Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit: Band 2 Soziale Gruppen und Identitätspraktiken 9783110576481, 9783110578805, 9783110576658

How important are various forms of literary engagement with the past to the construction of identities? To answer this q

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German Pages 293 [298] Year 2018

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Teil 1: Vergangenheitsbilder in der Konstruktion von Gruppenidentitäten
Dynastische Identitäten durch Genealogie
Gelehrte und Geschichte
Kollektive Identitäten in spätmittelalterlichen Häresien
HAVE ROMA Identitätsentwürfe und Antikenkonzepte in Rom und Venedig
Die Dichtergruppe der Pléiade zwischen Mythos und Wirklichkeit
Teil 2: Soziale Großgruppen, ihre Identitätspraktiken und Vergangenheitsbilder
Erinnerung als Kategorie der Kunstgeschichte
Beiträge des Rechts zur Ausbildung einer ‚deutschen‘ Identität im Mittelalter und in der Frühen Neuze
Juljus Cêsar und die dûtisken lant Zum Wandel narrativer Identitätskonstruktion zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit aus Sicht der Sprach- und Literaturwissenschaft (unter besonderer Berücksichtigung von «Kaiserchronik» und «Prosakaiserchronik»)
Papstgeschichtsschreibung im Quattrocento Vom «Liber pontificalis» zu Platinas «Liber de vita Christi ac omnium pontificum»
Territorialisierung und Ethnisierung der Eidgenossenschaft in der Historiographie des 15. und 16. Jahrhunderts
Personen- und Ortsregister
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Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit: Band 2 Soziale Gruppen und Identitätspraktiken
 9783110576481, 9783110578805, 9783110576658

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Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit, Band 2

Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen

Neue Folge

Band 41/2

Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit Band 2: Soziale Gruppen und Identitätspraktiken Herausgegeben von Udo Friedrich, Ludger Grenzmann † und Frank Rexroth

AKADEMIE FORSCHUNG

Vorgestellt am 19. 01. 2018.

ISBN 978-3-11-057648-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-057880-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-057665-8 ISSN 0930-4304 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort In den Jahren 2010 bis 2013 führte die Spätmittelalter-Kommission der Göttinger Akademie einen Tagungszyklus durch, der sich der Interdependenz von Vergangenheitsentwürfen und Identitätskonstruktionen annahm. Unter ersteren waren die Praktiken und Strategien von Individuen, sozialen Gruppen und Großgruppen zu verstehen, sich einer eigenen Geschichte zu versichern; unter letzteren diejenigen, mit denen Individuen, Gruppen und Großgruppen über ihre Identität reflektierten. Am Anfang der gemeinsamen Arbeit stand dabei die Frage, welchen Beitrag ganz unterschiedliche literarische Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zur Konstruktion, Bewahrung und Modifikation personaler und gruppenbezogener Identitäten leisten. Bekanntlich ist ‚Identität‘ als heuristisches Konzept in der jüngeren Vergangenheit häufig angefochten worden. Solche Kritik war dort zweifellos berechtigt, wo ‚Identität‘ essentialistisch als eine stillgestellte Größe, als eine verlässliche Konstante in einer ansonsten wandelbaren Welt aus soziokulturellen Gebilden, betrachtet wurde. In der Tat sind soziale Gruppen, Großgruppen, Ethnien und religiöse Gemeinschaften hybrid und wandelbar, so dass die Frage nach der – überzeitlich gedachten – ‚Identität‘ der Deutschen, der Humanisten, der Lutheraner etc. unweigerlich in die Irre führt. Der Identitätsbegriff, der den Göttinger Tagungen zu Grunde lag, soll gerade zur Sensibilisierung gegenüber solchen Essentialismen beitragen, indem er auf die Praktiken der Identitätsbildung abhebt. Dass es auf der Ebene historischer Denkformen, Repräsentationen, ja ganzer kultureller Imaginarien geschichtsmächtig wirksame Vorstellungen von Zugehörigkeit und Alterität gibt, ist unbestritten. Wie aber werden sie konstituiert? Um diese Frage zu beantworten, konzentrierte sich unsere gemeinsame Arbeit darauf, wie die schriftliche, häufig bildgestützte Präsentation von Vergangenheit als eine Praxis zur Bildung und zum Unterhalt von Gruppenidentitäten begriffen werden kann. Auf welcher gedanklichen Grundlage basierten diese Praktiken, und mit welchen gestalterischen Mitteln wurden sie in die Tat umgesetzt? Der Aufbau des Gesamtprogramms folgte daher auch nicht einer Typologie historiographischer Formate, sondern der Beschaffenheit sozialer Gruppen und den damit verbundenen Eigentümlichkeiten der jeweiligen Identitätskonzepte. Die Beiträgerinnen und Beiträger des ersten, 2016 erschienenen Bandes, der aus diesem Tagungszyklus hervorging, behandelten gattungs- und medienhistorische Voraussetzungen für die Repräsentation des Vergangenen sowie die Bedeutung von Geschichtsentwürfen für die Konstitution personaler Identitäten. Die Tradition vormoderner Ich-Erzählungen spielte dabei eine herausragende Rolle. Der hier vorgelegte Folgeband besteht aus zwei Hälften. Deren erste ist den Identitätsentwürfen sozialer Gruppen und Stände gewidmet, wobei es um die Vergangenheitsinszenierung in Klöstern, um Häresiegeschichtsschreibung, französische Dichterschulen, Städte, den Klosterhumanismus und die frühe Philosophiegeschichtsschreibung geht – dies stets rückgebunden an die Frage nach der Bedeutung DOI 10.1515/9783110578805-201

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 Vorwort

der historiographischen Praxis für jeweilige Identitätsbildungen. Der zweite Teil des Bandes wendet dieselbe Fragestellung auf soziale Großaggregate an: auf Nationen und Konfessionen. Leider war es Thomas Ricklin nicht mehr vergönnt, aus seinem Tagungsbeitrag zur disziplinären Memoria der Philosophen einen Beitrag zum Band zu formen. Wir werden ein respektvolles und dankbares Gedenken an diesen bedeutenden Gelehrten bewahren, der am 23. September 2016 jung verstarb. Auch verlor die SpätmittelalterKommission am 31. März 2017 ihr langjähriges Mitglied Ludger Grenzmann, der sich viele Verdienste um die Arbeit der Kommission und um die Herstellung der Tagungsbände erworben hat. In Trauer, aber auch in großer Dankbarkeit gedenken wir dieses hoch geachteten Kollegen. Neben den Beiträgern danken die Herausgeber vor allem jenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sie bei der Erstellung des druckfertigen Textes engagiert unterstützt haben. Auf Göttinger Seite sind Dr. Katharina Mersch, Torge Ziemer, Tobias Uhlig und Jennifer Stümpel zu nennen, während in Köln Michael SchwarzbachDobson, Samira Clausius, Elias Friedrichs und Jacqueline Stankozi beteiligt waren. Schließlich gilt unser Dank dem Verlag Walter de Gruyter für die gute Zusammenarbeit und die sorgfältige Drucklegung. Köln und Princeton, NJ, im April 2017 Die Herausgeber

Inhalt Vorwort 

 V

Teil 1: Vergangenheitsbilder in der Konstruktion von Gruppenidentitäten Karl-Heinz Spieß Dynastische Identitäten durch Genealogie 

 3

Harald Müller Gelehrte und Geschichte Formen historischer Selbstvergewisserung der Renaissance-Humanisten  Ulrich G. Leinsle Kollektive Identitäten in spätmittelalterlichen Häresien 

 27

 42

Rebecca Müller HAVE ROMA Identitätsentwürfe und Antikenkonzepte in Rom und Venedig 

 75

Heidi Marek Die Dichtergruppe der Pléiade zwischen Mythos und Wirklichkeit 

 104

Teil 2: Soziale Großgruppen, ihre Identitätspraktiken und Vergangenheitsbilder Stephan Albrecht Erinnerung als Kategorie der Kunstgeschichte 

 145

Eva Schumann Beiträge des Rechts zur Ausbildung einer ‚deutschen‘ Identität im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit   167

VIII 

 Inhalt

Uta Goerlitz Juljus Cêsar und die dûtisken lant Zum Wandel narrativer Identitätskonstruktion zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit aus Sicht der Sprach- und Literaturwissenschaft (unter besonderer Berücksichtigung von «Kaiserchronik» und «Prosakaiserchronik»)   216 Claudia Märtl Papstgeschichtsschreibung im Quattrocento Vom «Liber pontificalis» zu Platinas «Liber de vita Christi ac omnium pontificum»   240 Thomas Maissen Territorialisierung und Ethnisierung der Eidgenossenschaft in der Historiographie des 15. und 16. Jahrhunderts   255 Personen- und Ortsregister 

 280

Teil 1: Vergangenheitsbilder in der Konstruktion von Gruppenidentitäten

Karl-Heinz Spieß

Dynastische Identitäten durch Genealogie Der vom Veranstalter vorgeschlagene Titel meines Beitrages erscheint auf den ersten Blick klar und deutlich, bei näherem Hinsehen aber dann doch erklärungsbedürftig. Beginnen wir mit dem Wort „dynastisch“. Das Adjektiv verweist in diesem Kontext auf Angehörige von Dynastien, aber auf welche Adelsgruppen ist der Terminus ‚Dynastie‘ anwendbar? Nur auf Könige und Fürsten oder auch auf Grafen und Freiherren? Ich habe mich für ein breites Untersuchungsfeld entschieden und die Grafen und Herren einbezogen, will aber damit nicht ausschließen, dass auch ritterliche oder gar bürgerliche Familien von ihrer Genealogie geprägte Identitäten besaßen.1 Was mit „Identität“ gemeint ist, lässt sich in unserem Kontext leichter sagen, obwohl es sich ebenfalls um einen schwierigen Begriff handelt. Ich sehe „Identität“ als gleichbedeutend mit „Bewusstsein“ an. Damit folge ich der Terminologie Karl Schmids2 und vermeide den von Michael Borgolte mit Recht kritisierten Terminus „Selbstverständnis“.3 Mein Thema lässt sich somit in die Frage kleiden, ob und wenn ja wie das Bewusstsein der Angehörigen von unterschiedlichen Dynastien durch ihre Genealogie geprägt wurde. Aber was ist Genealogie? Ahasver von Brandt bezeichnet in seinem vielbenutzten Buch «Werkzeug des Historikers» die Genealogie als die Wissenschaft von den auf Abstammung beruhenden Zusammenhängen zwischen den Menschen und stützt sich dabei auf Otto Forst-Battaglia.4 Schon «Zedlers Universallexikon» von 1735 definiert in diesem Sinn kurz und

1 Vgl. diesbezüglich die genealogischen Ausführungen in den Familienbüchern von Angehörigen des Ritteradels und der städtischen Führungsschicht, z. B. Dorothea A. Christ: Das Familienbuch der Herren von Eptingen. Kommentar und Transkription. Liestal 1992, S.  178–188; Sven Rabeler: Das Familienbuch Michels von Ehenheim (um 1462/1463–1518). Frankfurt a. M. 2007 (Kieler Werkstücke. Reihe E: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Band 6), S.  22–27 und S.  50–58. Albrecht Dürer geht bei der Schilderung seiner Familiengeschichte immerhin bis zu seinen Urgroßeltern zurück. Siehe Dürer. Schriftlicher Nachlass Band 1: Autobiographische Schriften / Briefwechsel / Dichtungen / Beischriften, Notizen und Gutachten. Zeugnisse zum persönlichen Leben. Hg. von Hans Ruprich. Berlin 1956, S. 28. 2 Vgl. den Titel von Karl Schmid: Geblüt. Herrschaft. Geschlechterbewußtsein. Grundfragen zum Verständnis des Adels im Mittelalter. Hgg. von Dieter Mertens und Thomas Zotz. Sigmaringen 1998 (Vorträge und Forschungen. Band 44) und Kapitelüberschriften wie z. B. „Welfisches Eigenbewußtsein“. 3 Michael Borgolte: „Selbstverständnis“ und „Mentalitäten“. Bewußtsein, Verhalten und Handeln mittelalterlicher Menschen im Verständnis moderner Historiker. Archiv für Kulturgeschichte 79 (1997), S. 189–210, hier S. 201, 204. 4 Ahasver von Brandt: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. Stuttgart 18. Aufl. 2012, S. 39. DOI 10.1515/9783110578805-001

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 Karl-Heinz Spieß

knapp: Genealogie, heist die Wissenschaft die Vorfahren eines Geschlechts in gehöriger Folge anzugeben. Dahero wirds auch die Geschlechts=Kunde genennet.5

Abb. 1: Historia Welforum. Weingarten, zwischen 1185 und 1191. Pergament, farbig lavierte Federzeichnung, Höhe: 32,4 cm, Breite: 22 cm. Fulda, Hochschul- und Landesbibliothek, Cod. D 11, fol. 13v.

5 Genealogie. In: Grosses Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Zehenter Band. Hg. von Johann Heinrich Zedler. Leipzig 1735, Sp. 832–833, hier Sp. 832.



Dynastische Identitäten durch Genealogie 

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Aber mit dem Begriff „Genealogie“ in meinem Titel meinten die Veranstalter wohl nicht nur die historische Hilfswissenschaft, sondern zielten vielmehr auf die Genealogie als „Denkform“, als „dominante mentale Struktur“ der Gesellschaft im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit.6 Nach den gängigen Vorstellungen dieser Zeit wurde die Identität eines Individuums wesentlich durch seine Vorfahren geprägt. Dabei spielt der für uns heute merkwürdige Gedanke eine Rolle, dass das von den Vorfahren weitergegebene Blut nicht nur die Eignung zur Herrschaft mit sich führte, sondern sich auch noch von Generation zu Generation mit dieser Qualität anreicherte. Der gegenwärtige Vertreter der Dynastie erschien damit als höchste Steigerung der Eigenschaften seiner Vorfahren und leitete aus der genealogischen Herkunft Herrschafts-, Macht- und Rangansprüche in der Gegenwart ab. Je weiter die Kontinuität des Blutes zurückreichte, umso begründeter erschienen solche Ansprüche.7 Es gilt also im Folgenden zu prüfen, wie die Identität des Hochadels von seinem Ahnen- oder Geschlechterbewusstsein bestimmt wurde. Dabei beschränke ich mich auf das Reich und ende im 16. Jahrhundert. Bevor ich mit einem chronologisch orientierten Überblick über das genealogische Wissen beginne, möchte ich kurz die Medien vorstellen, in denen die dynastische Genealogie präsentiert wurde. An erster Stelle stehen die zahlreichen genealogischen Abhandlungen in schriftlicher Form, die mit der «Historia Welforum» im 12. Jahrhundert einsetzen.8 Aller6 Vgl. den Titel des von Kilian Heck und Bernhard Jahn herausgegebenen Sammelbandes: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Band 80) und deren Einleitung: Genealogie in Mittelalter und Früher Neuzeit. Leistungen und Aporien einer Denkform. In: ebd., S. 1–9. Beate Kellner: Zur Konstruktion von Kontinuität durch Genealogie. Herleitungen aus Troja am Beispiel von Heinrichs von Veldeke „Eneasroman“. In: Gründungsmythen. Genealogien. Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität. Hgg. von Gert Melville und Karl-Siegbert Rehberg. Köln u. a. 2004, S. 37–59, hier S. 38: „Genealogie als dominante mentale Struktur im Mittelalter“. 7 Vgl. grundlegend Gert Melville: Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft. In: Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit. Hg. von Peter-Johannes Schuler. Sigmaringen 1987, S. 203–309, hier S. 215; Ders.: Die Bedeutung geschichtlicher Transzendenzräume und ihre Kritik. Zum Problem der Plausibilisierung dynastischer Geltungsbehauptungen. In: Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen. Hg. von Hans Vorländer. Berlin 2013, S. 142–160, hier S. 147f. 8 Vgl. etwa Hans Patze: Adel und Stifterchronik. Frühformen territorialer Geschichtsschreibung im hochmittelalterlichen Reich. Blätter für deutsche Landesgeschichte N. F. 100 (1964) S. 8–81 und 101 (1965) S. 67–128; Beate Kellner: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München 2004, S. 322‒339; Dies.: Genealogien. In: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Hof und Schrift. Hg. von Werner Paravicini. Ostfildern 2007 (Residenzenforschung. Band 15.III), S. 347–360 (mit zahlreichen Quellen- und Literaturnachweisen). Für die spätere Zeit vgl. Peter Johanek: Die Schreiber und die Vergangenheit. Zur Entfaltung einer dynastischen Geschichtsschreibung an den Fürstenhöfen des 15. Jahrhunderts. In: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen (Akten des Internationalen Kolloquiums 17. –19. Mai 1989). Hgg. von Klaus Grubmüller u. a. München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften. Band 65),

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 Karl-Heinz Spieß

dings konnten die Fürsten, Grafen und Herren in ihrer Mehrzahl bis in das 15. Jahrhundert hinein nicht solche komplexen Texte lesen, geschweige denn lateinische Werke verstehen.9 Schon früh zeigte sich deshalb das Bemühen, die genealogische Abfolge zugleich bildhaft erfassbar zu machen,10 wie der berühmte Stammbaum der Welfen in der Weingartener Handschrift belegt.11 (Abb. 1) Es waren wohl gerade die bildlichen Darstellungen von genealogischen Abstammungslinien, die maßgeblich zur Identitätsbildung der Fürsten beitrugen. Im kirchlich-liturgischen Bereich waren die Grabmäler Ansatzpunkte für die Präsentation der Genealogie von herausragenden Personen. So befand sich über den Gräbern Friedrichs des Ernsthaften und seiner Gemahlin Mechthild in der Andreas-

S. 195–209 und zusammenfassend Karl-Heinz Spiess: Research on the Secular Princes of the Holy Roman Empire: State-of-the-Art and Perspectives. In: Fürstlicher Rang im spätmittelalterlichen Europa. Stand und Perspektiven der Forschung. Princely Rank in Late Medieval Europe. Trodden Paths and Promising Avenues. Hgg. von Thorsten Huthwelker u. a. Ostfildern 2011 (Politisch-soziale Ordnungen im mittelalterlichen Europa. Band 1), S. 27–47, hier S. 28‒31. 9 Vgl. Karl-Heinz Spiess: Zum Gebrauch von Literatur im spätmittelalterlichen Adel. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Hgg. von Ingrid Kasten u. a. Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia. Band 43), S. 85–101, hier S. 86–91; Wolfgang Eric Wagner: Princeps litteratus aut illitteratus? Sprachfertigkeiten regierender Fürsten um 1400 zwischen realen Anforderungssituationen und pädagogischem Humanismus. In: Schriften im Umkreis mitteleuropäischer Universitäten um 1400. Lateinische und volkssprachige Texte aus Prag, Wien und Heidelberg: Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Wechselbeziehungen. Hgg. von Fritz Peter Knapp u. a. Leiden/Boston 2004 (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance. Band 20), S. 141–177. 10 Vgl. umfassend Gert Melville: Geschichte in graphischer Gestalt. Beobachtungen zu einer spätmittelalterlichen Darstellungsweise. In: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Hg. von Hans Patze. Sigmaringen 1987 (Vorträge und Forschungen. Band 31), S. 58–154. Zu der von ihm beispielhaft herausgestellten Genealogie der brabantischen Herzöge vom späten 15. Jahrhundert vgl. jetzt die Spezialstudie von Tobias Tanneberger: Vom Paradies über Troja nach Brabant. Die „Genealogia principum Tungro-Brabantinorum“ zwischen Fiktion und Akzeptanz. Berlin 2012 (Vita Curialis. Form und Wandel höfischer Herrschaft. Band 3). Der Autor hält es für möglich, dass die Handschrift als ein begleitendes Werk zu einer Darstellung der Genealogie auf einem Freskenzyklus, einer Tapisserie oder einer Rollenhandschrift für ein größeres Publikum dienen sollte, ebd., S. 53. Birgit Studt: Symbole fürstlicher Politik. Stammtafeln, Wappenreihen und Ahnengalerien in Text und Bild. In: The Mediation of Symbol in Late Medieval and Early Modern Times. Medien der Symbolik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hgg. von Anne Bollmann u. a. Frankfurt a. M. 2005 (Medieval to Early Modern Culture. Kultureller Wandel vom Mittelalter zur frühen Neuzeit. Band 5), S. 221–256. 11 Otto Gerhard Oexle: Welfische und staufische Hausüberlieferung in der Handschrift Fulda D11 aus Weingarten. In: Von der Klosterbibliothek zur Landesbibliothek. Beiträge zum zweihundertjährigen Bestehen der Hessischen Landesbibliothek Fulda. Hg. von Artur Brall. Stuttgart 1978 (Bibliothek des Buchwesens. Band 6), S. 203–231; Bernd Schneidmüller: Landesherrschaft, welfische Identität und sächsische Geschichte. In: Regionale Identität und soziale Gruppen im deutschen Mittelalter. Hg. von Peter Moraw. Berlin 1992 (Zeitschrift für historische Forschung. Vierteljahresschrift zur Erforschung des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Beiheft 14), S. 65–101 hier S. 75–77 mit vergleichenden Bemerkungen zur Krönungstafel im Evangeliar Heinrichs des Löwen.



Dynastische Identitäten durch Genealogie 

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kapelle des Wettiner Hausklosters Altzella eine 1345/1346 entstandene Tafel mit einer von Markgraf Konrad dem Großen († 1157) bis zu Friedrich reichenden Genealogie.12

Abb. 2: Grabmal Graf Ottos IV. von Henneberg († 1502) zwischen 1480 und 1490, Werkstatt Hermann Vischer d. Ä. oder Peter Vischer d. Ä., Größe: 213,5 x 107,5 cm. Römhild, Kirche St. Martin und St. Johannes Baptist

Abb. 3: Zeichnung der Grabplatte oder des Epitaphs des Grafen Philipp II. von Nassau-Saarbrücken-Weilburg († 1492), 1632. Tusche, getönt mit grauer Wasserfarbe, Maße: 17 x 40,5 cm. Wiesbaden, Hessisches Hauptstaatsarchiv, Abt. 130 II A 22.

12 Vgl. Harald Winkel: Herrschaft und Memoria. Die Wettiner und ihre Hausklöster im Mittelalter. Leipzig 2010 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde. Band 32), S. 281‒284. Vergleichbar ist die Scheyerer Fürstentafel. Birgit Studt: „Scheyerer Fürstentafel“ („Tabula Perantiqua Schirensis“). In: VL2. Hg. von Wolfgang Stammler Band 8. Berlin 1992, Sp. 656–659.

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 Karl-Heinz Spieß

Am stärksten äußerte sich die Genealogie aber durch die Anbringung von Ahnenwappen auf den Grabdenkmälern. Das Bemühen um die Dokumentation der vornehmen Herkunft ließ die Zahl der Wappen im Spätmittelalter von vier auf acht ansteigen (Abb. 2) und erreichte Ende des 15. Jahrhunderts bereits 16 Wappen (Abb. 3), im 17. Jahrhundert sogar 32 und ging damit vier Generationen zurück.13 Über die Grabmäler hinaus konnte auch die Kirche selbst als genealogischer ‚Schauraum‘ genutzt werden. So befinden sich in der ab 1476 errichteten Marienkirche zu Büdingen auf den Gewölbeschlusssteinen die 16 Ahnenwappen des Erbauerpaares Graf Ludwig von Isenburg und Gräfin Maria von Nassau.14

Abb. 4: Ausschnitt aus den «Vierzehn Ahnen des Hauses Wittelsbach» aus dem Alten Hof in München. 1463–1465, „Okarius“ – Tassilo – Ludwig der Fromme – „Karolo Manus“ – „Arnolt“ – Otto von Ungarn und Otto der Große (v.l.n.r.). München, Bayerisches Nationalmuseum (MA 4252). 13 Vgl. Karl-Heinz Spiess: Liturgische Memoria und Herrschaftsrepräsentation im nichtfürstlichen Hochadel des Spätmittelalters. In: Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Werner Rösener. Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung. Band 8), S. 97–123; Kilian Heck: Genealogie als Monument und Argument. Der Beitrag dynastischer Wappen zur politischen Raumbildung der Neuzeit. München/Berlin 2002 (Kunstwissenschaftliche Studien. Band 98), S. 63‒68; Andreas Zajic: „Zu ewiger gedächtnis aufgericht.“ Grabdenkmäler als Quelle für Memoria und Repräsentation von Adel und Bürgertum im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Das Beispiel Niederösterreichs. Wien/München 2004 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 45), S. 164‒167. 14 Vgl. die ausführliche Interpretation mit zahlreichen Abbildungen bei Heck: Genealogie als Monument (wie Anm. 13), S. 85–132. Vgl. auch Spiess: Liturgische Memoria (wie Anm. 13), S. 118.



Dynastische Identitäten durch Genealogie 

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Abb. 5: Auszug aus der «Pfälzer Regentenreihe». 1772/1773, Amberg, Miniaturkopie der Ahnenreihe aus dem Schloss zu Amberg. Dargestellte Personen (v.l.n.r.): Herzog Otto I. von Bayern (†1183) und seine Gemahlin Agnes (†1191), Herzog Ludwig I. von Bayern (†1231), Pfalzgraf Otto II. (†1253) und seine Gemahlin Agnes. München, Bayerisches Nationalmuseum (NN 3605).

Abb. 6: „Großer genealogischer Teppich“ Kurfürst Ottheinrichs, 1557/1558, Brüssel, Farbreproduktion, Leinenkette, Wolle, Seide, Gold- und Silberfäden; Maße: 423 x 957 cm. München, Bayerisches Nationalmuseum (T 3869).

Im weltlichen Bereich begegnen seit dem 14. Jahrhundert Ausmalungen von Prunkräumen in Burgen und Residenzen mit genealogischen Darstellungen. Als frühes Bei-

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 Karl-Heinz Spieß

spiel ist die Luxemburger Genealogie auf der von Karl IV. erbauten Burg Karlstein zu nennen, die nur in Nachzeichnungen erhalten ist. Sie führte die Dynastie der Luxemburger über das Haus Brabant zu Karl dem Großen und über ihn bis zu den Trojanern und weiter zu Noah zurück.15 Eine größere Öffentlichkeit erreichten die wohl in Reaktion darauf entstandenen Habsburger-Fenster im Wiener Stephansdom, die allerdings zugleich dem liturgischen Gedächtnis dienten.16 Möglicherweise ebenfalls als Reaktion auf die genealogische Propaganda Karls IV. ist die im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts entstandene «Tabula perantigua» anzusehen, die sich im wittelsbachischen Hauskloster Scheyern befand und die Wittelsbacher bis auf Kaiser Arnulf und damit indirekt auf Karl den Großen zurückführte.17 Bereits aus dem 15. Jahrhundert stammen die teilweise verlorenen Genealogien der Wittelsbacher in der Münchener Residenz und im Heidelberger Schloss. Von den ursprünglichen Fresken mit insgesamt 61 Personen sind in München 14 erhalten (Abb. 4);18 für Heidelberg existierten 15 Joseph Neuwirth: Der Bildercyklus des Luxemburger Stammbaumes aus Karlstein. Prag 1897 (Forschungen zur Kunstgeschichte Böhmens. Band 2), S.  20f., mit Abbildung der Nachzeichnungen aus dem 16. Jahrhundert auf Tafel I-XVI. Umfassend Evemarie Clemens: Luxemburg-Böhmen, Wittelsbach-Bayern, Habsburg-Österreich und ihre genealogischen Mythen im Vergleich. Trier 2001, S. 81–99 mit der Ahnenreihe von Noah bis Karl IV., S. 87f. und 320f. und Marie Bláhová: Herrschergenealogie als Modell der Dauer des ‚politischen Körpers‘ des Herrschers im mittelalterlichen Böhmen. In: Das Sein der Dauer. Hgg. von Andreas Speer und David Wirmer. Berlin/New York 2008 (Miscellanea Mediaevalia. Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln. Band 34), S. 380–397, hier S. 392f. Vgl. hierzu auch František Graus: Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter. In: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes. Hg. von Willi Erzgräber. Sigmaringen 1989 (Veröffentlichungen des Mediävistenverbandes. Band 1), S. 25–43, hier S. 37 und allgemein Gert Melville: Troja: Die integrative Wiege europäischer Mächte im ausgehenden Mittelalter. In: Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit. Hgg. von Ferdinand Seibt und Winfried Eberhard. Stuttgart 1987, S. 415–432. Zu einem unbekannten Zeitpunkt hatte Karl IV. eine Gemäldereihe in der Prager Burg in Auftrag gegeben, die aus legitimatorischen Gründen seine Abstammung von den Přemysliden darstellte. Der Zyklus ging 1541 durch einen Brand verloren, ist aber handschriftlich überliefert. Vgl. Clemens: Luxemburg-Böhmen (wie Anm. 15), S. 77–90 und 316–319 (Ahnenreihe mit Textbeischriften). Eine ganz andere Meinung vertritt Bláhová: Herrschergenealogie als Modell (wie Anm. 15), S. 393f., die auf den Prager Bildern die Weltenherrscher vom Altertum bis zu Kaiser Karl IV. sieht, so dass die Dauer des kaiserlichen Amtes herausgestellt würde. 16 Vgl. Clemens: Luxemburg-Böhmen (wie Anm. 15), S. 255 und Eva Frodl-Kraft: Die mittelalterlichen Glasgemälde in Wien. Wien 1962 (Corpus Vitrearum Medii Aevi. Band 1), S. 50–65; Die Parler und der schöne Stil. Europäische Kunst unter den Luxemburgern. Ein Handbuch zur Ausstellung des Schnütgen-Musuems in der Kunsthalle Köln Band 2. Hg. von Anton Legner. Köln 1978, S. 432 (mit Abbildung). 17 Vgl. Jean-Marie Moeglin: Les ancetrês du prince. Propagande politique et naissance d’une histoire nationale en Bavière au Moyen Age (1180–1500). Genf 1985 (Haute études médiévales et modernes. Band 54), S. 77–84 und Clemens: Luxemburg-Böhmen (wie Anm. 15), S. 129–145. 18 Zu den Münchener Fresken vgl. Siegfried Hofmann: Die bayerischen Herzöge im Bild: die Wandbilder im Alten Hof in München. In: Bayern-Ingolstadt. Bayern-Landshut. 1392–1506. Glanz und Elend



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spätere Kopien und eine Nachzeichnung.19 (Abb. 5) Im 16. Jahrhundert setzt sich diese Form der Selbstdarstellung in Festräumen mit zum Teil raffinierten genealogischen Programmen fort.20 Diese Medien waren den Fürsten ständig präsent. Zusätzlich zur Wandmalerei konnten auch die transportablen Tapisserien als Medium genealogischer Propaganda eingesetzt werden.21 (Abb. 6) Diesem Zweck dienten auch großformatige Drucke mit Ahnentafeln, die einen weitaus größeren Rezipientenkreis ansprechen konnten.22 Genealogische Zusammenhänge wurden weiterhin auf Pergament oder Papier illustriert; entweder es handelte sich z. B. um Fürstenreihen23 (Abb. 7), Ahnentafeln24 (Abb. 8) oder Ahnenproben, die für die Aufnahme von Mitgliedern der Dynastie in ein Domkapitel notwendig waren.25 einer Teilung. Ingolstadt 1992, S.  261–288; Moeglin: Les ancetrês du prince (wie Anm. 17); Studt: Symbole fürstlicher Politik (wie Anm. 10), S.  235f.; Clemens: Luxemburg-Böhmen (wie Anm. 15), S. 158–161. 19 Zu den Heidelberger Fresken und ihren gemalten Kopien sowie zu deren Verbreitung als Druck vgl. jetzt Volkhard Huth: Zur Bedeutung der Pfalzgräfinnen für die Dynastie der rheinischen Wittelsbacher. In: Die Wittelsbacher und die Kurpfalz im Mittelalter. Eine Erfolgsgeschichte? Hgg. von Jörg Peltzer u. a. Regensburg 2013, S. 127–157, hier S. 141–157. 20 Vgl. Heck: Genealogie als Monument (wie Anm. 13), S. 133f.; Ders.: Genealogie als dynastische Sphärenbildung. Herzog Ulrich zu Mecklenburg in Güstrow. In: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hgg. von Kilian Heck und Bernhard Jahn. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Band 80), S. 137–144; Reinhard Stauber: Herrschaftsrepräsentation und dynastische Propaganda bei den Wittelsbachern und Habsburgern um 1500. In: Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter (Interdisziplinäre Tagung des Lehrstuhls für allgemeine Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften in Greifswald in Verbindung mit der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen vom 15. –18. Juni 2000). Hgg. von Cordula Nolte u. a. Stuttgart 2002 (Residenzenforschung. Band 14), S. 371–402, hier S. 384. 21 So der genealogische Teppich Kurfürst Ottheinrichs von der Pfalz. Vgl. Hanns Hubach: „...mit golt, silber und seyd kostlichst, erhaben, feyn unnd lustig gmacht“. Pfalzgraf Ottheinrich und die Bildteppichproduktion in Neuburg 1539–1544/45. In: Von Kaisers Gnaden. 500 Jahre Fürstentum Pfalz-Neuburg. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2005. Hgg. von Suzanne Bäumler u. a. Regensburg 2005 (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur. Band 50), S. 174–178. 22 Vgl. Studt: Symbole fürstlicher Politik (wie Anm. 10), S. 241; Stauber: Herrschaftsrepräsentation (wie Anm. 20), S. 383f. Vgl. jetzt auch den Ausstellungskatalog von Volker Bauer: Wurzel, Stamm, Krone. Fürstliche Genealogie in frühneuzeitlichen Druckwerken. Wolfenbüttel 2013 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek. Nummer 97). 23 Vgl. Studt: Symbole fürstlicher Politik (wie Anm. 10), S. 236f. 24 Vgl. z.B. Johannes Mötsch: Die letzten Grafen von Henneberg und ihre Hofgeschichtsschreibung. In: Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter (Interdisziplinäre Tagung des Lehrstuhls für allgemeine Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften in Greifswald in Verbindung mit der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen vom 15. –18. Juni 2000). Hgg. von Cordula Nolte u. a. Stuttgart 2002 (Residenzenforschung. Band 14), S. 403– 424, hier S. 407‒409 mit Abbildung 1 auf S. 417. 25 Vgl. Ralf-Gunnar Werlich: Genealogische und heraldische Bemühungen im Hause Henneberg am Beispiel der Ahnenwappen Graf Wilhelms IV. von Henneberg und seiner Gemahlin Anastasia von Brandenburg. In: Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter (Interdisziplinäre Tagung des

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Abb. 7: Gedechtnus / der Churfürsten / vnd Pfalntzgraven bey Rheyn / auch Hertzogen in Bayrn (wie die zu Heydelberg im Saal befunden werden). Heidelberg, 1559, Antony Corthoys d. Ä., Holzschnitt; Maße: 60,2 x 40,3 cm. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (Inv.-Nr. HB 891, Kapsel 1333).

Lehrstuhls für allgemeine Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften in Greifswald in Verbindung mit der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen vom 15.–18. Juni 2000). Hgg. von Cordula Nolte u. a. Stuttgart 2002 (Residenzenforschung. Band 14), S. 425–447, hier S. 426‒438 mit der Abbildung auf S. 429. Ebenso jetzt Elizabeth Harding und Michael Hecht: Ahnenproben als soziale Phänomene des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Eine Einführung. In: Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion – Initiation – Repräsentation. Hgg. von Dens. Münster 2011 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Band 37) S. 9–83 und besonders Kurt Andermann: Zur Praxis der Aufschwörung in südwestdeutschen Domstiften der Frühneuzeit. In: Ahnenprobe. Hgg. von Harding und Hecht (wie Anm. 25), S. 191–207.



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Abb. 8: Ahnentafel des Grafen Wilhelm von Henneberg, ca. 1524. Auf Leinen aufgezogenes, dickes Papier, Höhe: 87 cm, Breite oben: 19,5 cm, Breite unten: 66,5 cm. Meiningen, Thüringisches Staatsarchiv, Sektion I, Nr. 12.

Damit komme ich zu dem chronologischen Teil meines Beitrages. Im frühen und hohen Mittelalter gab es im Adel ein oral tradiertes Bewusstsein von der eigenen hohen Abkunft, ohne dass eine konkrete Abstammungslinie präsent war.26 So wurde von dem Bischof Meinwerk von Paderborn gesagt, er sei aus königlichem Geschlecht

26 Vgl. Gerd Althoff: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter. Darmstadt 1990, S. 67‒71.

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geboren,27 und auch Barbarossa hat sich angeblich gerühmt, er stamme gleich zweifach aus königlichem Geschlecht, nämlich von den Merowingern und den Karolingern.28 Dieses genea-mythische Denken konnte erst dann von einem genea-linearen Ahnenbewusstsein auf der Grundlage diachroner Abstammungslinien abgelöst werden,29 sobald sich die Adelsgeschlechter im 12. Jahrhundert formiert hatten.30 Als Vorbilder für diese Adelsgenealogien werden die Königsgenealogien31 und die Genealogien Christi32 angesehen. Eine genauere Kenntnis der Vorfahren war schließlich für die Vermeidung von kirchlich verbotenen Verwandtenheiraten notwendig, wobei die ‚arbores sanguinitatis‘ für die Berechnung der Abstammungsgrade herangezogen wurden.33 So wurde für Friedrich I. Barbarossa 1153 eine fünf Generationen zurückreichende Vater-Sohn-Abfolge erstellt, um die Scheidung von Adela von Vohburg wegen zu naher Verwandtschaft erreichen zu können.34 Allerdings lässt sich nicht klären, ob hier das genealogische Erinnerungswissen Barbarossas durchscheint oder nicht auch – wie in den Urkunden des Königs mit Erwähnung der Vorfahren – die Notare ihre Kenntnisse ausbreiten.35 Als frühestes und zugleich berühmtestes Zeugnis für das neu formierte Geschlechterbewusstsein im Hochadel gilt die um 1170 entstandene «Historia Welforum», die mit folgenden Sätzen beginnt: 27 Das Leben des Bischofs Meinwerk von Paderborn. Hg. von Franz Tenkhoff. Hannover 1921 (MGH SS rer. Germ. Band 59), Cap. V, S. 7: regia stirpe genitus. 28 Die Chronik des Propstes Burchard von Ursperg. Hgg. von Oswald Holder-Egger und Bernhard von Simson. Hannover/Leipzig 2. Aufl. 1916 (MGH SS rer. Germ. Band 16), S. 24f.: At ipse potius gloriabantur se de regia stirpe Waiblingensium progenitum fuisse, quos constat de duplici regia prosapia processisse, videlicet Clodoveorum, de quibus legitur supra in gestis Francorum, et Carolorum, de quibus nichilominus eorundem supra narrant hystorie. Vgl. Karl Schmid: ›De regia stirpe Waiblingensium‹. Bemerkungen zum Selbstverständnis der Staufer. Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N. F. 85 (1976), S. 63–73, hier S. 63‒68. Zu der genealogischen Konstruktion Gottfrieds von Viterbo, der die Staufer über die Trojaner bis zu Noah und sogar bis zu Adam zurückführte vgl. Bláhová: Herrschergenealogie als Modell (wie Anm. 15), S. 385. 29 Die überzeugende Unterscheidung zwischen genea-mythischem Denken und genea-linearem Ahnenbewusstsein findet sich bei Heck und Jahn: Einleitung (wie Anm. 6), S. 5. 30 Vgl. Schmid: Geblüt (wie Anm. 2), S. 117‒148 und seine Aufsatzsammlung: Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge. Festgabe zu seinem sechzigsten Geburtstag. Sigmaringen 1983. Zur Diskussion seiner Thesen vgl. Werner Hechberger: Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems. Ostfildern 2005 (MittelalterForschungen. Band 17), S. 306‒312. 31 Vgl. Schmid: Geblüt (wie Anm. 2), S. 118‒125 und Marie Bláhová: Herrschergenealogie als Modell (wie Anm. 15), S. 383 zu den Merowingern und Karolingern. 32 Vgl. Kellner: Genealogien (wie Anm. 8), S. 348f. 33 Vgl. Herman Schadt: Die Darstellungen der Arbores Consanguinitatis und der Arbores Affinitatis. Bildschemata in juristischen Handschriften. Tübingen 1982. 34 Das Briefbuch Abt Wibalds von Stablo und Corvey. Hg. von Martina Hartmann. Hannover 2012 (Monumenta Germaniae Historica. Epistolae. Band 9 Teil 1), Nr. 385. 35 Vgl. hierzu mit methodischer Sorgfalt Knut Görich: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie. München 2011, S. 34–36.



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Den Geschlechterfolgen unserer Fürsten (generationes principum nostrum) sind wir mit höchsten Fleiß nachgegangen und haben uns dabei mit Suchen in verschiedenen Chroniken und Geschichtsbüchern wie auch in alten Urkunden viel abgemüht, konnten aber keinen mit Namen genannt finden vor dem Grafen Welf, der zur Zeit Karls des Großen gelebt hat. Notwendig mußte daher diese Erzählung mit ihm beginnen. Wir wissen indes aus vielen Umständen, dass es von ihm schon andere gegeben hat, die sogar noch vor Annahme des christlichen Glaubens in großen Reichtümern und Ehren dieses Hauses Häupter gewesen sind (qui hanc domum […] gubernaverunt) und ihren Namen, während länger Zeiträume einer dem anderen folgend, in verschiedenen Ländern durch ihre große Tüchtigkeit bekannt gemacht haben. Denn wie wir in einem alten Geschichtsbuche finden, stammen sie von den Franken ab, die einst aus Troja ausgewandert waren […].36

Die genealogische Linie beginnt mit Welf I., d. h. eine Abstammung des Geschlechts von den Trojanern wird dem Mythos zugeordnet.37 Bekanntlich ist die ebenfalls mit Welf I. bzw. seinem Sohn Eticho einsetzende «Genealogia Welforum» sogar einige Jahrzehnte älter als die «Historia Welforum» und folgt in der Aufzählung dem Muster x genuit x.38 Das Bemühen um die Ahnen der zeitgenössischen Welfen wurde noch bis Ende des 12. Jahrhunderts ergänzt durch die bereits genannte bildliche Darstellung der Genealogie in der Weingartener Handschrift.39 In der Anfang des 13. Jahrhunderts im Stift Lauterberg entstandenen «Genealogia Wettinensis» werden die auf den 976 belegbaren Dietrich I. in den nächsten 250 Jahren folgenden Angehörigen des Wettiner-Geschlechts aufgezählt und mit knappen Erläuterungen zu wichtigen Ereignissen versehen, wobei der Bezug zu dem Stift Lauterberg im Vordergrund steht. Von demselben Autor stammt auch eine Chronik des Stiftes Lauterburg, in der genealogisches Wissen über das Geschlecht der Wettiner als Stifter ausgebreitet wird.40 36 Historia Welforum. Hg. von Erich König. Sigmaringen 1978 (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit. Band 1), S. 3. Aus der reichhaltigen Literatur zur «Historia Welforum» seien hier nur genannt: Karl Schmid: Welfisches Selbstverständnis. In: Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Hgg. von Josef Fleckenstein und Karl Schmid. Freiburg u. a. 1968, S. 389–416; Oexle: Welfische und staufische Hausüberlieferung (wie Anm. 11); Matthias Becher: Der Verfasser der –‚Historia Welforum‘ zwischen Heinrich dem Löwen und den süddeutschen Ministerialen des welfischen Hauses. In: Heinrich der Löwe. Herrschaft und Repräsentation. Hgg. von Johannes Fried und Otto Gerhard Oexle. Stuttgart 2003 (Vorträge und Forschungen. Band 57), S. 347–380; Kellner: Ursprung und Kontinuität (wie Anm. 8), S. 322‒339. 37 Zum Trojamythos vgl. Graus: Troja (wie Anm. 15); Kordula Wolf: Troja – Metamorphosen eines Mythos. Französische, englische und italienische Überlieferungen des 12. Jahrhunderts im Vergleich. Berlin 2009 (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik. Band 13). 38 Historia Welforum. Hg. von König (wie Anm. 36), S. 76‒81. 39 Siehe Anm. 11 und Abb. 1. 40 Vgl. Patze: Adel (wie Anm. 8), S. 147f. und zuletzt Stefan Pätzold: Die frühen Wettiner. Adelsfamilie und Hausüberlieferung bis 1221. Köln u. a. 1997 (Geschichte und Politik in Sachsen. Band 6), S.  265‒361; Winkel: Herrschaft (wie Anm. 12), S.  99‒140; Spiess: Research on the Secular Princes (wie Anm. 8), S. 28f.

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In der Forschung wird heftig diskutiert, ob in diesen und anderen Aufzeichnungen von Hausklöstern das mündlich tradierte Ahnengedächtnis bzw. die dynastische Identität der Stifterfamilie erkennbar wird oder ob die gelehrten Verfasser nicht selbst die genealogischen Reihen konstruierten. Gerd Althoff hat schon 1990 prononciert festgestellt, dass die geistlichen Autoren in einer gehäuften Anzahl von Fällen das erst geschaffen hätten, was wir als Ausdruck adligen Selbstverständnisses auffassen. Er geht u. a. auch auf die «Historia Welforum» ein und hält es für möglich, dass die Autoren eigene Ziele verfolgten und den Adelsgeschlechtern auch Versionen ihrer Geschichte vorgetragen hätten, die diesen gar nicht bekannt waren.41 Ähnlich hat sich zwei Jahre später Peter Johanek geäußert.42 Die von Althoff und Johanek aufgeworfenen Fragen sind zentral für meine Fragestellung, ob die dynastische Identität durch eigenes genealogisches Wissen geprägt wurde. Solange wir keine Selbstzeugnisse von Fürsten oder Grafen besitzen, die Aufschluss über ihr genealogisches Bewusstsein geben können, müssen wir der historiographischen Außensicht ihres Geschlechterbewusstseins sehr kritisch begegnen. Trotz der Warnung Althoffs liest man 2007 bei Beate Kellner, die welfische Hausüberlieferung eigne sich in ganz besonderem Maße, Aufschlüsse über die Identitätskonstruktionen eines adligen Geschlechts im Übergang vom frühen zum hohen Mittelalter zu gewinnen.43 Kürzlich hat sich Harald Winkel noch einmal gründlich mit der «Genealogia Wettinensis» beschäftigt und zugegeben, dass keine Eigenzeugnisse aus der Dynastie zur eigenen Genealogie vorliegen.44 Aus der Funktion des Stifts Lauterburg als Familiengrablege und Zentrum der Memoria für die Wettiner zieht er dann doch den Schluss, „daß die Genealogia Wettinensis, was die Herausbildung und die Identität des Geschlechts anbelangt, für den Zeitraum ihrer Abfassung in einem bestimmten Rahmen ein durchaus glaubwürdiges Bild der Bewußtseinssphären und des Innenlebens des wettinischen Geschlechts widerspiegelt“.45 Dies geht mir entschieden zu weit. Wie soll eine durchaus eigene Ziele verfolgende Stiftschronik das Innenleben eines Geschlechts widerspiegeln oder dessen Bewusstseinssphären ausleuchten? Wir müssen allerdings damit rechnen, dass die historiographische Gestaltung der eigenen Genealogie durch die Hausklöster auf die Angehörigen der Dynastien zurückgewirkt haben könnte, so dass diese sich diese Version nachträglich zur eigenen gemacht hätten. Dies bleibt allerdings eine bloße Spekulation, weil uns für das Hochmittelalter entsprechende Zeugnisse fehlen. Im 14. und vor allem im 15. und 16. Jahrhundert setzte mit der dynastischen oder höfischen Historiographie eine bislang ungekannte intensive Auseinandersetzung

41 Vgl. Althoff: Verwandte (wie Anm. 26), S. 65f., 71‒73. 42 Vgl. Johanek: Schreiber (wie Anm. 8), S. 202f. 43 Vgl. Kellner: Genealogien (wie Anm. 8), S. 351f. 44 Vgl. Winkel: Herrschaft (wie Anm. 12), S. 135f. 45 Vgl. Winkel: Herrschaft (wie Anm. 12), S. 137.



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mit den fürstlichen Genealogien ein.46 Da sie nicht auf ein Kloster, sondern auf den Fürsten und seinen Hof als Rezipienten zielte, formte sie auch stärker das Herkunftsbewusstsein des Hochadels. Ohnehin ist in vielen Fällen der Regent als Auftraggeber genannt, so dass zumindest die dynastische Nähe zum Werk, aber noch nicht die Identifikation mit dem Werk gesichert ist. Erleichtert wurde die Wirkung dieser Geschichtsschreibung durch zweisprachige, d. h. lateinisch-deutsche Versionen, oder die Verfasser wählten gleich die deutsche Sprache, um mehr Leser aus dem höfischen Umfeld zu finden.47 Die Autoren entstammten kaum noch der Welt der Klöster oder Stifte, sondern besaßen Bindungen an den Hof, wenn sie nicht sogar das Amt eines Hofhistoriographen innehatten. Angesichts dieser engen Bindung an den Fürsten oder Grafen ist ein Austausch zwischen dem Autor und dem Auftraggeber über die Inhalte der Dynastiegeschichte sehr wahrscheinlich.48 Die Werke der höfischen Geschichtsschreibung kreisen um das Herkommen und die Legitimation der Dynastie. Die Vorstellung von der Anreicherung des Blutes durch die Generationen hindurch ließ die Autoren eine möglichst weit zurückrei46 Hierzu grundlegend Johanek: Schreiber (wie Anm. 8). Birgit Studt: Fürstenhof und Geschichte. Legitimation durch Überlieferung. Köln u. a. 1992 (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und früher Neuzeit. Band 2); Dies.: Hofgeschichtsschreibung. In: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Hof und Schrift. Hg. von Werner Paravicini. Ostfildern 2007 (Residenzenforschung. Band 15.III), S.  373–390; Dies.: Neue Fürsten – Neue Geschichte? Zum Wandel höfischer Geschichtsschreibung. In: Fürsten an der Zeitenwende zwischen Gruppenbild und Individualität. Formen fürstlicher Selbstdarstellung und ihre Rezeption (1450–1550). Wissenschaftliche Tagung Landeskulturzentrum Schloß Salzau, 27–29. März 2008. Hgg. von Oliver Auge u. a. Ostfildern 2009 (Residenzenforschung. Band 22), S. 35–54; Norbert Kersken: Auf dem Weg zum Hofhistoriographen. Historiker an spätmittelalterlichen Fürstenhöfen. In: Mittelalterliche Fürstenhöfe und ihre Erinnerungskulturen. Hgg. von Carola Fey u. a. Göttingen 2007 (Formen der Erinnerung. Band 27), S. 107–139. 47 Vgl. die in Anm. 40 genannte Literatur und zusammenfassend Spiess: Research on the Secular Princes (wie Anm. 8), S.  31‒33. Bei Studt: Hofgeschichtsschreibung (wie Anm. 46), S.  385f. findet sich ein Auszug aus der «Chronik von den Fürsten zu Bayern» des Andreas von Regensburg in der lateinischen und der deutschen Fassung sowie ein Bericht des Autors über das Interesse des Fürsten und der Hofleute an seinem Werk, das ihm bei seinem Aufenthalt am Straubinger Hof 1431 entgegengebracht wurde. 48 Vgl. Kersken: Hofhistoriograph (wie Anm. 46), S. 132‒139. Ein schönes Beispiel liefert Michael Hecht: Hofordnungen, Wappen und Geschichtsschreibung. Fürstliches Rangbewusstsein und dynastische Repräsentation in Anhalt im 15. und 16. Jahrhundert. In: Die Fürsten von Anhalt. Herrschaftssymbolik, dynastische Vernunft und politische Konzepte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hgg. von Werner Freitag und Michael Hecht. Halle an der Saale 2003 (Studien zur Landesgeschichte. Band 9), S. 98–122, hier S. 104f. Siehe auch Günter Werner: Ahnen und Autoren. Landeschroniken und kollektive Identitäten um 1500 in Sachsen, Oldenburg und Mecklenburg. Husum 2002 (Historische Studien. Band 467), der z. B. in der von dem Augustinermönch Johannes Schiphower 1503 im Auftrag von Graf Johann V. verfassten Chronik der Grafen von Oldenburg dynastische, territoriale und monastische Identitäten erkennen und trennen möchte (Werner: Ahnen und Autoren [wie Anm. 45], S. 161–165).

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chende agnatische Blutslinie konstruieren. Am besten untersucht ist diese Form der Historiographie für die bayerischen Wittelsbacher und die Habsburger. Trotz unterschiedlicher Akzente stellt die Wittelsbacher Hauschronistik übereinstimmend Karl den Großen als Stammvater der regierenden Herzogdynastie heraus, brachte aber auch legendäre Gründungsväter wie einen Bavarus aus Armenien oder einen Norix als Sohn des Herkules ins Spiel.49 Ein besonderes Kennzeichnen der wittelsbachischen Historiographie besteht in der Konstruktion eines unauflöslichen Bandes zwischen der Dynastie und dem Land Bayern, so dass die Vorgänger auch zu Vorfahren wurden.50 Die Wittelsbacher Herzöge bedienten sich in der krisenhaften Zeit des 15. Jahrhunderts dieser dynastischen Geschichtsschreibung und setzten sie medial um. Um 1465 wurde auf der Grundlage der Chronik des Andreas von Regensburg in einem Repräsentationssaal der Münchener Residenz die bereits erwähnte genealogische Reihe von 61 bayerischen Herzögen beginnend mit Bavarus und Norix als Wandmalerei dargestellt, wobei Karl der Große und Ludwig der Bayer sowie weitere Könige aus dem Geschlecht besonders hervorgehoben waren.51 Diese Herzogsreihe ist auch auf einen aufwendig gestalteten fast vier Meter langen Pergamentrotulus übertragen und damit transportabel gemacht worden.52 Eine noch stimmigere Genealogie auf der Grundlage der Chronik von Ulrich Füetrer erschien 1501 sogar als großer, aus zwölf Blättern zusammengesetzter Holzschnitt im Druck.53 Insbesondere die genealogische Ausmalung der Festräume, die ständig dem Fürsten vor Augen stand, prägte nachweislich seine dynastische Identität. Der brabantische Historiograph Edmond de Dynter berichtet, König Wenzel habe ihm 1413 persönlich die Genealogie der Luxemburger auf der Burg Karlstein gezeigt und erläutert. Die Wandmalerei zeigte die Herzöge von Brabant als Vorfahren der Luxemburger, die sich über diese bis nach Troja zurückführen konnten.54 Herzog Albrecht IV. von Bayern führte ebenfalls 1473 persönlich den Mailänder Gesandten Carlo Visconti in

49 Vgl. Moeglin: Les ancetrês (wie Anm. 17); Ders.: Die Genealogie der Wittelsbacher. Politische Propaganda und Entstehung der territorialen Geschichtsschreibung in Bayern im Mittelalter. Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 96 (1988), S. 33–54; Ders.: Dynastisches Bewußtsein und Geschichtsschreibung. Zum Selbstverständnis der Wittelsbacher, Habsburger und Hohenzollern im Spätmittelalter. Historische Zeitschrift 256 (1993), S. 593–635; Stauber: Herrschaftsrepräsentation (wie Anm. 20), S. 371–402. 50 Studt: Symbole fürstlicher Politik (wie Anm. 10), S. 241; Moeglin: Dynastisches Bewußtsein und Geschichtsschreibung (wie Anm. 43), S.  605; Stauber: Herrschaftsrepräsentation (wie Anm. 20), S. 375f. 51 Vgl. Moeglin: Les ancetrês (wie Anm. 17), S.  131‒135; Stauber: Herrschaftsrepräsentation (wie Anm. 20), S. 382‒384. Siehe Abb. 4. 52 Siehe den Abschnitt bei Anm. 21, mit Verweis auf die ebenfalls transportablen Tapisserien. 53 Siehe Anm. 22. 54 Vgl. Graus: Troja (wie Anm. 15), S. 37; Melville: Vorfahren und Vorgänger (wie Anm. 7), S. 260f.; Tanneberger: Paradies (wie Anm. 10).



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den erwähnten Festsaal der Münchner Residenz und zeigte ihm seine Vorfahren, von denen viele Kaiser und Könige gewesen seien.55 Die Habsburger, auf die ich hier nur ganz kurz eingehen kann, wurden in ihrem dynastischen Bewusstsein durch die Chronik von den 95 Herrschaften vom Ende des 14. Jahrhunderts geprägt. Sie belegte dank 81 frei erfundener Herrschaften eine ungebrochene Folge von Fürsten in Österreich als einem eigenständigen Gebilde seit vortrojanischer Zeit, genauer seit dem Jahr 810 nach der Sintflut. Dabei wird nicht verschwiegen, dass die Habsburger erst 1282 durch König Rudolf nach Österreich kamen, d. h. die Identität von Dynastie und Land wurde nicht – wie in Bayern der Fall – konstruiert.56 Friedrich III. ließ 1453 die Wappen der sagenhaften Fürsten an der Fassade der Georgskapelle seiner Residenz in Wiener Neustadt anbringen und identifizierte sich somit mit der Chronik.57 Damit war aber noch nichts über die genealogischen Anfänge der Habsburger ausgesagt, für die sich besonders Friedrichs Sohn Maximilian I. inter­ essierte. Ihm wurde von Johannes Cuspinian sogar zugeschrieben, er hätte als erster unter allen Fürsten seiner Zeit die Genealogie der einzelnen Fürstenhäuser erforschen und alle Fürstenarchive gründlich untersuchen lassen.58 Während der Historiograph Grünpeck dem Kaiser nur eine 200 Jahre zurückreichende genealogische Linie präsentieren konnte,59 gelang Jakob Mennel 1518 in seiner «Fürstlichen Chronik» der Nachweis einer agnatischen Blutslinie, die mit dem trojanischen Helden Hector beginnt und dann über die Merowinger und Karolinger direkt zu den Habsburgern führt.60 55 Vgl. Franz Fuchs: Das »Haus Bayern« im 15. Jahrhundert. Formen und Strategien einer dynastischen »Integration«. In: Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa. Hg. von Werner Maleczek. Ostfildern 2005 (Vorträge und Forschungen. Band 58), S. 303–324, hier S. 319f. 56 Vgl. Moeglin: Dynastisches Bewußtsein und Geschichtsschreibung (wie Anm. 49), S. 619‒624. 57 Vgl. Moeglin: Dynastisches Bewußtsein und Geschichtsschreibung (wie Anm. 49), S. 625f. 58 Auszug aus der Lebensbeschreibung Maximilians I. von Johannes Cuspinian. In: Quellen zur Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit. Hg. von Inge Wiesflecker-Friedhuber. Darmstadt 1996 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Band 14), S. 303–306, hier S. 303. 59 Kann doch durch die unzweideutigen Zeugnisse theils in Schriftwerken, theils auf Marmordenkmalen erwiesen werden, daß Du deines Geschlechtes Folge seit zweihundert Jahren von keinem anderen Vorfahren denn von Fürsten, Königen und Kaisern herleitest. Joseph Grünpeck: Die Geschichte Friedrichs III. und Maximilians I., übers. von Theodor Ilgen. Leipzig 1891 (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, 15. Jahrhundert. Band 3), S. 8. […], dumodo [sic!] certissimis et litterarum et marmorum testimoniis probari possit, te a ducentis annis haud aliis progentoribus, quam princibus, regibus et caesaribus generis seriem protrahere, […]. Joseph Chmel: Historia Friderici IV. et Maximiliani I. ab Jos. Grünbeck. Der österreichische Geschichtsforscher 1 (1838), S. 64–97, hier S. 67. Das dynastische Gedächtnis der Habsburger ging somit auf Rudolf von Habsburg zurück. Vgl. Moeglin: Dynastisches Bewußtsein und Geschichtsschreibung (wie Anm. 49), S. 628. 60 Vgl. Dieter Mertens: Geschichte und Dynastie – zu Methode und Ziel der ‚Fürstlichen Chronik‘ Jakob Mennels. In: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. von Kurt Andermann. Sigmaringen 1988 (Oberrheinische Studien. Band 7), S. 121–153; Alphons Lhotsky: Apis Colonna. Fabeln und Theorien über die Abkunft der Habsburger. Ein Exkurs zur Cronica Austrie des Thomas Ebendorfer. In: Ders.: Das Haus Habsburg. München 1971 (Alphons Lhotsky.

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(Abb. 9) Maximilian I. schätzte dieses Werk, das die Habsburger zum vornehmsten Geschlecht Europas stilisierte, so sehr, dass der Verfasser es ihm in den schlaflosen Nächten am Ende seines Lebens vorlesen musste. (Abb. 10) Für Dieter Mertens, der Autor und Werk eingehend untersucht hat, steht deren herausragende Bedeutung für das Selbstverständnis Maximilians außer Zweifel.61 Welchen persönlichen Anteil Maximilian an den genealogischen Entwürfen in seinem Umfeld nahm, belegt ein von ihm bei der Wiener Universität in Auftrag gegebenes Gutachten, das die Rückführung der Habsburger bis auf Noah überprüfen sollte.62





Abb. 9: Übergabe der «Fürstlichen Chronik» an Kaiser Maximilian I. 1518, Miniatur in Jakob Mennels «Der Zaiger». Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 7892.

Eine Ansippung an römische oder trojanische Adelige war im 15. Jahrhundert anscheinend für viele Dynastien ein verlockendes Identifikationsangebot.63 Nach Peter von Aufsätze und Vorträge. Band 2), S. 7–102, bringt auf S. 93f. die genealogische Reihe von Hector bis Maximilian, die 77 Personen umfasst. Zuletzt Beate Kellner: Formen des Kulturtransfers am Hof Kaiser Maximilians I. Muster genealogischer Herrschaftslegitimation. In: Kulturtransfer am Fürstenhof. Höfische Austauschprozesse und ihre Medien im Zeitalter Kaiser Maximilians I. Hgg. von Matthias Müller u. a. Berlin 2013 (Schriften zur Residenzkultur. Band 9), S. 54–103, hier S. 55–62 zur «Fürstlichen Chronik». 61 Vgl. Mertens: Geschichte und Dynastie (wie Anm. 60), S. 128. 62 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex Vindobonensis Palatinus 10298. Vgl. Simon Laschitzer: Die Genealogie des Kaisers Maximilian I. Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses 7 (1888), S. 1–200, hier S. 29f., 39. 63 Gerd Althoff: Genealogische und andere Fiktionen in mittelalterlicher Historiographie. In: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica. München,





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Abb. 10: Jakob Mennel liest dem todkranken Kaiser Maximilian I. aus seiner «Fürstlichen Chronik» vor. Hans Weiditz, Holzschnitt aus dem Gedenkblatt auf den Tod Kaiser Maximilians I. Albertina, Wien (Inv.-Nr. DG 1949/368).

Andlau war der eine Teil des deutschen Adels trojanisch-fränkischer Herkunft, der andere Teil römischer Abkunft und nach Deutschland verpflanzt worden. Als Beispiel nennt er neben den Habsburgern eine Reihe von südwestdeutschen Grafen-, Herrenund Rittergeschlechtern.64 Aber auch die Zollern haben sich mit diesem Mythos identifiziert. Markgraf Albrecht Achilles schrieb 1466 an seinen Bruder Kurfürst Friedrich: Wir sind zu Troya in turckischem wesen vertriben worden bey unsern hern und sind gen Rom komen, die dritten fursten, die do warn, mit Romischen Keysern und konigen; aber von Rom vertriben und in das Reich komen, und von den gnaden gots und unser guttat und fromheit im Reych durch Romisch Keyser und konig hoher und grosser worden, dan wir ye gewesen sein und die hochsten mit anndern nach dem keyserlichen und koniglichen stule.65

16.–19. September 1986. Teil I: Kongreßdaten und Festvorträge. Literatur und Fälschung. Hannover 1988 (Monumenta Germaniae Historica. Schriften. Band 33, I), S. 417–441, hier S. 420f.; Dieter Mertens: Die Habsburger als Nachfahren und als Vorfahren der Zähringer, mit einem Exkurs zum Grabmal Bertolds V. In: Die Zähringer. Eine Tradition und ihre Erforschung. Hg. von Karl Schmid. Sigmaringen 1986 (Veröffentlichungen zur Zähringer-Ausstellung. Band 1), S. 151–174, hier S. 155; Klaus Schreiner: Religiöse, historische und rechtliche Legitimation spätmittelalterlicher Adelsherrschaft. In: Nobilitas. Funktionen und Repräsentation des Adels in Alteuropa. Hgg. von Otto Gerhard Oexle und Werner Paravicini. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Band 133), S. 376–430, hier S. 410‒415. 64 Peter von Andlau. Kaiser und Reich. Libellus de Caesarea Monarchia. Lateinisch und deutsch. Hg. von Rainer A. Müller. Frankfurt a. M./Leipzig 1998 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens. Band 8), S. 150–169. 65 Codex diplomaticus Brandenburgensis. Sammlung der Urkunden, Chroniken und sonstigen Geschichtsquellen für die Geschichte der Mark Brandenburg und ihrer Regenten. Hauptteil III, Band 3: Sammlung für allgemeine Landes- und kurfürstliche Hausangelegenheiten. Bearb. von Adolph Friedrich Riedel. Berlin 1861, Nr. 63, S. 74–77, hier S. 76 (28.04.1466). Vgl. aber Moeglin: Dynastisches Bewußtsein und Geschichtsschreibung (wie Anm. 49), S. 633f., der die angebliche Verwandtschaft mit den Colonna in den Vordergrund stellt. Carsten Neumann: Die Renaissancekunst am Hofe Ulrichs zu Mecklenburg. Kiel 2009 (Schleswig-Holsteinische Schriften zur Kunstgeschichte. Band 15), S. 472‒478. Zu dem zitierten Brief vgl. Jean-Marie Moeglin: Le Personnage du fondateur dans la tradition dynastique des Hohenzollern. Le Moyen Age 96 (1990), S. 421–434, hier S. 432f.

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Würde man diesem bemerkenswerten Selbstzeugnis und anderen ähnlichen Nachrichten folgen und behaupten, die dynastischen Identitäten des Hochadels seien um 1500 ausnahmslos durch die Herkunft aus Troja oder Rom bzw. die Abstammung von Karl dem Großen oder auch Widukind geprägt,66 dann würde man fehlgehen. So war für die Landgrafen von Hessen die Heilige Elisabeth die Spitzenahnin der Dynastie,67 während für die Herzöge von Pommern der 1107 verstorbene slawische Fürst Swantibor als genealogischer Ausgangspunkt angesehen wurde.68 Die Herzöge von Mecklenburg begnügten sich bis ca. 1520 mit dem historisch nachweisbaren Stammvater Niklot († 1160),69 doch ließ sich Fürst Balthasar 1418 von Bischof Otto von Halberstadt auf der Grundlage zweier Klosterchroniken bescheinigen, dass er in gerader Linie aus einem alten königlichen Geschlecht stamme, ohne dass dies näher ausgeführt wurde.70 Erst 1526 wurde mit dem Amazonenspross Anthyrius ein Vorfahr aus der Zeit Alexanders des Großen kreiert und in einer aufwendigen Bilderhandschrift präsentiert.71 (Abb. 11) Man muss also mit einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ rechnen. Sogar innerhalb der zwei Linien eines Hauses konnte die dynastische Identität gespalten sein, wie das Beispiel Henneberg zeigt. Während sich die gefürstete Linie HennebergSchleusingen auf den tatsächlich 1040 nachweisbaren Ahnen Poppo genealogisch zurückführte und damit auf mythische Vorfahren verzichtete, bemühte sich die Linie Henneberg-Römhild zur Ausfüllung ihres Rangdefizits im 15. Jahrhundert gezielt um eine Abstammung von den römischen Colonna. Sie ließen sich diese Herkunft urkundlich von dem römischen Geschlecht bestätigen und fügten das Colonna-Wappen ihrem eigenen hinzu.72 (Abb. 12) 66 Althoff: Genealogische und andere Fiktionen (wie Anm. 63), S. 421f.; Schreiner: Legitimation (wie Anm. 63), S. 408‒413. Nach Lhotsky: Apis Colonna (wie Anm. 60), S. 33 haben die Habsburger des 14. Jahrhunderts fest daran geglaubt, mit den Colonna verwandt zu sein. 67 Vgl. Thomas Fuchs: Fürstliche Erinnerungspolitik und Geschichtsschreibung im frühneuzeitlichen Hessen. In: Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Werner Rösener. Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung. Band 8), S. 205–226, hier S. 210. 68 Vgl. Oliver Auge: Selbstverständnis und Erinnerungskultur der Herzöge von Pommern um 1500. Baltische Studien. Pommersche Jahrbücher für Landesgeschichte N. F. 93 (2007), S. 7–28, hier S. 9; Ders: Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit. Ostfildern 2009 (Mittelalter-Forschungen. Band 28), S. 322. 69 Vgl. Die Mecklenburger Fürstendynastie und ihre legendären Vorfahren. Die Schweriner Bilderhandschrift von 1526. Hg. von Andreas Röpcke. Bremen 1995, S. 9. 70 Abdruck in: Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Alterthumskunde 11 (1846), S. 330–332. 71 Schweriner Bilderhandschrift. Hg. von Röpcke (wie Anm. 69), S. 9f.; Auge: Handlungsspielräume fürstlicher Politik (wie Anm. 68), S. 323‒325. 72 Vgl. Vinzenz Czech: Legitimation und Repräsentation. Zum Selbstverständnis thüringischsächsischer Reichsgrafen in der frühen Neuzeit. Berlin 2003 (Schriften zur Residenzkultur. Band 2), S. 32‒40; Mötsch: Grafen (wie Anm. 24), S. 404f.



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Abb. 11: „Die Ankunft der Hertzogen von Megkelburg, aus dem koniglichen Stammen der Obetriten geborn“. 1526 Abbildung aus der «Genealogie des mecklenburgischen Fürstenhau ses» von Erhard Altdorfer Inschrift: links: Anthyrius Crullus, des Gebluts von den Amaßonen, oberster Haubt mann Alexandri Magni, der Werlischen und Obetriten erster Konigk, rechts: Symbulla, sein Gemahel, von konigli chem Stamme der Goten. Schwerin, Mecklenburgisches Landeshauptar chiv, 1. 12‒2 Fürstengenealogien Nr. 1.



Abb. 12: Wappen der Grafen von Henneberg-Römhild. 1491, Wappen mit aufgenommener „Colonna-Säule“. Römhild, Schloss, Turm des Mittelbaus.

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Das Bild wird noch uneinheitlicher, wenn wir uns der liturgischen Memoria zuwenden. In diesem Bereich fehlt der Bezug auf die mythischen Vorfahren völlig, sondern die Dynasten gingen in ihren Seelenheilstiftungen namentlich meist nur bis zur Großelterngeneration zurück und schlossen die weiteren Vorfahren ganz pauschal in ihr Gedenken ein.73 Auch bei den auf den Grabdenkmälern angebrachten Wappen spielten schon aus Platzgründen nur die ersten zwei oder drei Generationen eine Rolle.74 Selbst dabei gab es Schwierigkeiten, da es den Fürsten an präzisen Kenntnissen der eigenen unmittelbaren Vorfahren mangelte.75 Auch bei den Ahnenproben, die für die Aufnahme geistlicher Söhne in die Domkapitel erstellt wurden, lässt sich beobachten, dass die Fürsten und Grafen unsicher über die Urgroßeltern waren. So hatte Kurfürst Ludwig V., der seinen Bruder Ruprecht als erstes Mitglied der Kurlinie in den geistlichen Stand abordnen wollte, offenbar Schwierigkeiten, die vom Kölner Domkapitel verlangte Ahnenprobe für die väterliche Linie zu erstellen. Er schickte deshalb die bereits besiegelte Urkunde seinem väterlichen Onkel Pfalzgraf Otto mit der Bitte, die Angaben zu überprüfen und insbesondere die Urgroßeltern einzutragen, weil er selbst diese nicht wisse und deshalb entsprechenden Platz freigehalten habe.76 Als letzte Sonde zur Auslotung des konkreten genealogischen Wissens sollen autobiographische Zeugnisse dienen. So lässt Karl IV., der später in der Burg Karlstein seine weit zurückreichende Genealogie als Propagandamedium nutzte, die Schilderung seiner Herkunft in seiner Autobiographie mit seinem Großvater Kaiser Heinrich VII. beginnen, der die Tochter des Herzogs von Brabant zur Frau genommen hatte.77 Weitere Vorfahren aus der väterlichen oder mütterlichen Linie nennt er nicht, obwohl 73 Vgl. Jean-Marie Moeglin: Zur Entwicklung dynastischen Bewußtseins der Fürsten im Reich vom 13. zum 15. Jahrhundert. In: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof. Hg. von Bernd Schneidmüller. Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. Band 7), S. 523–540, hier S. 526‒540; Stauber: Herrschaftsrepräsentation (wie Anm. 20), S.  386‒389; Karl-Heinz Spiess: Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters. 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1993 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 111), S. 488f.; Ders.: Liturgische Memoria (wie Anm. 12), S. 115f. 74 Vgl. Heck: Genealogie als Monument (wie Anm. 13), S. 161‒164. Mehr als 32 oder gar 64 Ahnenwappen ließen sich auf einem Grabmal nicht unterbringen. 75 Vgl. Heck: Genealogie als Monument (wie Anm. 13), S. 175‒178 am Beispiel der Grablege der Landgrafen von Hessen in Marburg. 76 Vgl. Spiess: Familie und Verwandtschaft (wie Anm. 73), S.  42f. mit einer Rekonstruktion der Ahnenprobe. Vgl. auch Werlich: Genealogische und heraldische Bemühungen (wie Anm. 25), S. 431‒433 zu den Fehlern, die Anastasia von Brandenburg bei der Aufstellung einer bis auf die Urgroßeltern ihres Ehemannes Wilhelm IV. von Henneberg reichenden Ahnenprobe unterliefen. Die Zimmersche Chronik berichtet von der gefährlichen Versuchung, Ahnen aus früheren Generationen, von denen man keine Namen kennt, mit Phantasienamen zu belegen, da solche Ahnenproben im Fall der Aufdeckung des Schwindels Nachteile für den Probanden mit sich führen könnten. Die Chronik der Grafen von Zimmern. Handschriften 580 und 581 der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen Band 3. Hg. von Hansmartin Decker-Hauff. Sigmaringen 1972, S. 72‒74. 77 Vita Caroli Quarti. Die Autobiographie Karls IV. Hg. von Eugen Hillenbrand. Stuttgart 1979, S. 80f.



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die Herzöge von Brabant in der späteren gemalten Genealogie den Anschluss an Karl den Großen ermöglichten.78 Könnte man in diesem Fall noch damit argumentieren, dass der kaiserliche Großvater alle anderen Vorfahren überstrahlte, deren Nennung somit überflüssig wurde, so liefern die autobiographischen Aufzeichnungen des Wild- und Rheingrafen Johann V. aus dem Jahr 1476 ein durchaus vergleichbares, aber noch lückenhafteres Bild. Er nennt nur die Großmutter, aber noch nicht einmal den Großvater und erwähnt auch nicht, dass ein Bruder des Großvaters wenige Jahrzehnte zuvor Mainzer Erzbischof gewesen war und auf diese Weise dem Geschlecht fürstlichen Glanz vermittelt hatte.79 Es gilt aber wohl zu trennen zwischen dem unvollständigen Wissen über die schon länger verstorbenen Mitglieder der eigenen Dynastie und dem Bewusstsein für verwandtschaftliche Zusammenhänge zwischen den Dynastien, die nötig waren, um den Wirkverbund der Lebenden zu aktivieren.80 So ließ Herzog Friedrich der Schöne von Österreich bei seiner 1312 erfolgten Werbung um die Tochter König Jakobs von Aragon vortragen, er könne aus keiner deutschen Dynastie eine Braut nehmen, da er mit allen verwandt sei. Danach wird aufgezählt, der Herzog von Kärnten sei der Bruder seiner Mutter, der Herzog von Brandenburg der Sohn seiner Schwester, der Herzog von Bayern sein Onkel, der Herzog von Sachsen sei der Sohn seiner Tante ebenso wie der Pfalzgraf bei Rhein.81 Auch wenn es hier vordergründig um das Verbot von Verwandtenehen ging, hatte der Herzog doch deutlich gemacht, wie gut er mit den regierenden Fürsten vernetzt war. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nach den Kloster- und Stiftschroniken erst die im Auftrag oder im Umfeld der Herrscher entstandene Hofhistoriographie durch ihre genealogischen Bemühungen die dynastischen Identitäten prägte. Bedeutsamer als die Schriften dürften jedoch die bildlichen Umsetzungen der jeweiligen Genealogie gewesen sein, da sie den Regenten im Alltag vor Augen standen und so leichter Eingang in deren Bewusstsein finden konnten. Allerdings haben nicht alle Fürsten und Grafen die von der Hofhistoriographie gebotene Chance zur Konstruktion einer mythischen Genealogie genutzt, denn einige griffen bei ihrer Identitätsbildung nur auf einen historisch nachweisbaren Spitzen­ 78 Siehe Anm. 15. 79 Siehe die Edition bei Hans-Walter Herrmann: Autobiographische Aufzeichnungen des Wildund Rheingrafen Johann V. In: Deus qui mutat tempora. Menschen und Institutionen im Wandel des Mittelalters. Festschrift für Alfons Becker zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag. Hgg. von ErnstDieter Hehl u. a. Sigmaringen 1987, S. 335–353, hier S. 346–348; Spiess: Familie und Verwandtschaft (wie Anm. 73), S. 490. Auch bei der ritterschaftlichen Familie von Ehenheim reicht die konkrete Erinnerung an die Vorfahren nur zwei bis drei Generationen zurück, vgl. Rabeler: Familienbuch (wie Anm. 1), S. 22. 80 Spiess: Familie und Verwandtschaft (wie Anm. 73), S. 500‒531. 81 Heinrich Ritter von Zeissberg: Elisabeth von Aragonien, Gemahlin Friedrich’s des Schönen von Oesterreich (1314–1330). Wien 1898 (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zu Wien, Philosophisch-Historische Klasse. Band 137), S. 135.

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ahn zurück. Im scharfen Gegensatz zu dem mehr oder weniger weit zurückreichenden Herkunftsbewusstsein steht allerdings der Mangel an präzisen genealogischen Kenntnissen der eigenen unmittelbaren Vorfahren. Für die Konstruktion einer dynastischen Identität war ein mehr oder weniger diffuser Ahnenstolz offenbar wichtiger als der Name des eigenen Urgroßvaters.

Harald Müller

Gelehrte und Geschichte Formen historischer Selbstvergewisserung der RenaissanceHumanisten Das Thema ‚Humanismus und Geschichtsschreibung‘ scheint im Kern ausgeforscht. Es besteht Konsens darüber, dass die Anhänger dieser Bildungsbewegung neue Formen der Historiographie in den Bezugsrahmen natio, gens, patria, civitas und regio auf den Weg brachten. Monographien und Sammelbände, die sich mit Methoden und Konzeptionen, mit der Entdeckung des Autochthonie-Gedankens für die Geschichte der natio oder mit einzelnen Werken aus dem Fundus humanistischer Historiographie beschäftigen, füllen viele Regalmeter. In diesen Texten ist immer auch die Themenstellung der Tagungsreihe präsent, denn gerade die humanistisch befeuerten Vergangenheitsentwürfe dienten in hohem Maße der mentalen Konstituierung und Konsolidierung von Reichen, Territorien, Städten oder Dynastien, sind im weitesten Sinne durchgängig den Gedanken des ‚nation building‘ verhaftet, ganz gleich welche geographische oder politische Reichweite diese Abstammungs- oder Lebensgemeinschaften besaßen. Es erscheint kühn, diesem wohlgefügten Mosaik ein neues Steinchen hinzufügen zu wollen. Und doch dürfte ein kritischer Blick lohnen, wenn man sich vor dem Hintergrund des Rahmenthemas ‚Vergangenheitsentwürfe und Identitätsbildung‘ zwei Dinge klarmacht: Zum einen sind die Humanisten in fast ausschließlicher Weise als historiographische Dienstleister begriffen worden. Sie konstruierten die Geschichte a n d e r e r in methodisch und sprachlich neuem Gewand; nicht umsonst formulierte Paulo Emilio: Gallis condimus historias.1 Humanistische Geschichtsschreiber agierten ungeachtet eigener patriotischer Bezüge oft als Auftragsschreiber, als ‚Fremdarbeiter‘. Die eigene Geschichte der Humanisten, die Selbstthematisierung als intellektuelle Bewegung, ist dagegen in weiten Teilen eine Leerstelle der Forschung geblieben. Dabei ist für die Frage nach einem historischen Eigenbewusstsein dieser Gruppe und nach dessen Formen zum anderen nachdrücklich daran zu erinnern, dass humanistisch interessierte Gelehrte prinzipiell einen eindeutigen Vergangenheitsbezug pflegten. Sie waren in ihrem Tun unentrinnbar historisch gebunden, denn sie bezogen 1 Vgl. Franck Collard: Paulus Aemilius’ De rebus gestis Francorum. Diffusion und Rezeption eines humanistischen Geschichtswerks in Frankreich. In: Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten. Hgg. von Johannes Helmrath u. a. Göttingen 2002, S.  377–397, hier S.  377. Zu einer möglichen Deutungsvariante des klassisch gewordenen Ausdrucks vgl. Harald Müller: Geschichtsschreibung am Hof und römische Antike im 16. Jahrhundert. Zusammenfassende Bemerkungen. In: Historiographie des Humanismus. Literarische Verfahren, soziale Praxis, geschichtliche Räume. Hgg. von Johannes Helmrath u. a. Berlin 2013 (Transformationen der Antike. Band 12), S. 321–330, hier S. 329. DOI 10.1515/9783110578805-002

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die Impulse hierfür aus einer distinkten, vergangenen Epoche: Der Antikebezug war konstitutiv für ihre Ästhetik, ihre Wertmaßstäbe und ihr Selbstverständnis.2 Es wäre überspitzt zu behaupten, die Geschichte der Historiographie und ihrer Prägungen habe mit Blick auf die Humanisten eine gewisse Fehlsichtigkeit entwickelt, indem sie vor allen Dingen auf den politischen Bezugsrahmen, auf die methodische Komponenten und auf eine in die Moderne vorausweisende wissenschaftliche Konzeption ihrer Geschichtsschreibung schaue – Historiographie als bloßes Werkstück! – und dabei das Selbstverständnis der Akteure aus der jeweiligen Applikation ableite sowie dies anschließend im Sinne einer „humanistischen Geschichtsschreibung“ kollektiviere.3 Aber: Die Frage nach der historischen Selbstthematisierung der Humanisten bleibt weitgehend offen – wohl auch weil zu konstatieren ist, dass sich, anders als im Bezugsfeld von natio und terra mit seinen Schlüsselbegriffen wie antiquitas, Ethnizität oder Autopsie,4 hier keine innovative oder auch nur signifikante Gattungskonzeption zur Untersuchung aufdrängt. Im Übrigen führen auch die Studien, in denen die Instrumente zur Stabilisierung einer humanistischen Gruppenkultur behandelt werden, Partizipation ermöglichende Geschichtsentwürfe allein in patriotischer Perspektive auf.5 Aus diesen Beobachtungen und aus dem zu konstatierenden Fehlen zeitgenössischer ‚Geschichten der humanistischen Bewegung‘, lässt sich natürlich nicht ableiten, dass Vergangenheitsentwürfe oder auch nur die Nutzung historischen Wissens, das einer Identitätsprofilierung der Gruppe hätte Vorschub leisten können, bei den Humanisten nicht existierten. Man muss vermutlich nur bescheidener ansetzen. Wie schon andere vor ihnen schöpften die Humanisten Anleitung, Legitimation und Selbstbewusstsein aus ermutigenden Exempeln der Vorläufer auf ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern, also in den Bereichen von Bildung, Wissenschaft und Weisheit. 2 Vgl. Johannes Helmrath: Wege des Humanismus. Einleitung. In: Ders.: Wege des Humanismus. Studien zu Praxis und Diffusion der Antikeleidenschaft im 15. Jahrhundert. Ausgewählte Aufsätze Band 1. Tübingen 2013, S. 1–15, hier S. 3–6. 3 Exemplarisch zu nennen Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991. 4 Vgl. dazu die Überlegungen von Johannes Helmrath: Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500. In: Landesbewusstsein im späten Mittelalter. Hg. von Matthias Werner. Ostfildern 2005 (Vorträge und Forschungen. Band 61), S. 333–392; wieder abgedruckt in Helmrath: Wege (wie Anm. 2), S. 213–278. 5 Christine Treml: Humanistische Gemeinschaftsbildung. Sozio-kulturelle Untersuchung zur Entstehung eines neuen Gelehrtenstandes in der frühen Neuzeit. Hildesheim 1989 (Historische Texte und Studien. Band 12), S. 158–178; Ulrich Muhlack: Das Projekt der Germania illustrata. Ein Paradigma der Diffusion des Humanismus? In: Diffusion. Hgg. von Helmrath u. a. (wie Anm. 1), S.  142–158, sieht hier gleichsam ein kulturnationales Gemeinschaftswerk. Eher skeptisch diesbezüglich Gernot Michael Müller: „Quod si Chunradi Celtis ‚Illustrata Germania‘ nobis obtingere potuisset, fuisset profecto susceptus iste labor et certior et facilior.“ Johannes Cochlaeus’ Brevis Germania descriptio und die Bedeutung des Conrad Celtis für die humanistische Landeskunde in Deutschland. PirckheimerJahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 19 (2004) S. 140–181, hier S. 179–181.



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Diese Vorbilder wurden gleichsam als Garanten des rechten Weges in Wort und Tat präsentiert. Sie dienten als Ankerpunkte, die eine historisch identifizierbare und in die Gegenwart fortwirkende Identität der Gemeinschaft Gleichinteressierter verbürgten. Die Vorgehensweise ist simpel, vollzieht sich aber in unterschiedlichen Formen. Im Folgenden werden daher zwei Bereiche unterschieden: zunächst die bewusste Schaffung zeitübergreifender Gemeinschaft ohne explizite Ansätze historischer Darstellung; sie bildet das gedankliche Grundmuster. Der zweite Bereich enthält eine historiographische Komponente. Er nimmt noch einmal die wohlbekannte Gattung der Catalogi oder Viri illustres-Reihen in den Blick, um diese auf retrospektive Identitätsbildung hin zu befragen und den Befund am Ende thesenartig zuzuspitzen. Mit der sehr gerafften, auch in der Schriftfassung beibehaltenen Form des Vortrags verbindet sich die Sorge des Verfassers, ob am Ende in die Texte nicht mehr hinein- als aus ihnen herausgelesen wird.

1 Vergangenheitsbezug ohne explizite historische Darstellungsabsicht Für die Schaffung von Gemeinschaft mit Gleichgesinnten in ihrer Gegenwart setzten die Humanisten unterschiedliche Mittel ein. Die Palette reichte von Gastmählern und Ausflugsfahrten, über umlaufende Kleindichtung bis hin zu gemeinsamen Editionsvorhaben. Vieles darüber wissen wir durch die Vermittlung des gemeinschaftsbildenden Mediums schlechthin, des humanistischen Briefes und seiner Sammlungen. Über den aktuellen Nachrichtenwert der Schreiben hinaus wurde in den Briefen häufig gegenwärtige, aber auch in die Vergangenheit zurückgreifende Gemeinschaft konstruiert.6 Das geschah mit großer Selbstverständlichkeit, etwa wenn Niccolò Machiavelli (1469–1527) von seinem allabendlichen, feierlich inszenierten Rendezvous mit antiken Klassikern berichtete und dadurch nicht nur die Gemeinschaft mit dem Adressaten des Briefes herstellte, sondern sich zugleich, Jahrhunderte überspringend, in eine literarische Dialoggemeinschaft brachte.7 Expliziter noch geschah dies, wenn Francesco Petrarca (1370–1374) in seinen «Epistolae familiares» nicht nur eine formale Anleihe bei Cicero machte, sondern in seinem 24. Buch das fiktive Gespräch mit eben jenem Cicero, aber auch mit Sokrates suchte, deren Wirken er wie ein guter Freund beurteilte. Er konstruierte diese virtuelle Gemeinschaft, um die Quellen des eigenen Wissens offenzulegen und dem Leser seine Vorliebe für die Antike zu 6 Grundlegend Treml: Gemeinschaftsbildung (wie Anm. 5); Harald Müller: Specimen eruditionis. Zum Habitus der Renaissance-Humanisten und seiner sozialen Bedeutung, In: Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. Hg. von Frank Rexroth. Ostfildern 2010 (Vorträge und Forschungen. Band 73), S. 117–151, hier S. 125–130. 7 Müller: Specimen (wie Anm. 6), S. 117f.

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demonstrieren. Insbesondere die fiktive Epistel an Sokrates erläutert zugleich Petrarcas Briefkonzeption, in der die litterae Teile eines colloquium waren, das selbst beim Tod eines der Partner tunlichst nicht abreißen sollte.8 Der betonte Hinweis des Dichters auf das Interessenfeld Antike war damit ein Akt der sozialen Zuordnung, wenn man so will, der Selbsteinschreibung in diesen zeitlos bewundernswerten Zirkel. Er kann wie auch bei Macchiavelli als Demonstration einer partizipativen Identität gelesen werden. In allen Fällen ist jedoch stets noch ein Dritter im Bunde: der oder die Leser, denn nicht nur bei Petrarca müssen wir von einer sorgfältigen Stilisierung der veröffentlichten Briefe ausgehen. Durch das ausdrückliche Einbeziehen von Antike werden gemeinsame Neigungen und Wertmaßstäbe von Absender und Adressat bzw. Leser postuliert; wir bewegen uns also stets unter Humanisten, wenngleich in einem weiteren Sinn. Noch deutlicher tritt dieser Mechanismus in Situationen persönlicher Verunsicherung zu Tage. Ein Musterbeispiel hierfür bietet ein Brief, den der Benediktiner Sigismund Meisterlin in den 1460er Jahren aus Padua an seinen Augsburger Mentor Sigismund Gossembrot schrieb. Die Theologen der dortigen Universität beschimpften ihn dem Anschein nach wegen seiner Vorliebe für die studia humanitatis. Ausführlich geht Meisterlin auf deren Argumente ein: Sie bezeichneten sich selbst als Philosophen, seien jedoch nicht in der Lage, die Lehren der rechtgläubigen Väter zu verstehen; dazu fehle ihnen schlicht die Grundlage. Verweise er auf Cicero, Sallust, Livius oder Valerius Maximus, so schrien sie: Ite cum poetis vestris – „Geht weg mit Euren Dichtern“. Nichts verstünden sie von der Philosophie Ciceros, von den historiographischen Werken eines Beda, Eusebius oder Hieronymus. Ausgerechnet solche aber behaupteten, Augustinus zu begreifen!9 Charakteristisch dann die Wendung 8 Francesco Petrarca, Epistolae familares XXIV. Vertrauliche Briefe. Hg. von Florian Neumann. Mainz 1999, S. 52–57, Nr. 3 (an Cicero), S. 195–201, Nr. 13 (an Sokrates). Zur Funktion des Briefes vgl. Helene Harth: Überlegungen zur Öffentlichkeit des humanistischen Briefs am Beispiel der Poggio-Korrespondenz. In: Kommunikationswesen und Korrespondenzpraxis im Mittelalter und in der Renaissance. Hg. von Heinz-Dieter Heimann in Verbindung mit Ivan Hlaváček. Paderborn 1998, S. 127–137, hier S. 130 Anm. 11; ebd., S. 130f., auch zur Sache. Vgl. auch Gerlinde Huber-Rebenich: Officium und amicitiae. Beobachtungen zu den Kriterien frühneuzeitlicher Briefsammlungen am Beispiel der von Joachim Camerarius herausgegebenen Hessus-Korrespondenz. In: Mentis amore ligati. Lateinische Freundschaftsdichtung und Dichterfreundschaft in Mittelalter und Neuzeit. Festgabe für Reinhard Düchting zum 65. Geburtstag. Hgg. von Boris Körkel u. a. Heidelberg 2001, S.  145–156, die auf S. 147 darauf hinweist, dass ein Brief auch vergangene Gemeinschaft wieder erstehen lässt und somit auch eine Erinnerungs- und Vorbildfunktion besitzt. Zum Thema zuletzt (mit Literatur) Birgit Studt: Humanisten im Gespräch. Eine Murbacher Sammlung von Briefzeitungen als Ort historiographischer Information. In: Humanisten edieren. Gelehrte Praxis im Südwesten in Renaissance und Gegenwart. Hgg. von Sabine Holtz u. a. Stuttgart 2014 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen. Band 196), S. 61–76, hier S. 61f. 9 Paul Joachimsohn: Die Humanistische Geschichtsschreibung in Deutschland. Heft 1: Die Anfänge. Sigismund Meisterlin. Bonn 1895; ND in: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance,



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des Briefs von der erbosten Klageschrift zur Solidaritätsadresse. Ein akklamierendes Tu vero, vir egregie, leitet die wissenschaftliche Verbrüderung mit dem Empfänger ein. Gegen die ignorante, aber reale Schar der Theologen in Padua sucht Meisterlin Zuflucht in der virtuellen Gemeinschaft derjenigen, die an der vera eruditio teilhaben: Laktanz, Augustin, Hieronymus und – neben diesen Monumenten antiker und zugleich christlicher Gelehrsamkeit – Sigismund Gossembrot.10 So konstruiert man eine gleichgesinnte intellektuelle Elite mit historischen Wurzeln! Hierzu passte perfekt das den Brief begleitende Buchgeschenk, die «Civitas Dei» des Augustinus. Gossembrot solle, so Meisterlin, deren Ränder in Besitz nehmen, sie reichlich mit Glossen versehen; die entsprechenden Autoren dazu seien in seiner Bibliothek ja vorhanden. Der Benediktiner kannte die Büchersammlung seines Augsburger Mentors, und er schloss ganz bewusst thematisch den Kreis zum Beginn des Briefes. Dort hatte er Gossembrot und sich selbst als von der Welt abgeschiedene, hochkonzentrierte Betrachter eines verderbten Augustinus-Textes präsentiert – Augustin als der ‚unsichtbare Dritte‘ in dem gelehrten, die Zeit übergreifenden Triumvirat.11 Nicht nur in dieser Situation fällt auf, dass Autoren und ihre Texte als Autoritäten be- und verhandelt werden. Vor allem im aufkeimenden Humanismus wurden die Bücher mit ihren Verfassern identifiziert, wurden geradezu als Personifizierung der Autoren betrachtet, mit denen man über die Textlektüre in ein fiktives Gespräch treten konnte. Derartige Teilhabe verlieh den eigenen Interessen Gewicht und sich selbst Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken. Hg. von Notker Hammerstein. Band 2. Aalen 1983, S. 123–461, hier S. 392: Proh deus, et cum ipsi philosophi velint videri ei eidem arti ab infancia incu[m]bant, tamen nobis obiciunt studia humanitatis, ut probrum. Bene quidem, et si alio argumento non convincerentur, vincunt se ipsos et ostendunt se verum orthodoxorum nominatorumque patrum scriptis parum incumbere, que sine hijs nequaquam intelligere possunt, dumque diffidunt apprehendere se posse sciencie noticiam, nobis detrahunt. Nec verentur, dum coram eis nominantur aut Tulius aut Salustius aut Titus Liuius aut Valerius, dicere: ‚Ite cum poetis vestris‘, egregiosque oratores, eximios historiographos poetas appellant, non considerantes, quanta et quanta in philosophia verus achademicus Cicero scripsit, nec quid Jeronimus in cronica sua, Beda, Eusebius ceterique de ipsis sumpserint. Intelligant tamen ipsi Augustinum et mihi obiciant, que non intelligam. 10 Joachimsohn: Geschichtsschreibung (wie Anm. 9), S.  392f.: Tu vero, vir egregie, qui solus pene nostris in partibus preditus es vera eruditione, non vulgata uel perturbata, quali utuntur aliqui, qui theologiam profitentur, sed legittima illa et ingenua, que literarum periciam cum rerum sciencia coniungit, qualis in Lactancio Firminiano, qualis in Aurelio Augustino, qualis in Jeronimo fuit summis profecto theologis et perfectis in litteratura viris, tu inquam, amator imitatorque talium accipe munus exiguum quod dat tibi pauper amicus. 11 Einen Beleg hierfür bietet die Sammelhandschrift Basel, Universitätsbibliothek, O.I.10 mit Korrekturnotizen von der Hand Meisterlins u. a. an Petrarcas Secretum. Neben Meisterlin war eine weitere Person an der Korrektur beteiligt, bei der es sich aufgrund der verzeichneten Daten September sowie 3. und 4. Oktober 1459 und besonders aufgrund der Ortsangaben wohl um Sigismund Gossembrot und sein Landgut in Untermeittingen handelt. Vgl. dazu mit Nachweisen Harald Müller: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog. Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe. Band 32), S. 144 mit Anm. 23.

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eine fachliche Identität, die sich aus ebendieser konstruierten Beziehung speiste.12 Die zweifellos toposbeladenen Schilderungen der Bergung antiker Klassiker in den nordalpinen Klöstern durch Humanisten wie Poggio Bracciolini (1380–1459) lassen sich unter diesem Aspekt der Personalisierung und Identifikation lesen. Die Auffindung der buchstäblich nach Befreiung aus den finsteren Verliesen schummriger Konventsbibliotheken schreienden Autoren katapultierte die Handschriften-Entdecker nicht nur in den Status von Heroen der humanistischen Bewegung, sondern brachte sie als Erretter der Autoren in ein fiktives persönliches, ja familiäres Nahverhältnis zu diesen. Das war neben der individuellen Nimbuspflege ein geradezu haptischer Ausdruck der Partizipation an humanistischen Interessen, die anfangs weitgehend exklusiv an vorbildhafte antike Autoren wie Cicero, Tacitus oder Plinius den Jüngeren geknüpft waren. In der sozial ungeformten und inhaltlich wandelbaren Welt der Humanisten war dies eine mögliche Form, die Begeisterung für Antike und antike Texte, eigene fachliche wie mentale Dispositionen zu konturieren und untereinander zu kommunizieren.

2 Vergangenheitsbezug mit historiographischer Darstellungsabsicht Vor diesem Hintergrund der personalisierten Vergangenheitsbezüge lohnt der erneute Blick auf die Catalogi bzw. die Reihen der viri bzw. gelegentlich auch der mulieres illustres. Auch wenn es deutliche antike Gattungsvorläufer gibt, so erscheint die Personenliste doch als typisch mittelalterliche Form der historischen Aufzählung, chronologisch geordnet etwa in Ämterlisten für Bischöfe und Äbte, oder nach Autoren geordnet als frühe Form der Literaturgeschichte. Dennoch erlebte das Genre eine bemerkenswerte humanistische Renaissance. Niemand Geringeres als Francesco Petrarca (1304–1374) gab den Impuls, aufgegriffen wurde er – in jeweils anderem Gewand und mit differenten Zielsetzungen – von Giovanni Boccaccio (1313–1375), Bartholomeo Facio (†1457), Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), Vespasiano da Bis-

12 Vgl. beispielhaft den Brief des Cincius Romanus an Francesco da Fiano über Handschriftenfunde in St. Gallen (1416). In: Die Kultur des Humanismus. Reden, Briefe, Traktate, Gespräche von Petrarca bis Kepler. Hg. von Nicolette Mout. München 1998, S. 96–99 sowie die einführenden Bemerkungen dazu ebd., S. 93. Zu den Handschriftenjagden immer noch lesenswert Georg Voigt: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus Band 1. Berlin 3. Aufl. 1893, S. 232–265. Vgl. zur Identifizierung von Autor und Werk in diesen Kontexten auch Harald Müller: Das Buch im Brief – ein Mittel humanistischer Identitätsbildung. In: Buchkulturen des deutschen Humanismus (1430–1530). Netzwerke und Kristallisationspunkte. Hgg. von Anna Eusterschulte u. a. Leiden/New York (Studies in Medieval and Reformation Tradition) (seit langem im Druck).



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ticci (†1497), Johannes Trithemius (1483–1516) und Giorgio Vasari (1511–1574), um nur einige der bekanntesten Autoren zu nennen.13 Es handelt sich bei diesen Katalogen der illustren Figuren – vereinfacht gesagt – um Heldengeschichtsschreibung. Sie liegt einem Humanismus, in dem die Kategorie des individuellen Ruhms bedeutend ist, durchaus nicht fern.14 Um eine Heldengeschichtsschreibung freilich, deren Zuschnitt sich mit ihrer jeweiligen Perspektive ändert: Italiener bei Facio, Frauen bei Boccaccio, Künstler bei Vasari. Besonders flexibel war Johannes Trithemius, der aus einer großen, fast 1000 Autoren umfassenden eigenen Sammlung mehrere Kataloge gleichsam herausdestillierte (in der Reihenfolge ihrer Entstehung): hervorragende Benediktiner (1492), Schriftsteller der christlichen Kirche (1492–1494), hervorragende Karmeliter (1494) und schließlich Gelehrte Germaniens (1491–1495).15 Der Bezugsrahmen Kirche, Ordensgemeinschaft oder natio wird auch hier jeweils ausgefüllt mit Schriftstellern im Sinne von geistig-literarisch aktiven Personen, nicht primär mit Asketen, Politikern oder erfolgreichen Geschäftsleuten. Es entstehen dadurch charakteristische Autorenpanoramen oder besser noch: anspor-

13 Vgl. zur Gattungsentwicklung Paul Lehmann: Literaturgeschichte des Mittelalters. Germanischromanische Monatsschrift 4 (1912) S. 569–582, 617–630, 690, wieder abgedruckt in: Ders.: Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze Band 1. Stuttgart 1941 (ND 1959), S. 82–113; Richard H. Rouse und Mary A. Rouse: Bibliography before print. The medieval ‚De viris illustribus‘. In: The role of the book in medieval culture. Hg. von Peter Ganz Band 1. Turnhout 1986 (Bibliologia. Band 3), S. 133–154; Ottavio Clavuot: Flavio Biondos Italia illustrata. Porträt und historisch-geographische Legitimation der humanistischen Elite Italiens. In: Diffusion. Hgg. von Helmrath u. a. (wie Anm. 1), S. 55–76, hier S. 55f., mit Einzeltitelnachweisen in größerer Zahl. 14 Vgl. zur parallelen Entwicklung der viri illustres im Bereich des Visuellen und Haptischen Johannes Helmrath: Bildfunktionen der antiken Kaisermünze in der Renaissance oder Die Entstehung der Numismatik aus der Faszination der Serie. In: Zentren und Wirkungsräume der Antikerezeption. Zur Bedeutung von Raum und Kommunikation für die neuzeitliche Transformation der griechischrömischen Antike. Festgabe für Henning Wrede zum 65. Geburtstag. Hgg. von Kathrin Schade u. a. Münster 2007, S. 77–97 mit Abb. 1–11; Fassung letzter Hand in Ders.: Wege (wie Anm. 2), S. 379–429, hier S.  380–384; ebd., S.  382 der Hinweis auf die Verbindung von Ruhmeskult und menschlichem Porträt mit einem Zitat Jacob Questenbergs von 1499: Nam qui litteras et virtutes amant etiam imagines, tum doctorum hominum, tum illustrium virorum apud se habere student, ne vel in hac parte saltem intereat eorum memoria; ediert in Giovanni Mercati: Questenbergiana. In: Ders.: Opere minori IV (1917–1936). Vatikanstadt 1937 (Studi e testi. Band 79), S. 453f. 15 Johannes Trithemius: De viris illustribus ordinis sancti Benedict. In: Ioannis Trithemii Spanhemensis (...) opera pia et spiritualia. Hg. von Iohannes Busaeus. Mainz 1604, S.  16–149; Johannes Trithemius: De laudibus ordinis fratrum Carmelitarum. Hg. von Peter von Friedberg. Mainz 1494; Johannes Trithemius: De scriptoribus ecclesiasticis. In: Johannis Trithemii opera historica. Hg. von Marquard Freher Band 1. Frankfurt 1601 (ND Frankfurt 1966), S. 184–400; Johannes Trithemius: Catalogus illustrium virorum Germaniae. In: ebd., S.  121–183. Vgl. zu den Katalogen Klaus Arnold: De viris illustribus. Aus den Anfängen der humanistischen Literaturgeschichtsschreibung. Johannes Trithemius und andere Schriftstellerkataloge des 15. Jahrhunderts. Humanistica Lovaniensia 42 (1993) S.  52–70 und insgesamt Ders.: Trithemius, Johannes OSB. In: VL². Hg. von Wolfgang Stammler Band 11. Berlin 2004, Sp. 1560–1565.

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nende Ahnengalerien, welche die (zuvor meist angefochtene) Leistungsfähigkeit der jeweiligen Gemeinschaft historisch untermauern sollen.16 Die langen Listen des Trithemius mit ihren biographischen Notizen und Werkzusammenstellungen sind nicht nur Nachweis akribischer Dokumentation, sondern auch Produkt von Auswahlentscheidungen. In einem Brief, der in der Druckausgabe dem Katalog der Kirchenschriftsteller vorangestellt ist, nimmt der gelehrte Sponheimer Abt mit seinen zeitweilig engen Kontakten zur Elite der deutschen Humanisten die Spur des Hieronymus auf. Dieser war ihm als Verfasser eines solchen Werkkatalogs vorausgegangen,17 doch nutzte Trithemius die Gelegenheit, einerseits die Parallelen seiner Arbeit zu der des Kirchenvaters herauszustellen – schon der Brief des Trithemius an den Franziskanerobservanten Albert Morderer aus Bad Kreuznach, der der Druckausgabe vorangestellt ist, findet sein historisches Vorbild im Schreiben des Hieronymus an dessen Freund Dexter –, andererseits aber auch auf die Unterschiede hinzuweisen. Denn Trithemius brach in einem Punkt mit der Konzeption des Bibelübersetzers: Er nahm auch professores saeculares in seine Liste auf und begründete dies mit drei Argumenten:18 1. Die Theologie habe ihren Ursprung in der Philosophie; Theologe könne nur sein, wer zuvor Philosoph gewesen sei. Der verbreitete Gedanke einer prisca theologia als gleichsam weltlich verhüllte Vorläuferin der christlichen Religion wird hier aufgegriffen.19

16 So entstanden die maßgeblichen Kataloge des Trithemius unter dem Eindruck des Streits um die unbefleckte Empfängnis Mariens, in dem die humanistischen Freunde an der Seite des Abtes gegen die Dominikaner um Wigand Wirt standen; dazu Klaus Arnold: Johannes Trithemius 1462–1516. Würzburg 1971, 2. erw. Aufl. 1991 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg. Band 23), S. 107. Jakob Wimpfeling: Catalogus Archiepiscoporum Moguntinorum. Geschichte der Mainzer Erzbischöfe. Kommentierte Ausgabe mit Übersetzung und Einleitung von Sigrid von der Gönna. München 2007 (Jacobi Wimpfelingi Opera Selecta II. Band 2), S.  174f., drückt in seinem Widmungsschreiben an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg die Hoffnung aus, dieser möge in die Fußstapfen seiner guten Vorgänger treten. Das knappe Vorwort zum «Catalogus» (S. 176f.) betont indes ausschließlich die in den Zeiten der Christenverfolgungen beginnende, mitunter nur sehr spärlich dokumentierte kontinuierliche Geschichte des Mainzer Bistums. 17 Hieronymus: De viris illustribus. Berühmte Männer. Mit umfassender Werkstudie hg., übers. und kommentiert von Claudia Barthold. 2. verb. Aufl. Mülheim/Mosel 2011. 18 Johannes Trithemius: 2 April 1492. Hg. von Freher (wie Anm. 15), S. 187. Die Stilisierung nach Hieronymus wird auch in den «Viri illustres Germaniae» deutlich, wenn Trithemius die Abgelegenheit seiner Abtei in derselben Weise charakterisiert wie der Kirchenvater seinen Wirkungsort Bethlehem: Ego enim in angulo Germaniae constitutus [...]; Johannes Trithemius: Viri illustres Germaniae. Hg. von Freher (wie Anm. 15), S. 123. 19 Johannes Trithemius: 2 April 1492. Hg. von Freher (wie Anm. 15), S. 187: Omnis Theologorum schola a philosophia iam studendi sumit exordium, adeo ut theologus esse non possit, qui prius philosophus apud eos non extiterit (Zl. 18–20). Vgl. Noel L. Brann: The Abbot Trithemius (1462–1516). The Renaissance of Monastic Humanism. Leiden 1981 (Studies in the History of Christian Thought), S. 223–227, dort auch nicht immer fehlerfreie Übersetzungen der lateinischen Passagen.



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2. Der Theologe brauche die Kraft der Rhetorik, um überzeugen zu können; Idealbild ist der theologus orator.20 3. Die Dichter seien nicht zu verdammen, sie erfüllten vielmehr in poetischem Gewand eine moralpädagogische Funktion. Hier lässt sich das fast gleichzeitige Insistieren des Konrad Celtis in seiner Ingolstädter Antrittsrede auf der Bedeutung des poeta vates unmittelbar wiedererkennen.21 Kurz gefasst: Trithemius integriert Philosophen, Oratoren und Dichter in seinen Kosmos christlich-literarischer Leistungsfähigkeit und damit in sehr grundsätzlicher Weise die humanistischen Kernbereiche von Rhetorik, Poetik und Moralphilosophie. Die Nennung humanistischer Heroen vom Schlage eines Francesco Petrarca, Leonardo Bruni, Lorenzo Valla, Francesco Filelfo, aber auch eines Marsilio Ficino als der Krone einer platonischen Theologie wirkt in diesem Zusammenhang emblematisch.22 Seine christlich bestimmte Perspektive gab Trithemius dabei nicht auf, er machte sie zum Rückgrat eines intellektuell weiter gefassten ‚Autoritätenkorpus‘. An dieser Stelle ist zu Petrarca und dessen Neubelebung des viri illustres-Konzepts zurückzublenden. Das Vorwort zu diesem Werk gilt als ein Mustertext humanistischer Historiographie und ihres Selbstverständnisses. Ulrich Muhlack erkennt darin moralischen Impetus und literarisches Bemühen als humanistische Signaturen. Petrarca wollte neque pacificator historicorum neque collector omnium sein – weder Schlichter im Dissens unter Historikern, noch einer, der bloß alles zusammenträgt.23 Petrarca 20 Johannes Trithemius: 2 April 1492. Hg. von Freher (wie Anm. 15), S. 187: O utinam omnes theologi nostri temporis oratoriam colerent, quantum in Ecclesia Dei suis exhortationibus fructum producere possent (Zl. 24f.). 21 Johannes Trithemius: 2 April 1492. Hg. von Freher (wie Anm. 15), S. 187: sub umbra rei gestae vel fictae, quid agendum fugiendumue sit nobis compendio demonstrant (Zl. 28f.); Conradi Celtis Protucii Panegyris ad duces Bavariae. Mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar hg. von Joachim Gruber. Wiesbaden 2003 (Gratia. Bamberger Schriften zur Renaissanceforschung. Band 41), S. 38 (IV,10,5). Zur mannigfach variierten Kontroverse um den Wert der antiken Dichtkunst im christlichen Rahmen vgl. statt vieler Charles Trinkaus: In Our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italian Human­ ist Thought. Chicago 1970 (ND Notre Dame 1995), S. 685–704, sowie mit Beispielen aus der monastischen Lebenswelt des 15. Jahrhunderts Müller: Habit (wie Anm. 11), S. 117–127, 144f., 185. 22 Johannes Trithemius: De scriptoribus ecclesiasticis. Hg. von Freher (wie Anm. 15), S. 322 (Petrarca), 346 (Bruni), 346f. (Valla), 352, 374 (Filelfo), 381 (Ficino). Vgl. auch Brann: The Abbot Trithemius (wie Anm. 19), S. 208–221. 23 Ego neque pacificator historicorum neque collector omnium, sed eorum imitator quibus vel verisimilitudo certior vel auctoritas maior est; Francesco Petrarca: De viris illustribus. Hg. von Silvano Ferrone. Florenz 2006 (Francesco Petrarca. Opere. Band 3), S. 2. Vgl. dazu Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 3), S. 44f.; Eckhard Kessler: Antike Tradition, historische Erfahrung und philosophische Reflexion in Petrarcas Brief an die Nachwelt. In: Biographie und Autobiographie in der Renaissance. Hg. von August Buck. Wiesbaden 1983 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung. Band 4), S.  21–34, hier S.  23–26: antike Vorbilder als transzendente Ankerpunkte. Petrarca hatte die christlich gewordene viri illustres-Tradition wieder mit Antike gefüllt, so Walter Berschin: Sueton und Plutarch im 14. Jahrhundert. In: ebd., S. 35–43, hier S. 37.

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traf also eine Auswahlentscheidung, entwarf in 36 Viten seines Werks griechische, römische (und biblische) Geschichte entlang eines leitenden Tugendbegriffs. Seine römischen viri illustres sind öffentliche Personen – Staatshandelnde, deren Sein und Tun mit anspornendem Impetus beleuchtet wird.24 Innerhalb des viri-illustres-Konzepts konnten sich indes Auswahl, Anordnung und Präsentationsintensität je nach Verfasserinteresse verschieben, etwa im Sinne einer professionellen Differenzierung wie bei Bartolomeo Facio, der 1456/1457 an der Spitze seiner 93 viri illustres sechs Dichter und 35 Redner marschieren ließ, dann Rechtsgelehrte, Ärzte, Theologen, Maler, Bildhauer; es folgten fünf Privatleute, zehn Militärs und schließlich sieben Päpste und Herrscher, darunter der ausführlich gewürdigte Alfons V. von Aragón, in dessen Diensten Facio stand. Heroisierung und moralische Exemplifizierung führten dem Autor die Feder.25 Noch weiter verschoben bzw. anders fokussiert ist das Spektrum bei Trithemius. Seine Schriftstellerkataloge mit ihren Titellisten boten keinen Raum für elaborierte Viten à la Petrarca oder Facio. Gleichwohl verzichtete der Abt trotz des nüchternen Anstrichs als ‚Bücherverzeichnis‘ nicht auf den Anspruch, Anleitung in Form historischer Vorbilder zu geben. Er verlagerte die individuelle virtus auf die Ebene der intellektuellen Leistung und der daraus resultierenden Schrifterzeugnisse der doctores und ihrer Bücher – und er ordnete die Listen chronologisch! Die zur Kennzeichnung der gelehrten Schreiber verwendeten Epitheta bleiben dabei meist stereotyp: doctus atque sanctissimus; dulcis eloquio, ingenio promptus; in secularibus litteris egregie doctus.26 Die so Bezeichneten wurden zu individuellen Trägern einer Gelehrtenkultur, die zwar historischen Konjunkturen unterworfen war, aber doch kontinuierlich existierte, sei es im nationalen Rahmen oder im global-kirchlichen. Darin bestand zugleich ein sehr viel konkreterer, im weitesten Sinne professioneller Bezug zwischen dem Kompilator und seinen viri illustres, als es etwa bei Petrarca aufgrund des umfassenden und in seiner Expression wandelbaren Tugendbegriffs sein konnte. Trithemius führte seine christlichen Listen von Papst Clemens I. und Dionysius Areopagites – nicht von ungefähr wohl beides (vermeintliche) Schüler der Apostel Petrus und

24 Zur Intention einer vorbildorientierten Elitenbildung am Beispiel Flavio Biondos vgl. Clavuot: Flavio Biondo (wie Anm. 13), S. 59–61. 25 Bartholomaei Facii De Viris Illustribus Liber Nunc Primum Ex Ms. Cod. In Lucem Erutus. Recensuit, Praefationem, Vitamque Auctoris Addidit Laurentius Mehus Etruscae Academiae Cortonensis Socius, Qui Nonnullas Facii, Aliorumque Ad Ipsum Epistolas Adjecit Facius, Bartholomaeus. Florenz 1745. ND in: La storiografia umanistica. Convegno internazionale di studi, Messina 22-25 ottobre 1987 Band II. Messina 1992, S. 9–134. Vgl. Zu Facio Paolo Viti: Facio, Bartolomeo. In: Dizionario biografico degli italiani. Hg. vom Istituto dell’Enciclopedia Italiana Band 44. Rom 1994, S. 113a–121°, zum Werk zusammenfassend Mariarosa Cortesi: Bartholomäus Faccius. De viris illustribus. In: Hauptwerke der Geschichtsschreibung. Hg. von Volker Reinhardt. Stuttgart 1997, S. 178–182. 26 Z. B. Johannes Trithemius: Catalogus illustrium virorum Germaniae. Hg. von Freher (wie Anm. 15), S. 123.



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Paulus – bis in die eigene Gegenwart fort.27 Sich selbst fügte er als Schlussglied an und schrieb sich, den amor scripturarum als Leitmotiv final beschwörend, dadurch in die Traditionsliste der Gelehrsamkeit ein.28 In seinem Katalog berühmter Männer Germaniens ist der Zuschnitt anders. Er beginnt im Frühmittelalter mit Bischöfen von Mainz und Trier, dann folgt Bonifatius. Das Personenreservoir bleibt dabei gleich, das Vorgehen identisch, aber mit feinerem, differenzierendem Blick. Grundsätzlich wird nun bei der Charakterisierung zwischen litterae humanae und divinae geschieden, doch erst bei den eigenen Zeitgenossen verwendet der Abt die Kennzeichnung litterae humanitatis. Sebastian Brant ist ein tam in divinis scripturis quam in aliis literis humanitatis eruditissimus, Paul Schnevogel (Niavis) ein vir in litteris humanitatis (maxime in rhetorica) doctus et divinarum scripturarum non ignarus, Eitelwolf vom Stein ein vir nobilis et in literis humanitatis (maxime in philosophia et oratoria) doctissimus.29 Das gesamte Werk scheint in Reuchlin zu kulminieren, den der Abt praeceptor meus Graecus nennt und der trotz des ehelichen Bandes ungeahnt produktiv sei. Höhepunkt des wohlwollenden Zensors, der nach Belieben die schmückenden Epitheta verteilt: Reuchlin überrage selbst die Italiener! Die Liste der illustren Schriftsteller Germaniens endet dann wenige Seiten später mit: Trithemius selbst.30

3 Imitatio wird Sukzession Von dem gelehrten Sponheimer Abt und dessen mehrfacher Selbsteinschreibung in die Gelehrtenlisten ausgehend, lassen sich einige grundsätzliche Bemerkungen rechtfertigen. In den angesprochenen Szenarien werden zeitübergreifende Gemeinschaften konstruiert, ohne die historische Distanz wirklich aufzuheben; Tradition garan27 Im Kern wird hier die apostolische Sukzessionsliste imitiert, die vom ersten Schüler eines Apostels bis in die Gegenwart reichte und gerade in der Frühzeit des Christentums mit ihren mannigfachen dogmatischen Kontroversen die Authentizität und Reinheit der christlichen Lehre verbürgte. Erst später wurden daraus Bischofsverzeichnisse im Sinne der Amtsliste, die dann den vermeintlichen Gründungsapostel einschlossen, etwa Petrus für Rom. Grundlegend dazu immer noch Erich Caspar: Die älteste römische Bischofsliste. Kritische Studien zum Formproblem des Eusebianischen Kanons sowie zur Geschichte der ältesten Bischofslisten und ihrer Entstehung aus apostolischen Sukzessionsreihen. Berlin 1926 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse. Band 2, 4), S. 209–472, bes. S. 451–472. 28 Johannes Trithemius: De scriptoribus ecclesiasticis. Hg. von Freher (wie Anm. 15), S.  398f. Flavio Biondo brachte sich in der «Italia illustrata» bei der Würdigung von Poggios Cicero-Entdeckung geschickt mit ins Spiel und stellte so Anschluss an Finder und Fundobjekt her; vgl. Clavuot: Flavio Biondo (wie Anm. 13), S. 61. 29 Johannes Trithemius: Catalogus illustrium virorum Germaniae. Hg. von Freher (wie Anm. 15), S. 173, 179, 181. 30 Johannes Trithemius: Catalogus illustrium virorum Germaniae. Hg. von Freher (wie Anm. 15), S. 171f., 182f.

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tiert dignitas. Der Rückgriff in die Geschichte dient der Versicherung des eigenen Tuns und der Konturierung eigener Identität durch das Postulat der Ähnlichkeit; Autoren werden dazu wie mit einem Lasso eingefangen und festgehalten. In den viri illustresReihen wird dieser Vorbildcharakter der Einzelpersonen mit dem Gedanken spezifischer Produktivität kombiniert. Der Begriff der virtus changiert in den skizzierten Beispielen zwischen Lebensführung und literarischer Praxis. Vorbildhaftigkeit und intellektuelle Leistungsbilanz sind ineinander verschränkt. Die Serie wird – sofern chronologisch geordnet – zur Kontinuitätslinie, die imitatio wird zur Sukzession.31 Es entstehen Genealogien ohne genetisches Band. Denn was für Könige, Fürsten, Patrizier und Völker durch direkte Abstammung an Prestige zu gewinnen war, konnte Redner-, Schriftsteller- oder Gelehrtenindividuen nicht dienlich sein. Humanisten entstammten meist nicht einmal demselben Stand, waren sozial heterogen; was sie verband, war die Vorliebe für bestimmte, antik gebundene Formen der Bildung. Diese Vorliebe, das daraus erwachsene Reformanliegen und die eigene diesbezügliche Leistungsfähigkeit galt es zuerst einmal plausibel zu machen. Das konnte theoretisch über den Gedanken der translatio studii gelingen,32 oder eben weit sinnfälliger exemplarisch, indem die gegenwärtigen Gebildeten historische Autoren zu Kronzeugen ihrer Betätigungsfelder machten. Die Zusammenstellung unechter Genealogien half, die Fruchtbarkeit des Bildungsgedankens durch die Zeitläufte zu belegen und zugleich ein Panorama ausgewählter Autoritäten zu schaffen, das die eigene Orientierung historisch abstützte. Insofern dienten die Porträtreihen (in Wort und Bild) dem grundsätzlichen Zweck der kulturellen illustratio im Sinne eines Konrad Celtis oder Flavio Biondo,33 zugleich aber auch der Selbstvergewisserung ihrer Kompilatoren. Die Zusammenstellung von Vorgängern in Geist und Handlung rekonstruierte Vergangenheit und zugleich konstruierte sie diese, weil sie auf Auswahlentscheidungen beruhte. Insofern bilden die Kataloge gerade mit Blick auf die dort verzeichneten Gelehrten und deren Charakterisierung über die Funktionen der Erinnerungsstütze 31 Auch bei Biondo ist Literaturgeschichte Elitengeschichte, die national gefasst wird; Clavuot: Flavio Biondo (wie Anm. 13), S. 61, 71f., 75f. 32 Franz Josef Worstbrock: Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie. Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965) S.  1–22; Johannes Helmrath: Vestigia Aeneae imitari. Enea Silvio Piccolomini als „Apostel“ des Humanismus. Formen und Wege seiner Diffusion. In: Diffusion. Hgg. von Dems. u. a. (wie Anm. 1), S. 99–141, hier S. 101 (mit Literatur), 135f. Der Beitrag ist wieder abgedruckt in Helmrath: Wege (wie Anm. 2), S. 73–113. 33 Vgl. oben bei Anm. 5. Zum allgemein eingewurzelten illustratio-Gedanken siehe den Brief des Ottobeurer Benediktiners Nikolaus Ellenbog an Abt Benedikt von Füssen aus dem Jahr 1521. Darin dankt er für den durch Gallus Knöringer überbrachten Brief, lobt die historische Abhandlung des Abtes und wünscht, dass mehr Äbte Sinn für das Altertum und die monumenta sanctorum hätten; Nikolaus Ellenbog: Briefwechsel. Hgg. von Andreas Bigelmair und Friedrich Zoepfl. Münster 1938 (Corpus Catholicorum. Band 19/21), S. 172, Nr. III.75, 24. Aug. 1521 (nur Regest) = Paris, Bibliothèque Nationale de France, ms. lat. 8643, vol. I, fol. 75r: Atque utinam tales abbates haberet aetas nostra multos qui in reparandis antiquitatibus et sanctorum monumentorum adornandis et ampliandis pro communi ordinis nostri illustratione inuigilarent et insudarent. Perge abba pater nec caeptum iter deseras.



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und der Findhilfe hinaus potenziell inkludierende Exempla-Reihen, die ein Angebot zur partizipativen Identität eröffneten. Das kardinale Problem war dabei die Schaffung eindeutiger Zuordnungen. Trithemius setzte die eigene Person als Endpunkt sowohl seiner Bilanz der Kirchenschriftsteller als auch der viri illustres Germaniae. Das war konsequent, denn in seinem Fall überschnitten einander mehrere soziale Zuordnungen: als Benediktiner, als Gelehrter mit auch humanistischen Interessen, schließlich als deutscher Patriot. Überall dort ließe er sich einsortieren; er selbst tat es selbstbewusst in beiden Katalogen und beide Male in der Qualität des literarisch Produktiven. Matthias Pohlig hat auf der ersten Tagung dieses Zyklus das Wort von der Heilsgeschichte als ‚Brille‘ geprägt, mit der die junge Reformation in die Geschichte schaute.34 Vielleicht lässt sich dieses Bild auf den frühen Humanismus und sein Bemühen um historische Selbstthematisierung übertragen, wenn auch im Plural wechselnder Augengläser. Die Humanisten teilten mit allen anderen Reformbewegungen die Notwendigkeit traditionsorientierter Untermauerung ihres Geltungsanspruchs.35 Allerdings war ihr Ideal, das vor allem von ästhetischen und moralischen Kriterien bestimmt wurde, weit offen für selektive Zugriffe aus unterschiedlichen Richtungen. So stellte Petrarca mithilfe seiner ‚Brille‘ vorbildhafte politisch-ethische illustres vor allem der römischen Frühzeit zusammen, las Trithemius vor allen Dingen doctores, gelehrte Schriftsteller, aus der Weltgeschichte heraus, fasste der Paduaner Sicco Polenton (1375–1447) schon vor ihm lateinische Autoren in den Blick und schuf damit die erste moderne Geschichte der römischen Literatur.36 Dabei schlug er die Brücke von den Ahnherren der Gelehrsamkeit sogar bis in die Zukunft, indem er die Kapitel jeweils direkt an seinen Sohn Polydor adressierte.37 Nach Trithemius behandelte 34 Matthias Pohlig: Was ist Heilsgeschichte? Formen und Funktionen eines Deutungsmusters in Spätmittelalter und Reformation. In: Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung im Übergang zur Neuzeit. Band 1: Paradigmen personaler Identität. Hgg. von Ludger Grenzmann u. a. Berlin 2016 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen N. F. Band 41), S. 54–77, hier S. 76. 35 Die Humanisten teilten diese Not mit der Klosterreform des 15. Jahrhunderts ebenso wie mit den Anhängern der jungen Reformation. Vgl. etwa Klaus Schreiner: Erneuerung durch Erinnerung. Reformstreben, Geschichtsbewußtsein und Geschichtsschreibung im benediktinischen Mönchtum Südwestdeutschlands an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. In: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. von Kurt Andermann. Sigmaringen 1988 (Oberrheinische Studien. Band 7), S. 35–87; Dieter Mertens: Monastische Reformbewegungen des 15. Jahrhunderts. Ideen – Ziele – Resultate. In: Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449). Konstanz-Prager Historisches Kolloquium (11.–17. Oktober 1993). Hgg. von Ivan Hlaváček und Alexander Patschovsky. Konstanz 1996, S. 157–181, hier 157–161. 36 Sicconis Polentoni scriptorum illustrium latinae linguae libri XVIII. Hg. von Berthold Louis Ullman. Rom 1928, S. XIII. Am Anfang des Katalogs (Kapitel 1) stehen die Disziplinen der Gelehrsamkeit an sich. 37 Zum Traditionsverhältnis Sicconis Polentoni scriptorum illustrium latinae linguae libri XVIII. Hg. von Ullman: (wie Anm. 36), S.  10: Nostrae autem institutioni consentaneum esse putamus nominare primum atque hoc loco qui omnium primi fuerunt qui litterarum figuras quique doctrinarum

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Giorgio Vasari (1550/1568) schließlich insbesondere bildende Künstler.38 Die Liste wäre leicht zu erweitern. Inwieweit die personalisierten Exempla-Sammlungen einer zunehmenden Historisierung des eigenen professionellen Tuns ihrer Verfasser unterworfen waren, wäre genauer zu prüfen. Je weiter die Spezialisierung der Wissenschaften voranschritt, je klarer die Konturen einzelner Tätigkeitsbereiche hervortraten, desto deutlicher erscheint der Weg in eine Disziplinengeschichte vorgezeichnet. Trithemius’ Kataloge gelten als Beginn der Bio-Bibliographie, weniger als Impuls einer in dieser Form kurzlebigen Ordensgeschichtsschreibung.39 Ein geschlossenes humanistisches Identifikationsprogramm stellt sich in all diesen Versuchen jedenfalls nicht ein – es ist von einer institutionell und sozial ungefügten, inhaltlich disparaten und lange Zeit dynamischen Bildungsbewegung auch kaum zu erhoffen. Die von Paul Lehmann schon 1912 beobachtete Schwierigkeit, gattungsähnliche Produkte, viri illustres-Reihen in Wort und Bild, exklusiv und überhaupt dem Humanismus zuzuordnen, verschärft diese Konstellation weiter.40 Als Veto gegen die Suche nach selbstbezogenen Vergangenheitsentwürfen der Humanisten auf diesem Wege darf dies nicht verstanden werden, eher als Appell, die Erwartungen zu dämpfen. Thesenhaft zugespitzt lässt sich formulieren: Partizipative Identität braucht in diesem Kontext möglichst konkrete Partizipationsangebote in Form von historisch unterfütterten Modellen; eine natio oder ein Orden etwa konnten dies bieten, eventuell auch ein profilierter Beruf. Humanismus aber war eine umfassende, proteusgleiche Interessenprägung, die ihre Identitäten im spezifischen Sachdiskurs gewann und durch den jeweiligen Rückgriff auf historische Einzelautoritäten zu konkretisieren vermochte.41 Bestimmungen des eigenen Standorts in der Geschichte sind die selektiven Exempla-Reihen gleichwohl, Selbstvergewisserung der Autoren im historisch-deskriptiven Gewand. In ihnen wird Vergangenheit konstruiert, aber doch eher situativ und partikular benutzt, als dass es sich um geschlossene Vergangenheitsentwürfe handelte. Humanistische Gelehrtenlisten reinen Wassers scheint es nicht zu geben. Sie werden von konkreteren Objektzuschreibungen der erfolgten oder zu erfolgenden illustratio überlagert; Teil- und Schnittmengen eines ‚großen Ganzen‘, das sich wie der Humanismus selbst kaum präzise bestimmen lassen wird. ac sapientiae prima initia et studia invenerunt. Hoc enim veluti quodam nostri operis fundamento usi poterimus, reor, nostrum ad iter uti statuimus animo ac sumus polliciti, liberius proficisci. 38 Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori et architettori, scritte e di nuovo ampliate da Giorgio Vasari con i ritratti loro e con l’aggiunta delle vite de’ vivi e de’ morti dall’anno 1550 infino al 1567. 3 Bde. Florenz 1568. 39 Arnold: De viris (wie Anm. 15), S.  52, 59f., 67, mit dem Hinweis, dass die Literaturgeschichte einen sich verselbständigenden Zweig der Historiographie des Frühhumanismus bildete. 40 Lehmann: Literaturgeschichte (wie Anm. 13). 41 Zu Schwierigkeiten und Möglichkeiten, Humanismus zu beschreiben, vgl. zusammenfassend Müller: Specimen (wie Anm. 6), S. 118–124; ausführlich Ders.: Habit (wie Anm. 11), S. 17–78; Helmrath: Wege (wie Anm. 2), S. 3f.



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Ungeachtet dessen – vielleicht auch gerade deswegen – spielt im Humanismus die personalisierte Kanonbildung in Form von historischen Vorbildern in vielfältigen Rahmungen eine zumindest temporäre Rolle. Dies verrät abschließend der Blick auf das Gegenteil der viri illustres. Folgen wir der Namensexegese u. a. Walther Ludwigs für die «Dunkelmännerbriefe», die «Epistolae virorum obscurorum», dann sind dort weniger unbekannte als vielmehr wegen ihres Lateins als barbarisch stigmatisierte, ja geradezu als stil-häretisch einzustufende Männer gemeint – ein Angebot zur Identifikation und zur Konkretisierung einer eigenen, gruppenbezogenen Identität, diesmal ex negativo, mit exkludierendem und auf der anderen Seite wiederum stabilisierendem Impetus.42 Dies scheint nicht zufällig. Die «Dunkelmännerbriefe» zielten wie die zahlreichen Invektiven der Humanisten auf Zeitgenossen. Ihre Themen und Tonlagen wurden vom Alltagswerk der Gelehrten diktiert. Sie waren heimtückische Waffen im Kampf um die Deutungshoheit nicht nur dessen, was als reines Latein zu gelten hatte.43 Anders als diese, keineswegs stets immateriell motivierten Abgrenzungsgefechte stellen die historisch rückwärts reichenden Listen die Leistungen und den Vorbildcharakter der gewürdigten Persönlichkeiten heraus und verfolgen damit eine umgekehrte, primär inkludierende Zielsetzung. Durch die Auswahl und dokumentierte Kennerschaft trat der jeweilige Verfasser dem historischen Autoritätenpanorama bei, machte sich im Idealfall – religiös überhöht – zum jüngsten Glied einer Sukzessionskette, die für die ‚reine Lehre‘ bürgte. Ein Listenbewusstsein ganz eigener Art.

Nachtrag: Nach Drucklegung des Bandes erschien der folgende thematisch in Teilen verwandte Beitrag Johannes Helmrath: Perception of the Middle Ages and Self-Perception in German Humanism: Johannes Trithemius and the ‚Cathalogus illustrium virorum Germaniam ...exornantium’. In: Biography, Historiography and Modes of Philosophizing. The Tradition of Collective Biography in Early Modern Europe. Hg. von Patrick Baker. Leiden 2017, S. 177–247, mit Teiledition des Katalogs auf S. 209–238.

42 Walther Ludwig: Der Humanist Ortwin Gratius, Heinrich Bebel und der Stil der Dunkelmännerbriefe. In: Humanismus in Erfurt. Hgg. von Gerlinde Huber-Rebenich und Walther Ludwig im Auftrag der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. Rudolstadt 2002 (Acta Academiae Scientiarum. Band 7 / Humanismusstudien. Band 1), S. 131–160, bes. S. 154f. Zu den Exklusion- und Inklusionsmechanismen vgl. am Beispiel der Briefe Müller: Habit (wie Anm. 11), S. 69–72. 43 Johannes Helmrath: Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist. Die Invectiva in Felicem antipapam (1447). In: Margarita Amicorum. Studi di cultura europea per Agostino Sottili. Hgg. von Fabio Forner u. a. Mailand 2005 (Bibliotheca erudita. Band 26), S. 541–584; wieder abgedruckt in Helmrath: Wege (wie Anm. 2), S. 343–378, bes. S. 343–346.

Ulrich G. Leinsle

Kollektive Identitäten in spätmittelalterlichen Häresien Cum idemptitas sit mater fastidie et pulcra alternacio delectat animum, so begründet John Wyclif die lateinische Sprache und dialogische Form seines für die wycliffitische und hussitische Bewegung in Böhmen einflussreichen «Dialogus sive speculum ecclesie militantis».1 Wäre mit idemptitas nur das schlechthinnige Einerlei bezeichnet oder eine bereits festgelegte Identität, an der nichts zu ändern ist, hätten wir bei den spätmittelalterlichen Häresien wenig Arbeit, den Einfluss von Vergangenheitsentwürfen in ihrer Selbstkonstitution festzustellen. Doch weder ein Einerlei noch eine fest gefügte Identität lassen sich hier festmachen, es sei denn von außen. Denn einer kollektiven Identitätsstiftung in spätmittelalterlichen Häresien stehen einige Hindernisse entgegen. Geht man aus von Jan Assmanns Bestimmung der kollektiven Identität als „das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren“,2 ergibt sich hier sogleich eine Schwierigkeit. ‚Häresie‘ ist bekanntlich ein „asymmetrischer Gegenbegriff“.3 Häretiker sind immer ‚die Anderen‘, deren Schöpfung seit der Alten Kirche eine vorwiegend semantische und literarische ist.4 Dadurch eignet sich die Häresie auch als Theaterfigur, zu der sie in der Frühen

1 Ioannes Wyclif: Dialogus sive speculum ecclesie militantis. Hg. von Alfred W. Pollard. London 1886, ND New York u. a. 1966, S. 1, Z. 1–9: Cum idemptitas sit mater fastidie et pulcra alternacio delectat animum, ac lingua latina plus regulariter dilatatur atque extensius, visum est quibusdam quod sentencia catholica collecta fidelibus in vulgari reseretur communius in latino. […] Et quia multi delectantur in loquela dialogi, moventur a deo duas personas adducere, scil. veritatem atque mendacium, que per modum disputacionis loquuntur in ista materia alternatim. In den Quellenzitaten wurde die jeweilige Schreibweise der Edition beibehalten (z. B. antichristus, anticristus; ecclesie, ecclesiae usw.). 2 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 132. 3 Reinhart Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989, S. 211–259. Vgl. auch Harald Müller: Gegenpäpste. Prüfsteine universaler Autorität im Mittelalter. In: Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen. Hgg. von Dems. und Brigitte Hotz. Wien u. a. 2012, S. 13–53, hier S. 30f. 4 Vgl. vor allem Eduard Iricinschi und Holger M. Zellentin: Making Selves and Marking Others: Identity and Late Antique Heresiologies. In: Heresy in Late Antiquity. Hgg. von Dens. Tübingen 2008, S. 1–27, hier S. 14 Zitat aus Judith M. Lieu: Christian Identity in the Jewish and Graeco-Roman World. Oxford 2004, S. 297: „The creation of otherness is a literary enterprise, reproduced no doubt in worship and homily.“ Ferner: Karen L. King: Social and Theological Effects of Heresiology Discourses. In: Heresy. Hgg. von Iricinschi und Zellentin, S. 28–49, S. 28–33 zur literarischen Stellung der Häresietraktate. Vgl. auch Alfons Fürst: Zum Konstruktionscharakter von Feindbildern am Beispiel der Entstehung des christlichen Häresiebegriffs. In: Von Ketzern und Terroristen. Interdisziplinäre Studien zur Konstruktion und Rezeption von Feindbildern. Hgg. von Dems. u. a. Münster 2012, S. 9–16. DOI 10.1515/9783110578805-003



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Neuzeit wird.5 In kaum einem Dokument des späten Mittelalters tritt haereticus als Selbstbezeichnung auf, schon gar nicht als kollektive, bestenfalls in den hinsichtlich des Aussagewertes des Ego problematischen Prozessakten als haereticus damnatus existo.6 In der parteiischen Außensicht der Fremdwelt, wie sie hier nicht vertreten werden soll, liegt aber die Gefahr des von Jan Hus wiederholt kritisierten Fehlschlusses von der öffentlichen Meinung auf die Faktizität: Nimis ergo stulta est hec consequencia: In regnis Anglie, Francie et Bohemie multitudo prelatorum et clericorum habet magistrum Ioannem Wigleff pro heretico, igitur magister Ioannes Wigleff est hereticus. Ac si argueretur: In regnis Turcorum, Saracenorum et Thartarorum Iesum Christum habent pro non-deo, igitur Dominus Iesus Christus non est Deus.7

Diese im Grunde nominalistisch anmutende Argumentation des Universalienrealisten Hus übersieht allerdings die Eigenart der Semantik von haereticus als einer öffentlichen, imputativen Kategorie mit sehr realen, gegebenenfalls letalen Folgen. Das unterscheidet ihn von dem bei Hus wohl eher metaphysisch zu verstehenden Deus; denn es gilt bekanntlich: „Ketzer gibt es nicht – Ketzer werden gemacht“,8 und das vor allem durch literarische Maßnahmen: Protokolle der Notare,9 Verfestigung

5 Z. B. in Jakob Gretsers «Augustinus conversus»: Dorothea Weber: Augustinus conversus. Ein Drama von Jakob Gretser. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar. Wien 2000 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte. Band 674). Vgl. Christel Meier: Der Gelehrte als Theaterheld: Komisch, satirisch, tragisch, heroisch. Variationen über die Gefährdungen des Intellektuellen in der Frühen Neuzeit. In: Akteure und Aktionen. Figuren und Handlungstypen im Drama der Frühen Neuzeit. Hgg. von Ders. u. a. Münster 2008 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496. Band 23), S. 362–366. 6 Confessio et abjuratio Johannis Oldcastell militis, quondam Domini in Cobham. In: Fasciculi zizaniorum Magistri Johannis Wyclif cum tritico. London 1858, ND 1964 (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Band 5), S. 414. Zum Aussagewert vgl. schon Herbert Grundmann: Ketzerverhöre des Spätmittelalters als quellenkritisches Problem. DA 21 (1965) S.  519–575; auch in: Ders.: Ausgewählte Aufsätze. Band 1. Stuttgart 1976 (MGH Schriften. Band 25, 1), S. 364–416; Wycliffite Spirituality. Hgg. von J. Patrick Hornbeck II u. a. New York/Mahwah 2013, S. 45–49. 7 Ioannes Hus: Contra Ioannem Stokes. In: Ders.: Polemica. Hg. von Jaroslav Eršil. Turnhout 2010 (CCCM. Band 238), S. 52, Z. 143–140. 8 Fürst: Konstruktionscharakter (wie Anm. 4), S.  15. Vgl. Jan-Eric Steppa: Ketzerrhetorik und Definitionsmacht: Christologische Konflikte in der Spätantike (300–450). In: Kirche und Ketzer. Wege und Abwege des Christentums. Aus dem Norwegischen übers. von Frank Zuber. Hg. von Thomas Hägg. Köln u. a. 2010, S.  57–91, bes. S.  62–67. Auch: Miriam Czock: Tanchelm als Antichrist: Die Konstruktion eines Häretikers zwischen Religion und Politik. Archiv für Kulturgeschichte 95 (2013) S. 69–88. Thomas A. Fudge: The Memory and Motivation of John Hus, Medieval Priest and Martyr. Turnhout 2013 (Europa Sacra. Band 11), S. 109–133. 9 Vgl. dazu z. B. Fasciculi zizaniorum (wie Anm. 6), S.  296–297. Vor allem aber Ian Forrest: The Detection of Heresy in Late Medieval England. Oxford 2005, S. 171–206. Auch Spirituality. Hgg. von Hornbeck u. a. (wie Anm. 6), S. 321–366.

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 Ulrich G. Leinsle

und Vereinfachung der Lehre in Artikeln,10 die man abfragen, annehmen oder verwerfen kann,11 mündliche und schriftliche Polemik.12 Zudem wird von den von außen als Häretiker identifizierten Gruppen der Häresiebegriff selbst wieder zur Stigmatisierung der jeweils Anderen gebraucht, von denen man sich selbst absetzt, und dies in einer keineswegs univoken Verwendung.13 Ferner ist die Grauzone zwischen Orthodoxie und Häresie zu bedenken,14 in der sich nicht zuletzt viele als lollardisch bezeichnete Gruppen und Individuen bewegten,15 und andererseits ist zwischen unpolemischer Orthodoxie und kämpferischer „anti-heresy“ zu unterscheiden.16 Wir stehen also mitten in der alternatio, besser altercatio, und die Langeweile stiftende idemptitas scheint verschwunden zu sein. Während die Identifikation von außen und die sie leitenden Geschichtsentwürfe relativ leicht zu beschreiben sind, ist die Identifikation von innen viel schwieriger zu bestimmen, weil hier die Kategorie ‚Häretiker‘ nicht mehr greifen kann, vielmehr andere Identifikationsmuster teilweise ahistorischer, metaphysischer Art gegeben sind, die sich auch in den dafür herangezogenen Geschichtsentwürfen manifestieren. Als Objekt der Betrachtung eignen sich die auf Wyclif und Hus zurückgehenden Bewegungen dank ihrer kollektiven Ausrichtung besser als die stärker individualistisch orientierten Begarden und Waldenser.

10 Vgl. vor allem Anne Hudson: Some Aspects of Lollard Book Production. In: Schism, Heresy and Religious Protest. Papers read at the Tenth Summer Meeting and the Eleventh Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society. Hg. von Derek Baker. Cambridge 1972 (Studies in Church History. Band 9), S. 147–157. 11 Vgl. Forrest: Detection (wie Anm. 9), S. 84–90; auch J. Patrick Hornbeck II: What Is a Lollard? Dissent and Belief in Late Medieval England. Oxford 2010. 12 Vgl. vor allem Forrest: Detection (wie Anm. 9), S. 113–143; Arno Buschmann: Inquisition und Prozeß – Inquisitionsgerichtsbarkeit und Inquisitionsverfahren bei der Ketzerverfolgung im Hochund Spätmittelalter. In: Festschrift für Gerd Kleinheyer zum 70. Geburtstag. Hgg. von Franz Dorn und Jan Schröder. Heidelberg 2001, S. 67–93. 13 Vgl. Sita Steckel: Falsche Heilige. Feindbilder des ‚Ketzers‘ in religiösen Debatten der lateinischen Kirche des Hoch- und Spätmittelalters. In: Von Ketzern. Hgg. von Fürst u. a. (wie Anm. 4), S. 17–43, hier S. 37–39. 14 Vgl. vor allem Anne Hudson: ‚Who Is My Neighbour?‘: Some Problems of Definition on the Borders of Orthodoxy and Heterodoxy. In: Wycliffite Controversies. Hgg. von Mishtooni Bose und J. Patrick Hornbeck II. Turnhout 2011 (Medieval Church Studies. Band 23), S. 79–96. 15 Vgl. vor allem Hornbeck: Lollard (wie Anm. 11); Maureen Jurkowski: Lollard Networks. In: Controversies. Hgg. von Bose und Hornbeck (wie Anm. 14), S. 261–278. 16 Vgl. vor allem Forrest: Detection (wie Anm. 9), S. 114, 236; Kantik Gosh: Bishop Reginald Pecock and the Idea of „Lollardy“. In: Text and Controversy from Wyclif to Bale: Essays in Honour of Anne Hudson. Hg. von Helen Barr. Turnhout 2004, S. 251–256. Das heißt aber auch, dass Orthodoxie sich selbst nicht notwendig als antihäretisch und ‚violent‘ bestimmen muss; vgl. Averil Cameron: The Violence of Orthodoxy. In: Herersy. Hgg. von Iricinschi und Zellentin (wie Anm. 4), S. 102–114.



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1 Identifizierung von außen Für die Identifizierung als Häretiker von außen gibt es im späten Mittelalter weitgehend etablierte Begriffe, Regeln und Verfahren, Stereotypen und Abstammungsschemata, die zugleich eine bestimmte Geschichtsdeutung beinhalten.17

1.1 Welcher Häresiebegriff? Es ist nicht nötig, hier auf die Entwicklung des mittelalterlichen Häresiebegriffs ausführlich einzugehen.18 Ein Blick in die über jeden Häresieverdacht erhabene und höchst einflussreiche «Summa Theologica» des Florentiner Bischofs und Dominikaners Antonino Pierozzi (1389–1459)19 zeigt in engstem Anschluss an das «Decretum Gratiani» angeblich das ganze Spektrum des Häresiebegriffs in der Außensicht auf.20 Die Häresie wird dabei im Unterschied zur „hérésie savante“ des einzelnen Irrlehrers21 sogleich als kollektives Phänomen in den coetus haereticorum gesehen. Als Kriterien 17 Als Überblick: Jörg Oberste: Ketzerei und Inquisition im Mittelalter. Darmstadt 2007; ferner: Malcom Lambert: Häresie im Mittelalter. Von den Katharern bis zu den Hussiten. Übers. aus dem Englischen von Raul Niemann. Darmstadt 2001; Peter Dinzelbacher: Die Achsenzeit des Hohen Mittelalters und die Ketzergeschichte. In: Reformer als Ketzer. Heterodoxe Bewegungen von Vorreformatoren. Hgg. von Günther Frank und Friedrich Niewöhner unter Mitarbeit von Sebastian Lalla. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004 (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten. Band 8), S.  91–121; Forrest: Detection (wie Anm. 9). 18 Den Unterschied zwischen dem Häresiebegriff des Mittelalters und der modernen Historiographie arbeitet gut heraus: Arthur Stephen McGrade: The Medieval Idea of Heresy: What are we to make of it? In: The Medieval Church: Universities, Heresy, and the Religious Live. Essays in Honour of Gordon Leff. Hgg. von Peter Biller und Barrie Dobson. Woodbridge 1999, S. 111–139. Vgl. auch Herbert Grundmann: Der Typus des Ketzers in mittelalterlicher Anschauung. In: Ders.: Aufsätze (wie Anm. 6), Band 1, S. 313–327. Ausführlich Thomas A. Fudge: The Trial of Jan Hus. Medieval Heresy and Criminal Procedure. Oxford 2013, S. 31–115. Zur Begriffsgeschichte in der christlichen Spätantike vgl. Einar Thomassen: Der Ursprung des Ketzerbegriffes und die ersten Ketzer. In: Kirche. Hg. von Hägg (wie Anm. 8), S. 15–39, bes. S. 16–22. 19 Vgl. Roul Morçai: Saint Antonin. Archevêque de Florence (1389–1459). Paris 1914; Carlo Celsi Calzolai: Frate Antonino Pierozzi dei Domenicani, Arcivescovo di Firenze. Rom 1961; Stefano Orlandi: Bibliografia Antoniniana. Descrizione dei manoscritti della vita e delle opere di S. Antonino O. P. Arcivescovo di Firenze e degli studi stampati che lo riguardono. Vatikanstadt 1962; Ders.: S. Antonino. 2 Bd.e. Florenz 1959/1960. 20 Sancti Antonini Archiepiscopi Florentini Ordinis Praedicatorum Summa theologica. 4 Bd.e. Verona 1740, ND Graz 1959. Zum Häresiebegriff des «Decretum»: Oberste: Ketzerei (wie Anm. 17), S. 65. 21 Zur Unterscheidung vgl. Gordon Leff: Hérésie savante et hérésie populaire dans le bas Moyen Age. In: Hérésies et sociétés dans l’Europe pré-industrielle 11e–18e siècles. Communications et débats du Colloque de Royaumont présentés par Jacques Le Goff. Paris/La Haye 1968, S. 219–225, wieder in: Gordon Leff: Heresy, Philosophy and Religion in the Medieval West. Aldershot 2002, Beitrag IV mit originaler Paginierung. Zum Hochmittelalter: Heinrich Fichtenau: Ketzer und Professoren. Häresie und Vernunftglaube im Hochmittelalter. München 1992; auch Fudge: Trial (wie Anm. 18), S. 33–49.

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der Häresie macht Antoninus einen Widerspruch zu den zwölf Artikeln des Glaubensbekenntnisses aus, und zwar directe vel indirecte, principaliter vel reductive.22 Das eigentliche Kriterium der Häresie findet er bei deren systematischer Betrachtung im Anschluss an Augustinus, Petrus de Tarantasia und das «Decretum Gratiani» in den beiden Tatbeständen error in ratione, scilicet de his quae sunt fidei und pertinacia seu obstinatio in voluntate.23 Nach dem «Decretum Gratiani» ist der Häretiker geleitet vom Streben nach zeitlichem Nutzen, vor allem dem eigenen Ruhm und seiner Erhöhung, um derentwillen er falsche oder neue Meinungen hervorbringt bzw. solchen folgt.24 Falschheit ist dabei ein ungeschichtlicher, Häresie ein geschichtlicher Sachverhalt, wie an der Lehre der Fraticelli von der vollkommenen Besitzlosigkeit Christi gezeigt wird. Formal häretisch wird die Lehre erst nach der lehramtlichen Festlegung des Gegenteils durch den Papst.25 Da der error in ratione lokalisiert wird und notorisch sein muss,26 sind disziplinäre Abweichungen wie Simonie, Verweigerung des Kirchenzehnten, Nikolaitismus usw. für Antoninus nicht Häresie im strengen, sondern nur im weiteren Sinne.27 Das unterscheidet den theologischen Häresiebegriff Antoninus’ vom disziplinären etwa des «Dictatus Papae» Gregors VII.: Quod catholicus non habeatur, qui non concordat Romanę ecclesię.28 So hält auch das «Decretum Gratiani» fest: Qui autem Romanae ecclesiae privilegium ab ipso summo omnium ecclesiarum capite traditum auferre conatur, hic proculdubio in haeresim labitur.29 In den hussitischen Auseinandersetzungen wird diese Sentenz verkürzt zu: Qui contra Romanam ecclesiam dero-

22 Antoninus: Summa (wie Anm. 20), pars I, titulus 4, caput 2. Band 1, Sp. 386. 23 Antoninus: Summa (wie Anm. 20), pars IV, titulus 12, caput 4. Band 4, Sp. 1255. Decretum Gratiani, pars II, causa 24, quaestio 3, canon 31. In: Corpus Iuris Canonici. Hg. von Aemilius Friedberg. 2 Bd.e. Leipzig 1879/1881, ND Graz 1959, Band 1, Sp. 998, nach Augustinus: De civitate Dei, 18, 51. Turnhout 1955 (CCSL. Band 48), S. 648f.: Qui in ecclesia Christi morbidum aliquid prauumque sapiunt, si correcti, ut sanum rectumque sapiant, resistunt contumaciter, suaque pestifera et mortifera dogmata emendare nolunt, sed defensare persistunt, haeretici sunt. Vgl. Fudge: Trial (wie Anm. 18), S. 50–52. 24 Decretum Gratiani, pars II, causa 24, quaestio 3, canon 28. Hg. von Friedberg (wie Anm. 23), Sp. 998: Haereticus est, qui alicuius temporalis commodi et maxime gloriae principatusque sui gratia falsas ac novas opiniones vel gignit vel sequitur. Fälschlich dort Augustinus «De utilitate credendi», c. 1, zugeschrieben. Vgl. Georg Wurst: Art. ‚Haeresis, haeretici‘. In: Augustinus-Lexikon Band 3. Basel 2004, S. 290–302. 25 Antoninus: Summa (wie Anm. 20), pars IV, titulus 12, caput 5. Band 4, Sp. 1166–1168. Auf die spezielle Problematik eines häretischen Papstes kann hier nicht eingegangen werden. 26 Antonius: Summa (wie Anm. 20), Sp. 1162. 27 Antonius: Summa (wie Anm. 20), § 1, Sp. 1163. 28 Dictatus Papae, § 26. In: Das Register Gregors VII. Hg. von Erich Caspar. Berlin 1920 (MGH Epp. VII, II, 55a), S. 207, Z. 12f. Vgl. Peter Classen: Der Häresiebegriff bei Gerhoch von Reichersberg und in seinem Umkreis. In: The Concept of Heresy in the Middle Ages (11th–13th C.). Proceedings of the International Conference, Louvain May 13–16, 1973. Hgg. von Willem Lourdeaux und Daniel Verhelst. Löwen 1976 (Mediaevalia Lovaniensia Series I. Band 4), S. 27–41, hier S. 31f. 29 Decretum Gratiani, pars I, distinctio 24, caput 1. Hg. von Friedberg (wie Anm. 23), Sp. 73.



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gando loquitur, haereticus reputatur, wobei im reputatur wieder die Einschätzung von außen zu beachten ist.30 Von den eigentlichen Häretikern sind weiter auch hinsichtlich der Strafen zu unterscheiden die credentes, receptatores, fautores & defensores haereticorum,31 die z. B. in der Begründung des Albigenserkreuzzugs,32 in der Revolte von John Oldcastle und anderen lokalen Erhebungen,33 vor allem aber im Umkreis der Lollarden34 eine reale historische Rolle spielen. Antoninus wehrt auch sogleich dem von Hus kritisierten Fehlschluss von der öffentlichen Meinung auf die Faktizität, wendet die Argumentation allerdings in juristisch operable Termini: Nur wer im uns unbekannten Urteil Gottes Häretiker ist, ist es ex natura rei; für das Urteil der Menschen dagegen ist nur erforderlich, dass Tatbestände verwirklicht wurden, per quod apparet male sentire de fide, et per consequens juris praesumptione haereticus reputatur.35 Es handelt sich für menschliche Gerichte immer nur um eine praesumptio iuris in der Beurteilung und Stigmatisierung des Abweichenden, des Anderen. Auch für die aus Sicht der Römischen Kirche häretischen Gruppen und Personen bleibt haereticus eine Bezeichnung des Anderen, als die nicht selten eben die Römische Kirche oder deren Gruppen erscheinen, am deutlichsten bei Wyclif in den Jahren nach 1380. Das setzt freilich einen etwas anderen Häresiebegriff voraus als den des Antoninus oder gar des «Dictatus Papae». Ein solcher wird – für das späte Mittelalter höchst einflussreich – im «Chronicon Maius» des Matthäus Paris von St. Albans dem Bischof von Lincoln Robert Grosseteste zugeschrieben,36 indem er die Häresie nicht wie Antoninus und Hieronymus von einer vom Heiligen Geist erforderten Schriftauslegung,37 sondern von der Heiligen Schrift selbst abweichen lässt, 30 Replicacio Quidamistarum de stilo magistri Stephani Palec. Hg. von Johann Loserth. Beiträge zur Geschichte der husitischen (!) Bewegung IV. Archiv für österreichische Geschichte 75 (1889) S. 344–361, hier S. 360. 31 Antoninus: Summa (wie Anm. 20), pars IV, titulus 12, caput 4, § 3. Band 4, Sp. 1159. 32 Vgl. Jörg Oberste: Der Kreuzzug gegen die Albigenser. Darmstadt 2003; Jeremy Catto: Fellows and Helpers: The Religious Identity of the Followers of Wyclif. In: Church. Hgg. von Biller und Dobson (wie Anm. 18), S. 141–161. 33 Vgl. Maureen Jurkowski: Lollardy in Coventry and the Revolt of 1431. In: The Fifteenth Century VI: Identity and Insurgency in the Late Middle Ages. Hg. von Linda Clark. Woodbrigde 2006, S. 145–164; Michael van Dussen: From England to Bohemia. Heresy and Communication in the Later Middle Ages. Cambridge 2012, S. 103–111, 142–156. 34 Vgl. Jurkowski: Networks (wie Anm. 15); A. K. McHardy: The Dissemination of Wyclif’s Ideas. In: From Ockham to Wyclif. Hgg. von Anne Hudson und Michael Wilks. Oxford 1987 (Studies in Church History. Subsidia. Band 5), S. 361–369. 35 Antoninus: Summa (wie Anm. 20), pars IV, titulus 12, caput 5, § 1. Band 4, Sp. 1164. Die imputative, rechtliche Seite des Häresiebegriff betont deutlich Fudge: Trial (wie Anm. 18), S. 27f., S. 296. 36 Vgl. Anne Hudson: The Premature Reformation. Wycliffite Texts and Lollard History. Oxford 2002, S. 278; Spirituality. Hgg. von Hornbeck u. a. (wie Anm. 6), S. 1–4. 37 Decretum Gratiani, pars II, causa 24, quaestio 3, canon 27. Hg. von Friedberg (wie Anm. 23), Sp. 998: Quicumque igitur aliter scripturam intelligit, quam sensus Spiritus sancti flagitat, a quo scripta est, licet ab ecclesia non recesserit, tamen hereticus appellari potest, et de carnis operibus est, eligens

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ansonsten aber auch das Kriterium der obstinatio bringt.38 Für Wyclif und Hus wird dies im Anspruch der richtigen Bibelauslegung39 der entscheidende Häresiebegriff, von Wyclif bereits vereinfacht in der Formel: dogmatizans in opere pertinaciter et false dicte scripture contrarie.40 Von der Schrift weicht vor allem alles ab, was geschichtlich gesehen neu ist; denn novitas culpabilis wird als haeresis manifesta angesehen:41 Neue Dogmen,42 neue Ordnungen,43 neue Riten und Gebräuche, die im Widerspruch stehen zur conversacio Christi.44 Bemerkenswert ist die Verbindung von Falschheit und Neuheit: die profana vocum novitas (nach II Tim 2, 16) ist schon im frühen Mittelalter durchgängig dem Häresieverdacht ausgesetzt, und noch Hus spricht in einem Zitat aus dem «Decretum Gratiani» gegen Stephan von Páleč von der haeretica novitas, als die auch die Lehren der Taboriten von den Pragern eingestuft werden.45 Andererseits wird traditionell in der Ketzergeschichtsschreibung schon seit der Patristik die angebque peiora sunt. Auch: Decretum Gratiani, pars II, causa 24, quaestio 3, canon 39, § 70, Sp. 1006, aus: Hieronymus: Commentarii in Epistulam Pauli Apostoli ad Galatas, c. 5. Turnhout 2006 (CCSL. Band 77A), S. 189, Z. 128–133. Vgl. auch Wyclif: Dialogus. Hg. von Pollard (wie Anm. 1), Epilogus, S. 98, Z. 1f.: Interpretacio enim falsa scripture est manifeste heretica. 38 Matthaeus Parisiensis: Chronica Maiora. Hg. von Henry R. Luard. London 1872–1883, ND Nendeln, Liechtenstein 1964. Band 5, S. 401: Haeresis est sententia humano sensu electa, Scripturae Sacrae contraria, palam edocta, pertinaciter defensa. […] Cui tota definitio haeretici convenit, haereticus est. Vgl. Hudson: Reformation (wie Anm. 36), S.  278. Zur Authentizität Richard W. Southern: Robert Grosseteste. The Growth of an English Mind in Medieval Europe. Oxford 1986, S. 292. 39 Vgl. Hudson: Reformation (wie Anm. 36), S. 275. 40 Wyclif: Dialogus. Hg. von Pollard (wie Anm. 1), c. 4, S. 8, Z. 9–13: Ideo si officium heretici, in quantum talis, sit false dogmatizare scripture sacre contrarie, etiam in sermone, patet ex hoc facto quod ipsa curia dogmatizans in opere tam pertinaciter et false dicte scripture contrarie sit hereticus manifestus. Vgl. Hudson: Reformation (wie Anm. 36), S. 278f.; vgl. auch Hus: Contra Ioannem Stokes. Hg. von Eršil (wie Anm. 7), S. 54f., Z. 196–198: supponendo, quod proprie hereticus est, qui tenet dogma falsum, Scripture sacre contrarium. 41 Ioannes Wyclif: De ordinatione fratrum, c. 2. In: Ders.: Polemical Works in Latin. Hg. von Rudolf Buddensieg 2 Bd.e. London 1883, ND New York u. a. 1966, Band 1, S. 93f. 42 Ioannes Wyclif: De fundatione sectarum. Hg. von Buddensieg, c. 8. In: Ders.: Polemical Works. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), Band 1, S. 35, Z. 14–16: Sed sunt spiritus erroris propter nova dogmata, que seminant contra fidem catholicam. 43 Ioannes Wyclif: De fundatione sectarum c. 2.. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 42), S. 44, Z. 19f.: Tales autem fratres sunt semper discentes, cum student diucius et attencius novitates sui ordinis quam mandata decalogi. 44 Ioannes Wyclif: De solutione satanae. Hg. von Buddensieg, c. 2. In: Ders.: Polemical Works. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), Band 2, S. 398, Z. 9f. 45 Vgl. Ulrich G. Leinsle: Introduction to Scholastic Theology. Washington, D.C. 2010, S.  117; Ioannes Hus: Tractatus de ecclesia. Hg. von S. Harrison Thomson. Cambridge 1956, c. 7, S. 47; aus: Decretum Gratiani, pars II, causa 24, quaestio 1, canon 9. Hg. von Friedberg (wie Anm. 23), Sp. 969. Documenta Mag. Joannis Hus. Hg. von Franciscus Palacky. Osnabrück 1966, S.  677–681, Nr. 118: Articuli XXIII a magistris cleroque Pragensi contra pullulantia Taboritarum sectae dogmata publicati (1418): Nemo ergo aliquam novitatem, licet sibi utilis visa fuerit, per se et propriis motibus debet attentare et praedicare vel tenere, nisi prius illam tractandam et examinandam et scripturis muniendam et roborandam communitati fratrum referat et ostendat. Quodsi quis aliter fecerit et propria praesumtione



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liche Neuheit dann als vetus error entlarvt und an den spätantiken Häresien festgemacht.46 So identifiziert auch das Supplement des «Trialogus» die haeretici novelli als diaboli indurati und inveterati.47 Es gibt nun also, wie es Hus dann vereinfachend darlegt, drei Kriterien der Häresie: 1. error in intellectu, 2. pertinacia in affectu, 3. contrarietas Scripture sacre.48 Wir müssen also bereits einen dogmatischen, disziplinären und skripturistischen Häresiebegriff unterscheiden, der je verschieden verwendet werden kann, natürlich für die jeweils Anderen. Dafür kann man sich, wie es Hus tut, auf Augustinus-Stellen berufen.49 Die Semantik wird dann allerdings vor allem bei Hus vereinfacht und zugleich ausgeweitet zu einer eingängigen Formel: Haereticus proprie et solum talis est, qui Scripture sacre verbo, scripto vel opere pertinaciter contradicit.50 Durch das vel opere sind hier die für Hus wie für Wyclif zentralen disziplinären Abweichungen (Simonie,51 Konkubinat, Prostitution, Spiel52 usw.) wieder einbezogen. Dieser Häresiebegriff kann geschickt als Waffe gegen die jeweils Anderen eingesetzt werden.

1.2 Oportet et haereses esse: Endzeitliche Notwendigkeit? Das Auftreten der Häresien wird seit der Alten Kirche mit I Cor 11, 19 Oportet et haereses esse, ut probati manifesti fiant in vobis als Zeichen der Endzeit gedeutet, in der man ja seit Christi Himmelfahrt lebt. Dadurch ist der Gegensatz der probati in vobis und der Ketzer biblisch legitimiert,53 aber auch die geschichtliche Verortung einer ab his extraneando aliud docere velit aut contrarie tenere vel aliquid novi sine communi consensu attentare, extunc sciat se unusquisque talis propriae temeritatis periculis subjacere. 46 Vgl. Leinsle: Introduction (wie Anm. 45), S.  115f.; Spirituality. Hgg. von Hornbeck u. a. (wie Anm. 6), S. 50. 47 Ioannes Wyclif: Trialogus cum Supplemento Trialogi. Hg. von Gotthardus Lechler. Oxford 1869, Supplementum, c. 5, S. 428. 48 Hus: Contra Ioannem Stokes Hg. von Eršil (wie Anm. 7), S. 55, Z. 203–206. Vgl. zu Wyclif: Hudson: Reformation (wie Anm. 36), S. 278f. 49 Ioannes Hus: De libris hereticorum legendis. In: Ders.: Polemica Hg. von Eršil (wie Anm. 7), S. 19, Z. 344–S. 21, Z. 370. Vgl. Ders.: Contra Ioannem Stokes. Hg. von Eršil (wie Anm. 7), S. 55, Z. 200–203. 50 Hus: De libris hereticorum legendis. Hg. von Eršil (wie Anm. 49), S. 19, Z. 344f. 51 Vgl. Ioannes Wyclif: De duobus generibus hereticorum. In: Ders.: Polemical Works. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), Band 2, S.  431, Z. 1–4: Duo sunt genera hereticorum, de quibus foret Anglia expurganda. Primi sunt symoniaci, qui sunt omnes pape, episcopi, curati vel prebendarii, qui occupant symoniace patrimonium crucifixi. Zu Hus vgl. Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 71–80. 52 Vgl. die Vier Prager Artikel, bes. Art. 4: František Šmahel: Die Hussitische Revolution. Hannover 2002 (MGH Schriften. Band 43), S. 635–674; auch Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 51–80. 53 Vgl. Augustinus: De civitate Dei, lib. 16, c. 2 (wie Anm. 23), S. 499, Z. 15–19 ; Ders.: De vera religione, c. 8 n. 15. Turnhout 1962 (CCSL. Band 32), S.  197, Z. 15–21; beide Stellen zitiert von Ioannes Hus: Defensio libri de trinitate. In: Ders.: Polemica. Hg. von Eršil (wie Anm. 7), S. 36–38, Z. 287–318. Zur Patristik vgl. Norbert Brox: Art. ‚Häresie‘. In: Reallexikon für Antike und Christentum Band 13. Stuttgart 1986, Sp. 248–298, hier Sp. 274f.; Herbert Grundmann: Oportet et haereses esse. Das Pro-

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jeden Häresie, ja ihre heilsgeschichtliche Notwendigkeit und Nützlichkeit vorgegeben.54 Zudem ist auch die eigene geschichtliche bzw. endzeitliche Position gefunden: Man lebt eschatologisch, in der Auseinandersetzung mit Häretikern oder gar dem Antichrist, besonders deutlich bei Wyclif und Hus. Dadurch werden allerdings Geschichtskonstruktionen implizit zu eschatologischen Zukunftskonstruktionen. Wie ‚Häretiker‘ ist aber auch ‚Antichrist‘ ein „asymmetrischer Gegenbegriff“55 und im Grunde ein äquivoker Ausdruck, der nach Belieben jeweils von der anderen Seite ausgesagt werden kann, von der man sich als kollektive Identität absetzt. Wyclif bestimmt seine Semantik klar: Nam iuxta interpretationem nominis anticristi ille, qui est Cristo contrarius in vita et doctrina, est ut sic anticristus.56 Das ist in primärer Bedeutung der Teufel, der wie Christus auf Erden seinen Stellvertreter hat, der dann in zweiter Bedeutung Antichrist ist. Schließlich kann jedes Glied des corpus diaboli als Antichrist bezeichnet werden.57 Die geschichtliche Kirche ist für Wyclif einem Verfallsgesetz unterworfen,58 während es mit der ecclesia universalis kontinuierlich aufwärts geht.59 Der endzeitliche Antichrist tritt in den polemischen Schriften, je nach Bedarf auf als Herr der Bettelmönche60 oder als einer der beiden Päpste blem der Ketzerei im Spiegel der mittelalterlichen Bibelexegese. Archiv für Kulturgeschichte 45 (1963) S. 129–164; Ingvild Sælid Gilhus: Bischof Epiphanius von Salamis und der „Medizinschrank gegen Ketzer“. In: Kirche. Hg. von Hägg (wie Anm. 8), S. 41–55, hier S. 46–53. 54 Vgl. Antoninus: Summa (wie Anm. 20), pars I, titulus 5, caput 2 de tribus novissimis, § 8, Sp. 388: Quinimmo sublatis haeresibus subortis, paullatim Ecclesia remansit gloriosior & clarior in doctrina per expositiones & disputationes doctorum haereticos confutantium, Domino eam custodiente. 55 Koselleck: Semantik (wie Anm. 3). Vgl. Antichrist. Konstruktion von Feindbildern. Hg. von Felicitas Schmieder. Berlin 2010, bes. Einleitung S. VIIf. Somit verhält er sich ähnlich wie das späte antipapa; vgl. Müller: Gegenpäpste (wie Anm. 3). Zur joachitischen Deutung und Verbreitung in den Kreisen der franziskanischen Spiritualen vgl. vor allem Gordon Leff: Heresy in the Later Middle Ages: The Relation of Heterodoxy to Dissent c. 1250–1450. Manchester/New York 1967, Band 1, S. 175–190. 56 Ioannes Wyclif: De Christo et suo adversario antichristo, c. 11. In: Ders.: Polemical Works. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), Band 2, S.  680, Z. 2f. Vgl. Alexander Patschovsky: „Antichrist“ bei Wyclif. In: Eschatologie und Hussitismus. Internationales Kolloquium Prag 1.–4. September 1993. Hgg. von Dems. und František Šmahel. Prag 1996, S. 83–98. 57 Ioannes Wyclif: De contrarietate duorum dominorum, c. 1. In: Ders.: Polemical Works. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), Band 2, S. 699, Z. 3–10: Dicitur autem anticristus ex triplici significatione famosa: primo pro capitali dyabolo, qui etiam sathan dicitur et lucifer, [...]. Et sicut deus habet in terris humanitatem Christi suum verum vicarium, sic iste dyabolus habet in terris suum vicarium, qui ad secundum sensum dici­ tur anticristus. Tercio vero modo potest quodcumque membrum dyaboli dici dyabolus ac eciam anticristus. 58 Ioannes Wyclif: Sermones. Hg. von Johann Loserth. 4 Bd.e. London 1888, ND New York u. a., Band 1, Sermo 26, S. 178, Z. 8f.: Ex isto evangelio cum introduccione sectarum patet quod ecclesia militans deteriorando procedit. 59 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 3, Sermo 1, S. 1, Z. 11–13: successio ecclesie deteriorando procedit, licet universalis ecclesia melioratur continue. 60 Wyclif: Trialogus (wie Anm. 47), c. 36, S. 373: Quod si antichristus nequior ut Robertus Gilbonensis habeat plures fratres sub suo ducatu quam alius Papa bonus. Vgl. Ders.: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 18, S. 138: sic habet sequaces usque hodie accusantes quos Deus approbat et secundum sacramentum penitencie mendaciter mendicantes.



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im Schisma, vor allem der in Avignon (antichristus nequior: Robertus Gilbonensis61 gegenüber dem Urbanus noster62). Wenigstens crebrius sind die historischen Päpste seit der Konstantinischen Schenkung als Antichristen zu bezeichnen.63 Das Fehlen der Liebe macht aus den Prälaten das collegium und die praesides Antichristi.64 Der gegenwärtige Antichrist übt seine Herrschaft aus durch Verdammung und Exkommunikation, Zitation65 und Kerker, durch Verbreitung von Lügen und Verleumdungen,66 und die Bettelmönche verifizieren die endzeitliche Weissagung Christi von der Verfolgung der Christen durch die Hausgenossen (Mt 10, 36) ad litteram.67 Das humanistische Ohren beleidigende Adjektiv antichristiva kennzeichnet ebenso die dem Frieden Christi widerstreitende lex wie eine nicht in der Schrift begründete auctoritas.68 Gäbe Wyclif aber zu, dass der Papst das Haupt der Kirche und der Herr der Bettelmönche sei, setzte er Christus als caput ecclesie ab und würde damit selbst zum Antichrist.69 In der späten Schrift «De solutione satanae» (nach Oktober 1383) sieht Wyclif die vielfachen Antichristen ausschwirren70 und Gog und Magog zum Krieg rüsten,71 verwahrt sich aber gegen eine chiliastische Deutung, wie wir sie dann in Kreisen der Lollarden und bei den Taboriten finden werden.72 Der Endkampf findet vielmehr in der realen 61 Wyclif: Trialogus. Hg. von Lechler (wie Anm. 47), c. 36, S. 373; Wyclif: Trialogus, Supplementum c. 4, S. 423: Ex istis rationibus potest colligi vel Avinonicus, quem aliqui vocant papam aut summum et immediatum Christi vicarium in terris, sit fons et origo totius nequitiae in militante ecclesia, ac si foret praecipuus antichristus. 62 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 10, S. 70, Z. 18–28. 63 Ioannes Wyclif: De quattuor sectis novellis, c. 5. In: Ders.: Polemical Works. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), Band 1, S. 258, Z. 3f.: Quomodo ergo necesse foret adire romanum pontificem, licet fuerit crebrius anticristus. 64 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 1, Sermo 49, S.  328, Z. 18–20; Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 31, S. 230, Z. 9f. 65 Vgl. Ioannes Wyclif: De citationibus frivolis, c. 5. In: Ders.: Polemical Works. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), Band 2, S. 556f. 66 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 31, S. 229f. 67 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 31, S. 231: Quod si fratres sint reperti ista perfidia, tunc de illis verificatur textus ad litteram. 68 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 3, Sermo 3, S. 17, Z. 14f.: Quomodo ergo surrepsit lex antichristiva summe Christo contraria. Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Sermo 4, S. 27, Z. 23f.: Nec valet antichristiva auctoritas, nisi de quanto fundata fuerit in scriptura. Vgl. Ders.: Cruciata, c. 5. In: Ders.: Polemical Works. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), Band 2, S. 606, Z. 1–4. 69 Wyclif: De fundatione sectarum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 42), c. 13, S. 64, Z. 22–25: Non autem scio fundare, quod papa sit caput ecclesie, vel quod aliquis prior secte private sit patronus, qui tante colitur in sermonibus, nisi solvero Iesum et per consequens fuero anticristus. Vgl. dazu vor allem Hornbeck: Lollard (wie Anm. 11), S. 183–189: „Head or ‚capteyn‘? The pope in Wycliffite writings“. 70 Wyclif: De solutione satanae. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 44), c. 1, S. 392, Z. 10f.: nunc anticristi multi facti sunt, et sic a tempore ascensionis domini usque hodie dyabolus multis vicibus est solutus. 71 Wyclif: De solutione satanae. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 44), c. 1f., S. 396. 72 Zum Chiliasmus bei den späteren Lollarden vgl. A. K. McHardy: Bishop Buckingham and the Lollards of Lincoln Diocese. In: Schism. Hg. von Baker (wie Anm. 10), S. 131–145 ; Anne Hudson: Lollar-

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Geschichte statt, und der praecipuus anticristus und der coraula, der Spielmann und Anführer des Heeres des Teufels, ist der Papst.73 Ähnlich vielschichtig ist die Rede vom Antichrist bei Hus, seinen Anhängern und Gegnern.74 Werden in den Predigten im Bethlehem noch die schlechten Christen als Pseudochristi und membra Antichristi bezeichnet,75 verengt sich das semantische Spektrum in den polemischen Schriften zunehmend auf den Papst und seinen Klerus.76 Wyclif vereinfachend, bestimmt Hus den Antichrist als quilibet homo perversus, was seiner mehr praktischen Ausrichtung entspricht, und erblickt ihn gegenwärtig vor allem in jedem Papst, der contrarie Christo lebt,77 abgeleitet vom lateinischen pape (papaí),78 wobei ihm wie schon Wyclif die Geschichte von der Päpstin Johanna eine willkommene Veranschaulichung bietet.79 Die Prälaten aber sind die Statthalter und Arme des Antichrist, die das Heiligtum nach Dan 11, 31f. besudeln und den Gräuel der Verwüstung aufstellen.80 Vermehrt treffen wir solche Aussagen in den Auseinan-

dy and Eschatology. In: Antichrist. Hgg. von Patschovsky und Šmahel (wie Anm. 56), S. 99–113. Zu den Taboriten vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 981f. 73 Wyclif: De solutione satanae. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 44), c. 1, S. 396, Z. 1–3: Gog enim, quod interpretatur doma vel tectum, videtur significare papam, qui est nobis occiduis precipuus anticristus. Ders.: De Christo et suo adversario antichristo. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 56), c. 7, S. 671, Z. 11–13: quod iste papa sit praecipuus anticristus et coraula ducens exercitum diaboli contra Cristum. Vgl. Hornbeck: Lollard (wie Anm. 11), S. 189–193. 74 Zur böhmischen Tradition mit Milič von Kremsiers «Libellus de antichristo», wo allerdings der Kaiser als solcher figuriert, und Matthias von Janov vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 740– 743, 491; Jana Nedutová: Eschatologie in Böhmen vor Hus. In: Antichrist. Hgg. von Patschovsky und Šmahel (wie Anm. 56), S. 61–72, hier S. 63–70. 75 Ioannes Hus: Sermones in Capella Bethlehem. Vydal Václav Flajšhans. Prag 1940 (Věstnik Královské Česke Společnosti Nauk. Třída pro Filosofii, Historii a Filologii, Ročník 1940, Č. Band 1), S. 41 (Quadragesimale 1411). Zu den Predigten vgl. Thomas A. Fudge: Jan Hus. Religious Reform and Social Revolution in Bohemia. London/New York 2010, S. 57–73. 76 Hus: Defensio libri de trinitate. Hg. von Eršil (wie Anm. 53), S. 28f.; Ders.: Tractatus de ecclesia. Hg. von Thomson (wie Anm. 45), c. 15, S. 129: Clerus Antichristi. Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 866; Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 81–107; Thomas Krzenck: Johannes Hus. Theologe, Kirchenreformer, Märtyrer. Zürich 2011 (Persönlichkeit und Geschichte. Band 170), S. 56–79. 77 Hus: Tractatus de ecclesia. Hg. von Thomson (wie Anm. 45), c. 13, S. 103. Vgl. dagegen die Formulierung der Artikel von 1409 in Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45), S. 166: Antichristus i. e. homo malus, sed et caput malorum hominum. 78 Hus: Tractatus de ecclesia. Hg. von Thomson (wie Anm. 45), c. 13, S. 101f.: sed est sumptum ab interieccione pape, quod admiracionem signat. 79 Hus: Tractatus de ecclesia. Hg. von Thomson (wie Anm. 45), c. 13, S.  103; vgl. auch Ioannes Wyclif: Tractatus de potestate pape. Hg. von Johann Loserth. London 1907, ND New York u. a. 1966, S. 309, Z. 8–19. 80 Hus: Tractatus de ecclesia. Hg. von Thomson (wie Anm. 45), c. 21, S. 200: Brachia Antichristi que stant et polluunt sanctuarium dei sunt mali prelati, qui sunt abhominacio propter scelera, et desolacio in abieccione imitacionis Christi.



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dersetzungen um den Kreuzzugsablass 1412 an.81 Dagegen sind für Stephan von Páleč die Anhänger Hussens die Vorläufer des Antichrist,82 und für die Taboriten wiederum ist Prag der Sitz des Antichrist, während für Jakobellus von Mies andererseits die Taboriten und der ehemalige Prämonstratenser Jan Želivsky als Antichristen gelten.83 Auch dieser eschatologische Begriff des Antichrist dient also sowohl der Stigmatisierung der ‚Anderen‘ wie der Abgrenzung der eigenen, natürlich immer richtigen Stellung, der probati, die durch das endzeitliche Auftreten von Häresie und Antichrist erst offenbar werden (I Cor 11, 19).

1.3 Ketzerstammbäume, Bestialisierung, Dämonisierung Die Dämonisierung und Bestialisierung der Häretiker ist eine seit der Spätantike geläufige Strategie.84 Die auf Sermones zurückgehende «Summa» des Antoninus85 schildert das Auftreten von Häresien im bekannten, auch ikonographisch ausgeschlachteten Bild des singularis ferus, der den Weinberg des Herrn verwüstet (Ps 79, 14 Vg.).86 Die Häresie wird dabei im Unterschied zur „hérésie savante“ des einzelnen Irrlehrers sogleich als kollektives Phänomen gesehen, der ferus singularis bezeichnet die coetus haereticorum; singulares sind sie nicht als Individuen, sondern in der Weigerung, sich der communis sententia sapientum anzuschließen, folglich in der eigenen superbia. Die geschichtliche Herleitung von Häresien in der Außensicht tut sich bekanntlich leicht und wird auch gegen Wyclif und Hus exerziert, z. B. indem man auf Berengar als den Ahnherrn seiner Eucharistielehre, auf Marsilius von Padua und Johannes von Jandun verweist.87 Doch diese geschichtliche Genealogie wird überboten durch 81 Vgl. z. B. Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45), S.  448–451, Nr. 45: Fakultät: Unde sibi, scilicet papae, non esse obediendum a Christi fidelibus, sed resistendum sicut capitali inimico et adversario Jesu Christi (S. 499). Vgl. Fudge: Jan Hus (wie Anm. 76), S. 64f. 82 Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45), Nr. 115B, S. 671 (Brief Pálečs an Hus 1417): Hi enim non Christi sunt discipuli, sed magis Antichristi praecursores. 83 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 489f. 84 Vgl. Steckel: Heilige (wie Anm. 13), S. 26–28; Brox: ‚Häresie‘ (wie Anm. 53), Sp. 283f. 85 Vgl. Peter F. Howard: Beyond the Written Word. Preaching and Theology in the Florence of Archbishop Antoninus 1427–1459. Florenz 1995; Ders.: ‚Non parum laborat formica ad colligendum unde vivat‘: Oral Discourse as the Context of the ‚Summa theologica‘ of St. Antonin of Florence. Archivum Fratrum Praedicatorum 59 (1989) S. 89–148. 86 Antoninus: Summa (wie Anm. 20), pars I, titulus 5, caput 2 de tribus novissimis, § 8, Sp. 382: Ferus dicitur coetus haereticorum, quia intellectum ferum, & bestialem habent in suis doctrinis, & ferilitatem crudelitatis, quum possunt, adversus fideles exercent. Singularis dicitur hic ferus, quia singulares sunt in opinione, nolentes assentire communi sententiae sapientum. Vel etiam singulares ex superbia, qua cupiunt ceteris anteferri in vita et scientia, facientes se capita aliorum. 87 Z. B. Sententia Willelmi Cancellarii Oxoniensis. In: Fasciculi zizaniorum (wie Anm. 6), S. 110–114; Sententia Willelmi Cancellarii Oxoniensis. In: Fasciculi zizaniorum (wie Anm. 6), S. 243: Bulle Gregors XI. vom 31. Mai 1376.

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eine parodierte biblische bzw. metaphysische: Liber malediccionis omnium hereticorum filiorum: diaboli filius Wikleph, Wikleph genuit Swevia, Swevia genuit Stanislaum, Stanislaus genuit Hus, Hus genuit Marcum de Grez, so beginnt das Evangelium einer literarisch nicht gerade anspruchsvollen antiwycliffitischen Messparodie aus den Jahren 1409–1410,88 auf die Hus selbst in seiner Auseinandersetzung mit Stephan von Páleč Bezug nimmt.89 Das Evangelium, entstanden in deutschen Kreisen der Prager Universität, ist der Genealogie Christi bei Mt 1, 1–16 nachgebildet und führt über die führenden Köpfe der Prager Universität bis zu Johannes von Jesenice als Vater von Zdislav von Zvířetic, dem sich der Schlusssatz anschließt: Novissime autem temporibus istis non tantum literati fantasticis Wikleph erroribus insistebant, verum et laici universaliter singuli et singulariter universi.90 Dies ist nur eine von mehreren bekannten Versionen einer solchen Parodie.91 Ketzerkataloge und Ketzerstammbäume in der Außenperspektive sind seit der Spätantike durchaus bekannt.92 Messparodien sind gleichfalls eine bekannte literarische Erscheinung.93 Fragt man dann nach der Art der Lebensweitergabe in diesem Stammbaum, so fallen einige Besonderheiten auf. Fortlaufend ist da von Zeugung die Rede, manche Glieder sind jedoch mit Epitheta non ornantia geschmückt, Petrus von Koněprus, qui fuit nequam quintuplex (er war fünfmal Dekan), Matthäus Knin als pater nequitiae, sein geistiger Sohn Hieronymus von Prag als Athleta Antichristi. Zdislav von Zvířetic schließlich wird als leprosus bezeichnet, cuius contagione infecti sunt multi.94 Es wird also deutlich unterschieden 88 Zdeněk Nejedly: Dějiny husitkého zpěvu III. Prag 1955, S.  373 Anm. 128: Liber malediccionis omnium hereticorum filiorum: diaboli filius Wikleph, Wikleph genuit Swevia, Swevia genuit Stanislaum, Stanislaus genuit Hus, Hus genuit Marcum de Grecz, Marcus genuit Sdeniconem, Sdenico genuit Tyssnow, Tyssnow genuit Koniprus, qui fuit nequam quintuplex, Koniprus genuit Michalecz, Michalecz genuit Knyn, qui fuit pater nequicie, Knyn genuit Jeronymum athletam Antichristi, Jeronymus genuit Jessenicz usque ad transmigracionem trium nacionum, et post transmigracionem Jessenicz genuit Sdislaum leprosum, cuius contagione infecti sunt multi. Novissime autem temporibus istis non tantum literati fantasticis Wikleph erroribus insistebant, verum et laici universaliter singuli et singulariter universi. Zu Datierung und Herkunft vgl. Zdeněk Nejedly: Dějiny husitkého zpěvu III. Prag 1955, S. 372–375. Vgl. auch die Fassung der gesamten Messparodie bei Paul Lehmann: Die Parodie im Mittelalter. Stuttgart 1953, S. 217–223. Zu einzelnen Personen vgl. van Dussen: England (wie Anm. 33), S. 65–80. Vgl. auch Fudge: Trial (wie Anm. 18), S. 43. 89 Ioannes Hus: Contra Stephanum Palecz. In: Ders.: Polemica. Hg. von Eršil (wie Anm. 7), S. 261, Z. 14–17: Forte meminerit iste fictor misse, quam Theutonici blaspheme confixerant, in qua per modum libri generationis primo ponitur Stanislaus, qui genuit Petrum de Znoyma, et Petrus de Znoyma genuit Palecz, Palecz genuit Hus. 90 Nejedly: Dějiny (wie Anm. 88), S. 373 Anm. 128. 91 Vgl. Nejedly: Dějiny (wie Anm. 88), S. 374: Genealogie von 1419 mit anderer Folge. 92 Vgl. dazu Brox: ‚Häresie‘ (wie Anm. 53), Sp. 286f.; Walter Bauer: Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum. Tübingen ²1964 (Beiträge zur Historischen Theologie. Band 10); Karl-Heinz Utemann: Christus, Kosmos, Diatribe. Themen der frühen Kirche als Beiträge zu einer historischen Theologie. Berlin 2005, S. 158. 93 Vgl. Lehmann: Parodie (wie Anm. 88), S. 217–223, 241f. 94 Zur Deutung und den Personen vgl. Nejedlý: Dějiny (wie Anm. 88), S. 372.



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zwischen dem Stammbaum der Häupter der hussitischen Häresie, die sich durch ursprünglich diabolische Zeugung fortpflanzen, und der Breitenwirkung, die – wieder ein schon in der Spätantike und im Mittelalter geläufiges Bild95 – durch Lepra und Ansteckung umschrieben ist.96 Hus erscheint hier als Sohn von Stanislaus von Znaim, in Hussens Version dagegen von Stephan von Páleč, aber nur als ein keineswegs herausragendes, nicht einmal durch ein Epitheton geschmücktes Glied einer Kette, die erst in der unmittelbaren Gegenwart endet. Der eigentliche Ahnherr ist nächst dem Teufel Wyclif. Das auf diese eigentlich nur für den Kenner der Prager Universitätsverhältnisse verständliche Genealogie folgende Credo sagt es dann einfacher: Credo in Wycleph, ducem inferni, patronum Boemie, et in Hus, filium eius unicum, nequam nostrum, qui conceptus est ex spiritu Luciperi, natus matre eius et factus incarnatus equalis Wikleph secundum malam voluntatem et maior secundum persecucionem, regnans tempore desolationis studii Pragensis, tempore, quo Boemia a fide apostatavit. Qui propter nos hereticos descendit ad inferna et non resurget a mortuis nec habebit vitam eternam. Amen.97

Hier ist Hus tatsächlich die zentrale Figur, als filius unicus von Wyclif, der selbst zum dux inferni, aber auch Patron Böhmens stilisiert wird. Was hier ferner auffällt, sind die Kollektiva: Boemia ist vom Glauben abgefallen; – und dann das parodistisch dem Text des Glaubensbekenntnisses qui propter nos homines98 nachgebildete, aber sicher auch in der Aussage nicht unüberlegte qui propter nos hereticos. Dieser Text, als Glaubensbekenntnis in der ersten Person Singular einem Wycliffiten in den Mund gelegt (credo), spricht in einer merkwürdigen Weise von einer in der ersten Person Plural ausgedrückten Wir-Identität mit der abtrünnigen, häretischen Boemia und wendet sich in der Tendenz der Parodie, deutlich wieder in einer kollektiven Aussage nequam nostrum, doch entschieden gegen diese Häresie aus den Tiefen der Unterwelt. Das propter nos hereticos ist also wirkliche Bekenntnis-Parodie, nicht reales Bekenntnis: Eine kollektive Identifizierung ‚Wir Häretiker‘ findet so nicht statt.

95 Vgl. Fürst: Konstruktionscharakter (wie Anm. 4), S.  14; Brox: ‚Häresie‘ (wie Anm. 53), S.  238. Zur Annahme der Weitergabe der Häresie durch den Samen seit Isidor von Sevilla vgl. Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 51; Robert I. Moore: The Origins of European Dissent. Oxford 1985, S. 248. Zur Diabolisiering: Fudge: Trial (wie Anm. 18), S. 70–72. 96 Als leprosi erscheinen die Häretiker auch bei Wyclif: De duobus generibus hereticorum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 51), S. 431, Z. 8f. Vgl. auch Fudge: Trial (wie Anm. 18), S. 60–64; Moore: Origins (wie Anm. 95), S. 246–250. 97 Nejedly: Dějiny (wie Anm. 88), S.  373f. Den durchgehend polemischen Charakter der Messe übersieht Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 167f. 98 Vgl. Heinrich Denzinger: Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Hg. von Petrus Hünermann. 43. Aufl. Freiburg u. a. 2010, Nr. 150, S. 381: qui propter nos homines et propter nostram salutem descendit de caelis.

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2 Identifizierung von innen So einfach die Identifizierung als Häretiker aus der jeweiligen Außenwahrnehmung ist, so schwierig gestaltet sie sich im Inneren. Dabei sind auch beträchtliche Unterschiede zwischen Wyclif und seinen unmittelbaren Schülern gegenüber den späteren Lollarden, die sich teilweise eher ‚zwischen‘ Reformorthodoxie und Heterodoxie bewegen,99 zwischen Hus und den sich auf ihn berufenden Gruppen100 auszumachen. Dies betrifft einmal die Ausbildung einer eigenen Kirchenverfassung und Confessio z. B. bei den Taboriten101 bzw. die grundsätzliche Infragestellung der bestehenden Hierarchie durch spirtualistische Lollarden,102 dies betrifft aber auch die verschiedenen sich auf Hus berufenden Gruppen in ihrem Kampf gegeneinander:103 die radikalen Prager Magister, der böhmische Hochadel, die konservative Prager Altstadt, die tschechisch geprägte Neustadt und die apokalyptischen Bruderschaften der Taboriten und Orebiten, die dann ihrerseits wieder Ketzer schaffen in der Verfolgung der Pikarden104 und Adamiten.105

2.1 Abgelehnte Identitäten Die in der Historiographie gebräuchlichen Ketzerbezeichnungen werden von den so genannten Gruppen und ihren Führern mehrheitlich abgelehnt. Dies gilt in gewissem Maße auch für die Bezeichnungen ‚Wycliffiten‘, ‚Lollarden‘ und ‚Hussiten‘. Sie sind der eigenen Identifikation zunächst eher hinderlich und werden, wie im Fall des ursprünglich pejorativ gebrauchten ‚Lollarden‘, erst in einer späteren Phase positiv

99 Vgl. vor allem Hudson: Neighbour (wie Anm. 14); Dies.: English Wycliffites and the Events of Their Times. In: Reformer. Hgg. von Frank und Niewöhner (wie Anm. 17), S. 181–195; Hornbeck: Lollard (wie Anm. 11), S. 17f.; Michael G. Sargent: Censorship or Cultural Change? Reformation and Renaissance in the Spirituality of Late Medieval England. In: After Arundel. Religious Writings in Fifteenth Century England. Hgg. von Vincent Gillespie und Kantik Gosh. Turnhout 2011 (Medieval Church Studies. Band 21), S. 55–72, hier S. 62: „A Lollard will, it seems, is what a post-modern semiotican would call a floating signifier.“ 100 Vgl. Peter Segl: Die Auswirkungen der hussitischen Bewegung auf Europa. In: Reformer. Hgg. von Frank und Niewöhner (wie Anm. 17), S. 197–208. 101 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 1103–1108; Confessio Taboritarum. Hgg. von Amadeo Molnar und Romolo Cegna. Rom 1983 (Fonti per la Storia d’Italia. Band 105). 102 Vgl. Hudson: Reformation (wie Anm. 36), S. 298f., 325f.; David Luscombe: Wyclif and Hierarchy. In: Ockham. Hgg. von Hudson und Wilks (wie Anm. 34), S. 233–244. 103 Vgl. Segl: Auswirkungen (wie Anm. 100), S. 199. 104 Vgl. Howard Kaminsky: A History of the Hussite Revolution. Berkeley/Los Angeles 1967, S. 418– 433; Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 1150–1155, 1210–1213; Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 216. 105 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 712–715, 1154; Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 216.



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übernommen,106 wo dann sogar Christus als Þe most blessed loller Þat euer was or euer schal be beschrieben wird.107 Für Wyclif selbst als Universitätsgelehrten stehen solche Etiketten noch nicht zur Verfügung.108 Vielmehr steht bei ihm durchgängig die Lehre von der wahren Kirche in Abgrenzung von den als häretisch betrachteten Neuerungen seiner Gegner im Vordergrund.109 Hus lehnt für seine Anhänger die Bezeichnung Wiclefistae mit aller Deutlichkeit und, doktrinell betrachtet, zu Recht ab.110 Es fällt ihm auch sichtlich schwer, sich auf Wyclif, mit dem er sich im Reformprogramm weithin einig ist und von dessen Grab er angeblich einen Stein nach Prag bringen lässt,111 immer positiv zu beziehen – denn der ist kein Tscheche112 – oder gar die Bezeichnung Wiclefista für sich und seine Anhänger zu bejahen,113 zumal diese Selbstbezeichnung ehemals auch bei seinen Gegnern Stanislaus von Znaim und Stephan von Páleč gebräuchlich war, folglich im guten wie im schlechten Sinn verstanden werden konnte.114 Die von Stephan von Páleč in Erwei106 Vgl. Hudson: Neighbour? (wie Anm. 14), S. 96; Hornbeck: Lollard (wie Anm. 11), S. IXf.; Spirituality. Hgg. von Hornbeck u. a. (wie Anm. 6), S. 15–18, S. 53. 107 Cambrigde, University Library, MS Ii. 6. 26, zitiert bei Mishtooni Bose und J. Patrick Hornbeck II: Introduction. In: Controversies. Hgg. von Dens. (wie Anm. 14), S. 3. Vgl. Spirituality. Hgg. von Hornbeck u. a. (wie Anm. 6), S. 249. 108 Vgl. vor allem Kantik Gosh: Wycliffite ‚Affiliations‘: Some Intellectual-Historical Perspectives. In: Controversies. Hgg. von Bose und Hornbeck (wie Anm. 14), S. 13–32; Ian Christopher Levy: A Contextualized Wyclif: Magister Sacrae Paginae. In: Controversies. Hgg. von Bose und Hornbeck (wie Anm. 14), S. 33–57. 109 Siehe unten 2.2 und 2.3. Zur häresiestiftenden Vorstellung von der wahren Kirche vgl. Gordon Leff: The Making of the myth of a True Church in the Middle Ages. Journal of Medieval and Renaissance Studies 1 (1971) S. 1–15; auch in: Ders.: Heresy (wie Anm. 21), Beitrag V mit originaler Paginierung. 110 Hus, Contra Stephanum Palecz. Hg. von Eršil (wie Anm. 89), S.  298, Z. 1075–1082: nec michi placet, quod iste doctor in mala significacione vocat nos Wyclefistas. Ego enim fateor, quod sentencias veras, quas magister Ioannes Wicleff, sacre theologie professor, posuit, teneo, non quia ipse dicit, sed quia Deus, Scriptura vel racio infallibilis dicit. Si autem aliquem errorem posuerit, nec ipsum, nec quemcumque alium intendo in errore quantumlibet modice imitari. Zu den Lehrunterschieden vgl. vor allem Gordon Leff: Wyclif and Hus: a doctrinal comparison. In: Wyclif and his Times. Hg. von Anthony Kenny. Oxford 1986, S. 105–125, wieder in: Leff: Heresy (wie Anm. 21), Beitrag VII mit originaler Paginierung; Fudge: Jan Hus (wie Anm. 76), S. 27–55. 111 Relatio M. Petri de Mladenowic, Pars Quarta De M. J. Hus Audientia die 8. Junii. In: Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45), S. 312. Vgl. dazu van Dussen: England (wie Anm. 33), S. 72 mit Anm. S. 176. 112 Vgl. Relatio M. Petri de Mladenowic, Pars Quarta De M. J. Hus Audientia die 8. Junii. In: Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45), (audientia 7. Junii), S. 278: respondit, quod nec Wiclef, nec alicujus alterius praedicavit nec sequi voluit doctrinam erroneam, cum Wyclef non fuerit pater suus nec Bohemus. 113 Vgl. Hus: Contra Stephanum Palecz. Hg. von Eršil (wie Anm. 89), S. 298, Z. 1075–1082. 114 Hus: Contra Stephanum Palecz. Hg. von Eršil (wie Anm. 89), S. 299, Z. 1108–1110: Hic doctor appelat Wiclefistas, ut existimo, non in bona significatione, sed mala, et illos, de quorum numero erat post Stanislaum primus.

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terung des quidam de clero pestifero eingebrachte Bezeichnung Quidamistae115 ist für Hus nur ein synkategorematischer Ausdruck, der für sich genommen nichts besagt. Die Bezeichnung Hussonite bei Andreas von Brod ist ebenfalls eine Zuschreibung von außen, keine Selbstbezeichnung und daher ungeeignet für eine Identifikation innerhalb der frühen Bewegung.116 Ebenso wenig kann man seine Gegner einfach als Machometistae bezeichnen.117

2.2 Idee und Geschichte: ecclesia universalis – secta nostra Bei wohl kaum einem anderen ‚Ketzer‘ des späten Mittelalters treten Idee und geschichtliche Wirklichkeit weiter auseinander als bei Wyclif. Dies ist begründet in seiner metaphysischen Kirchenidee im Rahmen seines Ideenrealismus.118 Die Idee der Kirche als der einen universitas predestinatorum aller Zeiten119 existiert ideal in Gott120 und ist damit im strengen Sinne unzeitlich und deshalb ungeschichtlich. Denn die Gesamtheit der pilgernden Kirche ist eine einzige Person,121 im ersten Augenblick der Welt in Gott real gedacht und damit existent.122 Metaphysischer Identifikationspunkt ist Christus selbst; er ist in Anwendung des verbreiteten Bildes der Kreis, dessen Mit-

115 Hus: Contra Stephanum Palecz. Hg. von Eršil (wie Anm. 89), S. 261, Z. 4–6: me cum adherentibus quasi sinkathegreumata reputans derisorium confinxit vocabulum, derisorie vel scariotice quidamistas in suis responsionibus nos appellans. Replicacio Quidamistarum. In: Beiträge. Hg. von Loserth (wie Anm. 30), S. 347: Sed diceret Quidamista vel Wiclephista. 116 Beiträge. Hg. von Loserth (wie Anm. 30), S. 342, Nr. 4: Die Duplik des Andreas von Brod auf die Replik des Hus: Faciunt hic Hussonite more phariseorum, qui iunxerant se Herodianis ad opprimendam veritatem et iusticiam Salvatoris. Vgl. Ferdinand Seibt: Hussitica. Zur Struktur einer Revolution. Köln/Graz 1965, S. 10–14: „‚Hussiten‘ als historischer Begriff“; Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 211–215. 117 Vgl. Hus: Contra Stephanum Palecz. Hg. von Eršil (wie Anm. 89), S. 300, Z. 1147–1150: Nec unquam michi placuit, ymmo nec placebit, quod quidam vocant doctoris partem Machometistas vel seductores, nec michi placet, quod iste doctor in mala significacione vocat nos Wiclefistas. 118 Vgl. Alessandro D. Conti: Wyclif’s Logic and Metaphysics. In: A Companion to John Wyclif, Late Medieval Theologian. Hg. von Ian Christopher Levy. Leiden/Boston 2006 (Brill’s Companions to Christian Tradition. Band 4), S. 67–125, bes. S. 95–99. 119 Vgl. Ioannes Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Johann Loserth. London 1886, ND New York u. a. 1966, c. 2, S. 37, Z. 11–13: Et satis est sibi pro fide articuli de ecclesia catholica, ut credat fide formata quod sit una universitas predestinatorum, salvanda virtute meriti Christi. Zur Ekklesiologie Wyclifs vgl. Takashi Shogimen: Wyclif’s Ecclesiology and Political Thought. In: Companion. Hg. von Levy (wie Anm. 118), S. 199–240. 120 Vgl. Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 3, Sermo 49, S. 421, Z. 2–4: Habet enim homo esse ydeale eternum secundum quod est essencialiter Deus sicut et quelibet creatura. 121 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 1, Sermo 17, S. 120, Z. 7: cum totum genus viancium sit una persona. 122 Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 6, n. 3, S. 123, Z. 29f.: Christus in primo instanti mundi fuit sponsus ecclesie predestinacione.



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telpunkt überall und dessen Umfang nirgends ist.123 Er ist auch seiner Menschheit nach die forma der Kirche.124 Er ist der terminus communis copulans, der die einzelnen Glieder miteinander verbindet.125 Er ist abbas noster, der die Glieder der Kirche mit dem Hochzeitsgewand bekleidet.126 Er ist aber auch der Papst, sogar der Romanus Pontifex, und wo er ist, ist die Romana Ecclesia; denn die Kirche gründet sich nicht auf den Ort oder das Alter, sondern auf die fides formata der Gläubigen.127 Christus identifiziert (ydemtificaret sibi) sich selbst jedes Glied dieser spirituellen Kirche.128 Diese metaphysisch-mystische Sicht der Kirche führt auch zu einer mystischen Erhöhung des einzelnen Christen als virgo und Braut Christi, die nun durch den Samen des von Christus empfangenen Glaubens den Sohn Gottes spiritualiter in sich gebären kann.129 Dies gilt grundsätzlich von jedem Christen und birgt daher eine antihierarchische Aufwertung der volkssprachlichen Laien in sich,130 als deren bedeutendste von 123 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 17, S. 126, Z 20–24: Cum autem Christus secundum divinitatem sit circulus intelligibilis cuius centrum sit ubique et circumferentia nusquam ac secundum humanitatem sit ubique in medio ecclesie, patet quod secundum valde disparatos diametros contingit ipsum attingere. Zum Bild, ursprünglich als sphaera, vgl. Alanus ab Insulis: Regulae theologiae. Regeln der Theologie. Lateinisch/deutsch, übers. und eingeleitet von Andreas Niederberger und Miriam Pahlsmeier. Freiburg i. Br. 2009 (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters. Band 20), regula 7, S. 64. 124 Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 6, S. 132–134. 125 Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 5, S. 107, Z. 25f. 126 Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 5, S. 108, Z. 18–31. 127 Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 1, S. 14, Z. 19–21: sed ipse est Romanus pontifex sicut est caput universalis ac cuiuslibet particularis ecclesie. Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 1, S. 16, Z. 2–6: Cum ergo persona universalis ecclesie secundum multas partes suas ibi nascebatur, segregata ex utero synagoge, et ibi triumphavit crescens in gentibus: ideo fuit consonum quod caperet nomen a civitate metropoli gencium que est Roma. Vgl. Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 2, S. 36, Z. 12. 128 Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 6, S. 131, Z. 23–28: (Einwand): Sexto arguitur contra dicta in racione secunda: videtur enim, si Christus desponsavit matrem ecclesiam cuius fuit filius, quod filius foret senior matre sua, sicut est honorabilior, melior et formalior quam illa, et sic ydemtificaret sibi omne membrum ecclesie (ut sepe innuitur in sanctis doctoribus et scriptura). In der Antwort (S. 132, Z. 30–S. 133, Z. 18): Sed difficultas est, utrum Christus secundum humanitatem sit forma ecclesie. Et videtur mihi quod sic; nam sicut forma vivificat et movet corpus ad actus suos, limitans sibi et partibus suis crementum et alia accidentia naturalia, sic se habet nedum divinitas Christi extrinsecus, sed humanitas eius intrinsecus ad sanctam matrem ecclesiam […]. Nam eo ipso, quo praedestinatus habet celibatum, recipiens a sponso ecclesie semen fidei, gignendo filium Dei, est virgo, sponsa Christi, et per consequens, soror et frater eius germanus, per idem, mater eius, cum gignit Christum spiritualiter ex semine sponsi in anima conversa ad Christum. 129 Vgl. auch Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 4, Sermo 55, S. 429, Z. 3–8: In isto evangelio elicitur quomodo ecclesia se habebit in quolibet trium statuum et quomodo quelibet persona ecclesie debet se habere pro statu peregrinacionis, pro statu dormicionis et pro statu evigilacionis et mercedis recepcionis. Nam per hos tres status oportet omnem personam humanam decurrere. 130 Vgl. Luscombe: Wyclif (wie Anm. 102), S.  233–244, bes. S.  235f.; Leff: Heresy (wie Anm. 55), S. 323–331. Zur Problematik des „vernacular“ bei Wyclif vgl. vor allem Margret Ashton: Wyclif and the vernacular. In: Ockham. Hgg. von Hudson und Wilks (wie Anm. 34), S. 281–330; Hudson: Refor-

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Hus dann in Auseinandersetzung mit dem klerikalistischen Prediger von Pilsen nicht zuletzt David131 und Maria132 vorgestellt werden. Ist für Wyclif die Kirche die universitas predestinatorum, so ist der Rangunterschied zwischen Klerus und Laien kein essentieller mehr, ja nicht einmal zwischen Laien und Papst,133 zumal in der alten Kirche die Bischöfe selbst pape genannt wurden, et sic non video quin quicunque sancti presbiteri sicut et laici possunt [sic!] vocari pape sanctissimi,134 ja sie können alle Apostel sein135 und sogar – zumindest nach einer von Wyclif wohlwollend zitierten Meinung – einem Papst, der ihnen gegenüber in der Schuld steht, seine Schuld und Sünde vergeben, falls dieser der Vergebung überhaupt fähig ist.136 Schließlich sind die weltlichen Herren die Stellvertreter Christi seiner Gottheit, die Priester nur seiner Menschheit nach.137 Innerhalb der wycliffitischen und hussitischen Bewegung nehmen zwei Corpora eine besondere Stellung ein: die Universitäten, namentlich Oxford und Prag,138 und die milites, deutlich etwa im Aufstand Oldcastels139 und in den frühen hussitisch-tabomation (wie Anm. 36), S. 238–264 zur Bibelübersetzung und -kommentierung; Ian Johnson: Vernacular Theology / Theological Vernacular: A Game of Two Halves? In: Arundel. Hgg. von Gillespie und Ghosh (wie Anm. 99), S. 73–88. 131 Ioannes Hus: Contra Predicatorem Plznensem. In: Ders.: Polemica. Hg. von Eršil (wie Anm. 7), S. 121, Z. 284–286: Articulus tercius est iste: Pessimus sacerdos est melior optimo laico. Ex isto dicto sequitur, quod Iudas est melior sancto David propheta. Vgl. auch Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 81–107 die Analyse der Schrift «Knížky proti knězi kuchimistrovi». 132 Hus: Contra Predicatorem. Hg. von Eršil (wie Anm. 131), S. 122, Z. 316–319: Sed quia condependenter quidam predicant, quod pessimus sacerdos est dignior beatissima Virgine, matre Christi, quorum vesania serpit ut cancer ex propria extollencia, et avaricia et ex diaboli astucia. 133 Vgl. auch Hornbeck: Lollard (wie Anm. 11), S. 177–195. 134 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 49, S. 352, Z. 34–36. 135 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 3, Sermo 37, S. 312–314; Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 3, Sermo 37, S. 314, Z. 7–11: quod si illorum religiosi fuerint, contingit laicos in qualicunque statu laudabili esse plus religiosos ut latrinarum purgatores, obstetrices cum eis similibus, non est impertinens ubi in patria locabuntur. 136 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 3, Sermo 19, S.  147, Z. 21–24: Ex quo quidam concludunt quod papa et alii prelati segnes inter omnes viantes plus debent fratribus, et per consequens laici dimittunt copiosius illis sua debita vel peccata, dum tamen remissionis huiusmodi sint capaces. Vgl. auch Edwin D. Craun: Ethics and Power in Medieval English Reformist Writings. Cambrige 2010 (Cambridge Studies in Medieval Literature. Band 76), S. 85–90. 137 Wyclif: Dialogus. Hg. von Pollard (wie Anm. 1), c. 1, S. 2, Z. 3–13: Dividebam autem meam mili­ tantem ecclesiam in tres partes quarum prima foret clerus meus, qui vocantur sacerdotes Christi; qui me instar apostolorum propinquius in moribus sequerentur. […] Secunda pars mee militantis ecclesie forent domini temporales, qui debent esse vicarii deitatis. Vgl. Craun: Ethics (wie Anm. 136), S. 89–98. 138 Vgl. vor allem Levy: Wyclif (wie Anm. 108); Gordon Leff: John Wyclif: the Path to Dissent. The British Academy Raleigh Lecture on History. The Proceedings of the British Academy 52 (1966) S. 143– 180, wieder in: Ders.: Heresy (wie Anm. 21), Beitrag VI mit originaler Paginierung; McHardy: Dissemination (wie Anm. 34), S. 368: „Was there, indeed, a Lollard network? I suggest that there was – an ‚old boy‘ network.“ Zu Prag vor allem Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 826–949. 139 Vgl. vor allem Lambert: Häresie (wie Anm. 17), S. 261, 271–273; Catto: Fellows (wie Anm. 32); Jurkowski: Lollardy (wie Anm. 33).



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ritischen Aktionen.140 Während die Universitäten bereits korporativ verfasst sind und damit eine starke Identität besitzen, können die neuen Bewegungen den milites, in mittelalterlicher Bezeichnung meist als Ritter anzusprechen,141 im Rahmen der Vision von der ecclesia militans eine neue Stelle anweisen.142 Militärisches Vokabular gehört seit der Bibel zur christlichen Verkündigung und biblische Gestalten, allen voran David und die Makkabäer, dienen dem Hohen Mittelalter als Vorbilder für Rittertum ebenso wie für die klösterliche militia.143 Die milites Christi sind darüber hinaus insbesondere zur defensio ecclesiae und zur Hilfe bei der Ketzerverfolgung verpflichtet.144 Wyclif wendet sich in seinen späten Schriften und Predigten vermehrt an die milites Christi, wobei aber oft in der Schwebe bleibt, ob hier die soziale Gruppe der milites gemeint ist oder die Glieder der ecclesia militans im Rahmen seiner spirituellen Kirchenauffassung insgesamt.145 In den Predigten ist meist die spirituelle Seite angesprochen und von der weltlichen militia und ihrer sprichwörtlichen Ruhmsucht abgegrenzt.146 Das homagium ist die Taufe, und durch die Firmung wird der Mensch nominetenus zum miles Christi unter dem dux et capitaneus Christus147 (und nicht

140 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 1071–1108, 1158–1253. Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 178f. das Lied: Slyšte rytieři boží / připravte se již k boji. Vgl. Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 156. 141 Zum sozialen Status vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 274–297; zur Identifikation vgl. Jean Flori: Chevaliers et chevalerie au Moyen Age. Paris 1988; Philippe Contamine: La Guerre au Moyen Age. Paris 1980. 142 Vgl. dazu Wyclif: De citationibus frivolis. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 65), c. 6, S. 559, Z. 2–8: Et sic absit, quod tale caput per falsas et fictas elecciones humanas foret caput ecclesie militantis, sed caput nostrum est sursum, dominus Iesus Cristus. Et sic illi militantes dei adiutores ac sue militantis ecclesie, quibus sibi placet ad hoc de sursum graciam destillare, et sic militans ecclesia non est acephala nec sine adiutorio. 143 Vgl. Ulrich G. Leinsle: „Deo militans clericus“ Rittertum und Krieg im Werk Philipps von Harvengt. Analecta Praemonstratensia 77 (2001) S. 94–120, hier S. 96–102. 144 Z. B. Bernardus Guidonis: Practica inquisitionis haereticae pravitatis. Hg. von Célestin Douais. Paris 1886, Nr. 3: Littera generalis ad capiendum perfectos haereticos et famosos, S. 4: Accingite vos, filii Dei, consurgite mecum milites Christi contra inimicos crucis eius, veritatis et puritatis fidei catholicae corruptores. Vgl. auch Forrest: Detection (wie Anm. 9), S. 219–230. 145 Zur ecclesia militans vgl. Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 18, S. 417–422. 146 So z. B. Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 2, S. 7f. in der Absetzung vom mundanus exercitus. Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 35, S. 255, Z. 13–17: In hoc enim differt evangelica certacio a certacione militum secularium quod prior habet laudem absconditam et mercedem perpetuam ac longitudine temporis est forcior, delectabilior et vere laudi propinquior. Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 4, Sermo 32, S. 279, Z. 27–30: Nam militis Christi fama dilatatur perpetuo per totum mundum pro levi labore et paciencia; fama vero ficta ac momentanea militis mundi stringitur in arta superficiei terre porciuncula. Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 4, Sermo 24, S. 206–208 im Sinne des bellum spirituale. 147 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 4, Sermo 58, S.  458, Z. 35f.; Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 4, Sermo 56, S. 439, Z. 23–29. Zur Ruhmsucht auch Leinsle: Deo militans clericus (wie Anm. 143), S. 104f.

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etwa dem Papst) im Kampf gegen Teufel und Antichrist.148 In weiteren Predigten wird Petrus als miles Christi egregius vorgestellt,149 Johannes der Evangelist als papa et episcopus exercitus Christi praecipuus gegen das Heer des Teufels.150 Die praelati cesarei werden den armen milites Christi gegenübergestellt, allerdings auch die milicia spiritualis der corporalis milicia: Wo die geistliche schwindet, verkommt auch die körperliche.151 Der miles Christi aber siegt nicht durch körperliche Stärke, sondern, wie es dann von den Lollarden auch propagiert wird, paciendo.152 Die gesamten milites Christi, tam saeculares quam clerici, et precipue professores paupertatis evangelice et defensores usque ad sanguinem legis Dei ruft Wyclif in einem anonymen Schreiben zum Widerstand gegen die Verurteilung der 19 Artikel auf.153 Pflicht der militia Christi ist es, die versutia Antichristi aus der Kirche zu vertreiben und die sectae privatae zu vernichten, wenn sie sie sich der Anordnung der Wahrheit widersetzen.154 An die militia insgesamt wendet sich Wyclif auch in der Ablehnung des Kreuzzugs Urbans VI. nach Flandern. Er erinnert sie an den Fahneneid, der Christus geschworen wurde, und warnt sie, in das Heer des Antichrist überzulaufen, der vorgibt, Herr ihrer Güter und Soldaten zu sein, ruft sie aber auch zur Hilfe für die pauperes Christi auf und stellt ihnen als Lohn die dem Teufel entrissenen Güter in Aussicht.155 Wie weit solche Predigten und Aufrufe und damit die spirituelle Idee einer Ritterschaft entsprechend der metaphysischen Kirchenidee die reale militia erreicht haben, bedürfte einer eigenen Untersuchung, zumal Wyclif die zeitgenössische Ritterschaft, das brachium militare, keineswegs positiv beurteilt, sich aber von der Durchsetzung der lex Dei auch eine 148 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 4, Sermo 22, S. 192, Z. 37–193; Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 4, Sermo 17, S. 146, Z. 35–38: Eya ergo milites qui vovistis legem Christi defendere, expergescimini in causa tam salutari et utili, ne vel Antichristus vel corporalis desidia vel carnalis affeccio vos impediat ab opere tam meritorio exequendo. 149 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 3, S. 16, Z. 1. 150 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 3, S. 20, Z. 33f. 151 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 3, S. 20, Z. 11–30. 152 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Bd. 4, Sermo 32, S. 280, Z. 14f. 153 De condemnatione XIX Conclusionum. In: Fasciculi zizaniorum (wie Anm. 6), S. 488. 154 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 1 (Weihnachtspredigt!), S. 6, Z. 15–19: Et cum non invenitur testimonium de papa cum toto clero cesareo de cunctis privatis sectis hodie adinventis, ideo tenetur dicta milicia ipsos destruere, si contrariantur in aliquo verbo ordinacioni vel factis tam amabilis Veritatis. Ders.: Trialogus. Hg. von Lechler (wie Anm. 47), liber 4, caput 32, S.  360: Sed eia, milites Christi, abjicite prudenter haec opera atque fictitias principis tenebrarum, et induimini Dominum Jesum Christum, in armis suis fideliter confidentes, et excutite ab ecclesia tales versutias antichristi. 155 Wyclif: De citationibus frivolis. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 65), c. 3, S.  553, Z. 11–16: Eya, milites Cristi, recolite, quam stultum facinus sit Cristum contra iuramentum proprium ita deserere et anticristo, qui in faciem anime sic vos cedit, tam turpiter consentire! Vendicat enim anticristus, licet false, esse capitalis dominus vestrarum omnium contractarum et vestrorum bonorum omnium et singulorum vestrorum hominum legionum. Ders.: Cruciata (wie Anm. 68), c. 4, S. 604, Z. 14–17: Eya, milites Christi, iuvate fideliter suos pauperes, quia magis gloriosus conquestus nunquam fuit vobis appositus ad vestrum dominium secundum concessionem Cristi de manu dyaboli conquirendum.



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Besserung der Verhältnisse verspricht.156 Tatsache ist allerdings auch, dass Wyclif in ritterlichen Kreisen Anhänger und Beschützer hatte,157 denen damit eine neue, alte Topoi aktualisierende, spirituelle Identität gegeben werden konnte. Nur scheinbar widerspricht der Idee der ecclesia universalis das häufige Sprechen von sectae bei Wyclif und Hus, wobei Wyclif secta als zunächst wertneutralen Terminus mit Isidor von Sevilla (etymologisch richtig) von sequor ableitet, nicht wie später von secare,158 und definiert als multitudo hominum unum patronum sequencium, unam regulam admittencium.159 In der Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Gruppen innerhalb der Kirche, vor allem den Mendikanten, kommt es hier allerdings zu einer bedeutenden Einschränkung. Der universellen und freien Gefolgschaft Christi (secta libera),160 die Wyclif natürlich für sich und seine Anhänger in Anspruch nimmt, stehen die secte private gegenüber.161 Diese geben sich neue Kennzeichen als Unterscheidungsmerkmale,162 neue Lehren,163 neue Regeln164 und Traditionen165 und setzen sich so dem ursprünglichen und universalen Ordo Iesu Christi entgegen.166 156 Wyclif: Dialogus. Hg. von Pollard (wie Anm. 1), Epilogus, S. 95, Z. 5–34. 157 Vgl. Lambert: Häresie (wie Anm. 17), S. 261; Catto: Fellows (wie Anm. 32), S. 161. 158 Vgl. Margret Ashton: Were the Lollards a Sect? In: Church. Hgg. von Biller und Dobson (wie Anm. 18), S. 163–191, hier S.  167f. Zur Etymologie vgl. Der neue Georges. Ausführliches Lateinischdeutsches Handwörterbuch. Hg. von Thomas Baier Band 2. Darmstadt 2013, Sp. 4317. Allerdings wird secta als lateinisches Äquivalent zu griech. hairesis dann zunehmend im zweiten Sinne gebraucht. Vgl. auch Thomassen: Ursprung (wie Anm. 18), S. 16–22. 159 Wyclif: De fundatione sectarum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 42), c. 3, S. 21, Z. 19–21; zur Etymologie Wyclif: De fundatione sectarum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 42), c. 3, S. 22, Z. 3. 160 Wyclif: De fundatione sectarum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 42), c. 4, S. 25, Z. 15f. 161 Wyclif: De fundatione sectarum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 42), c. 4f., S. 25–31. 162 Wyclif: De fundatione sectarum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 42), c. 4, S. 26, Z. 10–12: Nec videtur, quod variacio habituum in colore et figura habeat probabilem racionem nisi ad prenosticandum se esse de generacione adultera, que talia signa querit. 163 Wyclif: De fundatione sectarum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 42), c. 6, S. 35, Z. 9f.: nec est in facultate nostra recitare nunc omnes hereses, quas hee secte in populo dogmatizant. 164 Ioannes Wyclif: De triplici vinculo amoris, c. 6. In: Ders.: Polemical Works. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), S. 182, Z. 3f.: Ipsi autem superaddunt novas regulas, quas diligencius quam fidem ewangelicam se asserunt servaturos. 165 Wyclif: De fundatione sectarum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 42), c. 14, S. 69, Z. 2–4: Fratres autem adinvenerunt supra apostolos ex verbis domini, ut fingunt indubie propter questum, quod licet tam episcopis quam fratribus sic pugnare. Ders.: De ordinatione fratrum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), c. 1, S. 91, Z. 6–9: Et sic breviter omnes tradiciones nove istarum sectarum quatuor multum nocent ecclesie et perturbando prolongant eius viacionem, licet quibusdam predestinatis, qui fideliter obviant adinvencionibus, prosint ad gloriam. 166 Wyclif: De ordinatione fratrum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), c. 3, S. 96–98; Ders.: De perfectione statuum, c. 6. In: Ders.: Polemical Works. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), Band 2, S. 478, Z. 1–5: Unde si per impossibile forem prelatus privati ordinis, ut verbi gracia Prior ordinis mendicancium generalis, implicarem prudenter aut tacite, quod quicunque subiectus ordinem illum dimitteret et purum ordinem Cristi acciperet, cum hoc foret deo honorificencius, subiecto meo utilius et ecclesie undique bonum maius.

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Durch die ihnen angelasteten Häresien167 und Praktiken werden sie als secte perditionis168 zu einer pars diaboli,169 ja ihre Konvente zu seinen geheimen Gemächern.170 Die wiederherzustellende Observanz ist für Wyclif die conversacio Christi selbst und die der einen pura secta oder primeva religio Christi,171 von der die vier secte private abgewichen sind, die dann die quadriga diaboli bilden.172 Dies sind 1. der clerus cesareus, d. h. der mit kaiserlichen Pfründen ausgestattete Klerus seit der Konstantinischen Schenkung, 2. die begüterten Mönchsorden, 3. die Kanoniker bzw. Lehrer an den Kathedralschulen und 4. schließlich die Mendikanten, deren vier Gruppen Wyclif bekanntlich unter dem Namen CAIM (einer biblischen Variante für ‚Kain‘) für Carmelitae, Augustiniani, Iacobitae (= Dominikaner) und Minores (= Franziskaner) zusammenfasst.173 Die eigene Verortung und die seiner Anhänger und Freunde174 ist also eindeutig die erste, ursprüngliche und freie Gefolgschaft (secta) Christi wie bei den Aposteln. Es sind dem Anspruch nach charismatische viri apostolici175 und arme, d. h. unbepfrün167 Wyclif: De quattuor sectis novellis. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 63), c. 4, S. 252, Z. 12–16. 168 Vgl. Wyclif: De fundatione sectarum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 42), c. 5, S. 29, Z. 18. 169 Vgl. Ioannes Wyclif: De nova praevaricatione mandatorum, c. 7. In: Ders.: Polemical Works. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), Band 1, S. 141, Z. 2–5: Sed idem foret hominem ebullire in istam stulticiam et obligare se dyabolo, ut parate faciat, quidquid mandat, cum multi tales abbates ac priores sunt dyaboli manifesti. 170 Wyclif: De fundatione sectarum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 42), c. 11, S. 57, Z. 17–20: In quo verbo notant fideles in domino, quod conventicula istorum ordinum privatorum sunt camere secretiores dyaboli, cum circa honores et famam ordinis sunt magis solliciti, quam circa honorem et profectum ecclesie domini Iesu Cristi. 171 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 35, S. 258, Z. 17–20: unde videtur mihi propter causam multiplicem quod omnes irretiti privatis ordinibus debent ipsos disrumpere et primevam Christi religionem liberam acceptare. Ders.: De septem donis spiritus sancti, c. 3. In: Ders.: Polemical Works. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), Band 1, S. 212, Z. 15–17: Et ex isto sexto docet idem spiritus, quod secta Christi est in sua integritate a cunctis fidelibus observanda. Ders.: De perfectione statuum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 166), c. 6, S. 478, Z. 4: purum ordinem Christi accciperet. Ders.: Dialogus. Hg. von Pollard (wie Anm. 1), S. 30, Z. 1f.: de pura secta Christi. 172 Wyclis: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 18, S. 427, Z. 3–13: Et utinam pontifices templi, scribe et pharisei non haberent hodie cum Scarioth in ecclesia discipulos imitantes. Si enim sunt hodie seculares sacerdotes tamquam pontifices et religiosi possessionati tamquam pharisei qui secundum apparenciam religionis a populo sunt divisi et tercio doctores tradicionis humane tamquam scribe ac quarto profitentes evangelicam paupertatem cum Scarioth qui omnes nitantur impugnare evangelicam veritatem, non mirum si in ista quadriaga diaboli Christi ecclesia perturbatur. 173 Z. B. Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 12, S. 84, Z. 36–S. 85, Z. 7: et sic (ut quidam dicunt) isti homicide de genere Caym sunt in hoc nomine quatuor literarum figurati, ita ut C dicat Carmelitas, A Augustinenses, Y Yacobitas, M fratres Minores. Et sicut inordinate procedunt in opere, ita nominantur prepostere in quatuor litteris huius verbi. Ab ista generacione Caym, hoc est a periculis in falsis fratribus, libera nos Domine. 174 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 3, Sermo 32, S.  263, Z. 15: amici mei karissimi. 175 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 3, Sermo 9, S. 68, Z. 17.



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dete, Priester, die auch die Lebensweise der Apostel, einschließlich des Barfußgehens wieder aufnehmen.176 Von den übrigen sectae in der Eucharistielehre (secta contraria, cultorum accidentium secta), die als grossi und idiotae bezeichnet werden,177 setzt er sich in seiner «Confessio» 1381 mit dem Bekenntnis der secta nostra ab,178 in «De veritate sacrae scripturae» spricht er deutlich von sich und seinen Gefolgsleuten: ego cum meis sequacibus, ego cum secta mea,179 wobei secta hier durchaus auch noch im Sinne einer theologischen Schulrichtung verstanden werden kann. Jedenfalls handelt es sich um eine Gefolgschaft oder Anhängerschaft einer bestimmten, von Wyclif selbst für orthodox gehaltenen Lehrmeinung. Hus, mehr an der praktischen Reform des Klerus und der Laien interessiert, übernimmt bekanntlich Wyclifs Kirchenidee nur teilweise.180 Bei ihm überlagern sich stärker als bei Wyclif181 theologische und nationale Elemente trotz der dann im Prinzip universalen Ausrichtung der Hussitischen Bewegung,182 so in der wiederholten Aussage, kein verus bohemus könne verstockter Häretiker sein, und in der Paral-

176 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 3, Sermo 43, S. 373, Z. 15f. Zum Barfußgehen vgl. Wilfried M. Grauwen: De betekenis van het bloetsvoets lopen in de Middeleeuwen, voornaamelijk in de 12e eeuw. Archief- en Bibliotheekwezen in België 42 (1971) S. 141–155. Zu Lebensweise und Selbstverständnis vgl. Hudson: Reformation (wie Anm. 36), S. 145f.; Ashton: Lollards (wie Anm. 158), S. 182f.; van Dussen: England (wie Anm. 33), S. 66f. 177 Nach mittelalterlichem Vorbild werden die als häretisch bezeichneten Personen bzw. Gruppen als geistig nicht zurechnungsfähig eingestuft: Vgl. Steckel: Heilige (wie Anm. 13), S. 25f. 178 Confessio Magistri Ioannis Wycclyff. In: Fasciculi zizaniorum (wie Anm. 6), S. 125f.: Nam secta nostra adorat sacramentum non ut panis et vini substantiam, sed ut corpus Christi et sanguinem: sed cultorum accidentium secta, ut credo, adorat hoc sacramentum non ut est accidens sine subiecto; sed ut est signum sacramentale corporis Christi et sanguinis. […] Tercio secta nostra per detectionem equivocationum et aliarum fallaciarum tollit argutia adversantium. 179 Ioannes Wyclif: De veritate sacrae scripturae. Hg. von Rudolf Buddensieg. London 1905, ND New York u. a. 1966, c. 14, Band 1, S. 357, Z. 12–29 (Vorwurf des Gegners): tercio sic arguitur: omnes heretici antiqui de more habebant, fidelibus insultare, dicendo, eis quia erant opinionis contrarie, verba contumeliosa, et sic instar latronum fideles de latrocinio accusancium fideles vocant hereticos, et multa falsa fingentes eis improperant. […] sic ego cum meis sequacibus voco hereticos omnes a meis opinionibus discrepantes et alia multa improperiosa ac contumeliosa eis inferimus, quando nobis deficiunt argumenta, et sic more meretricum ad litigia nos convertimus, ut omnino ultimum verbum improperatorium sit nobiscum. ex istis, inquid [sic!], verisimiliter sequi videtur, quod ego cum secta mea tam in conclusionibus quam doctrina sapiam hereticam pravitatem. 180 Vgl. vor allem Leff: Wyclif and Hus (wie Anm. 110); Matthew Spinka: John Hus’ Concept of the Church. Princeton/New York 1966. 181 Zum nationalen Hintergrund zur Zeit Wyclifs vgl. Anthony Goodman: The British Iles Imagined. In: Fifteenth Century. Hg. von Clark (wie Anm. 33), S. 1–14; Vincent Gillespie: Chichele’s Church: Vernacular Theology in England after Thomas Arundel. In: Arundel. Hgg. von Gillespie und Ghosh (wie Anm. 99), S. 3–42, hier S. 11–13. 182 Vgl. Segl: Auswirkungen (wie Anm. 100); Fudge: Memory (wie Anm. 8), S.  185–245; weiters wichtig der Sammelband: Die hussitische Revolution. Religiöse, politische und regionale Aspekte. Hg. von Franz Machilek. Köln u. a. 2012, zu den regionalen Auswirkungen die Beiträge S. 109–262.

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lelisierung des neuen regnum Christi und des regnum Bohemiae.183 Viel enger als die sich auf Wyclif beziehende Tradition ist die Hussitische Bewegung auch mit Rittertum und Kampf verflochten.184 Doch in Hussens Schrifttum haben wir keine eigenständigen Aussagen dazu. Das mag damit zusammenhängen, dass für ihn die spirituelle Kirchenidee Wyclifs zwar den dogmatischen Hintergrund, nicht aber in jedem Fall in ihrer Gesamtheit die unmittelbare Handlungsanweisung geliefert hat. An die Stelle der spirituellen Erhöhung des begnadeten und prädestinierten Menschen zu Christus bei Wyclif tritt hier eine Selbstvergewisserung in der Ablehnung des Anderen und der verderbten Masse (non sequeris turbam; Ex 23, 2).185 Denn die secta Christi ist für Hus gedoppelt ebenso wie der Klerus in einen Klerus Christi und des Antichrist,186 und für seinen Teil beansprucht Hus in Auseinandersetzung mit den acht Doctores die Deutungshoheit.187 Trotz dieser gerade in den späten polemischen Schriften zu Tage tretenden Alleinstellung Hussens gegen die Menge wird die hussitische Bewegung eine Massenbewegung in Abwendung von den Anderen. Zudem hatte sich die hussitische Bewegung eigene Identifikationsmuster geschaffen, vor allem das von Hus zunächst skeptisch beurteilte Kelchsymbol188 und das jedem Feldzug vorangetragene Sakrament.189 Man ist also in der eigenen secta überzeugt, auf der richtigen Seite zu sein, ja das zu sein, was der Taboritenchoral ausdrückt: My křesťané viery pravé (‚Wir die Christen

183 Hus: Defensio libri de trinitate. Hg. von Eršil (wie Anm. 53), S. 27, Z. 7–11: Ceterum ad fulciendum famam laudabilem cristianissimi regni Bohemie, que semper retroactis temporibus firmitate orthodoxe fidei in veris Bohemis germinavit continue ad tantum, quod nunquam verus Bohemus pertinax hereticus est repertus. Vgl. Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45): Litterae baronum, nobilium etc. 1415, S. 582: Regnum christianissimum Bohemiae. 184 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 1052–1131; vor allem aber: Laurentius von Březová: Die Hussiten. Die Chronik des Laurentius von Březová 1414–1421. Aus dem Lateinischen und Alttschechischen übers., eingeleitet und erklärt von Josef Bujnoch. Graz u. a. 1988 (Slavische Geschichtsschreiber. Band 11). 185 Hus: Tractatus de ecclesia. Hg. von Thomson (wie Anm. 45), c. 16, S. 135. 186 Hus: Tractatus de ecclesia. Hg. von Thomson (wie Anm. 45), c. 15, S. 129: Hic oportet considerare sectam cleri duplicem, scilicet clerum Christi et clerum Antichristi. 187 Hus: Tractatus de ecclesia. Hg. von Thomson (wie Anm. 45), c. 16, S. 132f.: Hoc tamen debet scire doctor, quod nec sibi nec omnibus sibi adherentibus volumus in fidei consentire materia, nisi de quanto se fundaverint in scriptura vel racione. [...] Secundum mendacium quod nostre parti attribuit est quod scripturam sacram secundum capita nostra interpretamur, hoc est, ut ipse pretendit cum aliis doctoribus, quod secundum nostrum conceptum erroneum vel voluntatem scripturam sacram exponimus. 188 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 914–916; Ferdinand Seibt: Die „revelatio“ des Jacobellus von Mies über die Kelchkommunion. DA 22 (1967) S. 618–624, wieder in: Ders.: Hussitenstudien. Personen, Ereignisse, Ideen einer frühen Revolution. München 1987 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum. Band 60), S. 113–120; Dušan Coufal: Der Laienkelch im Hussitentum. Neue Quellen zu Johann Rokycanas Verteidigung des Laienkelches auf dem Basler Konzil im Januar 1433. In: Revolution. Hg. von Machilek (wie Anm. 182), S. 39–56, hier S. 39–43. 189 Laurentius von Březová: Hussiten. Hg. von Bujnoch (wie Anm. 184), S. 77, 84, 105 und öfter.



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wahren Glaubens‘).190 Die Lollarden identifizieren sich als „known men and women“, als „sons and daughters of grace“ mithin als electi,191 keineswegs nach dem Schema der Außenwahrnehmung eines „stereotypical lollard“.192 So kann sich aber ein Lollarde vor der Inquisition auch zum Glauben an die ecclesia catholica bekennen,193 denn die ist in ihm selbst gegeben, und so sollen angeblich die Adamiten das «Vater unser» verändert haben in „Vater unser, der du bist in uns“, was wir aber nur aus erzwungenen Niederschriften haben.194 Hus verwendet mit seinen Anhängern (de mihi adherentibus multis,195 partes nostre196) als Selbstbezeichnung clerus evangelicus197 und rechnet sich selbst als rechtgläubiger Christ, der die ecclesia Christi in Boemia verkörpert198 am Ende zur secta sanctorum Apostolorum.199

190 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S.  677. Zum Liedgut insgesamt Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 135–183. 191 Hornbeck: Lollard (wie Anm. 11), S. 196. Vgl. auch van Dussen: England (wie Anm. 33), S. 66: „a Lollard ‚sect vocabulary‘, wich consisted in commonplace terms as ‚trewe men‘ or ‚trewe prest‘“. Spirituality. Hgg. von Hornbeck u. a. (wie Anm. 6), S. 18f. 192 Vgl. Forrest: Detection (wie Anm. 9), S.  143: „The stereotypical lollard was something of an amalgam of the unregulated itinerancy of the mendicants and the malign pastoral influence of sinful priests.“ 193 Hudson: Reformation (wie Anm. 36), S. 159 (Zitat aus bischöflichem Register): Item quod quilibet homo dicitur ecclesia Dei, adeo quod si quemquam illorum coram iudice ecclesiatico euocatum, ad hanc questionem respondere contingeret ‚An in ecclesiam credis?‘, tute tunc respondere posset quod sic, per hoc intelligens quod in ecclesia [sic!] credit quia in homine [sic!] qui est templum Dei. 194 Laurentius von Březová: Hussiten. Hg. von Bujnoch (wie Anm. 184), S. 274. 195 Hus: Contra Stephanum Palecz. Hg. von Eršil (wie Anm. 89), S. 283, Z. 637. 196 Hus: Contra Stephanum Palecz. Hg. von Eršil (wie Anm. 89), S. 283, Z. 637; Ders.: Contra Stanislaum de Znoyma, c. 1. In: Ders.: Polemica. Hg. von Eršil (wie Anm. 7), S. 307, Z. 9; Ders.: Tractatus de ecclesia. Hg. von Thomson (wie Anm. 45), c. 16, S. 133: nostre parti. 197 Hus: Contra Stanislaum de Znoyma. Hg. von Eršil (wie Anm. 196), c. 1, S. 307, Z. 8–10 als Prägung des Johannes von Jessenitz. 198 Hus: Contra Stephanum Palecz. Hg. von Eršil (wie Anm. 89), S. 283, Z. 8f.: Spero enim ex Dei gracia, quod sum cristianus ex integro, a fide non devians. Bezeichnend ist auch der apostolische Gruß im Brief an Richard Wynche (1441): Salutat Christi ecclesia in Boemia ecclesiam Christi in Anglia, optans esse particeps confessionis sancte fidei in gracia domini Ihesu Christi. In: Jana Husi: Korrespondence a dokumenty. Hg. von Václav Novotný. Prag 1920, Nr. 85. Vgl. van Dussen: England (wie Anm. 33), S. 85. 199 Hus: Contra octo doctores, c. 5. In: Ders.: Polemica. Hg. von Eršil (wie Anm. 7), S. 475, Z. 1–3: Patet quinto, quod non innitor Valdensium heresi, sed Iesu Cristi Domini veritati, nec sequor sectam Armenorum, sed sectam sanctorum Apostolorum.

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2.3 Geschichtskonstruktion und biblische Gegenwart Der Vision der ‚Häretiker‘ liegt ein bekanntes Geschichtsschema zugrunde, das zugleich Reformprogramm ist: Wiederherstellung der apostolischen Zeit200 und damit Postulierung einer biblischen Gegenwart, die als solche eine bei den Lollarden und Taboriten dann chiliastisch gedeutete Zukunftsvision beinhaltet. Die Kirchengeschichte ist für Wyclif gekennzeichnet durch deren Sündenfall in der Konstantinischen Schenkung und den daraus folgenden vier sectae.201 Dadurch werden für Wyclif im Prinzip alle nachfolgenden Päpste häretisch.202 Im «Tractatus de ecclesia» sieht Wyclif seine Zeit nach dem Frühling der Kirche, wo alles blüht und Johannes der Täufer als Turteltaube singt, nun als den wiedergekehrten Winter, in der die Sonne untergegangen, die Liebe erkaltet ist, Melancholie um sich greift und es nur noch olera (vgl. Is 5, 1f.), also herbe nimis melancolice, zu essen gibt.203 Es gilt und genügt daher, den ursprünglichen Zustand der apostolischen Zeit und der angeblich am Ort residierenden Seelsorger wiederherzustellen.204 So wird sich dann etwa auch der Taboriten-Bischof Friedrich Reiser Fridericus Dei gratia Episcopus Christi fidelium abnegantium donationes Constantini nennen.205 Als vir evangelicus erscheint bei Wyclif sogar Urban VI. am Anfang seiner Regierung 1378 in seinem Reformbestreben.206 Sich selbst stellt er in eine historisch rückläufige Reihe von Theologen, die nicht selten in einem Konflikt mit der päpstlichen Kurie standen: Richard FitzRalph, von den Lollarden dann als Heiliger verehrt,207 Thomas Bradwardine, Wilhelm von Ockham, Bonaventura, Robert Grosseteste, also weithin auch von der kirchlichen Orthodoxie anerkannter Autoren.208 200 Zur Idee der vita apostolica seit den Reformbewegungen des hohen Mittelalters vgl. vor allem Giles Constable: Renewal and Reform in Religious Life: Concepts and Realities. In: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century. Hgg. von Robert Benson und Giles Constable. Oxford 1982, S. 37–67. Zu Hus vgl. Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 17–50. 201 Vgl. Wyclif: Dialogus. Hg. von Pollard (wie Anm. 1), c. 9, S. 17–19. 202 Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 14, S. 303, Z. 32–35: sequitur cum veris quod Constantinus post dotacionem ecclesie remansit hereticus et omnes succedentes domini seculares. 203 Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 9, S. 197, Z. 1– S. 198, Z. 24. 204 Wyclif: Sermones. Hg. von Loserth (wie Anm. 58), Band 2, Sermo 47, S. 340, Z. 19–23: Sed cum unus istorum ordinum ad evangelizacionem sufficeret, videtur quod multiplicacio eorum ad spoliandum ecclesiam sit a fidelibus subtrahenda. Rectificari quidem debet status residencium curatorum et subtrahi totum residuum. Zum ‚apostolischen‘ Gehabe vgl. auch die Praxis der correctio fraterna: Craun: Ethics (wie Anm. 136), S. 105–114. 205 Leff: Heresy (wie Anm. 55), S. 470f. 206 Wyclif: Tractatus de ecclesia. Hg. von Loserth (wie Anm. 119), c. 2, S. 37, Z. 26–S. 38, Z. 1: diebus istis providit caput catholicum, virum evangelicum Urbanum sextum, qui rectificando instantem ecclesiam, ut vivat conformiter legi Christi ordinatur ordinate a se ipso et suis domesticis. 207 Hudson: Reformation (wie Anm. 36), S. 171. 208 Vgl. Wyclif : De ordinatione fratrum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), c. 2, S. 91, Z. 18–S. 92, Z. 8 ; Wyclif: De ordinatione fratrum. Hg. von Buddensieg (wie Anm. 41), c. 2, S. 94, Z. 11–14: Et idem senserunt



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Weit stärker als bei Wyclif wird bei Hus die Gegenwart des Biblischen beschworen, wozu auch die angeblich biblische Abstammung der Tschechen unmittelbar aus der babylonischen Sprachverwirrung bei Johannes von Jesenice209 im Anschluss an die Chronik des Cosmas von Prag210 (im Unterschied zu Herleitung von den Griechen bei Hieronymus von Prag211) gut passt. Hus sieht als seine praedecessores die Kirchenväter,212 nicht zuletzt Gregor den Großen und Hieronymus, die beide in Konflikt mit kirchlichen Stellen gekommen sind,213 die Kirchenreformer und Asketen (Bernhard von Clairvaux),214 dann natürlich Wyclif und dessen Quellen, vor allem auch Robert Grosseteste.215 Hinzu kommen die von Hus selten genannten böhmischen Reformtheologen, die stärker auf seine frühen Anhänger, allen voran auf Jakobellus von Mies, gewirkt haben.216 Seine unmittelbare Gegenwart, insbesondere seit seinem Exil und in Konstanz aber ist für Hus die Spiegelung biblischer Vorgänge, die ihm als Vorlage dienen, vor allem des Prozesses Jesu vor dem Hohen Rat, vor Herodes und Pilatus.217 Biblische Gegenwart verheißen auch die Namen der wichtigsten Stätten Occam, Bonaventura et multi fratres alii laude digni. Vgl. zur katholischen Reformbewegung auch Stephan Kelly und Ryan Perry: Devotional Cosmopolitanism in Fifteenth-Century England, in: Arundel. Hgg. von Gillespie und Ghosh (wie Anm. 99), S. 363–380, bes. S. 370–377 zu Pseudo-Bonaventura. 209 Johannes von Jesenice: Defensio mandati regii. In: Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45), S. 358, Nr. 15: Deus omnipotens divisit terram suam tribubus nationum, ut aliam partem possideret tribus Bohemorum, aliam tribus Bavarorum, aliam tribus Ungarorum etc. et hoc fecerat sine admixtione in Bohemia aliarum tribuum, cum in Bohemia olim erant tantum Bohemi. 210 Cosmas von Prag: Chronica Boemorum. Die Chronik der Böhmen. Hg. von Berthold Bretholz unter Mitarbeit von Wilhelm Weinberger. Berlin 1923 (MGH SS rer. Germ. N. S. Band 2), liber 1, c. 1, S. 4, Z. 18 –S. 5, Z. 7. 211 Hermann von der Hardt: Magnum oecumenicum Constantiense concilium. Frankfurt/Leipzig 1699, Band 4, S.  757: Et allegando causam odii dixit, incipiendo, qualiter regnum Bohemiae fuisset constructum, & Bohemi descendissent a Graecis. Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 809. 212 Vgl. The Letters of John Hus. Translated from the Latin and the Czech by Matthew Spinka. Manchester u. a. 1972, Ep. 14, S. 44 (=Jan Hus: Korrespondence [wie Anm. 198], Nr. 44). 213 Hus: Letters. Hg. von Spinka (wie Anm. 212), Ep. 87, S. 188 (=Jan Hus: Korrespondence [wie Anm. 198], Nr. 147). 214 Ioannes Hus: Contra occultum adversarium. In: Ders.: Polemica. Hg. von Eršil (wie Anm. 7), S. 98–104. 215 Hus: Tractatus de ecclesia. Hg. von Thomson (wie Anm. 45), c. 18, S. 165: [...] Hec Linconiensis, qui a papa Innocencio ad Christi tribunal appellavit. Unde narrat Cestrensis in libro suo VII, (c. 36) quomodo Roberto Linconiensi obeunte audita est vox in curia pape: Veni, miser ad iudicium; repertusque est in crastino papa exanimis, quasi cuspide baculi in latere percussus. Qui, licet Linconiensis fulserit miraculis perspicacius, transferri tamen in sanctorum kathalogo a curia non est permissus. Vgl. Fudge: Trial (wie Anm. 18), S. 205f. 216 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 491, 555; Paul De Vooght: Jacobellus de Střibro († 1429) premier théologien du hussitisme. Löwen 1972 (Bibliothèque de la Revue d’Histoire Ecclésiastique. Band 54). 217 Hus: Letters. Hg. von Spinka (wie Anm. 212), Ep. 27 an die Prager, Nov. 1412, S. 82f. (=Jan Hus: Korrespondence [wie Anm. 198], Nr. 49). Vgl. Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 23–43 mit zahlreichen Beispielen.

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hussitischer Lehre und Lebens: Jerusalem und Bethlehem, die beiden Kapellen in Prag, Tabor und Horeb,218 überlagert durch die angeblich biblische Abstammung der Tschechen und die Blanik-Legende, nach der die Gräber der Apostelfürsten nicht in Rom, sondern im Berg Blanik seien.219 Auch Hussens Flucht aus Prag und Verfolgung ist die Realisierung biblischer Vorhersagen und Vorlagen,220 ausdrücklich als solche gerechtfertigt, zum Beispiel in einem Brief an die Prager vom Dezember 1412 und vom Frühjahr 1413 an Magister Christian von Prachatiz.221 König Wenzel IV., von manchen zum eigentlichen Reformator Böhmens stilisiert,222 steht in der Linie der biblischen Könige, die Fehler der Priester bestrafen.223 Hus selbst steht vor dem Konzil wie Jesus vor dem Hohepriester oder vor Pilatus, das Martyrium vor Augen.224 Er appelliert wie Paulus, allerdings nicht an den Kaiser, sondern wie schon Robert Grosseteste an Christus.225 Weitere Identifikationsfiguren sind die Makkabäer,226, insbesondere Eleazar in seiner Weigerung, zu heucheln (II Mcc 6, 18–31),227 und die frühchristlichen Märtyrer, beginnend mit Stephanus.228 Hieronymus von Prag stellt sich als Artist in die Reihe der juristischen Fehlurteile von Sokrates bis Hus.229 Für Jakobellus von Mies besagt der Name ‚HVS‘ als Akrostichon gelesen nichts anderes als hauriens virtutes

218 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 752. 219 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 555. 220 Hus: Letters. Hg. von Spinka (wie Anm. 212), Ep. 37, S. 106–108 (=Jan Hus: Korrespondence [wie Anm. 198], Nr. 69). 221 Hus: Letters. Hg. von Spinka (wie Anm. 212), Ep. 33, S. 94 (=Jan Hus: Korrespondence [wie Anm. 198], Nr. 58). 222 Vgl. Michael Wilks: Reformatio regni: Wyclif and Hus as Leaders of Religious Protest Movements. In: Schism. Hg. von Baker (wie Anm. 10), S. 109–130, hier S. 124. 223 Hus: Contra occultum adversarium. Hg. von Eršil (wie Anm. 214), S. 88–93, Z. 636–754. 224 Hus: Letters. Hg. von Spinka (wie Anm. 212), Ep. 44, S. 119 (=Jan Hus: Korrespondence [wie Anm. 198], Nr. 74); Petrus de Mladenowic: Relatio, Pars Quarta. Hg. von Palacky (wie Anm. 111), S. 293f. Zum Prozess vgl. ausführlich Fudge: Trial (wie Anm. 18), S. 238–295; Fudge: Hus (wie Anm. 76), S. 117–146. 225 Fudge: Trial (wie Anm. 18), S.  295; Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45), S.  464–466: Nr. 49 Appellatio M. Joannis Hus a sententiis pontificiis ad Jesum Christum supremum judicem. Vgl. ausführlich Fudge: Trial (wie Anm. 18), S. 188–214. 226 Hus: Letters. Hg. von Spinka (wie Anm. 212), Ep. 87, S. 119 (=Jan Hus: Korrespondence [wie Anm. 198], Nr. 74). 227 Hus: Letters. Hg. von Spinka (wie Anm. 212), Ep. 78, S. 174 (=Jan Hus: Korrespondence [wie Anm. 198], Nr. 136). 228 Vor allem: Hus: Letters. Hg. von Spinka (wie Anm. 212), Ep. 94, S. 200 (=Jan Hus: Korrespondence [wie Anm. 198], Nr. 156); Petrus de Mladenowic: Relatio, De M. Hus condempnatione et supplicio. Hg. von Palacky (wie Anm. 111), S. 320: Alia vero in sententia pronuntiata flexis genibus audiens orabat, sursum in coelum respiciens. Qua sententia finita, sic ut praemittitur, in singulis punctis, ipse M. Joannes Hus pro omnibus inimicis suis flexis iterum genibus alta voce orabat et dixit: Domine Jesu Christe! ignosce omnibus inimicis meis, propter magnam misericordiam tuam te deprecor. Vgl. Act 7, 55, 60. 229 Poggii Florentini ad Leonardum Aretinum epistola de M. Hieronymi Pragensis supplicio. In: Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45), Nr. 100, S. 626f.



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sanctorum.230 Wunder kann man Hus allerdings nur in geistiger Weise zuschreiben; diese aber übertreffen die materiellen.231 Für die Gegenseite dagegen ist er ein Judas, der an seinen Ort gegangen ist und von dem man wie von Wyclif nur mit dem Beisatz damnatae memoriae spricht.232 In der eigenen Geschichtsdeutung spielt die chronikalisch stilisierte jüngste Vergangenheit eine ausschlaggebende Rolle, ebenso bei den Lollarden233 wie bei den Hussiten.234 Bei diesen treten zu den Märtyrern der Vergangenheit bald die ersten hussitischen Märtyrer Jan, Marcin und Stassko, jene drei jungen Leute, die 1412 in einer fragwürdigen Blitzaktion hingerichtet und deren Leichen angeblich unter dem Gesang des Märtyreroffiziums Isti sunt sancti in die Bethlehem-Kapelle gebracht wurden.235 Sie sind in ihrem Widerstand gegen den Antichrist dem Schwert zum Opfer gefallen.236 Denn die solutio satanae nach tausend Jahren kann Hus genau auf das Pontifikat Hadrians IV. (1154–1159) datieren, der über ganz Rom das Interdikt verhängt hat.237 Auf das Jahr 1409 setzt Hus das Erscheinen Belials an, was seine Gegner als Identifikation mit Alexander V. deuten, Hus selbst aber in Konstanz verneint.238 Mit den ersten Todesopfern 1412 und der Hinrichtung tschechischer Ratsherren 1413239 hatte die hussitische Bewegung einen Identifikationspunkt, den die wycliffitisch-lollardische erst spät aufzuweisen hatte: Märtyrer, die man verehrte, obwohl

230 Joannis Barbati narratio de supplicio M. Joannis Hus cum epilogio M. Jacobelli de Misa. In: Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45), Nr. 76, S.  558. Zur narratio des Johannes Barbatus (Jan Bradatý) vgl. Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 204–207, zum Akrostichon Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 49. 231 Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45), Nr. 104: Anonymi relatio de delictis, S. 637: Et addunt, quod Hus plus profecit in ecclesia et plura fecit miracula, quam S.  Petrus vel Paulus, quia isti corporaliter fecerunt, Hus autem spiritualiter. Zur Übertragung biblischer Wunder vgl. Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 32. 232 Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45), Nr. 97: Concilium Constantiense ad barones Bohemiae orthodoxos, S. 616f. 233 Vgl. Hudson: Reformation (wie Anm. 36), S. 42–45. 234 Vgl. Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 185–245; Fudge: Hus (wie Anm. 76), S. 209–212. 235 Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 875f. Hus selbst verneint, dass das auf seine Veranlassung geschehen sei: Petrus de Mladenowic: Relatio, Pars Quarta. Hg. von Palacky (wie Anm. 111), S. 312: Verum est, quia decollati sunt, sed quod ego fecerim eos cum tali cantu deportare, non est verum, quia tunc non eram ibi. 236 Vgl. Hus: Tractatus de ecclesia. Hg. von Thomson (wie Anm. 45), c. 21, S. 201: ut patet de laicis Joanne, Martino et Stasskone, qui contradicentes Antichristi discipulis mendacibus in gladio corruerunt. 237 Vgl. Hus: Tractatus de ecclesia. Hg. von Thomson (wie Anm. 45), c. 23, S.  227: Sed post millenarium soluto Sathana et cleri impingwato mundi stercoribus et elevato in voluptate, superbia et in inpaciencia, interdictum cepit originem. Nam Adrianus papa, qui cepit anno domini 1154, propter unius cardinalis wlneracionem totam Romam supposuit interdicto. 238 Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45): Depositiones testium contra M. J. Hus anno 1414, S. 176. 239 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 901f.

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gerade die Wycliffiten den übertriebenen Märtyrerkult ihrer Zeit ablehnten.240 Es entsteht eine neue Art von Heiligen und eine neue Art von Ikonographie und Hagiographie.241 Man sammelt die Asche der Verbrannten,242 was man ja bei Hus bewusst vermeiden wollte.243 Man spricht in Prag vom Todestag Wyclifs als felix exitus, verehrt ihn nach seiner Exhumierung und Verbrennung 1428 als Märtyrer und begeht den Todestag Hussens als memoria bzw. Fest mit eigener Liturgie.244 Die Geschichtskon­ struktion setzt also bereits in der Gegenwart oder unmittelbaren Vergangenheit ein, wie schon die divergierenden Berichte aus dem Konzil von Konstanz zeigen.245 Chiliastisches Denken und Handeln macht sich, von Hus abgelehnt, bei den Taboriten breit.246 Hier zeigt sich auch exemplarisch, wie ein Geschichtsentwurf korrigiert werden muss und kann, wenn das eschatologische Ereignis nicht eintrifft, wie die für die Fastnachtstage 1420 angekündigte Wiederkunft Christi.247 Sollte denn nun alles umsonst gewesen sein, was man anhand biblischer Unterweisungen unternommen hatte: die fünf Schutzstädte (nach Is 19, 18), die sich dem Antichrist nicht 240 Vgl. vor allem Robin Malo: Behaving Paradoxically? Wycliffites, Shrines, and Relics. In: Controversies. Hgg. von Bose und Hornbeck (wie Anm. 14), S. 193–210. 241 Vgl. Christina von Nolcken: Another Kind of Saint: A Lollard Perception of John Wyclif. In: Ockham. Hgg. von Hudson und Wilks (wie Anm. 34), S. 429–443. Die Bedeutung des Sanctorale (Predigten zu Heiligenfesten) bei den Wycliffiten unterstreicht Matti Peikola: The Sanctorale, Thomas of Woodstock’s English Bible, and the Orthodox Appropriation of Wycliffite Tables of Lessons. In: Controversies. Hgg. von Bose und Hornbeck (wie Anm. 14), S. 153–174. Zu Hus vgl. Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 185–209. Zur hussitischen Ikonographie vgl. Fudge: Hus (wie Anm. 76), S. 189–197. 242 Zum Aschenkult der Lollarden vgl. Sheila Lindenbaum: London after Arundel: Learned Rectors and the Strategies of Orthodox Reform. In: Arundel. Hgg. von Gillespie und Ghosh (wie Anm. 99), S. 187–208, hier S. 200f. 243 Vgl. Petrus de Mladenowic: Relatio, Pars Quarta. Hg. von Palacky (wie Anm. 111), S.  323: dicentes, ne Bohemi illud pro reliquiis habeant, et nos dabimus tibi pretium tuum pro illo; qui et fecerunt. Et sic unacum singulis dictis titionum cineribus cuidam carrucae imponentes, ad Rheni flumen vicinum ibidem dimersum projecerunt. 244 Vgl. von Nolcken: Kind of Saint (wie Anm. 241), S.  441–443 (mit Quellen); Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S.  951; David Holeton: „O felix Bohemia – O felix Constantia“: The Liturgical Commemoration of Saint Jan Hus. In: Jan Hus. Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen. Vorträge des internationalen Symposiums in Bayreuth vom 22. bis 26. September 1993. Hg. von Ferdinand Seibt. München 1997 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum. Band 85), S. 385–403, mit den liturgischen Texten S. 398–403, deren Analyse den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Zum Liedgut vgl. Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 136–183. 245 Vgl. z. B. die Berichte von Petrus von Mladenowic in: Documenta. Hg. von Palacky (wie Anm. 45), S. 237–342 und: Pogius Florentinus: Kurze Todesgeschichte des Johannes Huss. Konstanz 1925; auch: Ulrich Richental: Chronik des Konstanzer Konzils 1414.1418. Hg. und eingeleitet von Thomas Martin Buck. Ostfildern ²2011 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen. Band 41), S. 60–68. Zu den Viten und Berichten insgesamt Fudge: Memory (wie Anm. 8), S. 185–209. 246 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 981f. 247 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 692f.; Howard Kaminsky: Nicholas of Pelhřimov’s Tabor: an Adventure into the Eschaton. In: Antichrist. Hgg. von Patschovsky und Šmahel (wie Anm. 56), S. 139–169.



Kollektive Identitäten in spätmittelalterlichen Häresien 

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beugen,248 die Sonnenstadt Pilsen Wenzel Korandas,249 das überstürzte Verkaufen und Verpfänden, ja Verbrennen von Hab und Gut,250 die Aussonderung der Gerechten,251 die es den Engeln erleichtern sollten, sie aus den Verdammten zu sammeln? Die Entwicklung in Pilsen, Pisek und Tabor zeigt gerade, wie aus einem desillusionierenden Geschichtsverlauf nicht die Verwerfung der Geschichtskonstruktion, sondern seine metaphysische und damit geschichtlich unangreifbare Umdeutung erfolgt: Christus sei eben nur in verborgener Weise gekommen.252 Der wiedergekommene Christus aber sei in der taboritischen Gemeinde präsent253 und habe ihr nun die Aufgabe der Racheengel zugewiesen und die Ausrottung der Bösen angeordnet.254 Die Idee hat hier wieder über die Geschichte gesiegt und eine Zukunft eröffnet, allerdings, wie sich zeigen sollte, mit sehr konkreten kriegerischen geschichtlichen Folgen: „Das Herniedersteigen Gottes auf die Erde und sein pantheistisches Einströmen in die Scharen der Auserwählten verliehen der chiliastischen Bewegung die unwiderstehliche Kraft eines zum Höchstem berufenen Sendungsbewußtseins.“255

3 Asymmetrische Identität? Die Quellenanalysen zur Frage einer kollektiven Identität in spätmittelalterlichen Häresien bringen ein auf den ersten Blick verwirrendes, aber zu differenzierendes Ergebnis, das hier in vier Konklusionen zusammengefasst werden soll. 1. Wenn Häresie ein „asymmetrischer Gegenbegriff“ ist,256 wäre anzunehmen, dass sich auch die Identitätsstiftungen in Häresien asymmetrisch verteilen. Dies ist insofern der Fall, als wir eine Identifikation als Häretiker von außen von einer Identifikation gegenüber der jeweils anderen Häresie in der eigenen secta unterscheiden können. Diese zweite Identifikation ist dadurch aber zunächst nur 248 Vgl. Laurentius von Březová: Hussiten. Hg. von Bujnoch (wie Anm. 184), c. 27, S. 66; Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 693. 249 Vgl. Laurentius von Březová: Hussiten. Hg. von Bujnoch (wie Anm. 184) c. 27, S. 67; Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 1052. 250 Vgl. Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 1054f. 251 Vgl. die Flugschriften: František Palacký: Archiv český čili stare písemné památky české i moravské Band 6. Prag 1872, S.  41–43, Nr. 43a und František Michálek Bartoš: Do čtyr pražskych artikulů. Sborník příspěků k dějinam hlavního města Prahy 5 (1932) S.  841–591, hier S.  576f., Nr. 1; Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 1050. 252 Vgl. Kaminsky: History (wie Anm. 104), S. 346–348; Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 696. 1057. 253 Vgl. die chiliastischen Artikel und ihre Begründung bei Laurentius von Březová: Hussiten. Hg. von Bujnoch (wie Anm. 184) c. 59f., S. 136–150; Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 711f. 254 Vgl. Laurentius von Březová: Hussiten. Hg. von Bujnoch (wie Anm. 184) c. 56, S.  127–130; Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 1056f. 255 Šmahel: Revolution (wie Anm. 52), S. 1057. 256 Koselleck: Semantik (wie Anm. 3).

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negativ definiert, und Negativdefinitionen sind bekanntlich in der Logik nur in Ausnahmefällen zulässig, weil sie kein positives Ergebnis bringen.257 Deshalb ist eine solche Identifikation auch zu nicht mehr als zur Generierung negativ besetzter, aber geschichtlich wirksamer Feindbilder tauglich. 2. Norbert Brox beschreibt Identität in der Erzeugung von Ketzern als Konformität mit einer unter dem Nimbus des Uralten und der Wahrheit als sakrosankt betrachteten Tradition,258 der gegenüber die Ketzer immer Neuerer und Abweichler sind. Diese Identität ist allerdings, wie sich gezeigt hat, ambivalent, von beiden Seiten gegen die jeweils andere einzusetzen. Am einfachsten ist es dann, eine Verfallsgeschichte zu entwerfen, sich auf eine noch ältere (apostolische) Tradition zu berufen, diese dem Anspruch nach zu restituieren und eine Präsenz des Biblischen zu postulieren. 3. Die von Wyclif entworfene metaphysisch-mystische Identifikation in der Idee der ecclesia universalis und des Einzelnen in ihr durch und mit Christus gibt eine positive, aber ahistorische Ortsbestimmung des Einzelnen, von Gruppen und der Kirche als Ganzer unter deutlicher Aufwertung der Laien gegenüber der klerikal bestimmten Tradition. Durch Geschichtsverläufe kann sie ebenso wenig unterlaufen werden wie der Chiliasmus der Taboriten; sie birgt vielmehr das Potential in sich, in einer konkreten historischen Situation geschichtlich wirksam zu werden. Dies ist aber gerade keine innere Identifikation des Menschen in einer Häresie oder gar als Häretiker, sondern als Angehöriger des corpus Christi. 4. Was Salvian von Marseille im 5. Jahrhundert über die arianischen Germanen schreibt: Quod ergo illi nobis sunt, hoc nos illis,259 könnte prima facie auch für die hier behandelten Häretiker des späten Mittelalters gelten, wenn man nur die Argumentationsstrategie der pulcra alternacio betrachtet. Dabei dürfen aber die Zwangs- und Machtmittel nicht übersehen werden, die historisch durchaus asymmetrisch verteilt waren.

257 Vgl. Aristoteles: Topica VI, c. 4, 142, a 22–33. 258 Brox: ‚Häresie‘ (wie Anm. 53), S. 294; vgl. Fürst: Konstruktionscharakter (wie Anm. 4), S. 13f. 259 Salvianus Massiliensis: De gubernatione dei, V, 95. In: Patrologia Latina. Hg. von Joannes Migne. Band 53. Paris 1847, Sp. 95: Denique apud nos haeretici sunt, apud se non sunt. Nam in tantum se catholicos esse judicant, ut nos ipsos titulo haereticae apellationis infament. Quod ergo illi nobis sunt, hoc nos illis. Vgl. Fürst: Konstruktionscharakter (wie Anm. 4), S. 15.

Rebecca Müller

HAVE ROMA Identitätsentwürfe und Antikenkonzepte in Rom und Venedig* Für die visuellen Strategien vergangenheitsbezogener Identitätsbildung spielt die Rezeption der Antike eine besondere Rolle, und dies gilt auch für gruppenbezogene Identitäten. Mit Blick auf die italienischen Städte, die hier im Fokus stehen sollen, lassen sich die Ehrenstatuen patrizischer ‚Benemerenti‘ als Wiederaufnahme einer antiken Bildgattung1 ebenso diskutieren wie imperiale und mythologische Bildprogramme in den Palästen der Kommunen oder die Antikenrekurse, die das Sprechen über Kunst in humanistischen Gelehrtenzirkeln prägten. Im Folgenden wird versucht, mit der Aneignung materieller Überreste der Antike in Form von Spoliengebrauch und dem Sammeln antiker Artefakte ein weiteres Untersuchungsfeld für das Konzept kollektiver Identitäten fruchtbar zu machen. Dies ist zweifach begründet: Dieses Spektrum der Antikenrezeption wurde für das 15. Jahrhundert in der jüngeren kunsthistorischen Forschung intensiv behandelt – für die folgenden Überlegungen ist vor allem die Studie von Kathleen Christian zu Rom grundlegend – und mit den Kategorien städtische Identität, familiäre Selbstdarstellung, institutionelle Repräsentation und kollektive memoria verbunden.2 Gleichzei* Für Diskussionen und wichtige Hinweise bin ich Ralf Behrwald, Jörg Bölling, Kathleen Christian und Georg Schelbert sowie Anke und Werner Tietz verbunden. Mein besonderer Dank geht an Attilio Piperno, der mir freundlicherweise seine Räumlichkeiten in der ‚Casa Manlio‘ zugänglich gemacht und Aufnahmen ermöglicht hat. 1 Zu letzterem sei an die Statuen von finanziellen Wohltätern aus dem Patriziat im Banco di San Giorgio in Genua erinnert, siehe Isabella Ferrando Cabona: Palazzo San Giorgio. Pietre, Uomini, Potere. Mailand 1998, S. 106–138. 2 Unter den jüngeren Beiträgen seien genannt Kathleen Wren Christian: From Ancestral Cults to Art: the Santacroce Collection of Antiquities. Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, Classe di Lettere e Filosofia. Quaderni 14 (2002) S. 255–272; Monika Anne Schmitter: „Virtuous Riches“. The Bricolage of Cittadini Identities in early-sixteenth-century Venice. Renaissance Quarterly 57,3 (2004) S. 908–969; Mara Minasi: Passione politica e travestimento all’antica: la collezione antiquaria della famiglia Porcari. In: Collezioni di antichità a Roma tra ’400 e ’500. Hg. von Anna Cavallaro. Rom 2007, S. 83–103; Michael Koortbojian: Renaissance Spolia and Renaissance Antiquity (One Neighborhood, Three Cases). In: Reuse Value. Hgg. von Richard Brilliant und Dale Kinney. Farnham 2011, S.  149–165; speziell zum Sammeln von Antiken als Element weiblicher Kunstpatronage und gesellschaftlicher Positionierung Tiziana Romelli: Bewegendes Sammeln: die antiken Statuen der ‚grotta‘ von Isabella d’Este. In: Luxusgegenstände und Kunstwerke vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hgg. von Christof Jeggle u. a. Konstanz/München 2015, S. 77–95; zum frühen 16. Jahrhundert Katherine M. Bentz: The Afterlife of the Cesi Garden: Family Identity, Politics, and Memory in early Modern Rome. Journal of the Society of Architectural Historians 72,2 (2013) S. 134–165; zu dem übergreifenden Kontext von Sammlungskultur und Identitätsbildung sei auf die einführenden Bemerkungen und Literaturverweise bei Kathleen Wren Christian: Empire without End. Antiquities Collections in DOI 10.1515/9783110578805-004

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tig ist das Phänomen so vielschichtig – nur scheinbar kann zeitlich und inhaltlich immer klar zwischen einer ideologisch motivierten Spolienverwendung und einer auf das ‚Kunstwerk‘ fokussierenden Sammlung getrennt werden –,3 daß unterschiedliche Gruppen in den Blick genommen werden können. Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf Rom und, in geringerem Maße, auf Venedig im 15. Jahrhundert, und dies keineswegs, weil diese beiden Städte als charakteristisch für ganz Italien zu werten wären. Im Gegenteil könnten die Gegensätze nicht größer sein, was etwa die eigene antike Vergangenheit und den Umgang damit im Spätmittelalter betrifft, ebenso das soziale Gefüge, die politischen Konstellationen und damit auch das Publikum und die Kulturen des Sehens. Gerade in diesen Extremen und Kontrasten, die sich auch auf die Verfügbarkeit von Antiken auswirkten – in Rom das Leben in und mit Ruinen, in Venedig die Notwendigkeit des Antikenimports –, eröffnen sich weitere Perspektiven, die es ermöglichen, einen differenzierten, vielfach bedingten und kontextabhängigen Umgang mit der Antike im Umrissen nachzuzeichnen. Dabei können angesichts der Materialfülle beide Städte nur schlaglichtartig beleuchtet werden; längst nicht jede Spolienverwendung oder Antikensammlung, die sich möglicherweise auf eine Gruppe bezieht, ist hier anzusprechen. Zunächst werden zwei Monumente und Sammlungen in Rom unter der Fragestellung vorgestellt, welcher Art die Antiken waren, die man sich aneignete, welche Präsentationsformen man wählte und auf welche Antike dabei überhaupt rekurriert wurde, um die Resultate dann unter dem Aspekt der Gruppenbindung zu diskutieren. Zwei weitere römische Sammlungen sollen dem gegenübergestellt und auf ihre ganz eigenen Strategien der Vermittlung hin untersucht werden, bevor ein abschließender Blick Venedig gilt und die Frage nach Antikenkonstruktionen und Identitätsbildung nochmals unter gänzlich anderen Vorzeichen aufzuwerfen ist.

I HAVE ROMA Den Ausgangpunkt bilden zwei römische Wohnhäuser des 15. Jahrhunderts, die vergleichsweise gut überliefert sind. Das Haus des Lorenzo Manlio erhebt sich an der Via del Portico di Ottavia nahe der Tiberinsel (Abb. 1). Bis in das späte 19. Jahrhundert öffnete sich hier die Piazza Giudea, deren Nordseite die – bereits zu dieser Zeit durch

Renaissance Rome, c. 1350–1557. New Haven/London 2010, S. 4f., hingewiesen. Zum Begriff der ‚Identität‘ kann an dieser Stelle auf die einleitenden Überlegungen der Herausgeber verwiesen werden. 3 Als Forschungsproblem wird dies besonders bei Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 2, S. 8f. thematisiert. Vgl. auch Salvatore Settis: Collecting Ancient Sculpture: the Beginnings. In: Collecting Sculpture in Early Modern Europe. Hg. von Nicholas Penny. Washington 2008 (Studies in the History of Art published by the National Gallery of Art, Washington. Band 70), S. 13–31.



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spätere Umbauten verunklärte – Fassade beinahe vollständig einnahm (Abb. 2).4 Das Erscheinungsbild der ‚Casa Manlio‘ wird durch die monumentale lateinische Bauinschrift geprägt, die in über 21 Metern Länge mit ihrem markanten Gesims die Fassade zusammenfaßt.5 Darunter, über und zwischen den Läden des Untergeschosses, sind weitere Inschriften und dazu Fragmente von antiken Reliefs erkennbar. Die beherrschende Inschrift lautet: „Als die Stadt Rom in ihrer früheren Form wiedergeboren wurde, errichtete Lorenzo Manlio aus Fürsorge gegenüber der väterlichen Familie nach seinem Namen das Haus Manlio allein gemäß der Bescheidenheit seines Vermögens am Forum Judeorum für sich selbst und seine Nachfahren.“ Es folgt die Datierung 2229 Jahre, drei Monate und zwei Tage ab urbe condita, XI calendas augustas und damit auf den 22. Juli 1476.6 Die weiteren, kürzeren Inschriften, die über den Ladenöffnungen angebracht sind, stimmen im Formular antiker Bauinschriften in diesen Tenor ein oder nennen, in einem Fall auf Griechisch, den Namen des Bauherrn (Abb. 3).7 Im Hausinneren trägt der Türsturz über dem Eingang zum Hauptraum des ersten Geschosses die Grußformel „Sei gegrüßt [oder: Heil Dir], Rom, und (du), Laurentius“ (Abb. 4).8

4 Grundlegend zu dem Haus und seinem Erbauer Pier Luigi Tucci: Laurentius Manlius. La riscoperta dell’antica Roma. La nuova Roma di Sisto IV. Rom 2001, bes. S. 119–178 sowie, vor allem mit Blick auf den hier interessierenden Deutungshorizont, Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 75–78; siehe zu den antiken Inschriften Sara Magister: Censimento delle collezioni di antichità a Roma (1471–1503). Xenia antiqua 8 (1999) S. 129–204, hier S. 170 (vgl. die Kritik in der zitierten Studie von Tucci, S. 204, Anm. 713). Zu den Spolien zuletzt Koortbojian: Renaissance Spolia (wie Anm. 2), S. 154–156. 5 Daneben fallen die Kreuzstockfenster mit Gebälk auf, die auf eine Orientierung am Palastbau hinweisen, vgl. die bei Schelbert genannten Bauten mit vergleichbarer Typologie (Palazzo Venezia, Casa dei Cavalieri di Rodi, Palazzo di Domenico della Rovere, Palazzo Riario/Altemps, Palazzo Nardini etc.): Georg Schelbert: Der Palast von SS. Apostoli und die Kardinalsresidenzen des 15. Jahrhunderts in Rom. Norderstedt 2007, S. 230, Anm. 944. 6 URBE ROMA IN PRISTINAM FORMA[M R]ENASCENTE LAUR(ENTIUS) MANLIUS KARITATE ERGA PATRI[AM GENT(EM) A]EDIS SUO | NOMINE MANLIAN(AS) A S(OLO) PRO FORT[UN]AR(UM) MEDIOCRITATE AD FOR(UM) IUDEOR(UM) SIBI POSTERISQ[UE SUIS IPSE] P(OSUIT). | AB URB(E) CON(DITA) M M CCXXI L AN(NIS) M(ENSIBUS) III D(IEBUS) II P(OSUIT) (ANTE DIEM) XI CAL(ENDAS) AUG(USTAS), zitiert nach Tucci: Manlius (wie Anm. 4), S. 191f. (Übers. der Verfasserin). Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 76 übersetzt „(…) for the Manlius Name“. Tucci (S. 190f.) konnte die früher vertretene Datierung von 1468 überzeugend auf 1476 korrigieren, vergleiche auch Kathleen Wren Christian: Laurentius Manlius. La riscoperta dell’antica Roma. La nuova Roma di Sisto IV by Pier Luigi Tucci (Rezension). Journal of the Society of Architectural Historians 61 (2002) S. 578f., hier S. 579. 7 Die Inschriften über den Ladenöffnungen lauten LAUR(ENTIUS) MANLIUS FUNDAVIT; LAUR(ENTIUS) MANLIUS A F[UN]D(AMENTIS) POS(UIT); LAUR(ENTIUS) MANLIUS CURAVIT; ΛΑΥΡΕΝΤΙΟΣ Μ(ΑΝΛΙΟΣ), vgl. Tucci: Manlius (wie Anm. 4), S. 200f. 8 HAVE ROMA ET LAUR(ENTÎ), vgl. Tucci: Manlius (wie Anm. 4), S. 201; hier auch die überzeugende Überlegung, daß weitere gleichlautende Inschriften, angebracht über den Fenstern zur Piazza Costaguti (HAVE ROMA), modern sind.

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Abb. 1: «Casa Manlio», Wohn- und Ladenhaus des Lorenzo Manlio in der jetzigen Via del Portico di Ottavia, begonnen 1476, Rom (Photo: Verfasserin)





Abb. 2: «Casa Manlio» in einer Ansicht des 19. Jahrhunderts (Photo: Pier Luigi Tucci: Laurentius Manlius. La riscoperta dell‘antica Roma. La nuova Roma di Sisto IV. Rom 2001, S. 230, Fig. 5)



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Abb. 3: Inschrift im Erdgeschoß, Rom, «Casa Manlio» (Photo: Verfasserin)

Abb. 4: Inschrift auf einem Türsturz im ersten Obergeschoß, Rom, «Casa Manlio» (Photo: Verfasserin)

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Abb. 5: Detail der Fassade mit Bauinschrift, Fragment eines römischen Sarkophags und griechischer Grabstele, Rom, «Casa Manlio» (Photo: Verfasserin)

Abb. 6: Römisches Grabrelief mit Büsten einer Familie, Rom, «Casa Manlio» (Photo: Verfasserin)

Die Anbringung der antiken Reliefs erscheint nur auf den ersten Blick wahllos. Das eindrucksvolle Fragment eines Sarkophags, auf dem ein Löwe eine Antilope schlägt, und ein griechisches Grabrelief mit einem hasenwürgenden Hund (Abb. 5) befinden sich rechts der Türöffnung, die zwischen den Läden den einzigen Zugang zu den



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oberen Stockwerken und damit den eigentlichen Hauseingang bildet.9 Ein römisches Grabrelief mit (ursprünglich fünf) Büsten eines Elternpaares mit Kindern (Abb. 6) ist derart unter den rechten Abschluß der Inschrift gesetzt, daß es nicht zufällig beim Lesen der auf die Familie bezogenen Passagen in den Blick gerät.10 Unter den mindestens noch drei weiteren ursprünglich am Haus angebrachten antiken Inschriften soll an dieser Stelle nur jene erwähnt werden, die eine Aemilia Ge als Grabinschrift für einen Mann namens Manlius Homulus anfertigen ließ.11 Nur wenige Straßenzüge vom Haus des Manlio entfernt, in der Nähe von Santa Maria sopra Minerva, befindet sich das Haus eines Zweiges der Familie Porcari. Sein Zustand ist gegenüber dem des Quattrocento stark verändert, jedoch lassen die erhaltenen Teile, Berichte von Besuchern und einige Zeichnungen Aussagen zu seiner Ausstattung zu. Francesco Porcari, ein jüngerer entfernter Verwandter des 1453 von Nikolaus V. wegen Verschwörung hingerichteten Stefano Porcari, und sein Sohn Giulio hatten es im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts errichtet und ausgestattet.12 Francesco Porcari teilte mit seinen antiquarisch interessierten Zeitgenossen die besondere Vorliebe für Epigraphik, denn zeitgenössische Syllogen verzeichnen über Hundert antike Inschriften in seinem Haus.13 Mehrere davon erwähnen einen ‚Porcius‘.14 Die Aufzeichnungen antikenbegeisterter Besucher und das Inventar, das nach dem Tod von Francesco aufgesetzt wurde, dokumentieren zudem mehrere antike Statuen und Reliefs beziehungsweise Fragmente davon bei ihm, so daß von einer veritablen kleinen Skulpturensammlung zu sprechen ist. Darüber hinaus bestand ein besonderes Faible für die Darstellung von Schweinen, wie sie im sprechenden Wappen der Familie erscheinen. Ein römisches Sarkophagrelief mit der Jagd auf den Kalydonischen Eber war, vermutlich schon zur Zeit Francescos, über einem der Eingänge eingemauert; im Innenhof befand sich ein Relief mit einer säugenden Sau, wohl ein Fragment mit der Auffindung der Lavinischen Sau durch Aeneas, das in folgenden Jahrhunderten die Aufmerksamkeit von Gelehrten wie Iosse de Ricke und 9 Tucci: Manlius (wie Anm. 4), S. 201f.; Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 75–77. 10 So bereits Tucci: Manlius (wie Anm. 4), S. 189. 11 AEMILIA GE | SE VIVA FECIT SIBI | ET MANLIO HOMU | LO ET AURELIO VICTORINO ET SUIS | LIBERTIS LIBERTA | BUSQUE POSTERISQUE | EORUM; CIL VI, 11142, vgl. Tucci: Manlius (wie Anm. 4), S. 203f. 12 Grundlegend Anna Modigliani: I Porcari. Storie di una famiglia romana tra Medioevo e Rinascimento. Rom 1994, zu dem Haus bes. S. 310–324; Minasi: Passione (wie Anm. 2), bes. S. 84f. Das Haus des Francesco war nur eine von zahlreichen Immobilien der verzweigten Familie im rione Pigna, die meisten Wohnbauten sind jedoch nicht mehr erhalten. 13 Zu der Sammlung bes. von Francesco und Giulio Porcari Modigliani: Porcari (wie Anm. 12), S. 465–467; Minasi: Passione (wie Anm. 2), S. 90–98; Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 71f., S. 354– 58; hier S. 45f. zu den Motiven der Wertschätzung antiker Inschriften als Anstoß für zeitgenössische Schöpfungen. 14 Unter den ehemals in der ‚Casa Porcari‘ befindlichen antiken Inschriften befand sich diese: Venuleia PP(ubliorum) l(iberta) Philematium | sibi et viro suo | M(arco) Porcio M(arci) l(iberto) Pollioni | scr(ibae) libr(ario) aed(ilium) cur(ulium) lict(ori) cur(iatio) | de sua pecunia fecit (CIL VI, 1852).

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Johann Faber erregte und schließlich auf das Kapitol gelangte.15 Auch für andere Familienmitglieder ist überliefert, daß sich Skulpturen von Schweinen in ihrer Sammlung befanden.16

Abb. 7: Fragment eines antiken Gesimses als Türsturz im Innenhof, Rom, «Casa Porcari» (Photo: SILVIA DANESI SQUARZINA: Francesco Colonna, principe lettarto e la sua cerchia. Storia dell’arte 1987, S. 137–154, Abb. 4)

Einer vermutlich unter Giulio entstandenen Inschrift kam die Funktion zu, die Verbindung zu dem verehrten Helden der Republik vor Augen zu stellen, der als Gründer 15 Ulisse Aldrovandi sah im 16. Jahrhundert in casa di M. Giulio Porcaro […] Da la parte di fuori su la porta […] la caccia di Meleagro, che uccise il porco di Calidonia, sowie […] Dietro il muro del portico […] à terra un pezzo di marmo; nel quale è di mezo rilevo una porca, che da il latte a’ porcellini suoi. Ulisse Aldrovandi: Delle statue antiche, che per tutta Roma, in diversi luoghi, e case si veggono. Venedig 1562, ND Hildesheim 1975, S. 242, S. 244; vergleiche Minasi: Passione (wie Anm. 2), S. 91f., die nicht ausschließt „che la tragica fine dell’eroe uccisore del porco di Calcidonia volesse sottendere il monito a non lottare contro gli esponenti della famiglia per non incorrere in mali maggiori“. Angesichts des dominanten Auswahlkriteriums für die genannten Antiken (das Thema ‚Schwein‘/‚Eber‘) erscheint das nicht plausibel. – Eine Analyse der Texte von Aldrovandi und Faber mit Blick auf die Anbringungsorte der Antiken bieten Fabio Guidetti/Marco Guardo: I primi Lincei tra collezionismo e scienza antiquaria. L’Ellisse (2014) S. 67-100, hier S. 92-97, hier auch weitere Literatur zu dem Sarkophag sowie dem Relieffragment; das (späte) Zeugnis Nicola Roiseccos, der die Via Appia als Provenienz des Fragments angibt, wird hier zu Recht infrage gestellt. 16 Im Haus des Metello Varo Porcari sah Aldrovandi (Aldrovandi: Statue [wie Anm. 15], S. 246) un porco dimestico di mezzo rilevo bellißimo (vgl. Christian: Empire [wie Anm. 2], S. 72, S. 357).



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des Geschlechts propagiert wurde. Das im Innenhof gelegene, bis heute erhaltene Portal des Hauseingangs ist mit antikisierenden Zierleisten geschmückt und trägt das mächtige Fragment eines antiken Gesimses (Abb. 7). Darunter verläuft auf sorgfältig aufgeteiltem Schriftfeld eine Inschrift in antikisierender Capitalis quadrata: ILLE EGO SUM NOSTRAE SOBOLIS CATO PORCIUS AUCTOR | NOBILE QUOI (sic) NOMEN OS DEDIT ARMA TOGA. 17 Mehrere Zeichnungen belegen, daß sich über dem Portal ursprünglich eine Muschelnische befand, und mit großer Wahrscheinlichkeit hatte hier ein – vermeintliches – Bildnis des älteren Cato Aufstellung gefunden, dem die Inschrift so in den Mund gelegt wurde. Die Formulierung „Ille ego sum“ steht, das blieb bislang unberücksichtigt, in der Tradition antiker Epigramme, die sich auf imagines beziehen und Gräber und Statuenbasen auszeichneten. Frühe Vergilkommentatoren ließen die Aeneis mit „Ille ego qui quondam“ einsetzen, und möglicherweise bezog sich die Zeile, den Inschriften entsprechend, auf ein ursprüngliches Autorenporträt. In der Frühen Neuzeit ließen sich somit in der Formulierung Konzepte von Autorschaft ebenso wie der Topos der Lebendigkeit aufrufen, wie es Alexander Nagel für Angelo Polizianos Grabinschrift auf Giotto plausibel machen konnte.18 Der rätselhafte Wortlaut der zweiten Zeile hat zu divergierenden Übersetzungen geführt.19 Es liegt nahe, daß an dieser Stelle das omnipräsente Wappenmotiv mit dem Nomen gentile in Verbindung gebracht wurde. Die Toga könnte als Gewand des Rhetors mit dessen Fähigkeit zur Rede verbunden worden sein, vielleicht auch im übertragenen Sinn bezogen auf das Bildnis. Eine andere Möglichkeit ist, daß die Toga für das Patriziat (oder den Senat?) stehen sollte und die Vorstellung zum Ausdruck gebracht 17 CIL VI 3*g. Minasi: Passione (wie Anm. 2), S. 95f.; Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 355, die darauf hinweist, daß die in der Literatur häufig postulierte Ausstattung mit Fresken zur Vita Catos auf die Fehlinterpretation einer Beschreibung zurückgeht. 18 Vgl. Edward Brandt: Zum Aeneis-Prooemium. Philologus 83 (1928) S.  331-335; ablehnend gegenüber der These eines Bezugs auf ein Autorenporträt Antonio La Penna: „Ille ego qui quondam“ e i raccordi editoriali nell‘antichita. Studi italiani di filologia classica 78 (1975) S. 76-91; Alexander Nagel: Authorship and Image-Making in the Monument to Giotto in Florence Cathedral. RES: Anthropology and Aesthetics 53/54 (2008) S. 143-151, hier S. 143f. 19 Ralf Behrwald, Jörg Bölling, Anke Tietz und Werner Tietz sei herzlich für ihre Hinweise zu der Inschrift gedankt. Die Übersetzung von Clarke (Georgia Clarke: Roman House – Renaissance Palaces: Inventing Antiquity in Fifteenth-Century Italy. Cambridge u. a. 2003, S. 228: „I am that Cato Porcius author of our offspring, who gave noble name to speech in war and peace“), Christians Übersetzung („I am he, Cato Porcius, author of our progeny who, with arms and diplomacy, brought his noble name to the lips [of all]“, Christian: Empire [wie Anm. 2], S.  71) sowie der jüngste Vorschlag von Gian Luca Gregori: „I am that famous Porcius Cato, originator of our line; my physical appearance, military accomplishments, and political career gave me my noble name“ (Silvia Orlandi u. a.: Forgeries and Fakes. In: The Oxford Handbook of Roman Epigraphy. Hg. von Christer Bruun. Oxford 2015, S. 42–65, hier S. 57) scheinen mir zu weit von der Grammatik des Satzes abzuweichen. In jedem Fall ist von einer sorgfältigen Planung der Inschrift auszugehen und der Wortlaut ernst zu nehmen, denn es ist unwahrscheinlich, daß sich Giulio Porcari eine sprachlich inkorrekte Inschrift über die Tür hätte setzen lassen, vielmehr muß diese zum Vergleich mit den direkt daneben ausgestellten antiken Inschriften herausgefordert haben.

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wurde, daß diesem das Recht auf ‚imagines maiorum‘ zukam.20 Daher sei hier vorgeschlagen: „Ich bin jener Cato Porcius, Begründer unserer Nachkommenschaft, dem der edle Name das Wappen gab, die Toga die Sprache (oder: das Antlitz)“. Auf Cato, genauer auf dessen Schrift «De agricultura», dürften sich auch die fünf ehemals in die äußere Wand des Hauses eingemauerte antiken Reliefs mit landwirtschaftlichen Szenen bezogen haben.21 Die Familien, deren Häuser hier knapp vorgestellt wurden, gehörten dem niederen städtischen Adel Roms an. Die Porcari wurden ihm seit Ende des Trecento und Lorenzo Manlio seit den späten 1470er Jahren zugerechnet.22 Beide sind damit Vertreter jener neuen und oft neureichen nobiles viri Roms, die die jüngere Forschung um Massimo Miglio und Anna Modigliani als gut definierbare, vergleichbar homogene Gruppe bewertet.23 Bei aller notwendigen Differenzierung besonders mit Blick auf die Herkunft und sich verändernde Einstellungen zur Kurie überwiegen verbindende Praktiken und Konzepte. Dazu zählen Endogamie, ähnliche Besitzverhältnisse und Einnahmequellen – charakteristisch ist die Verwurzelung im Agrarsektor und ein ausdifferenziertes Engagement im Bereich von Immobilien, Kleinhandel und Handwerk –, und übereinstimmende Präferenzen bezüglich städtischer Ämter, Bruderschaften und Feste. Bei einem Vergleich der Häuser beider Familien als auf Dauer angelegte Medien der Selbstdarstellung im städtischen Kontext werden ebenfalls charakteristische Aspekte in der Antikenrezeption deutlich, aber auch deren Spannbreite und spezifische Akzente. Nur bei den Porcari wird man von einer ‚Sammlung‘ sprechen wollen; das Beispiel der ‚Casa Manlio‘ macht deutlich, daß, wie bereits Settis unterstrich, keine feste Grenze zwischen ‚Wiederverwendung‘ und ‚Sammlung‘ gezogen werden

20 Für die seit Jahrhunderten in den Altertumswissenschaften diskutierte und nicht eindeutig zu beantwortende Frage, ob es ein ‚ius imaginum‘ gegeben habe, kann an dieser Stelle nur auf Harriet I. Flower: Ancestor Masks and Aristocratic Power in Roman Culture. Oxford 1996, besonders S. 53–59, verwiesen werden. 21 Henning Wrede: Antikenstudium und Antikenaufstellung in der Renaissance. Kölner Jahrbuch 26 (1993) S. 11–25, hier S. 15f. 22 Modigliani: Porcari (wie Anm. 12), bes. S. 29–32, Tucci: Manlius (wie Anm. 4), bes. S. 16, S. 71. 23 Unter der umfangreichen Literatur seien hier nur genannt Massimo Miglio: L‘immagine dell‘onore antico. Individualità e tradizione della Roma municipale. Studi romani 31 (1983) S. 252–264; Ders.: Roma dopo Avignone. La rinascita politica dell’antico. In: Memoria dell’antico nell’arte italiana. Hg. von Salvatore Settis. 3 Bände. Band 1: L’uso dei classici. Turin 1984, S. 73–111; Ders.: Marco Antonio Altieri e la nostalgia della Roma municipale. In: „Effetto Roma“. Nostalgia e rimpianto. Rom 1992, S. 9–23; Anna Esposito: Li nobili huomini di Roma: Strategie familiari tra città, curai, e municipio. In: Roma capitale (1447–1527). Hg. von Sergio Gensini. San Miniato 1994, S. 373–388; Anna Modigliani: Sistemi familiari dell’aristocrazia municipale (secc. XIV–XV). In: Popolazione e società a Roma dal medioevo all’età contemporanea. Hg. von Eugenio Sonnino. Rom 1998, S. 229–246; Dies.: Continuità e trasformazione dell’aristocrazia municipale romana nel XV secolo. In: Roma medievale. Aggiornamenti. Hg. von Paolo Delogu. Florenz 1998, S. 267–279.



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kann.24 Während Manlio keine Spuren im Zusammenhang humanistischer Bestrebungen hinterlassen hat,25 reichten, wie die Korrespondenz Francescos und Widmungen an ihn bezeugen, nicht nur die finanziellen Möglichkeiten der Porcari weiter, sondern auch ihre humanistisch-antiquarischen Interessen und Netzwerke.26 Beides war die Grundlage für Ankäufe der zunehmend begehrten großplastischen Statuen, wofür Francescos zeitweiliges Amt eines ‚curator viarum Urbis‘ die besten Voraussetzungen bot. Manlios Antiken dürften zumindest teilweise aus seinem eigenen Weinberg an der Via Appia stammen. Die Büsten des Grabreliefs erklären wie aus eigenem Mund: „Auf der Via Appia sind wir 1478 ans Licht gekommen“ – eine als selbstbezüglicher Verweis auf die eigene Herkunft wohl einzigartige Inschrift.27 Beider Umgang mit der Antike verbindet, daß es sich um eine unmittelbare Instrumentalisierung handelt, denn auch bei den Porcari ist damit zumindest ein Aspekt ihrer Sammlung bezeichnet. Es läßt sich von einer programmatischen, ideologisch geprägten Antikenverwendung sprechen, die in Bild und Wort primär dazu dient, eine bereits in dem latinisierten Namen anklingende fiktive Genealogie zu 24 Pomian definierte ‚Sammlung‘ als „jede Zusammenstellung natürlicher oder künstlicher Gegenstände, die zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden, und zwar an einem abgeschlossenen, eigens zu diesem Zweck eingerichteten Ort, an dem die Gegenstände ausgestellt werden und angesehen werden können“ (Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, 3. Aufl. 1998, S. 16). Folgt man dieser Eingrenzung, dann ist bei Manlio das „für das Auge ausstellen“ (ebd. S. 14) durchaus gegeben, aber seine (auch in ihrer Zahl mit denen der Porcari nicht vergleichbaren) antiken Objekte scheinen ausschließlich an der Fassade und hier dauerhaft eingemauert gewesen zu sein, es gab also, trifft dies zu, kein eigentliches ‚Zeigen‘ an einem besonderen ‚Ort‘. Dieser Unterschied bliebe auch bestehen, wenn, wie Tucci: Manlius (wie Anm. 4), S. 205f. annimmt, das seit dem Cinquecento in Mantua befindliche Relief eines Kampfes zwischen Römern und Galliern an der linken Seitenfassade der ‚Casa Manlio‘ eingemauert gewesen sein sollte. – Settis: Collecting Ancient Sculpture (wie Anm. 3), S. 24, sieht die ‚Casa Manlio‘ als Beispiel für eine „transition from reuse to collecting“, wobei m.E. nicht von einer Entwicklung zu sprechen ist, sondern von einem Nebeneinander unterschiedlicher Konzepte. 25 Dies betont Anna Modigliani, Rezension zu Tucci: Manlius (wie Anm. 4). Roma nel Rinascimento (2002) S. 161–163, hier S. 163. 26 Felice Feliciano widmete dem viro ex romanae nobilitatis stirpe praeclaro eine Briefsammlung, Jacopo Zaccaria dem Francisco Porcio civi omnibus virtutibus ornatissimo et maioriubus suis Catonibus nequaquam inferiori, vel morum gravitate, vel constantia et animi magnitudine ein «Inscriptionum epistolarium libellus» (zit. nach Minasi: Passione [wie Anm. 2], S. 92, Anm. 88) und Publio Licinio ebenfalls eine epigraphische Sylloge; zu diesen und weiteren Kontakten und zur Korrespondenz Modigliani: Porcari (wie Anm. 12), S. 468–477; Minasi: Passione (wie Anm. 2), S. 92f. 27 Die in weitgehend korrekter Capitalis quadrata ausgeführte Inschrift lautet: VI]E APPIE IN LUCEM VENIMUS 1478, vgl. Tucci: Manlius (wie Anm. 4), S. 202f., Settis: Collecting Ancient Sculpture (wie Anm. 3), S. 22 („perhaps the earliest provenance label we know of”) und Arnold Esch: A Historianʼs Evaluation of the „Census of Antique Works of Art and Architecture known to the Renaissance“ in its Present State. Bollettino di informazioni del Centro di ricerche informatiche (Pisa) 6 (1996) S. 41–58, hier S. 45; hier und bei Arnold Esch: Ein verloren geglaubter Meilenstein der Via Appia. Epigraphica 35 (1973) S. 96–101, hier S. 99, weitere Beispiele, bei denen die Spolie jedoch nicht in der ersten Person ‚über sich‘ spricht.

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propagieren.28 Die entsprechenden Inschriften waren in der ‚Casa Porcari‘ offenbar in die Sammlung der übrigen Inschriften integriert und nicht etwa gesondert angebracht. Wie bei anderen Adelsfamilien Roms sind es mit Marcus Porcius Cato und wohl Marcus Manlius Capitolinus, dem Verteidiger der Arx, Helden der römischen Republik, auf die man sich zurückführt.29 Der Familienname ‚Porcius‘ ersetzte wohl seit dem erwähnten Rebellen Stefano den der ‚de Porcariis‘; bei Manlius ist nachzuvollziehen, daß aus ‚Laurentius Matthie Manei‘ just in den Jahren des Hausbaues der ‚nobilis vir Laurentius matthie manei manlius‘ wird.30 Die Strategien, dieses Postulat anschaulich zu machen, sind vielschichtig: Die Porcari gestalteten ihren Innenhof vergleichbar einem antik-römischen Atrium, in dem die ‚pietas‘ gegenüber dem Ahnen gepflegt wird, wie man es aus Plinius kannte: 1476 war die erste italienischsprachige Ausgabe der «Naturalis historia» erschienen. Wie am Haus des Manlio bediente man sich des bildtheoretischen Topos der sprechenden Statue, um mit dem Betrachter zu kommunizieren.31 Die antiken Bildnisse werden dabei mittels Inschriften und der Anbringung so charakterisiert, daß eine ‚Ansippung‘ suggeriert oder zumindest der Vergleich nahegelegt wird. Insofern wird die Rezeption gelenkt und verläuft damit anders als bei den ‚statue parlanti‘ wie dem «Pasquino» oder der «Madama Lucrezia», die gerade durch ephemere Zuschreibungen und wechselnde Aneignungen charakterisiert ist.32 28 Generell zu den Modi der Produktion von Genealogien Gert Melville: Zur Technik genealogischer Konstruktionen. In: Idoneität – Genealogie – Legitimation. Hgg. von Cristina Adenna und Gert Melville. Köln u. a. 2015, S. 293–304. 29 Vgl. Tucci: Manlius (wie Anm. 4), bes. S. 78. Der Name des antiken Manlius wird in keiner der mit Lorenzo Manlio verbundenen Inschriften explizit genannt, daher muß die Wahl genau dieses Vorfahren eine (überaus plausible) Vermutung bleiben, wie Modigliani: Rezension zu Tucci (wie Anm. 25), S. 163, betont. 30 Modigliani: Porcari (wie Anm. 12), bes. S. 453–455; Tucci: Manlius (wie Anm. 4), S. 71, S. 78f. 31 Zum Topos der sprechenden Statue bes. Kenneth Gross: The Dream of the Moving Statue. Ithaca/London 1992; Kathleen Wren Christian: Poetry and Spirited Ancient Sculpture in Renaissance Rome: Pompoion Leto’s Academy to the Sixteenth-Century Sculpture Garden. In: Aeolian Winds and the Spirit of Renaissance Architecture. Hg. von Barbara Kenda. London 2006, S.  103–124. Zu den ‚sprechenden Statuen‘ Roms jüngst Maddalena Spagnolo: „Pasquino“ al bivio la statua, la piazza e il suo pubblico nel Cinquecento. In: Skulptur und Platz. Raumbesetzung, Raumüberwindung, Interaktion. Hgg. von Alessandro Nova und Stephanie Hanke. Berlin/München 2014, S. 253–281. 32 Andrea Santacroce hatte das Grabrelief einer dreiköpfigen Familie außen an seinem Haus anbringen und mit der Inschrift FIDEI SIMULACRUM HONOR VERITAS AMOR versehen lassen, wobei die Eigenschaften jeweils einer Person zugeordnet sind und offenbar die Tugendhaftigkeit der eigene Familie vortragen sollten. Die De’ Rossi, die im Quattrocento eine der reichsten Sammlungen antiker Skulptur zusammengetragen hatten – bereits 1454 wird ihr Haus als ‚casa delle statue‘ bezeichnet –, zeigten ein figürliches Grabrelief über ihrer Tür, das ebenfalls auf die Familie bezogen worden sein dürfte. Vgl. für beide Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 78, S. 372 sowie für letzteres auch Kathleen Wren Christian: The De’ Rossi Collection of Ancient Sculptures, Leo X, and Raphael. Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 65 (2002) S. 132–200, hier S. 193. Die Überlegung Christians (Christian: Empire [wie Anm. 2], S. 78), die Besitzer hätten die Dargestellten als Freigelassene erkannt und



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Die Anbringung von Antiken auch an der Straßenfront und die Halböffentlichkeit des Innenhofs garantierten eine breite Rezeption. Manlio machte aus der Not, keinen Innenhof zu besitzen, eine Tugend und okkupierte geradezu mit seiner Botschaft den öffentlichen Raum, indem er sie auf der gut beleuchteten Fassade positionierte, die die gesamte Längsseite eines durch Märkte und Umzüge hochfrequentierten Platzes einnimmt. Zentrales Medium ist für ihn – wie für die Porcari – die Epigraphik, und zwar sowohl die antike wie die zeitgenössische in antikisierender Form. Manlio schöpft ihre wirkungsästhetischen wie inhaltlichen Potentiale weit aus: Die bis rund 30 Zentimeter hohen und damit sehr großen, in nahezu perfekter Capitalis quadrata ausgeführten Buchstaben drängten auch leseunkundigen Betrachtern den Vergleich mit den Monumentalinschriften antiker Bauten auf, wie sie in der Umgebung sichtbar geblieben waren. Freilich war die Distanz zu den Vorübergehenden an diesem Privathaus weit geringer und die Wirkung der großen Lettern damit besonders imposant, zudem übertrifft diese moderne Inschrift antike Monumentalinschriften in ihrer Länge.33 Gleichzeitig konnten die Angaben zur Datierung wie ‚ab Urbe condita‘ und ‚calendas Augustas‘ sowie antike Wendungen wie ‚curavit‘, ‚fundavit‘ oder ‚sibi posterisque‘ antiquarische Kenntnisse demonstrieren. All dies unterstreicht die Aussage der Inschrift, die über einen bloßen genealogischen Anspruch weit hinausgeht. Vielmehr werden das Haus und seine Bewohner, vermittelt über ein genuin antikes Medium und die dabei gesetzten Maßstäbe sogar übertreffend, in den Kontext eines als ‚Wiedergeburt‘ (Urbe Roma in pristinam formam renascente) wahrgenommenen gegenwärtigen Prozesses eingeschrieben, der explizit unter den Leitstern der antiken Größe Roms gestellt wird.34 sich mit ihnen als soziale Aufsteiger identifiziert, scheint mir die historischen und archäologischen Kenntnisse überzustrapazieren; es wäre auch zu überprüfen, wie Liberti in der antiken Literatur, soweit sie den Besitzern der entsprechenden Antiken bekannt gewesen sein kann, beurteilt werden, i. e. ob sie sich für eine Identifikation anboten. 33 Einige Inschriften seien zum Vergleich der Maße genannt: Die mit rund 60 Zentimetern wohl größten Lettern sind am Pantheon und am Castor-Pollux-Tempel zu finden; die Buchstaben am Titusbogen erreichen etwa 40 Zentimeter, die am Bogen des Septimius Severus 30 Zentimeter und jene am Mars Ultor-Tempel 23 Zentimeter. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß etwa die Pantheon-Inschrift in großer Höhe verläuft, während die an der ‚Casa Manlio‘ in nur rund fünf Metern Höhe angebracht ist. Zu Konzeption und Rezeption öffentlicher Inschriften bleibt grundlegend Armado Petrucci: La scrittura. Ideologia e rappresentazione. Turin 1986. Zu Inschriften an Privatpalästen und -häusern des 15. Jahrhunderts Clarke: Roman House (wie Anm. 19), S. 227–232. Für aktuelle Beiträge zum Thema ‚Schrift und Öffentlichkeit‘ unter umgekehrtem Vorzeichen siehe den Sammelband: Verborgen, unsichtbar, unlesbar – Zur Problematik restringierter Schriftpräsenz. Hgg. von Tobias Frese u. a. Berlin 2014. 34 Zu der unter und von Sixtus IV. forcierten ‚restauratio Romae‘ und seine Rolle als ‚restaurator urbis‘ siehe bes. Fabio Benzi: Sisto IV renovator urbis: Architettura a Roma 1471–1484. Rom 1990; Lucina Vattuone: Esaltazione e distruzione di Roma antica nella città di Sisto IV. In: Sisto IV: le arti a Roma nel primo Rinascimento. Hg. von Fabio Benzi. Rom 2000, S. 174–187; Tucci: Manlius (wie Anm.

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II Simplex dupla redire Dieser Leitstern stand auch über zwei anderen Sammlungen in Rom. Ihr Kontext und die Strategien der Vermittlung, die hier wirksam wurden, waren jedoch gänzlich andere. Eine der frühesten Antikensammlungen in Rom, die großplastische Skulpturen einschloß und damit über ältere, primär numismatisch, epigraphisch und glyptisch ausgerichtete Sammlungen hinausging, war jene des Kardinals Prospero Colonna. Sie befand sich am Westhang des Quirinals, an dem das baronale Adelsgeschlecht der Colonna bereits lange ansässig war und wohl der Kardinal selbst im frühen 15. Jahrhundert über den Ruinen eines antiken Tempels, in der Treppenanlage des Serapeums, eine Loggia errichten ließ.35 Die Sammlung Colonna wurde während des Pontifikats des Colonna-Papstes Martin V. begonnen und damit eine gute Generation vor jenen von Francesco Porcari und Lorenzo Manlio. Eine um 1550 entstandene Ansicht der Loggia (Abb. 8) gibt einige der Antiken wieder, die hier noch eingemauert





Abb. 8: Ansicht des Palastes der Colonna mit der Loggia, Zeichnung in Feder, Mitte 15. Jh., New York, Metropolitan Museum (Photo: Kathleen Wren Christian: Empire without End. Antiquities Collections in Renaissance Rome, c. 1350-1557. New Haven/London 2010, S. 51, Abb. 21)

4); Minou Schraven: Founding Rome Anew: Pope Sixtus IV and the Foundation of Ponte Sisto, 1473. In: Foundation, Dedication and Consecration in Early Modern Europe. Hgg. von Maarten Delbeke und Minou Schraven. Leiden u. a. 2012, S. 129–151; zu der Bedeutung, die der öffentlichen (Neu)Aufstellung antiker Statuen – vor allem der kapitolinischen ‚Statuenstiftung‘– und der Sammlung von Antiken dabei zugemessen werden kann, bes. Christian: Empire (wie Anm. 2), S.103–119; für eine chronologische Zusammenschau unter dem Aspekt des Umgangs mit antiken Monumenten David E. Karmon: The Ruin of the Eternal City: Antiquity and Preservation in Renaissance Rome. Oxford 2011; für das intellektuelle Klima, das als Voraussetzung für diese Entwicklungen verstanden werden kann Elizabeth McCahill: Reviving the Eternal City: Rome and the Papal Court, 1420–1447. Cambridge 2013. 35 Zur Loggia der Colonna siehe bes. Schelbert: Palast (wie Anm. 5), S. 159–166; zu der Sammlung Prosperos Luisa Musso: Le antichità Colonna nei secoli XV e XVI. In: Catalogo della Galleria Colonna in Roma. Band 2. Sculture. Hgg. von Filippo Carinci u. a. Rom 1990, S. 13–18; Magister: Censimento (wie Anm. 4), S. 160; Dies.: Censimento delle collezioni di antichità a Roma (1471–1503): addenda. Xenia antiqua 10 (2001) S. 113–154, S. 121f.; Dino Piccolo: Die Drei Grazien der Libreria Piccolomini zu Siena in Rom: Prestigeobjekt zweier Papstnepoten oder Dokument archäologisch-antiquarischer Forschungen im Quattrocento? In: Die Kreise der Nepoten. Neue Forschungen zu alten und neuen Eliten Roms in der frühen Neuzeit. Hgg. von Daniel Büchel und Volker Reinhard. Bern u. a. 2001, S. 297– 316; Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 48–61, S. 313f.



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Abb. 9: «Drei Grazien», Siena, Dom, Libreria Piccolomini (Photo: Reinhard Lullies: Griechische Plastik von den Anfängen bis zum Beginn der römischen Kaiserzeit. 4. Aufl. München 1979, Taf. 300)

waren, aber der Großteil der Sammlung war zu diesem Zeitpunkt längst wieder zerstreut.36 Um 1430/1440 befand sich hier etwa der später sogenannte ‚Torso del Belvedere‘, und seit den 1450er Jahren ist die kleinformatigere Gruppe der ‚Drei Grazien‘ (Abb. 9) im Besitz des Colonna bezeugt – beides Werke von kaum zu überschätzender 36 Zu der Zeichnung Schelbert: Palast (wie Anm. 5), S. 159, Anm. 653 und zu den in ihr wiedergegebenen Antiken bes. Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 50, S. 313.

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Bedeutung für die Antikenimagination der folgenden Jahrhunderte.37 Von besonderem Interesse sind die ‚Grazien‘ und ihre literarische Rezeption.38 Colonna präsentierte die Gruppe auf einem wohl antiken, heute verlorenen Sockel. Darauf ließ er eine Inschrift einmeißeln, die mit den Zeilen begann „Nackt sind die Grazien aus weißem Marmor, und der göttliche Colonna hat sie in seinem Haus“. Es folgte eine Ekphrasis, die die gegenläufige formale Gestaltung der Gruppe und die Fruchtbarkeit der Grazien umschreibt. Das Publikum für das Epigramm und die Skulptur selbst bildete neben den Besuchern aus den Kreisen der Familie und der Kurie eine in ihren Mitgliedern wechselnde Gruppe von Dichtern, Antiquaren und Künstlern, die den Kardinal als Mäzen und Auftraggeber schätzte, und aus der die Idee einer Aufstellung und Kommentierung der Statuengruppe auch entsprungen sein dürfte. Zu nennen sind neben Poggio Bracciolini, der den Kardinal als alter nostri saeculi Maecenas pries, Lapo da Castiglionchio, Georg von Trapezunt, Flavio Biondo und nicht zuletzt Leon Battista Alberti.39 Für die Reaktionen und die gelehrte Konversation in diesem Kreis ist der heutige Betrachter nicht allein auf seine Imagination angewiesen. Martino Filetico, Schüler Guarino da Veronas und Lehrer an den Höfen von Urbino und Pesaro, schrieb, wohl in den frühen 1460er Jahren, zwei Gedichte auf diese Skulptur: „[…] Wir haben die Grazien gesehen [...] der göttliche Prospero bewahrt sie [...] in seinem ehrwürdigen Haus. […] Sie sind nackt gezeigt, da gratia mit keinem Schleier bedeckt sich guten Menschen nähern soll; sie sind miteinander verbunden, da wechselseitige Bindungen sie vereinen und da gratia alle Zeiten überdauert; zwei sehen uns an, die

37 Zum ‚Torso‘ sei nur verwiesen auf Phyllis Pray Bober und Ruth Rubinstein: Renaissance Artists & Antique Sculpture. Oxford 1986/London 2. Aufl. 2010, S. 181f., Nr. 132; Datenbank Census of Antique Works of Art and Architecture known in the Renaissance: CensusID 151526 (http://www.census.de); zu der frühen Erwähnung (und dem Schicksal des Torso nach dem Tod des Kardinals im Jahr 1463) Annegrit Schmitt: Römische Antikensammlungen im Spiegel eines Musterbuchs der Renaissance. Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 21 (1970) S. 99–128; zur Rezeption der Graziengruppe (heute Siena, Dom, Libreria Piccolomini) ebd. CensusID 153873; Giovanni Battista De Rossi und Giuseppe Gatti: Miscellanea di notizie bibliografiche e critiche per la topografia e la storia dei monumenti di Roma. Bullettino della Commissione Archeologica Comunale di Roma 14 (1886) S. 345–356, S. 345–347; Bober und Rubinstein: Sculpture (ebd.), S. 106f., Nr. 60; Piccolo: Grazien (wie Anm. 35); Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 52–61, letztere beide grundlegend zu der im Folgenden umrissenen literarischen Rezeption. 38 Sunt nudae Charites niveo de marmore, at illas | Diva columna suis aedibus intus habet. | Par tribus est facies, qualem decet esse sororum. | Par tribus est aetas: par quoque forma tribus. | Grata Thalia tamen geminae conversa sorori, | Implicat alternae brachia blanda soror. | Heufrosinam dextra stupeo, | Aglaiamque (sic) sinistra | Miror, et implicitis brachia nexa modis. | Iupiter est genitor, peperit de semine caeli | Emonia et Veneris turba ministra fuit. | Inde alitur nudus placida sub matre Cupido, | Inde voluptates: inde alimenta Dei (CIL VI, 3*b), zitiert nach Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 229, Anm. 56, siehe auch S. 58f. und Piccoli: Grazien (wie Anm. 34), bes. S. 306f. 39 Christian: Empire (wie Anm. 2), bes. S. 48f.; das Zitat nach Flavio Biondo: Roma instaurata – Rome restaurée. Hg., übers. und komm. von Anne Raffarin-Dupuis. Paris 2005, S. 121, Liber I § 100, in dem Kapitel zu den Horti Maecenatiani.



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andere wendet sich ab: gratia pflegt Einfaches doppelt zurückzugeben.“40 Gerade letzteres Motiv ist in einem durch Mäzenatentum und der dichterischen Gegenleistung in Gestalt rühmender Verse geprägtem Kreis überaus passend, und nicht zufällig sind beide Dichtungen Fileticos an einen seiner Förderer gerichtet. Alberti hatte bereits in den 1430er Jahren in seinem Traktat «De pictura» Malern im Zusammenhang von ‚inventio‘ die Beschäftigung mit antiken Ekphrasen empfohlen, und dies anhand einer (gemalten) Graziengruppe ausgeführt, die bereits in der antiken Mythographie als Allegorie der liberalitas verstanden wurde: „Mit ihnen“, so Alberti, angelehnt an Senecas «De beneficiis», „wollte man die ‚Großmut‘ zur Darstellung bringen insofern, als eine der Schwestern eine Wohltat ‚erweist‘, die zweite ‚empfängt‘ und die dritte ‚vergilt‘.“41 Kathleen Christian vermutet überzeugend, daß Alberti in die Aufstellung der «Drei Grazien» durch den Kardinal involviert gewesen sein könnte.42 In dem Zirkel um Colonna wurde damit vor der Folie eines ‚paragone‘ von literarischen und bildkünstlerischen Monumenten nicht nur die allegorische Auslegung der Graziengruppe (nuda veritas et cetera) aktualisiert, sondern – und das war neuartig in Rom – die gesammelte Antike bekam eine konkrete Rolle in der humanistischen Panegyrik auf den Sammler. Rund zwei Generationen später, seit den 1480er Jahren, entstand die Sammlung eines anderen Kardinals.43 Giuliano della Rovere, Neffe Sixtus IV., errichtete im späten 15. Jahrhundert neben der Basilika Santissimi Apostoli einen Palast. Die Kirche selbst ließ er mit einer neuen Portikus versehen.44 Hier ließ er über dem Portal ein über drei 40 Martinus Phileticus, de ortu et de statu charitum / Ducentes charitas viva[m] de marmore forma[m] / vidimus: & sacram vidimus effigiem: / Has divus Prosper: quem diva columna creavit, / Servat: & augustis has h[abe]t in laribus. /Sunt forma facie atque pares aetate sorores / tres: manibusqu[ae] manus brachia nexa tene[n]t / Sunt pariter nude: sed stat conversa duabus /Altera: qu[am] due nos bene conspiciunt / Euphrosine dextrum cornu ten[et]: ordine l[e]vum / Aglace medium pulchra thalia locum. / Liber & alma venus tales genuere sorores. / Unde alitur veneris notus uterq[ue] puer. Der Text des zweiten Gedichts lautet: IDEM de significatione charitum / Quesieras charitum veras cognoscere causas: / Cur nude: aut nexe: respiciuntq[ue] duc. / Accipe iamdudum quaesitas p[er] lege causas / Octaviane decus spes q[ue] solusq[ue] mea / Pinguntur (sic) nude: quam velamine debet / Nullo infesta bonis gratia adesse viris: / Pinguntur nexe: q[uia] (sic) mutua federa iungu[n]t / Et durat cunctis gratia temporibus / Nosque due spectant: aversa e[st] altera nobis: / Gratia & simplex dupla redire sol[et]. Zitiert nach Stefano Colonna: Per Martino Filetico maestro di Francesco Colonna di Palestrina. La “πολυφιλία” e il gruppo marmoreo delle Tre Grazie. Storia dell’Arte 102 (2002) S. 23–29, S. 25, hier auch zum Autor; für den Kontext siehe daneben Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 58–60. 41 De Pictura III, 54. Leon Battista Alberti: Die Malkunst. Hg., eingel., übers. und komm. von Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin. Darmstadt 2000, S. 296f. mit dem Verweis auf Senecas «De beneficiis» 1, 3, 2–6. 42 Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 55f. mit weiteren Überlegungen der literarischen Rezeption der Gruppe als Movens künstlerischer Invention, die für Albertis Interesse maßgeblich war. 43 Zu der Sammlung Giulianos siehe bes. Sara Magister: Arte e politica: la collezione di antichità del cardinale Giuliano della Rovere nei Palazzi ai Santi Apostoli. Atti della Accademia nazionale dei Lincei (2001–2002) S. 386–631; Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 161–163, S. 368–372. 44 Zu Palast und Kirche jetzt maßgeblich Schelbert: Palast (wie Anm. 5).

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Meter breites trajanisches Relief eines Adlers im Rund einer ‚corona civica‘ einmauern. Die Inschrift darunter gibt an, der Kardinal habe es „aus Ruinen gerettet“. Er erscheint damit als (neuer) Bewahrer Roms, zumal ihn die Titulatur explizit zu Papst Sixtus IV. in Beziehung setzt.45 Es ist evident, daß der Eichenkranz sich auf Giuliano della Roveres Eichenwappen bezog: Der Adler des Jupiter und der römischen Kaiser, gerahmt von Eichenlaub, war das Zeichen, unter dem der großartige Baukomplex nun stand.46 Neben den omnipräsenten Inschriften sammelte Giuliano antike Statuen. Nur wenige Stücke können sicher seiner Zeit als Kardinal zugewiesen werden. Eine hochrangige Skulptur sei hier erwähnt: 1489 wurde der später sogenannte ‚Apoll vom Belvedere‘ in der Nähe von San Lorenzo in Panisperna gefunden. Offenbar wagte niemand, sich einem Ankauf durch Giuliano in den Weg zu stellen. Dieser ließ die Statue nach SS. Apostoli verbringen und stellte sie auf einem antikisierenden Sockel im Garten seines Palastes auf, wo sie bis 1508 verblieb.47 Mit dem Apoll im Garten des Kunstmäzens ließen sich die Topoi des Musenhofes und des neuen Parnasses beleben. Gleichzeitig war die Gottheit auf die Familie zu beziehen, denn Apoll galt als Beschützer der ‚gens Julia‘, der sich Giuliano bereits als Kardinal einschrieb.48 Bestes Zeugnis für diese Aktualisierung ist ein Gedicht aus der Feder eines Schülers des Pomponio Leto aus dem Jahr 1504. Es entstand, als Giuliano als Julius II. bereits seit einigen Monaten den Stuhl Petri innehatte, rekurriert aber, wie Sara Magister überzeugend darlegte, auf Konzepte und Vorstellungen, die bereits zuvor im Umkreis des Kardinals entwickelt worden waren.49 Anläßlich eines Gastmahls wurde es offenbar 45 TOT RUINIS SERVATAM IUL CAR SIXTI IIII PONT NEPOS HIC STATUIT. Zu dem offenbar im frühen 13. Jahrhundert am rechten Flügel ergänzten Relief, seiner möglichen Verwendung als Symbol des Johannes am Ambo von SS. Apostoli und der ‚tertiären‘ Anbringung Peter Cornelius Claussen: Die Kirchen der Stadt Rom im Mittelalter 1050–1300. A–F. Stuttgart 2002 (Corpus Cosmatorum. II, 1), S. 114f.; Magister: Arte (wie Anm. 43), S. 569f.; Bober und Rubinstein: Sculpture (wie Anm. 37), S. 237f. 46 Zu der Aneignung durch den Kardinal bes. Magister: Arte (wie Anm. 43), S. 573–575; Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 368 und S. 371, Anm. 1. 47 Zum ‚Apoll‘ sei verwiesen auf Magister: Arte (wie Anm. 43), S. 536–544, S. 576–585; Laurie Smith Fusco und Gino Corti: Lorenzo deʼ Medici. Collector and Antiquarian. Cambridge 2006, S. 52–56; Bober und Rubinstein: Sculpture (wie Anm. 37), S. 76f., Nr. 28; Datenbank Census of Antique Works of Art and Architecture known in the Renaissance: CensusID 150779 (http://www.census.de). 48 Vgl. als Beiträge, die primär vom Programm des Belvedere ausgehen Elisabeth Schröter: Der Vatikan als Hügel Apollons und der Musen. Kunst und Panegyrik von Nikolaus V. bis Julius II. Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 75 (1980) S. 208–240; Arnold Nesselrath: Il Cortile delle Statue: luogo e storia. In: Il Cortile delle Statue: der Statuenhof des Belvedere im Vatikan. Hgg. von Matthias Winner u. a. Mainz 1998. S. 1–16; Hans Henrik Brummer: On the Julian Program of the Cortile delle Statue in the Vatican Belvedere. In: ebd. S. 67–76; und, mit Betonung einer bereits vor der Wahl zum Papst erfolgten Ansippung, Magister: Arte (wie Anm. 43), S. 578–585. 49 Zu dem Gedicht und seinem Kontext Magister: Arte (wie Anm. 43), S. 581f.; Schelbert: Palast (wie Anm. 5), S.  262–264; Jutta Allekotte: Orte der Muße und Repräsentation: Zu Ausstattung



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mit verteilten Rollen vorgetragen, wobei die Skulpturen das Wort führten. Der Gott Apoll selbst stellt sich darin als Wächter der ‚gens Julia‘ und damit des Papstes vor; diesem habe er das Erbe des antiken Rom anvertraut. Treffen Jutta Allekottes Überlegungen zu einer Aufstellung der Apollonstatue zu, die einen Sichtbezug zwischen der Statuennische und der Gartenloggia erlaubt hätten, in der die Feier stattfand, dann wäre es dabei zu einem Blickwechsel zwischen dem erhöht sitzenden Papst und der Statue als Repräsentant Apolls gekommen.50 Bereits die Wahl des Papstnamens macht deutlich, daß sich dieses Konzept bereits in Giulianos Kardinalszeit formte und es überrascht nicht, daß er sich nicht erst als Papst als ‚alter Caesar‘ rühmen ließ.51

III Kollektive Selbstbilder? Wie läßt sich der Umgang mit der Antike und mit Antiken durch die Kardinäle einerseits und durch Vertreter des römisch-städtischen Adels andererseits beschreiben, und was läßt sich daraus ableiten für die Fragen nach Gruppenspezifik und nach gemeinsamen Deutungshorizonten? Die Fallbeispiele belegen, daß antike Artefakte in beiden sozialen Gruppen funktionalisiert und instrumentalisiert wurden. In den Sammlungen Colonna und Della Rovere erscheinen die Strategien subtiler, da die Beziehung zwischen Objekt und Sammler nicht unmittelbar visuell, sondern über die literarische Rezeption hergestellt wird. Man könnte einwenden, daß dies nicht für den Adler im Eichenkranz gilt. Aber hätte sich ein Kardinal ein monumentales Schwein über ein Kirchenportal gehängt? Wohl kaum – das wäre ein Decorumsverstoß gewesen, und das Rezeptionsangebot ist sowohl für den Adler als auch für die ‚corona civica‘ vielschichtiger. Welche Antiken wurden nun nicht nur gesammelt und präsentiert, sondern auch gedeutet? Bei den Kardinälen boten einzelne prominente Figuren primär der Mythologie Anknüpfungspunkte für den vom Sammler geförderten Dichterkreis und eine literarische Verarbeitung. Der junge Stadtadel zog den mythologischen Themen die – vermeintlichen – Ahnenportraits vor, die als ‚exempla‘ die ‚virtus‘ und ein hohes Alter der Familie suggerieren sollten, sowie Inschriften, die geeignet waren, diese Verbindung zu belegen.52 Das Löwen- und das Hunderelief an der ‚Casa Manlio‘ lassen darüber hinaus noch eine andere Bezugsgröße erkennen: Wohl seit dem 12. Jahrhundert befand sich die antike Tierskulptur eines pferdeschlagenden Löwen auf dem Kapitol. Im 15. Jahrhunund Funktion römischer Loggien (1470–1527). Diss. Bonn 2011, S.  98f. (http://hss.ulb.uni-bonn. de/2011/2706/2706.htm, letzter Zugriff 5. Januar 2016). 50 Allekotte: Loggien (wie Anm. 49), S. 97–99. 51 Dies betont Magister: Arte (wie Anm. 43), bes. S. 580. 52 In dieser Differenzierung folge ich Christian: Empire (wie Anm. 2), die diesen Aspekt an zahlreichen Beispielen herausarbeitet.

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dert stand sie an der Treppe zum Senatorenpalast und war Ort von Urteilsverkündungen.53 Und seitdem Sixtus IV. im Jahr 1471 mehrere Großbronzen vom Lateran auf das Kapitol hatte bringen lassen – die sogenannte ‚Statuenstiftung‘ – befand sich auch die römische Wölfin auf dem Kapitol.54 Eine Antilope ist kein Pferd und ein Hund kein Wolf, aber der Bezug zu den beiden Reliefs des Manlio (Abb. 5) wird plausibel, wenn man sich vor Augen hält, daß dieser, wohl seit den 1460er Jahre und bis zu seinem Tod 1482, Procurator der Franziskaner von Santa Maria in Aracoeli auf dem Kapitol war, genauer auf der Arx, jenem Ort, wo Ovid und Vergil zufolge auch der antike Marcus Manlius sein Haus besaß.55 In der singulären Verbindung beider Tierreliefs an seinem Haus dürfte meines Erachtens eher ein biographischer Bezug als eine politische, republikanische, also antikuriale Aussage zu sehen sein.56 In jedem Fall ist ikonographisch Vergleichbares nicht in entsprechender Prominenz in den Sammlungen der Kardinäle zu finden. Es läßt sich festhalten, daß der gruppenübergreifend gesetzte Bezugspunkt ‚Antike‘ in unterschiedlichen Vergangenheitskonstruktionen und spezifischen Deutungshorizonten aktualisiert werden konnte. Was läßt sich darüber hinaus für ein Verständnis als Gruppe aussagen?57 Sicherlich ist von sich teilweise überlagernden und vor allem dynamischen Identitäten zu sprechen. Das Verhalten und die Bindungen der Kardinäle markieren – sich wechselseitig bedingende – personale wie dynastische Identitäten. Anders läßt sich das Verhalten des neuen Stadtadels unter dem Aspekt von Gruppen, und hier zunächst der Familie, beschreiben. Fiktive Genealogien schuf man sich selbstverständlich schon früher und auch in anderen Kreisen, aber im fortgeschrittenen Quattrocento und in diesem sozialen Kontext häuft sich das Phänomen und es werden, um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, antike und antikisierende Artefakte gezielter und medial differenzierter dazu eingesetzt.58 Gleichzeitig wird etwa die Rückführung der Porcari auf Cato nicht nur von der Familie selbst propagiert, sondern auch von anderen Autoren formuliert. Auch die zur gleichen 53 Zu der Statue und ihrer Aufstellung bes. Norbert Gramaccini: Mirabilia. Das Nachleben antiker Statuen vor der Renaissance. Mainz 1996, S.  168–180 (vgl. Ingo Herklotz: Rezension. Journal für Kunstgeschichte 2 (1998) S. 105–116); Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 21–23. 54 Vgl. Anm. 33. 55 Tucci: Manlius (wie Anm. 4), S. 58–78, zum Haus des antiken Helden S. 78. 56 In diesem Sinn ist Christian: Empire (wie Anm. 2), S.  76, zuzustimmen, die folgert: „The antiquities Manlio displayed on his house were meant to connect him to the general Manlius and his Capitoline heroics“. Für Miglio: Roma dopo Avignone (wie Anm. 23), S. 105 ist das von Manlio präsentierte „frammento di leone che sbrana un cavallo (sic) che richiama quello che era in Campidoglio“ ein Element eines „manifesto esplicito del suo impegno municipalistico, riproposto programmaticamente (…)“ (S. 104). Sein Vorschlag, den Besitzer mit einem im Kreis der Akademie des Pomponius Leto agierenden ‚Laurentius Romanus‘ zu verbinden, kann nach den Quellenrecherchen von Tucci: Manlius (wie Anm. 4) nicht mehr überzeugen. 57 Im vorliegenden Kontext sind die um einzelne Mäzene gescharten Dichterzirkel vernachlässigt, da sich deren Selbstbild primär in Texten spiegelt. 58 Vgl. dazu Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 63–89.



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Zeit vollzogene Latinisierung des Namens wird von ‚außen‘ mitgetragen.59 Zumal die römische Republik beziehungsweise die Vorstellung, die man von ihr hatte, wurden damit essentieller Bestandteil des familiären Vergangenheitsentwurfes. Ihn sollten die antiken Artefakte auf einer anschaulichen Ebene vor Augen führen. Wie ist die Rolle zu bewerten, die der ideologische Bezug auf die Antike und die materielle Antike für eine dem städtischen Adel kollektiv eigene Identität spielte? Nur ein Aspekt sei über das bislang Ausgeführte noch stärker akzentuiert: Während die Aneignung der Antike durch die Kardinäle, zumindest ihre literarische Ausdeutung nur einem beschränkten Rezipientenkreis zugänglich war, wandte sich der ‚neue Adel‘ wie beschrieben stärker nach außen, an eine städtische ‚Öffentlichkeit‘. Der Adressatenkreis ist dabei nicht nur unter den Lese- und Lateinkundigen zu suchen, denn allein das Medium (monumentaler) Inschriften und die plakativen Bezüge auf das Wappen konnten auf mehreren Ebenen wahrgenommen werden. Hinzu tritt hier häufig ein demonstrativer Zug, wie er sich direkt in den zeitgenössischen Inschriften ausdrückt: das „Have Roma“ im Haus des Manlio, in dem er im Auftrag der Franziskaner etwa Pächter und stiftungswillige Testatoren empfing,60 richtet sich an Gleichgesinnte und Gleichgestellte. Eine entsprechend programmatische, direkte Ansprache findet sich an Bauten von Kardinälen offenbar nicht: Hier konnten Inschriften in großer rhetorischer Geste – Hermes, Jupiter, et Minerva nostra servant limina nostra quisquis hospes intra – zum Eintreten einladen, und offenbar gelang es unter bestimmten Umständen auch dem Besitzer unbekannten Besuchern, eine Sammlung sehen, aber primär waren die Skulpturensammlungen und -gärten einer sozialen Elite vorbehalten.61 Für das Konzept, die Haltung des römischen Stadtadels zumal mit Inschriften am eigenen Haus kund zu tun, gab es Vorbilder, und zumindest in einem Fall ist dies bis heute nachvollziehbar. Es handelt sich um einen Bau, dessen genaue Entstehungsumstände vermutlich für das Quattrocento nicht weniger dunkel waren als für die Forschung heute, der aber in seiner durchaus als Programm zu bezeichnenden Ausstattung – zu der offenbar auch das Bildnis des Hausherren gehörte, möglicherweise eine wiederverwendete antike Büste – für eine Adaption überaus geeignet erschienen sein 59 Silvia Danesi Squarzina: Francesco Colonna, principe letterato e la sua cerchia. Storia dell’arte 60 (1987) S. 137–154, hier S. 142f.; Modigliani: Porcari (wie Anm. 12), S. 453–456, S. 459–462 und vgl. Anm. 26. – Dabei darf nicht übersehen werden, daß in der zeitgenössischen Diskussion darum, was wirklichen Adel denn ausmache, derartige Ansippungen auch zum Ziel des Spottes wurden, etwa aus der Feder Poggio Bracciolinos, vgl. ebd. S. 453, und im vorliegenden Kontext bes. Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 87–89. 60 Vgl. Tucci: Manlius (wie Anm. 4), S. 63. 61 Diese Inschrift ist für die Sammlung Deʼ Rossi belegt, vgl. Christian: Deʼ Rossi (wie Anm. 32), S. 196, der Anbringungsort ist unbekannt (was für die Frage, von wem diese Einladung überhaupt wahrgenommen werden konnte, natürlich entscheidend ist), darf aber im Zugang zum Garten vermutet werden, vgl. Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 362. Ebd. S. 195–204 Überlegungen zur Zugänglichkeit der Sammlungen.

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dürfte. Die ‚Casa dei Crescenzi‘, wenige hundert Meter von der ‚Casa Manlio‘ entfernt, kann nur vage in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert werden.62 Ihr Bauherr Nikolaus wurde im Umkreis der unter antik-republikanischen Vorzeichen wiedererstarkten kommunalen Selbstverwaltung vermutet.63 Aus den fünf in ihrer Lesung und Deutung problematischen Inschriften, die auf antiken Architekturornamenten angebracht sind und in Teilen Manifesten gleichen, seien hier nur einige relevante Passus erwähnt. „Daß er dies erbaute, dazu drängte ihn nicht eitler Ruhm, sondern der Wille, die frühere Schönheit Roms wiederherzustellen […] Das Haus ... errichtete Nikolaus von den Fundamenten an, um den Glanz seiner Vorfahren zu erneuern“; „Ich stehe da, den großen Römern/dem Volk zu Ehren. Ein Bildnis zeigt, wer mich als Erbauer vollendet haben wird.“ „Ihr, Quiriten, die ihr an dem hervorragenden Haus vorbeigeht, denkt bei diesem Haus daran, was für ein Mann der Nikolaus war“.64 Auch wenn sich Manlio, – möchte man ein entsprechendes historisches Bewußtsein überhaupt voraussetzen – als ‚homo novus‘ mit dem baronalen Geschlecht der Crescenzi kaum

62 Zu dem Haus und seinem Besitzer zuletzt Carmen Baggio Rösler: Das Bildnis des Nicolaus an der Casa dei Crescenzi in Rom. In: Opus Tessellatum. Modi und Grenzgänge der Kunstwissenschaft. Festschrift für Peter Cornelius Claussen. Hgg. von Katharina Corsepius u. a. Hildesheim u. a. 2004, S. 127–138; Patrizio Pensabene: La Casa dei Crescenzi e il reimpiego nelle case del XII e XIII secolo a Roma. In: Arnolfo di Cambio e la sua epoca. Hg. von Vittorio Franchetti Pardo. Rom 2007, S. 65– 76; Stefano Riccioni: Rewriting Antiquity, Renewing Rome: the Identity of the Eternal City through Visual Art, Monumental Inscriptions and the „mirabilia“. In: Rome Re-imagined. Twelfth-century Jews, Christians and Muslims encounter the Eternal City. Hg. von Louis I. Hamilton. Leiden 2011, S. 439–463, hier S. 457–461; Alessandra Guiglia Guidobaldi: Un contributo alla conoscenza delle botteghe di marmorari nella Roma medievale: i frammenti di archetto marmoreo con iscrizione dell’area della Basilica Emilia nel Foro Romano. In: Forme e storia scritti di arte medievale e moderna per Francesco Gandolfo. Hgg. von Walter Angelelli und Francesca Pomarici. Rom 2011, S. 269–290; zu den Spolien Marcello Barbanera und Stefania Pergola: Elementi architettonici antichi e post-antichi riutilizzati nella c.d. Casa dei Crescenzi. La „memoria dell’antico“ nell’edilizia civile a Roma. Bullettino della commissione archeologica comunale di Roma 98 (1997) S.  301–328. Vgl. für den aktuellen Zustand Cinzia Croce: La Casa dei Crescenzi: il restauro di un edificio medioevale. Monumenti di Roma 5 (2007) S. 7–24. Für weitere Häuser mit Spoliengebrauch in Rom siehe den zitierten Aufsatz von Pensabene sowie Christian: Empire (wie Anm. 2), S. 65f. 63 Vgl. für den historischen Kontext Ingrid Baumgärtner: Rombeherrschung und Romerneuerung. Die römische Kommune im 12. Jahrhundert. QFIAB 69 (1989) S. 27–79. 64 […] VERUM Q(UO)D FECIT HANC NON TAM VANA COEGIT GL(ORI)A QUAM ROME VETEREM RENOVARE DECOREM ǀ […] SURGIT IN ASTRA DOM(US) SUBLIMIS CULMINA CUIUS PRIM(US) DE PRIMIS MAGNUS NICHO(LA)US AB IMIS ǀ EREXIT PATRU(M) DEC(US) OB RENOVARE SUORU(M) […] (Hauptinschrift, angebracht auf der Unterseite eines antiken Gesimses, das als Türsturz dient); ADSU(M) ROMANIS GRANDIS HONOR POPULIS ǀ INDICAT EFFIGIES Q(UIS) ME P(ER)FECERIT AUTOR (Inschrift auf dem Bogen über dem Fenster der Eingangsseite); VOS QUI TRANSITIS SECUS OPTIMA TEXTA QUIRITIS HAC PENSATE DOMO Q(UI)S NICOLAUS HOMO (Inschrift auf dem Bogen über dem Nebeneingang). Zitiert nach Vincenzo Forcella: Iscrizioni delle chiese e d’altri edificii di Roma dal secolo XI fino ai giorni nostri. Band 13. Rom 1879, S. 535–538, für geringfügige Korrekturen vgl. Riccioni: Rewriting Antiquity (wie Anm. 62), S. 459f.



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identifiziert haben dürfte, bleibt festzuhalten, daß sich der demonstrative Ton seiner Inschriften bereits an dem über dreihundert Jahre älteren Haus findet. Von Teilen der älteren Forschung, die die Rezeption spezifisch der römischen Republik besonders hervorhob, wurde die Abgrenzung der neuen Adelsfamilien zur Kurie stark betont. Dies schlug sich auch in der Deutung ihrer Häuser nieder, wenn etwa als Urheber des Programms der ‚Casa Porcari‘ der gegen die päpstliche Vorherrschaft rebellierende Stefano Porcari gesehen (dessen Antikenbesitz, über den nur spärliche Notizen vorliegen, offenbar eher in die Richtung einer Sammlung kleinformatiger Kostbarkeiten wies65) und auch die ‚Casa Manlio‘ als antipäpstliches Statement gelesen wurde.66 Tatsächlich hatten sich spätestens unter Sixtus IV. Großteile des römischen Adels mit dem Verlust der Kommune an politischer Macht arrangiert. So auch die hier angeführten Protagonisten: Die Procuratur des Manlio für die Franziskaner auf dem Kapitol war ein durch die Kurie eingerichtetes Amt; die Erben des Francesco Porcari sprechen auf seinem Grabstein von 1482 ihre Dank aus erga sedem apostolicam et populum romanum.67 Eine politische, antipäpstliche Haltung, ausgedrückt in privaten Fassadenprogrammen, ist hier nicht zu erwarten. Diese sind eher als Versuche der Selbstvergewisserung zu lesen, einer Selbstpositionierung, nicht gegen das Papsttum, sondern gegen die Tendenz, daß zunehmend kuriale und städtische Ämter mit Nicht-Römern besetzt wurden, die rasch die finanzkräftigste Schicht Roms bildeten. Giuliano della Rovere aus Savona ist hier als Nepot ein gutes Beispiel. Diese Entwicklung wirkte sich konkret auch auf den Antikenmarkt aus, denn weder die Kommune noch der niedere Adel konnten mit derart potenten Kaufinteressenten mithalten, hatten diese einmal ein Auge auf ein neugefundenes Stück geworfen. Es konstituierte sich auch in der Form der Antikenaneignung ein spezifisch römischer Patriotismus, der die cives Romani als wahre Erben der Antike sah und mehr nostalgisch denn politisch erscheint.68

65 Als in seinem Besitz werden eine (Klein?)Bronze sowie ein Ring mit einer Porträtgemme Kaiser Hadrians erwähnt, siehe Modigliani: Porcari (wie Anm. 12), S. 465f., Anm, 69; Minasi: Passione (wie Anm. 2), S. 89f. 66 In diese Richtung gingen Miglio: Roma dopo Avignone (wie Anm. 23), S. 104f; Magister: Censimento (wie Anm. 4), S. 170. 67 Modigliani: Porcari (wie Anm. 12), S. 448. 68 Christian: Empire (wie Anm. 2), u. a. S. 76–78. Dahingehend ist auch der Umstand zu bewerten, daß Manlius seinen Sohn ‚Romulus‘ taufen ließ, Tucci: Manlius (wie Anm. 4), S. 219 (s. a. das Register). Zum „mito municipale della romanitas“ Michele Franceschini: Le magistrature capitoline tra Quattro e Cinquecento. Il tema della romanitas nell’ideologia e nelle committenza municipale. Bollettino dei Musei comunali di Roma 1989, S. 65–73 (Zitat S. 66); zu den historischen Voraussetzungen bes. Arnold Esch: Dalla Roma comunale alla Roma papale. La fine del libero comune. Archivio della Società Romana di Storia Patria 130 (2007) S. 1–16; siehe auch die in Anm. 23 angegebene Literatur.

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IV Venedig Dieses Ergebnis mag selbstverständlich und derartige Antikenrezeptionen am Übergang zur Frühen Neuzeit in den italienischen Städten ganz vorhersehbar erscheinen. Um diesem Eindruck entgegenzutreten, soll abschließend ein Seitenblick auf Venedig geworfen werden. Hier wurden im Rahmen einer historisch, politisch und sozial gänzlich anders konstituierten Gesellschaft antike Artefakte auf anderen Wegen Vergangenheitskonstruktionen eingeschrieben, die die Stellung der Stadt selbst im Gefüge der Seemächte manifestieren und bekräftigen sollten. In Venedig, der einzigen großen Stadt Italiens ohne eigene antike Vergangenheit und Monumente, agierten im 15. Jahrhundert einige antiquarisch gebildete Sammler, meist Angehörige des Patriziats. Die kleinen Sammlungen umfaßten vor allem Münzen, Steinschnitte und andere kleinformatige Pretiosen sowie Inschriften, daneben Statuen, die – auch dies ist exzeptionell – vor allem aus den griechischen Kolonien in die Stadt gelangten.69 Mit Ausnahme einer Sammlung, die zwei Inschriften mit zum Besitzer passenden antiken Namen enthielt,70 wurden offenbar in keiner von ihnen die Antiken, und zumal nicht die antiken Skulpturen, zugunsten fiktiver Genealogien instrumentalisiert oder als Deutungshorizont aktualisiert. In das Zentrum der Aufmerksamkeit, zumindest jener der zeitgenössischen Historiographie, rückte vielmehr – und auf den ersten Blick unvermittelt – die Ansamm69 Unter den Sammlungen sind die von Girolamo Donato, Francesco Contarini und Pietro Contarini zu nennen, die freilich nie den Umfang und die Qualität der römischen Sammlung des Venezianers und späteren Papstes Pietro Barbo erreichten. Eine differenziertere Darlegung auch der Sammlungskulturen auf der Terraferma und auf den griechischen Inseln selbst kann an dieser Stelle nicht unternommen werden. Grundlegend zu den in Venedig entwickelten und wirksamen Antikenkonzepten und Formen der Aneignung ist Patricia Fortini Brown: Venice & Antiquity. The Venetian Sense of the Past. New Haven/London 1996. Zu den Antikensammlungen des 15. Jahrhunderts siehe hier besonders S. 80f.; S. 245–251; dazu: Collezioni di antichità a Venezia nei secoli della Repubblica (dai libri e documenti della Biblioteca Marciana). Ausstellungskatalog. Hg. von Marino Zorzi. Rom 1988, S.  15–24; Irene Favaretto: Arte antica e cultura antiquaria nelle collezioni venete al tempo della Serenissima. Rom 1990, S. 43–62; Claudio Franzoni: Girolamo Donato: Collezionismo e instauratio dell’antico. In: Congresso Internazionale Venezia e l’Archeologia; un importante capitolo nella storia del gusto dell’antico nella cultura artistica veneziana. Hg. von Gustavo Traversari. Rom 1990, S. 27– 31; Krzysztof Pomian: Des saintes reliques à l’art moderne: Venise – Chicago XIIIe – XXe siècle. Paris 2003, S. 36–64; Irene Favaretto: „La memoria delle cose antiche... “: il gusto per l’antico e il collezionismo di antichità a Venezia dal XIV al XVI secolo. In: ll collezionismo d’arte a Venezia. Dalle origini al Cinquecento. Hgg. von Michel Hochmann u. a. Venedig 2008, S. 83–95; Giulio Bodon: Per lo studio delle antichità greche nel collezionismo veneto: alcune riflessioni. In: Ders.: Veneranda Antiquitas. Bern u. a., S. 153–179; vgl. für Überlegungen zu einer Gemmensammlung der Grimani bereits im 15. Jahrhundert Edith Lemburg-Ruppelt: Zur Entstehungsgeschichte der Cameen-Sammlung Grimani: Gemeinsamkeiten mit dem Tesoro Lorenzos de’ Medici. Rivista di archeologia 26 (2002) S. 86–114. 70 Zwei antike Inschriften, die Girolamo Donato in seinem Palast in Venedig bewahrte, erwähnen Personen mit dem Cognomen ‚Donatus‘ vgl. Brown: Venice (wie Anm. 69), S. 245; Franzoni: Donato (wie Anm. 69), S. 28f.



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lung unterschiedlichster antiker beziehungsweise spätantiker Werke, die wohl seit dem 13. Jahrhundert an und bei San Marco aufgestellt waren: Die vier monumentalen Bronzepferde, dazu die Gruppe der Tetrarchen aus Porphyr, der ursprünglich zu derselben Porphyrsäule gehörige, als ‚Pietra del bando‘ bekannte Säulenstumpf, und die sogenannten ‚Pilastri acritani‘ (Abb. 10).71 Zu diesen Stücken schweigen die venezianischen Autoren des 13. und 14. Jahrhunderts. Die beiden Marmorpfeiler und die ‚Pietra del Bando‘ erscheinen offenbar erstmals im 15. Jahrhundert in den Chroniken der Serenissima und von nun an häufig. Dabei überwiegt bei den Historiographen die Meinung, daß sie aus dem Kreuzfahrerposten Akkon stammten und als Trophäen nach Venedig gelangt seien, als die Venezianer 1257 dort die Genuesen bei Grenzstreitigkeiten besiegt hatten.72 Die Vorstellung einer Herkunft aus Akkon hielt sich in der Forschung bis in das 20. Jahrhundert hinein, bis in den 1960er Jahren im Komplex des Myrelaion in Istanbul ein Fuß aus Porphyr gefunden wurde, der an die Tetrarchen paßt, und Grabungen in der Kirche des Haghios Polyeuktos ergaben, daß die ‚Pilastri‘ von dort stammen.73 Nachdem die durchaus detaillierten älteren Chroniken diese Monumente nicht eines Wortes würdigen, konnten sie im 15. Jahrhundert aus dem Bedürfnis heraus aktualisiert werden, in Venedig sichtbare Zeichen der Siege über die Erzrivalin Genua zu besitzen.74 Ihre tatsächliche Herkunft war zu diesem Zeitpunkt offenbar weder 71 Zu Herkunft und Kontext der Pfeiler Martin Harrison: Ein Tempel für Byzanz. Stuttgart/Zürich 1990; Laura Pasquini Vecchi: La Scultura di S. Polieucto: episodio aliente nel quadro delle cultura artistica di Costantinopoli. Bizantinistica 1 (1999) S. 109–144; zu den Tetrarchen Arne Effenberger: Die Tetrarchengruppe in Venedig. Zu den Problemen ihrer Datierung und Bestimmung. In: L’enigma dei Tetrarchi. Hgg. von Irene Favaretto und Maria Da Villa Urbani. Venedig 2013, S. 49–96; zu den Pferden Licia Vlad Borrelli: Ipotesi di datazione per i cavalli di San Marco, in: Storia dell‘arte marciana. Atti del Convegno internazionale di studi. Hg. von Renato Polacco. Band 3 sculture, tesoro, arazzi. Venedig 1997, S. 34–49. 72 Thomas Weigel: Spolien und Buntmarmor im Urteil mittelalterlicher Autoren. In: Antike Spolien in der Architektur des Mittelalters und der Renaissance. Hg. von Joachim Poeschke. München 1996, S. 117–153, hier S. 150, Anm. 108; Robert S. Nelson: The History of Legends and the Legends of History: the Pilastri Acritani in Venice. In: San Marco, Byzantium, and the Myths of Venice. Hgg. von Henry Maguire und Robert S. Nelson. Washington 2010, S. 63–90; eine wichtige Ergänzung Guido Tigler: I pilastri „acritani“. Genesi dell’equivoco. In: Florilegium artium. Scritti in memoria di Renato Polacco. Hg. von Giordana Trovabene. Padua 2006, S.  161–172. Den offenbar erstmals im 16. Jahrhundert erwähnten Tetrarchen wird ebenfalls eine Herkunft aus Akkon zugeschrieben (erstmals durch Francesco Sansovino: Venetia città nobilissima e singolare. Descritta in XIIII Libri. Venedig 1581, S. 119r.), hier variieren die Ausdeutungen und Herkunftsprojektionen jedoch stärker vgl. Carlo Campana: I Tetrarchi: documentazione storica e storie a Venezia, in: L’enigma dei Tetrarchi (wie Anm. 71). 73 Rudolf Naumann: Der antike Rundbau beim Myrelaion und der Palast Romanos I. Lekapenos. Istanbuler Mitteilungen 16 (1966) S. 199–216, hier S. 209f.; vgl. Anm. 71 für die Pfeiler. 74 Aus der umfangreichen Literatur sind zu nennen: Marilyn Perry: Saint Mark‘s Trophies: Legend, Superstition and Archeology in Renaissance Venice. Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 40 (1977) S. 27–49; Michael Vickers: Wandering Stones: Venice, Constantinople, and Athens. In: The Verbal and the Visual. Essays in Honor of William Sebastian Heckscher. Hgg. von Karl-Ludwig Selig

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Abb. 10: Ansicht der Südfassade von San Marco, Venedig, Aufnahme des späten 19. Jh.s (Photo: Patricia Fortini Brown: Venice & Antiquity. The Venetian Sense of the Past. New Haven/London 1996, S. 20, Abb. 20)

spektakulär noch für die Gegenwart fruchtbar zu machen und geriet wohl nicht zuletzt deshalb in Vergessenheit.75 Augenscheinlich ‚alt‘, semantisch ‚neutral‘, das heißt nicht eindeutig auf bestimmte Kontexte oder Deutungen festgelegt, und im und Elisabeth Sears. New York 1990, S. 225–247; Weigel: Spolien (wie Anm. 72), S. 150f., Anm. 108; Marina Belozerskaya und Kenneth Lapatin: Antiquity Consumed: Transformations at San Marco, Venice. In: Antiquity and its Interpreters. Hgg. von Alina Payne u. a. Cambridge 2000, S. 83–95. Nelson: History (wie Anm. 72); Jasmine R. Cloud: A shifting sense of the past: changing interpretations of the Byzantine ‚Spolia‘ at the basilica of San Marco. In: Reflections on Renaissance Venice. Hgg. von Blake de Maria und Mary E. Frank. Mailand 2013, S. 62-73; zum Kontext der Auseinandersetzungen mit Genua und den wechselseitigen Versuchen, Objekte zu rauben und als Trophäen zu propagieren, Rebecca Müller: Sic hostes Ianua frangit: Spolien und Trophäen im mittelalterlichen Genua. Weimar 2002, bes. S. 55f., S. 59f., S. 72–76. 75 Zur Motivation im 13. Jahrhundert kann hier nur verwiesen werden auf: Hans-Rudolf Meier: Vom Siegeszeichen zum Lüftungsschacht. Spolien als Erinnerungsträger in der Architektur. In: Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Hgg. von Ders. und Marion Wohlleben. Zürich 2000, S. 87–98; Robert S. Nelson: High Justice: Venice, San Marco, and the Spoils of 1204. In: Byzantine Art in the Aftermath of the Fourth Crusade. The Fourth Crusade and its Consequences. Hg. von Panagiōtēs L. Bokotopulos. Athen 2007, S. 143–151, sowie die Beiträge des Sammelbandes: San Marco, Byzantium, and the Myths of Venice. Hgg. von Henry Maguire und Robert S. Nelson. Washington 2010. Vgl. für



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politischen Zentrum der Stadt platziert, wo sie jedermann, auch prominenten Besuchern der Serenissima direkt ins Auge fallen mußten, boten sich diese Antiken als Projektionsfläche an, auch für ideologische Indienstnahmen. Daß dabei durchaus eine – heute in ihrer Motivation nicht mehr nachvollziehbare, in auf eine eindeutige programmatische Ausdeutung abzielenden Beiträgen oft übersehene – Auswahl stattfand, wird daran deutlich, daß als Herkunftsort der monumentalen Säulen der Piazzetta zur gleichen Zeit überwiegend Konstantinopel angegeben wurde.76 Auch die bronzenen Pferde wurden zu Objekten der Deutung. In einer Paduaner Chronik des späten 14. Jahrhunderts wird erstmals eine Bewertung als städtisches Symbol deutlich: erst müßten seinen Pferden Zügel angelegt werden, bevor über einen Frieden mit Venedig verhandelt werden könnte.77 Im späten 15. Jahrhundert wird ihre Herkunft aus Konstantinopel zwar nicht verneint, aber um entscheidende Punkte bereichert: Sie seien, so der Chronist Marin Sanudo, in Rom aufgestellt gewesen, und zunächst durch Konstantin nach Konstantinopel gebracht worden.78 Die dem ‚Mythos Venedig‘ inhärente vielschichtige Bezugnahme auf Rom und Byzanz wurde damit auch auf die Quadriga übertragen.79 Die ältere venezianische

den Kontext des Spolienhandels Wladimiro Dorigo: „Spolia“ marmorei d’oltremare a Venezia (secoli XI–XIV). Saggi e memorie di storia dell’arte 28 (2004) S. 1–13. 76 Guido Tigler: Intorno alle colonne di Piazza San Marco. Atti dell’Istituto veneto di Scienze, Lettere ed Arti 158 (1999/2000) S. 1–46, bes. S. 32f. 77 Zur Rezeption der Tiergruppe siehe besonders Perry: Trophies (wie Anm. 74), S.  27–39; Licia Vlad Borrelli und Anna Guidi Toniato: Fonti e documentazioni sui cavalli di S. Marco. In: I cavalli di S.Marco. Ausstellungskatalog Venedig 1977, S. 137–148; Michael Jacoff: The Horses of San Marco and the Quadriga of the Lord. Princeton 1993; Giulio Bodon: Immagini e proiezioni immaginifiche dei cavalli di San Marco nell’arte e nella cultura della Rinascenza: Alcuni spunti di riflessione. Eidola 2 (2005) S.  179–209; zur ‚Zügelung‘ als Machtdemonstration gegenüber den Venezianern Galeazzo und Bartolomeo Gatari: Cronaca Carrarese. Hgg. von Giosuè Carducci u. a. Città di Castello 1931 (RIS2 17,1), S. 179; vgl. Jacoff: The Horses (wie Anm . 77), S. 74; Müller: Spolien (wie Anm. 74), S. 60. 78 Marin Sanudo: Vitae Ducum Venetorum italice scriptae ab origine urbis, sive ab anno CCCCXXI usque ad annum MCCCCXCIII. Hg. von Ludovico Antonio Muratori. Mailand 1733 (RIS 22), S. 534; Eine Herkunft aus Rom, aus dem Tempel des Janus, postulierte bereits Cyriakus von Ancona, vgl. Perry: Trophies (wie Anm. 74), S. 33, ebenda S. 33–37 zu späteren Erwähnungen und konkurrierenden Konstruktionen, etwa der ambivalenten Haltung Sansovinos sowie Bodon: Cavalli (wie Anm. 77), S. 196–199. 79 Zu den unter dem Terminus eines ‚Mythos Venedig‘ subsumierten Geschichtskonstruktionen kann an dieser Stelle nur verwiesen werden auf Edward Muir: Images of Power: Art and Pageantry in Renaissance Venice. American Historical Review 84 (1979) S.  16–52; Barbara Marx: Venedig – ‚Altera Roma‘. Transformationen eines Mythos. QFIAB 60 (1980) S. 325–373; James S. Grubb: When Myths Lose Power: Four Decades of Venetian Historiography. Journal of Modern History 58 (1986) S. 43–94; André Jean-Marc Loechel: Le mythe de Venise et l’antiquité. In: Venezia, l’Archeologia e l’Europa. Hg. von Manuela Fano Santi. Rom 1996, S. 107–112; David Perry: Sacred Plunder. Venice and the Aftermath of the Fourth Crusade. University Park 2015; sowie, primär anhand der visuellen Evidenz, Debra Pincus: Venice and the Two Romes: Byzantium and Rome as a Double Heritage in Venetian Cultural Politics. Artibus et historiae 13 (1992) S. 101–114.

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Geschichtsschreibung propagierte eine Besiedlung der Lagune durch Trojaner, und zwar vor der Gründung Roms. Noch in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts waren, wie Barbara Marx herausgearbeitet hat, Angleichungen Venedigs an Rom als Paradigma offensichtlich problematisch, da zentrale Komponenten venezianischen Selbstverständnisses, ‚Unabhängigkeit‘ und ‚Freiheit‘, sich nur schlecht damit verbinden ließen. Im Zuge der Expansion auf der Terra ferma waren ungewollte Konnotationen zu befürchten. Jenseits humanistischer Gelegenheitsdichtung wurde das Modell von Venedig als Zweitem Rom erst im späten 15. Jahrhundert in der patrizischen Chronistik ausgearbeitet, und zwar aus dem Bedürfnis der Aristokratie heraus, die eigenen Wurzeln zu heroisieren, indem sie sich etwa auf ausgewanderte römische Adelsgeschlechter berief.80 Die mit der Stadt identifizierten Pferde konnten mittels ihrer – neuen –Vergangenheit ein Moment der Selbstvergewisserung bilden. Der Bezug auf den ersten christlichen Kaiser machte Venedig nicht nur zu einem ‚Zweiten Rom‘, sondern zu einem besseren, christlichen Rom. Inwieweit kann hier tatsächlich von den Konzepten einer Gruppe gesprochen werden und wie repräsentativ waren diese Entwürfe? Nur auf ein Charakteristikum venezianischer Geschichtsschreibung sei hier hingewiesen, die in hunderten erhaltener Chroniken die Geschichte der Stadt immer wieder aktualisierte. Barbara Marx spricht von einem „Traditionsstrang […], in dem die einander ablösenden Generationen von Patrizier-Chronisten die Identität ihrer Stadt und ihrer Klasse stets aufs neue fixieren“.81 Es hieße, den ‚Mythos Venedig‘ fortzuschreiben, wollte man eine widerspruchsfreie, stabile Identität ‚der Stadt‘ postulieren, aber das Patriziat hatte klar das Instrumentarium der Deutungsmacht in Händen, die die Vergangenheitskonstruktionen der Republik Venedig bestimmte. Antike Artefakte, so läßt sich zusammenfassen, wurden in Italien am Übergang zur Frühen Neuzeit mit differenzierten visuellen und literarischen Strategien und von unterschiedlichen Gruppen vereinnahmt. Sie konnten die Funktion übernehmen, kollektive Selbstbilder zu prägen, zu manifestieren und präsent zu halten, Selbstbilder, für die Vergangenheitskonstruktionen in Bezug auf eine ideologisch ausdeutbare Antike grundlegend waren. Im Rom des Quattrocento konnte dabei die Koexistenz wenn nicht konkurrierender, so doch zumindest unterschiedlicher Deutungshorizonte auf engstem Raum, ja innerhalb einer Sammlung, konstatiert werden, die zudem das Postulat einer zeitlich linearen Entwicklung obsolet erscheinen läßt.82 An 80 Marx: Venedig (wie Anm. 79), besonders S. 365–369. 81 Marx: Venedig (wie Anm. 79), S. 326. Siehe zum Patriziat besonders Dennis Romano: Patricians and popolani. The Social Foundations of the Venetian Renaissance State. Baltimore u. a. 1987; James S. Grubb: Elite Citizens. In: Venice Reconsidered. The History and Civilization of an Italian City-State, 1297–1797. Hgg. von John Martin und Dennis Romano. Baltimore/London 2000, S. 339–364. 82 Dies hebt Christian: Empire (wie Anm. 2) hervor.



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Venedig ließ sich zeigen, daß nicht unbedingt neue Funde und noch nicht einmal eine neue Präsentation notwendig waren, sondern daß auch Antiken, die seit Jahrhunderten vor den Augen aller standen, aus gegenwärtigen Bedürfnissen heraus aktualisiert werden konnten.

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Die Dichtergruppe der Pléiade zwischen Mythos und Wirklichkeit „Le phénomène [d’école] n’existe pas au XVIe siècle.“1 Diese lapidare Feststellung Marie-Madeleine Fontaines spiegelt den Konsens der aktuellen französischen Renaissanceforschung wider, die sich vom Konzept der ,École des Rhétoriqueurs‘, der ,École marotique‘, der ,École lyonnaise‘ und der berühmten ,École de la Pléiade‘ verabschiedet hat. Inzwischen gehen die ,Seiziémistes‘ davon aus, dass die sogenannten ,Schulen‘ des 16. Jahrhunderts nur Generationen von Dichtern bezeichnen, die allenfalls einige vergleichbare epochale und lokale Züge miteinander teilen.2 Es ist interessant, unter diesem Gesichtspunkt einmal die betreffenden Einträge im einschlägigen Literaturlexikon von Georges Grente aus dem Jahr 1951 mit denselben Lemmata in der überarbeiteten Ausgabe von 2001 zu vergleichen.3 Spricht Pierre Jourda um die Mitte des 20. Jahrhunderts in Bezug auf Clément Marot und seine Anhänger noch von „une véritable école“ und ihren „tendances“ und „préceptes“, so findet sich 50 Jahre später bei Gérard Defaux keinerlei Erwähnung mehr von Marots Nachfolgern, geschweige denn von einer ,École marotique‘.4 In seinem Artikel über die Pléiade führt Émmanuel Buron ein wörtliches Zitat aus dem Eintrag seines Vorgängers Henri Chamard an, um sich gegen ihn abzusetzen. Henri Chamards bereits sehr zurückhaltende Formulierung: „nom que la critique moderne [...] donne souvent à l’école de poètes qui [...] se sont réclamés de Ronsard, adoptant ses principes et suivant ses exemples“, revidiert Buron mit den radikalen Worten: „Pléiade. Terme équivoque, et qu’il serait utile d’abandonner […]“.5 In Bezug auf die ,Rhétoriqueurs‘ war die Sachlage im Grunde schon in der ersten Ausgabe des Lexikons geklärt. V.-L. Saulniers skeptischem Urteil: „On a pris l’habitude […] de parler d’une École des Rhétoriqueurs […]. Cette formule admise n’est en vérité ni parfaitement claire, ni vraiment légitime […]“ hat François Rigolot in der Edition von 2001 nicht viel Neues mehr hinzuzusetzen, wenn er feststellt: „Il serait illusoire de porter un jugement d’ensemble sur les rhétoriqueurs comme s’il s’agissait d’un corps collectif homogène.“6 Ähnliches gilt für die ,École 1 Dictionnaire des littératures de langue française. Hgg. von J.-P. Beaumarchais u. a., 3 Bände. Paris 1984, s. v. ,Pléiade‘. 2 Vgl. hierzu Claude-Gilbert Dubois: La poésie du XVIe siècle en toutes lettres. Paris 1989, S. 99: „Il n’y a [...] pas une succession d’«écoles» (ce terme est même impensable dans son usage littéraire actuel), mais une éclosion d’œuvres où la logique imitative et réactive, procédant par enchaînement et rejets, sert de guide plus sûr que la logique des dates.“ 3 Dictionnaire des lettres françaises: Le XVIe siècle. Hg. von Georges Grente. Paris 1951. – Neue, überarbeitete Ausgabe hg. von Michel Simonin. Paris 2001. 4 Vgl. Dictionnaire des lettres françaises. 1951 und 2001 (wie Anm. 3), s. v. ,Marot (Clément)‘. 5 Vgl. Dictionnaire des lettres françaises. 1951 und 2001 (wie Anm. 3), s. v. ,Pléiade‘. 6 Vgl. Dictionnaire des lettres françaises. 1951 und 2001 (wie Anm. 3), s. v. ,Rhétoriqueurs‘. DOI 10.1515/9783110578805-005



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lyonnaise‘.7 Wenn einige didaktisch ausgerichtete Literaturgeschichten den Schubladenbegriff ,Schule‘ der besseren Übersicht halber trotzdem bis heute beibehalten, so geschieht dies nicht, ohne das vereinfachende Etikett zu hinterfragen.8 Am ehesten trifft die Vorstellung einer literarischen Schule auf die Pléiade zu, die ihren Ursprung im parauniversitären Pariser Milieu, im Collège de Coqueret, hatte und dort von der charismatischen Figur eines humanistischen Lehrers, dem Gräzisten und Latinisten Jean Dorat, entscheidend geprägt wurde. Es scheint, dass man hier zumindest für die frühen Jahre von einer gemeinsamen Doktrin ausgehen kann. Wie die Pléiade aber genau strukturiert war, ist durch keinerlei historische Dokumente belegt. Unser Wissen über die Pléiade gründet sich fast ausschließlich auf literarische Texte, vor allem auf die Oden, Hymnen und Elegien, in denen Pierre de Ronsard, der als ihr Anführer gilt, von sich und seinen Dichtergefährten spricht. Natürlich ist diese Selbstdarstellung eine poetisch überhöhte Inszenierung. So ist uns im Grunde nur der Mythos der Pléiade überliefert. Wir können ihn interpretieren und versuchen zu ermitteln, was die literarische Fiktion an Realität beinhaltet bzw. was sie vor uns verbirgt. Zumindest aber kann uns ein solcher Mythos Auskunft über das Selbstbild geben, das dieser Dichter von sich und seinesgleichen entwirft. Es gibt im Werk von Ronsard eine Reihe von ,Gründertexten‘, die immer wieder aufgerufen werden, wenn es darum geht, die Pléiade zu definieren. Dies sind in chronologischer Reihenfolge das lange Gedicht «Les Bacchanales ou le folastrissime voyage d’Hercueil pres Paris»9 am Ende des «Cinquiesme Livre des Odes» von 1552, die «Dithyrambes à la pompe du bouc de Jodelle» aus dem «Livret de folastries»,10 die Ode «Les Isles Fortunées» aus dem Anhang zu den «Amours» von 155311 und die

7 Verdun Louis Saulnier hatte in seinen Einträgen zu Maurice Scève und Pernette du Guillet schon sehr vorsichtig von einer „Renaissance lyonnaise“ und von „la grande triade lyonnaise“ gesprochen. Sein Nachfolger spricht noch neutraler von „les poètes lyonnais“. Vgl. Dictionnaire des lettres françaises. 1951 und 2001 (wie Anm. 3), s. v. ,Maurice Scève‘ und s. v. ,Pernette du Guillet‘. Auch Josiane Rieu entscheidet sich für den Begriff ‚Renaissance lyonnaise‘ in: Littérature française du XVIe siècle. Hgg. von Frank Lestringant u. a. Paris 2000, S. 155. 8 Vgl. Frank-Rutger Hausmann: Französische Renaissance. Stuttgart 1997 (Lehrbuch Romanistik), S. 66; David Nelting: Clément Marot und die Rhétoriqueurs. In: Renaissance. Hg. von Joachim Leeker. Tübingen 2003 (Stauffenburg Interpretation: Französische Literatur), S.  25–45, hier S.  26; Heidi Marek: Die Lyrik der Pléiade. In: Ebd., S. 73–111, hier S. 74. 9 Ronsard: Œuvres complètes. Band 3. Hg. von Paul Laumonier. Paris 1968, S.  184–217. Der Text erscheint in der gekürzten und bearbeiteten Version der Werkausgabe von 1584 in: Œuvres complètes. 2 Bände. Hgg. von Jean Céard u. a. Paris 1993–1994 (Bibliothèque de la Pléiade), Band 2, S. 823–835. Ich zitiere den Text in seiner ersten Fassung von 1552 nach Laumonier. 10 Ronsard: Œuvres complètes. Band 1. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 560–569. Auch in: Ronsard: Œuvres complètes. Band 5. Hg. von Paul Laumonier. Paris 1928, S. 53–76. 11 Ronsard: Œuvres complètes. Band 5. Hg. von Laumonier (wie Anm. 10), S.  175–191. 1584 erscheint das Gedicht im «Second Livre des Poëmes» in gekürzter und veränderter Form. Vgl. Ronsard: Œuvres complètes. Band 2. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 780–785. Ich zitiere nach Laumonier.

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«Élégie à Jean de la Péruse» aus dem «Cinquiesme livre des Odes»12 von 1553, fernerhin die Hymne an Heinrich II., «Hymne du treschrestien Roy de France Henry II. de ce nom»,13 die die Hymnensammlung von 1555 einleitet, und die «Élégie de Pierre de Ronsard à Christophle de Choiseul», die den «Second livre des Hymnes» von 1556 beschließt.14 Ronsard gelingt es, in diesen Texten ein Bild von sich selbst als dem ,chef de file‘ einer Dichtergruppe zu konstruieren, das so überzeugend wirkt, dass es von der Literaturgeschichte bis in unsere Gegenwart hinein weitergetragen wurde. Ich möchte im Folgenden alle sechs Texte einer kritischen Untersuchung unterziehen und dabei den Blick auf die systematischen Strategien lenken, die Ronsard ins Werk setzt, um sich mit Hilfe der ihn umgebenden Freunde als ,prince des poètes‘ unsterblichen literarischen Ruhm zu sichern.

1 Aufbruch in literarisches Neuland: «Les Bacchanales ou le folastrissime voyage d’Hercueil pres Paris, dedié à la joyeuse trouppe de ses compaignons. Fait l’an 1549» (1552) Das Gedicht mit dem doppelten Titel «Bacchanales» und «Le folastrissime voyage d’Hercueil» gibt sich als ein frühes Jugendwerk aus. Geschildert wird ein Festtag im akademischen Leben am Collège de Coqueret. Ronsard und seine Mitstudenten unternehmen zusammen mit ihrem Lehrer Dorat einen Ausflug zum römischen Aquädukt in Arcueil im Süden von Paris, der damals noch idyllisch im grünen Tal der Bièvre lag. Die jungen Männer stehen früh auf und wandern bei Sonnenaufgang die Montagne Sainte Geneviève hinunter. Dabei musizieren, singen und trinken sie, tollen mit dem Esel herum, der ihre Esskörbe und Weinflaschen trägt (91–114), gehen auf Schmetterlingsjagd (301–378), baden im Fluss (405–441) und veranstalten am Ziel ihres Wegs ein üppiges Gelage im Freien (487ff.). Die Betonung liegt auf dem Gruppenerlebnis, das durch die gemeinsamen Lieder und den intensiven Weinkonsum ins Ekstatische gesteigert wird. Schon der Zusatz im Titel: «dedié à la joyeuse trouppe de ses com12 Ronsard: Œuvres complètes Band 5. Hg. von Laumonier (wie Anm. 10), S.  259–265. Ronsard versetzt das Gedicht später in «Le premier Livre des Poëmes». Vgl. Ronsard: Œuvres complètes. Band 2. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 681–684. Ich beziehe mich auf diese Ausgabe. 13 Ronsard: Œuvres complètes. Band 8. Hg. von Paul Laumonier. Paris 1984, S. 5–46. Die Fassung in der Werkausgabe von 1584 ist sehr stark gekürzt und enthält die für uns relevante Passage nicht. Vgl. Ronsard: Œuvres complètes. Band 2. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 459–471. 14 Ronsard: Œuvres complètes. Band 8. Hg. von Laumonier (wie Anm. 13), S.  351–358. Ab 1560 bringt Ronsard sie in seinem «Livre des Poëmes» unter. Vgl. Ronsard: Œuvres complètes. Band 2. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 801–804. Da die spätere Fassung gekürzt ist, beziehe ich mich auch hier auf den frühen Text in der Laumonier-Ausgabe.



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paignons» weist die Ode als Geschenk und Huldigung an einen Freundeskreis aus, der sofort im ersten Vers mit der Apostrophe Amis angesprochen15 und im Laufe des Textes als la brigade (19 und 446) oder auch als göttliche, gelehrte, geliebte und fröhliche Schar, trouppeau divin (33), sçavante troppe (37), troppe chere (133) oder trouppe gaillarde (439), aufgerufen wird. Die geschilderte Lebensfreude und das starke Zusammengehörigkeitsgefühl nähren sich aber nicht nur vordergründig durch die gemeinsam unternommene Wanderung und das anschließende Trinkgelage in freier Natur. Sie werden vor allem gespeist durch einen tief empfundenen enthusiasme (585), die geteilte Begeisterung für die von Dorat vermittelte griechische und lateinische Literatur, die ihr gesamtes Leben bestimmt. Das Originelle an diesem Text ist dementsprechend die permanente Einkleidung alltäglichster Sachverhalte in das Gewand antiker Mythologie. Statt eines ,déjeuner sur l’herbe‘ veranstaltet man feierliche ,Bacchanalien‘. Man singt auch kein einfaches Trinklied, sondern einen ,Dithyrambus‘, in dem kein Epitheton des Gottes Dionysos und keine Episode, die sich um seine Gestalt rankt, ausgelassen wird. Die intensive Rezeption antiker Texte wirkt sich bis in die Struktur der Sprache aus. Ronsard kreiert französische Neologismen, die der lateinischen Wortbildung folgen, z.B. chevrepied (375) nach lat. capripes16 oder cuissené (423) nach dem Muster femorigena.17 Die Identifikation mit den klassischen Vorbildern geht so weit, dass die Pariser Studenten in die Rolle von Schäfern schlüpfen, die Pan verehren (375f.). Die Landschaft der Île de France bevölkert sich in ihrer Phantasie mit Dryaden, Naiaden, Satyrn und Faunen. Der mitgeführte Esel wird zum Esel des Silen und die Bièvre zur Weinquelle (402), während die beiden Hügel von Arcueil und Cachan zum Parnass mutieren (465). Die vorgefundene Natur wird prinzipiell durch die Brille literarischer Muster wahrgenommen, und jedes geschilderte Erlebnis mündet bereits auf der diegetischen Ebene in einen neuen Text, der diese Muster fortführt. So wird der Schmetterlingsfang mit einer Inschrift in der Baumrinde verewigt (370–378). Die Muse Calliope wird angerufen, die rühmlichen Namen von Dorat, Du Bellay und Baïf in den Sternenhimmel einzugravieren (37–42), als sei dieser eine Steinplatte voller Epitaphien. Sogar die Geliebte wird zu Schrift, wenn das lyrische Ich beim Bankett den Becher hebt und neun Mal auf jeden der neun Buchstaben seiner Cassandre trinkt (523–534). Dorat ergötzt schließlich die Tischgesellschaft mit einer lateinischen Ode (573ff.), deren Original uns unter dem Titel «Ad fontem Arculii» tatsächlich erhalten ist.18 So finden sich in diesem Text beide Themen, ,Literatur‘ und ,Freundschaft‘, aufs 15 Die Apostrophe Amis (bzw. Ores Amis oder Sus Amis) wird im Laufe des Textes mehrere Male anaphorisch wiederholt (siehe Vers 169, 313, 391 und 523). 16 Belegt in Hor. «Carm.» II 19, 4. Auch bei Dorat: Ad fontem Arculii. In: Odes latines. Hg. von Geneviève Demerson. Clermont-Ferrand 1979, V. 62. 17 Belegt in Marullos «Hymnus Baccho», V. 25. Vgl. Michaeli Marulli Carmina. Hg. von Alessandro Perosa. Zürich 1951, S. 115f. 18 Vgl. Dorat: Ad fontem Arculii (wie Anm. 16), S. 48–53. Dorats Verse werden in den «Bacchanales» nicht direkt wiedergegeben, aber ein dreistrophiges französisches Resümee seines Gedichts ist wie in

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Engste miteinander verknüpft. In ihrem leidenschaftlichen Interesse für die antike Kultur bilden die Dorat-Schüler einen festen kameradschaftlichen Verband, dem der Bezug zu den bacchischen Zeremonien einen quasi religiösen Status verleiht. Das im Titel angegebene Entstehungsdatum (Fait l’an 1549) und die konkret angeführten Namen aller Beteiligten legen einen autobiographischen Hintergrund des «Voyage d’Hercueil» nahe. In der Tat ist die Existenz aller Personen historisch belegt. Die mit Jean Dorat zuerst Genannten, Joachim du Bellay und Jean-Antoine de Baïf (40), bilden zusammen mit dem Autor die Keimzelle der späteren Pléiade. René Urvoy (73), Julien Peccate (79), Nicolas Denisot, der sich hinter dem Anagramm le Conte d’Alcinoys (90) verbirgt, Jean de la Hurteloire (125), Pierre des Mireurs (121) und Claude de Ligneri (127), Guillaume Capel (130) und Bertrand Berger (157, 173) begegnen uns als Adressaten anderer Gedichte von Ronsard oder auch als Autoren verstreuter paratextueller Lobgedichte in seinem Werk wieder.19 Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, dass Literaturgeschichtler wie Pierre de Nolhac, Henri Longnon und Henri Chamard zu Beginn des 20. Jahrhunderts den «Voyage d’Hercueil» als Geburtsstunde der Pléiade ansehen.20 Sogar der sonst so kritische Paul Laumonier, der 1909 schon damit begonnen hat, den Mythos der Pléiade zu dekonstruieren, betrachtet den Text als ein historisches Zeugnis,21 und noch André Desguine nennt ihn 1953 ein wertvolles „document-témoin“.22 In Wirklichkeit aber vermischt Ronsard in seinem Text die realen Namen seiner Freunde mit den mythologischen Reminiszenzen zu einer so verwirrenden Mischung aus Fiktion und Realität,23 dass man sich fragen kann, inwieweit es sich hier tatsächlich um die spontane Erinnerung an ein gemeinschaftsstiftendes Ereignis handelt oder ob der junge, aufstrebende Dichter nicht schon bewusst seine strategischen Weichen stellt, um für sich und seine Mitstreiter einen erhöhten Platz im literarischen Pantheon zu erobern. Insgesamt ist Ronsards Arcueil zu ,arkadisch‘, zu rhetorisch und zu stark mit Zitaten beladen, um reine Erlebnislyrik zu sein. Abgeeiner ,mise en abyme‘ in den Text integriert, und zwar an dem Punkt, an dem der von den Studenten intonierte dionysische Dithyrambus umschlägt in einen Gesang an Apollon (463–480). 19 Vgl. die entsprechenden Anmerkungen Paul Laumoniers in: Ronsard: Œuvres complètes. Band 3. Hg. von Laumonier (wie Anm. 9), S. 189–192. 20 Vgl. Henri Chamard: Histoire de la Pléiade. Band 1. Paris 1939, S. 124–128; Pierre de Nolhac: Ronsard et l’humanisme. Paris 1921, S. 61–63; Henri Longnon: Pierre de Ronsard. Essais de biographie. Paris 1912, S. 208–213. 21 Vgl. Ronsard: Œuvres complètes. Band 3. Hg. von Laumonier (wie Anm. 9), S. 184, Anm. 1. Vgl. auch Band 5 (wie Anm. 10), S. 259, Anm. 1 und Band 8 (wie Anm. 13), S. 44, Anm. 1. Paul Laumonier spricht wörtlich von einem „intérêt historique“ dieses Textes im Zusammenhang mit der «Élégie à Jean de la Péruse». 22 André Desguine: Étude préliminaire. In: Ronsard: Les Bacchanales. Hg. von André Desguine. Genève 1953, S. 15–101, hier S. 101. 23 Zu den Authentifizierungsstrategien, die Ronsard einsetzt, um den empirischen Dichter mit dem lyrischen Ich zusammenfallen zu lassen, siehe Carolin Fischer: Der poetische Pakt. Rolle und Funktion des poetischen Ich in der Liebeslyrik bei Ovid, Petrarca, Ronsard, Shakespeare und Baudelaire. Heidelberg 2007, S. 73–81 und S. 215–255.



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sehen von den «Bakchen» des Euripides, Catulls Epithalamien und Vergils «Bucolica» ist natürlich Horaz mit «Nunc est bibendum», mit «Bacchum in remotis» und «O fons Bandusiae» («Carmina» I 37, II 19 und III 13) spürbar präsent. Der römische Odendichter wird im Verbund mit Pindar auch direkt beim Namen genannt (600f.) Daneben liegt der Bezug zu Ovid auf der Hand, der in seinen «Remedia» die turba sodalis24 als Ablenkung und Trost für die Qualen enttäuschter Liebe empfiehlt. Im dicht gewebten intertextuellen Bezugsfeld scheinen aber auch einige neulateinische Autoren auf,25 die alle in die Richtung der italienischen Akademien weisen: Poliziano, Sannazaro, Marullo und vor allem Pontano, der in seinen «Hendecasyllabi» die fröhlichen Trinkgelage mit seinen sodales beschreibt und der als Anführer eines exklusiven literarischen Zirkels für den ehrgeizigen Ronsard ein besonderes Wunsch- und Leitbild dargestellt haben mag.26 Darüber hinaus verdient jedoch ein Verweis auf einen französischsprachigen Text aus Ronsards eigenem Kreis besondere Beachtung, der uns die eigentliche Intention der «Bacchanales» vor Augen führt. Ronsard publiziert seine Ode 1552, insistiert aber im Titel darauf, dass der beschriebene Ausflug 1549 stattgefunden habe. 1549 ist wohlgemerkt für ihn und seine Freunde ein historisch bedeutsames Datum, hat doch Joachim du Bellay genau in diesem Jahr seine «Deffence et Illustration de la Langue Françoyse» veröffentlicht, ein Manifest, das die Franzosen dazu aufruft, ihre eigene Nationalsprache im Rückgriff auf antike literarische Muster mit den alten Sprachen und der italienischen Sprache konkurrenzfähig zu machen. Wenn Ronsard in Vers 469–474 (wie schon Dorat in «Ad fons Arculii»)27 den Ortsnamen ,Hercueil‘ von ,Hercule‘ (Herkules) ableitet, der angeblich den dortigen Aquädukt errichtet haben soll, so knüpft er an die Legende vom gallischen Herkules an, der einer Stelle bei Lukian zufolge auf der Rückreise von den Gärten der Hesperiden durch Gallien gekommen sein soll und das Volk auf friedliche Weise durch seine besonderen rhetorischen Fähigkeiten erobert haben soll. Du Bellay lässt sein Manifest von 1549 – nicht ohne einen polemischen Seitenhieb auf die auf die Säulen des Herkules anspielende, imperialistische Devise Plus ultra Kaiser Karls V. – in einer symbolischen Darstellung ebendieses ,Hercule gaulois‘ gipfeln, der seine Zuhörer mit den goldenen Ketten seiner Redeströme gefangen nimmt: Vous souvienne […] de votre Hercule Gallique, tirant les peuples apres luy par leurs oreilles avecques une chesne attachée 24 Vgl. Ov. «Rem.» V 586. Muret spricht wortwörtlich von turba sodalium in einem Gedicht seiner «Juvenilia», das an Ronsard gerichtet ist. Zit. in: Henri Longnon (wie Anm. 20), S. 225: Quando te reducem Vindocino ex agro / Cernemus, veterum turba sodalium? 25 Vgl. Desguine: Étude préliminaire (wie Anm. 22), S. 72–85. 26 Vgl. «Laetatur de reditu Francisci Aelii» und «Sodales invitat ad Martinalia» («Hendecasyllabi» I 10 und I 17). In: Giovanni Gioviano Pontano: Baiae (English and Latin). Translated by Rodney G. Dennis. Cambridge/Mass. 2006, S. 26f. und 52f. Du Bellay empfiehlt Pontano als Musterautor in Buch II, Kap. 4 seiner «Deffence». Vgl. Joachim du Bellay: La Deffence et Illustration de la Langue Françoyse. Hg. von Henri Chamard. Paris 1948 (Reprint hg. von Jean Vignes, 2000), S. 125. 27 Vgl. Dorat: Ad fontem Arculii (wie Anm. 16), V. 14–44.

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à sa langue.28 Der griechisch-römische Halbgott verkörpert somit als emblematische Schlussfigur das in der «Deffence et Illustration» entwickelte Programm zur Veredelung der französischen Sprache und Literatur aus dem Geiste der Antike.29 Im selben Jahr 1549 präsentiert die Stadt Paris ihrem König Heinrich II. bei seinem feierlichen ersten Einzug in die Hauptstadt denselben gallischen Herkules in der Attika eines riesigen Triumphbogens an der Porte Saint-Denis. Auch hier versuchen die für die Organisation des Festaktes verantwortlichen Künstler und Intellektuellen unter der Leitung des Humanisten Jean Martin ihre Ambitionen auszudrücken, die sie zum Ruhme Frankreichs mit der Unterstützung des jungen Königs verwirklichen wollen.30 Dieser nationalpolitische und kulturprogrammatische Kontext wird bei der ,Pilgerfahrt‘ der jungen Dichter zur Musenquelle und zum Aquädukt des Herkules zweifellos mit aufgerufen. Noch ein weiterer, unmittelbar zeitgenössischer literarischer Bezug kann uns aufzeigen, dass Ronsards «Bacchanales» weit mehr sind als eine Apotheose der Freundschaft und das eifrige Bekenntnis eines jungen Philologiestudenten zu seinem Fach. Wenn der Sprecher des Gedichtes von seinem dionysischen Wahnsinn (276, 617) spricht und wenn er Dorats honigsüße Stimme der Sphärenmusik einer himmlischen Sirene gleichsetzt (606, 575f.), benutzt er dieselben mythischen Bilder, die sein Kollege Pontus de Tyard 1552 in seinem dichtungstheoretischen Dialog «Solitaire premier» in einem allegorischen Inventar auflistet, um den geheimnisvollen Prozess der göttlichen Inspiration zu beschreiben.31 Der berauschende Bacchus tritt auch in Ronsards früher Ode nicht nur als Schirmherr feucht-fröhlicher akademischer Geselligkeit auf, sondern er verkörpert eine Stufe des furor poeticus, der intuitive Einblicke in die Geheimnisse des Universums vermittelt. Implizit weisen die «Bacchanales» hiermit bereits auf die platonische Dichtungslehre hin, die wesentlich zum theoretischen Gepäck der Pléiade-Dichter gehört und mit der diese sich stolz gegen ihre literarischen Rivalen abzuheben versuchen. Trotz seines ausgelassenen, verspielten Charakters und seiner lebensnahen Schilderung des Gruppendaseins muss Ronsards

28 Du Bellay: Deffence et Illustration de la Langue Françoyse. Hg. von Chamard (wie Anm. 26), S. 197. 29 Zum gallischen Herkules als humanistischer Identifikationsfigur siehe Robert E. Hallowell: L’Hercule gallique: Expression et image politique. In: Lumières de la Pléiade. Hg. von Roland Antonioli. Paris 1966, S. 243–253. 30 Vgl. Doranne Fenoaltea: Du palais au jardin. L’architecture des Odes de Ronsard. Genève 1990, S. 7, S. 8 und Bildtafel 1 (S. 172). Zur nationalpolitischen Bedeutung des ,Hercule gaulois‘ siehe Francis Goyet: D’Hercule à Pantagruel. L’ambivalence des géants. In: Rabelais pour le XXIe siècle. Hg. von Michel Simonin. Genève 1998 (Études rabelaisiennes. Band 33), S. 177–190, hier S. 182. 31 Vgl. Pontus de Tyard: Solitaire premier. Hg. von Silvio Baridon. Genève 1950, S.  17, 41f. und passim. Siehe auch Heidi Marek: Vom leidenden Ixion zum getrösteten Narziss. Der antike Mythos im Werk von Pontus de Tyard. Frankfurt am Main 1999 (Analecta romanica. Band 59), S. 66, 105, 136 und passim.



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Text deshalb als ein humanistisches kulturpolitisches Programm gelesen werden. Er erweist sich letztlich als ein zielgerichtetes Manifest in poetischem Gewand. Bekräftigt wird der programmatische Charakter des «Voyage d’Hercueil» durch den besonderen Platz, den Ronsard ihm innerhalb des «Cinquiesme livre des odes» zuweist. Es sei deshalb ein kurzer Blick auf die textliche Umgebung gestattet, die das so harmlos wirkende Jugendgedicht in eine strategische Perspektive rückt. Die «Bacchanales» stehen ganz am Ende des Fünften Odenbuches in seiner Fassung von 1552, obwohl sie von ihrem Entstehungsdatum her allen anderen Texten vorausgehen müssten. Da der Dichter sein Gesamtwerk im Laufe seines Lebens sechsmal verschieden arrangieren wird32 und auch die «Bacchanales» innerhalb des Gesamtwerkes mehrere Male umstellen wird,33 können wir davon ausgehen, dass er mit dieser Anordnung eine bestimmte Politik verfolgt. Nicht zufällig wird die erweiterte Version des «Cinquiesme livre» ein Jahr später mit der «Élégie à Jean de la Péruse» enden, in der Ronsard seine Dichtergruppe in noch profilierterer Form vorstellt. Der Fünfte Odenband von 1552 beginnt mit der «Ode de la Paix» an Heinrich II., den Ronsard für sich als Mäzen gewinnen möchte. Er bietet seinem König an, ein Nationalepos nach dem Vorbild der «Äneis» zu schreiben, in dem er die Dynastie der Valois auf das trojanische Königsgeschlecht zurückführt, und stellt gleichzeitig klar, dass er hierfür eine angemessene Belohnung erwartet. Auch die zweite Ode ist ein Lobgedicht an den König. Die dritte Ode ist dessen Schwester, Marguerite de France, gewidmet, in die Ronsard und seine Freunde große Hoffnungen setzen, da sie der humanistischen Dichtung gegenüber aufgeschlossen ist. Die sechste und siebte Ode stellen beide einen Nachruf an die verstorbene Marguerite de Navarre dar, die als Schwester Franz’ I., als Königin von Navarra und als Autorin des «Heptaméron» in ihrer Person politisches und literarisches Prestige vereint. An achter Stelle der Sammlung steht schließlich die große Ode an den Humanisten Michel de l’Hospital,34 den späteren ,chancelier de France‘, der in den 50er Jahren als Kanzler in den Diensten der Marguerite de France bereits eine einflussreiche Position am Hof innehat. Es folgen einige Gedichte privater Natur, die an persönliche Kollegen wie Robert de la Haye, Claude de Ligneri und Nicolas Denisot gerichtet sind und in der Freundschaftsode der «Bacchanales» als dem letzten und zwölften Text der Sammlung gipfeln. 32 Der ersten Werkausgabe von 1560 folgen zu Ronsards Lebzeiten weitere in den Jahren 1567, 1571, 1572/73, 1578 und 1584, danach noch die posthume Ausgabe der vom Dichter ernannten Nachlassverwalter Galland und Binet im Jahr 1587. Vgl. Louis Terreaux: Ronsard correcteur de ses œuvres. Genève 1968, S. 9f. 33 Im «Cinquiesme livre des odes» von 1553 folgen den «Bacchanales» acht neue Gedichte, unter anderem die «Élégie à M. A. de Muret», die Ode «A la Fontaine Bellerie» und die «Élégie à Jean de la Péruse». In den Werkausgaben von 1560 bis 1573 wandert der «Voyage d’Hercueil» in das zweite Buch der «Poëmes», 1578 in das erste Buch der «Poëmes», 1584 wieder zurück in das zweite Buch der «Poëmes»,. 34 Ronsard: Œuvres complètes. Band 3. Hg. von Laumonier (wie Anm. 9), S. 118–163 bzw. Ronsard: Œuvres complètes. Band 1. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 626–650.

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Die «Ode à Michel de l’Hospital» befindet sich genau an der Schnittstelle zwischen der Gruppe von Gedichten, die sich an die Mächtigen des Landes richten, und der Reihe von Texten, die an die Freunde adressiert sind. Neben der «Ode de la Paix» an Heinrich II. ist sie die einzige pindarische Ode und die längste innerhalb der Sammlung. Bestehend aus 24 Strophen, Antistrophen und Epoden und insgesamt 816 Versen, bildet sie nicht nur von ihrem Umfang her, sondern vor allem aus inhaltlicher und ästhetischer Sicht das zentrale Meisterwerk des Bandes. Mit dem enkomiastischen Appell an den Politiker und Gelehrten Michel de l’Hospital verbindet der Text eine literaturgeschichtliche Bilanz und eine persönliche poetische Standortbestimmung, die in ein phantastisches mythisch-allegorisches Gewand gekleidet wird. In einer bunt ausgeschmückten epischen Sequenz wird erzählt, wie die Musen von Jupiter die Gabe erhalten, die Dichter zu inspirieren. In diesem Zusammenhang wird in Anlehnung an Platons «Ion» und «Phaidros» und Ficinos neuplatonische Lehre von den vier furores eine Theorie des poetischen Genies entwickelt, das als höchstmögliche menschliche Perfektion gegen das einfache Handwerk des bloßen Verseschmiedens abgegrenzt wird (395–476). Aus dieser Perspektive heraus erfolgt dann ein Rückblick auf die Literatur der Vergangenheit, die, dem Mythos von den Weltaltern bei Hesiod («Erga» 109–210) folgend, als eine fortschreitende Degeneration verstanden wird. Die Sibyllen und die legendären Sänger der Vorzeit: Eumolpos, Musäus, Orpheus und Linus, aber auch Hesiod und Homer als der reine und vollkommene Ursprung aller Literatur kennen die Gnade der göttlichen Intuition und dichten, ohne irgendeine technische Regel zu beachten (528–568). Auf die Poëtes sainctz (569) des Goldenen Zeitalters folgen die klassischen und alexandrinischen Dichter Griechenlands von Aischylos bis Lykophron, die sich als Poëtes humains (592) bereits von der saincte ardeur antique (577f.) entfernen. Auf das Silberne Zeitalter folgt mit den römischen Dichterpropheten das Eherne Zeitalter, das die letzte literarische Ära von Wert darstellt (593–602). Ab dem Mittelalter regiert das personifizierte Schreckgespenst der Ignoranz. Angesichts dieses Eisernen Zeitalters, das den absoluten Tiefpunkt des kulturellen Verfalls markiert, ziehen sich in Ronsards Fabel die Musen aus der Geschichte der Menschheit zurück (603–612). Sie bleiben der Erde so lange fern, bis Jupiter beschließt, von den Parzen einen besonders exquisiten Lebensfaden spinnen zu lassen und in der Gestalt von Michel de l’Hospital einen neuen Adam zu erschaffen, mit dem ein neuer Zyklus der Geschichte beginnen kann (625–680). Selbstverständlich schreibt sich auch der Autor persönlich in dieser mythischen Inszenierung des kulturellen Neubeginns eine tragende Rolle zu. Von der 16. bis zur 24. Triade lässt Ronsard immer wieder das eigene Dichter-Ich zu Wort kommen und baut in die epische Verserzählung geschickte Musenanrufe ein, mit denen er sich selbst als einen inspirierten Vertreter des angekündigten neuen Goldenen Zeitalters exponiert. Welches Ziel Ronsard mit dieser ‚Neuordnung‘ der Vergangenheit verfolgt, verdeutlicht das aggressive Vorwort, das er 1550 seinen «Quatre premiers livres des



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Odes» vorausgeschickt hat.35 Dort rühmt er sich großspurig, der erste französische Odendichter zu sein, und gibt vor, quasi ex nihilo im Rückgriff auf die Antike eine französische Nationalliteratur zu begründen.36 Ronsards disqualifizierende Attacken richten sich mit besonderer Schärfe gegen seinen Vorgänger Clément Marot und dessen Adepten,37 vermutlich weil Marots Werk sein eigenes innovatives Monopol in Frage stellen könnte.38 Ähnlich radikal hat sich schon Du Bellay in seiner «Deffence et Illustration» gegenüber der französischen Dichtungstradition verhalten mit dem durchsichtigen Ziel, möglichst alle Rivalen auszuschalten, die mit seinem Projekt einer wiederbelebten Antike in französischer Sprache konkurrieren könnten.39 Das anagrammatische Spiel mit dem Namen Petros Ronsardos als einem wiederauferstandenen Terpandros (sos o Terpandros) auf dem Titelblatt der «Quatre premiers livres des Odes» zielt in genau dieselbe Richtung.40 Die jungen Dichter des Collège de Coqueret löschen im Geiste alles aus, was zwischen dem Untergang der antiken Welt und ihrer eigenen Generation stattgefunden hat und erklären ein ganzes historisches Jahrtausend für null und nichtig. Mit ihnen ersteht die wahre Dichtung neu. Sie stehen stolz allein auf dem Gipfel des Parnass; denn nach ihnen – so kann man aus dem entworfenen Geschichtsbild schließen – wird wiederum ein schrittweiser Niedergang einsetzen. In der Nachbarschaft des voreingenommenen literaturgeschichtlichen Rückblicks in der «Ode à Michel de l’Hospital» und des im Eingangsgedicht skizzierten ehrgeizigen Projekts der «Franciade» verliert das heitere, überschwängliche Schlussgedicht über den studentischen Ausflug nach Arcueil seine scheinbare Unschuld. Der sorgsam arrangierte Aufbau des Fünften Odenbandes von 1552, in dem die «Baccha-

35 Vgl. Ronsard: Au lecteur. In: Œuvres complètes. Band 1. Hg. von Paul Laumonier. Paris 1973, S. 43–50 bzw. in: Œuvres complètes. Band 1. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 994–998. Ich beziehe mich auf die Laumonier-Ausgabe. 36 Vgl. Ronsard: Au lecteur. Hg. von Laumonier (wie Anm. 35), S. 44f.: Mais quand tu m’appelleras le premier auteur Lirique François, et celui qui a guidé les autres [...], lors tu me rendras ce que tu me dois [...] et osai le premier des nostres, enrichir ma langue de ce nom Ode [...]. 37 Vgl. Ronsard: Au lecteur. Hg. von Laumonier (wie Anm. 35), S.  44f. und S.  47: et ne voyant en nos Poëtes François, chose qui fust suffisante d’imiter [… je] me rendi familier d’Horace, contrefaisant sa naive douceur, des le méme tens que Clement Marot […] se travalloit à la poursuite de son Psautier […]. […] l’imitation des nostres m’est tant odieuse (d’autant que la langue est encores en son enfance) que pour cette raison je me suis éloigné d’eux, prenant stile apart, sens apart, euvre apart, ne desirant avoir rien de commun avecq’ une si monstrueuse erreur. […] Je ne fai point de doute que ma Poësie tant varie ne semble facheuse aus oreilles de nos rimeurs, et principalement des courtizans, qui n’admirent qu’un petit sonnet petrarchizé, ou quelque mignardise d’amour qui continue toujours en son propos […]. 38 Vgl. hierzu das Vorwort in: Traités de poétique et de rhétorique de la Renaissance. Hg. von Francis Goyet. Paris 1990, S. 7–12. 39 Vgl. Du Bellay: La Deffence et Illustration. Hg. von Chamard (wie Anm. 26), S. 108f. 40 Vgl. Ronsard: Œuvres complètes. Band 1. Hg. von Laumonier (wie Anm. 35), S.  41. Vgl. auch Ronsard: Œuvres complètes. Band 1. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 1475; Daniel Ménager: Ronsard. Le roi, le poète et les hommes. Genève 1979, S. 25.

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nales» zusammen mit der «Ode de la Paix» an Heinrich II. eine umrahmende Klammer bilden, macht klar, dass Ronsard hier bereits bewusst die ersten Hebel in Bewegung setzt, um der politischen Öffentlichkeit sich und seine humanistisch gebildete, göttlich inspirierte Dichtergruppe als die prädestinierten kulturellen Hoffnungsträger der Nation vorzustellen und für sich selbst eine eminente Position in der französischen Literaturszene zu erobern.

2 Ein frühneuzeitlicher Werbeevent: «Les dithyrambes à la pompe du bouc de Jodelle» (1553) Die «Dithyrambes à la pompe du bouc de Jodelle» sind in jeder Hinsicht eine Fortführung und Steigerung des «Voyage d’Hercueil». Inhaltlich geht es wieder um ein von Ronsard und seinen Freunden veranstaltetes karnevaleskes Fest, das ebenso gut den Titel «Bacchanales» hätte tragen können wie das erste Gedicht. Doch im Unterschied zu den «Bacchanales» bezeichnet der Titel «Les Dithyrambes» nicht die im Text erzählte Handlung, sondern die dieser Handlung gemäße literarische Gattung. Ronsard steckt also mit seinem Titel einen bestimmten Diskursrahmen ab. Als Rede, die als Bestandteil einer kultischen Zeremonie an den Gott Dionysos gerichtet ist, zeichnet der Dithyrambus den Sprecher von vornherein als Angehörigen eines Kreises von Eingeweihten aus, und da Dionysos in der neuplatonischen Philosophie eine der Instanzen verkörpert, die den furor poeticus verleihen, weist der Dithyrambus das sprechende Ich indirekt als göttlich inspirierten Dichter aus. Um genau dieses Thema geht es in Ronsards Text: die Überhöhung der eigenen Dichterpersönlichkeit. Der Dithyrambus, der im «Voyage d’Hercueil» in die Handlung eingebettet war, ist hier auf das ganze Gedicht ausgeweitet, dessen 26 Strophen alle mit dem Refrain Iach, ïach, Evoé / Evoé, ïach, ïach enden. Der Sprecher des Gedichtes lässt uns eine turbulente Bacchus-Prozession miterleben, die in ihm einen ekstatischen Rausch auslöst. Sein Zustand der Trance bildet sich in der metrischen Gestaltung ab,41 die noch unregelmäßiger ist als im Vorgängertext. Hatte das frühe Gedicht «Les Bacchanales» eine feste Strophenform mit heterometrischen Versen nach dem Schema 7-3-7-7-3-7, so variiert in den «Dithyrambes» die Strophenlänge von acht bis zu dreißig Versen, die ihrerseits keine geregelte Silbenzahl aufweisen. Die Fülle an gelehrten Anspielungen auf den Dionysosmythos, die von Pentheus, Lykurgus, Telephos und Akrisios bis zum Giganten Rhete und den Töchtern des Minyas reichen, ist extrem, ebenso die Anhäufung der auf den Gott bezogenen, direkt aus dem Griechischen entlehnten oder übersetzten Neologismen wie cryphien (55), protogone, evastire (74),

41 Vgl. Guy Demerson: La mythologie classique dans l’œuvre de la Pléiade. Genève 1972, S. 95f.



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omadien (76), nyctelien (273),42 beaucoupforme (276),43 nourrivigne,44 aymepampre (279) u. a. Mit dieser entrückten Welt der Antike vermischen sich, ähnlich wie im «Voyage d’Hercueil», autobiographische Elemente, die aber überraschend unvermittelt erst in der zehnten Strophe zur Sprache kommen, als eine Gruppe von Bacchanten persönliche Züge annimmt. Was zunächst als antiker Ritus erscheint, erweist sich plötzlich als Gruppenerlebnis in Ronsards Gegenwart: Mais qui sont ces enthyrsséz […?] (125) J’entrevoy Bayf, et Remy, Colet, Janvier, et Vergesse, et le Conte, Pascal, Muret, et Ronsard qui monte Dessus le Bouc, qui de son gré Marche, affin d’estre sacré Aux pieds immortelz de Jodelle, Bouc le seul pris de sa gloire eternelle: Pour avoir d’une voix hardie Renouvellé la Tragedie Et deterré son honneur le plus beau, Qui vermoulu gisoit sous le tumbeau. Iach, ïach, Evoé Evoé, ïach, ïach. (136–148)

Hintergrund dieser Zeilen ist ein öffentliches Ereignis: die Uraufführung von Étienne Jodelles «Cléopâtre captive» im Februar 1553. Diese erste Tragödie in französischer Sprache ist zunächst für den König im Hôtel de Reims und danach im Collège de Boncourt in unmittelbarer Nachbarschaft des Collège de Coqueret gespielt worden und hat sowohl am Hof als auch in den Pariser humanistischen Kreisen positives Aufsehen erregt.45 Um diesen Erfolg zu feiern, veranstalten Jodelles Freunde ein Bankett, bei dem sie ihm einen efeugeschmückten Ziegenbock mit vergoldeten Hörnern übereignen, wie es laut Horaz («Ars Poetica» 220) bei den Griechen Sitte war. Aus dem uns vom «Voyage d’Hercueil» bekannten Freundeskreis um Ronsard werden nur noch Jean-Antoine de Baïf und Nicolas Denisot genannt. Die übrigen Gefährten sind nun Remy Belleau, der zusammen mit Jodelle Student am Collège de Boncourt ist und als Darsteller zusammen mit Jodelle und Jean de la Péruse eine Hauptrolle im Stück übernommen hat, Claude Colet, der gerade das 9. Buch des «Amadys de Gaule» übersetzt hat, Nicolas Vergèce, Sohn des Gräzisten Ange Vergèce, des Griechischlehrers

42 Nyctelie in Marullos «Hymnus Baccho», V. 28 (wie Anm. 17), S. 115. 43 Nach griech. myriómorphos. Lat. multiformis in Marullos «Hymnus Baccho», V. 28 (wie Anm. 17), S. 115. 44 Nach griech. oinotrophos bzw. ampelophytos. 45 Étienne Pasquier liefert in seinen «Recherches de la France» (VI, 7) eine ausführliche Schilderung der Aufführung. Vgl. die von Marie-Madeleine Fragonard und François Roudaut besorgte dreibändige Ausgabe. Paris 1996. Band 2, S. 1416.

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von Baïf, des weiteren Pierre de Paschal, ein gefeierter lateinischer Redner, den Heinrich II. ein Jahr später zu seinem Historiographen ernennen wird, und schließlich der brillante Humanist Marc-Antoine de Muret, der am Collège de Boncourt mit seinen Griechisch- und Lateinvorlesungen Furore macht und ein Jahr zuvor seine «Juvenilia» publiziert hat.46 Es fällt auf, dass sich die Gruppe seit 1549 deutlich profiliert hat. Der nunmehr 29-jährige Ronsard ist kein Student mehr. Er hat mehrere Gedichtsammlungen publiziert und wählt seine Freunde bewusst aus dem Kreis namhafter Intellektueller aus. Die Präsentation der Gruppe wirkt auf Anhieb sehr viel strategischer als in der fröhlichen Schilderung des Schulausflugs mit Dorat. Das Wort ‚Brigade‘ wird zum ersten Mal groß geschrieben wie ein unverwechselbarer Eigenname (149). Die Namen der Teilnehmer tauchen nicht mehr verstreut im Laufe der einzelnen Handlungsepisoden auf, sondern erscheinen geradezu programmatisch in einer Liste, deren Abfolge einer sorgfältig arrangierten Rangfolge gleichkommt und die sicherlich nicht zufällig in den Namen ,Muret‘ und ,Ronsard‘ gipfelt. Es fällt auf, dass Ronsard, der hier in der Ich-Form erzählt und mit dem lyrischen Ich das eigene Dichter-Ich meint, an dieser Stelle des Textes die grammatische Logik durchbricht und von sich in der dritten Person spricht, offensichtlich mit dem Ziel, seinen eigenen Namen neben den Namen der Freunde vernehmbar zum Klingen zu bringen.47 Bezeichnenderweise ist es auch Ronsard selbst, der auf den Bock steigt und ihn Jodelle entgegenführt. Das in dieser Strophe verwendete Vokabular spricht für sich: Ronsard qui monte [...], le seul prix, immortels, gloire éternelle, honneur le plus beau (138, 142, 145). Insgesamt muten die Huldigung und das Geschenk an Jodelle nicht so sehr wie eine zweckfreie Bekundung freundschaftlicher Zuneigung, sondern vielmehr wie eine kalkulierte Inszenierung an, mit der sich die jungen Kollegen gemeinsam mit ihm ins Rampenlicht zu stellen versuchen. «La pompe du bouc de Jodelle» führt gewissermaßen das stattgefundene Schauspiel auf einer Metaebene fort. Ronsard widmet Jodelle einen Dithyrambus und schenkt ihm einen Ziegenbock, um den Erfolg seiner Tragödie zu zelebrieren. Er integriert dabei den gefeierten Dichter ostentativ in den Reigen seiner illustren Freunde, um an seinem Ruhm teilzuhaben. Im Anschluss an die Schilderung der Prozession der Bacchanten beschreibt er, wie Jodelle den Bock Dionysos zum Opfer darbringt und seinerseits einen zweiten, 216 Verse langen Dithy-

46 Zu Ronsard und Muret siehe Paul Laumonier: Ronsard poète lyrique. Paris 1909, S. 106–112. Der im Text genannte Janvier konnte nicht identifiziert werden. 47 Die Nennung des Namens ,Ronsard‘ in der dritten Person verleitete Ronsards ersten Biographen Claude Binet dazu, das Gedicht dem Autor Bertrand Berger zuzuschreiben, eine These, die sich bis zu Henri Chamards Doktorarbeit erhalten hat (vgl. Ders.: Joachim du Bellay. Lille 1900, S. 47, Anm. 3), aber von Paul Laumonier überzeugend widerlegt wurde (vgl. Ders.: Ronsard poète lyrique (wie Anm. 46), S. 99–103). Natürlich wäre es auch möglich, sich den ersten Dithyrambus sozusagen als dramatischen Text vorzustellen, den ein Schauspieler rezitiert, während Ronsard und seine Freunde mit dem Ziegenbock in den Festsaal einmarschieren.



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rambus intoniert, der die Strategie des dichterischen Selbstlobs quasi spiegelbildlich wiederholt und steigert. Jodelle wird von seinen Zeitgenossen wegen seines schnellen Arbeitstempos und seines außerordentlichen Improvisationstalentes als ,démon‘, also als ein Wesen zwischen Himmel und Erde, bewundert und gepriesen.48 Folglich bietet es sich an, ihn als Inbegriff des inspirierten Dichters darzustellen, der sich über den Gott Dionysos definiert. Ronsard legt ihm deshalb eine freie französische Übersetzung von Marullos «Hymnus Baccho» in den Mund.49 Jodelle schlüpft in Ronsards Text in die Rolle eines Hohen Priesters, der zwischen dem Allerhöchsten, l’élite des Dieux (370), und seinen Offizianten vermittelt, die Ronsard in signifikanter Abweichung von der literarischen Vorlage bei Marullo (colentibus)50 als bons amis bezeichnet (379): Mille cœurs de Poëtes divins, Mille Chantres, & Devins Fremissent à ton honneur […]. (337–339) Par toy chargés de ton Nectar, […] Nous concevons des cieux Les segrés precieux, Et bien que ne soyons qu’hommes, Par toi Demidieux nous sommes. Je te salue, [...] O l’elite Des Dieux, […] Viens, Evien, Œillader tes bons amis […]. (361–379)

Damit das Selbstlob Jodelles nicht überhandnimmt, arrangiert Ronsard die Worte, die er dem Kollegen in den Mund legt, dergestalt, dass der Blick von der Person des Geehrten geschickt zurückgelenkt wird auf Ronsard und seine feiernde Runde (N o u s concevons des cieux / Les segrés, Demidieux n o u s sommes).51 Nach dem an anderer Stelle formulierten Motto: industrieusement brouillant ores ceci, ores cela, par l’un louant l’autre, tellement que tous deus se sentent d’une méme louange52 profitieren so der Lobende und der Gelobte reziprok voneinander. Das gesamte Kollektiv der 48 Vgl. Pasquier: Les Recherches de la France. Band 2 (wie Anm. 45), S. 1418: Entre Ronsard et du Bellay estoit Estienne Jodelle, lequel ores qu’il n’eust mis l’œil aux bons Livres comme les deux autres, si est-ce qu’en luy y avoit un naturel émerveillable: Et de fait ceux qui de ce temps là jugeoint des coups, disoient que Ronsard estoit le premier des Poëtes, mais que Jodelle en estoit le Demon. Vgl. auch Émmanuel Buron: Introduction. In: Étienne Jodelle: Les Amours. Saint-Étienne 2003, S. 5–31, hier S. 5. 49 Paul Laumonier hat beide Texte in einer erhellenden Synopsis gegenübergestellt. Vgl. Ders.: Ronsard poète lyrique (wie Anm. 46), S. 736–742. 50 Vgl. Hymnus Baccho, V. 59. In: Michaelis Marulli Carmina (wie Anm. 17), S. 116. 51 Meine Hervorhebung. 52 Ronsard: Au lecteur. Hg. von Laumonier (wie Anm. 35), S. 48.

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Freunde dient untereinander zur Selbstlegitimation und als Instrument zum ersehnten sozialen Aufstieg. Diese Zwecksolidarität wird in anderen Texten in aller Offenheit ausgesprochen, wenn Ronsard zum Beispiel seine «Ode» an Pierre de Paschal mit den Versen beendet: [...] Puis j’espere qu’en recompense Paschal me fera quelquefois Immortel par son éloquence […]. (29–31)53

Um solch ein pragmatisches Tauschgeschäft zu verstehen, das in einem flagranten Widerspruch zum in den «Dithyrambes» dargestellten heiligen Priesteramt des Dichters steht, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass Ronsard und die Mehrzahl seiner Kollegen dem verarmten französischen Landadel entstammen, der im 16. Jahrhundert im Gegensatz zum aufstrebenden städtischen Bürgertum zunehmend seine materielle Basis verliert. Die allgemeine Überlebensstrategie besteht darin, auf dem Wege der Bildung, z. B. durch juristische oder theologische Studien, die Möglichkeit zu erlangen, ein öffentliches Amt oder eine kirchliche Pfründe zu erwerben, die von der Krone vergeben wird. Aus dieser sozialen Situation erklärt sich Ronsards krampfhaftes Bemühen, immer wieder lautstark und penetrant auf seine eigenen Leistungen aufmerksam zu machen, den Mächtigen des Landes seine Dienste anzubieten und eine Gegenleistung einzufordern.54 Ronsard ist sich der Tatsache bewusst, dass der König, der im Zuge der zunehmenden Säkularisierung nicht mehr unhinterfragt als Herrscher von Gottes Gnaden angesehen wird, seinerseits jemanden braucht, der seine Verdienste rühmt, um seine Herrschaft zu legitimieren. So kommt es zu einem vergleichbaren Pakt zwischen dem Fürsten und dem Intellektuellen, in dem Ruhmesgesang und Protektion gegeneinander ausgetauscht werden. Ronsard hat diesen ‚Handel‘ in seiner «Ode de la Paix» an Heinrich II. unverblümt auf den Punkt gebracht: Prince, je t’envoye ceste Ode, Trafiquant mes vers à la mode

53 Ode. In: Ronsard: Le bocage (1554). In: Œuvres complètes. Band 1. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 1200–1201. Vgl. auch A Pierre Paschal (Ode XXI). In: Ronsard: Le premier livre des odes. In: Œuvres complètes. Band 1. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 675–676, V. 29–36: Ja ton Languedoc se vante / D’honorer son nourrisson, / Fait immortel par le son / Du Vandomois qui le chante. / […] Et si j’ay quelque renom, / Je ne l’ay, Paschal, sinon / Que par ta voix qui me prise. Pierre de Pascal hat seinen Kollegen versprochen, sie nach dem Vorbild von Paolo Giovios «Illustrium virorum Elogia» in einem Pantheon berühmter Männer zu verewigen. Als dieses Werk nicht zustande kommt, hat Ronsard nur noch Spott für den vorher so umschmeichelten Freund übrig. Vgl. die gegen ihn gerichtete lateinische Invektive in: de Nolhac: Ronsard et l’humanisme (wie Anm. 20), S. 262–270. 54 Die lange Geschichte von Ronsards Bemühungen um die Abts- oder Bischofswürde und die damit ständig verbundenen Enttäuschungen ist nachzulesen in der Biographie von Michel Simonin: Pierre de Ronsard. Paris 1990, S. 123–288.



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Que le marchant baille son bien, Troque pour troq’: toy qui es riche, Toy, Roy de biens, ne sois point chiche De changer ton present au mien. Ne te lasse point de donner, Et tu verras comme j’accorde L’honneur que je promets sonner, Quand un present dore ma corde.55

Dichtung wird hier zu einer Ware deklariert, die ihren Preis hat und vergütet werden möchte (was nicht bedeutet, dass sie für Ronsard kein spirituelles Gut ist).56 Vor dem Hintergrund einer solch merkantilen Funktionsbestimmung der Kunst, die nicht zuletzt als Folge des sich entwickelnden Buchmarktes anzusehen ist, werden die «Dithyrambes à la pompe du bouc de Jodelle» in ihrer Eigenschaft als Werbetext verständlich.57 Die «Dithyrambes» sind Bestandteil des «Livret de folastries» und wollen in diesem Rahmen als ,Narretei‘ nicht allzu ernst genommen werden. Das auf der Titelseite angebrachte Catull-Zitat – Nam castum esse decet pium poetam / Ipsum, versiculos nihil necesse est58 – warnt geradezu davor, einen Zusammenhang zwischen den freien Phantasien des Textes und seinem Autor herzustellen. Trotzdem stellt das inszenierte Spektakel, das, wie wir wissen, tatsächlich stattgefunden hat,59 offensichtlich eine willkommene Gelegenheit dar, persönliches Aufsehen zu erregen. Der junge Ronsard sucht, um als Dichter den gewünschten Status zu erringen, eine öffentliche Bühne. Um gehört zu werden, braucht er auf dieser Bühne als Resonanzverstärkung eine Gruppe von Gleichgesinnten. Ronsard wird in Zukunft nicht müde werden, zu diesem Zweck die Mitglieder seiner ‚Brigade‘ immer wieder neu in Szene zu setzen. Dabei benutzt er für sich und seine Dichterkollegen dasselbe Verfahren, mit dem er den Mächtigen seines Landes ihre kulturelle Legitimation verschafft: er kreiert Mythen, um sich und seine Kunst mit der nötigen Aura zu umgeben.60 55 Au Roy Henry IIe sur la paix faitte entre luy et le Roy d’Angleterre. In: Œuvres complètes. Band 1. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 593–604, V. 369–378. 56 Vgl. hierzu Ménager: Ronsard. Le roi, le poète et les hommes (wie Anm. 40), S. 52–56. 57 Zum Konflikt zwischen feudalistischen und frühkapitalistischen Denkmustern in Bezug auf Ronsards eigene literarische Produktion siehe Terence Cave: La Muse publicitaire dans les Odes de 1550. In: Ronsard en son IVe centenaire. Band 1. Hgg. von Yvonne Bellenger u. a. Genève 1988, S. 9–16, hier S. 13. 58 Cat. «Carm.» XVI 5–8. 59 Vgl. Ronsard: Responce de Pierre de Ronsard aux injures et calomnies. In: Œuvres complètes. Band 11. Hg. von Paul Laumonier. Paris 2009, S. 116–176, hier S. 141–142, V. 443–488. Ebenfalls in: Œuvres complètes. Band 2. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 1044–1070, hier S. 1054. Ich beziehe mich auf die erste Fassung von 1562 nach Laumonier. 60 Dass der «Bouc de Jodelle» seine Bühnenwirkung offensichtlich nicht verfehlt hat (wenn auch nicht unbedingt in der gewünschten Weise), beweist die Tatsache, dass noch zehn Jahre später während der französischen Religionskriege Ronsards protestantische Gegner in ihrer Polemik gegen

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3 Rückzug in die Utopie: «Les Isles Fortunées» (1553) Ronsards Ode «Les Isles Fortunées» ist eine utopische Vision, ein Lobgedicht (vielleicht sogar ein Abschiedsgedicht)61 und gleichzeitig ein Plädoyer für die eigene Sache als Folge einer polemischen Auseinandersetzung. Diesen spezifischen diskursiven Rahmen haben diejenigen Literaturgeschichtler außer Acht gelassen, die in diesem Text dokumentiert sehen wollen, dass der von den Pléiade-Dichtern ausgelöste Impuls zur Erneuerung der französischen Literatur schon wenige Jahre nach dem Erscheinen der «Deffence et Illustration de la Langue Françoyse» zu einer breiten Bewegung geführt habe.62 Die persuasive Rhetorik des Textes ist jedoch nicht zu übersehen. Ronsard widmet das Gedicht dem Humanisten Marc-Antoine de Muret in der zweiten Ausgabe seiner «Amours» von 1553, offensichtlich zum Dank dafür, dass dieser einen mythologischen Kommentar für ebendiese Edition verfasst hat. Da ein solcher Kommentar zu Ronsards Zeiten normalerweise nur zu Werken antiker Autoren angefertigt wird, weist Muret den «Amours de Cassandre» mit seinen Scholien einen unerhörten Status zu.63 Hintergrund dieser Publikation ist Ronsards heftiger Streit mit dem Dichter Melin de Saint-Gelais, der sich am Hofe Heinrichs II. über seine pompösen pindarischen Oden und seine allzu gelehrte, obskure Lyrik lustig gemacht hat.64 Der Kanzler Michel de l’Hospital und sein Freund Jean Morel haben schlichtend eingegriffen, und auch Muret stellt sich im Vorwort seines Kommentars ganz auf die Seite Ronsards, um ihn gegen die Angriffe aus einem wenig humanistenfreundlichen Lager zu verteidigen.65 seinen «Discours des misères de ce temps» auf das Ereignis von 1553 Bezug nehmen, um ihn der Gotteslästerung zu bezichtigen. Vgl. die Texte von A. Zamariel, B. de Mont-Dieu und D. M. Lescaldin aus dem Jahre 1563 in: Jacques Pineaux: La polémique protestante contre Ronsard. Band 1. Paris 1973, S. 41 und S. 81; Band 2, S. 265f. 61 Der Adressat Marc-Antoine de Muret musste Ende 1553 Paris verlassen und ging nach Italien. Vgl. Isidore Silver: Marc-Antoine de Muret et Ronsard. In: Lumières de la Pléiade. Paris 1966, S. 33–48, hier S. 38 und S. 45. 62 Vgl. Paul Laumonier: Commentaire historique et critique. In: Claude Binet: La vie de P. de Ronsard. Hg. von Paul Laumonier. Paris 1909 (reprint Genève 2011), S. 53–239, hier S. 223: „[...] en peu de temps la petite troupe primitive devint légion.“ Auch in seiner Ronsard-Monographie attestiert Laumonier den «Isles Fortunées» „une grande valeur historique“. Vgl. Ders.: Ronsard poète lyrique (wie Anm. 46), S. 110. 63 Vgl. Introduction. In: Marc Antoine de Muret: Commentaires au premier livre des Amours de Ronsard. Hgg. von Jacques Chomarat u. a. Genève 1985, S. VII–XXV, hier S. XI. 64 Zum Streit mit Saint-Gelais siehe Ronsard: «Hymne triumphal sur le trepas de Marguerite de Valois» und «A Madame Marguerite». In: Œuvres complètes. Band 3. Hg. von Laumonier (wie Anm. 9), S. 54–78, V. 475–480 und S. 98–116, V. 139–186 und V. 269–282. Siehe auch Chamard: Histoire de la Pléiade. Band 1 (wie Anm. 20), S. 362–364. 65 Vgl. «Preface de Marc-Antoine de Muret, sur ses commentaires». In: Muret: Commentaires au premier livre des Amours (wie Anm. 63), ohne Seitenzahl: N’avons nous veu l’indocte arrogance de



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In seiner Ode versucht der gekränkte Ronsard nun, für sich eine Lobby zu bilden.66 Er schlägt Muret vor, zusammen mit den Besten ihrer Generation ein Schiff zu besteigen und zu den Inseln der Glückseligen zu segeln,67 um einem Land den Rücken zuzukehren, in dem nur Krieg herrscht und die Dummheit regiert. Ronsard polarisiert. Wie schon Muret im Vorwort zu seinem Kommentar zieht auch er eine klare Grenzlinie zwischen den bons esprits (15) und dem vulgaire ignorant (56), zwischen ,gebildet‘ und ,ungebildet‘, zwischen Freund und Feind. Da die Distanz zwischen beiden Lagern für ihn nicht groß genug sein kann, flüchtet er sich in seiner Phantasie aus dem geographischen Raum und der historischen Zeit in eine utopische aetas aurea, in der es, wie bei Ovid beschrieben,68 weder Mühe noch Arbeit, weder Krankheit noch Tod, weder Zwist noch Krieg, weder Verbrechen noch politische Unruhen gibt (93–192). Ein genialer künstlerischer Schachzug ist dabei, dass Ronsard den antiken Mythos, an dem sich sein Streit mit dem Dichterrivalen ursprünglich entfacht hat, als Waffe ins Feld führt, um seine Überlegenheit auf literarischer Ebene auszuspielen.69 Idee und Aufbau des Gedichtes lehnen sich stark an die 16. Epode von Horaz («Altera iam teritur») an, in der es ebenfalls um die Absonderung des ,besseren Teils‘ von der ,ungelehrigen Herde‘ (pars indocili melior grege) und die Evasion aus dem

quelques acrestez mignons s’esmouvoir tellement au premier son de ses escrits, qu’il sembloit que sa gloire encores naissante, deust estre esteinte par leurs efforts? L’un le reprenoit de se trop loüer, l’autre d’escrire trop oscurement, l’autre d’estre trop audacieux à faire nouveaus mots: ne sachans pas, que […] l’oscurité qu’ils pretendent, n’est qu’une confession de leur ignorance: et que sans l’invention de nouveaux mots, les autres langues sentissent encores une toute telle pauvreté, que nous la sentons en la nostre. Siehe auch Chamard: Histoire de la Pléiade. Band 1 (wie Anm. 20), S. 361–362. 66 Zum wahren Charakter der angeblichen Versöhnung zwischen Saint-Gelais und Ronsard siehe Gérard Defaux: Moy ton Poëte, ayant premier osé.... Du Bellay, Ronsard et l’Envie. In: Cité des hommes, cité des Dieux. Travaux […] en l’honneur de Daniel Ménager. Genève 2003, 197–205, hier S. 201, Anm. 23. 67 Ronsard spielt hiermit sicherlich auch auf eine Vorlesung an, die Muret über den Topos der glückseligen Inseln gehalten hat; denn dieser behandelt das Thema in seinen «Variae lectiones». Vgl. «Insularum fortunatarum descriptio et situs». In: M. Antonii Mureti Variae Lectiones V 1. Hg. von Fridericus Carolus Kraft. Leipzig 1830, S. 61–63. 68 Ov. «Met.» I 89–112. 69 Paul Laumonier hat eine ähnliche Strategie in dem ambivalenten Versöhnungsgedicht «A Melin de Saint Gelais» beobachtet, das den «Isles Fortunées» direkt vorausgeht: Ronsard: Œuvres complètes. Band 5. Hg. von Laumonier (wie Anm. 10), S. 165–174. Wenn Ronsard hier einlenkt und selbst­ kritisch über die verheerenden Auswirkungen seines eigenen Zorns spricht, führt er doch gleichzeitig eine Fülle antiker Belegstellen an und stellt damit wiederum geschickt seine große Gelehrsamkeit unter Beweis, die ursprünglich der Stein des Anstoßes war. Vgl. Laumonier: Ronsard poète lyrique (wie Anm. 46), S. 109. Guy Demerson geht m. E. am Inhalt von «Les Isles Fortunées» vorbei, wenn er von Versöhnung und Harmonie, Umkehr und Reue spricht: „[...] c’est l’idée du repentir qui domine dans ces pièces“ (vgl. Demerson: La mythologie dans l’œuvre de la Pléiade (wie Anm. 41), S. 284). Ronsard zählt Saint-Gelais wohlweislich nicht zu den Auserwählten, mit denen er in das Paradies der mythischen Dichtung segelt.

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Eisernen Zeitalter zu den ,reichbeglückten Inseln‘ (divites [...] insulas) geht, die letztlich nichts anderes sind als das vom Dichter geschaffene Refugium der Literatur: Iuppiter illa piae secrevit litora genti, ut inquinavit aere tempus aureum, aere, dehinc ferro duravit saecula, quorum piis secunda vate me datur fuga.70

Dabei vermischt Ronsard in seinem Text die Vorstellung des Goldenen Zeitalters mit der Jenseitsvision von den elysischen Feldern und verschmilzt so die horazischen arva beata mit den vergilischen fortunata nemora zu einem Ort.71 Das 6. Buch der «Äneis» bietet ihm das idealisierte Bild von Personengruppen, die in paradiesischem Frieden miteinander ‚schmausen‘ und zum Leierspiel des Orpheus ‚einen frohen Jubelchor singen‘ (vescentis laetumque choro paeana canentis). Deutlich im Zentrum stehen hier die legendären Dichterpropheten (sacerdotes casti und pii vates). Nach der Nennung von Orpheus setzt Vergil Musäus ins Bild als einen Riesen, zu dem die Schar der Seligen aufblickt.72 Nach eben diesem Muster stilisiert Ronsard in den «Isles Fortunées» seinen Freund Muret zu einem wiederauferstandenen Orpheus oder Musäus. Wie in der «Ode à Michel de l’Hospital» schlägt er also auch hier eine Brücke vom perfekten Ursprung offenbarter Dichtung in mythischer Vorzeit zu einem zyklischen Neubeginn, der den Tiefpunkt kultureller Degeneration überwindet und eine glanzvolle Zukunft einleitet. In ein priesterliches weißes Gewand gekleidet und mit einem Lorbeerkranz geschmückt, die Menge an Körpergröße überragend, trägt der ‚göttliche Muret‘ seinem Gefolge Texte von Catull, Ovid, Properz, Tibull, Anakreon, Alkaios und Homer vor und zieht dabei seine Zuhörerschaft so in seinen Bann, dass ihm sogar die Bäume, die Vögel und die Bäche lauschen und die Winde seinen Ruhm weitertragen (V. 193–249).73 Da der Kanon der genannten Dichter mit dem Stoff von Murets Vorlesungen im Collège de Boncourt übereinstimmt,74 der natürlich auch in seinen Kommentar zu Ronsards «Amours de Cassandre» eingeflossen ist, läuft Ronsards allegorische Darstellung der Reise zu den Inseln der Glückseligen – ähnlich wie bei Horaz – auf eine Affirmation der eigenen literarischen Ambitionen und auf eine Apotheose seiner selbst hinaus. Ronsard tritt also auch in diesem Gedicht keineswegs bescheiden auf. Er stellt sich an die Seite des in Paris bereits sehr erfolgreichen Gelehrten Muret, genauso wie sein antikisierendes Dichterporträt in den «Amours» von 1553 Seite an Seite mit dem 70 Hor. «Ep.» XVI 37, 41f. und 63–66. Deutsche Übersetzung von Bernhard Kytzler. Stuttgart 1992, S. 295. 71 Vgl. Hor. «Ep.» XVI 41. Verg. «Aen.» VI 639. 72 Vgl. Verg. «Aen.» VI 645–669. Deutsche Übersetzung von Edith und Gerhard Binder. Stuttgart 2001, S. 131. 73 Nach Hor. «Carm.» I 12. 74 Vgl. Silver: Marc-Antoine de Muret et Ronsard (wie Anm. 61), S. 41.



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Porträt seines Kommentators erschienen ist. Zusammen mit ihm erhebt er den Führungsanspruch über eine Gefolgschaft, die sich in seiner Phantasie vor ihnen beiden verneigt und darauf drängt, ,in ihr Boot geholt‘ zu werden: [...] Regarde quelle presse Dessus le bord, joïeuse, nous attend Pour la conduire, et ses bras nous étend, Et devers nous toute courbe s’incline, Et de la teste, en criant, nous fait sine De la passer dedans nôtre bateau. (62–67)

In dieser Menge tauchen neben Baïf, Denisot, Du Bellay, Dorat, Jodelle, Belleau, Pascal und Colet, die uns aus den «Bacchanales» und den «Dithyrambes» bekannt sind, zum ersten Mal Pontus de Tyard und Guillaume des Autels auf, die oft mit der Pléiade assoziiert werden. Darüber hinaus zählt Ronsard eine Anzahl von Autoren auf, die mit Ausnahme von Jacques Tahureau, Denis Sauvage (du Parc), und Jean Tagault der heutigen Renaissanceforschung weniger geläufig sind.75 Schließt man Muret und Ronsard mit ein, werden insgesamt 24 Namen genannt. Doch müssen wir uns die Zahl erheblich vervielfacht vorstellen, da im Text beschrieben wird, dass die einzelnen Freunde ganze Schwärme von Anhängern mit sich führen, die sie alle auf der Seereise begleiten wollen: [Je vois la] troupe de gens que devance Jodelle. Ici Maclou, là Castaigne conduit, Et là j’avise un grand peuple qui suit nôtre Paschal, et [...] un escadron qui Maumont acompaigne. (70–74)

Im Kampf gegen seine Kontrahenten Melin de Saint-Gelais und Lancelot Carle geht es Ronsard offensichtlich darum, möglichst viele Namen anzuführen, die sein Lager verstärken können. Je mehr Gleichgesinnte er ,in sein Boot holt‘, umso besser fühlt er sich verteidigt. Das Wort ‚brigade‘ wird in diesem Text allerdings nicht erwähnt. Ronsard spricht von la troupe (82) und der si chere bande [des] amis (85f.), die den Anker lichten und die Ruder ergreifen. Vielleicht erscheint ihm die Brigade angesichts der imaginierten Hundertschaften von herbeieilenden Parteigängern als eine zu kleine, geschlossene Einheit. Interessanterweise schwankt der Text zwischen Singular und Plural, wenn von dem Schiff die Rede ist, mit dem die Truppe in See stechen will. In Vers 67 heißt es: passer dedans n ô t r e b a t e a u, in Vers 88: ramon l a n e f dans les chams bienheureus. Doch am Ende steht eine Flotte da: Lachant premier a u x 75 Es handelt sich um die folgenden Namen: Jean-Pierre de Mesmes, Maclou de la Haye, Jean de Castaigne, Jean de Maumont, Fremiot, La Fare, Claude Gruget und Étienne de Navières (69–79). Der Namenskatalog ändert sich von einer Werkausgabe zur nächsten, je nachdem, wie der private oder öffentliche ,Kurswert‘ der Freunde steigt oder fällt.

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n a v i r e s la bride (266).76 Mit dieser letzten Schifffahrtsmetapher, die noch einmal eindeutig an den Beginn des 6. Buches der «Äneis» anknüpft: classique immittit habenas («Aen.» VI 1), schreibt sich Ronsard wiederum keine geringere Rolle als die eines Äneas zu, der im übertragenen Sinne gemeinsam mit einer Schar von Getreuen den Fortbestand eines kulturellen Erbes sichert und dieses auf nationaler Ebene einer neuen Blüte entgegenführt.

4 Elite statt Masse: die Elegie an Jean de la Péruse (1553) Hatte Ronsard in den «Isles Fortunées», durch die Rivalität mit Saint-Gelais bedingt, auf die große Zahl seiner Anhänger gesetzt, so ändert er noch im gleichen Jahr, sogar im selben Gedichtband seine Strategie: Elite statt Masse. In seiner «Élégie à Jean de la Péruse» zieht Ronsard Bilanz über die Leistungen der zeitgenössischen Dichtung. Hierbei konzentriert er sich ausschließlich auf Werke in der Volkssprache und beschränkt die Auswahl auf einen numerus clausus von sieben Autoren. Ronsard eröffnet die Liste mit sich selbst als dem angeblich ersten französischen Odendichter (13–24), womit er die Oden seines Vorgängers Clément Marot und auch die Oden, die Du Bellay in seinem «Recueil de Poësie» von 1549 veröffentlicht hat, wissentlich unterschlägt.77 Danach nennt er Du Bellay und Tyard und noch einmal sich selbst als die Autoren petrarkistischer Sonettzyklen (25–42). Bemerkenswert ist dabei, dass Ronsard seine eigene Angebetete Cassandre als einzige Adressatin der Liebeslyrik beim Namen nennt (40). Auf Du Bellays Olive und Tyards Pasithée wird nur in Anspielungen verwiesen. Dasselbe gilt für die unmittelbar danach erwähnten Sonettdichter Baïf und Des Autels (43–52). Den Reigen beschließen die Dramatiker Jodelle und La Péruse, dem das Gedicht gewidmet ist (53–68). Die Reihenfolge der genannten Autoren folgt der Chronologie der von ihnen publizierten Werke: Du Bellays «Olive» und Tyards «Erreurs amoureuses» von 1549, Ronsards und Baïfs «Amours» und Des Autels’ «Amoureux repos» von 1552, Jodelles «Cléopâtre» und La Péruses «Médée» von 1553. Ronsard durchbricht nur in einem einzigen Fall die zeitliche Abfolge, indem er die eigene Odensammlung an den Anfang stellt, die 1550, also erst ein Jahr nach «L’Olive» und nach dem ersten Band der «Erreurs amoureuses» erschienen ist. Sein Wettbewerbsverhalten richtet sich demnach nicht nur nach außen gegen den Rivalen Saint-Gelais oder den Vorgänger Marot, sondern wirkt sich auch innerhalb des eigenen Kreises aus. Für Ronsard ist jederzeit klar, dass ihm, wenn er eine Gruppe bildet, fraglos die Rolle des Anführers zukommt.

76 Meine Hervorhebung. 77 Vgl. Laumonier: Ronsard poète lyrique (wie Anm. 46), S. XXVf.



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Explizit ist in der Elegie an Jean de la Péruse weder von Freundschaft noch von einer Gruppe die Rede, obwohl die anschließend aufgezählten Desiderata wie das noch nicht verwirklichte Epos, die Ekloge, die Satire und das Epigramm78 sowie der Hinweis auf die noch entwicklungsbedürftige Vulgärsprache auf das Programm von Du Bellays «Deffence et Illustration de la Langue Françoyse» hinweisen und somit auf eine gemeinsame Doktrin schließen lassen (69–76). Die magische Zahl 7 weist, obwohl sie noch nicht mit dem Sternbild der Pleias assoziiert wird, ebenfalls in die Richtung einer zusammenhängenden Ganzheit. Die sieben Dichter treten hier zwar nicht als personae in einer mythisch verbrämten Szenerie auf, wie es in den zuvor besprochenen Texten der Fall war; Ronsard spannt sich und seine Kollegen aber in einen geradezu heilsgeschichtlichen Rahmen ein, wenn er seiner literaturgeschichtlichen Bilanz in Anlehnung an Aratus ein Glaubensbekenntnis über die religiöse Funktion der Dichtung vorausschickt (1–12) und feststellt, dass Gott diesen sieben poètes sacrés (81) der Reihe nach seine verborgene Wahrheit offenbart hat: il resveilla / Mon jeune esprit (13 f.), le mesme esprit divin / Dessommeilla du Bellay (25f.). Der Appell an den König, in seiner Eigenschaft als Jupitersohn seine Schwestern, die Musen, zu unterstützen und für das Wohl der von Gott berufenen Dichter zu sorgen, damit diese ihm und seinem Land im Gegenzug Ruhm und Glanz verleihen, schreibt sich in denselben poetischen ,Heilsplan‘ ein.

5 Sehnsucht nach Ruhm: die Hymne an Heinrich II. (1555) Dass Ronsards Überzeugung von seiner Auslese der Besten in der Öffentlichkeit auf kein großes Echo stößt, lässt sich indirekt der Hymne an Heinrich II. entnehmen, in der 1555 die exklusive Siebenerliste zum zweiten Mal propagiert wird. Allerdings weist sie gegenüber der Elegie an Jean de La Péruse zwei Abweichungen auf: Guillaume des Autels und der inzwischen verstorbene La Péruse werden durch Remy Belleau und Jacques Peletier du Mans ersetzt, also ein etwas jüngeres Mitglied, das schon bei dem ,Bocksgesang‘ für Jodelle und auf der Fahrt zu den isles fortunées präsent war, und ein älteres Mitglied aus der Generation von Dorat, das Ronsard und Du Bellay bei ihren literarischen Anfängen begleitet hat.79 Wenn Ronsard in seinem Lobgedicht den König daran erinnert, dass neben dessen militärischen Erfolgen auch die Literatur zum Ruhm der Nation beitragen könnte und sollte, spricht er wohlgemerkt zweimal auf ganz unterschiedliche Weise von der Dichtung. Kurz und bündig in nur 78 Auch hier ist anzumerken, dass Ronsard wiederum die Eklogen und Epigramme von Clément Marot verschweigt. Vgl. Ronsard: Œuvres complètes. Band 5. Hg. von Laumonier (wie Anm. 10), S. 264, Anm. 1. 79 Vgl. Simonin: Pierre de Ronsard (wie Anm. 54), S. 93, 101f. und passim.

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vier Versen lobt er die große Schar der Hofpoeten, die Heinrichs ,Olymp‘ schmücken und zu denen auch Ronsards ehemalige Widersacher Lancelot Carle und Saint-Gelais gehören. Zunächst klingt es demütig, wenn Ronsard sich anbietet, ihre Reihen zu verstärken: S’il [Jupiter] se vante d’avoir un Appollon ches luy, Tu en as plus de cent en ta Court aujourdhuy, Un Carle, un Sainct-Gelais, et m’oserois promettre De seconder leur reng, si tu m’y voulois mettre. (489–492)

Gegen Ende des Gedichtes holt er jedoch noch einmal weit aus, um von sich selbst als einem inspirierten Dichter und von der kleinen Zahl seiner Mitstreiter zu sprechen, die seine anspruchsvolle Definition von Dichtung teilen: Non, je ne suis tout seul, non, tout seul je ne suis, Non, je ne le suis pas, qui par les œuvres puis Donner aux grandz Seigneurs une gloire eternelle: Autres le peuvent faire, un Bellay, un Jodelle, Un Baïf, Pelletier, un Belleau, et Tiard, Qui des neuf Sœurs en don ont reçeu le bel art De faire par les vers les grandz Seigneurs revivre, Mieux que leurs bastimens, ou leurs fontes de cuivre. (737–744)

Der Widerspruch zwischen den beiden Modellen – der Erfolgsliteratur der großen Menge und der ,hohen‘ Literatur einer eingeweihten Minderheit – wird im Text nicht aufgelöst. Da Ronsard dem König in erster Linie schmeicheln will, verpackt er seine Kritik an dessen verfehlter Kulturpolitik so vorsichtig, dass sie fast unhörbar ausgesprochen wird. Die Ambivalenz des Textes mag aber auch darauf hindeuten, dass Ronsard sich in einer Umbruchphase befindet und sich selbst seines eigenen Standpunktes nicht mehr sicher ist. Einerseits möchte er Erfolg haben, sich also dem Geschmack des Königs und der Hofgesellschaft anpassen. Andererseits möchte er weiterhin einer gelehrten Elite angehören, die ihre ästhetischen Kriterien unabhängig vom Literaturmarkt bestimmt. Die auffällig pathetische dreifache Beteuerung, dass er nicht allein dastehe: Non, je ne suis tout seul, non, tout seul je ne suis, / Non, je ne le suis pas, legt die Vermutung nahe, dass Ronsard mehr denn je der Unterstützung einer Gruppe von Gleichgesinnten bedarf, die bereit sind, gemeinsam mit ihm die schon 1550 stolz proklamierte Losung: Stile apart, sens apart, euvre apart, zu verfechten.80

80 Ronsard: Au lecteur. Hg. von Laumonier (wie Anm. 35), S. 45.



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6 Die Wende um 180 Grad und der Griff nach den Sternen: die Elegie an Christophle de Choiseul (1556) Der Gegensatz, der in der Hymne an Heinrich II. heimlich verpackt wurde, wird ein Jahr später in der «Élégie à Christophle de Choiseul» explizit zum zentralen Thema erhoben und auf raffinierte Weise gelöst. Von den ersten Versen an stellt Ronsard deutlich zwei Gruppen gegenüber: auf der einen Seite die Masse mediokrer Schriftsteller: [l’] abondance D’escrivains [qui] aujourd’huy fourmille en nostre France [... et qui] tous n’escrivent bien (1–3),

auf der anderen Seite eine Handvoll begnadeter Musensöhne: cinq ou six seulement (15), la brigade / Des bons (45 f.), also seine eigene ,coterie‘. Der scharfe Kontrast zwischen beiden Gruppierungen wird sogleich anschaulich entwickelt, wenn Ronsard dem guten Stil und ,guten Ton‘ (12) das satirische Bild der quakenden Frösche am sumpfigen Teich entgegenstellt und lautmalend die Kakophonie schlechter Dichtung karikiert: [...] leur gueule verte Se monstre hydeusement en coäçant ouverte. Mais ce n’est pas le tout que d’ouvrir le bec grand. (9–11)81

Alle weiteren Gedanken, die im Laufe des Textes über den Beruf bzw. die Berufung des Dichters angestellt werden, schreiben sich in dasselbe Schwarz-Weiß-Schema ein. Der wahre Dichter besitzt eine natürliche Begabung, die man nicht durch Bemühungen und Anstrengungen erwerben kann (25–28). Er wird wie ein Aristokrat in seinen Stand hineingeboren, ist gentil und bien né (37, 47), aber auch humanistisch gebildet: docte (37, 52). Gemeine, ungebildete Dichter treten in einem ungeordneten Haufen, als tourbe (21), auf, die Elitedichter dagegen bilden eine wohl organisierte brigade (45). Die minder bemittelte Menge ist nur zu sklavischer Nachahmung fähig (22), während der vom Furor Beseelte genuin Neues erschafft (50–56). Da es ihm an Mut mangelt, folgt der mittelmäßige Dichter den ausgetretenen Pfaden der althergebrachten französischen Tradition (53), wohingegen der innovative künstlerische Geist die Kultur der Antike im eigenen Lande heimisch macht und wiederbelebt (58f.). Mit dieser Litanei scheint Ronsard zunächst noch einmal dieselben Thesen zu resümieren, die er schon 1550 im Vorwort seiner ersten Odensammlung proklamiert hatte, um sich als Neuankömmling in der literarischen Szene einen Platz zu erobern. 81 Man beachte den Hiatus in bec grand, der französischen Ohren Schmerzen bereitet.

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In seiner «Préface au lecteur» hatte Ronsard damals (wie schon ein Jahr zuvor Du Bellay in der «Deffence et Illustration de la Langue Françoyse») eine deutliche Trennungslinie zwischen seinen gelehrten Ambitionen und den leichten, heiteren Versen von Clément Marot gezogen. Dem sonnet petrarquizé und der mignardise d’amour nach dem Geschmack der rimeurs, poetastres und courtizans hatte er den Ernst (gravité) und die Fülle und Vielfalt (copieuse diversité)82 der heroischen pindarischen Ode entgegengehalten, um der französischen Literatur neue Wege aufzuzeigen. Die herablassende Polemik gegen uninspirierte, ignorante Nachahmer ist in der Elegie an Christophle de Choiseul fast wortwörtlich die gleiche geblieben, doch in Bezug auf seine literarische Orientierung hat Ronsard inzwischen eine Wende um 180 Grad vollzogen. Die einst so gelobten saintes conceptions de Pindare83 stößt er vom Sockel: Me loüe qui vouldra les repliz recourbez Des torrens de Pindare en profond embourbez, Obscurs, rudes, facheux […]. (79–81)

Ernste, erhabene Verse überlässt Ronsard nun den Schulmeistern (maistres d’escolles, 98). Diesmal führt der ,neue Weg‘ paradoxerweise zu den plaisirs d’un amoureux repos (68), den descriptions / Douces, et doucement coulantes d’un doux stille (72f.) und dem vorher so verpönten mignard ouvrage (89). Statt ,Pindar‘ heißt das Zauberwort jetzt ,Anakreon‘: Anacreon me plaist, le doux Anacreon! (83)

Hiermit hat Ronsard de facto den Kurs seiner eigenen Kritiker eingeschlagen. Schon Laumonier hat aufgezeigt, dass Ronsards Bekenntnis zur anmutigen und lebensfrohen Lyrik Anakreons im Grunde eine Rücknahme seiner Kritik an Marot und einen Widerruf seiner literarischen Absichtserklärungen von 1550 bedeutet.84 Da es sich aber bei Anakreon wie bei Pindar um ein antikes, griechisches Vorbild handelt, kann Ronsard weiterhin die ungebrochene Kontinuität seiner humanistischen Ansprüche postulieren, obwohl er sich der höfischen Lyrik annähert. Anakreon ermöglicht ihm gewissermaßen den Brückenschlag zwischen Erfolgsdichtung und autonomem Selbstverständnis, der ihm in der Hymne an Heinrich II. noch nicht gelingen wollte. Ronsard hat seine Elegie an Christophle de Choiseul ursprünglich als Vorwort zu der französischen Anakreon-Übersetzung seines Freundes Remy Belleau verfasst. Belleau ist der eigentliche Adressat dieses Gedichts, doch da Belleau das Buch seinem Gönner Christophle de Choiseul widmet, richtet sich Ronsards Gedicht auch an 82 Vgl. Ronsard: Au lecteur. Hg. von Laumonier (wie Anm. 35), S. 44, S. 47 und S. 48. 83 Ronsard: Au lecteur. Hg. von Laumonier (wie Anm. 35), S. 48. 84 Vgl. Laumonier: Ronsard poète lyrique (wie Anm. 46), S.  172f.: „Saint-Gelais par ses critiques, L’Hospital par ses conseils, [...], H. Estienne par sa découverte, la cour par ses goûts littéraires, réussirent à lui faire brûler […] ce qu’il avait adoré, et adorer ce qu’il avait brûlé.“



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diesen.85 Ronsard begrüßt Belleaus Versübersetzung als einen epochalen Meilenstein. Schon 1554, als Henri Estienne erstmals das von ihm neu entdeckte griechische Anakreonkorpus drucken lässt,86 würdigt Ronsard dieses Ereignis mit einer «Odelette», in der er – ähnlich wie in den «Dithyrambes du bouc de Jodelle» – seine ganze Truppe (toute la troupe, 21) zu einem weinfröhlichen Fest einlädt.87 Im Zusammenhang mit Anakreon scheint Ronsard die alexandrinische Dichtergruppe der Pleias eingefallen zu sein, die diesen sehr schätzte; denn er greift an dieser Stelle das Bild des poetischen Siebengestirns auf, um Belleau als Angehörigen einer vergleichbaren literarischen Elite in der Gegenwart auszuzeichnen: [...] Belleau, qui viens en la brigade Des bons, pour acomplir la septiesme Pliade. (45 f.)

Symptomatisch ist dabei, dass Ronsard ausgerechnet an dem Punkt, an dem er die größten Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack macht, seinen Elitegedanken die höchste Steigerung erfahren lässt und seinen Kreis der berufenen Dichter an den Sternenhimmel versetzt. Wenn man es genau betrachtet, führt Ronsard in der Elegie an Choiseul eine Scheinargumentation. Der Name ‚Pléiade‘ fällt in dem Moment, in dem sich Ronsard am weitesten von seinem Lehrer Dorat und den Idealen des Collège de Coqueret entfernt.88 Im lyrischen Werk von Ronsard ist der Begriff ‚Pléiade‘ ein Hapax. Die «Élégie à Christophle de Choiseul» ist der einzige Ort, an dem das Wort auftaucht, und dort wird es keinesfalls als Eigenname, sondern als Metapher ins Spiel gebracht in dem Sinne, dass mit Belleau das Siebengestirn komplett sei. Auch das Wort ‚brigade‘ erscheint im selben Text nicht als Eigenname, sondern als Synonym für ,Elitetruppe‘: la brigade / Des bons (45f.), im Gegensatz zum pejorativ gemeinten ,Haufen‘ der mittelmäßigen Dichter: [la] tourbe inconnüe / De serfz imitateurs (21f.). Paul Laumonier hat schon 1908 darauf hingewiesen, dass der Begriff ‚Pléiade‘ nach der «Élégie à Christophle de Choiseul» im Werk von Ronsard nur noch ein einziges Mal in einem Prosatext auftaucht,89 und zwar 1563 in der «Epistre au lecteur» zu seinem «Recueil des Nouvelles Poësies». Hier antwortet der Dichter auf einen polemischen Angriff des hugenottischen Humanisten Florent Chrestien, der den Begriff 85 Ronsard: A Christophle de Choiseul abbé de Mureaux, en la louange de Belleau. In: Les Odes d’Anacreon Teien, traduites de Grec en françois […]. Ensemble quelques petits hymnes de son invention. Paris 1556, S. 8. 86 Anacreontis Teii Odae. Paris 1554. In Wahrheit handelt es sich um einen alexandrinischen Pseudo-Anakreon. Vgl. de Nolhac: Ronsard et l’humanisme (wie Anm. 20), S. 109–111. 87 Vgl. Ronsard: Les Meslanges (1555). In: Œuvres complètes. Band 6. Hg. von Paul Laumonier. Paris 1930, S. 174–176. 88 Dass Dorat Ronsards Wende zur ,leichten Muse‘ mit großer Zurückhaltung betrachtet, bezeugt ein lateinisches Gedicht an Morel: «Continuetur Amor solo tibi carmine tantum». Vgl. Laumonier: Ronsard poète lyrique (wie Anm. 46), S. 165. 89 Vgl. Laumonier: Commentaire historique et critique (wie Anm. 62), S. 219.

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‚Pléiade‘ polemisch gegen ihn verwendet hat, um seinen Griff nach den Sternen zu bespötteln: Il me souvient d’avoir autrefois accomparé sept poëtes de mon temps à la splendeur des sept estoilles de la Pleïade, comme autrefois on avoit fait des sept excellens poëtes grecs qui florissoient presque d’un mesme temps. Et pource que tu es extremement marry dequoy tu n’estois du nombre, tu as voulu injurier telle gentille troupe avecques moy.90

Obwohl man berücksichtigen muss, dass Ronsard in einer Verteidigungsschrift Interesse hat, die Dinge herabzuspielen, und sich wahrscheinlich deshalb nur betont beiläufig zu erinnern scheint, ist doch interessant, dass er sich schon im Jahre 1563 auf seine troupe im Tempus der Vergangenheit bezieht, als handele es sich um eine weit zurückliegende Jugenderinnerung. Wenn es also für Ronsard eine Dichtergruppe gegeben hat, so sicherlich nicht länger als ein knappes Jahrzehnt. Wahrscheinlich braucht Ronsard die Gruppe Anfang der 60er Jahre nicht mehr, da er – nicht zuletzt auf Grund seiner entschiedenen antihugenottischen Stellungnahmen im ersten Bürgerkrieg – definitiv zum offiziellen Publizisten Karls IX. avanciert ist und damit endlich die ersehnte Doppelrolle eines ,poète des princes‘ und ,prince des poètes‘ spielt.91 In der überarbeiteten Fassung der «Élégie à Christophle de Choiseul» für seine Werkausgabe von 1578 reduziert Ronsard im Rückblick die Zahl der begnadeten Dichter zur Regierungszeit Heinrichs II. sogar nur noch auf zwei oder drei,92 womit er die Existenz einer Pléiade retrospektiv negiert.

7 Die Pléiade, eine egomane Phantasie Ronsards? Der mythisch verbrämte, propagandistische Diskurs der sechs ,Gründertexte‘ lässt uns an der realen Existenz der Pléiade zweifeln, drehen sich Ronsards Gruppenphantasien doch nicht um die Gruppe an sich, sondern vielmehr um das eigene DichterIch, das sich in dem es umgebenden Kreis gespiegelt und bestätigt sehen möchte. Es drängt sich die Frage auf, inwieweit die zeitgenössische Öffentlichkeit Ronsards Dichtergruppe überhaupt als solche wahrnimmt, inwiefern sich die von Ronsard gekürten Mitstreiter dazugehörig fühlen, ob sie die von Ronsard definierten Gruppenziele und die Auswahl seiner Wegbegleiter gutheißen bzw. ob sie Ronsard überhaupt als ihren Anführer anerkennen. Auch hier sind wir fast ausschließlich auf literarische Zeugnisse angewiesen, die aber sehr gezielte Antworten auf Ronsards Fiktionen

90 Ronsard: Epistre au lecteur. In: Œuvres complètes. Band 12. Hg. von Paul Laumonier. Paris 1946, S. 5–24, hier S. 21. 91 Vgl. Simonin: Pierre de Ronsard (wie Anm. 54), S. 189, S. 258 und S. 265. 92 Vgl. Ronsard: Œuvres complètes. Band 8. Hg. von Laumonier (wie Anm. 13), S. 352.



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erteilen und aufschlussreiche Auskünfte über das Selbst- und Fremdverständnis ihrer Autoren geben. Meines Wissens spricht kein anderes Mitglied des von Ronsard zusammengestellten Siebengestirns von einer Pléiade.93 Schauen wir in das Werk von Joachim du Bellay, den die Literaturgeschichte als den offiziellen Theoretiker und das zweite Oberhaupt der Gruppe ansieht,94 so stellen wir fest, dass er zwar in seiner Ode «A Pierre de Ronsard» in den «Poésies diverses» von nostre docte bande (V. 1) spricht,95 doch ist die beißende Ironie, die er in den «Regrets» Ronsard gegenüber an den Tag legt, mehrfach kommentiert worden.96 Die permanenten Spannungen zwischen Lob und Spott, die in den zahlreichen Ronsard gewidmeten Sonetten spürbar werden, deuten darauf hin, dass Du Bellay Ronsards Führungsanspruch über eine poetische Gefolgschaft mit Skepsis betrachtet.97 Wie für alle Humanisten spielt auch für Du Bellay der Gedanke der Freundschaft eine eminente Rolle. So bedeutet das im Titel der «Regrets» benannte Heimweh nach Frankreich vor allem die Sehnsucht nach den zurückgelassenen Gefährten (mes antiques amis, mon plus riche trésor),98 die in mythischen Bildern von unzertrennlichen Paaren wie Kastor und Pollux, Orest und Pylades, Theseus und Peirithoos, Phinthias und Damon oder Nisos und Euryalos heraufbeschworen wird.99 Dabei ist der Begriff der Freundschaft ethischer gefüllt als bei Ronsard. Weit entfernt von der Idee einer Zweckgemeinschaft, sind Du Bellays Appelle an die ihm bekannten Humanisten in Frankreich und Italien durchtränkt von Reminiszenzen an Ciceros «De amicitia». Du Bellay betont immer wieder die Bedeutung der Parrhesie, des ungeschminkten, freien Sprechens (franchise) in einer Gemeinschaft von gleichgestellten und gleichgesinnten Freunden (amitié mutuelle, amitié [...] fraternelle [...] entre pareils à soi), die eine echte Zuneigung (libre affection) miteinander verbindet.100 Als sein persönliches Wunschbild beschreibt er den fruchtbaren Meinungsaustausch unter Kollegen, die sich mit ehrlicher, konstruktiver Kritik gegenseitig helfen, ihre Werke zu verbessern.

93 Dies bestätigt Raymond Lebègue in: De la Brigade à la Pléiade. In: Lumières de la Pléiade. Paris 1966, S. 13–20, hier S. 13: „[…] c’est Ronsard, et lui seul, qui a inventé cette Pléiade; même ceux qu’il y avait rangé de ses côtés, se sont gardés d’user de ce vocable.“ 94 Vgl. Chamard: Histoire de la Pléiade. Band 1 (wie Anm. 20), S. 95, S. 164f. und passim. 95 Vgl. Joachim Du Bellay: Œuvres poétiques. Band 5: Recueils lyriques. Hg. von Henri Chamard. Paris 1923, S. 360–365, hier S. 360. Chamard datiert das Gedicht auf 1555 oder 1556 (ebd., Anm. 2). 96 Vgl. Gisèle Mathieu-Castellani: Le nom de Ronsard dans «Les Regrets». Elseneur 12 (Dezember 1997) S. 35–45. Defaux: Moy ton Poëte, ayant premier osé ... (wie Anm. 66), S. 204f. 97 Vgl. «Les Regrets», Nr. 3, 4, 8, 10, 16, 17, 19, 20, 22, 23, 26, 98, 140, 147, 152, 181. In: Joachim du Bellay, «Les Regrets» suivis des «Antiquités de Rome» et du «Songe». Hg. von François Roudaut. Paris 2002. 98 Vgl. Les Regrets. Hg. von Roudaut (wie Anm. 97), Nr. 19, V. 8. 99 Vgl. Les Regrets. Hg. von Roudaut (wie Anm. 97), Nr. 41, V. 10, Nr. 70, V. 1–8. 100 Vgl. Les Regrets. Hg. von Roudaut (wie Anm. 97), Nr. 37, V. 13, Nr. 115, V. 3, Nr. 41, V. 11, Nr. 38, V. 2 und 6.

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Wie bei Cicero101 wird diesem Ideal als abschreckendes Exempel die Heuchelei (feintise, flatterie, fausse louange) und die Missgunst in tyrannisch strukturierten menschlichen Beziehungen entgegengesetzt: Magny, je ne puis voir un prodigue d’honneur Qui trouve tout bien fait, qui de tout s’émerveille, Qui mes fautes approuve, et me flatte l’oreille Comme si j’étais prince, ou quelque grand seigneur. Mais je me fâche aussi d’un fâcheux repreneur, Qui du bon et mauvais fait censure pareille, Qui se lit volontiers, et semble qu’il sommeille En lisant les chansons de quelque autre sonneur. Cestui-là me déçoit d’une fausse louange, Et gardant qu’aux bons vers les mauvais je ne change Fait qu’en me plaisant trop à chacun je déplais: Cestui-ci me dégoûte, et ne pouvant rien faire Qui lui plaise, il me fait également déplaire Tout ce qu’il fait lui-même, et tout ce que je fais.102

Das Ideal der wahrhaftigen Rede schlägt sich in den «Regrets» aber nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch in einer gewollt unprätentiösen Ausdrucksweise nieder, die oft umschlägt in Ironie und Satire. Es liegt nahe, Du Bellays ostentative Entscheidung für den sermo humilis gegen eine vollmundige Rhetorik voll fabulöser Fiktionen als Kritik an Ronsard zu verstehen, dem als ‚poète des princes‘ die Parrhesie verwehrt ist.103 So wird gleich zu Beginn des Zyklus in Sonett Nr. 2 ein schlichter, authentischer Stil gegen mythologische Gelehrsamkeit und Ruhmsucht ausgespielt:

101 Vgl. Cic. «De am.» XXIV–XXVI, insbesondere XXV 91–92: Ut igitur et monere et moneri proprium est verae amicitiae et alterum libere facere, non aspere, alterum patienter accipere, non repugnanter, sic habendum est nullam in amicitiis pestem esse maiorem quam adulationem, blanditiam, adsentationem; quamvis enim multis nominibus est hoc vitium notandum levium hominum atque fallacium, ad voluntatem loquentium omnia, nihil ad veritatem. Cum autem omnium rerum simulatio vitiosa est – tollit enim iudicium veri idque adulterat – , tum amicitiae repugnat maxime; delet enim veritatem, sine qua nomen amicitae valere non potest. 102 Les Regrets. Hg. von Roudaut (wie Anm. 97), Nr. 67. Vgl. auch Nr. 42, V. 8–14: Plût à Dieu que je fusse un Pasquin ou Marphore. / […] Ma plume serait libre, et si ne craindrait point / Qu’un plus grand contre moi pût exercer son ire. / Assure-toi, Vineus que celui seul est Roi, / A qui même les Rois ne peuvent donner loi, / Et qui peut d’un chacun à son plaisir écrire. 103 Den Gipfel der Ironie stellt in diesem Sinne das Sonett Nr. 140 «Si tu veux sûrement en cour te maintenir» dar, in dem Du Bellay Ronsard den anticiceronianischen Rat erteilt: Aime donques (Ronsard) comme pouvant haïr, / Haïs donques (Ronsard) comme pouvant aimer. Vgl. hierzu die entsprechende Passage XVI 59 in «De amicitia»: [Scipio] negabat ullam vocem inimiciorem amicitiae potuisse reperiri quam eius, qui dixisset ita amare oportere, ut si aliquando esset osurus. [...] inpuri cuiusdam aut ambitiosi aut omnia ad suam potentiam revocantis esse sententiam. Sollen wir diese



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Un plus savant que moi (Paschal) ira songer Aveques l’Ascréan dessus la double cime: Et pour être de ceux dont on fait plus d’estime Dedans l’onde au cheval tout nu s’ira plonger. […] Et peut-être que tel se pense bien habile, Qui trouvant de mes vers la rime si facile, En vain travaillera, me voulant imiter.104

Derselbe Tenor klingt gegen Ende der Sammlung in Sonett Nr. 188 wieder an: Je ne veux déguiser ma simple poésie Sous le masque emprunté d’une fable moisie […] Mais suivant, comme toi, la véritable histoire, D’un vers non fabuleux je veux chanter […].105

Diese und andere Verse in den «Regrets»106 muten an wie eine Palinodie in Bezug auf die erst neun Jahre früher verfochtenen zentralen Thesen der «Deffence et Illustration». Auch mit seinem Rückzug in die neulateinische Dichtung der «Poemata» scheint Du Bellay bewusst Abstand zu nehmen von den ursprünglichen gemeinsamen Zielen aus der Studentenzeit am Collège de Coqueret, um gegenüber Ronsard seine Autonomie zu behaupten. So sieht es auch Marie-Dominique Legrand, wenn sie feststellt: „[...] l’œuvre latine de Du Bellay aurait vocation […] à exceller dans un ‚travail‘ auquel Ronsard ne s’attelle pas“,107 und wenn sie anderenorts die Schlussfolgerung zieht: „[...] les deux grands chantres et hérauts de la Pléiade ne suivent pas longtemps le même idéal – qu’il s’agisse ou non de tracer des chemins enfin distincts pour une gloire plus personnelle et supérieure à celle de l’autre, le fait est.“108

Zeilen einfach nur dahingehend verstehen, dass Freundschaft am Hof unmöglich ist, oder spricht Du Bellay hier Ronsard die moralische Befähigung zu wahrer Freundschaft ab? 104 Les Regrets. Hg. von Roudaut (wie Anm. 97), Nr. 2, V. 1–4 und 12–14. 105 Les Regrets. Hg. von Roudaut (wie Anm. 97), Nr. 188, V. 9–13. Dass die beiden Sonette mit dem indirekten Seitenhieb auf Ronsard an Pierre de Pascal gerichtet sind, mit dem sich Ronsard verfeindet hatte, weil die versprochene Gegenleistung für seine panegyrischen Verse ausblieb (s.o. Anm. 53), verschärft die Satire noch um einiges mehr. 106 Vgl. z.B. Les Regrets. Hg. von Roudaut (wie Anm. 97), Nr. 4, V. 1–4: Je ne veux feuilleter les exemplaires Grecs, / Je ne veux retracer les beaux traits d’un Horace / Et moins veux-je imiter d’un Pétrarque la grâce / Ou la voix d’un Ronsard […]. 107 Marie-Dominique Legrand: Ronsard sous la plume de Joachim du Bellay ou la mise en scène d’un programme poétique. À chacun son rôle et chacun à sa place. In: Ronsard, figure de la variété. En mémoire d’Isidore Silver. Hg. von Colette H. Winn. Genève 2002, S. 203–219, hier S. 217f. 108 Marie-Dominique Legrand: Joachim du Bellay, Scévole de Sainte Marthe, Guillaume Colletet. Points de vue sur Pierre de Ronsard poète. In: Les figures du poète Pierre de Ronsard. Hg. von Marie-Dominique Legrand. Nanterre 2000, S. 43–57, hier S. 49.

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Die «Regrets» als Ganzes richten sich wie eine stilisierte Sammlung vertraulicher Briefe an einen weit gespannten Kreis namentlich genannter Kollegen.109 Natürlich ist auch diese ,Korrespondenz‘ auf einer künstlichen, fiktiven Ebene angesiedelt, aber die in ihnen entworfene Gemeinschaft ist grundsätzlich anders strukturiert als bei Ronsard. Obwohl im Sonett Nr. 190 von der troppe sainte (V. 3) die Rede ist, die unter Heinrich II. eine blühende Literatur und Kunst hervorgebracht hat, zeigen die in den vorausgehenden Sonetten zitierten Namen an,110 dass Du Bellay den Begriff ,Truppe‘ sehr viel weiter fasst als Ronsard im Sinne einer ganzen Generation von Intellektuellen im Umkreis von Marguerite de France. Du Bellay denkt dabei nicht an eine fest konstituierte oder gar hierarchisch organisierte Gruppe, sondern an eine allumfassende französische res publica litterarum, mit der er das gemeinsame Werk der translatio studii vom alten Rom zum Paris der Renaissance vollbringen will. Auch in seinen lateinischen «Xenia» tauchen im Zentrum des Bandes zwar die Namen der PléiadeMitglieder Ronsard, Jodelle, Baïf, Des Autels, Belleau und Tyard auf, allerdings wiederum so durchmischt mit anderen zeitgenössischen Literaten und Gelehrten, dass auch hier keine deutliche Gruppierung auszumachen ist. Als sein ,Pylades‘ wird auf dem Titelblatt nicht etwa Ronsard, sondern der Humanist Frédéric Morel herausgestellt.111 Ungeachtet dieser Differenzen legt Ronsard seinem Freund und Rivalen nach dessen frühem Tod im Jahre 1560 seine eigene Version ihrer gemeinsamen Geschichte in den Mund. In der «Élégie à Loys des Masures» innerhalb seines antihugenottischen «Discours des Misères de ce temps» lässt Ronsard Du Bellay als Traumgesicht auftreten: L’autre jour en dormant [...] / M’apparut du Bellay.112 Die Stimme aus dem Jenseits entwirft unter dem Diktat Ronsards nicht nur ein retrospektives Idealbild ungetrübter Harmonie: Et me disoit, Amy, que sans tache d’envie J’aimay quand je vivois comme ma propre vie (85 f.),

sondern sie spielt Ronsard auch noch die überlegene Rolle dessen zu, der voranschreitet und den Weg zeigt: Qui premier me poussas et me formas la vois À celebrer l’honneur du langage François. (87 f.)

109 Vgl. Marc Bizer: Les lettres romaines de Du Bellay. Les «Regrets» et la tradition épistolaire. Montréal 2001. 110 Vgl. Les Regrets. Hg. von Roudaut (wie Anm. 97), Nr. 177 bis 189. 111 Vgl. «Ioach. Bellaii Andini Poetae Clarissimi Xenia seu Illustrium quorundam Nominum Allusiones» (1569), Nr. 41, 48, 49, 51, 52, 55. In: Du Bellay: Œuvres poétiques. Band 8. Hg. von Geneviève Demerson. Paris 1985, S. 56–103. 112 Ronsard: Œuvres complètes. Band 2. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 1017–1020, V. 57–59.



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Nach einer langen Moralpredigt wendet sich der Verstorbene zum Abschied an die ganze Dichtergruppe, die er durch Ronsard grüßen lässt: Et j’erre [...] de tristesse blessé, Dequoy sur mon Printemps si tost je t’ay laissé, Sans avoir dit adieu à toute nostre bande, A qui leur Du Bellay par toy se recommande. (131 f.)

Ronsard lässt sich hier nicht nur durch einen Geist die Existenz seiner Dichtergruppe und seine eigene Vorrangstellung in dieser Gruppe bestätigen. Er lässt sich von Du Bellay persönlich auch noch die Idee zu dessen «Deffence et Illustration» zuschreiben.113 In dieser Prosopopöie haben wir den Ursprung der im 20. Jahrhundert von Henri Chamard vertretenen These zu suchen, das von Du Bellay publizierte Manifest sei in Wirklichkeit ein Gemeinschaftswerk: „Profession de foi collective, qui résuma les théories nées des communes études et des communes discussions, mais où la main d’un seul tint la plume pour tous.“114 Bis in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts halten Literaturwissenschaftler an dieser Annahme fest.115 Stärker noch als bei Du Bellay spüren wir im Werk Étienne Jodelles ein Aufbegehren gegen die von Ronsard angemaßte Vorherrschaft.116 Jodelle nimmt in zwei «Chansons» direkten Bezug auf zwei Gedichte aus Ronsards «Nouvelle Continuation des Amours» und seinen «Élégies, mascarades et bergeries», um ihm zu widersprechen und seine neuplatonische Liebestheorie aus christlicher Sicht auf den Kopf zu stellen.117 Ob wir das Vorwort zu seiner Komödie «Eugène», seine Ode an Nicolas Denisot oder sein Gedicht über den «Monophile» von Étienne Pasquier anschauen, überall spüren wir Jodelles Vorbehalte gegenüber einer zu ausschließlich 113 Allerdings entlarvt Ronsards poetischer Diskurs auf unfreiwillige Weise die eigene Fälschung, lässt sich me formas la vois in Vers 87 doch auch hintersinnig lesen im Sinne von ,du f i n g i e r t e s t meine Stimme‘. 114 Chamard: Histoire de la Pléiade. Band 1 (wie Anm. 20), S.  163f. Ders.: Joachim du Bellay (wie Anm. 47), S.  94. Vgl. auch Marcel Raymond: L’influence de Ronsard sur la poésie française (1550–1585). Paris 1927 (reprint Genève 1993), S. 10f. Zu der Geschichte und den Hintergründen dieser Fehlzuschreibungen siehe Jean-Charles Monferran: La Deffence et illustration de la langue françoise: un œuvre ronsardien? In: Les figures du poète Pierre de Ronsard. Hg. von Marie-Dominique Legrand. Nanterre 2000, S. 101–117. 115 André Desguine, der prinzipiell kein unkritischer Autor ist, spricht 1953 noch im Plural von „les auteurs de la Deffence“. Desguine: Étude préliminaire (wie Anm. 22), S. 46. 116 Étienne Pasquier, der Jodelle persönlich gekannt hat, erinnert sich: [...] il luy advint de me dire, que si un Ronsard avoit le dessus d’un Jodelle le matin, l’aprés-dinée Jodelle l’emporteroit de Ronsard: et de fait il se plût quelquefois à le vouloir contre-carrer. Vgl. ders.: Les Recherches. Band 2 (wie Anm. 45), S. 1419. 117 «Chanson pour répondre à celle de Ronsard qui commence, Quand j’estois libre» und «Chanson pour répondre à celle de Ronsard qui commence, Je suis Amour le grand maistre des Dieux». In: Étienne Jodelle: Œuvres complètes. 2 Bände. Hg. von Enea Balmas. Paris 1965, Band 1, S. 102ff. und S. 106ff.

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an der griechisch-römischen Antike orientierten Poetik, die er durch eine Rückbesinnung auf die Ursprünge der einheimischen französischen Dichtungstradition und eine persönliche, authentischere Stimme ergänzen und bereichern möchte.118 Nach Meinung des Jodelle-Spezialisten Enea Balmas wurde der Dichter nach dem Erfolg seiner «Cléopâtre captive» gegen seinen Willen von Ronsard für die Pléiade vereinnahmt.119 Jodelle hat auf jeden Fall stets seine eigene Autonomie verteidigt und wurde von seinen Zeitgenossen dementsprechend als Kritiker von Ronsard wahrgenommen. Louis Le Caron lässt 1556 in seinem Dialog «Ronsard, ou de la Poësie» die Dichter Ronsard und Jodelle als Kontrahenten auftreten, die für und wider die Imitation der griechisch-römischen Antike und den Gebrauch der heidnischen Mythologie diskutieren.120 Obwohl schon im Titel von vornherein Ronsard das ideologische Monopol zugestanden wird, zeigt die inszenierte Auseinandersetzung dennoch, dass das Postulat einer von allen Pléiade-Mitgliedern gemeinsam verfochtenen einheitlichen Doktrin kaum aufrecht zu erhalten ist.121

8 Die Stimmen der Nachwelt Bezeichnenderweise fällt bei den Feierlichkeiten nach Ronsards Tod, also in dem Moment, in dem über sein Leben und seine Dichterkarriere Bilanz gezogen wird, weder das Wort ‚Brigade’ noch das Wort ‚Pléiade‘ noch irgendeine Anspielung auf die so bezeichnete Dichtergruppe. In der großen Trauerrede, die Jacques Davy du Perron 1586 zu Ehren des verstorbenen ,prince des poètes‘ im Pariser Collège de Boncourt hält, wird lediglich Ronsards Lehrer Dorat erwähnt, nicht aber die Mitschüler vom Collège de Coqueret, obwohl ein Überlebender der damaligen Studentengruppe, Ronsards ältester Jugendfreund Jean-Antoine de Baïf, vermutlich im Saal präsent ist.122 118 Vgl. «Prologue». In: Jodelle: Œuvres complètes. Band 2. Hg. von Balmas (wie Anm. 117), S. 11–13. «Ode au conte d’Alsinois». In: Ebd. Band 1, S. 78–83. «Sur le Monophile d’Estienne Pasquier». In: Ebd. Band 1, S. 110–112. Vgl. auch das Vorwort seines posthumen Herausgebers Charles de la Mothe, der dem römischen Mythos einen druidisch-gallischen Ursprungsmythos entgegensetzt. In: Ebd. Band 1, S. 67–74, hier S. 69–71. 119 Vgl. Enea Balmas: Le mystère Jodelle. In: Lumières de la Pléiade. Paris 1966, S. 21–31, hier S. 23. 120 Vgl. Louis Le Caron: Dialogues. Hgg. von Joan A. Buhlmann und Donald Gilman. Genève 1986, S. 257–301. 121 Der einzige Gefährte, der Ronsard und seiner Idee einer Dichtergruppe unerschütterlich die Treue hält, scheint Remy Belleau gewesen zu sein. Er allein interpretiert z. B. 1560 in einer Ode an Étienne Pasquier den Tod Joachim du Bellays als eine Verarmung der Brigade. Vgl. Laumonier: Commentaire historique et critique (wie Anm. 62), S. 222; Gilbert Gadoffre: Ronsard. Paris 1960, S. 75. 122 Vgl. Du Perron: «Oraison funèbre sur la mort de Monsieur de Ronsard». Hg. von Michel Simonin. Genève 1985, S. 85. Allerdings sollen sich zur Totenwache angeblich sieben junge Gelehrte um Ronsards aufgebahrten Leichnam versammelt haben, als ob die Idee einer exklusiven intellektuellen Elite weiterhin symbolisch mit der magischen Zahl 7 verknüpft bliebe. So jedenfalls stellt es der Pari-



Die Dichtergruppe der Pléiade zwischen Mythos und Wirklichkeit 

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Vergeblich suchen wir auch nach einer Bezugnahme auf die Pléiade im «Tombeau de Ronsard», der 1585 von Claude Binet publizierten Sammlung dichterischer Nachrufe, obwohl auch hier die alten noch lebenden Weggefährten Jean Dorat, Pontus de Tyard und Jean-Antoine de Baïf zu Wort kommen. Tyard widmet dem Verstorbenen lakonisch ein zweizeiliges Epigramm.123 Im Sonett von Baïf ist statt von gemeinsamen Projekten und Leistungen von divergierenden Lebenswegen die Rede. Statt von Freundschaft spricht Baïf abgeklärt von beigelegten Zwistigkeiten: Nous sucçames un laict de la Muse nourrice, Que nous eusmes tous deux en mesme temps propice, Sous bien divers destins et differentes mœurs. Subjects à la Fortune, exposez à l’Envie, Ores bien, ores mal, nous menons ceste vie, Où la douce raison cede aux aigres humeurs.124

Grundsätzlich wird in keinem der Nekrologe Ronsards Status eines unsterblichen Dichters in Frage gestellt. Die Mehrzahl der Texte schreibt die Mythen, mit denen der Dichter die Großen des Landes und sich selbst zu rühmen suchte, zu Ehren des Verstorbenen weiter. So lässt Jean Bertaut das personifizierte Frankreich bei Jupiter vorsprechen, um gegen den Tod seines großen Dichters zu protestieren und ihn zurückzufordern, worauf Jupiter tröstend zur Antwort gibt, dass Ronsards Dichterruhm und damit auch Frankreichs Ruhm niemals untergehen wird.125 Im Gedicht Robert Estiennes verspricht Apollon der verzweifelten Calliope, Ronsard eine ewige Inspirationskraft zu verleihen, so dass jeder, der an seinem Grab weint, zum Dichter wird.126 Raoul Cailler entwirft schließlich eine Jenseitsvision, die an Vergil und Dante erinnert und in der Ronsard Heinrich II. im Totenreich von den Geschicken seines Landes erzählt.127 Neben diesen und anderen poetischen Gemeinplätzen finden wir jedoch in Robert Garniers «Élégie sur le trespas de Pierre de Ronsard, à Monsieur Des Portes» eine hintersinnige Persiflage auf Ronsards Glorifizierung der eigenen Dichtung und der eigenen Person. Das barocke Vanitas-Motiv, der Körper des berühmten Dichters,

ser Humanist Jacques Velliard in seiner «Laudatio funebris» dar. Vgl. das Vorwort von Michel Simonin zu Du Perrons «Oraison funèbre», S. 11–50, hier S. 27, Anm. 81. 123 Vgl. Prosper Blanchemain: Étude sur la vie de P. de Ronsard […], suivie de […] son oraison funèbre, son tombeau […]. Paris 1867, S. 235–292, hier S. 239. 124 Jean-Antoine de Baïf: A Claude Binet. In: Blanchemain: Le tombeau de Ronsard (wie Anm. 123), S. 241, V. 9–14. 125 Discours sur le trespas de Monsieur de Ronsard. In: Blanchemain: Le tombeau de Ronsard (wie Anm. 123), S. 254–264. 126 Stances sur le trespas de P. de Ronsard. In: Blanchemain: Le tombeau de Ronsard (wie Anm. 123), S. 270–273. 127 Élégie. In: Blanchemain: Le tombeau de Ronsard (wie Anm. 123), S. 273–280.

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der zum Fraß der Würmer geworden ist,128 verbindet sich mit einer spöttischen Dekonstruktion seines in der «Ode à Michel de l’Hospital» und den «Isles Fortunées» entwickelten elitären literarisch-mythischen Programms. Garnier beklagt, dass es dem großen Ronsard nichts genutzt habe, Apollon und die Musen nach Frankreich geführt zu haben. Mit den Religionskriegen sei ein neues Eisernes Zeitalter angebrochen. Die Musen seien aufs Neue geflohen, und materieller Gewinn – ein Seitenhieb auf Ronsards notorische Profitgier – sei unter diesen Umständen aus der Dichtung nicht zu ziehen: Les meurtres inhumains se font entre les freres, Spectacle plein d’horreur, Et déja les enfans courent contre leurs peres D’une aveugle fureur; Le cœur des citoyens se remplit de furies; Les paisans escartez Meurent contre une haye; on ne voit que tûries Par les champs desertez! Et puis allez chanter l’honneur de nostre France En siecles si maudits, Attendez-vous qu’aucun vos labeurs recompense Comme on faisoit jadis! (143–148)

Angesichts der katastrophalen Zustände wird Ronsard glücklich gepriesen, weil er nun nach seinem Tod fern der siecles si maudits (157) in den Elysischen Feldern zusammen mit Orpheus, Linus, Amphion, Musäus und dem gesamten Kanon der Modelldichter von Homer bis Petrarca nach Herzenslust wandeln und weiterhin seine Leier schlagen und seine Trompete erschallen lassen kann: Vous estes donc heureux, et vostre mort heureuse, O Cygne des François! […] Vous errez maintenant aux campagnes d’Elyse A l’ombre des vergers Où chargent en tout temps, asseurez de la bise, Les jaunes orengers; […] En grand’ foule accourus autour de vous se pressent Les Heros anciens Qui boivent le nectar, d’ambrosie se paissent, Aux bords Elysiens; Sur tous le grand Eumolpe, et le divin Orphée, Et Line, et Amphion, Et Musée, et celuy dont la plume eschaufée Mit en cendre Ilion. […]

128 Élégie sur le trespas de Pierre de Ronsard. In: Blanchemain: Le tombeau de Ronsard (wie Anm. 123), S. 243–248, Vers 75–76: Vous voyez ce Ronsard merveille de nostre âge, L’honneur de l’univers, / Paistre de sa chair morte, inevitable outrage, Une source de vers.



Die Dichtergruppe der Pléiade zwischen Mythos und Wirklichkeit 

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L’un vous donne sa lyre, et l’autre sa trompette; L’autre vous veut donner Son myrte, son lierre, ou son laurier prophete, Pour vous en couronner. Ainsi vivez heureuse, ame toute divine, Tandis que le Destin Nous reserve aux malheurs de la France, voisine De sa derniere fin! (161–196)

Garnier zieht klar die Grenze zwischen Mythos und Geschichte, die Ronsard verwischt hat. Im harten Kontrast zu den konkreten gesellschaftlichen Zuständen befördert er den Dichterfürsten definitiv in das zeitliche und räumliche Aus, in das er sich selber manövriert hat. Durch die Gleichsetzung vom Goldenen Zeitalter mit dem Jenseitsreich, die ja durch die Vermengung von horazischen, ovidischen und vergilischen Quellen in den «Isles Fortunées» bereits angelegt ist, verbannt Garnier mit dem verstorbenen Ronsard auch seine selbstfabrizierte Dichterlegende in das Reich der Toten und löst sie damit spöttisch in ein Nichts auf. Wie Philippe Desportes, an den das Gedicht gerichtet ist, gehört Garnier wohlgemerkt der jüngeren Dichtergeneration an, die Mühe hatte, sich gegen Ronsards Vereinnahmung zu wehren. Verschiedene Widmungsgedichte Ronsards zu Garniers Tragödien zeugen von seinem Bemühen, sich als dessen geistiger Pate zu definieren und so nach altbewährtem Muster an den Verdiensten anderer teilzuhaben: Il me souvient, Garnier, que je prestay la main Quand ta Muse accoucha, je le veus faire encore: Le Parrain bien souvent par l’enfant se decore: Par l’enfant bien souvent s’honore le Parrain.129

Vor diesem Hintergrund wird Garniers satirischer Nachruf nur allzu verständlich als Befreiung vom poetischen ,Übervater‘, der sich weigert, einer neuen Generation Platz zu machen. Dass Philippe Desportes, der Adressat von Garniers Satire, sich seinerseits in Ronsards «Tombeau» nicht zu Wort meldet, obwohl er als sein Nachfolger gilt, ist eine Tatsache, die für sich spricht.130 Andere Zeitgenossen haben den umgekehrten Weg eingeschlagen. Étienne Pasquier widmet das siebte Buch seiner Chronik «Les Recherches de la France»131 der französischen Dichtung und wirft im sechsten Kapitel einen Rückblick auf die Dich-

129 Ronsard: Œuvres complètes. Band 2. Hg. von Céard (wie Anm. 9), S. 1133. 130 Zur unausgesprochenen Rivalität zwischen Ronsard und Desportes siehe Raymond: L’influence (wie Anm. 114), S. 75ff. 131 Die «Recherches de la France» erscheinen in ihrer vollständigen Form posthum 1621. Die modernen Herausgeber datieren das 7. Buch ab ca. 1574. Vgl. Marie-Madeleine Fragonard und François Roudaut: Introduction. In: Pasquier: Les Recherches. Band 1 (wie Anm. 45), S. 3–43, hier S. 6.

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tergeneration Ronsards.132 Schon der Titel «De la grande flotte de Poëtes que produisit le regne du Roy Henry deuxiéme, et de la nouvelle forme de Poësie par eux introduite» erinnert mit seiner Schifffahrtsmetapher an Ronsards «Isles Fortunées» und macht damit von vornherein klar, dass Ronsards ,Autofiktion‘ auf seinen historischen Bericht abgefärbt hat. Als Historiograph weiß Pasquier, dass auch die Literatur sich von Generation zu Generation weiterentwickelt. So bezeichnet er zu Beginn des Kapitels die Dichtung der Regierungszeit Franz’ I. metaphorisch als die Baumschule, aus der durch einen Veredelungsprozess die Werke unter der Herrschaft Heinrichs II. hervorgegangen sind (S. 1411). Trotzdem identifiziert er sich in der Folge mit der subjektiven Sichtweise Ronsards und stellt, teilweise gestützt durch direkte Zitate aus dessen Gedichten, die Dinge so dar, als seien Ronsard und seine Mitstreiter durch göttliche Inspiration wie aus dem Nichts zu den innovativen Dichtern geworden, die die eigentliche, ernst zu nehmende französische Literatur erst begründet haben: Dieu avoit resveillé les esprits à bien escrire (S.  1415). Aus dieser oszillierenden Haltung zwischen historischer und mythischer Betrachtung resultiert auch die ambivalente Einschätzung Maurice Scèves, der von Pasquier einerseits als Vorgänger und Wegbereiter gepriesen und andererseits als obskurer Autor in den Schatten gestellt wird (S. 1411f.). Auf ähnliche Weise folgt auch Pasquiers Einschätzung von Jodelle schwankend den verschiedenen Gesichtswinkeln, aus denen Ronsard ihn im Laufe der Jahre eingeschätzt hat. Jodelle ist zunächst ein hochbegabter ,Dämon‘, dann wird er als hochmütig (sourcilleux) abgekanzelt und zum Schluss, von Garnier überflügelt, als mittelmäßiger Autor abgetan (S. 1416–1421). Das Meinungsmonopol des Dichterfürsten wird also unhinterfragt übernommen. Die ,Flotte‘ der Dichter wird wörtlich als Brigade bezeichnet, wobei Pasquier dem Begriff im Zusammenhang mit dem von Ronsard initiierten Kampf gegen die Unwissenheit eine militante Bedeutung unterschiebt: Je compare cette brigade à ceux qui font le gros d’une bataille (S. 1413).133 Es werden sechzehn Mitglieder aufgezählt, die sich grosso modo mit der Besatzung auf der Fahrt zu den Isles Fortunées decken.134 Daneben führt Pasquier als seine Quellen den «Voyage d’Hercueil», die «Ode à Michel

132 Vgl. Pasquier: Les Recherches. Band 2 (wie Anm. 45), S. 1411–1425. 133 Ronsard benutzt das Wort eher wertneutral als Synonym für ,Gruppe‘ oder ,Schar‘ im Sinne eines geselligen Zusammenschlusses von Gleichgesinnten (‚compagnons‘). Ein Blick in Edmond Huguet: Dictionnaire de la langue française du seizième siècle (Band 1, Paris 1925, s. v. ,brigade‘) zeigt, dass der Begriff in der bukolischen Dichtung sehr geläufig ist und den fröhlichen Reigen von Schäfern, Nymphen, Satyrn und anderen mythischen Waldbewohnern bezeichnet. Auch Grazien und Musen, die verstorbenen Seelen im Elysium und sogar die heiligen Apostel treten als ‚brigade‘ auf. 134 Neben Ronsard und Du Bellay sind dies Tyard, Jodelle, Belleau, Baïf, Tahureau, Des Autels, Denisot, Le Caron, Magny, La Péruse, Butet, Passerat, Des Masures und Pasquier selbst. Vgl. Pasquier: Les Recherches. Band 2 (wie Anm. 45), S. 1413. Die ersten acht gehören zu Ronsards Reisegefährten zu den Glückseligen Inseln. Marc-Claude de Buttet und Olivier de Magny stoßen in der überarbeiteten Fassung der «Isles fortunées» ab 1560 dazu. Vgl. Ronsard: Œuvres complètes. Band 5. Hg. von Laumonier (wie Anm. 10), S. 179.



Die Dichtergruppe der Pléiade zwischen Mythos und Wirklichkeit 

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de l’Hospital» und die «Élégie à Jean de la Péruse» an (S. 1415, S. 1424). Damit bezieht er sich auf eine Auswahl der programmatischen Texte, in denen Ronsard seine eigene parteiische Version der französischen Literaturgeschichte entworfen hat. Pasquiers Darstellung der Dichtergeneration Ronsards gipfelt dementsprechend auch in dessen Apotheose: Mais surtout on ne peut assez loüer la memoire du grand Ronsard (S. 1423). Es klingt der Originalton Ronsards von 1550 an, wenn Pasquier feststellt, dass die Nachwelt Ronsard den unsterblichen Ruhm schulde, den er dem eigenen Namen in seinen Versen zugeschrieben habe: la posterité auroit honte de ne luy enteriner sa requeste (S. 1425). Der Ich-Kult des Dichters wird bestätigt und lückenlos fortgeführt. Persönlicher Mythos wird zur Geschichte. Die «Élégie à Christophle de Choiseul» und der Begriff der ‚Pléiade‘ bleiben in den «Recherches» unerwähnt, wahrscheinlich weil Pasquier sich selber in die illustre Gruppe einreihen möchte (S. 1413). Der Name ‚Pléiade‘ wird aber 1597, dreizehn Jahre nach Ronsards Tod, in der dritten Fassung der Ronsard-Vita von Claude Binet wieder aufgegriffen, die ihrerseits eindeutig auf der Selbstdarstellung des Meisters fußt.135 Spätestens seit Claude Faisants breit angelegter Studie über das Nachleben der Pléiade wissen wir, dass die Idee der Pléiade sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts fest in der Literaturgeschichte etabliert. Dies geschieht im Zuge der französischen Romantik und ihrer Verherrlichung der Vorklassik. Victor Hugo, Sainte-Beuve und Gérard de Nerval projizieren ihr eigenes exklusives und aufrührerisches Gruppengefühl auf ihre Vorgänger der Renaissance. Somit bedeutet der Begriff ‚Pléiade‘ historisch gesehen – nicht unähnlich dem Begriff der ,Renaissance‘ – letztlich ein im Rückblick geprägtes Abbild der Gruppe des Cénacle.136

9 Plädoyer für einen obsoleten Begriff „La Pléiade a-t-elle existé?“ fragt sich Yvonne Bellenger in ihrem «Que sais-je»-Bändchen über die gleichnamige Dichtergruppe, und ihre Antwort lautet: „La tradition

135 Vgl. Binet: La vie de P. de Ronsard (wie Anm. 62), S. 43f., Anm. 7 C: Il [Ronsard] aima et estima sur tous tant pour la grande doctrine et pour avoir le mieux escrit, que pour l’amitié à laquelle l’excellence de son sçavoir les avoit obligez, Jean Anthoine de Baïf, Joachin du Bellay, Pontus de Tyard, Estienne Jodelle, Remy Belleau […], la compagnie desquels avec luy et Dorat à l’imitation des sept excellens Poëtes Grecs qui florissoient presque d’un mesme temps il appella la Pleiade, parce qu’ils estoient les premiers et plus excellens, par la diligence desquels la Poësie Françoise estoit montée au comble de tout honneur. Die von Binet genannte Zusammenstellung des Siebengestirns wird richtungsweisend für Marty-Laveaux’ Edition der Pléiade-Dichter (La Pléiade française) und somit kanonbildend für die Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. 136 Vgl. Claude Faisant: Mort et résurrection de la Pléiade. Hg. von Josiane Rieu. Paris 1998, S. 427– 596. Vgl. auch Jean Céard: La redécouverte de la Pléiade. In: Romantismes européens et romantisme français. Hg. von Pierre Brunel. Montpellier 2000, S. 133–147.

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scolaire l’assure, mais les érudits s’interrogent“.137 Raymond Lebègue spricht zwar von einer fiktiven Gruppe, gesteht dem Namen ‚Pléiade‘ aber trotzdem eine positive Bedeutung zu, da er eine poetische Erneuerungsbewegung bezeichne, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts tatsächlich stattgefunden habe. Inhaltlich ist der Begriff für Lebègue gefüllt mit der Propagierung der antiken und italienischen Vorbilder und der von ihnen praktizierten Gattungen, mit der Inspirationslehre, der besonderen Pflege der Muttersprache und der rühmenden Funktion der Dichtung, die Unsterblichkeit verleihen soll.138 Jean Céard benutzt den Begriff cum grano salis in Form einer correctio: „la Pléiade [...] (quelle que soit la validité de cette appellation)“.139 Émmanuel Buron drückt sich, wie wir anfangs gesehen haben, radikaler aus. Für ihn leistet die Idee der Pléiade einer Monopolisierung Vorschub, die die intellektuelle Vielfalt negiert und unseren Blick auf die heterogene Literaturlandschaft der französischen Renaissance auf unzulässige Weise verengt: „Pléiade. Terme équivoque, et qu’il serait utile d’abandonner.“140 Sollten wir tatsächlich auf den Begriff und die Idee der Pléiade verzichten? Im Grunde hat der Altmeister Saulnier das Problem schon vor einem halben Jahrhundert auf den Punkt gebracht, wenn er über die ersten Gegner der «Deffence et Illustration» im 16. Jahrhundert sagt, dass sie mit ihrer Skepsis im Prinzip alle guten Gründe auf ihrer Seite hatten, sich faktisch aber trotzdem auf dem Holzweg befanden: „En de telles critiques [...], les censeurs avaient toute raison, en p r i n c i p e: et tort, en f a i t“141; denn letztlich habe die literarische Leistung und ihr Erfolg den Ausschlag gegeben. Auch wenn die aggressiven Thesen von 1549 weit weniger originell waren, als Dorats Schüler es sich einbildeten, auch wenn es eine Dichtergruppe um Ronsard und Du Bellay streng genommen nur in den ersten gemeinsamen Jahren am Collège de Coqueret gegeben hat, auch wenn uns Ronsards selbstfabrizierte Hagiographie noch so suspekt erscheinen mag, verdankte die französische Renaissancedichtung ihm und seinem Kreis doch ihren entscheidenden Durchbruch. Die Pléiade-Dichter setzten ihre poetischen Ideale mit so viel Talent, Enthusiasmus und Überzeugungskraft in die Tat um, dass ihr Auftreten in der Öffentlichkeit einen epochemachenden Einschnitt markierte, der für die Entwicklung der französischen Literatur irreversible Folgen hatte und aus ihrer Geschichte nicht mehr wegzudenken ist.

137 Yvonne Bellenger: La Pléiade. Paris 1978, S. 5. 138 Vgl. Lebègue: De la Brigade à la Pléiade (wie Anm. 93), S. 20. 139 Céard: La redécouverte de la Pléiade (wie Anm. 136), S. 136. 140 S. o. Anm. 5. 141 Verdun Louis Saulnier: Du Bellay. Paris 4. Aufl. 1968 (Connaissances des lettres), S. 57 (1. Auf­ lage: Paris 1951). Meine Hervorhebung.

 Teil 2: Soziale Großgruppen, ihre Identitätspraktiken und Vergangenheitsbilder

Stephan Albrecht

Erinnerung als Kategorie der Kunstgeschichte Der touristische Besucher des Bamberger Doms darf im Mittelalter schwelgen (Abb. 1). Auf Schritt und Tritt erlebt er im authentisch wirkenden architektonischen Rahmen Höhepunkte der Baukunst und Skulptur des frühen 13. Jahrhunderts: den reich verzierten Georgenchor, die reichen Portale, das marmorne Papstgrab, den mysteriösen Reiter. Von einigen wenigen, peripheren späteren Zutaten einmal abgesehen, erweckt der steinsichtige Raum den Eindruck eines einheitlichen Ensembles. Keine barocke Ausmalung stört scheinbar die klaren romanischen Kuben. Kein großes, jüngeres Ausstattungsstück verfälscht den mittelalterlichen Gesamteindruck. Als Kinder der Moderne sind wir solche stilreinen Räume als Konzept eines Gesamtkunstwerks gewohnt; wir vergessen dabei leicht, dass es sich um eine Geschichtskonstruktion des 19. Jahrhunderts handelt. So gesehen spiegelt der Bamberger Dom in seiner heutigen Erscheinung weniger ein mittelalterliches Raum- und Formverständnis als das Ergebnis eines langen Diskurses, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts geführt wurde. Der in Bamberg früh einsetzende Historismus schuf ein Bild von Vergangenheit, das auf möglichst wenige, einheitliche Formen der Erbauungszeit beschränkt wurde. Spätere Ausstattungsstücke und Veränderungen dieses vermeintlichen Urzustandes wurden aus dem Dom weitgehend entfernt und neue Teile hinzugefügt, die den Stil des frühen 13. Jahrhunderts imitieren. Stil wird hier als ästhetische Form der selektiven Erinnerung absolutiert. Paradoxerweise hat der im Historismus einsetzende Vergangenheitskult in besonderer Weise zur Zerstörung oder zumindest zur Veränderung der überlieferten Artefakte beigetragen. Die selektive Ästhetisierung von Vergangenheit hat weitgehend den Wert der Authentizität verdrängt. Formale Aneignung trat an die Stelle von substanzieller Zeugenschaft. Der Gedanke, altertümliche Formen als Erinnerungsstücke zu verwenden, ist keine moderne Erfindung. Tatsächlich spielt auch in der Vormoderne die auf Gegenstände konzentrierte Inszenierung von Vergangenheit eine große Rolle; Vormoderne und Moderne folgen dabei aber ganz unterschiedlichen Konzepten. Ich möchte in meinem Beitrag zeigen, wie in der Vormoderne gerade die formale und stilistische Vielfalt ein grundlegendes Instrument der Selbstdarstellung und Identitätssicherung geistlicher Institutionen gewesen ist. Welcher Wert wurde den Zeugnissen der Vergangenheit beigemessen? In welchem Verhältnis standen Vergangenheit und Gegenwart zueinander? Wie wurde das Gedächtnis inszeniert? An wenigen Beispielen werde ich versuchen, einen Wandel im Umgang mit der eigenen Vergangenheit vom Mittelalter bis zur beginnenden Moderne zu skizzieren. Die Besonderheit der uns immer noch prägenden klassizistischen Raumvorstellung des frühen 19. Jahrhunderts wird deutlich, wenn wir ihr eine Darstellung aus der Zeit um 1500 gegenüberstellen. Das Tafelbild von einem Maler mit dem Notnamen Saint-Gilles-Meister ist das Fragment eines verlorengegangenen Flügelretabels DOI 10.1515/9783110578805-006

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Abb. 1: Bamberg, Dom, Innenansicht Christian (Dümler: Der Bamberger Kaiserdom. Bamberg 2005)



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Abb. 2: Messe des Saint – Gilles, London, National Gallery (Le trésor de Saint-Denis. Paris 1991)

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(Abb. 2).1 Es zeigt ein legendäres Ereignis aus dem Leben Karls des Großen: Der Kaiser als Teilnehmer einer Messe bittet in kniender Haltung um den Erlass einer geheimen, ungebeichteten Sünde. Das Bild zeigt den Höhepunkt der Geschichte während der Messliturgie: Der Heilige Gilles erhebt die Hostie. Im Moment der Wandlung erscheint links oben ein Engel mit einem Zettel, der die Vergebung der Sünden verkündet. Es ist überraschend und programmatisch zugleich, dass sich diese Szene in dem Sanktuarium der königlichen Abteikirche von Saint-Denis nahe Paris abspielt: Bis ins 14. Jahrhundert hinein galt Orléans als Ort des Geschehens.2 Bei genauerem Hinsehen fällt der ungewöhnlich präzise Blick auf die räumliche Situation mit der bis ins Detail wiedergegebenen Ausstattung ins Auge. Offensichtlich dienten die Gegenstände und die wiedergegebene Architektur dazu, die Bedeutung und Authentizität des Ortes zu unterstreichen. Die Objekte erscheinen so dicht hintereinander gestaffelt, dass nur am oberen linken Rand Teile des Chorpolygons von Saint-Denis zu erkennen sind. Sie sind archäologisch korrekt wiedergegeben. Im Zentrum des Bildes befindet sich auf dem Hauptaltar das in der Revolution eingeschmolzene goldene Retabel, ein ehemaliges Antependium, das in der Beschreibung Abt Sugers und in den Inventaren von 1505 und 1634 als Stiftung Karls des Kahlen im 9. Jahrhundert bezeichnet wird.3 Darüber erscheint das merowingische Kreuz des Eligius, eine Gabe König Dagoberts aus dem 7. Jahrhundert.4 Das noch heute in überarbeiteter Form erhaltene Nischengrab Dagoberts aus der Mitte des 13. Jahrhunderts bildet den rechten Rand des Gemäldes.5 Der Altar wird gerahmt von zwei Engel 1 Michèle Hébert: Les monuments parisiens dans l’œuvre du «Maître de saint Gilles». Mémoires de la Fédération des Sociétés Historiques et Archéologiques de Paris et de l’Ile-de-France 1 (1949) S. 213–236; William M. Hinkle: The Iconography of the Four Panels by the Master of Saint Giles. Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 28 (1965) S. 110–144; Herman Th. Colenbrander: The Master of Saint Giles. A New Proposal for the Reconstruction of the London and Washington Panels. The Burlington Magazine 139 (1997) S. 684–689; Pierre-Gilles Girault: Le Maître de saint Gilles et le triptyque royal de Saint-Leu-Saint-Gilles. Essai d’interprétation iconographique et historique. Revue de l’Art 159 (2008) S. 45–58. 2 Hierzu ausführlich Hinkle: Iconography (wie Anm. 1), S. 110–144. 3 Blaise de Montesquiou-Fezensac und Danielle Gaborit-Chopin: Le Trésor de Saint-Denis. Band 3. Paris 1972–1977, S. 98; Kees Van der Ploeg: How Liturgical is a Medieval Altarpiece. In: Italian Panel Painting of the Duecento and Trecento. Hg. von Victor M. Schmidt. New Haven/London 2002, S. 103–121, hier S. 109; Stephan Albrecht: Die Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter. München/Berlin 2003. 4 Das Kreuz blieb bis 1610 fest installiert auf dem Hauptaltar, wurde dann auf einen Holzbalken im Chor montiert und schließlich im 18. Jahrhundert auf dem schmiedeeisernen Chorgitter befestigt. Zusammenfassend zum Forschungsstand: Le Trésor de Saint-Denis. Ausst.-Kat.: Louvre Paris. Hg. von Danielle Gaborit-Chopin. Paris 1991, S. 56–59. 5 Zum Dagobertgrab vgl. Hermann Bunjes: Die steinernen Altaraufsätze der hohen Gotik und der Stand der gotischen Plastik in der Ile-de-France um 1300. Marburg 1937, S. 64–66; Willibald Sauerländer: Gotische Skulptur in Frankreich 1140–1270. München 1970, S.  169f.; Maryse Bideault: Le tombeau de Dagobert dans l‘abbaye royale de Saint-Denis. Revue de l’Art 18 (1972) S. 27–33; Georgia Sommers Wright: A Royal Tomb Program in the Reign of St. Louis. The Art Bulletin 56 (1974)



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Abb. 3: Sainte Couronne, Paris Bib.Nat Est Oa9 (Le trésor de Saint-Denis. Paris 1991)

tragenden Messingsäulen, die wohl aus der Zeit um 1300 stammen, dahinter das bronzene Tabernakel für den Schrein Ludwigs des Heiligen, eine Stiftung Karls VI. von 1392.6 Sogar kleinere Details sind minuziös wiedergegeben. So trägt Karl der Große eine Krone, die anhand formaler Details und der wiedergegebenen Edelsteine als ‚sainte couronne‘ identifiziert werden kann (Abb. 3); in Wirklichkeit handelt es sich wohl um eine Krone des 13. Jahrhunderts, die noch zur Krönung Ludwigs XI. S. 224–243; Alain Erlande-Brandenburg: Le roi est mort. Étude sur les funérailles, les sépultures et les tombeaux des rois de France jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Genf 1975 (Bibliothèque de la Société Française d’Archéologie. Band 7), S. 142–144; Hans Körner: Grabmonumente des Mittelalters. Darmstadt 1997, S. 86. 6 Eva Leistenschneider: Die französische Königsgrablege Saint-Denis. Strategien monarchischer Repräsentation 1223–1461. Weimar 2008, S.  204. Das Tabernakel wurde bereits 1610 anlässlich der Vorbereitungen zur Krönung Maria Medicis stark beschädigt und dann verkauft. Es existiert jedoch noch eine rückblickende Beschreibung von 1634, die der abgebildeten Anlage gleicht.

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1461 verwendet wurde. Auf dem Bild ist das Stück zur Bügelkrone ergänzt, um den kaiserlichen Status Karls zu veranschaulichen.7 Bis auf das Dagobertgrab sind alle dargestellten Gegenstände in der Revolution verlorengegangen. Das Tafelbild stellt deshalb eine unschätzbare Quelle für die Kunstgeschichte von Saint-Denis dar. Es gehörte ursprünglich wohl zu einem Retabel aus St.-Leu-St.-Gilles, einer Pfarrkirche in Paris am Verbindungsweg vom palais de la cité über die Kathedrale nach SaintDenis. Auf den beiden anderen erhaltenen Bildern des Triptychons sind ähnlich genaue Ortsschilderungen zu sehen. Die dargestellten Legenden sind dadurch miteinander verbunden, dass die Ereignisse jeweils in Kirchen am königlichen Weg von Paris nach Saint-Denis lokalisiert werden.8 Es scheint sich bei den Tafelbildern um Porträts der jeweiligen kirchlichen Institutionen zu handeln, auf der Rückseite um ein Bildnis des Kirchenpatrons ergänzt. Es sind gleichermaßen alte und jüngere Gegenstände, aber auch die Architektur, die diese geistlichen Gemeinschaften charakterisieren. Dem Rechenschaftsbericht Abt Sugers aus dem 12. Jahrhundert und den späteren Inventaren lässt sich entnehmen, dass jeder Gegenstand über seine liturgische Funktion hinaus auch als Erinnerung an eine historische Person verehrt wurde. Es handelt sich um Denkmäler, die als Stiftungen die privilegierte Vergangenheit der entsprechenden Institution illustrieren. Dass nur königliche Gaben wiedergegeben sind und andere, bedeutende Objekte des Chores, wie z. B. das große Kreuz Sugers, weggelassen wurden, mag damit zusammenhängen, dass es sich auch bei dem Retabel in Saint-Leu-Saint-Denis um einen königlichen Auftrag gehandelt hat. Im Gegensatz zum bereinigten Bamberger Dom des 19. Jahrhunderts steht hier die erkennbare formale Vielfalt von Gegenständen aus verschiedenen Zeiten im Darstellungsinteresse des mittelalterlichen Tafelbildes. Sie ist Zeugnis einer seit Jahrhunderten andauernden königlichen Privilegierung der Institution und dient zugleich dem Selbstbild der Abtei. Die Erinnerungsfunktion der Objekte im Chor von Saint-Denis resultierte nicht aus einer zufälligen Ansammlung. Sie stellte eine bewusste Präsentation dar, die wir Abt Suger und seinen Nachfolgern verdanken. Öfter wurden alte Gegenstände der Abtei mit Hilfe von Inschriften sogar erst nachträglich als Stiftungen prominenter Stifter in der Ostanlage der Kirche inszeniert.9 Im besonderen Maße galt dies für das Langhaus der Kirche, das als angebliche Stiftung König Dagoberts erhalten und verehrt wurde. Die Instrumentalisierung von alten Ausstattungsstücken und Teilen der Architektur zur Erinnerung an die eigene Vergangenheit in Saint-Denis war im Mittelalter

7 Es lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit bestimmen, ob sich die ‚sainte couronne‘ im 15. Jahrhundert in Saint-Denis befunden hat. Hinkle: Iconography (wie Anm. 1), S. 110–144; montesquioufezensac und Gaborit-Chopin: Trésor (wie Anm. 3), S. 239–241. 8 Auch auf den anderen Tafeln des Retabels waren reale, alte Kunstwerke aus Saint-Denis zu sehen, jedoch nicht im originalen Kontext, sondern an andere Orte versetzt. 9 Vgl. hierzu ausführlich Albrecht: Inszenierung (wie Anm. 3), S. 258–260.



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kein Einzelfall. Soweit die fragmentarische Quellenüberlieferung ein Urteil erlaubt, scheint sie sehr verbreitet, vielleicht sogar der Regelfall gewesen zu sein. Gerade der eingangs erwähnte Bamberger Dom liefert hierfür eine Reihe von Anhaltspunkten. Wie bereits Dethard von Winterfeld herausgearbeitet hat, zitiert der kurz vor 1200 begonnene romanische Dom im Grundriss seinen Vorgänger aus dem frühen elften Jahrhundert (Abb. 4).10 In seiner Doppelchörigkeit, der Lage der Krypten und sogar in der Anordnung der Türme spiegelt der heutige Bau die Architektur der Gründungszeit wider. Auch die Tatsache, dass der Dom um 1200 noch ohne Wölbung geplant wurde und diese auch erst nach einiger Verzögerung durchgeführt wurde, kann nur als Referenz gegenüber dem ebenfalls ungewölbten Ursprungsbau verstanden werden.

Abb. 4: Bamberg, Dom Grundrisse um 1200 (oben) und Anfang 11. Jahrhundert (unten) (Autor)

Ein ähnliches Verfahren lässt sich übrigens auch in der Buchmalerei beobachten: So bezieht sich zum Beispiel das im späten zwölften Jahrhundert entstandene Kreuzigungsbild eines Bamberger Graduale und Messbuchs (Abb. 5) direkt auf das damals schon verehrte Sakramentar Heinrichs II. (Abb. 6): Die gleiche Körperhaltung, eine 10 Dethard von Winterfeld: Der Dom in Bamberg. Berlin 1979.

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entsprechende Neigung des Kopfes, der Fall der Haarsträhnen, die charakteristischen Körperlinien und sogar der augenförmige Bauchnabel lassen den Bezug auf ein Hauptwerk der ursprünglichen Ausstattung deutlich werden. In Bamberg sind es nicht nur die Originale selbst, sondern bildliche Analogien, die gerade wegen ihrer unzeitgemäßen Form auf die Vergangenheit – auf die Gründung – verweisen.

Abb. 5: Graduale, Bamberger Dom, Bamberg StB. Msc.Lit.11, 149 v. (BStB Bamberg)



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Abb. 6: Sakramentar Heinrichs II. – Bamberger StB Clm 4456, 15r (BStB Bamberg)

Aber nicht nur an Gründung und Gründer wurde mithilfe von Objekten erinnert. Grundsätzlich wurde jede Stiftung zugleich auch zum Monument für den Stifter. Vielfach ist überliefert, dass gestiftete Objekte zusammen mit der Namensnennung ihrer

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Stifter in Anniversarien und anderen Gedenkfeiern über Jahrhunderte vorgeführt wurden.11 Eine besondere Form der Erinnerung im mittelalterlichen Kirchenraum stellten die Grabmäler dar, oft bedeckten sie einen beträchtlichen Teil des Fußbodens. Das Beispiel von St. Emmeram in Regensburg zeigt, welche große Aufmerksamkeit dabei vergangenen Amtsträgern geschenkt werden konnte.12 Nicht selten wurden sie nachträglich zu amtsgenealogischen Reihen zusammengestellt.13

Abb. 7: Bamberg, Dom, Grabmal Otto II., Seitenansicht (Autor)

Ein markantes, bisher noch nicht berücksichtigtes Zeugnis einer solchen nachträglichen Inszenierung stellt die Grablege der Bischöfe im Bamberger Dom dar. Von besonderer Aussagekraft ist das Hochgrab Bischofs Otto II. (1177–1196): Es besteht aus einer steinernen Tumba mit Deckplatte. Erst ein genauer Blick offenbart, dass die Tumba aus drei parallelen Blöcken besteht. Dazwischen gibt es wenig Platz für eine Grablege. So fand man denn auch 1722 bei einer Graböffnung den Leichnam nur in einen Ledersack eingenäht.14 Darüber hinaus setzen sich die Seitenwände aus architektonischen Spolien zusammen, die dem Maßwerk nach zu urteilen von einer

11 Albrecht: Inszenierung (wie Anm. 3), S. 258. 12 Vgl. hierzu Alois Schmid: Kunst und Geschichtsschreibung. St. Emmeram zu Regensburg im Barockzeitalter. In: Mitteleuropäische Klöster der Barockzeit. Vergegenwärtigung wundersamer Vergangenheit in Wort und Bild. Hgg. von Markwart Herzog und Huberta Weigl. Konstanz 2011 (Irseer Schriften, Schriften zur Wirtschaft-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Band 5), S. 225–247. 13 Zu amtsgenealogischen Gräbern vgl. z.B. Stephan Albrecht: Das Grabmal als Politikum. Die mittelalterlichen Herrschergrabmäler in der Kathedrale von Rouen. Marburger Jahrbuch 31 (2004) S. 83–103. 14 Einen Überblick über den bisherigen Forschungsstand gibt: Die Kunstdenkmäler von Oberfranken. IV: Stadt Bamberg 2, Domberg 1: Das Domstift Teil 2: Ausstattung, Kapitelsbauten, Domschatz. Hg. von Matthias Exner. Bamberg 2015, S. 1261–1266, hier S. 1263 mit Anm. 316.



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Abb. 8: Bamberg, Dom, Grabmal Otto II. Deckplatte (Autor)

mittelalterlichen Mikroarchitektur stammen (Abb. 7).15 Bei der Deckplatte handelt es sich um ein originales Stück aus dem 13. Jahrhundert, das sich bei genauerer Betrachtung als aus zwei Teilen bestehend entpuppt (Abb. 8). Sie sind auf unsensible Weise mit Eisenklammern zusammengesetzt worden, so dass das eingeritzte Bildnis des Bischofs an der Nahtstelle gespalten ist. Um den Rand der Tumba verläuft eine Inschrift in gotischer Minuskel: + OTTO / PRESUL. ERAM.REQUIEM. PACEM. MICHI. VERAM. FRA/TRES.  OPTATE. PRECOR. ORE. MANU. Q[VE] I/VUATE. Außerdem erkennt man im unteren Bereich der Deckplatte eine nachträglich mit Blei zugesetzte Inschrift in Kapitalis: R[EVERENDISSI]MUS IN CHR[IST]O PATER / ET D[OMI]N[V]S OTTO DUX / MERANIAE 12. EP[ISCOPU]S / BAM[BERGENSIS] OBIIT 10. MAII / A[NN]O 1192. Diese Inschrift gehört vermutlich zu einer Maßnahme von 1611, als die Bischofsgräber im Dom neue Beschriftungen erhielten. Die auf die persönliche Memoria des Verstorbenen angelegte Beischrift wurde also zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch eine historisch motivierte Inschrift ersetzt, die die amtsgenealogische Reihe betont. Insgesamt handelt es sich um ein Konglomerat aus Fragmenten verschiedener Herkunft, die wohl erst in nachmittelalterlicher Zeit zu einem altertümlich erscheinenden Monument zusammengefügt worden sind. Die umlaufende Inschrift verbindet

15 Die genaueste Analyse bringt Winterfeld: Dom (wie Anm. 10), S. 138.

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das Denkmal mit dem Grab für Bischof Gunther (1057–1060), das heute ebenfalls in der Ost-Krypta zu sehen ist (Abb. 9).16

Abb. 9: Bamberg, Dom, Grabmal Gunthers (Autor)

Abb. 10: Bamberg, Dom, Epitaph Ekberts (Autor)

Auch hierbei handelt es sich um die nachträgliche Zusammenfügung einer steinernen Tumba mit einer aus einem anderen Kontext stammenden Deckplatte. Stilistisch ist das Bildnis des Bischofs wohl in die Mitte des 13. Jahrhunderts zu datieren, keinesfalls stammt es aus der Zeit Gunthers. Eng verwandt mit der im Profil wiedergegebenen Bischofsdarstellung sind die beiden Epitaphien für die im 13. Jahrhundert verstorbenen Bischöfe Ekbert von Andechs-Meranien (1203–1237) (Abb. 10) und Berthold Graf von Leiningen (1257–1285), die in retrospektiver Weise nach dem Vorbild Gunthers wohl erst in der Frühen Neuzeit angefertigt worden sind.17 Die formalen Übereinstimmungen der vier beschriebenen Gräber sprechen dafür, dass es sich um eine rekonstruierte amtsgenealogische Reihe von Bischöfen aus dem elften, zwölften und dreizehnten Jahrhundert handelt. Ihre Entstehungszeit ist bisher noch vollkommen

16 Kunstdenkmäler. Hg. von Exner (wie Anm. 14), S. 1256–1260. 17 Kurt Bauch: Das mittelalterliche Grabbild. Figürliche Grabmäler des 11. bis 15. Jahrhunderts in Europa. Berlin 1976, S. 297 und S. 353, Anm. 548; Kunstdenkmäler. Hg. von Exner (wie Anm. 14), S. 1256–1260.



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Abb. 11: Arnold, Georg Adam: Dom zu Bamberg, Innenansicht nach Osten mit Blick in Georgenchor, 1674/6 (Dümler: Der Bamberger Kaiserdom. Bamberg 2005)

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Abb. 12: Mainz, St.-Peter Fresko über dem Südportal von Johann Valentin Thoman 1749–1756 (Mitteleuropäische Klöster der Barockzeit)

ungeklärt.18 Vieles spricht für eine Datierung im Rahmen einer bisher kaum bekannten Neuordnung des Innenraums um 1600, das wäre noch vor der großen Barockisierungskampagne des Bamberger Doms gewesen. In dieser Kampagne von 1648–1653 wurden die farbigen Fenster durch weiße Scheiben ersetzt, die mittelalterlichen Wandmalereien übertüncht; die historisch gewachsene Ausstattung des Mittelalters, wie zum Beispiel die beiden Lettner, aber auch die ursprünglichen Gräber der Bischöfe Ekbert und Berthold, wurde entfernt (Abb. 11). Einerseits vereinheitlichten die verschiedenen Barockisierungen den Kirchenraum ästhetisch auf Kosten eines großen Teils der Zeugnisse aus der Vergangenheit, andererseits trafen sie eine gezielte Auswahl für ein stärker eindimensionales Gedächtnis der Institution. Die Bischofsgräber im Bamberger Dom bezeugen – von der Spolienverwendung bis zur Kopie – einen differenzierten Umgang mit Relikten der eigenen Vergangenheit. 18 Lotz spricht sich für einer Datierung in die Frühe Neuzeit aus, vgl. Wolfgang Lotz: Historismus in der Bamberger Grabplastik um 1600. Kunstchronik 5 (1952) S. 238–239. Im Inventarband wird eine Datierung ins späte 13. Jahrhundert vorgeschlagen, vgl. Kunstdenkmäler. Hg. von Exner (wie Anm. 14), S. 1271.



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Abb. 13: Mainz, St.-Peter Fresko über dem Nordportal von Johann Valentin Thoman 1749–1756 (Mitteleuropäische Klöster der Barockzeit)

Dabei scheint besonders der altertümlichen Form zur Bekräftigung von Authentizität Bedeutung beigemessen worden zu sein. Die antiquierte Gestaltung sollte in etwa an die Zeit der historischen Person erinnern. Hinter dieser Form von vormodernem Historismus steht jedoch keine Stil- oder Epochenvorstellung. Gerade die Andersartigkeit der künstlerischen Gestaltung zu zeitgenössischen Erscheinungsformen war ein Garant für nachvollziehbare Authentizität. Vergangenheitsinszenierung stellte ein zentrales Motiv der institutionellen Selbstdarstellung der 1747–1756 aufgeführten Kirche von St. Peter in Mainz dar. Sie trat die Nachfolge von zwei Institutionen an: Der Neubau sollte architektonisch die Pfarrkirche Sankt Maria – das sogenannte Odenmünster – ersetzen, einen Bau, den das Petersstift bereits 1313 vom Deutschen Orden erworben hatte und der seit 1658 den Mönchen provisorisch als Behausung gedient hatte. Institutionell knüpfte der Neubau jedoch an die im zehnten Jahrhundert gegründete Kirche Alt-Sankt Peter an, die sich ursprünglich außerhalb der Mauern befunden hatte und die bereits 1658 der Errichtung einer barocken Bastion zum Opfer gefallen war. Die barocke Peterskirche nach Plänen von Johann Valentin Thomans präsentiert sich als Halle mit aufwändiger Wandmalerei

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und Stuckdekoration.19 Die geschilderte Vergangenheit des Klosters wird an prominenter Stelle über dem nördlichen und dem südlichen Portal in einer Wandmalerei gewürdigt (Abb. 12+13): Auf der Südseite verweisen zwei weibliche Heilige auf eine Darstellung der ehemaligen Marienkirche (Abb. 12). Die rechte Heilige hält mit der einen Hand das Deutschordenskreuz über das Architekturporträt, mit der anderen weist sie nach unten. Damit verdeutlicht sie, dass der Bau an der Stelle des heutigen gestanden hatte und ursprünglich zum Deutschen Orden gehörte. Die zweite Heilige deutet mit ihrer Hand auf eine im Himmel schwebende Maria, der Titelheiligen des alten Odenmünsters. Sehr anschaulich werden auf diese Weise die Kontinuität des Ortes und die ehrwürdige Vergangenheit seines Vorgängers in Szene gesetzt. Im Zentrum des Bildes findet sich eine detailgenaue Wiedergabe des inzwischen abgerissenen Odenmünsters. Die Darstellung lässt sogar verschiedene Bauphasen erkennen. Besonders auffällig ist die prominente Stellung einer Kreuzigungsgruppe in der Nähe des Portals. Handelt es sich hierbei um das im barocken Kreuzaltar verehrte Gnadenbild? Über dem nördlichen Eingang der Kirche ist der Gründer Erzbischof Friedrich von Lothringen (937–954) zu sehen (Abb. 13): Er breitet eine Darstellung von Alt Sankt Peter aus und sieht dabei im Himmel eine Erscheinung des Evangelisten Lukas. Der Gründer ist damit als Werkzeug des himmlischen Willens charakterisiert, die Gründung als Teil des göttlichen Heilsplans. Engel mit Mitra, Bischofsstab und Wappenschild unterstreichen die hohe Rangstellung des Stifters. Obwohl zur Entstehungszeit des Freskos die Kirche von Alt-Sankt Peter bereits seit fast 100 Jahren nicht mehr existierte, ist sie recht detailliert dargestellt. Sofort fällt die Doppelturmfassade ins Auge, die möglicherweise noch im barocken Bau als Zitat paraphrasiert wird. Dieses Motiv erinnert an die entsprechende Maßnahme im Bamberger Dom. Die Darstellung des Vorgängerbaus gehört in den engeren Zusammenhang der bildlichen Wiedergabe von Gründungslegenden. Diese hat ihre Wurzeln im 16. Jahrhundert, berühmtestes Beispiel ist der Zyklus einer Wittelsbacher-Genealogie in der Fürstenkapelle zu Scheyern.20 Erst im 18. Jahrhundert erfuhren die Gründungslegenden eine theologische Ausdeutung, sie wurden zum bevorzugten Mittel der Predigt und damit zum tragenden rhetorischen Element der barocken Kirchenikonographie. Die Kirche erscheint als gottgewollt, das hohe Alter und ihr Fortbestehen trotz aller Widrigkeiten als Beweis

19 Die folgenden Ausführungen folgen weitgehend Tobias Kunz: Inszenierte Vergangenheit. Mittelalterliche Bildwerke im Kontext barocker Klöster. In: Mitteleuropäische Klöster der Barockzeit. Vergegenwärtigung wundersamer Vergangenheit in Wort und Bild. Hgg. von Markwart Herzog und Huberta Weigl. Konstanz 2011 (Irseer Schriften, Schriften zur Wirtschaft-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Band 5), S. 341–365. 20 Michael Meuer: Die gemalte Wittelsbacher Genealogie der Fürstenkapelle zu Scheyern. München 1975 (Miscellanea Bavarica Monacensia. Band 59).



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Abb. 14: Dießen am Ammersee, St. Mariä Himmelfahrt, Gründungsfresko 1736 (Ehem. AugustinerChorherren-Stift Diessen am Ammersee. München 1986)

göttlicher Huld und Bevorzugung.21 Zum Grundbestand dieser Ikonographie gehört auch die Vision des Gründers, wie sie in Mainz zu sehen ist. Das Kirchengebäude wird damit zum notwendigen Instrument des Heils. Fast in jedem barocken Bildprogramm werden Gründungsakten, Baupläne, Kirchen- und Klostermodelle sowohl vom Neubau als auch vom Altbau vorgewiesen. Der aktuelle Bauherr tritt so als Gnadenvermittler zwischen Mensch und Gott in die Fußstapfen des Gründers, der Bau

21 Hermann Bauer: Über einige Gründungs-und Stiftungsbilder des 18. Jahrhunderts in bayerischen Klöstern. In: Land und Reich, Stamm und Nation. Probleme und Perspektiven bayerischer Geschichte. Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag. Hg. von Andreas Kraus. München 1984 (Band II: Frühe Neuzeit), S. 259–281; Peter Hawel: Der spätbarocke Kirchenbau und seine theologische Deutung. Ein Beitrag zur Ikonologie der christlichen Sakralarchitektur. Würzburg 1987, S. 64; Hermann Bauer: Die Bildprogramme des 18. Jahrhunderts in bayerischen Klöstern. Eine Selbstbestätigung vor dem drohenden Ende. In: Glanz und Ende der alten Klöster. Säkularisation im bayerischen Oberland 1803. Hgg. von Josef Kirmeier und Manfred Trems. München 1991, S. 36–42; Laurentius Koch: Geschichte an der Decke und Wand. Zu Stiftungs- und Gründungsdarstellungen in süddeutschen Barockfresken. In: Monumental. Festschrift für Michael Petzet. Hgg. von Susanne Böning-Weis und Karlheinz Henmeter und York Langenstein. München 1998 (Arbeitshefte des bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege. Band 100), S. 647–664; Nicola Schmid: Die Gründungslegenden der Klöster in der bayerischen Deckenmalerei des 18. Jahrhunderts. St. Ottilien 1998.

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selbst wird als Nachfolger legitimiert. In Dießen am Ammersee wird der Gründer des Klosters sogar als Bräutigam der Kirche bezeichnet.22 Besonders in den dreißiger und vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts stellte das Gründungsfresko als raumfüllendes Deckenbild das wichtigste identitätsstiftende Mittel institutioneller Selbstdarstellung dar. Die Entwicklung setzte in Oberbayern bereits 1691 bei den Werken Asams in Tegernsee ein. Erst in Dießen rückte 1736 die Gründungsgeschichte ins Zentrum des Bildprogramms. Der gesamte Freskenzyklus ist hier ausschließlich auf die Klostergeschichte ausgerichtet (Abb. 14). Sogar der Heiligenhimmel im Chor ordnet sich dem historischen Konzept unter, er konzentriert sich auf das lokale himmlische Personal und bezieht sich damit inhaltlich auf das große Langhausfresko. Das Gründungsbild im Langhaus wird zum Schlüssel der Ikonographie, die heilsgeschichtliche Inszenierung der eigenen Vergangenheit und ihr Bezug auf die Gegenwart des 18. Jahrhunderts wiegen schwerer als der biblische Kontext. Dieses Konzept war richtungsweisend für zahlreiche Klöster des mittleren 18. Jahrhunderts. Den Darstellungen der Vergangenheit lag kein kritisch-historisches Bewusstsein zugrunde. Dennoch lässt sich das Bestreben ablesen, historische Vorgänge authentisch und damit glaubwürdig erscheinen zu lassen. Die alten Bauten sind oft erstaunlich genau wiedergegeben, wohl unter Zuhilfenahme älterer Darstellungen. Die Kleidung der historischen Protagonisten ist nicht zeitgenössisch, sondern ebenfalls bemüht, historisch, also alt, zu wirken. Natürlich kann hier in keinem Fall von einer archäologischen Genauigkeit gesprochen werden. Gleichzeitig kommt es vor, dass mittelalterliche Gründer die Gesichtszüge der aktuellen Bauherren tragen;23 mit dieser Überblendung wurde augenfällig die neue Kirche als die Erfüllung eines schon bei der Gründung begonnenen göttlichen Gnadenaktes hingestellt, der den Eintritt in die numinose, übergeschichtliche Existenz vorbereitete. Kehren wir mit diesem Eindruck einer barocken Inszenierung zurück zu unserem Ausgangsbeispiel, dem Bamberger Dom in seiner stilbereinigten Erscheinung des frühen 19. Jahrhunderts. Wie Christine Hans-Schuller herausgearbeitet hat, war die Historisierung das Ergebnis einer längeren, kontrovers diskutierten Entscheidungsfindung.24 Bekanntlich ging die Initiative zur Purifizierung 1826 vom bayerischen König Ludwig I. aus. Die ersten Pläne, Denkmäler in einen vermeintlichen Gründungszustand zurückzuversetzen, entzündeten sich an Bauten, die mit dem Herrscherhaus in Verbindung standen: der Regensburger Dom als Ort, in dem Otto von Wittelsbach 1180 die bayerische Herzogswürde erlangt hatte, das Kloster Heilsbronn als Hohenzollerngrablege und der Bamberger Dom als Monument für den Beginn der 22 Schmid: Gründungslegenden (wie Anm. 21), S. 40. 23 Vgl. die Beispiele von Dießen, Benediktbeuren und Hohenpeißenberg bei Schmid: Gründungslegenden (wie Anm. 21), S. 131. 24 Christine Hans-Schuller: Der Bamberger Dom. Seine „Restoration“ unter König Ludwig I von Bayern (1826–1831). Petersberg 2000.



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Abb. 15: Bamberg, Dom, Ostchor, Hauptaltar, 1835 (Dümler: Der Bamberger Kaiserdom. Bamberg 2005)

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Abb. 16: Bamberg, Dom, Ostchor, Schranke, um 1200 (Dümler: Der Bamberger Kaiserdom. Bamberg 2005)

deutschen Reichsgeschichte. Die Verehrung der Vorfahren, die Stiftung von Legitimation war demnach immer noch ein wichtiges Motiv des Vergangenheitsbezugs. Als Restaurator idealer Zustände lässt sich Ludwig I. in die Reihe der barocken Vorbilder stellen. Aber ein neues historisches Epochenbewusstsein, ein nationales Selbstverständnis, ein modernes Stilverständnis und eine klassizistische Ästhetik führten zu ganz anderen Ergebnissen. Zu den ersten Maßnahmen gehörten ästhetische Korrekturen: die Herstellung einer Steinsichtigkeit und die Beseitigung des barocken Hauptaltares zur Vereinheitlichung des Raumeindrucks. Die Purifizierung nahm schrittweise radikalere Züge an: Sah noch das erste Restaurierungskonzept unter Friedrich Karl Rupprecht (1779–1831) vor, störende Ausstattungsstücke in die Seitenschiffe zu verlegen, so ordnete Friedrich Gärtner 1836 ihre komplette Beseitigung aus der gesamten Ausstattung an. Galt für Rupprecht der Bestand bis zum 16. Jahrhundert erhaltenswert, so konzentrierte sich Gärtner ganz auf die Erzeugung eines ‚reinen‘ Raumeindrucks im ‚neurömischen Style‘. Ihm fielen der größte Teil an Altären und Grabmonumenten zum Opfer. Dem Idiom der Stilreinheit folgte auch die Komplettierung der Ausstattung. Alexander von Heideloffs neuromanischer Hauptaltar erinnerte nicht mehr konkret an



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einen Vorgänger, er erfüllte vielmehr die historisch korrekten ästhetischen Ansprüche an eine einheitliche Raumgestaltung (Abb. 15+16). In Bamberg lässt sich ein Wandel im Vergangenheitsbezug beobachten, der sich nach den grundlegenden Studien des Soziologen Maurice Halbwachs mit dem Gegensatzpaar mémoire, Gedächtnis, und histoire, Geschichte, beschreiben lässt. Das ‚kollektive Gedächtnis‘ ist ein wesentliches Element institutioneller Selbstdarstellung und Identitätsstiftung: Es basiert auf einer gelenkten Initiierung und Verbreitung. Der Ausgangspunkt ist eine zum Mythos verfestigte Vergangenheit. Sie beschreibt den hochrangigen, privilegierten Ursprung der Institution und liefert dem Kloster oder Stift eine Projektionsfläche zur Festigung der Gemeinschaft und zur Bestätigung eines gegenwärtigen Ranganspruchs. Es liegt in der Natur dieses Prinzips, dass der Institution daran gelegen ist, die Konstanten und Kontinuitäten zwischen der fundierenden Vergangenheit und der Gegenwart zu betonen. Die meisten hier beschriebenen Kunstwerke erfüllen diese Funktion. Die historistischen Purifizierungen des Bamberger Domes folgten jedoch zunehmend einem anderen Vergangenheitsmodell. Auch wenn sie noch aus Motiven der Legitimationsstiftung betrieben wurden, nehmen sie bereits eine übergeordnete, wissenschaftliche Position in einer als abgeschlossen erscheinenden, kritisch studierbaren und daher verfügbaren Vergangenheit ein. Vergangenheit ist hier Geschichte geworden. Kollektive Gedächtnisse sind komplexe Systeme, die sich aus mehreren Komponenten zusammensetzen. Grundlegend sind schriftliche und mündliche Überlieferung – Legendenbildung und Geschichtsschreibung. Die Kunstwerke dienen in erster Linie der Visualisierung, als Projektionsfläche des Betrachters. Selbstverständlich hängt ihre intendierte Wahrnehmung eng mit den anderen Medien der kollektiven Erinnerung zusammen. Die visuellen Strategien des Gedächtnisses besitzen aber auch eine erstaunlich eigenständige Tradition. Durch ihren Objektcharakter und ihre sinnliche Präsenz besitzen die Gegenstände eine Wirkmacht, die mit anderen Medien nicht zu erzielen ist. Sie erzeugen den Eindruck von Authentizität und verleihen Legitimität. Wie die Beispiele aus Saint-Denis und Bamberg zeigen, wurden bereits im Mittelalter die alten Ausstattungsstücke eng mit der Person ihres Stifters verknüpft. Wie für die Könige Dagobert und Karl in Saint-Denis oder für Bernward in Hildesheim bezeugt, konnte diese Verbindung auch nachträglich hergestellt werden, wenn es im Sinne der Institution lag und einigermaßen plausibel erschien. Nicht selten geschah es auch wider besseres Wissen. Diese Strategie des Traditionsbeweises war noch in der Frühen Neuzeit ein probates Mittel, wie die Bamberger Bischofsgräber zeigen. In allen Fällen lässt sich das Bemühen erkennen, mittels einer möglichst dichten Reihe von Objekten und Personen eine Kontinuität zum mythischen Ursprung herzustellen. Es fällt auf, dass seit dem 17./18. Jahrhundert die Spolienverwendung im Kirchenbau als Authentizitätsnachweis abnimmt, offensichtlich ließen sich Fremdkörper schwer in das barocke Konzept eines Ensembles integrieren. Der Einfluss der intensivierten antiquarischen und historischen Forschung durch die Bollandisten im 17. Jahrhun-

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dert auf die Spolienverwendung ist bisher noch nicht abzusehen. Sowohl im Umkreis des Papstes als auch des französischen Königs erschienen zu dieser Zeit umfangreiche Sammlungen von Bauten und Skulpturen, also Denkmälern, die vor allem die gegenwärtige Herrschaft mit den Projekten der Vorgänger legitimieren sollten.25 Inwiefern die verfeinerte historische Methode den Wert von Spolien beeinträchtigt hat, bliebe zu untersuchen. Es fällt aber auf, dass sich auf den Deckenmalereien, die nun zunehmend die Aufgabe des Traditionsbeweises übernahmen, exaktere Darstellungen von Bauten, Urkunden und vor allem Siegeln als Bürgen häufen. Im Bamberg des frühen 19. Jahrhunderts kam der Bruch rasch und durchgreifend. König Ludwig I. war an einem neuromanischen Gesamteindruck gelegen, er war bereit, dafür die Originalsubstanz zu opfern. Das blieb nicht ohne Widerspruch, aber auch die Gegner der vollständigen Purifizierung betrachteten die alten Gegenstände nicht als Erinnerungsstücke, sondern als Kunstwerke im modernen Sinne. Die Rekonstruktionen und Purifizierungen sollten auf ästhetischem Wege eine verlorene ideale mittelalterliche Verbindung zwischen Staat und Religion wiederherstellen. Die Tradition war abgerissen, auch alte Steine taugten nicht mehr als Verbindungslinie zur Vergangenheit. So gesehen sind die Versuche des Historismus, das Mittelalter formal-ästhetisch zu rekonstruieren, ein Symptom für die verlorene Einheit von originaler Substanz und Erinnerungswert.

25 Vgl. hierzu ausführlich: Visualisierung und Imagination. Materielle Relikte des Mittelalters in bildlichen Darstellungen der Neuzeit und Moderne. Hg. von Bernd Carqué. Göttingen 2006 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft. Band 25).

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Beiträge des Rechts zur Ausbildung einer ‚deutschen‘ Identität im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit I Einführung Die Forschung hat sich bislang kaum mit der (in Abschnitt II. behandelten) Frage beschäftigt, welchen Beitrag das ‚Recht‘ zur Entwicklung eines ‚Nationsbewusstseins‘2 im Mittelalter geleistet hat.3 Exemplarisch für die weitgehende Ausblendung dieser Frage steht der von Joachim Ehlers 1989 herausgegebene Band «Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter», in dem das Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, jedoch das mittelalterliche Recht als eine „gemeinschaftsbildende und gemeinschaftserhaltende Kraft“ nicht näher thematisiert wird.4 Der zweite Teil dieses Beitrags (Abschnitt III.) fragt danach, warum und mit welcher Bedeutung der Bezug auf die ‚Deutsche Nation‘ in der Reichsgesetzgebung eingesetzt wurde. Auf den Zusammenhang zwischen den Leges fundamentales und einem „deutschen Verfassungsbewußtsein“ hat zwar schon vor einigen Jahren Peter Moraw hingewiesen, dabei aber betont, dass das Thema bislang keine For-

1 Hervorhebungen durch Fettdruck in den Zitaten stammen von der Verfasserin. 2 Zu diesem (nicht unproblematischen) Begriff Joachim Ehlers: Natio. I. N. (Nation). In: Lexikon des Mittelalters. Hgg. von Norbert Angermann u. a. Band 6. München/Zürich 1993, Sp. 1035–1038. Zu den Faktoren für die Ausbildung eines solchen Bewusstseins auch Caspar Hirschi: Das humanis­ tische Nationskonstrukt vor dem Hintergrund modernistischer Nationalismustheorien. Historisches Jahrbuch 122 (2002) S. 355–396, hier S. 362ff. 3 Die rechtshistorische Forschung konzentriert sich aufgrund der überkommenen Aufteilung in Römische Rechtsgeschichte einerseits und Deutsche Rechtsgeschichte andererseits nach wie vor noch stark zum einen auf das gelehrte römisch-kanonische Recht und das Ius Commune als europäisches Phänomen sowie zum anderen auf die (in ihrer Geltung regional begrenzten) partikularen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechte. Beide Forschungsgegenstände erscheinen für die Suche nach identitätsstiftenden nationalen Elementen eher ungeeignet. 4 Joachim Ehlers: Die deutsche Nation als Gegenstand der Forschung. In: Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter. Hg. von Dems. Sigmaringen 1989 (Nationes. Historische und philologische Untersuchungen zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter. Band 8), S. 11–58, hier S. 24, wobei sich Ehlers (S. 24, Fn. 54) mit einem Hinweis auf das Fehlen mittelalterlicher ‚Nationalrechte‘ begnügt. Allerdings enthält der Sammelband einen Beitrag zur Reichsreform und zu den Bemühungen von Kaiser und Ständen, auf der Reichsebene „ein gemeinsames Recht und zugleich eine übergreifend normierte Sozialordnung“ zu etablieren: Eberhard Isenmann: Kaiser, Reich und Deutsche Nation am Ausgang des 15. Jahrhunderts. In: Ansätze. Hg. von Ehlers, ebd., S. 145–246, hier S. 146. DOI 10.1515/9783110578805-007

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schungsgeschichte habe.5 Entsprechendes gilt auch für die auf Wunsch der Göttinger «Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters», namentlich Gerhard Dilchers, in Abschnitt IV. aufgegriffene Frage, ob das Konstrukt eines ‚germanischdeutschen‘ Rechts bereits mit den im 16. Jahrhundert herausgegebenen Editionen der sogenannten Leges (auch Volks- oder Stammesrechte genannt) begonnen hat. Da für alle Bereiche in (weiten) Teilen Neuland betreten werden muss, soll in den Abschnitten II. und III. jeweils exemplarisch nur eine Quellengattung aus dem Spätmittelalter (Rechtsbücher) und der Frühen Neuzeit (Polizeigesetzgebung) näher untersucht werden. Der letzte Abschnitt IV. befasst sich entsprechend der Aufgabenstellung durch die Kommission mit den ersten Editionen der frühmittelalterlichen Leges im 16. Jahrhundert. Leitende Frage ist in allen Abschnitten, ob und gegebenenfalls welche Impulse das Recht zur Ausbildung bzw. Konstruktion einer ‚deutschen‘ Identität im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit gegeben hat.

II Die Entwicklung einer ‚supragentil-deutschen‘ Identität in den spätmittelalterlichen Rechtsbüchern In den ersten Jahrhunderten des Heiligen Römischen Reiches6 lässt sich das Regnum Teutonicum als eigenes politisch-herrschaftliches Gebilde verfassungsrechtlich7 kaum greifen.8 Einschlägige Rechtstexte sind rar und das Verhältnis der ‚Deutschen‘ bzw. des deutschen Königs zum Imperium Romanum scheint nur für wenige Rechtsfragen relevant gewesen zu sein. Zu nennen ist zunächst der Investiturstreit, einer der größten Konflikte des Hochmittelalters: Während Heinrich IV. (gest. 1106) dem Papst gegenüber den Titel rex Romanorum führte, wurde er von Papst Gregor VII. als

5 Peter Moraw: Gesammelte Leges fundamentales und der Weg des deutschen Verfassungsbewußtseins (14. bis 16. Jahrhundert). In: Florilegien, Kompilationen, Kollektionen. Literarische Formen des Mittelalters. Hg. von Kaspar Elm. Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. Band 15), S. 1–18, hier S. 1. 6 Der Begriff Imperium Romanum setzte sich seit Konrad II. (1024–1039) durch und erst unter Friedrich I. (1152–1190) wurde der Zusatz Sacrum eingeführt. Dazu Dietmar Willoweit: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. München 7. Aufl. 2013, § 8 Rn. 3, § 9 Rn. 2f. 7 Verfassung wird dabei im Sinne von Willoweit: Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 6), § 1 Rn. 3 weit verstanden, d. h. als „diejenigen rechtlichen Regeln und Strukturen, die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen“. Ähnlich Moraw: Gesammelte Leges fundamentales (wie Anm. 5), S. 1, wonach Verfassung „das ganze Gefüge und das Funktionieren des Gemeinwesens meint – nach nichtschriftlichen und nach schriftlichen Regeln“. 8 Zur Problematik auch Ehlers: Die deutsche Nation (wie Anm. 4), S. 11, 44f.



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rex Teutonicorum bzw. rex Teutonicus angesprochen.9 In der Urkunde Heinrichs V. (gest. 1125) zum «Wormser Konkordat» vom 23. September 1122 gestand Heinrich als imperator Romanorum allen Kirchen in regno vel imperio meo die Wahl und Weihe der Bischöfe und Äbte zu.10 Die politische Dimension der Differenzierung zwischen regnum und imperium verdeutlicht aber die päpstliche Urkunde zum «Wormser Konkordat», die die persönliche Teilnahme und Beratungsfunktion Heinrichs an den Wahlen der Bischöfe und Äbte von vornherein auf das regnum Teutonicorum beschränkte, während die anderen Teile des Reiches (aliae partes imperii), d.  h. die regna Burgund und Italien, davon ausgenommen waren.11 Damit war nicht nur festgeschrieben, dass dem Kaiser in den drei Reichsteilen Deutschland, Italien und Burgund unterschiedliche Rechte zustanden, vielmehr wird auch ein auf das deutsche regnum ausgerichtetes rechtlich-territoriales ‚Reichsbewusstsein‘ in Abgrenzung zum imperium greifbar.12 Da von päpstlicher Seite im Anschluss an den Investiturstreit 9 Dazu Heinz Thomas: Sprache und Nation. Zur Geschichte des Wortes deutsch vom Ende des 11. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. In: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hg. von Andreas Gardt. Berlin/New York 2000, S.  47–101; Hermann Weisert: Die Reichstitel bis 1806. Archiv für Diplomatik 40 (1994) S. 441–513, hier S. 443ff. Vgl. aber auch Heinz Thomas: Julius Caesar und die Deutschen. Zu Ursprung und Gehalt eines deutschen Geschichtsbewußtseins in der Zeit Gregors VII. und Heinrichs IV. In: Die Salier und das Reich. Band 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier. Hg. von Stefan Weinfurter. Sigmaringen 1991, S.  245–277, hier S.  257. Auch in den «Annalen» Lamperts von Hersfeld (vor 1028–1082) tauchen im Zusammenhang mit dem Investiturstreit gehäuft ‚Teutonicus-Verbindungen‘ auf; dazu Eckhard Müller-Mertens: Regnum Teutonicum. Aufkommen und Verbreitung der deutschen Reichs- und Königsauffassung im früheren Mittelalter. Wien u. a. 1970, S. 229ff. 10 Pax Wormatiensis cum Calixto II., 23. Sept. 1122, Privilegium Imperatoris. In: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. 911–1197. Hg. von Ludwig Weiland. Hannover 1893 (MGH Const. Band 1), Nr. 107, S. 159: Ego Heinricus Dei gratia Romanorum imperator augustus […] concedo in omnibus ecclesiis, quae in regno vel imperio meo sunt, canonicam fieri electionem et liberam consecrationem. 11 Pax Wormatiensis cum Calixto II., 23. Sept. 1122, Privilegium Pontificis. In: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. 911–1197. Hg. von Weiland (wie Anm. 10), Nr. 108, S. 161: Ego Calixtus episcopus servus servorum Dei tibi dilecto filio Heinrico Dei gratia Romanorum imperatori augusto concedo, electiones episcoporum et abbatum Teutonici regni, qui ad regnum pertinent, in praesentia tua fieri, absque simonia et aliqua violentia; ut si qua inter partes discordia emerserit, metropolitani et conprovincialium consilio vel iudicio, saniori parti assensum et auxilium praebeas. […] Ex aliis vero partibus imperii […]. Dazu auch Thomas: Sprache und Nation (wie Anm. 9), S. 47, 53. Vgl. weiter Ehlers: Die deutsche Nation (wie Anm. 4), S. 11, 43, 49. 12 Rüdiger Schnell: Deutsche Literatur und deutsches Nationsbewußtsein in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Ansätze. Hg. von Ehlers (wie Anm. 4), S. 247–319, hier S. 282ff., verwendet statt „Reichsbewusstsein“ den deutlich problematischeren Begriff „Staatsbewusstsein“ (ebd., S. 282, Fn. 147). Dem Investiturstreit weist er in dieser Entwicklung eine zentrale Rolle zu (ebd., S. 282f., 286f.). Vgl. weiter zur Bedeutung des Investiturstreits für die Geschichtsschreibung Hans-Werner Goetz: Der Investiturstreit in der deutschen Geschichtsschreibung von Lampert von Hersfeld bis Otto von Freising. In: Canossa 1077. Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik. Hgg. von Christoph Stiegemann und Matthias Wemhoff Band 1: Essays. München 2006, S. 47–59.

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der Begriff regnum Teutonicum für das ‚Reich‘ nördlich der Alpen häufiger gebraucht wurde,13 geht Uta Goerlitz davon aus, dass die Austragung und rechtliche Lösung dieses Konflikts bereits einen (ersten) wichtigen Impuls „zur Formierung eines deutschen Nationsbewußtseins“ gegeben habe.14 Ein weiterer Schritt in Richtung ‚nationaler‘ Identität könnte in der Verankerung der translatio imperii in Germanos im kanonischen Recht im Anschluss an die Doppelwahl von 1198 und die Anrufung des Papstes zur Entscheidung des Konflikts gesehen werden. Nach der kurialen, in der Dekretale «Venerabilem» von 1202 niedergelegten Translationstheorie hatte der Apostolische Stuhl mit der Kaiserkrönung Karls des Großen das Imperium Romanum von den Griechen auf die ‚Germanen‘ bzw. die ‚Deutschen‘ übertragen.15 Damit schrieb das kanonische Recht seit Anfang des 13. Jahrhunderts nicht nur die Verbindung zwischen Imperium Romanum und den ‚Deutschen‘ fest, sondern auch die Abhängigkeit des Kaisers von der päpstlichen Weihe.16 Doch welche Vorstellungen waren mit den ‚Deutschen‘ damals verbunden? Ein früher Beleg hierfür findet sich in der «Geschichte des Erzbistums Hamburg» (um 1075), in welcher der Kleriker Adam von Bremen (gest. um 1081/1085) die ‚Stämme‘ bzw. ‚Völker der Deutschen‘ (gentes bzw. populi Teutonum) erwähnt, bei denen nun die Herrschaft über das Imperium Romanum liege.17 Noch deutlicher beschrieb Mitte 13 Dazu Weisert: Die Reichstitel bis 1806 (wie Anm. 9), S.  441, 499; Wolfgang Haubrichs: ‚die tiutsche und die andern zungen‘. Von der Vielfalt und Entwicklung eines Sprach- und Volksbegriffs. In: Vielfalt der kulturellen Systeme und Stile. Hg. von Johannes Janota. Tübingen 1993 (Kultureller Wandel und die Germanistik der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991. Band 1), S. 21–41, hier S. 30. Vgl. weiter Thomas: Julius Caesar (wie Anm. 9), S. 245, 265ff. 14 Uta Goerlitz: Literarische Konstruktion (vor-)nationaler Identität seit dem Annolied. Analysen und Interpretationen zur deutschen Literatur des Mittelalters (11.–16. Jahrhundert). Berlin/New York 2007 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. Band 45), S. 299f. (auch S. 100, 195). Vgl. weiter Schnell: Deutsche Literatur (wie Anm. 12), S. 247, 283ff., 289ff. 15 Dekretale Venerabilem, Liber Extra von 1234, X 1.6.34 (In: Corpus Iuris Canonici Band 2: Decretalium Collectiones. Hg. von Emil Friedberg. Leipzig 1879. ND Graz 1959, Sp. 80): […] praesertim, quum ad eos ius et potestas huiusmodi ab apostolica sede pervenerit, quae Romanum imperium in personam magnifici Caroli a Graecis transtulit in Germanos. Der Satz stammte aus einem Brief Papst Innozenz’ III. an Herzog Berthold V. von Zähringen aus dem Jahr 1202. Dazu Thomas: Sprache und Nation (wie Anm. 9), S. 47, 54; Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 174f., 221 (mit Hinweis darauf, dass sich die Translationstheorie – statt der bis dahin vertretenen renovatio imperii – erstmals zur Zeit des Investiturstreits um 1100 in der Weltchronik Frutolfs von Michelsberg findet). 16 Dazu auch Werner Goez: Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Tübingen 1958, S. 158–165. Nach Schnell: Deutsche Literatur (wie Anm. 12), S. 247, 314ff. erfährt die Translationstheorie in der Geschichtsschreibung erst seit dem Ende des 13. Jahrhunderts eine stärkere Verbreitung, wobei sich aus diesen spätmittelalterlichen Texten „noch keine Entwicklung eines deutschen Geschichtsbewußtseins“ ableiten lasse (S. 317). 17 Magistri Adam Bremensis Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, Lib. I, c. 10; Adam von Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte. Hg. von Bernhard Schmeidler. Hannover/Leipzig 3. Aufl. 1917 (MGH SS rer. Germ. Band 2), S. 11: Ipse enim, ut in Gestis suis legitur, apostolicae sedis auctoritate fultus legationem ad gentes suscepit Teutonumque populos, apud quos nunc et summa impe-



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des 12. Jahrhunderts Otto von Freising (um 1112–1158) das Regnum Teutonicum als ein aus mehreren Reichen bestehendes Gebilde, wobei er die in der Baioaria, Suevia, Saxonia usw. lebenden gentes als nationes Germanicae begriff.18 Nach dem Verständnis der hochmittelalterlichen Geschichtsschreiber setzte sich somit ‚Deutschland‘ aus mehreren gentes, populi bzw. regna zusammen. Die Annahme, dass die Angehörigen dieser gentes bereits im Hochmittelalter eine ‚supragentil-deutsche‘ Zusammengehörigkeit mit der Vorstellung einer gemeinsamen Geschichte, Sprache und Kultur entwickelt hätten, erscheint jedoch auf der Grundlage dieser Texte nicht naheliegend. Wenden wir uns nun dem berühmtesten Rechtsbuch des Mittelalters zu, dem um 1225 von Eike von Repgow19 verfassten «Sachsenspiegel».20 Nach herkömmlicher rii Romani et divini cultus reverentia viget ac floret, ecclesiis, doctrina virtutibusque illustravit. Dazu Thomas: Sprache und Nation (wie Anm. 9), S. 47, 53. In den fast zeitgleich aufgezeichneten «Annalen» Lamperts von Hersfeld ist gelegentlich von den regna Bayern, Sachsen und Schwaben die Rede, Lamperti Annales, a. 1075 und a. 1076. In: Lamperti Monachi Hersfeldensis opera. Hg. von Oswald Holder-Egger. Hannover/Leipzig 1894 (MGH SS rer. Germ. Band 38), S. 220 und 272. Dazu MüllerMertens: Regnum Teutonicum (wie Anm. 9), S. 241; Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 65. Dazu insgesamt Thomas: Julius Caesar (wie Anm. 9), S. 245, 265, 267f. 18 Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten. Hg. von Walter Lammers. Darmstadt 1961 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Band 16), Chron. VI, 11, S. 448f.: Das ehemalige Ostfrankenreich, das jetzt als regnum Teutonicum bezeichnet werde, setze sich aus den geographischen Einheiten Bayern, Schwaben, Sachsen, Thüringen, Friesland und Lothringen zusammen (Porro Arnolfus totam orientalem Franciam, quod modo Teutononicum regnum vocatur, id est Baioariam, Sueviam, Saxoniam, Turingiam, Fresiam, Lotharingiam, rexit […]); Bischof Otto von Freising und Rahewin: Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica. Hg. von FranzJosef Schmale. Darmstadt 1965 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Band 17), Gesta Frederici III, 29, S. 454 (nationes Germanicae). Dazu insgesamt Götz Landwehr: „Nation“ und „Deutsche Nation“. Entstehung und Inhaltswandel zweier Rechtsbegriffe unter besonderer Berücksichtigung norddeutscher und hansischer Quellen vornehmlich des Mittelalters. In: Aus dem Hamburger Rechtsleben. Walter Reimers zum 65. Geburtstag. Hgg. von Heinrich Ackermann u. a. Berlin 1979, S. 1–35, hier S. 3. Zu Otto von Freising und seinem Verständnis vom regnum Teutonicorum vgl. auch Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 118ff. 19 Zum Verfasser des «Sachsenspiegels» Rolf Lieberwirth: Entstehung des Sachsenspiegels und Landesgeschichte. In: Ders. Rechtshistorische Schriften. Hg. von Heiner Lück. Weimar u. a. 1997, S. 395–425, hier S. 397–407; Ders.: Eike von Repgow (um 1180–nach 1233). In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hgg. von Albrecht Cordes u. a. Band 1. Berlin 2. Aufl. 2008, Sp. 1288– 1292. 20 Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zum «Sachsenspiegel» seien nur genannt: Heiner Lück: Entstehung und Textentwicklung. In: Ders.: Über den Sachsenspiegel. Entstehung, Inhalt und Wirkung des Rechtsbuches. Wettin-Löbejün 3. Aufl. 2013 (Veröffentlichungen der Stiftung Dome und Schlösser in Sachsen-Anhalt. Band 1), S. 15–37; Hiram Kümper: Sachsenrecht. Studien zur Geschichte des sächsischen Landrechts in Mittelalter und früher Neuzeit. Berlin 2009 (Schriften zur Rechtsgeschichte. Band 142), S. 80–164; Ders.: Sachsenspiegel. Eine Bibliographie – mit einer Einleitung zu Überlieferung, Wirkung und Forschung. Nordhausen 2004; Christa Bertelsmeier-Kierst: Kommunikation und Herrschaft. Zum volkssprachlichen Verschriftlichungsprozeß des Rechts im 13. Jahrhundert. Stuttgart 2008 (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Beiheft 9), S. 61–123; Ulrich-Dieter Oppitz: Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters Band 1. Beschreibung der Rechtsbü-

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Einteilung umfasst der «Sachsenspiegel» zwei Teile: das Landrecht und das Lehnrecht.21 Dass es im Landrecht (im Gegensatz zum Lehnrecht)22 um das „Recht der Sachsen“ geht, bezeugt nicht nur die Reimvorrede,23 vielmehr weist auch das Landrecht selbst einzelne Rechte und Rechtsinstitute als spezifisch sächsisch aus (nicht selten in Abgrenzung zu anderen regional geltenden Rechten wie etwa dem Recht der Schwaben).24 Zudem wird innerhalb des Rechtsbuchs das „Land zu Sachsen“ geo-

cher. Köln/Wien 1990, S. 21–32; Eike von Repgow, Sachsenspiegel. In: Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“. Hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. http://www. geschichtsquellen.de/repOpus_02216.html (03.08.2016). Für diesen Beitrag werden folgende Ausgaben verwendet: Sachsenspiegel. Landrecht. Hg. von Karl August Eckhardt. Göttingen 2. Aufl. 1955 (MGH Font. iur. NS. Band 1,1); Sachsenspiegel. Lehnrecht. Hg. von Karl August Eckhardt. Göttingen 2. Aufl. 1956 (MGH Font. iur. NS. Band 1,2); beide Ausgaben sind – bezogen auf den Text – unverändert von Eckhardt erneut veröffentlicht worden: Aalen. 3. Aufl. 1973 (Bibliotheca rerum historicarum. Band 1). Es handelt sich – trotz berechtigter Kritik – nach wie vor um die maßgeblichen Ausgaben; dazu Kümper: Sachsenspiegel, ebd., S.  17; Ruth Schmidt-Wiegand: Überlieferungs- und Editionsprobleme deutscher Rechtsbücher. In: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung 26.–29. Juni 1991. Plenumsreferate. Hgg. von Rolf Bergmann und Kurt Gärtner. Tübingen 1993 (editio. Beihefte 4), S. 63–79, hier S. 69f. Zur Problematik der Ausgaben Eckhardts auch Bertelsmeier-Kierst, ebd., S. 96–112. 21 Da die meisten mittelalterlichen Handschriften beide Texte getrennt überliefern, sich die Bezeichnung Spegel der Sassen nur auf das Landrecht bezieht und auch sprachliche Unterschiede zwischen Land- und Lehnrecht bestehen, werden in der neueren Forschung Zweifel geäußert, ob das Lehnrecht von Eike von Repgow stammt, so etwa Jörn Weinert: Eike von Repgow – Verfasser des ‚Sachsenspiegels‘? ZfdPh 133 (2014) S.  67–98; Maike Huneke: Iurisprudentia romano-saxonica. Die Glosse zum Sachsenspiegel-Lehnrecht und die Anfänge der deutschen Rechtswissenschaft. Wiesbaden 2014 (MGH Schriften. Band 68), S. 494–535; Bernd Kannowski: Landrecht und Lehnrecht nach dem Sachsenspiegel. Für und Wider einen (vermeintlichen?) ‚uralten Irrtum‘. In: Inter cives necnon peregrinos. Essays in honour of Boudewijn Sirks. Hgg. von Jan Hallebeek u. a. Göttingen 2014, S. 351–365. Vgl. aber auch Heiner Lück: Woher kommt das Lehnrecht des Sachsenspiegels? Überlegungen zu Genesis, Charakter und Struktur. In: Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert. Hg. von Karl-Heinz Spiess. Ostfildern 2013 (Vorträge und Forschungen. Band 76), S. 239–268. 22 Das Lehnrecht lässt keine geografische Eingrenzung auf Sachsen erkennen; dazu Weinert: Eike von Repgow (wie Anm. 21), S. 67, 87f. 23 Gemeint ist die berühmte Stelle: ‚Spegel der Sassen‘ / Scal dit buk sin genant, / went Sassen recht is hir an bekant (Ssp. Reimvorrede V. 178–180). 24 Ssp. Ldr. I 17–19; Ldr. I 29f.; Ldr. I 61 § 4; Ldr. II 12 §§ 8, 12; Ldr. II 61 § 2; Ldr. II 66 § 1; Ldr. III 70.



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grafisch eingegrenzt25 und das im Landrecht enthaltene Recht mehrfach auf Sachsen bezogen.26 Im «Sachsenspiegel» finden sich aber auch mehr als zehn Belege, in denen es um die ‚deutsche Sprache‘ (Ssp. Reimvorrede V. 261–266, Ldr. III 71 §§ 1f.), die ‚deutschen Lande‘ (Ssp. Ldr. III 64 § 1, Lnr. 4 § 1, Lnr. 69 § 7), die ‚Geschichte der Deutschen‘ (Ssp. Ldr. III 53 § 1) und die ‚deutsche Abstammung‘ (Ssp. Ldr. III 52 § 1, Ldr. III 57 § 2, Lnr. 4 §§ 2 f.)27 geht.28 Hervorzuheben ist dabei zum einen, dass sich diese Regelungen im Landrecht ausschließlich im ‚verfassungsrechtlichen Teil‘ des dritten Buches finden, wobei der Bezug auf eine ‚supragentil-deutsche‘ Identität an mehreren Stellen argumentativ innerhalb eines verfassungsrechtlichen Diskurses eingesetzt wird. Zum anderen sind mit den genannten vier Elementen erstmals in einem Rechtstext 25 Ssp. Ldr. III 62 §§ 1–3: § 1 Vif stede, de palenze heten, leggen in’me lande to Sassen, dar de koning echte hove hebben scal. De erste is Gruna; de andere Werla, de is to Goslere geleget; Walehusen is de dridde; Olzstede is de virde; Merseborch ‹is› de vefte. § 2 Seven vanlen sint ok in deme lande to Sassen: dat hertochdum to Sassen unde de palenze; de marke to Brandeborch; de lantgravescap to Duringen; de marke to Misne, de marke to Lusaz; de gravescap to Aschersleve. § 3 ‹Van den ercebiscopen› Ok sint twei ercebiscopdum in’me lande to Sassen unde veften andere. Deme van Magdeborch is underdan de biscop van der Nuwenborch unde de van Merseborch unde de van Misne unde de van Brandeborch unde de van Havelberge ‹unde de van Camine›. De biscop van Megenze hevet vir underdane in’me lande to Sassen: den biscop van Halverstad unde den van Hildensen unde den van Verden unde den van Padelborne. De biscop van Osenbrugge unde van Minden unde ‹de› van Munstere de sint underdan deme van Kolne. De ercebiscop van Bremen hevet under eme den van Lubeke unde den van Swerin unde den van Raceborch. Zu dieser Stelle Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 498–500. Zum Verständnis von ‚Land‘ und ‚terra‘ als Herrschaft und nicht als Raum Ernst Schubert: Der rätselhafte Begriff „Land“ im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Concilium medii aevi 1 (1998) S. 15–27, hier S. 15ff., insbes. 21f. Vgl. weiter Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 64ff. 26 Dazu Gerhard Theuerkauf: Lex, Speculum, Compendium Iuris. Rechtsaufzeichnung und Rechtsbewußtsein in Norddeutschland vom 8. bis zum 16. Jahrhundert. Köln/Graz 1968, S. 100ff. 27 Die hier genannten Belege betreffen nur die Regelungen zur deutschen Abstammung der Königswähler. Weiter ist noch Ssp. Ldr. III 73 § 2 zu nennen, der für den Fall, dass ein Kind von einem deutschen und einem ‚wendischen‘ Elternteil abstammt, festlegt, dass sich das Recht des Kindes nach dem Recht der Mutter bestimmt, wenn sie eine Deutsche ist. An einer weiteren Stelle, bei der es darum geht, dass alle Menschen ohne Ansehen der Person vor Gericht gleichbehandelt werden, wird ausdrücklich betont, dass dies für Deutsche und Wenden gleichermaßen gelte (Ssp. Ldr. III 69 § 2; vgl. aber auch Ssp. Ldr. III 70). 28 Zusätzlich ist noch Ssp. Ldr. III 50 zu nennen: Swar de dudesche man sinen lif oder sine hant verwarcht mit ungerichte, he lose se oder ne do, dar ne dar he geven noch gewedde noch bute to. Zu den im «Sachsenspiegel» enthaltenen gut zehn Belegstellen für das Wort ‚deutsch‘ bzw. ‚Deutsche‘ Karl Gottfried Hugelmann: Stämme, Nation und Nationalstaat im deutschen Mittelalter. Würzburg 1955 (Nationalstaat und Nationalitätenrecht im deutschen Mittelalter. Band 1), S. 267–269. Im «Annolied» (um 1080) gibt es hingegen nur fünf Belege zu ‚deutsche/s Land/e‘ und zu ‚deutsche Leute/Mannen‘ sowie einen Beleg zum „Deutschsprechen“. Dazu Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 48, 55; Thomas: Julius Caesar (wie Anm. 9), S. 245, 259ff. mit Hinweis darauf, dass der „Völkername“ der „Deutschen“ nicht verwendet wird (darauf weist auch Goerlitz, ebd., S. 54, hin). Die «Kaiserchronik» (Mitte des 12. Jahrhunderts) enthält hingegen 23 Belege zu ‚deutsch‘, und zwar nun auch das dûtiske rîche und die dûtisken, dazu Goerlitz, S. 130ff., 137.

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aus dem frühen 13. Jahrhundert zentrale Merkmale eines ‚Nationsbewusstseins‘ angesprochen,29 nämlich ein auf Fiktionen beruhendes Geschichtsbewusstsein, ein Bewusstsein gemeinsamer Abstammung bzw. Herkunft, ein auf Deutschland bezogenes Raumbewusstsein sowie ein deutsches Sprachbewusstsein.30 Dabei dürfte es sich beim «Sachsenspiegel» um den ersten volkssprachigen Text des Mittelalters handeln, der die genannten vier Merkmale vereinigt (dazu Übersicht 1, S.  213). Im Folgenden soll auf die Belege zu ‚Sprache‘ und ‚Raum‘ nur kurz eingegangen werden, während die Stellen zur Geschichte der Deutschen und der deutschen Abstammung der Königswähler etwas ausführlicher vorgestellt werden (zu den insoweit einschlägigen Textstellen siehe Übersicht 2, S. 214f.). (1) Die deutsche Sprache wird erstmals in der Reimvorrede erwähnt, denn hier gibt Eike von Repgow an, dass er auf Bitten des Grafen Hoyer von Falkenstein die lateinische Fassung des «Sachsenspiegels» ohne Hilfe und ohne Lehre ins Deutsche übersetzt habe.31 Noch wichtiger ist aber Ssp. Ldr. III 71, wonach die Sprache vor Gericht Deutsch ist (he mut antwarden in dudescheme): Nur wer eine andere Muttersprache hat und kein Deutsch spricht, darf in seiner Sprache vor Gericht antworten (dazu Übersicht 1, Spalte 6).32 Latein, die Sprache vor den geistlichen Gerichten, wird hingegen als Gerichtssprache nicht erwähnt.

29 Regino von Prüm hatte (vermutlich unter Rückgriff auf Isidor von Sevilla) um 900 als wesentliche Kriterien nationaler und ethnischer Identität benannt: genus (‚Abstammung‘), mores (‚Sitte‘), lingua (‚Sprache‘) und leges (‚Recht‘); Reginonis Abbatis Prumiensis Chronicon cum continuatione Treverensi. Hg. von Friedrich Kurze. Hannover 1890. ND Hannover 1978 (MGH SS rer. Germ. Band 50), S. XX ([…] sicut diversae nationes populorum inter se discrepant genere moribus lingua legibus […]). Dazu auch Haubrichs: ‚die tiutsche und die andern zungen‘ (wie Anm. 13), S.  21, 28f.; Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 29ff., 192; Hans-Werner Goetz: Gentes et linguae. Völker und Sprachen im Ostfränkisch-deutschen Reich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen. In: Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters. Hgg. von Wolfgang Haubrichs u. a. Berlin/New York 2000 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Band 22), S. 290–312, hier S. 297. 30 Zu diesen und weiteren Kriterien eines ‚Nationsbewusstseins‘ Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 22f.; Schnell: Deutsche Literatur (wie Anm. 12), S. 247, 250f. 31 Ssp. Reimvorrede V. 261–266: Nu danket al gemene / deme van Valkenstene, / De greve Hoier is genant, / dat an dudisch is gewant / Dit buk dorch sine bede: / Eike van Repchowe it dede; V. 275–277: Ane helpe unde ane lere / do duchte en dat to swere / Dat he’t an dudisch gewande. 32 Entsprechende Regelungen finden sich im «Deutschenspiegel» (Ldr. 330 §§ 1f.) und im «Meißner Rechtsbuch» (Buch IV, c. 26 Dist. 1–3); zu diesen beiden Rechtsbüchern siehe Anm. 38, 41. Vgl. weiter zu ‚Deutsch‘ als Verhandlungssprache auf dem Reichstag Schnell: Deutsche Literatur (wie Anm. 12), S. 247, 301f., 307 mit Hinweis darauf, dass Rudolf von Habsburg auf dem Reichstag zu Augsburg (1275) anlässlich seiner Wahl zum deutschen König eine auf Latein gehaltene Rede von Bischof Wernhart von Seckau mit der Begründung unterbrach, dass nach deutscher Rechtstradition auf dem Reichstag in deutscher Sprache verhandelt werde.



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(2) Der Raum, bezogen auf Deutschland als territoriale Größe, spielt bei der Ableistung des Reichsdienstes33 eine zentrale Rolle (Übersicht 1, Spalte 5). Nach Ssp. Ldr. III 64 § 1 haben die Reichsfürsten auf Gebot des Königs ihren Reichsdienst innerhalb von sechs Wochen auf deutscher Erde (binnen dudescher art) anzutreten. Das Lehnrecht (Ssp. Lnr. 4 § 1) präzisiert diese Pflicht dahingehend, dass der Dienst binnen dudescher tungen (de deme romeschen ‹konige unde deme› rike underdan is) zu leisten sei. Die sich in der Regelung anschließende Abgrenzung zu den Gebieten östlich der Saale34 spricht eindeutig für eine geographische Bedeutung der Formulierung binnen dudescher tungen.35 Auf Deutschland als territoriale Größe bezieht sich auch die entsprechende Stelle in der lateinischen Urfassung des Lehnrechts (sogenannter «Auctor vetus de beneficiis»);36 dort heißt es: infra terram teutonicam. Das auf der lateinischen Fassung des Lehnrechts beruhende «Görlitzer Rechtsbuch» (um 1300) übersetzt diese Stelle dann ins Deutsche, und zwar mit in duschin lande.37 Die Regelung des «Sachsenspiegels» zum Reichsdienst (Ssp. Ldr. III 64 § 1 und Lnr. 4 § 1) findet noch in weitere spätmittelalterliche Rechtsbücher Eingang (dazu Über33 Zum Reichsdienst gehörten die Teilnahme an den Hof- und Reichstagen, das Erscheinen am Königsgericht auf entsprechende Ladung, die Pflicht zur Heerfahrt und zum Romzug; dazu (unter Angabe der einschlägigen Sachsenspiegelstellen) Hugelmann: Stämme (wie Anm. 28), S. 430ff., 438ff. 34 Ssp. Lnr. 4 § 1: Alle de aver in osterhalf der Sale belent sin, de scolen denen to Wenden, to Polenen, to Behemen. 35 Dafür spricht auch eine ähnliche Formulierung in Ssp. Lnr. 69 § 7 (an dudescher art, de ‹deme› romescheme rike underdan is). Zur Wiedergabe des lateinischen Begriffs natio in volkssprachigen Texten mit zunge Heinz Thomas: Die Deutsche Nation und Martin Luther. Historisches Jahrbuch 105 (1985) S. 426–454, hier S. 436; Joachim Knape: Humanismus, Reformation, deutsche Sprache und Nation. In: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hg. von Andreas Gardt. Berlin/New York 2000, S. 103–138, hier S. 114. 36 Von der lateinischen Urfassung des Lehnrechts sind keine mittelalterlichen Handschriften, sondern nur Drucke seit dem 16. Jahrhundert überliefert. Zum «Auctor vetus de beneficiis» als lateinische Vorlage für das Lehnrecht des «Sachsenspiegels» Huneke: Iurisprudentia romano-saxonica (wie Anm. 21), S. 518–522; Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 89–91. Vgl. weiter Dirk Heirbaut: Am Anfang war das Lehnrecht! Eike von Repgow als Lehnrechtsspezialist und die Entstehungsgeschichte des Sachsenspiegels. In: Von Sachsen-Anhalt in die Welt. Der Sachsenspiegel als europäische Rechtsquelle. Hg. von Heiner Lück. Halle/Saale 2015 (Signa Ivris. Band 14), S. 105–122, hier S. 113–116. 37 Auctor vetus de beneficiis I 9 und Görlitzer Rechtsbuch I 2 § 4; Auctor vetus de beneficiis Band 2: Archetypus und Görlitzer Rechtsbuch. Hg. von Karl August Eckhardt. Hannover 1966 (Germanenrechte NF. Land- und Lehnrechtsbücher. Band 2), S. 22f. Weitere Nachweise für die Verwendung von deutsche lande etwa im «Schwabenspiegel» und in anderen spätmittelalterlichen Texten bei Dietrich Busse: Hailig Reich, Teutsch Nacion, Tutsche Lande. Zur Geschichte kollektiver Selbstbezeichnungen in frühneuhochdeutschen Urkundentexten. In: Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Hgg. von Dems. u. a. Opladen 1994, S. 268–298, hier S. 288. Hingegen nennt Weisert: Die Reichstitel bis 1806 (wie Anm. 9), S. 441, 458 Belege für den Begriff der ‚deutschen Lande‘ erst für die Zeit ab 1338 (erstmals als Bezeichnung für den Mainzer Erzkanzler: des heiligen Romischen richs in Tutschen landen oberister cantzeler). Zur Verwendung der Singularform ‚deutsches Land‘ (diutschez lant) und der Pluralform (diutschiu lant) in der Zeit vom 11. bis zum 13. Jahrhundert Schnell: Deutsche Literatur (wie Anm. 12), S. 247, 275ff.

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sicht 1, Spalte 5): Zu nennen ist der in Augsburg um 1275 aufgezeichnete «Spiegel allr tæutzher lævte»38 (Ldr. 318 § 1, Lnr. 9 und 10),39 der im Übrigen an etlichen Stellen, an denen der «Sachsenspiegel» die Sachsen bzw. die sächsischen Lande nennt, diese durch deutsche Leute bzw. deutsche Lande ersetzt.40 Zu verweisen ist aber auch auf das aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammende «Meißner Rechtsbuch»,41

38 Zum «Deutschenspiegel» (um 1275) Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 362–364; Bertelsmeier-Kierst: Kommunikation und Herrschaft (wie Anm. 20), S. 138–156; Oppitz: Deutsche Rechtsbücher (wie Anm. 20), S.  33f.; Spiegel deutscher Leute. In: Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“. Hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_04309.html (03.08.2016). 39 Deutschenspiegel Ldr. 318 § 1: Pevtet der chunich des reiches dienst […] den sullen si suchen inn tævtzher art […]; Lnr. 9: Des Reiches dienst der dem manne gepoten wirt mit vrtail sechs wochen vor dem tage e er varen sulle […] dar sol er pilleichen twingen tæutzen zunge dev dem römischen reiche vndertænich ist; Lnr. 10: Alle die aber in osterhalb der sale belehent sint von dem reiche. Die sullen dienen zu vuinedin vnd zu polen vnd ze Bechaim sechs wochen […]. Studia iuris Teutonici. Deutschenspiegel. Hg. von Karl August Eckhardt. Aalen 1971 (Bibliotheca rerum historicarum. Studia. Band 3). Auch im Folgenden wird diese Ausgabe verwendet. 40 So wird aus dem Reim Got hevet de Sassen wol bedacht, / sint dit buk is vorebracht (Ssp. Reimvorrede V. 97f.) in der Reimvorrede des «Deutschenspiegels» (V. 1f.): GOt hat tevtzelant wol bedacht. / So daz puch wirt volbracht. Aus Spegel der Sassen (Ssp. Reimvorrede V. 178) wird im «Deutschenspiegel» Spiegel allr tæutzher lævte (Reimvorrede V. 91). Auch Ssp. Ldr. I 29 (Verjährungsregel von 30 Jahren und Jahr und Tag für Sachsen) wird auf alle tevtz lævt (Deutschenspiegel Ldr. 32 § 2) übertragen. Vgl. weiter Ssp. Ldr. I 61 § 4 (Iewelk man mut wol vorspreke sin binnen deme lande to Sassen to lantrechte) und Deutschenspiegel Ldr. 83 § 2 (Jsleich man mag wol vorspreche sein. in tæutzenlanden vor allem gerichte). An der Stelle, an der Eike von Repgow in der Reimvorrede den Inhalt des «Sachsenspiegels» als das tradierte Recht der Vorfahren bezeichnet (V. 151–153), legitimiert der Verfasser des «Deutschenspiegels» das Recht jedoch auf andere Weise: Ez habent die chunige an vns pracht. / mit weiser maister lere (Reimvorrede V. 62f.). Damit wird zwar ein auch im «Sachsenspiegel» enthaltener Legitimationsstrang aufgegriffen, nämlich der im Textus Prologi angeführte Verweis auf Karl den Großen und Konstantin den Großen als Repräsentanten für das weltliche und kirchliche Recht. Neu ist aber die Hervorhebung der Unterstützung der königlichen Gesetzgebung durch den Rat gelehrter Juristen. Dazu insgesamt Dietlinde Munzel-Everling: Deutschenspiegel. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hgg. von Cordes u. a. Band 1 (wie Anm. 19), Sp. 971f. 41 Das «Meißner Rechtsbuch» (nach 1358 und vor 1387; auch als «Rechtsbuch nach Distinktionen» bezeichnet) gilt mit rund 86 überlieferten Handschriften (aus den Regionen Mitteldeutschland, Schlesien, Böhmen, Mähren und dem preußischen Ordensland) als das am weitesten verbreitete deutsche Stadtrechtsbuch. Dazu Ulrich-Dieter Oppitz: Meißner Rechtsbuch. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hgg. von Albrecht Cordes u. a. Band 3. Berlin 2. Aufl. 2016, Sp. 1431–1434, hier Sp. 1431; Ders.: Zum Meißner Rechtsbuch. In: Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell. Hgg. von Gerhard Köbler und Hermann Nehlsen. München 1997, S. 907–914; Ders.: Deutsche Rechtsbücher (wie Anm. 20), S. 55–57; Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 437–450; Dörthe Buchhester und Mario Müller: Meißner Rechtsbuch. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter Band 6: Das wissensvermittelnde Schrifttum bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Achnitz. Berlin/New York 2014, Sp. 1025–1030; Rechtsbuch, Meißener. In: Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“. Hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_04015.html (03.08.2016).



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das den «Sachsenspiegel» ebenfalls in größerem Umfang rezipiert.42 Die entsprechenden Stellen im «Schwabenspiegel» (um 1275)43 und in dem von diesem abhängigen «Freisinger Rechtsbuch» (1328)44 weichen zwar leicht vom «Sachsenspiegel» ab, weil es um die Ladung der Reichsfürsten zum Hoftag und nicht zum Reichsdienst geht, jedoch wird auch hier klargestellt, dass das Gebot des Königs nur für einen Hoftag in deutschen Landen gilt.45

42 Meißner Rechtsbuch, Buch VI, c. 18, Dist. 1: Gebutet der koning des riches dinst, hoff adder herfart mit orteylen, unde left daz kundigen mit sinen briffen unde ingesz sechzig wuchen, wo her werden sal: den sullen sy suchen in duetscher art, wo her hen bescheyden ist. Lasen sy daz, sy wetten dorumbe. Das Rechtsbuch nach Distinktionen. Hg. von Friedrich Ortloff. Jena 1863. ND Aalen 1967. Auch im Folgenden wird diese Ausgabe verwendet; ergänzend wurde folgende Ausgabe herangezogen: Míšeňská právní kniha. Historický kontext, jazykový rozbor, edice. Das Meißner Rechtsbuch. Historischer Kontext, linguistische Analyse, Edition. Bearb. und eingel. von Vladimír Spáčil und Libuše Spáčilová. Olmütz 2010. 43 Zum «Schwabenspiegel» Bertelsmeier-Kierst: Kommunikation und Herrschaft (wie Anm. 20), S. 126–172; Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 364–391; Oppitz: Deutsche Rechtsbücher (wie Anm. 20), S. 34–42; Schwabenspiegel. In: Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“. Hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_04228.html (03.08.2016). 44 Etwa ein Drittel des «Freisinger Rechtsbuchs» ist aus dem «Schwabenspiegel» übernommen. Zum «Freisinger Rechtsbuch» Hans-Georg Hermann: Freisinger Rechtsbuch. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hgg. von Cordes u. a. Band 1 (wie Anm. 19), Sp. 1779f.; Oppitz: Deutsche Rechtsbücher (wie Anm. 20), S. 58f.; Rupertus de Frisinga, Freisinger Rechtsbuch. In: Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“. Hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_04165.html (03.08.2016). 45 Swsp. Ldr. 117: Sô der künic einen hof gebieten wil, den sol er gebieten über sehs wochen, unde sol in den fürsten unde andern herren künden mit versigelten brieven. si sullen die hove suochen in tiutschen landen unde niht vür baz. Der Schwabenspiegel in der ältesten Gestalt mit den Abweichungen der gemeinen Texte und den Zusätzen derselben. Teil 1. Landrecht. Hg. von Wilhelm Wackernagel. Zürich/Frauenfeld 1840. ND Aalen 1972 (Bibliotheca rerum historicarum. Neudrucke. Band 3). In der Ausgabe von Lassbergs findet sich diese Stelle in Ldr. 138; Der Schwabenspiegel oder schwäbisches Land- und Lehen-Rechtbuch nach einer Handschrift vom Jahr 1287. Hg. von Friedrich Leonhard Anton Freiherr von Lassberg. Tübingen 1840. ND Aalen 1972 (Bibliotheca rerum historicarum. Neudrucke. Band 2). Im «Freisinger Rechtsbuch» lautet die entsprechende Stelle (c. 98): vnnd dy fürstenn süllnn jn suechnn jn teutschnn landenn vnnd nicht fürbas. Das Stadt- und das Landrechtsbuch Ruprechts von Freysing. Nach fünf Münchener Handschriften. Ein Beitrag zur Geschichte des Schwabenspiegels. Hg. von Georg Ludwig von Maurer. Stuttgart/Tübingen 1839. Die beiden nachfolgenden Regelungen (Swsp. Ldr. 118 bzw. 139 sowie Freisinger Rechtsbuch c. 99) behandeln die Ladung eines weltlichen Reichsfürsten zum Hoftag, wobei diejenigen, die nicht in deutschen Landen bzw. im deutschen Sprachraum ansässig sind, diesem Gebot nicht Folge leisten müssen. Swsp. Ldr. 118: unde sint si niht gesezen in diutschen landen, […] si sint des hoves mit rehte ledic. In der Ausgabe von Lassbergs (Ldr. 139) wird an dieser Stelle hingegen der deutsche Sprachraum genannt: vnd sint si in tvscher sprache nvt gesezzen (entsprechend auch Freisinger Rechtsbuch c. 99: vnd sind sy in teutscher sprach nicht gesessnn). Auch im Folgenden werden die genannten Ausgaben des «Schwabenspiegels» und des «Freisinger Rechtsbuchs» verwendet.

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(3) Die im «Annolied» (um 1080) und in der «Kaiserchronik» (Mitte des 12. Jahrhunderts) enthaltene Geschichte von Caesar und den Deutschen findet sich auch im «Sachsenspiegel» und in weiteren Rechtsbüchern (Übersicht 1, Spalte 3 und Übersicht 2, Zeile 3): So heißt es in Ssp. Ldr. III 53 § 1, dass sich Deutschland (dudisch lant) aus den Pfalzgrafschaften Sachsen, Bayern, Franken und Schwaben zusammensetze. Diese vier seien ursprünglich Königreiche gewesen, die von den Römern bezwungen und dann in Herzogtümer umgewandelt worden seien.46 Die im «Annolied» und in der «Kaiserchronik» in mehr als 130 Versen ausführlich beschriebene Geschichte von Caesar, der nacheinander die Schwaben, Bayern, Sachsen und Franken besiegte und diese dann als deutsche Bündnispartner mit seinem Reich vereinte,47 wird von Eike von Repgow freilich auf einen Halbsatz reduziert, den die Rezipienten nur verstehen konnten, wenn sie die Geschichte vom Bunde Caesars mit den Deutschen bereits kannten.48 Dass dies jedenfalls bei den Verfassern des «Deutschen-» und «Schwabenspiegels» der Fall war, belegen die Ergänzung um den Namen „Julius“ (Caesar) im «Deutschenspiegel» (Ldr. 288)49 und die weitere Ergänzung im «Schwabenspiegel» um die Vereinigung der vier Königreiche durch Caesar zu einem Reich, weil er neben sich keine anderen Könige habe dulden wollen (Swsp. Ldr. 99).50 Für die Ver46 Ssp. Ldr. III 53 § 1: Iewelk dudisch lant hevet sinen palenzgreven: Sassen, Beieren, Vranken unde Swaven. Dit waren alle koningrike; seder wandelde men ene den namen unde het se hertogen, seder se de Romere bedwungen; […]. Dazu Alexander Begert: Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches. Studien zur Kurwürde und zur staatsrechtlichen Stellung Böhmens. Husum 2003 (Historische Studien. Band 475), S. 57; Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 64–69 mit Hinweis darauf, dass lant für regna stehe, weil die ehemaligen gentes des fränkischen Reiches als ‚Teilstaaten‘ verstanden wurden. 47 Annolied c. 18–23 (V. 263–398) und Kaiserchronik (V. 247–378); Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hg. von Edward Schröder. Hannover 1892 (MGH Dt. Chron. Band I/1), S. 84–87; Das Annolied. Hg. von Max Roediger. Hannover 1895 (MGH Dt. Chron. Band I/2), S.  120–124. Im «Annolied» c. 18 (V. 274) ist vom Diutschiu lant, in der «Kaiserchronik» von Dûtiscen landen die Rede. Ausführlich zu beiden Texten Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 52ff., 76ff., 92ff., 107ff., 137ff. Goerlitz (S. 146) sieht im Gegensatz zu Thomas in der im «Annolied» enthaltenen Episode von Caesar und den Deutschen keine origo gentis Teutonicorum, wohl aber ließe sich eine solche der «Kaiserchronik» entnehmen. Vgl. weiter Thomas: Julius Caesar (wie Anm. 9), S. 245, 252ff. (mit Hinweis darauf, dass bereits Widukind von Corvey Bezüge zu Caesar herstellte und diesen als Gründer der Stadt Jülich bezeichnete, ebd., S. 254). Zur Rezeption des «Annoliedes» ebd., S. 256ff. Vgl. weiter Haubrichs: ‚die tiutsche und die andern zungen‘ (wie Anm. 13), S. 21, 29ff. Zu den Herkunftssagen der einzelnen Völker Hartmut Kugler: Das Eigene aus der Fremde. Über Herkunftssagen der Franken, Sachsen und Bayern. In: Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter. Hg. von Dems. Berlin/New York 1995, S. 175–193, hier S. 178–191. 48 Dazu auch Thomas: Sprache und Nation (wie Anm. 9), S. 47, 59. 49 Deutschenspiegel Ldr. 288: Jsleich tævtzhelant habent irn pfaltzgraven. Sahsen. Baiern. Vranchen. vnd swaben. Ditz warn alles chunichreich. sider wandelt man die namen. vnd Julius hiez si hertzogen sider si die Romær betwungen […]. 50 Swsp. Ldr. 99: Von tiutschen landen. In tiuschen landen hât ieglich land sînen phalenzgrâven. Sahsen hât einen. Franken hât einen. Swâben hât einen. Beigeren hât einen. Diu vier lant wâren hie vor künicrîche. Daz was hie vor, dô Julius ze Rôme künic was, unde er tiutschiu lant betwanc: dô wolte



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breitung dieser Geschichte,51 deren Bedeutung darin liegt, dass sie die Herkunftssagen der vier genannten regna bzw. gentes zusammenführt und diese in eine Erzählung vom Ursprung der Deutschen einwebt,52 sorgten noch weitere vom «Sachsen-» oder «Schwabenspiegel» abhängige Rechtsbücher wie das «Freisinger Rechtsbuch» (1328)53 oder das bereits erwähnte «Meißner Rechtsbuch» (1358–1387).54 Doch warum greift ein Rechtsbuch wie der «Sachsenspiegel» diese Geschichte überhaupt auf? Eike von Repgow beschrieb die Welt als ein einheitliches Ganzes, das vom Kleinen zum Großen und umgekehrt gedacht werden kann und muss:55 Sein Sachsen ist Teil des deutschen Königreichs und des Heiligen Römischen Reiches, ebenso wie die sächsische Geschichte Teil der Geschichte der Deutschen und der Geschichte der ganzen christlichen Welt ist (bereits im Textus Prologi wird nicht nur der erste christliche Kaiser Konstantin der Große genannt, sondern auch Karl der Große als derjenige bezeichnet, der dem Land Sachsen das weltliche Recht gegeben habe).56 Dieses Weltbild begegnet uns an etlichen Stellen im «Sachsenspiegel»: er niht daz über alliu tiutschiu lant mêr küniges wære wan sîn. In der Ausgabe Schwabenspiegel. Hg. von von Lassberg (wie Anm. 45) findet sich diese Stelle in Ldr. 120. Zudem findet sich die Geschichte in der als historische Einleitung für den «Schwabenspiegel» konzipierten «Prosakaiserchronik», die allerdings nur in einer Fassung überliefert ist; dazu Uta Goerlitz: Juljus Cêsar und dûtiskiu lant. Zum Wandel narrativer Identitätskonstruktion zwischen Mittelalter und früher Neuzeit aus Sicht der Sprach- und Literaturwissenschaft (unter besonderer Berücksichtigung von «Kaiserchronik» und «Prosakaiserchronik»). In diesem Band, S. 216–239, hier S. 231–237. 51 Auch die «Sächsische Weltchronik» (vermutlich um 1260) enthält in c. 25–27 die Geschichte von Caesar, der die Deutschen bezwang: Die herren von Duczschen landen baten Julium […] umbe daz riche. […] Alsust quam des riches kore erst in der Duczschen herren gewalt. Sächsische Weltchronik. Hg. von Ludwig Weiland. Hannover 1876 (MGH Dt. Chron. Band 2), S. 85–87. Vgl. weiter Thomas: Julius Caesar (wie Anm. 9), S. 245, 257; Ders.: Sprache und Nation (wie Anm. 9), S. 47, 66ff. 52 So (mit Bezug auf das «Annolied») auch Susanne Bürkle: Erzählen vom Ursprung: Mythos und kollektives Gedächtnis im Annolied. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hgg. von Udo Friedrich und Bruno Quast. Berlin/New York 2004 (Trends in medieval philology. Band 2), S. 99–130, hier S. 102, 122: Das «Annolied» ziehe „eine neue Ebene ein. […] Die textuelle Kombination der vier origines und ihr Bezug auf die gemeinsamen kriegerischen Aktionen der gentes unter Caesar mit der Begründung des imperialen Rom formieren jene zum uniformen Kollektiv.“ Angesichts der Rezeption des Mythos in mehreren Rechtsbüchern des 13. Jahrhunderts, die über Jahrhunderte handschriftlich und später als Drucke verbreitet wurden, ist jedoch nicht nachvollziehbar, warum Bürkle (S. 123) davon ausgeht, dass dem „Origo-Mythos des Annoliedes […] wenig Erfolg beschieden“ war. Und weiter: „Jenseits dessen Rekurrenz in der Kaiserchronik wurde die Rezeption zunächst einmal arretiert, somit konnte der Mythos sich nicht im kollektiven Gedächtnis festsetzen.“ 53 Freisinger Rechtsbuch, c. 82 (die Textstelle findet sich auf Übersicht 2, Zeile 3, Spalte 4). 54 Meißner Rechtsbuch, Buch VI, c. 11, Dist. 1 (die Textstelle findet sich auf Übersicht 2, Zeile 3, Spalte 5). 55 Zum Provinzialen und Imperialen im Lehnrecht des «Sachsenspiegels» Lück: Woher kommt das Lehnrecht des Sachsenspiegels? (wie Anm. 21), S. 239, 257f. 56 Ssp. Textus Prologi (am Ende): […] unde Karl, an den Sassen lant noch sines rechten tut. Dazu Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 215–221; Heiner Lück: Der Beitrag Eikes von Repgow zur Verwis-

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Bekanntermaßen zählt Eike an prominenter Stelle zu Beginn des «Sachsenspiegels» (Ldr. I 3) zunächst die sechs Weltzeitalter auf und fährt dann damit fort, dass in gleicher Weise über sechs Stufen die Heerschilde (d. h. die weltliche Herrschaft in der Lehnshierarchie), aber auch die Glieder einer Sippe aufgebaut seien. In Ssp. Ldr. III 44 folgt unmittelbar im Anschluss an die christliche Lehre der Abfolge von vier Weltreichen57 (nebst Hinweis auf die in Ssp. Ldr. I 1 dargestellte imperiale Zwei-SchwerterLehre)58 die Geschichte, wie die ursprünglich im Heer von König Alexander kämpfenden Sachsen unter Vertreibung der Thüringer das Land Sachsen einnahmen59 (auch senschaftlichung und Professionalisierung des Rechts im 13. Jahrhundert. In: Aufbruch in die Gotik. Der Magdeburger Dom und die späte Stauferzeit. Hg. von Matthias Puhle Band 1: Essays. Mainz 2009, S. 301–311, hier S. 305. Parallelen bestehen auch zur «Kaiserchronik»; vgl. Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 128f. 57 Nach der seit der Spätantike auf die «Bibel» (Buch Daniel) zurückgeführten Lehre der Abfolge von vier Weltreichen (Babylonier, Perser, Griechen, Römer) löste ein Reich das andere ab. Im Laufe des Mittelalters entwickelte sich die Lehre dahin, dass das Römische Reich auf einen anderen Herrschaftsträger übergegangen sei. In Anknüpfung an die Kaiserkrönung Karls des Großen existierte die Vorstellung einer renovatio imperii, die sich erst Ende des 11. Jahrhunderts zur Translationstheorie wandelte. Die (kuriale) Translationstheorie kam wahrscheinlich erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auf und betonte die Rolle des Papstes bei der Kaiserkrönung Karls des Großen. Dazu insgesamt Goez: Translatio Imperii (wie Anm. 16), S. 70–76, 78f., 81, 83f., 104, 138f.; Ders.: Die Theorie der Translatio Imperii und die Spaltung der Christenheit. In: Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. Hgg. von Reinhard C. Meier-Walser und Bernd Rill. Grünwald 2000, S. 25–33, hier S. 27ff.; Alexander Rubel: Caesar und Karl der Große in der Kaiserchronik. Typologische Struktur und die translatio imperii ad Francos. Antike und Abendland 47 (2001) S. 146–163, hier S. 149, 151f., 154, 156f., 160ff. 58 Eike von Repgow gibt die kuriale Translationstheorie nicht wieder (diese findet sich aber im «Schwabenspiegel»). Die in Ssp. Ldr. I 1 vertretene imperiale Zwei-Schwerter-Lehre schließt eine Übertragung der weltlichen Macht durch den Papst (anders als die kuriale Translationstheorie) aus. Eike liegt insoweit auf einer Linie mit Walther von der Vogelweide (um 1170–um 1230), der Anfang des 13. Jahrhunderts die kuriale Translationstheorie ebenfalls ablehnte (Buch 1, Ton 4, Strophe VI, 1–5): Got git ze künege, swen er wil / dar umbe wundert mich niht vil, / uns leien wundert umbe der pfaffen lêre. / si lêrten uns bî kurzen tagen, / daz wellents uns nû widersagen. Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. Hg. von Thomas Bein. Berlin/Boston 15. Aufl. 2013, S.  22. Ob Eike die Dichtungen Walthers von der Vogelweide gekannt hat, bleibt Spekulation; dazu Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 122f. 59 Ssp. Ldr. III 44: § 1 To Babilonie irhuf sek dat rike, de was geweldich over alle lant, de tovurde Cyrus unde wandelde dat rike in Persiam; dar stunt it bit an Darium [den lesten], den versegede Allexander unde karde it an Kriken; dar stunt it also lange, wante is sek Roma underwant unde ‹dat› Julius keiser wart. Noch hevet Roma [dar van] behalden dat werltleke swert unde van sante Petrus halven dat geistleke; dar umme het se hovet aller werlde. § 2 Unse vorderen de her to lande quamen unde de Duringe verdreven, de hadden in Allexanderes here gewesen; mit erer hulpe hadde he bedwungen al Asiam. Do Allexander starf, do ne dorsten se sek nicht to dun in deme lande dorch des landes hat, unde scepeden mit drenhundert kelen; de verdorven alle ‹wante› oppe vir unde veftich. Der selven quamen achtene to Pruzen unde besaten dat; twelve besaten Rujan, vir unde twentich quamen her to lande. Das «Meißner Rechtsbuch» übernimmt in Buch VI, c. 7 und 8 diese Textpassage und schließt an sie unmittelbar (und etwas systematischer angeordnet) die Regelungen zur Königswahl, zum Verhältnis zwischen



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hierbei könnte es sich um eine Anleihe aus dem «Annolied», aber auch aus der «Sachsengeschichte» Widukinds von Corvey handeln).60 Nicht auszuschließen ist zudem, dass Eike von Repgow die Stelle zur translatio imperii in der Dekretale «Venerabilem» von 1202 kannte.61 Vermutlich sah Eike von Repgow sogar sich selbst als Teil dieses mehrstufig gedachten Ganzen, stand er doch in Verbindung zu mehreren Reichsfürsten, die nicht nur wesentliche Teile des Landes Sachsen repräsentierten, sondern auch den deutschen König und künftigen Kaiser wählten. Diese Beziehungen sind in drei Urkunden bezeugt, in denen Eike von Repgow im Gefolge der Askanier auftritt (vermutlich war König und Reichsfürsten sowie zur Rechtsstellung der Reichsfürsten aus dem «Sachsenspiegel» an: c. 9 Dist. 1 (~ Ssp. Ldr. III 52 § 1, Satz 1); c. 9 Dist. 2 (~ Ssp. Ldr. III 54 § 3, Satz 2, § 4); c. 9 Dist. 3 (~ Ssp. Ldr. III 54 § 3, Satz 1); c. 9 Dist. 4 (~ Ssp. Ldr. III 57 § 2); c. 9 Dist. 5 (~ Ssp. Ldr. III 57 § 1); c. 9 Dist. 6 (hier werden zunächst die Modalitäten der Wahl durch die korfurssten [sic] in Frankfurt beschrieben, wobei gewisse Ähnlichkeiten mit c. 2 der «Goldenen Bulle» bestehen; die letzten beiden Sätze folgen Ssp. Ldr. III 52 § 1 Satz 2 und 3); c. 9 Dist. 7 (~ Ssp. Ldr. III 52 § 2); c. 9 Dist. 8 (~ Ssp. Ldr. III 52 § 3); c. 10 (~ Ssp. Ldr. III 54 § 2); c. 11 (~ Ssp. Ldr. III 53 § 1); c. 12 (~ Ssp. Ldr. III 58); c. 13 Dist. 1 (~ Ssp. Ldr. III 59); c. 13 Dist. 2 (~ Ssp. Ldr. III 60 § 1); c. 14 Dist. 1f. (Ssp. Ldr. III 60 §§ 2f.); c. 15 Dist. 1–5 (~ Ssp. Ldr. III 62 §§ 1–3); c. 16 (~ Ssp. Ldr. III 63 § 1); c. 17 Dist. 1f. (~ Ssp. Ldr. III §§ 2f.); c. 18 Dist. 1f. (~ Ssp. Ldr. III 64 §§ 1f.); c. 19 Dist. 1–11 (~ Ssp. Ldr. III 64 §§ 3–11); c. 19 Dist. 12f. (~ Ssp. Ldr. III 65 §§ 1f.). Siehe dazu auch die Rechtsbücherkonkordanz bei Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 608–613. 60 Widukind von Corvey: Res gestae Saxonicae, I, 2ff.; Die Sachsengeschichte des Widukind von Korvei. Hgg. von Paul Hirsch und Hans Eberhard Lohmann. Hannover 5. Aufl. 1935 (MGH SS rer. Germ. Band 60), S. 4ff. Annolied, c. 21; Das Annolied. Hg. von Roediger (wie Anm. 47), S. 122. Dazu auch Kugler: Das Eigene aus der Fremde (wie Anm. 47), S. 175, 185–189; Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 124. 61 In Halberstadt wirkte seit ca. 1220 der berühmte Kanonist Johannes Teutonicus (gest. 1245), der bei Azo in Bologna studiert und zwischen 1210 und 1217 die «Glossa ordinaria» zum «Decretum Gratiani» verfasst hatte. Zu ihm Peter Landau: Johannes Teutonicus und Johannes Zemeke. Zu den Quellen über das Leben des Bologneser Kanonisten und des Halberstädter Dompropstes. In: Halberstadt – Studien zu Dom und Liebfrauenkirche. Hg. von Ernst Ullmann. Berlin 1997 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-Hist. Klasse. Band 74/2), S. 18–29; Heiner Lück: Johannes Teutonicus († 1245). In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hgg. von Albrecht Cordes u. a. Band 2. Berlin 2. Aufl. 2012, Sp. 1379–1381, hier Sp. 1380. Ob Eike von Repgow zu Johannes Teutonicus Kontakt hatte, ist nicht belegt, allerdings hatte er Kenntnisse im kanonischen Recht. Dazu Peter Landau: Der Entstehungsort des Sachsenspiegels. Eike von Repgow, Altzelle und die anglo-normannische Kanonistik. DA 61 (2005) S. 73–101, hier S. 91; Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 118–122; aber auch Bernd Kannowski: Wieviel Gelehrtes Recht steckt im Sachsenspiegel und war Eike von Repgow ein Kanonist? ZRG-KA 99 (2013) S. 382–397, hier S. 392–396. Jedenfalls sah sich Eike in einer Reihe mit gelehrten Juristen, wenn er sich in der Reimvorrede als meister und den Inhalt des «Sachsenspiegels» als mine lere bezeichnete. Dazu Eva Schumann: Zur Rezeption frühmittelalterlichen Rechts im Spätmittelalter. In: Humaniora. Medizin – Recht – Geschichte. Festschrift für Adolf Laufs zum 70. Geburtstag. Hgg. von Bernd-Rüdiger Kern u. a. Heidelberg 2006, S. 337–386, hier S. 364f. Vgl. auch Kümper: Sachsenrecht, S. 44–47, insb. S. 46 (lere als „das zentrale Element der mittelalterlichen deutschen Rechtsbücher“); Bertelsmeier-Kierst: Kommunikation und Herrschaft (wie Anm. 20), S.  90–92 (Eike von Repgow als literatus); zum Lehnrecht Lück: Woher kommt das Lehnrecht des Sachsenspiegels? (wie Anm. 21), S. 239, 252f.

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er als Ministerialer der Familie zu Diensten).62 Im «Sachsenspiegel» werden sieben Fahnenlehen im Lande zu Sachsen genannt (die Fahnenlehen stehen für die unmittelbar vom König belehnten Reichsfürsten, Ssp. III 62 § 2) und drei von diesen sieben Fahnenlehen nahmen Mitglieder der Familie der Askanier ein, nämlich die Grafschaft zu Aschersleben, die Markgrafschaft zu Brandenburg und das Herzogtum Sachsen.63 Somit durfte sich Eike von Repgow drei weltlichen Reichsfürsten und Königswählern verbunden fühlen. Man mag kaum an Zufall glauben, wenn von diesen drei Reichsfürsten aus Eikes Umfeld zwei in Ssp. Ldr. III 57 § 2 zu den drei bevorrechtigten weltlichen Königswählern erklärt werden.64 Auch die Episode von Caesar und den Deutschen fügt sich in dieses Weltbild ein und wird – ebenso wie andere Legenden und Motive – von Eike in die verfassungsrechtliche Argumentation eingebaut. Die durch die Verbindung der genannten vier

62 Zu den drei Urkunden, in denen Eike im Gefolge des Fürsten Heinrich I. von Anhalt und Grafen von Aschersleben auftritt, Landau: Der Entstehungsort des Sachsenspiegels (wie Anm. 61), S. 73, 79; Peter Johanek: Eike von Repgow, Hoyer von Falkenstein und die Entstehung des Sachsenspiegels. In: Civitatum Communitas. Studien zum europäischen Städtewesen. Festschrift Heinz Stoob zum 65. Geburtstag. Hgg. von Helmut Jäger u. a. Teil 2. Köln/Wien 1984 (Städteforschung. Band 21/2), S. 716– 755, hier S. 735–749. Zu allen sechs überlieferten Urkunden, in denen Eike genannt wird, und ihren jeweiligen Kontexten Bertelsmeier-Kierst: Kommunikation und Herrschaft (wie Anm. 20), S. 66–86; Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 71–77; Lieberwirth: Eike von Repgow (wie Anm. 19), Sp. 1288f.; Heiner Lück: Reppichau, Eike von Repgow und der Sachsenspiegel – Bausteine europäischer Rechtskultur. In: Das Eike-von-Repgow-Dorf. Reppichau zwischen 1159 und 2009. Geschichte und Geschichten anlässlich des 850. Ortsjubiläums und des Jubiläums der 800. urkundlichen Ersterwähnung Eikes von Repgow. Hgg. von Dems. und Erich Reichert. Halle/Saale 2009 (Signa Ivris. Band 4), S. 23–55, hier S. 27–36; Alexander Ignor: Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow. Paderborn u. a. 1984 (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft NF. Band 42), S. 325–330. 63 Fürst Heinrich I. von Anhalt (1170–1251/1252) war ein Bruder von Herzog Albrecht I. von Sachsen (gest. 1261); der Sohn ihres gemeinsamen Vetters, Johann I. von Brandenburg (gest. 1266), war der vierte Markgraf von Brandenburg. Alle drei stammten aus dem Geschlecht der Askanier (gemeinsamer Stammvater, nämlich Großvater bzw. Urgroßvater der drei Genannten, war Albrecht der Bär, Graf von Askanien, gest. 1170). Dazu Berent Schwineköper: Askanier. 1) Anhaltinische Linie sowie Willy Hoppe: Askanier. 2) Brandenburgische Linie und 4) Sachsen-Wittenbergische Linie. In: Neue Deutsche Biographie. Hg. von der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Band 1. Berlin 1953, S. 414–416; Gerd Heinrich: Askanier. In: Lexikon des Mittelalters. Hgg. von Robert Auty u. a. Band. 1. München/Zürich 1980, Sp. 1109–1112, hier Sp. 1110f.; Georg Schuster: Die Verwandtschaft der Häuser Hohenzollern und Askanien. Hohenzollern-Jahrbuch 15 (1911) S. 245–286 (mit einer Übersicht „Das Haus Askanien“ vor S. 245). Vgl. aber auch Michael Hecht: Die Erfindung der Askanier. Dynastische Erinnerungsstiftung der Fürsten von Anhalt an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. ZHF 33 (2006) S. 1–31, hier S. 1. 64 Die in Ssp. Ldr. III 57 § 2 genannten bevorrechtigten Reichsfürsten hatten das zeremonielle Vorrecht der ‚Erstkieser‘, nachdem sämtliche Reichsfürsten gewählt hatten (wobei die ‚Erstkieser‘ an das Wahlergebnis gebunden waren). Dazu Alexander Begert: Die Entstehung und Entwicklung des Kurkollegs. Von den Anfängen bis zum frühen 15. Jahrhundert. Berlin 2010 (Schriften zur Verfassungsgeschichte. Band 81), S. 41ff.



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regna bzw. gentes vermittelte Einheit der Deutschen im Imperium Romanum65 transportiert dabei zwei Botschaften: Sie erkennt erstens die weitreichende Autonomie der bis ins Frühmittelalter zurückreichenden Stammesherzogtümer an, die sich u. a. in Herrschaftsrechten wie einer eigenen Rechts- und Gerichtshoheit, aber auch in der starken Stellung der Königswähler widerspiegelt. Zweitens kreiert sie mit der Fiktion einer gemeinsamen Vergangenheit der Deutschen ein ‚supragentiles‘ Bewusstsein, das im Zusammenhang mit dem Anspruch des deutschen Königs auf das Römische Kaisertum zu sehen ist. Daher überrascht es auch nicht, dass diese Geschichte in den Abschnitt über die Wahl des deutschen Königs und künftigen Kaisers durch die Reichsfürsten als Repräsentanten der ehemaligen Stammesherzogtümer integriert ist. (4) Damit kommen wir zur Königswahl und der deutschen Abstammung der Königswähler (Ssp. Ldr. III 52 § 1; Swsp. Ldr. 98; dazu Übersicht 1, Spalte 4 und Übersicht 2, Zeile 2).66 Im Landrecht des «Sachsenspiegels» wird der König immer nur als ‚König‘, d. h. weder als ‚deutscher‘ noch als ‚römischer König‘ bezeichnet.67 Zudem kommt das Wort ‚König‘ (bzw. ‚königlich‘) fast hundertmal vor, während das Wort ‚Kaiser‘ (bzw. ‚kaiserlich‘) lediglich fünfzehnmal im Landrecht enthalten ist (und zwar regelmäßig dann, wenn es ausschließlich oder jedenfalls auch um die Rechtsstellung des Kaisers geht).68 Das Übersetzungsproblem bei Imperium und Regnum 65 Dazu insgesamt Thomas: Sprache und Nation (wie Anm. 9), S. 47, 57ff. 66 Ssp. Ldr. III 52 § 1: De dudeschen scolen dorch recht den koning kesen. Swen de gewiet wert van den biscopen de dar to gesat sin, unde op den stul to Aken kumt, so hevet he koningleke gewalt unde koningleken namen. Swen ene de paves wiet, so hevet he des rikes gewalt unde keiserleken namen. Vgl. auch Ssp. Lnr. 4 § 2: Swenne aver de Dudeschen enen koning kesen. Swsp. Ldr. 98 (~ Ldr. 118 in der Ausgabe Schwabenspiegel. Hg. von von Lassberg [wie Anm. 45]): Von tiutscher liute eren. Die tiutschen kiesent den künic. daz erwarb in der künic Karl. Swenne er gewîhet wirt, unde ûf den stuol ze Ache gesezet wirt mit der willen, die in erwelt hânt: sô hât er küniclîchen gewalt unde namen. als in der pâbest gewîhet, sô hât er volleclîchen des rîches gewalt unde keiserlîchen namen. Peter Landau: Eike von Repgow und die Königswahl im Sachsenspiegel. ZRG-GA 125 (2008) S.  18–49, hier S.  35f. nimmt an, dass Eike bei dieser Aussage durch zwei Quellen beeinflusst gewesen sein könnte: einerseits durch die Beschreibung in der «Sachsengeschichte» Widukinds von Corvey, nach der das gesamte Volk der Franken und Sachsen die Könige seit Konrad I. gewählt habe (Widukind von Corvey: Res gestae Saxonicae [wie Anm. 60], I 16: omni[s] populus Francorum atque Saxonum), und andererseits durch die Dekretale «Venerabilem» von Papst Innozenz III. aus dem Jahr 1202. 67 Dazu auch Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 56. Im «Schwabenspiegel» wird in einem Artikel der ‚römische König‘ erwähnt; Swsp. Ldr. 85 (~ Ldr. 103b in der Ausgabe Schwabenspiegel. Hg. von von Lassberg [wie Anm. 45]). Vgl. weiter Schnell: Deutsche Literatur (wie Anm. 12), S. 247, 287ff. mit Hinweis darauf, dass in den volkssprachigen Dichtungen ebenfalls der Begriff ‚deutscher‘ König vermieden wird. 68 Weinert: Eike von Repgow (wie Anm. 21), S.  67, 86f. weist darauf hin, dass im Lehnrecht der ‚Kaiser‘ nicht erwähnt wird und bei inhaltsgleichen Regelungen der im Landrecht genannte ‚Kaiser‘ im Lehnrecht durch ‚König‘ ersetzt ist. Auch nach Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S.  58f. ist die Differenzierung zwischen König und Kaiser im Landrecht keineswegs beliebig: Wenn in Ssp. Ldr. III 58 § 1 zur Lehnspyramide gesagt wird, dass die Reichsfürsten keinen anderen Laien als Herrn haben dürften als den König, so seien hier die Reichsfürsten des deutschen Königreichs gemeint (ebenso, wenn es in Ssp. Ldr. III 58 § 2 heißt, dass ein Reichsfürst vom König das Fahnenlehen empfange).

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(im Deutschen jeweils mit ‚Reich‘ wiederzugeben) löst Eike von Repgow bezogen auf die Herrschaft mit der Differenzierung zwischen ‚königlicher Gewalt‘ einerseits und ‚Reichsgewalt‘ andererseits.69 Bekanntermaßen weist der «Sachsenspiegel» als erstes Rechtsbuch sieben Fürsten aus dem Kreis der über hundert wahlberechtigten Reichsfürsten eine besondere Rolle bei der Königswahl zu. Es handelt sich bei diesen sieben Reichsfürsten um die späteren Kurfürsten, wobei der König von Böhmen nach Ssp. Ldr. III 57 § 2 (Ssp. Lnr. 4 § 2) zwar Träger eines der vier genannten Ehrenämter ist, ihm jedoch (im Gegensatz zu den anderen sechs aufgeführten Reichsfürsten) die Rechtsstellung als ‚Erstkieser‘ mit der Begründung verwehrt wird, dass er kein ‚Deutscher‘ sei.70 Ob diese Frage bei der Königswahl von 1220 eine Rolle gespielt hat, muss hier offenbleiben; gesichert ist lediglich, dass der König von Böhmen an dieser Wahl nicht teilgenommen hat.71 Nach dem (um 1275 verfassten) «Schwabenspiegel» (Ldr. 110) mussten die bevorrechtigten Königswähler nur noch von einer Seite her deutscher Abstammung

Hingegen sei in Ssp. Ldr. III 60 § 1 vom Kaiser die Rede, weil dieser Lehen auch an Fürsten vergeben konnte, die keine Reichsfürsten im deutschen Königreich waren. Anders aber Bernd Kannowski: Die Rechtsgrundlagen von Königtum und Herrschaft in der Gegenüberstellung von „Sachsenspiegel“ und „Buch’scher Glosse“. In: Die Anfänge des öffentlichen Rechts Band 3: Auf dem Wege zur Etablierung des öffentlichen Rechts zwischen Mittelalter und Moderne. Hgg. von Gerhard Dilcher und Diego Quaglioni. Bologna/Berlin 2011, S. 89–108, 92f. (die Verwendung der Begriffe „König“ und „Kaiser“ geschehe zufällig). 69 Dazu Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 56f. Aufgrund der Konstellation, die Kaiser Friedrich II. mit der Wahl seines Sohnes Heinrich (VII.) zum deutschen König (1220–1235) geschaffen hatte, lag es zu Eikes Zeiten nahe, sorgfältiger als sonst zwischen Imperium Romanum und Kaisertum einerseits sowie regnum Teutonicum und Königtum andererseits zu unterscheiden. Vgl. dazu Thomas: Sprache und Nation (wie Anm. 9), S. 47, 73–75. 70 Ssp. Ldr. III 57 § 2: De scenke des rikes, de koning van Behemen, de ne hevet nenen kore, umme dat he nicht dudisch n´is. 71 Zu möglichen Gründen für das „nationale Ausschlussargument“ Landau: Eike von Repgow (wie Anm. 66), S.  18, 34–36. Eine weitere These zur Sonderstellung des böhmischen Königs in den Königswahlparagraphen von «Sachsen-» und «Schwabenspiegel» hat vor einigen Jahren Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 28ff., 41, 44ff., 51ff., 60f., 66ff., 78ff. vorgelegt: Eine Differenzierung zwischen Haupt- und Vorwählern lasse sich bereits bei der Wahl Heinrichs (VII.) im Jahr 1220 nachweisen und in mehreren Quellen vor 1254 würden sechs bzw. sieben Vorwähler genannt. Des Weiteren sei das «Wormser Konkordat» (1122) davon ausgegangen, dass Böhmen zum Regnum Teutonicum gehöre; mit der erblichen Verleihung der Königswürde an Böhmen 1198 (Ottokar I.) sei jedoch der böhmische König nicht mehr Lehnsmann des deutschen Königs, sondern des Kaisers gewesen. Als Lehnsmann des Kaisers sei der böhmische König zwar zur Wahl des deutschen Königs als künftigen Kaisers (rex Romanorum et futurus imperator) berechtigt gewesen, dieses Recht habe aber nicht bestanden, wenn es ‚nur‘ um die Wahl eines deutschen Königs – wie bei der Wahl Heinrichs (VII.) im Jahr 1220 – ging.



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sein (Übersicht 2, Zeile 4, Spalte 3),72 womit den historischen Gegebenheiten der Königswahl von 1273 Rechnung getragen wurde.73 Es gehört zu den ungelösten Fragen der Rechtsgeschichte, wieso im «Sachsenspiegel» (falls es sich bei dem Königswahlparagraphen nicht um eine spätere Interpolation handelt)74 bereits um 1225 die sieben Reichsfürsten genannt sind, die sich erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als allein wahlberechtigte Kurfürsten etabliert haben. Auf die zahlreichen von Rechtshistorikern und Historikern hierzu entwickelten Theorien75 soll hier nicht eingegangen werden. Hingewiesen sei lediglich 72 Swsp. Ldr. 110 (~ Ldr. 130a in der Ausgabe Schwabenspiegel. Hg. von von Lassberg [wie Anm. 45]): Dise vier sullen tiutsche man sîn von vater unde von muoter oder von eintwederme. Zu beachten ist, dass die hier zugrundegelegte Handschrift als vierten weltlichen Königswähler den Herzog von Bayern nennt. Andere Handschriften des «Schwabenspiegels» nennen den Schenken des Reiches (ohne weitere Konkretisierung) oder den König von Böhmen. Zum Königswahlparagraphen im «Schwabenspiegel» Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 76f. Zu den Unterschieden zwischen den Königswahlparagraphen im «Sachsen-» und «Schwabenspiegel» Peter Landau: Die Königswahl vom Sachsenspiegel zum Schwabenspiegel. Acta Juridica et Politica 71 (2008) S. 571–577. Der «Deutschenspiegel» orientiert sich hingegen in Ldr. 303 (Der chunich von Behaim des reiches schenche ern hat aver dhein chure dar vmbe daz er niht tæutzhe ist.) und Lnr. 11 § 1 (vnd der chunich von Behaim ob er ist ein taeutzher man) noch stärker am «Sachsenspiegel»; dazu Landau, S. 571f. Entsprechendes gilt für das vom «Sachsenspiegel» abhängige «Meißner Rechtsbuch» (Buch VI, c. 9, Dist. IV: Der schencke dez riches ist der koning von bemen, der en had keyne kor, durch daz her nicht dutcz ist). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 44 mit weiteren Nachweisen; Karl-Friedrich Krieger: König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter. München 2. Aufl. 2005 (Enzyklopädie deutscher Geschichte. Band 14), S. 5f. 73 König Ottokar II. von Böhmen war der Sohn von Wenzel I. und Kunigunde von Schwaben (und daher von mütterlicher Seite deutscher Herkunft). Dass die Stellung des Königs von Böhmen als bevorrechtigter Königswähler vor der Wahl Rudolfs von Habsburg 1273 keineswegs gesichert war, belegen die Bemühungen, den König von Böhmen durch den Herzog von Bayern zu ersetzen (dementsprechend nennen auch zahlreiche Handschriften des «Schwabenspiegels» den Herzog von Bayern als vierten Königswähler; siehe Anm. 72). Dazu Landau: Die Königswahl (wie Anm. 72), S. 571, 573–575; Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 25–27, 75–78; Ders.: Die Entstehung und Entwicklung des Kurkollegs (wie Anm. 64), S. 54f. 74 Dagegen Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 28ff.: Eine Interpolation um das Jahr 1273 sei unwahrscheinlich, weil dann sämtliche frühen Handschriften sich nicht erhalten und auch keine Nachfolger gefunden hätten. Die These setzt weiter voraus, dass es auch bei der überlieferten lateinischen Urfassung des Lehnrechts (Auctor vetus de beneficiis I § 12) sowie bei den «Stader Annalen» aus dem Jahr 1240, die ebenfalls von sechs Vorwählern sprechen, einer Interpolation bedurft hätte. Vgl. auch Ders.: Die Entstehung und Entwicklung des Kurkollegs (wie Anm. 64), S. 19, 44, 57. 75 Dazu Landau: Eike von Regow (wie Anm. 66), S. 18, 20–26; Begert: Die Entstehung und Entwicklung des Kurkollegs (wie Anm. 64), S. 11, 13–19; Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 549–551; Franz-Reiner Erkens: Kurfürsten und Königswahl. Zu neuen Theorien über den Königswahlparagraphen im Sachsenspiegel und die Entstehung des Kurfürstenkollegiums. Hannover 2002 (MGH Studien und Texte. Band 30); Armin Wolf: Die Entstehung des Kurfürstenkollegs 1198–1298. Zur 700-jährigen Wiederkehr der ersten Vereinigung der sieben Kurfürsten. Idstein 2. Aufl. 2000 (Historisches Seminar NF. Band 11); Ders.: Königswähler in den deutschen Rechtsbüchern. Mit einem Exkurs: kiesen und irwelen, kore und wale. ZRG-GA 115 (1998) S. 150–197; Ders.: Kurfürsten. In: Handwörterbuch

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darauf, dass in der rechtshistorischen Forschung Peter Landau vor einigen Jahren die (oben bereits angedeutete) Theorie wiederbelebt hat, dass es Eike von Repgow gelungen sei, im Zuge der Reformbedürftigkeit der Königswahl und einer notwendigen Reduzierung der Gruppe der Königswähler zwei ihm nahestehende Reichsfürsten, den Herzog von Sachsen und den Markgrafen von Brandenburg, durch Aufnahme in den Kreis der bevorrechtigten Königswähler in Ssp. Ldr. III 57 § 2 dauerhaft als Kurfürsten zu etablieren.76 Für unser Thema ist jedoch entscheidend, dass die ‚deutsche Abstammung‘ als zentrales Argument gegen die Erstkieser-Stellung des damals ranghöchsten Reichsfürsten, des Königs von Böhmen, eingesetzt wurde und dass dieses Argument den Diskurs um die notwendige Reform der Königswahl ein Jahrhundert lang bestimmen sollte.77 Denn auch wenn der Streit durch die ausdrückliche Bestätigung des Kurrechts des böhmischen Königs (Wenzel II.) im Jahr 1290 durch Rudolf von Habsburg beendet wurde (es handelt sich um die einzige urkundliche Bestätigung eines Kurrechts, die aufgrund des beschriebenen Diskurses wohl notwendig war),78 so waren die Fragen nach der deutschen Abstammung der Königswähler und die nach der Stellung des böhmischen Königs als Kurfürsten zur Zeit der Abfassung der «Goldenen Bulle» im Jahr 1356 keineswegs vergessen. Denn nur so ist zu erklären, dass Kaiser Karl IV. in der Einleitung der «Goldenen Bulle» hervorhob, dass er als König von Böhmen bekanntlich zum Kreise der Kurfürsten gehöre (undir den kurfursten, in der zal wir auch sint alse ein konig von Beheim).79 Diese Aussage und das Übergehen des gesamten Diskurzur deutschen Rechtsgeschichte. Hgg. von Albrecht Cordes u. a. Band 3. Berlin 2. Aufl. 2016, Sp. 328–342 mit weiteren Nachweisen. 76 Landau: Eike von Repgow (wie Anm. 66), S. 18, 27–41. Dagegen Begert: Die Entstehung und Entwicklung des Kurkollegs (wie Anm. 64), S. 14f., 33. 77 Vgl. etwa auch die «Stader Annalen» für das Jahr 1240, in denen dem König von Böhmen das Wahlrecht mit der Begründung, er sei kein ‚Deutscher‘, abgesprochen wird (Palatinus eligit, quia dapifer est, dux Saxoniae, qui marscalcus, et margravius de Brandenburg, quia camerarius. Rex Boemiae, qui pincerna est, non eligit, quia Teutonicus non est.), Annales Stadenses auctore Alberto. Hg. von Johann Martin Lappenberg. Hannover 1859 (MGH SS. Band 16), S. 271, 367. Dazu Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 46. Vgl. weiter zum Einfluss des kanonischen Rechts auf die Anerkennung des Königs von Böhmen als Kurfürsten in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Begert: Die Entstehung und Entwicklung des Kurkollegs (wie Anm. 64), S. 50ff. 78 Declaratio altera de iuribus regis Bohemiae. In: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. 1273–1298. Hg. von Jacob Schwalm. Hannover/Leipzig 1904–1906 (MGH Const. Band 3), Nr. 444, S. 426f. Dazu Thomas: Sprache und Nation (wie Anm. 9), S. 47, 84f. mit weiteren Nachweisen in Fn. 109; Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 69f., 77, 82. 79 Einleitung zur volkssprachigen Fassung der Goldenen Bulle. In: Dokumente zur Geschichte des Deutschen Reiches und seiner Verfassung. 1354–1356. Bearb. von Wolfgang D. Fritz. Weimar 1978– 1988 (MGH Const. Band 11), S. 565. Mehrfach wird in der Goldenen Bulle (etwa c. 4 §§ 1–3; c. 6; c. 7 § 2; c. 22) auch die Vorrangstellung des Königs von Böhmen als ranghöchster Kurfürst zum Ausdruck gebracht (S. 580–589, 612f.). Zudem bezeichnete sich Karl auch in anderen Urkunden als ein kung ze Beheim, des heiligen Romischen Reichs obirister schenke und kurfurst. Willebrief König Karls. In: Dokumente zur Geschichte des Deutschen Reiches und seiner Verfassung. 1349. Bearb. von Margarete



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ses um die deutsche Abstammung in der «Goldenen Bulle» sprechen für eine endgültige reichsrechtliche Entscheidung der ehemals strittigen Frage.80 Nur am Rande sei darauf verwiesen, dass die «Goldene Bulle» im letzten Kapitel die im Imperium Romanum vereinten Nationen erwähnt: Bei der Gesetzgebung müsse dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Imperium aus mehreren, sich durch Sitten (mores), Lebensweise (vita) und Sprache unterscheidenden Nationen (diversarum nationum) zusammensetze. Aus diesem Grund sollten die Söhne der Kurfürsten nicht nur der deutschen Sprache, die sie als Muttersprache (naturaliter) lernen würden, mächtig sein, sondern ab dem siebten Lebensjahr auch in Latein und in weiteren Sprachen des Reiches (Italica ac Slavica) unterrichtet werden.81 Seit Mitte des 14. Jahrhunderts findet sich somit an prominenter Stelle, nämlich im wichtigsten ‚Grundgesetz‘ des Heiligen Römischen Reichs, ein weiterer Beleg für ein ‚Nationsbewusstsein‘,82 wenngleich die Breitenwirkung der «Goldenen Bulle» zunächst begrenzt gewesen sein dürfte.83 Daher dürfte auch den spätmittelalterlichen Rechtsbüchern für die Ausbildung eines ‚Nationsbewusstseins‘ eine größere Bedeutung als der «Goldenen Bulle» zuzumessen sein: Denn der «Sachsenspiegel» enthält nicht nur als erster volkssprachlicher Text zu Beginn des 13. Jahrhunderts sämtliche Merkmale ‚nationaler‘ Identität, sondern hat aufgrund seiner Rezeptionsgeschichte, insbesondere der Übernahme wesentlicher Inhalte in zahlreiche weitere Rechtsbücher, die zum Teil ebenfalls wieder stark rezipiert wurden,84 zu einer breiten Überlieferung der hier behandelten Kühn. Hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Geschichte. Weimar 1974–1983 (MGH Const. Band 9), Nr. 69, S. 51f. Diese und weitere Maßnahmen zur Absicherung des Kurrechts des böhmischen Königs deuten darauf hin, dass dessen Kurwürde 1356 keineswegs schon gesichert war. Dazu auch Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 145. 80 Vgl. dazu auch Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 146f., 150f., 156. 81 Die Goldene Bulle, c. 31. In: Dokumente zur Geschichte des Deutschen Reiches und seiner Verfassung (wie Anm. 79), S. 630–633. Dazu Thomas: Sprache und Nation (wie Anm. 9), S. 47, 83ff. 82 Landwehr: „Nation“ und „Deutsche Nation“ (wie Anm. 18), S. 1, 12ff. geht davon aus, dass es sich bei Kapitel 31 der «Goldenen Bulle» um einen der ersten Belege dafür handele, dass die Muttersprache als wesentliches Merkmal der Nation begriffen werde. 83 Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts gab es nur fünf Originale und zwei Abschriften des Textes, die sich in den Händen der Kurfürsten und in den Städten Frankfurt am Main als Wahlort und Nürnberg als Ort des ersten Hoftags des neu gewählten Königs befanden. Eine breitere Wirkung wird erst ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts angenommen. Dazu Moraw: Gesammelte Leges fundamentales (wie Anm. 5), S. 1, 5ff.; Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Band 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft. 1600–1800. München 2. Aufl. 2012, S. 128. 84 Dazu Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 335–482 (mit Gegenüberstellungen der Verarbeitung des «Sachsenspiegels» durch andere Rechtsbücher), insb. S. 377–387 (zur Schwabenspiegelrezeption). Aus der von Kümper erstellten Rechtsbücherkonkordanz (Anhang, S.  571–617) ergibt sich etwa, dass Ssp. Ldr. III 52 § 1 und 57 § 2 nicht nur in die auf der Übersicht 2 genannten Rechtsbücher, sondern zusätzlich noch in den «Holländischen Sachsenspiegel» (c. 181, 186) und in das «Silleiner Rechtsbuch» von 1378 (c. 428, 432) übernommen wurden. Nachweise hierzu bei Kümper, S. 339–344 (insb. 342), 474–477 (insb. 477), 551, 608–611.

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Stellen beigetragen. Allein von den auf der Übersicht 2 genannten Rechtsbüchern («Sachsen-», «Deutschen-» und «Schwabenspiegel», «Freisinger» und «Meißner Rechtsbuch») sind mehr als 600 mittelalterliche Handschriften erhalten.85 Hinzu treten die zahlreichen und zum Teil ebenfalls breit überlieferten Bearbeitungen des «Sachsenspiegels», die rund hundert Jahre später mit der um 1325 verfassten «Sachsenspiegel-Glosse» des gelehrten Juristen Johann von Buch (um 1290–um 1365)86 einsetzten.87 Angesichts dieser breiten Rezeption ist die These von Uta Goerlitz, dass der erste große Schub für die Entstehung eines ‚Nationsbewusstseins‘ im Mittelalter bereits um 1250 beendet gewesen sei und den zwei Jahrhunderten bis 1450 „hinsichtlich der Ausbildung eines deutschen Nationsbewusstseins ein vergleichsweise passiver Status zu[komme]“, kritisch zu hinterfragen.88 Noch wichtiger erscheint aber der Zweck, der mit der Aufnahme von Vorstellungen kollektiver Identität in den mittelalterlichen Rechtsbüchern verbunden war: Neben der auf einer ersten Ebene verorteten Zugehörigkeit zu den auf die fränkische Zeit zurückzuführenden regna bzw. gentes der Sachsen, Franken, Bayern und Schwaben (und dem damit verbundenen Festhalten an überkommenen Strukturen) wird auf einer zweiten Ebene ein darüber hinausgehendes ‚supragentiles Einheitsbewusstsein‘ der Deutschen als Erklärung für die gegenwärtige politische Ordnung

85 Im Handschriftencensus werden für den «Sachsenspiegel» 233, für den «Deutschenspiegel» drei, für den «Schwabenspiegel» 285, für das «Freisinger Rechtsbuch» elf und für das «Meißner Rechtsbuch» 86 sowohl vollständige als auch fragmentarische Handschriften ausgewiesen. Siehe http://www.handschriftencensus.de/werke/97 (03.08.2016); http://www.handschriftencensus.de/ werke/3159 (03.08.2016); http://www.handschriftencensus.de/werke/344 (03.08.2016); http://www. handschriftencensus.de/werke/1889 (03.08.2016); http://www.handschriftencensus.de/werke/531 (03.08.2016). 86 Zu Johann von Buch Dörthe Buchhester und Mario Müller: Johann von Buch (d. J.). In: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter Band 6: Das wissensvermittelnde Schrifttum bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Achnitz. Berlin 2014, Sp. 755–765; Heiner Lück: Johann von Buch (um 1290–um 1356). In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hgg. von Cordes u. a. Band 2 (wie Anm. 61), Sp. 1376f. 87 Zur «Buch’schen Sachsenspiegelglosse» und weiteren Bearbeitungen Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 20), S. 165–187. Beispielhaft sei auf die Glossen zu Ldr. III 52 § 1, 53 § 1 und 57 § 2 verwiesen; Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht. Buch’sche Glosse. Hg. von Frank-Michael Kaufmann Teil 3. Hannover 2002 (MGH Font. iur. Germ. NS. Band 7), S. 1251–1253, 1259–1261, 1292, 1299–1302. Vgl. weiter zum Königtum im «Sachsenspiegel» und in der «Buch’schen Glosse» sowie speziell zu Ldr. III 57 § 2 Bernd Kannowski: Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch’sche Glosse. Hannover 2007 (MGH Schriften. Band 56), S. 247–285, insb. S. 248, 258f. 88 Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S.  205: „Mit dem Zerfall der Herrschaft der Staufer fand die hochmittelalterliche Phase der Ausbildung des Bewußtseins einer deutschen Großnation um 1250 ein Ende. Ein zweiter ‚Schub‘ sollte erst in der Mitte des 15. Jahrhunderts erfolgen. Den zwei Jahrhunderten zwischen diesen beiden ‚aktiven Phasen‘ zwischen einerseits circa 1050 bis 1250 und andererseits etwa 1450 bis 1550 kommt daher hinsichtlich der Ausbildung eines deutschen Nationsbewußtseins ein vergleichsweise passiver Status zu.“ Ähnlich auch S. 35.



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konstruiert.89 Denn nur durch die Zusammenfassung der gentilen Personenverbände zur übergeordneten Einheit der ‚Deutschen‘ ließ sich der für die translatio imperii notwendige Bezug zu dem in den Händen der Deutschen liegenden Imperium Romanum herstellen.90 Somit dient die Integration der Legende von Caesars Bündnis mit den Deutschen in das Verfassungsrecht des «Sachsenspiegels» auch (vielleicht sogar in erster Linie) dazu, die Konstruktion einer auf einer gemeinsamen Geschichte beruhenden deutschen Identität zum verfassungsrechtlichen Argument aufzuwerten.91

III Die Bedeutung der Bezugnahme auf die ‚Deutsche Nation‘ in der Reichsgesetzgebung zu Beginn der Frühen Neuzeit Bekanntlich kam die Genitivverbindung von ‚Reich‘ und ‚Deutscher Nation‘ erst Ende des 15. Jahrhunderts auf.92 Man kann diese Verbindung so verstehen, dass mit ihr die translatio imperii auf eine griffige Formel gebracht werden sollte. Die ebenfalls im 15. und 16. Jahrhundert üblichen Formulierungen vom ‚Heiligen Römischen Reich u n d 89 Ehlers: Natio (wie Anm. 2), Sp. 1035, 1037. Nach Ehlers: Die deutsche Nation (wie Anm. 4), S. 11f. war ein „Gesamtname für den polygentilen Verband der Sachsen, Franken, Bayern und Schwaben schon früh gesucht“ worden; die seit dem 12. Jahrhundert mit dem Regnum Teutonicum „über den Stämmen gebildete Einheit wurde als etwas Neues begriffen und entsprechend benannt“. Zum Konkurrenzverhältnis zwischen (bzw. Nebeneinander von) gentilem und supragentilem Bewusstsein S. 28ff. Ähnlich auch Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 67, 102: „Denn wie eingangs zitiert, sind die regna-Völker ‚der deutschen Nation nicht qualitativ unterzuordnen‘, sondern die aus dem römisch-imperial definierten völkerumwölbenden Zusammenhalt erwachsende deutsche Identität und die kollektiven Identitäten der einzelnen ‚Lande‘ stehen nebeneinander.“ Goerlitz nimmt hier Bezug auf Bernd Schneidmüller: Nomen gentis. Nations- und Namenbildung im nachkarolingischen Europa. In: Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen. Hgg. von Dieter Geuenich u. a. Berlin/New York 1997 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Band 16), S. 140–156, hier S. 155. 90 Vgl. auch Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 110: „Nicht ein erwachtes Nationsbewußtsein entdeckt die Römische Reichsgeschichte für sich, sondern der supragentile politische Herrschaftsrahmen fränkisch-karolingischer Tradition und römisch-imperialer Orientierung läßt durch den gemeinsam verfochtenen Anspruch eines der Fürsten im noch jungen regnum Teutonicum auf die imperiale Herrschaft das Bewußtsein ‚deutschen‘ Zusammenhalts allererst entstehen.“ 91 Nach Peter Moraw: Bestehende, fehlende und heranwachsende Voraussetzungen des deutschen Nationalbewußtseins im späten Mittelalter. In: Ansätze. Hg. von Ehlers (wie Anm. 4), S. 99–120, hier S. 101 war Kern dieses „reichsbezogenen Traditions- und Gegenwartswissen[s]“ die Vorstellung, „daß das Reich in Fortsetzung des römischen Imperiums der Antike (der höchstrangigen und am besten legitimierten Staatsform, die das christliche Mittelalter kannte) von alters her und natürlich auch in der jeweiligen Gegenwart den Deutschen gebühre“. 92 Dazu Weisert: Die Reichstitel bis 1806 (wie Anm. 9), S. 441, 466ff. Vgl. weiter Knape: Humanismus (wie Anm. 35), S. 103, 113ff.

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der Deutschen Nation‘ bzw. von den deutschen landen (so etwa in der «Reformation Friedrichs III.» von 1442, in den Reichsgesetzen von 1495 oder in der «Reichspolizeiordnung» von 1530)93 legen hingegen nahe, dass mit dem Zusatz ein räumlich-politisch abgrenzbarer Teil des Heiligen Römischen Reiches besonders hervorgehoben werden sollte, nämlich Deutschland als politische Einheit in Abgrenzung zu den anderen Reichsteilen.94 Nur am Rande sei vermerkt, dass Juristen und Historiker im 17. und 19. Jahrhundert tendenziell eher der erstgenannten Interpretation folgten, während im 18. und 20. Jahrhundert die zweite Auffassung vorherrschte.95 In jedem Fall lässt sich seit der Reichsreform Ende des 15. Jahrhunderts und der sich anschließenden Reichsgesetzgebung im 16. Jahrhundert eine immer stärkere Ausrichtung des Reiches und seines Rechts auf die ‚Deutsche Nation‘ beobachten.96 Der nun einsetzende (verfassungs-)rechtliche ‚Verdichtungsprozess‘97 führte nämlich dazu, dass zahlreiche Fragen zu beantworten waren, die Folgen für das ‚Nationsbewusstsein‘ haben mussten: Wer hat im Reichstag Sitz und Stimme? Für welche Bevölkerungsteile des Reiches gelten die Reichsgesetze? Wer kann an den höchsten Reichsgerichten Richter werden und wer kann vor diesen Gerichten klagen? All dies kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden, vielmehr muss der Hinweis genügen, dass sich die „Einheit stiftenden Reichsinstitutionen“ (d. h. der Reichstag98, 93 Die «Reformation Kaiser Friedrichs III.» (1440–1493) von 1442 bezog sich ausdrücklich auf die Zustände in dem heiligen Romischen reich und sonderlich in deutschen landen. In der Einleitung der «Reichskammergerichtsordnung» von 1495 heißt es, dass zu den Aufgaben des Gerichts auch die Ahndung von Verstößen gegen den «Ewigen Landfrieden» gehöre, der für das Römische Reych und Teutsch Nacion geschaffen worden sei. Entsprechende Formulierungen finden sich auch in den Texten des «Ewigen Landfriedens» (das Hailig Reich und Teutsch Nacion) und zur Festsetzung des Gemeinen Pfennigs vom 7. August 1495 (des Hailigen Reichs und Teutscher Nacion). Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit. Bearb. von Karl Zeumer. Tübingen 2. Aufl. 1913, Nr. 166, 173f., 176, S. 260, 281, 284, 294. Zahlreiche weitere Nachweise bei Weisert: Die Reichstitel bis 1806 (wie Anm. 9), S. 441, 459f., 465ff., 471ff. Eine Übersicht findet sich ebd. auf S. 495. Weitere Nachweise in Anm. 137. 94 Dazu auch Landwehr: „Nation“ und „Deutsche Nation“ (wie Anm. 18), S. 1, 16ff.; Isenmann: Kaiser, Reich und Deutsche Nation (wie Anm. 4), S. 146, 155ff. 95 Dazu insgesamt Landwehr: „Nation“ und „Deutsche Nation“ (wie Anm. 18), S. 1, 18ff. mit weiteren Nachweisen. Vgl. weiter Ulrich Nonn: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Zum Nationen-Begriff im 15. Jahrhundert. ZFH 9 (1982) S. 129–142; Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 267ff.; Schnell: Deutsche Literatur (wie Anm. 12), S. 247, 274f. 96 Vgl. dazu auch Georg Schmidt: Heiliges Römisches Reich. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hgg. von Cordes u. a. Band 1 (wie Anm. 19), Sp. 882–893, hier Sp. 885f.; Schnell: Deutsche Literatur (wie Anm. 12), S. 247, 289. 97 Moraw: Gesammelte Leges fundamentales (wie Anm. 5), S. 1, 4, 7. Moraw (S. 11) führt den ‚Verdichtungsprozess‘ auf drei Phänomene zurück: auf die „Bedrohung durch eine ungewohnt große Zahl und große Aktivität von Feinden aus drei Himmelsrichtungen“, auf den „Aufstieg der Habsburger zu ungeahnten dynastischen Dimensionen und [auf das] An-die-Oberfläche-Treten aufregender technischwirtschaftlicher Neuerungen“. 98 Der Reichstag bildete sich im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts heraus, wurde aber als feste Institution erst im Nachhinein, auf dem Wormser Reichstag von 1495, reichsgesetzlich (sogenannte



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die Reichskreise99 und das Reichskammergericht) im Wesentlichen auf die deutschen Reichsglieder erstreckten100 und sich auch die Reichsgesetzgebung (insbesondere die Reichskammergerichtsordnungen seit 1495, die «Peinliche Gerichtsordnung» von 1532101 und die Reichspolizeiordnungen seit 1530) zunehmend auf die ‚Deutsche Nation‘ konzentrierte.102 «Handhabung Friedens und Rechts» vom 7. August 1495) bestätigt. Im Reichstag waren keineswegs alle Fürsten, Grafen und Städte des Heiligen Römischen Reiches vertreten, vielmehr lässt sich auch hier eine zunehmende Konzentration auf die deutschsprachigen Teile des Reiches beobachten, wobei es Ausnahmen in beide Richtungen gab. Nicht vertreten auf dem Reichstag waren insbesondere die italienischen Fürstentümer, auch wenn sie in einer Lehensbeziehung zum Kaiser standen. Die Schweizer Eidgenossenschaft löste sich von den Reichsinstitutionen bereits 1499. Durch Deklaration vom 2. Juni 1556 entschied Karl V., dass das Bistum von Cambrai zum Heiligen Römischen Reich gehöre, weil der Bischof ebenso wie die Bischöfe von Lüttich, Metz, Verdun und Toul an den Reichstagen teilnehme und zu den Reichslasten beitrage. Der ‚deutsche‘ Kern der auf dem Reichstag vertretenen Reichsstände wurde jedoch mit der Zeit (durch die Loslösung weiterer Teile vom Reich wie Burgunds, Lothringens und der Niederlande) immer größer. Dazu insgesamt Schmidt: Heiliges Römisches Reich (wie Anm. 96), Sp. 882, 885f.; Landwehr: „Nation“ und „Deutsche Nation“ (wie Anm. 18), S. 1, 25; Weisert: Die Reichstitel bis 1806 (wie Anm. 9), S. 441, 499f.; Isenmann: Kaiser, Reich und Deutsche Nation (wie Anm. 4), S. 146, 192ff., insb. S. 195ff.; Barbara Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806. München 4. Aufl. 2009, S. 19ff., 45ff. Eine Liste mit den auf den Reichstagen im 16. Jahrhundert anwesenden Reichsständen findet sich bei Rosemarie Aulinger: Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert. Beiträge zu einer typologischen Analyse schriftlicher und bildlicher Quellen. Göttingen 1980 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Band 18), S. 358–374. 99 Die im Zuge der Reichsreform ab 1500 in zwei Schritten gebildeten zehn Reichskreise umfassten vor allem deutschsprachige Gebiete; Italien und Böhmen, aber auch die Eidgenossenschaft gehörten nicht zu den Reichskreisen. Dazu Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 98), S. 49. 100 So auch Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 98), S. 12f. 101 In der Vorrede der «Peinlichen Gerichtsordnung» Kaiser Karls des V. von 1532 («Carolina») wird beklagt, dass imm Römischen Reich teutscher Nation, altem gebrauch vnnd herkommen nach, die meynsten peinlich gericht mit personen, die vnsere Keyserliche recht nit gelert, erfarn, oder übung haben, besetzt werden, wobei dies noch in demselben Satz dahingehend präzisiert wird, dass es sich hierbei um eine gelegenheyt Teutscher land handle. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532 (Carolina). Hg. von Friedrich-Christian Schroeder. Stuttgart 2000, S. 9f. 102 Vgl. nur Georg Schmidt: „Aushandeln“ oder „Anordnen“. Der komplementäre Reichs-Staat und seine Gesetze im 16. Jahrhundert. In: Der Reichstag 1486–1613: Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten. Hgg. von Maximilian Lanzinner und Arno Strohmeyer. Göttingen 2006 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Band 73), S. 95–116, hier S. 96 zur „allgemeinen Verbindlichkeit ordnungsgemäß verabschiedeter und verkündeter Reichsgesetze“: „Keine Rechtsqualität besaßen die Reichsgesetze in den Reichslehengebieten Oberitaliens oder der Schweiz. Über ihre Gültigkeit im burgundischen Reichskreis und in Böhmen entschieden im 16. Jahrhundert die regierenden Habsburger von Fall zu Fall.“ Schmidt (S.  101f.) weist auch darauf hin, dass die infolge der Reichsreform geschaffenen ‚Institutionalisierungen‘ (zu denen er das Reichskammergericht, den «Ewigen Landfrieden», den Reichstag, die Reichskreise, das Reichsregiment und den Gemeinen Pfennig zählt) überwiegend sehr erfolgreich waren, da sich ledig-

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So sahen beispielsweise die Reichskammergerichtsordnungen von 1495 und 1555 eine rein national ausgerichtete Besetzung des Gerichts vor, denn nach § 1 RKGO 1495 sollten der Vorsitzende Richter und die Beisitzer im Zusammenwirken von Kaiser und Reichstag auß dem Reich Teutscher Nacion ausgewählt werden103 (ähnlich Teil 1 Tit. III §§ 1f. RKGO 1555104). Dass auch die Besetzung anderer Ämter im Reich gebürtigen Deutschen vorbehalten war, ergibt sich aus der ersten kaiserlichen Wahlkapitulation Karls V. vom 3. Juli 1519 (§ 13): Wir sollen und wellen auch Unser Kunigliche und des Reichs Empter am Hof und sonst im Reiche auch mit kainer andern Nation, dan geborn Teutschen […] besetzen und versehen […].105 Zudem musste Karl V., der kaum Deutsch sprach, garantieren, dass er in Schriften und Handlungen des Reichs kain ander Zunge oder Sprach gebrauchen lass[e] wann die Teutsch oder Lateinisch Zung (§ 14), und dass er keinen Reichstag außerhalb des Reichs Deutscher Nation furnemen oder ausschreiben lasse (§ 12).106 lich die Einführung des Gemeinen Pfennigs und des Reichsregiments als nicht praktikabel erwies. Zu den Reichssteuern ebd., S. 113ff. mit Hinweis darauf, dass die Reichsstände die zur Türkenabwehr erhobene Summe zu fast 80 % aufbrachten. Zur Stellung Böhmens im Reich und zu den Reichsinstitutionen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts Begert: Böhmen (wie Anm. 46), S. 232ff., 236ff., 257ff., 260ff., 264ff., 274, 303ff., 313ff. sowie 320ff., 328 (mit Vergleichen zu Burgund und Lothringen). 103 Quellensammlung. Bearb. von Zeumer (wie Anm. 93), Nr. 174, S. 284. 104 RKGO 1555, Teil 1, III: § 1 So ordnen, setzen und wöllen wir, daß der keiserlichen maiestat cammerrichter ein dapfer person, auß dem reich teutscher nation geborn, derselben herkomen, löblicher gebreuch und guter gewonheyt nicht allein wolkündig und erfaren, […]. § 2 So sollen die beysitzer […] verstendig, qualificiert personen, auß teutscher nation geborn und derselben nation gebreuch und guten gewonheyten erfaren […] sein. Die Reichskammergerichtsordnung von 1555. Hg. von Adolf Laufs. Köln/ Wien 1976 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Band 3), S. 75f. Dazu auch Thomas: Sprache und Nation (wie Anm. 9), S. 47, 95; Busse: Hailig Reich, Teutsch Nacion, Tutsche Lande (wie Anm. 37), S. 268, 277 (Fn. 25), 283. Zur Besetzung des Reichskammergerichts durch die Reichskreise Winfried Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (1383–1806). Geschichte und Aktenedition. Stuttgart 1998, S. 456–464; Wolfgang Sellert: Die Bedeutung der Reichskreise für die höchste Gerichtsbarkeit im alten Reich. In: Regionen in der Frühen Neuzeit. Reichskreise im deutschen Raum, Provinzen in Frankreich, Regionen unter polnischer Oberhoheit: Ein Vergleich ihrer Strukturen, Funktionen und ihrer Bedeutung. Hg. von Peter Claus Hartmann. Berlin 1994 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 17), S. 145–178, hier S. 165–168. 105 Wahlkapitulation Karls V. vom 3. Juli 1519. In: Quellensammlung. Bearb. von Zeumer (wie Anm. 93), Nr. 180, S. 309, 310. Mit dieser Zusage sollte ein Festhalten Karls V. an seinen spanischen Beratern verhindert werden. 106 Wahlkapitulation Karls V. vom 3. Juli 1519. In: Quellensammlung. Bearb. von Zeumer (wie Anm. 93), Nr. 180, S. 309f. Dazu insgesamt Heinz-Günther Borck: Deutsch als Amtssprache. Besonderheiten der Kanzleisprache und ihres Wortschatzes. In: Die Sprache Deutsch. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin. Hgg. von Heidemarie Anderlik und Katja Kaiser. Dresden 2008, S. 81–85, hier S. 83; Weisert: Die Reichstitel bis 1806 (wie Anm. 9), S. 441, 471; Schnell: Deutsche Literatur (wie Anm. 12), S. 247, 296f. Vgl. weiter Caspar Hirschi: Konzepte von Fortschritt und Niedergang im Humanismus am Beispiel der translatio imperii und der translatio studii. In: Die Idee von Fortschritt und Zerfall im Europa der frühen Neuzeit. Hgg. von Christoph Strosetzki und Sebastian Neumeister. Heidelberg 2008, S. 37–55, hier S. 51f. mit Hinweis auf die im Vorfeld der Wahl



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Besonders hervorzuheben ist aber die nun einsetzende breitere Wirkung der Reichsgesetze seit dem 16. Jahrhundert,107 zu der zwei Faktoren wesentlich beitrugen: So wechselte erstens die Amtssprache der Reichsgesetzgebung im 15. Jahrhundert von Latein zu Deutsch,108 wobei die in der Reichsgesetzgebung verwendete Kanzleisprache in der Folge nicht unwesentlich zur Ausbildung einer deutschen Einheitssprache beitrug.109 Zweitens sorgte die technische Errungenschaft des Buchdrucks für die Verbreitung der neu erlassenen Reichsgesetze.110 Die Reichsabschiede wurden seit 1501 gedruckt herausgegeben111 und schon bald kamen Sammlungen mit den wichtigsten Reichsgesetzen hinzu (allein bis 1508 fünf Sammlungen). Bis 1585 wurden 22 verschiedene Sammlungen zum Druck

diskutierte Frage, ob die deutschen Königswähler auch einen Ausländer zum König wählen könnten (auch bei dieser Diskussion bezog man sich auf die Dekretale «Venerabilem»). 107 Im Mittelalter war die Wirkung der Reichsgesetze im Wesentlichen auf den König und die Reichsfürsten nebst Kanzleien und gelehrtem Personal beschränkt. Vgl. weiter Ehlers: Die deutsche Nation (wie Anm. 4), S. 11, 57: „Als Träger des mittelalterlichen deutschen Nationsbewußtseins dürfen wir König, Hof und königsnahen Adel ansehen, Teile der Geistlichkeit, Juristen im Hofdienst […].“ 108 Hermann Conrad: Deutsche Rechtsgeschichte Band 1. Karlsruhe 2. Aufl. 1962, S. 347. Zur Verwendung der deutschen Sprache in Urkunden und auf den Reichstagen bereits seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Schnell: Deutsche Literatur (wie Anm. 12), S. 247, 301ff. 109 Aus der älteren Literatur Karl Demeter: Studien zur Kurmainzer Kanzleisprache (ca. 1400–1550). Ein Beitrag zur Geschichte der Neuhochdeutschen Schriftsprache. Berlin 1916, S. 29 mit Hinweis darauf, dass „die Sprache, deren sich die Reichsabschiede im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts bedienen, im großen und ganzen das Lautsystem [hat], das sich als die neuhochdeutsche Schriftsprache durchgesetzt hat“. Vgl. dazu auch Albrecht Greule und Katja Löffler: Die deutschen Reichstagsakten: eine ungenutzte Quelle des Frühneuhochdeutschen. Am Beispiel des Reichstags in Regensburg 1532. In: Wertigkeiten, Geschichten und Kontraste. Festschrift für Péter Bassola. Hgg. von Dániel Czicza u. a. Szeged 2004, S. 53–65, hier S. 63f. Vgl. weiter Knape: Humanismus (wie Anm. 35), S. 103, 121, 126. Die kaiserliche und die sächsische Kanzleisprache standen sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts bereits so nahe, dass sich auf der Grundlage beider Sprachen die deutsche Einheitssprache entwickeln konnte. Dazu Rudolf Bentzinger: Die Kanzleisprachen. In: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hgg. von Werner Besch u. a. Band 2: Sprachgeschichte. Teilband 2. Berlin 2000, S. 1665–1673, hier S. 1670; Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart Band 1: Einführung, Grundbegriffe, Deutsch in der frühbürgerlichen Zeit. Berlin/New York 1991, S. 170ff.; Hans Moser: Die Kanzlei Kaiser Maximilians I. Graphematik eines Schreibusus Teil 1: Untersuchungen. Innsbruck 1977 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe. Band 5/1), S. 276ff., 283ff. 110 Dazu Stolleis: Die Geschichte des öffentlichen Rechts Band 1 (wie Anm. 83), S. 130f.; Moraw: Gesammelte Leges fundamentales (wie Anm. 5), S. 1, 14ff. Weisert: Die Reichstitel bis 1806 (wie Anm. 9), S. 441, 501ff. geht hingegen noch davon aus, dass den Reichsgesetzen keine starke Breitenwirkung zukam. 111 Das buch des heiligen römischen reichs vnnderhalltu[n]g. […] Gedruckt jn der fürstlichen statt münchen von hannsen schobsser: Anno d[omini] tausent fünffhundert vnnd eyn jar am tag Blasij. Nach Greule und Löffler: Die deutschen Reichstagsakten (wie Anm. 109), S. 58 (Fn. 9) handelt es sich hierbei um den ersten Druck eines Reichsabschieds.

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gebracht,112 wobei die Anzahl dieser Sammlungen im europäischen Vergleich einmalig ist.113 Ihre Bedeutung liegt in erster Linie darin, dass sie die Reichsgesetze den in der Rechtspraxis Tätigen zugänglich machten und insoweit vor allem Funktionen im „praktisch-politisch-juristischen Gebrauch“ erfüllten.114 Die darüber hinausgehende identitätsstiftende Wirkung dieser gesammelten deutschen Reichsgesetze sollte jedoch nicht unterschätzt werden: Nach Peter Moraw dienten sie „als einheitsstiftender ‚Ort der Erinnerung‘“, indem sie eine vor allem innenpolitisch ausgerichtete frühneuzeitliche Reichsgeschichte beschrieben,115 in deren Zentrum die ‚Deutsche Nation‘ und der Reichstag standen.116 Neben diese Sammlungen traten seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die ersten Kommentare und Traktate zu den Reichsgesetzen,117

112 Etwa Deß Heyligen Römischen Reichs Ordnungen. Die Gülden Bull/sampt aller gehaltner Reichßtag Abschieden. Worms 1539. Dazu Stolleis: Die Geschichte des öffentlichen Rechts Band 1 (wie Anm. 83), S. 128 mit weiteren Nachweisen. 113 So Moraw: Gesammelte Leges fundamentales (wie Anm. 5), S. 1, 14. Die älteren Sammlungen enthalten u. a. die «Goldene Bulle», die «Reformation Friedrichs III.» von 1442, die Wormser Reichsgesetze von 1495 und sämtliche bis zum Druck der Sammlungen erschienenen Reichsabschiede; die jüngeren Sammlungen enthalten zusätzlich die jeweils neu erlassenen Reichsgesetze (wie etwa den «Augsburger Religionsfrieden» von 1555). 114 Moraw: Gesammelte Leges fundamentales (wie Anm. 5), S. 1, 15. 115 Moraw: Gesammelte Leges fundamentales (wie Anm. 5), S. 1, 17: „Die Verfassungscorpora seit 1501 verdienen es, als einheitsstiftender ‚Ort der Erinnerung‘ im französischen Sinn entdeckt zu werden. […] Auch scheint durch die Corpora die ganze frühneuzeitliche Reichsgeschichte stärker innenpolitisch akzentuiert worden zu sein […]. Jedenfalls ist ‚Reichstagsdeutschland‘, jenes komplizierte und problematische Gebilde mit starken legitimatorischen Schwächen, insofern es sich gegenüber dem rechten Herrn, dem Kaiser, konfessionell und partiell auch politisch zu emanzipieren trachtete, durch dieses Corpus befestigt worden.“ 116 Vgl. weiter Caspar Hirschi: Vorwärts in neue Vergangenheiten. Funktionen des humanistischen Nationalismus in Deutschland. In: Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur. Hgg. von Thomas Maissen und Gerrit Walther. Göttingen 2006, S. 362– 395, hier S. 384ff. 117 Nachweise zu den Kommentaren bei Stolleis: Die Geschichte des öffentlichen Rechts Band 1 (wie Anm. 83), S. 128f. Friedrich Hermann Schubert: Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit. Göttingen 1966 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Band 7), S. 243ff. nennt als ältestes Werk den Traktat «Ausführliche bericht, wie es uff reichstägen pflegt gehalten zu werden» von 1569, der jedoch erst ab 1612 (mehrfach) gedruckt wurde und u. a. auch 1614 in die «Politische[n] ReichsHändel» von Melchior Goldast von Haiminsfeld aufgenommen wurde (dazu Anm. 120). Schubert, S.  244f. weist darauf hin, dass der unbekannte Verfasser nichts „unternahm […], seinen Bericht zu einem Werk gelehrter Jurisprudenz auszugestalten, ebensowenig wie er sich der Darstellungskunst humanistischer Literatur befleißigte. Vielmehr lieferte er in einem schmucklosen, aber für die Verhältnisse der Zeit klaren Deutsch einen Leitfaden für die Reichstagspraxis […]. Das Streben ist offensichtlich unter Verzicht auf gelehrten Apparat einen knappen und dementsprechend leicht benützbaren Traktat nach Art eines Handbuchs zu liefern. […] Ganz aus der Praxis heraus schreibt er für die Praxis“. Vgl. weiter zur Bedeutung der Rezeption von Jean Bodins «Six livres de la république» (1576) in Deutschland seit dem Ende des 16. Jahrhunderts Stolleis, ebd., S. 174–186; Schubert, ebd., S. 268f.



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auf deren Grundlage sich dann die sogenannte Reichspublizistik118 als neue Materie entwickeln sollte.119 Die ersten größeren Darstellungen zur Verfassung des Reiches, zum Reichsrecht und seiner Geschichte dürften jedoch alle erst aus der Zeit nach 1600 stammen.120 Im Folgenden soll es jedoch um die Reichspolizeigesetzgebung gehen, weil sich anhand dieser zwei für das Tagungsthema besonders relevante Aspekte herausarbeiten lassen, nämlich zum einen die rechtsvereinheitlichende Wirkung der Reichsgesetzgebung auf dem Gebiet der Polizeimaterien und zum anderen die Umset118 Das Ius publicum und die Reichspublizistik entwickelten sich zunächst in den protestantischen Gebieten; seit 1600 wurde dort auch das Ius publicum an den Universitäten gelehrt. Dazu Michael Stolleis: Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. zum 18. Jahrhundert. In: Patriotismus in Deutschland. Hgg. von Günter Birtsch und Meinhard Schröder. Trier 1993 (Trierer Beiträge. Band 22), S. 21–28, hier S. 23. Vgl. weiter Heinz Mohnhaupt: Öffentliches Recht in Gestalt der Leges Fundamentales im mittelalterlichen Alten Reich. Giornale di Storia Constituzionale 21 (2011) S. 25–39; Ders.: Reichsgrundsätze als Verfassung im System des Ius publicum. In: Anfänge Band 3. Hgg. von Dilcher und Quaglioni (wie Anm. 68), S. 697–722; Susanne Lepsius: Ius commune in der Reichspublizistik der frühen Neuzeit. In: Anfänge Band 3. Hgg. von Dilcher und Quaglioni (wie Anm. 68), S. 533–562; Schubert: Die deutschen Reichstage (wie Anm. 117), S. 268ff., 279ff. 119 Dazu auch Schubert: Die deutschen Reichstage (wie Anm. 117), S. 273ff. mit Hinweis darauf, dass der Reichstag „als Repräsentativ- und Mitregierungsinstitution der neben dem Kaiser im Reich bestehenden Gewalten gerade die Momente der Reichsverfassung in sich verkörperte, die das deutsche von dem spätrömischen Kaisertum unterschieden und zur Konzeption des Justinianischen Rechtes besonders wenig passten“ (S. 275). 120 Zu nennen sind hier insbesondere die Werke von Melchior Goldast von Haiminsfeld (1578–1635), die unter den Titeln «Reichssatzung Deß Heiligen Römischen Reichs» und «Reichshandlung und andere deß H. Römischen Reichs Acta / Tractaten / Keyserliche / Königliche und Fürstliche Mandata / beyde Geistlich und Weltlich Regiment betreffend» beide 1609 erschienen und fünf Jahre später um das Werk «Politische ReichsHändel» ergänzt wurden. Das Titelblatt von 1614 präzisiert den Inhalt dahingehend: Das gantze heilige Römische Reich / die Keyserliche und Königliche Majestäten / den Stul zu Rom / die gemeine Stände deß Reichs / insonderheit aber das geliebte Vatterlandt Teutscher Nacion betreffendt. Die beiden im Jahre 1609 veröffentlichten Werke stellen das Heilige Römische Reich von seinem Beginn bis zur Gegenwart anhand der Leges fundamentales und anderer wichtiger Rechtstexte dar. Die «Reichssatzung» umfasst den Zeitraum von 774–1576 (wobei nur drei Texte aus der Zeit vor der Mitte des 10. Jahrhunderts aufgenommen sind), enthält aber beispielsweise auch den «Schwabenspiegel» als „kaiserliches“ Land- und Lehnrecht. Die «Reichshandlung» beginnt mit einem Dekret Kaiser Konstantins (324) und erfasst vor allem den Zeitraum von 1001–1584. Die «Reichssatzung» ist Friedrich IV. (Pfalzgraf am Rhein) und Christian II. (Herzog zu Sachsen) gewidmet, die als Vattern unsers geliebten Vatterlandts Teutscher Nation bezeichnet werden. Den Doctores hält Goldast in der «Reichshandlung» vor, dass sie ihre Nasen besser auff diese Constitutiones, als [auf] Fundamentalschrifften und grunduesten deß Bapsts gelegt hätten; Vorrede Bg. [(:) vr]. Da ihnen die Fundamente des Heiligen Römischen Reichs nicht vertraut seien, seien ihre Schrifften offt krumb gericht / wanckelnt und varierent; Vorrede Bg. (:) (:) vv. Materialsammlungen wie diese bildeten später den Grundstein für das Deutsche Staatsrecht. Dazu insgesamt auch Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts Band 1 (wie Anm. 83), S. 132f.; Frank L. Schäfer: Juristische Germanistik. Eine Geschichte der Wissenschaft vom einheimischen Privatrecht. Frankfurt a. M. 2008 (Juristische Abhandlungen. Band 51), S. 48f.; Schubert: Die deutschen Reichstage (wie Anm. 117), S. 284ff.

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zung wirtschaftspolitisch motivierter ‚nationaler Interessen‘ des Reiches und seiner Stände. Im Gegensatz zu den Reichsgrundgesetzen regelten die Reichspolizeiordnungen nicht primär das Verhältnis zwischen Reich und Ständen,121 vielmehr standen sie am Beginn einer zunehmenden „Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Obrigkeiten und Untertanen“.122 Da die Regelungsmaterien der Polizeigesetzgebung vor allem die ständische Gesellschaft, die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie die Wirtschaft betrafen, zeichnete sich diese Form der Reichsgesetzgebung gerade dadurch aus, dass sie besonders nah an die Bevölkerung herantrat. Zudem umfasste die Gesetzgebung des Reiches zu Polizeimaterien keineswegs nur die drei Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577,123 sondern insgesamt mehr als 50 Reichsgesetze aus der Zeit zwischen 1487 und 1603, nämlich rund 30 Reichsabschiede und mehr als 20 Einzelordnungen, kaiserliche Mandate und Edikte.124 Der größte Teil dieser Gesetze war zwischen Kaiser und Reichsständen ausgehandelt worden125 und richtete sich an zwei Gruppen von Normadressaten, nämlich zum einen an alle Obrigkeiten und zum anderen an die gesamte Bevölkerung des deutschen Reichs. Der Verpflichtung, diese Reichsgesetze durchzusetzen und für die Einhaltung der Normen durch die Bevölkerung zu sorgen, konnten die Stände dadurch nachkommen, dass sie die Reichspolizeimaterien in die eigene Gesetzgebung integrierten oder die Reichspolizeiordnun-

121 Die drei Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577 wurden dennoch von der Reichspublizistik als Bestandteil der Leges fundamentales angesehen. Dazu Karl Härter: Die Bedeutung der «guten Policey» und vormodernen Ordnungsgesetzgebung für die Ausformung des öffentlichen Rechts im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Anfänge Band 3. Hgg. von Dilcher und Quaglioni (wie Anm. 68), S. 449–478, hier S. 463. 122 Härter: Die Bedeutung der «guten Policey» (wie Anm. 121), S. 449, 469. Auf S. 455 findet sich ein Schaubild zur Entwicklung der Normierungsintensität der Polizeigesetzgebung von sieben Reichsstädten und zehn Territorien zwischen 1300 und 1799, das eine deutliche Zunahme der Gesetzgebung seit dem Ende des 15. Jahrhunderts ausweist, wobei die Masse der 150 territorialen Polizeiordnungen und derjenigen von 40 Reichsstädten zwischen 1530 und 1600 erlassen wurde (S. 459f.). 123 Zu deren Geschichte und Bedeutung Matthias Weber: Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition. Frankfurt a. M. 2002 (Ius Commune. Sonderhefte. Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte. Band 146), S. 13ff. Weber (S. 20) weist darauf hin, dass die Reichspolizeiordnungen in der Forschung lange Zeit kaum beachtet wurden und erst seit Ende der 1970er Jahre zu den „‚bedeutsamsten Leistungen der Reichsgesetzgebung im 16. Jahrhundert‘“ gerechnet werden. Weber bezieht sich dabei auf die Arbeit von Heinz Mattes: Untersuchungen zur Lehre von den Ordnungswidrigkeiten Halbband 1: Geschichte und Rechtsvergleichung. Berlin 1977 (Strafrecht und Kriminologie. Band 2/1), S.  51. Im Folgenden werden die Reichspolizeiordnungen nach der Editon von Weber zitiert. 124 Dazu näher Karl Härter: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 16. Jahrhundert. Ius Commune 20 (1993) S. 61–141, hier S. 86ff.; Weber: Die Reichspolizeiordnungen (wie Anm. 123), S. 24ff. 125 Dazu Härter: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung (wie Anm. 124), S. 61, 88ff.



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gen in ihren Territorien publizierten und ihre Amtsleute zur Anwendung derselben anhielten.126 Aber auch eine Kombination beider Alternativen findet sich in der Praxis: So verwies beispielsweise die «Württembergische Polizeiordnung» von 1549 an mehreren Stellen auf die «Reichspolizeiordnung» von 1548.127 Zudem wurde in dem Mandat zur Publikation der «Württembergischen Polizeiordnung» ausdrücklich angeordnet, dass sämtliche württembergischen Ämter verpflichtet seien, ein Exemplar der «Reichspolizeiordnung» zu kaufen, damit alle Amtsleute ein solches zur Hand hätten und danach handeln könnten.128 Partikulare Rechte, die im Widerspruch zur Reichspolizeiordnung standen, wurden zudem auf dem Reichstag von 1551 durch einen Reichsabschied ausdrücklich aufgehoben.129 Insgesamt wurden die Reichspolizeima-

126 Dazu insgesamt Härter: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung (wie Anm. 124), S. 61, 126ff., 134ff. (mit einer beispielhaften Aufzählung derjenigen Reichsstände, die zum Teil wörtlich die Reichspolizeigesetze oder Teile davon übernahmen). Vgl. weiter Weber: Die Reichspolizeiordnungen (wie Anm. 123), S. 36ff. Bei Weber (S. 45ff., 73ff.) findet sich zudem eine Aufstellung der zahlreichen Drucke der Reichspolizeiordnungen (amtliche Drucke und nicht autorisierte Nachdrucke) und der Sammlungen, welche die Reichspolizeiordnungen enthielten. 127 Die bei Wolfgang Wüst: Die „gute“ Policey im Schwäbischen Reichskreis, unter besonderer Berücksichtigung Bayerisch-Schwabens. Berlin 2001 (Die „gute“ Policey im Rechtskreis. Band 1), S. 501–519 abgedruckte «Pollicei ordnung fürstenthumb Wirtemberg» vom 30. Juni 1549 verweist beispielsweise bei folgenden Regelungen auf die «Reichspolizeiordnung» von 1548 (die Seitenangaben beziehen sich auf die Ausgabe von Wüst): Von nachrichtern (S.  505) auf Art. 14 § 7 RPO 1548; Von reysigen, auch dienstknechten, mägdten vnd eehalten (S. 508) auf Art. 24 § 1 RPO 1548; Von den handtwercken in gemein, auch derselben sönen, gesellen, knechten vnd leerknaben (S. 509) auf Art. 36 RPO 1548; Vom imber (S. 515) auf Art. 23 § 1 RPO 1548; Von goldtschmiden (S. 516) auf Art. 35 RPO 1548. An anderen Stellen (siehe unten Anm. 139) wurden die Regelungen der RPO 1548 wörtlich übernommen. 128 Mandat vom 5. Dezember 1549, betr. die Publikation der neuen Polizei-Ordnung vom 30. Juni 1549. In: Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Hg. von August Ludwig Reyscher Band 12. Stuttgart 1841, S. 148: Dieweil vnnd aber die artikel darInnen begriffen, sich auf die keiserlich polliceiordnung zum teil referiren, da will die notturfft erfordernn, das in einer Jeden Statt das ein amt ist, solche keiserliche polliceiordnung auch bei der hannd seie, deßhalb wellennd nit vnnderlassen, das den Ambtleuten allennthalben beuehl zukome, dieselbige zu kauffen, vnnd bei dieser Erclärung zu behalltenn, vnnd darnach zu hanndlen. Dazu Härter: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung (wie Anm. 124), S. 61, 127 (Fn. 198). Weitere Beispiele bei Matthias Weber: Bereitwillig gelebte Sozialdisziplinierung? Das funktionale System der Polizeiordnungen im 16. und 17. Jahrhundert. ZRG-GA 115 (1998) S. 420–440, hier 428f. (zur «Brandenburgischen Polizeiordnung» von 1566 und zur «Magdeburger Polizeiordnung» von 1688) und bei Schmidt: „Aushandeln“ oder „Anordnen“ (wie Anm. 102), S. 95, 111. 129 Reichsabschied von 1551, § 71. In: Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Welche von den Zeiten Kayser Conrads des II. bis jetzo, auf den Teutschen Reichs-Tägen abgefasset worden sammt den wichtigsten Reichs-Schlüssen, so auf dem noch fürwährenden Reichs-Tage zur Richtigkeit gekommen sind. Hg. von Heinrich Christian von Senckenberg Band 2. Frankfurt a. M. 1747, S. 609, 621. Dazu Härter: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung (wie Anm. 124), S. 61, 129.

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terien in großem Umfang und teilweise auch wörtlich durch die Reichsstände im 16. Jahrhundert übernommen.130 Schließlich bestand auf der Reichsebene eine Aufsicht über die Einhaltung der Materien der Reichspolizeigesetzgebung. Sofern die Stände ihrer Verpflichtung zur Durchsetzung der Reichspolizeimaterien gegenüber ihrer Bevölkerung nicht nachkamen, hatte der Reichsfiskal am Reichskammergericht das Recht zur Klageerhebung gegen denjenigen, der gegen die Gesetze verstoßen hatte und von seiner Obrigkeit nicht zur Rechenschaft gezogen worden war. Dies war nicht nur im Reichsabschied von 1541,131 sondern etwa auch in der revidierten «Reichskammergerichtsordnung» von 1555 ausdrücklich festlegt.132 Die (rechts-)historische Forschung hat bislang aus den Materien der Reichspolizeigesetzgebung (unter dem nicht ohne Kritik gebliebenen Schlagwort der ‚Sozialdisziplinierung‘)133 vor allem die sittlich-religiös motivierten Normenkomplexe sowie die Armen- und Bettelgesetzgebung etwas breiter untersucht,134 während der im Folgenden behandelte Aspekt des Erhalts der ‚nationalen Wirtschaftskraft‘ bislang nur wenig Beachtung fand.135 Bereits der Entwurf einer Reichsregimentsordnung von 1495 enthält folgenden Artikel 28: Auch sollen die ordenung und policey furnemen und die kostlikeit und uberfluß aller stende messigen, sunderlich seydengewand, spezerey und anders, dadurch 130 So Härter: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung (wie Anm. 124), S. 61, 134f. Zustimmend Schmidt: „Aushandeln“ oder „Anordnen“ (wie Anm. 102), S. 95, 110f. Ähnlich Weber: Bereitwillig gelebte Sozialdisziplinierung? (wie Anm. 128), S. 420, 427ff., 432f. (S. 427: „Die Reichspolizeiordnungen stellen damit einen reichsweiten Konsens über das einheitliche innenpolitische Vorgehen in den Territorien dar. Ihre Adressaten waren die beschließenden Reichsstände selbst.“); Ders.: Die Reichspolizeiordnungen (wie Anm. 123), S. 37ff. 131 Reichsabschied von 1541, § 77. In: Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede Band 2. Hg. von von Senckenberg (wie Anm. 129), S. 428, 441. Dazu Härter: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung (wie Anm. 124), S. 61, 133f. mit weiteren Nachweisen. 132 RKGO 1555, II 20 § 4: Item nachdem sich die keyserliche maiestat mit churfürsten, fürsten und stenden deß heyligen reychs auf dem alhie zu Augspurg im achtundviertzigsten jar gehaltenem reychßtag eyner pollicey-reformation und ordnung verglichen, dieselbig auch in druck außgehen und ins reych publiciren lassen, auch bey namhafter peen zu halten, wir auch solche ordnung in gegenwürtigem reychßtagsabschied ernewert und widerumb, sovil die ein jeden betrifft, deren zu geleben gebotten: So wöllen wir, daß der fiscal vermög und inhalt sollicher pollicey und ordnung gegen den uberfarern derselben jederzeyt, wie sich gebürt, auf die darin verleybte peen an dem keyserlichen cammergericht handlen und procediren soll. Laufs: Die Reichskammergerichtsordnung (wie Anm. 104), S. 196. 133 Dazu Härter: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung (wie Anm. 124), S. 61, 63f.; Weber: Bereitwillig gelebte Sozialdisziplinierung? (wie Anm. 128), S. 420ff. 134 Dazu Weber: Bereitwillig gelebte Sozialdisziplinierung? (wie Anm. 128), S. 420ff., 431f. mit weiteren Nachweisen. Aus der neueren Literatur ist etwa noch Hannes Ludyga: Obrigkeitliche Armenfürsorge im deutschen Reich vom Beginn der Frühen Neuzeit bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges (1495–1648). Berlin 2010 (Schriften zur Rechtsgeschichte. Band 147) zu nennen. 135 Zu Frühformen einer nationalwirtschaftlichen Politik aber Hirschi: Vorwärts in neue Vergangenheiten (wie Anm. 116), S. 362, 374f. mit weiteren Nachweisen.



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und auch durch andere wege das gelt aus der nation geschoben wurd.136 In der Vorrede zur «Reichspolizeiordnung» von 1530137 heißt es dann, dass ein Grund für die Notwendigkeit des Erlasses dieser Ordnung die Gefahr für den sozialen Wohlstand durch zunehmende Ausgaben für teure Kleidung sei: Denn durch den Kauf frembde[r] dücher werde eyn überschwencklich gelt auß Deutscher Nation gefürt.138 Die Verbindung dieses Aspekts mit der ständischen Kleiderordnung kommt dann in Art. 10 § 1 RPO 1530 zum Ausdruck, wonach Bauern, Arbeiter und Tagelöhner keyn ander dücher / dann innlendisch / so inn Deutscher Nation gemacht sind, tragen dürfen.139 Art. 21 § 4 RPO 1548 enthält zudem ein Gebot an die Obrigkeit, die Tuchherstellung in Deutschland zu befördern, damit die Bevölkerung keine Stoffe frembder Nation kaufen müsse und das Geld inn Teütscher Nation behalten werden möcht[e]. Die Obrigkeit habe dafür Sorge zu tragen, dass im Inland genügend Wolle für die Tuchproduktion zur Verfügung stände, und müsse deshalb verhindern, dass größere Mengen deutscher Wolle inn frembde Nation verfürt werden.140 136 Entwurf einer Reichsregimentsordnung vom 18. Mai 1495. In: Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I. Band 5: Reichstag von Worms 1495 Band I/1: Akten, Urkunden und Korrespondenzen. Bearb. von Heinz Angermeier. Göttingen 1981 (Deutsche Reichstagsakten. Mittlere Reihe. Band 5), S. 335, 342. 137 In der Vorrede der RPO 1530 wird ebenso wie in anderen Reichsgesetzen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zwischen „Deutscher Nation“ und dem „Heiligen Römischen Reich“ differenziert (siehe oben Anm. 93). Romischer Keyserlicher Maiestat Ordenung und Reformation guter Pollicei im Heyligen Römischen Reich Anno M.D.XXX. zu Augspurg uffgericht. Nach der Vorrede soll die Ordnung zu fürderst Gott dem Allmechtigen zu ehr und lob / gemeyner Christenheyt und Deutscher Nation zu wolfart / frid und eynigkeyt / auch dem heyligen Römischen Reich zu nutz auffnemen und gedeihen reychen möcht. Auch im Zusammenhang mit der Bedrohung durch die Türken wird zwischen Christenheit, Reich und Nation differenziert; so insbesondere in § 13 der Ordnung des gemeinen Pfennigs vom 7. August 1495: Ob sich yemand in Hilff, Rat oder Anschleg der Türcken oder ander, so mit der Tat oder in ander Weiß wider die Christanhait, das Reich oder die Nacion, geben wurden, dieselben söllen auß dem Reich geschlossen, ir Hab und Gut confisciert und dermassen offentlich publicirt werden. Quellensammlung. Bearb. von Zeumer (wie Anm. 93), Nr. 176, S. 296. 138 Vorrede Kaiser Karls V. zur RPO von 1530: Als nemlich so wirt durch die gülden dücher / sammat / damascken / athlaß / frembde dücher / köstliche bareten / perlin / untzgold / der man sich jetzo zu köstlicheyt der kleydung gebraucht / eyn überschwencklich gelt auß Deutscher Nation gefürt / solche köstlicheyt der kleydung wirt auch durch auß also unmässig gebraucht / daß under dem Fürsten und Graffen / Graffen und Edelmann / Edelmann und Burger / Burger und Bawerßmann keyn underschiedt erkant werden mag. 139 Beide Aspekte (Erhalt der ‚nationalen Wirtschaftskraft‘ und Aufrechterhaltung der ständischen Kleiderordnung) finden sich auch in Art. 9 RPO 1548 und Tit. 9 RPO 1577. Art. 10 § 1 RPO 1530 wurde übrigens nahezu wörtlich in die bereits erwähnte «Württembergische Polizeiordnung» vom 30. Juni 1549 übernommen: Von paursleüten auf dem land. Vnd erstlich setzen, ordnen vnnd wöllen wir, das der gemein paursman vnnd arbeit leüt oder taglöner auff dem land kein andere tücher, dann einlendische, so in teütscher nation gemacht, […] tragen […] sollen. Zit. nach Wüst: Die „gute“ Policey (wie Anm. 127), S. 501, 503. 140 Art. 21 § 4 RPO 1548 Verkauffung der Wüllen Tücher / gantz / oder zum außschnitt mit der Elen. […] Nach dem auch inn Teütscher Nation gute Tücher gemacht werden / das man frembder Nation

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Erneut griff der «Augsburger Reichsabschied» von 1555 diese Thematik angesichts des grossen Mißbrauchs eigennützigen Vorkauffs und Verführung der Wollen in fremde Nation auf (§ 135) und ergänzte sie um ein strafbewehrtes Verbot des Verkaufs größerer Mengen einheimischer Wolle ins Ausland, das die Beschlagnahme der verkauften Ware sowie die Zahlung einer Geldstrafe in Höhe des doppelten Wertes der Ware vorsah (§ 136).141 Ergänzt wurde diese Regelung in § 178 des «Augsburger Reichsabschieds» von 1566 sowie in Tit. 22 §§ 1f. RPO 1577: Unter Berufung auf die nachtheiligen schäden der Teutschen Nation wurden die örtlichen Obrigkeiten aufgefordert, zum gemein[en] nutz, insbesondere damit die einwoner Teutscher Nation an irer narung […] befürdert würden, die Ausfuhr größerer Mengen von Wolle in frembde Nation zu verhindern.142 Tücher wol entrathen / und das gelt / so für dieselbigen frembde Tücher gegeben / inn Teütscher Nation behalten werden möcht. So wöllen wir den Oberkeyten hiemit aufferlegt unnd befolhen haben / inn dem gute Ordnung fürzunemen / damit die Wüllen weber an wollen nit mangel leiden / sonder dieselbigen umb eynen zimlichen kauff bekommen mögen / und die wollen nit also mit grossen hauffen inn frembde Nation verfürt werde. 141 Abschied des Augsburger Reichstags vom 25. September 1555. In: Quellensammlung. Bearb. von Zeumer (wie Anm. 93), Nr. 189, §§ 135f., S. 341ff. § 136 lautet: Nachdem im Heil. Reich Teutscher Nation gute Wüllen-Tücher gemacht wurden, also daß man fremder Nation Tücher wohl entrathen und das Geld, so für dieselbige fremde Tücher gegeben, in Teutscher Nation behalten möchte, daß sie in dem solche gute Ordnung fürnehmen solten, damit die Wullnweber an Wollen nicht Mangel litten, sondern dieselbige um einen ziemlichen Kauff bekommen möchten, und die Wolle nicht also mit Hauffen in fremde Nation verführt würden, daß dessen doch unangesehen der schädlich und verderblich Mißbrauch des Vorkauffs und Verführung der Wollen je länger je mehr überhand nehme, dergestalt daß nicht allein durch solche Verführung der Wollen in fremde Nation die Welschen Tücher und Wahr dadurch gefälscht und folgends in der Teutschen Nation mit doppeltem Werth bezahlet werden, sondern auch also in derselben Nation vertheuret, daß kein Meister des Wüllen-Handwercks zu gleichmässigen Kauff der Wollen mehr kommen möge, derowegen die inländische Tuch steigen, der gemeine Mann dardurch zu seiner Nothdurfft beschwert und dannoch gedacht Handwerck in die Länge und zuletzt in endlichen Abfall gerathen müsse […]. Dieweil […] setzen, ordnen und wollen, daß ein jeder, was Würden, Stands oder Wesens der sey, so viel ihn diese unser Policey betrifft, betreffen oder belangen mag, derselbigen würckliche Vollnziehung thue, sich deren gemäß halte und gehorsamlich gelebe, auch hinfür niemand, wer der in- oder ausserhalb des Reichs sey, einige Wollen bey Verlust derselben Wollen und dann einer zweyfachen oder gedoppelten Geld-Straff, so viel dieselbig Wolle werth ist, aus dem Heil. Reich Teutscher Nation mit Hauffen verkauffe, verführe, vertreibe oder verhandele, sondern daß solche Wollen im selbigen Reich Teutscher Nation behalten und dem inländischen Handwerck der Geschlachtwander, Wandmächer, Wullnweber oder andern, die dieselbige zum Tuchweben oder sonst zu andern nutzbarlichen Sachen verarbeiten und gebrauchen, um ein ziemlichs verkaufft und dardurch dasjenig, so einem grossem Theil Teutscher Nation hochnützlich und ersprießlich, gefördert werde, alles bey Pön und Straff, in obangeregter Policey-Ordnung und Constitution verleibt und begriffen, auch der Kayserl. Majestät, Unsere und des Reichs schwere Ungnad zu vermeiden. 142 Art. 22 § 1 RPO 1577: Wie es mit verkauffung und verführung der Wollen […] zuhalten. Wann uns auch fürkommen / daß unangesehen in hievor beschlossener unser / und deß Reichs außgekündter Policeyordnung / gemeinen Ständen aufferlegt und befohlen / gute ordnung fürzunemen / damit die Wüllenweber an Wollen nit mangel leiden / sonder dieselbigen umb ein zimlichen kauff bekommen mögen / und die Wollen nit mit grossen hauffen in frembde Nation verführet würden / Nicht destoweniger solche ubermässige verführung / seithero on gegebene maß / zu grossem abgang der Manschafft an vielen



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Die ständige Wiederholung dieser Regelungsmaterie über mehrere Jahrzehnte weckt zwar Zweifel hinsichtlich der Effektivität der einschlägigen Reichsgesetze, gleichzeitig belegt sie aber auch das hartnäckig verfolgte Regelungsanliegen, die ‚nationale Wirtschaftskraft‘ zu stärken oder wenigstens zu erhalten.143 Mit ähnlichen Argumenten waren 1548 zudem ein Ausfuhrverbot für ungemünztes oder unbearbeitetes Silber sowie ein Einfuhrverbot für frembde böse Müntz aus andern Landen oder Nation erlassen worden.144 Auch hier galt die Sorge, dass ungemünztes deutsches Silber gegen ‚schlechte‘ fremde Münzen eingetauscht werde, in erster Linie dem Erhalt der ‚nationalen Wirtschaftskraft‘.145 orten / auch sonst anderen nachtheiligen schäden der Teutschen Nation fürgangen / und aber auch in solchem Wollenkauff / nit wol ein gemein general durchgehend Constitution und satzung / die in allen orten statt haben / und gehalten werden köndte / auffgericht und würcklich vollnzogen werden mag / jedoch / und damit dannoch der gemein nutz bedacht / und die einwoner Teutscher Nation an irer narung / wie billich beschicht / befürdert würden […]. Bereits seit dem Reichsabschied von 1566 war die konkrete Ausgestaltung dieser Materie den Reichsständen überlassen. Nicht richtig ist daher die Aussage von Härter: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung (wie Anm. 124), S. 61, 85, dass erst im Reichsabschied von 1603 den Reichsständen in dieser Frage die Entscheidungskompetenz übertragen worden sei. Abschied der Römischen Kayserlichen Majestät, und gemeiner Ständ, auf dem Reichs-Tag zu Regenspurg, Anno 1603. auffgericht. In: Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Welche von den Zeiten Kayser Conrads des II. bis jetzo, auf den Teutschen ReichsTägen abgefasset worden sammt den wichtigsten Reichs-Schlüssen, so auf dem noch fürwährenden Reichs-Tage zur Richtigkeit gekommen sind. Hgg. von Heinrich Christian von Senckenberg u. a. Band 3. Frankfurt a. M. 1747, S. 498, 512 (die Ausfuhr von Wolle ist in §§ 61ff. geregelt). 143 Vgl. auch Härter: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung (wie Anm. 124), S.  61, 123 mit Hinweis auf den Schutz des einheimischen Gewerbes und die Sicherung der Rohstoffbasis. 144 Kaysers Caroli V. Edict, worin die Verhandlung ungemüntzt / oder ungewercktes Silbers aus dem Reiche Teutscher Nation verboten wird / und was deme mehr anhängig / de Anno 1548. In: Das Teutsche Reichs-Archiv in welchem zu finden I. Desselben Grund-Gesetze und Ordnungen […]. Hgg. von Johann Christian Lünig u. a. Band 1. Leipzig 1710, S. 497, 498: Nachdem wir aber befinden, daß dem Reich teutscher Nation / eine zeither / mit Verführung des ungemüntzten Silbers / und Einbringung frembder ausländischer Müntz / allerhand beschwerlicher Nachtheil zugestanden. […] Und aber durch solche und dergleichen verbotene hochstrafliche Handlungen / nit allein der gemein Nutz höchlich verletzt / sondern auch männiglich hohes und niedern Stands […] dardurch mercklichen vernachtheilt und beschweret worden. […] So haben wir uns mit Churfürsten / Fürsten / und gemeinen Ständen / und der abwesenden Botschafften / zu Nutz und Wohlfahrt des heiligen Reichs / vereint und verglichen […]. Ordnen und setzen auch hiemit / das fürhin niemands / wer der / in / oder ausserhalb des Reichs sey / bei Verlierung und confiscation seiner Haab und Güter / kein ungemüntzt oder ungewerckt Silber / aus dem Reich teutscher Nation, führen / vertreiben / oder verhandlen / oder auch einige fremde böse Müntz / aus andern Landen oder Nation bringen und ausgeben. Eine Vorläuferregelung findet sich schon in § 49 der Reichsmünzordnung von 1524; Carl des V. Müntz-Ordnung zu Eßlingen in dem Jahr 1524 mit Anmerckungen. In: Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede Band 2. Hg. von von Senckenberg (wie Anm. 129), S. 261, 266f. 145 Dieses Motiv dürfte auch hinter den Bemühungen um eine reichsweite Vereinheitlichung des Münzwesens gestanden haben, die dazu geführt hat, dass mit Hilfe der Reichsmünzordnungen eine Kompatibilität der unterschiedlichen Systeme erreicht wurde. Dazu Schmidt: „Aushandeln“ oder „Anordnen“ (wie Anm. 102), S. 95, 112f.

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Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass in den Reichspolizeiordnungen selbst deutsche Tugenden zur Begründung einzelner Verbote herangezogen wurden: So wird im Zusammenhang mit dem Verbot des übermäßigen Alkoholgenusses (Art. 8 §§ 1f. RPO 1530 Von zutrincken) ausgeführt, für welche Eigenschaften die Deutschen berühmt seien, nämlich für Mannhaftigkeit, Gastfreundschaft und Geselligkeit, womit sich übermäßiges Trinken, das die Ursache vieler schwerer Verbrechen sei, nicht vereinbaren lasse: Unnd nach dem auß trunckenheyt / wie man täglich befindet / vil lasters / übels und unradts entsteht / […] darauß Gottslesterung / mort / todtschleg, ehebruch und dergleichen übelthaten gevolgt / unnd noch zu dem / daß etwan durch trunckenheyt die heymlicheyten / so billich verschwigen / offenbart werden / auch solch laster den Deutschen / deren mannheyt von alters hoch berümpt / bey allen frembden Nationen verächtlich. Deßgleichen daß zu vil malen inn kriegs leuffen / dardurch zwischen den kriegs leuten zwitracht und meuterei entstanden / auch gegen den hauptleuten ungehorsam geberet / darzu werden dardurch alle zerung erhöhet / und ehrliche gastung und gesellschaft (darvon etwan die Deutschen fürnemlich gebreißt worden) gemindert und vermitten […].146

Diese Stelle spiegelt ebenso wie das Bemühen, den Import teurer Luxusartikel aus dem Ausland zu verhindern, einen zeitgenössischen Diskurs wider, nämlich die Umkehr des von den italienischen Humanisten stark gemachten antiken Konzepts eines Gegensatzes von Zivilisation und Barbarei durch die deutschen Humanisten: Diese hefteten nun ihrerseits den Romanen die Attribute der luxuria (wie Maßlosigkeit, Verschwendung, Korruption usw.) an und kontrastierten diese mit der integritas der Deutschen (also mit Eigenschaften wie Bescheidenheit, Gastfreundschaft und Mannhaftigkeit).147 Dieser Punkt soll hier nicht vertieft werden – man kann bei Caspar Hirschi alles Wesentliche zur „Nationalisierung dieser Stereotype“ nachlesen.148 Fragt man abschließend nach dem Zweck der nationalen Rhetorik in den Reichsgesetzen, so scheint diese aus der Sicht des Kaisers ein probates Mittel gewesen zu sein, um die Unterstützung der Reichsstände auf bestimmten Feldern der Politik zu gewinnen.149 Aber auch aus der Sicht der Stände dürfte es attraktiv gewesen sein, sich auf diesen Feldern dem Appell an die ‚deutsche Nation‘ anzuschließen. Denn solange eine militärische Bedrohung oder wirtschaftliche Gefahren von außen 146 Entsprechend auch Art. 8 §§ 1f. RPO 1548 und Tit. 8 §§ 1f. RPO 1577. Ohne Bezug zur ‚deutschen Nation‘ findet sich das ‚Verbot des Zutrinkens‘ auch schon im Reichsabschied von 1512, IV § 5. In: Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede Band 2. Hg. von von Senckenberg (wie Anm. 129), S. 136, 142. Vgl. auch noch Georg Lauterbeck: Regentenbuch. Hg. von Michael Philipp. Hildesheim u. a. 1997. ND der Ausg. Frankfurt a. M. 1600 (Historia Scientiarum: Geschichte und Politik), S. 273f. 147 Hirschi: Das humanistische Nationskonstrukt (wie Anm. 2), S. 355, 374ff. 148 Hirschi: Vorwärts in neue Vergangenheiten (wie Anm. 116), S. 362, 382 und ausführlich Ders.: Wettkampf der Nationen. Konstruktion einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005, S. 175ff., 251ff., 320ff. 149 So auch Hirschi: Vorwärts in neue Vergangenheiten (wie Anm. 116), S. 362, 384ff.; Ders.: Das humanistische Nationskonstrukt (wie Anm. 2), S. 355, 388f.



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bestanden oder der innere Frieden gefährdet war, lag der Schulterschluss durchaus in ihrem Interesse. Bei der Reichspolizeigesetzgebung kam noch hinzu, dass die Stände die reichsrechtlich mit ihrem Einvernehmen erlassenen Regelungen mittels eigener Gesetzgebung umsetzen und selbst vollstrecken konnten. Sie waren somit auf drei Ebenen einbezogen: durch ihre Beteiligung beim Aushandeln der einzelnen Materien auf dem Reichstag, durch deren Umsetzung als territoriale Gesetzgeber und auf der Ebene der Vollstreckung durch das Tätigwerden der eigenen Justiz- und Exekutivorgane.150 Und nicht zuletzt dürfte die Berufung auf den Schutz des ‚deutschen Vaterlandes‘151 auch der Legitimation der Landesgesetzgebung gegenüber der eigenen Bevölkerung gedient haben.152

IV Die Editionen der frühmittelalterlichen Leges im 16. Jahrhundert als Ausgangspunkt der Konstruktion eines ‚germanisch-deutschen‘ Rechts? Ausgangspunkt dieses letzten Abschnitts ist die in Vorbereitung dieser Tagung aufgeworfene Frage, ob die ersten Editionen der frühmittelalterlichen Leges im 16. Jahrhundert den Beginn einer Überführung des Ius proprium in das Ius patrium darstellen und damit am Anfang der Konstruktion eines ‚germanisch-deutschen‘ Rechts stehen.153 150 So auch Schmidt: „Aushandeln“ oder „Anordnen“ (wie Anm. 102), S. 95, 100f. Vgl. weiter Weber: Die Reichspolizeiordnungen (wie Anm. 123), S. 36ff. 151 Die Verbindung zwischen ‚Deutscher Nation‘ und ‚Vaterland‘ kommt um 1500 auf, findet jedoch erst seit Mitte des 16. Jahrhunderts stärkere Verbreitung; Nachweise bei Weisert: Die Reichstitel bis 1806 (wie Anm. 9), S. 441, 468ff. So heißt es etwa im «Augsburger Reichsabschied» vom 25. September 1555, dass die Regelung in § 4 dem Heiligen Reich, sonderlich dem geliebten Vatterland Teutscher Nation, zu Ehren / Nutz / Wolfahrt usw. diene, und dass § 5 zu Lob und zu Ehren […] des Heil. Reichs Teutscher Nation, unsers geliebten Vatterlands erlassen worden sei. § 13, der die Ausdehnung des Landfriedens auf Religionsstreitigkeiten regelt, endet mit den Worten: Solche nachdenckliche Unsicherheit aufzuheben, der Ständ und Unterthanen Gemüther wiederum in Ruhe und Vertrauen gegen einander zu stellen, die Teutsche Nation, unser geliebt Vatterland vor endlicher Zertrennung und Untergang zu verhüten, haben wir uns mit der Churfürsten Räthen, und Geordneten, den erscheinenden Fürsten und Ständen, der Abwesenden Bottschafften und Gesandten, und sie hinwieder sich mit uns vereinigt und verglichen. Die Bezeichnung des Heil. Reich[es] Teutscher Nation als Vaterland findet sich auch in § 135. Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede Band 3. Hgg. von von Senckenberg u. a. (wie Anm. 142), S. 14, 15–17, 37. 152 Vgl. dazu Weber: Die Reichspolizeiordnungen (wie Anm. 123), S. 38f. Vgl. weiter Schmidt: „Aushandeln“ oder „Anordnen“ (wie Anm. 102), S. 95, 115, wonach „die dezentrale Umsetzung“ u. a. der Reichspolizeimaterien „für ein reichsweit einheitliches oder zumindest ähnliches Handeln oder Verhalten sorgte“ und die „Landesgesetze als Symbole neuzeitlicher Staatlichkeit […] häufig auf reichsgesetzlichen Vorgaben“ basierten. 153 Die These, dass der Beginn der ‚germanisch-deutschen‘ Rechtsgeschichte und der Konstruktion eines ‚germanisch-deutschen‘ Rechts bereits mit den Humanisten anzusetzen sei, findet sich bei Ger-

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Das frühneuzeitliche Interesse an älteren Geschichtsquellen154 und insbesondere die Tacitus-Rezeption,155 mit deren rechtshistorischen Folgen sich vor allem Dietmar Willoweit befasst hat,156 können jedoch bestenfalls als eine Art Vorstufe einer deutlich später einsetzenden inhaltlichen Auseinandersetzung mit ‚germanisch-deutschen‘ Rechtsinstituten von Seiten gelehrter Juristen verstanden werden. Denn im Zentrum der Tacitushard Dilcher: Germanisches Recht. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hgg. von Cordes u. a. Band 2 (wie Anm. 61), Sp. 241–252, hier Sp. 243: „Das Bewusstsein einer Gemeinsamkeit [Germanischen Rechts] findet sich erst wieder bei den Humanisten des 16. Jh.s […]. Sie sehen, in Abgrenzung gegenüber dem im Rahmen der Rezeption vordringenden Recht […], in den heimischen Partikularrechten ein ‚vaterländ. Recht‘ (ius patrium), das in den frühma. ‚Leges barbarorum‘ […] begonnen habe. Auf Grund von Ed[itionen] dieser Rechte (J. Sichard und B. J. Herold) und weiterer partikularer Rechtsquellen entwickelte sich eine Universitätswissenschaft dieses Rechts, die für Dtld. durch H. Conrings Werk ‚De origine iuris germanici‘ eine hist.-theoret. Begründung erhielt.“ 154 Hierzu gehört etwa die Rezeption der Geschichtswerke Ottos von Freising (gest. 1158); dazu Brigitte Schürmann: Die Rezeption der Werke Ottos von Freising im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Stuttgart 1986 (Historische Forschungen. Band 12). Weiter sind die von Konrad Peutinger (1465–1547) im Jahr 1515 herausgegebenen Editionen der Goten-Geschichte des Iordanes («De rebus Gothorum») und der Langobarden-Geschichte von Paulus Diaconus («De gestis Langobardorum») zu nennen, die Peutinger um einen Abriss über die Völkerwanderungszeit ergänzte. Dazu Uta Goerlitz: „…sine aliquo verborum splendore…“. Zur Genese frühneuzeitlicher Mittelalter-Rezeption im Kontext humanistischer Antike-Transformation: Konrad Peutinger und Kaiser Maximilian I. In: Historiographie des Humanismus. Literarische Verfahren, soziale Praxis, geschichtliche Räume. Hgg. von Johannes Helmrath u. a. Berlin/Boston 2013 (Transformationen der Antike. Band 12), S. 85–110, hier S. 90f. 155 Einen Überblick über die Tacitus-Rezeption seit dem Mittelalter gibt Dieter Mertens: Die Instrumentalisierung der „Germania“ des Tacitus durch die deutschen Humanisten. In: Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Hgg. von Heinrich Beck u. a. Berlin 2004 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Band 34), S. 37–101. Zwischen 1472 und 1519 wurden ca. 6.000 Exemplare der «Germania» in Europa gedruckt, wobei diese seit der Separatausgabe von Conrad Celtis (1500) vor allem in deutschen Offizinen zum Druck kam (ebd., S. 61). Mertens (S. 39) sieht in der Rezeption der «Germania» den wichtigsten Vorgang für die Gleichsetzung von ‚germanisch-deutsch‘ („Inanspruchnahme der Germanen […] als Deutsche und damit als die Vorfahren der Deutschen des 15. und 16. Jahrhunderts“). Zur Bedeutung der Tacitus-Rezeption für den Reichspatriotismus Stolleis: Reichspublizistik und Reichspatriotismus (wie Anm. 118), S. 21, 22 (nach Stolleis hat sich die «Germania» zum „Kultbuch des Nationalgefühls“ entwickelt). 156 Dietmar Willoweit: Von der alten deutschen Freiheit. Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der Tacitus-Rezeption. In: Vom normativen Wandel des Politischen. Rechts- und staatsphilosophisches Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstags von Hans Ryffel. Hg. von Erk Volkmar Heyen. Berlin 1984, S. 17–42. Nach Willoweit (S. 22–28) zielten sowohl die deutschen Übersetzungen als auch die frühneuzeitlichen Kommentare zur «Germania» (jedenfalls überwiegend) darauf ab, die rechtlichen Aussagen des Tacitus-Textes mit der politischen Ordnung der Zeit in Einklang zu bringen. So erschienen beispielsweise die „ständischen Rechte“ als „Sinnbild der alten [germanischen] Freiheit“ und die bei Tacitus für die Rechtsprechung verantwortlichen principes und comites seien als „direkte Vorgänger der […] überall tätigen Vögte, Schultheißen und sonstigen lokalen Richter“ angesehen worden; ebd., S. 26f. (Zitat auf S. 27) mit Bezug auf die «Germania», c. 37 (libertas Germanorum) sowie c. 12 (zu den Volksversammlungen und der Rechtsprechung der Germanen). Zu Letzterem auch Mertens: Die Instrumentalisierung der „Germania“ (wie Anm. 155), S. 37, 76. Zur „germanischen“ bzw. „deutschen“ Freiheit auch Hirschi: Das humanistische Nationskonstrukt (wie Anm. 2), S. 355, 384ff.



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Rezeption standen nicht primär rechtliche Fragen,157 sondern vor allem die Konstruktion von Herkunft und Heimat als Grundlage eines ‚germanisch-deutschen‘ Vaterlands,158 d.h. die Geschichte eines ‚germanisch-deutschen‘ Volkes, das lange vor der Entstehung des fränkischen und des deutschen Reiches existierte und dessen geographische Ausdehnung in Anlehnung an das Gebiet der «Germania» bestimmt werden konnte.159 In diesen Kontext gehört auch die Editio princeps der von dem fränkischen Gelehrten Einhard im 9. Jahrhundert verfassten «Vita Karoli Magni», die 1521 durch Hermann von Neuenahr d. Ä. (1492–1530) besorgt wurde.160 Der Edition vorangestellt waren nicht nur ein kurzer Abriss über die Herkunft und die Siedlungsplätze der Franken, sondern auch einige Beispiele aus dem volkssprachigen Wortschatz der fränkischen Leges, wobei Neuenahr diese Beispiele als Beleg dafür heranzog, dass die Franken ‚Deutsche‘ gewesen seien (Ex suis legibus testimonia Francos fuisse Germanos).161 Im Vergleich zu der Aufmerksamkeit, die der «Germania» zuteil wurde, führten die ersten Editionen der frühmittelalterlichen Leges geradezu ein Schattendasein. 1530 gab der Humanist Johannes Sichardt (1499–1552) in Basel als erster eine gedruckte Sammlung mit Auszügen aus den Rechten der ripuarischen Franken, der Alemannen und Bayern heraus.162 Über die Motive Sichardts erfahren wir aus der ausgesprochen 157 So auch Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts Band 1 (wie Anm. 83), S. 170f.: „Der im 16. Jahrhundert aus humanistischen und reformatorischen Quellen aufsteigende Patriotismus, belegt vor allem durch die intensive Rezeption von Tacitus’ Germania, enthielt gleichermaßen historischpolitische, kulturelle und religiöse Bestandteile.“ 158 Dazu Mertens: Die Instrumentalisierung der „Germania“ (wie Anm. 155), S.  37, 94 (mit Hinweis auf die von Melanchthon beschriebene „Vaterlandsliebe“ im Widmungsbrief seiner 1557 für den Schulunterricht aufbereiteten «Germania»-Ausgabe). 159 Mertens: Die Instrumentalisierung der „Germania“ (wie Anm. 155), S. 37, 80ff. Mit dieser Vorstellung von einer origo aller Deutschen war auch eine Absage an die Herkunftssagen der einzelnen gentes der Franken, Sachsen usw. verbunden. Vgl. dazu auch Haubrichs: ‚die tiutsche und die andern zungen‘ (wie Anm. 13), S. 21, 35. Differenzierend Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 14), S. 304f. 160 Hermann von Neuenahr: Vita et gesta Karoli Magni. Köln 1521. Dazu Johannes Klaus Kipf: Wann beginnt im deutschen Sprachraum die Mittelalterrezeption? Vergleichende Betrachtungen zu Rezeptionsweisen volkssprachiger und lateinischer mittelalterlicher Literatur (ca. 1450–1600). In: Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur. Hgg. von Mathias Herweg und Stefan Keppler-Tasaki. Berlin/Boston 2012 (Trends in Medieval Philology. Band 27), S. 15–49, hier S. 41–47. 161 von Neuenahr: Vita et gesta Karoli Magni (wie Anm. 160), Bl. C 2r – C 3r unter Nennung zahlreicher volkssprachiger Begriffe aus der «Lex Ribuaria» und der «Lex Salica». Dazu auch Kipf: Wann beginnt im deutschen Sprachraum die Mittelalterrezeption? (wie Anm. 160), S. 15, 45. 162 Johannes Sichardus: Leges Riboariorum, Baioariorumque, quas vocant a Theoderico, rege Francorum latae. item Alemannorum leges, a Lothario rege latae. Basel 1530, 51 Bl. Das Urteil der Rechtshistoriker des 20. Jahrhunderts über diese Edition fiel sehr negativ aus, weil Sichardt stark in die Texte eingegriffen hatte. Dazu Guido Kisch: Johannes Sichardus als Basler Rechtshistoriker. Basel 1952 (Basler Studien zur Rechtswissenschaft. Band 34), S. 42f.; Rudolf Buchner: Textkritische Untersuchungen zur Lex Ribvaria. Leipzig 1940 (Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde [MGH]. Band 5), S. 95ff., 102; Bruno Krusch: Die Lex Bajuvariorum. Textgeschichte, Handschriftenkritik und Entstehung. Berlin 1924, S. 8ff.; Paul Lehmann: Iohannes Sichardvs vnd die

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dürftigen Vorrede wenig: Er entschuldigt sich für die Veröffentlichung der erschreckend einfach geschriebenen Texte und rechtfertigt die Edition damit, dass der Leser aus ihr etwas über die Sitten der Vorfahren (mores maiorum nostrorum) erfahren könne.163 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im Jahr 1530 war Sichardt Professor für Rhetorik in Basel; sein Jura-Studium bei Ulrich Zasius in Freiburg begann er erst kurze Zeit danach.164 Seit 1535 lehrte er als Rechtsprofessor in Tübingen und war dann einer der einflussreichsten Juristen im Herzogtum Württemberg (u. a. war er an der Abfassung des «Württembergischen Landrechts» von 1555 beteiligt).165 Sein Interesse als Editor in der Zeit bis 1530, also vor seiner juristischen Ausbildung und Karriere, galt keineswegs nur dem ‚germanisch-deutschen‘ Recht. Wie viele andere Humanisten seiner Zeit gab er ganz unterschiedliche Texte in den Druck und nicht selten dürfte die Auswahl dem mehr oder weniger zufälligen Auffinden einzelner Handschriften zu verdanken gewesen sein.166 So brachte Sichardt 1528 auch eine Quelle des römischen Rechts zum Druck, nämlich eine Ausgabe der «Lex Romana Visigothorum», die er fälschlich für den «Codex Theodosianus» hielt.167 In süddeutschen Humanistenkreisen mag man die erste Leges-Edition von 1530 zwar zur Kenntnis genommen haben,168 eine vertiefte Auseinandersetzung mit den enthaltenen Rechtsinstituten fand jedoch nicht statt. von ihm benvtzten Bibliotheken vnd Handschriften. München 1911 (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters. Band 4/1), S. 211f. 163 Dazu auch Felix Mundt: Beatus Rhenanus. Rerum Germanicarum libri tres (1531). Ausgabe, Übersetzung, Studien. Tübingen 2008, S. 573 f. (nach Mundt handelt es sich eher um eine „Blütenlese“ als um eine Edition im modernen Sinne). Ein tieferes Interesse an ‚germanischen‘ Rechtsinstituten lässt sich der Editio princeps nicht entnehmen. Ähnlich auch Kisch: Johannes Sichardus (wie Anm. 162), S. 37. 164 Missverständlich daher Schubert: Die deutschen Reichstage (wie Anm. 117), S. 278: „An den germanistischen Studien, die der Humanismus betrieb, nahmen Juristen schon das ganze 16. Jahrhundert über Anteil. – Nur als eines von vielen Beispielen sei hier die große Ausgabe von Volksrechten der ripuarischen Franken, der Alemannen und Baiern genannt, die der spätere Tübinger Rechtsprofessor Johann Sichardt 1530 veranstaltete.“ 165 Dazu und auch zum Folgenden Hagen Hof: Johann Sichardt (1499–1552). In: Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Eine biographische Einführung in die Geschichte der Rechtswissenschaft. Hgg. von Gerd Kleinheyer und Jan Schröder. Heidelberg 5. Aufl. 2008, S.  386–389; Roderich von Stintzing: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft 1. Abt. München/Leipzig 1880, S. 215ff. 166 Insgesamt brachte Sichardt in der Zeit zwischen 1526 und 1530 in 24 Bänden mehr als 100 Schriften (in der Mehrzahl zum ersten Mal) zum Druck. Dazu Kisch: Johannes Sichardus (wie Anm. 162), S. 30ff., 34f., 44; Lehmann: Iohannes Sichardvs (wie Anm. 162), S. 45–66. 167 Dazu Kisch: Johannes Sichardus (wie Anm. 162), S. 36f.; von Stintzing: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft (wie Anm. 165), S. 217f. 168 Zu nennen ist insbesondere Beatus Rhenanus: Rerum Germanicarum libri tres. Basel 1531. Rhenanus erwähnt an mehreren Stellen die «Lex Alamannorum» und die «Lex Baiuvariorum»; dazu Mundt: Beatus Rhenanus (wie Anm. 163), S. 206, 212, 216. Dass Rhenanus hierfür die Edition Sichardts nutzte, ist nicht unwahrscheinlich, da Rhenanus auch andere Handschriften von Sichardt erhielt (Mundt, S. 237) und beide Werke kurz hintereinander erschienen. Andererseits standen Rhenanus noch weitere Leges-Handschriften zur Verfügung (dazu Mundt, S. 573f., 576ff.). Vgl. weiter Dieter Mertens: „Landesbewusstsein“ am Oberrhein zur Zeit des Humanismus. In: Die Habsburger im deut-



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Fast 30 Jahre später folgte dann (wieder in Basel) die zweite Ausgabe der frühmittelalterlichen Leges durch Johannes Herold (1514–1567). Herold, der weder eine juristische Ausbildung absolviert noch einen anderen akademischen Grad erlangt hatte,169 plante eine umfassende Darstellung der deutschen Geschichte in 130 Bänden mit dem Titel «Vom Auffgang Teutscher Nation»170 und brachte 1557 als Teil dieses Gesamtplans nahezu alle frühmittelalterlichen Leges171 (mit Ausnahme des westgotischen Rechts) auf der Grundlage von Handschriften aus dem Kloster Fulda in den Druck.172 Seine Motive für die Veröffentlichung der frühmittelalterlichen Rechte benannte Herold sowohl in der lateinischen Widmungsvorrede seiner Edition als auch in einem Widmungsbrief in der im selben Jahr erschienenen Übersetzung des lateinischen Prodigienbuchs von Conrad Lycosthenes173 mit dem deutschen Titel «Wunderwerck Oder Gottes unergründtliches vorbilden».174 Danach waren für Herold die frühmittelalterlichen Leges Zeugnisse der Macht der Deutschen über andere Völker einschließlich der Römer.175 Besonders deutlich ergibt sich dies aus dem in Deutsch verfassten und dem «Wunderwerck» beigefügten Widmungsbrief an den Abt von Fulda, dem Herold dafür dankte, dass er ihm alle vhralt Fränkische schätz / whare vrkunden vonn achthundert järigem Teütschem wesen / zu bericht / rhum vnnd ehere unsers Vatterlands / […] vertrawt habe.176 In diesem Widmungsbrief zieht Herold die in den fränkischen Rechten schen Südwesten. Neue Forschungen zur Geschichte Vorderösterreichs. Hg. von Franz Quarthal. Stuttgart 2000, S. 199–216, hier S. 211–214. 169 Dazu Andreas Burckhardt: Johannes Basilius Herold. Kaiser und Reich im protestantischen Schrifttum des Basler Buchdrucks um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Basel/Stuttgart 1966, S. 99f. 170 Den Plan für die «Commentarii efflorescentis Germaniae» in 130 Bänden setzte Herold nicht um, sondern veröffentlichte lediglich Vorarbeiten zu diesem Werk, u. a. auch die frühmittelalterlichen Leges; dazu Burckhardt: Johannes Basilius Herold (wie Anm. 169), S. 161, 170f.; Heinz Holeczek: Herold, Johannes Basilius, In: Killy Literaturlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann Band 5. Berlin 2. Aufl. 2009, S. 334–335, hier S. 334. 171 Johannes Basilius Herold: Originvm ac Germanicarvm Antiqvitatvm Libri. Leges uidelicet, Sa­ licae Ripuariae Allemannorum Boioariorum Saxonum Vuestphalorum Angliorum Vuerinorum Thuringorum Frisionum Burgundionum Langobardorum Francorum Theutonum. Basel 1557. Die nächsten Ausgaben der Volksrechte (etwa Friedrich Lindenbrog: Codex Legum Antiquarum. Frankfurt a. M. 1613) folgten in Deutschland dann erst im 17. Jahrhundert. 172 Dazu Burckhardt: Johannes Basilius Herold (wie Anm. 169), S. 161ff.; Krusch: Die Lex Bajuvariorum (wie Anm. 162), S. 13ff.; Buchner: Textkritische Untersuchungen (wie Anm. 162), S. 102ff. 173 Conrad Lycosthenes (Conrad Wolffhart, 1518–1561) war seit 1542 Professor für Grammatik und Dialektik in Basel. Zu ihm und seinem Prodigienbuch Pia Holenstein Weidman und Paul Michel: Nachwort. In: Conrad Lycosthenes. Wunderwerck. Hgg. von Dens. Zürich u. a. 2007, S. DLXVff. 174 Johannes Herold: Wunderwerck Oder Gottes unergründtliches vorbilden. Basel 1557. ND Zürich 2007; Übersetzung des Werkes «Prodigiorum ac ostentorum chronicon» (1557) von Conrad Lycosthenes. 175 Herold: Originvm ac Germanicarvm Antiqvitatvm Libri (wie Anm. 171), Vorrede, Bg. † 3r. 176 Herold: Wunderwerck (wie Anm. 174), Zuschreiben an den Fürsten zu Fulda, Bg. a ijr. Dort heißt es weiter (Bg. a ijrf.): Es kan gwißlich / soll / noch mag einmal / nit on sonders ihr lob zu ewigen zeiten bedacht werde[n] / das sie die Satzungen / Rechte vnd Gebräuch vnserer vorältern der Säling / Ringtgäwer / Allmannen / Boier / Sagsen / Westfäling / Jnglier / Wherden / Thüringer / Friesen / Burgender / Langbardter vnd Francken / härfür gesucht / mir inn Truck zuuerförtigen befohlen. In diesem Zu-

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(«Lex Salica» und «Lex Ribuaria») enthaltenen Regelungen, nach denen die Buße für den Totschlag eines freien Franken 200 Schillinge betrug, während die Totschlagsbuße für einen Romanen mit nur 100 Schillingen veranschlagt war,177 als Beleg für eine Vormachtstellung der Deutschen heran: Do dise bücher yetzmals auch bezeügend die herrlicheyt vnnd macht der Teütschen / bey denen zur zeit diser Satzungen / die Römer selbs (die mit vngru[n]d sich der Herrschafft vnsers vatterlands berhümend) wenig mehr dann ein diener geschätzt worden. dann in aller straaff / eben die buß / so von eines verlötzte[n] Francken wegen vffgesetzt / des Rhömers halb / nun zu halben wherd gelanget vnd vffgehaben ward.178

Der Umstand, dass die frühmittelalterlichen Leges nicht in der Volkssprache aufgezeichnet, sondern in Latinische wort verdolmetscht worden waren, habe Justinian erst dazu gebracht, eine umfassende Sammlung des römischen Rechts in Auftrag zu geben (vngezweifelt / ein anlaß vnnd nachgedenckens g[e]bracht Justiniano dem Griechen / die Römische inn vergeß g[e]stellte / weytgsuchte / vmbschweyffiger jrer deütnuß halb spaltsinnige gsatz / wie sie jetzt vorhands / zesammen zestopple[n]).179 Trotz dieses Seitenhiebs auf das römische Recht180 geht es auch bei Herold nicht um die Konstruktion eines ‚germanisch-deutschen‘ Rechts, vielmehr dienten ihm die frühmittelalterlichen Leges in erster Linie als ein weiterer Beleg für seine These von der Vorrangstellung der Deutschen in Geschichte und Gegenwart.181 In der juristisammenhang (Bg. a ijv) stellt Herold auch abenteuerliche Überlegungen zur Herkunft der Namen der frühmittelalterlichen gentes an. Dazu Burckhardt: Johannes Basilius Herold (wie Anm. 169), S. 159. 177 LSal. XLIII: 1. Si quis ingenuus Francum a[u]t hominem barbarum occiderit, qui lege salica vivet, […] solidos CC culpabilis iudicetur. […] 7. Si vero Romanus homo possessor […] occisus fuerit, is qui eum occidisse convincitur […] solidos C culpabilis iudicetur. LRib. XXXVI: 1. Si quis Ribuarius advenam Francum interficerit, CC solidos culpabilis iudicetur. […]. 3. Si quis Ribuarius advenam Romanum interficerit, bis quinquagenus solidus multetur. Zu beiden Quellen: Die Gesetze des Karolingerreiches 714–911 Band 1: Salische und ribuarische Franken. Hg. von Karl August Eckhardt. Weimar 1934 (Germanenrechte. Texte und Übersetzungen. Band 2), S. 64f., 156f. 178 Herold: Wunderwerck (wie Anm. 174), Zuschreiben an den Fürsten zu Fulda, Bg. a ijv. Dazu auch Burckhardt: Johannes Basilius Herold (wie Anm. 169), S. 160. 179 Herold: Wunderwerck (wie Anm. 174), Zuschreiben an den Fürsten zu Fulda, Bg. a iijr. Dazu auch Hermann Nehlsen: Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter. Germanisches und römisches Recht in den germanischen Rechtsaufzeichnungen Band 1: Ostgoten, Westgoten, Franken, Langobarden. Göttingen u. a. 1972 (Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte. Band 7), S. 38f. 180 So auch Burckhardt: Johannes Basilius Herold (wie Anm. 169), S. 162. Zur Ablehnung des römischen Rechts durch die Humanisten auch Hirschi: Das humanistische Nationskonstrukt (wie Anm. 2), S. 355, 390f. mit weiteren Nachweisen. 181 So heißt es im dritten Buch des Wunderwercks (S. CCCXXX): Nun hatt Teüsch la[n]d sein erste vnd von yewelten här gebracht alte Fränckisch freyheit nie verloren / allweg behalten / auch in allen lande[n] von Mitnacht biß zu Mittag / zur Son[n]en Vff vn[d] Nidergang sein macht lang vnd weyt außgebreytet. Hirschi: Konzepte von Fortschritt und Niedergang (wie Anm. 106), S. 37, 47f. weist darauf hin, dass die deutschen Humanisten auch die translatio imperii (nebst der These, dass Karl der Große ein Deutscher war) als Ausweis eines Vorrangs der Deutschen vor anderen Nationen anführten.



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schen Literatur des 16. Jahrhunderts haben jedenfalls beide Editionen keine sichtbaren Spuren hinterlassen.182 Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch für Frankreich beobachten, wo die ersten Editionen der «Lex Salica» Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen.183 Die Forschung zur «Lex Salica» setzte dort zwar noch Ende des 16. Jahrhunderts ein, beschäftigte sich aber in erster Linie mit der Deutung des Namens ‚Salica‘ sowie mit Ort und Zeit der Abfassung des salfränkischen Rechts. Auch hier ging es (vom Bezug auf die aus dem salfränkischen Recht abgeleitete männliche Thronfolge abgesehen) nicht um die Inhalte, sondern lediglich um den Nachweis, „im eigenen Land alte Gesetze zu haben“.184 In Deutschland beschäftigte sich erst ein Jahrhundert nach Sichardt ein Jurist intensiver mit den frühmittelalterlichen Leges. Es handelt sich um Hermann Conring (1606–1681), der als „Begründer der deutschen Rechtsgeschichte“ gilt.185 In seinem berühmten Werk «De Origine Iuris Germanici» (1643) widmete Conring den Rechten in ‚germanischer‘ und vor allem fränkischer Zeit zwar insgesamt 14 Kapitel,186 sein Urteil über die frühmittelalterlichen Leges fiel jedoch bescheiden aus: „Was die Gesetze angeht, die von den Franken aufgezeichnet wurden, kann man wirklich sagen, daß es zu wenige waren. Denn welch winzigen Teil des Lebens und der Geschäfte berührten sie, indem sie sich allein mit den Verbrechen und nicht einmal mit allen befassten?“187 Für Conring war erst mit den Rechtsbüchern, d. h. „vom 13. Jahrhundert an […] Raum für bessere Gesetze gegeben“.188 182 Auch der Herold-Biograph Andreas Burckhardt weist darauf hin, dass bei den Zeitgenossen „das historische Interesse für den Inhalt der neuen rechtsgeschichtlichen Quellen geringer war als die patriotische Begeisterung über den vermehrten Ruhm, welcher der Zivilisation der Vorfahren dank dieser frühen Kodifikationen zukam“; Burckhardt: Johannes Basilius Herold (wie Anm. 169), S. 165. Vgl. auch Hirschi: Das humanistische Nationskonstrukt (wie Anm. 2), S. 355, 387. Nur am Rande sei darauf verwiesen, dass Goldast von Haiminsfeld: Reichssatzung (wie Anm. 120) in der Vorrede zu seinem Werk die Leges-Ausgabe von Herold erwähnt. 183 In Frankreich erschienen zunächst (vor 1557) einzelne Ausgaben und dann im Jahre 1573 eine Gesamtausgabe der Leges. Herausgeber war Jean du Tillet (Tilius), Bischof von Meaux. Dazu Buchner: Textkritische Untersuchungen (wie Anm. 162), S. 100f. 184 Dazu insgesamt Hans-Achim Roll: Zur Geschichte der Lex Salica-Forschung. Aalen 1972 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF. Band 17), S. 3ff. (Zitat auf S. 6). 185 Relativierend zu dieser auf Otto Stobbe zurückgehenden Bezeichnung Conrings Michael Stolleis: Conring, Hermann (1606–1681). In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hgg. von Cordes u. a. Band 1 (wie Anm. 19), Sp. 882–884, hier Sp. 883. Dazu auch Ders.: Hermann Conring und die Begründung der deutschen Rechtsgeschichte. In: Hermann Conring. Der Ursprung des deutschen Rechts. Übers. von Ilse Hoffmann-Meckenstock. Hg. von Michael Stolleis. Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens. Band 3), S. 253–267, hier S. 262–267. 186 Hermann Conring: De Origine Iuris Germanici. Commentarius Historicus. Helmstedt 1643, c. 1–14. 187 Hermann Conring: Der Ursprung des deutschen Rechts. Übers. von Ilse Hoffmann-Meckenstock. Hg. von Michael Stolleis. Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens. Band 3), S. 231f. 188 Conring: Der Ursprung des deutschen Rechts. Hg. von Stolleis (wie Anm. 187), S. 232.

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Zudem ging es Conring primär um eine Darstellung der rechtshistorischen Entwicklung seit dem Frühmittelalter, wobei sich seine am Ende des Werkes aufgestellte Forderung nach neuen Gesetzen keineswegs auf ein ‚germanisch-deutsches‘ Recht bezieht, vielmehr wird das durch die praktische Rezeption des römischen Rechts entstandene ‚Mischrecht‘ gerade anerkannt.189 Die bestehende Rechtszersplitterung und die Vielzahl der partikularen Rechte, die Rechtsunsicherheit durch das Zusammenspiel von Ius commune und Ius particulare sowie die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Rechtsanwendung werden in den Kapiteln 34 und 35 zwar stark kritisiert,190 Conrings Reformvorstellungen beziehen sich jedoch nicht auf konkrete Inhalte, sondern erstens auf die Kompetenzverteilung zwischen dem Reich und den Territorien, zweitens auf die Einbeziehung gelehrter Juristen bei der Ausgestaltung der neuen Gesetze und drittens auf die Sprache der Gesetze, die Deutsch sein sollte.191 An die Konstruktion eines ‚germanisch-deutschen‘ Rechts als Ersatz für das ‚fremde‘ römische Recht dachte Conring noch nicht; daran wurde erst im Anschluss an Christian Thomasius gearbeitet.192

V Fazit und Ausblick Was bleibt als Fazit dieses Überblicks über rund 500 Jahre Rechtsgeschichte? Zusammenfassend lässt sich zu den drei Abschnitten zunächst festhalten, dass der Beitrag der spätmittelalterlichen Rechtsbücher zur Entstehung eines ‚su­­ pragentilen‘ Bewusstseins von der Forschung bislang nicht hinreichend gewürdigt wurde, obwohl die hier behandelten spätmittelalterlichen Rechtsbücher weit verbrei189 Nach Conring: Der Ursprung des deutschen Rechts. Hg. von Stolleis (wie Anm. 187), S. 226f. haben „die Deutschen […] die römischen Gesetze […] in völlig freier Entscheidung anerkannt und in Gebrauch genommen, und zwar nur so weit sie offensichtlich [ihren] Verhältnissen und [ihrer] Verfassung nützen“. In diesem Sinne auch Stolleis: Hermann Conring und die Begründung der deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 185), S. 253, 264 („die Bezeichnung Conrings als ‚Vorkämpfer für das deutsche Recht‘ [ist] ganz irreführend“). Vgl. weiter Alberto Jori: Hermann Conring (1606–1681): Der Begründer der deutschen Rechtsgeschichte. Mit Anhang: „In Aristotelis laudem oratio prima“ (Originalfassung) und „De Origine Juris Gemanici“ (Auszüge). Tübingen 2006. S. 77–80; Klaus Luig: Conring, das deutsche Recht und die Rechtsgeschichte. In: Hermann Conring (1606–1681). Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von Michael Stolleis. Berlin 1983 (Historische Forschungen. Band 23), S. 355–395, hier S. 387–390. 190 Conring: Der Ursprung des deutschen Rechts. Hg. von Stolleis (wie Anm. 187), S. 230, 233ff., 237ff., 246f. 191 Conring: Der Ursprung des deutschen Rechts. Hg. von Stolleis (wie Anm. 187), S. 246ff. 192 Dazu und zur weiteren Entwicklung im 18. Jahrhundert Eva Schumann: Auf der Suche nach einem Deutschen Privatrecht. Göttinger Beiträge zur Ausbildung einer neuen Wissenschaft. In: Wendepunkte der Rechtswissenschaft. Aspekte des Rechts in der Moderne. Hgg. von Werner Heun und Frank Schorkopf. Göttingen 2014, S. 34–82. Vgl. auch Schäfer: Juristische Germanistik (wie Anm. 120), S. 89ff.



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tet waren. Aus rechtshistorischer Perspektive dürfte dabei von besonderer Bedeutung sein, dass die Konstruktion einer ‚deutschen‘ Identität als Argument in einem verfassungsrechtlichen Diskurs diente. Im Hinblick auf die wirtschaftspolitisch motivierte nationale Rhetorik in der Polizeigesetzgebung könnte man geneigt sein, Parallelen zu den aktuellen Entwicklungen in Europa zu ziehen, denn auch heute geht es nicht primär um gemeinsame kulturelle Werte, vielmehr bestimmen in erster Linie wirtschaftliche Interessen das Bekenntnis zu einem gemeinsamen Europa. Auffällig bleibt jedenfalls, dass auch im 16. Jahrhundert wirtschaftliche Motive (Erhalt der ‚nationalen Wirtschaftskraft‘) einen wichtigen Aspekt bei der Erzeugung eines Gemeinschaftsbewusstseins im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation darstellten. Vor allem aber war die Polizeigesetzgebung ein wichtiges Bindeglied zwischen Kaiser und Ständen: Es wurde gemeinsam eine neue Rechtsmaterie ausgebildet, bei der man nur in Ansätzen auf das gelehrte Recht zurückgreifen konnte und die von gleichlaufenden Interessen der Obrigkeiten im Verhältnis zu ihren Untertanen bestimmt war. Gleichzeitig führten die Art ihrer Einführung auf der Reichsebene (‚Rahmenordnung‘) und die nachfolgende Umsetzung durch die Reichsstände zu einer ‚Rechtsharmonisierung‘, die in anderen Bereichen des Rechts (insbesondere im Privatrecht) erst viel später gelang. Schließlich ließen sich für die These, dass die Konstruktion eines ‚germanischdeutschen‘ Rechts bereits im 16. Jahrhundert mit den Leges-Editionen begonnen hat, keine Belege finden. Die beiden Basler Editionen der frühmittelalterlichen Leges schließen sich zwar nahtlos an die patriotische Idee einer ‚germanisch-deutschen‘ Herkunft und Identität im Zuge der Tacitus-Rezeption an, gehen aber nicht darüber hinaus. Eine Auseinandersetzung mit den Rechtsinhalten der Leges beginnt erst Mitte des 17. Jahrhunderts mit Hermann Conring und auch hier nur in ersten Ansätzen. Ganz zum Schluss bleibt noch die auf der Tagung gestellte Frage nach dem Beitrag des Rechts zur Ausbildung eines ‚Nationsbewusstseins‘ im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit zu beantworten. Dabei fällt auf, dass die ersten beiden Untersuchungsgegenstände (Abschnitte II. und III. dieses Beitrags) trotz erheblicher Unterschiede auch Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Unterschiede bestehen darin, dass die spätmittelalterlichen Rechtsbücher als Privatarbeiten das Recht aus der Per­spektive ‚von unten‘ darstellen und verhandeln, während die frühneuzeitliche Polizeigesetzgebung als obrigkeitliche Rechtssetzung ‚von oben‘ (d. h. von Seiten des Königs und der Reichsstände) an die der Herrschaft Unterworfenen herantritt. In Bezug auf die Inhalte geht es aber in beiden Quellengattungen ganz überwiegend um Regelungsgegenstände des Alltags, die jedermann betrafen und vermutlich auch von breiten Teilen der Bevölkerung wahrgenommen wurden. Dazu dürfte auch der Einsatz der deutschen Sprache beigetragen haben: Den Verfassern der spätmittelalterlichen Rechtsbücher, allen voran Eike von Repgow, kommt das Verdienst zu, den großen Schritt von der mündlichen (volkssprachigen) Gerichtssprache hin zur Ausbildung einer schriftlichen deutschen Rechtssprache bewältigt zu haben. Erst diese Verschriftlichung ermöglichte die breite Rezeption einzelner, ursprünglich

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regional gebundener Rechte. Ganz nebenbei schuf dies aber auch die Voraussetzung dafür, dass diese Rechte von gelehrten Juristen zur Kenntnis genommen und ‚wissenschaftlich‘ bearbeitet werden konnten (ein Vorgang, der mit der «Buch’schen Sachsenspiegelglosse» bereits im frühen 14. Jahrhundert einsetzte). Die in allen Territorien auf der Grundlage der Reichsgesetzgebung stark verbreiteten Polizeimaterien dürften dann im 16. Jahrhundert mit ihrer Orientierung an der Kanzleisprache des Reiches zur allmählichen Etablierung einer einheitlichen deutschen Rechtssprache beigetragen haben.193 Die Sprache der gelehrten Juristen blieb hingegen bis ins 18. Jahrhundert Latein; ihre Schriften waren auch nicht für die Bevölkerung, sondern für eine Fachelite bestimmt. Zudem lassen sich für beide Quellengattungen Tendenzen der Harmonisierung vor allem derjenigen Rechtsvorstellungen beobachten, die ein supragentiles Einheitsbewusstsein bzw. ein Gemeinschaftsbewusstsein der Deutschen betreffen und dieses als Argument innerhalb eines rechtlichen Diskurses verwenden. So bleibt die Beschreibung der verfassungsrechtlichen Struktur des Reiches in den Rechtsbüchern, die den «Sachsenspiegel» rezipierten, auffällig konstant, während sich die Rezipienten in anderen Bereichen (wie dem Familien- und Erbrecht oder dem Unrechtsausgleich) durchaus von den Vorlagen lösten und regionale Besonderheiten berücksichtigten. Noch deutlicher fällt die Rechtsharmonisierung durch die frühneuzeitliche Polizeigesetzgebung aus, weil hier der Bezug auf die ‚deutsche Nation‘ (Erhalt der nationalen Wirtschaftskraft) sowohl auf der Reichsebene als auch in den Territorien und Städten ‚funktionierte‘ und ein Argument zur Legitimation zahlreicher Beschränkungen von Gewerbe und Handel lieferte.

Die beiden auf S.  213 und S. 214 abgebildeten Übersichten beziehen sich auf Abschnitt II: „Die Entwicklung einer ‚supragentil-deutschen‘ Identität in den spätmittelalterlichen Rechtsbüchern“. Die auf der Übersicht 1 in Spalte 3 (‚Geschichte‘) und Spalte 4 (‚Abstammung‘) grau unterlegten Belege aus dem «Sachsen-», «Deutschen-» und «Schwabenspiegel» sowie dem «Freisinger» und dem «Meißner Rechtsbuch» sind in Auszügen auf der Übersicht 2 abgedruckt.

193 Nach Albrecht Greule: Die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. Regensburg 1532. Perspektiven der sprachwissenschaftlichen Forschung. In: Regensburger Deutsch. Zwölfhundert Jahre Deutschsprachigkeit in Regensburg. Hg. von Susanne Nässl. Frankfurt a. M. 2002 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B/Untersuchungen. Band 80), S. 249–258, hier S. 249 dürfte auch der Sprache der «Peinlichen Gerichtsordnung» von 1532 ein „außerordentliche[r] Vorbildcharakter“ zuzuschreiben sein.

«Annolied»

«Kaiserchronik»

«Sachsen­ spiegel»

«Deutschenspiegel»

«Schwabenspiegel»

«Freisinger Rechtsbuch»

«Meißner Rechtsbuch»

≈ 1080

Mitte 12. Jh.

≈ 1225

≈ 1275

≈ 1275

1328

1358– 1387

Übersicht 1

Ldr. III 52 § 1; 57 § 2 Lnr. 4 §§ 2–3 [Stader Annalen für das Jahr 1240: Rex Boemiae […] non eligit, quia Teutonicus non est] Ldr. 285, 303 Ldr. 98 [118], 110 [130a], [Lnr. 8b] c. 81, 91 Buch VI, c. 9 Dist. 1, 4, (6)

Ldr. 288

Ldr. 99 [120]

c. 82

Buch VI, c. 11

Abstammung (der Königswähler)

Ldr. III 53 § 1

Caesar und die Deutschen (V. 247–378)

Caesar und die Deutschen (V. 263–398)

Geschichte (der Deutschen)

Buch VI, c. 18 Dist. 1 (in duetscher art)

c. 98 (jn teutschnn landenn), c. 99

Ldr. 117 [138] (in tiutschen landen), Ldr. 118 [139]

Ldr. 318 § 1; Lnr. 9, 10

Ldr. III 64 § 1 (binnen dudescher art); Lnr. 4 § 1 (binnen dudescher tungen; Auctor vetus de beneficiis, I 9: infra terram teutonicam) [Görlitzer Rechtsbuch I 2 § 4 (um 1300): in duschin lande]

Raum (bezogen auf den Reichs-/Hofdienst)

Buch VI, c. 26 Dist. 1–3

Ldr. 330 §§ 1–2

Ldr. III 71 §§ 1–2 (vor gerichte […] he mut antwarden in dudescheme)

Sprache (vor Gericht)

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«Freisinger Rechtsbuch» (1328) Oberbayern [Hs. von 1473]; 11 Hs. c. 81 Dye tewtschenn erkiesenn den künigh. das erwarb jn künig körl. wann der künig geweicht wirt vnd auff den stuel zu Äch gesetzt wirt mit der willenn dy jn erwellt habnn. so hat er küniglichnn gewalt vnnd namenn. wann jn der pabst zue Rom geweichtt vnnd gesegnett so hat er völlichnn des reichs gewallt vnd kaiserlichnn namen.[…].

c. 82 In teutschnn lannden hat ein yedlich lannd sein pfallenzgrafenn. Bayern habnn ain. Swabenn ain. Francken ein. Sachsenn. Die vier Hertzogtumb warnn vor zeittenn künigreich. das geschach da Julius zue Rom künig ward vnnd er teutsche lannd bezwanng da wolt er daz vber das römisch nur ain künig wär.

«Schwabenspiegel» (Kaiserrecht) (≈ 1275) Augsburg [Hs. Anfang bis Mitte des 14. Jh.]; 285 Hs. Ldr. 98 [Ldr. 118] Von Tiutscher liute êren. Die tiutschen kiesent den künic. daz erwarb in der künic Karl. Swenne er gewîhet wirt, unde ûf den stuol ze Ache gesezet wirt mit der willen, die in erwelt hânt: sô hât er küniclîchen gewalt unde namen. als in der pâbest gewîhet, sô hât er volleclîchen des rîches gewalt unde keiserlîchen namen.[…].

Ldr. 99 [Ldr. 120] Von tiutschen landen. In tiuschen landen hât ieglich land sînen phalenzgrâven. Sahsen hât einen. Franken hât einen. Swâben hât einen. Beigeren hât einen. Diu vier lant wâren hie vor künicrîche. Daz was hie vor, dô Julius ze Rôme künic was, unde er tiutschiu lant betwanc: dô wolte er niht daz über alliu tiutschiu lant mêr küniges wære wan sîn.

«Sachsenspiegel» (≈ 1225) Alt«Spiegel allr tæutzher lævte» zelle [Quedlinburger Hs. um 1300]; (≈ 1275) Augsburg [Hs. 14. 233 Hs. Jh.]; 3 Hs.

Ldr. 285 Die Tuschen sulln durch recht den chunich erwelen. Swenne der geweihet wirt von den byscholfen die dar zu gesatzet sint. vnd auf den stul ze ache chumet. so hat er chunichleichen gewalt vnd namen. wenne in der Babst geweihet so hat er des reiches gewalt vnd kaiserleichen namen.

Ldr. 288 Jsleich tævtzhelant habent irn pfaltz­graven. Sahsen. Baiern. Vranchen. vnd swaben. Ditz warn alles chunichreich. sider wandelt man die namen. vnd Julius hiez si hertzogen sider si die Romær betwungen […].

Ldr. III 52 § 1 De dudeschen scolen dorch recht den koning kesen. Swen de gewiet wert van den biscopen de dar to gesat sin, unde op den stul to Aken kumt, so hevet he koningleke gewalt unde koningleken namen. Swen ene de paves wiet, so hevet he des rikes gewalt unde keiserleken namen.

Ldr. III 53 § 1 Iewelk dudisch lant hevet sinen palenzgreven: Sassen, Beieren, Vranken unde Swaven. Dit waren alle koningrike; seder wandelde men ene den namen unde het se hertogen, seder se de Romere bedwungen; […].

Übersicht 2

Buch VI, c. 11 Nu suln wir aber forbaz lernen, wy iczlich dutsch land had sinen herczogen. I. Sachsen, beygern, francken und swaben, daz worn alles koningriche. Sedder vorwandelte man on dy namen, unde heyssen sy nu herczogetum, sint sy dy romere betwungen. […].

Buch VI, c. 9 I. Dy dutschen sullen von rechte den koning kisen. VI. […] Wen daz georteylt wert, so sullen denne dy korfursten czin mit deme koninge kegen oche. Wen her do gewyt wert, so had her koniglichen namen. Wenne her denne czu rome fert unde on der bobist gewit, so had her keyserlichen namen.

«Meißner Rechtsbuch» (1358 – 1387) Meißen [Hs. von 1457]; 86 Hs.

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Ldr. 110 [Ldr. 130] Wer den Künic kiesen soll. Den künic sullen drî phasen fürsten unde vier leien fürsten kiesen. der bischof von Mênze ist kanzler ze diutschen landen; der hât die êrsten stimme an der kür. Der bischolf von Triere ist kanzler über daz künicrîch Arel; der hât die andern stimme an der kür. Der bischolf von Kollen der ist kanzler ze Lamparten, unde hât die dritten stimme an der kür. Daz sint driu fürsten ampt; diu hœrent ze kür. under den leien fürsten sô hât der phalenzgrâve von Rîne die êrsten stimme an der kür; der ist des rîches truhsæze, unde er sol dem künige die êrsten scüzel tragen. Der herzoge von Sahsen hât die andern stimme an der kür under den leien; der ist des küniges marschalc, unde sol dem künige sîn swert tragen. Der marcgrâve von Brandenburc der hât die dritten stimme an der kür, unde ist des rîches kamerer, unde sol dem künige wazer geben. Der herzoge von Beiern hât die vierden stimme an der kür, unde ist des rîches schenke, unde sol dem künige den êrsten becher tragen. Dise vier sullen tiutsche man sîn von vater unde von muoter oder von eintwederme.[…].

Ldr. III 57 § 2 In des keiseres kore scal de erste sin de biscop van Trire, de andere van Megenze, de dridde van Kolne. Under den leien is de erste an deme kore de palenzgreve van´me Rine, des rikes druzte; de andere de marschalk, de hertoge van Sassen; de dridde de kemerere, de markgreve van Brandeborch. De scenke des rikes, de koning van Behemen, de ne hevet nenen kore, umme dat he nicht dudisch n´is. […].

Ldr. 303 Jn des chaisers chür sol der erste sein. der pyscholf von mæntze. der ander von triere Der dritte von choln. vnder den laien ist der erste an der chure der pfallentzgraue von reine des reiches trugsætze. der ander ist der hertzog von sachsen des reiches marschalch. Der dritte der Marchgraue von Prannwurch des reiches chamrer. Der chunich von Behaim des reiches schenche ern hat aver dhein chure dar vmbe daz er niht tæutzhe ist. […]

«Schwabenspiegel» (Kaiserrecht) (≈ 1275) Augsburg [Hs. Anfang bis Mitte des 14. Jh.]; 285 Hs.

«Sachsenspiegel» (≈ 1225) Alt«Spiegel allr tæutzher lævte» zelle [Quedlinburger Hs. um 1300]; (≈ 1275) Augsburg [Hs. 14. 233 Hs. Jh.]; 3 Hs. c. 91 Den künig sullenn erkiesenn vier laienn fürstenn vnnd drey pfaffenn fürstnn. der pischoff von maintz hat dy erstenn kür vnntter den pfaffenn fürstenn der ist ain kanntzlär jn teutschnn lanndnn. Der pischoff von trier hat dy annder kür vber das kunigreich zue Arl. Der pischoff von kolnn hat dy dritt kur vnd ist ein kanczlär vber Lamparttnn. Der pfallentzgrave von Rein hat dy erstnn kür vnter weltlichnn fürstenn der ist des reichs drugsätz vnnd sol dem kunig dy erstnn schussel fürtragenn. Der hertzog von sachsenn hat dy annder kür der ist des reichs marschalk der sol dem künig das swert nachtragnn. Der marggraf von prannenburck hat dy dritten kür vnd ist des reichs kamrär der sol dem künig wasser gebnn. Der Hertzog von Baiernn hat dy vierd kür vnnd ist des reichs schennck der sol dem künig des erstenn pecher tragenn. Dye vier süllen teutsch man sein von vater vnd muetter […].

«Freisinger Rechtsbuch» (1328) Oberbayern [Hs. von 1473]; 11 Hs.

Buch VI, c. 9 IV. In des koninges kor sal der irste sin der bischof von trier, der ander der bischof von mencz, der dirte der von koln. Under den legen ist der irste der phalanczgreve von deme ryne, des riches trugsesse; der andere der herczoge von sachsen, des riches marschalg; der derte der margreve von brandenburg, des riches trugsesse. Der schenke dez riches ist der koning von bemen, der en had keyne kor, durch daz her nicht dutcz ist. […]

«Meißner Rechtsbuch» (1358 – 1387) Meißen [Hs. von 1457]; 86 Hs.

 Beiträge des Rechts zur Ausbildung einer ‚deutschen‘ Identität   215

Uta Goerlitz

Juljus Cêsar und die dûtisken lant Zum Wandel narrativer Identitätskonstruktion zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit aus Sicht der Sprach- und Literaturwissenschaft (unter besonderer Berücksichtigung von «Kaiserchronik» und «Prosakaiserchronik»)

I Fragestellung Zwischen dem ausgehenden 11. und der Mitte des 12. Jahrhunderts entstehen erstmals in der deutschen Literaturgeschichte narrative Entwürfe von der Vergangenheit der so benannten liute in den diut(i)schen/dûtisken landen zur Zeit der Römer. In den folgenden Jahrhunderten werden sie teils intensiv rezipiert und dabei umgestaltet, gleichzeitig treten zur Neuzeit hin zahlreiche weitere Konstrukte einer unter bestimmten Aspekten mit unterschiedlicher Bedeutung und Gewichtung partiell als „deutsch“ vorgestellten Vergangenheit neben sie. Fragt man nach den Modi ihrer narrativen Konstruktion und deren Wandel, so zeichnen sich zwischen den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Konstrukten neben einigen Gemeinsamkeiten vor allem Unterschiede ab, die je nach interdisziplinär, aber auch intradisziplinär vorherrschender Zugriffsweise in jeweils anderer Hinsicht aufschlussreich erscheinen. Diesen Fragen kann angesichts der Breite des damit angesprochenen Themenfeldes hier nur in stark auswählender Exemplarität auf der Basis umfassender Untersuchungen der Verfasserin in größerem Rahmen nachgegangen werden.1 Den Ausgangspunkt der folgenden 1 Die folgenden Ausführungen haben die 2007 erschienenen Untersuchungen der Verfasserin zur narrativen Konstruktion vornationaler − erst von der Forschung seit dem 19. Jahrhundert in eine nationale Perspektive eingerückter − und nationaler Identität in der deutschen Literatur des 11. bis 16. Jahrhunderts zur Grundlage: Uta Goerlitz: Literarische Konstruktion (vor-)nationaler Identität seit dem ,Annoliedʻ. Analysen und Interpretationen zur deutschen Literatur des Mittelalters (11.–16. Jahrhundert). Berlin/New York 2007 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. Band 45). Diese Monographie konzentriert sich von einem forschungskritischen, germanistischmediävistischen Ansatz aus, der zugleich gängige Textinterpretationen so bekannter Texte wie des «Annoliedes» und der «Kaiserchronik» auf den Prüfstand stellt, auf das 11. bis 13. Jahrhundert, mit einem Ausblick bis ins 16. Jahrhundert. Ihre Darlegungen sind im Folgenden grundsätzlich zu vergleichen und darüber hinaus insbesondere hinsichtlich der ausführlichen Begründungen und tiefergehenden Details zu den im Folgenden hauptsächlich fokussierten Caesar-Episoden in «Kaiserchronik» und «Prosakaiserchronik». Die folgenden Anmerkungen beschränken sich auf wesentliche Nachweise und ergänzende Hinweise auf wichtigere neuere Literatur, im Übrigen wird jeweils auf die weiterführenden Stellen der Monographie verwiesen. Wo das Wort „deutsch“ im Folgenden von mir in doppelte Anführungszeichen gesetzt ist, geschieht das je nach Zusammenhang in Übertragung des Lexems in seiner neuhochdeutschen Lautung DOI 10.1515/9783110578805-008



Juljus Cêsar und die dûtisken lant 

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Darlegungen bildet die Zeit um 1500, wodurch Probleme aufgeworfen werden, die den Blick zurück ins 12. Jahrhundert und gleichzeitig auf einige Forschungsdiskrepanzen lenken, die zu thematisieren sind (II.1.). Von da aus gerät die Frage nach Veränderungen in den Blick, die hier aus einer transdisziplinär ausgreifenden literatur- und sprachwissenschaftlichen Perspektive gestellt wird. Am Beispiel der entstehungsgeschichtlich aufeinander basierenden Episoden über Caesar und die „Deutschen“ in der mittelhochdeutschen «Kaiserchronik» aus dem hohen2 und der sogenannten «Prosakaiserchronik» aus dem späten Mittelalter geraten einige Differenzmomente in den Horizont, die für die Frage nach dem Wandel narrativer Identitätskonstruktion diut(i)scher lande und diut(i)scher liute und der damit verbundenen Semantiken zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit erhellend sind (II.2.). Es folgt ein kurzer Schlussteil (III.).

II.1 Themennäherungen − Forschungsdiskrepanzen In dem 2004 erschienenen, einschlägigen Sammelband ‚Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“‘3 findet sich ein instruktiver Aufsatz von Dieter Mertens zur ‚Instrumentalisierung der «Germania» des Tacitus durch die deutschen Humanisten‘.4 aus mittelhochdeutschen Texten oder in Wiedergabe einer Verwendung durch moderne Textinterpreten, um die damit gegebenenfalls verbundenen Probleme der Semantik präsent zu halten. 2 Hinsichtlich der Periodisierung folge ich der Einteilung der Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Band I,1–III,1. Hg. von Joachim Heinzle unter Mitwirkung v. Wolfgang Haubrichs u. a. Tübingen 21995–2004, die die Grenzziehung zwischen dem frühen und hohen Mittelalter am sprach- und literaturgeschichtlichen Wandel von der sog. althochdeutschen zur mittelhochdeutschen Zeit und an politisch-kulturellen Veränderungen festmachen, die auch in die vorliegende Fragestellung noch hineinspielen (Band 1 von Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter [ca. 700–1050/60], S. 3, entgegen einer Periodisierung wie der im Wesentlichen technisch nach Jahrhunderten verfahrenden Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter von Dieter Kartschoke, Joachim Bumke und Thomas Cramer. München 3. u. 4. Aufl. 2000, in der der Frühmittelalterbegriff bis ca. 1170 ausgedehnt ist). 3 Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Hg. von Heinrich Beck u. a. Berlin/New York 2004 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Band 34). 4 Dieter Mertens: Die Instrumentalisierung der ‚Germania‘ des Tacitus durch die deutschen Humanisten. In: Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Hg. von Beck (wie Anm. 3), S. 37–101, mit ausführlichen Literaturhinweisen. Vgl. in den letzten Jahren weiterführend kurzgefasst C[hristopher] B. Krebs: A Dangerous Book. The Reception of the Germania. In: The Cambridge Companion to Tacitus. Hg. von A. J. Woodman. Cambridge 2010, online unter URL [19.03.2014], S.  280–299, hier S.  282–288; und Ronny Kaiser: Understanding National Antiquity. Transformations of Tacitusʼ Germania in Beatus Rhenausʼ Commentariolus. In: Transformations of the Classics via Early Modern Commentaries. Hg. von Karl A. E. Enenkel und Susanna de Beer. Leiden u. a. 2014, S. 261–277.

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Die Tacitusrezeption gilt in der Frühneuzeitforschung seit jeher als zentral, wenn die Frage nach Vergangenheitsentwürfen im Kontext nationaler Identitätskonstruktion im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit gestellt wird. Mertens hebt hervor: „Die Etablierung der Gleichung ‚germanisch ist gleich deutsch‘ ist Teil des vielschichtigen Prozesses der Tacitus-Rezeption im 15. und 16. Jahrhundert, sie ist bedingt durch die humanistische Tacitusrezeption.“5 Gleichzeitig ist damit implizit gesagt, dass nationale Geschichtskonstruktion um 1500 Sache der Gelehrten war, und dass die Konstruktion einer in das Altertum zurückprojizierten, germanisch-deutschen Identität ursächlich an den lateinischen Diskurs gekoppelt war, aus dem sie partiell auch in die Volkssprache transferiert wurde. Ein Beispiel aus der traditionellen Gattung der Universalchronistik stellt die bekannte «Schedelsche Weltchronik» dar, die 1493 in lateinischer Sprache sowie in deutscher Übersetzung erschien.6 In ihrem Anhang konnte auch der des Lateinischen unkundige zeitgenössische Leser nachschlagen, dass die Bewohner von Teûtsch land zu latein germania genant antiken Autoren zufolge von Barbarischem grobem sytten geprägt gewesen seien. In der Gegenwart dagegen gebe es kein land das in achtung aller ding teûtschs land vbertreffe. also wenn einer auß den teûtschen der zu den zeitten des kaisers Julij gelebt het erstnde vnd teûtsch land durchwanderet [...], so sprech er das es nit die erden wer die er ettwen gesehen het vnd kennet es nicht fr sein vaterland.7

Der Text fährt mit einem Lob der deutschen Gegenwart fort, deren Blüte sich der Christianisierung der Deutschen verdanke, die zugleich schon in römischen Zeiten derart kriegstüchtig gewesen seien, dass sie selbst einem so erfolgreichen Eroberer wie Caesar das Leben schwer gemacht hätten. Die lobreichen Worte über die Teutsche nation im Anhang zur «Schedelschen Weltchronik» leiten über zur «Europa» der Leitfigur des frühen deutschen Humanismus, Enea Silvio Piccolomini, der entscheidend dazu beitrug, dass die Humanisten auch in Deutschland auf Tacitus aufmerksam wurden.8 Bekanntermaßen deuteten deutsche 5 Mertens: Die Instrumentalisierung der ‚Germania‘ (wie Anm. 4), S. 38f. 6 [Hartmann Schedel:] Liber chronicarum cum figuris et ymaginibus ab inicio mundi. Nürnberg: Anton Koberger 1493 (Hain 14508); [Hartmann Schedel:] Buch der Croniken und Geschichten, [übers. v. Georg Alt], Nürnberg: Anton Koberger, 23. Dezember 1493 (Hain 14510). Vgl. jetzt einschlägig Bernd Posselt: Konzeption und Kompilation der Schedelschen Weltchronik. Wiesbaden 2015 (MGH Schriften. Band 71), und zu Schedel weiterweisend F[ranz] J[osef] Worstbrock und Béatrice Hernad: Schedel, Hartmann. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Bd 2. Berlin/Boston 2013, Sp. 819–840, hier Sp. 830–834, 837–839. 7 [Hartmann Schedel:] Buch der Croniken und Geschichten (wie Anm. 6), Faks.: Hartmann Schedel: Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493. Einleitung und Kommentar von Stephan Füssel. Köln u. a. 2001, fol. CCLXVIIv. Vgl. die folgende Anm. 8 Vgl. in jüngerer Zeit einschlägig Christopher B. Krebs: Negotiatio Germaniae. Tacitusʼ Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel. Göttingen 2005 (Hypomnemata. Band 158), S. 111–156 und passim. Enea Silvio Piccolominis «Europa» folgt im



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Humanisten den von Enea Silvio im Rückgriff auf Autoren der Antike gezeichneten Kontrast zwischen dem „barbarischen“, „germanisch-deutschen“ Altertum und der christianisierten, blühenden Gegenwart Deutschlands im zeitgenössischen KulturWettstreit mit Italien systematisch um und stellten dem italienischen Barbarenverdikt die militärische Stärke und Sittenstrenge der alten Teutschen entgegen.9 Die Bedeutung der Wiederentdeckung des Tacitus und deren wichtige Rolle im italienisch-deutschen Agon um den kulturellen Vorrang darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gleichung ‚germanisch ist gleich deutsch‘ wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen auch schon in weit früheren Vergangenheitskonstruktionen vorkommt und zwar nicht etwa im lateinischen Diskurs, sondern in der Volkssprache. Ursächlich ist das formal-sprachlich begründet: Im mittelalterlichen Latein konnten die zeitgenössischen Teutonici und die Germani der Römerzeit terminologisch prinzipiell auseinandergehalten werden.10 Im volkssprachigen Namen der Diut(i)schen/ Dûtisken fällt diese Differenzierung jedoch weg. Der erste volkssprachige Text, in dem dieser substantivierte Volksname erstmals überhaupt vorkommt, liegt mit der frühmittelhochdeutschen «Kaiserchronik» aus der Zeit Konrads III. (1138–1152) vor, bei der es sich zugleich um die erste auf die Geschichte des Rômisce[n] rîches (KChr. 22/1,22) konzentrierte (Reim-)Chronik in deutscher Sprache handelt.11 Bekannt ist sie Anhang zur «Schedelschen Weltchronik» (wie Anm. 7) ab fol. CCLXVIIIv. Die vorangehende, oben zitierte Einleitung dazu über das alte Germanien im Vergleich zum gegenwärtigen Deutschland stammt vermutlich von Schedel selbst, vgl. Claudia Wiener: Von Humanisten ediert. Enea Silvio Piccolominis «Europa» in der «Schedelschen Weltchronik». In: Humanisten edieren. Gelehrte Praxis im Südwesten in Renaissance und Gegenwart. Hg. von Sabine Holtz u. a. Stuttgart 2014 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen. Band 196), S.  163–182, hier S.  167, Anm. 17; ebd., S.  180–182, auch zur volkssprachigen Übertragung der Chronik und ihres Anhangs durch Georg Alt. 9 Vgl. hier Krebs: Negotiatio Germaniae (wie Anm. 8), der den rhetorischen Aspekt germanisch-deutscher Vergangenheitskonstruktion im Zeitalter des Humanismus betont und deren Variationsbreite verdeutlicht, zusammenfassend S. 251–256. In breit angelegter Systematik wird dieser Aspekt aus der Sicht des Neuzeithistorikers in jüngerer Zeit von Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005, S. 251–379, untersucht, hier besonders S. 326–338. Vgl. zur „rhetorische[n] Funktionalisierung des Tacitus“ durch deutsche Humanisten im hiesigen Zusammenhang aus germanistisch-mediävistischer Perspektive auch den Ausblick bei Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 1), S. 299–315 (Zitat: S. 304). 10 Vgl. etwa den lateinischen Sprachgebrauch Ottos von Freising, der es vermeidet, von Teutonici zu sprechen, wenn von Ereignissen aus römischer Zeit die Rede ist: Otto Frisingensis: Chronica sive historia de duabus civitatibus. Hg. von Adolf Hofmeister. Hannover/Leipzig 2. Aufl. 1912 (MGH SS rer. Germ [45]); vgl. Heinz Thomas: Julius Caesar und die Deutschen. Zu Ursprung und Gehalt eines deutschen Geschichtsbewußtseins in der Zeit Gregors VII. und Heinrichs IV. In: Die Salier und das Reich. Band 3. Hg. von Stefan Weinfurter unter Mitarb. v. Hubertus Seibert. Sigmaringen 1991, S. 245–277, hier S. 272 u. 274 mit Anm. 158, und Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 1), S. 118–123. Vgl. zu Otto von Freising in diesem Zusammenhang ergänzend unten mit Anm. 14. 11 Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hg. von Edward Schröder. Hannover 1892, unveränd. Nachdr. München 2002 (MGH Dt. Chron. 1,1); im Folgenden wird die älteste, Vorauer Fas-

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vor allem deshalb, weil sie Geschichte exemplarisch erzählt und dabei zahlreiche sagenhafte und legendarische Erzählungen einbaut.12 Am Beginn der «Kaiserchronik» – hier nach der ältesten Rezension A – findet sich eine Episode, in der von Caesars Aufstieg zum ersten Kaiser Roms erzählt wird. Der Abschnitt hat im «Annolied» aus dem letzten Viertel des 11. Jahrhunderts eine ältere Parallele, ist in der «Kaiserchronik» aber eigenständig ausgeprägt.13 Die Heeresabteilungen, deren Hilfe Caesar sich im römischen Bürgerkrieg versichert, setzen sich aus Caesars ehemaligen Gegnern in den Dûtisken landen (KChr. 459/15,10; und öfter) zusammen, und im gleichen Zug werden die einzelnen Kriegstruppen in diesem Zusammenhang alternativ als „Scharen“ (scar manige, KChr. 472/15,23) ûzer Gallîa unt ûzer Germanje (KChr. 471/15,22) bezeichnet. Mit Gallia (Belgica) und Germania wurden im zeitgenössischen lateinischen Sprachgebrauch im Anschluss an die „strikt

sung A nach der Ausgabe von Joseph Diemer zugrunde gelegt: Die Kaiserchronik nach der aeltesten Handschrift des Stiftes Vorau. Aufgefunden, mit einer Einleitung, Anmerkungen und den Lesarten der zunaechst stehenden Handschriften. 2 Bände. Hg. von Dems. Wien 1849. Stellenangaben beziehen sich jeweils zunächst auf die Edition von Schröder und nach Schrägstrich auf die verglichene Ausgabe von Diemer, deren Wortlaut ich bei Abweichungen von der ansonsten zitierten kritischen Ausgabe folge (zitiert als KChr.). Zu den Belegstellen zum Volksnamen Diut(i)sche/Dûtiske siehe unten, Anm. 17. Zum Forschungsstand zur «Kaiserchronik» sei hier nur weiterweisend auf Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 1), S. 105–201, mit der älteren Literatur verwiesen, in der Übersicht S.  107–117 mit den Anmerkungen, und für die Zeit danach in Kürze: Die «Kaiserchronik». Interdisziplinäre Studien zu einem buoch gehaizzen crônicâ. Festgabe für Wolfgang Haubrichs zu seiner Emeritierung. Hg. von Nine Miedema und Matthias Rein. St. Ingbert (im Druck). Einzelne Titel der letzten Jahre sind im Folgenden gegebenenfalls an Ort und Stelle genannt. 12 Vgl. dazu zuletzt vor allem Alaistair Matthews: The Kaiserchronik. A Medieval Narrative. Oxford 2012; Johannes Dickhut-Bielsky: Auf der Suche nach der Wahrheit in ‚Annolied‘ und ‚Kaiserchronik‘. Poetisch-historiographische Wahrheitssuche in frühmittelhochdeutschen Geschichtsdichtungen. Stuttgart 2015, S. 96–258, vgl. dazu unten, Anm. 29; und Udo Friedrich: Topik und Narration. Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der «Kaiserchronik». Poetica 47 (2015) S. 1-24. 13 Vgl. zum «Annolied» hier Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 1), S. 45–104, mit der älteren Literatur, und zum Abschnitt der «Kaiserchronik» über Caesar und seine Kämpfe in den „deutschen Landen“ auch im Folgenden ebd., S. 105–145. Aus der Literatur seien hier die beiden jüngeren Aufsätze von Christoph Petersen: Zeit, Vorzeit und die Narrativierung von Geschichte in der Kaiserchronik. ZfdPh 126,3 (2007) S. 321–353 (zur «Kaiserchronik», hier S. 349–353), und von Mathias Herweg: Er kam, sah – und fand Verwandte: Julius Caesar, die trojanischen Franken und die ,römischen Deutschen‘. In: Das diskursive Erbe Europas. Antike und Antikerezeption. Hg. von Dorothea Klein und Lutz Käppel. Frankfurt a. M. u. a. 2008 (Kulturgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und der frühen Neuzeit. Band 2), S. 306–326 (hier S. 311–326) genannt, zu denen unten mit Anm. 31ff. (Petersen) und Anm. 77 (Herweg) zu vergleichen ist. Zur Forschungsgeschichte vgl. außer im obigen Kontext Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 1), bes. S. 49–56, umfassend Mathias Herweg: Ludwigslied, De Heinrico, Annolied. Die deutschen Zeitdichungen des frühen Mittelalters im Spiegel ihrer wissenschaftlichen Rezeption und Erforschung. Wiesbaden 2002 (Imagines Medii Aevi. Band 13), S. 284–292, 428–457. Weitere Titel folgen in Auswahl ggf. an Ort und Stelle.



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geographische“14 Terminologie der Antike seit Caesar die Gebiete westlich und östlich des Rheins (sowie nördlich der Donau) bezeichnet.15 In der volkssprachigen Bezeichnung diut(i)schiu/dûtiskiu lant ist diese geographische Differenzierung aufgehoben, ebenso wie entsprechend im Volksnamen der Diut(i)schen/Dûtisken.16 Dieser Volksname kommt in den rund 17000 Versen der «Kaiserchronik» insgesamt nur viermal und stets im Plural (davon einmal im grammatischen Singular) vor, daneben finden sich gelegentlich Personenbezeichnungen wie diut(i)sche/dûtiske hêrren.17 Aufgrund der in der Volkssprache fehlenden Differenzierungsmöglichkeiten sind damit in der «Kaiserchronik» auf terminologischer Ebene Germanen und Deutsche gleichgesetzt, und in den anschließenden Passagen der Caesar-Episode spielen dûtisce man (KChr. 525/17,11), die dadurch in ein raumzeitliches Kontinuum bis in die hochmittelalterliche Gegenwart gestellt sind,18 eine zentrale Rolle bei Juljusʼ Weg zur Alleinherrschaft. Da eine derartige Vergangenheitskonstruktion um 1150, wie gesagt,19 abgesehen vom «Annolied» neuartig ist, wirft das die Frage nach der 14 K[arl] F[erdinand] Werner: Deutschland. A. Begriff; geographisch-historische Problematik; Entstehung, in: Lexikon des Mittelalters. Band 3. München/Zürich 1986, Sp. 781–789, hier Sp. 783. Diese Terminologie wurde im Mittelalter „mit großer Genauigkeit“ beibehalten (ebd.). Vgl. die Beispiele aus der «Historia de duabus civitatibus» des Otto von Freising, der für seine Zeit genau zwischen rechtsrheinischen Germani einerseits und Teutonici beiderseits des Rheins unterscheidet, bei Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 1), S. 119–123. 15 Vgl. im obigen Kontext insgesamt Karl Ferdinand Werner: Mittelalter. In: Fritz Geschnitzer u. a.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 7. Hg. von Otto Brunner u. a. Stuttgart 1992, S. 161–281, hier bes. S. 171f. mit Anm. 1, 198ff., 290f. 16 Im Deutschen fehlt die Unterscheidungsmöglichkeit zwischen römerzeitlichen und zeitgenössischen Bewohnern der diut(i)schen lande auf terminologischer Ebene vollständig; im Lateinischen ist sie dagegen, wie angedeutet, prinzipiell vorhanden (Belgae und Germani vs. Teutonici); auch im Lateinischen können die Bezeichnungen allerdings je nach Kontext zusammenfallen, wenn die zeitgenössischen Reichsbewohner rechts des Rheins mit Germani bezeichnet werden. Vgl. die beiden vorhergehenden Anmerkungen und ergänzend Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 1), S. 135–137 (dort auch zu Unterschieden zum «Annolied» an dieser Stelle und zum Verhältnis der Ausdrücke ze Dûtisken landen und in Dûtiskem rîche kurz vor der oben diskutierten Passage, KChr. 455–474/15,6–15,25, wozu hier grundsätzlich unten, Anm. 50, zu vergleichen ist). 17 KChr. 497/16,16 (der Dûtiscen), 16039/491,28 (hier im grammatischen Singular: dehain Diutisker), 16063/492,19 (der Diutisken), 16899/518,12 (die Diutiscen). Siehe im Einzelnen Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 1), S. 130–137, 196f., und öfter. Vgl. im weiteren Zusammenhang Heinz Thomas: Zur Geschichte des Wortes ‚deutsch‘ vom Ende des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. In: Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. Regionale Befunde und raumübergreifende Perspektiven. Georg Droege zum Gedenken. Hg. von Marlene Nikolay-Panter u. a. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 131–158, hier S. 151: Die „Verwendungsfähigkeit“ des substantivierten Volksnamens ist bis ins spätere 13. Jahrhundert hinein regelmäßig noch „sehr eingeschränkt[ ]“; in den „(literarischen) Texten bis um 1250 [ist] kein einziger Fall bekannt“, in dem eine einzelne Person „als Deutscher bezeichnet“ würde. 18 Vgl. dazu Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 1), S. 136f. 19 Vgl. oben, Anm. 13.

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Konzeptualisierung einer als „deutsch“ vorgestellten Identität in der Caesar-Episode auf. Der Begriff der Konzeptualisierung ist dabei nicht im Sinne der narrativen Umsetzung eines vorgängigen theoretischen Konzeptes in der «Kaiserchronik» misszuverstehen, das eine Reflexion voraussetzen würde, die erst zu beweisen wäre.20 Er zielt heuristisch auf die Darstellungsweise in ihren unterschiedlichen Aspekten, wenngleich diese hier nur sehr selektiv fokussiert werden können. Die Antwort auf die gestellte Frage scheint einfach zu sein, wenn man einer Interpretationstradition folgt, die sich über Nellmann (1963 und 1983/2002)21 und Ohly (1940, unveränd. Reprint 1968)22 bis auf Massmann, den Erstherausgeber der «Kaiserchronik» um 1850,23 zurückverfolgen lässt und die sich „in Teilen der Altgermanistik“ ungeachtet ihrer schon frühzeitigen Infragestellung bis in die jüngste Zeit „zählebig“ hält.24 Die Prämissen, die ihr unreflektiert zugrundeliegen, sind, mit Gerhard Wolf formuliert, von „der Geschichtswissenschaft mittlerweile als anachro20 Vgl. unten (nach Anm. 38). 21 Eberhard Nellmann: Kaiserchronik. In: 2VL. Band 4. Berlin/New York 1983, Sp. 949–964, und Ders.: Kaiserchronik, Nachtrag. In: ebd. Band 11,3. Berlin/New York 2002, Sp. 825; vgl. auch Ders.: Kaiserchronik. In: Lexikon des Mittelalters. Band 5. München/Zürich 1991, Sp. 856f.; und vor allem Ders.: Die Reichsidee in deutschen Dichtungen der Salier- und frühen Stauferzeit. Annolied – Kaiserchronik – Rolandslied – Eraclius. Berlin 1963 (Philologische Studien und Quellen. Band 16), S. 82–163. 22 Ernst Friedrich Ohly: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung. Münster 1940 (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung. Band 10). Darmstadt 2., unveränd. Aufl. 1968. 23 Der keiser und der kunige buoch oder die sogenannte Kaiserchronik, Gedicht des zwölften Jahrhunderts von 18,578 Reimzeilen, 3 Bände. Hg. von Hans Ferdinand Massmann. Quedlinburg/Leipzig 1849–1854 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 4,3,1–3) (erste kritische Ausgabe; vgl. daneben oben, Anm. 11). Vgl. zu Massmann in diesem Zusammenhang Joachim Burkhard Richter: Hans Ferdinand Maßmann: Altdeutscher Patriotismus im 19. Jahrhundert. Berlin/New York 1992 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N. F. 100 [224]), S. 152ff. u. öfter. 24 Gerhard Wolf im Anschluss an Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 1) in seiner Rezension in: Arbitrium 27/3 (2009) S. 277–283, S. 283 (dort insgesamt auf heutige „Konstrukte nationalen Denkens“ in Teilen der Germanistischen Mediävistik bezogen, in denen die tradierten Geschichtsmythen weiterwirken). Vgl. die kritische Aufarbeitung der betreffenden Sekundärliteratur zur «Kaiserchronik» bei Goer­­litz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 1), S. 107–117, 157–160, 173f., hier bes. auch S. 116 mit Anm. 52f. und S. 158 mit Anm. 176f.: ebd. auch zu den Wegbereitern einer kritischen Perspektive, zu denen eine auf die Erzähltechnik fokussierte Arbeit wie die von Tibor Friedrich Pézsa: Studien zu Erzähltechnik und Figurenzeichnung in der deutschen «Kaiserchronik». Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I, 1378) gehört (jeweils mit Literaturzusammenstellungen zu den einzelnen Abschnitten der Chronik). Zu erwähnen ist hier auch der viel beachtete Versuch von Heinz Thomas, die Caesar-Episode im «Annolied» von geschichtswissenschaftlicher Seite einzuordnen (Thomas: Julius Caesar [wie Anm. 10]). Seine These von einer origo gentis Teutonicorum bereits im «Annolied» erweist sich allerdings im literaturwissenschaftlichen Textvergleich nicht als überzeugend, wie sich auch aus dem Folgenden ergibt (unten mit Anm. 77). Sie wurde teils auch von historischer Seite bezweifelt.



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nistisch“ erwiesen worden, haben „dafür aber sehr viel mit den Mythen von der Entstehung des deutschen Reiches gemein“.25 Auf dieser auch über Nachschlagewerke26 weiterwirkenden Interpretationslinie liegt es, wenn der «Kaiserchronik» eine nationale Programmatik unterlegt wird, die bereits die Caesar-Episode präge und von der sich „alle [...] anderen Momente“27 ableiten ließen.28 Aus einer solchen Perspektive erscheint die frühmittelhochdeutsche Reimchronik bis heute von einer „römisch25 Wolf: Rezension (wie Anm. 24), S. 277–283, hier S. 283 u. S. 279. Vgl. im obigen Kontext prinzipiell weiterweisend Goerlitz: Literarische Konstruktion (wie Anm. 1), S. 15–43 mit der grundlegenden Literatur, und im Zusammenhang der folgenden Darlegungen auch Dies.: Sprache und Identität − Text und Interpretation: Ambivalenzen narrativer Identitätskonstruktion in der frühmittelhochdeutschen Geschichtsdichtung. In: Sprache und Identität im frühen Mittelalter. Internationales Symposion, Wien, 15.–17. Januar 2009. Hgg. von Walther Pohl und Bernhard Zeller. Wien 2012 (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters), S. 239–250 (Text) und S. 267–302 (Literaturverzeichnis zum gesamten Band). Zu den tradierten Geschichtsmythen und dem Forschungsstand in den Geschichtswissenschaften vgl. zur Übersicht insbes. den Forschungsbericht von Joachim Ehlers: Die Entstehung des deutschen Reiches. München 4. Aufl. 2012 (Enzyklopädie deutscher Geschichte. Band 31), S. 63–73, 111–126; Bernd Schneidmüller: Reich − Volk − Nation: Die Entstehung des deutschen Reiches und der deutschen Nation im Mittelalter. In: Mittelalterliche nationes − neuzeitliche Nationen. Probleme der Nationenbildung in Europa. Hgg. von Almut Bues und Rex Rexheuser. Wiesbaden 1995 (Deutsches Historisches Institut Warschau, Quellen und Studien. Band 2), S. 73–101; außerdem grundsätzlich: Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Hg. von Beck (wie Anm. 3). 26 Das gilt beispielsweise für den schon genannten Verfasserlexikon-Artikel von Nellmann (wie Anm. 21), der auch online zugänglich ist (Ders.: Kaiserchronik, in: Verfasserdatenbank. Autoren der deutschsprachigen Literatur und des deutschsprachigen Raumes: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, URL [19.3.2014]), aber etwa auch für den literaturgeschichtlichen Abschnitt zur «Kaiserchronik» von Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter. München 3., aktualisierte Aufl. 2000 (Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Band 3), S. 355–367, bes. S. 366; oder den Handbuchartikel von Christa Bertelsmeier-Kierst: Regensburg (einschließlich Prüll und Windberg). In: Schreiborte des deutschen Mittelalters. Skriptorien − Werke − Mäzene. Hg. von Martin Schubert. Berlin/Boston 2013, S. 459–492, hier S. 468–471. Kaum rezipiert wird dagegen der wichtige Artikel von Ernst Hellgardt im Killy-Literaturlexikon, der die traditionellen Prämissen implizit bereits in der 1. Aufl. verabschiedet hat (Ders.: Kaiserchronik. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Band 6. Gütersloh/München 1990, S. 193–195; entsprechend bibliographisch aktualisiert bis 2006 Ders.: Kaiserchronik. In: Killy-Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Band 6. Berlin/New York 2., vollständig überarb. Aufl. 2009, S. 255–257, online ebenfalls in der Verfasserdatenbank [wie oben] zugänglich unter