotz radikaler Phraseologie - keineswegs sehr radikale Richtlinien, die die deutsche Sozialdemokratie dem internationalen Sozialismus als Geschenk für seine Botmäßigkeit überbrachte. Jeder aufmerksame Beobachter weiß, daß die deutsche Sozialdemokratie die neue Internationale entschieden nach „rechts" geführt hat. Die deutsche Partei stieß nicht nur selbst mit großer Leichtigkeit alle die Elemente aus, die sich auch nur um Millimeterbreite nach links von ihrer Grundbasis entfernten, während sie auch die prononciertesten Reformisten ruhig weiter in ihrem Schöße beließ, sondern sie sorgte auch dafür, daß die Arbeiterinternationale den gleichen Weg ging. Dem Betreiben der deutschen Sozialdemokratie war es zuzuschreiben, daß die Anarchisten, auch wenn sie von ihr nichts trennte als die Zweckmäßigkeitsfrage des Parlamentarismus, ausgestoßen wurden, während man, wiederum auf Betreiben der deutschen Partei, fabianistische Teilsozialisten und sogar tradesunionistische Nichtsozialisten freundlichst zur Teilnahme an den internationalen Kongressen einlud. Sie war es ferner, die immer wieder auf die Bedeutung des Parlamentarismus, ja, des exklusiven Parlamentarismus hinwies. Sie übertrug ihre „durchaus antirevolutionäre, streng parlamentarische Taktik" (Sombart) 39a - elle est le plus parlementaire de tous les partis (Lagardelle) 39b - soweit sie immer konnte, auf die Taktik des internationalen Verbandes. Ihre Stimmzettelsiege weckten bei den ausländischen Genossen über Rythmus und Methode der sozialistischen Bewegung die Illusionen der unbegrenztesten Möglichkeiten 390 . Für die Behauptung, daß die deutsche Sozialdemokratie als Ganzes trotz häufiger radikaler Radomontaden im Grunde genommen auf dem äußersten rechten Flügel des internationalen Sozialismus steht, ein Schulbeispiel. Als die italienischen Sozialisten voran Enrico Ferri und Oddino Morgari - in der Kammer die Erklärung abgegeben hatten, wenn der Zar es wagen sollte, italienischen Boden zu betreten, werde er von den italienischen Arbeitern ausgepfiffen werden, erbat sich die sozialistische Partei Italiens von der internationalen Konferenz in Brüssel zu diesem ungewöhnlichen und mutigen Vorgehen eine Solidaritätserklärung. Die Vertreter Frankreichs und Belgiens, Emile Vandervelde und Edouard Vailland, zwei Männer, denen niemand ungestümen Leichtsinn und leeren Radikalismus wird vorwerfen wollen, erklärten sich sofort mit dem Begehren der Italiener einverstanden und brachten eine dementsprechende Resolution ein. Aber die Deutschen erhoben Widerspruch. Richard Fischer wandte sich gegen die Konsequenzen einer derartigen Propaganda. Dann müßten ja in jedem Land bei einem
39 Daniel De Leon: „Flashlights of the Amsterdam Kongress". New-York 1906. New-York Labour News Company, p. XVII. 39a Werner Sombart: „Soz. u. soz. Bew.", p. 142. 39b Hubert Lagardelle, bei Besprechung eines Werkes von Milhaud, Mouvement Socialiste, VIIe Année, Ν. 162-163. 39c Anton Pannekoek: „Theorie en Beginsel in de Arbeidersbeweging." Overdruk uit den Nieuwen Tijd, Amsterdam 1906, p. 12.
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Zarenbesuch die entsprechenden sozialistischen Fraktionen dieselbe geharnischte Erklärung abgeben! In welche peinliche Lage bringe man da ζ. B. die Genossen in Dänemark 40 ? Trotzdem Vaillant und Vandervelde nochmals ihren international-sozialistischen Standpunkt hervorhoben und zumal auch die Bedenken der deutschen Sozialdemokraten, daß sie nun auch gezwungen wären, im deutschen Reichstag einmal gegen einen Zarenbesuch zu demonstrieren, was ihrem guten Ruf im Parlament unberechenbaren Schaden bringen könnte, durch eine lauere und vorsichtigere Fassung zu beschwichtigen versucht hatten, ließen die Deutschen es nach eine Rede von Pfannkuch sogar auf eine Abstimmung ankommen, bei der sie freilich, zusammen mit dem gelobten Dänemark und Holland gegen die Vertreter aller übrigen Sozialdemokratieen Argentinien, Belgien, England, Frankreich, Polen, Rußland und Amerika - unterlagen. Wäre es nach ihnen gegangen, hätten die italienischen Genossen mit ihrem Vorgehen vor aller Welt desavouiert dagestanden 41 . Obgleich die deutsche Sozialdemokratie sich auf den internationalen Kongressen und in der Presse gerne als die „Radikale" aufspielte, und den Franzosen, Belgiern u. s. w. gerne Lektionen über den „wahren" Klassenstandpunkt erteilte, gelang es ihr auf die Dauer nicht, sich in dem Geruch des Radikalismus zu erhalten. Sie verstehe nur die Kunst, ihre harmlosesten Vorschläge in die am meisten katastrophisch klingende Form zu kleiden, meinte Bernard Shaw schon im Jahre 189642. Es sei wirklich ein mäßiges Vergnügen, sagte an anderer Stelle Arturo Labriola, damals noch ein großer Bewunderer der Partei, in ausgemachten Zwischenräumen und mit großem Tamtam bei den Wahlen die bürgerliche Gesellschaft aufs Haupt zu schlagen, um dann die Dinge doch beim alten zu lassen 43 . In Holland äußerte P. J. Troelstra, der parlamentarische Führer der überaus deutschfreundlichen Parlamentsfraktion der dortigen Sozialdemokratie, resigniert, die deutsche Sozialdemokratie habe es am eigenen Körper empfunden, wie wenig sie mit dem Parlamentarismus erreichen könne, waar de Keizer ten slotte maling
40 Da Nicolaus II. als liebender Enkel allerdings überaus häufig seinem königlichen Großvater in Kopenhagen Besuch abstattet, der Genösse Jensen als Oberbürgermeister der Hauptstadt aber bekanntlich nicht nur zu repräsentativen Gelegenheiten zu Schloß gebeten wird, sondern auch wirklich dort erscheint, würde allerdings die „peinliche Lage" dieses dänischen Genossen groß gewesen sein. Hätte er sich zum Empfang im Königsschloß eine Pfeife mitbringen und dem Zaren ins Gesicht pfeifen müssen, um seine sozialistische Pflicht zu erfüllen? 41 S. Vorwärts, X X N. 169. 42 „Still, political experience has made the German party so far opportunist and constitutional ... But they have not ventured to avow this, and have studied the art of giving an extreme and catastrophic air to very ordinary and harmless proposals ... They have learnt the art of electioneering thoroughly ... The German Party does not enjoy one-third of the consideration and influence in Germany, which its numbers and organization, properly handled, could command". G Bernard Shaw in einem Essai: „Socialism and the International Congress", in „Cosmopolis, Revue Internationale", Tome III, N. 9 (pp. 671, 670, 667, 668). Paris 1896. 43 Arturo Labriola·. „Riforme e Rivoluzione Sociale". Milano 1904. Soc. Edit. Milanese, p. 11.
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heeft aan den rijksdag44. Die Stimmen mehrten sich, die da riefen: „Aber die deutschen Genossen spielen ja nur die Radikalen. In Wirklichkeit sind sie die denkbar gemütlichsten Bürger, und nur durch die besonderen Umstände, in denen sie zu wirken haben, zu einem rein formalen Pseudoradikalismus gezwungen"443. Wenn sich der deutsche Kaiser nur den Luxus eines wenn auch noch so schwach liberal irisierenden Ministeriums leisten würde, würde auch der offene „Revisionismus" die Ufer in Deutschland überfluten440. Als Jean Jaurès von Bebels taktischer Geschicklichkeit in die Enge gedrängt war, wußte er keine bessere Waffe zur Verteidigung der von ihm befolgten Taktik in Frankreich, als den Beweis dafür, daß die Taktik der „klassenkämpferischen" deutschen Sozialdemokratie noch nicht einmal so entschieden, so „radikal", so mutig u. s. w. sei als die des angegriffenen, „revisionistischen" Frankreich.
4. Die Dekadenz der Hegemonie der deutschen Sozialdemokratie im Internationalen Sozialismus Die „Erbuntertänigkeit" der übrigen sozialistischen Parteien Europas der deutschen Sozialdemokratie gegenüber konnte natürlich kein Faktum von dauernder Bedeutung sein. Je mehr die Mehrzahl der übrigen Sozialistenparteien in Europa an parlamentarischer Schwerkraft und an außerparlamentarischer Aktionsfähigkeit wuchs, desto mehr mußte die deutsche Sozialdemokratie notwendigerweise ihr gegenüber an Gewicht einbüßen. Dazu aber kam, daß es auch immer mehr offenbar wurde, daß diese Partei trotz aller glänzenden äußeren Erfolge innerlich seit mehreren Dezennien in einer Periode der Stagnation verharrte, aus der es ihr trotz aller gelegentlichen Ansätze nicht gelang, einen Ausweg zu finden. Da ging das Vertrauen zur Modellpartei allmählich verloren. Und wie sollte es nicht? Die weitaus größte, mächtigste, reichste, straffstorganisierte Partei des internationalen Proletariats entbehrte so sehr jeglichen Einflusses auf den Werdegang und die innere Tendenz der Politik des Staates, in dem sie wirkte, daß der Ausländer, wenn er nicht ab und zu in seinen Zeitungen vernähme, daß ein deutscher Sozialdemokrat, meist Bebel, im deutschen Reichstag eine bemerkenswerte Rede gehalten habe, am Gang und der Tonart der auswärtigen Politik des Deutschen Reiches nicht ahnen könnte, daß eine Arbeiterpartei in Deutschland auch nur existiere! Der erste Sozialdemokrat, der mit der ganzen Wucht seines Temperaments und dem guten Klang seines Namens der deutschen Sozialdemokratie entgegentrat, war, wenn wir von der unablässigen, scharfen Kritik der Anarchisten, insbesondere Dómela Nieuwenhuis' absehen, Jean Jaurès. Selbst Kautsky, meinte Jaurès einmal, fasse die soziale Revolution 44 Ferdinand Dómela Nieuwenhuis'. „Het Parlementarisme in zijn Wezen en Toepassing". Amsterdam 1906. W. Sligting. p. 34. 44a Arturo Labriola'. Rif. e. Riv. Soc., loco cit., p. 17. 44b vgl. Daniel De Leon'. „Flashlights", loco cit. p. 127: „Nothing more natural, aye, inavoidable, than that a belated radical bourgeois movement in our days should be strongly flavored with revolutionary feeling and terminology - least of all when, as in this instance, it started socialist."
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nur als seine tönerne Sparbüchse auf, die man ganz füllen müsse, ehe man sie öffne. Man häufe eine Million sozialistischer Stimmen darin an, zwei Millionen, drei Millionen ... Das Herz poche vor Erwartung, aber es sei noch nicht genug. Man warte und häufe weiter auf: vier Millionen, fünf Millionen, sechs Millionen. Das sei die entscheidende Zahl. Das sei die Mehrheit! Jetzt öffne man die tönerne Sparbüchse und versuche die sozialistischen Kräfte, die sie enthalte, zu gebrauchen. Aber welch ein Unglück, wenn Ungeduldige oder Ehrgeizige die tönerne Sparbüchse zu früh zerschlügen! 45 Ein ander Mal bittet Jaurès in unzweideutigster Weise die deutschen Genossen, die französischen Genossen doch gefalligst so lange mit ihrem intoleranten Dogmatismus und ihren Schreibereien, die an Schularbeiten erinnerten, verschonen zu wollen, bis jene Probleme, die die französische Partei beschäftigen (Eroberung der Macht etc.), auch für sie selbst akut geworden seien. Berühmt ist fernerhin die Antwort, welche er Bebel auf dem letzten internationalen Kongreß zuteil werden Hess: „Aber zwischen eurer anscheinenden politischen Macht, wie sie sich von Jahr zu Jahr in der wachsenden Zahl eurer Stimmen und Mandate ausdrückt, zwischen dieser anscheinenden Macht und eurer wirklichen Macht an Einfluß und Tat besteht ein Gegensatz, der umso größer zu werden scheint, je mehr eure Wahlmacht zunimmt. O ja, am Tage nach jenen Juniwahlen, die euch die drei Millionen Stimmen gebracht haben, ist es allen deutlich geworden, daß ihr eine bewundernswerte Kraft der Propaganda, der Werbung, der Einreihung habt, aber daß weder die Traditionen eures Proletariats, noch der Mechanismus eurer Verfassung euch erlauben, diese anscheinend kolossale Macht von drei Millionen Stimmen in die Aktion der Nutzbarmachung und Verwirklichung, in die politische Aktion umzusetzen. Warum? Weil euch eben die beiden wesentlichen Bedingungen, die beiden wesentlichen Mittel der proletarischen Aktion noch fehlen - ihr habt weder eine revolutionäre noch eine parlamentarische Aktion. ... Nun wohl, weil ihr diese proletarisch-revolutionäre Tradition nicht habt, seht ihr sie bei Völkern, die auf sie zurückgreifen, mit Mißvergnügen, und ihr habt nur Angriffe, eure Theoretiker haben nur Geringschätzung gehabt für unsere belgischen Genossen, die zur Eroberung des allgemeinen Wahlrechts mit Gefahr ihres Lebens auf die Straße gestiegen sind" 46 . In der auf die Verhandlungen des Amsterdamer Kongresses folgenden Polemik drückt Jaurès die Hoffnung aus, daß auch die deutsche sozialdemokratische Partei aus der
45 Petite République Socialiste vom 12. September 1903. 46 Intem. Sozialistenkongreß zu Amsterdam 1904. Berlin 1904. Verlag Vorwärts, p. 37/38. Vgl. Hubert Lagardelle:
„Le Socialisme allemand, chronique politique et sociale" in der von ihm ge-
leiteten Halbmonatschrift „Le Mouvement Socialiste" (VI e Année, ΙΓ Série, No. 142, 1. Nov. 1904): „Evidemment, les difficultés d'agir sont plus grandes en Allemagne qu'en France: encore ne faut-il pas trop exagérer ... La vérité, c'est que toute vertu révolutionnaire manque au socialisme allemand. N'est-ce pas Bernstein lui-même - le „modéré" Bemstein, comme il s'est appelé - qui, en termes discrets mais précis, est venu faire au parti honte de cette inertie des masses socialistes, si lourdes à manier, qui n'ont derrière elles aucune tradition révolutionnaire pour nourrir leur énergie, et qui, au lieu de trouver dans la social-démocratie un stimulant à leur ardeur, n'y rencontrent qu'une prudence énervante".
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gegenwärtigen Periode weiser Vorbereitung und vorsorglichen Aufspeicherns von revolutionären Kräften, die nur in Anbetracht der Tatsache, daß ein ganzes Jahrhundert voll demokratischer Ohnmacht und revolutionärer Aborte über Deutschland dahingegangen sei 47 , verständlich erscheinen könne, in eine lebhaftere und eindringlichere Aktionsperiode gelangen 48 und stärkeren Anteil an der allgemeinen Entwicklung Deutschlands nehmen möge 49 . Welch ein Kontrast bestehe doch zwischen der Kühnheit des deutschen Geistes, der das Weltall erfaßt und nach seinem Willen bildet und der Schlappheit und Ohnmacht der deutschen Tat\50 Die „révolution à la française" habe in Deutschland sowohl 1789, als auch 1848 Fiasko gemacht. „Et c'est parce que Marx et Lassalle ont ou pressenti ou constaté l'impuissance de la méthode politique française de révolution appliquée à l'Allemagne qu'ils ont conçu et formulé pour celle-ci une autre tactique, qui fut tout ensemble, en ces grands esprits, un coup de désespoir et un coup de génie" 51 . An der deutschen Sozialdemokratie sei es nun, in Wahrheit die Herrschaft des Volkes zu errichten, wenn sie nicht den bürgerlichen Abortus der deutschen Revolution durch einen proletarischen Abortus krönen wolle 52 . Ein deutliches Zeichen von der Aktionsschwäche der deutschen Sozialdemokraten erhielten die Ausländer durch die Vorgänge in Sachsen, wo sich die Arbeiter leichten Herzens sogar ein Recht nehmen ließen, auf dessen Besitz gerade in der deutschen Sozialdemokratie der höchste Wert gelegt worden war: das Wahlrecht. So gesetzesduselig wie die uns als radikale Musterknaben vorgehaltenen Deutschen, erklärte der Millerandist Turati auf dem Parteitag von Bologna in seiner großen Rede zur Verteidigung der parlamentaristisch-evolutionistischen Taktik, würden freilich die italienischen Revisionisten in diesem Falle nicht gewesen sein 53 . Das sind schwere Anklagen gegen die deutsche Sozialdemokratie, und sie wiegen um so schwerer als sie von Genossen kommen, die von deutscher Seite als Abtrünnige bezeichnet werden, die ihre revolutionäre Gesinnung abgestreift hätten" 533 . Mit Recht bemerkte dazu Labriola, die deutsche Sozialdemokratie mache überhaupt keine Fortschritte. Sie sei höchstens eine Partei der Defensive, des Stillstands 54 . 47 48 49 50 51 52 53
Jean Jaurès: „Spontanéité". L'Humanité, I No. 143 (7 septembre 1904). Jean Jaurès: „Malentendus Historiques". L'Humanité, I N o . 141 (5 septembre 1904) Jean Jaurès: „Tentative". L'Humanité, I N o . 145 (9 septembre 1904). Jean Jaurès: „Le problème subsiste". L'Humanité, I No. 152 (16 septembre 1904). Jean Jaurès: „Echec pesant". L'Humanité, I No. 150. (14. septembre 1904). Jean Jaurès: „Le problème subsiste", loco cit. „In uno Stato della Germania è stato possibile togliere il suffragio universale e tornare al suffragio ristretto, senza provare un movimento insurrezionale. Ora, noi non siamo legalitari fino a questo punto" - Filippo Turati, auf dem Kongreß zu Bologna. (Rendiconto dell' Vili. Congresso Nazionale, Bologna 8, 9, 10, 11 Aprile 1904. Pubblicazione della Direzione del Partito. Roma 1905. Luigi Mongini, Edit. p. 118.) 53a Edmund Fischer: „Der Widerstand des deutschen Volkes gegen Wahlentrechtungen." Sozialist. Monatshefte, Vili (X) J., Heft 10. 54 „All' indomani dell' ultima vittoria elettorale dei socialisti tedeschi, questi si preoccuparono della eventualità che la borghesia sopprimesse il suffragio universale ... Ma era singolare che i due
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Diese Schwäche der deutschen Sozialdemokratie wurde um so mehr empfunden, als mit Ausnahme der Guesdisten keine Partei so oft und so selbstsicher sich eine nahe Zukunft des Triumphes prophezeit hatte. Schon 1890 schrieb Fr. Engels nach NewYork: „Aussicht, daß wir jetzt bald das Proletariat der Ostseeprovinzen erobern und damit die Soldaten der Kernregimenter! Dann ist die ganze alte Wirtschaft Kladderadatsch und wir herrschen!" 55 . Derselbe etwas renommistische Optimismus wurde einige Jahre darauf als „bevorstehender Sieg des Sozialismus in Deutschland" auch den Franzosen und Italienern kundgetan 56 . Aber der Triumph blieb aus. Selbst als 12 Jahre später die Reichstagswahlen die „Weltwende" brachten, verharrte die deutsche Sozialdemokratie ruhig in ihrer politisch untergeordneten Stellung und jeder, der Augen hatte, zu sehen, sah, daß die Verwirklichung des Sozialismus in Deutschland in weiterer Ferne stand, als in den meisten anderen Kulturländern. Man erinnerte sich auch eines anderen Satzes. „Wenn ich eine halbe Million organisierter Arbeiter hinter mir habe, dann bin ich der König von Preußen!" hatte Lassalle einst ausgerufen. Nun war Lassalle über 40 Jahre tot und die organisierten Arbeiter zählten weit über eine Million, die sozialdemokratischen Stimmzettelabgeber gar weit über drei Millionen. Aber Bebel war noch nicht „König in Preußen"! *
* *
Gebunden an die straffen Formen eines mit autokratisch-militärischer Gewalt regierten Staates, ohne verfassungsrechtliche - noch gewohnheitsrechtliche - Bewegungsfreiheit, einem kompakten und schier unangreifbaren Gegner gegenüber, traten in Deutschland an die Sozialdemokratie viele Probleme, die die anderen Parteien bis zur Selbstzerreibung beschäftigten, gar nicht heran. Anderer Probleme, vor denen sie stand, vermochte sie aus taktischen und psychologischen Gründen nicht Herr zu werden. Selbst theoretisch ging die deutsche Sozialdemokratie, die einstige Führerin auf dem Gebiete der Theorie, an den neuen Fragen, die außerhalb Deutschlands die ganze sozialistische Welt scittori socialisti non tanto si preoccupassero delle maniere di realizzamento approsssimativo degli ideali socialistici, mercè lo sfruttamento delle vittorie elettorali, quanto del non retrocedere. Ora il socialismo non consiste già, per esempio, nel mantenimento delle attuali condizioni politiche e sociali della Germania, ma nel realizzamento di determinati progressi. All' indomani dunque delle ultime vittorie elettorali i socialisti tedeschi non dovevano preoccuparsi - con un' esercito di tre milioni di elettori! - di non retrocedere,
ma di avanzare.
E strano che in luogo di porsi il problema
del prograsso, i socialisti tedeschi insistettero su quello della stasi, cioè della permanenza in un' ordine politico-amministrativo frag i più miserevoli che esistano η Europa". Arturo Labriola
in
seiner Studie: „Riforme e Rivoluzione Soziale (La Crisi Pratica del Partito Socialista)". Ia Ediz. Milano 1904. p. 10/11. 55 An Sorge, aus London v o m 12. April 1890 (Briefe und Auszüge u. s. w., loco cit. p. 333). 56 S. Friedrich Engels im Almanach du Parti Ouvrier pour 1893, übersetzt von P. Martignetti und erläutert bezw. kommentiert von Filippo Turati (unter der Ueberschrift L'Imminente Trionfo del Socialismo in Germania) in der Critica Sociale, Anno II, N. 2.
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je nachdem mit banger Besorgnis oder mit freudigem Kampfesmut erfüllten und leidenschaftlich in zwei Lager teilten, lange Zeit teilnahmslos vorüber. Sie wurde, durch die besonderen Verhältnisse Deutschlands, nicht minder aber durch ihre theoretische und praktische Genügsamkeit und den schwerfälligen, zur Aufnahme neuer Ideen fast untauglichen Parteiapparat, den sie sich geschaffen, von der Vorhut zur Nachhut im internationalen Sozialismus. Das Verhalten der deutschen Sozialdemokratie zu den beiden neuen großen Fragen, die sich dem organisierten Proletariat stellen, dürfte die Richtigkeit dieser These zur Genüge beweisen.
a. Das Problem des Generalstreiks und die deutsche Sozialdemokratie Die reale Macht und das Kraftgefuhl der organisierten Arbeiterschaft steht, seitdem die gewerkschaftlichen Organisationen überall gewachsen sind, der politische Organismus der Arbeiterparteien sich überall vervollkommnet und auch, wenngleich in sehr viel geringerem Maße, das Selbstgefühl der Massen sich gehoben hat, in einem handgreiflichen Mißverhältnis zu ihrem Einfluß auf die Umgestaltung der politischen Formen in den einzelnen Ländern. Was der Knabe Sozialismus nie geahnt, sah der Jüngling Sozialismus plötzlich mit greller Deutlichkeit. Die Türe, die zu dem Brautgemach seiner heißbegehrten Auserwählten, der Göttin Macht, die zu erobern er ausgezogen, führte, blieb trotz alles stürmischen Drängens hermetisch verschlossen. Das Staatsrecht hielt nicht Schritt mit der Revolutionierung der Köpfe. Der Parlamentarismus erwies sich als impotent, neue Volksrechte zu kreieren, ja selbst Verschlechterungen bestehender Volksrechte energisch entgegenzutreten. So wuchs im internationalen Proletariat die Unzufriedenheit; laut ertönte der Ruf nach neuen Waffen, da die alten schartig geworden. Und es kam der Generalstreik, die friedliche Kreuzung der Arme, nicht zum Zweck des Schachmattsetzens der bürgerlichen Gesellschaft, der Einführung des Sozialismus, der Eroberung der politischen Macht, sondern zunächst lediglich zur Durchsetzung einer kleinen Abschlagszahlung, zur Erweiterung von Volksrechten parlamentarischer Observanz, oder gar, noch bescheidener, zur Abwehr reaktionärer Maßregeln. Den Reigen eröffnete die belgische Arbeiterpartei, indem sie, freilich in trügerischem Bunde mit liberalen und christlich-demokratischen Elementen, behufs Abschaffung des ethisch elenden und politisch unhaltbaren Pluralwahlsystems im April 1902 das Banner des Generalstreiks hißte. Es folgten in kurzen Zwischenräumen die Arbeiterparteien von Ländern mit relativ noch schwach entwickelter sozialistischer Organisation: Schweden (1902), behufs Erreichung eines gleichen Wahlrechts, Holland (April 1903), zur Abwehr reaktionärer Gesetze gegen das Koalitionsrecht, endlich, am erfolgreichsten, Italien mit dem dreitägigen Generalstreik vom September 1904 als Protest gegen die blutigen Eingriffe der Regierungsorgane in die Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit. Es kriselte in partiellen Generalstreiks - Solidaritätsstreiks - in Frankreich und Spanien, sowie in der Schweiz. Nur in der deutschen Sozialdemokratie, die doch, obwohl Besitzerin des allgemeinen geheimen, gleichen Stimmrechts, neben den Arbeiterparteien der eben von uns genannten Länder an politischen Rechten so arm und bedeutungslos
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dasteht wie nur je neben den hoffähigen Schwestern an Toilette und Geschmeide ein Aschenbrödel, regte sich nichts. Oder vielmehr es regte sich etwas. Die heftige, bittere, verbissene Kritik an den Generalstreiks der anderen. Die deutschen Sozialdemokraten, die selber, von einsichtigen Gegnern im Gegensatz zu den romanischen Sozialisten darob als die Vernünftigen, Sittlichen belobigt 57 , keinen Finger rührten, um den vielfachen Ueberbleibseln des Mittelalters in ihrem eigenen Staatswesen entgegenzutreten, höhnten die belgischen Generalstreikler als Leute, die jedes revolutionären Gefühles bar seien. Vandervelde beschwerte sich bitter über die Jugements malveillants et injurieux", mit denen er und seine Freunde, während sie noch im Feuer standen, in dem wissenschaftlichen Organ der deutschen Sozialdemokratie bedacht wurden 58 . Mehring nannte - er hatte sachlich nicht Unrecht - den ganzen belgischen Generalstreik eine „trostlose Affaire" 59 . Rosa Luxemburg bewies an ihm haarklein die Inferiorität der „revisionistischen" Methode 60 . In Wirklichkeit waren die deutschen Sozialdemokraten und zwar mit geringen Ausnahmen - von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken weit weniger erbitterte Feinde des „Revisionismus", als des gefährlichen Mittels der Generalstreiks. Es waren schon fünf große politische Massenstreiks ausländischer Genossen ins Land gegangen, als in Deutschland noch immer unentwegt, undiskutiert und undiskutabel, das berühmte Wort Auers vom „Generalstreik = Generalunsinn" Geltung besaß. Als dem Kongreß in Bremen 1904 nach dem Bekanntwerden des für die Arbeiterschaft günstigen Ausganges des ersten großen italienischen Generalstreiks eine
57 Siehe ζ. B. den Leitartikel der National-Zeitung, LV, Nr. 237 (13. April 1902): „In Deutschland und in England, wo der Staat doch schon vieles getan hat, um die von der mechanischen Massenproduktion unzertrennlichen Mißstände zu beseitigen oder doch zu mildern, haben die Sozialrevolutionären Bestrebungen erheblich von ihrem ursprünglichen Fanatismus verloren. Teilweise mag man diese Wendung der Dinge darauf zurückführen, daß das aus der romanischen Welt stammende revolutionär überhitzte Wesen dem ruhigeren germanischen Temperament unmöglich dauernd zusagen konnte ... Der durchgreifendste Unterschied zwischen dem romanischen und dem germanischen Sozialismus ist zweifellos darin zu suchen, daß die germanische Sozialdemokratie im Laufe der geschichtlichen Entwicklung viel weniger als die romanische Gelegenheit gefunden hat, bei revolutionären Erhebungen erfolgreich mitzuwirken, daß sie sich aber dafür in der jüngsten Zeit, mochte sie wollen oder nicht, mit einem gewissen Vertrauen zu der Fortdauer der sozialpolitischen Einsicht des Bürgertums erfüllen mußte, ein Vertrauen, welches in dem Bereiche der lateinischen Gesittung den handarbeitenden Klassen ganz und gar abhanden gekommen ist. Aus solchen Voraussetzungen folgt freilich in keiner Weise, daß das germanische Bürgertum auch nur auf einige politische Dankbarkeit und auf freiwillig Mäßigung von Seiten der sozialistischen Parteien zu rechnen hätte. Immerhin erhalten England und Deutschland den romanischen Staaten gegenüber doch eine Art moralischen Vorsprungs dadurch, daß in den erst genannten Ländern die sozialen Kämpfe unserer Tage in immerhin milderen Formen zu verlaufen pflegen, als wir im Augenblick beispielsweise in Belgien vor uns sehen". 58 Emile Vandervelde: „Nochmals das belgische Experiment". Neue Zeit XX2', Nr. 6. 59 (Franz Mehring.) „Ein dunkler Maitag". Neue Zeit XX2, Nr. 4. 60 Vergi. Rosa Luxemburg·. „Das belgische Experiment" und: „Und zum dritten Male das belgische Experiment". Neue Zeit XX2, Nr. 4 und 9.
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Resolution zur Beglückwünschung der italienischen Sozialdemokratie zu ihrem Siege vorlag, mußte das in ihr enthaltene Wort „politischer Massenstreik" ausdrücklich gestrichen werden, wenn die Resolution nicht Gefahr laufen sollte, mit Schimpf und Schande abgelehnt zu werden. Die deutsche Sozialdemokratie war dem Gedanken des Generalstreiks noch so ungünstig gesinnt, daß sie beinahe darüber gekränkt war, daß die italienischen Genossen es gewagt hatten mit dieser deutsch-sozialdemokratischerseits noch nicht abgestempelten Waffe einen Erfolg zu erringen. Gerade die sogenannten Radikalen waren es, die sich am meisten gegen den Generalstreik ins Zeug legten. Auf dem „Preußentag" in Berlin 1904 fielen scharfe Worte gegen die Brüder vom Ausland wegen ihrer Generalstreikstaktik und ihrer Vorliebe für Straßendemonstrationen. AdlerKiel nannte den italienischen Generalstreik eine „italienische Spielerei"; Zubeil gar sprach von dem französischen und italienischen Strohfeuer, das noch nie etwas Nachhaltiges geschaffen habe, und rühmte dabei - kurz nach der Wahlrechtsverschlechterung in Sachsen! - die deutsche Sozialdemokratie, die sich nichts nehmen lasse, was sie einmal besessen. Es war Bernstein, der sagen mußte, die französische Strohfeuer-Taktik habe es doch ganz weit gebracht 61 . Noch auf dem Amsterdamer Kongreß 1905 nahm die deutsche Sozialdemokratie dem Generalstreik gegenüber eine durchaus feindliche Haltung ein. Der Gewerkschaftskongreß in Köln brachte sogar die bekannte Resolution zustande, in welcher alle Versuche, durch die Propagierung des politischen Massenstreikes eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen, für verwerflich und der Generalstreik fur „undiskutabel" erklärt wurde. Auf dem Kongreß in Jena dess. J. ging dann zwar, nachdem sich sämtliche übrigen sozialistischen Parteien über die Bedeutung des Generalstreiks längst einig waren, - auspice Bebel - eine allerdings ziemlich farblose Resolution zu Gunsten des Generalstreiks durch. Als aber dann die Wahlrechtsfrage in Sachsen und Preußen akut wurde, blieb nach den ersten polizeilichen Verboten die zuvor mit so vielem Pomp angekündigte Bewegung im Sande stecken. Das sozialdemokratische Landeskomitee, ja, die leitenden Parteileute im Königreich Sachsen waren sich mit Ausnahme von Konrad Haenisch sofort einig in der Abweisung des Gedankens an den politischen Massenstreik 613 und in Preußen konnte Bebel ohne auf Widerstand zu stoßen, den Berlinern die Versicherung geben, daß sie ruhig schlafen könnten. Die beabsichtigte Demonstration wurde nicht zur Tat. Es ist bekannt, daß auf dem letzten Parteitag in Mannheim die Waffe des Generalstreiks unter allgemeinem Beifall wieder in den äußersten Winkel der Partei-Waffenrumpelkammer relegiert worden ist. Die deutsche Sozialdemokratie ist - vielleicht mit Ausnahme der dänischen - die einzige Partei im internationalen Sozialismus geblieben, deren Taktik den Generalstreik, wie überhaupt jedwede Form der direkten Aktion, selbst die friedliche Straßendemonstration ausschließt, und das, obgleich gerade sie die geringsten Aussichten zu anderweitiger, wenigstens möglicherweise erfolgversprechender Betätigung hat.
61 Vgl. Protokoll der Verhandlungen des Parteitags der sozialdemokratischen Partei Preußens. Berlin 1904. Verlag Vorwärts 1905. p. 107, 108, 111. 61a Vgl. Arbeiter-Zeitung, XVI, N. 55. Dortmund.
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b) Deutsche Sozialdemokratie und internationaler Antimilitarismus Die zweite sozialistische Bewegungsform, der die deutsche Sozialdemokratie völlig fremd gegenübersteht, ist der Antimilitarismus. Die, von Marx verfaßte, Inauguraladresse der Internationalen spricht von der Pflicht der Arbeiter, sich der internationalen Politik zu bemächtigen und mit allen Mitteln der Diplomatenpolitik entgegenzutreten. Diese programmatischen Ausdrücke sollten bald einen leserlichen Kommentar erhalten. Zu dem Problem des Verhaltens des internationalen Sozialismus im Kriegsfall hatte die internationale Arbeiter-Assoziation auf ihrem 1868 in Brüssel abgehaltenen Parteitag Stellung genommen. In der Diskussion bezeichnete der belgische Delegierte César de Paepe als einziges direktes Mittel einen Krieg zu verhindern die Verweigerung des Heerdienstes und aller anderen Arbeit. Die Bearbeitung der entsprechenden Resolution wurde einem französischen und einem deutschen Delegierten übergeben, Tolain und Johann Philipp Becker, denen sich ein französischer Schweizer, Mermillod, anschloß. Eine Resolution, verfaßt von Marxens späterem Schwiegersohn Charles Longuet, fand einstimmige Annahme, welche nach einer genauen Begründung der Stellungnahme der internationalen Arbeiterschaft zum Kriege den Arbeitern ans Herz legte, im Kriegsfalle unverzüglich alle Arbeit niederzulegen 62 . Diese Lösung des Problems galt der internationalen Arbeiterschaft der damaligen Zeit als die einzig logisch-sozialistische. Auf dem 5. Vereinstag der deutschen Arbeitervereine, der im September 1868 zu Nürnberg abgehalten wurde, erklärte sich auch Wilhelm Liebknecht dem Sinne nach für den Militärstreik und die Insurrektion im Fall eines Krieges zwischen Deutschland und Frankreich. „Der Cäsarismus jenseits des Rheins wird durch das „Verhängnis", durch die „Logik der Tatsachen" zum Kriege gegen den Cäsarismus diesseits des Rheins gedrängt. Der Zusammenstoß ist unvermeidlich. Die Völker können nur gewinnen, wenn ihre Feinde sich untereinander zerfleischen. Aber sie dürfen dann auch nicht die Sache ihrer Feinde zu ihrer eigenen machen. Es muß um jeden Preis verhindert werden, daß der kommende Krieg einen nationalen Charakter annehme. Der Mann, welcher am 2. Dezember 1851 die französische Republik meuchelte, kann ebensowenig Vertreter der französischen Nationalinteressen sein, als die Männer, die Deutschland im Sommer 1866 meuchelten, Vertreter der deutschen Nationalinteressen. Jede Niederlage des napoleonischen Cäsarismus ist ein Sieg des französischen Volkes; jede Niederlage des Bismarckschen Cäsarismus ist ein Sieg des deutschen Volkes. Wir Norddeutsche sind vorläufig vergewaltigt. Aber Sie im deutschen Süden sind noch nicht völlig gefesselt. Zerreißen Sie die Schlinge der Militärverträge, die Preußen Ihnen um den Hals geworfen, und ersparen sie Europa, der Welt jene Todsünde wider den heiligen Geist der modernen Zivilisation: einen Nationalkrieg zwischen Frankreich und Deutschland. In Ihrer Hand liegt es. Tun Sie Ihre Schuldigkeit, und der Krieg der Cäsaren wird zum Auferstehungsfest der
62 Vgl. James Guillaume·. „L'Internationale. Documents et Souvenirs". 1864-1875. Paris 1905. Tome I. Société Nouvelle de Libr. Et d'Edit. Georges Bellais. p. 68.
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Völker"63. Die Ueberzeugung, daß der Generalstreik das einzige Mittel sei, um den kriegerischen Gelüsten des Bonapartismus und der Hohenzollern-Dynastie, deren Konflikt damals schon in der Luft lag, vorzubeugen, hatte so weite Kreise erfaßt, daß selbst Männer wie der der Internationalen fernstehende sozialistoide Nationalist Henri Rochefort in seiner bekannten Aufsehen erregenden Lanterne64 und der deutsche Demokrat Dr. Ferdinand Goetz65 für ihn eintraten. Als dann freilich der deutsch-französische Krieg eine Realität wurde, fiel der Brüsseler Beschluß kraftlos in sich zusammen. In Frankreich versuchte wenigstens die Pariser Sektion der Internationalen einen Vorstoß. In Deutschland aber herrschte ein Pandämonium. Alle Stimmungen und Stimmen schwirrten durcheinander. In Braunschweig, dem Sitz des Zentralkomitees der sozialdemokratischen Partei (Eisenacher) bezeichnete eine Massenversammlung deutscher Arbeiter Napoleon III. und die Mehrheit der französischen Kammer als frivole Frie-
63 „Die ersten deutschen Sozialistenkongresse". Aus der Waffenkammer des Sozialismus. Eine Sammlung alter und neuer Propaganda-Schriften, herausgegeben von der Volksstimme, Frankfurt a. M. 6. Halbjahrs-Band (Januar bis Juni 1906). Frankfurt a. M. 1906. Druck und Verlag der UnionDruckerei, G m. b. H. p. 104. 64 In einer Polemik gegen Bismarck schreibt Rochefort: „Cet homme est décidément le plus fort. Il sait bien, lui, que le jour où deux armées pourront se comprendre entre elles, au lieu de s'aborder à la baïonnette, elles iront l'une à l'aure pour se dire: Au fait, nous sommes trop bêtes de passer notre temps à nous massacrer pour des individus qui ne nous invitent jamais à venir partager leurs bons morceaux, et qui savent si bien nous trouver quand ils ont à placer des obligations véreuses. La fusion des langues serait la suppression de la guerre. La suppression de la guerre serait la fin du despotisme, et ce sont précisément ces petites choses-là qu'on tient à garder". (La Lanterne, Paris 1868. Réimprimée à Paris 1886. Victor Havard Edit. p. 352.) 65 Das dürfte aus folgenden, im Jahre 1867 geschriebenen Versen klar hervorgehen: Es starret die Welt voll Soldaten, Selbst Sachsen hat neue gekriegt, Sie mögen von hinten nur laden, Den Fortschritt erschießen sie nicht. Sie werden der Freiheit nicht Meister, Trotz allen Kasernen so groß, Das ewige Ringen der Geister, Geht flott auf die Zukunft doch los. Der Krieg hat im Lande gewütet, Manch' prächtige Frucht brach er ab, Manch' Sohn, den die Mutter behütet, Sank früher als nötig ins Grab. Machts anders und werdet gescheiter Und gebt euch zum Krieg nicht mehr her! Denn fehlen den Fürsten die Streiter, So streiten die Fürsten nicht mehr. (Zit. nach d. Mitteid. Sonnt.-Ztg. XI, Nr. 29; 17. Juli 1904).
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densbrecher und Ruhestörer Europas, denen entgegenzutreten jetzt „erste Pflicht" sei und erkannte den Verteidigungskrieg auch für das deutsche Proletariat als unvermeidliches Uebel an. Der „Volksstaat" war völlig desorientiert. Nachdem er zuerst die Rückgängigmachung des Werkes Bismarcks gefordert hatte, freute er sich über den Krieg gegen den „Eckstein des reaktionären Europa" (Frankreich), meinte dann aber wieder, die Arbeiter hätten nichts mit dem Kriege gemein. Ein Aufruf des Braunschweiger Parteiausschusses forderte die deutschen Proletarier auf, als Deutsche für Deutschland einzustehen, ebenso mit großem Nachdruck Arbeiterversammlungen in München, Breslau, Augsburg, Altenburg, während Nürnberg, Fürth, Chemnitz, Leipzig, Dresden, Krefeld und Elberfeld sich heftig gegen den „deutschen Chauvinismus" wandten 66 . Eine gewaltige Unsicherheit herrschte in der gesamten deutschen Arbeiterschaft, soweit sie überhaupt bereits von den Ideen des modernen Sozialismus berührt war. Im norddeutschen Landtag enthielten sich Bebel und Liebknecht der Abstimmung über das Kriegsbudget, während die Lassalleaner v. Schweitzer und Hasenclever, ja selbst der „Eisenacher" Fritzsche die Anleihen glattweg bewilligten. In Leipzig zogen die Lassalleaner vor Liebknechts Haus, um dem Vaterlandsfeind die Fensterscheiben einzuwerfen, eine Handlung, die von ihrem Zentralorgan als ein „Akt der Volksjustiz" gepriesen wurde. Im Auslande überwog der Eindruck, daß les ouvriers allemands paraissent en général moins guéris du fanatisme national que ne le sont les ouvriers français (so der Sozialist James Guillaume in einem Schweizer Blatt). Le sentiment patriotique prend le pas sur les principes socialistes, l'Allemagne passe avant l'Internationale. Cela n'est pas bien, frères allemands! 67 Diesen Klagen konnte um so weniger vom sozialistischen Standpunkt aus eine Berechtigung abgesprochen werden als selbst Karl Marx in seinem Manifest des Londoner Generalrats vom 23. Juli den Krieg von deutscher Seite als einen Verteidigungskrieg hinstellte und dadurch 1) willkürlich den einstimmig gefaßten Brüsseler Beschluß über den Generalstreik im Kriegsfall wieder umstieß, 2) sich mit seiner eigenen, im Kommunistischen Manifest mit aller wünschenswerten Klarheit ausgesprochenen Theorie von der Vaterlandslosigkeit des Proletariats in bedenklichen Widerspruch setzte, 3) eine neue Spezies Krieg in das politische Völkerleben einführte, mit dem sozialistischerseits bisher nicht gerechnet worden war, nämlich den „Verteidigungskrieg" und 4) endlich auch von der damaligen politischen Lage eine Auffassung bekundete, die von der Lieblingsthese W. Liebknechts, daß nicht Napoleon III., sondern Bismarck der eigentliche Kriegsstifter gewesen sei, seltsam abstach 68 . Erst die Erklärung der französischen Republik und die offen ausgesprochene Absicht der deutschen Regierungen, nur auf Grund der Abtretung französischer Pro-
66 Vgl. Gustav Jaeckh: „Die Leipziger Arbeiterbewegung von 1868 bis 1878", in „Die Gründung der deutschen Sozialdemokratie, eine Festschrift der Leipziger Arbeiter". Leipzig 1903. Verl. d. Buchdr.Aktienges. (p. 55 ff.), Gust. Jaeckh: „Die Internationale". Leipzig 1904. Verl. d. B.-A. (p. 100 ff.), Franz Mehring'. „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie", Bd. IV., p. 4 ff. 67 James Guillaume: „L'Internationale" loco cit. T. II, p. 70. 68 Vgl. Wilhelm Liebknecht. „Die Emser Depesche oder: Wie Kriege gemacht werden". Mit einem Nachwort: „Bismarck nackt". 7. Aufl. Nürnberg 1899. Wörlein.
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vinzen Frieden schließen zu wollen, vermochte die zerspaltenen Elemente der sozialistischen Bewegung in Deutschlands wieder zur Einheit zu bringen und sie in jene taktische Stellung zu drängen, die ihr von seiten der offiziellen Gewalten so viel Verfolgung, von seiten der bürgerlichen Parteien so viel Haß und von Seiten der auswärtigen Sozialisten so viel Bewunderung eingetragen hat. Aber von einem „Generalstreik" konnte auch da nicht mehr die Rede sein. Die beständige Kriegsgefahr, die Anfang der neunziger Jahre vorzugsweise dank des ob der Annexion Elsaß - Lothringens zwischen Deutschland und Frankreich persistierenden latenten Kriegszustandes über Europa schwebte, ließ notwendigerweise den 1870 fallen gelassenen Gedanken des Militärstreiks im Kriegsfalle im sozialistischen Lager wieder von neuem aufkommen, und zwar war es insbesondere der holländische Geistliche Ferdinand Dómela Nieuwenhuis, der anerkannte Führer der niederländischen Sozialdemokratie, der diesem Gedanken zum erstenmal wieder Geltung verschaffte. Auf dem zweiten Kongress der neuen Internationale, der im August 1891 in Brüssel tagte, brachte dann unter dem Drucke der allgemeinen Meinung in den Kreisen des internationalen sozialistischen Proletariats der Führer der deutschen Sozialdemokratie, Wilhelm Liebknecht, dem sich von den Franzosen Edouard Vaillant beigesellte, eine Resolution gegen den Krieg ein, die in sehr allgemeinen Ausdrücken gehalten war. Allein die Schaffung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, welche die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitige, könne dem Militarismus ein Ende machen und den Frieden unter den Völkern herbeiführen. Demzufolge hätten alle, welche den Krieg abschaffen wollten, die Pflicht, sich der internationalen Sozialdemokratie als der einzigen wirklichen und grundsätzlichen Friedenspartei anzuschließen. Angesichts der immer drohender werdenden Lage Europas und der chauvinistischen Hetzereien der herrschenden Klasse müßten die Arbeiter aller Länder gegen alle Kriegsgelüste und die diesen dienenden Bündnisse unablässig und energisch protestieren und wirken, und durch Vollendung der internationalen Organisation des Proletariats den Triumph des Sozialismus beschleunigen. Dies sei das einzige Mittel, die furchtbare Katastrophe eines Weltkrieges abzuwenden, dessen unabsehbar verhängnisvolle Folgen die Arbeiterklasse in erster Linie zu tragen habe. Die Verantwortung fur eine solche Katastrophe falle vor der Menschheit und der Geschichte allein den herrschenden Klassen zu. Dómela Nieuwenhuis erhob gegen diese Resolution energischen Widerspruch. Wenn man in diesem Phrasengewimmel die Worte sozialistisch durch christlich ersetze, so könne sie ebensogut vom Papst wie von der Heilsarmee eingebracht worden sein. Es genüge nicht, den Krieg zu verurteilen, sondern man müsse auch angeben, was im Kriegsfall zu tun sei, und da wäre seiner Ansicht nach das beste Mittel der Abwehr der allgemeine Ausstand, die Weigerung, die Waffen in die Hand zu nehmen 69 . Was werde sonst in der Tat, führte er später aus, im Kriegsfall geschehen? Der sozialdemokratische Parteivorstand werde sofort nach Kriegsausbruch, getreu der vorgeschlagenen Reso-
69 Carl Stegmann und C. Hugo (Hugo Lindemann): „Handbuch des Sozialismus". Zürich 1897. Verlags-Magazin Schabelitz, p. 386.
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lution, eine geharnischte Protestnote erlassen, in der natürlich auch die berühmte Phrase von der „Verantwortung vor der Menschheit und vor der Geschichte" nicht vergessen werde. Dann werden die Soldaten diese berühmte Resolution in die Tasche stecken, merkwürdigerweise ohne dadurch daran verhindert zu werden, sich gegenseitig totzuschießen 70 . - Bei der Abstimmung unterlag jedoch Holland, dem sich die Mehrheit der großen Staaten Westeuropas - Frankreich und England - angeschlossen hatten, - eine Tatsache, die den oft wiederholten Vorwurf, daß eine Militärstreik-Resolution, wie die von Nieuwenhuis vorgeschlagene, nur von einem Lande gutgeheißen werden könne, das ganz außerhalb der großen europäischen Konfliktsmöglichkeiten läge, Lügen strafte - den mit der deutschen Sozialdemokratie verbündeten Kleinstaaten. Jedoch erschien dieselbe Frage auf dem nächsten internationalen Kongress, der im August 1893 in Zürich abgehalten wurde, von neuem auf der Bildfläche. Auch Norwegen hatte sich inzwischen der Nieuwenhuis'sehen Auffassung angeschlossen, die zwar auch Blutvergießen zur Folge haben werde, aber doch weniger wie der Krieg. Aber die deutsche Auffassung siegte glänzend. Die Entscheidung brachte der Russe Plechanow, der geltend machte, jede Entwaffnung der Militärmächte werde nur dem russsischen Zarismus zu gute kommen und Europas Kultur aufs Spiel setzen. Insbesondere Deutschlands Heer werde einst der Befreier Rußlands sein und dürfe deshalb nicht geschädigt werden. Umsonst führte Nieuwenhuis aus, wenn man Rußland Deutschland gegenüber als den Hort der Grausamkeiten und Kulturfeindlichkeit hinstelle, so könne man mit dem gleichen Recht ebendasselbe von Deutschland Frankreich gegenüber sagen und der ganze Kampf gegen den Militarismus entbehre dann des Maßstabs und müßte in sich zusammenfallen. Die Furcht vor Rußland überwog die Logik und die neue Internationale beschloß eine platonische Erklärung ihrer Friedfertigkeit, die sehr schlecht zu der Begründung paßte, mit der diese Resolution zu Stande gekommen war 71 . Trotz der von deutscher Seite durchgesetzten offiziellen Exkommunikation des Gedankens vom Militärstreik zur Verhinderung eines Krieges, der in der Arbeiterschaft der beiden europäischen Westmächte so tiefe Wurzel geschlagen hatte, kam das internationale Proletariat notgedrungen immer wieder auf ihn zurück, sobald sich ihm die Kriegsgefahr auch nur entfernt am Horizont zeigte. Als im Jahre 1905, soweit wir übersehen können, unbegründeterweise von der Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes zwischen Oesterreich und Italien wegen albanesischer Meinungsverschiedenheiten gesprochen wurde, bemächtigte sich der sozialistischen Presse Italiens eine bedrohliche Stimmung gegenüber der Regierung. Im Zentralorgan der Partei, dem römischen Avanti konnte der einem adligen Patriziergeschlecht entstammende Maler Gabriele Galantara (Ratalanga) unwidersprochen einen Aufruf erlassen, in dem davon die Rede war, die italienischen und die österreichischen Sozialdemokraten hätten im Moment nur eine Pflicht: die Massen psychologisch auf 70 Dómela Nieuwenhuis:
„La Grève Militaire", in der Pariser Monatsschrift „La Question Sociale",
III, N. 4. 71 Vgl. das von deutscher Seite redigierte Protokoll des Int. Soz. Arbeiterkongresses in der Tonhalle Zürich v o m 6.-12. August 1893. Zürich 1894. Buchh. d. Grütlivereins. p. 2 0 - 3 1 .
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den Gegenkrieg vorzubereiten. Auf den Krieg, hieß es in ihm, müßten die Sozialisten, und mit ihnen die Massen, mit einem Generalstreik antworten, der nicht vor den Toren der Kasernen Halt machen dürfe 72 . Die hochbedeutende Artikelserie, die Professor Arturo Labriola aus Neapel im Auftrage des Parteivorstandes über die italienischösterreichischen Beziehungen niederschrieb, enthielt denselben scharfen Ton. Italien gehöre trotz aller Widersprüche in seinem sozialen Leben zu denjenigen Ländern, in denen die öffentliche Meinung stark genug sei, um die allgemeine Richtlinie der Politik mitzubestimmen. Wenn jetzt die italienischen Sozialisten den österreichischen Sozialisten das Versprechen abgäben, für den Fall, daß die italienische Monarchie der österreichisch-ungarischen gegenüber eine provokatorische Haltung einnehmen sollte, sich zu verpflichten, die Pläne der italienischen Regierung zum Scheitern zu bringen, so versprächen sie etwas, von dem sie genau wüßten, daß sie es einhalten könnten. Sie hätten bewiesen, daß und wie sie einen Generalstreik zu machen verstünden. Sie seien bereit, die Regierung durch einen eventuellen Militärstreik im Zaum zu halten 73 . Einige Zeit darauf wurde in Triest eine Zusammenkunft der beiden Bruderparteien abgehalten, auf der man sich gegenseitig über die im Kriegsfalle einzuhaltende Richtlinie verständigte. Während des russisch-japanischen Krieges schien es eine Zeit lang, als ob wegen eines dem kriegfuhrenden Rußland von seinem Verbündeten, der französischen Republik, entgegen dem internationalen Seerecht geleisteten Vorschubs Frankreich ebenfalls in einen Krieg mit Japan verwickelt werden sollte. Da setzte Edouard Vaillant, der Führer der Blanquistenpartei und einer der Leiter der mit den Marxisten zusammen gegründeten Parti Socialiste de France, sich energisch zur Wehr. In einem Artikel, den er dem Zentralorgan der Partei, dem Socialiste, zuschickte, sagte er: „Nous devons tout prévoir, même la folie et le crime de nos gouvernants et parlamentaires ... Mais si leur intelligence et leur volonté défaillantes nous laissaient dériver vers la guerre, il faut que ce danger soit par nous conjuré. Nous le pouvons si nous le voulons". Vaillant Schloß mit den bedeutsamen Worten, die zu einem vielerwähnten Zitat geworden sind: „Aussi ne devons-nous pas hésiter, et dès maintenant, il nous faut envisager ce que nous pouvons avoir à faire. Et si le prolétariat international et national par nous rappelé ne répondait pas suffisamment, et ne savait pas, par sa grève généralisée, se défendre, défendre sa vie, ses revendications, son émancipation, notre devoir d'agir et de ne reculer devant rien pour le sauver, pour conjurer le danger, pour éviter la guerre, n'en serait que plus grand. Il n'est pas de bien supérieur à la paix internationale. Il n'est rien qui ne soit préférable à la guerre. Plutôt l'insurrection que la guerre!" 74 Wenige Tage darauf erschien ein offizieller Aufruf des Parti Socialiste de France, unterschrieben von Jules Guesde, Paul Lafargue, Bracke u. a., der sich inhaltlich den 72 Avanti, No. 2767. 73 Arturo Labriola: „II Convegno Italo-Austriaco. L'intesa pratica". Avanti, No. 3003 (12 aprile 1905). 74 Edouard Vaillant·. „Plutôt l'insurrection!" Le Socialiste, XX, nouvelle série No. 70 (14-21 février 1904).
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Ausführungen Vaillants vollkommen anschloß und die Parteigenossen aufforderte, sich mit allen Kräften und allen Mitteln einer Kriegserklärung von Seiten der französischen Regierung zu widersetzen und den Machthabern kundzutun, daß die Arbeiter um keinen Preis einen Krieg dulden würden, „à quelque prix que ce soit" 75 . Dieser Aufruf wurde dann als Manifest gedruckt und ist in vielen Tausenden von Exemplaren verkauft worden. Adäquat der Haltung der französischen Sozialisten in der Zeit der Gefahr eines Krieges mit Japan war auch die Haltung der schwedischen und norwegischen Sozialdemokratie in der Zeit des Trennungskonflikts der Union. Beide Parteien gaben ihren festen Willen kund, bei eventueller Kriegserklärung unverzüglich in den Generalausstand zu treten. Die fortwährende Spannung und Kriegsstimmung, die Europa nicht zur Ruhe kommen ließ, erzeugte allerwegen als Reaktion eine antimilitaristische Stimmung in der Arbeiterschaft. In Belgien, in Frankreich, in Italien, in der Schweiz, in Dänemark, in Schweden, in Norwegen, überall zweigte sich eine meist von den jugendlicheren Elementen getragene antimilitaristische Bewegung als besonderer, wenn auch integraler Bestandteil von der allgemeinen sozialistischen Arbeiterbewegung ab. Ihr Ziel war die Bekämpfung der Kriegsgefahr durch die Androhung des Generalstreiks. Natürlich fand diese Richtung in den Reihen der eigenen Parteien vielfache Widersacher. In der Tat muß der sozialdemokratische Antimilitarismus, der die Partei wie keine andere sozialistische Bewegung sonst dem Vorwurf der Vaterlandslosigkeit aussetzt, die Stellung der sozialistischen Fraktionen in den Parlamenten verschlechtern und ebenso natürlich muß er, der tiefsitzende ererbte Vorurteile in den Massen, die die Partei bisher fast unberührt gelassen hatte, aufgreift und vor den Kopf stößt, der vorzugsweise parlamentaristischen Sozialdemokratie, deren Größe sich auf einer sozial bunt zusammengesetzten und undurchbildeten Wählerschaft aufbaut, in hohem Maße unbequem sein. Aber die antimilitaristische Strömung drängte sich doch überall hervor. Man trug ihr Rechnung auf der Tagesordnung von Parteitagen und setzte sich mit ihr auseinander, so in Italien, wo um sie in Rom 1906 - vorläufig ohne Endresultat - gestritten wurde, so einige Wochen später in Frankreich - wo man in Limoges eine ziemlich radikale Resolution Vaillant annahm und auf dem Gewerkschaftskongreß in Amiens 1906 voller Jubel, sozialistischer zu sein, als die deutschen Brüder und Bebel, den Beschluß faßte, dem Kriege mit dem Aufstande entgegenzutreten. Deutschland ist das einzige Land geblieben, in welchem noch keine Spur einer antimilitaristischen Bewegung in der sozialistischen Partei zu entdecken ist. Denn selbst die Norweger, also Urgermanen, sahen wir eine kräftige, antimilitaristische Bewegung entfalten. Die norwegische Partei beschloß sogar, mit 160 gegen 35 Stimmen, zu Christiania im März 1906 als erste unter allen offiziellen sozialdemokratischen Parteien, den Punkt allgemeine Volksbewaffnung aus dem Programm zu streichen und dafür die
75 „Aux Travailleurs Français". Le Socialiste, XX, nouvelle serie No. 72 (28 Février - 6 mars 1904).
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Abschaffung des Militarismus zu setzen 76 . In Deutschland nichts von alledem. Nicht einmal die wenigen Jugendvereine, die in den letzten Jahren dort gegründet wurden, tragen offen oder geheim irgendwie antimilitaristischen Charakter. Die antimilitaristische Literatur, soweit sie von Parteigenossen herrührt, beschränkt sich, während sie im Ausland Bände umfaßt, auf eine kleine Broschüre von Karl Liebknecht, der sich noch ängstlich bemüht, mit den französischen Antimilitaristen nicht verwechselt zu werden. Einige schüchterne Anträge in antimilitaristischem Sinne, die auf deutschen Parteitagen einliefen, scheiterten an der gänzlichen Verständnislosigkeit der führenden Männer für eine derartige Art von Propaganda. Liebknecht hatte gut daran erinnern, daß die Deutschen es doch den Franzosen schuldig seien, auch ihrerseits den Militarismus zu bekämpfen 77 . Er stieß auf Hohngelächter. Das „Verantwortlichkeitsgefühl" für solche unüberlegten Aktionen war zu groß. Insbesondere Bebel war es, der jedesmal mit dem ganzen Schwergewicht seiner Vergangenheit und Gegenwart und der ganzen Vehemenz seiner Natur sich auf den Antimilitarismus warf, sowie er auch nur einen Keim von ihm zu entdecken glaubte 78 . Dafür beschränkte sich das, was die deutsche Sozialdemokratie als Antimilitarismus bezeichnet, in der Praxis auf die Verweigerung des Heeresbudgets, ein rein platonischer Akt von Glaubensbekenntnis, der außerdem, scheint es, sofort aufgegeben werden wird, sobald die Partei im Reichstag einmal die Mehrheit bekommen sollte783 - sowie auf einige reformerische Bestrebungen zum Kapitel des Militärwesens Propagierung der Nützlichkeit dunkler Uniformen, militärischer Jugendausbildung, also Einführung einer gründlicheren Vorbereitung für den Krieg, ferner Abschaffung des weißen Lederzeugs und der Kavallerieattacken, kurz alles Dinge, die eher auf eine Kräftigung als auf eine Bekämpfung des Militarismus hinzielen und im Auslande zu Ungunsten der dortigen sozialistischen Agitation ebenso wie auch die wiederholte Bebelsche Erklärung, im Kriegsfall jeden Quadratmeter deutschen Reichslandes - das bekanntlich dänische, französische und polnische Gebietsteile umschließt - , mit dem letzten Herzblut verteidigen zu wollen, viel Staub aufwirbeln.
76 Vgl. Vorwärts, XXIII, N. 89, 1. Beil. 77 Vgl. Protokoll des Parteitags von Jena 1905. p. 284. 78 Vgl. Protokoll des Parteitags von Bremen (p. 212), Jena (p. 284) und Mannheim (p. 386). 78a „Es ist Sache der Regierung, sich eine Mehrheit für ihre Politik zu schaffen, oder abzutreten. Diese Mehrheit mag sich die Mittel zur Landesverteidigung bewilligen; stimmt die Sozialdemokratie dagegen, so wird das Vaterland nicht wehrlos. Erst wenn sie einmal in die Mehrheit gelangt, ist es ihre Aufgabe, zu tun, was für die Wehrhaftigkeit der Nation nötig ist, und es so zu tun, wie es nach ihrer Ueberzeugung geschehen muß." (Wolfgang Heine: „Sozialdemokratie und Landesverteidigung" in d. Halbmonatsschrift März, I, N. 11.)
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c) Die deutsche Sozialdemokratie im Marokkokonflikt Die Ohnmacht der deutschen Sozialdemokratie entblößte sich in den Tagen des Marokkokonfliktes ebenso wie das geringe internationale Empfinden dieser Partei. Die Kriegsgefahr war eine Prüfung. Sie bestand sie nicht. Sie nahm nicht die Rolle wieder auf, die die Italiener und Oesterreicher, Franzosen, Schweden und Norweger in dräuenden Zeiten gespielt hatten, sondern zog jeder offenen Handlung ein äquivokes Schweigen vor, während der Krieg vor der Tür stand. Unterdessen hatten die französischen Sozialisten eine fieberhafte Tätigkeit entfaltet. Jaurès wurde nicht müde, in der Kammer und, was wichtiger, in großen Volksversammlungen im Sinne des Friedens zu wirken. Seine Sprache und die seiner Freunde war stolz, bisweilen selbst drohend. Der Dichter Anatole France, der sich der sozialistischen Bewegung angeschlossen hat, redete sehr deutlich: Si les diplomates décident la guerre, ce sont les soldats qui la font. Le prolétariat quoi qu'on ait dit et quoi qu'on lui fasse dire, a souci de la défence nationale. Mais il ne veut pas marcher pour les Turbini et pour les Lorando. Also: Kapitalistische Angriffskriege machen wir nicht mit 79 . In Limoges stiegen die französischen Arbeiter auf die Straße, pfiffen das Militär aus und brachten Jubelrufe auf die internationale Solidarität der Arbeiter und den Frieden aus. Gustave Hervé und die Seinen drohten - sie glaubten ausgesprochenermaßen damit ein Friedenswerk zu tun - im Falle eines Krieges, auch wenn er von Seiten Deutschlands „angefangen" werden sollte, mit dem Aufstand. Sie stellten die französischen Staatslenker vor das Dilemma: entweder ihr haltet Frieden oder ihr habt den Krieg und die Revolution dazu! Auch als die vornehmsten Wortführer der antimilitaristischen Sozialisten zu insgesamt 36 Jahren Gefängnis verurteilt waren, ließ die Bewegung nicht nach. Das Manifest, auf Grund dessen Hervé und Genossen eingekerkert worden und das die Arbeiter aufforderte, im Kriegsfalle sofort zur Revolution zu schreiten, wurde nochmals angeschlagen. In allen sozialistischen Kreisen Frankreichs herrschte eine geradezu fieberhafte Tätigkeit. Während die französischen Sozialisten bemüht waren, mit Hilfe aller nur erdenklichen Pressionen auf die Regierung den Frieden zu erhalten, und die deutschen Bürgerkreise anfingen, von einer nationalen Glut erfaßt zu werden, die dem Frieden leicht hätte gefährlich werden können, hatte die deutsche Sozialdemokratie - die selbst absolut nichts tat, das als Aequivalent für die Tätigkeit der Franzosen hätte gelten können für deren Opferfähigkeit nichts als Spott und Hohn übrig. Der Pariser Korrespondent des Vorwärts entdeckte sogar, daß der Deutsche eigentlich doch ein besserer Mensch sei als der Franzose. Während in Europa alle Welt der Ansicht war, daß von dem durchaus friedlichen Verhalten aller Parteien und aller Stände Frankreichs der Schneid bestimmter Koterien Deutschlands - die bei der Regierung nicht eines gewissen Einflusses entbehrten - unangenehm abstach, sprach Otto Pohl den Lesern des größten deutschen Ar-
79 Anatole France, Jean Jaurès und Gabriel Séailles:
„Pour la Paix: Diplomatie et Démocratie". A
propos de la Conférence d'Algéssiras. Discours. Paris 1906. Ed. du Courrier Européen, p. 15.
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beiterblattes nicht nur von den Ideen Hervés als sicherlich utopistisch und logisch unzulänglich, sondern erklärte auch, daß trotzdem das Wörterbuch das französische „patrie" dem deutschen „Vaterland" gleichsetze, eine begriffliche Gleichheit dieser beiden Wörter nicht vorhanden sei: „Bei den Deutschen ist der Begriff des Vaterlandes mit der gesicherten nationalen Existenz identisch, in die Vorstellung „Patrie" hingegen mengen sich, infolge der eigenartigen historischen Entwicklung Frankreichs Gedanken der Glorie und der kriegerischen Herrschaft Frankreichs ein"80. Hervé selbst wurde wiederholtermaßen in der deutschen sozialdemokratischen Presse insultiert und sogar Jaurès in seinem emsigen Schaffen die Leviten gelesen. Auf den Redaktionsstuben herrschte tiefste Ruhe und altgewohnte Behaglichkeit. Dem Jaurèsschen Diktum, daß es für das Proletariat kein unabänderliches Gesetz des Krieges gebe81, wurde von Seiten der Deutschen, nachdem längste Zeit jede Kriegsgefahr überhaupt geleugnet worden - die Franzosen behaupten, das sei das bequemste Mittel gewesen, ihr Nichtstun zu rechtfertigen - , das Diktum von der „Unabänderlichkeit des Krieges in der kapitalistischen Gesellschaft" entgegengesetzt. Zwar erschienen in der Leipziger Volkszeitung einige - später unter Anklage gestellte - Leitartikel, die in progammatisch-klarer, streng-marxistischer Weise die Ideen des „Hervéismus" verfochten8 la, dafür war es aber in der übrigen Presse 80 Vorwärts, XXII, N. 202. 81 Vorwärts, XXII, N. 158. 81a S. den Artikel: Krieg dem Kriege (XII, N. 284), in dem es heißt: „Sicher ist jedenfalls, daß die allgemeine Situation so ernst wie möglich ist, und daß Deutschland politisch isoliert dasteht. Man kann daher das Entsetzen begreifen, das Bebels Erklärung bei den bürgerlichen Parteien hervorrief. Diese Rasse ist seit jeher gewöhnt, mit den Knochen der besitzlosen Klassen zu rechnen, wie der Schlächter mit dem Schlachtvieh. Daß sich jetzt die besitzlose Klasse dafür bedankt, die Rolle des geduldigen Schlachtviehes weiter zu spielen, ist eine unerhörte Frechheit, ist die offene Rebellion, ist der Zusammenbruch der göttlichen Weltordnung! Und irgend ein beliebiger Krautjunker schnarrte dann auch empört, wie Bebel sich herausnehmen könne, erst nach der Berechtigung eines Krieges fragen zu wollen. In der Tat kommt der Ausbeutungscharakter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nirgends so zynisch und grotesk zum Ausdruck wie beim Kriege. Daß dieselben Massen, die jahraus jahrein die Reichtümer schaffen, um sie dann einer lächerlichen Minderheit abzutreten, während sie selbst mit einem Stück Brot und einem Schluck Wasser sich begnügen müssen, daß diese ausgeplünderten Proletarier nun auch noch die ihnen geraubten Reichtümer mit ihren Knochen zu schützen haben, damit nur ja diese genußfreche Minderheit in ihrem Wohlleben nicht gestört werde, das ist allerdings der Gipfel des Hohns. Und es versteht sich, daß eine Partei, die der kapitalistischen Ausbeutung den Krieg erklärt hat, auch der Konzentration dieser Ausbeutung, eben dem Kriege, den Krieg erklären muß. Unsere Agitation gegen den Krieg tritt jetzt in ein neues Stadium. Bisher war sie in der Hauptsache darauf gerichtet, die Massen über den wahren Charakter des Krieges aufzuklären, oder, um mit den Zeilenreißern der bürgerlichen Presse zu reden, ihnen den Patriotismus aus dem Herzen zu reißen. Das genügte, solange die Möglichkeit eines Krieges nicht direkt vor der Türe stand. Jetzt jedoch ist die Situation anders, was uns weder die Thronrede noch Herr v. Bülow erst zu erzählen brauchte. Das alte Europa windet sich in den Geburtswehen einer neuen Geschichtsepoche. Der alte Barbarenstaat im Osten bricht zusammen und der muffige Feudalstaat im Südosten kracht in allen
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seinen Fugen. Der Bankrott Rußlands steht nahe bevor und mit ihm die furchtbarste wirtschaftliche Erschütterung, die dieses alte Europa jemals erlebt hat. Die politische Erbitterung im eigenen Lande drängt mit aller Vehemenz zu einer Explosion. Der Veitstanz des Wettrüstens zu Wasser und zu Lande hat alle Länder erfaßt. Das ist die Situation, in der bankrotte Politiker in einem Kriege den einzigen Ausweg aus der Sackgasse sehen. Wer kann heute sagen, wie die Welt in den nächsten Monaten aussehen wird? - Jetzt ist die alte Welt das Land der unbegrenzten Möglichkeiten geworden. In diesem Wirbelwinde der Ereignisse ist die Sozialdemokratie der einzige ruhende Pol und die sichere Zuflucht der gefährdeten Kultur. Ein Krieg gegen den entschlossenen Willen der Sozialdemokratie ist heute schon unmöglich, das mögen sich die herrschenden Klassen gefälligst hinter die Ohren schreiben. Je mehr sich in den kommenden Monaten das Tätigkeitsfeld der Partei erweitert, desto mehr werden auch ihre Kräfte wachsen, desto mehr wird sie zur Vertrauenspartei der unendlich überwiegenden Mehrheit der Nation. Darüber täusche man sich nicht im gegnerischen Lager!" Wie sehr die Leipziger Volkszeitung aber in der Marokkofrage isoliert war, beweist das Verhalten eines ihr sonst eng verwandten Mannes, K. Kautsky. Auch Kautsky ist zwar ein viel zu durchbildeter Marxist, um an dem bürgerlichen Vaterlandsgedanken festzuhalten. Er verurteilt den Militärstreik im Kriegsfälle keineswegs aus moralischen, sentimentalen Gründen. Er sagt es geradeaus: „Ich sehe keine ethischen Gründe, die vom Standpunkt des proletarischen Patriotismus aus von vornherein dagegen sprächen". Aber die entscheidende Frage sei die, ob ein derartiger Militärstreik durchgeführt werden könnte. Diese Frage verneint er aber auf das entschiedenste. (S. Karl Kautsky. „Patriotismus, Krieg und Sozialdemokratie". Neue Zeit, XXIII, Nr. 37, 38.) Es ist nun in hohem Grade interessant zu sehen, daß die Argumente, mit denen Kautsky den Generalstreik im Kriegsfalle bekämpfen zu müssen glaubt, mit denen, die in einem von den Radikalen als schlapp und feige aufs heftigste angegriffenen Artikel in den Sozialistischen Monatsheften der Revisionist Wolfgang Heine („Politischer Massenstreik im gegenwärtigen Deutschland?" Soz. Mon.-H. IX (XI), Heft 9) zur Bekämpfung des Generalstreiks schlechtweg angeführt hat, in allen wesentlichen Punkten übereinstimmen. Als hauptsächliche Gründe zur Bekämpfung des Generalstreiks wird folgendes angeführt: I. Bei Heine: .Indes, auch ein solcher partieller Generalsstreik, ein Massenstreik ohne die Massen, würde in Deutschland an inneren Unmöglichkeiten scheitern. Die deutsche Unternehmerklasse ist viel zu sehr politisch fanatisiert, viel zu eng zusammengeschlossen, viel zu gut von den Regierungen unterstützt, um sofort nachzugeben. Sie kann den Streik immer länger aushalten als das Proletariat, und würde zu den größten Opfern bereit sein, auch wenn es sich nicht um einen letzten Entscheidungskampf zwischen Kapitalismus
Bei Kautsky. „Was sind aber 10 000 Mann für ein modernes Massenheer? Man würde ihre Abwesenheit kaum merken. Ein jeder Versuch einer massenhaften Fahnenflucht würde sofort im Blute der tapfersten Kämpfer des Proletariats erstickt. Aber es könnte nicht einmal zum bloßen Versuch kommen ohne eine vorhergegangene jahrelange und eindringliche Propaganda der Fahnenflucht. Weiß man aber, was das in den meisten Staaten heißt? Würde die deutsche Sozialdemokratie den
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und Sozialismus, sondern nur um die Niederwerfung der Sozialdemokratie in einer einzelnen Frage handelte."
Militärstreik auf einem ihrer Kongresse als taktische Waffe anerkennen und dann diesem Beschluß entsprechend propagieren, so wäre dies das beste Mittel, die deutschen Gefangnisse zu überfüllen und die Redaktionen und Organisationen der deutschen Sozialdemokratie hinwegzufegen."
S. S.: Die deutsche Regierung verfügt über so ungeheure Machtmittel, daß jeder Versuch, uns mit ihr zu messen, aussichtsloses Beginnen bleiben müßte. II. Bei Heine: „Nicht die drei Millionen Wähler vom 16. Juni 1903 kommen dafür in Betracht; wir wissen, wie viele davon bereits bei den Nachwahlen nicht das geringe Opfer gebracht haben, einen sozialdemokratischen Stimmzettel abzugeben, und daß weit mehr noch gar nicht in der Lage sind, eine Generalstreikaktion unterstützen zu können. Auch nicht einmal auf die gesamten fünf Viertel Millionen gewerkschaftlich organisierter Arbeiter ist dafür zu zählen. Von ihnen befinden sich sehr viele in kleinen Orten, wo sie Einflüssen unterliegen, die sie von der Beteiligung abhalten würden, und wo jede wirklich inszenierte Arbeitseinstellung nicht ein Massenstreik, sondern eine völlig zwecklose Aufopferung einzelner sein würde."
Bei Kautsky: „Ein Streik, dessen Teilnehmer mit dem Tode bestraft werden können! Und das ist nicht der Tod, dem man sich, umgeben von der Masse der Kameraden, in der Leidenschaft des Kampfes aussetzt, sondern für den man sich kalten Blutes zu entscheiden hat, im Schöße der Familie! Wäre es nicht unerhörter Optimismus, anzunehmen, daß in irgend einem Staate 10 000 Mann dieses Heroismus fähig wären?"
S. S.: Der Generalstreik würde unter unseren Anhängern mehr Opfer fordern, als vielleicht Sozialisten vorhanden sind, die diese Opfer zu bringen gewillt wären. III. Bei Heine: „Der politische Massenstreik würde in Deutschland heutzutage unvermeidlich zu entscheidenden Straßenschlachten zwischen dem Volk und dem Heer fuhren. Daß in diesen das Volk unterliegen müßte, bestreitet wohl niemand. Deshalb verspricht ein solcher Streik der deutschen Sozialdemokratie nicht nur
Bei Kautsky. „Will man schließlich noch sagen, daß man dieses Risiko um der großen Idee willen auf sich nehmen müsse, die man da verfechte? Aber was würde man erreichen? Ein Martyrium um einer Idee willen, die der Masse der Bevölkerung als ein Verbrechen erschiene, als das Verbrechen, im Kriegsfall
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etwa von einem Artikel des ehemaligen Artillerieleutnants Rudolf Kraffi in der Münchener Post abgesehen 8 2 - desto ruhiger. Auch auf große Volks-Versammlungen zur Bekämpfung der Kriegsgefahr, die so leicht im Sinne sozialistischer Propaganda agitatorisch hätte ausgenutzt werden können, wurde verzichtet und weder der Weg Hervés noch der Weg Jaurès' beschritten. Dagegen schrieb Eduard David 8 3 , gerade in der kritischen Zeit Artikelserien über die Brauchbarkeit des sozialdemokratischen Soldaten im Felde, und verteidigte Richard Calwer 84 einen guten Teil der Regierungspolitik in der Marokkofrage. Wurde die französische Bewegung in jenen Tagen deutscherseits nicht geradezu verhöhnt und verlacht, so ignorierte man sie geflissentlich. Weder die Enquête über die Stellung der Arbeiterschaft zur Idee des Vaterlands, welche die Redaktion der Zeit-
keinen Erfolg, sondern er würde ihr eine sichere Niederlage, die Vernichtung der politischen und gewerkschaftlichen Organisation bringen und eine extrem reaktionäre Politik zur Folge haben, die vielleicht die ganze Zukunft eines demokratischen Sozialismus in Deutschland gefährden könnte."
das Land der feindlichen Invasion mit allen ihren Schrecknissen zu öffnen. Ohne die geringste Möglichkeit, einen Krieg wirklich zu verhindern, würde man die schlimmsten Verfolgungen provozieren, bloß um das eine Resultat zu erzielen: die Partei aufs tiefste zu kompromittieren, ihre propagandistische Kraft völlig zu lähmen."
S. S.: Das einzige Resultat eines Generalstreikes würde die Zertrümmerung und Diskreditierung der sozialdemokratischen Organisationen sein, deren Erhaltung, auch wenn wir es nicht ausdrücklich schreiben, oberster Daseinszweck unserer Aktion ist. Wir sehen also, der radikale Kautsky und der revisionistische Heine sind sich in großen Richtlinien bei der Beurteilung des vor ihnen liegenden Problems völlig einig. Worin sie sich unterscheiden, ist nur, daß der Jurist Heine den mitgeteilten Argumenten zur Bekämpfung des Generalstreikgedankens auch noch den Beweis für die juristische Unmöglichkeit des Generalstreiks, unter Hinweis auf die Verhinderung der Konsumvereine durch gesetzliche Bestimmungen, den Massenstreiklern Unterstützung zu gewähren, und auf Paragraph 116 des Strafgesetzbuches, der jedem Versuch der Straßenansammlungen hindernd in den Weg treten müßte, hinzufugen zu müssen glaubt, während der Nationalökonom Kautsky jede Vertiefung in das Kriegsrecht verschmäht, sowie daß Heine seine These von der Impotenz der Partei in ehrlicher Gradheit unverschnörkelt läßt, während es Kautsky nach ausführlicher Begründung seiner These von der völligen physischen wie psychischen Schwäche des Proletariats dem Kriege gegenüber über sich bringt, als das stärkste Hindernis eines europäischen Krieges die „bloße Tatsache der kraftvollen Existenz" eben dieser impotenten Sozialdemokratie hinzustellen. 82 Vorwärts, XXII, N. 173. 83 Eduard David: „Sozialdemokratische Briefe über Vaterlandsliebe". Die Neue Gesellschaft, I, No. 5,7, 9, 11, 15. 84 Richard Calwer: „Weltpolitik und Sozialdemokratie", und „Englands Absichten und die deutsche Sozialdemokratie", Sozial. Monatshefte IX (XI), p. 741 und 919 und „Marokko" (Notiz in der Rundschau), Sozial. Monatshefte IX (XI), p. 458.
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schrift Le Mouvement Socialiste in Paris veranstaltete 85 , noch die ähnliche Enquête, die von der Zeitschrift II Divenire Sociale in Rom ausging 86 , wurde auch nur mit seinem Worte in der Presse der deutschen Sozialdemokratie erwähnt. Durch dieses Totschweigesystem der offiziellen Parteiorgane erfuhren die deutschen Arbeiter nichts davon, daß 15 italienische Gewerkschaftler und, was mehr wiegt, 41 Vorstände französischer Gewerkschaften 87 in langen eingehenden Zuschriften und mit fast durchgehender Uebereinstimmung klipp und klar erklärt hatten, der Proletarier habe kein Vaterland, er könne auf eine Kriegserklärung nur mit dem General- und Militärstreik antworten, und diejenigen Sozialisten, die eine gewisse Sorte Patriotismus mit dem Sozialismus zu vereinigen dächten, verdienten nicht anders als fumistes et arrivistes genannt zu werden. Und doch waren das keine isolierten, sondern repräsentative Meinungsäußerungen. Hinter ihnen standen die Massen des organisierten französischen Proletariats. Die Engländer, die Franzosen drängten. Ihnen schien es notwendig, daß wenigstens das internationale Komité zusammenträte und über eventuell zu ergreifende Maßregeln beriete. Die Belgier - der Exekutivausschuß, Anseele und Vandervelde, sowie der internationale Sekretär Camille Huysmans - schlossen sich an. Es wurde der Vorschlag eines gemeinsamen deutsch-französischen außerordentlichen Parteitags laut, der auf neutralem Gebiet tagen sollte. Die Deutschen blieben all diesen Anregungen gegenüber taub. Monat auf Monat verging. Die Gemüter wurden immer unruhiger. Der Führer der englischen Sozialdemokratie, H. M. Hyndman ließ mittelst des internationalen Sekretariats ein Zirkular bei den verschiedenen Parteien herumgehen, in dem in scharfen Ausdrücken davon die Rede war, die außerdeutschen Sozialisten müßten die deutsche Sozialdemokratie dazu veranlassen, endlich ihre internationale Pflicht zu tun. Zum Schluß, gerade als die Marokkoaffaire kurz vor Zusammentritt der Konferenz von Algeciras nahe daran war, in den Krieg einzumünden, setzte man den Termin für die beabsichtigte notwendige Besprechung auf einen Januartag fest. Jedoch die Vertreter der deutschen Sozialdemokratie ließen sagen, sie hätten jetzt keine Zeit. Grund: die Agitation für die preußische Landtagswahlerweiterung stehe vor der Tür 88 . Mit anderen Worten: es ist wichtiger, daß einige Hunderttausend Proletarier das Recht erhalten,
85 Cfr. Le Mouvement Socialiste: Enquête sur l'Idée de Patrie et la Classe Ouvrière. VII, Ν. 160-167. 86 II Divenire Sociale I, No. 20-24. 87 Darunter leitende Männer wie Victor Grifïuelhes, Secrétaire de la Confédération Générale de Travail, A. Bousquet, Secr. de la Féd. des Travailleurs de l'Alimentation, R. Lenoir, Secrét. de la Fed. des Syndicats d'Ouvriers Mouleurs, Louis Niel, Secrét. de la Bourse de Travail de Montpellier, Denis Veuillot, Secrét. de la Féd. Nat. des Synd. des Bûcherons, Georges Yvetot, Secrét. de la Fédération des Bourses de Travail, A. Lucquet, Secrét de la Féd. des Ouvriers Coiffeurs, Paul Dellessalle, Sécr.-adjoint de la Conféd. de Travail, Gaaizely, Secr. de la Bourse de Travail de Besançon und A. Merrheim, Secr. de l'Union Féd. des Métallurgistes. 88 Nach dem offiziellen Bericht des Internationalen Sozialistischen Bureaus. Sitzung vom 4.-5. März 1906. Imprimerie et Lith. G Cops, Rue de Fiennes 61. 24 pp. S. auch „Avanti!", No. 3266 (3 gennaio 1906) und „Justice".
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einen Volksvertreter in den völlig machtlosen preußischen Landtag zu entsenden, als daß - immer vom Standpunkt des Sozialismus gesprochen - einige Hunderttausend deutscher Proletarier im Kampfe gegen einige Hunderttausend französischer Klassengenossen für die einheimischen Dividenden auf den Schlachtfeldern fallen. Ein sehr harmloser Vorschlag, Jaurès in Berlin zu Gunsten des Friedens sprechen zu lassen eine Idee Kurt Eisners, die einem längst geäußerten Wunsch der französischen Sozialisten entsprach - ging nicht in Erfüllung, weil Bülows Friedensliebe keine Konkurrentin - und zumal nicht von der „Hasenhaide" - dulden wollte. Ein anderer, ernsterer Vorschlag zu gemeinsamer Demonstration jenseits und diesseits der Vogesen zu Gunsten des Friedens scheiterte an bureaukratischen und juristischen Bedenken der Leiter der deutschen Arbeiterbewegung selbst. Die französischen Gewerkschaften hatten im Januar 1906 ihren Generalsekretär Victor Griffuelhes nach Berlin entsandt, zu dem Zwecke, die deutschen Gewerkschaften zu einer Agitation gegen den Krieg zu veranlassen. Aber weder sie noch die Partei ließ sich auf den Pariser Vorschlag ein. Der französische Sozialist stieß, so erzählt er, auf völlige Verständnislosigkeit, „offene Mäuler und geschlossene Herzen". Die Gewerkschaften ließen ihn als zu „politisch" abfahren, die Partei beteuerte, mit den von ihm vertretenen Gewerkschaften ohne Partei nichts unternehmen zu können. Griffuelhes mußte unverrichteter Sache wieder nach Paris zurückkehren 89 . Die Erbitterung gegen die deutsche Arbeiterbewegung wuchs allgemein. Auch in Belgien regte es sich. Der liebenswürdige Aesthet und Literat Jules Destrée, Professor an der Université Nouvelle in Brüssel und sozialistischer Kammerdeputierter, erklärte sich in der Vaterlandsfrage gänzlich mit der Richtung Hervé-Lagardelle-Confédération Générale du Travail einverstanden und lobte die französischen Genossen, daß sie die Initiative ergriffen hätten. Cette grande nation a toujours été l'éveilleuse des autres peuples et les agitations qui la bouleversent ne sont jamais restées sans écho 90 . Emile Vandervelde erklärte in der belgischen Kammer, vermutlich um einen Druck auf die deutsche Sozialdemokratie auszuüben, die deutschen Arbeiter würden niemals in einen Krieg gegen Frankreich ziehen und vertrat in angesehenen politischen Blättern die theoretische Anschauung, die Sozialdemokratie dürfe sich nie zu einem „Angriffskriege" hergeben, sondern müsse ihm gegebenenfalls mit allen Mitteln - selbst den Generalstreik nicht ausgeschlossen - entgegentreten.
89 Vgl. hierüber Erich Mühsam: „Antimilitarismus und Sozialdemokratie". Anarchist, IV Nr. 2 (Februar 1906). - Robert Michels:
„Les Socialistes Allemands et la Guerre". Mouvement Socialiste,
VIII, 2 e m c série, No. 171 (15 février 1906). - „Chez nos Frères Allemands" und: „Mise au Point; le Voyage de Griffuelhes". L'Avant-Garde Socialiste, Syndicaliste, Révolutionnaire, II No. 42 u. 43 (4 et 11 février 1906). - Der Mißerfolg der Reise Griffuelhes nach Berlin wurden von Clémenceau in der Aurore als ein neuer Beleg für den Patriotismus der deutschen Sozialdemokratie benützt und an seiner Hand die Verfehltheit der antimilitaristischen Propaganda in Frankreich nachzuweisen versucht. 90 Jules Destrée:
„La Patrie", in d. Zeitschrift „La Belgique Artistique et Littéraire", I, Ν. 5. (Bru-
xelles 1906, Veuve Ferd. Larcier.)
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Selbst in der sozialdemokratischen Partei Italiens, in der bisher eine vielfache übertriebene Hochachtung vor der großen Bruderpartei jenseits der Alpen traditionell gewesen war, begann man jetzt auf allen Seiten den Kopf zu schütteln. Man fand es unbegreiflich, daß trotz des steten Drängens der Franzosen und Engländer, insbesondere Vaillants und Hyndmans, in gemeinsamer Sitzung des Internationalen Bureaus endlich die Frage der Haltung der internationalen Sozialdemokratie im Kriegsfalle zur Sprache zu bringen und die vorliegende Resolution von Vaillant, die auch den Beifall von Jaurès gefunden hatte, zu beraten, die Deutschen diese notwendige Zusammenkunft aus Gründen vierten Grades, deren Wichtigkeit im gegenwärtigen Moment höchster dräuender Gefahr hinfällig war, immer wieder von neuem absagten und in die Länge zogen. Im Zentralorgan der Partei, dem Avanti, beklagte Tomaso Monicelli auf das Lebhafteste, daß der in Wilhelm II. personifizierten aggressiven Gewalt des offiziellen deutschen Reichs gegenüber die Sozialdemokratie weder genügende Widerstandskraft noch gar dauerhaften Angriffsmut besäße. Mit großer Schärfe heißt es : Noi vorremmo che i nostri compagni di Germania sentissero l'enorme responsabilità che pesa su di essi, e che uscendo da un riserbo che è oramai inspiegabile, si accampassero definitivamente contro la politica di Guglielmo che è la politica del loro paese per modo che egli non potesse più basare la sua improntitudine bellicosa sulla sicurezza del suo popolo armato ... Aiutino i compagni tedeschi le forze della rivoluzione proletaria che tende per contro al spostare le contese sociali dal campo della barbaria guerresca a quello della lotta di classe91. Diese Stimme vom linken Flügel der Partei fand auf dem rechten mächtigen Widerhall. Vittorio Piva, der Sohn eines höheren Offiziers, bekämpfte die antimilitaristische Bewegung, die gerade in den Zeiten des Marokkohandels auch in Italien mit gewaltigem Schwung eingesetzt hatte, auf das nachdrücklichste. Sein Argument lautete, so lange die deutschen Genossen in ihrer unverständlichen Zaghaftigkeit und Schwäche sich nicht rührten, um dem Europa mit steter Kriegsgefahr bedrohenden deutschen Militarismus zu Leibe zu gehen, wäre es geradezu ein Verbrechen am Fortschritt und der Freiheit und der Zukunft der Demokratie in Europa, wollten Franzosen, Engländer und Italiener durch unzeitgemäßen und tunlichst übel angebrachten Antimilitarismus ihr im Vergleich mit dem absolutistisch regierten Deutschland ungleich ungefährlicheres, weil weniger kriegerisches und außerdem unter dem Einfluß eines der Volksbewegung zugänglichen Parlaments sowie einer mit realer Macht ausgestatteten friedlich gesinnten öffentlichen Meinung stehendes Heerwesen, das womöglich einmal dazu berufen sein könnte, den relativ hohen Grad westeuropäischer Kultur gegen die Anmaßungen der Mächte osteuropäischer Reaktion und dynastischen Aberwitzes zu verteidigen, zu desoganisieren 92 . Der Mailänder Tempo, das Hauptorgan des italienischen Sozialismus revisionistischer Richtung, das Filippo Turati nahesteht und dessen Chefredakteur Claudio Treves Mitarbeiter der „Sozialistischen Monatshefte" in Berlin ist, ging noch weiter. In einer Note vom 28. Februar 93 , die von den patriotischen Blättern Frankreichs natür-
91 t. m.: „II Sire di Hohenzollern", im Avanti!, Anno IX, N. 3201. 92 vgl. Vittorio Piva: „Esercito e Militarismo", im Avanti, Anno IX, N. 3196. 93 II Tempo, VIII, 57.
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lieh gebührend ausgenutzt wurde94, drückte es der ultrapacifistischen Haltung, die ein Mann von so verantwortungsvoller Autorität, wie Jean Jaurès es sei, in der marokkanischen Frage einnahm, einer Haltung, die durch keine „attitudine equivalente dei socialisti tedeschi" kompensiert werde und daher nur die Wirkung haben könne, die französische Diplomatie der deutschen Diplomatie gegenüber in eine ungünstige Stellung zu bringen, seine entschiedenste Mißbilligung aus95. Aehnliche Gefühle wie in Frankreich und Italien, löste das Verhalten der deutschen Sozialdemokratie während des Marokkokonfliktes in England aus. Im englischen Sozialisten, gleichviel welcher Richtung er angehört, ist das Gefühl für die Notwendigkeit praktischer, lebendiger Betätigung in der Politik immer sehr rege gewesen. In ihm mußte die Tatenlosigkeit der Sozialdemokratie bei der Anhäufung von so viel scheinbarer Macht dieser Partei besonders die Kritik herausfordern. Dazu noch eins: Dem liberalen Engländer gilt das offizielle Deutschland überhaupt als ein mittelalterliches Institut, dessen Beseitigung bezw. Modifikation im Interesse des Fortschritts allein schon geboten sei. In seinem bekannten Buche über die deutsche Sozialdemokratie, das der einem berühmten adeligen Geschlecht entstammende Bertrand Russell, Mitglied der Fabian Society, nach Vorträgen in der London School of Economics and Political Science geschrieben hat, und in dem er, ein fanatischer Verfechter aller gesetzmäßigen Entwicklung, der Sozialdemokratie an verschiedenen Stellen Vorwürfe über ihre „uncompromising attitude" macht, hält der Verfasser plötzlich inmitten seiner Betrachtungen gedankenvoll inne. „We must remember what the German State is - we must remember that State-Socialism means an increase of the powers of Absolutism and Police Rule, and that acquiescence in such a state, whatever bribes it may offer to labour, is acquiescence in the suppression of all free speech and all free thought; is acquiescence in intellectual stagnation and moral servility"96. Rüssel stellt also selbst seine Vorliebe für eine possibilistische Taktik hinter die Notwendigkeit scharfer Mittel zurück, so lange es sich um deutsche Verhältnisse handelt, gerade wie die deutsche
94 z. B. mit der Ueberschrift: „Un jugement sur l'attitude des socialistes français", in dem vielgelesenen Tageblatt „Echo de Paris", XXIII. Année, Ν. 7933. In derselben Nummer erschien folende Depesche: „Déclaration de Bebel (De notre corespondant particulier). Berlin, 28 février. Au Reichstag, les députés socialistes Zubeil et Bebel ont déclaré que c'était une infâme calomnie de dire que les socialistes allemands pourraient tomber sur les derrières de l'armée en temps de guerre". 95 Der der Partei nahestehende Sozialist Napoleone Colajanni,
langjähriger Politiker und Professor
an der Universität Neapel, variierte diese Auffassung. Ihm tat nicht Jaurès zu viel, sondern die deutsche Sozialdemokratie zu wenig Friedenspropaganda. Ironisch betrübt fragt er: „Ma la sterminata falange dei socialisti tedeschi oltre tre milioni di votanti - nulla può per far intendere la ragione all' Imperatore? Non possonoi socialisti tedeschi spiegare quell'azione intensamente pacifica che Jaurès esercita in Francia?" Auch Colajanni kommt zu dem Schluß, in dem die öffentliche Meinung Westeuropas über diesen Punkt einig war: „Pare che nè lo possano nè lo vogliano" (in der Uebersicht: „Gli Avvenimenti e gli Uomini", der von ihm herausgegebenen Rivista Popolare di Politica, Lettere e Scienze Sociali", Anno XII, N. 6). 96 Bertrand Russell·. „German Social Democracy". Six lectures. London, New-York, Bombay, 1896. Longmans, Green, and C°p. 114.
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Sozialdemokratie, ja, ein gewaltiger Teil des deutschen Liberalismus, in Rußland ein taktisches Vorgehen der oppositionellen Parteien verherrlicht haben, das sie in Deutschland auf das Energischste bekämpfen würden. Auch für den ethischen Ideen am meisten zugänglichen englischen Liberalen ist Deutschland Vorderrußland97. Das ist der Boden, auf dem auch die scharfe Kritik erwachsen ist, die der staatsmännisch begabte, bedeutende Kopf der englischen Sozialdemokratie, H. M. Hyndman, an der deutschen Sozialdemokratie übte. Seine Argumentation sieht denen der italienischen Sozialisten in dieser Angelegenheit sehr ähnlich. Für ihn ist es eine ausgemachte Sache „that it would be far worse for Europe, for civilisation, and for Socialism, that the reactionary Kaiser should become the dictator of Europe than that the French Republic, with all its drawbacks, should continue to increase in strength and prosperity and develop along the lines of freedom and progress as it has done for the past 20 years". Darum seien auch die Sympathien des englischen Volkes trotz aller Fehler Delcassés auf Seiten der Franzosen gewesen, „and we contend that we should have been a contemptible folk indeed had we failed at the critical moment to back the French Republic for all we were worth against the jack-boot bullying of Berlin". Auch er tadelt die französischen Genossen, daß sie in ihren Bestrebungen zur Aufrechterhaltung des Friedens mit Deutschland fast zu weit gegangen seien, da die deutsche Partei sich überhaupt nicht bemüßigt fühlte, irgendwelche Aktion nach dieser Richtung hin zu unternehmen und Bebel selbst die Einberufung des internationalen sozialistischen Bureaus zwecks gegenseitiger Verständigung für den Fall eines Krieges ablehnte. „Our German comrades, with 3000000 votes and some twofifths of the German Army at their control, dealt with the matter in this picktooth style; preferring, as Bebel also said, to continually devote themselves to their connaisseur system of vote-collection than to exercise the great power which, under vigorous leadership, they might undoubtedly bring to bear upon the international situation. Take what view we may of the line adopted by the German Socialists, it is manifest that it does not tell in favour of the international influence of our party. And indeed, this has been our experience throughout, since the deeply-lamented death of Liebknecht. I should not write of the matter now, were it not that our whole international policy is so prejudicially affected by the German refusal to act in accordance with their strength. It has become almost a crime to criticise them. They are the „model party" who can do no wrong. Any remonstrance is met by the plea: „Look at the system we live under! We have no real liberty, and cannot risk the ruin of our organisation." That is all very well; but our forefathers, to whom we English owe our enfranchisement from tyranny like that which they submit to so meekly, risked their liberty, their lives, and all that men hold dear, rather than exist under the conditions Germans are content with today. Nay, just across the border, Russians, Poles, Jews, Finns and Caucasians are showing us daily that there are still human beings who hate despotism bitterly enugh to take up arms in
97 Hierfür als Beleg, neben vielen anderen englischen Schriftstellern: H. G. Wells: „Anticipatins of the Reaction of Mechanical and Scientific Progress upon Human Life and Thought". London 1904. Chapman and Hall, Ltd. New and Cheaper Edition. 122 pp.
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order to sweep it away"98. Hyndman erklärt, er habe zwar den größten Respekt vor der Vergangenheit Bebels und seiner Partei, aber er zögere keinen Augenblick hinzuzufügen, daß ihr gegenwärtiges Verhalten im höchsten Grade unwürdig sei. „If Bebel had reasoned in this way fife-and-thirty years ago, he would never have held the honourable position he holds in all our minds to-day". Michael Bakounine hatte einst dem deutschen Zweige der Internationalen, weil er den hehren Mut gehabt habe, trotzdem er in einem Lande von geringer Freiheit und unter dem militärischen Regiment eines Triumphators vom Schlage Bismarcks lebte, seine glühenden Sympathien für die Prinzipien und die Taten der französischen Helden in der Kommune in aller Oeffentlichkeit auszusprechen, ein Loblied singen müssen". Was ein erbitterter Gegner der deutschen Sozialdemokratie vor fönfunddreißig Jahren an ihr gerühmt hatte, suchten jetzt ihre intimsten Freunde bei ihr vergeblich. Es war ausgesprochenermaßen einer der Hauptzwecke des Antimilitarismus in Frankreich, der deutschen Sozialdemokratie Mut einzuflößen. Gustave Hervé, agrégé de l'Université et professeur revoqué, der Führer dieser Richtung, der sich nicht scheute, für seine Idee zu vier Jahren Gefängnis verurteilt zu werden, sprach es mit aller wünschenswerten Deutlichkeit aus: „En proclamant très haut, qu'en France nous répondrons à un ordre de mobilisation, quel que soit l'agresseur, par l'insurrection, nous enlevons à nos camarades socialistes allemands tout prétexte pour persister dans leur attitude un peu équivoque"100. 98 H. M. Hyndman: „Social-Democracy and Foreign Politics". Justice, XXIII, No. 1136. Dieser heftige Tadel, ausgesprochen von einem so bedeutenden und in der internationalen Sozialdemokratie so angesehenen Manne, der noch obendrein im Zentralorgan der Partei und an leitender Stelle erschienen war, wurde zunächst von der deutschen Sozialdemokratie - nach altem Brauch - ganz unbeantwortet gelassen. Erst als Biilow im Reichstag die wirklich ganz unschuldige sozialdemokratische Fraktion für die „Deutschlandfeindlichkeit" ihrer englischen Genossen verantwortlich machen wollte, kam auch der Vorwärts auf die Haltung dieser zu sprechen. Er druckte zwar die kritischen Worte Hyndmans nicht ab, erwähnte aber immerhin, daß H. die deutsche Sozialdemokratie fur zu patriotisch halte. Dieses crimen laesae majestatis wurde auf die merkwürdige Art zu entschuldigen versucht, daß Hyndman wegen seines relativ geringen Einflusses in England verbittert sei (man vgl. Vorwärts, XXI, N. 300). Ueberdies sei ihm in London wegen der, (übrigens nicht zitierten) antibebelschen Aeusserungen nicht nur ein deutscher Arbeiter, sondern auch die einflußreichsten Männer der eigenen Partei entgegengetreten. Das stimmt und stimmt nicht. Ernest Beifort Bax, auf den die Stelle sich vornehmlich bezieht, hat zwar in der Tat der Redaktion der Justice einen Brief gesandt, in dem er erklärt, Hyndmans Standpunkt in dieser Frage nicht zu teilen, aber es ist ihm bei Leibe nicht eingefallen, die deutsche Sozialdemokratie zu verteidigen. Im Gegenteil, er hält sie für genau ebenso wenig international gesinnt wie Hyndman. Bax glaubt nur, daß Hyndman seinerseits nicht ganz von englischem Patriotismus immun sei. Bax ist nichts weniger als ein Eideshelfer des Bebelschen Vaterlandsbegriffes. Für ihn „patriotic sentiment to day has lost ist old meaning, and as I maintain, has lost all meaning". Die „sozialdemokratische Vaterlandsliebe" aber hat Bax als musichall jingoism lächerlich gemacht. (S. Ernest Beifort Bax: „Essays in Socialism, New and Old." London 1906. J. Grant Richards p. 224 und 245.) 99 Michele Bakounine: „Socialismo e Mazzini". 4a edizione. Roma-Firenze 1905. F. Serantoni. p. 9. 100 Gustave Hervé: „Leur Patrie". Paris (1905). Librairie de Propagande Socialiste, 14 rue Victor Massé, p. 218. An anderer Stelle (p. 276) spricht er von einer timidité excessive en matière d'internationalisme der deutschen Sozialdemokratie.
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Mit anderen Worten: Die deutsche Sozialdemokratie gilt im internationalen Sozialismus nicht nur als nicht „vaterlandslos", sondern man glaubt sogar, sie erst zwingen zu müssen, die elementarsten Bedingungen des Internationalismus zu erfüllen. Die deutsche Sozialdemokratie befand sich während der Marokkozeit in einer splendid isolation. Niemand unter ihren ausländischen Genossen war im Stande, sie zu verstehen. Diese Sachlage wird in Deutschland nicht zugegeben. Den bürgerlichen Parteien in ihrem cant gilt die deutsche Sozialdemokratie noch immer als die wildeste, turbulenteste, unverträglichste aller Gruppen des internationalen Sozialismus. In noch verstärktem Maße beherrscht diese Legende die Kreise der Regierung. Durch die oratorisch gestimmte Sozialistentötung Bernhard v. Bülows zieht sich wie ein roter Faden die huldvolle Anerkennung der Bravheit der sozialistischen Musterknaben des Auslands. Der Glaube an die Schlechtigkeit der deutschen Sozialdemokratie (Schlechtigkeit vom Gesichtswinkel der Beurteilenden aus) im Gegensatz zu den französischen, englischen, italienischen Sozialisten, gehört geradezu zum eisernen Bestand der politischen Weisheit unserer gebildeten Stände, den sie sich nun einmal durch keine Erkenntnis des wahren Sachverhalts rauben lassen. Die Tatsache ihres Mangels an politischer Energie, an sogen. „Radikalismus" wird aber noch viel weniger von der deutschen Sozialdemokratie selbst zugegeben. Nur der diagnostisch gründliche Eduard Bernstein nannte in Anknüpfung an einen Aufsatz über ein ähnliches Thema, den Schreiber dieses im Auftrage der Direktion in der Pariser Zeitschrift Le Mouvement Socialiste hatte erscheinen lassen 101 , es müsse in der Tat jedem Nichtdeutschen auffallen, wie gleichmäßig kühl sich die größte sozialistische Partei der Welt verhalten habe in einer Zeit, wo der Marokkohandel Deutschland um Haaresbreite vor die Eventualität eines Krieges mit Frankreich gebracht hätte. Zwar, fugt er, mehr agravierend als entschuldigend hinzu, habe man in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie keine rechte Vorstellung gehabt von der Erregung, die in jenen Augenblicken durch das ganze nichtsozialistische Frankreich - Bernstein hätte besser gesagt: durch das ganze nichtsozialistische wie sozialistische Westeuropa - ging und habe vielmehr der festen Ueberzeugung gelebt, daß es um Marokkos willen nicht zum Kriege kommen werde, nebenbei bemerkt, eine Behauptung, die keineswegs in vollem Umfang zutrifft. Indes, fahrt Bernstein fort, wenn diese Ueberzeugung auch durch den Verlauf der Ereignisse Bestätigung erhalten habe, so werde dadurch doch eben die Tatsache nicht umgestoßen, daß die deutsche Sozialdemokratie passiv geblieben sei in einer Zeit, in der ihre politische Mission Aktivität erfordert hätte 102 .
101 „Les Socialistes Allemands et la Guerre". Mouv. Soc., VIII. Année, N. 171. Der Artikel gibt, kleinerer redaktioneller Streichungen wegen, den Gedankengang des Verf. in großen Zügen, aber nicht vollständig wieder. 102 Eduard Bernstein: „Das vergrabene Pfund und die Taktik der Sozialdemokratie". Soz. Monatshefte, Χ (XII) Jahrg. I. Bd. Heft 4.
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d) Die deutsche Sozialdemokratie in der Agitation gegen die preußische „Klassenschmach" Noch blieb den ausländischen Genossen eine Zeitlang die Hoffnung, die deutsche Arbeiterpartei werde, wenn sie auch die äußere Politik unberührt lasse, wenigstens durch ein kräftigeres Eingreifen in die innere Politik der Sache des Friedens nützen. Der Holländer Josef Loopuit sah die dominierende Position, die die deutsche Sozialdemokratie zur Zeit innerhalb des internationalen Sozialismus einnimmt, erstens durch die Superiorität und weiter durch den Erfolg ihrer Taktik begründet 103 . Man setzte alles auf diese Partei. In den kleinen, etwas stagnierenden Staaten, wie in Holland, erwarteten naive Seelen von dort das Erscheinen des revolutionären Messias. Der Astronom Anton Pannekoek meinte während der russischen Revolution, die Bewegung werde sich nach Deutschland fortpflanzen - het begint te rommelen, het begint reeds een starke revolutionaire drang in de duitsche arbeiders te komen! - und dann könne es auch in Holland nicht ruhig bleiben 104 . Als Astronom in der Politik erwies er sich mit diesem Zukunftsbild nicht. Die französischen Sozialisten mußten sogar, auch wenn sie nicht von dem Glauben an das zeitige Erscheinen des heiligen Geistes in der deutschen Sozialdemokratie erfüllt waren, wenigstens so tun, als ob sie ihn besäßen, wollten sie nicht im eigenen Lande von der Entrüstung der öffentlichen Meinung geradezu erdrückt werden. Als Gustave Hervé vor Gericht der Vorwurf gemacht wurde, daß er mit seiner antimilitaristischen Propaganda lediglich das französische Heerwesen schwäche, während die deutschen Genossen ihrerseits nichts täten, um auch die Macht der deutschen Armee zu untergraben, stellte er zu seiner Verteidigung die Behauptung auf, daß die deutsche Regierung größere Furcht habe vor den Gewehren der deutschen Sozialdemokraten als vor denen der französischen Armee. Jenseits des Rheins werde genau dieselbe antimilitaristische Propaganda getrieben, wie in Frankreich 105 . Auch Jean Jaurès brach in einer Versammlung, die er in den kritischen Tagen des Januar 1906 gelegentlich der Marokkokonferenz abhielt, in die triumphierenden Worte aus. „Les socialistes allemands entrent dans l'action, ils entrent dans la bataille; ils se déploient à cette heure en cortège dans les rues de Dresde, dans les rues de Leipzig, de Hambourg, de Berlin, pour réclamer le suffrage universel! 106 . Die allgemeine Erwartung sollte bitter genug enttäuscht werden. Als dann in der Tat der großangelegte Versuch zur „Vernichtung der preußischen Klassenschmach", das heißt die Agitation zur Erlangung des allgemeinen Wahlrechts zum preußischen Landtag durch Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts, ein Unternehmen, um dessentwillen die Deutschen ja die notwendige Verständigung mit den Parteien
103 Jos. Loopuit:
„Tien Jaren Amsterdamsche Beweging", in „Na Tien Jaar, Gedenkschrift bij het
Tienjarig Bestaan der Soc. Dem. Arb. Partij". Amsterdam 1904. A. B. Soep. p. 74. 104 Ant. Pannekoek:
„Politieke Beschouwingen", in der Zeitschrift: De Nieuwe Tijd, X, No. 9.
105 Gustave Hervé: „L'Antipatriotisme. Déclaration en Cour d'Assises". Paris (1906). Edité par l'auteur, p. 33. 106 Jean Jaurès etc.: „Pour la Paix, Diplomatie et Démocratie", loco cit. p. 12.
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des Auslands in der Marokkofrage aufschieben zu müssen geglaubt hatten, ins Stocken geriet, ja mit einer Niederlage endete, die noch dazu jeder Größe entbehrte, bemächtigte sich selbst der russischen Sozialdemokratie, der die deutsche bisher nicht nur als eine theoretische Fundgrube, sondern auch als eine Art musterbildlich zukunftsstaatlicher Einrichtung (nämlich für den russischen Zukunftsstaat) gegolten hatte, ein lebhaftes Gefühl von mit Unmut untermischter Niedergeschlagenheit. Diese Stimmung des sozialistischen Auslandes kam der deutschen Sozialdemokratie nur selten zum Bewußtsein, wie denn überhaupt teils aus Sprachunkenntnis der leitenden Persönlichkeiten in der Presse, teils aus Mangel an Verbindung mit den ausländischen Bruderparteien überhaupt, teils endlich auch aus taktischen Gründen sowie einer von der Höhe der DreiMillionen-Stimmzettel herab vielleicht wenn auch durchaus nicht berechtigten, so doch verständlichen Geringschätzung der Stimmen aus dem Ausland, die scharfen Kritiken der nichtdeutschen Sozialdemokraten aller Schattierungen an der Machtlosigkeit der deutschen Sozialdemokratie spurlos an ihr vorübergegangen sind. Nur die Leipziger Volkszeitung brachte die Zuschrift eines russischen Marxisten, der fünf Jahre im nichtrussischen Europa zugebracht hatte, in der es heißt: „In Parteikreisen war man hier (in Rußland) durch den ruhigen Verlauf des „roten Sonntags" in Deutschland, durch die Gefügigkeit der deutschen Arbeiterschaft, durch den Praktizismus der leitenden Kreise der deutschen Bruderpartei nicht wenig verstimmt. Gerade vom deutschen Proletariat hat man mehr erwartet und man ärgerte sich mehr über die deutschen Genossen, als man sich über die italienischen Genossen (die den 21. Januar mit im Ganzen größerem Schwung begangen hatten) freute107. Wozu freilich die Leipziger Volkszeitung, die nebst dem Vorwärts wohl das parteipatriotischste Blatt der deutschen Sozialdemokratie ist, keine Stellung nahm, sondern diese Auslassung mit den Worten abtat, sie besäße nur den Wert eines Stimmungsbildes. Aber Stimmungsbilder haben Wert. Das wurde so recht klar, als die deutsche Partei in den Wahlen des Jahres 1907 geschlagen wurde. Wir werden das später noch sehen.
5. Die Haltung der deutschen Sozialdemokratie in der Vaterlandsund Kriegsfrage als causa causarum der Reaktion gegen den internationalen Sozialismus Wer in den Tagen der Marokkokrise in Frankreich gelebt und an sozialistischen Versammlungen teilgenommen hat, der weiß zweierlei zu bezeugen. Erstens, daß in den Massen ein revolutionäres, antimilitaristisches, ja antipatriotisches Feuer herrschte, von dem in der deutschen Sozialdemokratie, vielleicht Sachsen ausgenommen, nichts zu merken war, und weiter, daß die Ideen der Vaterlandslosigkeit mit einem Enthusiasmus, einer dialektischen Schärfe und einer ethischen Stoßkraft vorgetragen wurden, die ihres-
107 Ueber den weißen Schrecken in Petersburg. Leipz. Volksztg., XIII, N. 25 (1. Beil.).
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gleichen suchten. Zweitens aber auch, daß der vornehmste und schlagendste Vorwurf, der gegen den Antimilitarismus erhoben wurde, sich gegen seine Einseitigkeit richtete. Bis tief in bürgerliche Kreise herein wurde der Antimilitarismus als berechtigt anerkannt, sobald er in beiden in Frage kommenden Ländern gleichzeitig praktiziert werde. Die Nichtexistenz einer derartigen Bewegung in Deutschland aber machte diese Elemente zu erbitterten Gegnern des Antimilitarismus in Frankreich. Wie weit in Frankreich die Penetration des Antimilitarismus reichte, dafür ein persönlich erlebtes Beispiel. Nach einem Vortrag, den Schreiber dieses in den Sociétés Savantes gehalten, stellten sich ihm zwei aktive französische Offiziere vor, um sich zu bedanken, und gingen nachher mit ihm, einigen Gelehrten und etlichen revolutionären Gewerkschaftsführern und Antimilitaristen zusammen in ein Café, wo sich ein stundenlanges Gespräch über den Antimilitarismus entspann. Hier entwickelten die Offiziere folgende Theorie: Das Heer hat Daseinsberechtigung nur als „défense nationale". Daher kann dem Antimilitarismus als Prophylaxe eines möglichen Angriffskrieges nicht die Berechtigung abgesprochen werden. Da Frankreich aber zur Zeit in allen Bevölkerungsklassen friedlich gesinnt ist, dagegen darauf gewappnet sein muß, daß die Kriegspartei in Berlin die Oberhand gewinnt, ist der Antimilitarismus augenblicklich in Frankreich ein Verbrechen. Das Hauptargument - und bei vielen das einzige - , mit welchem auch ein gewichtiger Teil der französischen Sozialisten die Idee des Massenausstandes im Fall eines frivolen Krieges für ihr Land zurückweist, besteht in dem Hinweis darauf, daß eine derartige Aktion des Proletariats, um wirkungsvoll zu sein, schlechterdings nicht einseitig sein darf, daß aber „die deutsche Passivität" der Dreimillionenpartei offenbar nicht genügend Energie und nicht genügend Enthusiasmus besäße, um eine etwaige Pression des französischen Proletariats durch ein adäquates Vorgehen auf deutschem Gebiet zu ergänzen. Die apparente Tatenlosigkeit, ja Gleichgültigkeit der deutschen Sozialdemokratie der Kriegsgefahr gegenüber, die bei ihren Bruderparteien im Ausland ohne Ausnahme ein so schmerzliches Erstaunen hervorrief, gab der französischen Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen die dortigen Sozialisten in der Tat eine Waffe in die Hand, wie sie spitziger und schneidiger garnicht gedacht werden konnte. Diese Waffe, und nicht die Agitation Hervés, die in dem Augenblick, in welchem ein - vom sozialistischen Standpunkt aus besehen - frivoles und reaktionäres Reichsdeutschland einem in allen seinen Parteien und Klassen friedlich gesinnten Frankreich - das zudem noch eben in seinem Kampf gegen den in Deutschland hochblühenden, kulturgegnerischen Klerikalismus eine wertvolle Etappe erreicht hatte - im Begriff stand, gegen seinen Willen einen Krieg aufzudrängen, vielleicht nicht in jeder Hinsicht glücklich gewesen sein mag, war es auch im letzten Grunde, welche die Antikriegsagitation der französischen Sozialisten so allgemein erschwerte und einige in dieser Hinsicht merkwürdig zartbesaitete Elemente zum Austritt aus der soeben erst neu geeinten Partei veranlaßt hat, oder doch zum mindesten ihnen dazu einen Vorwand gab. Sicherlich war die Haltung der starken und tonangebenden deutschen Sozialdemokratie dazu angetan, auch in den anderen sozialistischen Parteien den schlafenden Patriotismus wieder zu wecken. Was Bebel recht war, mußte Viviani und Konsorten billig
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sein. Als Gustave Hervé auf einer zu Ehren der endlich vollzogenen Einheit der Partei im Tivoli-Vaux-Hall zu Paris abgehaltenen Monstreversammlung in kurzen Worten den Patriotismus gegeißelt und den intransigenten Antimilitarismus als das alleinige Heilmittel in der gegenwärtigen Situation gepriesen hatte, erhob sich in der reformistischen Presse ein starker Protest. In der „Petite République Socialiste" brach Gérault-Richard, der sozialistische Abgeordnete der Kolonie Guadeloupe, in einem Artikel, der sich „La Patrie en Danger" nannte, eine Lanze gegen die Vaterlandslosigkeit seiner französischen Genossen. Le moyen le moins faillible d'appeler sur soi une agression, c'est de publier son incapacité de défense ou de résignation systématique à la défaite. Noch heftiger wurde, in dem Organ von Jaurès, der „Humanité", ein anderer bekannter Sozialist, René Viviani. In einem Artikel „L'Idée de Patrie" wies er ausdrücklich auf die Haltung Bebels zur Vaterlandsfrage hin und kam zu dem Schluß, daß Frankreich wohl wert sei, auch von seinem Proletariat verteidigt zu werden. Er begründete das allerdings durch eine scharfe Hervorkehrung des spezifisch demokratischen Gehaltes dieses Staates. Er erklärt es für eine Notwendigkeit à défendre le sol natinal et avec lui les droits de la patrie la plus libre et la plus douce qui soit sous le soleil, le patrimoine de la Révolution, ce legs immortel de civilisation humaine qui a coûté à nos pères assez de larmes et assez de sang pour que des fils ingrats ne le laissent pas disperser sous les coups de la force"108. Nach kurzen Debatten, nachdem die Parti Unifié ohne deshalb die Ideen Hervés bedingungslos zu teilen, sich doch nach wie vor weigerte, ihn aus dem Parteivorstand, dessen Mitglied er noch heute ist, zu entfernen, verließen Viviani und GéraultRichard, ohne vielen Anhang in den Massen, aber gefolgt von einer Reihe von Deputierten, die Partei und konstituierten sich zu einer unabhängigen sozialistischen Kammergruppe und einem parti socialiste français. Außer den Fragen der Stellung zum Vaterland war es insbesondere die Frage der Stellung zum Generalstreik, der direkten Aktion und insbesondere dem linksbürgerlichen Block, dem die indépendants treu bleiben wollten, die jene neue Trennung unter den eben erst Geeinten hervorrief. Auf dem der relativ geringen Bedeutung dieser Parteigruppe entsprechend - nur von einigen dreißig Delegierten besuchten ersten Parteitag, den dieser neue Absplitter in den ersten Tagen des April 1907 in Lyon abhielt, wurde debattelos eine von Alexandre Zévaès, einem Renegaten der alten Marxistenpartei, vorgeschlagene Resolution angenommen109,
108 Abgedruckt bei Gustave Hervé:
„Leur Patrie", loco cit. p. 272. Bekanntlich erklärt auch der
bedeutende russische Geograph und anarchistische Sozialist Fürst Peter Krapotkin,
die Pflicht
aller Sozialisten gehe dahin, in einem bevorstehenden Kriege zwischen Frankreich und Deutschland die Waffen für Frankreich zu ergreifen. Er selber noch werde den Säbel von der Wand nehmen und gegen das reaktionäre Deutschland zu Felde ziehen. Diese Meinungsäußerung des alten Revolutionärs erregte allgemeines Aufsehen. Die französischen Anarchisten polemisierten heftig gegen ihn und erklärten, an ihrem alten Standpunkt unverbrüchlich festhalten und im Kriegsfall den Aufstand predigen zu wollen. 109 Die Resolution hat folgenden Wortlaut: „Le parti socialiste français afferme son internationalisme, base fondamentale du socialisme, la domination internationale du capitalisme rendant nécessaire l'entente internationale des travailleurs. Le parti socialiste proclame sa volonté de
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die sich vom Hervéismus lossagte, wenn sie auch inhaltlich immerhin nicht weniger radikal war, als es eine deutsche Resolution über das gleiche Thema sein würde. Auch auf die syndakalistische Bewegung selbst blieb eine Rückwirkung des Verhaltens der deutschen Sozialdemokratie nicht aus. Die einen, die Reformisten unter ihnen, erklärten mit Auguste Keufer, dem bekannten Führer der Buchdrucker, eine antimilitaristische Agitation, deren Wirkungskreis sich auf Frankreich lokalisiere, müsse notwendigerweise traurige Folgen für das Land haben 110 . Andere betrauerten wehmütig, ohne doch Stellung zu nehmen, die Vertragsbrüchige Haltung der Deutschen, die die Franzosen völlig im Stich ließen 111 . Unter den Führern der antimilitaristisch gewerkschaftlichen Bewegung herrschte eine Empörung, von der sich diejenigen, welche nicht selbst Augenzeugen der Ausbrüche dieser Empörung waren, nur schwer einen Begriff machen können. Die schlaffe und gleichgültige Haltung der „deutschen Brüder" einem Problem gegenüber, bei dem es um Kopf und Kragen nicht nur von Hunderttausenden Proletariern, sondern sozusagen des innersten Prinzips des Sozialismus selber ging und für das sich die Franzosen von Jaurès bis Hervé, jeder in seiner Art, mit einer jedenfalls bewundernswerten Ausdauer aufopferten, trieb sie geradezu der Verzweiflung in die Arme, ja, ließ in ihnen selbst Keime nationalen Stolzes aufkommen. „Ça va encore nous rendre patriotes!" Das war der Grundton mancher Rede, manchen Gesprächs aus jenen Tagen. Das Mißtrauen gegen die deutsche Sozialdemokratie in Frankreich ging so weit, daß man ihr schließlich alles zutraute. Als sich in seiner großen patriotischen Rede gegen Jaurès in der französischen Kammer, eine Rede, die nachher kraft Kammerbeschluß an allen Mauerecken Frankreichs angeschlagen wurde, Paul Deschanel zum Beweis des Patriotismus der deutschen Sozialisten auf einen Artikel von mir berief, in dem ich die Rede Bebels gegen Karl Liebknecht auf dem Kongresse zu Jena behandelt und dabei erwähnt hatte, daß Bebel seine Gegnerschaft zum Antimilitarismus in Deutschland mit seinem Gefühl der Verantwortlichkeit begründete 112 , bezog er den Sinn dieser „Verant-
maintenir la paix entre les différents peuples; il condamne la politique d'agression et de guerre, qu'il s'agisse de guerre continentale ou de guerre coloniale. En travaillant de tous ses efforts à préparer le désarmement général, il réclame dès maintenant la réduction graduelle et simultanée des charges militaires. La solidarité internationale ne saurait interdire le droit et le devoir de se défendre contre toute agression du dehors. C'est pourquoi le parti socialiste français réprouve nettement l'antipatriotisme. Le parti socialiste français affirme son internationalisme donc tout à la fois à la tradition socialiste blanquiste, qui, lorsque la patrie était en danger, a toujours défendu en elle un patrimoine de droits et de libertés, et à la tradition de la Révolution française qui, en se déclarant de cœur avec tous les peuples contre tous les despotes, n'a jamais séparé la cause de la France de la cause de l'Humanité." (L'Action, V, N. 1466). 110
S. die Antwort von A. Keufer auf die Enquête des Mouvement Socialiste (VII e Année, N. 162/
111
S. z. B. C. Fagès: „La Patrie en Danger". Mouvement Socialiste, VII, N. 156.
112
Rob. Michels: „Le socialisme allemand et le congrès de Jéna", Mouvem. Socialiste, VII e Année,
163).
N. 166/167.
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wortlichkeit", nicht wie Bebel es gemeint hatte, auf die Partei (zu viel Verantwortlichkeitsgeflihl, um die Parteigenossen den Militärgerichten zu überantworten), sondern auf das Vaterland (zu viel Verantwortlichkeitsgeflihl, um das Vaterland zu entwaffnen). Dieser Hinweis des konservativen Redners machte gewaltigen Eindruck. Trotzdem wagte es niemand unter den zahlreich anwesenden Sozialisten, die Sache richtig zu stellen, weil sie offenbar befürchteten, daß sie sich doch so verhielte, wie Deschanel sie kommentiert hatte. Daß die bürgerliche Presse in Frankreich die Erkenntnis der Abneigung der deutschen Sozialdemokratie gegen die antimilitaristische Bewegung ausnützte, um einen cri de ralliement auszustoßen, kann nicht Wunder nehmen. Bemerkenswert ist, daß sie eben so sehr den schlechten Willen als die Aengstlichkeit für die Ohnmacht der deutschen Sozialdemokratie verantwortlich macht. So schrieb in der Zeit des Marokkokonfliktes das Regierungsblatt Le Temps: „Nous conseillons à nos clairvoyants confrères (les socialistes de France) de ne pas trop prendre au sérieux les manifestations verbales et théâtrales de la social-démocratie allemande. Ces manifestations lui servent à masquer son loyalisme impérial, sa docilité et son inaction. Seuls, des Français naïfs peuvent croire la social-démocratie allemande capable de s'opposer à quoi que ce soit, à plus forte raison à la guerre"113. Von nationalistischer Seite aus wurde deshalb sogar die Meinung vertreten, daß die antimilitaristische Propaganda, da sie nur die Macht der französischen Armee untergrabe, ohne in Deutschland einen Widerhall zu finden, direkt eine Gefahrdung des Friedens bedeute, und daß man sie also auch von diesem Gesichtspunkt aus bekämpfen müsse114.
113 abgedruckt in der Dépêche des Ardennes (Charleville) vom 13. Dez. 05. 114 Henri Galli (nationalistischer Stadtrat in Paris) schrieb darüber sogar ein Büchlein: „L'Internationalisme c'est la Guerre". Paris 1906. Garnier Frères. 124 pp. (s. p. 62, 68, 73 u. a.). - Manchmal allerdings hört man von Seiten dieser „Pazifisten" auch umgekehrt. Auf einer Versammlung in der Avenue de Clichy (XVII. Arrond.) gelegenen Salle du Libre Echange in Paris, die von einem Comtié Central Révolutionnaire Blanquiste veranstaltet wurde und laut Bekanntmachung dem Andenken der Revolution des 24. Februar 1848 gewidmet sein sollte, in Wirklichkeit aber zur Proklamation der Kandidatur von Ernest Roche für die kommenden Wahlen zu dienen bestimmt war, präzisierte dieser, nachdem der alte Henri Rochefort, der ehemalige sozialistische Schriftsteller Charles Bernard, der nationalistische Stadtverordnete Henri Galli, Foursin, Léon Bailby, Redakteur des Intransigeant und Fellesse kurze Ansprachen gehalten, seine Stellung gegenüber dem sozialistischen Antimilitarismus, der zur Verhinderung eines Krieges mit Deutschland - man stand mitten in der gefahrvollsten Krisis der letzten Periode der Marokko-Affaire - gerade damals mit besonderer Wucht eingesetzt hatte, indem er seine Gegner mit folgenden Worten apostrophierte: „Vous mentez, quand vous vous dites socialistes! Vous mentez à notre histoire, à notre tradition, à nos ancêtres révolutionnaires. Vous mentez à Danton qui, pressé de fuir pour éviter l'échafaud, disait; „On n'emporte pas la Patrie au semelle de ses souliers". Vous mentez à Marat qui s'appelait „un bon bougre de patriote". Vous mentez à Blanqui qui a écrit avec son sang et avec ses larmes son admirable „Patrie en Danger". Vous mentez à la Commune qui, selon l'expression de Thiers, n'a été qu'une explosion de patriotisme exaspéré ... On est Français ou on ne l'est pas. Celui, qui ne revendique ni le titre ni la responsabilité du Français n ' a pas le droit
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de se servir de son bulletin de vote. Celui qui a la lâcheté de proclamer qu'il ne défendra pas la Patrie en danger devrait, dès à présent, s'en aller au delà de la frontière!" (nach einem Versammlungsbericht im Intransigeant (7 Ventose, No. 9356 [25. 2. 06.]). Es ist Schreiber dieses, der der Versammlung, in der eine Schwüle sondergleichen und die Spannung einer Klubsitzung patriotischer, nur etwas modern-sozialistisch frisierter Jakobiner herrschte, beiwohnte, noch sehr deutlich im Gedächtnis geblieben: Ernest Roche ging, nachdem er die Militärfeindschaft der französischen Sozialisten in Grund und Boden geeifert und gegeifert, dazu über, mit gehobener Stimme die sofortige Kriegserklärung gegen Deutschland zu fordern (nebenbei bemerkt, das einzige Mal, daß dem Verfasser während seines sechswöchentlichen Pariser Aufenthalts in der Marokkozeit kriegerische und prinzipiell-deutschfeindliche Laute zu Ohren gekommen sind). Begründung: Deutschland habe Frankreich seine „Ehre" genommen, und wer einem Volke die Ehre nehme, der nehme ihm alles. Und nun die originellste Vermischung dieser Gedanken, die mit dem Gedankensystem, das man als Sozialismus bezeichnet, wahrlich nicht viel gemein haben, mit vermeintlich sozialistischen Ausdehnungs-Aspirationen. „Allons!" ruft Roche aus, „que les soldats français franchissent le Rhin et introduisent en Allemagne ce qui n'existe pas en ce pays: la liberté et le socialisme! (nach eigenen Aufzeichnungen). Der Redner wird von einem Arbeiter unterbrochen, der ihm von der Gallerie herab zuruft: „Mais faire la guerre c'est vouloir la mort des prolétaires et l'intérêt des capitalistes!" Worauf Roche, unentwegt, erwidert: „Les capitalistes prêchent l'antimilitarisme depuisque la loi les oblige à accomplir leur service militaire! „Darauf jubelnder Beifall, ein befreundeter Baritonsänger von der großen Pariser Oper singt mit Klavierbegleitung einer nicht sehr klavierverständigen, überaus „taktlosen" Dame die Marseillaise, und das mit der Pensée (Stiefmütterchen), dem Wahrzeichen der Ligue des Patriotes im Knopfloch geschmückte Publikum erhebt sich begeistert von seinen Sitzen und verläßt mit einem donnernden: Allons, enfants de la patrie, Le jour de gloire est arrivé! den Saal. Die allgemeine Stimmung ist ungemein kriegerisch. Man würde sich nicht gewundert haben, wenn vor den Toren Gewehre verteilt worden wären und die Versammlungsbesucher, zumeist Kleinbürger, stante pede gen Deuschlands Grenze gezogen wären. Zu solchem Sozialismus als epitethon ornans ist einer der glühendsten und begabtesten Führer der Sozialdemokratie des politisch-parlamentarischen Frankreich von 1893 heruntergesunken, und dabei ist Roche vielleicht immer noch mehr „Sozialist" als seine anderen soeben genannten Fraktions-Kollegen von 1893. Zur Erklärung diene eins: Für die Nationalisten war der ausdrückliche Verzicht der deutschen Sozialdemokratie auf jede Revision des Frankfurter Friedens - eine Verzichtleistung, die allerdings in striktestem Widerspruch sowohl mit dem Geiste des Sozialismus als auch mit dem Erfurter Programm, das das Recht jedes Volksstammes auf völlige Selbstbestimmung stipulierte, in striktem Widerspruch stand, ein ganz besonders deutliches Symptom von dem Patriotismus der deutschen Arbeiter, dessen Hervorhebung nie seinen Eindruck verfehlte. Uebrigens wird in der französischen Bourgeoispresse über den Patriotismus der deutschen Sozialdemokratie auch viel gelogen und erfunden. Teils aus polemischer Bequemlichkeit, teils allerdings auch aus realen Mißverständnissen heraus, die sich großenteils durch die erhebliche Nonkuranz bezüglich der Meinungsäußerungen des Auslands, mit der die deutsche Sozialdemokratie ihre Beschlüsse zu fassen pflegt, erklären. So waren die Franzosen z. B. überzeugt, daß die Ablehnung des Antrags Bernstein in Jena, in welchem die selbstherrliche Handlungsweise der deutschen Regierung
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Fast noch stärker als in Frankreich war die Reaktion auf die unbegreifliche Ruhe der deutschen Sozialdemokratie einem Kriegsfalle gegenüber in Italien. Hier machte sich Vittorio Piva zum Mittelpunkt eines Kreises, der fur den gegenwärtigen Moment jegliche Hemmung der Landesverteidigung für einen Frevel erklärte und den Antimilitaristen mit so sinnloser Wut zu Leibe ging, daß er sie sogar beschuldigte, - es war Piva selbst, der dieses Wort prägte 115 - in ihrer Aktion nichts als das Alibi persönlicher Feigheit zu suchen. Eine Beschuldigung, die, nebenbei bemerkt, ob ihrer offenbaren psychologischen Unrichtigkeit fast ohne Ausnahme von der Partei scharf zurückgewiesen wurde und ihrem Autor auf dem Parteitage in Rom 1906 eine solenne fischiata einbrachte. Immerhin erklärten sich in der in dem von Piva redigierten Avanti della Domenica erschienenen Enquête über die Propaganda des Antimilitarismus im Gegensatz zu Männern wie Arturo Labriola, Gabriele Galantara, Vittorio Lollini, Giusto Calvi, die sich mehr oder weniger entschieden auf die Seite der Antimilitaristen stellten, Anhänger fast aller sozialistischen Richtungen, reine Wissenschaftler wie Benedetto Croce und Achille Loria, Revisionisten wie Ant. Gaziadei, Silvio Drago, Ivanoe Bonomi, Garzia Cassola, Leonida Bissolati, Giovanni Zibordi und Francesco De Luca, intransigente Radikale wie Prof. F. M. Bossi, Romanschriftsteller wie Ugo Ojetti und Arbeiterführer wie Rinaldo Rigola sehr energisch gegen den Antimilitarismus. Die Basis, auf der Piva seine anti-antimilitaristische Aktion betrieb, war ausgesprochenermaßen die Einsicht in die Impotenz der deutschen Sozialdemokratie, deren ewiges Kindheitsalter und tief sitzender militaristischer Geist Wilhelm II. zum unumschränkten Beherrscher Deutschlands und beständigen Bedroher Europas mache 116 . Piva erklärte sich für seine Person an und für sich gern bereit, an der antimilitaristischen Propaganda teilzunehmen, aber da die italienischen Sozialisten die schwächeren seien, so scheine es ihm richtig, vorläufig das Beispiel des älteren Bruders, der deutschen Sozialdemokratie, abzuwarten. Und spöttisch fugt er hinzu: „Avvremo un bel attendere" 117 . Auch in der Enquête traten diese Grundgedanken häufig zu Tage. Ivanoe Bonomi meinte, da die offizielle deutsche Sozialdemokratie nichts vom Militärstreik wissen wolle, spiele Hervé nolens
in Fragen der auswärtigen Politik, zumal der Marokko-Affäre, und ihre Nichtachtung des Reichstages getadelt wurde (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Jena, vom 17. bis 23. September 1905. Berlin 1905. Verl. Buchh. Vorwärts. - p. 140), eine neue Tat des sozialdemokratischen Patriotismus bedeutete, ja einer Art Solidaritätserklärung mit dem Vorgehen der deutschen Regierung in der Marokkoaffaire gleichkam, während sie in Wirklichkeit nur deshalb erfolgt war, weil man einerseits glaubte, mit der Annahme der Resolution des Parteivorstandes die Marokkoaffare bereits abgetan zu haben und andererseits sich an ihrem ultraparlamentaristischen Charakter stieß (s. meinen Artikel: „Le Socialisme Allemand et le Congrès d'Jéna", im Mouvement Socialiste VII, série II, No. 166-167 [1er et 15 novembre 1905]). 115 Vittorio Pivœ „L'Alibi della Vigliacchheria", in der Zeitschrift Avanti della Domenica, IV No. 34. 116 Vittorio Piva: „II nostro Referendum sulla Propaganda Antimilitarista. Concludendo". Av. della Domen. IV, 42. 117 Vittorio Piva: Postilla alla risposta di Roberto Michels. Av. della Domen. IV, No. 43.
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volens Frankreich Bülow in die Hände 1 ' 8 . Einem absoluten Militärstaat, wie Deutschland gegenüber, schrieb der Student A. Cantilena, dürften relativ demokratisierte Militärstaaten nicht unverteidigt bleiben 119 . Derselben Meinung war ein anderer Beantworter der Enquête, A. S. Novara 120 . Auch Professor Graf Graziadei sprach aus, daß der patriotische Geist des deutschen Volkes, dem sich auch die deutsche Sozialdemokratie nicht zu entziehen vermöge, wegen des mittelalterlichen Charakters seiner politischen und militärischen Institutionen eine beständige Gefahr für die Sache der Freiheit und für die Erhaltung jener Eigenschaften der westeuropäischen Volkspsyche, die für die Entwicklung der europäischen Kultur Unentbehrlichkeitswert besitzen, bilde und daß es deshalb ein politisches Verbrechen sein würde, England in seinem Kampf gegen Deutschland allein zu lassen. „Neil' interesse stesso dell' avvenire della democrazia in Europa è indispensabile che la Francia e l'Italia conservino una salda compagine nazionale, e cooperino coli' Inghilterra per opporre una valida barriera all' invadenza tedesca" 121 . Der Syndakalist Paolo Mazzoldi kommt zu einem ähnlichen Resultat - Notwendigkeit der Teilnahme des italienischen Proletariates an der Vaterlandsverteidigung, wenn auch nicht durch Einreihung in das Heer, so doch durch Bildung eigener Volontärarmeen - auf einem ganz ähnlichen Gedankengang. Er sagt: „E risaputo che l'Austria è completamente nell' orbita della politica tedesca, anzi essa non è che l'avanguardia del pangermanesimo verso l'Adria e l'Egeo. E ormai convenuto poi che il socialismo tedesco ed austriaco non è che una inconcludente accademia di romantici, cosicché chi volesse sperare qualcosa di buono da costoro nel campo dell' azione s'illuderebbe a partito" 122 . So war die antimilitaristische Strömung in Italien - trotzdem sich Männer wie die Professoren Arturo Labriola und Ettore Ciccotti, Enrico Leone und Paolo Orano mit ihr prinzipiell einverstanden erklärten und sie auch in den Massen weiten Widerhall fand - bald innerhalb der maßgebenden Kreise der Partei isoliert und die große Majorität der Führer rückte - Enrico Ferri an der Spitze - von ihr ab. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß der Militarismus in Italien nicht in demselben Sinne existiert als in den nördlicheren Grenzstaaten: weder ist im Heere agressiver Geist vorhanden noch steht ein chauvinistisches Wiedererwachen zu erwarten. Auch hat Italien von der kulturell rückständigen österreichischen und spanischen Fremdherrschaft, die zugleich Mißwirtschaft war, nicht die angenehmsten Erinnerungen zurückbehalten, sodaß die Wahrung der nationalen Einheit gerade hier als besonders heilig empfunden werden muß. Endlich ist die Geschichte seines Heeres gleichzeitig mit der Geschichte seiner Revolutionen innig verknüpft. Auf diese Weise ist es erklärlich, daß der Antimilitarismus in Italien besonders leicht Gefahr läuft, odiöse Züge zu tragen. Wie dem auch sei: Die Haltung der deutschen Sozialdemokratie in der Kriegsfrage weckte allüberall den Patriotismus und brachte die ausländischen Parteien - denen die 118 Av. della Dom. IV, No. 43. 119 Av. della Dom. IV, No. 42. 120 Ibid. IV. No. 38. 121
Ibid. IV, No. 41.
122 Ibidem IV, No. 45.
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deutsche Partei als Muster einer wahrhaft vaterlandsliebenden Arbeiterpartei vorgeführt werden konnte 1223 - den bürgerlichen Parteien gegenüber in die denkbar schwierigste Lage.
6. Die Wahlniederlage der deutschen Sozialdemokratie anno 1907 und die Internationale Bis 1907 hatte das Glück bei den Wahlen als rocher de bronze alle Kritik der ausländischen Sozialisten an der deutschen Partei überdauert. Von dieser Seite war sie bisher intangibel gewesen, ja, in den Augen manches Genossen vom Ausland gab das Wahlglück der deutschen Sozialdemokratie dieser sogar eine gewisse Berechtigung zu allen jenen Unterlassungssünden in ihrer sozialistischen Betätigung, über die sich andere so bitter beschwerten. Nun fiel mit dem Wahlglück auch die letzte Rechtfertigungsmöglichkeit ihrer Taktik. Die Niederlage, die die deutsche Sozialdemokratie in den letzten Reichstagswahlen erlitt, löste deshalb in den ausländischen Bruderparteien - zumal bei den kritischen Westeuropäern - im ganzen mehr Genugtuung als Trauer aus. Natürlich entsprang das Gefühl dieser Genugtuung nicht der Freude über den Sieg der konservativen Parteien, sondern es war die spontane Freude, die den längst erwachsenen Schüler überfällt, wenn der anmaßende Lehrer von dritter Seite auch einmal eine Lektion erhält, die ihn daran erinnert, wie wenig unfehlbar er ist. Unter den zahlreichen Freudenbezeugungen, die die Wahlniederlage der deutschen Sozialdemokratie in allen Lagern der internationalen Bruderparteien hervorrief, ist ein Artikel besonders bemerkenswert, der in der wissenschaftlichen Mailänder Halbmonatsschrift La Critica Sociale erschien und den Professor Dr. Ivanoe Bonomi, Redakteur am Zentralorgan der Partei und die theoretisch rechte Hand Turatis, zum Verfasser hat, da er ein beinah umfassendes Bild von den Ausstellungen gibt, die man an der herrschenden Partei machen kann 123 . Bonomi erinnert an das Auftreten Jaurès in Amsterdam und schließt sich den Vorwürfen, die dieser den Deutschen damals gemacht hat, an. Nach ihrem Wahlsieg von 1904 haben sie geschrien: Das Reich ist unser! und dann sind sie in den Reichstag gegangen, um ihre stereotypen und monotonen Protestrufe gegen das bestehende System zu erheben, ohne
122a Die deutsche Sozialdemokratie pflegt derartige Beschuldigungen mit dem Hinweis darauf zu erledigen, daß die Bourgeois eines jeden Landes stets ihre landsmännischen Sozialisten für die schlimmeren, die des Auslandes hingegen für die besseren, verträglicheren, patriotischeren u.s.w. halten bezw. halten wollen. Darin ist in der Tat etwas Wahres. Insbesondere Bülow hat das Lob der auswärtigen Sozialisten mehrfach und mit Erfolg gesungen, und es liegt auch ohne Zweifel im Interesse jener Parteien, ihrem Leserkreis die autochthonen Sozialisten als die einzig Schlechten vorzustellen. Aber das schließt nicht aus, daß der Hinweis auf die Sonderstellung der deutschen Sozialdemokratie in vielen ernsten Fragen seitens der auswärtigen Regierungen nicht dennoch mit vollem Recht geschieht. 123 Ivanoe Bonomi: „Lo Scacco del Socialismo Tedesco". Critica Sociale. Anno XVII, N. 3.
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jedoch den Versuch zu wagen, die feudale Kruste ihres Kaiserreiches, das ihre demokratischen Instinkte im Zaum hält und sterilisiert, wenn es sein mußte, mit Gewalt zu sprengen. Die deutsche Sozialdemokratie wartet auf eine Revolution. Aber sie verlegt sie auf so späte Zeiten, daß sie nicht mehr den Anspruch darauf erheben darf, als eine revolutionäre Partei zu gelten. Im „roten Königreich" hat die Reaktion freie Hand gehabt. Alle Tage, die ins Land gingen, haben es offenbart, daß die deutschen Arbeiter alles resigniert über sich ergehen lassen und von einem geradezu abergläubischen Respekt vor dem Gesetz und der bestehenden Verfassung beseelt sind. Die dogmatische Intransigenz der Partei verhindert die Sozialdemokratie, im Reichstag sich die ihr gebührende politische Rolle zu erobern. Aber die Konsequenz dieser Intransigenz will sie auch nicht ziehen. Als Bernstein seinen berühmten Vorschlag machte, es mit dem Generalstreik zu versuchen, bemächtigte sich der deutschen Sozialdemokratie ein gewaltiger Schreck. Der rein verbale Revolutionarismus der Bebel und Kautsky, jener alte traditionelle Revolutionarismus, der in beständiger Erwartung der automatischen Katastrophe lebt, erklärte sofort, sich dieses Gewaltmittels nicht bedienen zu wollen. Selbst der friedliche Generalstreik, den Bebel mit aufeinandergebissenen Zähnen eine Zeitlang akzeptiert hatte, wurde sehr bald wie ein gefährlicher Explosivstoff wieder in die Ecke gestellt. Die deutsche Sozialdemokratie wird gekennzeichnet durch die flagrantesten Widersprüche, die in ihr unter einem Dach und Fach wohnen: revolutionäre Intransigenz bei den Wahlen und antirevolutionärer Quietismus in der Gesamthaltung; Sonorität der Phrase in der Theorie, und resignierte Biegsamkeit in der Praxis; flammendes Prophetentum in den Worten und fast absolute Bewegungslosigkeit in der Tat. So ist diese Partei, die den anderen solange als ein unnachahmliches Beispiel vorgeschwebt hat, an politischer Bedeutung allmählich hinter den Sozialismus in Frankreich, ja, in England zurückgesunken, der auf anderen Wegen zu sehr viel festeren und tieferen Resultaten gelangt ist. Insbesondere der französische Sozialismus, der in alle Organismen des Staates eindringt, um sie mit seinem eigenen Geiste zu befruchten, ohne doch deshalb seinen Glauben an die Zukunft zu verlieren, der, begabt mit einem überaus feinen Empfinden fur die Zweckmäßigkeiten des Augenblicks, ebenso sattelfest ist auf dem Terrain der Legalität, als er es versteht, wenn es Not tut, diesen Boden zu verlassen, in dem wahrhaft revolutionäre Begeisterung mit eisern zäher und besonnener Tagesarbeit abwechselt, bedeutet einen furchtbaren Vorwurf in lebendiger Gestalt gegenüber den schlafmützigen Beharrungstendenzen der deutschen Sozialdemokratie, diesem Riesentempel, in dem die Gläubigen über den Hypothesen der Zukunft die Jämmerlichkeit der Gegenwart vergessen. Heute aber, nach der Wahlniederlage, ist der Bann der Partei über die Bruderparteien definitiv gebrochen. Und Bonomi schließt: „Und das ist gut so. Bis auf den heutigen Tag hat die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Sozialismus eine wahre Tyrannei ausgeübt. Sie hat uns allen ein bischen von ihrer Spezialtaktik halb dogmatische Intransigenz, halb bigotter Gesetzlichkeitsdusel - aufgedrängt, und nach rechts und links alles exkommuniziert, das von ihrem Wege abzuweichen wagte." Während hier ein Revisionist seiner Freude über die Niederlage der deutschen Sozialdemokratie Ausdruck verlieh, war es im Avanti der Mann der Mitte, der Integralist Enrico Ferri, der ihr bei dieser Gelegenheit die Schlappheit ihrer Opposition gegenüber
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der Regierung, die sie selbst hinter das Zentrum gedrängt habe und ihre soverchie ed unilaterali preoccupazioni di azione elettorale vorwarf 124 , und im Mouvement Socialiste der Syndikalist Hubert Lagardelle, der die Hoffnung aussprach, daß diese zerschmetternde Niederlage die deutsche Sozialdemokratie wenigstens bescheidener machen und sie daran hindern werde, damit fortzufahren, den internationalen Sozialismus mit der angeblichen Superiorität ihrer Methode und der scheinbaren Macht ihrer Wählerbataillone zu langweilen 125 .
7. Das Fazit: Die Dekadenz der Hegemonie der deutschen Sozialdemokratie im internationalen Sozialismus ein Resultat ihrer Ohnmacht Leider hat die deutsche Sozialdemokratie der Kritik der ausländischen Beobachter nie die genügende Beachtung geschenkt. Zum Teil aus der sie beseelenden Großmannssucht. Elle a l'aveuglement des grands Empires; elle est trop haut pour voir si bas, hat Lagardelle einmal mit feiner Ironie von ihr gesagt' 26 . Kritiken organisatorisch und wissenschaftlich minderwertiger Parteien berühren sie nicht. Vieles geht auch an ihr vorüber aus rein sprachlichen Gründen. Da die Journalistik der deutschen Sozialdemokratie sich vorzugsweise aus proletarischen und kleinbürgerlichen Elementen zusammensetzt, deren Lerneifer für ausländische Idiome bei ihrer deutschsozialdemokratischen Ueberschätzung der eigenen Leistungen in der Regel nur sehr gering ist, besitzt die Partei nur äußerst wenig Beamte, die auch nur einer der großen westeuropäischen Sprachen mächtig sind. Es ist geradezu disperai, bei den internationalen Kongressen die deutschen Delegierten zu beobachten. Daß ein Prozent den französischen und englischen Rednern auch nur einigermaßen folgen kann, wäre schon viel gesagt. Es ist sicher, daß es unter den italienischen Sozialisten mehr Redakteure u.s.w. gibt, die deutsch, als unter den deutschen, die, ich sage nicht italienisch - welches doch, auch für die sozialistische Literatur, eine der wichtigsten Sprachen ist - sondern auch nur französisch lesen können. Alles das wirkt dahin zusammen, daß sich die deutsche Sozialdemokratie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur dann um die ausländischen Kritiken kümmert, wenn diese ihr in der deutschen bürgerlichen Presse selbst entgegentreten und sie deshalb nicht gut umhin kann, sich mit ihnen zu beschäftigen. Die deutsche bürgerliche Presse aber ihrerseits kann nur eine Spezies ausländischer Sozialisten zu Wort kommen lassen, nämlich die, welche ihr Wasser auf die eigenen Mühlen liefert. Ganz natürlich. Die liberale Presse - denn um diese handelt es sich hier fast ausschließlich - hat ganz und gar kein Interesse daran, ihren Lesern von der Feder ausländischer Sozialisten bestätigen zu lassen, daß die unfreundliche, höhnische Art, mit der die deutsche Sozialdemokratie mit ihr umgeht, die einzig mögliche Politik dieser Partei ihr gegenüber sei. Sie handelt
124 (Enrico Ferri)·. „La Lezione Tedesca". Avanti, XI, 3658. 125 Hubert Lagardelle: „Le Socialisme Allemand et les Elections". Mouvement Socialiste. IX, N. 183. 126 Hubert Lagardelle: „Mannheim, Rome, Amiens", loco cit. p. 14.
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hingegen taktisch klug, wenn es ihr gelingt, Artikel angesehener Bruderparteiler zu veröffentlichen, die just das Gegenteil behaupten und auf diese Weise nicht nur die Schwäche des Liberalismus lediglich als das Resultat einer grundfalschen Politik der Sozialdemokratie und deshalb unverschuldet und entschuldbar erscheinen lassen, sondern auch die Zwietracht in die Reihen der Sozialdemokratie selbst tragen. Auf diese Weise haben die deutschen Arbeiter von auswärtigen Kritiken ihrer Taktik eigentlich nur diejenigen zu Ohren bekommen, die ihnen ihre törichte Intransigenz gegenüber dem deutschen Liberalismus zum Vorwurf machten und ihnen als einzigen Ausweg aus der Sackgasse, in der sich die Politik kulturellen Fortschritts in Deutschland befinde, ein Kartell mit dem bürgerlichen Radikalismus wiesen. Diese Art der Kritik an der deutschen Taktik, die, mochte sie nun von Jean Jaurès oder von Bernhard Shaw stammen, allzu offenbar auf einer ungenügenden Kenntnis der einschlägigen Verhältnisse, insbesondere des quantitativen und qualitativen Charakters dessen, was sich in Deutschland zum Liberalismus zählt, fußte, war natürlich stets mit Leichtigkeit ad absurdum zu führen und deshalb keineswegs im stände, den deutschen Sozialdemokraten vor den ausländischen Kritikern, die ihnen allesamt als Kritikaster erscheinen mußten, Respekt einzuflößen. Das Fazit der Einwendungen und Vorwürfe, die die große Mehrzahl der ausländischen Genossen - von rechts wie links - der deutschen Sozialdemokratie in den Fragen des Militarismus, des Krieges und des Vaterlandgedankens macht, ist, daß sie weit davon entfernt sei, ihrer internationalen Pflichten zu erfüllen. Auf einem vorgeschobenen, überaus verantwortlichen Posten stehend, als revolutionäre Arbeiterpartei des größten Militärstaates Europas, mitten im Herzen der Reaktion, habe sie die doppelte Pflicht, die Eingriffe ihrer Regierung in die Schicksale des Auslandes, die stets gegen die Freiheit gerichtet seien127, zu verhindern und den Kriegs- und Uebermachtsgelüsten der offiziellen Gewalten ihres Landes mit aller nur denkbaren Energie entgegenzutreten. Die starke Sozialdemokratie aber sei sich ihrer Verantwortlichkeit nicht recht bewußt und deshalb nicht willens, ernstlich an die Erfüllung dieser Aufgabe heranzugehen. Jedesmal, wenn die Welt von ihr eine energische Sprache erwartet, ducke sie sich. Es ist die Abneigung, die die gesamte europäische Demokratie gegen Preußen-Deutschland erfüllt, die sich hier auch in der Wertung der deutschen Sozialdemokratie geltend macht.
127 Die Auffassung Deutschlands als eines durchaus reaktionären, kulturfeindlichen Staates ist in der internationalen Sozialdemokratie ganz allgemein. Als der altehrwürdige Führer der holländischen Sozialisten, der ehemalige Pfarrer F. Dómela Nieuwenhuis auf einer Vergnügungsreise in Deutschland ohne sichtbaren Grund eingekerkert und kurz darauf ausgewiesen wurde, interpellierte in der holländischen Kammer der sozialdemokratische Abgeordnete P. L. Tak, ein erbitterter Gegner des Ausgewiesenen und seiner Richtung, den Minister des Auswärtigen. Er ersuchte ihn, ein Mittel ausfindig machen zu wollen, um „dergleichen Patienten von Deutschlands barbarischen Zuständen von jetzt ab unter den Schutz der niederländischen Diplomatie zu stellen. Ueberhaupt sollten die Vertreter Hollands in Ländern wie Rußland und Preußen, die auf politisch niedrigerem Kulturniveau ständen, besondere Instruktionen erhalten." (Het Volk, VI No. 1748, 12. Dezember 1905.)
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Ihre Unfähigkeit, sich dieses gemeinsamen „Feindes aller Zivilisation" zu erwehren, ihn unschädlich zu machen, wirft auf sie den Schatten der Komplizität. Die Zugeständnisse, die die offiziellen Redner der Sozialdemokratie dem allgemein für den europäischen Frieden als gefährlichen Gegner erachteten waffenstarrenden Reichsdeutschland gemacht haben, rufen allenthalben Entrüstung hervor und machen den Zweifel an dem Internationalismus der deutschen Sozialisten zur Gewißheit. Der Vorwurf des Chauvinismus wächst von Tag zu Tag und baut sich drohend vor dem alten Ruhm der Partei auf. Ob zu Recht oder zu Unrecht haben wir hier, wo es sich mehr um Feststellung von Tatsachen und Entwicklungslinien denn um ethische Werturteile handelt, nicht zu entscheiden. Die Abschwächung des internationalen Gefühles der deutschen Sozialdemokratie ist erklärlich, die Zeiten des Emigranten-Sozialismus sind für sie vorüber. Je mehr eine Partei aber Tagesarbeit tut, sich in Einzelfragen versenkt, die selbst innerhalb des engen nationalen Rahmens Mikrokosmen darstellen, desto mehr geht ihr das internationale Empfinden abhanden. „Mit je mehr Bienenfleiß sich einer in die Spezialfragen der Fabrikinspektion und der Gewerbegerichte, des Rollmarkensystems in den Konsumvereinsläden und der Gasverbrauchskontrolle bei der kommunalen Gasbeleuchtung eingearbeitet hat - desto mehr hat er Mühe, auch nur die inländische Arbeiterbewegung als Ganzes im Auge zu behalten, desto weniger Zeit, Lust und Sinn behält er für auswärtige Politik übrig, desto bornierter und falscher wird sein Urteil über internationale Fragen ausfallen, desto mehr wird er geneigt sein zu protzigem, höhnischem Absprechen über eine sozialistische Bewegung, die auf anderem Boden kämpft und in anderen Formen auftritt. Das ist nicht zu ändern, so wenig als es zu ändern ist, daß mit dem fortschreitenden Wachstum des wissenschaftlichen Forschungsmaterials der Polyhistor ausgestorben ist und selbst der Universal-Zoologe dem Ornithologen und dem Entomologen Platz macht und der letztere wieder dem Lepidopterologen und Myrmekologen" (Ladislaus Gumplowicz). Es ist das Prinzip der Arbeitsteilung, das den Internationalismus langsam abtötet. Dieses Gesetz aber einmal gewonnen, brauchen wir uns nur der Tatsache zu erinnern, daß die deutsche Sozialdemokratie unter allen anderen internationalen Sozialismen die „verzweigteste" und „praktischste" Arbeiterin ist, um den Indizienbeweis dafür in der Hand zu haben, daß gerade in dieser Partei das internationale Empfinden so schwach entwickelt ist. Wie dem auch sei, an dieser Stelle begnügen wir uns mit dem Urteil eines der organisierten Arbeiterbewegung fernstehenden, unparteiischen Beobachters, Werner Sombart, der sein Kapitel über die Stellung der deutschen Sozialdemokratie zum Vaterlandsproblem nach eingehenden Untersuchungen mit den Worten schließt: „Wegen solcher und ähnlicher Auslassungen wird der deutschen Sozialdemokratie von vielen ausländischen Sozialisten der Vorwurf des Chauvinismus gemacht, wie mir scheint, vom Standpunkt eines reinen, sozialistischen Glaubensbekenntnisses aus nicht mit Unrecht"128. Die deutsche Sozialdemokratie hatte - wie wir uns erinnern - in den neunziger Jahren den antimilitaristischen Vorstößen ihrer französischen, holländischen und englischen
128 Werner Sombarï. „Sozialismus und soziale Bewegung". 5. Aufl. Jena 1905. Fischer, p. 185.
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Genossen mit dem Bemerken die Spitze abgebrochen, daß es gälte, unter Umständen auch mit dem Mittel des bestehenden Militarismus das reaktionäre Rußland zu bekämpfen. Der Militärstreik sei zu verwerfen, weil er gerade in erster Linie die Kulturvölker entwaffnen und Westeuropa dem russischen Kosaken preisgeben würde. Das war das - übrigens aus Marx' Erbschaft übernommene - Argument gewesen, das der deutschen Auffassung über die holländisch-französische zum Siege verholfen hat. Bebel war sogar so weit gegangen, im Reichstage der Regierung für den Fall eines Krieges mit Rußland die militärische Hilfe und bedingungslose moralische Unterstützung der deutschen Sozialdemokratie anzubieten. Der bevorstehende Krieg mit Rußland hat jahrelang fast ausschließlich die „auswärtige Politik" der deutschen Arbeiterpartei beschäftigt, und was sie dazu tun konnte, die deutsche Reichsregierung zu einem solchen Kriege zu drängen, das hat sie redlich getan. Heute hingegen hat sich die Situation wesentlich verändert. Dank den japanischen Kanonen und den jüdischen Bomben ist Rußland auf lange Zeit hinaus matt gesetzt. Die Furcht vor dem „Kosakischwerden" konnte den freiheitlichen Gemütern Westeuropas keinen Alpdruck mehr verursachen. Dagegen wuchs - die Ablösung geschah scheinbar a tempo, ausgemacht während des Besuches Wilhelm II. in Tanger - der Alpdruck der Gefahr eines „Preußischwerdens". Preußen-Deutschland nahm in den Augen der auswärtigen Sozialisten die Stelle ein, die die deutschen Sozialdemokraten längere Zeit für das russische Zarenreich reserviert gehalten hatten. Es wurde zum remplaçant Rußlands, zum Schreckgespenst Europas, zum Lande der Pandorabüchse, vor dem gewappnet zu sein heiligste Pflicht der Selbsterhaltung gebiete129. Die logische Folge dieses Tatbestandes - die Angst Europas vor deutschen Ueberfällen und sein Mißtrauen gegenüber den in diesem Staate persistierenden politischen und kirchlichen Konservativismen äußerte sich, mußte sich äußern, nicht nur darin, daß die gesamte außerdeutsche bürgerliche Demokratie und mit ihr ein guter Teil der sozialen Demokratie den Standpunkt einnahm, den die deutsche Sozialdemokratie so lange Rußland gegenüber eingenommen hatte und aus Besorgnis vor dem Preußischwerden einer steten militärischen Aufmerksamkeit aller nicht-deutschen Staaten das Wort redete, also für eine Suspension jeder mehr als theoretischen Betätigung in Sachen Antimilitarismus eintrat, sondern auch darin, daß die schwache und träge Haltung der deutschen Sozialdemokratie eben jenen gefahrbringenden Elementen in Deutschland gegenüber auf die Wertung dieser Partei tiefe Schatten warf. Heute, nachdem der tiefe Riß zwischen Theorie und Praxis in der Partei offen klafft und eine lange Reihe von Mißerfolgen und Ohnmachtszuständen - von denen wir einige im Laufe unserer Untersuchungen namhaft machen konnten, während andere sich dem 129 Dieser Standpunkt war früher von den deutschen Sozialisten und Demokraten vollauf geteilt worden: „Deutschland in staatlicher Freiheit geeint - ist die sicherste Bürgschaft für den Frieden Europas; unter preußischer Militärherrschaft dagegen ist Deutschland eine beständige Gefahr für die Nachbarvölker - der Beginn einer Kriegsepoche, die uns in die traurigen Zeiten des Faustrechts zurückzuwerfen droht." So Johann Jacoby 1866 im preuß. Abgeordnetenhaus. Seit den „Wahlsiegen" hat die Sozialdemokratie in praxi diese Auffassung beseitigt.
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Auge fast gänzlich entziehen - die deutsche Sozialdemokratie bis zu einem gewissen Grade international diskreditiert haben und ihr selbst auf dem eigensten Gebiete, dem des Parlamentarismus, Belgier und Oesterreicher zuvorgekommen sind, ist die Stellung der deutschen Sozialdemokratie im internationalen Verbände in hohem Grade erschüttert. Es mehren sich die Stimmen, die es offen aussprechen, die französische Arbeiterbewegung habe die deutsche schon längst als international vorbildliche Partei abgelöst130. Man lacht darüber, wenn der internationale Sekretär Huysmans es wagt, die deutsche Sozialdemokratie noch als die „älteste und schönste Tochter der roten Internationalen" zu bezeichnen131. Man kann wohl sagen, es weht ein Wind der Fronde allüberall gegen ihre Vorherrschaft. Wenn wir von einigen wenigen kleineren Fraktionen kleiner Staaten absehen, deren Hauptruhmestitel eben darin besteht, daß sie selbst Ableger der großen deutschen Bruderpartei sind, herrscht in allen sozialistischen Parteien Europas und, was wichtiger ist, in allen Schattierungen innerhalb dieser verschiedenen sozialistischen Parteien durchaus eine kritische Grundstimmung gegen sie vor132. Die meisten fühlen sich durch ihren Mangel an ethischer Durchschlagskraft und revolutionärem Gefühl, an Aktionslust und Aktionsfähigkeit abgestoßen. Der Rest kommt nicht über ihr hochfahrendes Wesen, das bei der politischen Unfruchtbarkeit doppelt peinlich empfunden wird, hinweg 133 . In heftigen Kämpfen und entgegen dem Willen
130 So die englische Justice (vol XXII, Ν. 1126), die italienische La Lotta di Classe (I, Ν. 4), die bereits zitierten Urteile des Italieners J. Bonomi (s. S. 219) und des Belgiers J. Destrée (s. S. 198). Auch Schreiber dieses hat sich mehrfach ausdrücklich dieser Ansicht angeschlossen. 131 vgl. Protokoll d. Parteitages von Mannheim 1906. p. 157. 132 Bemerkenswert ist, weil es zur richtigen Wertung der scharfen Urteile der auswärtigen Sozialisten über die deutsche Sozialdemokratie beiträgt, daß sie fast durchweg nicht blindem Zorn, sondern aufrichtigem Wohlwollen entspringen. Der Engländer B. Shaw schrieb nach seinen bekannten scharfen Auslassungen an den Herausgeber der Sozialistischen Monatshefte: „Bitte, denken Sie ja nicht, ich sei in irgend einer Weise unfreundschaftlich gesinnt. Ich möchte sehr gern dieser Ihrer zurückgebliebenen Partei im Interesse der ganzen europäischen sozialistischen Bewegung zur Modernität verhelfen." (S. M., Χ (XII), Heft 10). Im Interesse des gesamten europäischen Sozialismus! Das ist der Gesichtspunkt, von dem aus auch viele Anarchisten die Sozialdemokratie beurteilen. Vgl. die durchaus wohlwollende Artikelserie eines ungenannten französischen Anarchisten in der anarch. Zeitschrift Les Temps Nouveaux (März, April 1904), und der sehr interessante Artikel des bekannten italienischen Anarchisten Luigi Fabbri in der Römer Zeitschrift II Pensiero (Anno V, N. 6, „La Disfatta Socialista Elettorale in Germania"). Fabbri kommt zwar zu dem Ergebnis, wie einst Erasmus von Rotterdam ausgerufen habe: „Wer befreit uns von den Römern und Griechen?", so müßte es heute im internationalen Sozialismus heißen: „Wer befreit uns von der deutschen Sozialdemokratie mit ihrem dogmatischen Formalismus und ihrer militaristischen Organisation?" Aber sein Prämiß ist dabei das Bekenntnis, daß die sozialdemokratische Partei ihm doch die nächste sei und er ihre Wahlniederlage trotz aller Kritik an ihr als einen Schlag für den Sozialismus empfinde. 133 Trotz der jedesmal, wenn es Ernst wird, fälligen Chamade scheuen offiziellste Vertreter der deutschen Sozialdemokratie in ruhigen Zeiten keineswegs selbst die sachlich unzutreffendste Renommage. ,£in Unterschied besteht freilich zwischen damals (1870-71) und heute, daß es nämlich heute im deutschen Reichstag und in der deutschen Nation eine starke Arbeiterpartei gibt, in
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der deutschen Sozialdemokratie hat es die Majorität der Generalversammlung des internationalen sozialistischen Bureaus vom 4. und 5. März 1906, zumal die Franzosen und Engländer, durchgesetzt, daß die Frage des Antimilitarismus, die ihre vorläufige Regelung in einer oft abgeänderten und, um ihre einstimmige Annahme (auch durch die Deutschen) zu ermöglichen, recht matt abgefaßten Resolution Edouard Vaillants fand, auf die Tagesordnung des nächsten in Deutschland stattfindenden Kongresses gesetzt wurde. Wie sehr diese Gefühle der deutschen Sozialdemokratie gegenüber speziell in den sozialistischen Kreisen Englands verbreitet sind, dafür hat die Reise der deutschen Journalisten nach England im Juli 1906 noch einen weiteren schlagenden Beweis geliefert. Der Abgeordnete Keir Hardie, der leader der labour members in dem House of Commons erklärte sich in einer Zuschrift an Lily Braun 134 und in persönlichen Gesprächen völlig außer Stande, die Engherzigkeit der deutschen Sozialdemokratie zu begreifen. Die Begründung, daß es prinzipieller Radikalismus sei, welcher die sozialdemokratische Parteipresse veranlaßt hatte, Lily Braun ob ihrer Teilnahme an einem „bürgerlichen Friedensrummel in Sekt und Austern" so hart zuzusetzen, wurde von englischen Parteigenossen mit einem wahren Hohngelächter beantwortet. Theodor Barth berichtet 135 , daß Bernard Shaw, der bekannte Dramatiker, eines der anerkannten Häupter der Fabian Society, ihm auf sein Bemerken, daß er kein Sozialdemokrat sei, lachend erwidert habe: „I know. How should you be a german socialist? You are much too radical for that!" Barth fugt dem hinzu: die deutschen Sozialdemokraten sollten mehr ins Ausland gehen, um dort zu erfahren wie sie sind. Die jüngsten Ereignisse, die so überaus warmen patriotischen Erklärungen der sozialdemokratischen Abgeordneten Bebel und Noske im Reichstag, die die bürgerlichen Kreise Deutschlands mit heller Freude erfüllten, die energische, rücksichtslose, vor aller Oeffentlichkeit vollzogene Abschüttelung des französischen Parteigenossen Gustave Hervés und des deutschen Rechtsanwalts Karl Liebknecht - der noch dazu unter Anklage des Hochverrats stand und der Solidarität der Partei ganz besonders bedurft hätte von den Rockschößen der parteioffiziellen Verantwortlichkeit, haben die Meinung von deren Händen der Frieden sicherer gewahrt ist als in den Händen einer unfähigen Diplomatie und bürgerlich-parlamentarischer Figuranten." (F. Mehring, „Bürgerliche Dialektik", Neue Zeit XXV, Nr. 31) (4. Mai 07). - „Es gibt in ganz Europa keine zweite sozialdemokratische Partei, die systematischer den Kampf gegen den Militarismus auch im Parlament führt, wie gerade die deutsche Sozialdemokratie." (Bebel auf dem Parteitag in Mannheim. „Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29. September 1906. Verlag Buchhandl. Vorwärts." - p. 385.) - Auch die weitverbreitete literarisch-polemische Eigenart der deutschen Sozialdemokratie, ihre ihr durch die staatsrechtliche Rückständigkeit Deutschlands eingegebene Sondertaktik als die Taktik der sozialistischen Zukunft hinzustellen - die nicht nur die Spanier und Italiener, sondern auch die Franzosen und Engländer nachahmen würden, sobald die Verhältnisse erst einmals „so weit" gereift sein werden, wie im deutschen Reich, - kann natürlich den wirklichen Politiker nur befremden. 134 Abgedruckt in d. Frankf. Volksstimme, XVII, 158. 135
In der „Nation", abgedr. in d. „Hess. Landesztg." XXI, 158.
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dem Antiinternationalismus und der inneren Schwäche der deutschen Sozialdemokratie im Auslande noch um ein Weiteres befestigt 136 . Auch die gewisse Reaktion, die sich bei dieser Gelegenheit in den Blättern der sozialdemokratischen Presse gegen die allzu schnellen Schritte ins bürgerliche Lager bemerkbar machte, vermag nichts an der Tatsache zu ändern, daß Bebel nicht nur im Namen der Reichstagsfraktion, sondern auch im Namen der großen Majorität seiner Partei gesprochen und gehandelt hat. Nichts ist bezeichnender, als daß dieselben Blätter, die nach der Aufzählung revolutionärer Stimmen aus der Parteipresse zur Frage des Antimilitarismus frohlockend berichten konnten, daß Bebel in dieser Frage ziemlich vereinzelt dastehe, in derselben Nummer eine Zuschrift von Bebel enthielten, in der er sich für den „korrekten" Ton der gegen ihn geführten Polemik bedankte und ankündigte, daß er auf dem kommenden Kongreß mit Hervé den Degen kreuzen werde. Also der in der Vaterlandsfrage in seiner Partei vermeintlich isolierte Bebel wird im Namen seiner Partei seine Spezialanschauungen gegenüber den Franzosen vortragen. Wir gehn da wohl nicht fehl, wenn wir dem Protest einiger Redaktionen gegen die Bebeischen Vorstöße oder, wenn man will, Verstöße, nicht allzu große praktische Bedeutung für die offizielle Haltung der Sozialdemokratie beimessen. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, den kausalen Zusammenhängen, die diese prekäre und schiefe Stellung der deutschen Sozialdemokratie verursacht haben, auf den Grund zu gehn. Hier mögen nur einige Andeutungen genügen. Wir werden nicht ermangeln, in unserer Artikelserie über die deutsche Partei, die wir hier bereits begonnen haben 1363 , dem Detail des Beweismaterials seinen Platz anzuweisen. Die „politische Ohnmacht", die die einst überwältigende Stellung der deutschen Sozialdemokratie in der Arbeiterinternationale untergraben hat, ist zum Teil eine Folgeerscheinung des straffen deutschen Staatswesens, dem alle sentimentalen Anwandlungen von Gnade und Güte fremd sind, und das über eine ungemein selbstbewußte und politisch fähige feudale Klasse und einen treu ergebenen, ausgezeichnet funktionierenden Beamtenstand verfügt. Auch das Fehlen jedes wirklichen bürgerlichen Liberalismus, der ihr die Wege hätte ebnen können, mußte auf das Tempo des Vormarsches der Arbeiterpartei störend einwirken. Aber das sind alles Widerstände und Mängel, die überwunden werden könnten. Der tiefste Grund für ihre Schwäche liegt in der parteipolitischen Quintessenz der Sozialdemokratie selber als einer ausschließlichen Zeitungsleser- und Wähler-Partei mit großem bureaukratischem Apparat. Um die zentralisierte Macht des Staates zu überwinden, hat sie sich selbst zentralisiert, und da sie zur Ueberwindung dieser Macht nur ein Mittel anwendet, nämlich die Benutzung des einzigen demokratischen Elementes im deutschen Staatswesen, des Stimmrechtes, ist ihr ganzer
136 Um nur ein parteigenössisches Urteil wiederzugeben: Dr. Giusto Calvi, Sozialist. Abgeordneter und Chefredakteur der Turiner Tageszeitung II Grido del Popolo machte sich über Bebels Definitionen vom Angriffs- und Verteidigungskrieg weidlich lustig und bezeichnete seinen Standpunkt als einen puren Wahnsinn, ja einen Verrat am Sozialismus, gegen den alle wirklich Internationalen die Pflicht hätten, zu protestieren (vgl. La Scure, giornale socialista di Valenza, Anno II, N. 25). 136a Vergi. Band XXIII, p. 471.
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Mechanismus lediglich auf die Erringung von Wahlsiegen zugeschnitten und für sie geeignet. Daher widestrebt ihr alles, was in die Speichen ihres Räderwerkes eingreifen, ihren Organismus, oder doch wenigstens dessen äußere Form, die Organisation, bedrohen könnte. Sie wird denkfaul und träge, sowie unfähig zu allem, was von den Bahnen der „glorreichen Taktik", d. h. dem fonctionnement bei Wahlgelegenheiten abweicht, und sie scheut es, das großartige Menschenmaterial, das ihr zur Verfugung steht, zu höheren Pflichten als einer im letzten Grunde ziemlich bleiernen und initiativlosen Disziplin zu erziehen. Sie scheut vor allem die Opfer und rät - exempla abundant - in Fällen, die sittliche Kraft erfordern, ihren Anhängern zur Feigheit. Sie erzieht nicht Menschen, sondern bemüht sich, Maschinenteilchen für ihre komplizierte Maschinerie zu gießen, disziplinierte Parteigenossen, deren höchste Eigenschaft in dem großen Plus oder Minus? - des deutschen Volkscharakters, der organisationsfahigen Herdenqualität des Gehorchenkönnens, der Unterordnung im Verwaltungsfach, besteht. Diese „bienséance", die Wohlanständigkeit und Gefügigkeit der deutschen Sozialdemokratie hat zur Folge jenen angedeuteten Mangel an Schwung und an Idealismus 137 . Derartige Eigenschaften aber müssen die sozialistische Partei in einem Lande von so ausgeprägt autokratischer oder sagen wir oligarchischer Staats- und Geistes-Verfassung wie Deutschland unseres Erachtens nicht zur Herrin, sondern zur Sklavin jedweder Situation machen, sie ausschließen aus der Reihe der maßgebenden geschichtsbildenden Faktoren der Gegenwart. Darum wird die Sozialdemokratie auch, solange die Machtverhältnisse im deutschen Reiche so bleiben, wie sie heute sind, in der nächsten Zukunft immer mehr des Restes an Autorität, den sie heute noch insbesondere kraft ihrer an sich gewiß in mehr als einer Hinsicht bewunderungswürdigen organisatorischen Fähigkeiten, der Geschlossenheit ihrer Cadres, sowie der zahlreichen moralischen und intellektuellen Werte ihres proletarischen Materials und zum Teil auch ihrer Führerschaft im internationalen Sozialismus besitzt, verlustig gehn.
137 Der bekannte italienische Mazzinist Dario Papa meint einmal mit prächtiger Ironie in seinem Studienbuch über Deutschland: „Ein revolutionäres Deutschland wird einmal kommen. Kein Zweifel. Aber ich vermag es mir nicht vorzustellen. Vielleicht werden die Sozialdemokraten eines schönen Tages zum Kaiser gehen und ihm sagen: Majestät, wir haben alles fertig, um unsere Revolution zu machen. Es fehlen uns nur die Offiziere und Eure Majestät!" (Dario Papa: „Viaggi". Teutonia. Milano-S. Giovanni sopra Lecco 1893. Fontana. p. 249.) Noch ein Beispiel: In der von de Bigault de Casanove redigierten bekannten Pariser Wochenschrift „Le Cri de Paris" erschien nach dem Jenenser Parteitag auf dem Titelblatt eine (von Roubille entworfene) Zeichnung, die in sarkastischem Hohn auf die Schlappheit der deutschen Sozialdemokratie einen (offenbar der Partei angehörigen) Landwehrmann zur Darstellung brachte, der beim Paradeschrittüben auf dem Kasernenhof von seinem Vorgesetzten mißhandelt wird. Die Karikatur trug als Ueberschrift die Worte: „Après le Congrès de Jéna". Unter dem Bilde aber stand: „Le Socialdemokrat: O botte! pour un vrai Allemand, rien n'est plus doux que tes caresses!"
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Unsere Zeiten haben die alten starren Formen der Aristokratie ein für allemal zerstört. Wenigstens in wichtigen Bestandteilen des politischen Verfassungslebens. Dementsprechend weist auch das Parteileben in Staat und Gemeinde - theoretisch genommen einen Zug der Demokratie auf. Es basiert auf dem Prinzip der Mehrheit meistens, auf dem Prinzip der Masse immer. Auf diese Weise haben selbst die Parteien der Aristokratie die aristokratische Reinheit ihrer Prinzipien unwiederbringlich verloren und müssen, wenn sie auch ihrem Wesen nach antidemokratisch bleiben, mindestens in gewissen Perioden des politischen Lebens sich zur Demokratie bekennen oder doch ein demokratisches Herz heucheln. In Ländern mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht vermögen die Parteien der Aristokratie ihre politische Existenz nur vom Gnadenbrot der Massen, deren Rechte und politischen Fähigkeiten sie theoretisch verneinen, zu fristen. Der politische Selbsterhaltungstrieb zwingt die alten Herrschergruppen, in den Wahlzeiten von ihren Herrensitzen herabzusteigen und zu denselben demokratischen und demagogischen Mitteln zu greifen wie die jüngste, breiteste und unvornehmste Schicht unserer Gesellschaft, das Proletariat. Der Adel erhält sich heute zwar auf anderem Wege im Besitze der politischen Macht als auf dem Wege des Parlaments; er bedarf, um die Zügel der politischen Leitung des Staatswesens, wenigstens in der Mehrheit der Monarchien, in der Hand zu behalten, keiner parlamentarischen Majorität. Aber er bedarf, schon zu dekorativen Zwecken und zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu seinen Gunsten, immerhin einer achtunggebietenden parlamentarischen Vertretung. Diese erhält er aber nicht durch Bekanntgabe seiner innersten Grundsätze und durch Aufrufe der Seinesgleichen. Eine Adels- oder Großgrundbesitzerpartei würde durch den Appell an die Standesgenossen und wirtschaftlich Gleichinteressierten allein nicht einen einzigen Wahlkreis gewinnen, nicht einen einzigen Deputierten durchsetzen können. Um im Parlament acte de présence zu machen, gibt es deshalb fur sie nur ein Mittel: mit demokratischer Geste in die Wahlarena zu treten, die Bauern und Landarbeiter als Berufsgenossen anzureden und ihnen die Überzeugung beizubringen, daß ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen mit den ihrigen übereinstimmen. Der Aristokrat sieht
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Dieser Aufsatz basiert auf einem im Januar 1909 in den Soziologischen Gesellschaften an den Universitäten Graz und Wien gehaltenen Vortrag. Die Einleitungs- und Einfuhrungsworte, die nur Bekanntes enthielten, fielen hinweg.
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sich also genötigt, sich auf Grund eines Prinzips wählen zu lassen, das er nicht anerkennt und im Innern seines Herzens verachten muß. Alles in ihm schreit nach Autorität, Erhaltung beschränkter bzw., soweit sie bestehen, Abschaffung allgemeiner Wahlrechte, die seine traditionellen Freiheiten beeinträchtigen. Aber die Einsicht, daß er in dem demokratischen Zeitalter, das über ihn hereingebrochen ist, mit diesem Prinzip politisch isoliert dasteht und sich nie eine Basis zu parteipolitischem Handeln würde schaffen können, dreht ihm das Wort im Munde um und läßt ihn mit den Wölfen heulen: die heiße Bitte um Majorität. Der konservative Geist des alten Herrenstandes, so tief eingewurzelt er auch ist, bedarf - allerdings lediglich im Zeichen der Wahl - eines verhüllenden, weithin flatternden Gewandes mit demokratischem Faltenwurf. Diese demokratische, äußere Form der Basis des parteipolitischen Lebens täuscht leicht über den Hang zur Aristokratie oder, besser gesagt, zur Oligarchie hinweg, dem jede Parteiorganisation unterliegt. Zur Beleuchtung dieser Tendenz bietet das innere Wesen gerade der demokratischen Parteien, und unter ihnen wieder der Sozialrevolutionären Arbeiterpartei, das tauglichste und wirksamste Beobachtungsfeld. In den konservativen Parteien treten, von der Wahlperiode abgesehen, die Tendenzen zur Oligarchie mit jener selbstverständlichen Unverblümtheit hervor, die dem prinzipiell oligarchischen Charakter dieser Parteien entspricht. Aber die subversiven Parteien fördern dieselben Erscheinungen mit nicht geringerer Evidenz zutage. Nur daß die Beobachtung hier entschieden wertvoller ist, weil die revolutionären Parteien ihrer Entstehung und ihrer Willensrichtung nach die Negation dieser Tendenzen darstellen, ja aus der Opposition gegen sie entstanden sind. Das Auftreten der gleichen Tendenzen auch in ihrem eigenen Schöße ist also ein ganz anders triftiger Beleg für das immanente Vorhandensein oligarchischer Züge in jeder menschlichen Zweckorganisation. Die Kristallisationsformen jeder jungen sozialen Bewegung tragen ein demokratisches Gesicht zur Schau. Alle jung aufstrebenden Klassenparteien geben, bevor sie ihren Marsch nach der Eroberung der Macht antreten, angesichts der Welt stets die feierliche Erklärung ab, nicht so sehr sich, als vielmehr die gesamte Menschheit von dem Druck einer tyrannischen Minderheit befreien und das ungerechte Regime durch ein gerechtes ersetzen zu wollen. Als die junge Bourgeoisie sich anschickte, in ihren großen Kampf gegen Adel und Geistlichkeit einzutreten, begann sie mit der feierlichen Déclaration des Droits de l'Homme und stürzte sich in die Schlacht mit dem Losungswort: Egalité, Liberté, Fraternité! Heute hören wir mit eigenen Ohren eine andere machtvolle Klassenbewegung, die der Lohnarbeiter, verkünden, sie benutzte zwar die in der heutigen Wirtschaftsordnung liegenden Antagonismen zur Führung des Klassenkampfes, aber dieser Klassenkampf habe doch lediglich den Zweck der Schaffung einer klassenlosen, humanitären, brüderlichen Gesellschaft. Aber die sieghafte Bourgeoisie der Droits de l'Homme hat zwar die Republik, nicht aber die Demokratie eingeführt, und die Worte der Egalité, Liberté, Fraternité sind heute höchstens noch über der Eingangspforte französischer Geiangnisse zu lesen, und die Kommune, welche den ersten wenigstens zeitweise erfolgreichen Versuch einer proletarisch-sozialistischen Staatsherrschaft darstellt, hat trotz ihrer kommunistischen Grundprinzipien die Banque de France selbst in Zeiten der Geldnot so treu behütet, wie
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nur je ein Konsortium unerbittlicher Kapitalisten. Revolutionen hat es gegeben, Demokratien nicht. Wenn nun aber die Sozialrevolutionären und demokratischen Parteien theoretisch ihren wesentlichsten Lebenszweck in der Bekämpfung der Oligarchie in allen ihren Formen erblicken, wie ist es dann zu erklären, daß sie in sich dieselben befehdeten Tendenzen entwickeln? In der vorurteilslosen, analytischen Beantwortung dieser Frage haben wir unsere Aufgabe zu erblicken. * * *
Eine Klasse, die an die Gesellschaft bestimmte Forderungen stellt und einen Komplex von aus den ökonomischen Funktionen, die sie erfüllt, selbst herausgeborenen Ideologien und „Idealen" in die Wirklichkeit zu übertragen trachtet, bedarf sowohl auf wirtschaftlichem wie auf politischem Gebiete der Organisation. Die Organisation, die auf dem Prinzip des geringsten Kraftaufwands d. h. der möglichsten Kräfteersparnis beruht, ist die gegebene Waffe der Schwachen zur Bekämpfung der Starken, die sich nur auf dem Boden der Solidarität abspielen kann. Die Sozialdemokraten, diese fanatischen Parteigänger des Organisationsgedankens, sprechen infolgedessen ein Argument aus, das sich mit den Ergebnissen des wissenschaftlichen Studiums des Parteiwesens deckt, wenn sie den Theorien der Individualanarchisten gegenüber sagen, die Unternehmer sähen nichts lieber als eine Disgregation und Zersplitterung der Arbeiterkräfte. In der Tat ist der einzelne, zumal wenn er den arbeitenden Klassen angehört, der Willkür der ökonomisch Stärkeren hilflos preisgegeben. Das Prinzip der Organisation muß also als die conditio sine qua non der sozialen Kampfesfuhrung der Massen betrachtet werden. Aber der Scylla der den Gegner begünstigenden Organisationslosigkeit der Massen liegt das politisch notwendige Prinzip der Organisation gegenüber, welches alle Gefahren der Charybdis in sich birgt. In der Tat, die Quelle, aus der sich die konservativen Wasserläufe in die Ebene der Demokratie ergießen, um dort bisweilen Überschwemmungen zu verursachen, die die Ebene bis zur Unkenntlichkeit entstellen, heißt Organisation. Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie. Im Wesen der Organisation liegt ein tief aristokratischer Zug. Die Maschinerie der Organisation ruft, indem sie eine solide Struktur schafft, in der organisierten Masse schwerwiegende Veränderungen hervor. Sie kehrt das Verhältnis des Führers zur Masse in sein Gegenteil um. Ursprünglich ist der Führer nur der Diener der Masse. Die Basis der Organisation ist die Gleichberechtigung aller Organisierten. Alle Mitglieder der Organisation haben auf sie den gleichen Rechtsanspruch. Alle sind wahlberechtigt. Alle sind wählbar. In ihr ist die Grundforderung der Droits de l'Homme theoretisch erfüllt. Alle Ämter gehen aus der Wahl hervor und alle Beamten stehen unter der ständigen Kontrolle der Gesamtheit und sind jederzeit revokabel und absetzbar. Das demokratische Parteiprinzip garantiert der größtmöglichen Zahl Einfluß und Teilnahme an der Verwaltung der gemeinsamen Sache. Aber die techische Spezialisierung, die die notwendige Folge jeder ausgedehnten Organisation ist, kreiert die Notwendigkeit der sog. geschäftsmäßigen Leitung und überträgt
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alle entscheidenden Eigenschaften der Masse als spezifische Führerqualitäten auf die Führer allein. Die Führer, die zunächst nur die Vollziehungsorgane des Willens der Masse sind, werden selbständig, indem sie sich von der Masse emanzipieren. Die Organisation vollendet entscheidend die Zweiteilung jeder Partei in eine anfuhrende Minorität und eine geführte Majorität. Die Partei oder, besser gesagt, jede Organisation, sofern sie ein festes Gefiige hat, ist ein ausgezeichneter Nährboden zur Entstehung von Differenziationen: Je mehr sich der offizielle Parteiapparat ausdehnt und verzweigt, d. h. je mehr Mitglieder eine Partei bekommt, je mehr ihre Kassen sich füllen und die Parteipresse wächst, desto mehr wird die Volksherrschaft in ihr verdrängt und durch die Allmacht der Ausschüsse und Kommissionen ersetzt. Zumal in den großen Industriezentren, in denen die Arbeiterpartei bisweilen an die Hunderttausende von Mitgliedern zählt, ist es nicht mehr möglich, die Geschäfte dieses Riesenkörpers ohne ein System der Vertretung zu besorgen. Mit dem Wachsen der Organisation wachsen die Aufgaben der Verwaltung, verringert sich die Übersichtlichkeit, erweitert und verzweigt sich der Pflichtenkreis. Die Mitgliedschaften müssen allmählich in immer höherem Maße darauf verzichten, die Verwaltungsangelegenheiten im einzelnen selbst zu regeln oder auch nur nachzuprüfen. Sie werden diese Aufgabe den dazu bestellten Vertrauenspersonen, den bezahlten Funktionären, überlassen und sich mit ganz summarischen Berichten oder der Anstellung von Revisoren begnügen müssen. Die demokratische Kontrolle schrumpft auf immer engere Kreise zusammen. Immer mehr Funktionen, die ehemals von den Wahlvereinen ausgeübt wurden, gehen auf die Vorstände über. Es entsteht ein gewaltiges Gebäude von komplizierter Struktur. Die Kompetenzen teilen sich - das Prinzip der Arbeitsteilung drängt sich a u f und teilen sich von neuem. Es bildet sich eine streng abgegrenzte Hierarchie mit vielen Instanzen. Die genaue Einhaltung des Instanzenweges wird zum Paragraph I des Katechismus der Parteipflichten. Insoweit entspringt der oligarchisch bureaukratische Zug der Parteiorganisation zweifellos einer praktischen technischen Notwendigkeit. Er ist das unvermeidliche Produkt des Prinzips der Organisation. Die moderne politische Partei ist aber auch eine Kampfesorganisation. Als solche hat sie sich den Gesetzen der Taktik zu fügen. Das Grundgesetz der Taktik aber heißt Schlagfertigkeit. Demokratie aber ist mit Schlagfertigkeit schlechterdings unvereinbar. Das hatte schon der große Sozialrevolutionäre Parteigründer Ferdinand Lassalle erkannt, als er dafür eintrat, daß die tatsächlich bestehende persönliche Diktatur in seinem Verein als theoretisch gerechtfertigt erklärt und als praktisch unerläßlich anerkannt werden solle; willenlos sollten die Geführten ihrem Führer folgen und der gesamte Verein gleichsam einen Hammer in der Hand seines Präsidenten darstellen. Das war ein Gebot der politischen Notwendigkeit, zumal in den Erstlingszeiten der noch jungfräulich unbeholfenen Arbeiterbewegung, und die einzige Methode, sich bei den bürgerlichen Parteien Macht und Ansehen zu sichern. Im Zentralismus lag die Schnelligkeit der Entschlüsse garantiert. Lag und liegt. Die große Organisation ist schon an sich ein schwerfälliger Apparat. Die Größe der Entfernungen, der Verlust an Zeit, der dadurch entstehen würde, wenn man den Massen die einzelnen Tagesprobleme, die schnellen Entscheid heischen, so auseinandersetzen wollte, daß sie auch nur eine bedingte Urteilsfähigkeit über sie
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erlangten, macht die Demokratie in ihrer unverfälschten Urform unmöglich, da sich mit ihr nur eine Politik der Verschleppung und der verpaßten günstigen Gelegenheiten machen ließe und eine politische Partei somit ihre Bündnisfähigkeit und ihre notwendige politische Biegsamkeit einbüßen müßte. Die Demokratie paßt also nicht für den Hausgebrauch politischer Parteien. Eine kriegführende Partei - und führe sie auch nur einen Kleinkrieg - braucht eine hierarchische Gliederung. Ohne solche wäre sie den wilden amorphen Horden der Negerheere zu vergleichen, deren Kriegskunst an dem Aufeinanderprallen mit jedem gut disziplinieren Bataillon europäisch gedrillter Soldaten scheitert. So entsteht also - aus verwaltungstechnischen wie aus taktischen Gründen - ein berufsmäßiges Führertum, das auf Grund von Vollmachten die Angelegenheiten der Masse selbständig besorgt. Die Massen delegieren eine kleine Zahl von Einzelindividuen, die sie ständig vertritt. Der Anfang der Bildung eines berufsmäßigen Führertums bedeutet aber den Anfang vom Ende der Demokratie. Zunächst durch die logische Unmöglichkeit des „Vertreter"Systems selbst. Rousseau und die französischen Sozialisten der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts haben eine tiefe Wahrheit ausgesprochen: eine Masse, die ihre Souveränität delegiert, d. h. einzelnen wenigen Männern aus ihr überträgt, dankt als Souverän ab; denn der Wille des Volkes ist nicht übertragbar, nicht einmal der Wille des Einzelnen. Das gilt um so mehr für heute, wo das politische Leben täglich komplexere Formen annimmt und es somit täglich unsinniger wird, eine komplexe Masse in allen den Myriaden von Problemen des differenzierten modernen politischen und wirtschaftlichen Lebens „vertreten" zu wollen. Vertreten heißt den Einzelwillen als Massenwillen ausgeben. Das wird in Einzelfällen und bei scharf umrissenen, einfach liegenden Fragen möglich sein. Eine dauernde Vertretung aber wird unter allen Umständen eine Herrschaft der Vertreter über die Vertretenen bedeuten. Die Bildung eines berufsmäßigen Führertums bedeutet aber auch eine beträchtliche Verschärfung der Bildungsunterschiede zwischen den Führern und den Geführten. Eine lange historische Erfahrung lehrt, daß zu den Elementen der Herrschaft der Minoritäten über die Majoritäten neben dem Faktor des Geldes und Geldwertes - ökonomische Superiorität - und dem Faktor der Tradition und Erziehung - historische Superiorität - vor allen Dingen der Faktor der formalen Bildung - intellektuelle Superiorität - gehört. In den Parteien des Proletariats aber stoßen wir schon bei oberflächlichster Betrachtung auf die Erscheinung, daß die Führer den Geführten an Bildung in hohem Maße überlegen sind. Diese Überlegenheit ist zunächst eine rein formale. In Ländern, wo die politische Entwickelung und eine weitgehende psychologische Prädisposition der Teilklasse der bürgerlichen Intellektuellen der Arbeiterpartei eine große Zahl von Rechtsanwälten, Ärzten und Universitätsprofessoren zufuhrt wie in Italien, ist diese Überlegenheit leicht konstatiert. Die Deserteure der Bourgeoisie werden die Anführer des organisierten Proletariats, nicht trotz, sondern gerade ob ihrer im feindlichen Lager erworbenen und aus ihm mitgenommenen überlegenen formalen Bildung. In anderen Ländern, in denen die bürgerlichen Schichten den revolutionären Arbeitern in so unversöhlicher Intransigenz gegenüber stehen, daß die Elemente, die zu ihnen übergehen, dem gänzlichen gesell-
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schaftlichen und politischen Boykott anheimfallen, und wo andererseits die Arbeiterschaft sich durch die wunderbare Organisation des Staatswesens und unter dem Zwang einer einen gewissen Grad von Intelligenz ihrer Bediener bedürfenden Großindustrie im Besitz einer wenn auch nur elementaren Schulbildung, die sie durch eifriges Selbststudium zu ergänzen bestrebt ist, befindet, haben wir als Arbeiterführer neben einer geringen Zahl von Intellektuellen allerdings eine große Mehrheit von ehemaligen Handarbeitern. Aber diese gehobenen Handarbeiter stehen nicht mehr auf der Bildungsstufe ihrer ehemaligen Klassengenossen. Der Parteiapparat, der mit seiner großen Anzahl von Brotstellen und Ehrenstellen den Arbeitern eine Möglichkeit Karriere zu machen bietet, und deshalb eine nicht geringe Anziehungskraft ausübt, leitet die Umwandlung einer Reihe mehr oder weniger begabter Proletarier in kleinbürgerliche Existenzbedingungen emporgehobene Beamte ein, indem er ihnen auf seine Kosten Muße und Gelegenheit verschafft, sich eine höhere Bildung und Einsicht in die Verhältnisse des öffentlichen Lebens zu erwerben. Hierdurch eignen sich die ehemaligen Arbeiter eine Routine an, die sie ihren Auftraggebern immer mehr überlegen macht, so daß sie schließlich des Gefühles der Gemeinsamkeit mit der Klasse, der sie entsprungen, verlustig gehen und ein wahrer Klassenunterschied zwischen den exproletarischen Führern und den proletarischen Geführten entsteht. So schaffen sich die Arbeiter selbst mit ihren eigenen Kräften neue Herren, in deren Arsenal der Herrschaftsmittel die erhöhte Bildung eine der mächtigsten Waffen ist. Wenn wir von den politisch ziemlich einflußlosen Anarchisten absehen, die zudem teilweise noch jeder Organisation widerstreben und andernteils in so losen Verbänden organisiert sind, daß sie nicht eigentlich als eine Partei angesehen werden können, haben heute alle Parteien ein parlamentarisches Objektiv. Die Bahn, auf der sie sich bewegen, ist die legalitär-elektionistische, das nächste Ziel die Erlangung von Einfluß im Parlament, der Endzweck die sog. „Eroberung der politischen Macht". Auf die Weise treten auch die Vertreter der revolutionären Parteien in die gesetzgeberische Körperschaft ein. Die parlamentarische Arbeit, die sie dort zuerst widerwillig, dann mit wachsender Genugtuung und Berufsliebe verrichten, entfernt sie aber noch immer weiter von ihren Wählern. Die Fragen, die an sie herantreten und die ernstes Einarbeiten erfordern, haben die Wirkung, ihre Sachkenntnis zu erweitern und zu vertiefen und den Abstand zwischen ihnen und den Genossen im Lande zu vergrößern. Die parlamentarische Tätigkeit vergrößert aber nicht nur den rein intellektuellen Abstand zwischen den Vertretern der revolutionären Parteien und Genossen. Mit ihrem Eindringen in die Details des politischen Lebens in die Einzelheiten der Gesetzgebung, der Steuerfragen, der Zollfragen und der Probleme der auswärtigen Politik erhalten die Führer einen Wert, der sie - mindestens so lange die Geführten an der parlamentarischen Taktik festhalten, aber auch darüber hinaus - unentbehrlich macht, da sie nunmehr durch neue Elemente der Partei, deren dem bureaukratischen Mechanismus nicht angehörige Mitglieder ihren täglichen Beschäftigungen nachgehen und in ihnen aufgehen, nicht mehr ohne weiteres ersetzt werden können. So schafft die Sachkenntnis auch auf diesem Gebiete virtuell eine Inamovobilität, die den Grundsätzen der Demokratie widerspricht. Die Sachkenntnis, die die Führer endgültig über die Geführten er-
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hebt und sich Untertan macht, erhält noch eine weitere Stütze durch die Routine, das gesellschaftliche savoir faire, das sich die Abgeordneten in der Kammer erwerben sowie das Spezialistentum, das sie insbesondere in den Dunkelkammern der Kommissionen erlernen. Die hierbei erworbenen Handgriffe wenden sie naturgemäß auch im Parteileben an und haben es infolgedessen leicht, eventueller Gegenströmungen Herr zu werden. In der Kunst der Versammlungsleitung, der Anwendung und Auslegung der Geschäftsordnung, der Einbringung von opportunen Resolutionen, kurz den Kniffen wichtige strittige Punkte aus der Diskussion auszuschalten oder auch eine ihnen gegnerisch gesinnte Majorität zu einer ihnen günstig lautenden Abstimmung zu veranlassen oder doch, im ungünstigsten Falle, sie mundtot zu machen, sind sie Meister. Als Referenten und Kompetenten, die selbst die geheimsten Schlupfwinkel des von ihnen zu behandelnden Themas kennen und durch Abschweifungen, Umschreibungen, terminologische Gewandtheit auch die einfachste und natürlichste Frage der Welt in ein Mysterium zu verwandeln wissen, zu dem nur sie den Schlüssel haben, sind sie fur die großen Massen, deren „theoretische Exponenten" sie sein sollen, geistig völlig unnahbar und technisch unkontrollierbar. Sie sind die Herren der Situation. In dieser Position werden sie noch durch den Ruhm gefestigt, den sie sich, sei es als Redner, sei es als Sachkenner, sei es durch die Reize ihrer - intellektuellen oder auch nur physischen - Persönlichkeit selbst innerhalb der Sphäre der politischen Gegner und auf diese Weise auch in der öffentlichen Meinung erworben haben. Die Verabschiedung eines allgemein anerkannten Leaders durch die organisierten Massen würde eine nicht unerhebliche Diskreditierung der Partei in den Augen der Welt zur Folge haben. Die Parteimassen wären also in doppeltem Wortsinn „kopflos", wenn sie eine Entzweiung mit ihren selbstgewählten Führern bis zum äußersten kommen ließen, um so mehr, als ihnen aus einer derartigen Lage ein unermeßlicher realpolitischer Schaden erwachsen müßte, und zwar nicht nur, weil sie nicht ohne weiteres über ein genügendes Quale und Quantum von neuen Kräften verfügen, welche die durch ein jahrzehntelanges Einarbeiten die politische Materie beherrschenden Alten in ihren verschiedenen Funktionen ersetzen könnten, als auch, weil sie dem persönlichen Einfluß ihrer alteingesessenen parlamentarischen Autoritäten einen guten Teil ihrer Erfolge auf dem Gebiete der sozialen Gesetzgebung und der Stipulierung allgemeiner politischer Freiheiten verdanken. Die demokratischen Massen befinden sich also zweifellos in einer Zwangslage, wenn sie sich veranlaßt sehen, ihre gros bonnets in einer Machtstellung zu lassen, die auf die Dauer das Prinzip der Demokratie zu Grabe trägt. In der Unentbehrlichkeit liegt der stärkste Rechtsanspruch der Führer. Dem ersten Schritt ist also der zweite gefolgt: Die Schaffung eines berufsmäßigen Führertums war nur das Präludium zur Entstehung eines stabilen und inamoviblen Führertums. Diese Entwicklung wird durch die allgemeinen menschlichen Eigenschaften noch beschleunigt. Was die Bedürfnisse der Organisation, Administration und Strategie begonnen hatten, wird vollendet durch die Bedürfnisse der Psychologie. Jedes Machtbewußtsein verleiht Großmannsdünkel, und Herrscherqualitäten, je nachdem gute oder schlechte, schlummern in jedes Menschen Brust. Das sind die elementa-
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ren Erkenntnisse der Psychologie. Wer in den Besitz von Macht gelangt ist, wird in der Regel bestrebt sein, seine Macht zu verstärken und auszubauen, seine Stellung unaufhörlich mit neuen Bollwerken zu umgeben und sich der Botmäßigkeit und Kontrolle der Masse zu entziehen. Der Begründer des sozialistischen Anarchismus Michail Bakunin nahm an, daß der Besitz von Macht selbst den größten Freiheitsfreund in einen Tyrannen verwandeln müsse. Sicher ist, daß der Besitz von Macht im Charakter dessen, der ihn erworben, wesentliche Züge umprägt. Dem natürlichen Machthunger der Führer steht das Führungsbedürfiiis der Menge und ihre Indifferenz gegenüber. Die Massen besitzen einen tiefen Drang zu persönlicher Verehrung. Sie bedürfen in ihrem primitiven Idealismus weltlicher Götter, denen sie mit desto blinderer Liebe anhängen, je schärfer das rauhe Leben sie anpackt. Häufig ist das Anbetungsbedürfiiis der einzige rocher de bronce, der alle Wandlungen ihrer Weltanschauung überdauert. Die sächsischen Fabrikarbeiter sind in den letzten Jahren aus frommen Protestanten zu Sozialdemokraten geworden. Mit dieser Entwickelung mag für sie eine große Umwertung aller Werte verbunden gewesen sein. Aber in ihrer guten Stube entfernten sie das obligate Lutherbildnis nur, um es durch einen Bebel zu ersetzen. In der italienischen Emilia, in der die Landarbeiter die gleiche Entwickelung durchmachten, wich das Bild der Santissima Madonna nur dem des onorevole Prampolini oder des „flagellatore della comorra", Enrico Ferri. Unter den Ruinen der alten Anschauungsweise der Massen blieb unversehrt die Siegessäule des Anbetungsbedürfnisses aufrechtstehen. Aus der Delegation entwickelt sich das moralische Recht auf die Delegation. Die einmal Delegierten bleiben, soweit nicht statutarische Bestimmungen sie daran verhindern, ununterbrochen im Amte. Aus der Wahl für einen bestimmten Zweck wird eine Anstellung auf Lebenszeit. Die Gewohnheit wird zum Recht. Der Führer, der eine Zeitlang regelmäßig delegiert wird, beansprucht schließlich die Delegation als sein gutes Recht. Wird die Fortsetzung ihm geweigert, so droht er alsbald mit Repressalien, unter denen die Einreichung der Demission noch die unschädlichste ist, und setzt so die Parteigenossen in Verwirrung. Diese Verwirrung - wir werden später noch erkennen, aus welchen Motiven - endet aber fast stets mit dem Siege des Führers. Die Parteikongresse werden in ihrer Zusammensetzung immer mehr stabil. Mit anderen Worten: die Massen wählen immer wieder die gleichen Vertreter. Daher erscheinen die Kongresse als Führerkongresse, Beamtenkongresse. Auch die aus der indirekten Wahl hervorgehenden höheren Parteiinstanzen, ihrer Natur nach demokratische Behörden, die stetem Wechsel unterliegen, dehnen die ihnen übertragene „Vollmacht" immer mehr auf Lebenszeit aus. Auch hier wird der Auftrag zum Amt und das Amt zur lebenslänglichen Anstellung. Sie werden inamovibel und inviolabel wie nur je eine aristokratische Körperschaft. Die Zeit ihrer Amtsdauer überragt bei weitem die mittlere Amtsdauer der Minister in monarchischen Staaten. Man hat die mittlere Amtszeit der Minister in Deutschland auf 4Ά Jahre berechnen wollen, im Parteivorstand, also dem Ministerium der sozialistischen Partei, aber sehen wir über vierzig Jahre lang die gleichen Männer an der Spitze die Ministerstellen der Partei bekleiden. Ihre statutarisch fallige Bestätigung nach mehr oder weniger langfristigen Perioden wird zur Formsache,
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zur platten Selbstverständlichkeit. Um diese Erscheinung zu verstehen, muß der große konservative Faktor der Tradition, die den revolutionären Massen genau so ins Blut übergegangen ist als den konservativgesinnten, zur Erklärung mit hinzugezogen werden. Ein konsequentes Festhalten an den demokratischen Grundsätzen kennt keine Rücksichten auf traditionelle Anhänglichkeiten und würde fordern, die oberste Instanz so oft zu ändern, als es der Wechsel der Mehrheit in der in verschiedene Strömungen zerspaltenen Partei erforderlich macht. Die alten Instanzen müßten stets den neuen Kräften, den jüngsten Eroberern der Parteimacht, das Feld räumen. Auch ganz davon abgesehen müßte das Streben vorhanden sein, dieselben Genossen nicht allzulange in maßgebenden Stellungen zu belassen, um es zu verhindern, daß sie dort einrosten und sich in ihnen die Überzeugung bilde, die einzig möglichen Auserwählten des Volkes zu sein. Statt dessen bewirkt das Gefühl für die Tradition zusammen mit dem instinktiv gefühlten Bedürfnis nach einer Stabilität der Verhältnisse, daß die oberste Leitung in den demokratischen Parteien fast stets mehr der Ausdruck der Vergangenheit als der Ausdruck der Gegenwart ist. Sie wird nicht bestätigt, weil sie der greifbare Ausdruck der jedesmaligen Kräfteverhältnisse in der Partei wäre, sondern einfach, weil sie besteht. Es ist das Gesetz der Trägheit oder, euphemistisch gesprochen, der Beharrung, welches den Führern ihr Mandat häufig bis zur Lebenslänglichkeit verlängert. Aber noch ein anderes, ethisch erfreulicheres Moment, wirkt zur Entstehung dieses Phänomens mit: die Dankbarkeit der Massen gegen Persönlichkeiten, denen sie am Ende auch viel verdanken und die der gemeinsamen Idee zu Liebe häufig Verfolgungen, Verbannung und Gefängnis haben über sich ergehen lassen müssen. Es ist eine in den Massen vielfach verbreitete Auffassung, es würde „undankbar" sein, einen „altverdienten" Führer nicht stets von neuem wieder in seiner Funktion zu bestätigen. Die Denkweise, die sich unter so gegebenen Umständen in der Führerschaft herausbildet, ist in allen Parteien die gleiche. Der faktisch bestehende Bildungs- und Kompetenzunterschied innerhalb der Mitglieder der Partei macht sich auch bei der Aufgabenverteilung in ihr geltend. Die Führer verlangen, auf ihre höhere Kompetenz pochend, von den Massen Gehorsam. Es erscheint ihnen empörend, wenn die Geführten ihren Vorschlägen und Ermahnungen entgegenhandeln. In ihren Berichten über dergleichen Mißhelligkeiten mit den von ihnen Abhängigen können sie sich nicht enthalten, ob solcher Unbotmäßigkeit den Ton gerechter Entrüstung anzuschlagen. Es wird den Massen als ein grober Verstoß gegen Takt und guten Ton angerechnet, wenn sie „den Rat selbstgewählter Führer mit Füßen treten". Die Führer pochen auf die Urteilslosigkeit der Menge, um sie von den Geschäften fernzuhalten. Sie kommen zu der Ansicht, daß es nicht im Interesse der Partei liegen könne, wenn eine Minderheit der die Parteifragen verfolgenden und erwägenden Genossen von einer Mehrheit solcher, die noch kein Urteil in bestimmten Angelegenheiten haben, majorisiert werde und erklären sich deshalb gegen das Referendum oder wenden es doch im Parteileben nicht an. „Um den richtigen Moment zur Aktion zu wählen, gehört ein Überblick, den von den einzelnen aus der Masse stets nur wenige haben werden, während die Mehrheit momentanen Eindrücken und Gefühlsregungen folgt. Ein begrenzter Körper von Beamten und Vertrauensleuten, die in geschlossener Sitzung
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beraten, wo sie der Einwirkung gefärbter Preßberichte enthoben sind, und wo jeder sprechen kann, ohne die Kolportierung ins Lager des Gegners befürchten zu müssen, hat als Kollegium die Wahrscheinlichkeit eines objektiven Urteils für sich" 2 . Außer den politischen Gründen wird auch die Kompliziertheit der Parteiorganisation ins Feld geführt, um die direkte Wahl möglichst durch die indirekte Wahl zu ersetzen, während für die sehr viel kompliziertere Staatsorganisation die direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vorschlags- und Verwerfungsrechtes als Programmpunkt gefordert wird. Diese Antinomie durchdringt das ganze Parteileben. Jede neue oppositionelle Strömung in der Partei wird als Demagogie verworfen; der direkte Appell mit der Parteiherrschaft unzufriedener Elemente an die Massen, und mag er noch so edlen Motiven enspringen, wird, trotzdem er unzweifelhaft als das Grundrecht aller Demokratie anzusehen ist, als unschicklich verworfen oder gar als ein boshafter Versuch der Untergrabung der Parteidisziplin und Verhetzung und Aufhetzung gebrandmarkt. Mit besonderem Eifer wird dafür eingetreten, daß die Massen schon aus taktischen Gründen - zur Wahrung der nötigen Kohäsion vor dem Feinde - unter keinen Umständen den Glauben an ihre selbstgegebenen Führer verlieren dürften. Das ist der Grundsatz, aus dem jede scharfe Kritik an den objektiven Unzulänglichkeiten der Bewegung als Attentat auf die Partei selber gestempelt und die oppositionellen Elemente als Parteiverderber und Parteifeinde an den Pranger gestellt werden. In der Tat, die Taktik und Praktik der revolutionären Partei entfernt sich nicht weit von der Taktik und Praktik der „Bourgeois"regierung. Selbst die Terminologie in der Bekämpfung der „Elenden" ist - reservatis reservandis - bei beiden identisch. Die gleichen Vorwürfe gegen die Rebellen, dieselbe Art Argumentation bei der Verteidigung der gewordenen Verhältnisse: hier Staatserhaltung, dort Parteierhaltung. Auch die gleiche Begriffsverwirrung in der Inbeziehungsetzung von Sache und Person, Individuum und Kollektivität. Es gibt kaum einen Parteiführer von Belang, der nicht so denkt und handelt und, wenn er ein temperamentvoller Mann oder ein ehrlicher Charakter ist, auch spricht wie angeblich der ROI SOLEIL von seinem Staate: Le Parti c'est moi! Die Identifizierung des Bureaukraten mit der Gesamtpartei und der Interessen des einen mit den Interessen des anderen ist eine vollständige. Wird der Führer angegriffen, so ist es sein erstes, diesen Angriff auf die ganze Partei zu beziehen, nicht nur aus diplomatischen Erwägungen, etwa um sich auf diese Weise der Unterstützung der ganzen Partei zu vergewissern und den Angreifer mit dem Schwergewicht der Masse zu Boden zu schlagen, sondern auch aus einer ganz naiven Gleichsetzung des Teilchens mit dem Ganzen. Die Führer selbst berufen sich, wenn ihnen ihr undemokratisches Verhalten vorgehalten wird, auf den Willen der Masse, der sie dulde, also auf ihre Eigenschaft als Gewählte und Auserwählte. Solange uns die Massen zu Führern wählen und wiederwählen, sagen sie, solange sind wir eben der legitime Ausdruck des Massenwillens und decken uns mit der Masse. Theoretisch ist die Verteidigung klipp und klar und völlig
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ED. BERNSTEIN.
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einwandfrei. Aber in der Praxis wird, wenn auch nicht immer die Wahl, so doch stets die Wiederwahl der Führer durch die Massen mit solchen Methoden und unter so starken Suggestionen und anderweitigen Zwangsvorstellungen der Massen vollzogen, daß die Freiheit des Entschlusses dabei als in hohem Grade beeinträchtigt erscheint. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß in der Partei im letzten Grunde das demokratische System zu dem Recht der Massen zusammenschrumpft, sich an gegebenen Zeitpunkten die Herren selbst zu wählen, denen sie in der Zwischenzeit absoluten Gehorsam schulden, also zu einem System, wie wir es in der Staatengeschichte im plebiszitären Bonapartismus kennen gelernt haben. Die Allmacht der unverantwortlich gewordenen Bureaukratie wächst zur Diktatur aus, da sie als Verwalterin des Parteivermögens auch über die Machtmittel ökonomischer und politischer Natur verfugt - die Presse, die Kassen, der Schriftenverlag und vertrieb, die Aufnahme in die Listen der bezahlten Redner, - die sie unliebsamen Konkurrenten oder unzufriedenen Elementen aus der Masse jederzeit sperren kann und tatsächlich jederzeit sperrt. Gemäß derselben Entwicklungstendenz sehen wir denn heute die Führerschaft der demokratischen und Sozialrevolutionären Parteien vollständig allmächtig und von den Gesamtheiten unabhängig auf eigene Faust Politik treiben. Der gang und gäbe Bruch der ihnen von dem erweiterten Führerkreis (Parteitage, Kongresse usw.) als unverbrüchlich auferlegten Beschlüsse in taktischen Fragen, die immer mehr überhand nehmende Gepflogenheit, wichtige Entscheidungen en petit comité allein zu erledigen und die Gesamtpartei vor ein fait accompli zu stellen (ζ. B. durch Ansetzen der Kongresse nach den Wahlen, so daß die Führer die alleinigen Entscheider über die „Wahlparole" sind) die geheimen Ausmachungen der Führerinstanzen untereinander (so in Deutschland die geheime Regelung der Fragen der Maifeier und des Generalstreiks durch den sozialdemokratischen Parteivorstand und die Generalkommission der Gewerkschaften), die geheimen Versprechungen und Besprechungen mit der Regierung, die fraktionellen Schweigegebote, die nur dann als ungehörig empfunden werden, wenn sie nach oben (dem Parteivorstand gegenüber), nicht, wenn sie nach unten (den Parteimassen gegenüber) in Anwendung gebracht wurden - das alles sind die natürlichen Früchte des obwaltenden oligarchischen Systems. Der Führer bemächtigt sich die Tendenz, sich unereinander abzuschließen und durch Kartellbildung eine Mauer um sich zu errichten, über die sie nur die ihnen genehmen Elemente steigen lassen. Statt auf dem Wege der Wahl durch die Massen, suchen sie den Nachwuchs selbst auszuwählen und sich direkt oder indirekt mittels autokratischer Option zu ergänzen; Ansätze zu dieser Entwicklung treffen wir bereits heute in allen gut organisierten sozialdemokratischen Körperschaften. Ein Freund von Paradoxen könnte wohl versucht sein, diesen Prozeß als das erste Symptom eines Überganges vom System des plebiszitären Bonapartismus zum System des erbrechtlichen Monarchismus zu werten.
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Alle Ausdrücke des Sprachgebrauchs, die eine Herrschaft der Masse, der Mehrheit involvieren, wie Staat, Bürgerschaft, Volksvertretung, Partei, geben nur ein gesetzliches Prinzip, nur ein Sollen, nicht einen wahren Tatbestand, nicht ein Sein, an. Dieser substantielle Unterschied ist den Massen noch völlig verborgen. Im heutigen Proletariat ist unter dem Einfluß der ständig wirkenden Kräfte einer unermüdlichen Redekunst von ihm selbst gewählter, ihm kulturell überlegener Elemente der fixe Gedanke entstanden, es brauche nur einen Beamten anzustellen und einen Zettel in eine Urne zu werfen, kurz, seine sozialökonomische Sache nur einem Anwalt zu übergeben, um so selber Anteil an der Herrschaft zu gewinnen. Die Wissenschaft muß den Massen diese Binde von den Augen reißen. Um der Massen willen und um der Zukunft der Demokratie - soweit die Demokratie eine Zukunft hat - willen. Vornehmlich aber um ihrer selbst willen, aus erkenntnistheoretischen Gründen. Das Endergebnis unserer Untersuchung ist folgendes: Die Bildung von Oligarchien im Schöße der modernen Formen der Demokratien ist eine organische, also eine Tendenz, der jede Organisation, auch die sozialistische, selbst die libertäre, unterliegen muß. Sie erklärt sich teils psychologisch, d. h. durch die Veränderungen des Seelenlebens, die die einzelnen Persönlichkeiten in der Bewegung im Laufe der Entwicklung erfahren, teils aber auch, und zwar in primärer Weise, aus dem, was man als Psychologie der Organisation selbst bezeichnen möchte, d. h. aus den Notwendigkeiten taktischer und technischer Natur, die aus dem Erstarken jedes sich auf politischer Bahn bewegenden disziplinierten Aggregats hervorgehen. Wenn es ein soziologisches Gesetz gibt, dem die politischen Parteien - das Wort Politik hier im weitesten Sinne genommen - unterworfen sind, so mag es, auf seine kürzeste Formel gebracht, etwa so lauten: die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler. Jede Parteiorganisation stellt eine mächtige auf demokratischen Füßen ruhende Oligarchie dar. Allüberall Wähler und Gewählte. Aber auch allüberall fast unumschränkte Macht der gewählten Führerschaft über die wählenden Massen. Die oligarchische Struktur des Aufbaues verdeckt die demokratische Basis. Es bliebe nur noch zu untersuchen, ob diese oligarchische Wesenheit der Organisation auch oligarchische Lebensäußerungen dieses Körpers, eine oligarchische Politik, bedingt. Daß die innere Politik der Parteiorganisation durch und durch konservativ ist oder doch auf dem Wege ist, es zu werden, ist nach dem bisher Gesagten ohne weiteres klar. Wohl aber wäre die Möglichkeit vorhanden, daß die äußere Politik dieses konservativen Körpers eine überaus rührige und radikale wäre; daß die undemokratische Zentralisation der Macht in den Händen weniger Parteiführer nur ein Rüstzeug taktischer Natur wäre, um den Gegner desto leichter im gegebenen Moment niederschlagen zu können; daß die Oligarchen nur die provisorische Aufgabe erfüllten, die Massen zur Revolution zu erziehen, der Organisationsapparat also nur im Dienste eines erweiterten Blanquismus stände. Aber dieser Möglichkeit steht wieder - wir werden das gleich
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sehen - das Wesen der Parteiorganisation als einer Organisation möglichst gewaltiger Massen entgegen. Der Kampf um große Prinzipien wird unmöglich. Wir beobachten, wie in den demokratischen Parteien der Gegenwart die großen Meinungsverschiedenheiten immer weniger auf prinzipiellem Wege und mit den reinen Waffen der Theorie ausgefochten werden und deshalb schnell in persönliches Gezänk ausarten, um endlich auf irgend eine Weise unbemerkt ganz von der Oberfläche beseitigt zu werden. Die „Vertuschungspolitik" ist die unvermeidliche Folge einer bureaukratisch gerichteten Organisation und einer Agitation, die als ihr vornehmstes Objektiv die Gewinnung der größtmöglichen Zahl neuer Mitglieder ansieht und deshalb jeden Ideenkampf in den eigenen Reihen als unwillkommene Erschwerung ihrer wichtigsten Aufgabe betrachten muß. Die Rücksichtnahme auf die neuangegliederten oder neuanzugliedernden Elemente, die Mitläufer, die von der Ideenwelt des Sozialismus oder der Demokratie noch weit entfernt sind, verbietet aber ohne weiteres die Betreibung einer prinzipiellen Politik. Das Schlußglied der langen Kette von Erscheinungen, welche der politischen Partei, auch wenn sie sich mit dem Titel revolutionär schmückt, in ihrem inneren Wesen einen konservativen Grundzug verleihen, liegt in ihrem Verhältnis zum Staate begründet. Entstanden, um die zentralisierte Macht des Staates zu überwinden, hat sie sich selber machtvoll zentralisiert. Sie wird zu einer Regierungspartei, d. h. zu einer Partei, die, organisiert wie eine Regierung im Kleinen, hofft, dereinst die Regierung im Großen übernehmen zu können. Die politisch revolutionäre Partei ist ein Staat im Staate, entstanden zu dem offenen Zwecke, den Gegenwartsstaat auszuhöhlen und zu untergraben, um ihn endlich durch ein von Grund aus verschiedengeartetes Staatswesen zu ersetzen. Diesem also ausgesprochen gegenwartsstaatlichen Zwecke dient ihr in der Theorie die Organisation, deren einzige Existenzberechtigung darin liegt, das Werk der Vernichtung der Organisation des Staates in seiner heutigen Form sachgemäß und systematisch vorzubereiten. Die subversive Partei organisiert in ihren Kadres die soziale Revolution. Daher all ihre täglichen Bemühungen zur Befestigung ihrer Positionen, zur Ausbreitung ihres Beamtenapparates, zur Anhäufung ihrer Kapitalien. Jeder neue Bezirksleiter, jeder neue Parteisekretär, der angestellt wird, ist theoretisch ein neuer Agent der Revolution, jede neue Sektion ein neues Bataillon, jeder neue durch Mitgliederbeiträge gewonnene, durch die Presse herausgewirtschaftete oder durch wohltätige Stiftungen Nahestehender gewonnene Tausendguldenschein eine neue Proviantration für den Kampf mit dem Gegner. Aber die Leiter dieses revolutionären Körpers inmitten des Autoritätsstaates, organisiert, wie er ist, mit denselben Mitteln, durchglüht von demselben Geist eiserner Disziplin wie jener, können sich der Einsicht nicht entziehen, daß ihre Organisation, der offiziellen Organisation des Staates gegenübergestellt, mag sie auf organisatorischem Boden auch noch so viel Wunderdinge leisten, doch nur eine schwache Miniaturausgabe ist und daß deshalb in absehbarer Zeit, ohne Hinzutreten außergewöhnlicher Ereignisse, jeder Versuch einer Kraftprobe mit einer zerschmetternden Niederlage für sie enden müßte. Die logische Folge dieser Erkenntnis ist, daß gerade das Gegenteil von der Hoffnung eintrifft, von welcher die Gründer der Partei sich hatten leiten lassen, als sie die Partei aus der Taufe hoben. Anstatt daß die Partei mit wachsender Kraft und
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Stärke ihrer Organisation an revolutionärer Dynamis gewinne, können wir heute gerade die umgekehrte Beobachtung machen: es besteht eine innere Beziehung zwischen dem Wachstum der Partei und dem Wachstum an Vorsicht und Ängstlichkeit in ihrer Politik. Die Partei, stets vom Staate gefährdet und in ihrer Existenz von ihm abhängig, ist, groß geworden, ängstlich bemüht, alles zu vermeiden, was ihn übermäßig reizen könnte. Plötzlich beginnt sich bei ihr an allen Ecken und Enden das Verantwortlichkeitsgefühl zu regen. Ihm zu Liebe tritt sie mit aller Autorität, über die sie verfügt, den radikalen Richtungen in ihrem Schöße entgegen, die sie bisher ruhig hatte gewähren lassen. In seinem Namen erteilt sie dem Antimilitarismus Absagen, weist sie die Generalstreiktaktik von sich ab, verleugnet sie alle Kühnheiten und Logizismen ihrer Vergangenheit. Die Partei, die in ihren jungen Jahren nicht oft genug erklären konnte, daß sie revolutionär sei, und zwar nicht nur hinsichtlich der Natur des Zieles, sondern auch, wenn auch nicht aus prinzipieller Vorliebe zu ihnen, in der Wahl ihrer Mittel, säumt nicht, sobald sie alt, oder, wie man will, politisch reif geworden ist, ihr ursprüngliches Bekenntnis dahin zu modifizieren, daß sie nur „im besten Sinne des Wortes" revolutionär sei, d. h. also nicht mehr in den Mitteln, für die allein die Polizei Interesse hat, sondern lediglich in der grauen Theorie und auf dem weißen Papier. Dieselbe Partei, die einst nicht davor zurückgescheut war, selbst angesichts der noch rauchenden Gewehre der Bezwinger von Paris mit lauter Stimme ihre begeisterte Solidarität mit den Kommunarden zu betonen, erklärt heute vor aller Welt die antimilitaristische Agitation in allen den Formen zu verwerfen, die, sei es auch nur einige ihrer Anhänger, mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt bringen könnten, da sie die Verantwortung für die hieraus sich eventuell ergebenden Folgen nicht übernehmen könnte. Es ist klar - und die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung erhärtet unsere These durch hundert Beispiele - daß auf diese Weise die Partei mit wachsender Organisation immer mehr immobilisiert. Das heißt, sie verliert ihren revolutionären Schwung, sie wird träge und schwerfällig, faul nicht nur im Handeln, sondern selbst im Denken. Sie kettet sich immer fester an die sogenannte „alte glorreiche Taktik", das heißt die Taktik, die sie groß gemacht hat, und ihre Scheu vor einem aggressiven Vorgehen irgendwelcher Art wird immer unüberwindlicher. Mit anderen Worten, der Besitz äußert seine inhärenten Tendenzen auch auf die Partei. Die Männer der Partei haben ein halbes Jahrhundert lang Schweiß und Mühe darangesetzt, eine Musterorganisation zu schaffen. Nun sind drei Millionen Arbeiter organsiert, eine Bureaukratie ist ins Leben gerufen worden, die an Pflichtbewußtsein, Pünktlichkeit und hierarchisch abgestuftem Gehorsam mit der des Staates selbst wetteifert, die Kassen sind gefüllt, ein Komplex finanzieller und psychischer Interessen ist über das ganze Land konstituiert. Eine energische, wagemutige Taktik würde alles aufs Spiel setzen: die Arbeit vieler Dezennien, die Existenz vieler Tausender von Ober- und Unterführern, kurz der ganzen „Partei". Dieser Gedanke wird allmählich kaum mehr faßbar. Die Liebe zum Geschaffenen und der persönliche Eigennutz von Myriaden ehrsamer Familienväter, deren soziale und ökonomische Lebenshaltung fast durchweg an die Existenz der Partei gebunden ist und die von der Angst vor dem mit einer - in einem Kriegszustand stets leicht möglichen Auflösung der Partei durch den Staat verbundenen Verlust der Stelle und dem darauf-
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folgenden wirtschaftlichen Ruin beherrscht werden, unberechtigter Sentimentalismus wie berechtigter Egoismus, bäumen sich in gleichem Maße gegen ihn auf. So wird die Organisation aus einem Mittel zum Zweck zu einem Selbstzweck. Als oberstes Gesetz der Partei bildet sich die Tendenz, alles von sich fernzuhalten, was in die Speichen ihres Räderwerkes eingreifen, ihren Organismus oder doch wenigstens dessen äußere Form, die Organisation, die immer mehr zu ihrem Lebensnerv wird, bedrohen könnte. Selbst in die Defensive gedrängt, wird sie es vorziehen, wertvolle eroberte Positionen zu verlieren und alte Rechte aufzugeben als der Offensive des Gegners mit Abwehrmitteln zu begegnen, die sie „kompromittieren" könnten. Sie verliert mit der Entwicklung des Ruhebedürfnisses ihre revolutionären Giftzähne und wird zu einer gut konservativen Partei, die sich zwar ihrer revolutionären Terminologie weiter bedient - die Wirkung überdauert auch hier die Ursache - die aber in der Praxis im äußersten Falle die Aufgabe einer konstitutionellen Oppositionspartei erfüllt. * * *
Hier drängt sich uns eine letzte, entscheidende Frage auf: Ist die oligarchische Krankheit der demokratischen Parteien unheilbar? Ist es unmöglich, daß eine demokratische Partei eine demokratische, eine revolutionäre Partei eine revolutionäre Politik befolgt? Ist nicht nur Sozialismus, sondern selbst sozialistische Politik Utopie? Mit der Antwort auf unsere Frage können wir uns kurz fassen. Innerhalb eines gewissen engen Rahmens wird auch die oligarchisch geleitete demokratische Partei allerdings in demokratischem Sinne auf den Staat einzuwirken vermögen, obgleich die Erfüllung dieser Aufgabe in dem Moment zum Stillstand kommt, wo es den herrschenden Klassen gelungen ist, die Opposition der äußersten Linken zur Mitarbeit an der Regierung selbst heranzuziehen. Aber selbst jene Arbeit wird nur eine langsame, häufig unterbrochene sein und ihre Grenzen in den Grenzen der Oligarchie selbst finden. Die politische Organisation trägt zur Macht. Macht aber ist stets konservativ. Bisweilen sehen wir allerdings die Oligarchie der Führer jäh durchbrochen. Die Massen lehnen sich auf und kündigen den Gehorsam. Fast immer steht hinter diesen Vorgängen aber lediglich der Kampf einer Führergruppe mit einer anderen Führergruppe um die Macht. Den Massen allein unterliegt der Führer nie. Nur, wenn die Massen einen neuen und gewaltigeren Führer finden ist es möglich, daß er niedergerungen wird. Stehen die Führer den Massen geschlossen gegenüber, so berechtigt uns die Erfahrung zu sagen, daß bis auf den heutigen Tag aus diesen Kraftproben die oligarchischen Gruppen als Sieger hervorgegangen sind. Bei großen politischen Auseinandersetzungen wie bei gewaltigen Wirtschaftskämpfen, welche die Massen gegen den Willen ihrer Führer unternommen hatten, haben die Führer sehr bald wieder die Oberhand gewonnen und, wenn es nötig war, selbst über den Kopf der Massen hinweg und gegen deren ausdrücklichen Willen, unter Zerreißung aller Grundpinzipien der Demokratie und Nichtachtung aller rechtlichen, logischen und ökonomischen Bande, die das besoldete Führertum an die besoldenden Massen binden, von oben herab die Verständigung mit dem
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Feinde und die Wiederaufnahme der Arbeit dekretiert. So in den letzten Generalstreiks in Mailand und Turin wie in den großen Streiks im Ruhrrevier, in Krimmitschau, Stettin und Mannheim. Die Massen haben häufig darüber gebrummt, sich aber nie aufgelehnt, weil es ihnen an Kraft fehlte, die doppelte Rechtsverletzung zu ahnden, und haben, nachdem ihre demokratisch berechtigte Wut sich in einigen aufgeregten Versammlungen ausgelassen, nicht verfehlt, die Oligarchie ihrer Führer das demokratische Feigenblatt der nachträglichen Indemnität anzuhängen 3 . Nichts spricht dafür, daß diese empirisch festgestellte Macht der Oligarchie im Parteileben in absehbarer Zeit durchbrochen werden könnte. Die Unabhängigkeit der Führer wächst in gleichem Maße mit ihrer Unentbehrlichkeit, und die Macht und ökonomische Sicherheit ihrer Stellung wirkt immer mehr faszinierend auf die Massen und stachelt den Ehrgeiz gerade der begabtesten Elemente zum Eintritt in die privilegierte Bureaukratie der Arbeiterbewegung an, die auf diese Weise immer unfähiger wird, die latente Opposition gegen die alten Führer durch neue begabte Kräfte leiten zu lassen. Die Massen werden gewiß ab und zu noch revoltieren, aber der Energie der Massen wird von den Führern immer wieder der Zügel angelegt werden. Nur eine Politik der herrschenden Klassen, die in jäher Verblendung den Bogen überspannt, wird die Parteimassen als aktive Schauspieler auf die Bühne der Geschichte bringen und die Macht der Parteioligarchen aufheben können. Aber ein direktes Eingreifen der Masse wird stets gegen den Willen der Führer stattfinden. Von diesen vorübergehenden Unterbrechungen abgesehen, wird die natürliche und normale Entwicklung der Organisation auch der sozialrevolutionärsten Partei nach wie vor den dauerhaften Stempel der Beharrung aufdrücken. Dies das Grundgesetz der Entwicklung politischer Parteiorganisation. Prophylaktischer Maßregeln gegen das Aufkommen der Oligarchie spottet die Entwicklung selbst. Wollen Gesetze der Herrschaft der Führer Einhalt tun, so weichen allmählich die Gesetze, nicht die Führer. Vielleicht liegt, wenn auch nicht die Heilung, so doch eine gewisse Milderung der oligarchischen Krankheit in dem Prinzip der Demokratie selbst, das immer weiteren Volksmassen die Quellen der Bildung zu öffnen bestrebt ist. Erhöhte Bildung aber bedeutet erhöhte Fähigkeit zur Kontrolle. Die Führung der gebildeten Massen ist immerhin weniger uneingeschränkt als die Führung der Massen Ungebildeter.
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Wir haben hier die wirtschaftliche Arbeiterbewegung - die Gewerkschaften - nur gestreift, auch weil hier ein ζ. T. andrer Komplex von Ursachen vorliegt, die dasselbe Resultat erzeugen. Dieser soll in einem spätem Aufsatz untersucht werden. Für heute genügt, darauf hinzuweisen, daß die Oligarchie in der Gewerkschaftsbewegung zweifellos noch sehr viel weiter fortgeschritten ist als in der politischen Arbeiterbewegung. Bemerkt werden möge hier in Parenthese nur noch, daß natürlich auch Anarchismus und Syndikalismus der gleichen Tendenz unterliegen und daß es die Organisationsform und das Milieu und nicht etwa der Ideengehalt, der zu ihrem Entstehen geführt hat, ist, der die Oligarchie erzeugt. Diese Entwickelung - auch darauf möge hingewiesen werden geht völlig jenseits von Gut und Böse vor sich, wenn auch zugegeben werden muß, daß die Führung der Massen in dem Seelenleben der Führer gerade die weniger sittlichen Tendenzen zur Entwicklung zu bringen pflegt.
Zum Problem der zeitlichen Widerstandsfähigkeit des Adels
Als eine der bedeutendsten geschichtsphilosophischen Theorien der neueren Zeit dürfen wir das Dogma von der Circulation des Elites betrachten, das den bedeutenden Volkswirtschaftslehrer Vilfredo Pareto zum Verfasser hat. Diese Theorie besagt kurz folgendes: Keine Gesellschaft vermag ohne herrschende Schicht auszukommen, aber alle herrschenden Schichten fallen schnellem Verfall anheim und machen in kurzer Zeit neuen, aus dem Volke kommenden Herrscherschichten Platz. Das Volk wird sich nie demokratisch verwalten können, aber die Herrschenden selbst unterliegen beständigem Wechsel. 1 Es lohnt sich, diese Theorie einmal kurz auf Herz und Nieren zu untersuchen. Sie basiert zunächst auf der inneren Unmöglichkeit einer Volksherrschaft. Dieser Frage haben wir bereits eine größere Untersuchung gewidmet. 2 Sie basiert aber fernerhin auch auf dem Prämiß von der Kurzlebigkeit und Dekadenz der Aristokratie. Aber es muß die Frage gestellt werden: Ist diese Erkenntnis richtig und inwieweit entspricht sie den Tatsachen, die wir kennen? Das soziologische Problem des Adels als herrschender Klasse stellt sich uns in folgender Form: Existiert der alte Adel noch? Und, im Bejahungsfall, nimmt er 1. sozial, 2. ökonomisch und 3. biologisch noch die gleiche Stellung wie vor etwa zweihundert Jahren ein? Sicher ist, daß der Adel heute überall da, wo eine moderne Industrie aufgekommen ist, ökonomisch gemessen hinter der Oberschicht des gewerbetreibenden Bürgertums zurückgeblieben, an die zweite Stelle gerückt ist, wenngleich sich diese Konstatierung nur auf ganz besondere Gebiete bezieht. Richtig ist ferner, daß der Adel manchenorts eine nur geringe Nuptialität und eine erschreckend hohe Sterilität aufweist. Doch sind auch diese Beobachtungen bisher nur in engem Felde gemacht worden und lassen noch keineswegs eine Generalisierung ihrer Ergebnisse zu. Immerhin dürfte sich zunächst eine kurze Analyse der beträchtlichsten auf diesem Gebiete geführten Untersuchungen lohnen. In Schweden existiert ein sogenanntes Adelshaus, gegründet vom König Gustav Adolf im Jahre 1626, in welches jeder Edelmann, welcher darauf Wert legte, als solcher 1 2
Vilfredo Pareto, „Les Systèmes Socialistes". Paris 1902, Giard et Brière. 2 Vols. Robert Michels, „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens". Leipzig 1911, Klinkhardt, p. 401 ff.
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gezählt und gerechnet zu werden, eingeführt werden mußte. Jede Adelsfamilie erhielt dort eine genealogische Tabelle angewiesen, auf welcher alle die Familie betreffenden Ereignisse und Veränderungen ihres Personenstandes (Geburten, Heiraten, Todesfälle usw.) gebucht wurden. Auf diese Weise wirkte das Adelshaus als eine Art Statistisches Bureau für die schwedische Aristokratie und vermag nun dem Demographen eine Fülle wertvollster Aufschlüsse zu geben. Es ist das Verdienst Fahlbecks, diese wertvolle Fundgrube ausfindig gemacht und nach Kräften ausgenutzt zu haben. 3 Von 1626 - 1898 haben in Schweden insgesamt 3 033 dem Adel angehörige Familien (142 gräfliche, 417 freiheitliche, 2474 titellose adlige Familien) bestanden; von diesen sind in dem angegebenen Zeitraum 2 319, nämlich 82 gräfliche, 277 freiherrliche und 1 965 einfache Adelsfamilien ausgestorben. Mit anderen Worten - und darin besteht für uns das interessanteste Ergebnis der Fahlbeckschen Untersuchungen - in etwa zweihundertundsiebzig Jahren ist 76,6 %, über ein Drittel [sie] der der Geburtsaristokratie angehörigen Familien, offiziell, d. h. im Mannesstamme und also dem Namen nach, vom Erdboden verschwunden. Ein weiteres interessantes Ergebnis der Fahlbeckschen Untersuchungen besteht darin, daß von 2 319 seit 1626 ausgestorbenen Adelsfamilien nur 137 solchen Geschlechtern angehören, deren Adel über 1626 zurückreicht. Diese Konstatierung würde für eine These sprechen, nach welcher die alten Adelsfamilien eine größere Dauerhaftigkeit aufweisen als die neuen. Die schwedischen Untersuchungen scheinen in der Tat zu beweisen, daß die Mortalität der Familien, anstatt mit ihrem Alter zuzunehmen, mit ihrem Alter abnimmt. Junge Familien - das Wort jung hier immer im aristokratischen, nicht im biologischen Sinne gebraucht - sind dem Verfall mehr ausgesetzt als alte. Für die Aristokratie ist das Jugendalter das kritischste. Von je 1000 ausgestorbenen Adelsfamilien sind 439 in den ersten 25 Jahren des Bestehens der Familie als Adelsfamilie, 206 nach einer Dauer von 126 - 150 Jahren ausgestorben. 4 Aus diesen Zahlen dürfen indes wohl nur mit einiger Vorsicht Schlüsse gezogen werden. Erfahrungsgemäß pflegt die Verleihung des Adels leichter zu erfolgen, wenn der zu adelnde pater familias kinderlos oder doch mit nicht allzuviel Kindern gesegnet ist: einmal um dem Adel nicht gar zu viel neues Blut auf einmal zuzuführen, dann auch, weil es sich bei kinderreichen Familien häufiger als bei kinderarmen ergibt, daß in ihnen Söhne vorkommen, deren moralisches oder auch politisches Verhalten es dem Landesfürsten nicht angezeigt erscheinen läßt, den Vater - und mit ihm den mißliebigen Sohn - in den Adelsstand aufzunehmen. Dieser Grund liefert bis zu einem gewissen Grade die Erklärung dafür, warum der Prozentsatz der junggeadelten Familien, die schon binnen kurzer Zeit wieder aussterben, so hoch ist. Immerhin dürfte aber freilich dieser Umstand doch nicht ausreichen, um das starke Dem-Erlöschen-Ausgesetztsein der jungen Aristokratien restlos ursächlich zu erhellen.
3
4
P. E. Fahlbeck, „Sveriges Adel", I. „Aetternas Demographi", Lund 1898, sowie „La Noblesse de Suède, Etude Démographique". Resümee von der Hand des Verf. selber im „Bulletin de l'Institut International de Statistique", Vol. XII, Ière Livraison. Kristiania 1900, Steen, p. 170 ff. p. 173/174.
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Welches sind aber die Gründe der geringen physiologischen Widerstandsfähigkeit des schwedischen Adels überhaupt? Fahlbeck schließt jeden Erklärungsversuch auf Grund moralischer Degeneration von vornherein aus. Der schwedische Adel ist als Klasse genommen nicht verlottert und verlumpt. Dagegen liegt bei ihm physiologische Degeneration in aller Form vor.5 Diese Degeneration bezieht sich vorzüglich auf die bei ihm feststellbare hohe Sterilität der Ehen, die geringe Kinderzahl der fruchtbaren unter ihnen sowie die hohe Mortalität der männlichen Nachkommen. Ferner ist unter den Ursachen des Aussterbens der schwedischen Adelsfamilien aber auch die niedrige Nuptialität, das starke Hagestolzentum zu erwähnen. Von je 100 männlichen Mitgliedern der aussterbenden Generationen haben sich nur knapp 30 verheiratet.
Anzahl der sterilen Ehen (auf 100 Ehen) im schwedischen Adel Sterile Ehen in der Adelsfamilien von
2 Generationen 3 4 5 6
1. Generation 13,72 8,76 10,75 18,31 10,26
2. Generation 63,68 19,64 17,09 17,29 10,00
3. Generation -
64,15 20,79 23,08 19,35
4. Generation
5. Generation
6. Generation
-
-
-
-
-
-
-
-
62,07 21,36 14,29
75,00 17,07
70,00
Wie aus obiger Tabelle ersichtlich, blieben von je 100 Ehen männlicher Mitglieder der jeweils aussterbenden Generation 62 - 75 % ohne Nachkommen. Wie stark die geringe Fruchtbarkeit zum Verschwinden der Familien beigetragen hat, beweist die Tatsache, daß in der aussterbenden Generation unter den fruchtbaren Ehen der Durchschnitt der Kinderzahl nur 1,00 - 2,67 betrug. Die Mortalität der männlichen Nachkommen unter 19 Jahren betrug in der letzten Generation 40 - 50 %. Endlich überwogen die weiblichen Geburten über die männlichen im Verhältnis von 100 zu 79,08 (Familien von vier Generationen) und 100 zu 69,12 (Familien von sechs Generationen). Über die Nachkommenschaft dieser Töchter aber, welche bei ihrer Verheiratung des Namens verlustig gingen und infolgedessen statistisch nicht mehr als mit zur Familie gehörig betrachtet wurden, schweigt die Statistik. 6 Das hier angeschnittene Problem ist für die Frage nach dem Fortbestand des Blutes überaus wichtig. Eine jahrhundertelang zur Aristokratie gehörende blühende Familie kann, 5 6
p. 180. p. 177-179.
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obgleich womöglich mit zehn Töchtern behaftet, im Mannesstamm plötzlich aussterben. Gesetzt den Fall, zehn Töchter heiraten sämtlich und diese Ehen sind sämtlich mit Kindern gesegnet, so erhalten wir zwar wohl ein ganz besonders starkes Renouveau des Blutes; die Familie aber ist erloschen. Hier steht also der biologische Familienbegriff mit dem juridisch-statistischen in unlöslichem Widerspruch. Die bei dem Stand der heutigen Statistik fast unbeantwortbare Frage, ob der abgestorbene Teil der alten herrschenden Klasse wenigstens in ihrem weiblichen Stamm in der gegenwärtig herrschenden Klasse noch fortlebe, ist indes von höchster Wichtigkeit fur die Beantwortung der Frage, ob die alte Aristokratie wirklich der physischen Dekadenz anheimgefallen ist oder nicht; es sei denn, man wolle die Frage ohne weiteres bejahen, weil weibliche Nachkommenschaft ein greifbares Zeichen von Dekadenz sei, was indes doch wohl eine gewagte maskuline Behauptung sein dürfte. Im übrigen ist daran zu erinnern, daß die Kontinuität der die herrschenden Klassen ausmachenden Familien vielfach gerade durch die Töchter der alten Geschlechter, welche in die neuen Familien hineinheiraten, gewahrt wird. Die im Mannesstamm erlöschenden Familien verheiraten ihre Töchter natürlich innerhalb des Kreises gleichgestellter oder, wenn diese kapitalkräftiger und angesehener sind, der sich gleichstellenden Familien. Das alte Herrscherblut geht auf diese Weise keineswegs verloren, während den neuen Herrscherschichten altes Blut zugeführt wird. In Frankreich hat schon vor langer Zeit ein Mitglied des höheren Adels, der Marquis Bénoiston de Châteauneuf, nachzuweisen versucht, daß die durchschnittliche Dauer der adligen Familien nicht dreihundert Jahre übersteigt. Die Gründe, die er für diese Erscheinung angibt, sind: das Recht der Erstgeburt und die dadurch fur die Kadetten entstehenden Verelendungstendenzen, die Verwandtschaftsehe mit ihren Folgen der Sterilität, hauptsächlich aber der den französischen Adel als einen Soldatenadel dezimierende Krieg und endlich die Duellwut. 7 Gewiß ist es zutreffend, daß der Krieg den französischen Adel wohl in äußerstem Grade geschwächt hat. Der weitaus größte Teil des französischen Adels ne choisit point d'autre profession que celle des armes, wie der Marquis de Feuquières, der erste französische Kriegswissenschaftler, schon 1717 gesagt hat. 8 Indes müssen aber doch noch generellere Ursachen mit den Ausschlag für die relativ geringe mittlere Lebensdauer der französischen Adelsfamilien gegeben haben, sintemalen Bénoiston de Châteauneuf selbst angibt, daß er bei seinen Untersuchungen über die Lebensdauer bürgerlicher und kleinbürgerlicher Familien zu ähnlichen Resultaten wie beim Adel gelangt ist.9 In Mannheim hat Schott nach der Zahl der alten Familien geforscht. Von den knapp 1000 Familien, die Mannheim im Jahre 1719 aufwies, sind im Jahre 1900, also nach
7 8 9
Bénoiston de Châteauneuf, „Mémoire Statistique sur la Durée des Familles Nobles en France". Paris, Journal d'Hygiène, 1845. „Mémoires de M. le Marquis de Feuquières, contenant ses Maximes sur la Guerre et l'Application des Exemples aux Maximes." Nouv. Éd. Londres et Paris 1750, Rollin, Vol. I, p. 1. Bénoiston de Châteauneuf, 1. c.
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einem Zeiträume von 181 Jahren, noch 99, also etwa ein Zehntel, vorhanden 10 , d. h. noch in Mannheim wohnhaft. Neun Zehntel gingen im Laufe der Jahre verloren. Von den 1807/1811 ermittelten 1 461 Familien sind 1900, also nach einem Zeiträume von 89 Jahren, noch 563 übriggeblieben", d. h. etwa ein Drittel. Da sich die Stammfamilien von 1807 aber häufig 1900 in etliche Einzelfamilien („Zweige") zerteilt wiederfinden, kann man für heute ein Vorhandensein von rund 1 300 echten Alt-Mannheimer Familien ausrechnen. 12 Auf die Frage, die uns hier besonders interessiert, die der Kontinuität der politischen Klasse, gibt die Schottsche Untersuchung allerdings hiermit noch keine große Ausbeute. Die Schottsche Analyse bezieht sich auf „alte Mannheimer Familien". Das Wort alt ist hier aber lediglich in chronologischem, nicht in sozialem Sinne gebraucht. Alt sind infolgedessen auch die Tagelöhnerfamilien, insofern sie sich nur bis 1807 zurückfuhren lassen. Wie groß die Zahl der den herrschenden Klassen angehörigen Geschlechter unter den 563 ermittelten überlebenden Familien ist, läßt sich nicht leicht ersehen. Doch geht aus der Betrachtung der Listen überzeugend hervor, daß die untersuchten Familien ganz überwiegend dem Arbeiterstande und dem Kleinbürgertum angehören. Unter den 543 von 1807 bis 1900 in Mannheim seßhaften Familien finden wir gar nur eine einzige von Adel (von Fischer) angegeben. 13 Vorausgesetzt, daß die Angabe wirklich zutrifft, würde sie zum mindesten auf eine äußerst geringe Wurzelfestigkeit des Mannheimer Adels schließen lassen. Allerdings muß da der Tatsache Erwähnung getan werden, daß zu Beginn der untersuchten Periode die Stadt Mannheim von einem Ereignis betroffen wurde, das nicht nur die äußere Charakteristik der Stadt stark beeinflussen, sondern auch sehr beträchtliche demographische Folgen nach sich ziehen mußte, nämlich die Verlegung der Residenz nach Karlsruhe. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, und auch Schott ist dieser Ansicht 14 , daß damals die Abwanderung eines großen Teiles des Adels erfolgte und überhaupt die herrschenden Schichten der Stadt stark in ihrer sozialen Zusammensetzung modifiziert worden sind. Bei Studien wie der Schottschen liegt also wohl der Hauptwert nicht so sehr in ihren Ergebnissen zur Beleuchtung des Problems der Dauerhaftigkeit der Familien als vielmehr in denen zur Feststellung des Grades der Bevölkerungsbewegung oder, positiver ausgedrückt, der Seßhaftigkeit der einzelnen Bevölkerungsteile. Schott gibt uns keinen Aufschluß über die Frage, was aus den 1900 nicht mehr vorhandenen Alt-Mannheimer Familien geworden ist. Wieviel von ihnen sind ausgestorben, wie viele hingegen bloß verzogen? Daß die Zahl der letzteren groß sein muß, gibt Schott implizite selber zu, wenn er zu berichten weiß, daß in Mannheim die überwiegende Zahl aller erloschenen Stammfamilien, nämlich 73,6 %, gar nicht in die zweite Generation gekommen sind, es
10 Sigmund Schott, „Alte Mannheimer Familien. Ein Beitrag zur Familienstatistik des XIX. Jahrhunderts". Mannheim und Leipzig 1910, Bensheimer, p. 33. 11 p. 21, 23. 12 p. 32. 13 p. 26. 14 p. 66.
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also in Mannheim zu keiner Familienbildung im Mannesstamm mehr gebracht haben. 15 Inmitten der Lebensperiode der ersten der gemessenen Generationen, im Jahre 1801, erfolgte eben, wie erwähnt, die Verlegung der Hauptstadt von Mannheim nach Karlsruhe. Dagegen kann man sich aus den Listen, die den Beruf des Stammvaters 1809 und die Berufe der Urenkel 1900 enthalten 16 , ein leidlich sicheres Urteil darüber bilden, daß die soziale Stellung der Familie in der Regel in jenem Zeitlauf keine sonderliche Schwankung durchgemacht hat, und hierin ist auch eine Anzahl den höheren Ständen angehöriger Familien einbegriffen, deren Oberhäupter drei oder mehr Generationen hindurch genau denselben Beruf ausgeübt haben. Schott gewann den Eindruck, daß Senkung und Hebung die Ausnahme von der Regel der Beibehaltung des sozialen Standard bilden und daß weitaus die meisten Generationsfamilien sich das ganze Jahrhundert hindurch auf dem gleichen Stockwerk bewegen, während „nur wenige in das Paternosterwerk steigen, das sie hinauf oder hinunter befördert. 17 Überdies muß bei derartigen Untersuchungen stets darauf achtgegeben werden, sich nicht durch die oft trügerischen, in der neuen Zeit weit großartiger als ehemals klingenden Berufsangaben irreleiten zu lassen. So, wenn der Vater als Handwerksmeister angegeben ist, der Sohn hingegen als Fabrikant figuriert, braucht die Familie noch längst nicht eine soziale Steigerung erfahren zu haben. Der Handwerksmeister von 1860 entspricht eben in vielen Fällen seiner ökonomischen Lage und seiner gesellschaftlichen Geltung nach dem Kleinfabrikaten oder auch „Fabrikbesitzer" von 1900. Häufig sind beide Berufsarten nur Stufen einer rein technischen Entwicklung; mit anderen Worten der Fabrikant von heute steht zum Handwerksmeister von gestern wie der Schmetterling zur Puppe. Man hat beobachten wollen, daß die natürlichen Kinder, die sogenannten Bastarde, überaus häufig wertvolle Menschen waren und physisch und psychisch weit über ihren im Bett der offiziellen Ehe gezeugten Brüdern standen. In der Tat kargt die Geschichte nicht mit Beispielen: Don Juan de Austria, Vendôme, Gaston d'Orléans, Dunois, Prinz Eugen von Savoyen, der Connétable de Bourbon, Marschall Moritz von Sachsen, alle Söhne oder Enkel freier Liebe, ebenso wie auch die Pompadour und die Zarin Anna von Rußland. 18 Die hohe Intelligenz, welche die Bastarde auszeichnet, gilt vielfach als Beweis für die Vorzüglichkeit, die der gesetzlich ungeregelten Zeugung an sich innewohne. Vielleicht bis zu einem bestimmten Grade mit Recht. Die „Kinder der Liebe" sind Früchte natürlicher Wahlverwandtschaft, konzipiert in einem starken sinnlichen Rausch zweier junger Menschen; die legitimen Kinder der kirchlich gesegneten und staatlich gebuchten Ehe, unter deren Entstehungsursachen die Liebe zumeist an letzter Stelle zu stehen pflegt, wenn nicht gar überhaupt fehlt, werden dagegen nur zu oft von einem alternden Manne und einer unfreudigen Frau zwischen zwei Gähnkrämpfen erzeugt. Kein Wunder also, wenn das Kind aus der ersteren Verbindung dem aus der zweiten an Schönheit und Entwicklungsmöglichkeiten überlegen ist. Aber die häufige Über-
15 16 17 18
p. 40. p. 47 ff. p. 55. Théodore Ribot, „L'Hérédité Psychologique". 7e édition. Paris 1902. Alean, p. 175.
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legenheit der illegitimen Sprossen über die legitimen beweist nichts für die These der Dekadenz des Adels. Zunächst ist in Erwägung zu ziehen, daß die illegitimen Kinder nur dann zu tüchtigen Männern heranreifen, wenn ihnen seitens der Väter eine sorgsame Erziehung zuteil wird. Das Gros der unehelichen Kinder geht bekanntlich in Elend und Verbrechen jämmerlich zugrunde. Fernerhin aber darf auch die Tatsache nicht vergessen werden, daß die unehelichen Mütter jener ihre Halbbrüder von der hohen Aristokratie und aus den Königshäusern in den Schatten stellenden Bastarde fast ausschließlich selber dem Adel angehörten. Der Hinweis auf die Überlegenheit der Bastarde besagt also gar nichts in bezug auf die vermeintliche Dekadenz des Adels, sondern höchstens auf die der königlichen Geschlechter. Auch mag Colajanni recht haben, wenn er den wesentlichsten Grund der Überlegenheit der Bastarde in der im Vergleich mit der Erziehung der legitimen Seigneurs einerseits strengeren und in anderer Richtung wieder freieren Erziehung, die ihnen zuteil wird, erblickt. Durch sie werden gewisse gute Keime in ihnen leichter entwickelt und gewisse schlechte Keime eher unterdrückt als bei den legitimen Kindern. 19 Jedenfalls ist festzuhalten: die Bastarde vermögen ihre ehelichen Brüder nur dann an Leistungsfähigkeit zu übertreffen, wenn ihnen der uneheliche Vater in der Erziehung zur Seite steht. Häufig wird der These von der Dekadenz des Adels eine wesentlich intellektuelle Fassung gegeben. Vom deutschen Adel meint Sombart einmal, man dürfe wohl sagen, „ohne jemandem etwas Übles anzutun, daß von dem, was wir heute unter Bildung und Kultur im guten wie im schlechten Sinn verstehen, in diesen Schichten außerordentlich wenig zu finden ist". Er ist der Ansicht, daß „im wesentlichen alle neueren Strömungen auf dem Gebiete der Wissenschaften, namentlich aber der Kunst und Literatur an jenen Kreisen vorübergerauscht sind, ohne sie eigentlich zu berühren". Zum Beweis dafür, meint er, brauche man sich nur einmal in der Wohnung eines preußischen Ministers umzusehen, oder aufzupassen, welchen Geschmack die Herren von der Regierung und ihre Frauen im Theater, bei der Auswahl ihrer Lektüre, in der Beurteilung von Bildern usw. betätigen, um sofort zu empfinden, daß sich zwischen ihnen und dem, was die moderne Bildung in Deutschland repräsentiert, eine tiefe Kluft auftue. 20 Diese Bemerkungen sind im wesentlichen zutreffend. Das Kontingent, das der alte Adel in Deutschland dem Lehrpersonal der Hochschulen stellt, auf denen er doch bei seinen nahen Beziehungen zu den maßgebenden Regierungsinstanzen gewiß glänzende Fortkommensmöglichkeiten hätte, ist an Zahl und in der Regel - vielleicht je zwei Volkswirtschafter und Historiker ausgenommen - auch an Wert sehr gering. In Frankreich ebenso wie in Italien und England liegen die Verhältnisse besser. Im allgemeinen kann man beobachten, daß es dem Durchschnittsaristokraten überall, aber zumal in Deutschland, an jedem inneren Interesse für die Wissenschaft mangelt. 21 Mehr noch: der Adel, zumal der angesessene Adel, steht ihr mit tiefem, nicht leicht überwindlichem Mißtrauen gegenüber. Er wittert
19 Napoleone Colajanni, „Socialismo e Sociologia Criminale". Catania 1884. Tropea, Vol. I, p. 207. 20 Werner Sombart, „Die Elemente des politischen Lebens in Deutschland". Morgen I, 9. 21 Auch im Pariser Lateinviertel fallt die Spärlichkeit des Adels auf, vgl. René Vallery-Radot, ,,L' Étudiant d'aujourd'hui". Paris 1878, Hetzel, p. 38.
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in der Wissenschaft die Schrittmacherin der Revolution, die Todfeindin des Restbestandes seiner gesellschaftlichen Privilegien. Indes das geringe Vorhandensein von wissenschaftlich-intellektuellen Qualitäten, dem man im Adel begegnet, bedeutet keineswegs Unfähigkeit dieses Bevölkerungsteiles zur Ausübung der Herrschaft. Zumal in der Politik besitzt der alte Adel ein ihm durch generationenlange Zucht immanent gewordenes Verständnis und Feingefühl, das bis auf den heutigen Tag hin noch nicht versagt hat. Daß die Parteien der Rechten unter ihren Führern eine große Zahl bedeutender Adliger zählen, ist bei dem konservativen Charakter des Adels nicht verwunderlich. Bemerkenswerter ist die Tatsache, daß auch die Parteien der äußersten Linken häufig Adlige an der Spitze haben. In der parlamentarischen Vertretung der radikalen Partei Italiens hat der mittlere und hohe Adel die Hegemonie. Die sozialdemokratische Fraktion des bayrischen Landtages wurde eine Zeitlang von zwei Geburtsaristokraten, den einzigen im Landtag, geführt. Der Adel verleugnet auch heute seine politische Tüchtigkeit und sein altes Herrscherblut nicht. Demokraten haben spotten wollen, daß das Persönlichkeitsniveau des deutschen Adels ständig sinke; daß „in den adligen Brutanstalten, die den Bedarf der Regierung an hohen Beamten decken sollen, nur noch eine Gesellschaft von mageren Piepshühnern aufgezüchtet wird"; daß zwar Ausnahmen wohl vorkommen, dem Mittelprodukt aber ,Jeder vorsichtige Bankdirektor kaum eine Markenklebersteile anvertrauen" würde. Auch hat man zornig den Fortbestand jenes Vorurteils konstatieren wollen, daß, „während die übrige weiße Menschheit sich mit dem abscheulichen Vorurteil begnügt, daß die weiße Hautfarbe höher als die schwarze zu schätzen sei, man in Preußen noch unter die Haut blicke und dort noch farbige Unterschiede herausfinde". 22 Man hat, allen Leugnungsversuchen der adelsfreundlichen Presse zum Trotz, feststellen können, daß 80 Prozent der deutschen Korpskommandeure dem alten Feudaladel angehören, und Gädke hat ausgerechnet, daß bei der Kavallerie von den Leutnants zwei Drittel, von den Rittmeistern drei Viertel, von den Majors vier Fünftel, von den Obersten und Generalmajors sechs Siebentel, von den Generalleutnants sieben Achtel und von den Generalen der Kavallerie alle dem Adel entstammen. 23 Ähnlich liegen die Verhältnisse auch bei der Diplomatie. Zugegeben, daß hier behördlicherseits eine übermäßig starke Bevorzugung des Adels stattfindet. Zugegeben ebenfalls, daß ein wenn auch nicht übermäßig hoher Bruchteil dieser Nobili dem neuen Geldadel sowie dem Chargenadel angehört. Die These von der Dekadenz des Adels hingegen könnte nur dann mit Erfolg verfochten werden, wenn es gelänge, diesen Offizieren und Beamten Unfähigkeit im Beruf nachzuweisen. Die Annahme von der Dekadenz des Adels hat manche empirischen Ursachen. Der Reisende, der in den alten vornehmen Städten Italiens an den herrlichen Palästen bewunderungstrunken vorbeigeht, ist aufs äußerste erstaunt, ja peinlich berührt, wenn er erfährt, daß fast alle diese großartigen Bauten, von denen mehrere für sich allein eine größere Geschichte aufweisen als manche Großstadt des Nordens, nicht mehr in den 22 T. W., „Briefe eines Negerdiplomaten". Berliner Tageblatt XLII, Nr. 21. 23 Berliner Tageblatt XXXVIII, Nr. 41.
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Händen der Familie befindlich seien, sondern der eine einem jüdischen Bankier, der andere einem Rentner aus Amerika, der dritte einer Bank oder einer Aktiengesellschaft gehört. Aus dieser an und fur sich richtigen Tatsache ist in hellem Eifer die Folgerung von der völligen Dekadenz und Verarmung des Adels gezogen worden. Es ist unbestreitbar, daß selbige in vielen Einzelfallen zutrifft. Vielfach haben in der Tat die Söhne die herrlichen Besitztümer der Väter nicht zu halten vermocht und es vorgezogen, den Palast der Ahnen günstig zu verkaufen und sich eine bescheidenere Wohnstätte auszusuchen. Aber Verarmung war nicht die einzige Quelle für die richtig konstatierte Erscheinung. Um das zu verstehen, genügt es, die Entwicklung der modernen Städte zu beobachten. Durch die baulichen Veränderungen und die Ausdehnungstendenzen, denen sie unterliegen, ist häufig ihr Zentrum verschoben: die, welche ehemals die elegantesten und vornehmsten Viertel waren, sind heute Kaufmannsviertel (Paris: le Marais!) oder gar Armenviertel geworden. Auch die Hygiene hat ein Wort mitgeredet, und nicht zuletzt die Mode und der Snobismus. Alle diese Elemente haben dahin zusammengewirkt, daß der patrizische Adel seine alten, ungesunden, oder doch nicht mehr komfortablen Stadthäuser verlassen und sich, dem Zuge der Zeit folgend, an der Peripherie, im Villenviertel neue Häuser gebaut hat. Man mag das in vielen Fällen pietätlos und geschmacklos schelten und guten Rechtes behaupten, daß die neuen Behausungen an innerer patriarchalischer Sicherheit und Vornehmheit zumeist weit hinter den alten Palazzi zurückstehen. 24 Ein Zeichen von Armut aber ist der Wechsel nicht. Die neuen Villen geben den alten Häusern an Glanz und Reichtum nichts nach; sie übertreffen sie sogar an solchem bisweilen bei weitem. Wenn wir die Namen der Offiziere der preußischen Garderegimenter in der „Rangliste" nachlesen, können wir mühelos konstatieren, daß die großen Familien des preußischen Grundbesitzes und der preußischen Beamtenschaft, die zu Zeiten Friedrichs des Großen und der Befreiungskriege an der Spitze des preußischen Volkes standen, noch nahezu vollzählig zur Stelle sind. Und zwar ohne daß sie an politischer oder ökonomischer Schwerkraft Einbuße erlitten hätten. Letzteres mag aus der Tatsache, daß sie ihre Söhne in die vornehmsten und teuersten Regimenter senden, ersteres aus der Tatsache, daß aus diesen Familien sich vorzugsweise die hohe Generalität des deutschen Heeres ergänzt, ersehen werden. Ähnliches läßt sich, mutatis mutandis, für Italien, Spanien, Dänemark, Rußland, England, Ungarn konstatieren. Noch heute liegt die Vertretung vieler der bedeutendsten Länder und Städte in den Händen von alten, zum Teil ältesten Geschlechtern entstammenden Männern. In Venedig ist ein Grimani Oberbürgermeister, in Florenz ein Corsini, ein Wahlkreis von Rom ist im Parlament von einem Caetani, ein anderer war bis vor kurzem von einem Borghese vertreten. Die deutsche Diplomatie wird fast durchweg von Männern ältesten Adels geleitet, in der englischen Regierung sitzt zurzeit ein Churchill. Neben den Herren vom Feudaladel treffen wir in den höchsten Stellen der Regierung freilich bereits Männer aus dem Neuadel und aus
24 Einen typischen Beweis für diese Behauptung liefern die sogenannten Patrizier in Köln, die heute fast bis auf den letzten Rest die alten, ruhigen und vornehmen Häuser im Stadtinnern verkauft und sich am „Ring" oder gar auf dem flachen Lande neu angekauft haben.
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dem Bürgerstande an. Immerhin scheint mir die These unbeweisbar, die auch kürzlich wieder, mit geschickten Beispielen verteidigt, von Hans Kurella aufgestellt worden ist, daß nämlich „die Nachkommen der im Mittelalter zur Herrschaft gelangten Geschlechter zu Zeiten schneller politischer oder wirtschaftlicher Umgestaltung nicht in leitende Stellungen gelangen, wenn ihnen nicht aus der Sphäre der kaufmännischen oder verwaltenden Begabung neues Blut zufließt". 25 Indes, das noch gegenwärtige Vorhandensein des alten, wenn auch nicht des ältesten Adels bedeutet mehr die Konservierung alter Familien denn die Konservierung alter Aristokratie. Denn alte Familien können sehr wohl im Laufe der Jahrhunderte bestehen bleiben und an Glanz, Reichtum und sozialem Einfluß sogar zunehmen, aber durch ständige heterogene Heiraten so sehr ihr Blut geändert haben, daß sie als Gesamtheit betrachtet nicht mehr den gleichen anthropologischen wie mentalen Typus bilden wie vor hundert Jahren. Ein Beispiel möge das Gesagte illustrieren: Wenn ein Graf Isenplitz nach der Emanzipation der Juden in Preußen im Jahre 1820 ein Fräulein Salomon heiratete, der aus dieser Ehe geborene Sohn 1846 die Tochter des Rostocker Universitätsprofessors Dr. Emmanuel Kurz ehelichte, der Sprößling dieser Ehe sich 1873 mit der süddeutschen Verlagsbuchhändlerstochter Fräulein Müller vermählte, und deren Sprößlich 1897 sich wieder ein Fräulein Cohn oder Cohen zur Gattin auserwählte, so wird deren Sohn, der 1913 als Avantageur bei den Gardekürassieren eintritt, zwar äußerlich, also bezüglich des Namens und Titels, dem uradligen Urgroßvater gleichen und an finanzieller Potentialität ihn wahrscheinlich noch übertreffen; es ist aber unleugbar, daß der Graf Isenplitz von 1913 nur den sechzehnten Teil des adligen Geblüts seines Vorfahren aus dem Jahre 1820 besitzt. Die übrigen Abstammungsteile (15/16) sind unaristokratischer, ja zum Teil unarischer Herkunft. Mit anderen Worten: Die Adelsfamilie hat sich zwar dem Namen und der Stellung nach hundert Jahre erhalten, aber es ist doch anthropologisch ein völlig anders gearteter, ganz anderen Kreisen angehöriger Mann, der 1913 die Familie vertritt. Le nom est resté le même, la chose a changé à fonds. Nun wird man sich aber vor der Tatsache nicht verschließen können, daß Tausende und aber Tausende altadliger Familien in allen Ländern Mittel- und Westeuropas einen ähnlichen Entwicklungsgang durchgemacht haben. Die Vermischung des Adels mit Familien der Bourgeoisie, insbesondere der Plutokratie und des Judentums, ist in vielen Ländern bereits Tatsache geworden; so, Kennern zufolge, in großem Umfang in Frankreich. 26 Um große Bestandteile des deutschen und des ungarischen Adels steht es ähnlich. Mit anderen Worten: Wenn einstens gelten konnte, daß der Adel durch lang fortgesetzte Zuchtehe und die Zugehörigkeit zu den stets gleichen Berufssphären auch im Äußeren, in der geistigen wie leiblichen Beschaffenheit, gewisse anthropologische Charakteristiken aufwies, die manchenorts noch durch seinen von den übrigen Volksgenossen ethnisch verschiedenen Ursprung als einer Schicht von Eroberern verstärkt wurden, so ist das heute nur noch in geringem Umfange der Fall. Der Adel existiert zwar noch in
25 H. Kurella, „Die Intellektuellen und die Gesellschaft. Beitrag zur Naturgeschichte begabter Familien". Wiesbaden 1913. Bergmann, p. 22/23. 26 G. De Contenson, „L'Avenir du Patriotisme". Paris 1910. Bibl. des Saints-Pères, p. 171.
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den gleichen Familien, aber die Mütter eines großen Teiles derselben entstammen seit mehreren Generationen nicht mehr der aristokratischen, sondern der demokratischen Gesellschaftssphäre. Das Endresultat dieser genealogischen Tatsache ist, daß einem großen Teil des heutigen Adels der ihm ehemals angeborene Typ abhanden gekommen ist: der Graf Isenplitz weist heute eine Körperstruktur, eine Nasenlänge, eine Physiognomik und ein Gebärdenspiel auf, die sich von denen - je nachdem - des Herrn Müller oder des Herrn Cohn nicht mehr wesentlich unterscheiden. Die Theorie von dem Wechsel der oberen Klassen, der Circulation des Élites, muß demnach nach zwei Richtungen hin korrigiert werden: die alte Aristokratie verschwindet nicht, taucht nicht unter, wird nicht proletarisch, verarmt nicht einmal (wenigstens nicht absolut genommen), macht nicht neuen Herrschergruppen „Platz", sondern bleibt an der Spitze der Nationen, die sie jahrhundertelang leitete, stehen. Aber sie wird erstens in sich selbst geändert, verliert, ganz oder zum Teil, ihr durch in der gleichen Kaste betriebene Inzucht erworbenes und lange Zeit durch Sitte und Gesetz intakt erhaltenes Sonderblut, ihre Pureté de sang, und unterscheidet sich nunmehr von den sozial niedriger Stehenden nur noch durch den höheren Einfluß auf Staat und Gesellschaft. Kurz, der Adel ist nicht mehr eine juridisch und anthropologisch differenzierte Klasse, sondern nur noch eine gesellschaftlich differenzierte Klasse. Zweitens aber übt die alte, und selbst die verjüngte Aristokratie die Herrschaft nicht mehr allein aus, sondern ist genötigt, sie mit allerhand neuen Herrscherschichten zu teilen: frischem Beamtenadel, geadelten oder ungeadelten Prutokraten, getauften oder ungetauften Kleiderjuden, ja bisweilen selbst mit gekämmten oder ungekämmten Gelehrten. Kurz, heute gesellt sich zu der in sich bereits in hohem Grade alterierten Geburtsaristokratie eine mehr oder weniger anpassungsfähige Geldaristokratie, Rangaristokratie und Geistesaristokratie. Sie alle zusammen machen die Aristokratie im Sinne der herrschenden Klasse aus. Immer neue Elemente dringen in die ehemals feudale Aristokratie ein, drängen sich ihr auf, einen Platz neben ihr an der Sonne beanspruchend. Aber wenn er auch nicht mit der Aristokratie zusammenfällt, sondern nur einen Teil von ihr ausmacht, bemächtigt sich der Adel doch allmählich ihrer, durchdringt sie, erobert sie, drückt ihr den Stempel seiner moralischen und intellektuellen Wesenheit auf. Schon zu Zeiten des großen Ludwig kannte nicht nur die neugebackene Bourgeoisie, sondern selbst die Noblesse de robe keinen höheren Ehrgeiz, als durch intimen Umgang mit der Noblesse d'épée sozial zu gewinnen. In welchen Formen sich dieser Prozeß abspielte, ist in humoristischer Form in Molières unsterblichem Lustspiel „Le Bourgeois-Gentilhomme", in ernsterer Form in den ausgezeichneten Memoiren des Abbé de Choisy nachzulesen.27 Im heutigen Deutschland können wir die gleiche Beobachtung machen: es gibt keine gesellschaftlich selbständige, auf sich stolze Bourgeoisie. Die deutsche Bourgeoisie ist in ihren Spitzen nur eine Vorstufe zum Adel. Ihre höchste Aspiration geht dahin, erst vom Adel aufgenommen zu werden, um dann in ihm auf-
27 Abbé de Choisy, „Mémoires pour servir à l'histoire de Louis XIV". Utrecht 1727. Van de Water, p. 23.
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zugehen.28 Das betrifft zumal die sogenannt patrizischen Familien, die auf eine, wenn auch überwiegend kaufmännische, ältere Vergangenheit zurückblicken und sich auf bedeutende finanzielle Mittel stützen können. Am Rhein hat der Veradeligungsprozeß bereits mächtig eingesetzt. Der Adel, überschwemmt durch zumeist finanziellen Ursprung verratenden Neuadel ohne adlige Vergangenheit und, zum Teil, ohne aristokratische Manieren und Lebensformen und seiner alten Vorrechte bis auf den Rest der Majorats- und Fideikommißgesetzgebung und das ungeschriebene Vorrecht der fast exklusiven Besetzung der Stellen der Diplomatie und der obersten Ränge in Heer und Verwaltung beraubt, ist heute sozusagen entklassiert. Mit anderen Worten, er macht heute keinen Stand mehr aus, weil er keine allgemein gültige gesetzliche Sonderstellung mehr besitzt, und keine Klasse mehr aus, weil er noch weniger irgendwelche wirtschaftliche Konturen aufzuweisen vermag. Daher muß denn die Schaffung einer allgemeinen wirtschaftlichen Basis als erster, notwendiger Schritt empfunden werden, den durch die Demokratie differenzierten, ja volatilisierten Adel wieder zu einigen und zu konsolidieren. Der alte Adel hat es an Absonderungsversuchen dem neuen Adel gegenüber nicht fehlen lassen. Es ist ihm zum klaren Bewußtsein gekommen, daß, seitdem die Reinheit seines Blutes nicht mehr gesetzlich geschützt ist, der Adel als Rasse Gefahr läuft, unterzugehen. Es ist ihm zugleich auch nicht entgangen, daß die seit der Französischen Revolution bis auf den letzten, freilich noch beträchtlichen, aber schon nicht mehr in allen Ländern vorhandenen Rest der Majorats- und Fideikommißgesetzgebung erfolgte Abschaffung der Sonderrechte der Primogenitur seine finanzielle Kraft arg parzelliert hat. Er empfand es schmerzlich, daß der Einzug von Beamtenadel, Gelehrtenadel und Geldadel mit dem tönenden, wenn auch tönernen Geräusch der ihm verliehenen Titel und den Namen, die sich von den seinigen häufig nicht unterscheiden ließen, ihn in das Heer des Neuadels, der Roture von gestern, einrangierte und ihm die einzige Prärogative, die aus dem Namen mit untrüglicher Sicherheit hervorgehende adlige Vergangenheit, verschleierte. Es sind deshalb im Schöße des alten Adels häufig Stimmen laut geworden, die einer Regenerierung der Aristokratie das Wort reden. So meint z. B. in Italien der einem reichsunmittelbaren Uradelsgeschlechte angehörige Francesco Guasco in seinem Vorwort zu einem vielbändigen Lexikon des piemontesischen Feudaladels29: Es müsse bereits im Namen zum Ausdruck kommen, ob die Familie jemals ein Feudum besessen habe oder nicht; ob der Familienname mit dem Feudum zusammenfalle, ein Umstand, der auf die Wahrscheinlichkeit alten, ehemals mit Jurisdiktionsrechten behafteten Adels schließen lasse, oder ob der ursprünglich bürgerlichen Familie nur das Recht auf einen Adelstitel und einen dem beibehaltenen bürgerlichen Namen hinzugefugten, aber rein dekorativen Feudalnamen (Ortsnamen) verliehen wurde, was auf neuen,
28 Über die Amalgamierung alter und neuer Herrscherschichten ausführlicher in meiner Soziologie des Parteiwesens, 1. c., p. 15 ff. u. 183 ff. 29 Francesco Guasco (Marchese Francesco Guasco di Bisio), „Dizionario Feudale degli Antichi Stati Sardi e della Lombardia dall' Epoca Carolingica ai nostri tempi". Vol. I. Pinerolo 1911. Chiantore e Mascarelli.
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nach 1815 erworbenen Adel schließen lasse. Kurz, es solle schon in der Namensfiihrung zum Ausdruck kommen, ob der Adel Stand oder lediglich Prädikat bedeute. So ζ. B. sei es geboten, daß der Marchese Luigi Medici del Vascello, dessen Vorfahren einfach Medici geheißen und später den Titel Marchese und das Anhängsel del Vascello, aber ohne Besitz und Feudalrecht, erhielten, im Namen das Wort Medici stets als Erkennungszeichen mitführe. Dieser habe somit nicht die geringste Befugnis, sich Marchese Luigi del Vascello, was ein wirklich feudaler alter Adelsname sein würde, zu nennen. Ja, er dürfe sich nicht einmal als Marchese Luigi Medici bezeichnen, sondern er müsse die Worte Medici del Vascello, bürgerlichen Namen und verliehenes Anhängsel, stets unzertrennlich im Namen führen, da nur dadurch die Herkunft der Familie ersichtlich sei. Der Name würde dabei folgendermaßen zu analysieren sein. Titel: Marchese, Vorname: Luigi; Name: Medici; Prädikat: del Vascello.30 Altadlig, feudaladlig dagegen sei nur der, bei welchem Name (Familienname) und Prädikat von Rechts wegen zusammenfalle, z. B. Marchese Vittorio Saluzzo, d. h. Vittorio, mit dem Titel Marchese, aus der Familie der alten Herren des Ortes Saluzzo. Es erhellt, daß die kürzeren Namen demnach - was zu begreifen den Profanen unter den Bürgerlichen, in deren Augen die Vornehmheit eines adligen Namens mit dessen Länge zunimmt, schwer fallen mag vielfach die besten und ältesten in der Aristokratie wären. Guasco sagt: nur die Familien, welche ehemals das Recht der Jurisdiktion ausübten, dürfen den Namen der von ihnen innegehabten Feuden unmittelbar hinter ihrem Adelstitel oder dem Taufnamen oder auch, je nach Belieben, allen beiden, führen. Dieses Vorrecht sei als fügliches Andenken an den Besitz der Herrenrechte, mit denen einst ihre Familien belehnt waren, aufzufassen.31 Solchen Forderungen liegt die Zurückführung des Adels auf den Feudalbegriff zugrunde.32 Aus diesem Feudalberiff des Adels ergibt sich noch eine weitere Reihe von Forderungen. 1. Die des Verbotes der ausschließlichen Benennung nach dem Feudum auch für die Brüder und Söhne des Familienoberhauptes. Das wird ohne weiteres klar, wenn wir uns in die Zeiten der feudalen Jurisdiktion zurückversetzen. Der Adelsname, der den Besitz eines bestimmten Ortes usw. angibt, steht weder den Brüdern noch den Söhnen des noch lebenden - souveränen, herrschenden - Caput familiae zu, sondern ausschließlich dem Belehnten. 2. Den Töchtern des Adelshauses kommt lediglich der Familienname, aber nicht der Titel zu. Sie erheiraten dann allerdings Titel und Würden des Ehemanns, verlieren diese aber als Witwe wieder.33 30 Die Analogie mit deutschen Namen wie z. B. Heyl von Herrnsheim ist ohne weiteres klar. 31 Guasco, 1. c., p. X. 32 Die Verachtung des neuen Adels kommt bei Guasco auch dadurch zum Ausdruck, daß er im V. Bd. auf p. 2315 ff. die neuen, seit 1815 betitelten Adelsgeschlechter aufzählt, indem er, boshaft genug, den Beruf des Betitelten (Händler in Knöpfen, Kammerdiener), oft auch die Rasse („Jude", merkwürdigerweise nur vier Geschlechter [Levi dei Veali, zwei Ottolenghi und Weill-Weiss] unter 400), angibt. 33 Guasco, p. XIII.
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Derartige Bestrebungen sind zugleich aristokratisch und demokratisch, je nach der Art der Betrachtungsweise. Aristokratisch, weil sie aus durchaus aristokratischem Geiste geboren sind. Schon die Beschäftigung mit derlei Problemen setzt bereits das Vorhandensein aristokratischen Standesbewußtseins voraus. Aber nicht nur der Geist, auch der Wille, nicht nur der Ausgangspunkt, auch der Endpunkt ist aristokratisch, gilt es doch die Erzielung der Erhaltung bzw. Neuentfaltung auf alter Grundlage, des alten Herrenstandes. Der Franzose würde sagen: le renouveau de la classe seigneuriale. Und zwar durch Anknüpfung an die alte Geburtsstätte des Feudaladels: an den feudalen Landbesitz und den aus ihm abgeleiteten Namen und Titel. Kein Zweifel, das Beschreiten des von Guasco angegebenen Weges würde zur Wiederherstellung der Peerage fuhren, wie sie heute nur England noch besitzt. Jedoch die aristokratische Auslese, die, wenn auch nach rein äußerlichen Gesichtspunkten betrieben, sich als Folge der Reformvorschläge einstellen würde, müßte doch wieder auch demokratische Rückwirkungen hervorrufen. Der Adel würde durch sie dezimiert werden. Die große Mehrzahl der Adligen würde des Adels als solchen verlustig gehen, entadligt werden: ein grausames Schicksal, wie es radikaler kaum ein achtundvierziger Volksmann hätte ausdenken können. Was vom Adel übrigbliebe, würde in zwei schon dem Namen nach erkenntliche Klassen geteilt werden: den alten Adel aus der Zeit, in welcher der Adel noch ein Stand war, den neuen Adel, dessen Adel nur Prädikat ist. Gleichzeitig erscheint es vom Feudalstandpunkt aus auch als gegeben, der englischen Sitte der Primogenitur, wenn auch nicht mehr auf wirtschaftlichem, so doch in Ermangelung besserer Mittel zur Erreichung des Zweckes auf einem revisionistischen Wege wieder zu ihrem ehemaligen Glänze zu verhelfen. Es wird gefordert, daß, wo nicht alte verbriefte Rechte den Söhnen einer fürstlichen, gräflichen usw. Familie unterschiedslos den Titel des Vaters als Familienerbteil gewährleisten oder vermachen, oder doch nach der Genitur abgestufte, unterschiedene Adelsprädikate üblich sind, nach dem Tode des Vaters der Titel lediglich in den Besitz des ältesten Sohnes übergehen soll. Zu Lebzeiten des Vaters aber soll überhaupt keiner der Söhne Recht auf dessen Titel besitzen. Eine logische Folgerung fur wen immer, der den Adel als im, wenn auch duodezimal geschwächten, Besitz souveräner Rechte befindlich betrachtet. Ebenso wie nicht alle Söhne des Königs von Preußen nach dem Ableben desselben König von Preußen werden können, so ist es dieser Logik zur Folge absurd, wenn sich die Söhne des Grafen Kielmannsegg nach dem Tode des Familienoberhauptes alle Grafen Kielmannsegg nennen. Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Denn beide, Adel und Königtum müssen, da ihr Ursprung der gleiche, durch das gleiche Prinzip bestimmt werden. 34 Reformversuche, wie die des Marchese Guasco sind natürlich trotz ihrer inneren Logik von vornherein dazu bestimmt, auf die Verwirklichung zu verzichten. Die heutige Zeit, und der übergroße Teil des heutigen Adels selbst, wertet im Adel die
34 Noch unmöglicher sind dementsprechend natürlich die Titulaturen diminutiven Charakters, wie sie in den Familien z. B. des italienischen Adels den Kindern gegenüber gang und gäbe sind: contino, contessina, marchesino, marchesina. Sie sind rein willkürlichen Charakters und logisch unzulässig.
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Titulatur, nicht das ursprüngliche feudale Element. Die Reformen Guascos setzen zudem eine Art politischer Restauration voraus, wie sie selbst die Mächte der Heiligen Allianz nicht einzuführen gewagt haben. Die heutigen Zeiten, die im Zeichen der Arbeiterbewegung stehen, sind solchen Problemen besonders abgeneigt. Der moderne Adel selbst aber findet zu solchen, seine eigenen Scharen schwer schädigenden Experimenten keine Kräfte mehr. Indes bedeutet die Metamorphose des Adels durchaus nicht dessen gesellschaftliche Unwirksamkeit. In den Salons ist der Adel immer noch richtunggebend, wo immer es überhaupt Adel gibt. Der alte Adel erweist seine ihm immanente Anziehungskraft, deren Ätiologie wir hier nicht auseinandersetzen können, selbst dann noch, wenn er von den Regierungsgeschäften verdrängt ist. Nirgends ist die politische Macht des Adels als politische Kaste so zusammengebrochen als in Frankreich. Von dem Blutbad, in das der erste französische Stand in der großen Revolution getaucht wurde, hat er sich noch heute nicht erholt. Tausende der alten Familien sind damals ausgerottet worden. Was übrigblieb, sah sich, trotz der von den rückgekehrten Bourbonen ausgezahlten Emigrantenentschädigung, ökonomisch geschwächt und sozial vom Staate preisgegeben. Offiziell ist gegenwärtig der Adel in Frankreich abgeschafft; er genießt keinerlei Schutzes. Wer unbefugt ein Adelsprädikat annimmt, geht straflos aus. Trotz dieser staatlichen Entwertung des Adels sehen wir in Frankreich unter den guten und reichen Familien des Bürgertums, insbesondere in den Provinzen, eine Tendenz zur Nobilitation, die natürlich mangels einer zuständigen Instanz durch die Interessierten selbst erfolgt, aufkommen. Mit andern Worten, es entsteht in Frankreich selbsttätig ein neuer Adel selbsternannter Grafen und Marquis. Man sollte nun meinen, diese Karikatur des Adels bedeute den Todesstoß für den alten Adel. Das Gegenteil trifft zu. Wie uns der Vicomte d'Avenel in einem geistreichen Büchlein zu erzählen weiß und wie jeder Kenner französischen Gesellschaftslebens bezeugen kann, drängt dieser neue selbstgeschaffene Adel nach Anerkennung seitens des alten authentischen Adels. Indes diese Anerkennung wird ihm nur dann zuteil, wenn er sich Sitten und Manieren, Lebensgang und Anschauung des alten Feudaladels angeeignet hat, ihm ähnlich geworden ist, wie ein Ei dem andern.35 Auf diese Weise besteht also eine Art von Selbstverteidigung des alten Adels: er prägt, kraft seines alten, ewig jungen Prestiges und der Eleganz und Sicherheit seiner Lebensformen, den neuen Schichten der Aristokratie seinen Stempel auf und läßt sich von ihnen neues Geld und neues Blut zufuhren. Das Resultat dieser Entwicklung könnte man folgendermaßen zusammenfassen: die neuen Mächte, die aus dem sozialen Hexenkessel emporsteigen, nehmen, kaum an die Oberfläche gelangt, die Färbung der oberen Schicht an, die sie dort vorfinden. Die Anziehungskraft der alten Herrscherkaste ist so groß, daß sie sich alle jungen Mitteilhaber an der Macht in kurzer Zeitspanne assimiliert. Das adlige Noviziat aber hat, wie alle Noviziate, den inneren Drang, seine Zugehörigkeit zur alten Aristokratie durch das mit doppeltem Eifer betriebene Bestreben zu beweisen, den traditionellen Ideengehalt der
35 Vicomte Georges d'Avenel, „Les Français de mon Temps". Paris 1904. Nelson, p. 108 ff.
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alten Herrscherschicht sich zu eigen zu machen, intakt zu erhalten und eifersüchtig vor jeder Infiltration neuer geistiger Elemente zu bewahren. So sorgt das Eindringen physisch heterogener Elemente in den Adel für die psychische Integrität der Adelsmentalität. Adel und Aristokratie fallen nicht völlig zusammen. Gewiß gehört der Adel fast insgesamt zur Aristokratie, aber er deckt sich nicht mit ihr. Er macht von ihr nur einen Teil aus. Der Adel hält sich „am Ruder", es fallt ihm nirgends ein, vom Schauplatz der Geschichte zu verschwinden. Aber er kann das nur, indem er seine Reinheit preisgibt und ständig neue Elemente in sich aufnimmt. Er geht bei diesem Anpassungsprozeß aller physischen Charakteristiken verlustig. Indes gelingt es ihm, aus der Fusion psychisch als Sieger hervorzugehen und sein Wesen auf die heterogenen Elemente zu übertragen. Wir wissen nicht, ob es ein historisches Gesetz ist. Aber wir wissen, daß heute der Adel die Aristokratie bestimmt, sich ihrer bemächtigt und sie nach seinem Geiste formt.
Vilfredo Pareto1
In seiner reizvollen Villa an dem Ufer des Genfer Sees, in Céligny, nahe der waadtländischen Kleinstadt Nyon, wohnte Vilfredo Pareto, der große Tierfreund, der seine Riesenarbeit nur von Katzen umgeben zu verrichten pflegte. Dort starb er am 20. August 1923. Es gibt Menschen - sie stellen eine äußerste Seltenheit dar - die mit so glücklichem Temperament und mit so überschäumender Lebensintensität ausgestattet sind, daß wir uns in der Beschränkung unseres Geistes in von der Vernunft unkontrollierten Augenblicken leicht der Vorstellung hingeben, sie müßten unsterblich sein. Zu diesen seltenen Menschen, welche derartige unwissenschaftliche Vorstellungen zu erwecken vermochten, gehörte auch Vilfredo Pareto. So kommt es, daß die plötzliche Meldung vom Tode dieses Mannes, über dessen Alter und schwere Krankheit nicht nur die Freunde, sondern selbst die weitere Öffentlichkeit längst Bescheid wußte, von dem man aber auch wußte, daß für ihn trotz alledem der Achtstundentag ein Kinderspiel war, das er mit gewaltigem, durch Eingewöhnung erleichtertem Energieaufwand durch Hinzufugung mancher Überstunden noch ertragreicher zu gestalten bestrebt war, und der seine zahlreichen Besucher, von denen er manchen wochenlang als Gast bei sich behielt, durch seine glänzenden und schier unerschöpflichen Konversationstalente in Erstaunen setzte, alle seine Freunde wie etwas Unnatürliches, Monströses und Unmögliches traf. Während sich die meisten großen Gelehrten, sobald sie von ihrem Katheder oder ihrem elfenbeinernen Turm, ihrer tour d'ivoire, herabsteigen und sich und ihr Tun dem gewöhnlichen Tageslicht aussetzen, als recht gewöhnliche, ja, meist sogar mittelmäßige Leute entpuppen, so inspirierte der Mensch Pareto dem Analytiker ganz ähnliche Empfindungen als der Gelehrte gleichen Namens. Er hatte wirklich den Stoff eines großen Mannes an sich. Dem Eindruck absoluter Ungewöhnlichkeit seines Charakters und seines Wesens vermochte sich niemand zu entziehen. Nicht als ob Pareto ohne Fehler oder ohne Schrullen gewesen sei. Er besaß sogar von beiden ein voll gerütteltes Maß. Aber selbst diese nahmen bei ihm etwas ungewohnt Großes und Merkwürdiges an.
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Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XLVII, Heft 2; Schweizerische Zeitschrift für Statistik und Volkswirtschaft, Jahrgang LX1, Heft 1 ; Giornale degli Economisti (Roma), Heft Januar-Februar 1924.
Vilfredo Pareto
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Der Marchese Vilfredo Pareto war 1848 in Paris geboren worden. Seine Mutter war Französin, sein Vater, einem alten Genueser Adelsgeschlecht entstammend, das einige bedeutende Bankiers und Diplomaten geliefert hatte, aber von dem andere Mitglieder mit dem Genua vom Wiener Kongreß 1815 gegebenen piemontesischen Herrscherhause der Savoia nicht immer auf gutem Fuße standen, hatte sich der republikanisch-patriotischen Propaganda ergeben und ins Ausland flüchten müssen. Nach Absolvierung der Polytechnischen Hochschule in Turin, aus welcher er 1870 als diplomierter Ingenieur hervorging, begab sich der junge Vilfredo nach Florenz, wo er zunächst als Leiter großer Wirtschaftskonzerne viele Jahre lang tätig war. Dort entfaltete er sein großes Organisationstalent erst in der Direktion eines großen Eisenbahnunternehmens, dann in der Schwereisenindustrie. Gleichzeitig beschäftigte sich Pareto indes nebenamtlich mit theoretischer Nationalökonomie. Er wurde Mitglied der gelehrten Akademie der Georgofili und gab dort von 1882 an bereits einige kleinere Schriften streng theoretischen Inhalts heraus. Pareto erging sich aber auch in den Freuden angeregter Geselligkeit der obersten Gesellschaft. Er war ein ständiger Besucher der Abendunterhaltungen und Feste, welche die geistvolle Contessa Peruzzi in ihrem Palast gab. Von der feinen Lebensart, aber auch dem energischen, selbstsicheren Auftreten des kraftvollen, polemisch gerichteten Mannes wissen die florentinischen Memoirenschreiber der entsprechenden Zeitperiode vieles zu erzählen. Pareto muß von außerordentlicher Schönheit gewesen sein, nach dem Bilde zu schließen, das er mir schenkte und das ihn auf einem Maskenball der Zeit als arabischen Scheich darstellt. Im Jahre 1892 ereignete sich etwas, das dem Leben des Marchese Vilfredo Pareto eine völlig neue Richtung geben sollte. Eine kleine Gruppe leitender Staatsmänner und Professoren des Schweizer Kantons Waadt (Vaud) reiste persönlich nach Fiesole, wo Pareto, der inzwischen die Praxis aufgegeben hatte und Privatgelehrter geworden war, wohnhaft war, um ihm nach dem Tode von Léon Walras freigewordenen Lehrstuhl fur Nationalökonomie an der Universität Lausanne anzutragen. Vilfredo Pareto sagte zu und verlegte von nun an seinen Sitz nach der Schweiz, die er nicht mehr verlassen sollte. Er wurde nunmehr zum Haupt der sogenannten Lausanner Schule (Ecole de Lausanne), die sich trotz aller sonstigen Art-Verschiedenheit ihrer Komponenten durch die hervorragende Stellung, welche alle von ihnen auf dem Gebiete der Wirtschaftswissenschaften gerade der mathematischen Methode zu geben bestrebt waren, auszeichnete. Mit Recht hat Charles Gide darauf aufmerksam gemacht, daß nicht die teilweise Anhängerschaft zur Grenznutzentheorie, sondern die völlige Bevorzugung des Mathematizismus den Kem der Lausanner Schule ausgemacht habe 2 . In Lausanne hat Vilfredo Pareto einer Generation junger Westschweizer, unter denen sich jedoch auch manche Ausländer befanden - bekanntlich hat unter anderen Benito Mussolini in den Zeiten seines Schweizer Exils zu Füßen Paretos gesessen und manches kritische Wort von seinen Lippen sich zu eigen gemacht - die Prinzipien der Nationalökonomie und der Soziologie gelehrt. Hier in Lausanne entstanden jene großangelegten, 2
Charles Gide: Les hédonistes, in: Gide et Rist: Histoire des doctrines économiques etc., 1. c., p. 592 ff.
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Vilfredo Pareto
von tiefer Kenntnis der Volkswirtschaft, Technik, Naturwissenschaften, Religionsgeschichte, Politik, klassischer Literatur und Psychologie sowie von eisernem Fleiß zeugenden Publikationen, welche den Namen des Autors in der internationalen Wissenschaft bald zu einem der bekanntesten machen sollten. Hier erschien im Jahre 1896 sein „Cours d'Economie Politique" (nur französisch erschienen) und an die zehn Jahre später (1907) sein „Manuel d'Economie Politique", dem die italienische Ausgabe um ein Jahr vorangegangen war. In diesen Büchern voll tiefster Gelehrsamkeit hat Vilfredo Pareto das Verdienst gehabt, die Prämissen und Konsequenzen der ökonomischen Gleichgewichtslehre aufgezeigt und mit einer Reihe veralteter und nicht zu Ende gedachter, sogenannter ewiger Grundsätze, welche in unsere Wissenschaft Eingang gefunden hatten, aufgeräumt zu haben. Zwischen die Veröffentlichung dieser beiden Denkmäler der volkswirtschaftlichen Dogmenlehre fällt 1902, wiederum in französischer Sprache, die Herausgabe seines zweibändigen Werkes „Les Systèmes Socialistes", in welchem sich Pareto nicht nur als dem Sozialismus gegenüber durchweg pessimistisch erweist, sondern auch an die Demagogie der Demokratie die schärfste Sonde anlegt. Die Unerbittlichkeit dieser Kritik macht den Beitritt zum Fascismus, welchen Pareto nach dem Weltkrieg vollzog, in mancher Hinsicht sehr verständlich. Die schwere Herzkrankheit, die Pareto gegen 1909 befiel, veranlaßte ihn, auf seinen Lehrstuhl in Lausanne Verzicht zu leisten - nur 1916 ließ er sich noch bereden, ein kurzes Kolleg über Soziologie zu halten - und sich ganz auf sein Landhaus in Céligny zurückzuziehen. Aber sie vermochte es nicht, die unentwegte Arbeit des Gelehrten zu unterbrechen oder auch nur zu zügeln. Zudem wurde die Villa Angora immer mehr zum Zielpunkt einer wahren Pilgerfahrt junger Gelehrter aus aller Herren Ländern. Hier erstand die Schmiede, in welcher der Schmied innerhalb der folgenden fünfzehn Jahre eine weitere große Anzahl von Schriften aller Formate und auch sehr verschiedenen Inhaltes in die Welt heraussandte. Wir nennen hiervon nur den zweibändigen, in kurzem Zwischenraum in französischer und italienischer Sprache herauskommenden „Traité de Sociologie Générale" 3 . Nicht nur die von den bewußten Handlungen der Menschen bewirkten, sondern auch die von menschlicher Willkür unabhängigen Vorgänge des geschichtlichen Lebens sind von Zwecken bestimmt. Das ist die landläufige Vorstellung der Teleologie. Der Soziologie Paretos gilt indes die heutige Soziologie überhaupt durchgehend für metaphysisch; auch der Teil von ihr, der sich positivistisch nennt. Gäbe es doch sogar, wenn auch in beschränkter Anzahl „christliche" Soziologien. Unter den Begriff des metaphysischen fallt nach Pareto Auguste Comtes Philosophie Positive genau so wie der Discours sur l'Histoire Universelle des Bischofs von Meaux am Hofe des großen Ludwig, Bossuet. Denn beide Schulen sind dogmatisch. Die Verschiedenartigkeit der Dogmen untereinander tue dabei nichts zur Sache. Unter diesem Gesichtswinkel ist auch die Soziologie der Spencer, Letourneau und Degreef lediglich dogmatisch verankert, ergo metaphysisch. Wer sich im Besitz allgemeiner Wahrheiten glaubt, wird nie die Existenz
3
Lausanne-Paris 1916. Payot.
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anderer Wahrheiten in der Welt zugeben können4. Daher seien der gläubige Christ und der bissige Freidenker dem gleichen Grade von Unduldsamkeit ergeben. Pareto ist, dem oben skizzierten Sinne nach, ausgesprochen antidogmatisch. Allen bisherigen Versuchen gegenüber will Pareto mit seinen zwei gelehrten Bänden etwas ganz Neues, nämlich eine rein experimentelle Soziologie, geben, die naturwissenschaftlich gearbeitet ist, etwa wie ein physikalisches oder chemikalisches Traktat. Mit diesen Ankündigungen fuhrt uns Pareto von vornherein mit großer Klarheit in seine Absichten ein: mit der Metaphysik in den Sozialwissenschaften reinen Tisch zu machen. Wie einst Jesus Christus hält er es für seine Pflicht, den Tempel von den falschen Dienern zu reinigen und dazu den Stecken zu fuhren, dessen es bedürfe, um den falschen Propheten ihre Weisheit, die ihnen oft ganz unbewußt vom Instinkt, vom Interesse, vom Bedürfnis oder auch vom Gefühl oder sogar von der Sittlichkeit eingegeben wird, alles Dinge, die in natürlichem Widerspruch zur Wissenschaft stehen, auszutreiben. Die Geschichte der Menschheit wird in ihrem Laufe von Gefühlen, Instinkten, Begierden und Interessen bestimmt, einem psycho-physiologischen Prozeß, den Pareto unter dem Sammelbegriff Residuen, denen der Charakter der Ständigkeit und Unabänderlichkeit innewohne, zusammenfaßt. Die Residuen sind die Prämissen dessen, was Pareto dann als Derivate bezeichnet, nämlich des deduktiven Teils der Geschehnisse. Unter Derivaten versteht Pareto die Gedanken, Überlegungen, die logisch mehr oder weniger fiktiv sind (pseudologische Derivationen). Mit Hilfe ihrer versucht der Mensch seine Handlungen zu rechtfertigen und mit der Vernunft zu erklären oder seine Absichten zu „begründen". Ungeachtet solcher kläglichen Versuche bleibt die Kausalität der Theorien auf dem Urgründe der Gefühle, Instinkte, Begierden und Interessen haften. Pareto kann mithin den Begriff des Fortschritts nicht anerkennen. Schreiber dieses hat im Jahrbuch 1913 der in Paris erscheinenden Annales de l'Institut International de Sociologie darauf hinzuweisen versucht, daß die Komplexität der menschlichen Entwicklung dem Fortschritt notwendigerweise die Sicherheit, Logizität und Vollkommenheit seiner Gangart raubt. Das kollektive Leben eignet sich schlecht fur ein Schema, dem die Arroganz innewohnt, seine Erscheinungen systematisieren zu wollen. Die Konkomitanzen und die Periodizitäten der historischen Phänomenologie, in weitestem Sinne genommen, langen nicht dazu aus, ein festes Gesetz der Entwicklung zu bestimmen. Nur auf zeitlich und räumlich eng umrissenem Gebiete wird sich, immer vom rein Technischen, bei dem der Fortschritt allerdings als meßbar erscheint, abgesehen, „Fortschritt" feststellen lassen5. Pareto geht in dieser Kritik noch weiter. Ihm ist die Geschichte dem Wellenschlag vergleichbar: fluxus et refluxus. Die Erfahrung der Menschheit gibt der Wissenschaft keinerlei Anhaltspunkte für die Hypothese, daß sie
4 5
Vilfredo Pareto: Trattato di Sociologia generale. Firenze 1916, Barbèra, Vol. I, p. 3 ff. Robert Michels: Le caractère partiel et contradictoire du progrès, in Le progrès, Annales de l'Institut international de Sociologie, Tome XIV, contenant les travaux du huitième Congrès, tenu à Rome en octobre 1912. Paris 1913, Giard, p. 446 ff.
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irgendeinem Ziele zustrebe. Theorien oder Wünsche, das menschheitliche Geschehen in Prinzipien zu ordnen oder unterzuordnen, fuhren zu keinem Forschungsergebnis 6 . Pareto lehrt weiter, daß die religiösen Gebräuche der Tendenz der Veränderung um so besser standhalten, je mehr sie sich vom Residuum einer einfachen Assoziation von Ideen oder Tatsachen entfernen und je größer die in ihnen enthaltene Beimischung theologischer und metaphysischer Begriffe ist. Denn es ist leichter, die Regierungsform eines Volkes zu ändern, als seine Religion, seine Gebräuche, seine Traditionen und seine Sprache, deren Insgesamtheit die wahre nationale Substanz bilden. Daher kommt es, daß auch der radikalste Wechsel der Regierungsform den Inhalt dieser Insgesamtheit fast unberührt läßt. In dieses Kapitel gehören auch die Auffassungen und Begriffe eines Volkes über Geschlechtsmoral und deren rechtliche Niederschläge im Gesetz. Pareto führt zur Stützung seiner These die Tatsache an, daß in normalen Zeiten die Staaten nicht darauf eingehen, einander die politischer Verbrechen angeklagten Staatsfremden auszuliefern, hingegen kein Bedenken tragen, den gleichen Schritt zu tun, wenn es sich um sexuelle Häretiker handelt, trotzdem die von diesen begangenen Delikte in der Regel weit weniger gefährlich und schwerwiegend zu sein pflegen als z. B. der politische Mord. Indes könnte man Pareto darauf erwidern, daß, wenn in einem Volke die geschlechtlichen Verstöße gegen die in ihm jeweils vorhandenen (wandelbaren) Moralbegriffe schwerer empfunden und folglich auch mit schwereren Strafen belegt werden als eine Verletzung politischer Moralbegriffe, diese Wertung doch nur dann einzutreten pflegt, wenn es sich um ein einem fremden Staat zugefugtes Übel handelt, während es offenbar ist, daß ein Tribunal den Anarchisten, der sich eines Anschlags auf das Leben des Oberhauptes des Staates, dem das Tribunal angehört, schuldig gemacht hat, zu viel härteren Strafen verurteilt als den, der ein entsprechendes Delikt gegen die geltende Sexualmoral begangen hat. Was den fremden Staatsverbrecher schützt und ihm Asylrecht vindiziert, ist vielfach nur der latente Antagonismus oder doch wenigstens die Heterogenität der Staaten untereinander. Der Mailänder Nationalökonom und Patriot Graf Giuseppe Pecchio, der in der napoleonischen und nachnapoleonischen Zeit lebte, hat 1821 eine Dissertation zum Thema geschrieben, inwieweit die geistigen und wissenschaftlichen Erzeugnisse den Gesetzen der ökonomischen Produktion, also der Produktion im ganzen folgen. Die Kapitelüberschriften der Pecchioschen Dissertation lassen die soziologischen Absichten dieser höchst interessanten Schrift erkennen. Pecchio stellt unter anderem die Behauptung auf, auch in der geistigen Produktion entspräche das Angebot quantitativ und qualitativ immer der Nachfrage. An dieser These und einigen anderen hat man Giuseppe Pecchio als einen Hauptvertreter der langen Reihenfolge geistiger Vorfahren von Karl Marx erkennen wollen. Immerhin ist in Pecchio die tendenziale und entwicklungshistorische Art stärker als die eigentlich dogmatische. Sein Hauptaugenmerk ist darauf gerichtet, die Geschichte der Ökonomie von den ihr anhaftenden ideologischen Schlacken zu reinigen und die menschlichen Geschehnisse auf ihre wahren Wurzeln
6
Pareto, 1. c„ Vol. I, p. 480, Vol. II, p. 383.
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zurückzuführen, ohne daß er freilich seiner Aufgabe immer gerecht zu werden vermag, da er bisweilen der verfehmten Ideologie eine verfehmbare Neoideologie gegenüberstellt. Unendlich ist die Zahl derer, die, bewußt oder unbewußt, der soziologischen Methode Pecchios gefolgt sind. Herbert Spencer hat im zweiten Teil seiner Study of Sociology (1873) mit ebenfalls unzulänglichen Mitteln die Fälschung einiger Kardinalbegriffe in den Köpfen der Menschheit, wie sie durch ihre Zugehörigkeit zu wesentlich drei Gruppen entstanden ist, darzustellen gesucht; drei Gruppen, nämlich der der Nation, der Parteigemeinschaft und der sozialen Klasse, denen drei Fehlerquellen entsprechen. Trotzdem bekräftigt Spencer, daß die Geschichte der Menschheit in weitem Umfange in einer Geschichte der Ideen besteht. Zu solchen Ansichten steht Pareto antipodisch. Für ihn ist die Geschichte nicht Geistesgeschichte, sondern Geschichte der Leidenschaften, Instinkte und Bedürfnisse. Die Soziologie darf deshalb keine Geisteswissenschaft im alten Wortsinne sein, sondern muß zu einer Experimentalwissenschafit werden. Vielleicht würde man die Soziologie Paretos gar als Naturgeschichte der nicht-logischen Aktionen (azioni non logiche) bezeichnen können. Als solche bedeuten die beiden überstarken Bände eine wahre Fundgrube historischer Erkenntnisse. Denn Pareto ist zweifellos einer der gründlichsten Kenner der politischen, kulturellen und literarischen Geschichte, insbesondere der des Altertums, und versteht es, seine Theorien mit einem wahren Überfluß von Paradigmen aus diesem Schatz zu belegen. Als Verfasser des erotischen Pamphlets Le Mythe Vertuiste (Paris 1911, Rivière) erweist sich Pareto bekanntlich auch in der Religionsgeschichte und Theologie außerordentlich kenntnisreich. In großzügiger Weise wird von Pareto besonders auch das Wesen der Regierungskunst behandelt. In mehr als einer Hinsicht wird dabei die geistige Verwandtschaft des Genueser Nationalökonomen mit dem großen Florentiner Stadtschreiber offenbar. Beide fußen auf der stark pessimistischen Kenntnis des menschlichen Seelenlebens und auf dem völligen Verzicht auf „Predigt", das heißt auf den Versuch, die Menschen durch moralische Propaganda bessern zu wollen. Pareto zufolge ist die Kunst des Herrschens mit nichten eine Schaffung neuer Residuen, sondern besteht ganz in der Klugheit bei der Verwendung der alten. Herrschaft heißt nicht neue Ziele weisen oder Gesetze entdecken, auf Grund deren im Denken oder Wesen der Menschen Veränderungen zu erreichen wären, sondern heißt die im menschlichen Material, das die Geschichte dem Herrschenden zur Verfügung stellt, vorhandenen Tendenzen kennen und in bestimmte Bahnen leiten. Mit noch anderen Worten, Aufgabe einer weisen Regierung wäre es, die Mittel der eigenen Politik nicht zu erzeugen, wohl aber im Bestände des Gegebenen zu finden und anzuwenden. Sie vermag nicht ihrer Zeit vorauszueilen, sondern nur, mit ihr zu gehen. Bei oberflächlicher Betrachtung erscheint der Patriotismus territorial verankert, denn die modernen Nationen leiten ihn von den Ländern ab, auf denen sie sitzen. Bei näherer Hinsicht gibt indes das Territorium sozusagen nur die Folie ab zur Aufnahme einer auf ihm stattgehabten Entwicklung einer kulturellen und ethnischen Gemeinschaft des Volkes. Pareto kommt bei der Analyse des Patriotismus zu dem Schlüsse, daß er sich wissenschaftlich restlos nicht erklären lasse, wie sich auch die Religion, die Moral, der Gerechtigkeitsbegriff, der Begriff des Guten und des Schönen jeder wissenschaftlichen
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Erklärung entziehen. „Alle diese Ausdrücke erinnern einfach an gewisse Anhäufungen von Gefühlen, die keine klaren Formen und nur völlig unklare Grenzen aufweisen, Anhäufungen, die nur durch das den Aggregaten eigene Beharrungsvermögen zusammengehalten werden7. Wir werden anderen Ortes versuchen, uns mit diesen Paretoschen Begriffen oder Begriffsspaltungen kritisch auseinanderzusetzen (in einem Werk über das Vaterland). Nur eines möge vom historischen Standpunkte jetzt schon vermerkt werden: es ist nicht richtig, daß sich die Mehrzahl der modernen Völker nach den Ländern benennt, die sie besetzt halten oder hielten; sondern zumeist war der Prozeß umgekehrt: die Besitzergreifer gaben dem besetzten Land ihren völkischen Namen (Frankreich, Allemagne, Türkei, Slovenien, Rußland, Norwegen usw.), der diesem dann für immer verblieb. Angeben wollen, warum und worin die Theorien Vilfredo Paretos sich von denen des modernen Sozialismus abheben, hieße Eulen nach Athen tragen. Sein innerstes Wesen war antisozialistisch. Seine Lehre sowohl wie seine Lebens- und Denkgewohnheiten widerstrebten auf das äußerste jeder „Gesellschaft". Die ethischen Grundprinzipien, wie Gerechtigkeitsliebe, Brudersinn, Gemeinschaftsgefühl, Solidarität, auf welche die meisten Lehren des Sozialismus sich stützen, erschienen dem großen Anethiker als bloße Derivate. Für ihn bestand ferner, wie er selbst sagt, zwischen dem Mysterium der heiligen Dreieinigkeit und der Lehre vom Mehrwert bei Carl Marx keinerlei wesentlicher Unterschied, ebensowenig als es ihm zufolge zwischen dem christlichen Haß gegen den Erzfeind Teufel und dem bürgerlichen Haß gegen den dreimal bösen Sozialismus oder dem sozialistischen Haß gegen die bürgerlichen Ausbeuter keinerlei Unterschied gab. Indes unterschied Pareto zwischen Marx als Soziologen und Marx als Nationalökonomen. Letzteren verwarf er, ersterem brachte er Achtung entgegen8. Pareto war ein abgefeimter Feind der marxistischen Politik, wie sie, unrein genug, in der Politik der sozialistischen Parteien zum Ausdruck kam. Dennoch hat sich Pareto zu Zeiten gegenüber den Führern der italienischen Sozialistenpartei nachsichtig und bisweilen fast liebevoll erwiesen. Die hauptsächlichsten Ursachen hierfür mögen in folgenden zwei Momenten gesucht werden dürfen. Zunächst wandelte Pareto selbst den größten Teil des Lebens über in den Fußstapfen seines Vaters. In seinen Adern flöß das Blut des Rebellen. Er war ein erbitterter Feind der Regierung. Seine Gegnerschaft streifte fast an Republikanismus. Freilich lag in dieser ein guter Teil Aristokratismus verborgen. Spötter - denn auch der große Spötter wurde seinerseits bespottet - lachten: es sei ein Zwist zwischen dem Hause Pareto und dem Hause Savoia. Eine Privataffare. In den letzten Jahren des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts sollte sich Paretos Oppositionslust gegen die Regierung verschärfen. Er selbst hat es mehrfach ausgesprochen. Von Depretis bis Giolitti seien die Ministerschaften, welche die Geschicke Italiens regelten, mit wenigen und kurzen Ausnahmen 7 8
Pareto: Transformazione della Democrazia, Milano 1921. Corbaccio, p. 69. - Vgl. Alberto Vilfredo Pareto. Torino 1924. Gobetti, 86 pp. Pareto: Sistemi Socialisti, Milano, Ist. Ed. It., vol. VI, p. 210.
Cappa:
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unter dem Deckmantel der Demokratie rein oligarchisch, und obendrein dazu unfähig gewesen, den Übeln, an denen das Land litt, zu steuern. So wurde denn Pareto eine Zeitlang zu einem der beliebtesten Wortführer der sogenannten Estrema Sinistra (äußersten Linken), die sich aus bürgerlich Radikalen, Republikanern und Sozialisten zusammensetzte. Zumal war er der härteste und unerhörteste Verurteiler der von den Regierungen getriebenen Finanzpolitik. Daß sich Pareto hierzu vielfach der großen und angesehenen französischen und englischen nationalökonomischen und politischen Zeitschriften bediente, machte seine Kritik besonders wirksam, aber auch besonders unbequem und brachte ihm in der entsprechenden Zeitperiode den billigen Vorwurf ein, ein schlechter Italiener zu sein. Durch seine Kampfstellung zur Regierung geriet Pareto nun in enge Ellenbogenfühlung mit den Sozialisten, aus der sich dann - Solidarität besteht aus Gemeinschaft zweier oder mehrerer gegen Dritte - Bundesgenossenschaft entwickelte. Trotz der verschiedenen und oft sogar antithetischen Prämissen ihrer Angriffe gegen die Ministerien war der Aristokrat Pareto mit den Demokraten des Mailänder Secolo, den Marxisten um die Critica Sociale Turati's und den unabhängigen sozialistischen Gelehrten Ettore Ciccotti und Arturo Labriola in Praxis häufig eins. Die zweite Ursache der Gelegenheitsfreundschaft Pareto's mit den ihm theoretisch fremden Sozialisten bestand in der doppelten Vorliebe Paretos für feine, guterzogene, anständige sowie für verfolgte und geächtete Menschen. An beiden war die italienische Sozialistenpartei überreich. So wird es begreiflich, daß, als nach den blutigen Vorgängen in Mailand 1898 sich viele der bedeutendsten sozialistischen Akademiker, denen es gelungen war, sich durch die Flucht nach der nahen Schweiz dem Kerker zu entziehen, an ihn wandten, Pareto manchem von ihnen die schönen Räume und schattigen Alleen seiner Villa am Genfer See zu gastfreier Verfügung stellte9. Unter den verschiedenen sozialistischen Strömungen unterschied Pareto später zwischen den Reformisten und den Revolutionären. Für die ersteren, die ihrer taktischen Auffassung entsprechend zum Parlamentarismus und nach der Teilnahme an der Macht strebten, empfand Pareto sogleich nach der Überwindung der akuten Phase des Kampfes gegen die Regierung die gleiche Verachtung, die er den Demokraten, mit denen sie sich ja parteipolitisch bis zur Ununterscheidbarkeit vereinigt hatten, entgegenbrachte. Pareto hielt sie insgesamt für Demagogen, Charlatans und Gewinner. Anders war seine Stellung zu den revolutionären Sozialisten. In ihnen erblickte Pareto Männer von Überzeugung, von Mut und von gutem Willen. In Augenblicken des Optimismus hielt er sie sogar für fähig, eine Elite zu bilden. Denn von einigen (nicht allen) von ihnen nahm Pareto an, daß sie sich nie dazu hergeben würden, sich mit der platten und feigen Demokratie zu verschmelzen. Die erbarmungslose Kritik an der Demokratie, wie sie aus den besten spitzen Federn der syndikalistischen Schule hervorging, fand den lebhaftesten Beifall des Soziologen von Céligny, dem es nicht entging, daß sie enge Affinität mit ihm verband. Obgleich Pareto die mythologische Seite der syndikalistischen
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Roberto Michels: Storia critica del movimento socialista italiano, 1. c., p. 205.
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Theorien glatt ablehnte und ihren Gerechtigkeitsglauben nicht ernst nahm, kommt der Historiker doch nicht um die Tatsache herum, daß zu seinen treuesten Freunden, mit denen er in den letzten zehn Jahren einen ständigen Briefwechsel unterhielt, eben jener Georges Sorel gehörte, welcher der eigentliche theoretische Schöpfer des Syndikalismus war und der sich in seinem letzten, noch zu Lebzeiten Paretos herausgegebenen Werke über die Materialien zur Geschichte des Proletariats rühmen konnte, der eigentliche Begründer des russischen Bolschewismus zu sein 10 . Auch wo Pareto von Sorel abwich, behandelte er ihn stets mit ausgesuchtester Höflichkeit und kaum je, ohne jene recht ausgiebigen Gebiete historischer Betrachtung hervorzuheben, in denen er mit ihm übereinstimme. Die Bewunderung für Georges Sorel und den revolutionären Syndikalismus ist dann sogar auf einen Teil der Faszisten übergegangen". Gegenüber dem historischen Materialismus beobachtete Pareto, seinen Theorien entsprechend, eine bifrontale Haltung. Einmal hielt er daran fest, daß die materialistische Geschichtsauffassung nicht ausreiche, um die Kausalität des historischen Geschehens einwandfrei zu erklären. Geschichtliches Wirken sei stets so komplex, daß es kaum je einer Formel gelingen werde, dieser Komplexität völlig gerecht zu werden. Aber andererseits erklärte Pareto ausdrücklich, daß der historische Materialismus, obgleich rein theoretisch betrachtet, einseitig, doch sowohl der Wissenschaft an sich als auch den tatsächlichen Interessen des Proletariats ehrliche Dienste zu leisten imstande sei. Scherzweise bezeichnet Pareto die materialistische Geschichtsauffassung als den ideologischen Überbau der modernen Arbeiterklasse. Während Pareto in seinen beiden Bänden zur Kritik des Sozialismus, die er vor etwa 25 Jahren veröffentlichte (Les Systèmes Socialistes), wissenschaftlich beträchtlich weit vom Marxismus entfernt gewesen war, so scheint er in seiner Soziologie im ganzen dem historischen Materialismus wieder näherzukommen. Von der Voraussetzung ausgehend, daß es eine empirische Erkenntnis gebe, dahinlautend, daß die Wünsche und Bedürfnisse Massenhafter Differenzierung unterlägen, hält Pareto die materialistische Geschichtsauffassung für die natürliche, ihren gesellschaftlichen Bedürfnissen bestangepaßte Theorie der Arbeiterklasse, ohne daß er ihr dabei gleichzeitig die objektive allgemeine Bedeutung für die Wissenschaft zuerkennt, die Marx und seine Schüler ihr beimessen. Im ersten Bande seines Trattato di Sociologia drückt sich Pareto hierüber folgendermaßen aus: Der historische Materialismus bedeutet einen erheblichen wissenschaftlichen Fortschritt über die vorherigen Leistungen auf dem Gebiete der Geschichtsphilosophie hinaus. Diese „Bedeutung des historischen Materialismus für die Geschichte der Wissenschaften liegt darin, daß er der Erkenntnis dafür gedient hat, daß zwischen manchen Erscheinungen, wie z. B. der Moral und der Religion, kein absoluter Nexus, wie man es bisher angenommen hatte (und viele noch heute annehmen), sondern nur ein kontingentaler Nexus (ein Verhältnis, das bestehen kann, aber nicht notwendigerweise zu bestehen braucht) besteht. Außerdem besitzt die neue Lehre zweifellos einen richtigen Kern,
10 George Sorel: Matériaux d'une théorie du prolétariat. Paris 1919. Rivière (Vorrede). 11 Vgl. ζ. Β. Curzio Suckert: L'Europa vivente. Teoria storica del sindacalismo nazionale; Firenze 1923. La Voce, p. 85.
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indem sie die gegenseitige Abhängigkeit der sozialen und der ökonomischen Faktoren feststellt. Ihr Fehler liegt nur darin, daß sie in dieser gegenseitigen Abhängigkeit ein logisches Verhältnis von Ursache und Wirkung erblickt" 12 . Und im zweiten Bande fugt Pareto, zum Teil das im ersten Bande bereits Gesagte paraphrasierend, noch hinzu, daß man im ganzen zugeben müsse, daß die Gefühlswelt des Menschen sich etwa mit seiner Beschäftigungsart decke. Somit vermöchte die Theorie des sogenannten historischen Materialismus auf die Theorie der Residuen zurückgeführt zu werden, nämlich mit der Beobachtung, daß diese von dem ökonomischen Status abhängig sind. Damit würde sicher eine Wahrheit ausgesprochen sein. Falsch sei es nur, den ökonomischen Status von den übrigen sozialen Erscheinungen, mit denen er in Wechselwirkung stehe, trennen zu wollen und eine einzige Ursache für die beobachtete Wirkung anzunehmen, während in Wirklichkeit ganze Reihen von Aktionen und Reaktionen durch die gegenseitige Abhängigkeit verschiedener Phänomene voneinander ausgelöst werden können. 13 In einem anderen Punkt, in welchem Pareto von der Theorie des Klassenkampfes abweicht, geht die Kontroverse vielleicht mehr gegen den Ökonomisten als gegen den Soziologen Marx und zumal gegen die Schar der Epigonen, zur Unterscheidung von denen der Meister selbst zu sagen pflegte, er sei nicht Marxist. Pareto leugnete die Kompaktheit beider in Antagonismus stehenden Hauptklassen, indem er darauf aufmerksam machte, daß innerhalb des Proletariats selbst ein Kampf besteht zwischen Organisierten und Unorganisierten, Klassenbewußten und Nicht-Klassenbewußten und innerhalb der Bourgeoisie die Kleinbourgeoisie nach Staatshilfe gegen die Warenhäuser und überhaupt die Konkurrenz der Fleißigen und Tüchtigen, welche sie als unlauteren Wettbewerb bezeichnet, schreit 14 . Allerdings versteht Marx unter Klassenkampf (ein Ausdruck, der über die Zahl der miteinander kämpfenden Klassen nichts auszusprechen weiß) nicht die Absenz von Unterklassen, sondern nur die Präsenz von Oberklassen. Immerhin steht die Klassenkampftheorie der Zweiklassentheorie sehr nahe. Der Komplex von Ursachen, welcher Pareto vor dem wissenschaftlichen und menschlichen Wert der Lehren des historischen Materialismus Achtung abrang, fand im wesentlichen in zwei Gedankenreihen Ausdruck: a) Die Trennung von Gefühl, Instinkt und Interesse gilt Pareto nur für die Wissenschaft angezeigt, nicht für die Politik. Denn Pareto ist weit davon entfernt, für die praktische Politik und das Menschenleben überhaupt (welch ersteres ihn allerdings in keiner Weise interessiert, und über welch letzteres er sich in keiner Weise äußert) den Wert des Glaubens und des Gefühls zu bestreiten. Er lehrt umgekehrt sogar, daß der Glaube und mehr noch, der Kampf zwischen den verschiedenen Glaubenslehren um den Menschen, einen geradezu unentbehrlichen Zement für ein gesundes Volksleben darstellen. Pareto spricht die Überzeugung aus, daß ein Volk senza fede - Sorel würde sagen sans mythe - seinen Wert einbüßen müßte, weil das Volk sich ohne Glauben in den sumpfigen Niederungen der Tatenlosigkeit und Faulheit oder gar blöder Laster-
12 Ι , ρ . 4 2 6 . 13 II, p. 2 7 5 - 7 7 . S. auch Pareto's Sistemi Socialisti, 1. c. p. 211. 14 Pareto, Sistemi Socialisti, 1. c., p. 267.
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haftigkeit verlieren müßte15. Die nicht logischen Aktionen haben eine tiefe Daseinsberechtigung, denn es wäre ein kindischer Irrtum, anzunehmen, daß der Mensch der Religion völlig entbehren könne und sie mit einfachen wissenschaftlichen Formen zu ersetzen vermöchte16. Im Mittelpunkt des Paretoschen Wissens steht die ganz scharfe logische Scheidung zwischen dem Begriff des Nutzens und dem Begriff der Wahrheit. Daher auch der Zwiespalt bei ihm zwischen der sozialen, politischen usw. Nützlichkeit, Brauchbarkeit einer Theorie und ihrem Verhältnis zu den Tatsachen (objektive Wahrheit). Pareto hält dafür, daß, politisch betrachtet, Wahrheit schädlich, Unwahrheit (Illusion) nützlich sein kann. Das gilt ihm zumal für die hohe nationale Politik. Im Jahre 1673 hat der englische Philosoph Bernard de Mandeville, ein französischer Abkömmling, eine satyrische Fabel geschrieben, die ihn an allen europäischen Höfen beliebt machte, ihn aber seitens aller Moralisten heftigsten Angriffen aussetzte. In dieser Schrift stellte Mandeville die Gleichung auf private vices = public benefits17. Die Lasterhaftigkeit des Privaten (Luxus, Verschwendung usw.) vermag öffentlicher Wohlfahrt zu nützen. Pareto würde ein derart maniriertes Apodiktikum nicht unterschrieben haben. Indes ist es unzweifelhaft, daß er den geistigen Direktiven Mandevilles sehr viel näher steht als sagen wir dem englischen Utilitarismus eines Bentham, mit seiner Gleichsetzung der Begriffe oder doch wenigstens der praktischen Wirksamkeit von Gut und Nützlich. b) Pareto erkannte im historischen Materialismus, wie wir sahen, auch einen an sich berechtigten Kern. Ähnlich wie Marx-Engels im kommunistischen Manifest den deutschen oder wahren Sozialismus ihrer Zeit hernahmen, so machte sich Pareto weidlich über diejenigen bürgerlichen Gelehrten lustig, welche die Existenz von Klassenkämpfen rundweg verneinten und Liberalismus und Optimismus für zwei Ausdrücke für den gleichen Gegenstand erachteten. Das Vorhandensein von Armut und Reichtum in der Gesellschaft leugnen wollen, weil beide aus unendlichen Nuancen bestehen, sei aber genau so, als ob man auf dem Gebiete der Preisbildung die Begriffe von teuer und billig leugne, nur weil es auch mittlere Preise gäbe. Die tatsächlichen sanften und fast unmerklichen Übergänge zwischen den Klassen nimmt der Existenz von Gesellschaftsklassen nichts von ihrem Charakter einer objektiv feststellbaren Tatsache18. Pareto spricht Marx seine Anerkennung darüber aus, gerade auf soziologischem Gebiete viele Gedanken geklärt und andere populär gemacht zu haben, die vor ihm entweder überhaupt nicht erkannt oder nur von wenigen ausgesprochen worden seien und zumal jene ad absurdum gefuhrt zu haben, welche die Tatsachen durch die Gedanken der Menschen erklären zu können vorgaben, während in Wirklichkeit die Verhältnisse ganz anders lägen19.
15 p. 264. 16 p. 283. 17 (Mandeville): La fable des abeilles ou les fripons devenus honnêtes gens. Avec le commentaire où l'on prouve que les vices des particuliers tendent à l'avantage du public. 6 eme ed. Londres 1640. Au dépens de la compagnie. 6 Bände; s. zumai Band I. 18 p. 236. 19 S. 219.
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Zusammenfassend spricht Pareto dem historischen Materialismus den Charakter der Kritik, Wissenschaftlichkeit und Realität zu und rechnet ihn zu den großen Gedankengängen, die der Darwinismus hervorgerufen habe. Als solcher mache er einen Teil einer tief-wahren Begriffslehre aus und man müsse gerechterweise die Energie und die geistige Kraft bewundern, mit welcher Marx ihn gegen alles und gegen alle verteidigt habe20. Es wäre gewiß interessant, die hier nur angedeuteten Vergleiche zwischen den Lehrgebäuden Paretos und Marxens einmal näher auszuführen und anzuzeigen, wo der dogmatische Gegensatz zwischen beiden Männern beginnt und wo er aufhört. Im Jahre 1917 lud das Rektorat der Universität Lausanne die Hochschulen der ganzen Welt ein, das fünfundzwanzigjährige Lehrjubiläum Paretos feierlich zu begehen21. Pareto war damals an die siebzig Jahre alt. Man befand sich mitten im Kriege; die Welt stand in Flammen. Trotzdem beteiligten sich die Universitäten der wichtigsten Länder an diesem Freudenfest. Die Schweiz, Frankreich, Italien, Amerika entsandten zum Feste eine stattliche Schar von gelehrten Gratulanten. Aus Deutschland erhielt der Jubilar eine Adresse von der Universität Frankfurt am Main; gerade diese unerwartete Ehrung aus Feindesland war ihm über alles lieb. Das Fest legte von der allgemeinen Anerkennung Zeugnis ab, die Pareto genoß. Das war nicht wenig, wenn man in Betracht zieht, daß die hohe wissenschaftliche, um Schulmeinungen und offizielle Positionen in Wissenschaft und Politik völlig unbesorgte Art des Schriftstellers, seine öffentliche und private, oft an den Hohenzollernkönig Friedrich II. erinnernde maßlose Spottlust und seine bisweilen anmaßende Art den Fachkollegen gegenüber - denn es war schwer, vor seinen Augen Gnade zu finden, und er bezeichnete die ganzen sozialen, sozialpolitischen, sozialethischen, sozialistischen, historischen und konservativ-staatsfreundlichen Schulen von Loria bis Gide und Schmoller mit dem boshaften Sammelnamen der Economia Letteraria (die literarischen Ökonomiker, das Wort literarisch hier etwa im Sinne des verächtlich gemeinten französischen Ausdrucks C'est de la littérature genommen) Vilfredo Pareto eine große Reihe hochmögender Feinde geschaffen hatte. Das Hauptziel des Lebenswerkes Paretos hat stets darin bestanden, die sozialen und ökonomischen Wissenschaften nach Möglichkeit mit einer Methodik auszustatten, welche der Experimentalmethode der Naturwissenschaften nahe käme und sie somit vor übereilten und unsicheren, weil unbeweisbaren Resultaten tunlichst sicherstelle. Deshalb hat Pareto, obgleich er doch den Gefühlen, der Pflicht, dem Glauben und dem Idealen jedweder politischen, wissenschaftlichen oder konfessionellen Meinung großen Wert für das Menschenleben wie für das Völkerleben beilegte, da er nur die Gefühle für fähig hielt, Aktion zu erzeugen und dem Marasmus und der Schlamperei entgegenzu-
20 S. 220/21. 21 Die Broschüre aus der Feder des Turiner Nationalökonomen Gino Borgatta (L'opera sociologica e le feste giubilali di Vilfredo Pareto. Torino 1917. S. T. E. N.) gibt einen ausführlichen Bericht über die zu Ehren Paretos an der Universität Lausanne 1917 stattgehabten Feierlichkeiten. Die bei diesem Anlaß von Pareto selbst sowie von Gide aus Paris, Pantaleoni aus Rom und anderen gehaltenen Reden geben ein treffliches Bild vom Stande der soziologischen Wissenschaft und den Ansichten und Absichten des Gefeierten selbst und dürften in keiner Bücherei fehlen.
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wirken, es als seine einzige Aufgabe betrachtet, Wissenschaft zu treiben im Sinne dessen, was er als Réalité expérimentale betrachtete. Der Weltkrieg ließ Pareto kalt, obgleich er ihn aufs intensivste beschäftigte. Er ersah in ihm vor allen Dingen ein massenpsychologisches Beobachtungsfeld von riesigstem Ausmaß, ohne daß ihm gelang, die idealen und nationalen Elemente in ihm zu erfassen. Seinen ursprünglichen Plan, den beiden Bänden seiner theoretischen Soziologie noch einen dritten anzuhängen, in welchem er die reiche Ausbeute des Weltkrieges vorgenommen haben würde, ließ er alsbald wieder fallen, einmal ob des überwältigenden Stoffes, der sich ihm geboten hätte, dann wohl auch, weil er seine physischen Kräfte als einer solchen Aufgabe nicht mehr gewachsen fühlte. Einige Aufsätze, welche er im Luganer, von Bignami herausgegebenen Coenobium und in der Mailänder, von Rignano herausgegebenen Scientia noch während des Krieges selbst veröffentlichte, lassen erkennen, wie rein wissenschaftlich und neutral bis zur Skepsis seine Stellungnahme den Ereignissen gegenüber war. In Deutschland sah er ein dreistes Draufgängertum ohne innere Absorptionskraft oder Assimilationsvermögen, verkörpert in Wilhelm II. und noch verschlimmert durch die demokratisch-stümperhafte Scheinheiligkeit von Männern wie Bethmann-Hollweg. An der Entente aber andererseits stieß ihn gerade das ab, was er sein Leben lang wissenschaftlich bekämpft hatte, die reine, auf die Massen berechnete Demokratie. So ließ sich denn Pareto auch in privaten Gesprächen, in denen er sich ohnehin die Zügel schießen ließ, zu Schärfen verleiten, in denen der Antidemokrat den Italiener bisweilen verdrängt zu haben schien. Daß er dennoch tiefinnerlichst italienisch fühlte, möge eine Anekdote beweisen, für die ich als Gast und Augenzeuge bürgen kann: Als wir in den Wochen nach der italienischen Niederlage bei Caporetto bei Tische saßen und sich Pareto heftigst über das „verdiente Schicksal" Italiens erging, brachte jemand die Gazette de Lausanne mit der Nachricht, daß es der Heeresfuhrung gelungen sei, den Vormarsch der Österreicher auf die lombardische Tiefebene und die vor mutiger Erwartung bebende Stadt Mailand aufzuhalten. Schweigend stand Pareto auf und kehrte nach einigen Minuten ebenso schweigsam wieder zurück, ein paar Flaschen Champagner unter dem Arm. Und schweigend wurde angestoßen. In seinem Gesicht aber leuchtete es. Einige Monate vor seinem Tode wurde Pareto noch Zeitgenosse des Umschwunges der Dinge in Italien durch die Eroberung der Staatsmacht durch den Faszismus. Wie erwähnt, erteilte der Weise von Céligny dieser Bewegung seinen Segen. Auch wurde Pareto zu guter Letzt um seiner Verdienste um das Ansehen der italienischen Wissenschaft im Auslande noch von Mussolino zum Senator des Königreichs ernannt. Die Verwunderung war groß darüber, um so mehr, als seine Haltung im Kriege zu Kritik Anlaß gegeben hatte. Und doch ist die Theorie des Faszismus in wichtigen Punkten auf Pareto aufgebaut, der ja, auch wo er mit den Liberalen zusammenarbeitete, doch im letzten Grunde ein Verächter der liberalen Ideologie und zumal des Freiheitsbegriffes war22.
22 Luigi Stirati: Il fascismo osservato attraverso le Teorie di Vilfredo Pareto. La Vita Italiana (Roma), Anno XIII, fase. CL/CLII, p. II ff.
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Pareto ist einer der Inspiratoren Mussolinos gewesen. Pareto hat einen reichen Schatz politischer Schriften hinterlassen, auch, ja gerade aus seinen letzten Jahren. Nach seinem Tode gingen einige der für seine Ansichten charakteristischen Gedankensplitter unter dem vielleicht etwas zu volltönenden Titel eines politischen Testamentes durch die periodische Presse Italiens23. Sie sind nicht nur an sich interessant, sondern auch noch aus dem eingangs angedeuteten Grunde, nämlich, weil sie ein bestehendes System typisch zum Ausdruck bringen, das Pareto mit diesen seinen Ideen zum Teil vielleicht sogar selbst mitverursacht hat, belangreich. Zunächst ist Pareto ein Ungläubiger in puncto Volkssouveränität. Er bringt der Volksvertretung ehrlichste Mißachtung entgegen. Der Fascismus wünscht, von den Massen getragen zu werden. Er nennt seinen Marsch auf Rom ein „bewaffnetes Plebiszit". Aus denselben Gründen hält Pareto dafür, daß zum Regieren zwar die Zustimmung der Massen, nicht aber ihre Mitwirkung nötig sei. Sich auf ein parlamentarisches Mehr stützen zu wollen, sei ungenügend, denn jede Majorität sei steter Gefahr der Zersplitterung und des Abfalles ausgesetzt. Mit bloßer Gewalt zu regieren, sei ebenfalls nicht ratsam. Die Basis der Regierung müsse deshalb außer in der Macht auch im Beifall der öffentlichen Meinung fußen; zu diesem Zwecke leisteten Parlament und Referendum zunächst ganz nützliche Dienste. Deshalb ist auch Pareto immerhin nicht gesonnen, sich für die Abschaffung der Parlamente einzusetzen. Da die Einrichtung der Volksvertretung nun einmal bestehe, meint er, müsse man sie beibehalten. Die Aufgabe des Staatsmannes beschränke sich schlechterdings darauf, Mittel und Wege ausfindig zu machen, der Gefährlichkeit des Parlamentarismus nach Kräften vorzubeugen. Das geschehe einmal durch ein allfälliges Zurückgehen auf die ursprünglichere, direkte Form der Demokratie, die zwar auch nicht gut, aber doch besser als die spätere, indirekte, sei. Pareto sagt wörtlich: f-b/faherrschaft ist nicht viel wert, aber sie ist immer noch mehr wert als die Herrschaft der Volksvertretung. Hierbei verweist er auf die Schweiz, welche im Referendum ein Korrektiv für das Prinzip der Volksvertretung gefunden habe. Auf England dürften sich die Freunde des Parlamentarismus jedenfalls nicht berufen; denn die dortige sogenannte Demokratie bestehe, bei Licht besehen, nur aus der Diktatur einer der beiden großen historischen Parteien (wohin die gegenwärtige politische Krise in England führe, sei noch nicht abzusehen). Es müsse sich also darum handeln, den Parlamentarismus zur Schonung der im Volke noch lebendigen demokratischen Ideologien als dekoratives Element zu belassen, ihn aber gleichzeitig unschädlich zu machen. Besonders wichtig ist für Pareto die Preßfreiheit, ohne welche sich keine Macht auf die Dauer halten könne. Durch die Nichtbeachtung dieses Gebotes der Klugheit hätten sich schon Napoleon III. und der russische Zarismus das Grab gegraben. Die Zensur ist ein schlechtes Mittel zum Herrschen, einerlei, ob es sich um den Kampf gegen die Unsittlichkeit oder um den Kampf gegen den Umsturz handele. „Laßt nur die Krähen krächzen, seid aber unerbittlich darin, den Tatsachen entgegenzutreten!" ruft Pareto, 23 Vilfredo Pareto: Testamento politico. Pochi punti d'un futuro ordinamento costituzionale, in Giornale Economico, I, Nr. 18 (Rom, Sept. 1923).
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ganz im Geiste des wissenschaftlichen Schöpfers der Theorie der Staatsraison, Giovanni Botero (1589), den Leitern des Staates zu. Auch an einer anderen Stelle seines politischen Testamentes hält Pareto mit eindringlichen Worten die Machthaber dazu an, die Gedankenfreiheit der Massen zu achten und an den Gefühlen und Meinungen der Massen nicht gleichgültig vorbeizugehen. Denn es sei nicht die Aufgabe der Regierung, einer kleinen Gruppe die Handhabe dafür zu bieten, sich der Machtmittel des Staates zu bedienen, um der Masse ihre persönlichen Empfindungen aufzudrängen. Indes kommt so die politische Strategie Paretos unausgesprochenermaßen letzten Endes doch wieder auf ein vorsichtiges Abwägen der gegebenen Grundbedingungen der Herrschaft heraus. Sie bedingt jedenfalls, was man auch an ihr aussetzen möge, keine reaktionäre Desperadopolitik, sondern bietet, wie Pareto selbst rühmend erklärt, Machiavellismus. Aber einen geläuterten Machiavellismus, der sich zu seinen Zwecken der Errungenschaften und Erkenntnisse der modernen Massenpsychologie sowie der Lehren der neueren Geschichte bedient. Für Pareto ergibt sich die wesentliche Unschädlichmachung des Parlamentarismus als Endresultat einer Verschiebung des maßgebenden politischen Einflusses von der Abgeordnetenkammer auf die Elite. Nur in den großen Fragen der hohen Politik will Pareto das Parlament als massenpsychologisches oder gar massenpathologisches Element gelten und zu Wort kommen lassen. In allen Fragen der praktischen Kompetenz aber soll nicht es, sondern sollen die großen Strömungen des nationalen Gesamtkörpers, welche ihre vornehmste und natürlichste Spitze in der Regierung haben, entscheiden. Und er spricht sich dabei lobend über die Fascisten aus, die auf dem besten Wege seien, die Schaffung dieser - außerparlamentarischen - machtvollen Elite in die Wege zu leiten. Es wurde in der Tat fascistische Absicht, das Staatswesen dem Prinzip der Elite unterzuordnen. Zu dieser Elite sollen übrigens neben einsichtsreichen Produzentenräten auch Konsumentenräte zu einer Art erweitertem Staatsrat herangezogen werden. Paretos Gelehrtenleben ist zu Ende gegangen, bevor es ihm vergönnt gewesen wäre, mehr als bloß mitratend in die Speichen der Geschichte des italienischen Faszismus einzugreifen.
[Klassenbildung und Kreislauf der Eliten]
1. Zur Lehre von der Klassenbildung Der bedeutende kanonische Philosoph Nicola Spedalieri hat in seiner durch die Gedankengänge der französischen Revolution angeregten Gegenschrift De' Diritti dell' Uomo, 1791, den Klassenbegriff für eine Fiktion erklärt, entstanden aus dem Abstraktionsbedürfnis denkender Menschen, begierig in der Fülle des Besonderen das Allgemeine zu erkennen und Normen zu bilden. Dadurch würden sie dazu verleitet, das unendlich Differenzierte der Typen aus den Augen zu verlieren 1 . Das ist psychologisch und biologisch zutreffend. Unter beiden Gesichtspunkten ist jeder Mensch eine Welt, Subjekt zugleich und Objekt wissenschaftlicher Betrachtungsmöglichkeit. Aber nationalökonomisch und soziologisch kommen wir auf diesem Wege nicht weiter. Hier müssen wir abstrahieren und subsummieren, und bei dieser Arbeit wird der Klassenbegriff nicht fehlen dürfen. Wer Klasse sagt, sagt Scheidung. Wer von sozialer Solidarität redet, bejaht die Voraussetzung sozialer Antagonismen. Daß dabei die Begriffe Scheidung und Antagonismus genetisch die primären, die Begriffe Klasse und Solidarität die sekundären, abgeleiteten, sind, ist nach logischen und empirischen Gesetzen gleich sonnenklar. Somit ist es angängig, die These aufzustellen, daß es der Widerstreit der Interessen ist, der den eigentlichen Mutterboden der Klassenspaltung ausmacht oder, umgekehrt ausgedrückt, daß der Begriff Klasse das Vorhandensein einer Interessengemeinschaft voraussetzt. *
* *
I. Die Homogeneität der beruflichen Handlungen der Menschen fuhrt zur Analyse der Gesellschaft nach Berufsklassen. Die gebräuchliche Gruppierung der menschlichen Aggregate ist dann die Einteilung derselben in Zugehörige zur Urproduktion, zur Stoffveredlung und zum Gewerbe, zum Handel, zu den freien Berufen, zur Beamtenschaft und zum Militär. Ähnliche Kriterien werden immer noch in den meisten offiziellen Statistiken angewandt, bei denen freilich der Begriff Klasse auf das bedenklichste 1
Nicola Spedalieri, De' Diritti dell' Uomo. Assisi 1791. p. 32.
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schwankt. So findet sich ζ. B. dieser Begriff in der deutschen, der schweizerischen und der italienischen Statistik, obgleich deren Bearbeiter gewiß in regem geistigen „Austausch"verkehr stehen, in verschiedener Bedeutung angewandt. Eine eigenartige Sonderstellung nimmt die objektivierte Klassifikation der Berufsstände bei Quesnay und den Physiokraten ein. Die Einteilung der Gesellschaft in Klassen, wie wir sie bei Quesnay vorfinden2, ist eine rein abstrakte: 1. Die produktive Klasse, Landwirte, Pächter und Landarbeiter, ohne eigentliche Unterscheidung der arbeitsteiligen Gliederung, oder gar Berücksichtigung der Verteilung des Gesamtarbeitseinkommens oder des Erwerbs. 2. Die landbesitzende Klasse, welcher auch der König und die Zehntberechtigten zuzuteilen sind, und 3. die sog. unfruchtbare Klasse, welche aus allen den Elementen zusammengesetzt ist, die sich mit anderen als landwirtschaftlichen Diensten und Arbeiten beschäftigen und der zumal die in Handel und Gewerbe Beschäftigten zuzuzählen sind. Die Unterscheidungsmerkmale dieser drei Klassen bestehen in ihrer verschiedenartigen Beziehung zum Lande. Als produktive Klasse gilt diejenige, welche den jährlichen Reichtum der Nation durch die Bebauung des Bodens stets neu schafft, die Kosten für die landwirtschaftlichen Arbeiten vorschießt und jährlich die Einkommen der Grundbesitzer herauswirtschaftet. Die Klasse der Grundbesitzer lebt von dem ihr zufließenden Reinertrag der Landwirtschaft, der jährlich von der produktiven Klasse ausbezahlt wird, nachdem diese von der jährlichen Reproduktion der Güter jenen Teil des Reichtums abgezogen hat, der zur Deckung ihrer jährlichen Vorschüsse und zur Erhaltung ihrer Betriebsmittel nötig ist. Die grundbesitzende Klasse ist als retrospektiv mitwirtschaftend gedacht. Ihre Rente bezieht sie en échange de ses avances foncières, als Entgelt für von ihr, wenn auch nicht immer von ihrem jeweilig lebenden Personenkreise zur Bereitstellung und Instandhaltung der Anbaufläche geleisteten Dienste. Die sterile Klasse, die weder Land bebaut, noch Land besitzt, konsumiert den ihr fur ihre Lieferungen und Dienstleistungen von der produktiven und der grundbesitzenden Klasse ausbezahlten Betrag alljährlich vollständig für ihren Unterhalt und die ihr zur Arbeit notwendigen Rohstoffe, ohne jemals einen Überschuß an nationalem Reichtum zu erzielen. Das gleiche kommt typisch zum Ausdruck, wenn Le Trosne von den Handwerkern behauptet, sie produzierten nicht, sie verdienten bloß, oder wenn Dupont de Nemours die Landleute als die Zahlenden (les payants), die Industriellen hingegen als die Bezahlten (les payés) betrachtet, oder wenn Turgot letztere einfach als les stipendiés de la classe agricole qualifiziert3. Somit ist und bleibt die Klasseneinteilung ausschließlich und schematisch aus dem Dogma der allein Werte erzeugenden Landwirtschaft abgeleitet. Es entsteht eine subjektive Bewertung der Klassen je nach ihrem Verhältnis zu dem von ihrem Verfasser angenommenen wirtschaftlichen Zentralwert des produit net. Die Quesnayschen Klas-
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Œuvres Economiques et Philosophiques de François Quesnay. Francfort-Paris 1888. Peelman. p. 305. Charles Gide et Charles Rist, Histoire des Doctrines Economiques depuis les Physiocrates. Paris 1909. Larose et Tenin. p. 15.
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sen des Tableau Economique sind also weder einheitlich Besitzklassen, noch Berufsklassen, noch Erwerbsklassen. Immerhin befinden sich bei Quesnay auch freilich nur ganz rohe Ansätze zu einer sozialökonomischen Klassenscheidung. So spricht er gelegentlich von der besitzlosen Bevölkerung, qui est la plus nombreuse. Das sind die dernières classes des citoyens, du petit peuple, bas peuple, menu peuple, die nicht selbständige Unternehmer sind. Sie verdienen besonderen Schutz seitens der Regierung 4 . Auch sonst übersehen die Physiokraten nicht die Existenz von Besitzklassen. Aber diese Erkenntnis läßt seltsamerweise ihre Auffassung von der Dreigliederung der Klassen in bezug auf die Erzeugung des nationalen Reichtums unberührt. Die Interessengemeinschaft der modernen Klasse ist eine freie, bewegliche. Die ständische Gliederung der Gesellschaft ist durch die Rechtsgleichheit (Ehefreiheit, Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, freie Erhältlichkeit aller Ämter ohne Rücksicht auf Herkunft, also Erklärung der Menschenrechte) zerstört. Deshalb waren die französischen Demokraten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überzeugt, daß es nach der französischen Revolution überhaupt keine Klassen mehr geben könne. Sie seien „abgeschafft". So setzt Duclerc noch in der 3. Auflage des Dictionnaire Politique (herausgegeben 1848 von GarnierPagès) den Begriff Klasse als gleichbedeutend mit Unterdrückung, Privileg und coalition d'égoïsmes. Die Aufgabe der Revolution sei es gewesen, de confondre les classes et de classer les individus5. Das heißt freilich confondre den Begriff Klasse mit dem Begriff Stand; es sei denn, daß unter dem Ausdruck classer des individus die Bildung neuer Klassen durch juridisch freie Auswahl verstanden sein sollte. Die liberale Weltanschauung in Frankreich (und anderswo) leugnet noch heute die Existenz von Gesellschaftsklassen. Clémenceau hat in einer Rede (1907) die Behauptung aufgestellt und verfochten, die heutige Bourgeoisie sei keine Klasse, sondern nur das Resultat einer sozialen Auslese. Der Bourgeois sei häufig nichts anderes als ein prolétaire parvenu 6 . Das ist immer noch die gleiche Verwechslung von Klasse und Kaste. Wer aber Klasse nur im Sinne der Abgeschlossenheit faßt, dem fehlen alle historischen Grundbegriffe. II. Die Homogeneität des Besitzes führt zur Aufstellung von Besitzklassen, die Homogeneität des Erwerbs führt zur Aufstellung von Erwerbsklassen. Das prinzipielle Unterscheidungsmerkmal zwischen den Erwerbsklassen und den Besitzklassen besteht in dem unkonzentrischen Charakter des Erwerbs für den Besitz. Es gibt Bezieher großer Erwerbseinkommen ohne Besitz großer Vermögen, sogar überhaupt ohne Vermögen. Selbst das größte Einkommen braucht nicht zu Vermögen zu führen. Die Gleichheit der Erwerbseinkommen braucht nicht notwendigerweise eine Gleichheit der Besitze hervorzurufen. Dazu ist zunächst schon die Vermögensungleichheit zu groß. Wir sehen dabei ferner noch davon ab, daß die Differentiation der Kaufkraft des Geldes in Raum und Zeit die Gleichheit der Erwerbshöhen vielfach durchbricht und sie da als bloßen Schein erkennen läßt, wo das ungeübte Auge gleiches Sein annimmt. Auch die Verschiedenheit der an die Gleichheit der in Geld ausge-
4 5 6
Quesnay, p. 335. Gide et Rist, p. 227. Léon Pirará, De l'Ordre Social. Paris-Bruxelles 1910. Libègue. p. 250.
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drückten Erwerbsquote aus den individuell und national gegliederten Bedürfhissen und Lebensgewohnheiten heraus gestellten Anforderungen verunmöglicht eine aprioristische Parallelstellung der beiden in Frage stehenden Begriffe Einkommenshöhe und Besitzstand. Mit anderen Worten, was sich zwischen die Besitzklasse und die Erwerbsklasse störend einschiebt, ist der standard of living, il tenor di vita, die Lebenshaltung der Massen wie der Einzelnen. Sie ist es, die die Erwerbsklassen sozusagen zerpflückt und ihrer Einheitlichkeit Abbruch tut. Die Lebenshaltungsgrößen spalten die Erwerbsklassen, indem sie ihre Splitter verschiedenen Besitzklassen zufuhren. Oder auch: sie orientieren Bruchteile verschiedener Erwerbsklassen zu einer gleichen Besitzklasse. Die Lebenshaltung gibt sich konkret gefaßt in der Ausgabenverteilung kund. Sie erscheint mithin statistisch meßbar an den Haushaltungsbudgets. In den ersten Jahren des Jahrhunderts war die Geldarbeitslöhnung der amerikanischen Arbeiter unter sonst gleichen Voraussetzungen zwei- bis dreimal so hoch als in Deutschland. Indes der ungleich höhere Bedarf des amerikanischen Proletariats an Wohnung, Kleidung und Nahrung hatte zur Folge, daß der ihm über diese Ausgaben hinaus verbleibende Überschuß der so viel höheren Geldlöhne einen geringeren Prozentsatz derselben (etwa 25 %) bildete als bei seinen deutschen Klassengenossen (30 %)7. Die Erwerbseinkommen unterliegen demnach bezüglich der diesen etwa innewohnenden Sparkraft den verschiedensten, das Ausgabenbudget differenzierenden Momenten: 1. Den herrschenden Traditionen. Hier ist die Lebenshaltung bedingt durch gesellschaftliche Ehrbegriffe von Rangklassen, die ihre Angehörigen zwingen, auf einem bestimmten Fuß zu leben. Der standesgemäßen Lebensführung entspricht ein bestimmtes Maß von (einkommensverzehrenden oder gar vermögensschwächenden) Ausgaben. Beispiel: in der deutschen, speziell der preußischen Armee (vor 1918) bestand das Obligatorium der jungen verheirateten Offiziere, mindestens einmal pro Jahr die Vorgesetzten und Kameraden mit ihren Frauen zu Gast zu laden. Überhaupt die Repräsentationspflichten, die zu „glänzendem Elend" zu fuhren vermögen8. 2. Den Anforderungen an das Leben. Eudämonismus. Leben und leben lassen (in bestimmtem Sinne). Die Vielseitigkeit der Bedürfnisse (Kunst, Luxus), einerlei ob sie nun inneren oder äußeren Umständen (individuellen Ansprüchen oder Bedürfnissen des Temperamentes, der „Seele" usw.) entquellen. Wie schon die ersten auf diesem Gebiete in Preußen angestellten Studien erwiesen, lief dort die Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses im großen und ganzen der allgemeinen Lebenshaltung der verschiedenen Bevölkerungsklassen parallel und gibt deshalb ein anschauliches Bild von den Wohlstandsverhältnissen in den Groß- und Mittelstädten. Hier würden die Wohnklassen also etwa den Gesellschaftsklassen ent-
7 8
Werner Sombart, Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? Tübingen 1906. Mohr. p. 93, 121. Rudolf Krafft, Glänzendes Elend. Offene Kritik der Verhältnisse unserer Offizierskorps. Ed. Stuttgart 1896. Lutz. p. 88. Hans von Kahlenberg, Misere. Dresden 1897. Reissner. 321 pp.; F. S. Endres, Soziologische Struktur und ihre entsprechende Ideologie des deutschen Offizierkorps vor dem Weltkrieg. Archiv für Sozialwissenschaft. Vol. LVIII, 1927.
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sprechen. In vielen Ländern und Epochen wird sich indes die Bourgoisie im Wohnungswesen durch höhere Bedürfnisse (Bedürfnis nach einem Wohnzimmer, einer „guten Stube", einem Salon, drawing room, salotto) von den übrigen Gesellschaftsschichten mit gleich hohem Einkommen abheben. Ob man andererseits die Einzimmerwohner alle schlechthin der proletarischen Klasse zurechnen sollte (wodurch man in Königsberg, Berlin und Hamburg ohnehin schon 5 0 - 6 0 % der Bevölkerung dieser Klasse zuschieben müßte), steht wiederum dahin 9 . 3. Den Einflüssen der wirtschaftlichen Konjunkturen. Krisenzeiten mit großen Vermögensverlusten und Valutazusammenbrüchen, welche die sicheren Freuden des Heute vor der Unsicherheit des Morgen als Gewinn erscheinen lassen, erzeugen Verachtung des Geldes, und Neigung zu raschem Lebensgenuß. Wer mit eisernem Fleiß und Sparsinn ein kleines Vermögen zusammengebracht hat und dieses durch Teuerung und Valutaschwund virtuell zerfließen (oder vertrocknen) sieht, wird die freiwilligen Entbehrungen der Vergangenheit mit ihren Ersparnissen bereuen und das noch vorhandene oder neuverdiente entwertete Geld nunmehr leichter zu fröhlichem Eintagsgenuß verwenden. III. Die Gleichheit des Einkommens bedingt an sich auch nicht die Gleichheit der Klasse. Gleichheit ist nicht vorhanden, wo 1. der Beruf ernstes Vorstudium voraussetzt, 2. die Art der Arbeitsleistung professionelles Selbstbewußtsein und Tradition geschaffen hat, und 3. (mit 1 und 2 zusammenhängend) ein Berufswechsel normaliter ausgeschlossen ist. Hier erscheinen Isolierungsphänomene, Trennungslinien, die auch bei Gleichheit des Einkommens die Gleichheit eines entsprechenden Klassenempfindens, außer bei Gemeinsamkeit ganz elementarer Sorgen um den Besitzstand, ausschließen. Angenommen, ein Basler Seidenfabrikant, ein Berner Medizinprofessor und ein Freiburger Agrarier erfreuen sich gleicherweise eines Gesamteinkommens von 50 000 Frs. Dann hätten sie aber trotzdem nicht nur in ihrer jeweiligen Eigenschaft als Industrieller, als Festbesoldeter und als Agrarier häufig durchaus einander zuwiderlaufende wirtschaftliche Interessen, sondern auch ihre geistige Interessensphäre bliebe infolge ihrer verschiedenartigen beruflichen Vorbildung eine gänzlich andere 10 . Andererseits wird die Gleichheit des Einkommens dort zur Gleichheit eines Klassenempfindens fuhren, wo der Beruf ohne tiefere Vorbereitung ausgeübt werden, die Art der Arbeitsleistung ihrem Charakter nach im Ausübenden kein Gefühl des Verbundenseins oder des Verwachsens erzeugt und Berufswechsel anstandslos vorgenommen werden kann11. Die Massen der ungelernten Arbeiter fluten beständig zwischen der Vornahme verschiedener Arbeitsarten hin und her, je nach den Konjunkturen. Aber auch gelernte Arbeiter
9 Richard Michaelis, Die Gliederung der Gesellschaft nach dem Wohlstande, auf Grund der neueren amtlichen deutschen Einkommens- und Wohnungsstatistik. Leipzig 1878. Duncker und Humblot. p. 114-116. 10 „Ein kleiner Handwerker mit ebenso geringem Einkommen wie ein Industriearbeiter, oder ein völlig vermögensloser Privatgelehrter, Schriftsteller oder Künstler mit dem gleichen Einkommen wie diese beiden, sie alle gehören nur wegen der Einkommensgleichheit noch keineswegs klassenmäßig zusammen ..." (GerhardAlbrecht, Die sozialen Klassen. Leipzig 1926. Quelle, p. 40). 11 Max Weber, Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Tübingen 1921. Mohr. Vol. I, p. 177.
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vermögen nicht immer geistig mit ihrer Arbeit zu verwachsen. Soll sich eine Knopflochnäherin in einer Schuhfabrik als Schusterin fühlen, oder vermag, frägt Sombart 12 mit Recht, der Arbeiter in einer Insektenpulverfabrik oder in einer Hühneraugenringefabrik ein innerliches Verhältnis zu seiner Tätigkeit, so etwas wie Berufsstolz, zu gewinnen? Hier wird infolgedessen das Bewußtsein der einzelnen Kategorien schlechterdings nur darin bestehen, zur Masse der Arbeiter zu gehören, ohne alle Spezifizierung oder Ausschmückung. Die Einkommensstatistik umfaßt Personen, die den verschiedensten Lebensaltern angehören. Die in dieser Statistik bewerkstelligte Gruppenbildung gibt aber auch keinerlei feste Norm für die Zugehörigkeit der einzelnen Komponenten zu bestimmten sozialen Klassen. Viele gehören der Gruppe, in welche sie eingereiht sind, nur während eines, durch ihr Alter bedingten, Übergangstadiums an. Die Einkommensklasse ist für sie schlechterdings nur eine Etappe, der ein Anfangsgehalt entspricht, das binnen kurzem, vielleicht sogar gesetzlich, also mit bekanntem Termin, überwunden werden wird, wonach sie automatisch in eine neue „Einkommensklasse" aufrücken. Mit Recht weist Ammon hier auf noch eine weitere Fehlerquelle hin: während nämlich die studierenden Söhne der höheren Stände fast niemals vor dem 20. bis 25. Jahre Einkommen erzielen und daher von der Statistik nicht erfaßt werden, wird jeder über 16 Jahre alte Junge aus den unteren sozialen Schichten, sobald er eigenen Verdienst aufweist, einzeln gezählt. Während eine Unterbeamtenfamilie mit 1 500 (Vorkriegs-)Mark und zwei in der Lehre befindlichen, noch nichts verdienenden Söhnen in der Klasse von 8 0 0 - 1 600 Mk. Einkommen als eine Einheit figuriert, wird eine Fabrikarbeiterfamilie, bei welcher der Vater und zwei Söhne sagen wir 600, 500 und 400 Mk., zusammen also ebenfalls 1 500 Mk. verdienen, mit drei Einheiten in den unter 800 Mk. liegenden Einkommensklassen untergebracht. Das Ergebnis dieser irreführenden Klassifizierung, die sich freilich steuertechnisch kaum vermeiden läßt, besteht darin, daß nunmehr „die unteren Steuerklassen zu voll, die mittleren zu leer" erscheinen und somit der Aufbau der gesellschaftlichen Pyramide als unten zu untersetzt, zu proletarisch wirkt 13 . Dem gegenüber vermöchte aber auch die Summe des Familien-Gesamteinkommens nur ein rein äußeres Bild zu geben, nämlich uns nur die Kenntnis davon zu vermitteln, daß eine Anzahl Familien gleich viel zum Leben haben. Aber die Belastung vermag im ersten Falle auf dem Vater, der allein die Existenzmittel für die Familie herbeischaffen muß, zu liegen, während die Arbeit in einem zweiten Falle auf mehrere Schultern verteilt ist. Auch hiervon abgesehen kann man sagen, daß die Dynamik der Arbeitsleistung in beiden Fällen verschieden liegt. Die zweite Familie muß drei ihrer Mitglieder in Lohnarbeit stellen, während bei ersterer zur Erreichung der gleichen Erwerbshöhe ein Mitglied ausreicht. Wenn man also nicht grundsätzlich verschieden zu bewertende Leistungen annehmen wollte, müßte man darauf kommen, hier auf das Vorhandensein von „sozialer
12 Werner Sombart, Das Proletariat. Frankfurt a. M. 1906, Rütten und Loening. p. 66. 13 Otto Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen. 3. Auflage. Jena 1900. Fischer, p. 102.
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Ungerechtigkeit" zu schließen. Auf alle Fälle ist die Unterbringung beider Familien in die gleiche Einkommenklasse unter sozialen Gesichtspunkten ein Paradoxon. IV. Eine Gefahr bei der Bestimmung von Einkommen und Beuf liegt am Übersehen der Häufigkeit ihrer Pluralität. Weder Einkommen noch Beruf sind stets einheitlich bestimmbar. Es gibt Nebenberuf und Nebeneinkommen. Beide sind deutlich Akzessorien. Das Nebeneinkommen tritt logisch an Bedeutung hinter das Haupteinkommen, der Nebenberuf liefert logisch einen geringeren Erwerb als der Hauptberuf und nimmt häufig, wenn auch längst nicht immer, einen geringeren Teil der Arbeitskraft in Anspruch als jener. Aber das Nebeneinkommen verändert die Gesamteinkommenshöhe. Wenn sich jedoch verschiedene Einkommen zur Unterbringung in eine Einkommensklasse subsummieren lassen, vermag das gleiche mit dem Nebenberuf nicht zu geschehen. Der Nebenberuf kann sich in einer anderen Klasse abspielen als der Hauptberuf. Der Mensch mag auch in seiner Wertschätzung den Nebenberuf dem Hauptberuf vorziehen. Dann liegen seine Klassengefuhle nicht da, wo das Schwergewicht seiner wirtschaftlichen Existenz liegt. Auch an sozialer Geltungskraft, an Tradition, vermag der Nebenberuf über dem Hauptberuf zu stehen. Es hat viele Dichter gegeben, die ihren Pegasus nicht mit dem Erlös ihrer Werke, sondern mit dem Hafer ihrer als Bureauschreiber gewonnenen Verdienste futterten. Ein uns befreundeter bedeutender französischer Philosoph ist nicht einmal nebenamtlich Philosophieprofessor, sondern Rechnungsführer eines großen Altmännerhospizes. Ein deutscher Historiker, Gymnasiallehrer und Privatdozent an der Universität, bekam einmal Schwierigkeiten, weil er in einem Fragebogen seine Dozentur, die ihm 60 Mk. pro Jahr einbrachte, als Haupt-, seine, wenigstens vorläufige, Lebensstellung dagegen als Nebenberuf angegeben hatte. Die Beispiele ließen sich mehren. Vielen ist das Halten eines Nebenberufes nicht ökonomisch, aber psychologisch Bedürfnis, sei es, daß sie ihr Hauptberuf nicht fesselt, nicht „ausfüllt", sei es, daß ihr Temperament, dem Fourierschen Gesetz der Papillonne folgend, eine allfällige Vornahme von Wechsel in der Beschäftigung fordert (le travail diversifié). Überdies ist auch das Kriterium der Hauptbeschäftigung selbst Objekt statistischen Streites geworden. In Deutschland hat man von 1882 ab, wo man zuerst zwischen Haupt- und Nebenbeschäftigung in der Berufszählung unterschieden hat, nur jene Personen in die Klasse der Erwerbstätigen aufgenommen, deren hauptsächlichste Tätigkeit auf Erwerb gerichtet war, während man in Österreich 1880 und Frankreich 1886 auch die gelegentlich oder nebenbei Erwerbenden dem erwerbstätigen Teil der Bevölkerung hinzurechnete. V. Es entsteht die Frage: Ist der Einfluß der Eigentumsverteilung auf die Bildung der Berufsklassen oder der Einfluß der Berufsklassen auf die Bildung der Eigentumsstaffelung größer? Wir berühren hier eine Kontroverse, die in Deutschland ζ. B. zwischen Schmoller und Karl Bücher ausgefochten worden ist. Nach Bücher werden die Besitzstände allmählich zu Berufsständen 14 . Bei Schmoller ist umgekehrt der Berufsstand das
14 Karl Bücher, Die Entstehung der Volkswirtschaft. 12. Aufl. Tübingen 1919. Laupp. p. 355 ff.
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primäre Element. Bei jenem entsteht Arbeitsteilung aus der Besitzverschiedenheit, bei diesem Besitzverschiedenheit aus der Arbeitsteilung15. Die objektiven Maßstäbe zur Bestimmung der Zugehörigkeit zu den verschiedenen Eigentumskiassen, bzw. zur Fixierung von deren Grenzen und sozialen Qualifizierung („reich" und „arm") sind den größten Schwankungen unterworfen. An allgemeingültigen Kriterien gebricht es völlig. Dafür sorgt schon die Individualpsychologie. Fragt einen Mann im Besitz von 1 Million Mark, wo seinem Dafürhalten nach der Reichtum beginne. Er wird antworten, er beginne bei den Besitzern von 1 100 000 Mark153. So gewaltig ist nicht nur die Furcht, Neid zu erwecken, sondern auch die natürliche menschliche Unzufriedenheit mit der eigenen Lage. Die Besitzer der gleichen Vermögen gehören ebensowenig unter allen Umständen der gleichen Klasse an, wie die Besitzer gleicher Einkommen16. Ist ein Bildungs- und ein Empfindungsunterschied vorhanden, so wirken die gleichen Größen nicht amalgamierend. Der nouveau riche, der große erfolgreiche Schieber, der villan rifatto, wird von seinem steuermäßig Gleichgestellten, der sich aber des Reichtums schon in der vierten Generation erfreut, nicht als seinesgleichen anerkannt werden. Weltanschauung, Ton, Lebensführung, Standard, esprit de corps, Geschmack, selbst in der Auswahl der Gebrauchsgegenstände, scheiden die beiden Kategorien. Die natürliche Anpassung der niederen an die höheren, sowie die Anziehungskraft gleicher ökonomischer Potenzen wird freilich auf die Dauer dennoch die Fusion erzeugen. Es ist noch immer das ersehnte Schicksal der neuen Eliten gewesen, in den alten aufzugehen17. VI. Sozial unterliegt die Rangordnung der Klassen bei gleicher Erwerbs- oder Besitzhöhe noch allerhand Imponderabilien. Eine derartige Rangordnung ist ohnehin stets objektiv unbrauchbar, weil sie überwiegend dem subjektiven Ermessen anheimgegeben erscheint oder juristischen Normen unterliegt, deren Leben das Licht der Sonne nicht verträgt. Nur die absolut geldmäßige Wertung der verschiedenen Personen und der Ausschluß der qualitativ gefärbten Berufsarten durch eine exklusiv quantitative Komparation der Besitzbestände vermag hier vorübergehend objektive Maßstäbe zu schaffen. Wo, wie in einigen anglosächsischen Ländern historisch neueren Datums, die soziale Schätzung des Menschen nach der Höhe seines Vermögens geschieht, gehört derjenige, welcher forty thousand dollars worth ist, eben deshalb in eine höhere Gesellschaftsklasse als sein Nachbar, der nur thirty thousand dollars worth ist. In traditionsbeschwerteren Ländern und Zeiten, welche die menschlichen Aggregate zugleich mit mehreren, verschiedenen Maßstäben messen, ist die Bestimmung der Höhenlage des Einzelnen vielfach vexata quaestio. Wenn eine „balleteuse" einen calicot (Ladenjüngling), eine Theaterchoristin einen Budiker, oder eine Prima donna einen armen Nobile
15 Gustav Schmoller, Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre. 3. Aufl. Leipzig 1908. Duncker u. Humblot. p. 432 ff. 15a Vgl. auch Umberto Ricci, Dal Protezionismo al Sindacalismo. Bari 1926. Laterza, p. 103. 16 Vgl. p. 7 dieser Studie. 17 Vgl. p. 42 ff. dieser Studie.
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ehelicht, werden beide Sippen leicht geneigt sein, an eine Mesalliance zu glauben. Der Bohémien hält den Bourgeois, und dieser jenen, für unter seiner Würde 18 . Der Begriff der Gesellschaftsklasse ist von dem der Berufsklasse, dem der Vermögensklasse und dem der Einkommensklasse zu trennen. Denn in der Tat getrennt sind die wissenschaftlichen Ausgangspunkte. Die Berufsklasse ist eine natürliche Folgeerscheinung technischer Arbeitsteilung. Die Vermögensklasse und die Erwerbsklasse sind ökonomische Kategorien, die eine eine solche der Eigentumsverteilung, die andere eine solche der Arbeitsrente. Der Begriff der Gesellschaftsklasse hingegen ist der lebendigere. Er impliziert die menschliche Psychologie. Die Differenzierung der Gesellschaftsklassen kann nicht abstrahieren von der Differenzierung der Ideologien. Sie ist verankert in den gruppenmäßig verschiedene Solidaritätssphären entwickelnden Bewußtseinsinhalten; sie ist mithin auch nichtökonomischer Provenienz. Die Objektivierung der Klassen durch die Zugrundelegung irgendwie gearteter Gemeinsamkeit äußerer Lebensbedingungen der Wirtschaftsmenschen wird die Insgesamtheit der klassenbildenden Faktoren keineswegs fassen können. Wissenschaftlich wäre deshalb eine mehr kasuistische Behandlung des Problems anzustreben, wenn diese Behandlung nicht aus Ursachen der Massenhaftigkeit auf mechanische Widerstände stoßen würde, deren sie nicht Herrin zu werden vermöchte. Den doppelten Charakter der Klasse als eines ökonomischen Aggregates und eines sozialen Aggregates könnte man vielleicht auch mit Maffeo Pantaleoni als aus einmal quantitativen und das andere Mal qualitativen Merkmalen zusammengesetzt bezeichnen. Innerhalb des Kreises der wirtschaftlich herrschenden Klassen selbst findet ein steter Kampf statt zwischen den verschiedenen Einkommengruppen, deren Interessen durch Herkunft und Verbrauch der Renten geschieden sind: Stadt und Land, Industrie und Landwirtschaft, Getreidebau und Viehzucht. Als Unterscheidungsmerkmal der Klassen dient einmal die Quantität der von ihnen besessenen Wirtschaftsgüter und zweitens die Qualität der Produktionsmittel, deren sie sich im Kampf ums Dasein bedienen. Denn beides braucht keinesfalls in einer Klasse zu konvergieren. Daher die Kämpfe zwischen gleich „reichen" - Grundbesitzerschichten und Industriellen und - gleich „armen" Landproletariern und Industrieproletariern 19 . Indes auch die gleiche Einkommenshöhe und gleiche Art der (besessenen oder auch der nicht besessenen) Produktionsmittel reichen noch nicht aus, um die soziale Sphäre zu fixieren. Die Klassen vermögen sich auch nach der Anlage der Kapitalien und der örtlichen Lage des Rohstoff- und zumal des Absatzmarktes zu differenzieren. In Zeiten wirtschaftlicher Not rufen die spezifischen Export- und die spezifischen Importinteressen Klassenscheidungen innerhalb ähnlicher Einkommen- und Produktionsmittelbesitzklassen hervor: Exportindustrie und Innenmarktindustrie, Exportindustrie mit Verwertung ausländischer Rohstoffe, sowie Exportindustrie ohne Verwertung ausländischer Rohstoffe, und so weiter. Diese verschiedenen Interessen platzen häufiger, als wohl angenommen wird, aufeinander. In den
18 Vgl. meine Abhandlung, Zur Soziologie der Bohème und ihrer Zusammenhänge mit dem geistigen Proletariat, in den Jahrbüchern f. Nationalökonomie u. Statistik, Bd. 136, p. 801 ff. 19 Maffeo Pantaleoni, Scritti Vari di Economia. Vol. III. Roma 1910. Castellani, p. 217.
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heutigen - einerlei ob valutaschwachen oder valutastarken - Staaten liegt die Hauptscheidung der Interessen zwischen den exportierenden und den importierenden Schichten mit ihren entsprechenden Anhängen. Nur daß sich zwischen diese beiden Kategorien eine dritte, vielleicht gleich große, einschiebt, bei der eine Symbiose beider vorliegt (Importeure von Rohstoffen zum Behufe späterer Ausfuhr von Fertigprodukten) 20 . Die Gegensätze kommen überall zur Geltung, zumal auf dem Gebiete der Handels- und Zollpolitik, und noch mehr auf dem der Valutapolitik. Bei der Frage der Stabilisierung der Währungen darf diese Seite des Problems zur Aufklärung vieler inneren Widerstände dienen. VII. Die Einteilung der Gesellschaftsklassen in Arbeiter und Nichtarbeiter ist eine alte. Sie geht zwar von einem wirtschaftlichen Kriterium, dem Produktionsfaktor menschliche Arbeit, aus, mündet aber leicht in das breite Bett der ethischen Betrachtungsweise. Der Kampf gegen den Müßiggang beherrscht die ganze merkantilistische Literatur 21 . Es war erst den liberalen Wirtschaftstheoretikern vorbehalten, den Müßiggang zu rechtfertigen, oder begrifflich auf ein so geringes Maß zu reduzieren, daß von ihm nichts mehr übrig blieb, oder gar ihn als angeblich schnellem wirtschaftlichem Niedergang geweiht bevölkerungstechnisch überhaupt hinwegzueskamotieren 22 . Die Grenzbestimmungen zwischen Arbeiter und Nichtarbeiter sind unsicherer Natur. Dafür bieten die theoretischen Exkurse unserer Klassiker über die Unterbringung der sogenannten gesellschaftliche Dienste Leistenden, der produktiven und unproduktiven Schichten usw. hinreichende Beweise. Auch gibt es Arbeitsarten und Methoden, die nur dem Ungeübten oder Böswilligen als eitles Nichtstun erscheinen. Bei vielen geistigen und künstlerischen Berufen ist die sichtbare Arbeitsperiode oft an das Vorausgehen von langen Inkubationsperioden gebunden, in denen das beobachtende Auge am Arbeitenden keinerlei Vornahme von wahrnehmbarer Arbeit gewahrt. Die longue et douce rêverie, meinetwegen in der Hängematte, das anscheinend faule Herumreisen durch Land und durch Leute, sind nur der Auftakt zu mancher Glanzleistung menschlicher Arbeitskraft und Arbeitsenergie gewesen. Selbst das absolute Fehlen von beruflicher Arbeit, in ihrem wirtschaftlichen Ausdruck umschrieben durch die Fristung des Lebens mittelst arbeitslosem Einkommen, darf nicht in allen Fällen als gesellschaftsschädlich betrachtet 20 Oder auch der „Veredlungsverkehr", der bereits im Mittelalter in Blüte stand, wie in der Appretur der französischen und flandrischen Stoffe durch die Calimala in Florenz und deren Wiederausfuhr nach den Ursprungsländern (vgl. Armando Sapori, Una Compagnia di Calimala ai primi del Trecento. Firenze 1932. Olschki). 21 Vgl. für Italien die Werturteile der Ricci, Broggia, Genovesi, Zanon, Palmieri und anderer nationalökonomischen Klassiker, im Indexband (Vol. L) der Scrittori Classici Italiani di Economia Milano 1816. Destefanis, p. 314. 22 Gustave de Molinari (Comment se résoudra la question sociale. Paris 1896. Guillaumin, p. 235) erklärte, daß die reichen Leute, die zwar nicht arbeiteten, sich aber mit der Verwaltung des Vermögens beschäftigten, nicht den Müßiggängern zugezählt werden dürften, und behauptete, daß die anderen Reichen, welche auch auf die Ausübung dieser letzteren Funktion Verzicht leisteten und sich darauf beschränkten „à toucher le montant de leur fermage et de leurs loyers, et de détacher les coupons de leurs valeurs mobilières", durch die Konsumierung ihres Vermögens bald von selbst zu armen Leuten würden.
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werden und läßt nicht einmal ein ethisches, geschweige denn ein eudämonistisches Endurteil zu. Denn auf dem Gebiete der Arbeitslosigkeit ist der Mäcen erwachsen und vielfach auch der unerschrockene, selbstsichere, weil wirtschaftlich selbständige, idealistische, ehrenamtliche Staatsmann 23 . Das gilt zumal für die ländliche Form des Absentismus (Abwesenheit der rechtlichen Besitzer von der Betriebsführung, Leben an anderem Ort von der Bodenrente), kann aber auch da Geltung haben, wo in der Industrie, im Handel und im Verkehr Absentismus vorkommt, wie zumal bei den modernen Erwerbsgesellschaften, im Aktienwesen 24 . Einigen Kategorien von Menschen hat die Statistik bezüglich der Messung ihrer Arbeitsleistung ohnehin längste Zeit hilflos gegenübergestanden. Mit den Hausfrauen, den casalinghe, deren Arbeitsaufwand und Arbeitsleistung wußte sie wirtschaftlich schlechterdings nichts anzufangen. Sie verwies sie in allerhand Rubriken wie berufslose Angehörige, berufslose Selbständige. In der italienischen Statistik erschien die massaia typisch in einer Verlegenheitskategorie Condizioni non professionali, zusammen mit den Kapitalisten, Rentenverzehrern, Schülern und Studenten, Berufslosen, Gefangenen, Bettlern und Dirnen. Treffliche Statistiker wie Rauchberg waren der Meinung, daß hauswirtschaftliche Tätigkeit keinen eigentlichen Beruf begründe, da sie, ohne selbst in diesem Sinne erwerbend zu sein, ihr Einkommen aus dem Arbeitsertrag der Berufstätigen ableite, denn für Berufstätigkeit entscheidend sei nur die Stellung in der arbeitsteiligen Organisation der Weltwirtschaft und die Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion materieller und immaterieller Güter. Es ist aber grundfalsch anzunehmen, daß die Hausfrau eine wirtschaftlich passive Funktion ausübe. Sie ist Konsumentin nur in dem Sinne, daß Konsumtion, um mit Gothein zu reden, die letzte Stufe der Produktion ist, welche die Güter in die zur Vollendung geeignete Form bringt 25 . Jean Baptiste Colbert riet seinem König, sein Volk als in zwei Klassen (conditions) eingeteilt zu betrachten, die, welche die Tendenz besitzen, sich der Arbeit zu entziehen (tendent à se soustraire au travail) und die, welche durch ihr arbeitsames Leben zum öffentlichen Wohl beisteuern (tendent au bien public). Zu ersteren rechnete Colbert den müßiggehenden Teil des Adels und wohl auch einen guten Teil der Mönche und Nonnen. Zu letzteren, ganz merkantilistisch, die Soldaten, die Kaufleute, Ackerbauern und Tagelöhner (laboureurs et gens de journée). Den ersteren müsse der Staat des Leben tunlichst schwer machen (rendre difficile la vie), den anderen müsse er das Dasein tunlichst erleichtern und sie ehren 26 . Von einer solchen Auffassung bis zur Aufstellung vom Recht auf den vollen Arbeitsertrag war der Weg ein gegebener. Das Postulat des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag gehört in seiner Genese der französischen und englischen Naturrechtslehre um die Mitte des achtzehnten Jahrhun-
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Otto Ammon, 1. c., pp. 88, 102. Gerolamo Gatti, Agricoltura e Socialismo. Milano-Palermo 1900. Sandron. p. 112. Robert undLisbeth Wilbrandt, Die deutsche Frau im Beruf. Berlin 1902. Moser, p. 57. Augustin Thierry, Essai sur l'Histoire, la Formation et les Progrès du Tiers Etat. 4. Aufl. Paris 1864. Furner. p. 237 ff.
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derts an27. In den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts gelangte dann der Maßstab vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein arbeitslosen Einkommens in den Mittelpunkt der Lehre von den gesellschaftlichen Klassen. Schon im Globe (1825) hob Prosper Enfantin als den wichtigsten Klassengegensatz den Gegensatz zwischen solchen, die vom Ertrag ihrer Arbeit, und solchen, die vom Ertrag fremder Arbeit leben, als maßgebend hervor. Bei ihm und der gesamten Schule des Saint Simon liegt der Klassenunterschied zwischen den travailleurs und den oisifs. Beide erscheinen in einige Unterklassen eingeteilt. Die oisifs, auch bourgeois genannt - die Definition bourgeois lautet: le bourgeois vit du travail autrui28 - , leben entweder von Miete, von Pacht oder von Zins29. Diese Klasse bildet das Subjekt der Steuergesetzgebung: l'exploitation des oisifs. Die travailleurs, oder auch producteurs genannt, umfassen ihrerseits drei Kategorien, die Künstler, die Gelehrten und die Industriellen. Die ersten haben die Aufgabe, die Menschen zu bessern, die zweiten, sie zu belehren, die dritten, sie zu bereichern30. Die Klasse der industriels begreift Arbeiter in Lohn und wirtschaftsleitende patrons zugleich. Auch Jean B. Say, der zünftige Nationalökonom und Smith-Jünger, schließt Unternehmer, Arbeiter und Erfinder in eine Klasse, die der industrieux oder industriels, zusammen31. Doch entgeht es den Saint-Simonisten keineswegs, daß die Verschiedenheit der Erwerbshöhen die große Arbeitsklasse sozial selbst wieder horizontal spaltet. Sie fühlen sogar den wirtschaftspolitischen Gegensatz zwischen den beiden Typen heraus. So wird der Unternehmer zum travailleur propriétaire, dessen Interessen nicht mit denen seines Mitklassengenossen travailleur übereinstimmen, sondern ihn zur Solidarität mit dem propriétaire oisif drängen, mit dem ihn die Furcht vor wirtschaftlichen Schädigungen durch die Unbotmäßigkeit der Lohnarbeit (la crainte commune du désordre) verbindet32. Übrigens hat auch Jean B. Say die Spaltung innerhalb der classe industrieuse wahrgenommen, indem er darauf hinwies, daß es nicht nur einen Gegensatz zwischen Konsumenten und Produzenten, sondern auch einen solchen zwischen Arbeitern und Unternehmern gäbe33. Das Kriterium des arbeitslosen Einkommens spaltet aber auch die soziale Einheit des Proletariats. Schon Enfantin schied den travailleur en activité vom travailleur en retraite, welcher von Pensionen lebe und zu leben berechtigt sei34. Es ist hier offenbar der von Ersparnissen eigener Arbeit lebende Arbeiter oder doch Handwerker gemeint.
27 Anton Menger, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag in geschichtlicher Darstellung. 4. Aufl. Stuttgart-Berlin 1910. Cotta, p. 24 ff. 28 Enfantin, in Economie Politique et Politique. Religion Saint-Simonienne. 2. Aufl. Paris 1832. Globe, p. 73. 29 p. 62. 30 p. 75-76. 31 Jean Baptiste Say, Cours complet d'Economie politique pratique des Sociétés. Paris 1829. Rapilly. Vol. IV, p. 113. 32 Enfantin, p. 96. 33 Say, Cours Complet, 1. c., vol. IV, p. 115. 34 Enfantin, p. 45, 95-96.
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Der von eigenen Ersparnissen lebende Rentner ist feilich kein oisif. Hier würde die Gruppenschicht also wieder etwa der Altersschicht entsprechen. Hingegen ist auch eine Kategorie Armer vorhanden, die ganz wesentlich arbeitslos ist, ohne daß bei ihr eine Beschränkung dieses Zustandes auf ein bestimmtes Lebensalter zuträfe. Das sind die parasitarischen Existenzen in den unteren Klassen, Lumpenproletariat, les classes dangereuses, Vagabunden und lichtscheues Gesindel. Sie entsprechen, am Kriterium Arbeit gemessen, den oisifs unter den Kapitalisten. Der geringste Ansatz von produktiver Arbeit findet sich ausgesprochenermaßen in den beiden extremen Klassen der ganz hohen und der ganz niedrigen Einkommen, bei den Billionären und bei den Lumpen. Die Existenz beider erhärtet die These, daß der Grad der Arbeitsleistung für die Bildung von Besitzesklassen unmaßgeblich ist. Dies wird auch durch die Feststellung einiger Gesellschaftsforscher um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, die da behaupteten, die manufactoring poor und ouvriers machine, d. h. die Industriearbeiter, befänden sich teilweise in einer schlimmeren Notlage als die Armenunterstützung genießenden paupers, bestätigt35. Die Fehlerhaftigkeit des exklusiven Kriteriums des arbeitslosen Einkommens für die Klassenscheidung wurde in der Tat offenbar. Zum mindesten schob sich zwischen die beiden Klassen sichtbar eine dritte ein, die synthetisch von beidem, Arbeitseinkommen und arbeitslosem Einkommen, lebte. Der Owenschüler Edmonds unterscheidet 1828 zwischen wages (jede Arbeitsrente) und revenue, welch letztere von ihm dem arbeitslosen Einkommen gleichgesetzt wird: revenue is what costs the receiver no labour, it is generally derived from property in land, houses, money, machinery etc. Indes bemerkt Edmonds ausdrücklich: The income of every individual ist either of revenue or wages or of both36. Es ist bekannt, daß zumal seit 1880 und in England, die außerordentliche Verbreitung des Aktienwesens und die starke Stückelung der Aktien eine große Anzahl von Lohnarbeitern nebenamtlich in Aktionäre und folglich in Bezieher von arbeitslosem Einkommen verwandelt hat37. Das Kriterium des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins von arbeitslosem Einkommen spaltet also zwar die beiden großen Besitzklassen. Aber es spaltet sie, möchte man sagen, mehr hauptamtlich als nebenamtlich. Oder, genauer ausgedrückt, es bestimmt sie mehr quantitativ, d. h. nach dem Grade des Vorhandenseins an arbeitslosem Einkommen bei ihren Komponenten. VIII. Die um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Revolutionierung des Produktionsinstrumentes mit ihrer Erzeugung eines Massenproletariats schien die Aufgabe 35 Edward Lytton Bulwer, England and the English. Paris 1836. Baudy. p. 78. 36 T. R. Edmonds, Practical, Moral and Political Economy. London 1828. p. 114. 37 Zu Beginn des XX. Jahrhunderts belief sich die Zahl der Aktionäre der großen Manchester Schiffskanalgesellschaft auf 40 000, die des großen Provisionsgeschäftes Lipton auf 74 262 Personen (Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Stuttgart 1904. Dietz, p. 48 ff.); vgl. ferner Charles Gide, L'actionnariat ouvrier. Le modes d'entente entre le capital et le travail. Paris 1910. Recueil Sirey, 23 pp.; Gide, Les institutions en vue de transformation ou de l'abolition du salariat, 6 e leçon: L'actionnariat ouvrier. Paris 1920. Giard, p. 99-59. Robert Liefinann, Geschichte und Kritik des Sozialismus. Leipzig 1922. Quelle, p. 135.
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der Klassifizierung der Gesellschaft zu erleichtern. Bei Marx und noch mehr bei den Marxisten erscheinen deshalb die Klassen ganz wesentlich nach Maßgabe ihres juridischen Verhältnisses zum gesellschaftlich notwendigen Arbeitsmittel, und in diesem Sinne in Besitzer und in Nichtbesitzer, eingeteilt. Das ergab eine Einschrumpfang der Gruppierung, welche sich zu einer neuen Zweiklassentheorie37a zuspitzte: hie Bourgeoisie und dort Proletariat. Im kommunistischen Manifest hat Karl Marx der Bourgeoisie vorgeworfen, sie habe den Kampf der verschiedenen Gesellschaftsklassen untereinander durch das Herabdrücken des Kleinbürgertum ins Proletariat so sehr vereinfacht, daß es im Grunde nur noch zwei Klassen mehr gäbe38. Erst später hat Marx eine etwas schärfere, wenn auch noch stark fragmentarische Definition des Klassenbegriffs gegeben, indem er die Klasse von einer „Dieselbigkeit der Einkommen- und Einkommenquellen"39 herleitet, womit er der Wahrheit näherkommt, aber sie immer noch zu wenig sozialpsychologisch erfaßt40. Die Zweiklassentheorie stammt, soweit ich zu sehen vermag, von dem großen neapolitanischen Juristen Duca Gaetano Filangieri, 1780. Ihm zufolge teilt sich die Gesellschaft in zwei Klassen ein, die proprietari (Besitzer) und die proletari o mercenari (Lohnarbeiter), außerordentlich zahlreich die letzteren, außerordentlich gering an Zahl die ersteren, unter welchen wiederum die Kleinbesitzer numerisch über die Großgrundbesitzer außerordentlich überwiegen41. Mit anderen Worten: die Zahl der Angehörigen der einzelnen Klassen der Gesellschaft steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrem Besitz. Soweit die Industrie in Betracht kam, vertrat auch John Stuart Mill 1848 die Zweiklassentheorie, die er auf dem Kriterium der handarbeiterlichen Funktion aufbaute. Mill spricht es mit aller Schärfe aus: In the case of manufacturing industry there never are more than two classes, the labourers and the capitalists. Und an anderer Stelle: the distinction is now fully established between the class of capitalists, or employers of labour, and the class of labourers; the capitalists, in general, contributing no other labour than that of direction and superintendence42. Die Funktion des Kapitalisten und die des Unternehmers erscheint also hier nicht auseinandergehalten, sondern tautologisch gefaßt. In ein und demselben Jahre, 1803, waren indes aus französischer Feder zwei verschiedene Versuche einer neuen, verfeinerten Klassenteilung erschienen. Von Genf aus schrieb der Graf Saint Simon seine Lettres d'un Habitant de Genève à ses Contemporains. In ihnen sind die Menschen in drei Klassen eingeteilt: Weise, Besitzende und Masse. Jean Baptiste Say gibt in seinem Traité d'Economie Politique ebenfalls eine Dreiklassentheorie. Aber er schließt die drei menschlichen Gesellschaftsklassen an die drei Produktionsfaktoren an. 1. Die Kenntnis der zur Produktion erforderlichen Natur-
37a Vgl. p. 6 dieser Studie. 38 Marx, Kommunistisches Manifest. Berlin 1901. Vorwärts, p. 10. 39 Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, 2, p. 422 (3. Aufl., Hamburg 1911. Meissner). 40 Vgl. p. 7 ff unseres Werkes. 41 Gaetano Filangieri, La Scienza della Legislazione. 2. Aufl. Livorno 1826. Masi. Vol. I, p. 208. 42 John Stuart Mill, Principles of Political Economy. London, Standard Library, p. 170.
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gesetze ergibt die Klasse der Weisen (savants). 2. Die Anwendung und Ausnützung dieser Kenntnisse zugunsten der Erzeugung der Nutzgüter ergibt die Klasse der Landleute, manufacturiers und Händler. 3. Als ausführendes Organ der von den beiden erstgenannten Klassen gegebenen Anordnungen entsteht die Arbeiterklasse. Unter den Beispielen, die uns von Say angegeben werden, greifen wir eines heraus, das des Indigo: der Geograph, der Weltreisende, der Astronom, geben den Fundort an und ermöglichen es uns, die Meere zu durchkreuzen, um ihn zu holen (I. Klasse). Der Kaufmann mietet ein Schiff und übernimmt das Risiko der Ladung (II. Klasse). Der Matrose und der Fuhrmann geben zur Herbeischaffung des Indigo ihre mechanischen Leistungen her (III. Klasse) 43 . Indes kennt Say auch bereits Unterklassen. Er zeichnet uns zuerst eine Unternehmerklasse, die er freilich nicht immer scharf von der der Kapitalisten abhebt. Es ist das die Klasse der entrepreneurs d'industrie, der es obliegt, aus den Voraussetzungen der Wissenschaft die praktische Nutzanwendung auf die Produktion zu ziehen pour créer un produit dont l'utilité soit telle que le prix qu'on y mettra soit suffisant pour l'indemniser de ses débourses et de ses peines 44 . Bei ihm erscheinen also bereits die geistige Arbeitsleistung und die Kapitalverzinsung, welche mit Recht die Grundlage zum Unternehmergewinn abgäben 45 : le revenu de son industrie und le revenu de son capital, deren jeweiliger Anteil am Nettogewinn freilich nicht leicht zu bestimmen sei 46 , während bei Adam Smith beides noch in profits of stock zusammenliefen. Die Bezeichnung Bourgeoisie bezog sich zuerst nur auf Handwerker, Kaufleute, Händler, Hausbesitzer. Später erst wurden auch die bürgerlichen Gelehrten und Intellektuellen mit Inbegriffen, entsprach das Wort etwa der roture. Allmählich trat dann der Gegensatz zur Aristokratie mehr zurück, um dem Gegensatz zum Quatrième Etat Platz zu machen 47 . Immerhin bewahrte der Bourgeois noch lange kleinbürgerliche Züge. Noch Guizot schildert ihn mit diesen Farben: „... ce caractère de réserve, de timidité d'esprit, de modestie craintive, d'humilité dans le langage, même au milieu d'une conduite ferme, qui est si profondément empreint dans la vie non seulement des bourgeois du douzième siècle, mais de leurs plus lointains descendants. Ils n'ont pas le goût des grandes entreprises; quand le sort les y jette ils en sont inquiets et embarrassés; la responsabilité les trouble; ils se sentent hors de leur sphère; ils aspirent à y rentrer; ils traiteront à bon marché" 48 . Wir sind weit vom Unternehmertypus entfernt, wie er später sich entwickelte und wie er anderwärts zu analysieren unternommen worden ist49.
43 Jean-Baptiste Say, Traité d'Economie Politique ou simple Exposition de la Manière dont se forment, se distribuent et se consomment les Richesses. Paris 1803. Crapelet. Vol. I, p. 6 - 1 1 . 44 Say, Cours Complet. Vol. I, p. 198. 45 Vgl. auch Vol. IV, p. 121. 46 Vol. IV, p. 194-196. 47 E. Duclerc, Article Bourgeoisie, im Dictionnaire Politique. 3. Aufl., Paris 1848. Pagnerre. p. 165. 48 François Guizot, Histoire Générale de la Civilisation en Europe. Bruxelles 1828. Vandooren. Leçon VII, p. 22. 49 Robert Michels, Economia e Felicità. Milano 1918 Vallardi. p. 150 ff.; Augustin Thierry, Histoire du Tiers Etat. 4 e éd. Paris 1864. Fume; L. Véron, Mémoires d'un Bourgeois de Paris. Paris 1853.
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Die Zweiteilung der Gesellschaft in Bourgeoisie und Proletariat, als Gleichsetzung von Besitzenden und Nichtbesitzenden entsprach indes der Realität stets nur grosso modo50. Sie erwies sich zunächst als ungenügend fur die Klassenverhältnisse auf dem Lande. Das Agrarwesen zeichnet sich durch reichste Differenzierung der Eigentumsund Betriebsbedingungen aus. In vielen Gegenden überwiegt sogar zahlenmäßig der Zwitter, der gleichzeitig oder abwechselnd Arbeitgeber- und Arbeitnehmerfunktionen erfüllt. Wir wählen aus dem Übermaß des zur Verfügung stehenden Materials nur drei Beispiele heraus: 1. ein italienisches, 2. ein irisches, 3. ein deutsches. In Italien ist der Landbesitz in vielen Gegenden so stark parzelliert, dass er nicht ausreicht, um seinen Besitzer und dessen Familie zu ernähren. Der Besitzer ist deshalb gezwungen, sich oder doch seine Angehörigen als Lohnarbeiter periodisch auf den großen Gütern zu verdingen, oder zu der Zeit, wo die Reiskultur einen besonders starken Einsatz von Arbeitskräften erheischt, seine halbwachsenen Kinder als Hilfsarbeiter in die Reisfelder der Poebene abwandern zu lassen, um die Einkünfte der Familie zu erhöhen. Dieser selbständige Zwergbauer ist also gleichzeitig abhängiger Lohnarbeiter. Die irischen Cottiers sind (waren) kleine und kleinste Pächter, welche Hütte und Land für einen bestimmten Preis pachten, den sie aber nicht in bar, sondern in Erträgnissen des gepachteten Grundstücks bezahlen. Ist die Ernte schlecht, so verschulden sie sich dem Landeigentümer und müssen später einen eventuellen Ernteüberschuß zum Ausgleich abliefern. Da aber die Nachfrage nach Pachtland infolge der starken ÜberMartin; Georges Ohnet, Journal d'un Bourgeois de Paris pendant la Guerre. Paris 1914; Benedetto Croce, Di un equivoco Concetto storico: la „Borghesia". Estratto dagli Atti della Accademia di Scienze morali e politiche della Società Reale di Napoli, voi. LI, parte I, p. 21, 1927; Luigi Einaudi, Dei Concetti di Liberismo economico e di Borghesia e sulle Origini materialistiche della Guerra. Riforma Sociale, settembre-ottobre 1928, p. 501 ff.; René Johannet, Eloge du Bourgeois français. Paris 1924, Grasset, p. 36; Robert Michels, Soziologie als Gesellschaftswissenschaft. Berlin 1926. Mauritius, p. 30. 50 Daß übrigens die Verwirrung wichtiger Klassenbegriffe nicht erst eine Eigenart der neueren Gesellschaftswissenschaft ist, möge an dem Beispiel der Yeomanry bewiesen werden. Nach dem 1789 erschienenen Werke des Sir Thomas Smith, English Commonwealth, ist der yeoman „a free man born English and may dispend of his own free land in yearly revenue to the sum of XL £ sterling". Im englischen Sprachgebrauch wurde indes das Wort weniger eindeutig gefaßt. Yeoman war auch der rüstige und arbeitsame Pächter der Güter der Gentry. Wir vermögen Hasbach in seiner Polemik mit Hermann Levy nur beizupflichten, wenn er sagt, daß wenn sich die Freisassen mit der Bewirtschaftung ihrer Erbäcker begnügten, das Eigentum am Boden als das wesentliche Moment erscheine, wenn sie aber die Güter des Adels pachteten, das Moment des durch Unternehmertätigkeit erworbenen Reichtums als das wichtigste hervortrete. ( Wilhelm Hasbach, Der Untergang des englischen Bauernstandes in neuer Beleuchtung, im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, XXIV. Band, I. Heft. 1907, p. 5.)
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völkerung ungeheuer groß ist, wird dadurch der Pachtzins so stark in die Höhe getrieben, daß die Cottiers nur in außergewöhnlich guten Jahren die Pacht herauswirtschaften können. Sie sind deshalb, obgleich sie das Risiko eines selbständigen Landwirts zu tragen gezwungen sind, nur in den allerseltensten Ausnahmefallen imstande, ihre wirtschaftliche Lage über das denkbar niedrigste Niveau zu erheben51. Die Instleute, eine in Norddeutschland weitverbreitete Einrichtung, sind an eine Gutsherrschaft kontraktlich, zumeist auf ein Jahr, gebundene Tagelöhner, deren Entlohnung zum kleineren Teil in Geldlohn, zum größeren in freiem Haus, freier Feuerung und Naturalien, ζ. B. Kartoffeln, stattfindet. Da sie obendrein dem Damoklesschwert der Kündbarkeit von Haus und Arbeit unterstehen, sind die Instleute also durchaus als Lohnarbeiter aufzufassen. Ihr Abhängigkeitsverhältnis vom Brotherrn erschöpft indes ihre ökonomische Charakteristik nicht52. Denn ihre kontraktliche Verpflichtung umfaßt in den meisten Fällen das Mitbringen eines zweiten Arbeiters, bisweilen eines Familienmitgliedes, häufig aber auch eines sog. Scharwerkers oder Hofgängers, für dessen Abfindung sie selbst in irgendeiner Form zu sorgen haben. Die marxistische Zweiteilung der Gesellschaft in eine Minderheit von Arbeitsmittelbesitzern und (bürgerlich gesagt) „Brotherrn" und eine Mehrheit von den Besitzern der Arbeitsmittel abhängiger Existenzen wurde im Laufe der Zeiten auch für die Industrie unzutreffend, und zwar durch die Entstehung des sogenannten neuen Mittelstandes, der Industriebeamtenschaft und bezahlten Industrieleitung. Die Einkommenhöhen gewisser Lohnempfänger stiegen damit nun turmhoch nicht nur über die Einkommenhöhen anderer Lohnempfänger, sondern über die des Durchschnittes der Lohnzahler. Das Kriterium des Klasseninhalts nach Maßgabe des Besitzes oder Nichtbesitzes an den Arbeitsmitteln geriet, sobald die Angehörigen der Lohnklasse den verschiedensten Erwerbsklassen zugezählt werden mußten, und einige von ihnen selbst bis an die höchsten heranreichten, in Widerspruch mit dem der Erwerbsklasse. Die Unterbringung des vom Willen des Unternehmers als Besitzers der Arbeitsmittel abhängigen lohnempfangenden Direktors bei Krupp mit seinen 40000 Mk. Jahresgehalt ante bellum oder des französischen maréchal des nonveautés53 in der gleichen Gesellschaftsklasse mit dem Steinklopfer und Dachdecker wurde zu einem Ding der sozialwissenschaftlichen Unmöglichkeit. Die soziale Spannung erwies sich als zu weit, um an der Einheitlichkeit der Klassenbestimmung auf Grund des Besitzverhältnisses zum Betriebsmittel festzuhalten. Das in Frage stehende Kriterium wird außerdem eine Gruppe nicht mit umfassen: diejenigen, die weder in Abhängigkeit von in fremdem Besitz befindlichen Arbeits51 Vgl. John Stuart Mill, Principles of Political Economy. London. The Standard Libr. Co. p. 22. 52 Karl Schulz, Die landwirtschaftlichen Arbeiter. Sozialist. Monatshefte. 1908 (15. Heft, p. 1578). 53 „Les trois .maréchaux de la Nouveauté', qui mènent le magasin le plus prospère en ce genre, se partagent un traitement de 600.000 francs, égal à la moitié de celui du Président de la République. Les douze commis supérieurs qui les assistent et forment leur conseil touchent autant que le conseil des ministres. Au dessous d'eux, et pour l'ensemble des grands bazars á Paris, il existent au total plus de 250 traitements de 25.000 et 20.000 francs - égaux à ceux des préfets de 2 e et 3 e classe - encaissés par les chefs de comptoir et assimilés." (Vicomte Georges D'Avertei, Découvertes d'Histoire sociale 1200-1910. Paris 1910. Flammarion, p. 242.)
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mittein leben noch auch Lohnarbeiter an ihre Arbeitsmittel anstellen. Das wäre freilich eine kleine, wohl ständig kleiner werdende Gruppe von Wirtschaftsmenschen, als da sind die Einzelselbständigen im Gewerbe, ebenso im Handel, im Verkehr und in der Hausindustrie, Alleinmeister; in der Landwirtschaft etwa noch Kleinbauern. Diese Personenreihen, die mitten zwischen dem Proletariat der Besitzlosen und der Bourgeoisie der Besitzenden (gens aisés) stehen, bilden recht eigentlich den Mittelstand, die Kleinstbourgeoisie. Die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit im wirtschaftlichen Beruf oder auch, da der wirtschaftliche Beruf nicht ausgeübt werden kann ohne das Vorhandensein bestimmter Arbeitsmittel, vom Produktionswerkzeug hat statistisches Bürgerrecht erhalten. Der inneren Ungenügendheit des Berufes als Maßstab der Klassenbildung wird mithin selbst von der Statistik Rechnung getragen. Die Rubik: Stellung im Berufe und die Einteilung der Berufstätigen in selbständige und unselbständige entbehrt freilich dabei häufig der amtlichen Qualifikation als Klasse. VI. Die Homogenität der Lebensschicksale ist ihrem Wesen nach an keine Landesgrenzen gebunden. Sie ignoriert das Vorhandensein der Staaten und vermag an Intensität die Homogenität der sprachlichen, kulturellen und nationalen Bande zu übertreffen. Daher ist die Homogenität der Lebensschicksale international klassenbildend geworden. Schon Christian Garve bemerkt 1786, daß die Verschiedenheit der Völker geringer sei als die Verschiedenheit der Stände innerhalb ein und desselben Volkes. Ein deutscher Bauer ist von einem deutschen Adeligen weiter getrennt, psychologisch wie wirtschaftlich, als ein deutscher Bauer vom polnischen 54 . Mit großer Wucht sind Gedankengänge wie dieser ein halbes Jahrhundert später von einigen Sozialisten aufgegriffen worden. Karl Marx und Friedrich Engels haben im Kommmunistischen Manifst 1847 die „Proletarier aller Länder" aufgefordert, sich zu vereinigen, da sie nichts zu verlieren hätten als ihre Ketten. Die Lehre, daß der horizontalen Trennung der Völker in Gesellschaftsklassen dynamischere Kräfte innewohnen als der vertikalen Trennung der Menschen in Nationen, bildete implizite den theoretischen Untergrund zur Entstehung der Internationalen Arbeiterassoziation. Entgegen der Marxschen Klasseneinteilung nach sozialökonomischen Gesichtspunkten halten die wissenschaftlichen Wortführer der französischen Royalisten auch heute noch an der Überlegenheit ständischer Gesichtspunkte bei der Einteilung der Nation in Klassen fest. So hat Georges Valois gelegentlich im Comité National d'Etudes Sociales et Politiques in Paris ausgeführt, daß Schriftsteller und Verleger, Papierfabrikanten, Buchdrucker, Buchhandlungsgehilfen und Packer letztendlich eine einheitliche Gesellschaftsklasse bildeten, die an Solidaritätsstärke die entsprechende Solidaritätsstärke zwischen einer Kategorie dieser Gruppen und der entsprechenden sozialen Kategorie einer anderen Gruppe bei weitem überträfe. „Je suis, moi, écrivain on éditeur, beaucoup plus solidaire de l'emballeur qui expédie chaque jour les ballots de livres que j'envoie de tous côtés que du patron du textile ou du vigneron dont je puis parfaitement me 54 Christian Garve, Über den Charakter der Bauern und ihr Verhältnis gegen die Gutsherrn und gegen die Regierung. Breslau 1786. Korn. p. 5.
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passer pendant quinze jours et même pendant six mois. Au contraire, si un des éléments qui est à l'intérieur de ma production manque, je suis immédiatement arrêté" 55 . Das ist der vertikale Klassenbegriff, dem sich der horizontale entgegenstellt. Und typisch vertikal, in noch weit ausgesprochenerem Sinn, ist auch der Vaterlandsbegriff, der alle Landesgenossen moralisch und gefühlsmäßig zusammenfaßt. Eine vertikale Auffassung findet sich, in gewisser Beschränkung, auch in der Arbeiterschaft wieder, die sich dem befehlserteilenden Unternehmer oder Leiter mehr verwandt fühlt als dem hinter jenem stehenden unsichtbaren Kapitalisten oder der weiten, großen Schar der Aktionäre 56 und sich von ihren Hierarchen nicht so sehr im Raum der arbeitsteiligen Produktion als außerhalb derselben, in der Konsumption, getrennt fühlt, weil diese letztere in ihrer Kargheit ihr nicht als so selbstgegeben erscheint wie die untergeordnete Stellung, welche die mechanische Arbeitsleistung ihr als Lohnarbeiterschaft in der Fabrik anweist 57 . VIII. Französische und italienische Gelehrte haben auch anthropologische Klassentypen aufgestellt. Alfredo Niceforo hat einen Band Anthropologie der nichtbesitzenden Klassen geschrieben 58 . Nach seinen Untersuchungen sowie denen von Alphonse Bertillon, Oloriz, Rodolfo Livi u. a. bilden die armen Klassen einen von den Reichen an Körperlänge, absolutem und relativem Gewicht, Brustumfang, Lungenstärke, Körperkraft, Kopfumfang, Stirnhöhe, Wachstumsfrühe, Eintreten der Pubertät und anderen Merkmalen nachweisbar unterschiedlichen Typus. Die hier festgestellte Koinzidenz der ökonomischen Struktur mit der anthropologischen Struktur ist außerordentlich belangreich: sie ist wertvoll vor allem für das Verständnis der sozialen Konflikte und die Tiefe der Gegensätze. Aber sie ist nicht eindeutig hinsichtlich der Kausalität der Phänomenologie. Entspringt der anthropologische Unterschied einem Unterschied der Rassen im Sinne Thierrys, Gobineaus oder Gumplowiczs 59 , also zwischen der per saecula saeculorum nachwirkenden Kraft fremder Erobererstämme, die zu den Besitzenden, und den Nachkommen der besiegten Völker, die zu den Besitzlosen geworden sind? Die Verfechter der modernen anthropologischen Klassenidee stehen solchen historischen Hypothesen fern. Oder entspringt der festgestellte anthropologische Unterschied zwischen Arm und Reich etwa einem Rassenunterschied, hervorgerufen durch den bei den beiden Klassen verschieden großen geographischen Radius der Nuptialität? Wiener Statistiker, welche die nach der durchschnittlichen Wohlhabenheit gegliederten Stadtteile der Donaustadt mit der örtlichen Provenienz der Heiratenden vergleichen, bezeugen, daß die Reichen ihre Frauen innerhalb eines sehr viel weiteren Umkreises beziehen, also rassengemischter sind als die Armen, und somit rassenverschieden von ihnen werden. Andererseits scheint die als anthropologisch geltende Klassendifferenzierung doch in
55 Tendances à l'Association dans les Milieux intellectuels. Séance du 10 mai 1920 du Comité national d'Etudes sociales et politiques, p. 7. 56 Maurice Halbwachs, La Classe Ouvrière et les Niveaux de vie. Paris 1913. Alean, p. 127. 57 p. 128. 58 Leipzig-Amsterdam 1909. Maas und van Suchtelen. p. 232 ff. 59 Ludwig Gumplowicz, Der Rassenkampf. Innsbruck 1909. Wagner, p. 364.
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weitestem Umfang ökonomischen Ursprungs zu sein. Viele ihrer Stigmaten erklären sich wesentlich aus nachweisbar ungenügenden Ernährungsverhältnissen. Villermé wies bereits 1826 das Bestehen von Zusammenhängen zwischen ökonomischen und biologischen Merkmalen nach. Seine Nachforschungen ergaben, daß die Reihenfolge der verschiedenen Arrondissements von Paris nach der in ihnen vorhandenen durchschnittlichen Körperlänge der Bewohner etwa der gleichen Reihenfolge entsprach, welche sie nach der Höhe der jeweiligen Kopfsteuer, die sich nach dem Mietpreis der Wohnungen richtete, einnahmen. Mit anderen Worten: die Körperlänge stand in einem Parallelismus zum Grade der Wohlhabenheit. Jacques Bertillon hat auf dem 10. Intern. Kongreß für Demographie (Paris 1900) diese vergleichende Methode durch Heranziehung neuer Gesichtspunkte (Statistiken der Armenbeerdigungen, Totgeburten, Analphabetismus, Armenpflege) und ihre Beziehung zu den in den entsprechenden Quartieren gewonnenen Resultaten anthropometrischer Observanz und Vermehrung der Studienobjekte durch vergleichende Heranziehung der einzelnen Stadtteile von Berlin und Wien noch vertieft und erweitert. Indes ergibt die Anthropologie der armen Klassen kein genaues Resultat. Niceforo hat feststellen müssen, daß bestimmte Stadtteile von Paris, deren statistische Indizien unter allen sozialen Gesichtspunkten ein wesentlich proletarisches Bild lieferten, anthropometrisch Abweichungen untereinander aufweisen, so in den Arbeitervierteln von der Gare de Lyon und dem Quai de Bercy, wo die Körperlänge über dem Durchschnitt steht. Die Ursache dieses perturbatorischen Phänomens liegt an der Körperkraft und somit Auslese erheischenden Berufsart der Mehrzahl der in diesen Stadtvierteln lebenden Proletarier (Lastträger, Packer, Fuhrleute) 60 . IX. Die Bildungsklassen sind nur schulmäßig, an der Leistung von Examina und Erbringung von Diplomen, meßbar. Ökonomisch haben sie weniger Bedeutung. Die classe intellectuelle ist über fast alle Erwerbs- und Besitzklassen zerstreut. Ihre ökonomische Unfaßbarkeit und ihre geringe örtliche Kompaktheit bewirken ihre Unorganisierbarkeit. Die Organisation der Kopfarbeiter, die heute überall versucht wird, bleibt deshalb problematisch. Nur einige wenige intellektuelle Berufsarten sind wesentlich homogen und gehören den gleichen Erwerbsklassen an, zumal wenn sie ihren Erwerb in Gestalt fester Gehälter (Staatsbeamte mit akademischer Bildung) beziehen. In diesem Fall drückt ihre spezifische Intellektualität einen ökonomischen Grad aus und sind diese Unterklassen oder Klassenbruchteile auch der Organisation leichter zugänglich. Von den übrigen Intellektuellen kann man nur sagen, daß sie, von Stipendiaten natürlich abgesehen, 1. durch die fur das Studium erforderte Anlage von Kapital (Zeit und Geld) bewiesen haben, daß sie nicht der besitzlosen Klasse entstammen (freilich mag ja die Kapitalanlage eine falsche Spekulation gewesen sein), 2. daß sie ihrem Wesen nach nach höheren Einkommenklassen hin tendieren. Erreichen die Intellektuellen ihr Ziel nicht, so qualifiziert man sie retrospektiv als Deklassierte: sie sind ihrer Ursprungs-(Geburts-)klasse verlustig gegangen, oder haben
60 Niceforo, Anthropologie der nichtbesitzenden Klassen, 1. c., p. 55.
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doch ihren natürlichen Charakter als Eroberer guter Posten nicht (oder noch nicht) bewiesen. Die Zusammenhänge zwischen Besitz und Bildung sind logisch und empirisch zweifellos. Aber ein bestimmtes Maß von Bildung als immanente Eigentümlichkeit oder kulturelle Begleiterscheinung vermag in den einzelnen Klassen dennoch nicht festgestellt zu werden. Übrigens ist daran zu erinnern, daß die Klasse der Gebildeten nur in russischem, übertragenem Sinne die Klasse der Intelligentsia genannt wird. Bildungsklasse und Begabungsklasse (natural) ist zweierlei, wenn auch Zusammenhänge wohl vorhanden sind. Der italienische Kriminalist und Sozialist Enrico Ferri hat einmal ausgeführt, der Durchschnitt der süditalienischen Analphabeten sei intelligenter, aufgeweckter und begriffsschneller als der Durchschnitt der deutschen Universitätsprofessoren 61 . Man braucht den Vergleich, der keineswegs im Sinne einer Beschimpfung gemeint war, nicht wörtlich zu nehmen. Ein richtiger Kern steckt schon im Gedankengang. Übrigens sind, unter bestimmten Gesichtspunkten gesehen, die Bildungsklassen quantitativ zurückgegangen. Im Frankreich des ancien régime ζ. Β. war das Verhältnis der Latinisten (Lateinschulbesucher) zur Bevölkerung etwa fünfmal größer als im Frankreich von heute 62 . Mit Erziehung gepaarte Bildung vermag da, wo beide einen schematischen Gang genommen haben und sich absoluter und monopolistischer Anerkennung erfreuen, auch sehr berufs- und eigentumsheterogene Elemente zu einer gesellschaftlichen Klasse zu vereinigen. Voraussetzung dazu ist freilich das Vorhandensein eines 1. die Erlangung der Erziehung und 2. die Einhaltung der Sittenkodexe ermöglichenden eigenen oder elterlichen Einkommen- oder Besitzesminimums. Musterbeispiel die Herausbildung des Typus des englischen gentleman mit seiner vollendeten Uniformität des äußeren und inneren Menschen 63 . Die gentlemen bilden eine Klasse, zu der sehr verschiedene Elemente, vom Adel bis zum Bürgerstand, Künstler und Gelehrte, Bankiers und Grundbesitzer gehören mögen, immer insoweit sie die conditiones sine quibus non erfüllen. Somit gibt kein Beruf, keine Besitzesschicht ihren Angehörigen einen Anspruch auf die Zugehörigkeit zur Klasse der gentlemen. Es genügt ein schäbiger Rock, ein schmutziger Fingernagel, eine Faust, die beim Essen den Fisch mit dem Messer zerpflückt, ein freies Scherzwort in eroticis im Beisein der ladies, um auch den Besitzenden, Einkommenbezieher und Graduate dem gesellschaftlichen Boykott zu überantworten, ihn aus der Klasse der Gentlemen zu streichen, auch wenn er an Ehrgefühl, Aufopferungsfähigkeit und Wissen hinter keinem zurücksteht. Mithin sind Bildung und Erziehung, Intelligenz, schnelle Auffassungsgabe keiner absolut klassenmäßigen Differentiation unterworfen. In allen Einkommen- und Besitzklassen gibt es, wenn auch in verschiedener Quantität, Gebildete. Gehören diese den unteren Einkommens- oder Besitzklassen an, so bezeichnet man sie auch als intellek-
61 Enrico Ferri, La questione meridionale. Roma 1902. Asino, p. 13. 62 Gabriel Hanotaux, La France en 1614. La France de la Royauté avant Richelien. Paris. Nelson, p. 369. 63 Paul Descamps, La Formation sociale de l'Anglais moderne. Paris 1914. Colin, p. 334; William Ralph Inge, England. London 1926. Modern World Series, p. 57; Hermann Keyserling, Das Spektrum Europas. 5. Aufl. Stuttgart-Berlin 1931. Deutsche Verlagsanstalt, p. 38.
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tuelles Proletariat. Diese sind jedoch vielfach nur Wartende mit sicherer Anwartschaft auf sozialökonomische Erhöhung. In diesem Falle sind sie Übergangsklassen und wird die diesen entsprechende Charakteristik auf sie angewandt werden müssen. Oft sind diese Elemente aber ungeduldig oder haben voreilig alle Hoffnung auf Besserung verloren und laufen Gefahr, von den unteren Klassen aufgesogen zu werden. Dann treten die mittellosen Gebildeten in bewußten Gegensatz zu den bemittelten Gebildeten. Sie machen den suprême effort. Sie geben den Sauerteig zu allen sozialen Revolutionen ab und werden zu den berufenen Wortführern der Massen im Klassenkampf. Dieser stellt sich dann dar als Kampf zweier ökonomisch geschiedener Klassen von Gebildeten um die Macht. X. Die solidarische Straffheit der sozialen Klasse wird geschwächt, wo die Zugehörigkeit der Wirtschaftsmenschen zu ihr einen kurzfristig transitorischen Charakter innerhalb des Einzellebens aufweist und der Aufstieg von einer Klasse in eine andere glatt ist. Am meisten da, wo eine Anwartschaft oder doch eine auf Wahrscheinlichkeitsrechnung begründete Hoffnung auf in absehbarer Zeit zu erreichende soziale Besserung vorliegt. In diesen Fällen bedeutet das Verharren in sozial unteren Schichten nur einen Absatz auf einer Stufenleiter, eine Etappe im Aufbau des menschlichen Lebens (Jugend). Wenn nach Rau im preußischen Handwerk in den 10 größten Städten noch 1828 auf je 1 000 Meister 1 600 Gehilfen, in den 30 ansehnlichen Städten 1 051, in den übrigen Städten 639 und auf dem Lande 291, im Durchschnitt auf je 1 000 Meister 527 Gehilfen entfielen 64 , so darf man wohl ohne Übertreibung annehmen, daß die Quasitotalität dieser Minorität abhängiger Existenzen mit der Zeit in die Stellen der Majorität der unabhängigen Existenzen einrückte. Das war die Zeit, in welcher man in soziologischem Hyperbolismus sagen konnte, daß die Gesellenzeit mit der Hochzeit der Meistertochter endete. Auch der heutige Dienstbotenstand ist vielfach nicht Klasse im strengen Sinne, da ein hoher Prozentsatz dieser Schicht nur lohndienen geht, um nach absolvierter Erlernung der Hauswirtschaft und der feineren Herrschaftsgebräuche auf dem Wege der Ehe oder auch des Elternhauses in das Klein- oder gar Mittelbauerntum zurückzukehren. In der Schweiz ist die Einrichtung der sog. Saaltochter in Gasthauswesen ein sprechender Beweis dafür, daß auch Töchter von Besitzenden zeitweise Perioden der Dienstbarkeit durchmachen. Auch in der Militärorganisation gibt es Transitorien. Der gräfliche Kadettenhäusler, der als Unteroffizier in ein preußisches Garderegiment trat, gehörte der Klasse der Unteroffiziere nur formell, virtuell aber bereits derjenigen der Offiziere an. Ähnlich stand es mit den Avantageur als Gemeinen, von der Pike auf dienenden. Beim Offizieraspiranten der meisten übrigen stehenden Armeen lassen sich ähnliche Parallelen ziehen. Es wird von der Pike auf gedient, aber die Pike gilt nur als Springstange. Von Gesellschaftsklasse kann deshalb rigoros nur dann gesprochen werden, wenn die Zugehörigkeit zu ihr auf Lebenszeit besteht, wenn Geburt und Tod der Menschen sich innerhalb einer Klasse abspielen und die Arbeitsleistung die Sphäre der gegebenen
64 Karl Heinrich Rau, Grundsätze der Volkswirtschaftspolitik. 5. Aufl. Leipzig 1863. Vol. II, p. 51.
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Klassenschicht nicht zu durchbrechen vermag. Fatalitas. Darum ist die durch das Maschinenwesen und den Großbetrieb bedingte Entstehung eines lebenslänglichen Proletariats, das mit dem Merkmal der Unabänderlichkeit behaftet ist, mitentscheidend für die relative Festigkeit dieser Klasse. Denn die typischste Klasse ist - trotz allem - zweifellos das moderne Fabrikproletariat. Auch weil bei ihm Berufsklasse, Besitzklasse, Bildungsklasse und Erwerbsklasse zwar nicht zusammenfallen, aber doch einander nahe kommen. XI. Die Kommensabilität ist ein Klassenmerkmal. Am Tisch scheiden sich die Klassen 65 . Wer sich gewohnheitsmäßig miteinander zu Tische setzt oder sich zu Tische einladet, gehört der gleichen sozialen Klasse an. Angehörige der verschiedenen Klassen „verkehren" nicht miteinander, wenigstens nicht im Hause. Selbst die Hausgenossen trennen sich bei der Einnahme der Mahlzeiten nach ihrer Klassenzugehörigkeit. Die Herrschaft ißt im Speisezimmer, die Dienstboten in der Küche, oder im Office. Das Zusammenspeisen von Herren und Gesinde am langen Tisch des Patriarchalismus steht auf dem Aussterbeetat. Wo es sich erhalten hat, ist der psychische Klassenspalt weniger tief. Garibaldi lobt die Einwohnerschaft der Stadt Ravenna ob ihres alle Klassen der Gesellschaft überspannenden Patriotismus in den italienischen Freiheitskriegen, eine Einheit, die dadurch gewährleistet worden sei, daß in Zeiten der Arbeitslosigkeit der Reiche dem Sohne des Armen seinen Tisch anböte 66 . In der Gleichheit oder doch Ähnlichkeit der Lebensführung liegt ein ausgleichendes, klasseüberbrückendes Element, auch dann, wenn die übrigen Merkmale Besitz, Einkommen, Beruf heterogen sind und bleiben. Das trifft besonders deutlich zu, wenn die Ähnlichkeit der Lebensführung sich in einem Raum abspielt, also gemeinsames Leben, Zusammenleben, convivenza, erzeugt (persönlicher Verkehr in Permanenz). Wenn in der französischen Revolution in fast allen Provinzen des Reiches alsbald ein Kampf zwischen dem grundbesitzenden Adel und den Kleinpächtern und Parzellenbauern ausbrach, der zur Verwüstung der Schlösser und letztendlich zur Enteignung des Grundadels und zur Zerschlagung der Güter führte, während andererseits in der Vendée Edelleute und Bauern sich nur noch enger aneinander anschlossen und sich gemeinsam als chouans zur Behauptung der royanté gegen die Republik zur Wehr setzten, so scheint nach dem Marquis de Vaissière eine der wesentlichsten Ursachen für die Solidarität dieser verschiedenen Besitzklassen darin gelegen zu haben, daß in der Vendée die gentilhommerie weniger als in den übrigen Provinzen Frankreichs vom Absentismus erfaßt worden war, ihre Felder selbst bebaute und an den Festen und Gelagen der Bauern teilnahm, diese wohl auch gelegentlich in kameradschaftlicher Weise zu sich selbst aufs château einlud 67 . In Italien ist auf dem Land der Antiklerikalismus nicht vorherrschend. Selbst Bakunin mußte zugeben, daß dem so sei, und erklärte diesen seiner Theorie unbequemen Zustand mit der auf dem Lande zwischen den Bauern und den zumeist dem
65 Max Weber, 1. c. p. 179. 66 Giuseppe Garibaldi, Cantoni le Volontaire (franz. übers, von Edgar Quinet, Genève 1875. Carey. p. 55). 67 A. de Vaissière, Gentilshommes Campagnards de l'ancienne France. Paris 1903. Perrin. p. 203.
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gleichen Stande entstammenden Geistlichen bestehenden Lebensgemeinschaft: I preti dividono con essi la loro vita e in parte ancora la loro miseria ... Vivono secoloro famigliarmente, da buoni diavoli68. Auch das System der Halbpacht kann eine solche Harmonie hervorbringen, wie in Anjou, wo der Usus herrscht, daß der adlige Herr einen Teil des Jahres im Hause des Pächters zubringt, wo er von dessen Familienmitgliedern bedient wird und unterschiedslos ganz dessen Leben lebt69. Bisweilen erzeugt schon das Vorhandensein bestimmter äußerer Gemeinsamkeiten bis zu einem gewissen Grade innere Solidarität. In der Zwischenzeit zwischen etwa dem Erscheinen von Adam Smiths Inquiry on the wealth of nations und dem Ausbruch der Chartistenbewegung fiel es deutschen und italienischen Englandreisenden wie dem preußischen Hauptmann von Archenholtz, dem sächsischen Schriftsteller Gaede und dem Mailänder Patrioten Graf Giuseppe Pecchio auf, wie gleichmäßig die Engländer aller Klassen gekleidet seien70. Zumal Sonntags sei ein Unterschied zwischen den Klassen kaum wahrnehmbar. Auch fehlte es nicht an solchen, die in der aufkommenden Kleiderdemokratie der Engländer und dem sich daraus entwickelnden Zusammengehörigkeitsgefühl eine der Ursachen dafür erblickten, daß sich die englischen Gesellschaftsklassen nicht vom Fieber der französischen Revolution ergreifen ließen. Immerhin muß bemerkt werden, daß Gemeinsamkeit der Lebensführung, geschweige denn gemeinsame Mode und Tracht, keineswegs allein klassen- und nationbildend zu wirken vermögen. Bei näherer Analyse der Tatsachenzusammenhänge erhellt deutlich, daß auch hier die Gemeinsamkeit der Lebensführung zumeist mitbestimmt wird durch das Vorhandensein anderer gleicher, die Ungleichheiten an psychologischer, wenn auch nicht ökonomischer, Kraft überwindender Züge wie Ähnlichkeit des Berufes, der Ausgabenverteilung und der Bildung. Der gentilhomme campagnard und der paysan sind beide Angehörige der Gruppe der Landwirte; der italienische Bauer und der Landpfarrer haben, von der Trennungslinie der Kunst des Lesen- und Schreiben-Könnens abgesehen, die gleichen Empfindungsund Anschauungswelten. Zusammenleben schließt, wenn Gleichheit der Erziehung und der Bildung hinzukommen, die Gefahr der Entstehung von Klassengegensätzen selbst da aus, wo gebundene Erbrechte die soziale Einheit der Familie sprengen und dem Erstgeborenen eine ungleich höhere Stelle an Besitz, Rang und Titel anweisen als den jüngeren Brüdern. Weder die cadets des französischen Hochadels noch die unadlich werdenden, in Beruf und Vermögen geschädigten jüngeren Söhne der englischen großgrundbesitzenden Lords schweißen sich zu einer Liga gegen die Privilegierten zusammen. Die Härten der bestehenden Gepflogenheiten werden gemildert durch das Band der gemeinsam verlebten Jugend und den Fortbestand der regen gesellschaftlichen Beziehungen auch nach der Erbtrennung (z. B. durch gewohnheitsmäßige Einladung der Kadetten auf
68 Michail Bakunin, Il Socialismo e Mazzini. 4. Aufl. Roma Firenze 1905. Serrantoni. p. 49. 69 Journal des Goncourt, Mémoires de la Vie Littéraire. Paris 1896. Vol IX, p. 250. 70 Giuseppe Pecchie, Un'Elezione di Membro del Parlamento in Inghilterra. Lugano 1826. Vanelli. p. 94-96; vgl. auch J. C. L. Simonde de Sismondi, Nouveaux Principes d'Economie politique. Paris 1827. Delaunay. Vol. II, p. 323.
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den Sommersitz zu den Jagden). Freilich spielen hier noch zwei weitere Momente zur Erhaltung eines Klassenzusammenhangs zwischen den adligen Erstgeborenen und den „enterbten" jüngeren Söhnen mit: das Konnubium innerhalb der gleichen Gesellschaftsschicht und der vielfache Übergang der Kadetten ins Geschäfts- und Erwerbsleben, durch den die ökonomische Kluft, die sie von ihren Lordships trennt, häufig wieder ausgefüllt wird. Andererseits wirkt das örtliche Auseinanderfallen von Wohnen und Arbeiten, die Verlegung der Arbeitsstelle und die Differenzierung der Arbeitsart klassenspaltend d. h. neuklassenbildend. Das ist die Polarerscheinung zur solidarischen Kraft der Gemeinsamkeit der Lebensführung. Es unterliegt keinem Zweifel: Zur Herausbildung einer besonderen proletarischen Klasse hat das allmähliche Verschwinden des Unternehmers aus dem Arbeitssaal und aus dem Gesichtskreis der Lohnarbeitermassen, seine Absonderung durch die Einrichtung von Kontorräumen und seine Merkantilisierung und Technisierung in hohem Grade beigetragen 71 . Die Unpersönlichwerdung des Kapitals, am besten im Aktienkapital versinnbildlicht, ändert selbst dann nichts daran, wenn ein Teil dieses in den Händen kleiner Leute liegen sollte.
2. Zum Kreislauf der Eliten Die Verschiebungen innerhalb der politischen Klasse der bürgerlichen Gesellschaft sind im wesentlichen auf drei Grundursachen zurückzuführen: 1. objektive Veränderungen im Bedarf an Menschenmaterial der Wirtschaft und deren Konjunkturen; 2. die Gradstärke der natürlichen Fruchtbarkeit in ihrer beruflichen und klassenmäßigen Differenzierung; 3. die Dynamik des sozialen Aufstiegs 72 . Zu 2 ist zu bemerken: Geringe Fruchtbarkeit aufweisende Berufsgruppen unterliegen einer exogenen Tendenz. Mit anderen Worten, sie besitzen eine nur geringe Fähigkeit, die eigenen Quadern mit eigenem Nachwuchs auszufüllen. Die Lücken sind auf die Existenz von tauglichen Elementen von heterogener Herkunft angewiesen. Intensivere und weniger „regulierte"
71 Die typisch proletarische Anschauungswelt in ihrem Verhältnis zum Phänomen des Kapitalismus habe ich in meiner Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegungen (Grundriß der Sozialökonomik, Abt. IX, Teil 1. Tübingen 1926. Mohr. p. 244-359) ausführlich dargelegt. 72 Hierüber als besonders wichtig Abbé de Choisy, Mémoires pour servir à l'histoire de Louis XIV. Utrecht 1927. Van de Water. 235 ff.; René Johannet, Eloge du Bourgeois Français. Paris 1924. Gresset; Roberto Michels, Corso di Sociologia Politica all'Università di Roma. Milano 1922. 1st. Ed. Scient. - In Deutschland ist selbst in den Männergesangvereinen der Wettstreit mit aus dem Drang der gesellschaftlich Minderen nach Anerkennung seitens der gesellschaftlich Höheren heraus zu erklären (Hans Staudinger, Individuum und Gesellschaft in der Kulturorganisation des Vereins. Jena 1913. Diederich. p. 106).
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Fruchtbarkeit entwickelnde Bevölkerungsgruppen, die von außergewöhnlichen Energieen erfüllt sind, füllen nicht nur ihre eigenen Quadern; sie sind endogen. Deshalb überflutet ein mehr oder weniger erheblicher Teil ihrer Angehörigen andere, zumeist höher gelegene Klassenschichten. Typisch exogen sind die Intellektuellen 73 , typisch endogen sind die Bauern; erstere sind auf Zuwachs von außen her angewiesen, letztere weisen ein Überangebot auf, sie sind mithin expansiv, und unter Umständen sogar explosiv. Zu 3 ist zu bemerken: Der im Menschen steckende Drang nach oben beherrscht das ganze soziale Leben. Die meisten Elternpaare sind bereit, Höllenqualen auszustehen, um nur ihren Kindern die Wege zu einer besseren Zukunft und zu einer höheren Klasse, zu einem erhöhten gesellschaftlichen Ansehen, zu bahnen. Der Neomalthusianismus ist ein Aspekt dieser Erscheinung. Die soziale Capillarität läßt es den Familien ratsam erscheinen, die Zahl ihrer Kinder klein zu halten, damit diese dem Kampf ums Leben besser ausgerüstet und kräftiger entgegentreten können. Die Abwendung der Bourgeoisie vom Neomalthusianismus würde, so sehr sie auch im übrigen zu wünschen wäre, das Emporkommen begabter Elemente aus den unteren Klassen sehr erschweren, da eine kinderreiche Bourgeoisie die vorhandenen Plätze an der Sonne unguibus et rostris verteidigen würde 74 . Denn der Instinkt, die Macht in der Familie zu behalten und sie womöglich weiter zu vererben, bewirkt, daß jedes Wahlkönigtum nach der Erbmonarchie strebt und daß da, wo, wie beim Papsttum, keine natürliche Nachkommenschaft vorhanden ist, der Machthaber sich nach Surrogaten umsieht, wie ζ. B. der Nepotismus ein solches dargestellt hat 75 . Gegenüber dem Vormarsch aus den mittleren und unteren Kreisen gibt es einen Rückmarsch aus den oberen, gegenüber dem Aufstieg eine Dekadenz bis zum Herabfall. Die Statistiken erhärten indes die These, daß ersterer kräftiger ist als letztere. Die Empirie zeigt, daß die Reichen gewiß ärmer und von Vermögenszerfall betroffen werden und hohe und ertragreiche Stellungen im Staate ihren Trägern wieder verloren gehen können. Jedoch ist wahrnehmbar, daß wer die soziale Treppenleiter hinunterfällt, meist auf irgend einer mittleren Stufe wieder Halt zu gewinnen vermag, ohne bis zu Unterst weiter hinab zu rollen. Nachkommen hochmögender oder reicher Personen befinden
73 Um noch mehr Eulen nach Athen zu tragen: In den Vereinigten Staaten beträgt in den Familien der hohen Bildung die durchschnittliche Kinderzahl 1,89 (nach den Ergebnissen aus Who's who in America?, von Mary Richmond, The Concern of the Community with Marriage, in Margaret E. Rich, Family Life to day. Boston 1929. Miffliu. p. 66). - Ist der Mangel an Familie, Ehelosigkeit oder Kinderlosigkeit soziologisch ein Kennzeichen der Intellektualität? (Manche bedeutenden Köpfe bekennen sich zu dieser These. Maurice Barrés, Les Déracinés, Paris 1898 [7. Tausend]. Charpentier ρ 378.) 74 Vilfredo Pareto, I sistemi socialisti. Milano 1920. 1st. Ed. Scient. Vol. I. p. 32. 75 Gaetano Mosca, Il Principio aristocratico e il democratico nel passato e nell'avvenire. Discorso inaugurale. Torino 1903. Paravia, p. 22.
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sich häufig in bescheidenen Lebensstellungen und einfachen Berufen, selten aber in Fabriken als Handlanger oder auf dem Lande als Tagelöhner 76 . Viele Familien des Adels gehen in der Masse unter, was unbedachte Historiker zu der falschen Annahme verleitet, die alten Familien, deren Titel und Würden sie nicht mehr feststellen können, seien ausgestorben, während sie in Wirklichkeit nur verschwunden sind, d. h. in latentem Zustande weiterexistieren 77 . Zumal in den romanischen Ländern ist die Erscheinung nicht selten, daß verarmte Familien, deren Lebenshaltung dem von ihnen besessenen Titel nicht mehr zu entsprechen vermag und für die dieser somit zur traurigen Last geworden ist, das Adelszeichen ablegen und sich wie bürgerliche Familien verhalten. Was ihnen nunmehr in der Auswahl der Berufe und der Heiraten größere Möglichkeiten läßt, sie bisweilen auch wohl in den Stand setzt, sich wirtschaftlich wieder zu heben; diese Erholung ist dann häufig mit der Wiederaufnahme der Titel und Würden der Ahnen verbunden. Für Vilfredo Pareto ist die historische Entwicklung durch eine in steter Aktion befindliche enorme Maschinerie bedingt, der die Aufgabe obliegt, das neue Menschenmaterial, dem die Aufrechterhaltung der Macht zufiel, zu erzeugen und durch es das alte, müde und ziellos gewordene Menschenmaterial zu verdrängen und zu ersetzen. Die Lehre von der Zirkulation der Eliten ist in der These von der ewigen Erneuerung der menschlichen Gesellschaft durch die physische und psychische Dekadenz der alten und die Entstehung neuer Gewalten aus der unteren Klasse verankert. In Wirklichkeit handelt es sich indes nicht so sehr um eine Verdrängung der alten herrschenden Schichten durch zur Übernahme der Herrschaft berufene neue Kreise, als vielmehr um eine Amalgamierung und Fusion beider 78 . Die Demokratie hat es sich zur Ehre angerechnet, durch ihre Institutionen und schon durch ihre Funktion an sich den Kreis der Führerauswahl wesentlich erweitert zu haben, und auf diese Weise den Austausch zwischen den Klassen zu erleichtern. Daß in der Demokratie das Vertretersystem als Führerauslese wirkt, ist logisch und historisch richtig. Vermag doch der von der Demokratie begünstigte Aufstieg selbst die unteren Klassen zu Praktiken der Kinderverhütung zu verleiten 79 . Aber Kelsen 80 hat doch unrecht, wenn er die Führerauslese geradezu als ein Spezifikum der Demokratie behandelt. Er behauptet, die entscheidende Wesenheit der „realen" Demokratie liege in der Auslesemöglichkeit. Sie liegt aber höchstens im Auslesereichtum, und auch der darf nicht überschätzt werden—.
76 Corrado Girti, Le basi scientifiche della politica della popolazione. Catania 1931. Studio Editor. Moderno, p. 245. 77 Georges D'Avenel, Les Français de mon temps, p. 80. 78 Robert Michels, Corso di Sociologia Politica, 1. c. p. 67 ff. 79 Arsène Dumont, Dépopulation et Civilisation. Paris 1890. Lerosnier. p. 100. 80 Vgl. die Leitsätze des Vortrages von Hans Kelsen über Demokratie, in den Verhandlungen des fünften deutschen Soziologentages vom 26. bis 29. September 1926 in Wien. Tübingen 1927. Mohr. p. 37 ff. 81 Adolf Grabowsky, Politik. Berlin 1932. Springer, p. 154.
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Jedenfalls erhält die Aristokratie durch hermetischen Abschluß keinerlei dauernden Bestand. Umgekehrt vermögen auch die nichtdemokratischen Staatsformen nur durch eine bewußt geförderte, fortwährende Überführung neuen Blutes in die Adern der oberen Hierarchien zu gedeihen. Die Geschichte, deren Lehren von Fanatikern und Demagogen ignoriert zu werden pflegen, lehrt, daß die absolute Monarchie häufig im hohen Grade die Bildung von Eliten befördert, indem sie sich die begabten Elemente der beherrschten Klassen, sei es auch bisweilen nur auf dem Mittelwege ihrer Aufnahme in den Kreis der herrschenden Oligarchie (durch Adeligung), nutzbar macht. Die Kenntnis der Geschichte des Sonnenkönigs in Frankreich bestätigt, daß der soziale Aufstieg mit dem Absolutismus nicht im Widerspruch zu stehen braucht und die Gentilhommierung der Bourgeoisie zu Nutz und Frommen der Verwaltung und des Heeres gerade damals sozusagen auf der Tagesordnung der Regierungspolitik stand. Napoleon I., der den Marschallstab in den Tornister eines jeden seiner Soldaten legte, schuf neue Möglichkeiten, die sich in der Bildung einer neuen herrschenden Klasse konkretisierten. Eine aufgeklärte Aristokratie hat noch niemals das Gesetz der circulation des élites zu unterbinden versucht. In den Parteien authentischer Aristokratie wird das Führertum zum Prinzip erhoben. Das Charisma, die Elite, ersetzen die ständige Wahl und Neuwahl durch die Massen. In meiner Soziologie des Parteiwesens82 habe ich zu beweisen versucht, daß in den demokratischen Ländern und Parteien eine Führerdiktatur besteht, die nur durch die äußere Form der formalen Demokratie versteckt ist. In der Demokratie ist ein häufiger Wechsel der Führer, deren jedermalige Macht kurzweilig sein kann, zu beobachten. Der schnelle Wechsel zwischen den Führern täuscht die der politischen Wissenschaften Unkundigen über den Charakter der Herrschaft, und läßt sie nicht zu der Wahrnehmung gelangen, daß es nicht eigentlich die Massen sind, welche die Führer stürzen, sondern daß die Führer nur durch neue Führer, die sich der Massen als Werkzeug zu bedienen verstehen, gestürzt werden. Daß in der Demokratie etliche Führer aus der Masse kommen, tut dem Prinzip der Führermacht an sich keinen Abbruch und stärkt den Machtwillen der Massen ebensowenig als der Typus Selfmademan etwa das Prinzip des kapitalistischen Wirtschaftssystems schwächt oder die Arbeiterklasse „erlöst". Jede höhere Rangstufe strebt nach dem Sichbedienenlassen. Diese Erscheinung ist mehr als nur bare Bequemlichkeit: sie dient zur sichtbaren Unterstreichung des Rangunterschiedes, als Punkt auf dem I der hierarchischen Abstufung. Selbst in alten Kulturen gebietet es die Sitte, daß das Sichbedienenlassen äußerlich wahrnehmbare Formen annimmt. Symbol dafür sind die langen spiralförmig gebogenen Fingernägel der chinesischen Mandarinen, deren bloßer Anblick jeden Verdacht verscheucht, daß sich der
82 Vgl. mein Werk, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. 2. Aufl. Leipzig 1925. Kröner. p. 209,255 ff.
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Besitzer solcher Krallen etwa selbst zu bedienen im Stande und gewillt sei83. Beginnender Rang und Ansehen begnügen sich freilich noch mit einer Zwischenstufe zwischen dem Sichbedienenlassen und dem Bedienen; das ist der Verzicht auf das Bedienen anderer wie zugleich auf das Sichbedienenlassen, ermöglicht durch einfaches Sichselbstbedienen. Was freilich nur einer Übergangsmentalität entspricht.
83 Edmond Goblot, La barrière et le niveau. Etudes sociologiques sur la bourgeoisie française. Paris 1925. Alean, p. 45; Thorstein Vehlen, The Theory of the Leisure Class. Ed. New York 1927. Vanguard Press, p. 348.
III. Nation, Nationalismus & Patriotismus
Judentum und öffentliche Achtung
„Die polnischen Frankisten, die vor mehr als vier Menschenaltern Katholiken wurden, haben bis heute ihre semitische Sonderphysiognomie gewahrt und kein Nationalpole verwechselt sie mit Saarmaten".1 Dieser Satz, der von einem der geistreichsten Vertreter des Vollblutjudentums der Moderne herstammt, könnte als Mene-Tekel für alle diejenigen Angehörigen der jüdischen Rasse gelten, welche, durch einen ungesunden, weil zumeist nicht einmal erfolgreichen Egoismus getrieben, sich ihrem Stamme entziehen, um in dem grossen Meer des sie umgebenden Christentums unterzugehen. Wohlgemerkt, des Christentums, nicht aber des sogenannten Ariertums, denn wie Max Nordau an dem obenerwähnten Beispiel klarstens bewiesen hat, auch die Flüchtlinge aus Israel bewahren ihre Sonderphysiognomie". Es ist ein naiver Aberglaube, der nur dadurch einigermassen erklärlich wird, wenn man bedenkt, bei wie vielen Menschen lediglich ein bestimmter Wunsch bei all ihren Ansichten, ja, oft selbst bei ihrer ganzen Weltanschauung. Vaterstelle vertritt, dass die Mehrzahl der jüdischen Deserteure mit der simplicistischen Verleugnung ihrer Stammesangehörigkeit zugleich auch ihre angeborenen Stammeseigenheiten verleugnen zu können glauben. Dass diese kindliche Anschauung oft selbst von Wissenschaftlern geteilt wird, beweist nichts anderes, als dass die Flucht, welche diese Wissenschaftler aus dem nationalen Judentum heraus unternommen haben, so über Hals und Kopf geschah, dass dabei selbst die eigene Wissenschaftlichkeit mit über den Haufen gerannt wurde. Ethnisch-anthropologische Metamorphosen von heute auf morgen, ja, selbst von heute auf fünfzig oder sechzig Jahre giebt es nicht. Es ist hier mit der „Judenfrage" ebenso, wie mit der „Frauenfrage". Das berühmte Problem, ob der Jude moralisch oder intellektuell mehrwertiger oder minderwertiger sei, als der Nichtjude - das Wort „Jude" natürlich stets im ethnolgischen, nicht im konfessionellen Sinne genommen - muss meines Erachtens mit derselben Antwort enträtselt werden, welche auch der Frage der Mehr- oder Minderwertigkeit des Weibes dem Manne gegenüber allein am Platze ist: sie haben beide kollektiv gleich viel Wert, trotzdem ihr Wert - und darauf kommt es hier an - auf verschiedenen Gebieten des moralischen Seins oder der intellektuellen Befähigung liegt, weil ihre ganze anthropologische Struktur eben nicht die gleiche ist.
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Max Nordau: „Der Zionismus und seine Gegner" Köln, p. 8.
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Darum kann eben auch der Stammesjude seine Rasse mit Wort und Tat nicht nur verdammen - das ist ebenso wohlfeil als menschlich niedrig - sondern auch verleugnen, so viel er will, er kann, wie er früher seine Kinder beschneiden liess, nun seinen eigenen Namen beschneiden lassen, um den blöden Verdacht zu erwecken, er sei mitten im Teutoburger Wald geboren, es wird ihm doch alles nicht dazu verhelfen, die Kennzeichen seiner Völkerrasse auch nur um ein einziges zu vermindern. Und das nicht nur äusserlich! Einer der feinsinnigsten Sociologen des modernen „italienischen" Italiens, Guglielmo Ferrerò, hat in seiner bekannten unter dem Namen „L'Italia Giovane" veröffentlichten Studie das Wesen des Semitismus einer ebenso originellen als in ihren Hauptzügen zweifellos richtigen Analyse unterzogen. Nachdem er die ethische Weltverbesserungssucht, den revolutionären Drang, den Hang zur Kritik, das selbstlose Aufopfern fur höhere selbstgebildete Ideale und schliesslich eine in einem seltsamen Kontrast zu letzterem stehende Art von Pessimismus als die Grundzüge des semitischen Volkscharakters bezeichnet hat, beweist er an der Hand vieler Beispiele, wie grundverschieden eben alle diese Eigenschaften den Juden von den ihn umgebenden Völkern machen und wie sehr er vereinsamt ist inmitten der ihn zwar beeinflussenden, aber ihm innerlich doch fremdartigen Kultur. Keiner kann aus seiner Haut fahren, so auch der Jude nicht, ja, er kann es vielleicht noch weniger als andere, denn er trägt die seine schon ein Paar tausend Jahre, ohne dass eine Blutmischung mit anderen Rassen seine Epidermis irgendwie anders gefärbt hätte. Und so ist es denn sein Schicksal, stets unverstanden zu sein. Ferrerò bringt uns hierüber ein gutes Beispiel, welches er auf die Namen Heinrich Heine und Max Nordau bezieht. „Es gelingt dem jüdischen Schriftsteller fast immer, auf das arisch-deutsche Publikum einen so großen Eindruck zu machen, wie ein solcher selbst von den grössten Schriftstellern germanischer Rasse nicht erzielt zu werden vermag. Es gelingt ihm, die Aufmerksamkeit aller Kreise auf sich zu lenken und sich zum Mittelpunkt der interessantesten Diskussionen zu machen. Das Publikum bewundert ihn, aber selbst in den heftigsten Ausbrüchen dieser Bewunderung fühlt es dennoch in ihm ein gewisses Etwas heraus, das seinem Nationalcharakter widerspricht und ihm deshalb missfallt. 2 Diese Unmöglichkeit des restlosen Aufgehens in einem Fremdkörper hindert den fahnenflüchtig gewordenen Juden nun freilich nicht, auf seinem Wege zu äusserlichem Ruhm und Glanz, den er erstrebt, weiterzugehn. Aeusserliche Vorteile hat der „Getaufte" sicherlich. Der Deserteur aus dem Lager seines Volkes kann, es ist eine herbe Ironie, im Lager „seines Kaisers" Reserveoffizier werden. Aber auch da bleibt er ein Fremder. Kaum hat er den Rücken gewandt, da fliegt auch schon das naserümpfende Wort „Jude", nicht als wissenschaftliche Rassenbezeichnung, nicht als terminus technicus fur ein in sich geschlossenes Nationalgebilde, sondern als ein verächtliches Schimpfwort hinter ihm her. Und das meiner Ansicht nach mit vollstem Recht. Was sind die Entstehungsursachen des heutigen Antisemitismus? Die rein physische oder rein intellektuelle oder aus beiden gemischte Abneigung, die, bei der noch so un2
Guglielmo Ferrerò: „L'Europa Giovane". Milano 1897, p. 353; ähnlich auch Mathias Acher: „Die Jüdische Moderne". Leipzig 1896, p. 3.
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endlich niederen Kulturstufe, auf welcher alle Völker Europas heutzutage noch stehen, jedes Volk vor dem anderen empfindet, weil es ihm eben fremd, daher unverständlich und deshalb wieder verhasst ist? Oder der Neid des ungewandteren Konkurrenten gegen den begabteren Zuvorgekommenen? Oder der aristokratische Hochmut den Parvenus gegenüber? Zweifellos haben alle diese Motive, ethnisches Missverstehen sowie Neid der kleinen Gewerbetreibenden und Hochmut der „guten Gesellschaft", an der Wiege des Antisemitismus gestanden, aber der Wechselbalg, den sie gebaren, wäre nie zu solch' einer Gliederkraft, wie wir sie an ihm jetzt leider gewahren, herangereift, hätte ihm nicht die grosse Majorität der Judenschaft selbst ausgezeichnete Nahrung gespendet. Und diese Nahrung heisst: mangelndes Selbstbewusstsein. Diejenigen jüdischen Männer, denen die anständig denkenden Nichtjuden - und auch Schreiber dieses persönlich geht es so - die grösste Geringschätzung entgegenbringen, das sind die getauften Juden. Wie können auch Männer Anspruch auf Achtung geniessen wollen, deren ganzes Leben von dem einen Gedanken erfüllt ist, das zu verheimlichen, was sie sind und das zu scheinen, was sie nicht sind, Leute, die ohne innere Ueberzeugung den Glauben wechseln, den Namen ändern und vielfach sogar die Jämmerlichkeit so weit treiben, selbst auf... sich selbst zu schimpfen. Aber auch die Mehrzahl der nicht übergetretenen Juden mögen sie sich nun zu einem mehr oder weniger konsequenten Atheismus bekennen oder in der Religion ihrer Väter beharren, versteht es keineswegs, sich nationalen Respekt zu verschaffen. Die ängstliche Scheu, erkannt zu werden, das feige Leugnen der Existenz selbst der offenbarsten Sondereigentümlichkeiten, das sind Eigenschaften, die sicherlich nicht dazu beitragen, dass der christliche Arier das von ihm seit Jahrtausenden mit solch brutaler Sachkenntnis getriebene Geschäft des Judenprügelns - in welchen Formen sich dieses vollzieht, kommt hier nicht in Betracht - aufgibt und in dem Juden nicht nur ein häufig vorhandenes intellektuelles Plus, sondern auch eine moralische Vollwertigkeit erkennen lernt. Es ist bereits von vielen, auch von einem so durchaus jüdisch-national denkenden Manne, wie Mathias Acher einer ist, zugegeben worden, dass sich selbst unter den heutigen Antisemiten hochanständig denkende und feinfühlende Naturen befinden. Nun, diese Naturen würden sich meines Erachtens mit Abscheu vom Antisemitismus abwenden, wenn sie sich nicht mehr mit Abscheu vom ... Semitismus abzuwenden brauchten, weil dieser keine Selbstachtung besitzt. Wenn der Jude das Wort „Jude", selbst wenn es als Schimpfwort ihm entgegengeschleudert wird, nicht mehr als ein solches auffasst, sondern sich mit Stolz zu ihm bekennt, wenn der Jude, ob seiner Nationalität geschmäht, emporschnellt und dem Angreifer mit stolzen Mienen antwortet, dass er vielleicht noch mehr Grund zu einem Nationalstolz, so weit ein solcher überhaupt als berechtigt anzusehen ist, habe, als jener, weil er einem älteren Kulturvolk angehöre, das bereits zu einer Zeit höchste Kulturarbeit verrichtet habe, als die braven Germanen und Kelten noch Menschenopfer brachten, wenn der Jude dem Nichtjuden entgegenhält, dass die lange Reihe der Spinoza, Marx, Lassalle, Bernstein, Lombroso, Heine, Börne, Israels, Rubinstein, Franchetti, Mendès, Bizet, M. Mendelsohn, Liebermann, Joachim u. v. a. ein Beweis dafür sei, dass
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Judentum und öffentliche Achtung
das Judentum in der Neuzeit nicht nur Kulturträger gewesen, sondern sogar auf den Hauptgebieten menschlicher Fortschritte als Kulturerreger bahnbrechend vorgegangen sei und noch immer weiter vorgehe, erst dann wird der Antisemitismus zu einem Extrakt von Irrenhäuslerei und Delinquententum zusammenschrumpfen. Die Ueberwindung des Antisemitismus - es ist hier natürlich nicht die Partei, sondern die Bewegung gemeint - ist nur durch eine Stärkung des Nationalbewusstseins im Judentum möglich. Aus diesem Grunde muss auch der Kern der zionistischen Bewegung von jedem rechtlich denkenden Menschen als eine nicht nur gesunde, sondern geradezu fortschrittlich wirkende Erscheinung begrüsst werden. Aus demselben Grunde aber müssen auch die Ansätze einer reinjüdisch-nationalen Bewegung auf sozialdemokratischer Basis, wie der „yiddische Arbeiterbund" in Polen als ein Zeichen nicht nur sozialer, sondern auch nationaler Gesundung angesehen werden. Bedarf es wirklich noch eines Beweises, wie jüdisches Nationalbewusstsein, das sich losgelöst hat von den atavistischen Resten jüdischer Aengstlichkeit, auf vorher nicht einmal vorurteilslose Massen wirkt? Was riefen die Baseler „Arier" gelegentlich des Zionisten-Kongresses in ihrer Stadt? — „Es leben die Juden! Heil den Juden!" Der nationale Zusammenschluss ist die erste Grundbedingung zur Erzielung höherer sozialer Ziele. -
Patriotismus und Ethik
Vorwort Beifolgende Studie wurde zunächst in Form einer Rede die ich zuerst im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur (Abteilung Wiesbaden) am 16. November 1905 in einem Saale des Rathauses zu Wiesbaden, darauf am 17. Januar im Auftrage derselben Gesellschaft im Saale der Arminhallen zu Berlin gehalten, konzipiert. Bei der Niederschrift habe ich sie noch um ein Weniges erweitert. Der Zweck und die Art der Abhandlung, die ich, auf Drängen einiger Freunde, hiermit dem Druck für die weitere Öffentlichkeit übergebe, schließen es aus, daß man in ihr mehr suchen darf als einen bescheidenen Beitrag zu einem der wichtigsten und zugleich verwickeltsten Probleme, die unsere Zeit beschäftigen. Auf Unfehlbarkeit mache ich keinen Anspruch, desto mehr aber auf Anerkennung meines redlichen Bemühens und meiner Liebe zur vaterländischen Menschheit, eine Anerkennung, die mir auch der schärfste Widersacher der in beifolgender Schrift niedergelegten Anschauungen nicht wird versagen können. Noch ein Wort: Als ich (Anfang November) das erste Konzept meiner Rede machte, hatte ich die neueste (3.) Auflage der bekannten Schrift von Prof. Werner Sombart über Sozialismus und soziale Bewegung (Verlag Gustav Fischer in Jena) noch nicht eingesehen; glaube auch nicht, daß sie bereits erschienen war - in dem Exemplar jedenfalls, das Prof. Sombart die Liebenswürdigkeit hatte, mir freundschaftlichst zuzusenden, war als Datum der 8. Dezember vermerkt. Ich bemerke das deshalb so ausdrücklich, weil ich in der genannten Schrift Sombarts zu meiner großen Genugtuung gerade auf dem hier von mir behandelten Gebiet nahe Verwandtschaft des Denkens konstatieren zu können glaube. Auch er spricht, bei Gelegenheit einer Besprechung der Beziehungen zwischen Sozialismus und Vaterlandsliebe, das erlösende Wort vom Kulturpatriotismus und bringt den Gegensatz dieses Kulturpatriotismus zum offiziellen Patriotismus in die treffende Formel: Weimar contra Potsdam! (s. 182). Im übrigen weiß ich mich nicht nur mit einem bedeutenden Teile der in seiner Schrift entwickelten Ausführungen, sondern auch mit dem Motto eins, das er sich als Leitmotiv seiner Anschauungen auserkoren - und das ich auch für meine Schrift wiederholen möchte: „Je ne propose rien, je n'impose rien, j'expose!" Marburg in Hessen. Robert Michels
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Als vor wenigen Wochen der bekannte begabte junge Sozialkritiker Arturo Labriola als Dozent der Nationalökonomie seine Antrittsvorlesung an der Universität Neapel hielt, wählte er sich als Thema zu dem feierlichen Akte die ungewöhnliche These: „L'Impopolarità della Scienza Economica." (die Unpopularität der Volkswirtschaftswissenschaft), worunter er eine Untersuchung darüber verstanden wissen wollte, aus welchen Gründen die Tatsache zu erklären sei, daß weite Teile der Bevölkerung den nationalökonomischen Studien der gelehrten Welt nur mit Mißtrauen, wenn nicht gar mit Gleichgültigkeit begegnen, trotzdem diese Wissenschaft doch offensichtlichst lediglich die Sicherung der größtmöglichen Summe von Glücksgefühlen der Menschheit, soweit die Erreichung dieses von der Wirtschaft abhinge, zum Objekt habe ... So wie Labriola fur die Nationalökonomie, so möchte ich für die Ethik, d. h. die Sittlichkeitslehre, den Satz aufstellen: „Die Ethik ist in hohem Maße unpopulär!" Und in der Tat, es gibt in unserem Volke weite Kreise, die reagieren auf das Wörtchen „Ethik" wie ein spanischer Stier auf ein rotes Tuch. Wie ist diese auf den ersten Blick merkwürdige Tatsache zu erklären? Die Abneigung ist historisch wie psychologisch durchaus verständlich. Kein Begriff ist von einzelnen Kliquen so schamlos ausgebeutet worden, als der der Sittlichkeit. Die Sittlichkeitsapostel sind fast immer die Kompagnons der Gewaltmenschen und der Heuchler in der Firma Kulturvernichtung gewesen, die auf Arbeitsteilung beruhte; während die letzteren die aufsteigenden Klassen in der Geschichte - im XVIII. Jahrh. die „Roture", im XIX. und XX. das Proletariat - mittelst Zwangsmaßregeln bekämpften, haben die ersteren sie mit ihrer Begriffsverwirrung zur Aufgabe ihrer selbst zu bereden versucht. Was ist im Namen der Ethik nicht alles gepredigt worden? Von der Pflicht christlicher Resignation bis zur Harmonie der Klassen von der Notwendigkeit einer Vertilgung des „schlechten Tons" - worunter dann die Meinungsfreiheit schlechtweg verstanden wurde - bis zum Kampf gegen die sogenannte Erweckung von der Begehrlichkeit der Menge, haben vermeintliche Ethiker kein Mittel unbenutzt gelassen, um der neuen Kulturbewegung in den Rücken zu fallen. Auch eine Sorte „Sozialisten" hat bei dieser Ethik ihr Heil versucht. Schon Karl Marx hat es für notwendig erachtet, diese Spezies Sozialismus unter der Bezeichnung des deutschen oder „wahren" Sozialismus auf einer der köstlichsten Seiten seines kommunistischen Manifestes an den Pranger zu stellen. Das waren die Leute, deren geistiges Gewand gewirkt sei aus spekulativem Spinnweb, überstrickt mit schöngeistigen Redeblumen, durchtränkt von liebeschwülem Gemütstau, ein Gewand, in das sie dann ihre paar ewigen „Wahrheiten" einhüllten und, so angetan, die deutsche Nation als die Normalnation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen proklamierten. Sie gaben jeder Niedertracht desselben einen verborgenen, höheren, sozialistischen Sinn, worin sie ihr Gegenteil bedeutete, und zogen die letzte Konsequenz aus ihren Ideen, indem sie direkt gegen die „rohdestruktiven" Tendenzen des Kommunismus auftraten ... Diese Spezies „Ethik", mag sie nun eine Parteimaske vor dem Gesichte tragen, oder mag sie, noch verwerflicher, sich mit der Phrase generellster Ignoranz, der des sogenannten Über-den-Parteien-Stehens, schmücken, ist in Wahrheit der gefährlichste Schädling für das sittliche Werden der Gesellschaft. Dadurch, daß sie alle tatsächlichen Gegen-
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sätze des gesellschaftlichen Lebens verwässert, und den Erscheinungen, nachdem sie sie in schöne Phrasen eingehüllt, das eigene Rückgrat aus dem Leibe zaubert, führt sie die Menschen nicht den schmalen aber steilen Pfad hinauf zur auf Einsicht beruhenden Besserungstätigkeit, sondern die breite, ausgefahrene, schlammige Landstraße hinab zum falschen Sentimentalismus. Der Sentimentalismus aber und seine ihm zum Verwechseln ähnelnde Zwillingsschwester, die Sentimentalität sind die Helfershelfer der Unsittlichkeit. Denn in ihrem öden, bedenkenschwangeren aber denkfaulen Misoneismus, der jeder ideellen wie materiellen Aktion gleicherweise abhold ist, verewigen sie das „historisch gewordene" Unrecht, stützen sie den traditionell gebundenen Aberglauben, konservieren sie das von den Vätern ererbte Vorurteil. Wir Ethiker aber müssen uns darüber klar sein, daß diese Ethik, von der wir bisher gesprochen haben, - eine Pseudoethik war. Eine Pseudoethik deshalb, weil eben sie, die alle tatsächlichen Gegensätze verwischt - wodurch die Gegensätze bekanntlich mitnichten aus der Welt geschafft werden - und für den Fatalismus Propaganda treibt, der gesunden Ethik immanentes Prinzip verkennt, nämlich die Erziehung des Menschen zur auf wissenschaftliche Erkenntnis gestützten Entschlossenheit. Diese Ethik aber, die einzige, die diesen Namen verdient, ist - ohne an sich irgend einer Partei Untertan sein zu müßen - sein zu können - in praxi die kräftigste Helferin der Menschheit aus ihren sozialen Nöten, also auch der um die Emanzipation ihrer Klasse kämpfenden Arbeiterschaft. Sie bringt die Lehre von dem Verständnis und der Begründung der Gegensätze. Sie gibt endlich den Weg an zu ihrer Lösung. Sittlichkeit ist Wahrheit. A u f dem Wege nach ihrem Ziele: wahr zu handeln bedarf die Ethik der natürlichen Vorstufe wahr zu fühlen, und sie wird nur dann denen, die ihr folgen, wahres Fühlen schaffen können, wenn sie ihr zu allererst wahres Denken beibringt. Wahres Denken aber heißt kritisches Denken. Wenn wir uns über diese kausalen Zusammenhänge aber erst einmal Klarheit verschafft haben, dann ist auch unserer Pflicht der Weg gesteckt, dann wissen wir auch, daß es unser, die wir uns Ethiker nennen, heißestes Bemühen sein muß, nach Wahrheit zu ringen, koste es, was es wolle. Unsere vornehmste Aufgabe besteht in einem mutigen Nachprüfen, Vonvornedurchdenken und Revidieren aller überkommenen Gedankengänge und Begriffe. Wir dürfen, wollen wir die Schale unserer ethischen Schätze in die Seelen unserer Mitmenschen gießen, vor nichts zurückscheuen, selbst wenn wir bei der kritischen Zergliederung der Grundbegriffe des menschlichen Zusammenlebens manchmal scheinbar wirklich „rein destruktiv" verfahren müssen. Ohne gründliche Beseitigung von Schutt und Moder ist eine gründliche Reinigung nicht denkbar. Wollen wir daran festhalten, der kommenden Generation Wegweiser zu sein, so dürfen wir uns das Werk des Rinascimento Etico, der moralischen Renaissance, dem wir zustreben, nicht verdrießen lassen, auch wenn eine bessere Einsicht uns zwingt, diese oder jene alten liebgewordenen Begriffe, Werte, Gedanken, Begeisterungen aus unseren Kinderjahren aufzugeben. Unter diesem Gesichtswinkel möchte ich Sie heute bitten, mit mir einmal dem Problem des Patriotismus nahetreten zu wollen, dem Problem vom Vaterland. Ich kann sehr wohl die Verwunderung begreifen, die mehr als Einer von Ihnen darüber empfinden wird, daß ich hier die Vaterlandsidee, den Patriotismus, als ein
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Problem bezeichne. Ist - wird man mir zu entgegnen vielleicht geneigt sein - der Patriotismus, die Vaterlandsliebe nicht eine Selbstverständlichkeit? Wie kann man eine derartige Selbstverständlichkeit, die jeder von Kindesbeinen an fühlt, zu einem Problem erheben? Die Vaterlandsliebe ist da. Gottlob! Denn sie ist ein erhebendes Gefühl, eines der heiligsten Güter unserer Nation. Allerdings: das, was man heute als Vaterlandsliebe zu bezeichnen pflegt, ist eines der unentbehrlichsten Requisiten des bon ton und der Karrière. Sie gilt als die höchste und zugleich elementarste Pflicht jedes Staatsbürgers. Keinen größeren Schimpf, keine empfindlichere Beleidigung kann es in unseren Landen geben, als der Vorwurf der Vaterlandslosigkeit. Sie wissen, daß aus hohem Munde wiederholt die Anhänger der größten Partei des deutschen Reiches als solche „vaterlandslose Gesellen" bezeichnet, gescholten wurden; es sollte sie moralisch herabsetzen in den Augen der Volksgenossen, als Menschen, die nicht einmal so viel sittliches Empfinden besäßen, daß sie ihr Vaterland ehrten und liebten. Es ist ja richtig: wir stecken beinahe noch in den Windeln, da sind wir schon patriotisch. Mit einem Jahre verstehen wir schon Hurra zu schreien - als Lehrstufe zwischen „Papa" und „Mama" - mit zweien tragen wir schon, stolzen Bewußtseins voll, eine Pappepickelhaube auf dem Kopf, mit dreien haben wir schon „unsern Kaiser" „lieb", mit vieren singen wir schon die „Wacht am Rhein" - wie sollen wir da nicht im neunzehnten bewußtes oder unbewußtes Mitglied des „Vereins deutscher Studenten" werden, wie sollen wir da nicht „patriotisch" sein? Wenn wir später älter werden und uns die Mühe geben nachzudenken, dann sehen wir zwar, daß diese vielbesungene Vaterlandsliebe, dieser Patriotismus, den jeder von uns in irgend einer Form aktiv oder passiv mitgemacht, in der Praxis des Völkerlebens nichts anderes ist als die natürliche Vorstufe zu Nationalismus und Schowinismus, zu Völkerverachtung und Völkerverhetzung, zu Raub und Krieg. Eine unerbittlich logische Kette! Da werden wir gewahr, daß in der Menschengeschichte noch kein Greuel, keine Grausamkeit, keine Unsittlichkeit verübt worden ist, die von den Dienern des Staates und des Rechtes nicht mit zelotischem Gebahren als eine heroische Tat gepriesen wurde, im Namen und zur höheren Ehre, eben jener Vaterlandsliebe! Da sehen wir, daß unser ganzes öffentliches Leben ofFiziellerseits auf die Anwendung jenes Satzes herausläuft, der gleichzeitig als Gipfel patriotischen Gefühls gilt, und der doch den Gipfel eines geradezu erschreckenden Mangels an sittlichem Gefühl darstellt und der da lautet: Right or wrong, my country! Wenn wir das alles sehen, dann müssen wir zu dem Schlüsse kommen: in dem Begriff der Vaterlandsliebe muß eine Antinomie stecken. Dann müssen wir zu dem Schlüsse kommen, daß, wenn wir nicht patriotisch sind und deshalb als Hunde behandelt werden, andererseits aber die Patrioten von uns Mord und Totschlag verlangen im Namen es Vaterlandes, es wahrlich hohe Zeit ist, uns einmal in aller Ruhe die Frage vorzulegen: was ist eigentlich, worin besteht eigentlich das Vaterland, das uns so zur Liebe zwingt und uns so schwere Pflichten auferlegt? In der Tat, was ist das Vaterland? Es ist nicht leicht, darauf eine vernünftige Antwort zu finden. Die Frage setzt einen jeden in Verlegenheit. Wenn wir uns rat- und hilfesuchend an das große Bildungswerk
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aller Deutschen, an Meyers Konversationslexikon wenden, und das Wort Patriotismus nachschlagen, so finden wir diesen Begriff folgendermaßen erläutert: „Patriotismus ist Vaterlandsliebe, und zwar nicht allein die Liebe zu dem Lande und Volke, dem man durch die Geburt angehört, sondern zugleich die Gesinnung, vermöge derer der Einzelne sein Privatinteresse dem des Ganzen" - dem Patriotismus des Ganzen? - „unterzuordnen sich bewogen findet". Diese Antwort, mit der uns die Quelle alles Wissens auf unser ängstliches Fragen hin bescheidet, läßt die Schwierigkeit des gestellten Problems deutlich genug durchklingen, hat sie doch selbst die deutsche Sprachkunst des delphischen Orakels in Verwirrung zu bringen verstanden! Und dann erst der Inhalt! Der reine italienische Salat an Charakteristiken des Patriotismus: Liebe zum Lande, Liebe zum Volke, Geburtsangehörigkeit, „Bewogenheit" der Gesinnung zwecks Unterordnung des privaten Interesses unter das Ganze. - Wir sehen, die Anforderungen, die Herr Meyer an den wahren Patrioten stellt, sind nicht gering. Gehen wir ihnen einmal nach! Ist Vaterland das Land, in welchem wir geboren, erzogen sind, welches uns unser Wissen und Können gegeben hat? Hier stehen wir, durch unsere Fragestellung, sofort vor einem neuen Hindernis auf unserem Wege zur Ermittelung des Begriffes vom Vaterland. Was heißt Land? Soll hier Land soviel bedeuten, wie der Ort, an dem wir geboren sind, der Geburtsort, das Land im engsten Sinne des Wortes, so ist die Liebe zu diesem „Vaterland" sicher berechtigt. Es ist freilich keine Liebe aus Dankbarkeit, sondern nur eine solche aus Gewohnheit, aus einer Zuneigung zu uns selber, unserer Jugend, den Menschen, die uns lieb gewesen, den Geschehnissen, die sich in ihr abgespielt haben und die unserem Gedächtnis in freundlicher Erinnerung geblieben sind. Die Liebe zum Geburtsort, zu deutsch der sogenannte Lokalpatriotismus - die Italiener haben fur ihn das charakteristische Wort campanilismo - Kirchtürmlerei - ist sicher einem jeden von uns angeboren und bildet zweifellos in der Mehrzahl der Fälle eine der anmutigsten und poetischsten Blüten aus der Entwicklung des menschlichen Gemütes. Aber dieser - bleiben wir bei dem bezeichnenden Wort - Glockenturmpatriotismus ist durch keinerlei logische Assoziation mit dem Landespatriotismus großen Stiles verbunden. Die Liebe zum Geburtsort vermag nicht im geringsten die „Liebe zum Vaterland" zu erklären, mit allen den Städten und Dörfern, in denen man nicht geboren ist, die man nie gesehen hat, mit denen man infolgedessen durch keine Jugenderinnerung verknüpft ist. Gesetzt den Fall, Danzig würde morgen von den Russen besetzt, so würde diese Stadt denen, die in ihr geboren, Heimatstadt verbleiben, ohne daß das heilige Rußland deshalb zu ihrem „Vaterland" werden müßte. Aber wir brauchen uns garnicht so tief auf diese Frage einzulassen. In unserem Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität wird die Zahl derer immer mächtiger, die überhaupt nirgendwo einen Geburtsort haben, das Wort Geburtsort natürlich nicht im materiellen, sondern im ideellen Sinne genommen. Ein Beispiel: Der Sohn aus OfFiziersfamilie, den der Beruf seines Vaters von Ort zu Ort geworfen, ohne daß er je irgendwo warm geworden wäre, macht nach vollendetem Schulbesuch als junger Künstler seine Studien in Paris. Er saugt sich nun voll an sogenannter französischer Bildung. Dann, nach Verlauf etlicher Jahre, geht er nach Italien, wo er sich niederläßt. Woher soll diesem jungen
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Manne unter normalen Geistes-Verhältnissen der landesdeutsche Patriotismus herkommen? Zum Festwurzeln in einem Lokalpatriotismus irgend einer deutschen Stadt hat ihm das Leben keine Frist gelassen. Sein erster Ruhepunkt war Paris, eine Stadt des Auslandes. Und sein Wissen, sein Können hat er, so er sagt, ebenfalls fast ausschließlich in Paris erworben. Soll er sich nun als Deutscher fühlen, nur weil seine Mutter, die noch obendrein vielleicht selbst Ausländerin war, ihn zufällig in Deutschland zur Welt hat kommen lassen? Es ist unsinnig, den Begriff des Vaterlandes aufbauen zu wollen auf das Land der zufalligen Geburt. Oder ist das Väterland, fur dessen Kult wir die größten Opfer bringen und Leiden zufügen sollen, etwa „das Land, wo unsere Rasse, das deutsche Volk, sitzt?" Dann wäre Patriotismus das Gefühl der Blutsverwandtschaft, die musica de la sangre, wie die poetischen Spanier sagen. Diese Antwort würde die Ursache zu einer heillosen geographischen Verwirrung sein. Wenn wir unter Väterland, das Land, in dem das eigene Volk sitzt, verständen, so würden wir damit zunächst unseren jüdischen Mitbürgern, einerlei ob noch mosaischen Glaubens oder durch die Taufe „germanisiert", - die doch zweifellos als Angehörige einer ethnologisch von uns verschiedenen Rasse zu betrachten sind - jede Gemeinschaft mit uns absprechen. Wie sollten wir von einem semitischen Juden Liebe zu einem auf dem Rassengedanken basierenden deutschen Vaterland beanspruchen können? Und auch unsere Liebe zu diesem Rassenvaterland würde vor den Ghetti des eigenen Landes haltmachen müssen. Ist der deutsche Jude nicht dem französischen Juden weit näher rasseverwandt als seinem deutschen Mitbürger? Und doch will man vom deutschen Juden verlangen, daß er im Namen des Rassen-Patriotismus im Kriegsfalle jenen totschießt? Und zu welchem Volke müßten unsere Hugenotten- und Emigranten-Familien mit den hohen Adelsnamen gerechnet werden, wenn sich ihre Vaterlandsliebe nach ihrer Ursprungsrasse richten sollte? Und gar die Dynastenfamilien auf den Thronen Europas, diese wahren Musterbilder des Internationalismus? Bestände der Patriotismus wirklich, wie erzählt wird, in der Liebe zur Rasse, so könnten wir in einem etwaigen Kriege zwischen Deutschland und England ein merkwürdiges Phänomen erleben: Deutschland würde von ausländischen, zumal balkanischen Fürsten, die, in edlem patriotischen Gefühl, deutsches Blut in ihren Adern zu haben, im deutschen Heere Dienste nehmen wollten, so überflutet werden, daß kaum die Bildung eines neuen Ersatzbataillons genügen würde, sie alle unterzubringen, während andererseits Wilhelm II. sich schwer besinnen müßte, ob er nicht etwa - in England Kriegsdienste nehmen müßte! Und zudem, man bedenke es wohl: das Vaterland als Ausdruck des Rassegedankens, ist ein eminent revolutionärer Faktor Wem das Vaterland in der Rasse wurzelt, der kann füglich kein Patriot des deutschen Reiches sein - denn das deutsche Reich umfaßt viele Millionen von notorisch Nichtdeutschen, Polen, Franzosen und Dänen. Der Rassenpatriotismus würde in dem heutigen Reichs-Deutschland sein Vaterland nicht erblicken können. Es wäre ihm einesteils zu groß und anderenteils zu klein! Jedoch weiter und vor allem: was ist Rasse? Gibt es überhaupt eine deutsche Rasse? Sind wir Deutschen nicht eine der am meisten blutgemischten anthropologischen Er-
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scheinungen der Erde? Sind wir nicht aus den verschiedensten Bestandteilen zusammengebraut? Ist es denn nicht offenbar, daß etwa 4/5 der Deutschen jenseits der Elbe, die so gerne im Namen des aggressivsten Deutschtums das Wort ergreifen, die sich als die Wächter des Deutschtums gegenüber dem Slawentum fühlen, nicht selber Slawen sind? Wie sollen wir unseren Patriotismus nach einer Rasse bemessen, wenn es gar keine feststellbare Rasse gibt? Jedoch selbst angenommen, es existiere wirklich ein deutsches Volk, der Patriotismus als übermächtige solidarische Liebe zu der einen deutschen Rasse würde dadurch nicht begründbar. Sollen wir von dem rheinischen Bauer verlangen, daß er, der jenen an Rasse, Lebensauffassung und Gefühl so viel ähnlicher ist, als diesem, im Interesse des meilenweit entfernten ostpreußischen Landsmannes den nachbarlichen französischen „Ausländer" verabscheue? Es entspricht nicht gerade den Geboten des gesunden Menschenverstandes, wenn man im Namen einer schattenhaften oder ganz schematischen These die Menschheit in willkürliche wissenschaftlich nicht begrenzbare „nationale" Haufen einteilt! Der auf dem Rassengedanken allein basierende Patriotismus ist also ein Phantom, mit dem nicht ernstlich gerechnet werden kann. Nicht einmal ein Stöcker oder ein Déroulède wird mit ihm rechnen wollen. Doch da stoßen wir auf andere, die sagen: Das Vaterland ist das Land, aus dem ich meinen Verdienst ziehe, ist das Land, das mich ernährt. Ubi bene, ibi patria! Patriotismus wäre demnach die Dankbarkeit für genossenen Erwerb. Nun, abgesehen davon, daß eine ehrlich geleistete Arbeit sittlich auf einen Lohn in Geld und Ansehn Anspruch gibt, eine Dankbarkeit gegen den, der mir für meine Arbeitskraft ein entsprechendes Quantum an Metallwert gegeben, also mit mir Werte ausgetauscht hat, eine vollständige Überflüssigkeit, ja Torheit bedeuten würde und durch keinen kategorischen Imperativ aufgezwungen zu werden vermag, - dünkt uns diese Lösung des Vaterlandsproblems denn doch etwas gar zu grob materialistisch. Das: Von weß' Teller ich freß, des Lied ich sing! entspricht doch etwas gar zu wenig dem Gefühl der Menschenwürde, das in die Herzen der Kinder einzupflanzen wir als eine unserer vornehmsten Pflichten erachten. Aber zugegeben einmal, diese Auffassung vom Vaterland als der Nährmutter wäre richtig, welche Konsequenzen würden sich daraus ergeben? Die kapitalistische Ordnung verfolgt die Tendenz des Kosmopolitismus auf wirtschaftlichem Gebiet. Durch eine Art von künstlich herbeigeführter Übervölkerung und elende Löhne gezwungen, wandern alljährlich Zehntausende italienischer Proletarier nach den Ländern mit höherem Standard of life, Frankreich, Deutschland und der Schweiz, aus. Viele von ihnen kehren alle Winter zu den Ihrigen nach Italien zurück, um dann, nachdem sie mit Weib und Kind von dem im Ausland verdienten Gelde überwintert haben, im Frühjahr von neuem auszuwandern. Diese Italiener „leben" allerdings von dem Verdienst, den sie sich durch ihrer Hände Fleiß - sagen wir einmal im Ruhrrevier - erworben haben. Aber sollen sie deshalb Deutsche werden, deutschen „Patriotismus" empfinden? Oder sollen, um ein anderes Beispiel zu nehmen, die etwa 10000
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Deutsche, die in London „ihr Brot" verdienen, deshalb Engländer werden müssen? Es wäre unbillig, das zu verlangen! Wie aber sähe der Patriotismus-Geldverdienst in den kapitalistischen Sphären unserer Gesellschaft aus? Bei der Kapitalsanlage von heute, die keinerlei Grenzen kennt? Wer zählt die Gelder, die im Auslande angelegt werden? Wer ihre Besitzer, die im Inlande wohnen bleiben? Wie viele jüdische Bankiers deutscher Zunge, auch in Berlin, gehörten nicht, wenn die Vaterlandsliebe sich nach dem Stammland ihres Kapitals richten sollte, statt ins Tiergartenviertel - nach Kischinew? Wir sehen: Auch diese Erklärung des Begriffes Vaterland ist außerordentlich leicht ad absurdum gefuhrt. Und endlich noch eine letzte Erklärung des Begriffes Vaterland: Das Vaterland definiert als eine Interessengemeinschaft in staatlichen Grenzen, dem Auslande gegenüber. Wer diesen Patriotismus gelten lassen will, von dem kann man mit Fug und Recht sagen, daß er achtlos an den gewaltigsten Erscheinungen unseres Zeitalters vorbeigewandelt ist. Nicht die nationalen, sondern die Klassen-Unterschiede im Schöße jedes einzelnen Staatsgebildes sind es, welche unser politisches Leben von heute in erster Linie beherrschen. Es widerspricht direkt den Tatsachen, wenn man behauptet, es bestehe eine Interessengemeinschaft aller Volksgenossen - nur den Naturereignissen gegenüber würde eine derartige Behauptung zutreffend sein. Vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus sicherlich nicht. Da reißt der gewaltige Interessenunterschied von Kapital und Arbeit die Volks- oder Staats-Gemeinschaft klaffend weit auseinander. Dagegen drängt, wie als bekannt vorauszusetzen, der gemeinsame Gegensatz zum Kapital die Arbeit aller Länder zu internationalem Zusammenschluß. Dieser international gerichtete Gegensatz zwischen Hoch und Niedrig, Arm und Reich, Kapital und Arbeit ist keine Finte sozialdemokratischer Hetzarbeit. Das Gebiet seines Wirkungskreises liegt nicht nur engumgrenzt in der Politik. Er kommt schon in den Sitten und Gebräuchen des täglichen Lebens zu prägnantem Ausdruck. Ich möchte diese These kurz durch einige dem schier unerschöpflichen diesbezüglichen Material des Lebens entnommene Beispiele erläutern. Zwei von ihnen betreffen das wichtige Gebiet der gesellschaftlichen Geschlechtsmoral. In mondänen Festlichkeiten, bei allen prunkenden Gelegenheiten erscheint - gleichviel in welchem von den Ländern des christlichen Europa - das Weib aus den Klassen der Besitzenden und Gebildeten in sonderbarer, eigens zu dem Zweck verkürzter Toilette: Arm und Schultern, vielfach auch die Brust bis in die Gegend der Warzen - „gesellschafts"-technisch heißen diese Körperteile freilich mit einer Gesamtbezeichnung: „Der Hals" - sind frei, den Blicken aller Anwesenden preisgegeben. Diese Sitte soll, wie angegeben wird, ästhetisch schön wirken - die Blume muß doch einen Stengel haben! - auch soll das Kostüm beim Tanzen und zum Aufenthalt in winterlich überheizten Räumen den also Kostümierten gar manche körperliche Erleichterung und Erquickung bieten. Wie dem auch sei, jedenfalls empfinden weder die Damen selber noch die männlichen Mitglieder ihrer Klasse in dem nackten Zurschaustellen selbst jungfräulicher Körper irgend etwas Unsittliches oder Anstößiges. Umgekehrt soll es vorkommen, - ich selber wäre in der Lage, aus der Erfahrung meiner Praxis des life in
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society Beispiele dafür anzuführen - daß das Erscheinen einer zu Ball geladenen Dame ohne Decolletage vom Gastgeber sozusagen als eine „Unanständigkeit" empfunden wird. Aber trotzdem die Proletarierin nun - in allen Ländern - ihre Geschlechtsgenossinnen aus den höheren Ständen in ihrer Halbnudität sehen kann, und sie als Schneiderin, Kammerzofe, Köchin usw. auch tatsächlich sieht, ahmt sie - die doch sonst bei dem in den künstlich niedergehaltenen Volksschichten noch herrschenden Servilismus so gem selbst in allem „die Dame" spielt! - jene in diesem Falle doch nicht nach. In all den Belustigungen ihrer Klasse erscheint sie - die in ihren Lebensgewohnheiten der besitzenden Welt zuzuzählende bessere Dirne natürlich ausgeschlossen - feinsittiglich in hochgeschlossenem Kleidchen. Die Ursache dieser Erscheinung ist keineswegs, wie vielleicht harmlose Seelen annehmen möchten, in dem Umstand zu suchen, daß das Mädchen der unteren Stände, etwa aus pekuniären Gründen, keine ausgeschnittenen Hemden kenne der Ausschnitt bedeutet doch wohl ein Minus an Stoff und ließe sich überdies auch am Kattunkleidchen bewerkstelligen - oder gar in der Wahrscheinlichkeit, daß die Männer ihrer Klasse Nacktheit weniger ertragen könnten als die Männer aus der Klasse der Damen, sondern einzig und allein in der Tatsache, daß es der Proletarierin nicht sittsam, nicht anständig erscheinen würde, sich öffentlich zu entblößen. Das zweite Beispiel, das ich zum Beweis meiner These heranziehen möchte, betrifft die Brautmoral. Bei den kapitalistischen Schichten unserer Bevölkerung in Europa gilt die Jungfernschaft als ein Kapitalswert. Sie zu verlieren, kommt einem finanziellen Verluste gleich, einer Entwertung der Ware Weib auf dem Heiratsmarkt. Den Niederschlag dieser ökonomischen Verhältnisse auf die Sittenbildung heißt man jungfräuliche Ehre. Die Sitte - „Moral" - der oberen Klassen erheischt also gebieterisch die körperliche Reinheit, auch von der Braut, selbst ihrem Bräutigam gegenüber, bis zur Ehe. Jeglicher Geschlechtsverkehr zwischen ihnen ist streng verpönt. Erfolgt er dennoch, so gilt die Braut als entehrt. Daran ändert auch nichts, wenn sie, selbst vor dem Erscheinen des Kindchens als des corpus delicti, vom Bräutigam-Vater Offiziellstens geheiratet wird, wogegen, nebenbei bemerkt, dieselbe Moral verlangt, daß sich die jungen Leute an einem genau festgelegten und öffentlich gefeierten Tage ohne jegliche, auf dem Gebiet des Liebeslebens doch so sittlich notwendigen Übergänge, also mit anderen Worten ziemlich brutal, geschlechtlich verbinden. So die internationale „Bourgeoisie" Europas. Ganz anders aber hat sich die Brautstandsmoral im internationalen Proletariat gestaltet. Hier gilt es durchgängig nicht für „unsittlich", wenn die Verlobten bereits vor dem standesamtlichen Eheschluß als Mann und Frau zusammen leben. Selbst, daß sie als solche Nachkommenschaft erhalten, wird in den meisten Fällen nicht als tadelnswert erachtet. Hier im Proletariat besteht die Brautstandsmoral lediglich in dem einen Postulat, daß sich die geschlechtlich miteinander lebenden Brautleute schließlich, d. h. sobald sie eine genügende materielle Basis dazu gefunden haben, auch einmal ehelichen. Ein drittes Klassen-Merkmal in dem heutigen Sittenbestand bietet uns das Verhalten der einzelnen internationalen Klassen bei persönlichen Händeln. Während eine selbstbewußte Bourgeoisie solche, ihrem wirtschaftlichen Charakter entsprechend, zumeist auf gerichtlichem Wege mit dem Nebengedanken des Gelderwerbs abmacht, - siehe England - muß bei der internationalen Aristokratie und ihren Anhängseln, die im wirt-
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schaftlich industrielltypischen Deutschland freilich fast die gesamte Bourgeoisie umfassen, im Duell Blut fließen. Wenn nicht, gälte der sich Weigernde für entehrt und ginge seiner Standesprivilegien verlustig. Der Proletarier hingegen empfindet eine solche Lösung strittiger Fragen, bei der es Usus ist, zu bestimmter Stunde und bei wieder abgekühltem Blute den Gegner „ehrengesetzlich" niederzumachen, als den Gipfel entweder der Komik, oder, wenn er ernster darüber nachdenkt, der Unmoral. Dagegen greift er selbst, in der Leidenschaft, über ein ihm wirklich oder vermeintlich geschehenes Unrecht vom Zorn überwältigt, zur Waffe und streckt seinen Gegner zu Boden, ein Verfahren, welches der Gentleman der ersten Stände nun wieder seinerseits als in hohem Grade unmoralisch qualifizieren würde, und wenn er Richtersrock trägt, ja auch in diesem Sinne verurteilt. Was geht aus diesen Beispielen, die sich, wie gesagt, beliebig vermehren ließen, hervor? Daß zwischen den einzelnen Klassen eine Kluft in den Empfindungswelten besteht. Daß die Sittengeschichte, die Sittenbildung sich in ihren wichtigsten Normen nicht so sehr „national", nach Maßgabe etwaiger Rassen oder gar Grenzen, sondern wesentlich gemäß den natürlichen Gegensätzen wirtschaftlicher Klassen entwickelt hat. Die Sittengeschichte gibt der Theorie vom historischen Materialismus recht. Sie stützt durchaus die Marx'sehe Auffassung vom Wesen der heutigen Gesellschaft. Die Wirtschaft, nicht die „Rasse", ist der maßgebende Entwicklungsfaktor. Mit anderen Worten: die Scheidungslinie liegt nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen den Klassen. Das haben gerade diejenigen Klassenschichten am gründlichsten eingesehen, die sich für die wahren Hüter des Patriotismus halten. Für nationale Interessengemeinschaft haben gerade sie wenig übrig. Das beweist ihre Praxis. Ist es wirklich notwendig, diese Tatsache auch noch mit Exempeln zu belegen? Der englandfeindlichste deutsche Wollhändler bezieht seine Wollen aus den englischen Kolonien Australiens und Südafrikas auf dem Mittelwege der Londoner Wool-Exchange. Ließe er sich in seinen Geschäftsprinzipien wirklich von der „nationalen Idee", die er sonst so gern im Munde führt, von der Idee des gemeinsamen Zusammenschlusses aller Deutschen gegenüber den Interessen des „Auslandes", leiten, er müßte den englischen, „deutschfeindlichen" Markt boykottieren und seine Kaufkraft dem deutschen Schafzüchter zuwenden. Aber nicht nach dieser Idee, sondern nach der Rücksicht auf die Billigkeit und Güte, kurz die Nutzbarkeit der Ware für seine, nicht national-altruistischen, sondern recht individuell-egoistischen Zwecke, richtet er sein Handeln ein. Er wünscht vielleicht ganz England den Untergang; nur seine Wollen müssen ihm erhalten bleiben. Er liebt vielleicht sein Vaterland bis zum Paroxysmus, nur der Verbleib des „nationalen Schafes" ist ihm völlig gleichgültig. Nicht nach anderen Grundsätzen benimmt sich der Kapitalist, wenn es sich ihm um den Einkauf der Ware Arbeitskraft handelt. Wo und wann immer es ihm opportun erscheint, erhandelt sich der deutsche Unternehmer aller Branchen ohne Zaudern ausländische, (italienische, tschechische usw.) Arbeitskraft, und läßt die nationale Arbeitskraft, mit der ihm doch angeblich Sprache, Rasse und Gewohnheiten vielfach verbinden, und die er also, wenn er sein Geschäft nicht gemäß der Grundfrage: Woher bekomme ich die billigste Arbeitskraft?, sondern nach auch nur einigermaßen „vaterländischen" Gesichtspunkten betriebe, diese mit ihm, wie er behauptet, doch durch
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Sprache, Rasse und Lebensgewohnheiten vielfach verbundenen Elemente nach Kräften untersützen müßte, als Arbeitslose Hunger leiden. Ja, die Fälle stehen keineswegs vereinzelt da, wo Industrielle, um die Profitrate zu erhöhen oder lästigen Arbeiterschutzgesetzen zu entgehen, zwar selbst im Lande wohnen bleiben, ihre Fabriken aber ins Ausland auswandern lassen, wo sie billigere Arbeitslöhne zu zahlen brauchen. Der Exodus der - auch sehr patriotischen - Millionäre war überdies in der Bismarckzeit und ist wohl auch noch heute - die ernsteste Sorge unserer größten Staatsmänner! Aber nicht einmal die Variante Staatspatriotismus ist diesen Großkapitalisten heilig. Unsere großen Firmen Krupp und Stumm (Dillinger Hütte) liefern ihre Mordwerkzeuge dem Negerpräsidenten auf Haiti und der Kaiserin-Mutter in China ebenso gut und womöglich noch billiger als der Regierung des deutschen Reiches. Als vor einigen Jahren gelegentlich der berühmten chinesischen Expedition deutsche Schiffe gegen die TakuForts vorgingen, da erhielten sie von den Chinesen einen echt deutschpatriotischen Gruß: es waren Krupp-Geschosse, von denen die Leiber unserer Seeleute durchbohrt wurden. Es bleibt also zur Erklärung des Begriffes Vaterland nichts anderes mehr übrig, wenn wir von der über alle Maßen törichten Gleichung: Vaterland = Hohenzollernmonarchie, dieser Gleichung, die eine zufällig entstandene und durch nichts immanent mit ihm verbundene Institution desselben mit dem Vaterland (im besten Falle paratem minimam pro toto) verwechselt, absehen, als die Gleichsetzung von Vaterland und Staat. Vaterlandsliebe, Patriotismus wäre alsdann die Liebe zu dem historischen Gebilde des von Grenzpfählen umschlossenen Staates. Hiermit aber wäre der Patriotismus glücklich auf das allertiefste degradiert. Denn diese Spezies Patriotismus ist nichts anderes als ein verkappter Klassenegoismus. Daß die Beamtenschaft, die durch diesen Staat genährt wird, die auf das Engste an seiner Existenz interessiert ist, in diesem Sinne patriotisch fühlt, ist eine platte Selbstverständlichkeit. Daß die haute finance und der haut commerce, denen es in diesem Vaterland so gut geht, es diesem mit ihrer „Dankbarkeit" bezeugen, ist ihre verfluchte Pflicht und Schuldigkeit und ihr eigenstes Interesse. Der Denker aber kann den auf dem Staatsgedanken basierten Patriotismus - in concreto den deutschen Reichspatriotismus zwar als ein sogen, fait accompli der Geschichte würdigen - oder auch nicht würdigen - , aber er kann ihm nicht die bindende zwingende Kraft allgemeiner Verehrungswürdigkeit andichten. Die patriotische Liebe zum Staate ist, sofern sie ihre Wurzel nicht im persönlichen Interesse hat, aus der Erfolgsanbeterei entstanden. Denn die Genesis des Staates ist keineswegs eine solche, daß sie ein so edles Gefühl wie die Liebe zu erklären vermöchte. Das erhellt sofort, sobald man sich einmal die Entstehung dieses Staat-Vaterlandes vor Augen hält. Die staat-vaterlandsbildenden Faktoren waren - und sind noch - der Zwang, der Krieg, die dynastische Heirat. Nicht die anthropologische Struktur des Volkskörpers, nicht die geographische Struktur des Landes, nicht der Geist des Christentums, nicht das Selbstbestimmungsrecht majorenner Völker haben den einzelnen Staaten-Vaterländern die heutige Gestalt verliehen. Man kann wohl sagen: Sie alle - höchstens Italien bis zu einem gewissen Grade ausgenommen - sind entstanden unter Nichtachtung aller
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ethischen Kategorieen. Unter dem Patronat des sog. Nationalitätenprinzipes, das da jedem Volk das Recht auf den eigenen nationalen Bestand an Volk und Land vindizieren wollte, zogen im Jahre 1864 deutsche Heere aus: Sie wollten die unter dem Joche der Dänen seufzenden deutschen Brüder in Schleswig-Holstein befreien. Mit gebrochenem Nationalitätenprinzip kehrten die Sieger heim: sie hatten nicht nur ihr Befreiungswerk vollbracht, sondern auch noch dänische Bevölkerungsgebiete, Flensburg und Apenrade, eingesteckt, ein Räuberwerk. Vor 1864 hatte es eine deutsche Irredenta in Dänemark gegeben: nach 1864 gab es - gibt es - eine dänische Irredenta in Deutschland. Das war der ganze Unterschied. In diesem chassez-croisez der brutalen Gewalt erschöpft sich die Geschichte unserer Staatenbildungen, von der die Ethik nichts weiß. Und nach diesen Zwangsinstituten, denen wir, sehr euphemistisch, den Titel Vaterland beilegen, sollen wir die Grenzen unseres Patriotismus richten? Freilich strafgesetzlich ist die Anomalie fixiert: der „Patriotismus" ist obligatorisch. Es bleibt, ihn zu erzwingen, dem Rechte des Stärkeren vorbehalten. Der Kasseler Bürger von vor 1866 war kurfürstlich hessischer Untertan. Sein hessischer Patriotismus war für ihn „vaterländische Pflicht". Strebte er nach Preußen hinüber, konnte er mit Fug und Recht ein vaterlandsloser Gesell genannt werden. Würde er aber etwa seine borussophilen Tendenzen mit gar zu großem Nachdruck vertreten haben, so würde er als Landesverräter ins Zuchthaus gewandert sein. Nach 1866 dagegen, das heißt, nachdem die Waffengewalt das Kurfürstentum zerschlagen und Hessen-Kassel zu einer preußischen Provinz gemacht hatte - gerade umgekehrt! Nun wurde plötzlich der preußische Landespatriotismus obligatorisch und die althessische Anhänglichkeit zum Landesverrat. Alles das mag ja sehr ergötzlich sein, zergliedert zu werden, es mag auch manchmal in der Linie des Fortschritts gelegen haben, sittlich ist es nicht. Nein, der Staat, durch Waffengewalt entstanden und durch Waffengewalt zusammengehalten, vermag uns keine sittlich genügende Grundlage zur Rechtfertigung des Patriotismus zu geben. Welches sittliche Gebot sollte die Lothringer zwingen können, „gute Deutsche" zu sein? Wenn die patriotische Zugehörigkeit nach der Staatszugehörigkeit bemessen wird - dann ist die ernste Mahnung doch am Platz: man möge doch endlich einmal aufhören, den allerverwerflichsten Gesinnungszwang mit dem schönen Wort Vaterlandsliebe zu taufen. Die Gleichsetzung von Vaterland und Staat ist aber auch sehr wenig logisch. Denn Vaterland, als Staat betrachtet, schließt von vornherein - das bedenke man wohl! - die großen Massen vom Patriotismus aus. Was bietet nun aber heute das Vaterland Staat den ärmeren Klassen? Nichts als Zwang, und, wenn nicht immer materielles, so doch kulturelles Elend. Den Zwang einer Konfession - in Preußen sind selbst die Kinder konfessionsloser Eltern in der Volksschule zur Teilnahme am Religionsunterricht, einem Gewissenzwang - verpflichtet. Den Zwang eines Heeresdienstes, der, die Unterschiede unter den Klassen im bürgerlichen Leben in Regeln sperrend und bis zur Karikatur verzerrend, die Kinder der Armen, unter denen auch Intelligente und Begabte sind, zwei oder drei Jahre, die Kinder der Reichen hingegen, unter denen auch Geistig-Minderwertige und Schwerfällige, bloß ein Jahr unter den Waffen hält, jenen den Stand der Gemeinen und der niederen Chargen, diesen den durch chinesische Mauern abgesperrten OfFizierstand reserviert. - Jeder
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objektiv Urteilende wird zugeben müssen: Die arbeitenden Klassen können in den heutigen Vaterländern nicht viel Liebenswertes oder gar Verteidigenswertes erblicken, ja, sie können nicht einmal große Unterschiede zwischen ihnen entdecken. Ohne Recht auf Arbeit - dieses elementarste Menschenrecht, dessen Erfüllung die heutige Gesellschaftsordnung unmöglich macht - sehen sie sich im einen wie im anderen gezwungen, einer ungewissen Zukunft, stets einen Fuß auf dem Pflaster, entgegenzudämmern. Die Bildung, die ihnen das Vaterland verzapft, rudimentär und nach dem berüchtigten Maßstab bemessen: Gerade so viel, als genügt, damit sie ihre Funktion als Rädchen in der gigantischen Maschinerie der modernen kapitalistischen Produktion erfüllen können, eine auf die Lohnsklaverei zugepaßte, bewußtermaßen nicht über deren Zwecke hinausgehende Bildung, zu groß immerhin, um diese Massen in der hungernden Zufriedenheit ihrer verdammten Bedürfnislosigkeit zu belassen, aber andererseits viel zu gering, um ihnen die angehäuften Schätze unserer Höhenkultur und die unsagbaren Herrlichkeiten unserer Kunst zu erschließen, ganz dazu angetan, ihre Genußfähigkeit möglichst auf dem niederen Niveau grobsinnlicher Vergnügungen zu erhalten. Eine Fürsorge für das weibliche Geschlecht endlich, die Hunderttausende kultur- und körperlichhungriger Frauen in die Bordelle hinein, oder, wenn man lieber will, auf die Straße hinaus wirft. Überall, in Paris und London genau so wie in Berlin und Frankfurt, entspricht die Lohnhöhe ungefähr der Summe von Familienunterhaltungsmöglichkeit und Erhaltung der Sexualkraft des Lohnarbeiters zwecks Erzeugung der Lohnarbeiterschaft der Zukunft. Wo soll da dem Arbeiter ein patriotisches Spezial-Gefühl herkommen? Daraus daß ihm der Lohn hier in Francs, dort in Mark, dort in Shillings ausgezahlt wird? Etwa dadurch, daß er den erhaltenen Lohn hier in Polenta, dort in Kartoffeln anzulegen gezwungen ist? Selbst der Patriotismus des Besitzes muß diesen Schichten notwendigerweise fehlen. Was für einen Privatbesitz hat in der Tat der Metallarbeiter, der Textilarbeiter, der Brauereiarbeiter gegen den „Feind" zu verteidigen? Seine Sparkasseneinlage? Niemand will sie ihm - falls er überhaupt eine solche hat - nehmen! Sein Werkzeug, seine Fabrik? Aber sie gehören ja nicht ihm! Der Besitzer aller dieser seiner Berufsnotwendigkeiten kann ihn jederzeit nach Belieben vor die Tür setzen. Seine Existene ist schlecht in diesem Vaterlande. Und sie ist ihm nicht einmal gesichert. So ist es zu erklären, daß die, wie man sagt, unteren Klassen dem Problem des Vaterlands kälter, sachlicher, ungescheuter, ohne viele Vorurteile ins Gesicht sehen können, sobald sie sich einmal von den ihnen auf Geheiß des Staates in den Schulen beigebrachten Ideologieen befreit haben. Es ist begreiflich, daß sie geneigt sind, sich kurzweg mit Gustave Hervé auf den Standpunkt zu stellen, daß jede Kriegserklärung seitens der Herrschenden an ein Nachbarvolk im sogenannten patriotischen Interesse in Wirklichkeit eine revolutionäre Tat ist, die alle Banden löse und nunmehr auch die revolutionäre Tat des Proletariats ihrerseits rechtfertige. Auf Kriegserklärung an ein Nachbarvolk aus sogenanntem Patriotismus - Generalstreik und Revolution aus internationalem Menschentum als Antwort; so ihre Parole. Und mit der offenen Aussprache dieser Absicht glauben sie - und m. E. mit Recht - eine sittliche Friedenstat zu erfüllen, denn: sehen sich die heute so leichtfertig „superpatriotischen" Regierungen vor die Alternative gestellt: entweder Krieg und Revolution oder Friede, sie werden es sich zwei-
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mal überlegen, ob sie wirklich den Rubikon überschreiten sollen und werden den Weg nach dem Haag immer leichter finden. Ziehen wir aus dem bisher Gesagten den Schluß, so drängt sich uns mit innerer Notwendigkeit die Aussprache dessen, was ist, auf, nämlich daß der Patriotismus jeder realen Grundlage entbehrt. Er ist ein Hirngespinst, und nicht einmal ein schönes, eine Phrase, unter deren Deckmantel alle Scheußlichkeiten verübt werden und verübt werden können, ein „Begriff', der jeder Logik ins Gesicht schlägt, der - im besten Falle - das verschwommene Sittlichkeitsgefühl ignoranter Massen in den Dienst einer unsittlichen Sache stellt. Der Patriotismus ist im besten Falle verirrter Idealismus. Woher diese Arten von Patriotismus trotz alledem noch eine Quelle in unserer heutigen Zeit finden, fragen Sie? Nur einige Stichwörter mögen darauf Antwort geben. - Das Bedürfnis der durch die Gemeinsamkeit eines Staatsapparates und eines Zollgebietes wirtschaftlich bis zu einem gewissen Grade solidarisch gewordenen höheren Klassen, sich diese Interessenvertretung zu wahren und der sich daraus ergebende Versuch, ihre Auffassung der Dinge durch das Medium ihrer Machtmittel (Schule, Heer usw.) der gesamten Volksgemeinschaft aufzupflanzen (ökonomisches Motiv) - die Unkenntnis fremder Staatseinrichtungen, Völker, Sprachen und Sitten, woraus nur zu leicht Überhebung und Abneigung gegen sie resultieren (psychologisches Motiv) - endlich das bereits erwähnte mißleitete Bedürfnis des menschlichen Herzens nach Idealen (ideologisches Motiv). Wohin aber diese Arten von Patriotismus fuhren? Zu der heute herrschenden Umkehrung aller sittlichen Begriffe! Das hat, kürzer und klarer, als ich es heute Abend vermochte, in einer kleinen Anekdote der geistreiche Schriftsteller Kurt Eisner, der ehemalige Vorwärtsredakteur und tüchtige Neu-Kantianer - er ist Schüler von Hermann Cohen in Marburg - , angedeutet. Diese Anekdote, welche die Überschrift: „Das Manöver" trägt und in seiner Studiensammlung „Taggeist" erschienen ist, lautet folgendermaßen: „Das Kriegsspiel war zu Ende. Das Nordkorps hatte über das Südkorps einen glänzenden Sieg davongetragen. Als die Kritik gerade mit Begeisterung feststellte, daß im Ernstfalle 20 000 Feinde gefallen wären, stürzte plötzlich ein Soldat des Südkorps tot nieder. Eine Kugel hatte sein Herz durchbohrt. Die Nachforschungen ergaben alsbald, daß ein Mann vom Nordkorps mit Vorsatz die tötliche Kugel gegen den anderen gesandt hatte. Der Mörder wurde vor das Militärgericht geschleppt. Seine Verteidigung war kurz: Er war mein Feind. Ich haßte ihn; denn er hatte mir mein Mädchen genommen. Für mich war das Manöver also ein Ernstfall, ich kämpfte gegen einen wirklichen Feind, und so schoß ich ernsthaft. Das ist, so lehrte man uns, das Recht des Feindes. Der Soldat wurde zum Tode verurteilt. In der Urteilsbegründung war die beiläufige Bemerkung eingefügt: Wenn 100000 Menschen erschossen werden, die uns nichts zu Leide getan haben, so ist das edler Patriotismus. Wenn aber ein Mensch seinen Feind tötet, weil er ihm Unrecht getan, so ist das gemeiner Mord.
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Der Mörder gab sich vergebliche Mühe, in den wenigen Tagen, die ihm noch blieben, den Sinn der Lehre zu ergrübein. Er wurde vor der Hinrichtung wahnsinnig und forderte unablässig eine Auszeichnung fìir hervorragende Leistungen im Manöverdienst." Das alles wird freilich nicht sagen, meine Damen und Herren, daß es nicht Fälle geben kann, in denen die Verteidigung des Vaterlandes zur heiligsten Pflicht wird. Das ist zunächst der Fall bei fremdsprachlicher Unterdrückung. Wenn die Polen in Posen, die Italiener der Irredenta im Trentino und Triestino die Fremdherrschaft hinwegsehnen, und, wenn sich Gelegenheit bietet, auch hinwegtaten, die Sympathie jedes Ethikers wird ihnen Geleitschaft geben müssen. Wir haben nämlich in unseren bisherigen Betrachtungen einen Faktor nicht berücksichtigt; die nationale Kultur. Freilich ist diese nationale Kultur keine isolierte Gewächshauspflanze. Die Kultur ist nicht national beschränkt. Die Griechenkultur im Altertum, das Rinascimento in Italien, die Reformation in Deutschland, die Revolution in Frankreich, das alles sind historische Phänomene, die wir - von einander losgelöst - nie begreifen könnten, die auf das Innigste miteinander zusammenhängen, von denen jedes ohne die vorhergegangenen eine logische Absurdität wäre. Der Ideenaustausch ist ein allgemeiner unter den Völkern. Man mag ohne Übertreibung behaupten, daß es keine Nation in Europa gibt - selbst die Serben nicht ausgenommen - die nicht den anderen an Kulturgütern gegeben, keine, selbst die Teutoburger Wäldlinge nicht ausgenommen, die nicht von allen anderen empfangen hätte. Die neueste Kulturperiode, an deren Anfang wir noch stehen und die ihren ersten Schimmer eben erst, Hunderttausenden sogenannter Gebildeten noch unbemerkt, über Europa wirft, der Sozialismus, ist für diese inneren Zusammenhänge symptomatisch: er ist mit Vorbedacht a priori international, in der Lehre wie in der Erscheinung, wenn auch naturgemäß mehr in jener als in dieser. Immerhin aber hat die Verschiedenheit der Sprache in den einzelnen Ländern verschiedenartige Kulturen, Künste und Literaturen hervorgebracht, deren Eigenarten zu den höchsten ästhetischen Schätzen der Menschheit gehören. Das ist der Grund, weshalb mir jede kosmopolitische Gleichmacherei, etwa die Einführung der Volapük als Weltensprache, als eine frivole Beraubung der Menschheitskultur erscheinen will. Das ist aber auch der Grund, weshalb mir eine Verteidigung der Sprache als ein gewisser Rechtfertigungsgrund des Patriotismus gilt. Das Recht auf die Muttersprache muß uns heilig sein. Es ist ein Teil jenes unveräußerlichen Menschenrechtes vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, das uns als eines der leuchtendsten Ziele auf dem Wege der historischen Evolution entgegenleuchtet, ein Teil jenes großen Kampfes gegen Unrecht und Unterdrückung, in dem sich die scheinbar unversöhnlichen Gegensätze von „Individualismus" und „Sozialismus" versöhnen. Aber die Sprache schlechtweg, ohne Koeffizienten, vermag allerdings ebenso wenig wie der Geburtsort oder der Staat, den Patriotismus zu erzeugen. Die Amerikaner, die Yankees sprechen englisch und sie haben die Engländer vertrieben. Die Deutschösterreicher sind 1866 von den Preußen aus der staatlichen Gemeinschaft blutend hinausgefegt worden. Noch zu unseren Tagen haben spanischsprechende Cubanos und Filipinos die Spanier aus dem Land geworfen - aus „Patriotismus". Und wie wäre, wenn erst die Sprachge-
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meinschaft die Vaterlandsliebe begründen sollte, die Existenz eines Patriotismus in gemischtsprachlichen Ländern, in der Schweiz, in Belgien - der doch auch, dit-on, existieren soll, - möglich? Auch die höhere Bildungsstufe der fortgeschrittene Grad individueller Freiheit und völkischen selfgovemments geben ein solches Anrecht auf Patriotismus nicht ohne weiteres. Als sich zur Zeit der französischen Revolution die Horden des ancien régime von Deutschland, Italien, Spanien u.s.w. gegen die junge französische Republik der Droits de l'Homme zum Sturm vereinigten, war fur die Franzosen der Patriotismus eine heilige Pflicht. Doch gibt uns auch diese Feststellung kein Beweismittel fur die Heiligkeit und Richtigkeit des Patriotismus an sich. Denn der Patriotismus war hier eine Begleiterscheinung. Was seine Größe ausmachte, was ihn zu einer ethischen Tat erhob, das war sein zufälliges Zusammenfallen mit einem Kulturideal, das war die Tatsache, daß er dieses mal in der Linie des Fortschritts lag, das war, daß er das Prinzip der Selbstbestimmung und der theoretischen Bürgerrechts-Gleichheit des Volkes - zufällig in französischer Umhüllung - gegen die in Deutschland usw. verkörperte persönliche Willkür, das persönliche Regiment darstellte. Nicht die Liebe zu einem weder territorial noch ethnologisch noch in einer anderen Form existierenden Vaterland, sondern die Liebe zur relativen Freiheit war es, welche die Kämpfe der französischen Sanskulottenarmeen mit dem Glorienschein einer Kulturtat umgab. Ebenso berechtigt aber, als der patriotische élan der Franzosen von 1793, mußte der Patriotismus der Spanier, Deutschen usw. in den Jahren vor der Napoleonischen Unterdrückung unseren Augen unberechtigt erscheinen. Es gibt Momente im geschichtlichen Leben der Völker - man denke nur an die heutigen Russen - in denen dem wahren Patrioten nicht der Sieg, sondern die Niederlage, bisweilen selbst die zeitweilige Vernichtung seines Vaterlandes wünschenswert erscheinen muß - in allen den Fällen wiederum, in denen sich Patriotismus nicht mit dem allgemeinen Kulturfortschritt deckt. Und hier sind wir endlich am eigentlichen Kernpunkt der uns heute interessierenden Frage angelangt. Nur die Kultur kann dem Patriotismus ethischer Faktor sein. Nicht, was man unter Kultur heute versteht, etwa die Zwangszivilisation der Wilden durch Schnaps und Bibel. Wohl aber die Kultur als die Förderin der Menschheit auf ihrem Wege zur Erlangung der größtmöglichen Bestandes an körperlichem und geistigem Wohl, an körperlicher und geistiger Genußfahigkeit, an größtmöglichem Erdenglück. Wir müssen uns abgewöhnen, ein, wie wir sehen, nicht einmal definierbares Absolutum anzubeten und dafür desto inbrünstiger unsere Liebe dem Konkretum schenken. Statt des stolzen aber innerlich hohlen Vaterlandsgedankens der Gedanke an die vaterländische Menschheit, die Liebe nicht zur toten Form des Vaterlands, sondern zu seinem lebendigen Inhalt, seinem Fleisch und Blut. Die heutige Vaterlandsliebe ist in den Köpfen der Besten und Edelsten nicht anderes als ein elendes Surrogat für die Liebe zur vaterländischen Menschheit. Der wahre Patriot ist nicht der, der die Vaterlandsliebe in der Unterdrückung fremder Nationen, in der sogenannten Ausbreitung und Ausdehnung des Vaterlandes und der Niederhaltung der unteren Klassen des eigenen Landes erblickt, sondern umgekehrt der, der sein ganzes Hirn, seine ganzen Nerven auf das eine Ziel konzentriert: die große Masse moralisch, ökonomisch und intellektuell zu heben, ihr zu
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einem wahrhaft menschenwürdigen Dasein, zu einer vollen abgerundeten Teilnahme an den Gütern der Wissenschaft zu verhelfen und das Recht auf den vollen Ertrag ihrer eigenen Arbeitsleistung in ihrem „Vaterlande" zu sichern. Welch ein reiches Feld bietet sich nicht da unserer vaterländischen Liebe, freilich auch unserem vaterländischen Haß, denn wo Liebe ist, da muß auch Haß sein, und wer die verwerflichen Zustände, die der Erreichung des Guten im Wege stehen, nicht gründlich hassen kann, der hat das Gute nie gründlich lieben gelernt. Eintreten, ohne Rücksicht auf eigenen Nachteil, für ein großes Ideal, sich ihm hingeben mit dem ganzem Sein, das allein ist Patriotismus, der, dem gegeben ist Positives zu schaffen. Freilich, im offiziellen Jargon unserer Zeit heißt das immer noch „vaterlandslose Gesinnung." Während wir der Überzeugung sind, daß, um mit einem schönen Worte Yvetots zu sprechen, „la patrie est partout où il y a des hommes qui luttent, peinent, souffrent, travaillent, soupirent et se révoltent contre les injustices" (das Vaterland überall da zu finden ist, wo es Menschen gibt, die streben, dulden, leiden, arbeiten, hoffen und sich gegen das Unrecht auflehnen), haben sich weiteste Schichten unseres Volkes noch nicht von einem barbarischen Fetischglauben freimachen können, der ihnen den Blick trübt und ihre Handlungen irreleitet ... im Namen des „Vaterlandes." Der Patriotismus der großen Masse bedarf der Verinnerlichung. Er ist vergleichbar einem Germaniakopf aus Gips, in herrlicher, fast aufdringlicher Weiße weithin leuchtend, den man aber um des lieben Himmels willen nicht auf seine innere Solidität kaum selbst auf seine äußere ästhetische Schönheit - untersuchen darf. Eine Renaissance des Patriotismus tut dringend not. Wie mahnte doch der alte Goethe, den Vorwurf der Vaterlandslosigkeit vorausahnend, mit dem heute ein fanatisierter Haufe Alldeutscher sich nicht scheut, das Gedächtnis des großen Kulturdeutschen anzutasten? Mit Ingrimm und Trauer im Herzen sagte er zu seinem Sekretär Eckermann: „Wenn ein Dichter lebenslänglich bemüht war, schädliche Vorurteile zu bekämpfen, engherzige Ansichten zu beseitigen, den Geist seines Volkes aufzuklären, dessen Geschmack zu reinigen und dessen Gesinnungs- und Denkweise zu veredeln, was soll er dann Besseres tun und wie soll er dann patriotischer wirken?" Wir haben diesen Worten Goethes nichts hinzuzufügen. Sie verleihen in klarster Weise der Spezies von Vaterlandsliebe Ausdruck, der allein wir ethische Berechtigung zuerkennen können, dem Kulturpatriotismus.
Pazifismus und Nationalitätsprinzip in der Geschichte Ein Beitrag zur Volkspsychologie
Die Schwierigkeit in der Bestimmung der Faktoren, deren Synthese das Wort Nationalität ergibt, und die begriffliche Unmöglichkeit einer wissenschaftlich oder auch nur sachlich brauchbaren Definition des Vaterlandes macht die Lösung aller der Probleme, in denen sich Elemente ethnischen Charakters vorfinden, nicht nur praktisch, sondern selbst theoretisch zu einem Beginnen, an dem die besten Köpfe und lautersten Absichten scheitern müssen. Aber selbst wenn wir von den immanenten Imponderabilien der angedeuteten Probleme abstrahieren wollen, mit anderen Worten, wenn wir die Existenz bestimmter Rassen und Rassengrenzen und also die Existenz von Nationalitäten cum beneficio inventarli einmal zugeben wollten, so bleibt die praktische Behandlung der akuten Nationalitätenkonflikte fur den, der die gewöhnlichen Doktor Eisenbart-Kuren der bloßen Gewaltanwendung verwirft, doch immer noch eine der schwierigsten Aufgaben der Politik. Insbesondere wer die ambientale Verschiedenheit der menschheitlichen Aggregate und die aus ihr sich folgernden Rechte bejaht, und zwar unterschiedslos bejaht, die Abgrenzung dieser Rechte aber dem Sittengesetz des kategorischen Imperativs unterworfen wissen und die Anthropologie mit der Ethik in möglichsten Einklang bringen will, dem ergeben sich die größten Hindernisse, ganz besonders aus den psychologischen Tendenzen der Kollektivitäten, um deren Wohlergehen er sich mit eifrigem Streben bemüht, selbst. Wir möchten die Existenz dieser Schwierigkeit heute an einem Beispiel nachweisen, das unseres Erachtens von durchschlagender Ueberzeugungskraft ist und welches dartut, daß dem ethnischen Ausgleich ein Wesenselement der Psyche aller Völker entgegensteht, das sich als Tendenz zur Transgression bezeichnen läßt. Es wird nötig sein, uns zunächst in aller Kürze mit den Lösungsversuchen zu beschäftigen, welche von den beiden Strömungen, die grundsätzlich gegen die traditionelldiplomatische Manier in der Behandlung des Staatenproblems ankämpfen, befürwortet werden: der sozialistischen und der pazifistischen. Die Sozialisten besitzen statutengemäß zur Regelung aller Völkerfragen ein Prinzip: das Selbstbestimmungsrecht. Aber sie haben noch keine selbständige auswärtige Politik. Die Versuche, die sie bisher gemacht haben, eine solche zu kreieren, können nicht als erfolgreich betrachtet werden. Ueberdies schließen sie einander aus. Während die einen sich dem Vulgärpatriotismus der beati possidentes nähern und weit und breit
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schallende Erklärungen abgeben, jeden Quadratmeter des der Rasse und Sprache nach buntscheckigen Staatsgebietes mit der Flinte in der Hand gegen den „Feind" zu verteidigen, versuchen die anderen, einem der kompliziertesten Probleme mit dem absolutesten Indifferentismus dadurch auszuweichen, daß sie sagen, der Proletarier habe überhaupt kein Interesse daran, welcher Nation er angehöre: dem französischen Arbeiter könne es zum Beispiel ganz gleichgültig sein, ob er Franzose oder Eskimo wäre. Die Ursache für diese Widersprüche des sogenannt internationalen Sozialismus sehen wir in einem methodischen Fehler, der in der allgemein verbreiteten Scheu vor analytischen Studien auf diesem Gebiete liegt. Die Sozialisten begnügen sich in der Regel mit der Aufstellung einiger allgemeinen klaren - zu klaren - Leitsätze, die dem Komplex der historisch-ethnischen Probleme in keiner Weise gerecht werden. Die von sozialistischer Seite betriebene Auslandspolitik ist eine Politik, die auf Grund von ad usum Delphini der Dauphin ist in diesem Fall das Proletariat - gearbeiteten Texten ausgeklügelt und mehr impressionistisch und oberflächlich als wissenschaftlich, d. h. den Notwendigkeiten entsprechend, ausgeführt wird. Die Sozialisten haben für die Pazifisten in der Regel nur ein mitleidiges Lächeln übrig, wenn sie sie nicht gar als Heuchler und geheime Kriegsschürer an den Pranger stellen. Aber fast nirgends setzt sich diese Verachtung und dieser Spott in eine Politik um, die sich auf anderen Bahnen bewegt als es die sind, welche die so viel gescholtenen Pazifisten selber eingeschlagen haben. Im Gegenteil kann man die Beobachtung machen, daß die auswärtige und internationale Politik des „revolutionären Sozialismus" sich von der Taktik der „pflaumenweichen Friedensengel" nur unterscheidet wie ein Ei vom anderen. Die Postulate der einen wie der anderen pflegen stets in das gleiche Wort Frieden einzumünden, und preisen dazu das gleiche Mittel an: Schiedsgericht. Beide, Sozialismus wie Pazifismus, berufen sich grundsätzlich auf das ewig gleichbleibende Axiom von der im letzten Grunde unveränderlich persistierenden Interessengemeinschaft aller Kulturnationen; die einen, indem sie vom allgemein Menschlichen schlechtweg, die anderen, indem sie vom Internationalismus, d. h. von der wirtschaftlich gleichen Lage des Arbeiterstandes, der, im weiteren Sinne genommen, die übergroße Mehrzahl jeder Nation umfasse, ausgehen. Die Folgerung, welche beide aus der Voraussetzung ziehen, ist die gleiche: die Notwendigkeit eines brüderlichen Verhaltens der Völker untereinander und infolgedessen die Heiligsprechung und Heilighaltung des Weltfriedens. Aber dieser Wunsch ist weit davon entfernt, der einzige Berührungspunkt zu sein zwischen jenen beiden ihrer Herkunft und Zusammensetzung nach so grundverschiedenen sozialen Gruppen - der Proletarier und ihrer Wortführer, welche alle Beziehungen der Menschen untereinander zu revolutionieren beabsichtigen, und der kosmopolitischen und philantropischen Bourgeois, die auf der Welt nur den Krieg in Frieden zu verwandeln wünschen und weiter nichts. Die Uebereinstimmung hat auch einen rein politischen Boden: die pazifistische Politik deckt sich fast stets mit den Notwendigkeiten der Arbeiterpolitik. Zunächst im reformerischen Sinne: nur der Staat, dessen Finanzen nicht durch einen unglücklichen Krieg ruiniert sind, kann eine den Arbeitern günstige Arbeiterschutzgesetzgebung in die Wege leiten und aufrecht erhalten und überhaupt der Arbeiterschaft günstige Lebensbedingungen bieten. Ferner aber auch
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im revolutionären Sinne: die Arbeiter bedürfen des Friedens auch, um ungestört das Werk der Emanzipation ihrer Klasse fortfuhren zu können. Nur der Friede gewährleistet ihnen die Möglichkeit, ihre Kräfte auf den Klassenkampf zu konzentrieren und in sich alle jene unzähligen wichtigen moralischen und sittlichen Qualitäten zur Entfaltung zu bringen, ohne die sie sich mit den durch eine lange Kulturschule verfeinerten und intellektualisierten Elementen der herrschenden Gesellschaftsklassen in keiner Weise sozial und ökonomisch zu messen vermögen. Auch hat die historische Erfahrung - welche die Anhänger der reinen Theorie allerdings nicht anstehen, als niedrig und dunkel zu bezeichnen - gelehrt, daß auf Epochen kriegerischer Verwicklung zwischen den einzelnen Bourgeoisien - Verwicklungen, in die die Arbeiter stets mit hineingerissen werden - noch jedesmal Perioden sozialistisch-proletarischen Niedergangs gefolgt sind. Der deutsch-französische Krieg, der mit der Pariser Kommune endete, hat das französische Proletariat um Jahrzehnte zurückgeworfen und einen Teil desselben eine Zeitlang sogar vor den Triumphwagen eine Generals Boulanger gespannt. Jeder Krieg bedeutet ein weiteres Herausschieben der möglichen sozialistischen Zukunft, da er ein ungeheueres Quantum bereits vollbrachter psychologischer Arbeit in den Massen vernichtet. Der Komplex von Erkenntnissen, Werten und Gefühlen, welche die Syndikalisten und die Marxisten unter dem terminus technicus „Klassenbewußtsein" oder auch „revolutionärer Geist" verstehen, ist heute noch einem überaus zarten Pflänzchen vergleichbar, das absolut unfähig ist, dem Wirbelwind kriegerischer Begeisterung zu widerstehen, der, wenn auch ursprünglich das künstliche Produkt einer häufig in Diensten ökonomischer Sonderinteressen stehenden überhitzten und lügenhaften Presse, doch als realer Faktor zugleich mit dem Aufziehen des Vorhanges zu dem grausigen Trauerspiel des Krieges in Wirkung tritt. Es darf nicht außer acht gelassen werden, daß das zerbrechliche Stämmchen des in die Massenseele verpflanzten revolutionären Geistes in der kollektiven Mentalität einen Boden vorgefunden hat, der durch eine jahrhundertelange Tradition von Vorurteilen der Rasse, der Sprache und der Zivilisation dergestalt ausgepowert ist, daß es in ihr keine starken Wurzeln zu schlagen vermochte, und daß schon der geringste pseudopatriotische Lufthauch genügt, um die junge Pflanze wieder zu entwurzeln, oft selbst, ohne daß sie im Boden irgendwelche Spuren von sich hinterläßt. Ohne leugnen zu wollen, daß es einer - heute zweifellos noch nicht vorhandenen Theorie gelingen könnte, den sozialen Faktor mit dem nationalen zu einer höheren Einheit zu versöhnen, dürfen wir doch, insoweit das praktisch-politische Leben in Betracht kommt, ruhigen Gewissens die Behauptung aufstellen, daß die Entwicklung und die Kraft dieser beiden Faktoren notwendigerweise im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen: je solidere Formen in einer Arbeiterschaft das „Klassenbewußtsein" angenommen hat, desto weniger ist sie dem „Patriotismus" im Vulgärsinne zugänglich, und umgekehrt, je mehr sie an den allgemeinen Begriffsvorstellungen der Bourgeoisie über den Patriotismus Anteil nimmt, desto weiter ist sie von der Betreibung einer unabhängigen und entschlossenen Klassenpolitik, d. h. der Wahrnehmung ihrer Rechte im Gemeinschaftsleben, entfernt. Im übrigen mag an dieser Stelle daran erinnert werden, daß, wenn auch der Nationalökonom die Existenz enger Zusammenhänge zwischen dem allgemeinen Stand der Industrie eines Landes und dem besonderen standard of living der
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in diesem Lande lebenden Arbeiterschaft nicht wird leugnen dürfen, es doch andererseits offenbar ist, daß die Bourgeoisie dem Proletariat an der Beute der im Namen des Vaterlandes geführten „heiligen Kriege" stets und überall nur einen unbeträchtlichen Anteil zugewiesen hat. Die Summe aller dieser Einsichten und Erkenntnisse kann nur die Wirkung ausüben, das Proletariat in allen Ländern zum ergebensten Freunde des Pazifismus zu machen. Aber der moderne Arbeiter ist nicht nur im opportunistischen, sondern auch noch in einem höheren Sinne Pazifist. Er teilt mit den Vulgärpazifisten eine Anzahl von rein menschlichen Gefühlen. Auch er empfindet Grauen vor den Schrecken des Krieges. Auch er kennt den Wert des menschlichen Lebens. Auch ihm ist es nicht unbekannt, daß fast alle Kriege das Schicksal der Nationen verschlechtern und ihre Seele vergiften, indem sie im Bewußtsein des Sieges ungezügelten Hochmut und im Herzen des Besiegten grenzenlosen Haß erzeugen, der Rache heischt und die Zukunft mit neuem Blutvergießen bedroht. Ungeachtet dieser weiten Uebereinstimmung der modernen Arbeiter mit den Pazifisten können erstere das Dogma des Pazifismus nicht restlos unterschreiben. An einem gewissen Punkt angelangt, werden beide sich trennen müssen. Die Arbeiter verlassen die Philanthropen. Diese Notwendigkeit und das Verständnis dafür ergibt sich uns aus der Beobachtung der Rolle, welche der Pazifismus in der Gegenwartspolitik spielt. Diese Rolle ist eine hervorragend konservative, konservierende. Der Pazifismus anerkennt alle Staaten in ihrer heutigen Form vollauf, ohne Vorbehalt und Ausnahmen. Um die Idee des Friedens um jeden Preis, von der er durchdrungen ist, unversehrt zu halten, ist der Pazifist immer bereit, das einmal Gegebene zu akzeptieren, aus Besorgnis, daß aus den Veränderungen der gegebenen Zustände kriegerische Verwickelungen entstehen möchten. Deshalb sind die Pazifisten auch die unversöhnlichsten und heftigsten Gegner aller Freiheitsbewegungen ethnischer Natur und infolgedessen aller unterdrückten Rassen zu betrachten. Weder die Polen, die nach einem eigenen Königreich streben, noch die irredentistischen Italiener in Oesterreich, welche die Wiedervereinigung ihres Landes mit den Stammesbrüdern im unabhängigen Italien ersehnen, noch die französischen Lothringer, noch die dänischen Optanten, noch die serbischen Bosniaken, noch die österreichischen Alldeutschen können auf ihr Verständnis, geschweige denn auf ihre Sympathie rechnen. Im Gegenteil, die Pazifisten tun alles, was in ihrer Macht steht, - darin treffen sie sich zweifellos mit den opportunistischen sowie den marxistischen Teilen der Sozialisten - um derartige Fragen möglichst von der Bildfläche der öffentlichen Meinung verschwinden zu lassen, sie zu unterdrücken, lächerlich zu machen oder gar souverän zu ignorieren 1 . Aus dieser klein-
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Ueber eine der schwebenden ethnischen Fragen, in welcher sich zwei große Völker ein Stück Landes streitig machen, meint Α. H. Fried, der im übrigen in vielen Fragen sich durch schärferes Urteilsvermögen weit über den Durchschnitt seiner Friedensgenossen erhebt, es sei gar nicht nötig, irgendeinen Vertrag zu revidieren, sondern nur „die beiderseitige Gesinnung". Mit anderen Worten, er unternimmt den gleich unethischen wie utopistischen Versuch, unter ausdrücklicher Umgehung
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liehen Auffassung der Pazifisten von der absoluten Notwendigkeit jeden Friedens für das Wohlergehen der Kulturmenschheit resultiert, daß das lauttönende Sturmglockengebimmel dieser Philanthropen in intenso jeder gerechten, großen und notwendigen, selbst aus ökonomischen Gesichtspunkten gerechtfertigten nationalen Revendikation den Tod läutet, daß ihnen jedes Verständnis fehlt für politisch-anthropologische Probleme. Auf diese Weise sanktioniert der Pazifismus in praxi jede Ungerechtigkeit, jede Grausamkeit, jede Sinnlosigkeit der Geschichte. Er wird zur Grundtheorie vom status quo, zur ethischen Stütze des sog. Völkerrechtes. Er drückt mit systematischer Approbation allem historisch gewordenen Unrecht den Stempel auf und verhindert es, soweit an ihm liegt, daß die Zukunft ein anderes Gesicht trage als die Vergangenheit. Wenn aber die Theorie der Pazifisten auch als irreleitend und gefährlich bezeichnet werden darf, so muß doch andererseits unumwunden zugestanden werden, daß ihr Instinkt sie in einer politisch grundlegenden Frage häufig richtig geleitet hat. Der Krieg ist nämlich nur selten ein geeignetes Mittel, um ethnische Gerechtigkeit zu erlangen, bezw. wieder herzustellen. Auch der ehrlichste, uninteressierteste Patriotismus unterliegt dem Gesetz rascher Auflösung. Die vom Kriegsglück begünstigte Nation tauscht die Größe der Begriffe gerechter Revendikation in die kleine Münze ungerechter Prätentionen um. Der ethnische Patriotismus degeneriert und wird zur Eroberungspolitik siegestrunkener Triumphatoren. Der Patriotismus in seiner Eigenschaft als Bestandteil einer Volkspsyche ist immer egozentrisch. Die Völker begreifen das Nationalitätenprinzip nur bezüglich ihrer selbst. Die Erlangung ihrer eigenen völkischen Freiheit gilt ihnen als ein edles Ziel. Dem Kampf für die Freiheit fremder Nationen stehen sie in den meisten Fällen verständnislos gegenüber. Begeisterung erweckt er in ihnen nur, wenn durch diesen Kampf eine dritte Nation - ihre gemeinsame Feindin geschädigt wird; alsdann gilt die Begeisterung der Schädigung des Unterdrückers, nicht der Erhebung des Unterdrückten. Betrifft die Erhebung aber ein Grenzvolk oder gar ein unter eigener Botmäßigkeit lebendes Volk, so wird dessen Befreiungskampf als gewissenlos, undankbar und wahnsinnig, ja, verbrecherisch empfunden und mit aller den Umständen nach erforderlichen Grausamkeit niederzuwerfen versucht. Kurz gesagt, jede Nation leugnet das Grundrecht ihres eigenen Bestehens allen anderen, die ihre Kreise stören. Das Nationalitätenprinzip wird nur zum eigenen Hausgebrauch in Anwendung gebracht. Es ist ein Monopol. Die moderne Idee des Rechtes eines jeden Volkes auf sich selbst, d. h. auf seinen eigenen Bestand, auf Freiheit und Unabhängigkeit - ein Recht, das sich als eine direkte Uebertragung der droits de l'homme auf größere Verbände darstellt - ist zuerst in Frankreich entstanden. In Frankreich ist diese Idee sogar mit solcher Durchschlagskraft aufgetreten, daß sie einige Jahrzehnte lang selbst das Staatsleben beherrschten und als Grundbasis der auswärtigen Politik aufgestellt werden konnten. Indes blieben die ihnen entgegengesetzten Tendenzen stets siegreich in Kraft. Ausgezogen zum Kampf gegen die Mächte des ancien régime, die politische und nationale Freiheit gleich einer auf der etwaigen Lösung einer Frage völkischer Gerechtigkeit für die Freundschaft der dadurch entzweiten Völker zu plädieren. (Friedenswarte, XI, Nr. 6.)
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Export berechneten Ware im Tornister, haben sich die Sanskulotten, nachdem sie die Grenzen Frankreichs einmal überschritten hatten, aus Befreiern schnell in neue Bedrücker verwandelt. In der Nationalitätenprinzips-Aera Napoleons III. bietet uns die Geschichte ganz ähnliche Züge. Man feierte in diesem Sommer in Oberitalien nicht ohne Pomp und große Worte das fünfzigjährige Jubiläum der Schlachtentage des Jahres 1859, in denen das heldenmütige Blut Frankreichs auf den Feldern der Lombardei flöß, um die Italiener vom Joche der Oesterreicher zu befreien. Niemand wird die Verdienste um die ethnische Gerechtigkeit, die sich viele Franzosen in jenen blutigen Stunden erwarben, bestreiten wollen. Aber auch hier heißt es, der sentimentalen Uebertreibung Einhalt gebieten und die historischen Verhältnisse klaren Auges auf ihren wirklichen Verhalt hin zu prüfen. Die Dankbarkeit, welche die Italiener den Begründern ihrer nationalen Einheit gegenüber in alle Ewigkeit empfinden und bekunden sollen und die von den französischen Patrioten mit so viel Ungestüm und, sobald sie einmal auszusetzen scheint, mit so großer Entrüstung eingefordert wird, hat eine sehr bedingte Entwicklungsgrenze. Der Kenner der Geschichte des italienischen Risorgimento wird nicht umhin können, diese Grenze niedrig anzusetzen. Dieselben französischen Bajonette, welche die Brust der Italiener im Jahre 1859 gegen die Waiïen der Oesterreicher schützten, hatten sich vorher, 1849 - Rom! - und haben sich nachher, 1868 - Mentana! zum Schutz der Feinde der Einigung Italiens in die Brust der italienischen Patrioten gebohrt. Auch das einzige Mal 1859, in welchem die Franzosen tatsächlich an der Errichtung des Einheitsstaates Italien mitgearbeitet haben, ließen sie sich ihre Beihülfe nicht nur sehr teuer an sich, sondern durch eine Abtretung desselben italienischen Grund und Bodens bezahlen, den sie - am anderen Ende der Poebene - soeben befreit und dem rechtseigentümlichen Besitzer, dem Italienertum selbst, überantwortet hatten. Aber die Annexion der Grafschaft Nizza, bis 1861 eines fast durchweg italienischen Landstriches und des engeren Vaterlandes des Freiheitshelden Guiseppe Garibaldi 2 , der sich ob dieses Raubes vor Scham und Groll das Haupt verbarg, ist nur als ein äußeres greifbares Symptom der allgemeinen Stimmung zu betrachten, in welcher die übergroße Mehrheit des französischen Volkes in der Zeit des Second Empire hinsichtlich Italiens verharrte. Dieser übergroßen Mehrheit lag es nämlich gänzlich fern, Italien die völlige nationale Einheit schenken zu wollen. Beweis dafür ist das Verhalten der freiheitspendenden älteren lateinischen Schwester nach der Hülfe, die sie Victor Emmanuel gegen die Habsburger geleistet hatte, ein Verhalten, das darin bestand, der Vollendung der von den italienischen Patrioten ersehnten Wünsche in jeder Weise entgegenzuarbeiten und sich zum höchsten Verteidiger der weltlichen Herrschaft des Papstes aufzuwerfen, der
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Als man Garibaldi fragte, was er über die Abtretung Nizzas an Frankreich denke, antwortete er noch über zehn Jahre später: „Die Italianität Nizzas bestreiten wollen, hieße die Klarheit des Sonnenlichtes leugnen. Ich bin zwar Internationalist, würde mich aber doch glücklich schätzen, wenn es mir vergönnt wäre, den Rest dieses meines sich seinem Ende nähernden Lebens meiner lieben alten Heimatstadt zum Opfer zu bringen." Vergi, mein Buch über den Sozialismus in Italien. (Roberto Michels: „II proletariato e la borghesia nel movimento socialista italiano." Saggio di scienza sociografico-politica. Torino 1908. Frat. Bocca, edit., S. 38.)
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das wertvollste Juwel der künftigen Einheit Italiens in Besitz hielt: Rom, die ewige Stadt, die vorbestimmte Hauptstadt des jungen Italien. Die halb unfreiwillig gebrachte Hülfe, die das offizielle Frankreich seines südöstlichen Nachbarn gebracht hatte, erfüllte die Franzosen jener Zeit keineswegs mit dem Stolze, den der Gerechte nach der Vollbringung einer guten Handlung zu empfinden pflegt. Es nistete sich vielmehr im französischen Volke, und zwar ganz besonders in den oppositionell gesinnten, also demokratischeren Teilen desselben, dem fait accompli gegenüber ein Gefühl der Bitternis ein, das häufig die Formen offenen Bedauerns annahm. Wer sich über die Stimmung der Franzosen in jener Periode, in der Frankreich das Banner des Nationalitätenprinzipes gehißt hatte, ein getreues Bild machen will, sei auf die berühmte Rede verwiesen, die der Leiter der entschiedenen Oppositionspartei, der Historiker Adolphe Thiers, am 14. und 18. März 1867 in Corps Législatif über die auswärtige Politik Frankreichs mit besonderer Berücksichtigung der italienischen und der deutschen Frage gehalten hat3. Diese Rede stellt einen unwidersprechlichen Beweis unserer These von der inneren Tendenz zur Eifersucht und zum aus dem Egoismus quellenden Fremdenhaß dar, die dem patriotischen Gefühle jeder Nation, auch wenn sie sich zum Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Nationalitäten bekennt, unleugbar zugrunde liegt. Nachdem Thiers ausgesprochen, daß Europa der Ruhe bedürfe und das damals noch keineswegs vollendete - Italien deshalb die Pflicht habe, dem von ihm so lange Jahre hindurch in Aufregung gehaltenen Europa endlich Ruhe zu geben, entwickelte er in langen Auseinandersetzungen seine Ueberzeugung von der für Frankreich bestehenden Notwendigkeit, von Kleinstaaten umgeben zu sein, „die vermittelst ihrer eigenen Schwäche im Rate der Völker die Sache der Gerechtigkeit verteidigen." Er machte der Auslandspolitik der französischen Regierung den Vorwurf, zu lebendig, zu leidenschaftlich, zu gefühlsmäßig, und vor allen Dingen zu international gesinnt zu sein und sich für die Freiheit der übrigen Völker, insbesondere der Italiener und der Deutschen, viel zu energisch ins Zeug zu legen. Thiers rühmte sich, daß er, falls ihm die Ehre zugefallen sei, die Angelegenheiten Frankreichs an verantwortlicher Stelle zu vertreten, seine ganze Kraft darein gesetzt haben würde, die Einheit Italiens zu verhindern. Er wiederholte die alte Regierungsmaxime des Kardinals Richelieu, derzufolge kein Staat die Prinzipien der inneren Politik auf die äußere Politik ausdehnen dürfe. Von der historischen Tatsache ausgehend, daß die Anerkennung des Nationalitätenprinzips die Vernichtung sämtlicher zurzeit existierenden Staaten nach sich ziehen müsse, da kein moderner Staat auf dem Boden einer ethnischen oder auch nur sprachlichen Einheit ruhe, erklärte er sich für einen Anhänger der Theorie des sogenannten europäischen Gleichgewichtes, dessen Anwendung auf die besonderen und wohlverstandenen Interessen Frankreichs gebieterisch den sofortigen Stillstand der in Italien wie in Deutschland auf die Erreichung des nationalen Einheitsstaates hinstrebenden Tendenzen erheische. Thiers sprach es offen aus, daß Frankreich die Pflicht und das Recht habe, den Italienern und noch mehr den Deutschen auf ihrem Vormarsch zur nationalen Einigung ein
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Discours prononcé au corps législatif par M. Thiers sur la politique extérieure de la France en ce qui concerne l'Allemagne et l'Italie. (Tours 1867, S. 30.)
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energisches Halt zuzurufen, und versprach der Regierung die bedingungslose Unterstützung der parlamentarischen Opposition für den Fall, daß sie vom Lande die nötigen Mittel verlange, um dem Ton, mit dem sie die sofortige Aufgabe des patriotischen Vordringens Piemonts und Preußens fordere, bestimmenden Nachdruck zu verleihen. Die einzige Rettung Frankreichs aus der schwierigen Situation, in die es durch die Einheitsbestrebungen seiner Nachbarnationalitäten geraten sei, bestand nach der Ansicht Thiers darin, mit aller Schärfe angesichts Europas zu erklären, daß es nicht gewillt sei, ihnen zu gestatten, auf dem beschrittenen Wege weiter zu gehen, da der deutsche Staatenbund in der weltbekannten Langsamkeit seiner Entschließungen der französischen Politik nicht gefährlich werden könne, ein durch eine erstklassige Militärmacht beherrschtes einiges Deutschland hingegen von Frankreich als ein unerträglicher Nachbar angesehen werden müsse. In dieser von seinen Kollegen mit Beifallsbezeugungen überschütteten Rede vertrat Thiers zweifellos die approximative Einstimmigkeit seiner Landsleute. Thiers war in jenen Tagen die Personifikation der Reue, die Frankreich darüber empfand, in einem unbedachten Augenblick feuriger Begeisterung die Theorie der internationalen völkischen Gerechtigkeit propagiert zu haben. In der Nationalitätenfrage nahm die offizielle französische Regierung in gewissem Sinne einen ehrlicheren Standpunkt ein als die Vertreter der republikanischen Demokratie. Es ist bekannt, daß viele Anhänger der Regierungspolitik Napoleons III. geneigt waren, selbst ein unter Preußens Obhut stehendes einiges Deutschland anzuerkennen, falls dieses sich verpflichtete, Frankreich „territoriale Entschädigung" zu gewähren, mit anderen Worten, deutsches Land abzutreten, d. h. in eine Verletzung des Prinzips, das zur Einigung führte, zugunsten der Franzosen einzuwilligen. Diese Forderung wird verständlicher, wenn wir in Betracht ziehen, daß die Bemühungen Proudhons, seinen Landsleuten klar zu machen, daß der Rhein zu beiden Seiten, nicht nur auf dem rechten Ufer, sondern auch auf dem Frankreich zugewandten Gestade deutsch sei, und daß der Punkt, wo er sich dem keltischen Rassegebiet am meisten nähere, etwa bei SainteMarie-aux-Mines, immer noch vierzig Kilometer weit vom Rhein entfernt sei4, nichts gefruchtet hatten, und daß viele Hunderttausende französischer Hirne immer noch in der Legende befangen waren, die wahre „natürliche" Grenze zwischen Frankreich und Deutschland läge am Rhein. *
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Die Gerechtigkeit verlangt, daß wir zugeben, daß die Tendenz zur Transgression bei anderen Völkern aber in noch sehr viel augenfälligerer Form in Aktion getreten ist als in Frankreich. Die Deutschen ganz besonders sind nie in den tieferen Sinn der Theorie, deren sie sich zur Erreichung ihrer eigenen Ziele stets eifrig bedient haben, eingedrungen. In
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J. P. Proudhon: „France et Rhin". Paris 1862, S. 208/209.
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demselben Augenblick, als in den bekannten Sturm- und Drangjahren des jungen Deutschland die erlauchtesten und liberalsten Geister des Volkes sich in der Paulskirche versammelten, um gemeinsam über die einzuschlagenden Mittel und Wege zur Schaffung eines deutschen Vaterlandes, d. h. der nationalen Einheit gegenüber dem Auslande, zu beratschlagen, haben sie den anderen Nationen dasselbe Recht verweigert, auf das sie Hoffnungen fur ihre eigene Zukunft setzten und von dem sie das ethische Recht fur ihre eigenen Handlungen herleiteten. Die deutschen Burschenschaften, die als das treueste und opferfreudigste Element des freiheitsliebenden und revolutionären Patriotismus des Deutschlands jener Tage betrachtet werden dürfen, eilten im Jahre 1849 Oesterreich zu Hülfe, um gegen die italienischen Insurgenten zu Felde zu ziehen5, ohne zu bedenken, daß sie sich dadurch aus Vorkämpfern der deutschen Freiheit zu Henkern der Völkerfreiheit anderer degradierten. In der Frankfurter Nationalversammlung, welche sozusagen die Seele des fortschrittlichen deutschen Bürgertums den Fürsten und der engherzigen Bureaukratie gegenüber repräsentierte, konnte eine so autoritäre und angesehene Stimme wie die des Präsidenten von Gagern von der Höhe der Tribüne herab in den Saal die Worte rufen, es sei die Pflicht der deutschen Patrioten, soweit immer es in ihren Kräften läge, dafür einzutreten, daß die zerstückelten Glieder des italienischen Volkes sich so spät als irgend möglich wieder zusammenfanden, und die Italiener mit dem Furor teutonicus eines deutschen Volkskrieges bedrohen für den Fall, daß ein italienisches Heer es versuchen sollte, in das italienische Südtirol einzudringen, oder eine piemontesische Flotte die Einnahme von Triest ins Auge fasse6. Im Jahre 1859 wiederholte sich dasselbe Bild. Ganz Deutschland zitterte vor Wut und Zorn, als es gewahrte, daß es den Italienern mit Frankreichs Hülfe gelang, die österreichischen Bedrücker vom Boden der Lombardei zu verjagen, und selbst der junge angehende Sozialist August Bebel, dessen im engen Sinne patriotisches Gefühl, was immer man sagen möge, stets wach geblieben ist, war drauf und dran, bei den Innsbrucker Kaiserjägern einzutreten7. Es bedurfte des ganzen Schwergewichtes des damals zwischen den Höfen von Wien und Berlin ob der Hegemonie in Deutschland bestehenden Antagonismus8 und aller Anstrengungen der preußischen, im engeren Sinne patriotisch und also antiösterreichisch gesinnten Demokratie - man erinnere sich des glänzenden Beispiels, das Ferdinand Lassalle bei dieser Gelegenheit gab9 - um dem Groll der ungeheueren Mehr-
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Antonio Gazolettv. „Italia e Germania", in der Rivista Contemporanea, anno V, vol. IX, fare. XLI, p. I. Torino, Milano, Parigi, marzo 1857. „Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt a. M." Herausgegeben von Professor Fr. Wiegand. Leipzig 1848. Helmuth von Gerlach·. „August Bebel". Ein biographischer Essay. München 1909. Albert Langen, Verlag für Literatur und Kunst, S. 6. Vergi, die Zirkulardepesche Bismarcks vom 24. Januar 1863 über die zwischen Preußen und Oesterreich in dieser Angelegenheit geschlossenen Verhandlungen. (Bismarck-Briefe, herausgegeben von Bruno Waiden. Berlin, Globus-Verlag S. 30.) Ferdinand Lassalle: „Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens", aus „Ferdinand Lassalles Gesamtwerken". Herausgegeben von Erich Blum, Bd. II: „Ferdinand Lassalles politische Reden und Schriften". Leipzig, Verlag von Karl Fr. Pfau. Bd. II, S. 369.
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heit des deutschen Volkes, ohne jeden Unterschied der Partei, einen realpolitischen Damm zu setzen und es zu verhindern, daß die allgemeine Kriegslust der Bürger über die Schwankungen und Entschlußunfähigkeiten der verschiedenen deutschen Regierungen nicht die Oberhand gewann und nicht deutsche Truppen die junge Freiheit ihrer transalpinischen Brüder, die sich in den fast identischen historischen wie politischen Bedingungen befanden und von den gleichen Aspirationen völkischer Emanzipation erfüllt waren, wie sie selbst, blutig niederschlugen. Außerdem befindet sich Deutschland, seitdem Preußen am Ende des 18. Jahrhunderts einen Teil Polens an sich riß, sozusagen in der konstitutionellen Unmöglichkeit, das Nationalitätenprinzip anzuwenden. Deutschland hat in der ganzen langen Periode seiner nationalen Freiheitsbestrebungen nicht aufgehört, den Polen nicht nur jedes Recht auf Freiheit zu leugnen, sondern sogar jeden Wunsch auf Autonomie abzuschlagen 10 . Deutschlands nationale Freiheitskämpfe haben - wie wir das noch kurz berühren werden - in einer kontinuierlichen Verletzung der nationalen Freiheit seiner Nachbarvölker bestanden. Unsere These kennt keine Ausnahmen. Dafür ist die neueste bedauerliche Entwicklung, die der Begriff des Patriotismus in Italien erfahren hat, ein handgreiflicher Beleg. Noch vor wenigen Jahren war der Patriotismus, wie er von den italienischen Intellektuellen empfunden wurde, eine ehrenwerte und vornehme Erscheinung. Geboren aus der nationalen Revolution gegen die Dreieinigkeit von Papst, Oesterreich und den bourbonischen Prinzen an den kleinen Höfen, und sich der am eigenen Leibe erlebten schmerzhaften Erfahrung wohlbewußt, in der Erkenntnis ferner von der Schwere des Druckes, den jede fremde Eroberung auf ein Volk ausübt, bestand die Devise des italienischen Patriotismus in dem einfachen und klaren Satze: Ciascheduno per sè (jeder für sich!). In der italienischen Volksseele, schien es, hatten die Gefühle brüderlicher Achtung und brüderlicher Liebe zu den übrigen Nationalitäten unausrottbare Wurzeln gefaßt. In Italien existierte kein Chauvinismus, kein Nationalismus. Die Italiener übertrugen den Horror, mit dem sie an die von den Fremden in Italien geübte Herrschaft zurückdachten, vollauf auf die Idee der Eroberungspolitik schlechtweg und wiesen es genau so zurück, Unterdrücker zu sein wie Unterdrückte. Selbst als sie im Kugelregen der Befreiungskämpfe standen, apostrophierten die Garibaldianer den österreichischen Feind mit einem schönen und edlen, vom Geist eines gesunden Internationalismus getragenen Vers: „Passate l'Alpi e tornerem fratelli!" (Geht wieder über die Alpen zurück, dann werden wir wieder zu Brüdern werden!). Der Abscheu vor der Besetzung nichtitalienischen Landes war den Italienern so eingefleischt, daß die Frauen, nach den ersten Niederlagen der königlichen Truppen in den kolonialen Kriegen in Abessinien, welche in allen anderen Ländern nicht nur einen Schrei des Schmerzes, sondern auch einen Schrei nach Rache ausgelöst haben würden, sich ungestraft über die Schienen werfen konnten, um die Abfahrt der Militärzüge zum Kriege zu verhindern und die Re-
10 Nebenbei bemerkt, hat gerade das Verhalten Preußens zu Polen durch die Antipathie, die es bei der westeuropäischen Demokratie gegen die Deutschen hervorrief, den Einheitsbestrebungen des jungen Deutschland Hindernisse bereitet. (Vergi, auch die kleine Schrift des ungarischen Freiheitshelden General Türr: „La Question des Nationalités". Paris 1867, A. Vallée, S. 5.)
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gierung selbst sich in kurzer Zeit genötigt sah, einen sog. schimpflichen Frieden einem sicheren, aber opferreichen und „ungerechten" Siege vorzuziehen. Indes haben die letzten Jahre dieses Gerechtigkeitsgefühl gegenüber dem Auslande, das zu den integralen Bestandteilen der italienischen Psychologie zu gehören schien, wenn nicht beseitigt, so doch in beträchtlichem Maße vermindert. Auch in dem pazifistischen und von den Ideen ethnischer Ethik durchtränkten Italien sind mit elementarer Gewalt die extravaganten und megalomanen Strömungen eines Nationalismus französischen, englischen oder deutschen Musters entstanden - sie nahmen ihren Ausgangspunkt von der günstigen Wendung der italienischen Finanzen und dem Aufschwung von Handel und Wandel im Lande. Heute hören wir in Italien begabte und angesehene Journalisten bereits nicht nur - um von der immerhin komplizierter liegenden Triestiner Frage und den Dalmatiner Wahnplänen zu schweigen - davon sprechen, daß ihrem Volke der Besitz des in den Händen Oesterreichs befindlichen Trentino zustehe, ein Wunsch, der unzweifelhaft in den ethnischen und sprachlichen Verhältnisse, sowie in mannigfachen historischen Erinnerungen jenes Landstriches eine reale Basis hat, sondern daß es auch die alten Römergrenzen auf dem Kamm der Alpen wiedergewinnen müsse; wodurch denn ein guter Teil des ebenso unzweifelhaft deutschen Tirol, insbesondere die Stadt Bozen, italienisch werden würde. Was gewiß nicht das erstemal sein würde, daß ein Freiheitskrieg in seinem Verlauf zu einem Eroberungskrieg geworden ist. Der Krieg von 1864, unternommen von Preußen und Oesterreich gegen Dänemark zu dem Zwecke, die diesem Untertanen, überwiegend deutschen Elbherzogtümer aus der Fremdherrschaft zu befreien, führte mit dem Siege der deutschen Waffen dazu, an Stelle der deutschen Irredenta in Dänemark eine dänische Irredenta in Deutschland zu setzen. Mit anderen Worten, während bis dahin deutsches Land unter dänischer Herrschaft gestanden hatte, nunmehr dänisches Land unter deutsche Herrschaft zu bringen. Ebenso endete der Krieg 1870/71, der dem deutschen Volke endlich die politische Einheit brachte, mit der Annexion französischen Gebietes. Als sich die Ungarn aus der deutschen Herrschaft befreiten, war ihr erster Schritt die Unterdrückung des Volkstums und der Sprache der zahlreichen Deutschen in Ungarn. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ein gleiches chassé croisé sich erneuern würde, falls Italien in einem Krieg gegen Oesterreich, oder Frankreich in einem Kriege gegen Deutschland siegreich bliebe, und daß wir in einem solchen Falle eine zweite, vielleicht vermehrte, aber wahrscheinlich nicht verbesserte Auflage jenes historischen Phänomens erleben würden, für das sich die Beispiele mit leichter Mühe turmhoch aufbauen ließen: des Bruches mit dem Nationalitätenprinzip durch den Stärkeren, der, geblendet durch den Erfolg, der ethnischen Moral, die ihm geholfen hat, seinen Sieg zu erringen, nicht mehr bedarf und sie deshalb verleugnet. Die alte Fabel von der ausgepreßten und dann weggeworfenen Zitrone. Die Geschichtsepoche, in der das sog. Nationalitätenprinzip die europäische Staatengeschichte und in noch höherem Grade die Psychologie der öffentlichen Meinung beherrschte, datiert von der politisch-reaktionären und klerikalen, aber ethnisch-nationalen Erhebung der Spanier, Preußen und Russen gegen das relativ liberale und fortschrittliche System des großen korsischen Eroberers. Aber dieses Nationalitätenprinzip, welches jedem Volksstamme das Recht auf seine eigene nationale Existenz vindiziert und
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infolgedessen jedem die Fähigkeit zugesteht, di far da sè, d. h. unumschränkter und unumstrittener Herr seines eigenen Geschickes zu sein, hat nur den starken Völkern die Freiheit gebracht. Die Deutschen, die Italiener und die Ungarn haben, von wenigen Bruchteilen abgesehen, die Fremdherrschaft abzuschütteln und sich zu Nationalstaaten zusammenzuschließen vermocht, während andere Völker, wie die Polen und Iren, trotz Strömen vergossenen Blutes, zu schwach waren, um an das gleiche Ziel zu gelangen. Mehr noch. Selbst Nationalitäten, denen es nicht gelungen ist, ihre Bestandteile zu einem staatlichen Gefuge zusammenzuschließen, verzichten nicht darauf, andere Völker, die ihnen preisgegeben sind, in ihrer Entwicklung hintanzuhalten. Beweis: die Polen, die, im Deutschen Reich und in Rußland malträtiert und an ihrer nationalen Entfaltung gehindert, ihrerseits im österreichischen Galizien, wo sie stark und die Herren im Lande sind, den Ruthenen nach Kräften genau dasselbe zufügen, was ihre Brüder in PreußischPosen und Russisch-Polen zu erleiden haben. Diesen Standpunkt einmal gewonnen, wäre es gewiß absurd, die Behauptung aufzustellen, das „deutsche Vaterland" setze sich „einerseits aus Polen, Dänemark und Frankreich geraubten Provinzen und andererseits aus den den Arbeitern von den Baronen der Industrie und des Grundbesitzes aus der Tasche gezogenen Kapitalien" zusammen, wie mich ein schwerhöriger Berichterstatter in einer französischen Zeitschrift" sagen läßt. Sicher sind die Beziehungen zwischen den einzelnen Nationen, oder was wir als solche bezeichnen, bisher nie den Regeln der „ewigen Gesetze" der internationalen Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit gefolgt. Die großen Prinzipien des ethnischen Idealismus haben bis auf den heutigen Tag - im höchsten Falle - nur bei den Völkern, die unter dem Joch des Fremdlings seufzen, eine Heimstätte gefunden. Die Unterdrückten allein können versprechen - und unter gegebenen Umständen sogar das Versprechen erfüllen sich von jeder Unterdrückung ihrer Nachbarvölker fernzuhalten. Zu großen und freien Nationen geworden, haben sie ihre Prinzipien stets revidiert. Mit ihren Ketten zusammen verloren sie ihre ethnische Ethik. Die bereits erwähnten Franzosen der großen Revolution, die unter der lauten Verkündigung in den Krieg gezogen waren, daß sie nur die „Tyrannei" bekämpften, den Völkern aber die goldene Himmelsblume der Freiheit und des Selbstbestimmungsrechtes zu bringen beabsichtigten, endeten damit, daß sie unter Napoleon alle Nationen unter ihr Joch zwangen, so daß schließlich selbst Städte wie Hamburg und Rom zu Hauptorten französischer Departements gemacht wurden. Es genügt, auch nur ein einziges Geschichtsbuch an beliebiger Stelle aufzuschlagen, um auf Grund einer wahren Plethora von Beispielen die Erkenntnis zu gewinnen, daß unsere These von der absoluten Unvereinbarkeit der Kriegspolitik mit der ethnischen Politik tief in den Tatsachen selbst wurzelt. Wohin immer wir unsere Augen in der Gegenwart wenden, überall gewahren wir die gleiche Antinomie des patriotischen Gefühls. Der Patriotismus, geboren aus einer sittlichen und rechtlichen Auffassung der ethnischen Menschenrechte jeden Aggregates auf sich selbst, verwandelt sich mit seinem 11 So geschehen in einem meinen Namen tragenden Artikel: Le Patriotisme des Socialistes Allemands, im Mouvement Socialiste, Nr. 194, S. 11-12, für dessen Einzelheiten ich auch im übrigen nicht einzustehen vermag.
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Erstarken in eine unsittliche und falsche Anmaßung angeblicher Rechte des in eitler Uebertreibung als gottähnlich empfundenen eigenen Volksstammes auf Herrschaft über die ethnischen Nächsten. Die einzige Lösung des Problems besteht also in der Moralisation und Logifikation der zwischen den Staaten und den Völkern, die sie umschließen, bestehenden Beziehungen. Die Regierungen, denen wir nur das für das Gemeinschaftsleben absolut notwendige Minimum koerzitiver Kapazität gewähren möchten, sind - das wird heute selbst von den konservativen Politikern zugegeben - der Völker wegen da, und nicht umgekehrt. Die Anwendung dieses Grundsatzes auf das Problem, mit dem wir uns in diesem Artikel beschäftigen, dürfte zweifellos in der Erkenntnis bestehen, daß jede Kollektivität bezw. Teilkollektivität das Recht hat, zu entscheiden, welcher ethnischen Gruppe es angehören will. Bei den Völkern bezw. abgesprengten Volksteilen, die an eine bestimmte Nationalität mit deutlich sichtbaren kulturellen Fäden geknüpft sind, wird diese Entscheidung spontaner Natur sein. Aber auch die Mischvölker und Grenzvölker vermögen sehr wohl auf Grund einer eingehenden Selbsterforschung ihrer Neigungen, ihrer ökonomischen Interessen und ihrer linguistischen sowie historischen Tradition sich ein Urteil darüber zu bilden, welches die Volksgemeinschaft oder das Staatsgebilde ist, zu dem sie sich am meisten hingezogen fühlen, bezw. auf das die Resultante der verschiedenen Tendenzen ihres Gefühls- und ihres Geschäftslebens am stärksten hinweist; wobei nicht unterlassen werden soll, hinzuzufügen, daß diese Konsultation in freier Unabhängigkeit, ohne militärischen oder moralischen Zwang von irgendwelcher Seite her, in den würdigen Formen der Selbstentschlußfahigkeit vor sich gehen müßte. Diese logisch notwendige Lösung besitzt aber nur einen theoretischen Wert, als Direktive und Tendenz, weil sie von den unzähligen Kräften der Tradition und des menschlichen Misoneismus, die ihrer Verwirklichung im Wege stehen, abstrahiert. Heute dürfte der Internationalismus - als Bedürfnis nach internationaler Gerechtigkeit verstanden - nur in den Köpfen einiger weniger humanitärer Wissenschaftler vorhanden sein. Gewiß haben die Arbeiter ernste Motive, um innerhalb der gegebenen Grenzen ihre ethnischen und kulturellen Verschiedenheiten zu überwinden. Es ist Sache der Wissenschaft, sie über die Natur ihrer wirtschaftlichen Notwendigkeiten - die international sind - und ihre Zugehörigkeit zu einer besonderen Kultursphäre - die historisch differenziert ist - aufzuklären. Die Regierungen freilich müssen in der Behandlung des ethnischen Problems, das uns hier beschäftigt, immer versagen, da der moderne Staat keine ethnische Basis hat und weder ethnische Einheit besitzt noch erlangen will. Der Staat ist der geborene Gegner ethnischer Reinheit.
Materialien zu einer Soziologie des Fremden
1. Klassifikationsversuche zum Problem: Der Fremde 1. Personen, bei denen Bürgerrecht und Nationalität effektiv und affektiv zusammenfallen. Beispiel: Italiener italienischen Geblütes und italienischer Sprache, in Italien geboren und aufgewachsen und dort wohnhaft. 2. Personen, die zwar ein ideales und reales Vaterland besitzen, deren Staatsbürgertum aber dieser Nationalität nicht entspricht, weil sie Untertanen oder Angehörige eines fremden Staates sind. Die Beispiele dafür liegen auf der Straße, vor wie nach dem Vertrag von Versailles. 3. Die (ausgewanderten und in der Fremde lebenden) Personen, welche a) ihrem Geburtsstaate sowohl gefühlsmäßig als staatsrechtlich konform bleiben. Oder b) ein neues Bürgerrecht erworben haben, ohne daß sich ein der Ortsveränderung und staatsrechtlichen Umprägung entsprechender psychologischer Vorgang entwickelt habe, und welche folglich in Gebräuchen, Denkweise und Gefühlen im Bannkreise des alten Heimatlandes verharren. Hierin liegen die großen Gefahren jeder Einbürgerung, zumal aber natürlich der Zwangseinbürgerung. Da die große Mehrzahl der Ausländer das fremde Staatsbürgerrecht nur aus Zweckmäßigkeitsgründen erwirbt, so bietet indes auch die freie oder spontane Umbürgerung dem Gaststaate keinerlei Gewähr für entsprechende Gesinnungen und Handlungen. Oder c) durch ihre geistige Elastizität und Anpassungsfähigkeit, sei es in der Erfassung der Schönheiten und Kulturwerte der neuen Heimat, sei es in einer durch die günstige Entwicklung ihrer Privatinteressen bedingten gefühlsmäßigen Umorientierung auf Grund des Satzes ubi bene, ibi patria, allmählich, wenn auch erst nach erhaltenem Bürgerrecht sich wirklich akklimatisiert haben. 4. Die Fremden, die sich den ideellen und materiellen Lebensbedingungen des Auslandes, in dem sie wirken, völlig angepaßt haben und diesem neuen Vaterlande mit wirklicher Sohnesliebe anhängen, die aber aus Nachlässigkeit oder legitimen Rücksichten auf ihre im alten Heimatlande gebliebenen Eltern oder sonstige Verwandte, oder auch weil sie dem Wechsel der Staatsangehörigkeit an sich keine Bedeutung beilegen, das Bürgerrecht ihres Adoptivvaterlandes nicht erworben haben. Von ihnen
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kann man sagen, daß sie die Nationalität gewechselt haben, ohne das Bürgerrecht zu wechseln. Während beim dritten Typus das Bürgerrecht (das juristische oder äußere Phänomen) die Nationalität (das innere oder psychologische Phänomen) zum mindesten antizipiert hat, hat in diesem Falle die Nationalität (das innere oder psychologische Phänomen) das Bürgerrecht (das juristische oder äußere Phänomen) antizipiert. Die unter 1 genannte Kategorie besteht nicht aus Fremden, solange sie nicht ins Ausland gehen, und somit in eine andere Kategorie übertreten. Dagegen sind die unter 2 genannten Volksfremde. Als eigentlich Fremde möchten wir indes nur die der dritten Kategorie angehörigen aufgefaßt wissen. Die vierte Kategorie wäre etwa als die Staatsfremder zu bezeichnen. Unter einem andern Gesichtswinkel wäre die Kategorie „Vaterlandsloser" zu analysieren. Die Kategorie der Vaterlandslosen, der „sans patrie", ist groß. Niemand redet für sie, kaum jemand von ihnen, und doch sind sie eine gewaltige Masse und soziologischer Beachtung wohl wert. Man kann ihre Komponenten ungefähr folgendermaßen gliedern: 1. Theoretiker: grundsätzliche Internationalisten, reine Humanitäre, denen es widerstrebt, im Menschen anderes zu sehen als den Menschen. 2. Die Theoretiker: reine Klassenidealisten, deren VaterlandsbegrifF sich vermenschlicht hat, zur Liebe, zwar nicht zur Menschheit, aber doch zur leidenden Menschheit, zu der „verunrechteten", dem Proletariat, konkretisiert ist. 3. Die Vielgereisten und Fremdverheirateten, les mariages mixtes. Der seit 30 Jahren in England ansässige Deutsche mit englischer oder englisch gewordener Familie. Der in Brasilien reich gewordene italienische Maurer. Die generationsalten Griechen in Triest und vornehmen Juden italienischer Herkunft (Livorno) im arabischen Tunis, unter französischer Herrschaft, überhaupt: les sujets mixtes. 4. Die zu einem ihrem Kulturempfinden nicht kongruenten fremden Patriotismus staatsrechtlich verpflichteten Fremdvölkischen. Die zu falschen Zwecken mißbrauchten, ethisch heterogenen Völker oder Volkssplitter. Von weiterer Distanz aus gesehen kann man die Vaterlandslosen auch in drei andere Kategorien einteilen. 1. Die, welche überhaupt kein Vaterland haben, haben wollen, weil sie keines anerkennen. 2. Die, welche ein anderes Vaterland wünschen, oder doch im Unterbewußtsein begehren, als das, welches die Zeit ihnen gegeben. 3. Die, welche mehrere Vaterländer zugleich haben, oder zwischen mehreren Vaterländern schwanken. Man könnte sie die Pluripatrioten nennen.
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Mit Ausnahme einiger, in allen dreien Kategorien vorkommender Unentwegter, sind die Komponenten der drei Kategorien, trotz ihrer sonstigen Artverschiedenheit, von dem gleichen Bande der Not, der Gewissensnot, umschlungen.
2. Zur Psychologie der Reisenden Andersen erzählt: „Es sprach der Zaunpfahl von den Schwalben: Ja, das ist eben ihr Unglück. Sie sind zu flatterhaft. Immer müssen sie auf die Fahrt ins Ausland, wenn es hier zu frieren beginnt. Sie haben keine Vaterlandsliebe. Sie können (bei der Verteilung eines Preises fur Schnelligkeit) nicht berücksichtigt werden." „Wenn ich nun aber den ganzen Winter hindurch in der Moorheide läge?" erwiderte die Schwalbe, „wenn ich die ganze Zeit schliefe, würde ich dann in Betracht gezogen werden?" „Bringen Sie eine Bescheinigung der alten Moorfrau bei, daß Sie die Hälfte der Zeit im Vaterlande verschlafen haben, dann sollen Sie berücksichtigt werden 1 ". Reisen ist eben schon ein „Schritt", eine „Befreiung", die Möglichkeit einer Beziehungserweiterung. Eine wichtige, meist den sog. Kulturvölkern - Franzosen, Deutschen, Engländern, jetzt auch Italienern - angehörige Kategorie Reisender, ist für tiefere fremde Eindrücke unzugänglich. Mehr als darauf zu lernen, kommt es ihnen an, zu belehren, sich mitzuteilen, de s'épancher. „Quand nous parlons français avec un étranger, fut-ce avec un Chinois et au fond de la Chine, nous ne sommes pas chez lui, c'est lui qui est chez nous, c'est lui qui voyage. Nous nous dérangeons pour lui apprendre qui nous sommes. Nous courons le monde pour nous faire étudier, et nous rentrons chez nous des mains vides2". Daher sind denn auch die Berichte solcher Auslandsreisenden (im nationalen Sinne) egozentrisch, und ihre Urteile über die Fremde selbst fremd 3 .
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Andersen 's Märchen und Geschichten. Weimar 1911. Kiepenheuer. Bd. II, p. 179. Marc-Monnier. L'Italie est'-elle la terre des morts? Paris 1860, Hachette, p. 221. Anbei einige willkürliche Beispiele für die Leichtfertigkeit der urteilenden Reisenden: das einzige Resultat des Aufenthaltes, den der (des französischen nicht mächtige) amerikanische Negerprofessor Booker Washington auf seiner Europareise in Paris nahm, wurde von ihm in den Ausspruch zusammengefaßt, was er in Frankreich gesehen habe, habe ihn wie noch nie in seinem Leben mit Zuversicht auf die sichere Zukunft der Neger erfüllt; was so viel bedeuten sollte, als daß die Neger doch sittlichere Menschen seien als die Franzosen. In der französischen Ausgabe seiner Autobiographie (Up from Slavery) hat der Verfasser dann freilich diese Ansicht widerrufen (Paris 1904. Plon-Nourrit, S. 252).
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Freilich vermag selbst ein fortgesetztes Reiseleben zu Studienzwecken und liebevolles Sichversenken in fremdes und höheres Kulturleben auf die Dauer ebenfalls im Reisenden den einheimischen Patriotismus sehr wohl zu festigen und sogar mit besonderer Gewalt wieder entstehen zu lassen. Das ist besonders dann der Fall, wenn der Reisende in der Fremde auf Schritt und Tritt auf eine, auf Haß oder Unwissenheit beruhende Unterschätzung seines Ursprungslandes stößt. Dann wirkt die Unterschätzung nicht nur als ein Element der Ungerechtigkeit, die das Gefühl für Gerechtigkeit und Gleichmaß stört, sondern spornt unbewußt zu kritischer, ja überkritischer Betrachtungweise der vermeintlich so hoch erhabenen Völker und Länder an, die ihrerseits im Fremden dann wieder leicht in ein Gefühl der Überlegenheit ausläuft. Künstlerisch sind ähnliche Gedanken in unvergleichlicher Weise von Montesquieu in seinen Lettres Persanes verwertet worden. Einen natürlichen Niederschlag hat diese falsche Pädagogik der Gastvölker in den Schriften der großen russischen Emigranten des XIX. Jahrhunderts gefunden. Jeder von ihnen ist von dem Kulturleben der mittel- und westeuropäischen Völker doch letzten Endes wieder abgestoßen worden und zu intensiverer, ja, bisweilen selbst chauvinistischer Schätzung der Qualitäten seines eigenen Vaterlandes, dessen Zustände sie doch zur Flucht oder Auslandreise getrieben, zurückgekommen. Dostojewski gewann in seinem langjährigen Aufenthalt in Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz und durch die vielfachen dort erhaltenen Einblicke in das Wesen der Kulturvölker keine größere Ruhe und innere Harmonie; noch im Februar 1871, inmitten der größten Siegesfreude der Deutschen, stellte er die Behauptung auf, die Deutschen seien ein wüstes Volk, ohne Zukunft 4 . Alexander Herzen betrachtete es
Über die Unfruchtbarkeit der Reisen von Franzosen in Italien, Deutschland, Australien usw. vgl. Brief von Alessandro Verri aus Rom vom 8. Juli 1767 (Lettere, ed. Casati, Milano 1880, Galli, vol. II, p. 279-81; Alphonse de Staël·. Corinne ou l'Itale. Nouv. éd. Paris, Garnier, p. 18, 19; Alphonse Daudet: Notes sur la vie. Paris 1899, Charpentier, p. 61. Das typische Urteil eines Fremden über England lautet: „L'Angleterre est le pays du mal-vivre, du mal-loger, du mal-manger, du mal-s'asseoir, et du mal-dormir. Si je n'avais qu'une ligne pour indiquer les tendances de cette nation dans un Dictionnaire qui traduirait le caractère essentiel en cinq mots, je dirais: l'Angleterre a l'horreur du comfortable.". (Jules Vallès: La Rue à Londres. Paris 1914. Charpentier, p. 121). Gegen die Übellaunigkeit und die Ärgernis erregende Verständnislosigkeit der ausländischen Reisenden in ihren Urteilen über die Menschen und Gegenstände der Fremde gibt es eine ganze Literatur pädagogischen Inhaltes. So zur Bekämpfung der Vorurteile der Deutschen in Italien: Victor Hehn: Italien. Ansichten und Streiflichter. 2. Aufl. Berlin 1879, Bornträger, p. 270, sowie C. J. A. Mittermaier. Italienische Zustände. Heidelberg 1844. Mohr. p. 31 ff.; die der Italiener in Spanien: Edmondo De Amicis: Spagna. 2 Ed. Napoli 1914, Romano, p. 272; der Engländer in Frankreich: Edward Lytton Bulwer: England und the English. Paris 1834, Baudry, p. 224 ff., Fr. Marshall: French Home Life, Edinburgh 1873, p. 155 ff.
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Gutes Material bieten auch die empfehlenswerten Schriften von Carlo Del Balzo: L'Italia nella Letteratura Francese dalla morte d' Enrico IV alla Rivoluzione. Torino 1907, Sten; C. von Klenze: The Interpretation of Italy during the last two Centuries. Chicago 1921, University of Chicago Press; Arturo Farinelli: Divagazioni erudite. Inghilterra e Italia-Germania e Italia-Italia e SpagnaSpagna e Germania. Torino 1925, Bocca. Eugen Zabel: F. M. Dostojewski, in der Deutschen Rundschau, LIX, p. 385 (1889).
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als einen der Hauptzwecke seines Lebens, den von ihm ungeliebten Völkern WestEuropas die innere Größe jenes russischen Volksganzen zu predigen, das sich auf die wunderbarste Weise weiß abhob auf dem dunklen Hintergrund der korrupten und dem Untergang geweihten Kultur der Deutschen, Engländer und Franzosen 43 . Indes die Schwierigkeit des Verständnisses für fremde, weil extranationale Verhältnisse erhellte auch aus der Übertriebenheit der Urteile im lobenden Sinn, welcher die Ausländer so häufig zum Opfer fallen, falls sie die Repulsionsperiode überwunden haben und nun zur Sympathieperiode übergehen 5 . Die Ausländer, die ein fremdes Volk lieben und seine Sprache und Sitten nachahmen, sind ganz „Überschwang" und kritiklos. Sie wagen oft nicht einmal mehr über die Erzeugnisse desselben ihre eigene Meinung zu äußern. „Un étranger francisé ne se permet pas une opinion ni une phrase qui ne soit orthodoxe", bemerkt Madame de Staël gelegentlich der Beschreibung des französischen Teiles des habsburgischen Adels, den sie in Wien antraf 6 . Die übergroße Mehrheit der französischen Emigranten in Deutschland lernte dort nichts, führte, schlecht und recht, ihr französisches Leben weiter und kehrte dann nach Frankreich zurück, ohne tiefere Fühlung mit der deutschen Kultur gewonnen zu haben 7 . Einige wenige von ihnen freilich wurden dann dennoch zu Aposteln des Deutschtums in Frankreich, ohne indes bei näherer Hinsicht mehr als die Sonderlichkeiten und Sonderheiten der Deutschen angenommen zu haben, mehr Deutschschwärmer als Deutschkenner 8 . Die Tendenz des Ausländers zur Übertreibung im Lobe des Fremden wird noch ins ungemessene gesteigert, wenn sich die Schwierigkeit einer wirklichen Erfassung des heterogenen Gegenstandes mit dem Enthusiasmus für eine bestimmte Partei verbindet. Nur so ist ζ. B. zu erklären, wenn sogar Milhaud in einer im übrigen gewissenhaften großen Arbeit über die deutsche Sozialdemokratie (1902) sich zu der schier unglaublichen Behauptung versteigen konnte, daß diese Partei zweifellos allen ihren Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben Herrin zu werden vermöchte: „Tout nous autorise à penser
4a Alexandre Herzen: De l'autre rive. Genève 1870, p. 10. 5 Madame de Staël hat den Deutschen an manchen Stellen ihres Buches De l'Allemagne zweifellos unverdientes Lob gespendet. In jüngster Zeit haben der Amerikaner George Herron und der Franzose Jean Louis Vaudoyer Italiens Volk und Land über den grünen Klee gelobt. (George D. Herron: The revival of Italy. London 1922. Allen. Vaudoyer. Les Délices de l'Italie. Paris 1924. Pion.). Ersterer hat Italien sogar als vorbildliches Land der sozialen Reformen dargestellt (p. 50). Letzterer hat ausgerufen „man verlasse Italien mit sehr viel mehr Wehmut als Spanien, Griechenland oder Indien. In der Schweiz hat der russische Jude F. Liefschitz in seinem Buch „Die Schweiz und die Schweizer" (Bern 1924. Roos) das Schweizertum als die höchste Stufe der Originalität modernen Menschentums und „das Salz der Welt" (p. 17/18) gepriesen. Usw. 6 Staël·. De l'Allemagne (Nouv. éd., Paris, Garnier) (zumal über die mit französischer Kultur getränkten Polen und Russen) p. 55. 7 Vgl. die entsprechenden literarischen Nachweise bei Henri Tronchen: La fortune intellectuelle de Herderen France. Paris 1918. Rieder, p. 180. 8 Über die benommenen Köpfe der französischen Deutschlandreisenden in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts und ihre deutschtümelnden Ridikülitäten und Bêtisen vgl. Louis Reynaud: L'influence allemande en France au XVIII e et au XIX e siècle. Paris 1922, Hachette, p. 152 ff.
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qu'il sera (le Socialisme allemand), dans l'un des cas comme dans l'autre, tout à fait apte à l'accomplissement de toute sa tâche, de toutes ses tâches9". Die Fähigkeit, zu innerem und innigem Verständnis des Fremden vorzudringen, ist stets nur wenigen gegeben. Die Studierstube präpariert zu diesem Behufe, aber habilitiert noch nicht zu ihm. Es gehört persönlicher Kontakt, reichliche und reifliche Überlegung dazu. Es ist eine Frage der Rezeptivität. Aber zugleich auch eine solche des Temperamentes10. Lamartine hat gesagt: „Les grandes natures sont doubles. Donnez deux patries à un enfant, vous lui donnez deux natures11. Wer sich, wie Mérimée zum Ziel seines Lebens gesetzt hat: voyager, étudier, regarder, se promener à travers les hommes et les choses12, der muß notwendigerweise den Begriff Vaterland weiter und menschlicher fassen, wenn anders er wirklich nicht nur globe-trotter sein, das heißt im Herumreisen einen Zeitvertreib oder doch einen Selbstzweck erblicken will, sondern fähig ist, die Augen und, worauf es noch mehr ankommt, das Herz offen zu halten. Wenn etwas den Vaterlandsbegriff erweitert, ist es die psychologische Durchdringung der jedesmaligen Umgebung. Dieser Prozeß verhindert die Bildung oder Beibehaltung von Vorurteilen über die ausschließliche Güte und Vortrefïlichkeit des eigenen Personenkreises. Der Fremde gelangt zum Teil der Erfassung des fremden Wesens vermöge eines psychischen Vorganges, den man als „Einfühlung" zu bezeichnen pflegt, d. h. dadurch, daß er in das Objekt, dem er sich hingegeben hat, mit seinem ganzen Wesen einzudringen sucht. Es ist nicht notwendig, wie bisweilen angenommen wird, daß er damit Gefahr läuft, seine ganze Persönlichkeit an das ihr ursprünglich Fremdartige zu verlieren, indem er in die Lage eines Schauspielers kommt, der sich so sehr in seine Rolle einlebt, daß er sein reales Ich darüber vergißt13. Die „Mimik" in das Fremdartige hinein ist möglich und in weitem Umfange vorhanden, aber umgekehrt nur da, wo keine „Persönlichkeit" vorhanden. Die Persönlichkeit vermag doch wohl mehrere Tonarten, die ihr gleichmäßig liegen, zu beherrschen. Auch nicht jeder Berufsschauspieler ist „Schauspieler". Mit einem trefflichen italienischen Fachausdruck psychologisch gesagt: es gibt ein immedesimarsi auch in pluraler Form.
3. Der Fremde in der Mentalität des Einheimischen Von der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts an wird der freiwillige Wechsel der Nationalität, das Einleben von einer Nationalität in eine andere immer seltener, wenigstens in den gelehrten Kreisen, wo es im XVIII. Jahrhundert eine geläufige Erscheinung ge9 Edgar Milhaud: La Démocratie Socialiste Allemande. Paris 1903. Alean, p. 580. 10 Besonders in der Kunst gibt es eine Seelenstimmung, die den im Text ausgeführten Prozeß darstellt. Guyau sagte, „Je me suis pris d'amour pour tout ce que je vois" (Jules Coulin: Die sozialistische Weltanschauung in der französischen Malerei. Klinkhardt, p. 39). 11 Alphonse de Lamartine, Régina. Paris 1855. M. Lévy, p. 2. 12 H. Taine: Etude sur Mérimée, in P. Mérimée: Lettres à une Inconnue. Paris 1874, M. Lévy. Tome I, p. IV. 13 M. Kelchner. Von den Deutschen. Grenzboten, 73. Jahrgang Nr. 41 p. 58.
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wesen war. Und zwar als Wirkung der Demokratie, die nationale Massenempfindungen schuf und die nationalen Gegensätze in außerordentlichem Maße verschärft hat. Nur die Juden bilden davon eine Ausnahme; teils durch Heiraten, teils durch Handelsbeziehungen erhält ihre gewaltige Mobilität objektive Grundlagen. Ja, mit der ihnen nun erst gesetzmäßig zustehenden Freizügigkeit beginnt ihre spontane Ortsveränderung überhaupt erst die entsprechende Ausdehnung, demographisch wie räumlich, anzunehmen. Die ethnische Wurzellosigkeit einerseits und die Anpassungsfähigkeit andererseits bewirkte es, daß die Ortsveränderung der Juden überaus häufig einen äußerst schnellen Wechsel der nationalen Gesinnung zur Folge hatte. Der Fremde ist der Repräsentant des Unbekannten. Das Unbekannte ist die Absenz von Assoziation und flößt keimhafte Antipathie ein. Ein holländisches Sprichwort sagt: onbekennd maakt onbeminnd. Hierin liegt die natürliche Grundlage der Xenophobie, wobei freilich zu unterscheiden ist: Bei einem Volk von hoher Kultur und großer Assimilationskraft und Selbstsicherheit, sowie Humanität und Bonhomie vermag der Ausländer als Individuum, sobald einmal die Barriere der Sprachen gefallen ist, als gleich empfunden und behandelt zu werden 14 , auch wenn die Kollektivität, das Volk, dem er angehört, mißachtet oder gehaßt wird. Die Stellung des Fremden im Bewußtsein des Gastvolkes wird erschwert, wenn es sich um Masseneinwanderung handelt. Deshalb ist der Franzose und der Engländer persönlich bei seinen Nachbarvölkern geschätzter als der in Massen auftretende Deutsche oder Italiener. Deshalb kommt auch der Antisemitismus erst da auf seine Rechnung, wo die große Masseneinwanderung der Juden aus dem Osten erfolgt. Man kann historisch nachweisen, daß die ersten Regungen bewußter Fremdfeindschaft mit der Überflutung gewisser Gewerbe oder Berufe durch Ausländer entstanden sind 15 . Masseneinwanderung birgt stets Bedrohung wirtschaftlicher Existenzen in sich. Daher sind, ihr gegenüber, auch die sozialistischen Massen einheimischer Arbeiter von Gefühlen eines proletarischen „Arbeitsprotektionismus" beseelt 16 . Die meisten Inländer beurteilen die Ausländer vorzüglich nach den ihnen bekannten Spezimen. Die Italiener gelten in der Schweiz und anderwärts als schmutzige Proletarier, die Franzosen in England als Akteurs und Perrückenmacher. In Süddeutschland hießen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Norddeutschen fast ohne Unterschied bis zur Eröffnung der Eisenbahnen „preußische Windbeutel", weil man sie nach den aus Norddeutschland kommenden Commis voyageurs beurteilte 17 . Unter den Hinderungsmomenten eines Einlebens in der Fremde steht eine Reflexerscheinung an erster Stelle. Das Einfühlen des Fremden in die Gewohnheits- und Emp14 Das gilt ζ. B. für die Stellung der Fremden in Frankreich. Vgl. Robert Michels·. Quelques traits de la Sociologie de Paris, in der Revue de l'Institut de Sociologie (Solvay). Bruxelles, Tome III, Nr. 3, mai 1921. 15 Robert Michels: Zur historischen Analyse des Patriotismus, im Archiv f. Sozialwiss. Bd. 36, Heft 1 und 2, Januar-März 1913. 16 Giuseppe Prato: Il Protezionismo operaio. L' esclusione del lavoro straniero. Torino 1910. Sten; J. Delevsky: Antagonismes sociaux et antagonismes prolétaires. Paris 1924, Giard. 17 Max Wirth: Die deutsche Nationaleinheit in ihrer volkswirtschaftlichen, geistigen und politischen Entwicklung an der Hand der Geschichte. Frankfurt 1859, Sauerländer, p. 27.
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findungswelt der neuen Umgebung ist nämlich gebunden an das nicht mehr als fremd Empfundenwerden seitens der Menschen der neuen Umgebung selbst. Es ist auffallend, daß sich dieses häufig in beträchtlich langsamerem Tempo vollzieht als jenes. Der einzelne oder kleingruppige Fremde bleibt länger Fremder im Bewußtsein der ihm heterogenen Masse als etwa die heterogenen Massen solche im Bewußtsein des Fremden bleiben. Die Ursache hierfür liegt wiederum in der Psychologie. Der Eine, der die Vielen um sich sieht, gewöhnt sich leichter an die heterogenen Charakteristiken der Vielen, als diese sich an die heterogenen Charakteristiken des Einen, aus dem Rahmen Herausfallenden, gewöhnen. Dabei unterbinden die Vielen dann mit ihren naiven, ständigen, häufig von vorgefaßten Meinungen, guter wie schlimmer Art, gegen die fremde Spezies, welcher der Eine angehört, offen zur Schau getragenen Bemerkungen, die den steten Hinweis auf die Verschiedenartigkeit enthalten, den Eingewöhnungsprozeß, indem sie dem Fremden eben seine vielleicht schon im Verschwinden begriffene völkische Eigenartigkeit stets von neuem zum Bewußtsein bringen und somit die psychische Zugehörigkeit zu seinem alten Volke in ihm künstlich erhalten. Wir erwähnen von lange im Ausland ansässigen und warm werdenden Fremden, deren Eigenassimilisation indes der psychischen Ratifikation seitens des Milieus noch entbehrt, folgende Typica: Ein Holländer in England mit einem für Engländer schwer aussprechlichen Namen, der in Gesellschaft nach mißglückten Versuchen, seinem Namen gerecht zu werden, von seinen Freunden einfach stets als the dutch gentleman vorgestellt wird; ein Deutscher, der von seinen italienischen Freunden stets für die Politik di voialtri tedeschi verantwortlich gemacht wird: ein Italiener, der in seiner Anfangszeit in Paris das Wort malotru in seinem Endvokal wie ein italienisches (oder deutsches) u aussprach und nun über die Jahrzehnte hinweg von seinen Freunden stets spöttisch malautrou genannt wird. Nationales Unverständnis und geringe Fähigkeit der Einfühlung des Inländers in die Fremdenbevölkerung erwächst auch aus einer allzu starken Verschiedenheit der Kulturhöhe. Man hat z. B. die Ideallosigkeit als Zeichen der Halbkultur erklären und hieraus die Unfähigkeit des Chinesen, im christlichen Missionar und seiner Tätigkeit in China anderes als den Ausfluß materieller Bedürfnisse und des Erwerbssinnes zu erblicken, herleiten wollen 18 . Indes braucht solches Mißverstehen keineswegs auf KulturhöhenDifferenzen zu beruhen. In Ländern mit stark ausgesprochenem Erwerbssinn, wie in England, Amerika, der Schweiz, einigen Teilen Norddeutschlands und Nordfrankreichs, in denen der Begriff der hohen Bildung als indirekte Teilerscheinung des Reichtums gewertet zu werden pflegt, wird der aus Idealismus hungernde, wartende Intellektuelle, wie er sich in den besten Zeiten der italienischen, insbesondere süditalienischen, französischen, deutschen, russischen neueren Geschichte häufig vorfand, nicht auf Verständnis und Achtung stoßen, ohne daß man behaupten könnte, daß deshalb ein Unterschied der „Kultur"höhe vorläge.
18 Alfred Vierkandt. Naturvölker und Kulturvölker. Leipzig 1896. Duncker u. Humblot, p. 405.
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4. Das Milieu und die Absorption des Fremden Das primäre Element bei der Bildung des Patriotismus ist der äußere Einfluß. Wie überall, so wirkt auch hier das Ambiente, das Milieu, auf die Sinnesart. Setzt ein Eskimokind nach Rom, und es wird, zum Jüngling herangereift, in Sprache, Sitte, Sinnen und Empfinden zum jungen Römer; verpflanzt einen Römerbuben nach Grönland, und er wird zum Eskimo werden. Im ersten Fall ist die „Natur" eskimo, im zweiten römisch. Aber die Anpassungsfähigkeit des in jungen Jahren stehenden Menschen ist so gewaltig, daß er jede seiner Rasse widersprechende Art anzunehmen vermag, die ihm dann zur „zweiten Natur" wird. Selbst der erwachsene Mann unterliegt dem Einfluß des Milieus in nationaler Hinsicht, sofern er in es nur isoliert hineintritt, ohne Anlehnung an Volksgenossen, und zu dauerndem Aufenthalt. Man hat Franzosen wie dem Prinzen Eugen von Savoyen 19 und dem Dichter Chamisso 20 nachgerühmt, daß sie sich völlig in deutsch-vaterländisches Wesen einzuleben verstanden hätten. August II., der Menschenkenner, hat in seinem politischen Testament den Fürsten den Rat erteilt, ihre Gesandten an fremden Höfen häufigem Wechsel zu unterziehen, „denn gewöhnlich akkomodieren sie sich den Interessen des Hofes, an dem sie sich befinden, und lassen sich durch scheinheilige Handlungen, Interessen, Ehrungen, Galanterien, Heiraten und vielerlei anderes gewinnen 21 . Meist bedarf es zur Metamorphose des Zugehörigkeitsgefühles gar nicht der Anwendung so grober Mittel. Zur Akkomodierung genügt in der Regel die konstante, ungestörte Einwirkung der fremden Umgebung. In Zeiten hochgespannter Vaterlandsfrenesie vollzieht sich die Umwandlung geradezu im Fluge. Es ist eine häufige Erscheinung, daß sich die Kriegskorrespondenten fremder Blätter von der Begeisterung der Heere, die sie ihr Beruf zu begleiten nötigt, so sehr „anstecken" lassen, daß sie mit Leidenschaft deren Partei ergreifen. Im Kriege der Italiener um Tripolis 1911/12 war die große Mehrzahl der französischen Journalisten im italienischen Hauptquartier in hohem Gade romanisch gesinnt; einer von ihnen provozierte sogar durch seine einseitigen Berichte das Attentat eines racheeifrigen arabischen Patrioten, dem der allzu italienische Franzose beinahe zum Opfer gefallen wäre 22 ; gleichzeitig waren die französischen Korrespondenten im türkischen Lager, auch wenn sie die gleichen Zeitungen vertraten wie ihre Kollegen im italienischen Hauptquartier, von rückhaltloser Sympathie mit den Arabern erfüllt und schilderten, sich völlig auf deren Seiten stellend, die Italiener als Räuber und Briganten 23 . Mehr noch: in einem der Gefechte, welche die Garibaldianer bei ihrem Einmarsch in Südtirol 1866 den Österreichern lieferten, haben sich englische Kriegskorrespondenten mit ihnen so eins gefühlt, daß sie, ihre Pflichten als Neutrale vergessend und der Gefahr schimpflichen Todes im Falle etwaiger Gefan-
19 Karl Theodor Heigel·. Aus drei Jahrhunderten. Wien 1881, Braumüller, p. 46. 20 Heinrich Kurz: Vorrede zu Chamisso's Werken. Bd. I, Leipzig, Verl. d. Bibliogr. Instituts. 21 Paul Haake: Ein politisches Testament König Augusts des Starken, in der Historischen Zeitschrift. Bd. LI (neue Folge), p. 6. 22 Jean Carrère. 23 Paul Tristan.
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gennahme nicht achtend, zur Flinte griffen und auf die Österreicher schössen24. Als nach den Siegen der Sardinier und Franzosen 1859 und den Folgen der Schlacht bei Königgrätz 1866 Österreich Italien räumen mußte, blieben viele der in Italien ansässigen Österreicher dort und andere kehrten später wieder dorthin zurück. Selbst österreichische Offiziere erklärten, ihren Abschied nehmen und ihren Lebensabend in Feindesland zubringen zu wollen25. Noch in späteren Jahren konnten sie offiziellen Statistiken des Königreichs in den ehemals zu Österreich gehörigen italienischen Landsteilen, insbesondere in Venetien und in der Emilia eine ganze Anzahl österreichischer Familien, in ihrer Mehrzahl Beamtenfamilien feststellen, die das dominierte Land lieb gewonnen hatten und sich auch nach seiner Vereinigung mit dem übrigen Italien nicht mehr hatten von ihm trennen mögen26. Ein Musterbeispiel dafür, inwieweit die Vaterlandsliebe normalerweise durch unser Leben und unser Lieben bestimmt wird: Anfangs des deutsch-englischen Krieges 1914 lernte Schreiber dieses eine in einer italienischen Familie in Dienst befindliche englische Gouvernante kennen, die dadurch allgemeinen Unwillen erregte, daß sie offen und energisch für Deutschland und gegen England Partei ergriff; sie erklärte dieses anscheinend vaterlandslose Benehmen dadurch, daß sie sagte, sie habe die besten Jahre ihres Lebens in Deutschland zugebracht, wo eine ihrer Schwestern verheiratet sei; sie selbst sei mit einem jungen Deutschen verlobt; im deutschen Heere habe sie an die zwanzig Freunde und Verwandte, während sie im englischen Heere niemand Liebes und Verwandtes besitze; sie habe zwar in England zwei Brüder leben, die aber nach dem dort geltenden Gesetz nicht zu dienen brauchten; es sei also ganz natürlich, wenn sie den Sieg nicht den englischen, sondern den deutschen Waffen wünsche. Aus diesen ihren natürlichen Gefühlen zog die junge Engländerin auch sofort die Konsequenzen. Sie verließ ihre Stelle, eilte in die Schweiz und setzte von dort aus Himmel und Hölle in Bewegung, um, eventuell als Rote-Kreuz-Schwester, Einlaß nach Deutschland zu erhalten. Indes blieben all ihre Bemühungen umsonst, da die deutschen Konsulate vom Wesen des Patriotismus andere Begriffe hatten und das Benehmen der Engländerin teils als unehrenhaft, teils als verdächtig empfanden. Noch ein weiteres, dem deutschen Umkreis entnommenes Beispiel (immer wertfrei): Houston Stewart Chamberlain, aus bestem und reinstem britischen Blut, geboren 1855 als Sohn eines englischen Admirals, vermochte nach eigener Angabe erst mit 33 Jahren seinen ersten Aufsatz in deutscher Sprache zu veröffentlichen27. Das ursprüngliche Engländertum und späte Deutschtum hat ihn indes nicht daran gehindert, begrifflich völlig im deutschen Wesen aufzugehen und sein zweites Vaterland so sehr und so absolut über sein erstes zu setzen, daß er sich im Kriegsjahr 1914 gänzlich auf Deutsch-
24 H. M. Hyndman: The Record of an Adventurous Life. London 1911, Macmillan, p. 36. 25 Hyndman, p. 44. 26 Censimento del Regno d' Italia. Vol. V. Carlo De Negri: Relazione sul Metodo di Esecuzione e sui Risultati del Censimento raffrontati con quelli dei censimenti italiani precedenti e di censimenti esteri. Roma 1904, Tip. Naz. Bertero, p. XL VII. 27 Degener's Wer ist's? Leipzig 1908, p. 210.
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lands Seite stellte und England in heftiger Weise als Anstifter des Krieges erklärte. Seinen vaterlandsabgewandten Standpunkt verteidigte Chamberlain mit zwei Argumenten: daß er in den letzten dreißig Jahren vorzüglich in Deutschland gelebt und heilige Liebe zu deutscher Art, deutschem Denken, deutscher Wissenschaft und deutscher Kultur gewonnen habe, und daß ihm das Wohl und die Kultur der gesitteten Menschheit (unter welchem Begriff er Deutschland versteht) höher stehe als nationale Eitelkeit 28 . Auf daß sich kleine verpflanzte Splitter im Auslande ihren ursprünglichen Patriotismus, das heißt den Patriotismus des Ursprungslandes, bewahren und gegen den Patriotismus des neuen Landes, in dem sie sich befinden, gefeit bleiben, dazu bedarf es überdies eines sehr großen Apparates von dem Ursprungslande gehörigen Schulen, Klubs, Konsulaten und eines hohen Maßes vom alten Vaterland gespendeter Ehrungen, zumal aber peinlicher gesellschaftlicher Isolierung. Dessenungeachtet ist der Einfluß des Milieus auch dann noch eindringlich und eindringend. Es wird kaum einen Auslandsdeutschen geben, dessen Kinder nicht mindestens zeitweilig sich als Bestandteil der Nation, inmitten welcher sie leben, gefühlt haben. Häusliche Konflikte nationaler Natur bleiben nur denen (stets bürgerlichen Existenzen) erspart, die sich mit einem Stacheldraht von Hauslehrern, nationalen Geistlichen und Gouvernanten umgeben und die Landessprache mit Absicht vom Hause ausschließen; und selbst solche kleine Festungen sind längst nicht immer uneinnehmbar. Das Vaterlandsgefuhl der Umgebung dringt auch durch die dicksten Mauern. Nur wenige Ausnahmen stehen mit dem Gesagten scheinbar im Widerspruch. Einmal die Engländer, deren home auch im Ausland ein derartiges castle darstellt, von der orange marmelade und dem lawn tennis bis zum evening prayer, daß in dieser Geschlossenheit alt-nationaler Lebensführung allerdings kaum ein geistiger Strahl italienischer Sonne bezw. deutscher oder französischer Stimmung hineinfällt; wie denn überhaupt (von Hermann Levy) mit Recht darauf aufmerksam gemacht worden ist, daß, während dem Deutschen usw. Beachtung als „Ausländer" zukommt, der Engländer nur als „Kolonist" gelten muß 29 . Der Engländer adaptiert sich nicht, sondern er adaptiert nur selbst, und lebt folglich grundsätzlich nicht „haufenweise" unter fremdem Banner. Zweitens: die Schweizer, bei denen es, wenn sie ζ. B. in Mailand oder Lyon wohnhaft sind, Sitte ist, ihre Söhne, sobald sie die Jahre der Mittelschule erreicht haben, zur weiteren Ausbildung einfach in die Heimat zurückzusenden und somit deren natürlichen Assimilationsprozeß zu unterbinden. Endlich unterliegen drittens die Kinder solcher fremden Gruppen nicht, oder nicht annähernd so stark, dem Einfluß des Milieus, deren Familien fremdvölkische Gebiete des gleichen Staates bewohnen, und zwar Gebiete, in welchen sie den Staat entweder direkt oder indirekt repräsentieren oder sonstwie zur eingeborenen Bevölkerung in einem natürlichen Kampfcharakter stehen (früher Deutsche in Polen, oder in den tschechischen Gegenden Böhmens, jetzt etwa Tschechen in rein deutschen Gegenden).
28 H. St. Chamberlain·. Deutsche Friedensliebe, in d. Intern. Monatsschrift, IX, Heft 1, p. 7. 29 Hermann Levy: Der Ausländer. Ein Beitrag zur Soziologie des internationalen Menschenausstausches, im Weltwirtschaftlichen Archiv, Bd. II, p. 289 (Jena 1913).
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Die Aufnahmefähigkeit fremder nationaler Elemente ist indes an eine Altersgrenze gebunden. Zur Empfänglichkeit gehört Aufnahmefähigkeit, Frische, Verarbeitungsmöglichkeit der Eindrücke. Hehns Ratschläge an deutsche Italienfahrer gehen dahin, die Fahrt anzutreten, wenn sie noch in den Jahren stehen, wo „ein allmächtiges Verlangen nach Erfüllung mit fremdem Stoffe vorherrscht, der dann zum Aufbau der werdenden Individualität verwandt wird 30 ". Der fertige Mann empfindet das Ungewohnte als abzuweisende unwillkommene Störung. Das gleiche gilt in noch höherem Grade als Voraussetzung des Vaterlandswechsels. Also: allgemein gesprochen unterliegen bereits die Kinder der Fremden dem (für sie) einheimischen Milieu. Die Geschichte der Auslandsdeutschen 31 wie der Auslandsitaliener 32 bietet dafür ein reichliches Exemplifikationsfeld dar. Hier liegt der ambientale Einfluß auf den Charakter des Patriotismus verankert. Die Deutschen in Nordamerika sind in Art und Gefühlsleben voneinander selbst in den einzelnen Provinzen verschieden. Der Deutsche in St. Louis ist und empfindet anders als der Deutsche in San Franzisko. Beide aber weichen vom in Deutschland gebliebenen Bruder auch dann ab, wenn sie deutsche Patrioten bleiben, und fühlen sich bei ihrer Rückkehr nach Deutschland dort nicht mehr zu Hause 33 . Das gleiche läßt sich vom italienischen Auswanderer sagen. Bisweilen, freilich selten genug, sind Wahlverwandtschaften konstatierbar, die zu Optionen an ein fremdes Volkstum führen. Dann vollzieht sich die Bildung eines neuen Vaterlandsgefühls in ihm. Die Banden reiner Wahlverwandtschaft sprengen die Banden der Geburtverwandtschaft und geben dem inhärenten Bedürfnis der Menschen nach dem Vaterland eine neue, der alten entgegengesetzte Richtung. Diese Wahlverwandtschaften können rein literarisch sein, und setzen nicht einmal die persönliche Bekanntschaft mit dem fremden Volkstum voraus. Auch zu große Blutmischung und der sich daraus ergebende, dem Milieu gegenüber heterogene Überbau des Denkens und der Geschmacksrichtungen vermögen die Blutgemischten gegen den zu engen und exklusiven Vaterlandsbegriff zur Auflehnung zu
30 Victor Hehn: Italien, 1. c., p. 164. 31 „Da erweist sich, daß die Tochter eben des Deutschen, der seine Freude über das Zusammentreffen mit den neuen deutschen Bekannten ausgedrückt hat, nicht ein Sterbenswörtchen deutsch zu sprechen weiß. Man trifft die Töchter eines berühmten deutschen Gelehrten, die eine englische Mutter haben, und man empfindet, daß sie Deutsch nur ungern und mit Widerwillen sprechen." (C. F. Lehmann-Haupt: Der Krieg und das Deutschtum, p. 13.) 32 Über die Hispanisierung und Amerikanisierung der Italiener in Argentinien usw. mache ich auf das reiche in meinem Werke: Sozialismus und Faszismus in Italien (München 1925, Meyer & Jessen, p. 94 ff.) enthaltene Material aufmerksam. 33 Karl Lamprecht: Deutsche Kultur und Deutsches Volkstum im Auslande, in d. Zeitschr. Das Deutschtum im Ausland, 1909 (Sonderdruck, p. 12). „Trotzdem die deutsch-amerikanischen Dichter so aufrichtig an ihrer alten Heimat hingen, so ist es doch höchst selten einem eingefallen, dahin dauernd zurückzukehren. Je mehr sie sich mit dem freien Leben und Streben dahier befreundeten, desto praktischer wurden sie und desto schneller stellten sie ihre Harfe in die Rumpelkammer" (Karl Knortz: Das Deutschtum der Vereinigten Staaten, Hamburg 1898, Buchh. A.-G., p. 51.)
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veranlassen. In diesen Fällen sind die Faktoren des Dilemmas hingegen häufig so stark, daß reinliche Scheidung und reinliche Entscheidung als so gut wie ausgeschlossen gelten können. In der Fremdenbevölkerung überwiegen regelmäßig zwei Grenztypen, welche sowohl zahlenmäßig als auch an Vitalität und Lärmhaftigkeit die übrigen Gruppen übertreffen dürften. Die einen stellen sich im Gegensatz zum Gesetz der Absorptionskraft des Milieus. Laut betonen sie ihre Heteregonie. Sie führen ein Eigenleben in ostentativer Absonderung. Sie betonen ihre, tatsächliche oder angebliche, Überlegenheit. Sie scheinen von dem festen Willen geleitet, den Einflüssen ihrer Umgebung Widerstand zu leisten. Sie sind ihrem Vaterlande gegenüber nicht nur national, sondern nationalistisch gesinnt. Im Gegensatz zur inneren Entwicklung von einer Nationalität zur andern, die sich nur langsam und organisch zu vollziehen vermag, und der obendrein Grenzen gesteckt sind, ist der zweite Typus bestrebt, die alte Nationalität so schnell und restlos wie nur möglich abzustreifen und völlig in der Wohnnationalität aufzugehen. Er richtet seinen Verkehr ausschließlich auf Landeskinder, mit denen er auch seine Nachkommen zu verheiraten sucht und scheut, da er wünscht, seine Herkunft möglichst schnell vergessen zu machen, jede Verbindung mit allem, was an die alten Zeiten mahnen könnte. Der Entnationalisierungsprozeß der Auswanderer nimmt unter bestimmten Umständen ein schnelleres Tempo an: 1. Wenn die Auswanderer der eigenen Landessprache nicht mächtig sind, sei es, daß ihre Schulbildung zu mäßig, sei es, daß der Gebrauch von Dialekten bei ihnen überwiegt, die mit den neuen Landessprachen, die sie umgeben, grammatikalische oder phonetische Ähnlichkeiten aufweisen. Beispiel: die süditalienischen Auswanderer in den Amerikastaaten spanischer Zunge. 2. Wenn die Art der Sprache derart ist, daß nur eine schleunige Erlernung der neuen Landessprache die Auswanderer vor völliger Isolierung und wirtschaftlicher Schachmattsetzung schützt. Beispiel: die Slowenen, deren Sprache nicht einmal von den dort lebenden Serben oder Russen verstanden wird, in Amerika. 3. Wenn die Auswanderer zwar eigenes Rassenempfinden besitzen, aber keine innere Zuneigung zum alten Vaterland besitzen. Beispiel: die russischen Juden in Amerika. Gegen die Amerikanisierung der russischen Juden in den Vereinigten Staaten ist in dem Attachement dieser Elemente zu Rußland, Polen, Litauen, Lettland und Esthland kein Kraut gewachsen; das einzige Gegenmittel besteht in der Schaffung und Erhaltung eines vom Heimatland und Gastland gleich entfernten Gefühles: des Zionismus. 4. Das Bild des alten Vaterlandes erblaßt, weil an seine Stelle die wachsende Liebe zum neuen Lande, welches sie als elende Auswanderer aufnahm und sie zu begüterten und geachteten Bürgern machte, tritt. Sprache und Vaterlandsgefühl gehen dabei meist die gleichen Wege, die von Gefühlen der Dankbarkeit, aber auch der klassenerhöhten Sattheit und Zufriedenheit diktiert werden. Die Vertreter „geistiger" Berufe neigen weniger zur Aufgabe des Volkstums als ζ. B. die Kaufleute. „Diese sind in ihrem Deutschtum naturgemäß durch ein materielles Moment bedroht: sie verlassen die alte Heimat jung und arm, kommen im Auslande
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dank ihres Fleißes zu Wohlstand und verlieren im Genüsse materieller Güter mehr oder weniger den Maßstab und den Sinn für das Ideelle"34. 5. Der Grundbesitz im fremden Lande, der an dieses weit mehr bindet als jede andere Art von Besitz und erfahrungsgemäß den Auswanderer heimisch werden läßt. 6. Die Ehe des Fremden mit einer Tochter des Landes, durch welche der Einfluß des Gesamtmilieus auf die Nachkommenschaft noch um den oft entscheidenden Faktor Mutter vermehrt wird. 7. Die Unterbrechung des Einwandererstroms. Durch sie wird die Gruppe der Auswanderer, denen kein die Absorbierungstendenzen des Milieus paralysierender frischer Zufluß von außen zukommt, unter die Macht des Gastlandes gezwungen. Die durch die percentage bill seitens der Vereinigten Staaten verfolgten Absichten sind folglich von hohen Erfolgschancen begleitet.
5. Zur Soziologie der politischen Flüchtlinge Im Herzen der politischen Flüchtlinge liegt die Liebe zu ihrem vaterländischen Volke mit dem Haß gegen die vaterländischen Staatseinrichtungen in furchtbarer Fehde. Überwiegt die Liebe, so bleiben sie auch im Ausland treue Patrioten, deren ganzes Sinnen auf die „Befreiung" des Vaterlandes von seinen „Tyrannen", mögen diese aristokratischer oder demokratischer Natur sein, gerichtet ist; überwiegt der Haß, so werden ihre Gedanken immer abgewandter und ihre Handlungen immer feindseliger. Im allgemeinen wird mithin die Generation der Flüchtlinge selbst im Auslande unassimilierbar bleiben. Gerade sie, deren Sinnen und Trachten ganz auf das alte Vaterland gerichtet ist und deren Gedanken ganz mit dem Befreiungswerk ausgefüllt sind, sind gegen die entnationalisierenden Einflüsse des Milieus gefeit. Bei manchen von ihnen sublimiert sich das Vaterlandsgefuhl überdies zu einer völlig altruistischen, von allen egozentristischen Schlacken gereinigten Liebe, wie es in dem ergreifenden Gedicht des Deutschamerikaners Konred Krez „An mein Vaterland" zu beredtem Ausdruck kommt: „Kein Baum gehörte mir von Deinen Wäldern, Mein war kein Halm auf Deinen Roggenfeldern, Und schuldlos hast Du mich hinausgetrieben, Weil ich in meiner Jugend nicht verstand Dich weniger und mehr mich selbst zu lieben, Und dennoch lieb ich Dich, mein Vaterland! Wo ist ein Herz, in dem nicht dauernd bliebe Der süße Traum der ersten Jugendliebe? Und heiliger als Liebe war das Feuer, Das einst für Dich in meiner Brust gebrannt;
34 M. Kelchner. Von den Deutschen, 1. c., p. 58.
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Nie war die Braut dem Bräutigam so teuer, Wie Du mir warst, geliebtes Vaterland! Hat es auch Manna nicht auf Dich geregnet, Hat doch Dein Himmel reichlich Dich gesegnet. Ich sah die Wunder südlicherer Sonnen, Seit ich zuletzt auf Deinem Boden stand; Doch schöner ist als Palmen und Zitronen Der Apfelbaum in meinem Vaterland 35 ." Die Anhänglichkeit des Fremden an die Heimat vermag sich freilich auf das „tote Gelände" zu konzentrieren und sich vollständig zu entmenschlichen, d. h. zu objektivieren. Der bekannte holländische Schriftsteller und Gelehrte Conrad Busken Huet war mit Menschen und Dingen in seinem Vaterlande so zerfallen, daß er sich nach Paris zurückzog und dort in mehr als einer Hinsicht französisierte. Aber fur sein Land in geographischem Sinne und seine natürlichen Schönheiten fand er höchste Worte patriotischer Begeisterung. Er stellte das Milieu Frankreich hoch über Holland, stellte aber Amsterdam über Rom und Florenz, und das Kennemerland neben den Lago Maggiore und den Vierwaldstättersee 36 . Indes auch das glühendste Vaterlandsgefuhl der politischen Auswanderer hat seine Grenzen im Räume der Zeit. Vergehen die Jahre und fallt die Hoffnung auf eine Änderung der Verhältnisse, welche den Auswanderer zum Verlassen des Vaterlandes bewogen, oder doch durch Gewährung einer Amnestie ermöglichte Rückkehr allmählich in sich zusammen, so macht die Bitterkeit der Enttäuschung die Liebe der Auswanderer in ihr Gegenteil umschlagen. Dieser Gefühlsumschlag betrifft indes in erster Linie wiederum die Kinder, deren Anhänglichkeit an das Vaterland ohnehin gering war. Sie beginnen im Exile alsbald, das Ursprungsvaterland als die Quelle aller seelischen Nöte des Vaters zu hassen. Die Beobachtung ist allgemein: Die Söhne der Ausgewanderten sind die grimmigsten Feinde des Vaterlandes, um dessentwillen die Auswanderung erfolgte, wenigstens solange dort die politischen, konfessionellen oder seelischen Verhältnisse, um derentwillen die Trennung erfolgte, noch obwalten. Auch an die Ressentiment-Theorie Sombarts wäre zu erinnern, welcher zufolge der Ausgewanderte ein doppeltes Haß- und Neidgefühl besitze. Zerfallen mit den in seinem Vaterlande obwaltenden Zuständen stehe er auch dem Gastlande kritisch gegenüber. Er sei infolgedessen der typische Revolutionär. Sombart bemerkt, ohne daß wir an dieser Stelle zu seinen Ausführungen Stelle nehmen müßten: „Der Auswanderer hat seine Heimat verlassen müssen: das hat ihm die Augen geöffnet gegenüber den Schäden der bestehenden Gesellschaft und hat ihn wohl auch verbittert. In der neuen Heimat hat er keinerlei Rücksichten zu nehmen wie der Einheimische; er ist unabhängig, wurzellos, verantwortungslos. Will er sich politisch betätigen, so findet er schwerer dazu die Möglichkeit in den regierenden Parteien des Landes 35 Mitgeteilt von Karl Knortz: Das Deutschtum der Vereinigten Staaten, 1. c., p. 50. 36 H. P. G. Quack'. Studien en Schetsen. Amsterdam 1886. Van Kampen, p. 256 und 260.
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als in den Oppositionsparteien, namentlich solange diese klein und revolutionär sind. Ich habe an anderer Stelle die Bedeutung zu würdigen versucht, die der Fremde für die Ausbreitung des Kapitalismus gehabt hat: die meisten Gründe, die diese Bedeutung verständlich machen, gelten eben auch für den Sozialismus 37 ."
6. Der Fremde im Kriege Im ganzen: das allmähliche Einleben von einer Nation in die andere geht je nach der geistigen Aufnahmefähigkeit des einzelnen in einer sehr verschiedenen Zeitspanne vor sich. Normaliter ist es ein Vorgang von unendlich sanften Übergängen 38 . Ein natürlicher Prozeß, der durch keine äußeren Einflüsse gestört und nach der einen oder anderen Richtung hin brüskiert werden darf. Darum ist in der Ebene zwischen zwei Nationen stehenden Existenzen der Ausbruch eines Krieges zwischen den beiden Völkern, die den Ein- und Ausgangspunkt des Prozesses, in dem sie begriffen sind, kennzeichnen und denen sie in irgend einem Grade zugleich angehören, verhängnisvoll, da er eine plötzliche Entscheidung zwischen den zwei Bestandteilen ihres geistigen Seins hervorruft und somit zu Akten voreiliger und somit unnatürlicher Trennung natürlicher Elemente drängt, die nicht ohne seelischen Schaden des Opfers ablaufen kann. Der Prozeß der Nationsveränderung, der sich übrigens niemals völlig schlackenlos vollzieht, verträgt eben, seinem evolutiven Charakter entsprechend, keine revolutionäre Behandlung. Aus diesem Grunde sind, individuell gesprochen, auch alle diejenigen Fremdengesetzgebungen vom Übel, die den staatsfremden Elementen nach normativ angesetzter Zeitfrist seines Aufenthaltes innerhalb der Staatsgrenzen das Bürgerrecht mit seinen Pflichten und Rechten auferlegt (Zwangseinbürgerungen)! Die Folgen eines großen Ereignisses auf das im Umwandlungsprozeß begriffene Nationalbewußtsein des Fremden sind nicht abzusehen, nicht einmal hinsichtlich ihrer Orientation. In Kriegsfällen gelangt der Heimats-Patriotismus der Fremdenbevölkerung zu explosivem Ausdruck. Von dem Verhalten der Amerika-Deutschen im August 1914 hat es gesagt werden können: Nicht nur die Reichsdeutschen draußen - alles, was irgend die deutsche Sprache als seine oder seiner Väter Muttersprache anerkennt, alles, was anscheinend längst dem Mutterlande entfremdet war, auch was längst Bürger des neuen Vaterlandes geworden war - alles das hat sich erhoben und tritt mitten in dem Geheul von Hohn und Haß laut und freudig fur die alte Heimat ein 39 . Das gleiche galt, mutatis mutandis, auch fur die Franzosen, Engländer, Italiener und Russen im Auslande. Dabei enthält die Schilderung dieser Vorgänge freilich ein zu apodiktisches Element. Der schnellen Rückentwicklung der Einen zum alten Patriotismus entspricht die ebenso rapide Fortentwicklung der Anderen zum neuen Patriotismus durch das endgültige
37 Werner Sombart: Der proletarische Sozialismus („Marxismus"). Jena 1924, Fischer, Bd. II, p. 149. 38 vgl. p. 304. 39 N. Niesser-Deiters, 1. c. p. 30.
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Abstreifen des alten. Bei in kriegfuhrenden Ländern ansässigen feindlichen Ausländern, ja schon bei Ausländern, welche in neutralen, aber von ihrem Heimatlande ungünstig gesinnter Bevölkerung bewohnten Ländern ansässig sind, drängt der sie umgebende Haß gegen ihr altes Vaterland schwache Naturen häufig zur Aufgabe ihres Volkstums. Bei geschäftlich stark gebundenen Ausländern fuhrt das ökonomische Interesse zur gleichen Wirkung. Indes auch Erwägungen, ja Entdeckungen höherer moralischer Observanz üben bei manchen einen entscheidenden Einfluß aus. Zwei Grenzfälle sind zu betrachten: Wie es beim Eintreten kriegerischer Verwickelungen eine Kategorie von Ausländern gibt, die sich ihrem fremden Milieu längst angepaßt glaubten, nun aber gewahr werden, daß ihre geistigen und sittlichen Wurzeln doch noch in der alten Heimat liegen, so gibt es noch eine andere Kategorie Fremder, die bei der nun nötig werdenden ernsten Gewissensprüfung erst jetzt bemerken, wie tief ihr Denken und Fühlen bereits mit dem neuen Vaterlande verknüpft sind und wie fadenscheinig die Beziehungen zur Heimat geworden oder vielleicht immer gewesen sind. In diesen beiden Fällen braucht die Treibhausatmosphäre des Krieges die psychologische Entwicklung des einzelnen nicht unter allen Umständen zu einer unnatürlichen und ungesunden zu gestalten. Wir bemerkten: die Abkehr vom alten Vaterlande ist zuweilen auch sozusagen innerpolitisch bedingt, d. h. weniger durch die Absorption neuer Kulturinhalte als durch die Antithese zur heimatlichen Staatsverfassung gekennzeichnet. Bekanntlich hat gerade ein nicht unerheblicher Teil der Deutsch-Amerikaner mit besonderer Leidenschaft im amerikanischen Heere gegen die deutschen Truppen gekämpft, nicht aus Haß gegen das Deutschtum, sondern um die kaiserlichen Deutschen zur amerikanischen Auffassung der Demokratie zu „bekehren". Es ist andererseits eine häufig beobachtete und als gute Regel der Kriegskunst betrachtete Sitte, sich im Feindesland als Führer, Wegweiser und Berater solcher Elemente zu bedienen, welche in Friedenszeiten in jenem Lande gelebt und sich auf diese Weise eine gute Kenntnis der Landessitten und Ortsverhältnisse erworben haben (Italiener in Tripolis, Deutsche in Belgien). Die in ihren Einzelheiten abschreckende und fehlgreifende, panikartig in allen kriegführenden Ländern eintretende Spionenfurcht ist mithin begreiflich und berechtigt. Aber auch der rein juridische Begriff der Nationalität, gegeben im Bürgerrecht, hat sich als unfähig erwiesen, das Gefühlsleben und die Handlungen der Menschen einheitlich zu bestimmen. Die große Mehrzahl der Neubürger bleibt, wie die Amerikaner sagen, hyphenised, bindestrichlich (Deutsch-Amerikaner), seelisch sujets mixtes (zunächst wertlos zu bewerten) 40 . Andererseits ist die Liebe des Fremden, des Adoptivbürgers zu seinem Adoptivvaterlande häufig von besonderer Reinheit und Uninteressiertheit. Wie sich im Familien-
40 In Sheffield wurde der deutsche Konsul, der britischer Untertan war, am 5. August 1914 gefangen genommen und unter Protest gestellt. Er hatte auf Befehl des deutschen Generalkonsuls in London deutschen Reservisten zur Abreise verholfen und sie mit Geldmitteln versehen. (Carl Peters: Das Deutsche Elend in London. Leipzig 1914, Hirzel, p. 27.) Er hatte sich trotz seiner britischen Naturalisation mehr als Deutscher denn als Engländer gefühlt und den Feindes seines neuen Vaterlandes, seinen alten Landsleuten Vorschub geleistet.
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leben die Affektivität der Eltern zumal dem „Schmerzenskind" zuwendet, dessen Erhaltung Kraftaufwand und Opfer erfordert hat, so vermag auch das mit relativ adäquaten Mitteln „erkämpfte" neue Staatsbürgertum für den Umgestaateten besonderen Wert zu erhalten. Zumal ja die Schmerzhaftigkeit der Handlung durch die doppelte Verwundbarkeit gesteigert wird. Denn der Neubürger verbleibt in den Augen vieler Altbürger, zumal wenn die sprachliche Assimilation noch nicht vollendet ist oder sich als unmöglich erweist, immer noch „Fremder", während er von seinen ehemaligen Volksgenossen in demselben Maße als Überläufer empfunden wird, in welchem sich sein Anschluß an das neue Vaterland seelisch tief vollzogen hat (der Ehrliche hat gewiß am meisten zu leiden, während der „Papier"neubürger ein Doppelspiel weitertreiben kann, das ihm zugleich die Mißachtung der anständigen Menschen und, wenigstens in Friedenszeiten, reichliche geschäftliche Vorteile eintragen mag). Insofern ist dieser, freilich zahlenmäßig nur sehr seltene Typus des Neubürgers durch die bewiesene Opferfreude ein besserer Bürger, ja, ein besserer Nationaler als der Durchschnitt seiner neuen Volksgenossen, die sich, um der gleichen nationalen Gemeinschaft anzugehören, nur die Mühe zu geben brauchten, geboren zu werden. Wenn das Vaterland in dem Maße unseres Willens liegt, so ist unsere Affektivität nur so lange an es gebunden, als Affektivität und Wille koinzidieren. Die vaterländische Solidarität ist der Anschluß gemeinsamer Gefühle, Bedürfnisse und Hoffnungen. Wer in seinem Gefühlsleben, seinen wirtschaftlichen Bedürfnissen und dem transzendentalen Schatz seiner Hoffnungen nicht mehr mit seinen Mitvaterlandsbewohnern übereinstimmt, löst das Band des Vaterlandes, sei es nun Einzelmensch, soziale Klasse oder geographische Landsmannschaft. Vom voluntaristischen Standpunkte betrachtet ist der Vaterlandsbegriff ein kontraktiler Begriff, vom Wohlbefinden und Wohlwollen der Kontrahenten abhängig. Die gewaltsame Eroberung und Einverleibung eines Landes ohne Befragung seiner Einwohner ist vom ethischen Prinzip aus verwerflich41. Indes, das gleiche Prinzip verwirft auch jede Koërtion des Vaterlandsbegriffs den Klassen und Einzelpersonen gegenüber. Man hat gespottet, der voluntaristische Vaterlandsbegriff führe zu einer patria ad libitum42. Gewiß: das auf das Zusammengehörigkeitsgefühl gestellte Vaterlandsgefuhl büßt mit dem Moment seine Daseinsberechtigung ein, wo diese Gefühle, ob zu Recht oder Unrecht, nicht mehr vorhanden sind. Das ist eine soziologische Position, ohne deren Verständnis es keine „verstehende" Soziologie des Ausländertums gibt.
41 Die materiellen und moralischen Schwierigkeiten vermögen freilich bei sonstiger Klarheit die Nichtbefragung zum geringeren Übel zu machen. 42 L. Gérard-Varef. L'antipatriotisme. Revue de Paris. XVI. Jahrgang. Vol. III (1909), p. 322.
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Hauptsächlichste Werke von Prof. R. Michels (Basel) Wirtschaftliche
Dogmengeschichte
Historisch-kritische Einführung in die Geschichte des Marxismus in Italien, und: Die italienische Literatur über den Marxismus, i. Archiv f. Sozw., Bd. XXIV, Heft 1, Januar 1907 u. Bd. XXV, Hft. 2, Sept. 1907. Storia del Marxismo in Italia. Compendio critico. Roma 1910, Mongini. La teoria di C. Marx sulla miseria crescente e le sue origini. Contributo alla storia della dottrine economiche. Torino 1922, Bocca. (Deutsch ζ. T. im Archiv f. Sozw., Bd. 47, Heft 2, Dezember 1920.) Quelques propos sur le rôle de la terminologie dans la science économique, i. d. Revue d'économie politique, Paris 1924, no. 5. Rodbertus und sein Kreis. Einleitung zur Ausgabe in der „Bibliothek der Soziologie und Sozialpolitik": Neue Briefe über Grundrente, Rentenprinzip und soziale Frage von Rodbertus (Verlag G Braun in Karlsruhe). Erscheint Herbst 1925.
Geschichte des Sozialismus. Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände. Eine kritische Untersuchung, im Archiv f. Sozw., Bd. XXV, Heft 1, Juli 1907. Die Entwicklung der Theorien im modernen Sozialismus Italiens, Einleitung zu Enrico Ferri, Die revolutionäre Methode, Leipzig 1908, Hirschfeld. La Storia Critica del Movimento socialista in Italia (im Druck, Firenze, La Voce). Der Sozialismus in Italien. Intellektuelle Strömungen. München 1925, Meyer & Jessen.
Probleme der Arbeit I Sindacati tedeschi e la lotta conro la disoccupazione. Milano 1906, Umanitaria. Unter Mitwirkung von seiner Frau Gisela: Das Problem der Arbeitslosigkeit und ihre Bekämpfung durch die deutschen freien Gewerkschaften, im Archiv f. Sozw., Bd. XXXI, Heft 2, Sept. 1910. Saggi economico-statistici sulle classi popolari. Palermo 1913, Sandron. Economia e Felicità. Milano 1918, Vallardi. Wirtschaft und Rasse, im Grundr. d. Sozialökon., II. Abt., 2. Teil, 2. Aufl. 1923, Tübingen, Mohr. Lavoro e Razza. Milano 1925, Vallardi.
Parteiwesen Die deutsche Sozialdemokratie. Parteimitgliedschaft und soziale Zusammensetzung, im Archiv f. Sozw., Bd. XXIII, Hft. 2, Sept. 1906. Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Leipzig 1911, Klinkhardt. (2. erweiterte deutsche Aufl., Leipzig 1925, Kröner, 2. italienische Aufl., französische, englische, japanische, serbische, russische Aufl.). Il Proletariato e la Borghesia nel Movimento socialista italiano. Saggio di Fienzia SociograficoPolitica. Torino 1908, Bocca (franz. Aufl. 1921).
330 Massenpsychologie
Materialien zu einer Soziologie des Fremden und Soziologie
Probleme der Sozialphilosophie. Leipzig 1914, Teubner. Problemi di Sociologia applicata. Torina 1919, Bocca. Die Volkshochschulen in Italien und Die Volkshochschulen in Frankreich in: Leopold von Wiese, Soziologie des Volksbildungswesens. München 1921, Duncker. Quelques traits de la Sociologie de Paris, in der Revue de L'Institut de Sociologie (Solvay) Bruxelles, Tome III, no. 3, Mai 1921. Elemente zur Geschichte der Rückwirkung des wirtschaftlichen Milieus auf die Literatur in Italien, im Archiv f. Sozw., Bd. 50, Heft 3, Mai 1923. Elemente zur Soziologie in Italien, in d. Kölner Vierteljahrsheften f. Soziologie, Jahrg. III (1924). Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegungen, im Grundr. d. Sozialökonomie, Bd. IX (1925). Zur Soziologie als „Einbruchs"-Lehre in d. Kölner Vierteljahrsheften f. Soziologie, Jahrg. IV, Heft 3/4, 1925.
Zum Vaterlands- und nationalen Problem Ethik und Patriotismus. Leipzig 1906. Dietrich. Zur historischen Analyse des Patriotismus, im Archiv f. Sozw., Bd. 36, Hft. 1 u. 2, Januar-März 1913. Notes sur les moyens de constater la nationalité. La Haye 1917, Nijhoff. Etudes sur les Relations Historiques entre la France et les Pays du Rhin, i. d. Revue historique, Paris 1922. Appunti sull' aspetto morfologico del problema della Nazione, im Giornale degli Economisti, Roma. März 1925.
Sexualsoziologie Die Grenzen der Geschlechtsmoral. Prolegomena. Gedanken und Untersuchungen. München-Leipzig 1911, Frauenverl. (2. deutsche Aufl., italienische, englische Auflage). Amour et Chasteté. Essais sociologiques. Paris 1914, Giard.
Zum Probleme der Demographie und des
Auswanderungswesens
Le causes démographiques de l'Expansionnisme colonial italien, i. d. Revue d'Economie Politique, Paris 1913, no. 5. L' Imperialismo italiano. Studi politico-demografici sull' emigrazione. Milano 1914, Soc. Ed. Libr. (Deutsch ζ. Τ. im Archiv f. Sozw., Bd. XXXIV, Hit. 1 und 2, 1912). Le Colonie italiane in Isvizzera durante la guerra. Pubbl. dall' Istituto Storiografico della Mobilitazione (Ministero delle Munizioni). Roma 1921, Alfieri. Sozialismus und Fascismus in Italien. Historische Studien. München 1925. Meyer & Jessen.
Zum Problem des Handels Tendenzen des italienischen Handels im östlichen Mittelmeer, im Weltwirtsch. Archiv, Bd. 2, Hft. 1, Juli 1913.
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Fattori e problemi della espansione Commerciale. Torino 1924, Bocca. L'organizzazione del Commercio estero. Bologna 1925, Zanichelli. Le tendenze anti-europee nel commercio e nell' industria del dopoguerra, in „Scientia", Mai 1925.
Über
Geldwesen
Di alcune critiche mosse all' impiego dell' oro come base della circolazione e di alcuni progetti per la sua sostituzione, in d. Riforma Sociale, N. 7-8, Juli-August 1923. Considerazioni sulla posizione dell' oro nella circolazione odierna, im Giornale degli Economisti, Sept. 1923.
Über einige Ursachen und Wirkungen des englischen Verfassungs- und Freiheitspatriotismus
I. Die englische Geschichtsschreibung datiert das Geburtsjahr des englischen Patriotismus auf das Magna Charta. Hier zuerst habe England „spoken as a nation" 1 . Die englischen Freiheiten wirkten gleich einem national einigenden Band. Dadurch, daß sich nun England die Jahrhunderte hindurch durch das wesentliche Kennzeichen seines, wenn auch unvollständigen, Parlamentarismus von allen übrigen Völkern der Erde sonderte und gesondert fühlte, erwuchs den Engländern ein Gegenstand lebhaften Stolzes. Der englische Stolz ist mithin eine natürliche Folgeerscheinung der Staatsverfassung 2 . In England erhielt der nationale Patriotismus also gleich bei seinem Entstehen einen konstitutionellen Beigeschmack. Schon im 17. Jahrhundert wußte man nicht, ob der Engländer mehr stolz war auf sein Vaterland oder seine Freiheit, oder auf sein Vaterland, weil es frei war, d. h. seinen Bürgern Freiheit ließ. Parlamentarischer Konstitutionalismus leuchtet uns aus den Manifestationen des englischen Nationalbewußtseins der ersten Jahrhunderte nach der Renaissance-Periode entgegen. 1734 dichtete der didaktische Dichter James Thomson das später von Thomas Augustine Arne komponierte mächtige englische Nationallied „Rule Britannia", in dem es heißt (Vers 2 und 3): The nations not so blest as thee Must in their turns to tyrants fall; While thou shalt flourish great and free, The dread and envy of them all. Rule Britannia, Britannia rule the waves, Britons never, never, never will be slaves.
1 2
Esmè Wingfield Stratford, the History of English Patriotism. London 1913, Lam. Vol. I, p. 31. I. W. von Archenholtz, England und Italien. Leipzig 1787. Vol. I, p. 71.
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The haughty tyrants ne'er shall tame, All their attempts to bend thee down Will but arouse thy generous flame; But work their woe, and thy renown. Rule Britannia etc. 3 In diesen Versen, die bald zur offiziellen Hymne wurden, tritt der Patriotismus sozusagen gleichzeitig nach innen wie nach außen auf, wie es seiner Nation zustand, in welcher die persönliche Freiheit jedes einzelnen schon unter dem Ministerium Shaftesbury 1679 durch die „Habeas Corpus Akte" vom Staat feierlich verbrieft und versiegelt worden war. Dieser Zug der englischen Vaterlandsliebe tritt auch bei einem der bedeutendsten britischen Staatsmänner der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hervor, der in einer ziemlich dickleibigen Auseinandersetzung nicht nur den Begriff untersuchte, sondern bereits selbst den Namen Patriotismus anwendete. Im Jahre 1735 schrieb Lord John Bolingbroke seine „Letters on the Spirit of Patriotism". In ihnen definierte er zunächst die Pflichten eines „patriot King", ein ganz neuer Terminus, der zwei bisher völlig getrennte Begriffe kühn miteinander verschmolz. Bolingbroke wirft die Frage auf: was ist ein wirklich patriotischer König? Und er antwortete: ein Sterblicher, der nach der Ehre strebt, sein ganzes Leben lang dem Schutze des Guten zu dienen 4 . Der König soll die Geißel alles Schlechten und der „guardian of the public liberties" sein. Noch typischer sind die Worte, die Bolingbroke über die patriotischen Pflichten der politischen Parteien sagt: die Tories haben die Pflicht, das Bestehende zu verteidigen, die Wighs, es anzugreifen 5 . Es gibt also auch eine patriotische Pflicht der Opposition. Hier haben wir, unseres Wissens zum ersten Male in der Geschichte des Vaterlandsbegriffs, die klare Einsicht in seine soziale und politische Bedingtheit. Gewiß, das Vaterland ist ein und dasselbe: Old England. Aber ihm zu dienen, sind mehrere Möglichkeiten vorhanden, über deren Auswahl Temperament und Überzeugung entscheiden. Mehr noch: Vaterlandsliebe schließt selbst solche Mittel und Wege keineswegs aus, die einander ausschließen. Die logische Schlußfolgerung der Bolingbrokeschen Ansätze geht unabweisbar dahin, daß die einzige Basis des Patriotismus als Bewegung in dem reinen und guten Willen der Bürger besteht. Patriotisch ist, wer das Wohl des Vaterlandes will, ein gewiß verständlicher Satz, zu dem sich durchzuringen indes weder das Zeitalter der Reformation noch das des Absolutismus ihrer Natur nach fähig waren, und der nur auf dem Boden der friedlichen Debatten einer angesehenen Parlamentsregierung erwachsen konnte.
3 4
5
Ausländischer Liederschatz, herausg. von H. O. Lange. Leipzig. Peters. S. 34/35. Lord Bolingbroke, Lettres sur l'Esprit du Patriotisme. Edimbourg 1751, p. 22. Der genaue englische Titel lautet: Letters on the Spirit of Patriotism: on the Idea of a Patriot King: and on the State of Parties at the Accession of King George the Third. By the Right Honorable Henry St. John, Lord Viscount Bolingbroke. London MDCCLII. Printed for A. Miller. Ebenda p. 54.
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Der zivile Patriotismus der Engländer war indes, zumal in ihren literarischen Äußerungen, kräftiger entwickelt als die gegenständliche Liebe und Verknüpfung mit der Heimat 6 . Und ist es noch heute 7 . Blut und Boden sind keine Werte, wo nicht Staat und Gesellschaft Zustände schaffen, die des Einsatzes der Bürger wert sind. Erst aus dem Vorhandensein eines Bürgerrechts und eines Bürgersinnes entsteht das Vaterland. Die konstitutionelle Form des englischen Patriotismus ist mithin nicht ohne Nachteil für das Verharren eigentlicher Bodenliebe in England geblieben. Der Engländer kennt kaum eine Anhänglichkeit an die engere Heimat. Für viele Engländer liegt die Heimat einfach in der Geltungssphäre des Union Jack 8 . Die Mobilität, die Ortswechselfrequenz eines Teiles der englischen Bourgeoisie hat gewaltige Dimensionen angenommen. Auch eine eigentlich regionale Zugehörigkeit, wie sie in Deutschland, Italien, Spanien, Holland, Jugoslavien, der Schweiz sowie, trotz der verwischenden Einteilung in die unhistorischen Departements, auch in Frankreich vorherrscht, ist in England verkümmert 9 , und ebenso der innige Zusammenhang des Bauern mit dem Land 10 .
II. Dem Charta-Charakter des englischen Patriotismus entsprechend, konstatiert der Historiker bei dem Engländer schon frühzeitig das Vorhandensein eines Gefühls von Verachtung solcher Vaterlandsliebe gegenüber, die ein unfreies Vaterland zu ihrem Gegenstand hat. Das kam zumal Frankreich gegenüber unerbittlich zur Geltung", aber auch,
6 „Our country is meant in this case not the soil or the spot of earth on which we happened to have been born, not the forests and fields, but that community of which we are members or that body of companions and friends and kindred who are associatet with us under the same constitution of government, protected by the same laws and bound together by the same civil polity". Richard Price, A Discourse on the Love of our Country. London 1789. Cadili, p. 2/3. 7 „It is therefor a love of one's nation far transcending any more sentimental affection for soil or language; a love of it as a compact and powerful society, a love of the institutions and customs in which it has laid up its treasures of emotion and experience, and of the worth in which it has spent its strength; but, perhaps above all, a faith that it has something of peculiar and priceless value to add to the sum of human greatness, something not elsewhere to be obtained, and which the loss of life itself ist not too great a sacrifice to preserve." Algernon Cecil, Some Reflections on Patriotism. Quarterly Review No. 438, p. 149. 8 Näheres und sehr Interessantes hierüber bei Philip Gilbert Hamerton, French and English. Leipzig 1889, Tauchnitz. Vol. p. 108-111. 9 p. 115. 10 p. 140. 11 So sang der englische Dichter Mittleton 1689 im Vollgefühl der demokratischen Überlegenheit seines britischen Patriotismus: „A nation here I pity and admire Whom noblest sentiments of glory fire; Yet taught, by custom's force and bigot fear, To serve with pride, and boast the yoke they bear. Whose nobles bom to cringe and to command,
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sehr früh schon, gegenüber Deutschland, bei dem es mit Widerwillen gegen dessen Sitten untermischt war 12 , und äußert sich typisch am Vorabend der französischen Revolution in den Worten, mit denen Richard Price den unfreien Völkern überhaupt jede menschliche Vaterlandsliebe absprach. So frug Richard Price ganz typisch (1789): „What is now the love of his country in a Spaniard, a Turk or a Russian? Can it be considered as any thing better than a passion for slavery, or a blind attachment to a spot, where he enjoys no rights and is disposed of as if he was a beast?" 13 Hier tritt uns der englische Unverstand, die Vaterlandsliebe im Fremden anders als rationell zu sehen, entgegen.
III. Trotzdem machte dieser kritisch-demokratische Patriotismus auf die Dauer auch im Ausland Schule. Nach dem italienischen Nationalökonomen Melchiorre Gioia besteht, ja bestand zu allen Zeiten das Maß der Vaterlandsliebe im Vorhandensein bestimmter Rechte und Vorteile der Einzelnen wie in der Zahl der aktiven Wähler und der aktiv
In courts a mean, in camps a gen'rous band. Tho' plunder'd, gay; industrious, tho' opprest, With happy follies rise above their fate, The jest and envy of each wiser state". (Von Voltaire ins Französische übersetzt. Cf. Oeuvres Complètes. Histoire et Mélanges Historiques. Paris 1817, Plancher, vol. XV, p. 486/7). Und John Gay: „Let Paris be the theme of Gallia's muse, Where slav'ry treads the street in wooden shoes". (John Gay: Trivia or the Art of walking the streets of London. In Gay, Poems on Several Occasions, Glasgow 1751. Foulis, p. 92). 12 „Very vilely in the morning when he is sober, and most vilely in the afternoon when he is drunk; when he is best, he is a little worse than a man, and when he is worst, he is little better than a beast". (Merchant of Venice. Shakespeare 's Works II, p. 11 (London 1889, K. Paul). Dem Empfinden des heutigen Beurteilers sind freilich auch die von Shakespeare vorgeführten Engländer vielfach roh und unbeholfen. Das gerade im Hinblick auf die modernen Engländer selbst größere Verständnis der Deutschen für Shakespeare ist von dem Berliner Anglisten A. Brandl 1913 in einem vor der British Academy in London gehaltenen Vortrag darauf zurückgeführt worden, daß die größere „historische Treue" des Shakespeare-Theaters in Deutschland ein Spiegelbild der den rüpelhaften Sitten der Engländer des 16. Jahrhunderts noch näher stehenden deutschen Sitten der Gegenwart sei. („Geisteswissenschaften" Heft 29. April 1914). Ein 1644 in Orléans studierender englischer Studiosus berichtet: „The town is much frequented by strangers for the greate purity of the language here spoken, as will as for diverse other priviledges; and the University makes the town much frequented by strangers, especialy Germans, which causes the English to make no long séjourné here, except such as can drinke and debauch". (The Diary of John Evelyn from 1641 to 1705/6, edited by William Bray, London Warne, p. 61). 13 Richard Price, Discourse on the love of our country, p. 6.
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Wählbaren. Deshalb vermeinte er, beweislos, der Patriotismus sei ζ. B. in England weit verbreiteter als in Frankreich 14 . In Frankreich stoßen wir zum ersten Male schon im 16. Jahrhundert (1524) auf Lobeserhebungen der englischen Regierung, die dann den protestantischen Schriftstellern des ausgehenden Jahrhunderts übermittelt werden und später in Montesquieu eine Höhe des Ausdrucks finden sollten, welche alle seine Vorgänger vergessen ließ. Philippe de Comynes, der Geschichtsschreiber der letzten direkten Könige aus dem Hause der Valois bemerkte: „Selon mon advis, en toutes les seigneuries du monte dont j'ai connoissance, où la chose publique est mieux traitée, et où regne moins de violence sur le peuple, c'est l'Angleterre 15 . Namentlich aber wurde das Lob der englischen Freiheit zum eisernen Bestand der französischen Historik im 19. Jahrhundert von de Bouillé 16 bis Gabriel Monod 17 .
IV. Der englische Soldat, legte Johnson 1756 dar, sei brauchbarer als der französische, einmal weil er gehorsamer und disziplinierter sei. Nicht etwa, weil er vor seinen Vorgesetzten einen besonders hohen Respekt besäße. Dazu sei er zu sehr von den demokratischen Prinzipien bürgerlicher Gleichberechtigung durchdrungen. „The quality of English privileges, the impartiality of our laws, the freedom of our trade dispose us very little to reverence of superiors. Vielleicht sei der Engländer aber zweitens auch bei der Verteidigung seines Vaterlandes tapferer als die Angehörigen absolut regierter Staaten, und zwar käme das daher, daß er mehr zu verteidigen hätte als diese. Freilich träfe das auf die gewöhnlichen Soldaten nicht zu. Denn diese seien, sagt Johnson, damit eine sozialistische Argumentation vorausnehmend, in England ebenso besitzlos wie ander14 Melchiorre Gioia, Filosofia della Statistica. Vol. III, Torino 1852, Tip. Ec., p. 355. Über die übergroße Nachahmung des Engländertums in Italien vgl. überdies auch Arture Graf, Anglomania ed influsso inglese in Italia. Rome 1909. Loescher. 15 Comynes, Mémoires sur les règnes de Louis XI et de Charles Vili, Livre V, ch. 18. 16 „Un empire, de l'appui duquel tous les autres ont besoin, peut et doit régler leurs destinées et assurer leur tranquillité; il y trouve même son avantage par l'accroissement de son commerce et de sa prospérité." ... „Puisse la Grande-Bretagne jouir encore longtemps des fruits de son heureuse constitution, et continuer de donner l'exemple d'un gouvernement sage et modéré, également éloigné du despotisme et de l'anarchie! Puisse-t-elle parmi les richesses qu'accumule chaque jour son commerce et son industrie, conserver son esprit public, auquel elle doit sa prospérité, sa grandeur, et l'avantage d'être aujourd'hui le premier peuple de la terre!" F. C. de Bouillé, Mémoires sur la Révolution Française. Paris 1802. Vol. I, p. 12/13. 17 „Aucun peuple n'a jamais porté aussi haut que le peuple anglais le sentiment de la dignité humaine. Il a pu mériter des haines, il a toujours commandé l'estime. Il a donné au monde des exemples admirables, non seulement de travail, de persévérance, d'initiative individuelle, mais aussi d'amour de la liberté, de résistance à l'oppression, de fidélité inébranlable au devoir. La ruine de l'Angleterre ne serait pas seulement une défaite pour la liberté dans le monde, le monde y perdrait quelque chose de sa noblesse." Gabriel Monod, Einleitung zu Histoire Moderne du Peuple Anglais depuis la Révolution jusqu'à nos jours (1660-1874). Paris 1888. Vol. I, p. XXVII.
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wärts. „Property they are both commonly without. Liberty is, to the lowest rank of every nation, little more than choice of working or starving 18 ". An die zwei Dezennien später zweifelt Adam Smith daran, ob die Monotonie der modernen Arbeitstechnik dem Fabrikarbeiter noch so viel Kraft und Gemeininteresse belasse, sein Vaterland zu lieben 19 . Auf die Gefährlichkeit der armen Bevölkerungsklassen für den Staat wegen ihres geringen Interesses an der Erhaltung desselben hatte, teilweise auf lateinische Autoren gestützt, freilich schon ein einer anderen Kulturwelt angehöriger Gelehrter, der Piemontese Giovanni Botero, 1589 nachdrücklich aufmerksam gemacht 20 . Aus dem Begriff der Freiwilligkeit staatlicher Handlungen ergab sich auch eine besondere Einstellung zum Heeresproblem und zum militärischen Patriotismus. Im Freiwilligenheere lebe daher ein beserer vaterländischer Geist als im Heere der allgemeinen Wehrpflicht. Palmerston meinte, besoldete Freiwillige seien dem Heere ein besseres Werkzeug als eine Bande von Sklaven, die ihren Heimstätten mit Gewalt entrissen würden 21 .
V. Daß im englischen Patriotismus auch der ökonomische Koeffizient nicht fehlte, nimmt bei dem beginnenden Reichtum des Britenvolkes und dessen praktischer Veranlagung nicht Wunder. Die englische Vaterlandsliebe war selbst in ihren Großtaten nicht ohne ökonomischen Nebenklang. Die Kaperkriege, durch welche England groß wurde, warfen mächtigen Gewinn ab. James II., der 1687 seinen Untertanen ein Toleranzedikt schenkte, das seinen Wirkungen nach der Magna Charta gleichgestellt wurde, motivierte diese patriotische Tat mit der naiven Feststellung, daß „persecution was unfavorable to population and to trade" 22 . Die Freiheit wurde von den Engländern weder allein um ihrer selbst willen, noch wegen der politischen Rechte geliebt, die sie ihm gab, sondern weil er sie auch als die Quelle seines Reichtums betrachtete. John Russell hat in einem seiner besten Bücher über Verfassungsrecht ein ganzes Kapitel der Darstellung der These gewidmet: „Liberty is the great source of the wealth of nations and especially of that of England" 23 . Josiah Child war zwar ein Feind der Handelskompagnien, trat aber dennoch in seinem New Discourse on Trade (1668) aus nationalen Gründen für das Monopol der Ostindischen Kompagnie ein, da es die Schiffahrt förderte und ihr Bestand somit im
18 Samuel Johnson, The Idler. London 1757. Vol. II, p. 3 2 7 - 3 3 0 . 19 Adam Smith, Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth o f Nations. 3. Auflage London 1826. Dove, p. 732/733. 20 Giovanni Botero, Della Ragion di Stato. Venetia 1659, per li Bertani, p. 55. 21 Zukunft XXIII, p. 88. 22 Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München 1915. Duncker und Humblot. 23 John Earl Russell, An Essay on the History of the English Government and Constitution. N e w Edition London 1865. p. 155.
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Interesse der Macht Englands und des Patriotismus läge: „that trade constantly employs 25 to 30 sails of the most warlike ships in England with sixty to a hundred men in each ship, and may in two or three years employ a greater number" 24 . Das Geld und Waren schützende England, die Börse der Welt, „the world's exchange", wurde zum Mutterboden des Hochmuts und lyrisch besungen. Sir John Denham (1615-1688) feierte in seinem Gedicht „The River Thames" die englische Seemacht in hochfliegenden Worten, wenn auch mehr im weltwirtschaftlichen denn im weltpolitischen Sinne25: „Nor are his blessings to his banks confín'd, But free and common as the sea or wind; When he to boast or to disperse his stores Full of the tributes of his grateful shores Visits the world, and, in his flying tow'rs Brings home to us, and makes both Indies ours; Finds wealth where't is, bestows it where it wants; Cities in deserts, woods in cities, plants. So that, to us, no thing, no place is strange, While his fair bosom is the world's exchange." Der ökonomische Patriotismus der Engländer fand auch unter den Physiokraten des Kontinents seine Lobredner. Die englischen Konsumenten wurden belobt ob ihres patriotischen Verhaltens bei den Einkäufen, bei denen sie, infolge ihres Vertrauens auf die hohe Qualität der eigenen Erzeugnisse, diesen blindlings vor allen Produkten ausländischen Imports den Vorzug gäben 26 . Anderseits ist den Engländern vorgeworfen worden, sie seien so materiell gerichtet, daß ihre Sprache für höhere Begriffe nicht einmal Worte besäße. Der Physiokrat P. G. Dupont de Nemours behauptete 1815 in einem Brief an Jean Baptiste Say, die Engländer seien ein „peuple sordide", das nur für Geld Interesse habe und den Menschen nur nach seinem Besitz, nicht nach seinem innern Wert zu werten verstände: selbst den Staat und die Gesellschaft bezeichne der Engländer als „Gemeinsamen Reichtum" (Common-Wealth). Die Briten kennen zwar Haus und Gegend (contrée, country), seien aber noch nicht imstande zu sagen, daß sie ein Vaterland (patrie) besäßen. Das ist nicht richtig. Der Engländer schiebt eben für das Wort Vaterland das Wort country ein, das zwar noch andere Bedeutungen aufweist (a „country girl" ist keine „fille de la patrie", kein „Vaterlandsmädchen", sondern ein „Bauernmädchen", une ,jeune paysanne"), aber doch in bestimmten Zusammenhängen schon klar den Begriff, den der Deutsche mit
24 Sir Josiah Child, A new Discourse of Trade. London 1698. Sowie, p. 160. 25 Liégaux Wood, Selected Pieces of English Prose and Poetry. Paris 1891. Delagrave, p. 59. 26 J. F. Coster, Lettres d'un Citoyen à un Magistrat sur les Raisons qui doivent affranchir le Commerce des Duchés de Lorraine et de Bar du Tarif général projetté par le Royaume de France. 1762. s. 1. p. 342. * Im Original zusätzlicher Verweis auf Fn. 22.
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dem Worte Vaterland und der Romane mit dem Wort patrie wiedergibt, trifft 27 . Die Engländer hatten übrigens schon im 18. Jahrhundert in den Worten „countryman" und „fellow-citizen" dem deutschen „Landsmann" eine dem französischen „compatriote" und „pays", dem italienischen „corregionale" oder „conpaesano" gleichwertige Bezeichnung entgegengesetzt 28 . Ursprünglich bedeutet „country" freilich nur „Gegend". Die Übertragung des Begriffs auf „Vaterland" läßt auf den lokalen Ursprungscharakter dieses Begriffs selbst schließen, etymologisch und historisch. Aber eine ähnliche Gleichsetzung von Landschaft und Vaterland ist auch in anderen Sprachen völlig gang und gäbe. So spricht auch der Deutsche von „unserm Land", und häufiger noch findet sich in Prosa und Poesie „ons land", „notre pays", „il nostro paese", „nuestro pais", völlig im englischen Sinne. Der Italiener spricht sogar in der gleichen Bedeutung von „la nostra terra" (der Deutsche und der Franzose höchstens mit der Hinzufugung des nationalen Eigenschaftscharakters vom „deutschen Boden" oder von der „deutschen Erde", „la terre française") 29 . „Patrie" bedeutet immer einen moralischen oder emotiven Begriff, während „country" auch materiell ist (to go to the country), also gebraucht wird, wo der Franzose „campagne" oder „terre" sagt. Dafür haben die Engländer freilich das Wort „home" 30 .
VI. Die Amerikaner haben immer den Starrsinn, mit dem sie ihre Freiheiten, ihren kolonialen Individualismus verteidigten, als das hehrste Erbteil ihrer englischen Väter angesprochen. Indem sie den Engländern widerstanden, handelten sie als Engländer 31 . Indem sie sie besiegten, erwiesen sie sich als bessere, freiheitsliebendere Briten als die mutterländischen Royalists. Kulturell verharrte Amerika im Banne der englischen Entwicklungssphäre 32 . Montesquieu war offenbar erstaunt darüber, in England Dachdecker
27 Das Wort fatherland ist wohl ein deutsches Lehnwort; in älteren Wörterbüchern wie bei Boyer (1768) kommt es noch gar nicht vor. Hier wird dagegen country völlig im Sinne patria interpretiert: I am your countryman - je suis votre compatriote (H. Boyer, The Royal Dictionary, English and French. Lyon MDCCLXVIII. Vol. II, p. 48). 28 Adam Ferguson, An Essay on the History o f civil Society. N e w ed., Basil 1786, Tourneisen, p. 32. 29 So heißt es auch im holländischen, von Tollens gedichteten Nationallied: „Wiens hart voor land en Koning gloeit" (Nederlandsch Volksliederenboek, samengesteld door Daniel de Lange, I. C. M. van Riemsdyk, G. Kalff. Uitgave van de Matschappy tot nut van't algemeen. Amsterdam 1906, van Loy, p. 20). 30 Hamerton, I, 116. 31 Vgl. Washington Irving, Life of George Washington (Tauchnitz Ed. 1856, vol. I, p. 302). 32 Hildebrand erblickt selbst in der wirtschaftlichen Entwicklung Nordamerikas die Grundzüge des englischen Charakters. Er spricht von einem „stammverwandten Verfahren". In Amerika sind zweifellos die Charakteristiken eines agrarischen Versorgungslandes für Europa stark zurückgetreten. Das Bestreben, die eigene industrielle Entwicklung nötigenfalls auf Kosten der agrarischen und montanen zu beschleunigen, ist heute offenkundig, ebenso aber auch das Bestreben, den Übergang zur bäuerlichen mühevollen intensiven Kultur so lange wie möglich hinauszuschieben (Gerhard
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anzutreffen, die sich auf das Dach eine Zeitung zum Lesen mitgebracht hatten33, aber es finden sich doch bei ihm trotz aller überwiegenden Anerkennung und Bewunderung der englischen Demokratie auch Aussprüche tiefen Mißmuts wie der, die Engländer seien ihrer Freiheit unwert, da sie sie nur an den König verkauften; ja, wenn der König sie ihnen auf dem Geschenkwege zurückgäbe, so würden sie sie an den König nur nochmals verkaufen34. Daß England in der Zeit der Loslösung Nordamerikas die „richtige" Freiheit noch nicht besaß, wird heute von der englischen Geschichtsschreibung allgemein zugegeben. Es darf als ein weiterer Beweis von dem inhärent innenpolitisch-demokratischen Charakterzug des britischen Patriotismus gebucht werden, daß man in England nicht lange gezögert hat, die Gründe, welche die Neuengland-Staaten 1775 zum Aufstand trieben, anzuerkennen und nachträglich gutzuheißen. Aus der gleichen Ursache aber glaubt England von den Australiern volle Loyalität, absolutes Stehen zum Imperium fordern zu dürfen. Das hat Lytton Bulwer bei dem Jubiläum 1859 deutlich genug ausgesprochen, indem er die Amerikaner mit den Australiern verglich und bemerkte, letztere hätten schon bei ihrer Abwanderung vom Mutterlande „feelings of affection for a free country" gehegt. Ihre Solidarität mit England sei mithin eine festere, pflichtmäßigere, englischere35. Das Band, das die weiten Teile des Empire mit England verbindet, ist ein voluntaristisches, das der englischen Freiheit36.
VII. Der britische Patriotismus ging aus der Zeit der Revolution und der napoleonischen Kriege gestärkt, aber der Qualität nach unverändert hervor. Es ist nicht nur aus Individualismus, sondern doch eben aus dem Bewußtsein des alten demokratischen Bürgerrechts, dessen sich nach wie vor jeder Engländer rühmen durfte, heraus, wenn Lord
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Hildebrand, Sozialistische Auslandspolitik, Jena 1911. Diederichs, p. 24). Auch in der Rechtssprechung ist Amerika englisch geblieben. Amerikanische Gerichte sollen sogar bisweilen auf Grund englischer Entscheidungen Recht sprechen. Ja, es wird behauptet, daß Amerika, je reifer und selbstbewußter es wird, bei Ermangelung einer eigenen bodenständigen Kultur und Vergangenheit, desto mehr an die alten englischen Vorbilder als die nächstliegenden und natürlichsten anknüpft. (Heinrich von Frauendorfer und Edgar Jaffé, Wo stehen wir? Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung I, p. 7; München 1916). Montesquieu, Oeuvres complètes, vol. VII, p. 189. ib. p. 190. R. H. Home, Australian Facts and Prospects. London 1859. Cornhill. p. 212/3. „For the strength and the glory and the soul of that Constitution is liberty, and he who loves liberty will not endure to crush it, nor to see it crushed in others. It may yet be the destiny of Britain te reveal to the world the possibility and the example of an Empire invincible only for good, and held together, not by uniformity of government, not by crushing the individuality of her provinces, but even as a wheel that moveth equally, by the Love that moves the sun and the other stars". Wingfield Stratford, vol. II, p. 585.
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Edward Lytton Bulwer sagen konnte, der Franzose liebe sein Vaterland mit dem Nachdruck auf dem Substantivum, der Engländer dagegen das seine mit dem Nachdruck auf dem Pronomen (ma patrie, aber my country)37. Henry Bulwer seinerseits hat den Unterschied zwischen dem englischen und dem französischen Patriotismus dieser Periode so ausgedrückt: der Franzose liebe sein Vaterland, weil er ihm gehöre, der Engländer hingegen, weil es ihm gehöre38. Dieses Besitzverhältnis an Land durch den Menschen, an Absolutem durch das Konkrete, statt des Besitzes des Menschen durch das Land, verleiht dem englischen Patriotismus etwas Starres, Eigenwilliges, ja Eigensüchtiges, befähigt ihn aber andererseits gerade deshalb unter Umständen zu den größten individuellen Opfern39. Die Opferbereitschaft des englischen Volkes wurde indes auf eine sehr viel geringere Probe gestellt als diejenige fast aller kontinentalen Mächte. England war durch seine insulare Lage Invasionen wenig ausgesetzt. Die englischen Kriege waren seit Beendigung des hundertjährigen Ringens um die Krone Frankreichs bis zum Krimkrieg (trotz der Episoden Marlboroughs und Wellingtons) ganz überwiegend Seekriege. Das Schicksal der Welt war auf den Meeren entschieden worden. Seekriege sind aber erfahrungsgemäß sehr viel unblutiger als Landkriege. In der Seeschlacht von Abukir 1798, durch welche die Engländer die französische Landmacht in Afrika von der Verbindung mit dem Mutterlande abschnitt und dem die englische Herrschaft in Indien gefährdenden Abenteurer Napoleon in Ägypten und Syrien den Todesstoß versetzte, erlitt England nur einen Verlust von 218 Toten und 678 Verwundeten. In den Landkriegen endlich kam die Kapitalkraft Englands in einer Weise zum Ausdruck, daß das englische Blut ebenfalls geschont wurde. Das subsidienzahlende England führte seine Kriege im weitesten Umfange mit fremdem Menschenmaterial (Deutschen, Portugiesen, Holländern). Selbst steuertechnisch stand die englische Leistung geringer als die französische40. Dabei blieb die englische Nationalökomonie des 18. und 19. Jahrhunderts ganz wesentlich individualistisch und liberal. Eine lebhafte Betonung des sekundären Charakters der privaten Ökonomie und der patriotischen Pflicht ihres Zurücktretens sogar in den Eigentumsformen gegenüber dem Staatsinteresse finden wir meines Wissens vor
37 Edward Lytton Bulwer, England and the English. 6. Ed. Paris 1836, Baudry, p. 10. 38 Henry Lytton Bulwer, France, social, literary, political. Paris 1834, Baudry, p. 62. 39 Der englische Romanschriftsteller Francis Hastings Doyle läßt in seiner Erzählung „The Private of the Buffs" (1904) einen seelisch und geistig minderwertigen englischen Soldaten, in Gefangenschaft geraten, zum Helden werden. Anstatt niederzuknien und sich zu demütigen, geht er lieber in den Tod. Der in ihm bewußt werdende Gedanke, daß er England repräsentiere, löst in ihm die höchste Opferfreudigkeit aus. 40 The Englishman thinks: „If I were called upon to make sacrifices for my country I would certainly make them". No doubt he would, but most Englishmen pass trough life without being obliged to make any patriotic sacrifice except the payment of taxes, and the French are taxed still mor heavily, even in money (Hamerton I, p. 133).
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dem Auftreten einer sozialistischen Richtung unter Godwin nur bei dem Merkantilisten James Stewart.
VIII. Im 19. Jahrhundert, nach den napoleonischen Kriegen, finden wir England häufig mit Frankreich und den Westmächten vereint, als Hort des Nationalitätenprinzips und Freundin aller liberalen Festlandregierungen. Bunsen verteidigt hier wie immer Englands Haltung und fährt fort: „Schon Lord Liverpool hat es ausgesprochen, daß Europa in zwei Lager sich teile: die despotischen Regierungen und die freien oder konstitutionellen Regierungen." Und „was bei dem englischen Charakter noch viel richtiger ist: sie ist der Hebel und der Stützpunkt der Macht Englands und Europas, jetzt und in Zukunft"; Englands sicherster Verbündeter ist die „allgemeine Achtung der Freiheit suchenden Völker". Das war nach Bunsens Ansicht ebenso gut Lord Aberdeen 's Glaubensbekenntnis wie das LordPalmerston 's-42. John Ruskin tadelte die Deutschen, daß sie 1870 Frankreich zerschmettert und beraubt am Boden liegen gelassen hätten. Dafür lobte er die Franzosen, deren normännisch-romanische Eroberung Englands nur segensreich und kulturfördernd gewesen sei; setzt aber als englischer Patriot stolz hinzu, die Franzosen hätten das englische Material so gut zu behandeln verstanden, daß sie schließlich aus ihm eine stärkere Nation gezimmert hätten, als sie selbst jemals gewesen seien43. Später, beim Herannahen der europäischen Verwicklungen hat dann selbst der theoretische und praktische Führer der marxistischen Partei, Henry M. Hyndman, mit großer Wärme die Idee vertreten, daß England zur Sicherstellung seiner Nahrungsmittelzufuhr eine jeder möglichen Kombination eventueller Gegner vollauf gewachsene Kriegsflotte brauche, da die Existenz der Engländer als einer Nation von freien Menschen von der englischen Beherrschung der See abhänge, was von keinem andern Volk der Erde gesagt werden könne44. Die Liebe des Engländers zu freiheitlichen Einrichtungen und seine Überzeugung von dem Sine qua non derselben für den neuzeitlichen Patriotismus spiegelt sich auch in den Vorstellungen wieder, die er sich von Ländern wie Deutschland und Rußland machte. Längst vor dem Kriege von 1914 fand der gebildete Engländer die Zustände in Deutschland wegen ihres Mangels an politischer Demokratie und Selbstbestimmung höchst verächtlich und mithin alle Mittel, den eisernen Ring der Autokratie zu spren-
41 James Stewart, An inquiry into the Principles of Political Economy. (Basil 1796, Tourneisen, vol. I, p. 218 ff.). 42 Curt Fritzsche, Die Englandpolitik Friedrich Wilhelms IV. Dresden und Leipzig 1916. 43 John Ruskin, Fors Clavigera. London 1909. Allen. Vol. II, p. 339. 44 H. M. Hyndman, Social Democracy and Foreign Policy. Justice XXII No. 1136 (1905).
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gen, gerechtfertigt. Politische Stubenreinheit in einem solchen Deutschland erschien ihm als „acquiescence in intellectual stagnation and moral servility" 45 . Die demokratische Note ist auch heute noch eines der Grundelemente des englischen Patriotismus. So heißt es in einem im Kriege gegen Deutschland 1914 viel gesungenen, von Henry E. Pether komponierten und von Miss Mabel Manson in Londoner Music Halls unter tosendem Beifall der Menge gesungenen, von Huntley Trevor gedichteten Liede: „England calls for men who will guard the native shore, The land of peace and freedom ..,"46 Der innerpolitische Charakterzug ist noch im heutigen Patriotismus der Engländer hervorragend. Auch ein moderner englischer Analytiker des Patriotismus stellt unter die ersten Pflichten des Patrioten „to seek within the country to procure the establishment of the best possible order". Der Stolz des Engländers beruht außer in der Machtfülle der Nation in dem Recht, sich selbst sein Gesetz im Lande geben zu dürfen 47 . Wobei ihn dann das Bewußtsein seiner Rechtsfulle regierungstreu und stolz auf seine Beherrscher macht. Daß Schule und Gewöhnung zur Erzeugung dieses Gefühls mitgewirkt haben, ist nicht von der Hand zu weisen. Einer der klügsten Päpste des 18. Jahrhunderts, Clemens XIV. Ganganelli, hat von den Engländern seiner Zeit geschrieben: „L'Anglais n'est enthousiaste de son gouvernement que parce dès son bas âge il entend bourdonner le mot de liberté 48 . Das Bewußtsein seiner staatsrechtlichen Kulturübertragung und seiner wirtschaftlichen und religiösen Völkerbeglückung hat dem Engländer seine Erobererrolle außerordentlich erleichtert und sie ihn bona fide durchführen lassen. Ein Spaßvogel hat von diesem Prozeß gesagt: „If he (the Englishman) conquers a nation, it is to improve its condition in this world and its welfare in the next: a highly moral aim, as you perceive. Give me your territory, and I will give you the Bible. Exchange, no robbery" 49 .
45 Vgl. ζ. Β. den Band des Aristokraten Bertrand Russell: German Social Democracy (6 Lectures at the London School of Economics). London 1896. Longmans p. 88 und 113. 46 Einem Gedicht, betitelt „Adieu to England" (in Rachel M'Crindell, The English Governess, London, Simpkin, p. 70) entnehmen wir: „Dear land of my fathers! Sweet land of my home! Blest country of freedom, and refuge of peace! Thougth through lands of bright sunshine, of beauty and bloom My footsteps may wander, which absent from thee, Yet I'll love thee more daily, my own island-home, Thou'rt the land of the brave and the home of the free!" 47 Charles H. Pearson, National Life and Character. London 1894. Macmillan, p. 197 und 232 - John Timbs, Notable Things of our own Time. London 1868. Lockwood p. 223. 48 Lettere, Bolle e Discorsi del Papa Ganganelli (Clemente XIV). 2. Ediz. Firenze 1849. Le Monnier, p. 65. 49 Max O'Reil, John Bull and his Island. London, Leaderhall, p. 3.
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IX. Insulare Lage, Weltbeherrschung, siegreiche Kriegführung und konstitutionelle Überhebung, deren Wurzeln wir als innerpolitisch qualifizierten, haben zusammengewirkt, um das zu erzeugen, was der Ausländer (selbst der, welcher englisch-staatliche Gastfreundschaft genießt) als Xenophobie zu bezeichnen pflegt 50 . In der Tat ist die Xenophobie vielleicht in England stärker entwickelt als in der Mehrzahl der übrigen Länder, was zumal aus dem Vergleich mit dem französischen Wesen überzeugend hervorgeht51. Die Xenophobie in England hängt mit der Verachtung der Armut zusammen. Das Ausland lieferte, etwa vom 16. Jahrhundert ab, viel Bettelvolk nach England52. So hatte sich nach Analogieschluß im englischen Volke die Anschauung herausgebildet, Arme und Ausländer seien zwei Worte für den gleichen Begriff. Das Elend wurde gesellschaftlich nirgends so bitter empfunden wie in England. Der quantitative Charakterzug
50 Crusius-Brand, Reise eines jungen Deutschen in Frankreich und England 1815. Leipzig 1909, Wiegand, vol. I, p. 62, 104, 105, 128; vol II. p. 88, 145 ff., 184. - Jean-Baptiste Say, De l'Angleterre et des Anglais. Paris 1815, Bertrand, p. 20. - Léon Faucher, Etudes sur l'Angleterre, 2. ed., Paris 1856, Guillaumin, vol. I, p. XIII. - Alexander Herzen, Erinnerungen. Berlin 1907, Wiegandt, vol. II, p. 105 - Edward Lytton Bulwer, England and the English, p. 21. - Ludewig Heinrich Hermann von Pückler-Muskau, Briefe eines Verstorbenen. Ein fragmentarisches Tagebuch aus England, Wales, Irland und Frankreich, geschrieben in den Jahren 1828 und 1829. Stuttgart 1836/7, Bd. II, p. 172; Bd. IV, p. 100.; C. R. Hennings, Deutsche in England. Stuttgart 1923. 51 „Lorsque le peuple de Londres voit à pied dans les rues quelqu'un mis proprement, surtout avec un habit galonné, un plumet au chapeau et une bourse à ses cheveux, il ne manquera pas de l'insulter et de l'appeler vingt fois French dog avant qu'il arrive où il veut aller. C'est là leur injure ordinaire, et selon eux la plus forte, qui veut dire chien de Français; ils la donnent indifféremment à tous les étrangers". César de Saussure, Lettres et voyages en Allemagne, en Hollande et en Angleterre 1725-1729. Lausanne 1903. Bridel, p. 120. - So Immanuel Kant: „Sonderbar ist doch, daß, da der Franzose die englische Nation gemeiniglich liebt und mit Achtung lobpreist, dennoch der Engländer, der nicht aus seinem Lande gekommen ist, jenen im allgemeinen haßt und verachetet." Kant dachte überhaupt sehr gering von den Engländern, freilich ohne sie zu kennen, da er bekanntlich nie aus seinem Königsberg herausgekommen ist. Immanuel Kant, Anthropologie. Auflage Berlin 1869, Heimann, p. 283/4. - Über den fremdenfeindlichen Charakter der Engländer im Gegensatz zu den fremdenfreundlichen Eigenschaften der Franzosen vgl. auch Brand, 1. c., vol. I, p. 107. - Friedrich Christoph Schlosser, Geschichte des 18. Jahrhunderts und des 19. bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs mit besonderer Rücksicht auf geistige Bildung. 5. Aufl. Heidelberg 1865, Bd. V, p. 669. - Alex. Herzen, Erinnerungen, Bd. II, p. 104 f f , p. 150, p. 291. - AlexandreAuguste Ledru-Rollin, De la décadence de l'Angleterre. Paris 1850, Escudier. - Christian August Gottlieb Goede, England, Wales, Irland und Schottland (Erinnerungen an Natur und Kunst aus einer Reise in den Jahren 1802 und 1803). Dresden 1808, Arnold, Bd. I, p. 285. - Faucher, Etudes, vol. I, p. XIII. - Victor Aimé Huber, Skizzen aus Spanien. Bremen 1828-33, Schünemann, Bd. III, p. 236 ff. - Ralph Waldo Emerson, English Tracts (ed. Leipzig 1917, Tauchnitz, p. 104). - Hamerton, French etc., vol. I, p. 123. - D. Pasquet, La découverte de l'Angleterre au 18. siècle. In der „Revue de Paris", vol. XXVII n. 24 (Anglomanie in Frankreich p. 833, Xenophobie in England, p.840). - Über die historischen Ursachen speziell des Franzosenhasses vgl. Wingfield, vol. II, p. 74; Hamerton, French etc. vol. II. 52 Vgl. für das 18. Jahrhundert: Lettere e Scritti inediti di Pietro ed Alessandro Verri (pubi, da Carlo Casati). Milano 1879, Galli, vol. I, p. 370, 402\ Archenholtz, vol. II, p. 99.
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der völkischen Psychologie Englands und der alte Reichtum des Landes verliehen der Armut in ihrer Wertung den Stachel des Unwürdigen. Der Terror vor der Armut ist in England auch in den bürgerlichen Klassen so groß, daß die Engländer lieber den Tod als die Armut ertragen. Cobbett sagt: „No country upon earth as this exhibits so many of these fatal determinations of life called suicide; this arises in nine customs out of ten from this very source. The victims are, in general, what may be fairly called insane; but their insanity always arises from the dread of poverty, not from the dread of a want of the means of sustaining life, or even decent living but from the dread of what is called falling in the scale of society; a dread which is prevalent hardly in any country but this" 53 . Say meint, die Franzosen erblickten die größte Schande in der Unwissenheit, die Engländer in der Armut 54 . Der Russe Alexander Herzen stellt kopfschüttelnd fest, daß in England die Armut nicht Mitgefühl, sondern Spottlust errege, und führt das Beispiel eines vornehmen, aber mittellosen italienischen Patrioten an, der in England mühsam sein Leben fristete, sich dabei aber kaum der Bosheit der Gassenbuben zu erwehren vermochte 55 . Der Deutsche Theodor Fontane meinte 1852, der Engländer begreife es nicht, daß „unter einem abgerissenen Rock das Herz eines Gentleman schlagen könne 56 . Dieser Zug war auch dem Engländer Lord Lytton Bulwer nicht entgangen: „We do not think them, as we once did, inherently, but unfortunately, guilty! - in a word, we suspect them of being poor! They strike us with the unprepossessing air of the shabby genteel" 57 . Der Verdacht der Armut reizte den englischen Bourgeois zum Hochmut und zur Verachtung des Verdächtigen. Alle Engländer, die auf sich halten, sind auf gute Wäsche und schönes Schuhwerk erpicht und sehen unverhohlen auf den herab, der es nicht aufzubringen vermag 58 . Die Opfer dieses Mißfallens sind zugleich der englische poor und der bescheidene, ärmliche oder in momentanen Geldnöten lebende Ausländer, was sich besonders in den langen Dezennien bemerkbar machte, in denen England das Asyl sowohl für die patriotischen als für die sozialistischen Intellektuellen aus den nach nationaler Einheit strebenden Völkern (Ungarn, Deutsche, Italiener, Polen) abgab 59 . Ein ähnliches Moment tritt auch in der Beurteilung des Fremden in der Fremde selbst hervor. Der Engländer ist egozentrisch; selbst im Ausland betrachtet er sich nicht als
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William Cobbett, Advice to young Men. London 1887, Routledge, pp. 6 1 - 6 2 . Jean Baptiste Say, De l'Angleterre etc., 1. c. p. 20. Alexander Herzen, Erinnerungen Bd. II, p. 105. Theodor Fontane, Der engl. Charakter heute wie gestern. Berlin 1915, Fischer, p. 42. Bulwer, p. 21. Einige Züge dieses Typus sind von der humoristischen Feder des Charles Dickens in seinen „Sketches illustrative of every-day life and every-day people". (Aufl. Berlin 1877, Asher, Works, vol. X V ) beschrieben worden (s. das Kapitel: Shabby-Genteel People, p. 150 ff.). 58 Giuseppe Pecchie, Un'elezione di membri al Parlamento in Inghilterra. Lugano 1826, Vanelli, p. 95. 59 Über das hochmütige, egozentrische Auftreten der Engländer als „Befreier" den Spaniern gegenüber 1814 vgl. V. A. Huber, Spanien etc., vol. III, p. 23. - Über die schlechte Behandlung der russischen, französischen, deutschen und italienischen Emigranten in London vgl. Herzen, 1. c.
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Ausländer 60 . Napoleon meinte, die Engländer hätten gar keine Ahnung von Frankreich. Selbst China und seine Einrichtungen seien ihnen besser bekannt als das Nachbarland 61 . Der Engländer versteht nicht, daß der Landadel in Frankreich auch bei Nichtvorhandensein großen Reichtums Ansehen genießt 62 . Er kann sich keinen wirklichen Rang ohne Dienstbotenschar vorstellen 63 . Er verachtet alle, die nicht Gentlemen und Ladies sind, und diese müssen reich sein 64 . Sein Trachten ist überhaupt ganz auf Reichtum eingestellt 65 . „I have no attachment to England as a country: but it is a delightful place for a man of rank and property to live in", hat ein Amerikaner ausgesprochen 66 .
Χ.
In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts drohte die soziale Frage das nationale Band zu durchbrechen. Damals sangen die Chartisten jenes charakteristische Lied, in welchem sich folgende, selbst die Rule Britannia persiflierenden, bitteren Verse befanden: „Let them bray until in the face they are black, That over oceans they hold their sway Of the Flag of old England, the Union Jack, About which I have something to say: Tis said that it floats o'er the free, but it waves Over thousands of hard-worked, ill-paid British slaves, Who are driven to pauper and suicide graves The starving poor of Old England" 67 .
60 Die egozentrische Art des Engländers wird durch zwei Anekdoten gut, wenn auch etwas überscharf illustriert. Auf einem Donauboot fiel im Gespräch mit einer englischen Dame das Fort foreigner. Worauf die Dame empört ausrief: „We are English, you are the foreigners!" (Alexander von Peez und Paul Dehn, Englands Vorherrschaft. Aus der Zeit der Kontinentalsperre. Leipzig 1912, Duncker). - In einer Londoner Pension wunderte sich eine Engländerin höchlichst darüber, daß zwei in der Pension verkehrende Ausländer, ein Deutscher und ein Grieche, sich in ihrer Muttersprache nicht verständigen könnten, da sie doch beide Fremde seien (Lewin L. Schiicking, Der englische Volkscharakter. Stuttgart-Berlin 1915 Deutsche Verlagsanstalt, p. 15.) - Ergötzliche Streiflichter auf diese Punkte auch bei Washington Irving, Sketch Book, p. 294. 61 Mémorial de Ste.-Héléne, publié par Emmanuel de Las Cases, Bruxelles 1822-23, Remy, vol. I, p. 162. 62 Hamerton, French and English, vol. II, p. 239. 63 Hamerton, vol. II, p. 116; Emerson, p. 99. 64 Hamerton, vol. II, p. 26. 65 Emerson, p. 131. 66 George Long, bei William P. Trent, English Culture in Virginia. In Hopkin's Un, Studies, 7. Serie, vol. V-VI, Baltimore 1889, p. 92. 67 Zitiert bei John Henry Mackay: Die Anarchisten, Kulturgemälde aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Berlin 1893. Harnisch, p. 78.
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Auf gutes Prosadeutsch übersetzt, ist der Sinn des Liedes etwa folgender: laßt unsere Patrioten nur schreien, bis daß sie rote Köpfe kriegen, daß die Macht des englischen Banners das weite Meer beherrsche (Anspielung auf die bekannte englische Nationalhymne „Britannia, rule the waves", komponiert 1740 von Dr. Thomas Augustine Arne). Nur müßt ihr uns gestatten, dem noch etwas hinzuzufügen: Wenn ihr singt, daß dieses Banner über einem freien Volke weht, so müssen wir doch sagen, daß es zwar über den Köpfen von Engländern weht, daß aber diese Engländer versklavt sind, erschöpft von Überarbeit und durch Hungerlöhne dem Pauperismus und dem Selbstmord in die Arme getrieben; kurz, die Fahne weht über dem ausgehungerten englischen Volke. Ganz ähnlich klagt ein Arbeiter in Disraeli's Sybil: „The capitalist flourishes; he amasses immense wealth: we sink, lower and lower, lower than the beasts of burthen" 68 . Und ein Schneiderpoet jammert bei Kingsley über die dreifache Ausbeutung des Arbeiters durch sweaters, sweater's sweaters und sweater's sweater's sweaters. Der Ausbeutung schienen keine Grenzen mehr gegeben 69 .Lord Beaconsfield, noch Benjamin Disraeli, spricht sogar im Untertitel des angegebenen Romans vom Vorhandensein zweier Nationen in England (Sybil or the two Nations) 70 . Das aufkommende englische Proletariat nahm in der Chartistenzeit sogar Ansätze, die englische Engherzigkeit zu überwinden und sich für auswärtige Brüder zu begeistern. Der Internationalismus bemächtigte sich in den zwanziger Jahren auch der englischen Arbeiter, denen Bulwer nachsagte, ihr Vaterland sei die Welt geworden, sie hätten Mitgefühl für alle Leidenden, für die gedritteilten Polen, für die hungernden Iren, für die schwitzenden Negersklaven auf Jamaika 71 . Amerikaner wie Irving betrachteten es, was sonst nur von Franzosen gesagt wurde, sogar als britischen Nationalfehler, sich mit fruchtlosen Versuchen abzugeben, die anderen Völker wider ihren Willen glücklich zu machen 72 . Auch auf den internationalen Festen und Empfangen 1848 in Paris fehlten die Engländer zumeist nicht 73 . Es scheint dabei als Typikum angesehen werden zu können, daß sie ihre Liebe freilich mehr den entfernten Gelben und Schwarzen als den Klassengenossen auf dem nahen Kontinent zuwandten. Den revolutionären Bewegungen der europäischen Freiheitskämpfer standen mindestens die mittleren und oberen Klassen dieser Periode unempfänglich und verständnislos gegenüber 74 .
68 Benjamin Disraeli: Sybil or the two Nations. Paris 1845, Baudry, p. 101. 69 Charles Kingsley. Alton Locke, Tailor and poet. An autobiography. (1850, New Ed. London, Standard Libr., p. 80). Über das Elend der nach dem berühmten Gedichte von Daniel Defoe „Freeborn Englishmen" (zumal der Landarbeiter) im Anschluß an die Behauptung des Liedes: Britons never will be slaves vgl. auch eine Bemerkung bei Henry George: Social Problems. London 1884, Paul, p. 96 ff.). 70 Daß diese Auffassung in der englischen Arbeiterschaft nur Episode bedeutete, haben wir bereits ausgeführt. Die nationale Solidarität überdauerte dynamisch gerade in England das trennende Klassenbewußtsein. 71 EdwardLytton Bulwer. England and the English, p. 65, p. 95. 72 Washington Irving: Sketch Book (ed. Leipzig 1843, Tauchnitz, p. 304). 73 Alphonse de Lamartine: Trois mois au pouvoir. Paris 1848, M. Lévy, p. 92. 74 Charles Kingsley. Alton Locke, p. 233 ff.
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Englischer Verfassungs- und Freiheitspatriotismus
Einige Jahrzehnte später freilich interessiert sich das englische Volk zeitweilig für griechische, italienische, dänische, polnische Einheitsbestrebungen. Es hat auf diesen Gebieten zweifellos mehr gegeben, als ζ. B. das deutsche, für welches das italienische und das dänische Volk allerdings als Grenzvölker in Betracht kamen, deren Freiheitsbewegungen folglich eigene nationale Interessen berührten, was bei England nicht der Fall war. Immerhin muß an den (früheren) englischen tatkräftigen Philhellenismus Lord Byron's erinnert werden. Viel intimer noch war das Verhältnis der englischen Demokratie zum italienischen Risorgimento. Einer der besten englischen Dichter, Shelley, hat für Italien gelebt, ein anderer, Robert Browning, seine Leidenschaft fur Italien in die Exklamation gekleidet: Italy, my Italy! In den garibaldinischen Scharen fehlte es nicht an englischen Freiwilligen. Selbst englische Kriegsberichterstatter wie H. M. Hyndman, griffen 1866 zur Flinte gegen die Österreicher75. Einige der wenigen Frauen, die sich in den italienischen Befreiungskämpfen hervorgetan haben, war eine Engländerin, Jessie White, die Gattin des Patrioten Alberto Mario. Auch um die dänische Freiheit in Nordschleswig (1864) war man in England besorgt76. In alle diese Sympathien mischte sich, wie stets in der Politik, wenn auch in ihren menschlichen Trägern häufig geschieden, das nationale Interesse mit reinster Menschenliebe.
75 H. M. Hyndman·. The Record of an adventurous Life. London 1911, Macmillan, p. 36. 76 Louis Blanc: Lettres St'Angletern, 2 e éd., vol. I., Paris 1866, Lacroix, p.
Prolegomena zur Analyse des nationalen Elitegedankens
I. Der Mythus des Woher (Ursprung) Die Urform des nationalen Elitegedankens ist die mythologische, die Abstammung der Nation aus der Sage, von unbeglaubigten Heldenvölkern oder mit besonderer metaphysischer Bestimmung und Vorsehung. Mythologische Spuren weisen die meisten Völker auf. In der Description de Paris von Raoul de Presles befindet sich eine ganz phantastische Beschreibung vom geschichtlichen Ursprung der französischen Capitale: „leur chef Francion, fils de Hector, qui fu filz Priant... la fondation de la cité de Sicambre en Hongrie ... et ses descendants qui vindrent jusques sur la rivière de Saine, avisèrent le lieu ou présent est Paris et y fondèrent une cité, laquelle ils appelèrent Lutesse, a luto, c'est-à-dire pour la gresse du pays, au temps de Amasie, roy de Juda et de Jhéroboam, roy d'Israel, Ville et XXX ans avant lincarnacion notre Seigneur, et s'appelèrent Parisiens, pour Paris, le fils Priant 1 ." Unter Richelieu und Ludwig XIV. war die französische Nationalität rassenbiologisch zu begründen versucht worden, wenn auch, dem Zeitgeist entsprechend, in aristokratischen Formen. Wohl mit zur Begründung politischer Machtansprüche wurde von der französischen Publizistik zur Zeit der Annexionen insbesondere die These von der keltischen Abstammung der fränkischen Vorfahren lebhaft vertreten. Der königliche Rat Jacques de Cassan ging 1632 in seinen Untersuchungen über die Rechte der Krone Frankreichs auf durch fremde Fürsten besetzt gehaltene Gebiete zur Vertretung seines Standpunktes bis auf Brennus zurück. 1667 erschien ein Ludwig XIV. gewidmetes Pamphlet aus der Hand des Parlamentsadvokaten Aubery über die Ansprüche des Königs auf das Deutsche Reich, in welchem Ludwig XIV. als Rechtsnachfolger Chlodwigs erscheint. 2 Immer galt auch Chlodwig als Kelte; denn die Franken seien aus Gallien zeitweise über den Rhein gezogen, dann aber wieder nach ihrem Stammlande zurückgewandert um die Brüder von der römischen Knechtschaft zu befreien. Solche Mär
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E. de Ménorval. Paris depuis ses Origines jusqu' à nos Jours. Paris, 1889, Firmin-Didot, vol. Ier , p. 427, p. 465. Heinrich Dove: Kommentar zu Pufendorf s Verfassung des Deutschen Reiches (Ausg. Reclam, Leipzig, p. 136.)
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gereichte den Bourbonen zu autochthoner Verherrlichung. Die Franken als Volk von germanischer Abkunft zu schildern, wie es der Hugenot François Hotman, welcher in den Religionskämpfen des vergangenen Jahrhunderts gegen die römische These Stellung genommen, ausdrücklich getan, wurde nunmehr von oben her abgelehnt. Selbst Pufendorf war sich in seiner berühmten Verfassung des Deutschen Reiches nicht ganz klar, ob er die Franken den Germanen oder den Kelten zuzählen sollte; ihre Abkunft sei nicht ganz unstrittig. Indes meint er, gesetzt auch, die Franken seien anfangs eine gallische Kolonie gewesen, so müsse man doch sicher ein Volk, welches acht Jahrhunderte auf germanischem Boden gesessen und germanische Sprache und Sitten angenommen habe, jetzt zu den Germanen rechnen; zum mindesten brauchten sich ihre Nachkommen ihrer germanischer Abkunft nicht zu schämen3. Der Streit um den ethnischen Ursprung der Franken, welcher die alte Legende der gemeinsamen Abstammung des französischen Volkes von Francion, dem Sohne Hektors, zerstörte, war bei einem so rassengemischten Volke wie den Franzosen für dessen inneres Gefuge gefährlich, zumal das kräftige Städtetum des Südens römische Tradition hegte und mit ihnen fest verkettet war. Deshalb erregte es in der Bourgeoisie Ärgernis, als ihr der Comte de Boulainvilliers, den Versuch Hotman's wieder aufnehmend, den Adel für germanisch, das Volk aber für kelto-romanisch erklärte, d. h. zwei verschiedenen Rassen angehörige Sieger und Besiegte schilderte4. Am Vorabend der Revolution kam der Abbé Siéyès in seiner Schrift über den dritten Stand auf die These von den beiden Rassen wieder zurück. Er forderte die Nachkommen der Gallier und Römer zur Rache gegen die Nachkommen der Sigamber oder Franken, denen sie längst überlegen seien, auf. Der Graf Montlosier sprach noch in der Restaurationszeit von den zwei verschiedenen Völkern in Frankreich, freilich ohne ihnen einen ethnischen Sinn beizulegen. Für ihn sind dabei die wahren Franzosen die Nachkommen der Freien aller Rassen, einerlei ob keltischer, germanischer oder römischer Abkunft, während die Republikaner und Demokraten von den Sklaven der französischen Vergangenheit abstammen5. Guizot selbst betrachtete die siegreiche Revolution schlechterdings nur als eine Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen den beiden Völkerstämmen. Das ehemalig unterworfene Volk der Gallier hat nun seinerseits das Höhenvolk der Franken unterworfen. Retrospektiv könne man sagen, so hat Guizot in der Einleitung seines großen Werkes über die Regierungsform Frankreichs angeführt, daß sich die ganze französische Geschichte letztendlich auf den Kampf zwischen den zwei Rassen zurückführen lasse6.
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Samuel von Pufendorf: Die Verfassung des Deutschen Reiches. (Leipzig, Reclam, p. 14/15.) Über den Parallelismus der Bildung der Klassen aus den Rassen im römischen Frankreich vgl. auch Montesquieu: Grandeur et Décadence des Romains. (Paris 1891, F. Didot, p. 136.) Emmanuel Siéyès: Qu'est- ce que le Tiers-État? 1789. (Ed. Paris 1888, Société de l'Histoire de la Révolution Française, p. 32.) F. D. Reynaud de Montlosier. De la Monarchie Française depuis son Etablissement jusqu'à nos jours. Paris 1814/15. François Guizot: Du Gouvernement de la France depuis la Restauration et du Ministère actuel. 3 Ed., Paris 1820, Ladvocat, p. 2 ff.; Ernest Seillière: Der demokratische Imperialismus. Berlin 1907, Barsdorf. p. 315.
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In Spanien entstanden Phantasien wie die des Florian de Ocampo, demzufolge nicht Spanien seine Entstehung Rom, sondern umgekehrt Rom seine Entstehung Spanien verdanke 7 . Besonders merkwürdig ist die legendäre Entstehungsgeschichte Englands. Der Vater der hebräischen Genese des englischen Volkes ist Milton. Er griff den dem alten Testament entlehnten missionaren Gedanken auf. Ganz im alttestamentarischen Sinne sollte das englische Volk das „auserwählte" sein, dazu bestimmt, den andern Völkern die Erleuchtung zu bringen, in Freiheit zu leben und Christum zu verherrlichen 8 . Diesen Gedanken hat die englische Literaturgeschichte nicht mehr fallengelassen. Selbst ein Kingsley scheint ihm nicht fern gestanden zu haben 9 . Als eine modernere Abart des puritanischen Hebraismus, dessen hervorragendster Vertreter Milton blieb, mag die anglo-israelitische Legende gelten, derzufolge die verlorenen zehn Stämme Israels mit den anglo-keltischen Völkern identisch sind. In England hat sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts dann sogar eine Anglo-Israël-Identity Society gebildet, die sich den Nachweis zur Aufgabe gestellt hat, daß die heutigen Briten die Nachkommen Israels seien. Die Gesellschaft weist einen im wesentlichen sektenhaft konfessionellen Charakter auf, entbehrt aber auch keineswegs patriotischer Teleologie. In ihren zahlreichen Schriften betont sie ausdrücklich die Koinzidenz der Mission von Mutter- und Tochtervolk 10 . Wie die Israeliten, seien die Engländer das auserwählte Volk Gottes, dazu berufen, über die anderen Völker der Erde zu herrschen". Mit anderen Worten: Die Engländer erklären sich für Nachkommen der alten Juden, um durch diese historische Anknüpfung die Erbschaft auf die Herrschertraditionen und Herrscherrechte dieser anzutreten 12 . Die alttestamentarische Mythologie ist ohnehin auf protestantische Mentalität zugeschnitten. Deshalb finden wir Spuren von ihr auch in Preußen. In Preußen glaubte gegen 1812 ein Doktor der Theologie, namens Hasse aus Königsberg, in seiner Erklärung des ersten Buches Mosis, in der Pregel und in den in die Pregel einmündenden Flüssen und Bächen die fünf Ströme gefunden zu haben, welche das Paradies umfließen 13 . In Dänemark ist die matephysisch-transzendentale Note des Patriotismus ebenfalls völlig unverkennbar. Sie wird ersichtlich in der legendenhaften Geschichte von der Ge-
7 Arturo Farinelli·. Divagazioni erudite. Inghilterra e Italia - Germania e Italia. - Italia e Spagna, Spagna e Germania. Torino 1925, Bocca, p. 281. 8 Friedrich Brie: Imperialistische Strömungen in der englischen Literatur, in der Anglia, von Einenkel. Bd. XL, Halle. 1916, p. 29. 9 P. 198. 10 Philo-Israel: An inquiry establishing the identity of the British Nation with the lost tribes. 5. Ed. 1899. 11 Von ihr weiß Max O 'rell manches Witziges zu berichten. (John Bull and his Island. London, Leadenhall, p. 230.) 12
P . 11.
13 Ernst Moritz Arndt: Meine Wanderungen und Wandlungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich von Stein. Leipzig 1893. Pfau. p. 109.
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nesis des nationalen Banners, des Dannebrog. Der Dannebrog ist eine lange, rote, von einem weißen Kreuz in vier ungleiche Teile geteilte Fahne. Diese soll während der am 15. Juni 1219 von König Waldemar II. gegen die Esthen geschlagenen Schlacht von Reval vom Himmel herab gefallen sein und so den Dänen den Sieg gebracht haben. Über die Entstehung des baskischen Volkes wird berichtet: ein Schiff asiatischer Herkunft berührte vor anderthalb tausend Jahren die noch menschenleeren Ufer des Adur. Die Schönheit und Jungfräulichkeit der Gegend wirkte im Kontrast mit der asiatischen Wüste seiner Heimat so stark auf das Gemüt des Schiffskapitäns, daß er im Wahnsinn beschloß, sein eigenes Schiff mit Mann und Maus zu zerstören. Was auch geschah. Von allen Insassen des Schiffes blieben nur zwei unschuldige und reine junge Menschen am Leben, der Jüngling Iguskia und die Jungfrau Ilhargia. Aus diesen reinen Menschen in der reinen Landschaft entstammt das baskische Volk14. In der Schweiz hingegen finden wir Anknüpfungen an Herkules, der seltsamerweise nach dem Brand von Troja seines Heimatlandes überdrüssig wird, Hellas verläßt und auf Reisen geht, bis er auf dem Gotthard müde und sinnend stehen bleibt. Er verliebt sich in die weißen Schneefelder, glaubt Ähnlichkeiten mit Griechenland zu entdecken und entschließt sich zum Schluß, in der Schweiz zu bleiben und eine Familie zu gründen 15 . Bekanntlich umgibt, nebenbei bemerkt, selbst die moderne Industrie ihre Entstehung mit Legenden. Aber die Mythologie der modernen Industrie ist so trocken wie unsere Wirtschaftswissenschaft selber. Sogar im sonnigen Italien wird der Ursprung der bedeutenden Textilindustrie im Biellese durch die Geschichte eines Sträflings, der nach Verbüßung seiner Strafe auf die Berge gestiegen sei und die Sennerinen mit den Künsten seiner Gefangenenarbeit, zumal dem sogenannten tricotrè, bekannt gemacht haben soll, erzählt 16 . Die Nationen erwählen sich die großen Helden des hellenischen Mythos, Herkules, Hector, Aeneas oder die jüdischen Gotteslieblinge zu Stammvätern; die großen Industrien begnügen sich mit kleinen Sträflingen.
II. Der Mythus des Wohin (Mission) Ein zum Bewußtsein seiner nationalen Eigentümlichkeiten und Sonderkulturelemente gelangtes Volk hat das natürliche Bestreben, sie in ihrer Integrität zu bewahren. In der Wahrung dieser kulturellen Integrität des Volkes nun besteht die einzig ethisch berechtigte Form des Patriotismus. Aus diesem Satz ergibt sich eine wertvolle Folgerung: Die nationale Emanzipation von fremder Unterdrückung bedeutet die Beseitigung eines Kulturhindernisses auf dem Wege zur Menschheit. Die nationale Einheit und Freiheit ist
14 Francis Jammes: Les Robinsons basques. Paris 1925, Mercure de France. 15 Baron d' Alt: Histoire des Helvétiens. Fribourg en Suisse 1749. Vol. I, bei Gonzaque de Rynold: Contes et Légendes de la Suisse Héroïque. Lausanne 1914, Payot, p. 21 ff. 16 Fedele Cerruti: Le grandi industrie nel Biellese, im vom Club Alpino Italiano herausgegebenen Prachtwerk: Il Biellese. Milano 1898, Turati, p. 128.
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die unerläßliche Vorbedingung zu sozialer Freiheit und zu freiem Menschentum. Denn jedes Volk, das sich aus der Fremdherrschaft befreit, ist eine Quelle für Krieg und Revolution weniger. So haben wir neben den „Patriotismen" aus Profitsucht, aus Träumerei und aus Megalomanie noch den Patriotismus aus Kulturbedürfnis, dessen Grundbestreben es ist, dem eigenen Volke das Recht auf seinen eigenen Grund und Boden und auf sein eigenes Menschenmaterial zu sichern oder zu wahren. Dazu bedarf es, behufs Erreichung der nationalen Einheit, der Hilfe der Geschichte. So wurde im siebzehnten Jahrhundert die deutsche Vergangenheit idealisiert und mit sittenstarken, kräftigen Menschen, freiheitlich gesinnten Männern und Frauen belebt, rekonstruiert und als Gesundbrunnen gegen die Leiden, Enttäuschungen und Entdeutschungen der Zeit und vielleicht auch als Hoffnung auf die Zukunft verwendet. Im Jahre 1689 ließ Kaspar von Lobenstein seinen Roman Arminius erscheinen, dem Vaterlande zu Liebe, dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlicher Nachfolge. Dieser Stoff sollte von nun an noch öfters und zu ähnlichen Zwecken in der deutschen Literatur Verwendung finden und zu den Bardengesängen überleiten 17 . In den Zeiten nach der Erreichung des politischen Zieles pflegt dann diese Romantik mehr oder weniger schnell wieder zu verschwinden. Die Historienmalerei erhielt durch 1870 den Todesstoß, da Deutschland nun keine Veranlassung mehr hatte, sich über sein politisches Elend durch Vorführung von Staatsaktionen früherer Zeiten hinweg trösten zu lassen, nachdem die deutsche Kunst sich schier ein halbes Jahrhundert lang, dem Satze Möricke's folgend, daß Kunst nichts anderes als ein Versuch sei, das von der Wirklichkeit versagte zu ersetzen, in historischen Bildern sozusagen erschöpft hatte 18 . Vielleicht ist die Konservierung des Judentums als Nation doch dem Pharisäertum zu verdanken. In ihm verkörpert sich, was vom alten Ethos noch übrig geblieben war: Die Idee vom auserwählten Volke. Sie wurde nun kodifiziert in einem System starrer Normen. Aber so starr, wenig lebens- und entwicklungsfähig dieses System war, so bildete es doch den einzigen Halt des Volkes, ohne welchen dieses in dem Völkergewoge, das die Züge der Perser, Hellenen und Römer über die Mittelmeerküste brachten, doch noch vorzeitig verschwunden wäre, gleich den anderen unzähligen homo-semitischen Stämmen und Stammestrümmern, die sich auf der Länderbrücke zwischen Asien und Afrika bewegten, bis zur Unkenntlichkeit aufgesogen wären 19 . Das Pharisäertum hat zwar das Judentum in sich erstarren gemacht, aber es hat es zugleich erhalten und aus der ungeheuren ethnischen Brandung jener Tage in die moderne Zeit hinübergerettet. Das Pharisäertum ist es gewesen, das dem Judentum eben auch späterhin den Rettungsanker der Selbstachtung und der Nähe Gottes zugeworfen hat.
17 Karl Schwarber, Nationalbewußtsein und Nationalstaatsgedanken der Schweiz von 1700 bis 1789. Diss. Basel 1919, Maschinengedruckt, p. 750. 18 Richard Muther. Geschichte der Malerei. Leipzig 1909. Grethlein. Vol. III, p. 403 ff. 19 Heinrich Driesmans: Zur Biologie der jüdischen Rasse. Politisch-Anthropologische Revue. XI. Jahrg. Nr. 3 ( 1 9 1 2 ) , p. 152.
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Die beiden großen Missionsträger der vorchristlichen Zeit, nämlich die Juden, als die alleinigen Bewahrer der göttlichen Offenbarung und die Griechen, als die Träger der Kultur, werden nach Gioberti abgelöst durch Rom und Italien, das die getrennt in Juden und Griechen lebenden Keime der Kultur und der Religion in sich vereinigt. Das Primat Italiens ist die Weiterfuhrung der von Israel und der Antike begonnenen Mission. „Nella nazionalità italiana si fondano adunque gl' interessi della religione e le speranze civili e universali del mondo. L' Italia è il popolo eletto, il popolo tipico, il popolo creatore, Γ Israele dell' età moderna 20 ." In der ersten Periode dieses von Italien ausgeübten Primates, die sich von der vorchristlichen Zeit bis über das Mittelalter erstreckte, erfüllte Italien die Aufgabe, Europa zu christianisieren und wurde so zur Erweckerin und Schöpferin der europäischen Kultur. Wenn so Italien das Mittelalter hindurch in Europa in geistiger Beziehung die führende Stellung inne hatte, blieben auch in der darauffolgenden Periode des Verfalls selbst im italienischen Volke die kulturellen und religiösen Kräfte lebendig. Sein immanent aristokratischer (Elite-) Charakter machte deshalb Gioberti zufolge Italien im 19. Jahrhundert neuerlich dazu berufen, als fFzWererweckerin der schlummernden Kulturwerte in Europa auf den Plan zu treten, da es in seiner nationalen Eigenart alle Elemente vereinige, die die übrigen europäischen Nationen getrennt besitzen 21 . Den ganzen französischen Sozialismus durchzieht von Urbeginn an der feste Glaube an das Bestehen einer Heilsmission Frankreichs. Der Saintsimonismus gab sich willentlich als eine Fortsetzung und Erweiterung des Ideengehaltes der französischen Revolution. Frankreich habe der Welt die Erlösung aus dem Banne der politischen Verunrechtung gebracht, nun werde es der Welt die Erlösung von wirtschaftlicher Verunrechtung bringen. Einer der besten Jünger Saint Simons ruft aus: „France, noble France, toujours fidèle à ton caractère de peuple éminemment apôtre, prêtre, religieux, moral, va, glane encore quelque gloire par ton prosélytisme de civilisation, par la largeur de tes sympathies, par ton pressant besoin d'ordre, examine, rapproche, compare avec une incroyable ardeur toutes les théories scientifiques et toutes les théories industrielles; cherche! 22 In den Theorien Fouriers lassen sich analoge Züge feststellen. Auch er empfindet das Franzosentum als vorbildlich und missionsbegabt. 23 Fourier verteidigte seine französischen Landsleute leidenschaftlich gegen den Vorwurf der Eitelkeit. Sie seien die bescheidenste und am meisten objektiv urteilende Nation der Welt. Ihr Fehler sei der entgegengesetzte: Er liege in der Bewunderung alles Ausländischen, insbesondere alles Englischen 24 .
20 Vincenzo Gioberti·. Il gesuita moderno. Losanna 1846/47, vol. V. p. 461. 21 Vincenzo Gioberti: Del primato morale e civile degli italiani. Bruxelles 1845, parte prima, cap. I. 22 E. Barrault, Les anniversaires de juillet, in „Religion Saint-Simonienne, Recueil de prédications". Tome I. Paris, 1832, Aux Bureaux du Globe, p. 572. 23 E. Silberling, Dictionnaire de Sociologie Phalanstérienne. Guide des Oeuvres de Charles Fourier. Paris 1911, Rivière, p. 195. 24 Charles Fourier. Théorie des Quatre Mouvements et des Destinées Générales. 2. Ed. Paris 1841, Phalange. Vol. I, p. 194/5; vgl. auch Silberling, Dictionnaire, p. 193.
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Neben der politischen Rechtsmission und der sozialwirtschaftlichen Gerechtigkeitsmission sehen wir im französischen Sozialismus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts den Gedanken der internationalen Friedens- und Versöhnungsmission ausgeprägt, zumal bei Considérant in der Entwicklung seines Begriffes der Démocratie Pacifique, die Frankreich der Welt zum Geschenk machen müsse. Hier weist Considérant seinem Vaterlande etwa die Stellung einer Führerin und desinteressierten, uneigennützigen Beraterin eines künftigen Völkerbundes an 25 . Ähnlich auch der christliche Sozialist Eugène Buret 26 . Diese Tradition hat sich auch in der späteren Geschichte des französischen Sozialismus erhalten. In einem Aufruf der noch am wenigsten französisches Gepräge tragenden Parti Ouvrier Français, der französischen Marxistenpartei von 1893 (das Manifest ist unterschrieben von Jules Guesde und Paul Lafargue) wird ausführlich auf sie verwiesen. Er enthält unter anderen die Sätze: „En criant vive l'Internationale les socialistes crient vive la France du Travail, vive la mission historique du prolétariat français, und weiter: C'est la France qui, après avoir déchaîné sur le monde la révolution bourgeoise, préface indispensable de la révolution prolétarienne, a été le grand champ de bataille de la lutte de classe 27 . Die französische Mission der Völkerbeglückung, die erst aus der französischen Revolution datiert, ist am glänzendsten von Jules Michelet und Victor Hugo vertreten worden. Für Michelet ist Frankreich nicht nur eine Nation wie Deutschland und Italien, sondern zugleich auch ein Prinzip: vivre pour le salut du monde 28 . Der Sinn und das Mitleid fur alle unterdrückten Völker und die Hilfsbereitschaft ihnen gegenüber sind von französischen Schriftstellern geradezu als immanenter Bestandteil des französischen Nationalcharakters dargestellt worden 29 . In der Tat steht wenigstens eine gewisse Periode (eine Feststellung, welche freilich die These von der Immanenz entwertet) der französischen Geschichte im Dienste einer derartigen Auffassung; wenn auch nicht uneingeschränkt, denn sie kam zwar einer sehr großen Zahl von Völkern zugute (Italienern, Polen, Iren, Griechen, Serben, Dänen, Rumänen, Ungarn), anderen hingegen aber nicht (Arabern, Deutschen). Auf keinen Fall sind Mitleid und Hilfsbereitschaft monopolitische Eigenschaften des Franzosentums. So finden wir sie, wenn auch weniger intensiv, in einer Epoche der englischen Geschichte, zumal deren
25 Victor Considérant: Principes du Socialisme, Manifeste de la Démocratie au XIX e Siècle. Paris 1847, Libr. Phalanst., p. 32, p. 67. 26 Eugène Buret: De la Misère des Classes Laborieuses en France et en Angleterre. Bruxelles 1843, Wahlen, p. 690. 27 Onze ans d'Histoire Socialiste. Aux Travailleurs de France, par le Conseil National du Parti Ouvrier Français. Paris 1901, Jacques, p. 32. 28 Michelet·. Le Peuple. Genève 1846, Fallot, p. 16. 29 Jacques de Boisjoslin: Les peuples de la France. Ethnographie nationale. Paris 1878, Didier, p. 240; Emile Ollivier. L'Empire Libéral. Paris 1895. Vol. I, p. 162 ff„ vol. Ill, p. 99; Lavisse: La Politique Européenne, 1. c., Revue Politique, p. 547; Edouard Driault: Les Traditions Politiques de la France et les conditions de la Paix. Paris 1916, Alean, p. 226.
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unteren Klassen wieder30. Zumal aber in Italien haben diese Eigenschaften ihre theoretische und praktische Perfektion gefunden, erstere im Staatsrecht der Stanislao Mancini und Terenzio Mamiani, letzterer im Garibaldinismus. Cimbali glaubt sogar, daß es eine Mission Italiens sein müsse, diesen Prinzipien internationale Geltung zu verschaffen. Italien müsse auf jeden, auch kolonialen Ländererwerb verzichten, dafür aber zur Befreiung jedes unterdrückten Volksstammes bei Gelegenheit die Waffen ergreifen. Er verkenne nicht, daß eine solche Politik zunächst auf Schwierigkeiten stoße, indes eine Nation müsse den Anfang damit machen und das Eis brechen. Dann werde auch in den anderen Völkern das Gewissen erwachen und sie veranlassen, in Anerkennung der Heiligkeit des Rechtes jeden Volkes oder Volksteiles auf seinen eigenen Bestand, kurz auf sein eigenes „Vaterland", sich von den alten Unterdrückungsmethoden lossagen31. Es erhellt aus diesen Ideen, daß Cimbali ein energischer Gegner des sozialistischen Antimilitarismus und insbesondere der Hervé'schen Agitation des Militärstreiks im Kriegsfalle ist, denn da jede Nation auf ihre Unabhängigkeit eifersüchtig bedacht sein muß, ist es auch nötig, daß sie in Waffen stehe. Die Nation überdies, welche das Befreiungswerk der unterjochten Völker zu übernehmen habe, könne sogar militärisch gar nicht stark genug sein. Der Gedanke der Erfüllung einer Mission verleiht den ihn hegenden Völkern Lebenskraft und Daseinsberechtigung. Denn noch niemals hat das Dasein allein den Völkern genügt. In dem unaufhörlichen Kampfe aller gegen alle sind die Völker erst da, wenn sie sich ihr Dasein aus ihren Sonderheiten und Unterscheidungsmerkmalen so ableiten, daß diese entweder als komparative Werturteile erscheinen oder sich aber als Monopolwerte aufstellen lassen. Somit wird also entweder das qualifizierte Bessersein oder das exklusive Alleinsein bestimmter Eigenschaften zur völkischen Basis. Aus diesen Beständen erwächst die Mission, als überragende Beziehung und Zweckerfullung eines Volkes innerhalb des Gesamtlebens der Völker. Daher enthält das Aufstellen einer Mission stets letztendlich die Annahme einer Völkerganzheit, einer Übervölklichkeit, worin sie sich vollzieht, zum Nutzen aller. Da die Mission aber einzelvölkischen Ursprungs ist und ihrem Wesen nach keiner Anerkennung bedarf, so birgt ihre Durchführung die Gefahr von Auseinandersetzungen aller Art, bis zu Krieg und Zerstörung. Was das missionsbesitzende Volk nicht anficht. Denn die Erfüllung einer Mission berechtigt die Missionäre in ihrer Gesinnung zur Auswahl der dazu tauglichen Mittel. Mission hat stets aggressiven Charakter. Moderne Denker der nationalistischen Schule erblicken die Nation als Mythus32. Es gibt indes keinen nationalen Mythus ohne Aufgabenstellung und Zielrichtung. Daher
30 EdwardLytton Bulwer: England and the English. Paris 1836, Baudry, p. 65. 31 Eduardo Cimbali: Tra Γ antipatriotismo di Hervé ed il patriotismo degli antihervéisti. Roma 1908, Lux, 82 pp. 32 Ζ. Β. Enrico Corradini: Diario postbellico. Roma 1924; E. D. Adams: The Power of Ideals in American History. New Haven 1913. Yale-Univ. Press. 159 pp; über den Messianismus des Russentums Thomas Garrigne Masaryt. Rußland und Europa. Soziolog. Skizzen zur russischen Geschichte und Religionsphilosophie. Jena 1913, Dietrichs. (Engl. Ausg. London 1919, Allen and
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hat man sagen können, daß von den Ideen, die sich in einem Volke bilden, die allerwichtigste die von der historischen Aufgabe sei, zu der es bestimmt ist33. Der Missionsgedanke in dieser Form ist hegelisch. Denn Hegel erblickt als Voraussetzung zum Volksbegriff das Vorhandensein einer in ihm wirksamen notwendigen Idee. Schon der italienische Rechtsgelehrte und Nationalökonom Gian Domenico Romagnosi, sein Zeitgenosse, hat ihm darauf erwidert, daß es unter dem Gesichtswinkel der Existenz keinen Unterschied gebe zwischen den Buschmännern in Südafrika und den Kulturnationen. Die „notwendige Idee" ist nur die von dem Leben und Tod ihrer Individuen. Wolle Hegel etwa behaupten, daß die gedanklichen Charakteristiken der Völker im Laufe der Geschichte keinem Wechsel unterliegen? Diese historische Erkenntnis aber zugegeben, wird der Notwendigkeitsbegriff der Idee hinfällig. Aber auch der Zeitbegriff ist ohnmächtig. Denn die Annahme von der Notwendigkeit der Idee, quia Expansionsfähigkeit, wäre gleich der Annahme, daß ein Fluß aufhöre Fluß zu sein, sobald er der „Notwendigkeit" seines Über-die-Ufer-Tretens nicht mehr unterliege 34 . Deshalb werden auch Aussprüche wie folgender völlig verständlich: Den nach den „tausend in Europa verlebten Jahren glücklich zum Verkaufen von Mausefallen, Reibeisen und Sieben reif gewordenen Slowenen" und den „engbehosten Hunnenkindern an der Theiß", die Lagarde für eine Entdeckung der preußischen Politik ansieht, komme nur stummes Schweigen zu; sie hätten germanisiert werden sollen. Höchstens seien diesen Nationalitäten hier und da einige Gebiete, etwa nach Art der Indianerreservationen, zuzugestehen. Dabei glaubte Lagarde auch noch, wie Herkner richtig bemerkt, im Namen ethischer Prinzipien zu sprechen 35 . Dagegen ist der Gedanke des Rechtes der Kulturvölker auf Niederhaltung der nicht als solche betrachteten Völkern (was stets als ein verdächtiges Werturteil angesehen werden muß) keineswegs Monopol des deutschen Liberalismus. In der Neuen Rheinischen Zeitung, dem Blatte Marxens und Engels', das 1848/49 in Köln erschien, traten diese Sozialisten für die Rückeroberung Schleswigs durch die Deutschen ein: „Mit dem Recht der Zivilisation gegen die Barbarei, des Fortschritts gegen die Stabilität". Selbst wenn die Verträge fur Dänemark wären, was noch sehr zweifelhaft sei, gelte dieses Recht mehr denn alle Verträge, weil es das Recht der geschichtlichen Entwicklung sei 36 . Bekanntlich stand auch Lassalle einer derartigen Auffassung nahe. Jedoch ist sie auch kein Monopol etwa des deutschen Kulturkreises. Zumal in den Beziehungen der europäischen Völker zu Afrika und Asien stellt sich diese Auffassung vielmehr als ein leicht belegbares Gemeingut der Gruppenmoral dar.
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Unwin, Vol, I, p. 237 ff., 458 ff.; Vol. II, p. 225 ff.); Vgl. auch die Kritik der russischen Missionsgedanken Soloviews, im Risorgimento. I, 4 - 5 (1912) p. 268 ff. Johannes Plenge: Drei Jahre Weltrevolution, in Schmollers Jahrbuch. 42. Jahrg., Heft 3, p. 303. Gian Domenico Romagnosi: Saggi Politici e Filosofici. Milano. Sonzogno. p. 87. Heinrich Herkner. Deutschland und Deutsch-Österreich. Leipzig 1919. Hirzel, p. 40. Gesammelte Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels 1841-1850, herausgeg. von Franz Mehring. 2. Aufl., Stuttgart 1913, Dietz, Vol. III, p. 189.
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Prolegomena zur Analyse des nationalen Elitegedankens
Während des Tripoliskrieges haben italienische Sozialisten erklärt, es werde ihnen nie einfallen, französische, englische und österreichische Bürger (die Trientiner, Corsen, Malteser usw.) zu Untertanen ihres Königs zu machen, dagegen hielten sie es für ihre Pflicht, die in der Barbarei schmachtenden Araber, wenn es sein müsse, auch wider ihren Willen, dem italienischen Kulturstaat zuzuführen 37 . Der Kulturpatriotismus nimmt dabei auch staatsrechtliche Spielart an: Konstituierte Völker sollen unantastbar, nicht konstituierte dagegen vogelfrei sein 38 . Da erübrigt sich zu sagen, daß das Kulturelement im Sozialismus, so verstanden, seine Bekenner zur Negation des Nationalitätenprinzips fuhrt. Die Nationalisten leugnen, mehr oder weniger entschieden, daß man die nationalen Werte von den kulturellen Werten scheiden könne 39 . Für sie ist eben Kultur ausschließlich national bestimmt. Diese Annahme erleichtert natürlich die vorzunehmende äußere Politik um alle störenden ethischen Hemmungen, und ergibt von vornherein eine „klare Position".
*
Die Deutschen Klassiker waren ganz in der Stimmung, daß „am Deutschen Wesen" noch „die ganze Welt genesen" sollte. Die sittliche und intellektuelle Überlegenheit über alle übrigen Völker gebühre den Deutschen. Das war auch der tiefste Sinn der 1807/08 gehaltenen Reden Fichtes an die Deutsche Nation. Dabei schaltete Fichte freilich die Rassenfrage von vornherein aus, indem er zugab, daß die Deutschen ebenso wenig reine Germanen seien, als die übrigen Völker germanischer Abkunft, zu denen er auch die Franzosen rechnete. Die sittliche Überlegenheit der Deutschen erhelle aber vor allem daraus, daß sie ihrer Sprache treu geblieben seien, während die Franzosen dieselbe verloren hätten 40 . Hier erscheint also die Sprache als Element der Suprematie. Die meisten Deutschen waren doch vom „Weltgefuhl" beherrscht. Nach 1814/15 rühmten sich die Deutschen, nicht nur sich selbst, sondern die Welt von Napoleon befreit zu haben 41 . Die Deutschen zogen 1914 mit dem ganzen Pathos derer zu Felde, die sich bewußt waren, eine Sendung zu erfüllen, die Mission, der Welt „die Deutsche Ordnung" 42 oder auch (wie es in euphemistischer Terminologie ausgedrückt wurde) die „fuhrende Mit-
37 Guido Podrecca: Libia. Impressioni e Polemiche. Roma 1912, Podrecca ed, p. 41. 38 Idem, p. 12. 39 Ζ. Β. V. Wìessner. Einführung in die Deutsch-Österreichische Politik. Dresden-Leipzig 1910, Linke, p. 39. 40 Joh. Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. Leipzig, Reclam, p. 54 ff. 41 Wilhelm von Giesebrecht: Deutsche Reden. Leipzig 1871. Duncker, p. 87. 42 Leopold Ziegler: Der deutsche Mensch. Berlin 1915, Fischer, p. 48.
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Wirkung in der Verwaltung Europas" 43 zu bringen. Damit erfüllten sie gleichzeitig den „Sinn der Zeit". Denn diese erforderte die Lösung der der Nation gestellten Aufgaben 4 4 . Ein Wort zum demokratischen Messianismus im Weltkrieg. Die Deutschen hatten die feste Überzeugung, gegen Rußland im Namen der Demokratie und der westeuropäischen Kultur zu kämpfen. Zu Unrecht. Die Franzosen und Engländer hatten die gleiche Überzeugung, der Demokratie zu dienen, wenn sie gegen Deutschland zu Felde zogen. Sie hatten ebenso Unrecht. Die Demokratie stand fast völlig außerhalb des Krieges. Der Ausbruch des Krieges knüpfte an höhere Probleme an, als es die Zeitfragen innerpolitischer Regimes waren, nämlich an das der nationalen Freiheit und Selbsterhaltung. Nach Beendigung des Weltkrieges trat der deutsche Messianismus in die bescheidenere Phase eines zwar immer noch stark dynamischen, aber doch mehr internationalkoordinierenden Universalismus 45 . Die größte Spannweite erhielt der nationale Elitegedanken in der englischen Literatur. Der imperialistische Gedanke wurde zuerst 1867 in den bekannten „Problems of Greater Britain" von Charles W. Dilke in dieser Weise entwickelt: Das Recht auf Expansion entsteht aus den Tüchtigkeitsbeständen eines Volkes. Vom darwinistischen Standpunkt aus hat der (britische) Imperialismus einen Verteidiger in Pearson gefunden 4 6 . Ethisch verbrämt, fast in Gestalt eines Pflichtgedankens, erscheint die britische Expan-
43 „Wir sind nicht nur endlich vom Kriege überfallen worden, sondern seit wir, allerdings so kläglich spät unter den modernen Nationen, unser eigenes Reich endlich gezimmert hatten, hat man unter Heuchelei und Hinterlist die Vernichtung unseres Staates geplant, und unsere fuhrende Mitwirkung in der Verwaltung Europas hintertrieben. Führend muß unsere Mitwirkung bleiben, wenn anders dem Geiste und einer universellen Geistesart die politische Führung im ethischen Sinne der Weltgeschichte zukommt". (Hermann Cohen: Über das Eigentümliche des deutschen Geistes. Berlin 1915, Reuther und Reichard, p. 45.) 44 „Ja, die Weltgeschichte hat einen Sinn, es mag kühn erscheinen, gerade in diesen Monaten dies zu behaupten; in diesen Monaten, da Tausende angesichts dieses Weltkrieges ihren Glauben an den Sinn der Geschichte verloren haben. Aber eben darum muß es mit verstärkter Kraft verkündet werden: die Weltgeschichte hat einen Sinn. Und dieser Sinn machte diesen Krieg notwendig. Der Antagonismus zwischen dem militaristischen und dem antimilitaristischen Geist mußte einmal endgültig entschieden werden, und da unser gegenwärtiges Kultursystem nun einmal so aufgebaut ist, daß alle großen Kämpfe ihr letzte Entscheidung durch Kriege erhalten, war dieser Krieg notwendig, die Kulturmenschheit neu zu ordnen, an die Stelle des bisher herrschenden gesellschaftlichen Systems ein neues zu setzen. 45 In diesem Sinne nun schrieb Paul Natorp den „deutschen Weltberuf'. (Jena Diederichs). Die vier großen Eckpfeiler der Vergangenheit sind ihm Meister Ekkehart, Luther, Kant und Goethe. Auf den ersten ist die Selbstentdeckung der deutschen Seele zurückzufuhren. Luther entwickelte sie zur religiösen Tat, durch Kant kommt sie zur inneren Klarheit und durch Goethe landet sie in der Universalität. Erhöhung des Menschengeistes ist die deutsche Aufgabe, und darum versteht der Deutsche das „Erkenne dich" im Sinne der Griechen: „Sei dir deiner Grenze bewußt, dann erst kommst du zu echter Gemeinschaft, zu echtem Menschentum, das nicht mit der Anbetung des Erfolges und der Macht zusammenfällt." Natorp formuliert als deutsche Aufgabe, den Wirtschaftsstaat über den Rechtsstaat hinaus zum Erziehungsstaat und damit zur Menschengemeinschaft zu entwickeln. 46 Charles H. Pearson: National Life from the Standpoint of Science. London 1901. Black.
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sion im Rudyard Kiplings Dichterwort vom „white man's burden". Hier beruht der Begriff der Elite auf dem der Aristokratie im Sinne einer Auswahl der Besten. Ein politisches Beispiel der gleichen Auffassung besitzen wir im Ausspruch eines englischen Ministers, Lord Rosebery: „The British Empire ist the greatest sewlar agency for good the world had even seen 47 . Dieser Ausspruch impliziert ganz klar den Gedanken vom Vorhandensein einer britischen Heilsmission. Die Mission erfordert kollektive Träger, braucht aber als Ziel und Lebensinhalt nicht kollektiv zu sein. Daher sehen wir in der Geschichte große Nationen mit Vehemenz den Individualismus preisen und als ihre Wesenheit darstellen 48 .
III. Die Kultur-Elite der nationalen Intelligenz Der Elitencharakter einiger Nationen mußte sich indes innerhalb derselben differenzieren. Das hing einmal ursächlich mit dem Geltungsbedürfnis der Klassen zusammen, ergab sich aber andererseits auch als Erkenntnis aus den Erfahrungen des politischen und kulturellen Lebens. So kam man schon ziemlich frühzeitig zur Erkenntnis, daß der Elitencharakter entweder nicht der ganzen Nation, sondern nur einem Ausschnitt derselben zukomme, oder aber daß er zwar der ganzen Nation zustehe, sich aber in ihren führenden Gruppen sozusagen zu einem Eliten-Superlativ verdichte. Diese Zusammenhänge konnten klaren Köpfen selbst in der Hochflut der französischen Revolutionsepoche nicht entgehen. Schon zu Beginn derselben bemerkt Georg Forster, reine Vaterlandsliebe vermöge überall nur das Eigentum einer geringen Anzahl von Auserwählten zu sein. Forster erfaßt den parteiischen Charakter seiner Zeit, indem er hinzufugt, daß gerade in Epochen wie dieser, wo auf der einen Seite „blinde Anhänglichkeit an altes Herkommen" und auf der anderen „tiefe Sittenverderbnis und vermessene Neuerungssucht" herrschten, die echte Vaterlandsliebe dem Aussterben nahe sei 49 . Vom moralischen Kulturbegriff zum intellektualischen war der Schritt durch die reine Empirie gegeben. Denn von Ausnahmen abgesehen war es klar, daß der opferbringende Patriot diese Opfer eben ob seines Verwachsenseins mit den Kulturgütermassen der Nation zu bringen willens und im Stande war. Dennoch ist das Unterfangen, die Zugehörigkeit zur Nation an der
47 Nach Gerhard von Schulze-Gaevernitz: Britischer Imperialismus. Leipzig 1906, Duncker, p. 438. 48 Theodor Lindner: Der Individualismus in der deutschen Geschichte. In Walhalla, Bd. III, München 1907; Angel Ganivef. L'individualisme Espagnol in der Renaissance Latine, IV (1905) p. 98. Der spanische Schriftseiler Navarro y Ledesma soll gesagt haben, die spanische Sprache sei wie die capa, der spanische Mantel, den zu tragen persönliche Grazie erfordere, während die französische Sprache einem Überzieher gleiche, den jeder anziehen könne. Andererseits Thiers (Consulat et Empire. Paris 1849, Paulin, vol. VIII, p. 481), welcher auf das weit sozialere und höflichere Wesen des spanischen Bauern im Vergleich mit dem isolierten individualistischen Verhalten der Bauern in Frankreich, Belgien, England und der Lombardei hinweist. 49 Georg Förster. Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern etc. 1790, Leipzig 1842, Brockhaus, p. 168.
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Teilnahme des Einzelnen an ihren Kulturgütern bemessen zu wollen, aber eine Verringerung des Begriffes der Nation selbst. Als unumgängliche Vorbedingung der Zugehörigkeit wäre das Besitztum an nationaler Kultur einer Guillotine vergleichbar, welche der Nation die Mehrzahl ihrer Köpfe abschneidet. In diesem Lichte besehen, ist Kulturpatriotismus Verintellektualisierung. Der Patriotismus wird damit zugleich auch überwiegend ideologisch. Sein kultureller Inhalt sowohl als seine sprachliche Verfeinerung und das schulmäßige, pädagogische Element in ihm, charakterisieren ihn als solchen. Aber immerhin verbleibt ihm auch dann noch ein fester Bestand unideologischer Elemente. Es ist nicht zutreffend zu behaupten, die Ideologien des Völkerhasses wären nicht vorhanden, wenn es nur Proletarier gäbe 50 . Auch dann nicht, wenn man etwa das abziehen könnte, was die Bourgeoisie den Söhnen des Proletariats in der Schule beibringen läßt. Kultur ist indes nicht nur statistisch faßbar, etwa im Sinne der „Bildungsstatistik", sondern vermag Rechtsanspruch auf die Zukunft, dynamisches Element zu sein. Elite kann auch aus Traditionen heraus sich erhalten. Die alte Aristokratie hat sich häufig ein derartiges dynamisches Elite-Bewußtsein bewahrt. Nach der Niederlage von Caporetto sammelten italienische Reiteroberste ihr feudales Offizierkorps und hielten an sie Anreden des Sinnes, das untere Volk habe Italien um seine Waffenehre betrogen; nun sei es an den Signori, die Ehre des Landes wieder herzustellen 51 . Die Intellektuellen wurden während des Weltkrieges, zumal dessen erster Periode, in ihrem Glauben an das Zurechtbestehen ihres Elitenpatriotismus durch die Verlustlisten bestärkt, welche die UnVerhältnismäßigkeit ihrer patriotischen Blutopfer in das richtige Licht setzten 52 . Die Frage nach dem Recht auf die Nation muß hier noch offen gelassen werden. Es ist klar, daß obiges Recht vielleicht schlechterdings nur ein ius primi (oder auch ultimi) ocupantis ist.
50 Wie das z. B. Leopold von Wiese (Allgemeine Soziologie als Lehre der Beziehungen. München 1924, Duncker p. 139) behauptet. 51 Hugh Dalton: With British Guns in Italy. A Tribute to Italian Achievement. London 1919, Methuen, p. 123. 52 Wir fuhren nur ein deutsches Beispiel an: Was die Verlustlisten erzählen. Summe der Verlustlisten 1-21 einschließlich. Tot: Vermißt: Schwerverw.: Leichtverw.: Zusammen: Offiziere 234 39 330 181 784 Mannschaften 2 7 8 7 3475 806J 406] 18384 Zusammen 3021 3514 8391 4 242 19168 Ganz auffallend ist der überaus große Prozentsatz bei den toten Offizieren im Vergleich zur Zahl der getöteten Mannschaften; ebenso auffallend ist die niedrige Zahl der vermißten Offiziere im Vergleich zu der der Mannschaften". (Tägl. Rundschau, Unabh. Zeitung für nationale Politik usw., Wochenausgabe für Ausland und Übersee (Herausgeber Heinrich Rippler, Berlin), 34. Jahrgang, Nr. 38, 16. Sept. 1914, p. 5.) (N. Goldmann: Der Geist des Militarismus. Der Deutsche Krieg. Heft 52. Stuttgart-Berlin 1915, Deutsche Verlagsanstalt, p. 37.)
Personenverzeichnis
Aberdeen, Lord 342 Acher, Mathias 278 f. Albrecht, Gerhard 249 Alembert, Jean-Baptiste le Rond d' 90 Ambrosoli, Francesco 78 Amicis, Edmondo de 77, 86, 92, 314 Ammon, Otto 250,255 Andersen, Hans Christian 313 Anna von Rußland, Zarin 219 Annunzio, Gabriele d' 77 Anseele, Edouard 137,172 Archenholtz, Hauptmann von 268, 332, 344 Arco, Antonio d' 79 f. Ame, Thomas Augustine 332, 347 August II. 91,319 Austria, Don Juan de 219 Avenel, Vicomte Georges d' 228, 261,271 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 15, 136, 141,205, 267 f. Balzac, Honoré de 115 Barrés, Maurice 270 Barth, Theodor 195 Bayle, Pierre 90 Bebel, August 49, 55 f., 87, 89, 118, 140, 148150, 152 f., 155, 158, 161, 165 f., 168, 175-177, 181-184, 189, 193, 195 f., 205, 306 Becker, Johann Philipp 136,159 Beifort Bax, Ernest 19 Benda, Julien 25 Bernstein, Eduard 19, 89, 142, 146, 149, 153, 158, 178, 185, 189, 207, 257, 279 Bernheim, Ernst 91 Berth, Edouard 118
Bertillon, Alphonse 263 Bertillon, Jacques 264 Bismarck, Otto von 91, 106, 137, 159-161, 177, 291,306 Bissolati, Leonida 84,186 Bistolfi, Leonardo 41 Bizet, Georges 279 Blanc, Louis 7 3 , 9 2 , 3 4 8 Blanqui, Adolphe Jerome 92, 136, 141, 164, 184, 209 Blondel, Georges 130 Börne, Ludwig 279 Bolingbroke, Lord John 333 Bonomi, Ivanoe 79, 80 f., 83, 85-87, 96, 186, 188 f., 194 Bossi, F. M. 186 Bossuet, Ludwig 232 Botero, Giovanni 244, 337 Bouillé, Francois Claude de 336 Boulainvilliers, Comte de 350 Bourbon, Connétable de 219 Bourdieu, Pierre 34 Bracke, Wilhelm 164 Braun, Lily 17,115,195 Bücher, Karl 251 Bülow, Bernhard v. 173, 178 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 90 Bulwer, Edward Lytton 257, 314, 340 f., 344 f., 347, 356 Bulwer, Henry Lytton 341 Bunsen, Christian Karl Josias von 342 Buret, Eugène 355 Calboli, Raniero Paulucci di 42 Calvi, Giusto 186,196
364 Calwer, Richard 171 Cantilena, Α. 187 Cassan, Jacques de 349 Cassola, Garzia 186 Cauer, Minna 17 Cecil, Algernon 334 Cerniti, Fedele 352 Chamberlain, Houston Stewart 320 f. Chamisso, Adelbert von 319 Châteauneuf, Marquis Bénoiston de 217 Chlodwig I. 349 Child, Josiah 337 f. Christine, Königin-Regentin 92 Choisy, Abbé de 224,269 Churchill, Winston Leonard Spencer 222 Ciccotti, Ettore 109, 187, 237 Ciccotti, Francesco 108 Cimbali 356 Clémenceau, Georges 173,247 Clemens XIV. 343 Clerici, Enrichetta 99 Cobbett, William 345 Cohen, Hermann 223, 294, 359 Colajanni, Napoleone 7 6 , 1 0 7 , 1 7 5 , 220 Colbert, Jean Baptiste 255 Coletti, Francesco 79 Comte, Auguste 232 Comynes, Philippe de 336 Cornelissen, Christiaan 141 Corradini, Corrado 77 Corradini, Enrico 34, 356 Costa, Andrea 73, 86 Croce, Benedetto 186, 260 Dante Alighieri 12 Daszynski, Ignacy 147 David, Eduard 171 Dawson, William Harbutt 130 Defoe, Daniel 347 Degreef, Guillaume 232 Denham, John 338 Depretis, Agostino 73 f., 236 Descamps, Paul 265 Descartes, René 43, 90 Deschanel, Paul 183, f. Destrée, Jules 173, 194
Personenverzeichnis Deutsch, Alfred 117 Dietzgen, Joseph 136 Diderot, Denis 90 Disraeli, Benjamin 347 Dómela Nieuwenhuis, Ferdinand 41, 136 f., 139, 141, 152, 162 f., 191 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 314 Drago, Silvio 186 Driesmans, Heinrich 353 Dilke, Charles W. 359 Duclerc, E. 247,259 Dumont, Arsène 271 Dunois, Jean de 219 Edmonds, T. R. 257 Ehrenfels, Christian von 115 Einaudi, Luigi 1 3 , 2 0 , 2 6 Einaudi, Mario 13 Eisner, Kurt 104, 173, 294 Emmanuel, Victor 303 Enfantin, Prosper 256 Engels, Friedrich 135-139, 141 f., 147 f., 155, 240, 262, 357 Fahlbeck, Ρ. E. 215 f. Farneti, Paolo 3 8 , 4 7 Faucci, Riccardo 20 Fénélon, Francois 90 Ferraris, Pino 35 Ferrerò, Guglielmo 75, 77, 140, 278 Ferretti, Ing. A. 79 Ferri, Enrico 39, 41 f., 75, 77, 86 f., 92, 141, 146, 150, 187, 189 f., 205, 265, 329 Feuquières, Marquis de 217 Fichte, Johann Gottlieb 358 Filangieri, Duca Gaetano 258 Fischer, Richard 150 Foà, Pio 41 Fogazzaro, Antonio 77 Fontane, Theodor 345 Forster, Georg 360 Fourier, Charles 354 France, Anatole 167 Franchetti, Alberto 85, 107, 279 Frank, Ludwig 146 f. Fratta, P. di 82
365
Personenverzeichnis Fried, Α. H. 301 Friedrich, Kaiser 106 Friedrich II. 241 Fritzsche, Curt 342 Frohme, Karl Franz Egon Furiozzi, Gian Bagio 35
105 f.
Galantara, Gabriele 163,186 Galli, Henri 184,314,344 Gallino, Maria 12 Ganganelli, Lorenzo 343 Garibaldi, Giuseppe 92, 108, 267, 303, 307, 319, 348, 356 Garofalo, Raffaele 82, 86, 127 Garve, Christian 262 Gazoletti, Antonio 306 Gérault-Richard 182 Gerlach, Helmuth von 306 Ghio, P. 84 Gide, Charles 231, 241, 246 f., 257 Giesebrecht, Wilhelm von 358 Gini, Corrado 271 Gioberti, Vincenzo 354 Gioia, Melchiorre 335 f. Giolitti, Giovanni 74,236 Gnocchi, S. Osvaldo 144 Gobineau, Arthur de 263 Goblot, Edmond 273 Godwin, William 342 Goethe, Johann Wolfgang von 90 f., 297, 359 Goetz, Ferdinand 160 Goliardo 108 Grabowsky, Adolf 271 Graf, Arturo 77 Graziadei, Antonio 186 f. Graziadei, Graf 187 Griffiielhes, Victor 172,173 Groh, Dieter 49 Guastalla, Lincoln 81 Guasco, Francesco 225, 226-228 Guesde, Jules 139,164,355 Guillaume, James 159,161 Guizot, François 259, 350 Gumplowicz, Ladislaus 5 0 , 7 8 , 1 9 2 Gumplówicz, Ludwig 118, 263 Gustav Adolf, König 214
Haake, Paul 319 Habermas, Jürgen 35 Haenisch, Konrad 147,158 Halbwachs, Maurice 263 Hamerton, Philip Gilbert 334, 339, 341, 344, 346 Hamon, Augustin 35 Hanotaux, Gabriel 265 Hardie, Keir 138,195 Hehn, Victor 314,322 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 357 Heigel, Karl Theodor 319 Heine, Heinrich 278 f. Heine, Wolfgang 166,169 Herkner, Heinrich 357 Hervé, Gustave 167 f., 173, 177, 179, 182 f., 186, 196, 293,356 Herzen, Alexander 314 f., 344 f. Hildebrand, Gerhard 339 f Holbach, Paul Henri Thiry, Baron d' 90 Hotman, François 350 Home, R. H. 340 Huet, Conrad Busken 325 Hugo, Victor 355 Hyndman, Henry M. 172, 176 f., 320, 342, 348 Huysmans, Camille 172,194 Isabel, Reina 92 Isenplitz, Graf 223 f. Inge, William Ralph 265 Israels 279 Jacoby, Johann 193 Jaeckh, Gustav 146,149,161 James II. 337 Jammes, Francis 352 Jaurès, Jean 140 f., 145, 149 f., 152-154, 167, 171, 173-175, 179, 182 f., 188, 191 Joachim 279 Johnson, Samuel 336 f. Käsler, Dirk 30 Katharina II. 91 Kautsky, Karl 103 f., 142, 145 f., 148 f., 152, 169-171, 189 Kipling, Rudyard 360
366 Kelchner, M. 316,324 Keufer, Auguste 183 Key, Ellen 41 Keyserling, Hermann 265 Kielmannsegg, Graf 227 Kingsley, Charles 347,351 Kraffi, Rudolf 171,248 Krapotkin, Peter 144,182 Krez, Konred 324 Kurella, Hans 223 Kurz, Heinrich 319 Labriola, Antonio 140 Labriola, Arturo 18, 103, 140, 151 f., 154 f., 164, 186 f., 237, 282 Lafargue, Paul 82, 164, 355 Lagarde, Paul Anton de 357 Lagardelle, Hubert 18, 145, 150, 153, 173, 190 Lamartine, Alphonse de 316, 347 Lamprecht, Karl 322 Lange, Friedrich Albert 130 Lange, Helene 29 Lassalle, Ferdinand 73,154 f., 201, 279, 307, 357 Le Bon, Gustave 2 1 , 4 3 Lederer, Emil 29 Ledru-Rollin, Alexandre 92, 344 Leon, Daniel de 138, 150, 152 Leone, Enrico 187 Lerda-Olberg, Oda 87 Leroux, Pierre 92 Letourneau, Ch. 232 Levy, Hermann 260, 321 Liebermann, Max 279 Liebknecht, Karl 166, 176, 183, 195 Liebknecht, Wilhelm 142, 159, 161 f. Lindemann, Hugo 162 Lindner, Theodor 14, 89, 360 Linz, Juan J. 30 Lima, Magalhäes 144, 145 Liszt, Franz von 89 Livi, Rodolfo 263 Lobenstein, Kaspar von 353 Lollini, Vittorio 186 Lombroso, Cesare 41 f., 77, 279 Lombroso, Paola 75
Personenverzeichnis Longuet, Charles 159 Loopuit, Josef 179 Loria, Achille 2 0 , 4 1 f., 85, 186, 241 Ludwig IV. 13 Ludwig XIV. 106,349 Ludwig XV. 92 Luca, Francesco de 186 Luxemburg, Rosa 157 Mabilleau, L. 84 Macdonald, James Ramsay 149 Madame de Staël 315 Malandrino, Corrado 34 f., 55 Mancini, Stanislao 356 Mandeville, Bernard de 240 Manson, Mabel 343 Mantica, Giuseppe 108 Mamiani, Terenzio 356 Maria Cabrini, Mario Malfettani zu 81 Mario, Alberto 348 Marx, Karl 20, 33, 73, 92, 135 f., 138 f., 141-143, 154, 159, 161, 164, 168 f., 180, 182, 193, 234, 236-241, 258, 261 f., 279, 282,290, 300 f , 326, 329, 342, 355, 357 Mazzini, Giuseppe 73,177, 197, 268 Mazzoldi, Paolo 187 Mehring, Franz 135, 157, 161, 195, 357 Meisel-Hess, Grete 115,118 Mendelsohn, Moses 279 Mendès, Pierre 279 Merlino, Francesco Saverio 139, 141 Mérimée, Edgar 316 Mermillod, Gaspart 159 Mesnil, Jacques 118 Michaelis, Richard 249 Michelet, Jules 355 Michels, Daisy 13 Michels, Gisela 14, 22, 32 Michels, Italia 14 Michels, Manon 14 Michels, Mario 12 f., 27 Milhaud, Edgard 140 f., 150, 315 f. Mill, John Stuart 258,261 Milton, John 351 Mittleton 344 Mitzmann, Arthur 32 Möricke, Eduard 353
367
Personenverzeichnis Molkenbuhr, Hermann 78 Molinari, Gustave de 254 Monicelli, Tomaso 174 Monod, Gabriel 336 Montemartini, Giovanni 79-81 Montesquieu, Charles de Secondât 43, 90, 314, 336, 339 f., 350 Morgan, Oddino 150 Moritz von Sachsen, Marschall 219 Mosca, Gaetano 19-21, 26, 42, 270 Most, John 138 Muehlon, Wilhelm 19 Musolino, Giuseppe 74 Mussolini, Benito 11 f., 24, 27-29,56 Muther, Richard 353 Napoleon I. 272 Napoleon III. 160 f., 243 Natorp, Paul 359 Negri, Ada 77 Nemours, P. G Dupont de 338, 346 Niceforo, Alfredo 21, 39, 41, 107, 263, 264 Nicolaus II. 151 Nietzsche, Friedrich 89 Nieuwenhuis, Ferdinand Dómela 41 Nordau, Max 41, 58, 277 f. Noske, Gustav 195 Novara, A. S. 187 Nucci, Loreto di 27, 30 Ocampo, Florian de 351 Oggero, Giuseppe 87 Ojetti, Ugo 186 Olberg, Oda 16 Oloriz 263 Orano, Paolo 187 Orléans, Philipp von 92, 219 Paepe, César de 159 Palmerston, Lord 337, 342 Pannekoek, Anton 150, 179 Pantaleoni, Maffeo 241,253 Papa, Dario 197 Pareto, Vilfredo 52 f., 77, 214, 230-244, 270 f., 363 Pearson, Charles H. 343, 359 Pecchio, Graf Giuseppe 234 f., 268, 345
Peters, Carl 327 Petersen, Jens 30 Pether, Henry E. 343 Pfetsch, Frank R. 34 Piva, Vittorio 174,186 Plechanow, Georgi Walentinowitsch 163 Podrecca, Guido 118,358 Pogliano, Claudio 32 Pohl, Otto 167 Pompadour 219 Prato, Giuseppe 317 Presles, Raoul de 349 Prévost, Marcel 116 Price, Richard 334 f. Proudhon, Pierre Joseph 92, 119, 141, 305 Pufendorf, Samuel von 350 Quarck, Max 148 f. Quesnay, Francois 246 f. Raspali, Jean 92 Rau, Karl Heinrich 266 Rayneri, C. 84 Reina, Ettore 84 Richelieu, Amand-Jean du Plessis, Kardinal 304, 349 Richter, Eugen 76 Rickert, Heinrich 76 Riesman, David 60 Rigola, Rinaldo 108,186 Rochefort, Henri 160,184 Röhrich, Wilfried 34 Romagnosi, Gian Domenico 357 Roels, Edgar 147 Romei, Romeo 83 Rosebery, Lord 360 Rousseau, Jean-Jacques 43, 90, 202 Rubinstein, Arthur 279 Ruskin, John 342 Russell, Bertrand 139,175 Russell, John 337 Saint-Simon, Claude Henri de 256, 258 Sand, Georges 92 Saussure, César de 344 Savonarola, Girolamo 91 f. Savoyen, Eugen von 219
368 Say, Jean Baptiste 256, 258 f., 338, 344 f. Schiavi, Alessandro 86 Schmoller, Gustav 241, 251 f. Schnitzler, Anna 12 Schott, Sigmund 217-219 Schwarber, Karl 353 Séailles, Gabriel 167 Sembat, Marcel 138 Shakespeare, William 335 Shaw, Bernhard 138, 151, 191, 194 f. Shelley, Percy 348 Siéyès, Emmanuel Joseph, Abbé 350 Smith, Adam 2 5 6 , 2 5 9 , 3 3 7 Smith, Thomas 260 Sombart, Werner 130, 142 f., 150, 192, 220, 248, 250, 281, 325 f., 337 Sonnino, Baron Sidney 107 Sorel, Georges 18, 238 f. Spedalieri, Nicola 245 Spencer, Herbert 232, 235 Spinoza, Baruch 90,279 Squillace, Fausto 127 Stegmann, Carl 162 Steiner, Thomas 30 Stemberger, Dolf 33 Stewart, James 342 Stöcker, Helene 17 Suttner, Bertha von 75 Taine, H. 316 Tak, P. L. 191 Tiefenbach, Paul 31 Thierry, Augustin 255, 259, 263 Thiers, Adolphe 184, 304, 305, 360 Thomson, James 332 Thwaite, B. H. 130 Tolain, Henri 159 Treitschke, Heinrich v. 58 Torresin, Augusto 74, 87
Personenverzeichnis Treves, Claudio 140,174 Trevor, Huntley 343 Troelstra, P. J. 151 Trosne, Guillaume le 246 Tuccari, Francesco, 14, 26, 34 f. Turati, Filippo 74, 78, 82, 87, 103, 140, 154 f., 174, 188, 237, 352 Turgot, Anne Robert Jacques 246 Vaillant, Edouard 138 f., 151, 162, 164 f., 174, 183, 195 Vaissière, Marquis de 267 Valois, Georges 262, 336 Vandervelde, Emile 138, 147, 150 f., 157, 172 f. Vascello, Luigi Medici del 226 Veblen, Thorstein 273 Vezzani, Carlo 7 9 - 8 1 , 8 3 , 8 5 - 8 7 , 9 6 Vierkandt, Alfred 22,318 Villari, Pasquale 86,107 Villermé, Louis René 264 Viviani, René 181 f. Voltaire 43 Waldemar II. 352 Walras, Léon 231 Weber, Alfred 50 Weber, Max 15, 23, 35, 42, 49 f., 249, 267 Wells, H. G. 176 Wiese, Leopold v. 29 Wilhelm II. 89, 174, 186, 193, 242, 286 Wirth, Max 317 Worms, Réné 14 Yvetot, Georges
172
Zetkin, Clara 17 Zévaès, Alexandre 182 Zibordi, Giovanni 186 Ziegler, Leopold 358
Quellenverzeichnis
I. Soziale Bewegungen Der Sozialismus in Italien, in: Das Freie Wort, 1. Jg., Nr. 16, 20. November 1901, S. 492-498. Der italienische Sozialismus auf dem Lande, in: Das Freie Wort, Nr. 2, II. Jg., 1902, 12 Seiten. Begriff und Aufgabe der „Masse", in: Das Freie Wort, II. Jg., Nr. 13, 1902, 6 Seiten. Ein italienisches Landarbeiterinnen-Programm, in: Dokumente der Frauen, Bd. VII, Nr. 6, 15. Juni 1902, S. 159-166. Frauenstimmrecht - schon heute eine Notwendigkeit, in: Die Frauenbewegung, 8. Jg., Nr. 23, 1.12.1902, S. 1-2. Monarchie oder Republik?, in: Volksstimme, 15. Jg., Nr. 213, 10.9.1904, S. 1-2. Landleute, Kinder und Frauen in Süditalien, in: Neues Frauenleben, Nr. 6, Juni 1905, S. 9-11 [.Entstehen der sozialen Frage], Titel vom Herausgeber für Abschnitt aus: Michels, Grenzen der Geschlechtsmoral, München/Leipzig 1911, IV. Teil: Eheliche Grenzprobleme, 1. Kapitel: Äußerliche Unterwerfungsmerkmale der Frau in der Ehe, S. 129133. Es handelt sich dabei um eine Neubearbeitung von Michels, Entstehung der Frauenfrage als soziale Frage, in: Die Frauenbewegung, IX. Jg., 1903, Nr. 3, S. 17-18. Die Grenzen der Brautstandsmoral, a.a.O., S. 118-128.
aus: Michels, Grenzen der Geschlechtsmoral,
[Analyse einer Verlobungskarte], Titel vom Herausgeber für Abschnitt aus: Michels, Grenzen der Geschlechtsmoral, a.a.O., S. 133-145; es handelt sich um eine Neubearbeitung von Michels, Die Analyse einer Verlobungskarte (Soziales und Ethisches), in: Ethische Kultur, 11. Jg., 1903, Nr. 27, S. 210-211. Zum Problem: Solidarität und Kastenwesen, in: Michels, Probleme der Sozialphilosophie, Leipzig/Berlin 1914, S. 53-63
370
Quellenverzeichnis
II. Parteien, Eliten, Klassen Die deutsche Sozialdemokratie im Internationalen Verbände. Eine kritische Untersuchung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXV, Heft 1, 1907, S. 148-231. Der konservative Grundzug der Partei-Organisation, in: Monatsschrift für Soziologie, 1. Jg., April/Mai 1909, S. 228-236, S. 301-316, Sonderabdruck 24 S. Zum Problem der zeitlichen Widerstandsfähigkeit des Adels, aus: Michels, Probleme der Sozialphilosophie, a.a.O., S. 132-158. Vilfredo Pareto, in: Michels, Bedeutende Männer, Leipzig 1927, S. 119-139. [Klassenbildung und Kreislauf der Eliten], Titel vom Herausgeber für den Abschnitt: „Prämissen der Fragestellung", in: Michels, Umschichtungen in den herrschenden Klassen nach dem Kriege, Stuttgart/Berlin 1934, S. 1-41.
III. Nation, Nationalismus & Patriotismus Judentum und öffentliche Achtung, in: Jüdische Rundschau. Organ der zionistischen Vereinigung fur Deutschland, Jg. 8, Nr. 17, 1903, S. 151-153. Patriotismus und Ethik. Eine kritische Skizze, Leipzig 1906, 32 Seiten. Pazifismus und Nationalitätsprinzip in der Geschichte. Ein Beitrag zur Völkerpsychologie, in: Politisch-Anthropologische Revue, 8. Jg., Nr. 8, November 1909, S. 409-422. Materialien zu einer Soziologie des Fremden, in: Jahrbuch für Soziologie, Heft 1, 1925, S. 296-319. Über einige Ursachen und Wirkungen des englischen Verfassungs- und Freiheitspatriotismus, in: Ethos, Vierteljahresschrift für Soziologie, 1. Jg., 2. Heft, 1926, S. 183-201. Prolegomena zur Analyse des nationalen Elitegedankens, in: Jahrbuch für Soziologie, Bd. III, 1927, S. 184-199.