Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit: Band 1 Paradigmen personaler Identität 9783110502633, 9783110496987

How do various literary forms contribute to an engagement with the past to construct a sense of individual or collective

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German Pages 344 [348] Year 2016

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Teil 1: Paradigmen und mediale Aspekte der Geschichtsschreibung
Paradigmen der Geschichtsschreibung im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, oder: Das ‚mittlere Alter‘ als der Ursprung der Historiographiegeschichte
Was ist Heilsgeschichte? Formen und Funktionen eines Deutungsmusters in Spätmittelalter und Reformation
Gegenwärtige Vergangenheiten. Historiographisches Publizieren im 16. Jahrhundert
Mediale Inszenierungen von Geschichtsmodellen in den Codices picturati des «Sachsenspiegels»
Ordnungsmodelle in der Kunstgeschichte. Von Boccaccio, Alberti und Vasari zu Kugler und Riegl
Teil 2: Vergangenheitsbilder in der Konstruktion personaler Identitäten
Alexanders Welt. Geschichte und Bild zwischen historia und Roman
Identitätskonstituierungen in der humanistischen Autobiographik des 14.–16. Jahrhunderts
Selbstzeugnisse von Gelehrten und soziale Praktiken des Wortes – personale Identität? Personkonzepte, Zugehörigkeit und Vergangenheitskonstruktionen
jâ, zwâre ich bin Achilles. Identität und Narration im «Trojanerkrieg» Konrads von Würzburg
Iudicium particulare. Personale Identität des Menschen und Gedächtnis Gottes in der spätmittelalterlichen Vorstellung vom Individualgericht
Virtuosenkult um 1500: Zur Konstruktion künstlerischer Identität am Beispiel des Organisten Paul Hofhaimer
Personen- und Ortsregister
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Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit: Band 1 Paradigmen personaler Identität
 9783110502633, 9783110496987

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Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit, Band 1

Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen

Neue Folge

Band 41/1

Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit Band 1: Paradigmen personaler Identität Herausgegeben von Ludger Grenzmann, Burkhard Hasebrink und Frank Rexroth

AKADEMIE FORSCHUNG

Vorgestellt von Frank Rexroth durch Rundschreiben vom 29.09.2016.

ISBN 978-3-11-049698-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-050263-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049850-9 ISSN 0930-4304 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die Tagungsserie, die die Spätmittelalter-Kommission der Göttinger Akademie in den Jahren 2010 bis 2013 durchführte, war den Vergangenheitsentwürfen von Individuen, sozialen Gruppen und Großgruppen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit gewidmet. Am Anfang der gemeinsamen Arbeit stand dabei die Frage, welchen Beitrag ganz unterschiedliche literarische Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zur Konstruktion, Bewahrung und Modifikation personaler und gruppenbezogener Identitäten leisten. Bekanntlich ist ‚Identität‘ als heuristisches Konzept in der jüngeren Vergangenheit häufig angefochten worden. Solche Kritik war dort zweifellos berechtigt, wo ‚Identität‘ essentialistisch als eine stillgestellte Größe, als eine verlässliche Konstante in einer ansonsten wandelbaren Welt aus soziokulturellen Gebilden, betrachtet wurde. In der Tat sind soziale Gruppen, Großgruppen, Ethnien und religiöse Gemeinschaften hybrid und wandelbar, so dass die Frage nach der – überzeitlich gedachten – ‚Identität‘ der Deutschen, der Humanisten, der Lutheraner etc. unweigerlich in die Irre führt. Der Identitätsbegriff, der den Göttinger Tagungen zu Grunde lag, soll gerade zur Sensibilisierung gegenüber solchen Essentialismen beitragen, indem er auf die Praktiken der Identitätsbildung abhebt. Dass es auf der Ebene historischer Denkformen, Repräsentationen, ja ganzer kultureller Imaginarien geschichtsmächtig wirksame Vorstellungen von Zugehörigkeit und Alterität gibt, ist unbestritten. Wie aber werden sie konstituiert? Um diese Frage zu beantworten, konzentrierte sich unsere gemeinsame Arbeit darauf, wie die schriftliche, häufig bildgestützte Präsentation von Vergangenheit als eine Praxis zur Bildung und zum Unterhalt von Gruppenidentitäten begriffen werden kann. Auf welcher gedanklichen Grundlage basierten diese Praktiken, und mit welchen gestalterischen Mitteln wurden sie in die Tat umgesetzt? Der Aufbau des Gesamtprogramms folgte daher auch nicht einer Typologie historiographischer Formate, sondern der Beschaffenheit sozialer Gruppen und den damit verbundenen Eigentümlichkeiten der jeweiligen Identitätskonzepte. Wurden während der ersten Tagung 2010 gattungs- und medienhistorische Voraussetzungen für die Repräsentation des Vergangenen erörtert, so setzte die zweite 2011 bei der Bedeutung von Geschichtsentwürfen für die Konstitution personaler Identitäten an. Die Tradition vormoderner Ich-Erzählungen spielte dabei eine herausragende Rolle. Die Beiträge dieser beiden Sektionen werden in diesem Band der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt. Der Folgeband mit den Beiträgen der Tagungen von 2012 und 2013 wird zur Hälfte den Identitätsentwürfen sozialer Gruppen und Stände gewidmet sein, wobei es um die Vergangenheitsinszenierung in Klöstern, um Häresiegeschichtsschreibung, französische Dichterschulen, Städte, den Klosterhumanismus und die frühe Philosophiegeschichtsschreibung gehen wird – dies stets rückgebunden an die Frage nach der Bedeutung der historiographischen Praxis für jeweilige Identitätsbildungen. Die andere Hälfte wendet dieselbe Fragestellung auf soziale Großaggregate an: auf Nati-

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 Vorwort

onen und Konfessionen. Hier werden die Magdeburger Centurien behandelt werden, ebenso die Papstgeschichtsschreibung, der Protonationalismus der Humanisten und der historische Rückblick auf die ‚Volksrechte‘. Neben den Beiträgern danken die Herausgeber vor allem jenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sie bei der Erstellung des druckfertigen Textes engagiert unterstützt haben. Auf Göttinger Seite sind Dr. Katharina Mersch, Lisa Schneider, Torge Ziemer und Tobias Uhlig zu nennen, während in Freiburg Linus Möllenbrink, Björn Buschbeck, Caterina Blech, Sarah Nienhaus und als umsichtige Koordinatorin Dr. Nadine Krolla beteiligt waren. Schließlich gilt unser Dank dem Verlag Walter de Gruyter für die gute Zusammenarbeit und die sorgfältige Drucklegung. Göttingen und Freiburg, am 26. Januar 2016 Die Herausgeber

Inhalt Vorwort 

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Teil 1: Paradigmen und mediale Aspekte der Geschichtsschreibung Markus Völkel Paradigmen der Geschichtsschreibung im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, oder: Das ‚mittlere Alter‘ als der Ursprung der Historiographiegeschichte   3 Matthias Pohlig Was ist Heilsgeschichte? Formen und Funktionen eines Deutungsmusters in Spätmittelalter und Reformation   54 Albert Schirrmeister Gegenwärtige Vergangenheiten. Historiographisches Publizieren im 16. Jahrhundert   78 Henrike Manuwald Mediale Inszenierungen von Geschichtsmodellen in den Codices picturati des «Sachsenspiegels»   114 Thomas Noll Ordnungsmodelle in der Kunstgeschichte. Von Boccaccio, Alberti und Vasari zu Kugler und Riegl   158

Teil 2: Vergangenheitsbilder in der Konstruktion personaler Identitäten Hartmut Bleumer Alexanders Welt Geschichte und Bild zwischen historia und Roman 

 193

Karl Enenkel Identitätskonstituierungen in der humanistischen Autobiographik des 14.–16. Jahrhunderts   220

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 Inhalt

Gabriele Jancke Selbstzeugnisse von Gelehrten und soziale Praktiken des Wortes – personale Identität? Personkonzepte, Zugehörigkeit und Vergangenheitskonstruktionen   234 Almut Schneider jâ, zwâre ich bin Achilles Identität und Narration im «Trojanerkrieg» Konrads von Würzburg 

 266

Berndt Hamm Iudicium particulare Personale Identität des Menschen und Gedächtnis Gottes in der spätmittelalterlichen Vorstellung vom Individualgericht   287 Jürgen Heidrich Virtuosenkult um 1500: Zur Konstruktion künstlerischer Identität am Beispiel des Organisten Paul Hofhaimer   320 Personen- und Ortsregister 

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Teil 1: Paradigmen und mediale Aspekte der Geschichtsschreibung

Markus Völkel

Paradigmen der Geschichtsschreibung im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, oder: Das ‚mittlere Alter‘ als der Ursprung der Historiographiegeschichte Je demande en general les livres qui usent des sciences, non ceux qui les dressent […]. J’ay mille fois regretté, que nous ayons perdu le livre que Brutus avoit escrit de la vertu: car il fait beau d’apprendre la théorique de ceux qui savent bien la pratique. (Michel Eyquem de Montaigne: Essais, II, 10. Hg. von Maurice Rat. Paris 1962, S. 394)

Im Folgenden geht es um die Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit im historiographischen, genauer historiographiegeschichtlichen Bereich, um Grenzwerte, die vielleicht doch die eine oder andere Beziehung zu ritualistischer ‚Liminalität‘ aufweisen, somit also neues Licht auf „den Beitrag unterschiedlicher literarischer Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zur Konstruktion von personaler und Gruppenidentität“ werfen können.1 Gruppenidentität wird dabei erweitert zu einer Bezugsgröße einer wissenschaftsgeschichtlichen Disziplinengenese. Diese Überlegungen eröffnet eine wissenschaftshistorische Rahmenbildung. Es folgt zweitens ein ‚Profil‘ bzw. eine Skizze möglicher ‚Schwellentexte‘ in Ermittlung der Konsequenzen der Rahmenbildung. Danach schließt sich drittens eine progressive Analyse von im ‚Schwellenprofil‘ gefundenen Texten im Hinblick auf die ‚Differenzbildung‘ Mittelalter/Neuzeit im Bereich der Historiographie an. Konservativ gefragt geht es darum, ob der ‚Übergang Mittelalter – Frühe Neuzeit‘ historiographiegeschichtlich ‚Substanz‘ bietet, und wenn ja, ob dabei Elemente oder Muster zum Tragen kommen, die für die Thematik „Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung“ disziplinengeschichtlich einschlägig sind.

I Rahmenbildung: Epochenschwelle und Epochenillusion Im Begriffsfeld „Epoche, Epochenschwelle und Epochenillusion“ stößt man auf ein vollständig gespaltenes Instrumentarium, ein ‚hartes‘ und ein ‚weiches‘. Das ‚harte Repertoire‘ umfasst die Vorstellungen der ‚Grenze‘, der Positionalität, also den Zwang, sich irgendwo verorten und irgendwann ‚verzeitlichen‘ zu müssen. Zu dieser Sparte 1 Frank Rexroth in der Einladung zur Tagung in Göttingen: „Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit“ am 18./19.11.2010.

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gehören auch ‚Geburt‘ und ‚Tod‘ und die Erfahrung der Verschiebbarkeit von Zäsuren. Zu den harten Faktoren rechnen weiterhin, wie Odo Marquard dies 1987 einmal in einem Beitrag «Temporale Positionalität» vorgeschlagen hat, die Grenzbeziehungen zu Gott, Raum und Zeit.2 Was Marquard daraus folgert, daß die europäische Denkgeschichte eine Aufgabe zunächst der Gottes-, dann der Raumgrenze sei, um kompensatorisch bei der Zeit zu enden, stellt dann gleichsam ein elastisches Mittelstück dar, eine Brücke zu den gänzlich weichen Faktoren. Mit ihm wechselt man zugleich zur ‚Epochenillusion‘ hinüber. Die realisierte Epochenansicht ist in der Regel bereits Epochenillusion. Man könnte sie auch die notwendige, unverzichtbare Fiktion einer Positionierung nennen. Es beginnt schon beim „Epochenumbruch“, für den es nach Hans Blumenberg eben „keinen Zeugen“ gibt.3 Die Epoche ist eine Verknüpfung von notwendigerweise stückhafter, perspektivischer und in sich selbst temporal begrenzter Erfahrung zu einem geschlossenen Ganzen. Solche Konstruktionen sind notwendig, aber auch hinfällig.4 Sie gehören nach Nietzsche zum „perspektivischen Charakter des Daseins“, folgen dramaturgischen Aufschwüngen – Nacht und Licht –, sind auf Erwartung und noch mehr auf Enttäuschung ausgerichtet.5 Es handelt sich um sinnhafte Selektionen, die falsifiziert werden können, aber zum Anschlusshandeln notwendig sind. Der Effekt, der sich in der Kombination von harten und weichen Kriterien inzwischen eingestellt hat, ist der, daß Zäsuren instabil sind, daß Zäsuren wandern, und daß die Zäsur stets ausgleichend für einen Verlust, für einen erwarteten Gewinn aufkommen muß, kurz, daß die Zäsur stets ein Gefälle anzeigt, also in einem dynamischen Verhältnis Unterschiede vermittelt. Der Rest ist eine Art ‚Mengenlehre‘ von Elementen wie Antike/Heidentum/Philosophie – Mittelalter/Religion/Glaube – Neuzeit/ Wissen/Technik – Postneuzeit, etc., in der man Funktion und Position miteinander korrelieren kann im Sinne von Erfüllung, Erwartung und Verlust. Historisch betrachtet zeigt sich dann, daß die Mittelalter-Neuzeit-Schwelle die bislang stilbildende Zäsur – und zwar durch Selbsteinschluß – gewesen ist:

2 Vgl. Odo Marquard: Temporale Positionalität – Zum geschichtlichen Zäsurbedarf des modernen Menschen. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hg. von Reinhart Herzog. München 1987 (Poetik und Hermeneutik. Band 12), S. 343–352 . 3 Vgl. Hans Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner. Frankfurt a. M., erweit. u. überarb. Neuausg. von Die Legitimität der Neuzeit Band 4. 1. Aufl. 1976, S. 7–33. 4 Im disziplinären Rahmen spielt die Epochenschwelle ihre konstitutive Kraft zusammen mit ihrem Zwangscharakter aus. Ohne Epochenschwelle gäbe es keine Mediävistik und kein Fach Frühe Neuzeit. Die Verteidigung von Epochen ist zuallererst institutionelle Selbstverteidigung des Status Quo und wäre dennoch so viel besser auf den Ebenen der Morphogenese und der Strukturierbarkeit von Wissen als auf der Ebene von Lehrstühlen zu führen. 5 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta Band 2. München 1966, § 374.



Paradigmen der Geschichtsschreibung 

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Die Neuzeit also ist, im Unterschied zum Mittelalter, nicht eher da als ihre Selbstauslegung, durch die sie zwar nicht hervorgetrieben wird, deren sie aber beständig zu ihrer Formierung bedarf. Das Selbstverständnis ist eines der konstitutiven Phänomene der beginnenden Geschichtsphase. Das macht den Epochenbegriff selbst zum signifikanten Element der Epoche.6

Das konzeptionelle Reservoir von Epoche, Zäsur, Epochenillusion bringt es weiter mit sich, daß in ihm auch noch eine ‚Hypertemporalisierung‘ stattfinden kann, d. h. selbst kleinere Formationen der Denk- oder Mentalitätsgeschichte können – fast parodistisch – mit ihrer eigenen Antike, eigenem Mittelalter, Neuzeit und Postmoderne zäsuriert werden. Diesem inneren Zerfall der Epoche, und damit vervollständigt sich die Epochenillusion, entspricht die Anstrengung, für die Epoche eine vollständige Genealogie oder Kausalitätsgeflecht aufstellen zu wollen. Sie endet in einer unaufhaltsamen Drift zu immer weiter zurückverlegten Anfängen, zu einer verfestigten ‚Uneigentlichkeit der Neuen‘, für die die Säkularisierung dann wirklich nur noch Häresie sein kann. Vor diesem Hintergrund sollte man sich der Einsicht nicht verschließen, daß die geistesgeschichtlichen Standardauslegungen zwar auf die Epochenschwelle zuführen, sie selbst aber kaum operabel machen: „Die Epoche ist der Inbegriff aller Interferenzen von Handlungen zu dem durch sie ‚Gemachten‘. In diesem Sinn der nicht eindeutigen Zuordnungsfähigkeit von Handlungen und Resultaten gilt, daß die Geschichte ‚sich macht‘. An den Figuren erfassen wir eher die Resultate als die Faktoren.“7 Hier würde man nun gern mehr zu Interferenz und uneindeutiger Wirkung wissen wollen, doch – präziser drückt sich Hans Blumenberg kaum jemals aus. So führt denn die offensichtliche Abneigung des großen Epochenbauers gegen jegliche – nichtmetaphorische – Methodologie dazu, sich anderswo umsehen zu müssen. Ein Schritt zurück, zu den Quellen Blumenbergs, namentlich Goethe, kann schon weiter führen: Wenn eine Wissenschaft reif ist, Wissenschaft zu werden, so muss notwendig eine Krise entstehen: denn es wird eine Differenz offenbar zwischen denen, die das Allgemeine im Auge haben und gerne das Besondere an- und einfügen möchten. […] Diejenigen, welche ich die Universalisten nennen möchte, sind überzeugt und stellen sich vor: dass alles überall, obgleich mit unendlichen Abweichungen und Mannigfaltigkeiten, vorhanden, und vielleicht auch zu finden sei: die anderen, die ich Singularisten benennen will, gestehen den Hauptpunkt im Allgemeinen zu, ja sie beobachten, bestimmen und lehren hiernach, aber immer wollen sie Ausnahmen finden, wo der ganze Typus nicht ausgesprochen ist, und darin haben sie recht. Ihr Fehler aber ist nur, dass sie die Grundgestalt verkennen, wo sie sich verhüllt, und leugnen, wenn sie sich verbirgt. Da nun beide Vorstellungs-Weisen ursprünglich sind und sich einander ewig gegenüberstehen werden, ohne sich zu vereinigen oder aufzuheben; so hüte man sich vor aller Konsequenz und stelle seine Überzeugung klar und nackt vor sich hin. So wiederhole ich das meinige: dass man

6 Blumenberg: Aspekte (wie Anm. 3), S. 19. Systemtheoretisch wäre die Epoche dann die Differenz, die die Selbstreferenz ‚Neuzeit‘ ermöglicht. 7 Blumenberg: Aspekte (wie Anm. 3), S. 31.

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auf diesen höheren Stufen nicht wissen kann, sondern tun muss – so wie an einem Spiele wenig zu wissen, und alles zu leisten ist.8

Man muß nur wenige Abstriche vornehmen, genau genommen nur auf die „Grundgestalt“, Goethes transevolutionäres Apriori, verzichten, um hier der präzisen Analyse einer Genese von Wissenschaft zu begegnen, die auf Differenzbildung beruht. Ansonsten scheint alles vorhanden, was sich für eine gegenwartsnahe Interpretation anbietet: Die „Krise“ für das „Werden einer Wissenschaft“; die längerwährende Unentscheidbarkeit der Zurechnung von Wahrnehmungen im Hinblick auf den Typus; ihre dann fortbestehende Differenz, ja ihr bewußtes ‚Überspielen‘ in einem gegenseitigen Prozessieren (Bestätigen gegen Falsifizieren), von dem jetzt nicht zu sehen ist, wo es jemals enden könnte. Was man nun an diesem Spiel ernst nehmen sollte, das sind vor allem seine Regeln, der Ernst, mit dem gewisse Operationen ‚jetzt‘ durchgeführt werden und den andere wissenschaftsaffine Personen ‚zuvor‘, leichtfertigerweise, nicht hatten.9 So kommen die Epochenschwelle oder die Genese einer Wissenschaft doch zu ihrem Pathos, das freilich in seinem gegenwärtigen Stadium ‚umbesetzt‘ werden muß, d. h. an dessen Stelle man nunmehr ‚Komplexität‘ lesen sollte.10 An den „unendlichen Abweichungen und Mannigfaltigkeiten“ mag man sich erfreut haben, aber die kontemplative Distanz und damit auch Lust am Beschauen muß dem methodischen Prozessieren der Differenzen weichen, die doch einmal Strukturen bilden sollen. Daß diese thematische Variation wie eine ‚Kehre zu Luhmann‘ aussieht, hört dann auf, eine bloße Analogiebildung zu sein, wenn man sich zugleich mit dem Verzicht auf die „Grundgestalt“ den fortbestehenden, ja gesteigerten Zwang zur Strukturbildung vor Augen hält. Auch die späten Wissenschaften – und die Historiographiegeschichte könnte die ganz späte Form der theoretischen Fassung einer ihrerseits späten Wissenschaft, i. e. ‚Geschichtswissenschaft‘ sein – benötigen eine Perspektive, in der sie die Erscheinung ihrer ‚reflexiven Selbstreferenz‘ wahrnehmen können. Besser spät als überhaupt nicht, was dann freilich den Rückgriff auf eine ‚spätestmögliche‘ Theorie nahelegt, um mit dieser Verspätung fertigzuwerden. In sie ist an dieser Stelle jedoch keine systematische Einführung zu geben. Einige Hinweise darauf, wie man sich in der Perspektive Luhmanns das Entstehen einer Geschichtsschreibung

8 Johann Wolfgang von Goethe: Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen. Hg. von Harald Fricke. Frankfurt a. M. 2005, S. 325f. 9 Blumenberg: Aspekte (wie Anm. 3), S. 25. 10 Daß das Pathos der Komplexität ein im Kern anticartesianisches Pathos ist, betont Edgar Morin: Introduction à la pensée complexe. Paris 2. Aufl. 2005, S. 21: „D’où la nécessité, pour la connaissance, de mettre de l’ordre dans les phénomènes en refoulant le désordre, d’écarter l’incertain, c’est-à-dire de sélectionner les éléments d’ordre et de certitude, de désambiguïser, clarifier, distinguer, hiérarchiser […] Mais de telles opérations, nécessaires à l’intelligibilité, risquent de rendre aveugle si elles éliminent les autres caractères du complexus; et effectivement, comme je l’ai indiqué, elles nous ont rendus aveugles.“



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denken kann, die selbstreflektiv wird, und dazu im Reflexionsvollzug auf der Epochenschwelle mit Historiographiegeschichte experimentiert, sollen genügen.11 Das Thema an sich weist selbst bereits eine rekursive Gestalt auf. Wie beschreibt man eine Disziplinengenese, die die zu ihrer Konstitution notwendige Historisierung und Kontextualisierung ihrer Produktion immer wieder verzögert bzw. diese stets aufs Neue von ihrer Methodenreflexion abkoppelt? Das Bewußtsein der wichtigen Autoren seit 1500 von der Andersartigkeit ihrer Geschichtsschreibung im Vergleich zu ihren ‚Vorfahren‘ ist einerseits deutlich zu greifen, führt aber auf der anderen Seite weder zu einem geschlossenen disziplinären Paradigma noch zu einer konsequenten ‚Temporalisierung‘ der Vorfahren. Die Ausdifferenzierung der Wissenschaft, so Luhmann, benötigt Selbstreferenz. Diese sollte man, ausgehend von wenigen Hintergrundannahmen, umkreisen, um sich anschließend in groben Zügen der erwähnten Disziplinengenese zuzuwenden. Es ist für soziale Systeme keineswegs einfach, ihre historischen Erfahrungen zu ‚enttautologisieren‘, also nicht nur Neues, sondern beständig Neues und dieses wiederum als möglicherweise fundamental Anderes zuzulassen. Wer der ‚Erste‘ ist, als Großreich, als Religion, als Wirtschafts- und Kommunikationsform, möchte es gemeinhin bleiben und selektiert historische Verläufe dann rigoros auf seine eigene Identität zu. Das Neue muß sich dann geradezu aufzwingen, indem es zentrale Operationen unterbricht, und es kann dementsprechend sehr lange dauern, bis es in möglicherweise noch sehr periphere historiographische Operationen eindringt. Dabei gehörte es zur Stabilisierung der Identität sozialer Systeme, Welt- und Eigenhandeln als – idealtypisch – gleichsinnig aufzufassen. So gelangt der Sinn der externen Vorgänge, als Handlung, sofort an die Stelle, wo man interne, eigene Handlungen anschließen kann. Es ist schon schwierig genug, sich als handelnd von der Natur zu ‚abstrahieren‘ und dann auch noch zum ‚Erleben‘ als einer extern geführten Basis von Selektionen zu gelangen. Dann teilt man (i. e. Ego) zwar das binäre Schema der Selektion (Ja/Nein) mit seinem Nebenmenschen (Alter), aber das, was man traditionell (psychisch) als ‚Erlebnis‘ bezeichnet hat, muß dann seinerseits – aller Unmittelbarkeit beraubt – kodiert werden, d. h. ganz ungewöhnlich bescheiden enge Grenzziehungen am Material, der Methode und der Theorie erdulden.

11 Die folgenden Überlegungen stützen sich vorwiegend auf Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn. Zur Genese von Wissenschaft (1981). In: Ders.: Ideenrevolution. Frankfurt a. M. 2008, S. 132–185 und Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1992, S. 446–468. Eine harsche Kritik von Luhmanns Konzept der Komplexität vollzieht Walter L. Bühl: Luhmanns Flucht in die Paradoxie. In: Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns. Hgg. von Peter-Ulrich Merz-Benz und Gerhard Wagner. Konstanz 2000, S. 225–256. Allerdings ist die Problemstellung von Wissenschaftsgenese, die Luhmann liefert, bisher nicht überboten worden. Sein Aufriß kann nach Meinung des Verfassers unabhängig von systemtheoretischen Fundierungsfragen als veränderungsfähige Blaupause für die Wissenschaftsgeschichte verwendet werden.

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Spielt man dieses Modell durch, dann zeigt sich, mit wie radikal abgewandelten Kontingenzformeln die sozialen Systeme ihre internen Operationen heute steuern müssen. Was ist möglich, was unmöglich, was erwartbar, was war nicht zu erwarten? Welche Gattungslogik ist noch zulässig, welche Typologik statthaft, mit Regelmäßigkeiten welcher Art soll man operieren, wie bestätigt bzw. falsifiziert man, soll man funktionale Vergleiche durchführen? Entscheidend bei dieser Veränderung ist die Umstellung von ‚normativen‘ auf ‚kognitive Erwartungen‘. Normative Erwartungen halten sich auch im kontrafaktischen Fall, sie blockieren Lernbereitschaft. Kognitive Erwartung erlaubt sich und anderen, flexibel mit widersprechenden Sachverhalten umzugehen. Der Raum für mögliche Relationierungen wird sowohl gedehnt als auch akzeptiert, so daß dieses neue oder auch nur anders platzierte Element den Spielraum für weitere altehrwürdige Elemente einschränkt. Letztlich schlägt die kognitive Erwartung gleichmäßig auf den Theorie- wie Methodenrahmen durch und schafft Legitimationsmöglichkeiten für das Neue. Diese Legitimierung kann bereits die Form einer neuen Disziplin annehmen oder aber sich mit theoretischen wie methodischen Veränderungen in alten begnügen. Für die historische Selbstreferenz sozialer Systeme bedeutet das weiterhin, daß sich ihre variationslos identifizierende, nach Jan Assmann „kalte Funktion“ abschwächt und aus Selektionen wie dem Kreislauf oder dem Exemplum ausbiegt. Dynamik und Fortschritt können zu Erwartungen werden, für die es dann allerdings sehr schwer wird, auf ein Apriori zu verzichten, d. h. doch noch konsequent auf ‚Erleben‘ umzuschalten. ‚Erleben‘ bedeutet hier, die Zustandsveränderung/das Verhalten eines Systems dessen Umwelt zuzuschreiben, ‚Handeln‘ dagegen, die Zustandsänderung dem System selbst zuzurechnen.12 Die Mitteilung einer Information erscheint dann als Handeln und vollzieht die Referenz auf das System, oder die mitgeteilte Information erscheint dann als Erleben und vollzieht die Referenz auf die Umwelt. Diese Differenz zieht gravierende Folgen nach sich, erlaubt sie doch dem Beobachter, der sie vollzieht, für historische Vorgänge völlig unterschiedliche Beschreibungsebenen zu wählen. Eine davon wäre ‚extern‘ positioniert und würde auf anonymes Wissen zielen, das gilt, ganz gleich von wem es erzeugt wird; die andere, vom Handeln ausgehend, würde gegensätzliche Interessen und Motive entdecken. Dieser Wechsel wirft dann die Frage auf: Soll die historische Selbstreferenz mit oder ohne Apriori, d. h. dem ‚letzten Apriori‘ Lebenswelt operieren? Während nun im Bereich der soziologischen Erkenntnistheorie die Lebenswelt als letzter tragender Grund leicht zurückgedrängt werden kann, fällt das im Bereich der historischen Disziplinen ausgesprochen schwer. Das liegt wohl daran, daß man in der Lebenswelt immer wieder auf Teleologien trifft und auf symmetrische Sinnzuweisungen (eins-zu-eins-Parallelen von Welt und Handlungen), die eben ihre historische Dignität als nachweisbare (erfolgreiche) Strukturierungen schon ‚bewiesen‘ haben, so daß der Verzicht darauf in einen allgemeinen Sinnlosigkeitsverdacht mündet, also in 12 Luhmann: Wissenschaft (wie Anm. 11), S. 141.



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ein Versagen genau auf dem Gebiet, auf dem die historische die theologische Selbstreferenz seit dem 17. Jahrhundert beerbt hatte. Lange Zeit sah es so aus, als läge genau hier das unhinterfragbare Apriori einer historischen Disziplin in striktem Sinne, was zu den oben angedeuteten Bemerkungen zur Disziplinengenese überleitet. Wie implizit ‚historisch‘ Luhmann bei der Analyse von Wissenschaft vorgeht, zeigen gerade seine Bemerkungen zur Dynamik der Disziplinen. Sie ist für ihn keine monokausale, theoriegesteuerte notwendige Entwicklung, sondern eine komplexe Gemengelage als Ergebnis der Folgen theoretischer Entscheidungen, Auffassungen von Gegenständen und Phänomenbereichen, Reaktionen (Selektionen) aufgrund erhöhter interner Anschlußfähigkeit in einem Feld sowie den Reflexionstheorien einzelner sozialer Funktionssysteme (Staat, Erziehungsbereich, Gesundheitsfürsorge, etc.), die alle zusammen eine ‚Disziplin‘ erzeugen. Abbilden läßt sich dies nur in einer ‚strukturhistorischen Erzählung‘. ‚Disziplin‘ wird dabei als Subsystem im Wissenschaftssystem verstanden, das auf Dauer einen bestimmten Wissenstyp expansivinnovativ hervorbringt. Erste Hinweise auf eine mögliche Verortung der Geschichte liefert Luhmann mit der Unterscheidung von älteren sozialbezogenen und jüngeren wissenschaftsintern orientierten Disziplinen. ‚Ältere Disziplinen‘ wie Theologie, Jurisprudenz, Medizin und die artes schmiegen sich eng (Ausbildung von Funktionären) an die Sozialsysteme und deren gewählte Gegenstandsbereiche an. Diese helfen, die Disziplinen zu stabilisieren, indem sie sie symmetrisch zu ihren eigenen Strukturen organisieren. Anders die ‚jüngeren Disziplinen‘ wie Physik, Chemie, Biologie, Psychologie oder Soziologie, die aus theoretisch erzwungenen Entscheidungen erwachsen sind und die Welt in systeminternen Strukturen ordnen, sich dementsprechend also ihrer internen Dynamik folgend ausdifferenzieren. Indem sich nun die ‚Geschichtswissenschaft‘ in diesem Schematismus nicht wiederfindet, stellt sich für die Historiker, und hier vor allem für die Vertreter ihrer Fachgeschichte, eine besondere Herausforderung, denn eine ‚historische Disziplin‘ ist unbezweifelbar entstanden. Hier bietet es sich an, zunächst mit der Differenz ‚ältere – neuere Disziplin‘ zu operieren. Die älteren Disziplinen lassen es offensichtlich durch ihre sozialen Zentripetalkraft nicht zu, daß eine Ausdifferenzierung einer ‚historischen Disziplin‘ so einfachhin erfolgen kann. In diesem Zusammenhang sollte man sogar noch einen Schritt zurückdenken, nämlich an die Binnendifferenzierung der vorhandenen älteren Disziplinen, die offensichtlich selbst noch nicht so weit gediehen ist, daß Optionen (Selektions- und Relationierungsmöglichkeiten) für einen disziplinären historischen Kern eröffnet werden. Andererseits bieten sich die ‚jungen Disziplinen des 19. Jahrhunderts‘ als Kontrastprogramm an. Ihnen gelang es, ihre Theorie- und Methodenprogramme soweit von direkter sozialer Beeinflussung abzukoppeln, daß sie den Anschein reiner autonomer Wissenschaft erwecken konnten. Im Verlauf ihrer Ausdifferenzierung haben sie auch Theorie- und Methodenangebote an die ‚älteren Disziplinen‘, auch an die Geschichtswissenschaft, gemacht, die aber zum größten Teil (Mathematisierung von Beweisen, empirischer Positivismus, soziale

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Gesetze, evolutionäre Modelle, etc.) von diesen zurückgewiesen wurden. Hier eröffnet sich eine ‚Negativgeschichte‘ von disziplinärer Geschichte, die noch gar nicht geschrieben ist und doch zur Erhellung der für die Genese der historischen Disziplin notwendigen Selektionen viel beitragen könnte. Die Analyse der Genese der historischen Disziplin sollte also im Zwischenbereich von ‚älteren und neueren Disziplinen‘ vorgenommen werden, freilich nicht in der Perspektive hierarchisch (durch Leitdisziplinen) bzw. funktional (durch totalisierende Steuerung) erzwungener Differenzierung. Als Untersuchungskonzept sollte vielmehr die ‚segmentäre Differenzierung‘ dienen. Dabei gilt es im Auge zu behalten, daß für die langfristige Analyse der historischen Disziplin überhaupt erst einmal (seit dem 15. Jahrhundert) der Übergang zu einem ‚vorparadigmatischen Zeitalter‘ beobachtet werden muß und erst danach der Übergang zu einem wie auch immer gearteten ‚disziplinären Paradigma‘. Sofort zum paradigmatischen Zustand gelangen zu wollen setzt vor allem die komplexen Kopplungen der Historie an die älteren Disziplinen und sozialen Subsysteme außer Kraft. ‚Segmentäre Differenzierung‘ nun wird von Luhmann als eine Art Schaukelbewegung von ‚Varietät‘ (viele Gegenstände, Überraschungen) und Redundanz (Konstruktion des beständig Wiederkehrenden) über Kombinationen und ihre Steigerungen strukturiert. Gesteigerte Rekombinationen erlauben dabei zunächst unvorhersehbare neue Varietäten mit anschließender, notwendig reduktiver Gegenstandskonstitutionen, wobei zunehmend intern in der Disziplin erzeugte Kriterien zur Anwendung kommen. Diese ‚staubtrockenen‘ Bewegungsraster lassen sich freilich theorie- wie methoden- und disziplinenhistorisch durchaus mit ‚Leben‘ bzw. Anschauung füllen. Vor allem wird bei einer Durchführung der Analyse auf dem Feld der historischen Disziplinen deutlich, daß auch ihr Schema, wiederum Luhmann aufgreifend, keine ‚perfekte Ordnung des Wissens‘ darstellt. Die segmentäre Disziplinendifferenzierung eröffnete auch der Historie mehr und spezifischere Innovationschancen. Auch die Historiker konnten den Dualismus Theorie/Methode für sich dynamisch anwerfen und so immer mehr und immer ‚neueres‘ Wissen erzeugen. Und auch die ‚historische Disziplin‘ erlaubte in ihrem Gehäuse das Überwintern unwahrscheinlicher Innovationsvorschläge durch Außenseiter. Ganz zu schweigen davon, daß auch die historische Disziplin sich beim Theorienwandel oft nicht von ‚höherrangigen Theorien‘ leiten ließ, sondern von den ‚tribal rules‘ ihrer Zunft. Gleichzeitig hält der Aufbau einer Disziplinengenese im Bereich der Geschichte noch eine weitere Herausforderung bereit, insofern deren Ausdifferenzierung, vor allem durch den Einbau von Zeitstrukturen in andere disziplinäre Selektionsmuster, den ‚Umweg‘ über zahlreiche andere Disziplinen genommen haben könnte, bevor sie sich selbst zu einem disziplinären Kern verfestigt hätte. Damit müßte man Luhmanns Ansatz einer vorwiegend lokalen, d. h. gänzlich internen Anforderungen verpflichteten Ausdifferenzierung von Disziplinen zumindest teilweise widersprechen. Es könnte also sein, daß gerade über die Bereitstellung von neuen Zeitverhältnissen eine bei Luhmann verabschiedete Form von inter- oder sogar überdisziplinärer Dynamik



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wirksam gewesen wäre. Damit wäre – gewiß nur in Teilaspekten – die historische Disziplin eben nicht nur eine Disziplin wie jede andere, sondern eben auch die ‚Form‘ bzw. das ‚Medium‘ der Ausdifferenzierung mancher anderen Disziplin. Diese Differenz der historischen Disziplin zu anderen Disziplinen könnte dann auch ihre relative Verspätung gegenüber den älteren und ihr Veralten gegenüber den jüngeren erklären. Freilich führt diese Überlegung weit über die Aufgabenstellung dieses Beitrages hinaus. Stattdessen erscheint es nunmehr sinnvoll, sich dem angekündigten zweiten Abschnitt zuzuwenden, d. h. ein ‚Profil‘ oder eine Skizze möglicher ‚Schwellentexte‘ im Verfolg der Konsequenzen der Rahmenbildung zu zeichnen.

II ‚Schwellentexte‘ für eine historiographische Epochenschwelle Als welches konstitutives Element welchen Typs von disziplinärer Selbstbeschreibung kann ‚historiographisches Wissen‘ – also ein Wissen von Historiographie, das eine temporale Struktur aufweist – auf der Epochenschwelle Mittelalter/Neuzeit überhaupt erscheinen? Welches ‚Selbst‘, d. h. welche Weise selbstbezüglichen Operierens kann hier auftreten? Wie gestaltet es den Rückgang auf sich selbst, und vor allem, durch welche ‚Themen‘ wird diese Aufmerksamkeit auf sich selbst angeleitet?13 Dabei wird man diese Themen weiterhin vor allem als ‚Selbstsimplifikationen‘, also Reduktionen von Komplexität auffassen müssen, die für Selbstbeschreibungen typisch sind, die schließlich auf ein Angebot von ‚Modellen‘ (Theorien) hinauslaufen, mit denen sich eine Disziplin von anderen unterscheiden möchte. Fügt man in dieses potentielle Verlaufsschema noch die von dem Konzept der ‚segmentären Differenzierung‘ angetriebene Dynamik hinzu, dann ist bereits die Grenze der Komplexität erreicht, mit der die vorliegende Untersuchung operieren kann.

1 Johannes Trithemius (1462–1516) Auf den Benediktinerabt Johannes Trittenheim gehen die ersten beiden Bücherkataloge der ‚deutschen Literatur‘ zurück, der «Cathalogus illustrium virorum germaniam … exornatium» (1491–1495), direkt auf die «Germania» bezogen, und «De scriptoribus ecclesiasticis» (1494) für das europäische schriftstellerische Personal der Kirche. Trithemius gibt dabei zuerst eine alphabetische Aufstellung der Autoren nach praenomina, um den eigentlichen Katalog in einer ungefähren Chronologie abzuwickeln. Der Eintrag zu Einhard, dem Biographen Kaiser Karls des Großen, liest sich wie folgt: 13 Vgl. Niklas Luhmann: Rationalität in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Ideenrevolution (wie Anm. 11), S. 186–233, bes. S. 225–232.

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Einardus praedicti Caroli imperatoris magni quondam cancellarius, et postea monachus ordinis divi patris benedicti, et primus abbas monasterii selgenstatensis moguntine diocesis supra mogonum. vir in secularibus litteris eruditissimus: et divinarum scripturarum non ignarus. ingenio acutus, eloquio disertus: vita et conversatione praecipuus: grece ac latine peritus et tam metro quoque prosa excellens: inter cetera ingenii sui opuscula psalterium galicanum abbreviavit excerpens de illo omnes versus orationis verba habentes. Scripsit etiam tam ex persona sui quoque imperatoris multas elegantes et utiles epistolas ad diversos in variis negotiis et causis. Gesta quoque caroli imperatoris. Li.i. Notabilem insuper historiam temporum de gestis germanorum et francorum. Li.i. Et quedam alia que ad nos minime venerunt. Claruit sub carolo imperatore magno et ludovico filio eius. Anno domini. Dccc.xx.14

Die Einheit für die Unterscheidungen, die der Bibliograph benutzt, ist der auctor. Dessen Werk wird, im Ausschnitt, vor seiner klerikalen Position, ohne genaue Angabe ausgebreitet, d. h. ohne Incipit oder überlieferten Werktitel. Mit dem «Cathalogus» konstituiert Trithemius eine Gruppe von litterati, in die er sich – als letzten Eintrag – selbst hineinschreibt und als auctor dadurch legitimiert, daß seine ‚Selbstbeschreibung‘ der seiner Kollegen genau gleicht. Der beständig mitlaufende Selbstbezug ist das ‚Schreiben‘, das nur eine Differenz zu den Nichtschreibern und ungeschriebenen Werken erzeugt, nicht aber zwischen den Genera des Geschriebenen. Diese werden zwar aufgeführt, darunter auch historia, fasciculus temporum (bei Rolevinck), chroncia, carmina heroica und, wie bei Cusanus, die Gedächtniskraft gerühmt: Historias omnes memoria retinebat, aber sie entstammen allesamt der auktorialen Befähigung zu den litterae. Als ‚Thema‘ benutzt Trithemius die «Germania», die er in die Gesamtheit der christlichen respublica litteraria einschreiben möchte, ohne sie freilich wirklich von ihr unterscheiden zu wollen, wie sein parallel zum «Cathalogus» entstandener «Liber de Scriptoribus ecclesiasticis» beweist. Innerhalb der Gruppe der litterati ist es ganz offensichtlich noch zu keiner weiteren funktionalen Differenzierung gekommen, genauso wenig wie es zu einer medialen Differenz zwischen Manuskripten und Druckwerken kommt, eine Unterscheidung, die wohl niemand so gut wie Trithemius hätte treffen können.15 Und schließlich ist auch noch die Zeitdifferenz zwischen historischen (literarischem) Gegenstand und Leser von der Einheit einer Historiker und sein Objekt umfassenden Gegenwart neutralisiert: Sola igitur historia est, qua fit, ut qui longissimi temporis intervallo a veteribus illis disiungimur, et illorum gestis interfuisse, et illis iisdem vixisse temporibus per lectionem videamur.16 Zusammenfassend läßt sich sagen: Im Bezug auf den bereits stattlichen Schriftenvorrat des Benediktinerabts an der Schwelle zum 16. Jahrhundert macht die Nennung 14 Johannes Trithemius: Cathalogus illustrium virorum germaniam suis ingenijs et lucubrationibus omnifariam exornantium. Mainz 1491–1495, fol. V. 15 Vgl. Johannes Trithemius: De laude scriptorum manualium mit Widmungsbrief des Autors an Gerlach von Breitbach 1492. Mainz 1494, Cap. X: De materia quam scribant. Hier sind dann die Unterschiede, welcher Mönch was, zu welcher Zeit zu lesen und zu schreiben hat, sehr ausgeprägt. Als erheblich erscheinen auch die Unterschiede im Schriftgut gemäß dem rhetorischen System. 16 Johannes Trithemius: Tomus I Annalium Hirsaugiensium. Sankt Gallen 1690, unpag. Praefatio.



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der historiae noch keinen Unterschied, und das inner- wie außerhalb des literarischen Feldes, inner- wie außerhalb der respublica litteraria. Dem widerspricht die Erkenntnis nicht, daß der größte Teil der Schriften des Trithemius historische Werke sind und er – im Bewußtsein deutlich unterscheidbarer Produktionsnormen – eine beachtliche Anzahl von historiographischen Genera bedient: Annalen, Chroniken, Kompendien und die Biographie. Ohne sapientia, sanctitas und fortitudo bleibt dann seine historia z. B. gegenüber den biographischen Subjekten noch hilflos, muß also gerade deshalb auf die eigene identifikatorische Differenz verzichten.17 Man könnte es deshalb für angezeigt halten, sofort einen großen Schritt dorthin zu machen, wo der Titel einer Bibliographie einen ganzen Raster von Differenzen aufruft und den Anschein einer – immerhin möglichen – funktionalen Differenzierung der Historien ergibt, etwa Paulus Bolduanus’ «Bibliotheca historica» von 1620. Mit diesem Schritt würde man jedoch auf die Um- und Abwege verzichten, die erst zu einem stabilen Selbstbezug des historiographischen Feldes geführt haben und eine Teleologie produzieren, denen die Selbstbeschreibungen gerade des 16. Jahrhunderts so gut wie niemals entsprochen haben. Es bleibt also nur übrig, in kleineren Abständen vorzurücken und damit auch die Anzahl der möglichen Umwelten der historiae zu steigern.

2 Juan Luis Vives (1492–1540) Der spanische Humanist jüdischer Abstammung, der seit 1512 im freiwilligen Exil in den Niederlanden lebte, verteidigte das rhetorische Bildungssystem als ‚Inbegriff ingeniösen Sprechens und Philosophierens‘ gegen den erneuerten Offenbarungsglauben des konfessionellen Zeitalters.18 Das ingenium erlaubt es dem Menschen, in allen Notlagen der Geschichte sprechend, handelnd und erkennend erst zu überleben, dann besser zu leben. Ingenium ließe sich somit als das Vermögen bezeichnen, lebensweltliche Rollen imitativ anzuleiten. Im sechsten Buch seines Hauptwerkes «De tradendis disciplinis», De corrupta philosophia morum, kommt Vives auf die Handlungsklugheit (prudentia) als peritia accommodandi omnia zu sprechen, die sich für ihn aus zwei Quellen speist: ex experimentis und ex historia.19 Das folgende Lob der Geschichte (laus historiae) ist zugleich ein Lob auf die medial, durch Schrift und Laut, 17 Vgl. Trithemius’ Unterscheidung von historia universalis, specialis und topicon, in: Annalium Hirsaugiensium (wie Anm. 16), umpag. Praefatio. Zum Schriftsteller Trithemius Noel L. Brann: The Abbot Trithemius (1462–1516). The Renaissance of Monastic Humanism. Leiden 1981, Cap. IV. C. „The role of historical recollection“, S. 303–344. 18 Juan Luis Vives: Über die Gründe des Verfalls der Künste. De causis corruptarum artium. Lat.-dt. Ausgabe. Hg. von Emilio Hidalgo-Serna. München 1990 (Humanistische Bibliothek, Reihe II, Texte. Band 28), S. 35–42. 19 Die folgenden Zitate nach der Ausgabe Ioannis Ludovici Vivis Libri XII. De disciplinis. London 1612, S. 347–360.

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begründete Existenz des Menschen. Möglich wird diese erst, indem sie die Differenz von selbsterfahrenem und medienvermitteltem Wissen (so gut wie) aufhebt. Auf die nun anschließende Reihe der wissensbegründenden Funktionen der historia muß man nicht weiter eingehen. Stattdessen kann man der Logik folgen, die die prudentia erst aus der Kenntnis von Ursachen und Folgen hervorgehen läßt und deshalb, ihrer medialen Verfassung gemäß, auch die Authores historiae zu den Strukturen zählt, mit denen das ingenium fortwährend operieren muß. Folglich trifft man an dieser Stelle auf eine Historiographiegeschichte in der Form eines siebenseitigen Catalogue raisonné von gut 150 Autoren. Man darf sie in ihrer Form als Selbstbeschreibung des ingenium als eine der ersten ihrer Art überhaupt betrachten. Für Vives fällt nämlich der Lauf der Geschichte buchstäblich mit dem der geschriebenen Historien zusammen, wobei die ‚beste Geschichte‘ in ihrer organischen Einheit diesen Verlauf auch adäquat widerspiegelt: Cursum historiae a primo vel mundi, vel gentis alicuius initio continuatum ad postremum usque praestat inspicere, idque si fiat, rectius percipiuntur, ac tenentur omnia, quam per partes interruptas, non aliter quam si in descriptione orbis universitas terrae ac maris uno aspectu ob oculos ponatur, facilius erit mundi faciem, et singulorum ordinem, situmque intelligere. Polybius Megapolitanus totius humani generis historiam similem animanti facit integro, particulares vero narrationes disiunctas eidem membratim discerpto, cuius figuram, pulchritudinem, vires nemo es partibus ita laceris olliget. Quapropter et nos historiae membra sic copulabimus, ut unum existimemur coagmentasse ex multis, si non ut animal unum, ut structuram utique unam compositione actum, servata, quantum quidem per diversitatem scriptorum, ratione temporum, quo nihil est historiae aptius, aut congruentius.20

Es gehört zu den zentralen Aufgaben des ingenium, die zu einem ‚einzigen System‘ (structura) bestimmte Geschichte über die Einschaltung einer Historiographiegeschichte auch de facto zum Leben zu erwecken. Wie schwer das fällt, trotz des Vorbildes des Polybius und trotz der zeitlichen Codierung früher/später (ratione temporum), beweist der Katalog dann zur Genüge. Vives springt zwischen den Zeiten, zwischen den Gattungen, zwischen den Räumen und zwischen den Wahrheitskriterien hin und zurück. Mag das animal historicum ein Ganzes sein, dessen Struktur bleibt beim ersten Blick rätselhaft wie im folgenden Abschnitt: Baptista Aegnatius Caesares brevissime recensuit ad Maximilianum. Navigationes Oceani et orbem novum repertum suo tempore Petrus Martyr Mediolanensis monimentis literarum consignavit. Sed postea sunt res ampliores consecutae et quae fabulosae videbuntur ad posteros, cum sint tamen multo verissimae. Sigillatim quorundam vitas ediderunt varii, ut Tacitus Agricolae soceri, Severus divi Martini, Paulinus Ambrosii, Pontinus Cypriani, Hieronymus Paulae, Hilarionis, Malchi. Nuper Laurentius Valla Ferdinandi regis Aragonum, Antonius Panormitanus acta et dicta Alphonis Fernandi huius filii.21

20 Vives: De disciplinis (wie Anm. 19), S. 353f. 21 Vives: De disciplinis (wie Anm. 19), S. 359.



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Der cursus historiarum verläuft hier zwischen «De Caesaribus» (1516) des Giambattista Egnazio (1478–1553), also einer Fortsetzung der «Historia Augusta» bis in die Gegenwart, «De orbe novo» (1516) des Petrus Martyr von Anghiera (1457–1526), Tacitus’ «De vita Iulii Agricolae», diversen Hagiographen und den neapolitanischen Herrscherbiographien von Valla und Beccadelli. Welcher Zusammenhang wird angestrebt, mit welcher Differenz wird er hergestellt? Erneut muß man feststellen: nichts anderes als eine ingeniöse Struktur ist gemeint, die sich dem Menschen, als organische Einheit, erst im Handeln vorstellt, eine Struktur, in der er sich lesend und schreibend orientieren kann. In dieser Einheit werden Schwellenphänomene der Zeiten und ihrer Bewertung nachrangig, da das ingenium über die richtige vis accommodandi verfügt. Das ingenium wirkt sich ‚überzeitlich‘ aus und zerteilt sich nicht selbst in Phasen oder gar Typen temporal differenter Performanz.22 In «De disciplinis» kann somit eine disziplinäre Ausdifferenzierung von Historiographie gar nicht erfolgen. Gleichwohl bleibt die ungefüge Masse historiographischer Informationen in der Strukturierung durch das ingenium operabel und kann von Vives, zur Überraschung des späteren Lesers, in stets neuen Variationen als organische Einheit inszeniert werden; so etwa beim reibungslosen Übergang von den authores historiae zur Moralphilosophie: Cum historia coniuncta et complicata erunt vitae publicè et privatim instituendae praecepta. Quae universa institutio eo pertinere debet, ut rectus quidam ordo conservetur, et sua cuique maneant debita officia: ne quod natura et recta ratio inferius esse iubet, fiat superius: […].23 Im gesicherten Zusammenhang der Historien sind also Ort und Funktion auch der praecepta moralis in einer organischen Einheit gegeben. Die als offener, unsystematischer Katalog verfaßte Historiographiegeschichte soll diese Einheit explizit ‚vor Augen stellen‘. Nur hier, wie auch im ingeniösen Gesamtplan von «De disciplinis», 22 Anders sieht es aus, wenn man wie Sebastián Fox Morcillo (1526/1528–1559?), ein Landsmann von Vives und Wahlniederländer wie er, sich zur klassischen rhetorischen Position des Fort- und Umschreibens bekennt. In seinem «De historiae institutione dialogus» benutzt er zwar nur wenige ausgewählte antike Autoren zur Exemplifizierung der historiographischen Normen, beklagt aber, ausgehend vom wenig Vertrauen verdienenden Berosus, zwei Überlieferungslücken, eine vor und eine nach den Römern. Vgl. Antonio Cortijo Ocana: Sebastián Fox Morcillo. De historiae institutione dialogus. Diálogo de la enseñanza de la historia (1557). Alcalá 2000 (Ensayos y documentos. Band 35), S. 177 (§ 216): Nihil enim habemus ab eo tempore quo, Roderico, Gotthorum et Hispaniae rege, victo, universam fere provinciam Mauri occuparunt, nisi fabulosum, puerile et obscurum. Idemque vix dum extaret, nisi ex Roderici Toletani episcopi fragmentis et quaedam Alfonsi regis, eius qui et tabulas astronomicas et septem partitas leges patria lingua fecit historia, ac Valerii cuiusdam, qui Ferdinandi quinti vixit temporibus, revocatum esset. Itaque et haec media quae retuli et prisca illa, ante Romana res, obscura ac fabulis plena sunt. Es gibt also, S. 177 (§219), zwei aetates interiectae, prima Romanorum, secunda haec nostrae memoriae proxima, die sich als historiographische ‚mittelalterliche‘ Problemzonen erweisen. Zum vergleichbaren deutschen Gebrauch eines rein distanzierenden Mittelalterbegriffs siehe Uwe Neddermeyer: Das Mittelalter in der deutschen Historiographie vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Köln/Wien 1988, S. 110–114. 23 Vives: De disciplinis (wie Anm. 19), S. 361.

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macht sie keinen Unterschied, und gerade auch für sich selbst. Sie verbleibt, gerade als deren mediale Fortsetzung, zu nahe an den experimenta der Sinneserfahrung.

3 Jean Bodin (1529/1530–1596) Die Mitte des 16. Jahrhunderts verzeichnet einen signifikanten Anstieg von Traktaten, die die Historien als ars oder vermittels einer methodus thematisieren.24 Derartige Abhandlungen hatte es von Seiten der rhetorisch-peripatetischen Philosophen zuletzt während des Hellenismus gegeben, solche auf der Basis ‚methodisierter Empirie‘ waren eine Erfindung der Neuzeit.25 Als der badische Amtmann Johannes Wolff (1537–1600) diese Schriften 1579 bei Petrus Perna in Basel in zwei Bänden herausgab, stellte er, ohne es zu wissen, die Weichen für die künftige Reflexionsgeschichte der Geschichte. Was in seinem «Artis historicae penus» abgedruckt war, gelangte in den Kanon der methodologischen Selbstbeschreibung, was nicht, und das war weder unbedeutend noch wenig, wird zum Teil bis heute nicht wahrgenommen.26 Innerhalb der ars-historica-Traktate finden sich, mit einer aufschlußreichen Ausnahme, keine Historiographiegeschichten.27 Obwohl es in ihnen immer auch um die

24 Vgl. Anthony Grafton: What was History? The Art of History in Early Modern Europe. Cambridge 2007. Graftons Werk gibt sich als neue ‚Meistererzählung‘ dieser Phase frühneuzeitlicher Reflexion von Geschichte. Dementsprechend sollte man «What was History?» auch wie ein Narrativ von Ranke, Macaulay oder Stubbs lesen. 25 Diese ‚empirische Originalität der Neuzeit‘ läßt sich, ungeachtet einer deutlichen Rezeption der hippokratisch-galenischen Empiriekonzepte in der Epoche, aufrechterhalten; hierzu: Historia. Empiricism and Erudition in Early Modern Europe. Hgg. von Gianna Pomata und Nancy G. Sirasi. Cambridge, Mass./London 2005. 26 Johannes Wolff (Hg.): Artis historicae penvs. Octodecim Scriptorum tam veterum quàm recentiorum monumentis, et inter eos Io. praecipuè Bodini Methodi historicae sex instructa, 2 Bd.e Basel 1579. Ins Abseits geriet durch die Wolff’sche Sammlung vor allem La Popelinières «Histoire des histoires» von 1599. Die einzigen neueren Studien zu Wolffs bemerkenswerten historischen Interessen sind von Sabine Schmolinsky: Prophetia in der Bibliothek. Die Lectiones memorabiles des Johannes Wolff. In: Zukunftsvoraussagen in der Renaissance. Hgg. von Klaus Bergdolt und Walther Ludwig. Wiesbaden 2005, S. 89–130 und Dies.: Im Angesicht der Endzeit? Positionen in den Lectiones memorabiles des Johannes Wolff (1600). In: Endzeiten: Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen. Hgg. von Wolfram Brandes und Felicitas Schmieder. Berlin 2008, S. 369–417. 27 Vgl. Dionigio Atanagi: Ragionamento della istoria. Venezia 1559. In: Theoretiker humanistischer Geschichtsschreibung. Nachdruck exemplarischer Texte aus dem 16. Jahrhundert: Francesco Robortello, Dionigi Atanagi, Francesco Patrizi, Giacomo Aconcio, Giovanni Antonio Viperano, Uberto Foglietta, Alessandro Sardi, Sperone Speroni. Mit einer Einleitung, analytischer Inhaltsübersicht, Bibliographie und Indices. Hg. von Eckhard Kessler. München 1971 (Humanistische Bibliothek, Reihe II, Texte. Band 4). Atanagi beginnt seine kurze Aufzählung in charakteristischer Weise, S. 78: „Perche gli scrittori della istoria, eccellentissimi ascoltatori, sono quasi infiniti, et noti ad ogn’uno, noi senza ad un’ad un raccontarli; che farebbe fatica non meno superflua, che noiosa; nomineremo solamente i più illustri, […]“.



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Nachahmung der Klassiker geht, bewegen sich die Anleitungen dazu über ein Raster abgeleiteter Topoi, nicht aber über die unmittelbare Analyse der Meisterwerke oder eben über deren Rezeption. Obwohl Geschichtswerke grundsätzlich dazu da sind, Empirie aufzuschließen, werden sie in den artes historicae selbst nicht empirisch untersucht, was gewiß ein wesentlicher Grund dafür war, daß man Werke dieser methodischen Gattung weniger als praxistaugliche Anleitungen zum ‚Schreiben‘ als zur Auswahl der Themen und Gegenstände (delectus) und zur fachmännischen Beurteilung (iudicium) der Historien auffassen sollte. In diesem Sinn artikulieren die methodus oder artes legendi das zeitgenössische Interesse an den Geschichten deutlicher. Sie vermeiden nämlich von vorneherein jeden Anschein, stilus historicus und prudentia auf der Ebene der historiographischen Schöpfung gemeinsam anleiten zu können. Stattdessen befassen sie sich mit den Möglichkeiten einer systematischen Auswertung der ins Uferlose gewachsenen gedruckten Geschichtsschreibung und Publizistik. In dieser Perspektive ist das fortbestehende Interesse an Bodins «Methodus» von 1566 und seiner Rezeption gerechtfertigt, ohne daß man deswegen das Werk zum alleinigen Paradigma der Epoche erheben sollte. Die «Methodus» läßt deutlich divergierende Interpretationen zu. Man kann sie als Basisentwurf von Bodins Gesamtwerk deuten, in dem sich Grundzüge sowohl der späteren «De la République» (1576), des Religionsgesprächs «Heptaplomeres» (1593) und des «Universae Nature Theatrum» (1596) wiederfinden. Die «Methodus» läßt sich aber auch als eine Staats-, Gesellschafts- und Verfassungstheorie lesen, die auf einer anthropologischen Säftelehre beruht, die eine Klimalehre zur Voraussetzung hat, die sich ihrerseits nur geographisch-kosmologisch begründen läßt. Oder aber man kippt die Achse der Betrachtung um 180 Grad, und dann erscheint die «Methodus» als Einleitung zu einer Universalhermeneutik ‚historischer Texte‘, die die rationalen Fähigkeiten des Menschen als soziales Wesen erst perfektioniert. Aus dieser doppelten Perspektive resultiert auch ein beweglicher und vieldeutige Funktionen anzeigender Ort von Geschichtsschreibung und der Art, ‚wie man sie weiß‘. Donald R. Kelley hat sich das Vergnügen gegönnt, die «Methodus», was Bodin selbst unterlassen hat, in ein ramistisches Schema zu überführen.28 In ihm drängen von den drei Hauptuntergliederungen der historia, narratio und cognitio, ihr Resultat, die actiones (humanas), vollkommen an den Rand. Aber auch die narratio büßt ihrerseits sofort ihre definierende Kraft ein, insofern sie vom modus procedendi, dem delectus historicorum, ihren Formen nach abhängt, während diese Auswahl der Historiker ihrerseits vom iudicium, d. h. der cognitio in ihrer kosmologischen Struktur abhängt. Somit finden sich die historiae in ihren konkreten Ausformungen stets auf der untersten Stufe des Wissens wieder, in den sie nutzenden Verfahren aber ‚ganz oben‘. Einerseits sind die konkreten Historiker und die Prinzipien der Ausarbeitung 28 Vgl. Donald R. Kelley: The Development and Context of Bodin’s Method. In: Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München. Hg. von Horst Denzer. München 1973, S. 123–150, bes. die Schemata S. 149.

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geschriebener Werke von äußerster Wichtigkeit, dann aber zweitrangig gegenüber den Methoden der Auswertung. Einerseits bedürfen die Historiker der Einzelkritik, andererseits kann man das historisch-relevante Wissen auch ohne historia perfecta modellieren, d. h. ohne idealtypisch ausformulierte Erzählung. In einer solchen Struktur liefe eine auf sich selbst bezogene Geschichte der Historiographie bereits auf die methodische Preisgabe von Bodins Anfangsprämissen hinaus und bedeutete die Verlagerung der Unterscheidung von Erfahrung und ihrer Organisation auf die falsche, weil ‚untere‘ Ebene. Dementsprechend ‚einseitig‘ müssen herkömmliche Interpretationen mit dem Status der Geschichtsschreibung in der «Methodus» umgehen. So hatte Girolamo Cotroneo gewiß nicht Unrecht, wenn er beim historiographiekritischen Kapitel IV der «Methodus» die rhetorische Basis ernst nahm und Bodin eine Unterscheidung zwischen solchen Autoren treffen ließ, die zunächst einmal in moralischer Hinsicht ein treffendes Urteil zu fällen in der Lage waren.29 Wenn er dann aber Guicciardini zum Idealautor Bodins erklärte, dann müßte dieser sich nach Claude-Gilbert Dubois selbst mißverstanden haben, denn der Italiener verfehlt eigentlich gerade die Kausalität, nach der er sucht.30 Stammt bei Guicciardini die Raffinesse der Ereignisverknüpfung eindeutig aus seiner einzigartigen Beobachtungsposition als Handelnder, so sieht Dubois Bodins Urteil über die Historiker gerade dadurch geprägt, daß sie ihrem Berichtsgegenstand ‚äußerlich‘ bleiben. Mit dieser „extériorité“ ist zunächst gemeint, daß die für die Analyse grundlegenden Teil-GanzesBeziehungen von der Beschaffenheit des historischen Objektes genauso unabhängig sind wie es die mentalen Untersuchungsraster des Historikers von den subjektivkontingenten Bestandteilen seiner Persönlichkeit sind.31 Diese Position führt zu einer zunächst verblüffenden Konsequenz bei der Distanzierung vom konkreten Angebot einer Historiographiegeschichte. So erfolgt im Kapitel IV der «Methodus» eine Distanzierung von kausal unbefriedigenden Autoren wie Livius oder Paolo Giovio, aber auch von ‚falschen Universalhistorikern‘ wie Herodot oder Diodor von Agyrion. Ihre Schwäche besteht darin, daß sie, anders als Polybius und Dionysius von Halikarnass, es nicht zulassen, daß man ihre Fakten im Sinne der von Bodin geforderten Kausalität ‚rastern‘ kann. Die Universalitätskritik der Historiker in diesem Kapitel bereitet somit keine Historiographiegeschichte vor, sondern die Zurichtung von Quellen für den methodischen Aufstieg zur Analyse. Demgemäß verweigert sich Bodin der Varietät wie Redundanz, wie sie die Vielzahl der Historiker erzeugen könnten, und besteht auf einem nichtredundanten und festen Wissen:

29 Girolamo Cotroneo: Le quatrième chapitre de la Methodus. Nouvelles analyses et perspectives historiographiques. In: Bodin. Hg. von Denzer (wie Anm. 28), S. 87–103. 30 Vgl. Claude-Gilbert Dubois: La conception de l’histoire en France au XVIe siècle. Paris 1977, S. 94–113. 31 Vgl. Dubois: Conception (wie Anm. 30), S. 103 und Marie-Dominique Couzinet: Histoire et méthode à la renaissance. Une lecture de la Methodus ad facilem historiarum cognitionem de Jean Bodin. Paris 1996, S. 152–158.



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Ex hac igitur historicorum tanta varietate, singularum delectum adhibere pro suo quenque iudicio necesse est, ne in tam brevi huius vitae curriculo scriptorum multitudine obruamur. Nam si perspectum habebimus Polydorum de rebus Anglicis (tametsi Scotis et Francis valde suspectus est) Rhenanum de Germanis, Aemilium de Gallicis verissime scripsisse, non magnopere laborandum erit de Beda, Guaguino, Gazo, Saxone, et eiusmodi scriptoribus, qui res easdem incondite scripserunt. At nescio quo naturae ingenio contingit, ut cum iisdem temporibus maxima historicorum ubertas effloruisset; sed evanesceret eodem pene momento. Scribit enim Plutarchus, trecentos historicos Marathoniam pugnam scripsisse: ita res Italicas superioris aetatis xxx. fere scriptores literis prodiderunt. Unum tamen Guicciardinium, cuius omnium opinione perspecta fides est, omnibus anteferendum putem. Et nunc tota pene Europa historicorum multitudine abundat, qui res quasque levissimas scribunt: cum multis ante seculis habuisset fere neminem.32

Nicht nur die Perspektive der mittelalterlichen Historiker fällt so aus, sondern auch die der ‚redundanten Autoren‘ der Antike und der Gegenwart. Nicht nur aus Gründen des mentalen Zeitbudgets dürfen diese Autoren außer Betracht bleiben, sie müssen es auch, weil sie die Erkenntnis eines in dreifacher Weise ‚gleichbleibenden historischen Wissens‘ erschweren würden: 1. gleichbleibend, weil in den Historien schon alles einmal exakt gesagt wurde; 2. gleichbleibend, weil der Geschichtsverlauf in seinen Zyklen ältere Aussagen immer wieder an die exakt gleiche, aber ‚spätere‘ Zeitstelle überführt und 3. gleichbleibend, weil die moralisch-ethischen Raster ein für allemal festliegen.33 Das Ethos der Handelnden und die veritas der Autoren fallen zusammen und seltsamerweise (per Selbsterhaltung) auch mit der veritas der natürlichen Bedingungen. Bodin läßt keine ‚neuen Elemente‘ aus den Historien ableitbar sein: Ordo humanis und ordo naturalis sind in einem übergreifenden ordo rationalis = artificialis schon vorsynchronisiert. Die Unterscheidung liegt also darin, Historie ganz ins System zu ziehen und von Kontingenz zu entlasten, sie also gar nicht als ‚Umwelt‘ für das historische Urteil zu begreifen. Seine Schlußformel findet dieser Umgang mit der multitudo scriptorum im Schlußkapitel X «De historicorum ordine et collectione» der «Methodus». Chronologie und Geographie organisieren gemeinsam ein Netz, dessen Knoten der eine jeweils relevante Historiker abgibt. Als Lieferanten der Basisfakten sind sie unverzichtbar, als Irritation für konkurrierende Geschichtsansichten aber ausgeschaltet.34

32 Jean Bodin: Methodus ad facilem historiarum cognitionem. Amsterdam 1650, S. 78f. 33 Vgl. Philippe Desan: Naissance de la méthode (Machiavel, La Ramée, Montaigne, Descartes). Paris 1987, S. 100–112. 34 Hierzu Marie-Dominique Couzinet: La bibliographie de l’histoire dans la Methodus de Bodin. In: L’histoire en marge de l’histoire à la renaissance. Hg. vom Centre V. L. Saulnier Paris. Paris 2002 (Cahiers V.L. Saulnier. Band 19). Paris 2002, S. 49–60, S. 57: „Enfin, elle [la bibliographie] classifie, mais ne juge pas – c’est le rôle des théories sur le jugement des historiens et de l’histoire élaborées par Bodin aux chapitres 4 et 5.“

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4 Henri Lancelot Voisin Sire de La Popelinière (ca. 1545–1608) La Popelinière konnte für sich in Anspruch nehmen, zunächst Politiker, dann Truppenführer und Freibeuter gewesen und erst zuletzt, nach seinem Scheitern als Geschichtsschreiber der Hugenottenpartei im Languedoc, zum Theoretiker der Historiographie geworden zu sein.35 Sein sperriger Großtraktat von 1599, genannt «Histoire des histoires», besteht aus drei separat paginierten Teilen, der «Histoire des histoires» im engeren Sinn, einer «Idee de l’historie accomplie» als allgemeinem Plan einer perfekten Geschichte und dem «Dessein de l’histoire nouvelle des François» als dessen Anwendung auf den französischen Fall. Das ist ein ungewöhnlicher Theorieaufbau, der, bezogen auf Bodins «Methodus», deren Kapitel IV De historicorum delectu auf den gesamten Dreiertraktat von knapp 1000 Druckseiten ausdehnt. Deshalb ist es nicht ganz abwegig, die «Histoire des histoires» von 495 Seiten als erste wirkliche ‚Historiographiegeschichte‘ zu betrachten.36 Und tatsächlich hält dieser Eindruck auch so lange stand, bis man nach den Formen der Temporalisierung und der Selbstreferenz fragt; erst dann ändert sich das Bild. La Popelinière geht, wie auch seine anderen ‚methodischen Kollegen‘, von den allerersten Zeugnissen bis in seine unmittelbare Gegenwart. Das historiographische Kontinuum ist jedoch gegliedert, und zwar nicht im klassisch humanistischen Sinn durch die Evolution der griechisch-lateinischen Formation mit ihrer mosaisch-biblischen Parallele, sondern durch ein überzeitliches wie überkulturelles Vierstufenschema: histoire naturel et grossiere – histoire poëtique – histoire continue und histoire accomplie. Die ‚natürliche Geschichte‘ steht dabei für die gestisch-stimmlich expressive Fassung, die ‚poetische‘ für die oral-dichterische Phase, die ‚zusammenhängende‘ für die annalistische Berichterstattung und die ‚vollendete Geschichte‘ für die erzählend-analytische Variante.37 Zusammen ergeben die vier Stadien eine zusammenhängende Verlaufsgeschichte, die aber von jedem Volk bzw. Staatswesen jeweils 35 Vgl. Henri Lancelot Voisin de la Popelinière: L’Histoire de France. Tome premier v. 1517–1558. Hgg. von Véronique Larcarde u. a. Genf 2011, S. 23–37. La Popelinières «Histoire de France» war am 9. Juli 1581 von der Synode von La Rochelle als der protestantischen Sache schädlich erklärt und der Autor zum Widerruf aufgefordert worden; vgl. George Wylie Sypher: La Popelinière’s Histoire de France. A Case of Historical Objectivity and Religious Censorship. JHI 24 (1963) S. 41–54. 36 Vgl. Dubois: Construction (wie Anm. 30), S. 149. Ebd., S. 132 nennt Dubois die «Histoire des histoires» zu Recht „un prolongement de la «Methodus»“. Vgl. auch Zachary Sayre Schiffmann: An Anatomy of the Historical Revolution in Renaissance France. RQ 42 (1989) S. 507–533, bes. S. 115f. 37 Vgl. Henri Lancelot Voisin de la Popelinière: L’Histoire des histoires, avec L’Idée de l’Historie accomplie. Plus Le Dessein de l’Histoire nouvelle des François. Paris 1599, S. 25f. La Popelinière hat sich nicht die Mühe gemacht, seine endlosen kritischen Streifzüge hinreichend zu gliedern. Die Bucheinteilung ist im Grunde wertlos. Resümees stehen unangekündigt an abgelegenen Orten; Indizes fehlen gänzlich. Die einzige, schwache Navigation gestatten die Marginalnoten, aber ausgerechnet auf sie hat Philippe Desan, Herausgeber der im «Corpus des Œuvres de Philosophie en Langue Française» erschienenen Neuausgabe Paris 1989 verzichtet und weder einen Index noch ein Argumentationsschema angefertigt. Man muß deshalb immer noch aus der Erstausgabe von 1599 zitieren. Zur histoire



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neu begonnen werden kann: von Griechen, Römern bis zu den Germanen und Sarazenen. Selbst den neuentdeckten Mexikanern traut La Popelinière eine solche Entwicklung zu.38 De facto ist die Temporalisierung dem Raum, der Reihenfolge der Ethnien und dem komplexen Zusammenspiel einer Vielzahl von Kulturtechniken untergeordnet, die zuweilen an Michel de Certeaus «Arts de faire» erinnern. Veränderungen können sich dabei in gewissem Grade durch Komplexitätssteigerung vollziehen, um dann aber doch im Schema von Aufstieg und Verfall zu enden.39 Die Basisunterscheidung, mit der La Popelinière angesichts der Menge der Historien operiert, ist aristotelischen Ursprungs, d. h. sie verläuft zwischen der ‚Erzählung‘, d. h. dem Narré in einem engeren, ‚historischen Sinn‘, und dem universalen Horizont von Erzählung überhaupt. Unterschieden wird somit zwischen den Geschichten, die die Ebene der histoire accomplie erreichen, und denen, die sich mit Teilergebnissen begnügen müssen oder gar mit nichtwahrheitsadäquatem Erzählen (conter) durchmischt sind. Das spezifisch historische Narré zeigt sich dabei als eine systematische Operation, die den universalen Horizont des Erzählbaren – also alles andere – zur Umwelt hat. Ein Unterschied zu Bodin besteht nun darin, daß La Popelinière zwar innerhalb der Historien seine vierfache Unterscheidung trifft, aber de facto, obwohl ihm dies zuweilen zu unterlaufen scheint, nicht wie Bodin zwischen ‚notwendigen‘ und ‚nichtnotwendigen‘, d. h. redundanten Geschichtswerken unterscheidet. Die in der «Histoire des histoires» operativ wirksame Unterscheidung verläuft somit zwischen historischen Narré/Nonnarré und nicht zwischen ‚Schreiben der Historien‘/ ‚Lesen der Historien‘, d. h. der fundamentalen Inkongruenz zwischen partikularer menschlicher und der erst theologisch, physikalisch und mathematisch universalisierten Geschichte. Das bedeutet nun nicht, daß bei La Popelinière der Aspekt der Universalität fehlte. Nur holt er ihn nicht, wie Bodin ‚von außen‘, d. h. von der kognitiv gerasterten Universalgeschichte, sondern findet ihn ‚auf der Innenseite‘, nämlich beim historischen Narré. Die ‚richtige‘ historische Erzählung weist eben die Universalität auf, jenen Grad von Allgemeinheit, den Aristoteles der Dichtung zuschrieb.40 Womit naturelle hier S. 25, 33 und 158; zur histoire seconde poëtique, S. 34, 47 und 137; zur histoire continue S. 59, 138, 159 und 284; zur histoire accomplie S. 288. 38 La Popelinière: Histoire des histoires (wie Anm. 37), S. 29–31. Noch deutlicher faßt er dies als Übertragung des Vierstadienmodells, erstmals entwickelt bei Griechen und Römern, auf die mittelalterlichen Nachfolgstaaten und schließlich auf außereuropäische Völker auf, ebd., S. 69: Discours qui sera d’autant plus aggreable et avantageux à toutes sortes de personnes, qu’il est nouveau: n’a iamais esté traicté d’aucun: voire contre l’advis de ceux qui en ont tant soit peu parlé iusques icy. 39 Vermischungszustände der vier Stadien sind möglich, was zeigt, daß La Popelinière zwischen Schematismus und Individualisierung von Fällen schwankt; vgl. La Popelinière: Histoire des histoires (wie Anm. 37), S. 237: […] les Romains […]: pratiquerent une forme d’histoire meslée de la naturelle, poëtique et continuë. Car la naturelle ne manque jamais à peuple du monde. 40 Aristoteles: Poetik. Übers. und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, § 9: „[…] Geschichtsschreiber und Dichter […] unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und

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nebenbei der Historiker zum wahren huomo universale wird.41 Und aus der Überfülle der Historien muß man auch deshalb keine als redundant ausschließen, weil das Vierphasenstadium für jede paßt und gerade die ‚Vorstufen‘ der histoire accomplie keineswegs ‚nutzlos‘ sind. Vor allem sind sie gegenwärtig in der Schriftüberlieferung und bei überlebenden – unzeitgemäßen – Ethnien. Die überfüllte Gegenwart des vergangenen Narré wird bei La Popelinière hoch produktiv: Sie fundiert zuerst die Kritik und dann die Theorie des perfekten Narré. Zu Recht sieht La Popelinière seinen Ansatz als neu und sogar revolutionär an, denn was fehlt, das ist nicht nur die „Geschichte, die den Handlungen irgendeines Volkes angemessen wäre“, sondern, um diese Geschichte überhaupt entwerfen zu können, die Totalgeschichte des vergangenen Narré. Theoretisch, so könnte man sagen, hätte hier die historiographische Selbstreferenz sowohl ihren Ort (hier muß im Anschluß in einem eigenen Absatz auf die Simplifikation bzw. Thematik ‚Staat‘ und die ‚causae‘ hingewiesen werden!) als auch ihre unterscheidende Operation als ‚Subsystem‘ der Geschichtswissenschaft gefunden. Zur erstmalig effektiven Neudefinition des Narré treibt La Popelinière, wie er ausdrücklich betont, ein vernünftiger, d. h. chronologischer wie kommunikativer Zweifel, keineswegs aber dogmatische Skepsis: Non que ie voulusse tenir en fief de la vielle ou nouvelle Academie: non-plus que me conformer à ceux, qui trop foibles à se resoudre, suspendoient leurs advis en toutes choses: moins encor m’assubjectir aux douteuses considerations des Sceptiques et Pirrhoniens: ains seulement pour voir, si la suite du temps (reigle et gardien des choses, et ainsi vray tesmoin et preuve plus assuré de la verité d’icelles) et la conference des gens de merite, confirmeroient ou renverseroient. Mais ayant en fin renforcé mes opinions, par une assez exacte consideration de leurs advis: je n’ay douté, nonplus que Thucidide et Ciceron en leur temps (fournis qu’ils fussent de grands personages) de proposer en forme de Paradoxe, Que nous n’avons histoire égale au merite des actions d’aucun peuple, ny mesme telle qu’on la peut dresser.42

Die erste Frucht dieser paradoxen Erkenntnis ist, daß eine adäquate Geschichte des in der Vergangenheit erzeugten Narré fehlt, d. h. entweder nicht überliefert oder nie geschrieben wurde: Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“ Dagegen La Popelinière: L’Idée de l’Historie accomplie (wie Anm. 37), S. 158: L’histoire n’est pas telle. Car comme elle comprend les semences de toutes les sciences et vacations, il faut de necessité que celuy qui s’y veut commander, aye le naturel qui se puisse conformer à celles toutes pour les cognoistre et pratiqner. Ebd., S. 159: C’est assavoir, celuy auquel se ioignent les trois dominantes puissances du cerveau, imagination, memoire, et entendement. Dagegen ist der récit poëtique rhapsodisch und imaginativ. Vgl. auch Ders., Histoire des histoires (wie Anm. 37), S. 325: Ce que Polybe reprend en Philarche, comme mol et feminin: disant que l’Historien ne doit esmovuoir les affections, ni cherchers les termes convenables à cela: non plus qu’accroistre ny charger les afflictions des mortels. Ce qui est propre aux Tragiques. 41 Vgl. La Popelinière: L’Idée de l’Historie accomplie (wie Anm. 37), S. 158–160. 42 La Popelinière: Histoire des histoires (wie Anm. 37), S. 6



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Si nous avions l’historiographe d’Amphicles: ou les dix livres de l’institution de l’histoire laissez par Denis Rhodien fils de Musonius. Ou les escrits de Bolus Mendesius, qui pour soulager la posterité, et de mesme traict, faire cognoistre avec la perte des vieux escrits, ceux qui de ses devanciers avoient par leurs histoires plus ou moins profité à leurs survivans: nous n’aurions la peine de vous faire voir le nombre et merite des plus anciens historiographes. Mais puis que la paresse de nos ancestres, ou quelqu’autre accident, nous en a privé: nous tascherons, sinon de plaire et profiter á tous, du moins contenter les meilleurs et plus advisez, en la peine que nous avons eu, à soigneusement rechercher és bons autheurs, les plus notables historiens de la memoire ancienne: avec la succession d’iceux, non seulement deduite iusques au declin et derniere perte de la langue que de l’histoire Latine: ains aussi iusqu’à ceux de nostre temps. Encore que le voeu que i’ay faict ailleurs de mon travail, et la bigearerie de la plus part de nos gens, m’ayent assez descouragé de la poursuyvre à nous.43

Die Rekonstruktion der Historiographie, über ihre Geschichte und „succinct succession“, ist eine Suche nach ihren Ursprüngen (origines) und ihren Entwicklungsmustern. Dabei handelt es sich nicht um einen autonomen Vorgang, denn über die Historien kann man nicht ohne ihre substance nachforschen. Diese Substanz besteht im Estat, d. h. im Staat oder dem menschlichen Gemeinwesen, und man erfaßt sie über die klassischen vier aristotelischen causae: materialis, efficiens, formalis und finalis.44 Causae materiales sind in der ursprünglichen Verfassung einer Nation gegeben. Im französischen Beispielfall bedeutet das den Rückweg von den modernen François, zu den Germains, dann Romains bis auf die ursprünglichen Gaules. Die französische Geschichte besteht also aus der Abfolge dieser vier substanziellen Formen von Staat, Gesellschaft, Religion und Kultur, kurz gesagt, von allem und jedem, was diese sozialen Systeme prägte. Rome ist bereits Bestandteil dieser Abfolge, was bedeutet, daß hier bereits einmal die Realität einer histoire accomplie gegeben war, die das moderne Frankreich erneut verwirklichen könnte, in Rückbesinnung auf seine römische Substanz.45 Die histoire accomplie gerät damit zur effektiven Selbstbeschreibung des Estat, und Rome zur causa finalis Frankreichs: 43 La Popelinière: Histoire des histoires (wie Anm. 37), S. 9f. La Popelinière geht es in dieser Aufzählung nicht um die – durchwegs verlorenen – Theoretiker der hellenistischen ars historica, sondern um hellenistische Bücherkataloge in der Art des Pinakes des Kallimachos von Kyrene mit seinen zweimal sechs Beschreibungskategorien, wobei die Historiker die ‚Prosagruppe‘ anführten. Die Namensliste zeigt, daß er selbst die fragmentarischen Reste dieser Tradition durchwühlt hat; vgl. Rudolf Blum: Kallimachos und die Literaturverzeichnung bei den Griechen. Frankfurt a. M. 1977. 44 Für die folgende Überlegung siehe Schiffmann: Anatomy (wie Anm. 36), S. 517–522, wo Schiffman die Gleichsetzung von causa materialis mit origines nachweist, und so die basale historische Ursachenerklärung bei La Popelinière als Rückgang zur historisch beschreibbaren Urform einer Gesellschaft analysiert. 45 La Popelinière führt in allen drei Teiltraktaten der «Histoire des histoires» den römischen Staat als Konstituens einer idealen Geschichtsschreibung und die histoire accomplie als Konstituens eines idealen Staates vor. Seine Rekonstruktion der römischen Geschichte der Geschichtsschreibung verläuft dabei parallel zur Staatsentwicklung, bedient also die Einheit der Unterscheidung ‚Rom/Nichtrom‘ als An- bzw. Abwesenheit dieser strukturellen Einheit; vgl. Histoire des histoires, S. 69: A raison dequoy, ayans comprins la premiere saison et histoire naturelle, depuis le commencement de ces peuples Italiens iusques à la venue des Grecs en Italie: nous prendrons la seconde saison et usage de l’histoire

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Ainsi croissant avec la multitude des accidens et moyens, la richesse des esprits Romains, les Historiens plus esveillez pour les raisons de Ciceron: et les Rheteurs subtilisez és disputes des Philosophes et ensagis par un continuel exercice de la prudence commune: commencerent à laisser de plus beaux tesmoignages de toutes les actions. Car l’historie comme vraye miroër de tout estat, ne s’estend seulement sur les fleurs de toutes les Sciences humaines: Ains embrassant la doctrine et pratique ensemble, ne se faict moins signaler, en la tant diverse et plaisante consideration des temps, des lieux et de toutes sortes de personnes: qu’en la profitable conduit des aiffaires d’Estat. Somme travaillant lors les plus excellens esprits des Romains, à qui emporteroit l’honneur en l’histoire: se dressa la quatrieme sorte d’icelle, don’t le merite est venu iusques à nous. A cause duquel, nous la nommons accomplie, ou du moins accommodée de la plus-parte de ses graces, […].46

Nun bedeutet diese substanzielle Koinzidenz auch, daß die Geschichtswissenschaft funktional nicht vom Staat getrennt ist und damit für die Historiographiegeschichte erst recht die Frage offen bleibt, wie sie ihren Ort im damaligen Wissenschaftssystem bestimmen kann. Diese Beziehung wirft also gleich mehrere Probleme auf. Zunächst, daß die Geschichte im Kern zu einer Rückwärtsbewegung zur staatlichen ‚Urform‘ hin gerät, also als science de tout der Anfänge (origines) endet und die Handlungsperspektive, die causae efficiens aus der Hand gibt. Dies schlägt voll auf den Historiker durch, der sein handlungsbezogenes Erleben ablegen soll, um die faits nus der Anfangsstrukturen abzubilden.47 Er wird zum ‚Spiegel des Staates‘, kann also von diesem unterschiedenen Sinn, dem Hauptsinn, der allerdings zählt – das wäre die Voraussetzung einer autonomen Historiographie – nicht abrücken. In der systemtheoretischen Erweiterung könnte man sagen: La Popelinière stellt hier Geschichtsschreibung ganz im ‚Handeln‘ fest, d. h. vollständig an vermeintliche Selbststeuerung des Staates gebunden, deren Vollendung sie als (retrodiktive) Selbstbeschreibung gleichsam abrundet. Die historiographische Selbstreferenz ist die letztgültige Selbstreferenz des Staates. Diese Beziehung Estat/Histoire auf Erleben umzustellen, würde bedeuten, den Staat zur Umwelt der Historiographie und die Historiographie zur Umwelt des Poëtique, depuis leur entrée et commencement de Rome, iusques environ le temps de caton. Auquel la 3. Saison fit cognoistre les commencement et progrez de l’histoire continue iusques au 4. Siècle, lequel commençant sur la fin de l’estat populaire, et commencement de la principauté Romaine, ietta tout son effort à produire tout ce qu’il pouvoit de beau et plus accompli pour le faict de l’histoire. Depuis laquelle l’Empire declinant peu à peu, perdit avec les nerfs et force de sa police, toute la splendeur, que les lettres ez histoires, entr’autres belles institutions, luy avoyent acquis. 46 La Popelinière: Histoire des histoires (wie Anm. 37), S. 287f. 47 La Popelinière: Histoire accomplie (wie Anm. 37), S. 68f.: Toute sa mire n’est que la consideration de l’advenir. Laquelle ne le peut affectionner à autre dessein qu’à celuy qu’il s’est premierement proposé. Car la Posterité muete, insensible, immuable et qui ne s’apprehende que par imagination: ne luy peut passinonner ny seulement toucher le sens. C’est pourquoy le bon Historien, louant et blasmant quelqu’un, ne considerera aucun des vivans. Ains comme sorti de ce monde pour s’habiter en l’autre: et porter bonnes nouvelles à ses Riere-Neuveux: ne s’y proposera que le nud et simple faict du vice et de la Vertu, […]. Obgleich ‚außerhalb dieser Welt‘ stehend, erweckt der gute Historiker dann doch, wie ein guter Arzt, die ‚tote Historie‘ zum Leben; vgl. ebd., S. 176f.: Qui peut au naïf representer toutes choses presentees et passees, mortes qu’elles soient, comme vivantes à nos yeux? Qui donne et maintient la vie tant au corps entier de tou le monde qu’aux parcelles d’iceluy?



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Staates zu machen. Ihre wechselseitigen Beziehungen wären dann kontingent, und die Geschichtsschreibung könnte auch andere Selektionen als die staatlich verordneten vornehmen. Das schwebt La Popelinière, dem es um die Restabilisierung des vom Religionskrieg zermürbten Staates geht, aber keinesfalls vor. Bleibt zum Schluß die Frage, wo sich die Geschichte als Wissenschaft wiederfindet, wenn sie nicht weniger als die soziale Totalität unter Einbezug aller anderen Künste und Wissenschaften abbilden will? Zwar deutet sich um 1600 bereits an, daß weder Theologie noch Philosophie fähig sein werden, autoritativ als Einheitswissenschaften vorzugehen, aber das bedeutet noch nicht, daß ihre beginnende funktionale Differenzierung Platz für eine wissenschaftsfundierende Historie mit Selbstreferenz schaffen würde. So verwundert es nicht, daß La Popelinière, nachdem er festgestellt hat, daß das ingenium des Historikers als Einheit der Differenz aller wissenschaftlichen Temperamente aufgefaßt werden muß, also de facto die alte Temperamentenlehre außer Kraft setzt, seine Zuflucht zur Rhetorik nimmt. Die am Gemeinwesen orientierte Geschichtswissenschaft findet ihre Einheit, also die Differenz ihres Ganzen zu den Teilen der anderen Wissenschaften, im rhetorischen Universalingenium.48 Die großartige Wissenschaft vom vergangenen Narré, die sich La Popelinière erworben hat, erweist sich somit als ein faszinierend ambivalentes Produkt: Seine historiographiekritischen Streifzüge simulieren in langen Passagen bereits die ersehnte Histoire accomplie, d. h. die Synthese aus staatlicher substance der Geschichte, nu Narré von Strukturen wie Affekten, Stadienschemata und rhetorischem Universalingenium als ‚intern geleitete‘, origines et successions vorstellende Erzählung. Aber er ist nicht bereit, sich damit zu begnügen und will seinen Spezial- auch zum Universaldiskurs aufwerten. Daß ihm das mißlingt, liegt vor allem an der wenig einladenden ‚Umwelt‘ der zeitgenössischen Wissenschaften. Der ‚Staat‘ bleibt weiter auf seine älteren Reflexionssysteme Theologie, Recht und Medizin fixiert und kann der aufstrebenden Geschichtswissenschaft noch keine eigenen stabilisierenden sozialen Differenzen zur Verfügung stellen.49 Im Sektor der ‚segmentären Differenzierung‘ der 48 La Popelinière: Histoire accomplie (wie Anm. 37), S. 160: Assavoir l’imagination de la chaleur abondante, la memoire de l’humidité aëree, et l’entendement de la siccité dominante au cerveau, comme I’ay plus ouvertement monster en autre lieu. C’est pourquoy il se treuve plus de gens qui ioignent l’imagination à la Memoire quà l’entendement, pour la contrarieté de la puissance d’iceluy à tous autres. Et que la chaleur se peut par fois rencontrer avec l’humidité en degree intensif. Puis donce que l’Historien doit au vray representer ces sceinces et vacations tant diverses, il doit ester du temperament proper à les apprendre, pratiquer, er bien exprimer, soit de vive voix, soit par escrit, Ioint mesme que l’eloquence seule, requiert une autre temperature que le recueuil qu’il faict et ordone des choses qu’il veut narrer. 49 Das einzige ‚Angebot‘ des französischen Staates in dieser Epoche sind zwei besoldete Chargen, die nach den Regeln der Hofpatronage vergeben werden: der ‚Historiographe du Roi‘ und der ‚Historiographe de France‘, bzw. ‚Cosmographe du Roi‘, vgl. Chantal Grell: Les historiographes en France XVIe–XVIIIe siècles. In: Dies. (Hg.): Les historiographes en Europe de la fin du Moyen Âge à la Révolution. Paris 2006, S. 127–156. La Popelinière selbst lebte von seinen Einkünften als Gutsbesitzer im Poitou und finanzierte, wie damals üblich, seine historischen Werke vor, um damit die Unterstützung des Königs oder seiner Minister (Sully) zu erwerben.

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Disziplinen stößt La Popelinière bereits weit vor. Varietät und Redundanz führen in der Tat zu gesteigerten Rekombinationen, vor allem aber ist er bereit, eine gesteigerte Argumentationslast zu tragen, d. h. aus dem delectus historicorum eine den Estat fundierende Geschichte zu machen. Nur gelingt es ihm nicht, diese interne Kommunikation formal in einer äußeren Kommunikation fortzusetzen. Niemand griff den Gedanken der potentiellen historiographischen Selbstreferenz auf. Dabei ließ der Stand der Information über die in Europa bekannte und kursierende Historiographie sozusagen bereits einen disziplinären ‚take off‘ zu. Die nun folgenden Vertreter der Gattung bibliotheca historica liefern dafür den Beweis.

5 Die großen bibliothecae: «Bibliotheca selecta» (1593/1603), «Bibliotheca historica» (1620), «De historicis Graecis» (1623), «De historicis latinis» (1627) Die Informationsrevolution des 16. Jahrhunderts, Alphabetisierung, Buchdruck, systematische Zensur, Reproduktionsgraphik und Avvisi-Zeitungswesen, traf die ‚Historien‘ und ihre Semantik noch in einem vorparadigmatischen Zustand an.50 Einerseits erlaubte ihr das in ihrer allgemeinsten Form von Selbstbeschreibung als nuda cognitio rerum die völlig ungebremste und ungefilterte Aufnahme jeder als historia benennbaren Publikation in die Literaturverzeichnisse.51 Auf deren anderer Seite entstand auch, ablesbar an Bodins und La Popelinières Programm einer historia perfecta, zunehmend Unklarheit darüber, wie denn nun die res humana im engeren Sinn abzugrenzen seien. War es schon schwierig, die Differenz einer ‚Geschichte des Menschen‘ durchzuhalten, so war es noch ungleich schwieriger, die Differenz einer selbstreferentiellen ‚Geschichtsschreibung des Menschen‘ festzuhalten. Ungeachtet dieser Problematik stellte sich aber, überkonfessionell, die Aufgabe, die rasende Zunahme von historischen Publikationen zu bewältigen und im historischen Gedächtnis Ordnung zu schaffen. Wenngleich dieses Gedächtnis noch nicht auf Selbstreferenz eingestellt war, so lassen sich an und in ihm doch Strategien und Praktiken beobachten, die nach 1800 im Sinne einer ‚autonomen Geschichtswissenschaft‘ Verwendung finden konnten.

50 Vgl. Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkurs. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003 (VMPIG. Band 189) und Cornel Zwierlein: Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen 2006 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Band 74). 51 Dazu Arnold Seifert: Cognitio Historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Berlin 1976 und Historia. Hgg. von Pometa und Siraisi (wie Anm. 25).



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5.1 Antonio Possevino (1533/1534–1611) Das Lehrprogramm der Jesuiten, die «Ratio studiorum» von 1599, verbindet das dogmatische Fundament einer erneuerten thomistischen Theologie mit einem disziplinären Lehrgebäude, das deren universal-enzyklopädische Tendenz bewußt in die moderne Wissenskultur hineintreiben möchte.52 Die ‚Form‘ der «Ratio studiorum» wäre gleichsam unvollendet geblieben, hätte man ihr nicht eine materia, d. h. einen Überblick über das gesamte zeitgenössische Bücherwissen gegenübergestellt. In der «Bibliotheca selecta» von Antonio Possevino S. J. (1533/1534–1611) lag dieser Akt heroischer Gelehrsamkeit in zwei voneinander abweichenden Versionen von 1593 und 1603 vor.53 Man sagt noch wenig aus, bezeichnet man die «Bibliotheca selecta» als ein kolossales Zensurvorhaben zur Erlangung der „kulturellen Hegemonie“ in Europa.54 Weiter kommt man, zieht man in Betracht, daß diese 18 libri zwar auf der einen Seite dogmatisch von den Tridentiner Lehrentscheidungen ausgehen, diese aber, ohne irgendeinen älteren Wissensbestand auszuklammern, in allen Disziplinen kritisch verankern wollen. So erschließt sich dieses riesenhafte Werk als ebenso riesenhaftes Paradox: Um zu bestimmen, was ‚katholisch‘ ist, muß Possevino, ohne eine weitere Unterscheidung zu treffen, alles durchforsten, was als disziplinäres Wissen sonst noch auf dem Buchmarkt ist. So fällt die «Bibliotheca» ‚doppelt katholisch‘ aus: positiv wie negativ. Sie zielt auf totale wissenschaftliche Kommunikation unter der Maßgabe, daß alles in ihrem Code für wahr/falsch verfügbar sein kann, das heißt: sowohl katholisch als auch akatholisch sein kann. Insofern entspricht sie auch moderner Wissenschaft mit der Ausstattung von Theorie und Code.

52 Vgl. Paul Richard Blum: Philosophenphilosophie und Schulphilosophie. Typen des Philosophierens in der Neuzeit (Studia Leibnitiana. Sonderheft 27), Stuttgart 1998, § 4.3 Studienordnung und Philosophiebegriff. Die Ratio studiorum der Jesuiten, S. 146–158. 53 Die «Bibliotheca selecta» (1593, 1603) gehört mit den «Disputationes de controversiis christianae fidei» (1586–1593) von Roberto Bellarmin, den «Annales Ecclesiastici» (1588–1607) von Cesare Baronio, den «Disquisitionum magicarum libri sex» (1599–1600) von Martin Antonio Del Rio und den «Acta sanctorum» (1643ff.) der Bollandisten zu jenen gegenreformatorischen Werken, welche die protestantische Kontroverse nicht unmittelbar widerlegen konnte, die sie vielmehr weitgehend ‚absorbieren‘ mußte, um sie zu ‚überwinden‘. Umso mehr hat dieser erst in der Aufklärung erreichte ‚Sieg‘ den Blick auf das ursprüngliche Potential dieser Werke verstellt. Heute wäre es angezeigt, diese Textmassive wissenschaftshistorisch in der Rolle des ‚vanishing mediator‘ zu beschreiben, also als Katalysatoren, die halfen, ihre eigenen Ausgangsposition solange abzubauen, bis sie selbst ‚unlesbar‘ geworden waren. Das Konzept des ‚verschwindenden Vermittlers‘ geht zurück auf Fredric Jameson: The Ideologies of Theory. Minneapolis 1986, der seinerseits starke Anleihen bei Hegel und Lacan macht. 54 So Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden u. a. 1995 (Brill’s Studies in Intellectual History. Band 62), S. 325 und Anm. 19.

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1587 hatte der Ordensgeneral Claudio Acquaviva seinen Mitbruder Possevino, als Diplomat und Missionar einer der großen Architekten der Gegenreformation in Osteuropa, politisch kaltgestellt und mit vorwiegend pastoralen Pflichten ins Kolleg von Padua abgeordnet. Possevino benutzte die unfreiwillige Muße, [...] per fare hora un picciolo Trattato, hor un altro, […], die er dann zu einer ‚Bibliothek‘ für die militia christiana zusammenfügte.55 Die erste Auflage Rom 1593 stand unter dem persönlichen Patronat Papst Clemens’ VIII., wurde auch auf der vatikanischen Presse gedruckt und unmittelbar vom Maestro di Sacro Palazzo zensiert. Possevino hatte sich das Werk stets als Kollektivanstrengung des Gesamtordens vorgestellt, fand dafür aber keine Unterstützung, so daß die «Bibliotheca selecta» zu den vielen privaten Initiativen hervorragender Jesuiten gehört, die der Orden sich erst nachträglich angeeignet hat. Der Rückverweis auf die Entstehungssituation ist wichtig, zeigt er doch, daß Possevino sich keineswegs als megalomaner Wissenschaftssystematiker an sein Projekt machte. Ihm hätte es wohl genügt, die disziplinären Kompetenzen bewährter Gelehrter unter dem langsam sichtbar werdenden Dach der «Ratio studiorum» zusammenzufassen. Indem man ihn sich selbst überließ, war er jedoch gezwungen, Schnittstellen und synthetisierende Gesamtbegriffe (idea, causa, finis) zu suchen, um die Masse der sortierten und kritisierten bibliographischen Informationen, wenn nicht schon deduktiv, so doch zumindest an den gängigen loci zu orientieren. Dies zu leisten mußte freilich seine Kräfte übersteigen, denn die «Ratio studiorum» hatte zwar die Grenzen eines rein rhetorischen Humanismus bereits überschritten, die ‚UmweltBezüge‘ der zunehmend ihrer internen Dynamik überlassenen Disziplinen aber nicht geklärt, sondern nur durch eine im Praxisdiskurs führende Theologie stillgestellt. Possevino mußte also um die ‚Ordnung‘ seiner Bibliothek ringen, mit verwirrenden Folgen für Stellung und Funktion von historia und historiae. Schon in der einfachsten Form des Aufbaus, der bloßen Abfolge der libri, erscheint eine erste Wissensordnung, die einerseits die Stellung der Historien im Wissen spiegelt, dann aber auch selbst als ordo historiarum zu deuten ist, zu dem man dann praktisch durch den entsprechenden ordo lectionum gelangt. Wie dies systematisch darzustellen sei, darüber war sich Possevino, gerade in der ersten Ausgabe von 1593, nicht im Klaren, was sich vor allem am nervösen Wechsel der fundierenden Konzepte zeigt. Bereits der erste Leitbegriff bibliotheca schillert zwischen festem historischem exemplum (Norm) und revisionsbedürftigem Lehr-Modell, was gleichwohl nicht davon abschreckt, ihn auf Offenbarungswissen zu übertragen, 55 Vgl. Luigi Balsamo: Venezia e l’attività editoriale di A. Possevino (1553–1606). La Bibliofilia 93 (1991) S. 53–93, S. 59, Anm. 20, Brief Possevinos 1597. Zur grundsätzlichen Einschätzung der «Bibliotheca selecta» Albano Biondi: La Bibliotheca Selecta di Antonio Possevino. Un progetto di egomina culturale. In: La «Ratio studiorum». Modelli culturali e pratiche educative dei Gesuiti in Italia tra Cinque e Seicento. Hg. von Gian Paolo Brizzi. Rom 1981, S. 43–75 und Luigi Balsamo: Antonio Possevino S. J., bibliografo della controriforma e diffusione della sua opera in area anglicana. Florenz 2006 (Biblioteca di bibliografia italiana. Band 186), der die komplizierte Editionsgeschichte der «Bibliotheca selecta» und der Einzelausgaben ihrer 18 Bücher entwirrt.



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also z. B. das mosaische Buch Genesis analog einer bibliotheca zu deuten. Paradoxerweise ist es deshalb gerade die mühsame Überwindung historischer Kontingenz in der «Bibliotheca», die sie zum ‚quasi-idealen‘ Modell eines adäquat historisch fundierten und nach Disziplinen gegliederten Wissens macht. Das dazu benutzte Paradigma entwirft Possevino schon in der Einleitung im Anschluß an die «Bibliotheca historica» des Diodor von Agyrion (Siculus): Sane vero, si quis Herodotum, Ctesiam, Thucydidem, Xenophontem, Theopompum, Ephorum, Philistum, Callistheneum, Timaeum, aliosque huiusmodi, unum in locum ordine intulisset, historicam merito Bibliotheca vocasset, quae tanto habita fuisset instructior, quanto detractis pluribus, quoniam eadem a pluribus repeterentur, aliquis e tot monumentis suae veluti corpus historiae conflasset, addidisset autem multa, quae oculatus ipse testis vidisset; cum etiam loca ille perlustrasset, in quibus eadem gesta, quae narrabat, accidissent. Quae res ad historicam narrationem plurimum confert. Quod cum Diodoro contigisset, qui Asiam et Europam peragraverat, historicam hanc Bibliothecam verius condere potuit.56

Diese bibliotheca ist ein wahrhaft komplexes Gebilde, das sich der – in der Spätantike besonders geübten – Verfahrensweisen der Epitome (Auszug aus einem Werk) und des Breviariums (Kombination mehrerer Auszüge zu einem knappen Werk) in Kombination mit kontrollierenden ‚Ortsbegehungen‘ durch ‚Augenschein‘ bedient, um einer räumlich wie zeitlich ausgedehnten Universalgeschichte einen neuen, ‚knapperen‘ Körper zu verleihen.57 Entscheidend als Charakteristikum ist dabei die Körpermetapher, in der sich de facto ein dichtes Netz von loci verbirgt: Ex pluribus enim, quam Diodorus, et his eminentissimis, principes rerum et gestorum materias, aut contraximus in unum, aut propria monstravimus loca, et […] quem ad usum docenda, discendave essent, conati sumus ostendere: cum ipsis oculis hausissemus, reque ipsa tractassemus […] quaecumque aut ad cognoscenda invectae olim Christianae religionis exordia, vel ad huius cadentis causas, vel ad rationes ipsius restituendae, vel ad initia variis in regnis atque provinciiis restitutae, ac denique latius propagandae spectare poterant. Id in Moscoviae commentariis iis, quae ad quorundam haereticorum depellendas calumnias coacti summus edere […] ut potius Bibliothecam facerem, quae non tam recognita (nec enim altera huic similis mihi innotuerat) quam Selecta diceretur; quod hac, praeter methodum, ac pietas indicium, quisquiliae auctorum, qui adversus pietatem scripsere, aut ablegarentur, aut notarentur.58

Erbaut wird der neue ‚Körper‘ der Geschichte, um die Lehr- und vor allem Kontroverstopoi befestigen zu können, weiter zum Zwecke der Lehre wie des Lernens, schließ56 Antonio Possevino: Bibliotheca selecta. Qua agitur de ratione studiorum. In Historia, In Disciplinis, In salute omnium procuranda, 2 Bd.e Band 1. Rom 1593, S. 4f. 57 Voraussetzungen und Folgen der ‚Verkürzung‘ und ‚Rekombination‘ von Texten in der Antike behandelt der Band Condensing Texts – Condensed Texts. Hgg. von Marietta Hörster und Christiane Reitz. Stuttgart 2010 (Palingenesia. Schriftenreihe für Klassische Altertumswissenschaft. Band 98); eine vergleichbare Untersuchung zur Frühen Neuzeit, die die Technik ebenfalls breit diskutiert und angewandt hat, fehlt. 58 Possevino: Bibliotheca selecta (wie Anm. 56), S. 6.

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lich um der Wiederaufrichtung der Kirche willen, dort wo sie Schaden gelitten hat. Als eigene materia für einen solchen – polemisch ertüchtigten – Geschichtskörper verweist er auf seine «Moscovia» von 1586.59 Unter der Prämisse ihrer in der Form der Bibliothek gegründeten ‚Körperlichkeit‘ von Geschichte diffundiert diese im ersten Entwurf von Possevino in alle weiteren Disziplinen.60 Formal werden diese damit ‚historisiert‘, was so viel heißt, daß sie unter der doppelten Perspektive des ordo historiarum und der lectio historiarum stehen. In welcher Form können sich beide nun selbst thematisieren? Zunächst folgt Possevino der zeitüblichen Aufwertung der Historien, indem er sie – wie La Popelinière ‒ als kategoriale Erkenntnis akzeptiert: Historiam enim non tam quod labentium rerum fluxum quodammodo sistat, ut inquit Plato, quam quod res nobis conspiciendas, quin etiam speculandas, obiiciat, Graeci appellarunt.61 Mit diesen platonisierenden Anklängen stellt sich die Frage nach den eigentlichen causae der historia, bzw. nach dem, was sie begreift und was sie in begrifflicher Form zur Verfügung stellt. Possevino gibt darauf die entschiedene Antwort: origines und series temporum: Quod ab Antiquis dictum est, apud quos temporum notatio non cohaeret, apud hos nec veritas, neque historicae fidei rationem ullam posse constare; Hoc cum sit verissimum sit in reliquis, certe multo verius est in Divina Historia. Quippe tempus (quod ipsi quoque Stoici docebant) norma rerum est, atque custodia. Cum enim sit veritatis quasi pater, et index, sane rerum gestarum memoriam, ac diuturnitatem posteritati conservat. Nec vero haec tantum conservat, verum etiam Mundi originem, et promissiones de Christo Domno, atque de aeterna Beatitudine, ac deinceps consilii ipsius constantiam, quasi digito ostendens, facit, ut ex temporum observatione, atque editarum rerum serie, perpetua Divinae sapientie, quae tantum opus ante secula appareverat, argumenta nobis innotescant, et stimulos addant ad credendum, sperandum, diligendum Deum.62

Da nun die Chronologie die Gegenwart der Ursprünge des Heils effektiv sichert, sind Verstöße gegen die Zeitordnung mit Verbrechen, ja mit Häresie und Majestätsbeleidigung gleichzusetzen: Sic item series tota Christianae Reipublicae quae ut tolleretur ex 59 Antonio Possevino: Moscovia, sive de rebus Moscoviticis et acta in conventu legatorum regis Poloniae et et Magni Ducis Moscoviae anno 1581. Wilna 1586. Das Werk besteht aus sechs Abhandlungen oder commentarii über die Legation Possevinos in Polen-Litauen und Moskau, wobei die fünfte Abhandlung bereits auf die englischen Kaufleute zielt, die protestantisches Gedankengut im Zarenreich verbreiteten. 60 Verfolgt man Possevinos Geschichtsmetaphorik auf dieser Ebene weiter, dann zeigt sich, daß die Rede vom ‚Körper der Geschichte‘ ihn als ‚beseelt‘ voraussetzt, ja, daß der Geschichtskörper als ein geistlicher Körper in den kranken Körper des Menschen als ein Heilmittel ‚eingehen‘ kann. Bibliotheca selecta (wie Anm. 56), S. 66: Ac non solum corporis, verum etiam animi morbos sic depellit Historia, ut quorum vita mors esset, ea momento convertatur in veram et salutarem vitam, [...]. Ignatius, […] cum pro patria dimicans, gravissime vulneratus, in hostium manus venisset, sic ex una spirituali historia animo convaluit, ut post remedia corpori adhibita, multo maior et utilior dux evaserit, quam si saecula plura im militiam impedisset. 61 Possevino: Bibliotheca selecta (wie Anm. 56), S. 7. 62 Antonio Possevino: Bibliotheca selecta, 2 Bd.e Band 1. Venedig 2. Aufl. 1603, S. 102.



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mentibus hominum, tanto connixi sunt impetu plerique omnes haeretici, ut vel historias abolerent omnino, […].63 Die Vehemenz, mit der dies behauptet wird, führt nachfolgend zu einem zunächst so nicht gegebenen Überschuß an Bedeutung der historia divina gegenüber der historia humana. Nun vereinigen sich bei Possevino unter dem Signum der bibliotheca der Körper, die series historiarum und die series temporum zu einer lückenlosen Abbreviatur, in der die Zeit nur noch die Ursprünge göttlicher wie weltlicher Herrschaft ausfaltet. Possevino nimmt der historia humana ihr Erstgeburtsrecht und schiebt die historia divina als Norm nach: Ac licet poteram ab iis incipere, quae ad humanam Historiam spectant; mox sensim per aliarum quasi gradus historiarum, ad Divinam ascendere: iustissimis tamen causis adductus, ubi de Hominis dignitate, ac cultura ingenorum, et aliis ad parandos ad varias disciplinas animos necessariis, priore actum est libro, a Divina incoepis qua constitua, veluti norma et perpendiculo, nil esset denique ceterarum aut historiarum, aut disciplinarum, quin ex ea perpendi rectissime posset Historiae Divinae summa utilitas.64

Mit dieser Aussage wäre die Hierarchie der Geschichten ein für allemal geklärt. So wird nachvollziehbar, warum Possevino das Buch I der «Bibliotheca selecta» von einer «Idea totius operis», die sich mit zehn von 26 Kapiteln zur Rolle der Geschichte schon sehr einer methodus angenähert hat, für die zweite Auflage von 1603 umbaut zu einer Abhandlung «De cultura ingeniorum», die sich ausführlich mit der «Ratio studiorum» von 1599 und den lernpsychologischen Auffassungen von Juan de Huartes «Examen de ingenios para las sciencias» (1575) auseinandersetzt. Vom Ort eines methodischen Türöffners für das Gesamtwerk wechselt die historia in den zweiten Teil, um dort zwischen Mathematik und Poesie in Buch XVI «De humana historia» ‚versteckt‘ zu werden. Umso erstaunlicher ist es, daß Possevino, und das gilt für beide Ausgaben, über weite Strecken am fundierenden Modell einer historia festhält, die über den ordo lectionum zu einem ‚festen Körper‘ (bibliotheca) führt, der die gewünschte konfessionelle Abgrenzung zu den Häretikern lückenlos gewährleistet. Possevino, so setzt er eingangs zum Buch II fest, könnte ja von Sacra Scriptura, Biblia, Testamentum, Pactum, Foedus, Chirographum, Lex, Evangelium, Theologia Positiva bzw. Verbum Dei sprechen, aber er zieht es vor, den Komplex der Offenbarung unter dem Gesamtbegriff Divina Historia zu stellen.65 Das bleibt nicht ohne Folgen, ist es doch für diesen katholischen Gelehrten schlicht unvorstellbar, die biblische Kommunikation Gottes mit seinen Geschöpfen getrennt von der zwischenmenschlichen zu behandeln. Daß diese Mitteilung divina historia heißt, heißt auch, sie nunmehr konsequent über alle denkbaren humanen historischen Diskurse laufen zu lassen:

63 Possevino: Bibliotheca selecta (wie Anm. 56), S. 68. 64 Possevino: Bibliotheca selecta (wie Anm. 56), S. 8 65 Possevino: Bibliotheca selecta (wie Anm. 62), Band 1, S. 51.

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An ne vero quidquam est unde potius ordienda lectio sit, quam unde manarunt omnes historiarum et scientiarum fontes, naturaque ipsa et religio, cum omnibis virtutibus, quibus excoluntur animi; bella item, quae dextera Domini semper invicta praeliata est; denique unica et verissima Rerumpublicarum et Regnorum forma, aut infusa est humanis mentibus, aut nostris oculorum aspectibus obiecta?66

Und in der Tat kommt es zu einer geradezu beängstigenden Vermischung von historia divina mit der historia humana, die nur dadurch erklärbar scheint, daß gerade dann, wenn die historia humana kritisch behandelt wird, sie unweigerlich die katholische Auslegung der Offenbarung bestätigen wird. Die Zuversicht, den Code wahr/ falsch immer fehlerfrei vollziehen zu können, rührt daher, daß die historia divina, obwohl sie in der materiellen Dimension einer Universalgeschichte unvollständig ist, die Norm aller parallelen heidnischen und aller künftig anschließenden christlichen ‚Nachgeschichten‘ bildet und gleichzeitig als Quelle aller orthodoxen Dogmen fließt. Was auf diese Weise in der «Bibliotheca selecta» lesbar wird, ist eine von heute aus gesehen ganz erstaunliche Fähigkeit, mit Varianz und Redundanz historischen Wissens umgehen zu können. Zuallererst ist die historia divina der Zusammenhang einer sehr begrenzten Menge von Elementen, wahr und autoritativ zugleich.67 Auf der anderen Seite ist die divina historia in alle anderen Geschichten verstrickt, besonders in die heidnischen (gentiles) und gibt ihnen, weil sie als einzige den ‚ganzen Ursprung‘ erzählt, zugleich die empirische wie interpretative Basis. Soweit die divina historia prophetisch ist, erzählen sie die menschlichen Geschichten zu Ende: Divinam historiam, etsi plena veritatis, atque auctoritatis est, admittere tamen historias (uti et disciplinas) alias, eatenus praesertim, quatenus qui in ea prenunciati sunt Regnorum eventus, aut reliquiarum reum status aut etiam Synagogae interitus, hi deinceps ab Ethnicis quoque enarrati, fidem veritati astruunt; […].68 Aber auch umgekehrt können die bloß menschlichen Historien nodi historici in Scriptura auflösen: In Theologia certe, scholasticisque, disceptationibus testes ex historiis adhibiti, difficiles nodos solverunt.69 Es ist voraussehbar, daß so der Zugriff auf historia humana und divina historia nur gemeinsam erfolgen kann. Die historia naturalis, für die das ebenfalls gilt, kann hier außer Betracht bleiben. Ebenfalls vorhersehbar ist, daß dieser Zugriff von Seiten der bloßen historia humana ein pädagogisches, nicht weiter bedeutendes, sondern nur 66 Possevino: Bibliotheca selecta (wie Anm. 56), Band 1, S. 8. 67 Historia divina und historia humana können innerhalb der «Ratio studiorum» nur als Teil der autoritativ gesicherten, wahren und unveränderlichen doctrina bestehen. Deswegen legt auch bei ihr die veritas die möglicherweise überbordende varietas der weltlichen Geschichten still; vgl. Blum: Philosophenphilosophie (wie Anm. 52), S. 151: „Autorisierte Wahrheit ist das Prinzip dieser Studien, und ein Curriculum auf der Basis einer Einheitslehre ist nur denkbar, wenn es von einer Lehre, Doktrin überhaupt handelt – und nicht von einer Methode. Das ist vielleicht sogar evident, denn eine Vielheit von Meinungen, Gedanken oder Fakten kann zwar entdeckt werden [...], aber als Vielheit kann sie nicht gelehrt werden.“ 68 Possevino: Bibliotheca selecta (wie Anm. 62), Band 1, S. 100. 69 Possevino: Bibliotheca selecta (wie Anm. 56), Band 1, S. 67.



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noch ein mnemotisches und rhetorisches Problem darstellt. Konsequenterweise fühlt sich die «Bibliotheca selecta» auch in der Distanz von Buch XVI dafür nicht zuständig. Anders sieht es bei dem Zugriff auf die historia divina aus, den inzwischen die Häretiker, sprich Protestanten für sich reklamieren. Hier sieht sich Possevino, so stark wie sonst nirgendwo in seiner Wissenssystematik, persönlich gefordert! Eine klare Stellungnahme zu den neuen methodus, d. h. ordines legendi der Geschichte ist notwendig. Auf dieser Ebene, als Kritik der zeitgenössischen lectio historiarum, modelliert Possevino sein historiographiegeschichtliches Wissen, stets aber bezogen auf den verkürzten (doktrinalen) Körper einer autoritativen Geschichte. Die Historiker, die jenseits der methodus stehen, kritisiert er ebenfalls, aber in der abgemilderten Form eines iudicium auctoris, für die sich Possevino weitgehend an Lipsius anlehnt.70 David Chyträus, Jean Bodin und die Magdeburger aber übernimmt er selbst, um an ihnen das Exempel einer buchstäblich im theologischen Sinn häretischen Geschichtslektüre zu statuieren. Erleichtert wird Possevino diese Kritik, weil die divina historia von einem idealen Historiker stammt, nämlich Moses, dessen Werk, die Thora, als bibliotheca zur Richtschnur aller anschließbaren Historien wird: Cum autem de Historia Moysis loquimur; non solum Humanam, verum etiam Naturalem, et Ecclesiasticam, et Divinam, intellegi volumus. Quare nulla Historico umquam ditior, aut sublimior fuit suppetita materia. Sed ut qui res Maiorum optime noverunt, has optime possunt monumentis inserere. Ac vero, si quis cum anteactis rebus futuras liquidissime cerneret, eminentissimam omnium posset historiam, ac scientiam texere; Sic utrumque praestitit Moyses, qui ad os Dei locutus, hominem sensim ab elementis ad caelum, a corruptibilibus ad incorrupta, a creatis rebus ad suum Opificem, per Christum, qui est finis omnis legis, omnis historiae, ac verae felicitatis, divinissime deducit.71

Die Vermutung liegt nahe, daß vor einer derart beglaubigten Geschichte der Protestant David Chyträus (1530–1600) mit seiner «De lectione historiarum recte instituenda» (1565), als bereits indiziert, keiner Erwähnung mehr wert sei. Doch erneut zieht Possevino der pauschalen Verdammung die historiographische Einzelkritik vor. In der historia divina habe Chyträus geirrt, weil er in der Zeitrechnung sich auf Annius von Viterbo bezogen habe, in der historia ecclesiastica, weil er die gesamte Folge des Kirchenrechtes verdreht habe, endlich in der historia humana, weil er sie unterschiedslos aus ‚häretischen‘ und ‚katholischen Autoren‘ zusammengemischt habe.72 70 Für moderni wie antiqui orientiert sich Possevino an Justus Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex. Leiden 1594: Ad I. librum Politicorum notae. In caput IX. De memoria rerum, S. 18–29. Unpassendes, wie Lipsius’ ironische Würdigung von Kardinal Pietro Bembos «Historia Veneta», übergeht Possevino stillschweigend. 71 Possevino: Bibliotheca selecta (wie Anm. 62), Band 1, S. 57. 72 Zur Verwendung des Annius in der Frühen Neuzeit vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Heilsgeschichtliche Inventionen. Annius von Viterbos Berosus und die historische Genealogie, in: Ders.: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hgg. von Anja Hallacker und Boris Bayer. Göttingen 2007 (BMFF. Band 2), S. 301–330.

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Justus Lipsius’ neue Genealogie des julischen Kaiserhauses («Stemma Augusta»), in der «Bibliotheca selecta» ganzseitig abgedruckt, lasse den Rostocker Theologen wie einen Dilettanten aussehen.73 Jean Bodins «Methodus» hingegen verfällt wegen zahlreicher faktischer Falschaussagen dem Verdikt, vor allem aber, weil er, gegenläufig zur «Bibliotheca selecta», selbst wie eine ‚Bibliothek‘ wirkt, und zwar als Raster (lectio historica, catalogus historicorum) für protestantische Universalhistorie. In dieser Scharnierfunktion möchte ihn Possevino ganz aus dem katholischen Lesekanon streichen: Ceterum haeresim sapit aperte, quod Lutherus, Calvinus, Melanchthon et reliqui eius farinae homines, honorifice in eo libro nominentur; Historici vero ii ursurpentur ad faciendam historiae fidem, qui et Haeretici fuere, et in historia turpiter sunt lapsi. Quod si Catalogus Historicorum, qui in ea methodo adiunctus a Bodino […] sic prodiit, quemadmodum Basileae editus est anno huius seculi septuagesimo secundo, sane Scriptor minime excusari posset. Eo enim Catalogo tanquam manu ad libros quosque Hereticorum, atque ad caenosas illas Magdeburgensium Centurias tractandas adducitur: cum in ipso methodi opere plura alia expungenda sint, quae iampridem damnata sunt ab Ecclesia; […].74

Indem sich die «Bibliotheca selecta» ganz auf das kontroverstheologische Prinzip verläßt: „Nichts was falsch ist, darf unwidersprochen bleiben“, kann sie die katholisch definierte Norm der divina historia in jedem Punkt der lectio historiarum aufsuchen und neu etablieren. Als vollgültige Unterscheidung wird sie freilich erst wirksam, wenn sie wahrhaft ‚katholisch‘, d. h. universell vollzogen wird. Orthodoxie heißt, über alles urteilen zu müssen. So sammelt sich um die divina historia ein historiographischer Kanon, der, wenn orthodox, die göttliche Zeit implementiert, also mittelbar schon Heilsgeschichte erfaßt, oder aber, wenn heterodox, als leere oder gar häretische varietas aus dem heilsgeschichtlichen Zeitraster herausfällt. Demgemäß darf der negative Kanon aus der lectio historiarum und dem catalogus historicorum verwiesen werden. Konzentriert man sich auf die Gesamtfinalität der «Ratio studiorum», die Erarbeitung des Zugangs zur Theologie, dann rücken die Historiker und ihre Lektüre an den Rand des jesuitischen Lehrprogrammes. Konzentriert man sich dagegen auf die politisch-historische Kontroverse, dann erhält das Buch XVI «De Historicis» so viel Eigengewicht, daß man es auskoppeln und mit einem neuen Vorwort versehen als «Apparatus ad omnium gentium historiam» selbständig auf den Markt bringen kann.75 Dieses Werk nun behandelt Varietät auch weiterhin negativ, wie es auch seine 73 Possevino: Bibliotheca selecta (wie Anm. 62), Band 1, S. 309f. 74 Possevino: Bibliotheca selecta (wie Anm. 62), Band 1, S. 311. 75 Antonio Possevino: Apparatus ad omnium gentium historiam. Expenduntur Historici Graeci, Latini, et alii. Quonam modo per seriem temporum legendi, et ad usum adhibendi. Quinam veraces, aut suppositii, vel mendaces, vel labe aliqua, aut haeresibus aspersi. Et Methodus ad Geographiam tradendam. Venedig 1597. 1598 erschien sogar eine italienische Ausgabe und 1602 eine zweite lateinische Ausgabe.



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Redundanz am biblischen Kanon orientiert. Temporalisierung der Historiographiegeschichte kann innerhalb dieses Kanons stattfinden, nicht aber außerhalb, denn, abgesehen von ihrer Teilhabe an der biblischen Gesamtzeit, kommt den Geschichtswerken keine zeitliche Strukturierungsaufgabe zu, sie verfügen schlicht nicht über ‚Eigenzeit‘. Gleichwohl gibt es für die in großer Zahl nachwachsenden Historien nunmehr einen Ort (locus), an dem man sie andocken und überblicken kann. Daraus entsteht Sicherheit gegenüber der Varietät, der man sich vor allem im protestantischen Lager zunehmend hemmungslos hingibt. Die Thematisierung historiographischen Wissens als Subsystem im damaligen Wissenssystem scheint sich anzubahnen.

5.2 Paulus Bolduanus: «Bibliotheca historica» (1620) Giovanni Battista Ciotti (ca. 1560–ca. 1625), der venezianische Drucker Possevinos, besuchte regelmäßig die Frankfurter Buchmesse.76 Dort wird er die «Bibliotheca selecta» vertrieben und ihr damit auch Eingang in den protestantischen Bildungsbereich verschafft haben. Dieser blieb die direkte Antwort zwar schuldig, aber die drei «Bibliothecae», die der pommersche Pfarrer Paulus Bolduanus (1563–1626?) im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhundert publizierte, sind ohne Possevino nicht denkbar. Bolduanus begann 1614 mit einer «Bibliotheca theologica», ließ 1616 eine «Bibliotheca philosophica» mit einer der ersten Musikbibliographien folgen, und endete 1620 dann mit einer ebenso umfangreichen «Bibliotheca historica». Deren ausführlicher Titel verrät viel über Aufbau und Intention des Werks: Bibliotheca Historica Sive: Elenchus Scriptorum Historicorum et Geographicorum Selectissimorum qui Historias vel Universales totius Orbis: vel Particulares certae cuiusdem Provinciae; indeque extructa Chronica, Annales, etc. quovis tempore idiomateve, usque ad annum praesentem […] M.DCXX scripserunt, iusta serie ac Methodo secundum partes ac Regiones Mundi, Auctorumque, nomina Ordine Alphabetico subnexa; additis Classicorum utplurum vitis succinctisque argumentis. Cum Indice gemino, Rerum uno, Auctorum altero: Nec non loco, tempore et forma impressionis. Praemissa est Praefatio de Antiquitate, Dignitate, Necessitate, utilitate, iucunditate ac Methodo Historiarum […], Pauli Bolduani [...]. Lipsie […]. Anno M.DC.XX.77 76 Zu Ciotti siehe Massimo Firpo: Ciotti (Ciotto), Giovanni Battista. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Hg. von Mario Caravale Band 25. Rom 1981, S. 692–696 und Dennis E. Rhodes: Some Neglected Aspects of the Career of Giovanni Battista Ciotti. The Library. Sixth series 7 (1987) S. 225–239. Ciotti war nicht nur Kontaktmann Giordano Brunos in Venedig, sondern auch Drucker für den Dichter Giambattista Marino und durchaus willens, auch unorthodoxe Autoren wie Jacques-Auguste de Thou oder Tomaso Campanella zu verlegen. Giacomo Castelvetro (1546–1616), den der englische Botschafter Dudley Carleton 1611 vor der venezianischen Inquisition retten mußte, war zwölf Jahre lang sein Hauptmitarbeiter. Das Standardwerk der katholischen Bibliographie wurde also in einem erstaunlich unorthodoxen Milieu gedruckt. 77 Knappe Bemerkungen zu diesem Werk bei Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Tübingen 2007 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe. Band 37), S. 140–142, 152.

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Geboten wird somit ein historisch-geographisch gegliederter Schriftstellerkatalog. In ihm dominiert die lokale Ordnung, ergänzt um das zeitübliche Signaturensystem. Die Mehrzahl der Rubriken machen chorographische Angaben aus: Polonica, Borussiaca, etc. Wer in der Lage ist, gezielt einkaufen zu können, dem werden Druckorte und Auflagen geboten. Wer nach Themen und Verfassern sucht, dem helfen Autoren- und Sachindizes. Deutsche Belange, es gibt tatsächlich ein Lemma ‚Deutschland‘, werden durch eigene Rubriken in Frakturdruck ausgewiesen.78 Bolduan wendet sich ausdrücklich an den Laien, der deutsche «KeyserChronicken» (S. 113), deutsche «ReißBücher» (S. 29) und über die «Niderländische Kriegshändel» (S. 217) lesen möchte. Offensichtliche Mitte dieser Ordnung ist das Heilige Römische Reich, aber in gänzlich ökumenischer Sicht: Die «Bäpstische Chronik» (S. 102) fehlt ebenso wenig wie «Jesuitica» (S. 103) oder «Monastica» (S. 105). Die explizit katholischen – auch gegenreformatorischen – Historiker sind alle vertreten und reihen sich, gänzlich unkommentiert, unter ihre Kollegen ein. Anstatt einer konfessionellen Landkarte gibt Bolduan eine Art von Repertorium der in Europa handelnden politischen Akteure. Dazu stoßen, allerdings in ganz notdürftigen Kategorien, die neuentdeckten außereuropäischen Gebiete: «Insularum descriptio»; hier findet man Madagaskar (S. 245). In seiner Eingangsdissertation von 57 Seiten arbeitet Bolduan die Topoi der humanistisch-protestantischen Geschichtsbetrachtung ab, ohne sich auf ein konfessionelles, von der Theologie gesteuertes Programm festzulegen. Im Gegenteil, der Verzicht darauf, die nach 1600 schon weit auseinanderlaufenden Sparten von historia divina, naturalis, humana systematisch zu integrieren, erlaubt es ihm, die historia humana unbefangen zur Quelle aller Wissenschaften auszurufen, sich also die methodus zu leisten, von der Possevinus 1603 bereits wieder abgerückt war: Iam vero eas res, quae vere sunt ανθρώπιναι, et in hominis partim ingenio, partim voluntate actionesque conquiescunt recensere, vivisque suis coloribus et floribus ornare aggrediar, uberrimus et fructuosissimus materiarum campus mihi offeretur. Etenimvero quo ad Ethicam, sive Theoriam eius spectemus, et praecepta universalia morum, ad quae velut ad normam vitae, omnium hominum consilia et actiones dirigi debent, qua nobis Christianis est lex Dei sive Decalogus: Sive Praxin et actiones hominum, probas vel improbas, turpes vel honestas consideremus: quid habet illa, quod non historia debeat in universum? Etenim humani casus subinde sibi similes, velut in Orbem redeunt: et ut hominum natura eadem manet. Sic in rebus humanis eadem quoque occasiones, consilia, negotia, eorumque eventus, tam in gubernatione Reipublicarum quam cuiusque vitae privatae moderatione recurrunt: adeo ut qui velit, facile possit praeterita cum praesentibus comparare: futuros casus prospicere: quidve sibi expediat, vel non, velut e penu liberalissima depromere: […].79

78 Paulus Bolduanus: Bibliotheca historica. Leipzig 1620, S. 205f. 79 Bolduanus: Bibliotheca (wie Anm. 78), unpag. Praefatio.



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Im Mittelpunkt steht also, was Merio Scattola den „prudentiellen Diskurs der Geschichte“ genannt hat.80 Ein beschränktes menschliches Handlungsrepertoire kehrt immer wieder und kann deshalb, auch unter unmerklich sich verändernden Bedingungen, für vorausblickendes neues Handeln aufgeschlüsselt werden, wobei dann etwa religiöse Normen nur eine von mehreren Gruppen von Faktoren seiner Steuerung sind. Im Rahmen der prudentia spielt der ordo et delectus scriptorum historicorum eine weitaus geringere Rolle als im heilsgeschichtlich verdichteten/verkürzten – Körper der «Bibliotheca selecta» von Possevino. Bolduan führt ihn in seinem sechsten Abschnitt (S. 15f.) fast improvisiert vor, wozu er die historiae braucht, und dazu benötigt er vor allem eine große Anzahl von Lemmata, insgesamt 210, das ist passend in lokale Kontexte situiertes Verhalten. Dies ist auch der Grund, warum etwa 70 % aller Lemmata sich auf Chorographien beziehen. Die Differenz von ‚katholisch‘ und ‚protestantisch‘ verliert dabei genauso an Bedeutung wie die temporale Unterscheidung zwischen den Autoren in den einzelnen lokalen Abteilungen. Die Handlungsklugheit hat genug damit zu tun, die fast schon unendlich vielen Varianten überlieferten menschlichen Verhaltens auszuwerten. Dazu gehört – anders als bei Possevino – nicht das des Historikers selbst. Bolduan geht offensichtlich davon aus, daß sein Leser bereits weiß, welche Art von Klugheit er aus den Geschichten beziehen möchte. Anders ist es kaum erklärbar, daß seine Schlußrubrik der «Loci communes» (S. 277–280) so dürftig ausfällt. Wer zur Resteverwertung dieser Kompendien greifen muß, der kommt vielleicht noch als Käufer von Geschichten in Frage, wird aber wohl kaum durch sie klug werden und muß sich darauf beschränken, sich an populären und moralisierenden Auswertungen zu ergötzen.81 Somit gelingt es auch einer prudentiellen Strukturierung der Historien nicht, eine operationsfähige Selbstreferenz der Historien zu organisieren. Zwar hat der faktische Bestand von gedruckten Geschichten und ihre unablässige Veränderung durch die Drucker, Verleger und auswertenden Leser ein Ausmaß erreicht, das zum bibliographischen Spezialwissen zwingt, aber die so erzielte Varietät wie Redundanz ist in die jeweilige Situation des Lesers ‚zerstreut‘ und in ihr eingefroren. Mag Bolduan sogar noch mehr Historien verzeichnen als Possevino, dessen «Apparatus ad omnium gentium historiam» (1597) eröffnet seine Behandlung der historiographischen Überlieferung immerhin mit

80 Merio Scattola: De historicis legendis. Storia e filosofia pratica nella prima età moderna. Scienza e Politica 17 (1997) S. 43–64, bes. S. 62–64 sowie ders.: ‚Historia literaria‘ als ‚historia pragmatica‘. Die pragmatische Bedeutung der Geschichtsschreibung im intellektuellen Unternehmen der Gelehrtengeschichte. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Hgg. von Frank Grunert und Friedrich Vollhardt. Berlin 2007, S. 37–63. 81 Bolduanus: Bibliotheca (wie Anm. 78), S. 277: Quemadmodum in humanis actionibus tria potissimum spectantur: Consilia, Dicta, Facta: ex quibus bene sentiendi et bene agendi virtutes nascuntur, ita in historiae lectione, qua experientia vita est: Iidem loci proponi, et in iis considerari, et omnia ad eosdem referri debunt.

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einem 21-seitigen Index, der zu vielen Namen bereits ein ‚Problem‘ aufführt.82 Je mehr derartige Probleme benannt werden, desto wahrscheinlicher wird es, daß zu ihnen eines Tages auch die Zeitdifferenz selbst tritt und die Hierarchie unter den Geschichten (Übermacht der Heilsgeschichte) durch Operationen abgelöst wird, die grundsätzlich jede Geschichte als ‚Umwelt‘ aller anderen Geschichten möglich machen.

5.3 Gerard Vossius (1577–1649): «De historicis Graecis» (1623) und «De historicis Latinis» (1627) Kaum waren «De historicis Graecis» 1623 und «De historicis Latinis» 1627 erschienen, da konnte man bei den zeitgenössischen Gelehrten bereits eine tiefe Genugtuung darüber registrieren, daß Form und Inhalt des für die Philologen notwendigen historiographischen Wissens nunmehr ihre Idealform gefunden hätten.83 Diese Befriedigung hielt an, bis die Aufklärer die rhetorisch-philologische Basisaufgabe der ‚historia‘ zugunsten einer ‚vernünftigen Erzählung der Ursprünge‘ zurückgestellt hatten.84 Mit der Ernennung von Vossius im November 1622 in Leiden zum Ordinarium Professorem Eloquentiae ende Chronologiae universalis wurde ihm auch offiziell die Aufgabe gestellt, die «Annales ecclesiastici» von Caesar Baronius zu widerlegen.85 Daß etwa «De historicis latinis» dazu dienen könnte, kann aus dem Werk selbst nicht erschlossen werden. Dazu muß man zu den Briefen zurückgehen, mit denen zusammen Vossius das Werk bei seinen englischen Freunden verteilte, wohl auch, um seine Kandidatur auf einen Lehrstuhl in Cambridge zu fördern: Sane dicere illud possim, studiose me operam dedisse, ut facilius ut legi, et refelli possint, quae de controversiis variis ab celeberrimo Annalium Ecclesiasticorum conditore adversus nostros scripta sunt. Plurimum enim refert nosse, quae genuina, quae supposititia sint, qua aetate scriptor quisque vixerit, utrum Pontificias in Caesareas secutus sit partes, et id genus compluria: quorum usus magis apparebit,ubi, quae nunc de scriptoribus prodidi, accomodata vero rebus ipsis, quae memoratus Annalium autor, ex iis vel probare vel refellere se posse arbitratur. 86

82 Possevino: Apparatus (wie Anm. 75), unpag. Index zu Plutarch: Errores Plutarchi circa Romanorum historiam fol. 88, pag. a; Plutarchus non aequus Iudex inter Graecos et Romanos fol. 87, pag. b. 83 Gerardus Joannes Vossius: Epistolae selectiores, a Vossio et ad Vossium scriptae. In: Ders.: Operum tomus quartus historicus et epistolicus. Amsterdam 1699, Nr. LXIX-CXLIII. Zu den zahlreichen Neuausgaben der Vossianischen Großbibliographien siehe Cornelis Simon Maria Rademaker: Life and Work of Gerardus Joannes Vossius. Assen 1981 (Respublica literaria Neerlandica. Band 5), S. 360f. «De historicis Graecis» und S. 362 «De historicis Latinis». 84 Vgl. Nicolas Lenglet du Fresnoy: Methode Pour Etudier L’Histoire. Avec un Catalogue des principaux Historiens, & des Remarques sur la bonté de leurs Ouvrages, & sur le choix des meilleures Editions Band 2. Paris 1735, S. 587–606. 85 Vgl. Rademaker: Life and Work (wie Anm. 83), S. 150, Anm. 511 und S. 152f. 86 Vossius: Epistolae selectiores (wie Anm. 83), Nr. XCVIII, Brief an Richard Neile (1562–1640), damals Bischof von Durham und später Erzbischof von York.



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De facto geht es Vossius in jeder Geschichte vor allem darum, quis dicat, et quid dicat, d. h. um Philologie und Polymathie, die in einen historischen, rhetorischen und poetischen Teil zerfallen.87 Für das jeweils Gesagte gilt es den Sprecher zu lokalisieren, der sodann Aussagen zur historia divina, humana und naturalis macht.88 Die historia ist für Vossius vor allem ‚Aussagenwissenschaft‘ im weitesten Sinn: Aus ihr schöpft man die notitia linguae verborumque ebenso wie die prudentia civilis et militaris, den verus sensus der Heiligen Schrift sowie die direkten Folgen der divina providentia und auch noch die sapientia naturae! Für diesen gänzlich unspezifischen Einsatz legt Vossius nun seine zwei Riesenbibliographien vor: Für die Rhetoren und für die Poeten lägen bereits commentaria vor, nicht aber für die Historiker. Nun wolle er dies für die griechischen wie lateinischen Autoren nachholen! Das Werk wurde zu einem nachhaltigen Erfolg, löste aber auch Erwartungen bei den Empfängern der Erstausgabe aus, die zeigen, welche Teleologie in einem derart professionalisierten historiographischen Wissen immer noch steckte. So schrieb Erycius Puteanus (Hendrick van den Putten, 1574–1646), der Nachfolger Lipsius’ in Löwen, Vossius 1624 nach dem Erhalt von «De historici Graecis»: Tam felici industria usus es, ut quicquid a veteri aevo Graecia sudavit, ignorare iam docti indoctique desinant, quos omnes unus docuisti. Quae divitiae! Quae deliciae! Nihil tam abditum, quod non legeris, tam dubium, quod non expenderis; tam obscurum, quod non illustraris. Sed si haec destinati laboris pars est, possumus tuo unius ingenio contenti esse, et omnis porro aevi Historiam accuratam in compendium serie collectam expectare. Imperfectum est, et saepe hiulcum, quicquid in hoc genere hactenus vidi. 89

Die natürliche Tendenz des historiographischen Gesamtwissens, so Puteanus, ist also das universalhistorische Kompendium, nicht eine Selbstreferenz der Tausenden von Geschichtswerken. Wenn Vossius diesem Ansinnen später nachkam, dann gewiß nicht in Verfolg der ursprünglichen Intention, die er beim Verfassen dieser Bibliographien hatte. Nur, welche war die ursprüngliche Absicht gewesen? Im Brief, der «De historicis Latinis» 1627 nach Paris zu Hugo Grotius begleitet, heißt es: […], prodit in lumen historia mea, de Historicis Latinis; […]90. In der Einleitung zu diesem Werk 87 Vossius: De studiis instituendis. In: Operum tomus quartus (wie Anm. 83), S. 82. 88 Vossius: De historiae utilitate oratio (1632). In: Operum tomus quartus (wie Anm. 83), S. 94–99, bes. S. 97f. 89 Vossius: Epistolae selectiores (wie Anm. 83), Nr. LXIX, Brief von Putanus an Vossius. Eine «Historiae universalis Epitome» hat Vossius später tatsächlich geschrieben. Sie wurde jedoch erst 1698 im vierten Band der Opera omnia (vgl. Anm. 82) als vierter Teil veröffentlicht. Hier umfaßt sie 110 doppelspaltige Folioseiten, bemüht aber die herkömmlichen chronologischen Schemata wie die Vier Monarchien, Varro oder das Vaticinium Eliae. Eine Abstammung dieser konservativen Schulchronologie von den großen historiographischen Bibliographien ist angesichts der völlig verschiedenen Morphologie beider Werke unwahrscheinlich; vgl. Nicholas Wickenden: G.J. Vossius and the Humanist Concept of History. Assen 1993 (Respublica literaria Neerlandica. Band 8), S. 130–139. 90 Vossius: Epistolae selectiores (wie Anm. 83), Nr. CIV. Brief an Hugo Grotius 1627.

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vermeidet Vossius dagegen diese Genusbezeichnung und spricht stattdessen nur vom Vorgängerwerk als: […] de Graecis quidam commentarios […] und später sogar von […] historiam de historicis Graecis pertexuissem […].91 Die Geschichte, die alles erleuchtet, so nochmals Erycius Puteanus, verdiente selbst Licht: Quisquis enim Historiam attigit, bene de humano genere meritus est; et quia aliquam rebus lucem dedit, luce ipse dignus erat.92 Dieses Licht hatte niemand anderes als Vossius der Sache aufgesetzt. Nur, nochmals nachgefragt: Worauf schien dieses Licht? Um diese Frage beantworten zu können, läßt sich die Analyse einiger Abschnitte der beiden Großbibliographien nicht umgehen.93 In «De historicis Graecis» geht Vossius chronologisch vor und ‚verknäult‘ die Urteile (iudicia), die er zu dem jeweiligen Autor auffinden kann. Wer welches historisches Werk geschrieben hat, was authentisch, was gefälscht oder umgearbeitet oder epitomisiert worden ist, interessiert ihn ebenfalls. Soweit spätere Nennungen, Zitate und Urteile relevant scheinen, werden sie ebenfalls aufgelistet. Die Verzahnung der Verfasser erfolgt vermittels der Erwähnung durch andere Autoren, d. h. Vossius bildet so weit wie möglich den internen Diskurs der Literaturgeschichte selbst ab. Entweder eine Referenz erfolgt durch den Autor bzw. seine Kritiker, dann baut sie Vossius ein, oder aber es erfolgt keine weitere Nennung, dann schweigt auch Vossius. Wenn Petrarca sich zu Herodot äußert, dann erscheint er neben Plutarch, verfügt also über keinen eigenen Kontext.94 In einer – gewiß vorläufigen – Synthese erweist sich «De historicis Graecis» als eine kolossale iudicia-Sammlung, die nach den Kriterien der Chronologie, der Vollständigkeit der überlieferten Autoren und der (Echtheits-) Kritik integriert wird, wobei die bekannteren Werke auch einer standardisierten rhetorischen Beurteilung unterliegen. Die mittel- wie spätbyzantinischen Historiker finden allesamt Erwähnung, wobei Vossius allerdings nur an der Editionsgeschichte der Basler, Augsburger und Pariser Byzantinistik entlangwandert. Die Bezeichnung commentarius trifft auf dieses Werk weitaus eher zu als historia.95 Es richtet sich an alle diejenigen, die auf theologischer, juristischer und universalhistorischer Ebene 91 Gerardus Joannes Vossius: De historicis Latinis libri III. Editio altera, priori emendatior, et duplo auctior. Leiden 1651, unpag. Vorrede an den Leser. 92 Vossius: Epistolae selectiores (wie Anm. 83), Nr. CXLII, Putanus an Vossius 1629. 93 In der Analyse von Nicholas Wickenden: G.J. Vossius (wie Anm. 89) finden «De historicis Graecis» und «De historicis Latinis» keine angemessene Behandlung. Auf S. 25, Anm. 111, bringt Wickenden zwar Vossius in Verbindung mit La Popelinière, aber der Versuch einer Einbettung dieser Werke in eine Geschichte der Historiographiegeschichte mißlingt mangels eines adäquaten Kontexts. Eine gründliche Sichtung beider Werke bleibt ein Desiderat. 94 Gerardus Joannes Vossius: De historicis Graecis. In: Ders.: Operum tomus quartus (wie Anm. 83), S. 59. 95 Vgl. Markus Völkel: Von Augsburg nach Paris. Die reichsstädtische Byzantinistik und die europäische Respublica litteraria in der Frühen Neuzeit. In: Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. Hg. von Gernot Michael Müller. Berlin/New York 2010 (Frühe Neuzeit. Band 144), S. 293–308. Zur Kommentarfrage siehe Markus Völkel: Der Kommentar zu Historikern im 16. und 17. Jahrhundert. In: Der Kommentar



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durch historische Aussagen Zusammenhänge herstellen und gültige Argumentationen aufbauen wollen. Neben Poesie und Rhetorik liefert er so für die dritte Form von polymathia eine weitere Arbeitsbibliographie. Es liegt Vossius fern, Autoren, Genera, Arbeitsformen, d. h. kritische Verfahren und rhetorische bzw. literarische Normen, entwicklungsgeschichtlich einzuordnen, zu relativieren oder gar in strikter Abgrenzung von der übrigen Wissensliteratur mit einer Eigenlogik zu versehen. «De historicis latinis», so meint Nicholas Wickenden, sei hingegen „[…] a fullscale history of historiography.“96 Er begründet dies mit der geringeren Zahl lateinischer Werke bis in die Zeit Karls des Großen, also einem leichteren Überblick, sowie der Anwendung der Lebensalter (Jugend, Reife und Greisenalter) auf die historia. Mit den Worten von Vossius: Nam habet historia quasi pueritiam suam: habet adolescentiam: item aetatem statam, quam Graeci „ακμλώ“ vocant: denique sua ei quoque senectus fuit: nec minus ea gradibus suis distincta, quam variare illam in hominibus videmus.97

Freilich bedeutet eine Lebensaltermetaphorik, die Vossius überdies nur kursorisch benützt, noch keine belastbare Selbstthematisierung, geschweige denn Selbstreferenz von Historiographiegeschichte. «De historicis latinis» bearbeitet im ersten Buch pueritia, adolescentia und aetas stata auf 170 Seiten. Buch II beginnt in der Ausgabe Leiden 1651 bereits in der Zeit der Adoptivkaiser und endet erst mit dem Beginn des 14. Jahrhunderts. Dieser Abschnitt umfaßt nicht weniger als 361 Seiten und behandelt ausschließlich das ‚Greisenalter‘ lateinischer Geschichtsschreibung! Es folgt der erste Teil von Buch III, mit 364 Seiten exakt gleich lang, in dem Künste und Literatur, und mit ihnen auch die Geschichtsschreibung langsam wieder aufleben.98 Diese Epoche endet mit Kaiser Karl V., ohne daß sie den beiden klassischen Spitzenjahrhunderten (1. Jh. v. und n. Chr.) Vergleichbares geleistet hätte. Es folgen nun noch Supplemente, Historiker ungewissen Alters, anonyme Autoren und sonstwie ‚Vergessene‘, in denen Vossius seinen Schreibtisch gänzlich aufräumt. Auch in den «Lateinischen Historikern» bestimmt der Status des philologischen Diskurses, besonders in der Antike, oder aber die bibliographische Situation das kapitelweise dominierende Netz der Referenz. Sallust etwa kann als Senator und Autor aus ausschließlich antiken Referenzen erschlossen werden. Marc’ Antonio Coccio, genannt Sabellico (1436–1506), wird 1500 Jahre später ebenfalls auf seinen zeitgenössischen Bestand von iudicia festgelegt. Von ihm selbst weiß man, wie sehr er Livius zu imitieren trachtete. Natürlich weiß das auch Vossius, aber es ergibt sich daraus keine Überlegung zur historiograin der Frühen Neuzeit. Hgg. von Ralph Häfner und Markus Völkel. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit. Band 115), S. 181–208. 96 Wickenden: G.J. Vossius (wie Anm. 89), S. 24. 97 Vossius: De historicis Latinis libri III (wie Anm. 91), S. 2. 98 Vossius: De historicis Latinis libri III (wie Anm. 91), S. 525: Ab longa historiae senectute ad ea tempora, quibus (ut rerum omnium circuitus sunt) literarum etiam, et eloquentiae honos coepit revirescere.

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phischen Tradition oder zum stilus historicus, also möglichen thematischen ‚Kernen‘ einer Historiographiegeschichte.99 Selbst dort, wo seine Leitschriften für das 15. und 16. Jahrhundert, also Erasmus’ «Ciceronianus», Vives’ «De tradendis disciplinis», Giovios «Elogia» und Scaligers «Poetices libri septem», ihm die Fragen gleichsam vorgeben, verzichtet er darauf, sie zu bündeln. Das führt zu dem seltsamen Phänomen, daß jeder auctor jeden anderen zitieren und kritisieren kann, aber doch niemals anders als in der Referenz auf die klassischen Topoi der Beredsamkeit und der ihr entsprechenden ciceronianischen Gleichung Rhetor = vir bonus.100 Vossius mutet sich die fast übermenschliche Anstrengung zu, dieses Schema auch noch für das gesamte ‚Mittelalter‘, für ihn das ‚Greisenalter‘ der Historiographie aufzufüllen. Der Theorie nach können nun auch diese Geschichtswerke für die rhetorische Polymathie genutzt werden. De facto bleibt dies freilich Theorie, denn nicht wenige dieser Werke sind zu Vossius’ Zeit ungedruckte Manuskripte. Außerdem produziert der Kompilator dieser späthumanistischen summa, was ihm durchaus bewußt ist, ein ‚Wissen‘, das die Grundprinzipien der Rhetorik bereits aushebelt. Die antiken Historiker hatte er noch ausnahmslos intensiv studiert, die ‚Greise der Historiographie‘ und die sich tapfer verjüngenden Autoren des Humanismus konnte er vollständig nicht einmal dem Namen nach erfassen. Nachahmungswürdig waren sie auch nicht und ihre Ausrichtung auf die machtstaatliche prudentia mochte er schon gar nicht mehr thematisieren. Vossius nutzte natürlich die iudicia der «Bibliotheca selecta» von Possevino und der «Politicorum libri sex» von Lipsius, aber es ist kein Zufall, daß sein Werk vor der Zeit der politisch-konfessionellen Historiographie endet. Die beiden großen historiographischen Bibliographien von Vossius entpuppen sich so als wissenschaftshistorische Paradoxa. Sie umreißen, mit dem Instrumentarium des humanistischen Zugangs zum auctor, einen Wissenshorizont, der bereits Fragen aufwirft, die keine primär humanistischen mehr sein können. Gemeint sind dabei Fragen der Genesis und Abhängigkeit von Texten jenseits des klassischen Autors, Aufstieg und Niedergang von Thematiken, Beziehungen von Stil und Leser, endlich auch einer immens gesteigerten Skala der Beurteilung von Fiktion, Wahrscheinlichkeit und Wahrheit/Faktizität, auf die nicht wenige iudicia in immer neuen Versionen anspielen, ohne daß Vossius jemals daran denken würde, diese aus dem ‚praxeologischen‘ rhetorischen Bezug zu lösen. Die griechischen und lateinischen ‚Historiker‘ sehen also einer „full-scale history of historiography“ auf den ersten Blick verblüffend ähnlich, de facto handelt es sich aber immer noch um eine Materialsammlung, die darauf angelegt ist, in rhetorische Topoi umgesetzt zu werden. Daß dies Vossius’ Endabsicht gewesen ist, zeigt, daß er für sein Massiv historiogra99 Vossius: De historicis Latinis libri III (wie Anm. 91), S. 669f. 100 Diese Verweisfähigkeit ist noch im Sinne der enzyklopädischen Fähigkeiten des klassischen auctors zu werten. Deshalb kann der Prediger den Dichter, der Dichter den Archäologen und Inschriftenforscher und der Philologe den Arzt zitieren, ohne damit im Kontext unangemessene iudicia heranzuziehen.



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phischer Autoren nicht meinte, etwas anderes als die ohnehin bewährte Theorie in revidierter Form als Fokus bereitstellen zu müssen: seine «Ars historica» von 1623, deren Druck in die Konzeptionsphase der beiden Großbibliographien fällt. Vossius kann also nicht die Endstation für die Suche nach ersten belastbaren Stufen einer segmentären Differenzierung einer Historiographiegeschichte sein; es gilt, das alteuropäische rhetorische Schema endgültig zu überschreiten.

6 Das Ende des ‚vorparadigmatischen Zeitalters‘ bei Lenglet Dufresnoy (1674–1755) In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrschten im aufgeklärten Europa die großen französischen Kataloge von Ellies Du Pin, «Bibliothèque universelle des historiens», Lenglet Dufresnoy, «Méthode pour étudier l’histoire» und die im Heiligen Römischen Reich angesiedelte historia litteraria den Zugang zum historiographischen Wissen. Diesen wiederholt aufgelegten und revidierten Sammlungen ist gemeinsam, daß sie den unmittelbaren Produktionsaspekt, die ars scribendi, ausklammern und über Zweck und Methode, Quellenkritik, Überlieferung und Autor ganz im Sinne möglicher ‚Anwendungen‘ reflektieren. Sie sind also späte Nachkommen der ars legendi historiarum und schwanken demgemäß zwischen der methodischen Gewinnung von historischem Allgemeinwissen und Bauplänen für neue Universalhistorien. Daß sie sich dabei von der Ausfaltung der biblischen historia divina über die gesamte Geschichtszeit hinweg lösen und sich der Untersuchung der ‚Ursprünge der Menschheit‘, ja den ‚pragmatischen Aggregaten‘ einer nun schon internem Fortschrittsglauben verpflichteten Universalhistorie zuwenden, das ändert am Verfahren selbst nichts. Selbst ein Johann Christoph Gatterer steht hier noch in einer Tradition mit Vossius, was man nun sonst kaum vermuten würde. Gleichwohl bewirkt der langsam, dafür aber auf breiter Front vollzogene Übergang von der Geschichte als exemplarischer Lehrerin (magistra vitae) zur Lieferantin der Prinzipien der zivilisatorischen Entwicklung, die beginnende Domestizierung reiner Gelehrsamkeit durch einen neuen affektiven historischen Schreibstil eine Anzahl von kleineren thematischen ‚Rückungen‘ angesichts der Rolle der Historiographie, die zumindest mit der Möglichkeit verstärkter Selbstreferenz spielen. Hierzu sollen nun noch wenige exemplarische Bemerkungen folgen. Der Abbé Nicolas Lenglet Dufresnoy (1674–1755) gehört zu den französischen Aufklärern, die sich bemühten, die Mitte zwischen der traditionellen Polyhistorie und dem bon goût einer bereits vom Büchermarkt gelenkten Leserschaft zu halten.101 Die «Méthode pour étudier l’histoire» hat den Autor mehr als 30 Jahre beschäftigt und ihm 101 Der Nachruf, den wahrscheinlich Élie Freron in seiner «Année Litteraire», 3 (1755) S. 116–139, auf ihn geschrieben hat, ist immer noch lesenswert. Um eine Neukontextualisierung dieses zeitweise verdrängten Autors bemühen sich Géraldine Shéridan: Nicolas Lenglet Dufresnoy and the Litera-

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europäisches Renommee eingebracht. Die erste Auflage 1713 umfaßte zwei Bände, die zweite 1729ff. bereits vier, denen bis 1741 noch drei Supplementbände folgten.102 In der Préface zu Band 1 (1713) vermißt Lenglet – womöglich als erster überhaupt – das Wortfeld Méthode en histoire.103 Es habe schon viele ‚Wege‘, also Méthodes, gegeben. Seine halte er allerdings in der gegenwärtigen Situation historischen Wissens für angemessen. Die humanistischen Traitez sur la maniere d’écrire l’Histoire erwähnt er noch, läßt aber diese Tradition gänzlich in den «Instructions pour l’histoire» (1678) des Jesuiten René Rapin (1621–1687) aufgehen: Mehr Wissen zur Rhetorique des Historiens benötige niemand. Daran anschließend bildet Lenglet drei Klassen von Autoren, die über die Méthode geschrieben hätten. 1. Die Autoren, die loci communi aus den Geschichten zu vorwiegend moralischen Zwecken gezogen haben. Hier fehlten gemeinhin die règle(s) préparatoire(s) à la lecture de l’histoire. Auch für diese Traditionslinie bietet Lenglet ein Anschlußwerk von bewährtem bon goût an, «De l’usage de l’histoire» (1671) des Abbé César Vichard de Saint-Réal (1639–1692). 2. Die Klasse von Autoren, die die Funktion der introduction à l’Histoire als Kompendien (abregez historiques) (miß-)verstanden hätten und nicht als methodische Hinleitung (préliminaires pour cette étude). Für fast jedes Spezialgebiet gebe es sie, vorwiegend in der Form von Katechismen, als Frage-und-Antwort-Spiele. 3. Die Klasse von Autoren, die Handreichungen zur Historikerlektüre gegeben haben, die gemäß ordre et par principes vorgehen. Aus ihr steche Bodins «Methodus» heraus, ein noch heute fruchtbares Werk, das manche freilich für strukturell mißlungen hielten. Man müsse ihm erst eine wissenschaftliche ‚Form‘ verleihen: […] qu’il falloit être rompu et formé sur la science de l’Histoire. Diesem Urteil schließt sich Lenglet nicht nur an, er weitet es zu einem Vorschlag aus, in dem erstmals das ‚Veralten‘ von ‚Methodenliteratur‘ jenseits bloßer Mängel im bon goût erklärbar wird: Quoiqu’il y êut alors un goût de critique assez bon, ce gout n’était pas encore tout à fait épuré. Et c’est ce qui se trouve contraire à cette exactitude et à cette juste precision, qu’un habile connoisseur y devroit changer. Cet ouvrage donc [le Methodus de Bodin] aussi-bien que celui de Chytreus

ry Underworld of the Ancien Régime. Oxford 1989 (SVEC. Band 262) sowie Lenglet Dufresnoy entre ombre et lumières. Hgg. von Claudine Poulouin und Didier Masseau. Paris 2011 (DHS. Band 155). 102 Nicolas Lenglet Dufresnoy: Méthode pour étudier l’histoire, avec un Catalogue des principaux historiens et des remarques critiques sur la bonté de leurs ouvrages et sur le choix des meilleurs éditions. Tome 1. Paris 1713; Méthode pour étudier l’histoire qui contient le Traité de lusage de l’Histoire par monsieur l’Abbé de Saint-Réal, un Discours sur les historiens français, par M. de Saint-Évremont, par l’abbé N. Lenglet Dufresnoy. Tome 2. Paris 1713. Das Werk wurde ins Italienische und Englische übersetzt und von Johann Burckhardt Mencke (1674–1732) in einer überarbeiteten deutschen Fassung herausgegeben, vgl.: Des Herrn Abts Langlet Du Fresnoy Anweisung zur Erlernung der Historie, Nebst einem vollständigen Verzeichnis Der Vornehmsten Geschicht=Schreiber, worinnen die ebsten Auflagen fleißig angemercket, und die Bücher nach ihrem Werth und Unwert beurtheilet werden. Leipzig 1718. 103 Lenglet Dufresnoy: Méthode, Tome 1 (wie Anm. 102). Die 19-seitige Préface ist unpaginiert; die originale Schreibweise wurde beibehalten.



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Protestant Allemand du XVI. siecle [De lectione historiarum recte instituenda] n’est pas dans le degreé de perfection qui est aujourd’hui nécessaire pour étudier l’Histoire. Ces auteurs ont à la vérité connu les principes de ce science, mais les lumieres que l’on a euës depuis ce temps-là, les Révolutions et les affaires qui sont arrives dans le monde, font voir qu’il est difficile de les prendre pour seuls et uniques guides de cette étude. Il y a trop à ajoûter à leurs ouvrages; et peut-être y a-t’il aussi beaucoup à retrancher.104

Voilà, so könnte man sagen, erstmals ist der historiographiegeschichtliche Diskurs in der Querelle des Anciens et Modernes angekommen, und der Sieg der Neueren ist bereits unumkehrbar. Das gilt nicht nur für die ars scribendi, die nur noch in der Kurzfassung des bon goût zulässig ist, nicht nur für die critique, die sich erst in der Gegenwart in ihrem ganzen Umfang gezeigt hat, es gilt gleichsam für den ganzen ‚Traditionskörper‘ selbst, der einen Wachstumsschub erlitten hat, so daß man ihn erst wieder ‚in Form‘ schneiden muß, bevor man mit ihm in ‚Kontakt‘ treten darf. Die Werke, zusammen mit der gedanklichen Form ihrer Rezeption als kritische Neukonstitution von Fragen an die Geschichte, unterliegen, so räumt Lenglet unumwunden ein, einem Verzeitlichungsschub. Und damit ist es erstmals möglich, Kategorien der Beurteilung von Geschichtsschreibung nicht nur inhaltlich, sondern auch formal, als Formen des Umganges mit Texten, ‚veralten‘ zu lassen. Lenglet vollzieht diese Wende keineswegs implizit, sondern legt sie als ein neues Verhältnis zu den bisherigen Formen historiographischen Wissens auch explizit offen. La Popelinières «Histoire des histoires» sei eben weniger eine Méthode pour étudier l’Histoire als eine Sammlung bloßer jugemens sur les Historiens.105 Sein Urteil über die ehrwürdige Tradition der iudicia-Sammlungen, von Lipsius bis Thomas Pope Blount, fällt vernichtend aus und ist nichts weniger als revolutionär: Il faut avoüer que nous regorgeons de semblables ouvrages, sans que nous en tirions beaucoup de profit. Tout le monde se mêle de juger, et peu de personnes veulent acquiescer á ces jugemens.106 Anstatt, wie zuvor selbstverständlich, den Konsens der Humanisten zu reproduzieren, wirken iudicia-Verzeichnisse jetzt nur noch als Stimulus für leerlaufende Differenzbildung in der lesenden Öffentlichkeit. Lenglet selbst gibt nun weiter keine iudicia über die traditionellen Vertreter historiographischen Wissens ab, sondern er geht den entscheidenden Schritt weiter, sie zu historisieren. Die «Bibliotheca selecta» von Possevino sieht er von Bodins «Metho104 Lenglet Dufresnoy: Méthode, Tome 1 (wie Anm. 102), unpag. Préface. Einfügungen vom Verfasser. 105 Nicht nur hier lehnt sich Lenglet an Gabriel Naudé und dessen «Bibliographie politique» an, vgl. La Bibliographie Politique du Sr. Naudé. Paris 1642, S. 149: Au regard de la Popeliniere il n’a pas tant faict une methode de lire l’histoire, qu’un cathalogue des historiens. Auch spricht es Naudé schon offen aus, daß die bisherige ‚Methode‘ als bloßes Ordnungsprinzip dem Anspruch, Neues zu erzeugen, nicht standhalte, ebd.: Car tout ce que Lipse, Timplerus, et Keckermanus y ont adiousté depuis est plus recommendable par la beauté du stile, ou pour la facilité de la methode, que pour y avoir quelque chose de nouveau. 106 Lenglet Dufresnoy: Méthode, Tome 1 (wie Anm. 102), unpag. Préface.

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dus» positiv beeinflußt (!), aber gerade in ihrem eigenen Beitrag – worin genau beläßt Lenglet in der Schwebe – veraltet. Die «Relectiones hyemales» von Degory Whear (1573–1547), dem ersten Camden-Professor in Oxford, nennt er un des plus judicieux ouvrages que nous ayons sur cette matière, aber doch zu knapp im Prinzipiellen und zu lang bei der Explikation der Klassiker.107 Eine 1665 anonym erschienene Abhandlung «La science de l’histoire» führt Lenglet nach anfänglichem Lob zu drei prinzipiellen Kritikpunkten.108 Es fehlten: I. Un jugement exact et solide, qui n‘approuve que les bons auteurs, et qui sçait faire discerner ce qu’il y a de meilleur dans les Ecrivains mediocres. II. Des principes qui fassent connoître la bonté des Historiens, et la vérité des faits historiques, et qui nous apprennent en meme temps à juger sainement des auteurs et des actions qu’ils rapportent. III. Enfin ce livre manque à faire attention sur les endroits les plus essentiels de chaque histoire; il manque à decouvrir les difficultez et les dénoüemens qu’on y donne, ou qu’on y peut donner, c’est à dire qu’on n’y trouve rien de la Dogmatique nécessaire pour se preparer à étudier l’Histoire.109

Verlangt wird also eine nach offengelegten Prinzipien verfahrende Kritik, die Darstellungs- wie Informationsqualität gleichzeitig umfasst, den Handlungsknoten samt seiner ‚Entwirrung‘ deutlich expliziert, insgesamt also beim historischen Autor und seiner Information zu einer neu begründeten Hierarchisierung führt. Verkürzt ausgedrückt: Weniger wäre mehr, weil nur in der Komprimierung das historische Material in prinzipielle Fragestellungen übergeleitet werden kann. 107 Die Abfolge der Argumente in Lenglets Préface legt nahe, daß er bei der Abfassung eine spezifische Sammelausgabe vor sich liegen hatte und somit den Traditionszusammenhang der iudicia unmittelbar historisiert hat: Relectiones hyemales de ratione & methodo legendi utrásque historias, civiles & ecclesiasticas auctore Degoreo Whear, apud Oxonienses olim praelectore Camdeniano primo; quibus appenditur Mantissa, de historicis gentium particularium; accessit Gabrielis Naudaei Parisini Bibliographia politica; praemittitur Justi Lipsii Epistola ad Nicolaum Hacquevillium, de historiâ, historicos legendi ordine, fructusque ex iis excerpendi modo; adjectus est in extremo index locupletissimus, tam rerum, quam auctorum. Canterbury 1684. Zur Whears «De ratione et methodo legendi historias» (erstmals 1623) vgl. Völkel: Kommentar (wie Anm. 95), bes. S. 187–189. 108 Gemeint ist La Science de l’Histoire. Avec le jugement des principaux Historiens tant Anciens que Modernes. Paris 1665. Der Verfasser ist ein Connoisseur, der zwar noch bei der Kopplung von Historiographie und alter Universalhistorie beginnt, dann aber sich zunehmend den europäischen Einzelstaaten zuwendet und eine unpedantische Übersicht über deren Geschichtsschreibung gibt. Im Mittelpunkt steht die Historiographie der italienischen Staaten. Die Kritik Lenglets ist angesichts des schmalen Zuschnitts dieses Werkes teilweise nicht gerechtfertigt. In Kapitel XI, De l’Histoire generale de l’Italie et les digressions que les Historiens font en leurs Ouvrages, S. 105–114, setzt der anonyme Verfasser sehr geschickt die in Kritikpunkt III verlangten inhaltlichen Schwerpunkte. In Kapitel XVII, Précautions qu’il faut apporter dans la lecture des Historiens, S. 376, erklärt Lenglet, daß der ‚Kern der Methode‘ mit der Wirkung der Zeit übereinstimme. Die kritische Auswahl von wahrhaftigen Leitautoren nehme nur vorweg, was die Zeit unter der Masse der Historiker anrichte: En effet nous voyons che le temps sçait rendre justice aux ouvrages, et qu’il n’a presque laissé passer jusqu’à nous, que ceux qui meritoient d’être lus. 109 Lenglet Dufresnoy: Méthode, Tome 1 (wie Anm. 102), unpag. Préface.



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Für die Endphase des vorparadigmatischen Zeitalters bleibt dieser Ansatz zur Neubearbeitung des historiographischen wie historiographiegeschichtlichen Wissens, den Lenglet so deutlich wie kein zweiter herausarbeitet, noch eine vage, ja uneinlösbare Perspektive. Es gelingt auch in den folgenden Jahrzehnten nicht, das traditionelle Angebot an Methodenautoren und bibliothecae im Sinn prinzipiengeleiteter Auswertung zu komprimieren, d. h., sich vom ungefilterten Überlieferungsangebot zu trennen. Man blicke nur in eine späte Ausgabe der «Introductio in notitiam rei litterariae» von 1754, um dann festzustellen, daß die Autoren, die Historicorum vitas und de historicis […] iudicia collegerunt, noch die gleichen wie um 1700 sind.110 Die historische Kritik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzt weitgehend beim Autor an und arbeitet mit einem bewährten binären Code: Ist er ehrlich/unehrlich? Hat er es ‚richtig‘ wissen können? Konnte er es wirklich wissen? Dies führt zu einer immer mehr erweiterten Varietät an Beurteilungskriterien für den Geschichtsschreiber: C’est pourquoi avant de lire un Historien, il faut le connoître, et rien ne peut donne plus d’ouverture pour fair un jugement exact des faits qu’il rapporte, che de sçavoir son charactere, ses interèts, ses passions, les circonstances de sa vie, et les conjonctures ou il s’est trouvé.111 Derartige Viten wären nun zu schreiben, und die «Vita Taciti» etwa, die Lipsius aus den Resten der Überlieferung zusammen- und seiner Gesamtausgabe vorangestellt hatte, wäre zu ‚überschreiben‘ gewesen. Die neue Biographie – «Vie de Tacite» –, die der Abbé de la Bléterie (1697–1772) seiner Übersetzung voranstellt, entlockt Voltaire die Bemerkung, der Abbé habe […] traduit Tacite en ridicule.112 Aber nicht nur die Biographien der großen Historiker bleiben ungeschrieben, weil Biographik für bloß ‚moralische Persönlichkeiten‘ nur wenig Anreize bietet, auch die Gravitationskraft der Universalgeschichte für das historiographische Wissen bleibt ungebrochen. Noch 1735, in der zweiten Auflage seiner Methode, erblickt Lenglet die Difficultez de l’Histoire in der unüberblickbaren Vielzahl der Beziehungen der Geschichtswerke – etwa zwischen den Nationen –, ohne als Lösung etwas anderes als abrégés de l’histoire universelle relûs et médités plus d’une fois vorzuschlagen.113 In noch größerer Vollendung findet man dieses Paradoxon in der Einleitung von Johann Christoph Gatterers vielgerühmten «Handbuch der Universalhistorie»:

110 Burkhard Gotthelf Struve: Introductio in notitiam rei litterariae et usum bibliothecarum … . Frankfurt a. M./Leipzig 1754, S. 710–713 und S. 742–745; ähnlich noch bei Johann Christoph Gatterer: Handbuch der Universalhistorie nach ihrem gesamten Umfange von Erschaffung der Welt bis zum Ursprunge der meisten heutigen Reiche und Staaten. Göttingen 1761, S. 2 und S. 58–60. 111 Lenglet Dufresnoy: Méthode, Tome 1 (wie Anm. 102), S. 388. 112 Vgl. Catherine Volpihac-Auger: Tacite en France de Montesquieu à Chateaubriand. Oxford 1993, S. 67f. und Jean-Philippe-René La Bléterie: Traduction de quelques ouvrages de Tacite, 2 Bd.e. Paris 1755. 113 Nicolas Lenglet Dufresnoy: Méthode pour étudier l’histoire, avec un Catalogue des principaux historiens et des remarques critiques sur la bonté de leurs ouvrages et sur le choix des meilleurs éditions. Tome 1. Nouvelle Edition Paris 1735, S. 72.

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Ich weiß nicht, wodurch dieser Theil der Gelehrsamkeit [die Historie] das ungünstige Schicksal verdient hat, daß die Verehrer und Kenner desselben noch nicht an die Ausarbeitung einer lesenswerten Historie von der Historie gedacht haben. Die Versuche, die hierinnen gemacht worden sind, zeugen zwar davon, daß man die Nothwendigkeit einer solchen Unternehmung eingesehen; aber da sie selbst von so gar geringer Erheblichkeit sind, ja dasjenige nicht einmal berühren, was die Hauptsache in dieser Art der Geschichte ausmacht, so erregen sie ein desto größeres und billigeres Verlangen nach der Ersezung eines Mangels, der unter die beträchtlichsten im Reiche der historischen Wissenschaften zu rechnen ist.114

Was nun aber im Handbuch folgt, ist nur ein gemäßigt modernisiertes Kompendium der immer noch auf der Bibel aufruhenden Universalgeschichte. Hier fragt sich nun, warum so klare Einsichten so wenige Folgen nach sich ziehen konnten? Warum trug der Schwung der Querelle des Anciens et Modernes die Neuerer nicht weiter? Es wäre wohl notwendig gewesen, die erreichte Sicherheit in der Kritik, die Masse des bibliographischen Wissens, die bereits erstaunliche Erklärungstiefe für variable Formen und Inhalte von Geschichtswerken unter einen zwingenden Aspekt von Selbstthematisierung zu stellen. Wo eine Disziplin ihre Elemente und Regeln, jedenfalls in der Mehrzahl, selbst erzeugt, dort scheint der Weg zur Selbstthematisierung und Autoreflexion wenn auch nicht immer einfach, so gleichsam natürlich vorgegeben. Wo man aber ‚acquirierte‘ Elemente und Regeln erst einmal ‚assimilieren‘ muß, dort kann ein solcher Prozeß lange dauern, ja es kann sein, daß das System nur unter unwahrscheinlich günstigen Umständen seine ‚Betriebstemperatur‘ erreicht. Dazu sollen nun noch einige abschließende systematische Überlegungen folgen.

III Ein vorläufiges Fazit: Die historiographische Selbstreferenz und die ‚Mittleren Zeiten‘ Das ‚Mittelalter‘ war bei allen vorgeführten Diskursen eine manchmal stark, manchmal schwächer präsente Referenz, und zwar im Sinne historiographisch-historiographiegeschichtlicher Selbstreferenz. Im Blick auf die ‚Schwellentexte‘ ist freilich klar geworden, daß die ‚Epochenreferenz‘ nicht so ohne weiteres, wie Blumenberg meinte, selbst „signifikantes Element der Epoche“ wird, wo diese ‚als Neuzeit‘ dazu übergeht, sich ein historiographisches Wissen zu organisieren. Hier gilt eher das Gegenteil, nämlich, daß der Gegenstand der Historien und die notwendigen Fähigkeiten, mit ihnen umzugehen (facultates intellectus) einem unwiderstehlichen Sog unterliegen, synthetisierend und totalisierend zu operieren, womit zunächst klare Temporalisierungen verhindert werden. Diese Fähigkeiten, so wurde gezeigt, können verschiedener Natur sein und das jeweilige ‚Ganze der Geschichten‘, d. h. den zugrundeliegenden Typus von Universal- oder Partikularhistorie, ebenfalls unterschiedlich 114 Gatterer: Handbuch (wie Anm. 110), S. 1.



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ausprägen. Ein Resultat jedoch blieb über fast 300 Jahre lang das gleiche: Im und über das historiographiegeschichtliche Wissen wurden stets nur verschiedene ‚Formen der Subsidiarität‘ der Historie reproduziert.115 Will eine Wissensform ihre Anwartschaft auf den Status einer Disziplin in vollem Umfang und dauerhaft, also rational einlösen, dann muß sie die Grenze zwischen sich und ihrer Umwelt beherrschen und dafür auch den Preis einer entsprechenden ‚Interdependenzunterbrechung‘ bezahlen.116 Die Ausbildung der naturwissenschaftlichen Disziplinen im 19. Jahrhundert führt exemplarisch vor, wie bedeutsam Brüche mit der Tradition, aber auch mit den ‚Nebendisziplinen‘ für die Stabilisierung einer Disziplin waren. Gleichzeitig beweisen die langfristigen Auswirkungen der Theorie des Paradigmenwechsels nach Thomas S. Kuhn und die davon angeregten Untersuchungen moderner disziplinärer ‚Istzustände‘, daß eine Beschreibung von Aufbau und Funktionsweisen wissenschaftlicher Disziplinen nur auf einer ausgedehnten Skala zu leisten ist, die vom mathematisierten Idealtyp bis zur gänzlichen Auflösung klassischer disziplinärer Strukturen reicht. Nun zeigt sich, daß das Transitorische das Normale, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen möglich und auch innerhalb von Disziplinen ganz unterschiedliche Entwicklungsniveaus erkennbar sind, die ihrerseits, funktional wie auch genetisch, zu überraschenden Verwandtschaften und Überschneidungen von Disziplinen führen können. Und das trifft dann gleichermaßen für Gegenstände, Theorien, Methoden und analytische Werkzeuge zu.117 Diese neue ‚Unübersichtlichkeit‘, die durch inter- wie transdisziplinäre Ansätze noch verstärkt wird, bietet aber der Disziplinengeschichte der Geschichtswissenschaft und damit auch deren Wissenschaftstheorie, sofern sie sich einen historiographiegeschichtlichen Kern wählt, die lang entbehrten ausreichend komplexen, weil auf Differenzbildung und Selbstthematisierung fußenden Modelle von Selbstanalyse an. In dieser Situation ist die alte Rede von der grundsätzlich defizitären, weil konstitutiv ‚subsidiären‘ Historie ebenso obsolet wie das Idealbild stabiler autonomer naturwissenschaftlicher Disziplinen. Ein abschließender Blick auf die historiogra115 Die Historie liefert dabei Materien und Methoden an andere Interessenten, importiert – umgekehrt – Kernkonzepte, wie etwa die Anthropologie aus der Philosophie. Obwohl er den Begriff der Subsidiarität nicht verwendet, hat ihn Horst Dreitzel wohl in der bis heute deutlichsten Form entwickelt, vgl. Horst Dreitzel: Die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft, S. 257–284. ZHF 8 (1981) S. 257–284, bes. S. 278–283. 116 Rudolf Stichweh: Differenzierung der Wissenschaft. ZfS 8 (1979) S. 82–101, S. 90: „Disziplinen dienen per Definitionem der Artikulation von Differenz. Sie sind gewissermaßen institutionalisierte Interdependenzunterbrechungen.“ 117 Vgl. Heinz Heckhausen: Some Approaches to Interdisciplinarity, in: Interdisciplinarity. Problems of Teaching and Research in Universities. Hg. vom Centre for Educational Research and Innovation. Paris 1972, S. 83–89 und Jean Piaget: The Epistemology of Interdisciplinary Relationships, in: ebd., S. 127–139. An dem 1972 geäußerten Befund, daß sich die ‚Muster‘, nach denen Methoden, Theorien und Analysewerkzeuge sich disziplinär verweben, allenfalls ‚historisch‘ erklären lassen, hat sich wenig geändert, nur der Grad seiner Bestätigung ist in den vergangenen 40 Jahren beträchtlich gereift.

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phiegeschichtliche Situation nach 1800, als sich genau diese Doppelperspektive erstmals dauerhaft verfestigte, mag dies erläutern. 1803 ließ Georg Friedrich Creuzer (1771–1858) in Leipzig seine Schrift «Die historische Kunst der Griechen in ihrer Entstehung und Fortbildung» erscheinen. In der knappen Vorrede verankert Creuzer sein Vorhaben zunächst in einem erneuten Versuch, eine Genese des Ursprungs der Historiographie bei den Griechen zu liefern, erklärt dies sodann zu einer Vorarbeit für eine Sammlung der Fragmente der griechischen Historiker, die ihrerseits als Basis für eine künftige Gesamtgeschichte der hellenischen Historiographie unentbehrlich sei. Daneben ging es ihm aber darum, die Historie des Herodotos nach ihren inneren und äußeren Bedingungen im ganzen zu erklären und dadurch eine Erklärung derselben im Einzelnen vorzubereiten.118 Für Herodot nämlich plane er einen Kommentar, der eine Synthese aus deutscher und europäischer Philologie sein solle. Damit steht die «Historische Kunst» einerseits ganz am Anfang eines letztlich traditionellen philologischen Unternehmens, des Kommentars, dann aber zugleich in einer Endstellung, insofern Creuzer in seinem fünften Abschnitt Die Begriffe der Alten […] besonders von der Historie in einen Forderungskatalog zum historischen Styl einmünden läßt, den er als direkte Norm der Geschichtsschreibung der Neuern, besonders der Teutschen begreift. Anstatt eine Rekonstruktion des Herodot zu leisten, unternimmt Creuzer eine ‚genetische Definition‘ der Geschichte anhand der Kriterien eines spezifischen Prosastils. Weil allein dieser ‚ästhetische Anschauung‘ ermögliche, schlägt Creuzer ihn den Zeitgenossen als unverzichtbare Reflexionsgröße für die moderne Quellenforschung vor. Eher zufällig als geplant belebt Creuzer somit nochmals eine alte Unterscheidung der rhetorischen Stiltheorie, versieht sie mit einer ‚teutschen‘ Terminologie und stellt sie der wissenschaftlichen Geschichte als Anforderung. Aus dem Ursprung (origo) wird nochmals, ein letztes Mal freilich, Norm. Hier erreicht Creuzer den Schnittpunkt einer möglichen Selbstthematisierung von Geschichte, und zwar in dem ihm persönlich noch sinnvoll erscheinenden bald aber disziplinär als aporetisch begriffenen Zusammenschluß von historischer Kunst und historisch-kritischer Methode.119 Und die 118 Georg Friedrich Creuzer: Die historische Kunst der Griechen in ihrer Entstehung und Fortbildung. Leipzig 1803, S. VI. 119 Man lese die mürrischen Versuche Droysens, angesichts der ‚historischen Kunst‘, sollte nicht Kritik ihre wesentliche Technik sein, Reste der rhetorischen Tradition als einerseits genetischen Antrieb für die Historie zu retten, andererseits als überholt zu beschreiben, vgl. Johann Gustav Droysen: Historik. Textausgabe von Peter Leyh. Stuttgart – Bad Cannstatt 1977, S. 11 und 480–482. Dagegen, schon von Dreitzel (wie Anm. 115) angeführt, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen über die Methode des akdemischen Studiums (1803). In: Schellings Werke Band 2. Leipzig 1907, S. 639f.: Auch die wahre Historie beruht auf einer Synthesis des Gegebenen und Wirklichen mit dem Idealen, aber nicht durch Philosophie, da diese die Wirklichkeit vielmehr aufhebt und ganz ideal ist, Historie aber ganz in jener und doch zugleich ideal sein soll. Dieses ist nirgends als in der Kunst möglich, welche das Wirkliche ganz bestehen läßt, wie die Bühne reale Begebenheiten oder Geschichten, aber in einer Vollendung und Einheit darstellt, wodurch sie Ausdruck der höchsten Ideen werden. Die Kunst also ist es, wodurch die Historie, indem sie Wissenschaft des Wirklichen als solchen ist, zugleich über dasselbe



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mittelalterlichen Historiker, können sie hier überhaupt eine Rolle spielen? Creuzer erwähnt nur ein einziges Mal, bei der Entwicklung der gemüthlichen Prosagattung, die spätmittelalterlichen Historiker. Sie erscheinen ihm als verpaßte Chance, weil der Einklang von Sinnlichkeit und positivem Daseinsverständnis damals doch analog zur griechischen Blütezeit aufzufassen, dann aber durch ein ‚unglückliches Bewußtsein‘ und den Gebrauch einer fremden Sprache (Latein) nicht zu vollem Entfaltung gelangt sei. Daß die Deutschen des 14. bis 16. Jahrhunderts also Griechen hätten werden können, aber schlechte Lateiner wurden, ist das einzige, was wir über das historiographische Mittelalter erfahren.120 Historiographiegeschichte beruht bei ihm also auf dem Nichtzusammenschluß der Epochen. 1812 veröffentlichte der Marburger Professor Johann Friedrich Ludwig Wachler (1767–1838) den ersten Band seiner «Geschichte der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der litterärischen Cultur in Europa»; ein zweiter Teil begann bereits 1813 zu erscheinen. Das Werk ist tatsächlich ein Versuch, zu einer umfassenden europäischen Historiographiegeschichte zu gelangen, allerdings unter charakteristischen Voraussetzungen: Der Historiker ist für Wachler ein Nationalerzieher, der Idealität und Realitätssinn im angemessenen Verhältnis zu vermitteln habe und sodann, nach gründlichem Quellenstudium, dies in eine literarische Darstellung umzusetzen wisse.121 Die Grundlage dafür legen die antiken Klassiker, deren Leistungen fortzusetzen dem Mittelalter, ganze elf Seiten widmet Wachler ihm, nicht gelingt. Die folgenden 1321 Seiten widmet der Verfasser ausschließlich den Historikern zwischen 1320 und 1780. Daß das Werk heute unlesbar geworden ist, hat keineswegs mit der Autorenauswahl zu tun, sondern damit, daß Wachler weder Kritik noch ‚historische Kunst‘ exemplarisch vorführt, vielmehr die Notizen der älteren historia litteraria und der iudicia-Sammlungen auf den Rahmen seines dürftigen Historikermodells aufspannt.122 Aber auch hier, und dies wird allmählich zu einer beunruhigenden Anomaauf das höhere Gebiet des Idealen erhoben wird, auf dem die Wissenschaft steht; und der dritte und absolute Standpunkt der Historie ist demnach der der historischen Kunst. 120 Creuzer: Historische Kunst (wie Anm. 118), S. 251f. 121 Johann Friedrich Ludwig Wachler: Geschichte der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der litterärischen Cultur in Europa. Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Fünfte Abteilung. Geschichte der historischen Wissenschaften, 2 Bd.e Band 1. Göttingen 1812–1820, S. 4f. Zu Wachler als Literaturhistoriker eindringlich Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Paderborn 2003, S. 289–292. 122 Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik. Stuttgart 1991 (FH. Band 3), S. 193–204 beurteilt das Werk fast uneingeschränkt positiv, ja als „Beginn der Historiographiegeschichtsschreibung in Deutschland“. Er sieht den Grund für seine Wirkungslosigkeit darin, daß es kurz vor der Selbstverwirklichungsphase des deutschen Historismus abbreche, also unfreiwillig die negative Seite von dessen Selbstverständnis repräsentiere, außerdem auch der veralteten Frage nach der ‚Darstellung‘ zu viel Aufmerksamkeit widme. Dieses Urteil wiederholt aber nur die historistische Selbstbeschreibung. Hätte Wachler tatsächlich exemplarisch die ‚literarische Kunst‘ der neueren Geschichtsschreiber im Sinne der klassischen ars historica oder der zeitgenössischen Prosatheorie (nach

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lie, kommt der Versuch einer Historiographiegeschichte ‚ohne Mittelalter‘ aus. Noch Franz Xaver von Wegeles «Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus» (1885) wird Wachlers Beispiel folgen. Was aber geschah unterdes mit den mittelalterlichen Autoren? Seit 1819/1826 wurden sie in Steins «Monumenta Germaniae Historica» kritisch ediert und seit 1868 in Franz August Potthasts (1824–1898) «Bibliotheca historica medii aevi» bibliographisch auf den neuesten Stand gebracht. Diese Konstellation wirft grundsätzliche Fragen auf. Die synthetisierende Teleologie der seelischen Vermögen und des universalhistorischen Objekts der (älteren) Historien verhinderten offensichtlich eine Epochenbildung innerhalb der literaturgeschichtlich-bibliographischen Masse und damit auch eine Temporalisierung ihrer genetischen Voraussetzungen. Nach 1800 verhinderte dann die idealistische Anknüpfung an die klassischen Historiker und die Verabsolutierung der kritischen Methode den Einbezug der mittelalterlichen Historiker in ein historiographiegeschichtliches Kontinuum. Gab es zuvor keine Epochen, gab es sie jetzt so, daß sie sich ausschlossen. Diese Diskontinuität mit Desinteresse an mittelalterlicher Historiographie gleichzusetzen, wäre verfehlt; überall im Europa des 19. Jahrhunderts war dieses Interesse überaus intensiv. Die mittelalterlichen Historiker allein, nicht die frühneuzeitlichen, waren imstande, die alt-neuen nationalen Identitäten zu repräsentieren. Klar ist aber auch, daß diese Repräsentationsleistung ausschließlich in der ‚historisch-kritisch‘ aufgefaßten Identität von Autor und Nation bestehen konnte, nicht aber in einer Geschichtswissenschaft, der es gelungen wäre, sich innerhalb einer progressiv-expansiven Disziplinenkultur mit den Mitteln der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie zu behaupten. Darum ist nun nach dem Ende des nationalen Identifikationsmodells eben dieser bislang verschmähte Weg zu gehen und die Historiographiegeschichte in den Kern der Methodenreflexion zurückzuholen, bzw. diese erstmals dort zu befestigen. Dies kann freilich nur dann gelingen, wenn man gewillt ist, sich auf den Weg der historiographiegeschichtlichen Konstellationsanalyse, wie sie dieser Beitrag versucht, zu begeben. Dies bedeutet, auf den Befund einer jahrhundertelangen Unfähigkeit zur Epochenbildung und einer gut 150 Jahre währenden Unfähigkeit zum ‚Epochenzusammenschluß‘ zu reagieren. Eine progressive und im Diskurs der Wissenschaften konkurrenzfähige Selbstthematisierung der Geschichtsschreibung wie -wissenschaft hat zur Voraussetzung, daß man zunächst einmal die Differenzen im ‚Körper der Historiographie‘ registriert, freilich in einem Kontinuum von Wahrnehmung, Theoriebildung und Rezeption. Dann wird im nächsten Schritt deutlich, daß sich auf diese Weise langsam eine neue ‚SystemUmwelt-Grenze‘ etabliert, ein Bereich, in dem eine möglicherweise sehr erfolgreiche und folgenreiche Selbstthematisierung der Geschichtswissenschaft möglich ist. dem Roman!) analysiert, es würde heute als Meilenstein gelten. So aber gab Wachler noch vor dem negativen Verdikt Rankes über die kritischen Fähigkeiten der Neueren in dessen «Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber» (1824) deren ‚historische Kunst‘ preis.



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Wenn der Historiker danach fragt, welche Operationen denn im engeren Sinne seine eigenen sind, dann wird er neben der ‚Forschung‘ an der Zone des Schreibens, der Darstellung, die sich mit Forschung keineswegs immer decken wird, nicht vorübergehen dürfen. Forschung benötigt die kommunikative Umsetzung, um sich selbst reproduzieren zu können. Und sie muß Semantiken bedienen, die sie selbst nie zu produzieren wagen würde. Somit gehören die historiographischen Werke zur Autopoiesis der historischen Wissenschaft, und zwar in einer Form, die die ‚Kunst‘ nun weder aus Gründen der inneren Temporalisierung noch aus solchen der Selbstreferenz ausblenden kann. Ist dies aber so, dann fällt ihre Selbstthematisierung und Differenzbildung als Wissenschaft mit den Verfahren der Historiographiegeschichte zusammen, denn diese aktualisiert das, was ausschließlich Historiker im eigentliche Sinn gekonnt und ‚gemacht‘ haben. Historiographiegeschichte realisiert das historisch Spezifische als die Einheit der Unterscheidung von jeweiligem System und seiner Umwelt und temporalisiert diese zugleich. Geschichte haben Historiker im seltensten Fall – und in der Regel mit unglücklichen Folgen – gemacht, die Historien aber sind eindeutig ihr Werk. Indem sie diese Geschichten zunächst in ihrer Gesamtheit durchdringen, beschreiben sie die Grenzen ihrer Disziplin zu ihren aktuellen Nachbarwissenschaften. In einem zweiten Schritt entwerfen sie die Grenzen der Historie innerhalb der älteren Wissensformationen vermittels der den Historien eigentümliche Genese. Erst im Zusammenschluß beider Verfahren und im Nichtausschluß dessen, was der Historismus in seiner Selbstthematisierung verworfen hat, schöpft die Geschichtswissenschaft die Möglichkeiten einer gelungenen und dieses Mal auch vollständig systeminternen Reproduktion ihrer Elemente vollständig aus. Weder im Hinblick auf die Materie noch formal muß die Disziplinengenese noch etwas ausschließen. Die ‚Identität‘ besteht dann darin, wechselnde Praktiken der Konstitution von Geschichten von der ‚gleichen Seite‘ aus beobachten zu können. Dazu sind die Epochengrenzen, und ohne das Mittelalter sind diese, wie gezeigt wurde, nicht praktikabel, sowohl zu setzen als auch aufzuheben und ihre Überwindung als beständiger ‚reentry‘ der Grenze ins System permanent zu machen. Das gleiche gilt selbstverständlich auch für weitere Unterscheidungen, wie etwa auf die ‚Darstellung‘ bezogene, die man ‚historisch im System‘ (also vor 1800) und aktuell ‚in der Umwelt‘ (also nach 1800) anzusiedeln gewillt ist. Und wie bei jedem anderen beobachtenden System selbst ist die Frage nach der ‚Realität der Umwelt‘, sprich Referenz wissenschaftlicher Selbstbeschreibungen und Thematisierungen müßig, weil es ausreichen muß, sie in Geschichten im System der autopoietisch organisierten Geschichtswissenschaft vorzufinden, und zwar in der Regel ‚erzählt‘, also in einer Form kommunikativ privilegiert, auf die auch die Historiker nicht ernsthaft verzichten sollten.

Matthias Pohlig

Was ist Heilsgeschichte? Formen und Funktionen eines Deutungsmusters in Spätmittelalter und Reformation „Wir sind die letzte Posaune, die die Wiederkunft Christi vorbereitet und dieser vorhergeht“ – nos esse tubam illam nouissimam, qua praeparatur et praecurritur adventui Christi.1 Diese Aussage Martin Luthers aus einem Brief vom März 1545 führt in das thematische Zentrum dieses Bandes: zum Zusammenhang von Identität und Geschichte, gar Heilsgeschichte. Denn die Frage nach Identität zielt darauf, wer ich bin oder wer wir sind, die Frage nach Identität und Geschichte entweder darauf, wie wir das geworden sind, was wir sind, oder welche Rolle uns im Gesamtablauf der Geschichte zukommt. Das Wir, das Luther meint, ist die Gruppe seiner Anhänger, diejenigen, die sich Luthers Reformation verpflichtet fühlen: Eine Gruppe also, die erst im Entstehen ist und daher Identitätsaussagen besonders dringend benötigt. Luther beschreibt seine historische Stellung und die seiner Anhänger in einer Weise, die man vorläufig als ‚heilsgeschichtlich‘ oder gar ‚apokalyptisch‘ bezeichnen kann. Diese Begriffe drängen sich insofern auf, als der historische Referenzrahmen, auf den sich Luther mit seiner identitären Selbstplatzierung bezieht, kein etwa national- oder reichsgeschichtlicher ist, sondern die Geschichte Gottes und der Welt mitsamt ihrem nahen Ende als ganze anvisiert, und zwar in einer Weise, die Gott als wichtigsten Akteur der Geschichte mitdenkt.2 Luther bezieht sich mit seiner Identitätsangabe auf die letzte Posaune des 1. Korintherbriefs, vielleicht auch auf die siebente Posaune der Offenba1 WA Br. 11,59. Luther an Matthäus Ratzeberger in Torgau, 25. März 1545. Ich danke den Teilnehmern der Göttinger Tagung für ihre Hinweise und Fragen, Tim Neu für eine anregende Diskussion und Michael Brauer und Elisabeth Tscharke für kritische Lektüre. 2 Die Betonung dieses Punktes ist deshalb zentral, weil er eine Kontrastfolie bildet zu modernen Sichtweisen auf Geschichte und soziale Prozesse. Diese modernen Sichtweisen zeichnen sich im Gegensatz zu heilsgeschichtlich geprägten etwa dadurch aus, dass in aller Regel Soziales aus Sozialem erklärt wird – und also unabhängig vom Glauben des einzelnen Forschers Gott als möglicher sozial- oder geschichtswissenschaftlicher Faktor methodisch eliminiert wird. Vgl. Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode. Hg. und eingel. von René König. Frankfurt a. M. 1984, vor allem S. 186, S. 193. In der postkolonialen Theorie, die sich explizit gegen europäische Wissenschaftstraditionen wendet, wird dies charakteristischerweise zuweilen anders gesehen: „The second assumption running through modern European political thought and the social sciences is that the human is ontologically singular, that gods and spirits are in the end ‚social facts‘, that the social somehow exists prior to them. I try, on the other hand, to think without the assumption of even a logical priority of the social. One empirically knows of no society in which humans have existed without gods and spirits accompanying them […] I take gods and spirits to be existentially coeval with the human, and think from the assumption that the question of being human involves the question of being with gods and spirits.“ Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton/Oxford 2008 (Erstaufl. 2000), S. 16.



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rung des Johannes (Offb 11), liest mithin die biblischen Prophezeiungen als eine Art chronologischen Heilsfahrplan, nach dem die Weltgeschichte ablaufe, und formuliert den Zeitpunkt, an dem sich der Geschichtsablauf befindet, sowie die Rolle, die er selbst und seine Anhänger darin einnehmen.3 Mit dem bekanntlich einigermaßen problematischen Begriff der Identität ist hier nur gemeint, dass Gruppen in Wechselwirkung mit anderen Praktiken des Herstellens von Nähe und Zusammenhalt auch Bilder entwerfen, wer sie sind oder sein wollen. Gruppenkohäsion braucht offenbar sowohl ein Moment der Identifizierung der Gruppenmitglieder mit gemeinsamen Inhalten oder Zielen als auch die Ausbildung eines Zusammengehörigkeitsbewusstseins, einen „Gemeinsamkeitsglauben“.4 Dieser entsteht oft durch die Konstruktion eines Bildes der Gruppe, mit dem sich die Gruppenmitglieder identifizieren können: „Unter einer kollektiven oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen.“5 Diskurse über Gruppenidentität betonen oft den Vergangenheitsaspekt, das heißt die gemeinsame Geschichte einer Gruppe. Dies gilt in besonders hohem Maß für die vergangenheits- und traditionsorientierten Gesellschaften und Gruppen Alteuropas.6 Das heißt aber nicht, dass Gruppenidentität ausschließlich über Geschichte konstituiert würde7 – allerdings steht dieser Zusammenhang im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen. Ich gehe also davon aus, dass die Deutung der Geschichte, also das Bündel analytischer, narrativer und sinngebender Verfahren inner- wie außerhalb der Historiografie im engeren Sinne, Einzelnen oder Gruppen eine sinnhafte Bezugnahme auf historisch erfahrene oder angeeignete Empirie erlaubt und ihnen auch gestattet, eine

3 Vgl. zu Luthers Geschichtsbild mit weiterer Literatur: Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617. Tübingen 2007, S. 79–93. 4 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 5. revidierte Aufl. 1980, S. 237; siehe zum hier zugrunde gelegten Identitätsbegriff auch: Pohlig: Gelehrsamkeit (wie Anm. 3), S. 35–38 und S. 42–49. 5 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2. durchges. Aufl. 1997, S. 132. 6 Vgl. Pohlig: Gelehrsamkeit (wie Anm. 3), S. 43f. 7 So wichtig der Vergangenheitsbezug für Gruppenidentitäten ist: Man darf diesen Zusammenhang auch nicht übertreiben. Gruppen konstituieren sich auch über gemeinsame Interessen, Praktiken, Werte, Strategien etc., aber zum Beispiel auch über eine gemeinsame Sicht der Zukunft. So verweist etwa Karl Mannheim auf Zukunftserwartungen als Indikatoren kollektiven Fühlens und Denkens; siehe Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Frankfurt a. M. 8. Aufl. 1995, S. 183. Darauf weise ich deshalb hin, weil der geschichtswissenschaftliche Gedächtnis-Boom der letzten Jahrzehnte die Bedeutung von Vergangenheitsbezügen für Gruppenbildungen regelmäßig überschätzt hat. Zur Kritik an dieser Denkfigur siehe: Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933. München 2008, S. 27f.

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gruppenkohäsive Identifikationserzählung zu konstruieren.8 Für das Spätmittelalter und die Reformation ist die Deutung der historischen Empirie als ‚Heilsgeschichte‘ besonders einschlägig. Was genau mit Heilsgeschichte gemeint ist, soll im Folgenden erläutert werden; nötig scheint mir vorab nur der Hinweis, dass ich Heilsgeschichte als ein Deutungsmuster verstehe. Ein Deutungsmuster kann definiert werden als kollektiv genutzte Beschreibungs- und Interpretationskategorie, die „Elemente der Weltdeutung mit möglicher Handlungsanbindung“ enthält und in der Regel vergangene Erfahrung mit einer bestimmten Zukunftserwartung verknüpft.9 Das Deutungsmuster Heilsgeschichte bildet, wie zu zeigen ist, sehr unterschiedliche Formen aus, die aber alle wenigstens darin konvergieren, dass sie ‚heilsgeschichtlich‘ im noch zu erläuternden Sinn sind. Wenn also im Folgenden pragmatisch zuweilen von ‚heilsgeschichtlichen Mustern‘ oder ähnlich gesprochen wird, sollte in Erinnerung bleiben, dass es sich dabei eigentlich nicht um Muster im Plural handelt, sondern um plurale Erscheinungsformen eines Deutungsmusters. Statt eines notwendig dilettantischen und unvollständigen Panoramas heilsgeschichtlicher Deutungsmuster in Spätmittelalter und Reformation möchte ich eher einige generelle, idealtypisierende Überlegungen präsentieren. Dabei geht es mir weniger um die Präsentation unbekannten Materials als vielmehr um eine Systematisierung bekannter Themen. Ich gehe in vier Schritten vor: Zuerst geht es um das Problem der ‚Heilsgeschichte‘ und seinen Zusammenhang mit der Geschichtsschreibung des 15. und 16. Jahrhunderts (1.). Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit dem Punkt Heilsgeschichte und Handlungsdirektiven (2.); in diesen beiden Teilen werden also Grundstrukturen heilsgeschichtlicher Deutung herausgearbeitet. Danach thematisiere ich die Phänomene ‚Reform‘ und ‚Endzeit‘ als prägende inhaltliche Charakteristika der heilsgeschichtlichen 8 Der Ausdruck „die Geschichte“ ist natürlich angreifbar, vor allem vor dem Hintergrund der Diskussion um die Kosellecksche These eines „Kollektivsingulars“ von Geschichte, der sich erst ab dem 18. Jahrhundert ausgebildet habe, weshalb man für die Vormoderne von einem pluralen Begriff von „Geschichten“ ausgehen müsse. Vgl. etwa: Reinhart Koselleck: Geschichte V.-VII. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hgg. von Otto Brunner u. a. Band 2. Stuttgart 1975, S. 647–717. Dagegen ist zweierlei zu bemerken: Erstens zeigen neuere Forschungen, dass Koselleck zwar recht hat, wenn er die geschichtsphilosophische Aufladung „der“ Geschichte als geradezu selbst handelnden Akteur als modernes Phänomen charakterisiert; doch eine Kollektivsingularbenutzung des Begriffs Geschichte, allerdings ohne geschichtsphilosophische Aufladung, findet sich bereits lange vor dem 18. Jahrhundert. Siehe dazu: Jan Marco Sawilla: Geschichte und Geschichten zwischen Providenz und Machbarkeit. Überlegungen zu Reinhart Kosellecks Semantik historischer Zeiten. In: Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks. Hgg. von Hans Joas und Peter Vogt. Berlin 2011, S. 387–422. Zweitens scheint mir, dass von den verschiedenen vormodernen Verfahren der Historiografie und Geschichtsdeutung die heilsgeschichtliche Variante am ehesten dazu neigte, sich ein Bild von „der Geschichte“ insgesamt und als ganzer zu machen – insofern sie eben prophetisch orientiert war. Vgl. Christoph Markschies: Geschichte/Geschichtsauffassung VI: Kirchengeschichte. In: RGG. Hg. von Hans Dieter Betz Band 3. Tübingen 4. völlig neu bearb. Aufl. 2000, Sp. 789–791. 9 Vgl. für diese Definition: Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 1996, S. 19.



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Deutung des Spätmittelalters und der Reformation (3.). In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, ob die Reformation im Hinblick auf ein Heils-Geschichtsbewusstsein eine epochale Zäsur darstellt. Diese drei Schritte bauen nicht stringent aufeinander auf, sondern explizieren und diskutieren verschiedene Probleme des Begriffs und Phänomens Heilsgeschichte. Ihre Funktion besteht unter anderem darin, Differenzierungen herauszuarbeiten, die am Schluss des Aufsatzes in Typenbildung überführt werden können. Im letzten Teil versuche ich nämlich, die verschiedenen Formen und Funktionen des Deutungsmusters Heilsgeschichte um 1500 auf vier verschiedene Idealtypen zuzuspitzen (4.). Dies erscheint auch deshalb sinnvoll, weil der unscharfe Terminus der Heilsgeschichte in Arbeiten etwa zur humanistischen oder konfessionellen Geschichtsschreibung meist unbefangen und oft relativ verschwommen verwendet wird. Eine typisierende Zuspitzung auf verschiedene, jeweils für sich genommen legitime Verwendungsweisen müsste daher für die weitere Forschung hilfreich sein.

1 Heilsgeschichte und Geschichtsschreibung In Luthers eingangs zitiertem Satz wird eine historische Deutung und Selbstdeutung vorgenommen, aber nicht im Rahmen etablierter historiografischer Genres, sondern in einem Brief. Offenbar ist also Heilsgeschichte als Deutungsmuster nicht auf Geschichtsschreibung beschränkt, sondern konstituiert einen sehr viel breiteren Rahmen von diffuser oder konkreter Deutung von Geschichte, die dann in verschiedenen historiografischen Gattungen Eingang finden kann. Doch welche spezifische Art von Geschichtsdeutung ist mit dem Begriff der ‚Heilsgeschichte‘ eigentlich angesprochen? Der Begriff, der der Theologie des 19. Jahrhunderts entstammt10 und zuerst vor allem auf den Bereich der biblischen Theologie bezogen wurde, ist nicht unproblematisch. Der jüngste Lexikoneintrag zum Thema empfiehlt sogar, den Begriff aufzugeben beziehungsweise ihn nur noch für eine bestimmte theologische Richtung des 19. und 20. Jahrhunderts zu verwenden.11 Das Problem besteht offenbar darin, dass der Begriff a) sehr unspezifisch ist und ihm b) potenziell die Unterstellung zugrunde liegt, dass man das biblische und postbiblische Heilsgeschehen an eine lineare Zeitkonzeption (vom Sündenfall zum Jüngsten Gericht mit historischen Durchgangsetappen, Vor- und Rückschritten des Heilsbezugs usw.) zurückbinden könne.12 Es scheint ein grundsätz10 Vgl. Wenzel Lohff: Heil, Heilsgeschichte, Heilstatsache. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter Band 3. Darmstadt 1974, Sp. 1031–1034. Siehe neben den folgenden Referenzen auch: Dietrich Wiederkehr: Heilsgeschichte. In: Evangelisches Kirchenlexikon. Hg. von Erwin Fahlbusch Band 2. Göttingen 1989, Sp. 460–468. 11 Vgl. Friedlich Mildenberger: Heilsgeschichte. In: RGG. Hg. von Hans Dieter Betz Band 3. Tübingen 4. völlig neu bearb. Aufl. 2000, Sp. 1584–1586, hier Sp. 1586. 12 Vgl. Mildenberger: Heilsgeschichte (wie Anm. 11). Zur Linearität der christlichen Geschichtskonzeption siehe: Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart u. a. 8. Aufl. 1990.

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liches und immer wieder neu auftretendes Problem christlicher Geschichtsdeutung zu sein, dass das Christentum einerseits, mit seiner Heilsbezugnahme auf die historischen Geschicke nicht nur Israels, sondern vor allem von Kreuzestod, Auferstehung und Wiederkunft Christi eine eminent – wenn man so will – historiografische Dimension besitzt. Andererseits aber ist die Geschichte der Welt nicht umstandslos mit der Geschichte des Heils zu synchronisieren, weil diese vielleicht gar nicht chronologisch verläuft, sondern nach dem unerforschlichen Ratschluss des Herrn jeder Mensch zu jeder Zeit in ein unmittelbares Verhältnis zu Christus gesetzt werden kann und daher keine Vermittlung über historische Entwicklungsstufen notwendig ist.13 In der Geschichte des Christentums scheinen sich Perioden, die eher einer historischen Deutung der Geschicke der Menschen zuneigen, mit Perioden abzuwechseln, die das Heilsverhältnis Gottes zu den Menschen eher anthropologisch, jedenfalls nicht vorzugsweise im Sinne eines historischen Ablaufs konzipieren.14 Glaubt man den entsprechenden Nachschlagewerken, dann sind große Teile der hoch- und auch noch spätmittelalterlichen Spiritualität durch eine eher unhistorische, verinnerlichte Bezugnahme auf Christi Heilstat gekennzeichnet; das «Lexikon des Mittelalters» nennt für diese Tendenz die Mystik und die Devotio moderna.15 Anderswo wird auch der scholastischen Systematisierung der Theologie, etwa bei Thomas von Aquin, eine solche Tendenz zugeschrieben, die eher Abstand nimmt von einer historischen Entfaltung des christlichen Heilsgeschehens,16 weil man zwar generell den Sinn der Geschichte, aber nicht ihren genauen Ablauf kennen könne.17 Selbst wenn mit Augustin die Geschichte immer ein „Kampfplatz zwischen Gut und Böse“18 ist, impliziert

13 Vgl. Heinrich Ott: Heilsgeschichte. In: RGG. Hg. von Kurt Galling Band 3. Tübingen 3. völlig neu bearb. Aufl. 1959, Sp. 187–189, vor allem 188. Vgl. instruktiv auch: Wolfhart Pannenberg: Weltgeschichte und Heilsgeschichte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hgg. von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik. Band 5), S. 307–323, der vor allem auf die Bedeutung des „Heils“ abzielt. 14 Vgl. instruktiv zum Problemzusammenhang: Christoph Markschies: Die eine Reformation und die vielen Reformen oder Braucht evangelische Kirchengeschichtsschreibung Dekadenzmodelle? ZKG 106 (1995) S. 70–97, vor allem S. 95. 15 Vgl. Manfred Gerwing und Winfried Schachten: Heilsplan, -geschichte. In: LexMa. Hg. von Robert-Henri Bautier Band 4. München 1989, Sp. 2031f., hier Sp. 2032. 16 Vgl. Norbert H. Ott: Heilsgeschichte. In: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Hg. von Stefan Jordan. Stuttgart 2002, S. 137–139, hier S. 138. 17 Vgl. Klaus Schreiner: „Diversitas temporum“. Zeiterfahrung und Epochengliederung im späten Mittelalter. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hgg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck. München 1987 (Poetik und Hermeneutik. Band 12), S. 381–428, hier S. 417. 18 Wendelin Knoch: Geschichte als Heilsgeschichte. In: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen. Hg. von Hans-Werner Goetz. Berlin 1998, S. 19– 29, hier S. 23.



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dies ja nicht zwingend eine sequenziell abbildbare historische Entwicklung; möglich ist auch eine statische, also ahistorische Grundstruktur.19 Doch im Hoch- und Spätmittelalter entwickelte sich auch ein neuer Trend zur Dynamisierung des Heilsgeschehens: Ruperts von Deutz Begriff der historia salutis, Joachim von Fiore und die spätmittelalterliche Joachim-Rezeption sind Belege für diese neue heilsgeschichtliche Deutungstendenz.20 Spätmittelalter und Reformation stehen also, so wird man schließen dürfen, für eine Hochphase heilsgeschichtlicher Geschichtsdeutung. Dennoch bleibt es natürlich möglich – und wird unter diesen Umständen vielleicht gerade attraktiv –, den Imperativ der heilsgeschichtlichen Deutung zu unterlaufen: indem etwa auf mystische oder individualeschatologische Konzepte des Gottesbezugs gesetzt wird, statt eine kollektiv-eschatologische Heilsgeschichtsvision in den Vordergrund zu stellen. Mit einiger Vorsicht scheint es mir insgesamt möglich, den Begriff der Heilsgeschichte als analytische Beschreibungskategorie für eine bestimmte Weise, sich die Geschichte vorzustellen und sich auf sie zu beziehen, beizubehalten. Ihr konstitutives Merkmal besteht darin, dass nach christlicher Geschichtsauffassung die gesamte menschliche Geschichte in den biblischen Prophetien vorhergesagt ist.21 Damit unterscheidet sich die Heilsgeschichte als Geschichtsauffassung, die im Horizont biblischer Prophezeiungen steht, von einer modernen Geschichtsphilosophie, die andere, ‚rationale‘ Erkenntnisweisen an deren Stelle setzt.22 ‚Heilsgeschichtlich‘ ist also ein Geschichtswerk dann, wenn ihm biblisch-theologische Schemata zugrunde liegen – und dies unabhängig von der Frage nach seinem Inhalt, sei er profan- oder kirchengeschichtlich. Heilsgeschichtlich ist eine Selbstverortung dann, wenn sie sich auf im weitesten Sinne biblische oder prophetische Aussagen bezieht. Heilsgeschichte ist also eine Perspektive und ein Erkenntnisprinzip, kein Gegenstandsbereich, auch wenn der im engeren Sinne religiöse oder kirchliche Sektor mittels heilsgeschichtlicher Deutung 19 Vgl. Horst Günther: Zeit der Geschichte. Welterfahrung und Zeitkategorien in der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1993, S. 64. 20 Vgl. Knoch: Geschichte als Heilsgeschichte (wie Anm. 18); Heribert Smolinsky: Apokalyptik und Chiliasmus im Hochmittelalter und der Frühen Neuzeit. Beobachtungen zur Kirchengeschichte. Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 20 (2001) S. 13–26, vor allem S. 21; Marjorie Reeves: The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachimism. Notre Dame/London 1993 (Erstaufl. 1968). 21 Das schließt nicht aus, dass gerade populäre, alltägliche, außer-gelehrte Bezüge auf die Geschichte oft wenig oder gar nichts mit Heilsgeschichte zu tun haben; siehe František Graus: Epochenbewußtsein im Spätmittelalter und Probleme der Periodisierung. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hgg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck München 1987 (Poetik und Hermeneutik. Band 12), S. 153–166. 22 Vgl. vor allem Arno Seifert: Von der heiligen zur philosophischen Geschichte. Die Rationalisierung der universalhistorischen Erkenntnis im Zeitalter der Aufklärung. ArchKulturg 68 (1986) S. 81–117. Siehe auch: Ott: Heilsgeschichte (wie Anm. 16); Helmut Zedelmaier: Die Marginalisierung der Historia Sacra in der Frühen Neuzeit. Storia della storiografia 35 (1999) S. 15–26; Ders.: „Im Griff der Geschichte“. Zur Historiographiegeschichte der frühen Neuzeit. HJb 112 (1992) S. 436–456.

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immer eindeutiger zu erfassen ist als etwa der politische.23 Einschlägige historiografische Gattungszusammenhänge wie die Universal- und Kirchengeschichtsschreibung sind also im Prinzip heilsgeschichtlich strukturiert – auch wenn dies nicht zwangsläufig in jedem historiografischen Werk in gleicher Weise durchschlägt. Aber immer besitzen diese Diskurse doch eine wie auch immer verdünnte transzendente Rückbindung.24 Worin besteht die Bezugnahme auf Heilsgeschichte genau, wie systematisch und explizit ist der Rekurs auf biblisch-prophetische Schemata oder Denkfiguren? Die Bezeichnung des spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Geschichtsbewusstseins als heilsgeschichtlich legt das Missverständnis nahe, die historischen Akteure hätten jederzeit klare und kohärente, theologisch konsistente, gar theorieförmige Ideen über den Verlauf der Geschichte besessen. Das trifft natürlich zum Teil zu, partiell aber eben nicht. Dies ist nicht nur, aber auch ein Unterschied zwischen gelehrter und eher populärer Kultur oder zwischen gelehrteren und populäreren Textgenres: Sehr häufig ergibt sich der Lektüreeindruck disparater heilsgeschichtlicher Argumente, die Fragmente heilsgeschichtlicher Gesamtdeutungen darzustellen scheinen. Methodisch besteht die Gefahr einer durch den Historiker vorgenommenen ex-postGlättung, einer Herstellung von Kohärenz, wo gar keine ist, oder des Vorwurfs der Inkonsequenz. Beispielhaft ist dies abzulesen an der Kontroverse über die Frage, ob etwa die Mystik oder die Apokalyptik besonders zentral für Thomas Müntzers Theologie gewesen ist und ob man Müntzer sinnvollerweise als Apokalyptiker oder gar als Chiliasten bezeichnen kann.25 Das Problem besteht offenbar darin, dass es eine große Zahl geschichtstheologischer und auch mit Elementen apokalyptischer Semantik operierender ‚Stellen‘ bei Müntzer gibt, aber nicht das eine, heilsgeschichtliche Selbstpositionierungsprogramm. Das ist relativ typisch für die außerhalb und oft selbst für die innerhalb der Geschichtsschreibung verwendeten Rekurse auf Heilsgeschichte, die häufig implizit, angedeutet, versatzstückhaft oder nach systematischen Maßstäben unvollständig bleiben. 23 Vgl. etwa: Heike Johanna Mierau: Das Reich, politische Theorien und die Heilsgeschichte. Zur Ausbildung eines Reichsbewußtseins durch die Papst-Kaiser-Chroniken des Spätmittelalters. ZHF 32 (2005) S. 543–573; Pohlig: Gelehrsamkeit (wie Anm. 3). 24 Vgl. zum Problemzusammenhang im Überblick auch: Alfred Schindler und Klaus Koschorke: Geschichtsschreibung 3: In der Kirchengeschichte. In: Evangelisches Kirchenlexikon. Hg. von Erwin Fahlbusch Band 2. Göttingen 1989, Sp. 121–127. 25 Vgl. Gottfried Seebass: Reich Gottes und Apokalyptik bei Thomas Müntzer. Lutherjb 58 (1991) S. 75–99, der schließt, dass Müntzer vielleicht kein „Apokalyptiker“ sei – was immer das genau ist –, aber ähnlich wie Luther eine apokalyptische Semantik dazu nutzt, „die eigene Zeit verstehend zu deuten“ (S. 76, Anm. 1). Siehe auch: Hans-Jürgen Goertz: Apokalyptik in Thüringen. Thomas Müntzer – Bauernkrieg – Täufer. In: Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald. Hg. von Günter Vogler. Wiesbaden 2008, S. 329–346; Eric W. Gritsch: Thomas Müntzers Weg in die Apokalyptik. Luther 60 (1989) S. 53–65; Michael G. Baylor: The Harvest and the Rainbow. Crisis and Apocalypse in Thomas Müntzer. In: Krisenbewußtsein und Krisenbewältigung in der Frühen Neuzeit. Crisis in Early Modern Europe. Festschrift für Hans-Christoph Rublack. Hgg. von Monika Hagenmaier und Sabine Holtz. Frankfurt a. M. 1992, S. 293–305.



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Man wird also immer fragen müssen: Sind die Erscheinungsformen von Heilsgeschichte, die ich zu beobachten glaube, Akteurskonzepte, oder sind sie nicht doch meine eigenen Konzepte? Folgen sie einer theoretischen, gar theologischen Logik, oder doch eher einer Logik der Praxis, die objektivierende Theorieförmigkeit gar nicht benötigt?26 Für diese zweite Vermutung spricht, dass erstens offenbar heilsgeschichtliche Deutungselemente von den Akteuren jeweils spezifisch abgerufen, rekombiniert und in sehr unterschiedlicher Weise, implizit wie explizit, artikuliert werden konnten. Dabei stand natürlich der selektive Rekurs auf die Bibel im Vordergrund; je nach Referenztext konnten aber verschiedene Facetten heilsgeschichtlicher Deutung aktualisiert werden: abhängig etwa davon, ob man sich auf die synoptischen Evangelien, auf die Johannes-Offenbarung, auf das Daniel-Buch oder andere alttestamentliche Texte bezog. Dieses Problem wird zweitens dadurch verschärft, dass neben die Bezugnahme auf Bibelstellen eben auch außerbiblische religiöse Traditionen, im Rekurs zum Beispiel auf Mt 16,1-3 prophetisch gedeutete Zeichen (etwa astrologischer Art), treten konnten. In einem prinzipiell durch die biblischen Bücher vorgegebenen geschichtsdeutenden Rahmen war damit eine große Variationsmöglichkeit dessen gegeben, was als ‚Heilsgeschichte‘ im engeren oder weiteren Sinne bezeichnet werden kann.27 Das Deutungsmuster Heilsgeschichte stellte offenbar eine stärker oder auch schwächer aktualisierbare semantische Ebene bereit; es wurde inner- wie außerhistoriografisch funktional und situationsbezogen verwandt – als geschichtsdeutendes und identitäres „tool kit“.28 Teil seiner Attraktivität war offenbar gerade die Möglichkeit, sich in graduell unterschiedlich systematischer und expliziter Art auf dieses Deutungsmuster zu beziehen – vom ausgearbeiteten heilsgeschichtlichen Modell bis zur Anspielung.29 Der systematische oder unsystematische Rekurs auf Heilsgeschichte spielte als Prinzip der historischen Erkenntnis wie als religiöse Überformung des historischen Materials im Spätmittelalter, in der Reformation und im konfessionellen Zeitalter eine sehr bedeutende Rolle. Während die augustinischen sechs Weltalter im Mittelalter das beliebteste historiografische Gliederungsprinzip darstellten,30 trat dieses Schema in der frühneuzeitlichen, jedenfalls der lutherischen Historiografie hinter eine andere Interpretationstradition zurück. Dies war die auf Hieronymus zurückge26 Vgl. zum methodischen Problemzusammenhang: Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M. 3. Aufl. 1999, vor allem S. 147–180. 27 Vgl. Smolinsky: Apokalyptik (wie Anm. 20), S. 15–17. 28 Vgl. Ann Swidler: Culture in Action: Symbols and Strategies. American Sociological Review 51 (1986) S. 273–286; Gadi Algazi: Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires. L’homme 11 (2000) S. 105–119. 29 Hilfreich finde ich in diesem Kontext die Überlegungen zur intellektuellen „bricolage“ in: Claude Lévi-Strauss: La pensée sauvage. Paris 1990 (Erstaufl. 1962), S. 30–32. 30 Vgl. Anna-Dorothee von den Brincken: Mittelalterliche Geschichtsschreibung. In: Aufriß der historischen Wissenschaften. Hg. von Michael Maurer. Stuttgart 2003 (Mündliche Überlieferung und Geschichtsschreibung. Band 5), S. 188–280, hier S. 202–204.

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hende Deutung des Buches Daniel und seine Lehre von den vier Weltreichen, die vor dem Weltende bestehen sollen: Assyrien, Persien, das griechische Reich Alexanders des Großen sowie Rom. Das römische Reich bestand ja nach mittelalterlicher und auch noch frühneuzeitlicher Reichstheologie im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation fort,31 wenn auch die Heiligkeit des Reichs weniger spezifisch und auch weniger diskutiert war als die römische Deszendenz und beide Charakteristika im Laufe der Frühen Neuzeit in sowohl inner- wie auch außerdeutschen Diskussionen unter Beschuss gerieten.32 Diese zwei Ablaufmodelle, die Weltalter und die Weltreiche, teilen aber gemeinsame Charakteristika, die generell für heilsgeschichtliche Schemata zutreffen: die prophetische oder biblische Geoffenbartheit des Gesamtablaufes der Geschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht anhand einer linearen Chronologie und eines einigermaßen präzisen „Fahrplans“33, damit auch ein geschlossener, weil vorgegebener Zukunftshorizont.34 Theologie, richtiger: Exegese prophetischer Texte und Historiografie sind damit idealtypisch sehr eng aufeinander bezogen. Zugespitzt kann man vielleicht formulieren: Verglichen mit modernen Geschichtsauffassungen ist der Rekurs auf die Heilsgeschichte „irgendwie ‚ungeschichtlich‘“35 und unempirisch: Heilsgeschichtliches Lernen ist ein Lernen aus der Bibel, nicht aus der Geschichte. Die Geschichte wird strukturiert, konkretisiert, gedeutet und verstanden mittels bib31 Vgl. Werner Goez: Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 1958; Hermann Weisert: Der Reichstitel bis 1806. ArchDipl 40 (1994) S. 441–513; Rainer A. Müller: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Anspruch und Bedeutung des Reichstitels in der frühen Neuzeit. Regensburg 1990. 32 Vgl. Arno Seifert: Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen deutschen Protestantismus. Köln/Wien 1990; Peer Schmidt: Zwischen Danielsprophetie, Romidee und ‚servitut‛. Deutsche und spanische Antworten auf die universalmonarchische Legitimation Karls V. In: Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst. Hgg. von Volker Leppin u. a. Heidelberg 2006, S. 31–54; Notker Hammerstein: Das Römische am Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation in der Lehre der Reichs-Publicisten. In: Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. Hgg. von Ulrich Muhlack und Gerrit Walther. Berlin 2000, S. 139–159. 33 Jörn Frey: Das apokalyptische Millennium. Zu Herkunft, Sinn und Wirkung der Millenniumsvorstellung in Offenbarung 20,4–6. In: Millennium. Deutungen zum christlichen Mythos der Jahrtausendwende. Gütersloh 1999, S. 10–72, hier S. 49. Wichtig scheint mir der Hinweis darauf, dass es Frey darum geht, die Unangemessenheit dieser linearen Lesart der Johannes-Offenbarung herauszustellen und für eine Exegese zu plädieren, die im hier verhandelten Sinne gerade nicht heilsgeschichtlich wäre. 34 Ich folge hier der klassischen Position: Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 3. Aufl. 1995, S. 17–37; hilfreich auch: Gunter Scholtz: Die Weltbilder und die Zukunft. Prophetie – Utopie – Prognose. In: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften. Hg. von Gunter Scholtz. Frankfurt a. M. 1991, S. 332–357. 35 Otto Brunner: Abendländisches Geschichtsdenken. In: Ders.: Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte. Göttingen 2., vermehrte Aufl. 1968, S. 26–44, hier S. 26.



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lischer „transhistorischer Interpretamente“36 oder mittels außerbiblischer, aber religiös verstandener Deutungsmuster (zum Beispiel „Zeichen der Zeit“, Mt 16). In diesem Sinne äußern sich auch zum Beispiel einige lutherische Theologen zum Zweck der Geschichte und der Geschichtsschreibung. Luther selbst sieht in der Historiografie nichts anders denn anzeigung, gedechtnis und merckmal Göttlicher werck vnd vrteil37. Die Historien seien nützlich, um der welt lauff zu erkennen und zu regiren, Ja auch Gottis wunder und werck zu sehen38. Ein späterer Autor behauptet: Drumb was die Offenbarung lehrt/ Wird mit der History bewerdt/ Es fehlet auch nicht vmb ein wort/ Stimmet zusammen hie vnd dort39 und schreibt anderswo: Die wissenschaft der historien zwar ist nicht genugsam zum seligmachenden Glauben/ dennoch mus erkantnus der Historien vnd wissenschaft der Geschicht vorher gehen.40 Insofern ist es eine gängige Annahme, daß die Historie/ nechst der Bibel vnd Gottes Wort/ das beste Buch auff Erden sey.41 Das Verhältnis von Bibel und Geschichte – die eng aufeinander bezogen bleiben – kann aber auch strategisch differenziert werden: So spricht Luther etwa davon, er selbst kämpfe auf einer apriorischen Basis gegen das Papsttum (nämlich als Bibelexeget), während andere Autoren diesen Kampf a posteriori, nämlich durch den historischen Nachweis der antichristlichen Tyrannei, unterstützen sollten.42 Weiterhin gehört zu den Charakteristika einer heilsgeschichtlichen Deutung der Geschichte – wie bereits im Eingangszitat Luthers gesehen – die Möglichkeit einer identitätsversichernden Selbstplatzierung in der Geschichte. Damit kann ein Einzelner oder eine Gruppe sich selbst eine Art heilsgeschichtliche Dignität einräumen – oder diese Zuschreibung eben verweigern, wie deutlich wird, wenn katholische Autoren in Luther keineswegs den Antichristen erkennen wollen, sondern nur einen seiner vielen Vorläufer.43 Mit Arno Seifert kann man formulieren: „Die Protestanten lebten heilsgeschichtlich später als ihre katholischen Zeitgenossen“44. 36 Reinhart Koselleck: Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 3. Aufl. 1995, S. 130–143, hier S. 139. 37 WA 50,384. 38 WA 15,52. 39 Georg Nigrinus: Papistische Inquisition vnd gülden flüs der Römischen Kirchen. Das ist: Historia und ankunft der Römischen Kirchen/ vnd sonderlich vom Antichristischen wesen/ in Siben Bücher verfaßt/ nach anweisung der geheymen/ vnnd doch außgetruckten zahl inn der Offenbarung Johannis..., o. O. 1582, fol. (::)1v. 40 Georg Nigrinus: Ein wolgegründe Rechnung vnd Zeitregister/ von Anfang der Welt …Auch viel geheimnus der Schrifft/ Sonderlich den Anfang/ Mittel vnd Ende des Antichristschen Reichs/ aus Daniele vnd Offenbarung Johannis…, Ursel 1570, fol. A4v. 41 Abraham Saur: Calendarium Historicum. Frankfurt a. M. 1594, fol. )( ij r. 42 Siehe WA 50,5: Ego sane in principio non ualde gnarus nec peritus historiarum a priori (vt dicitur) invasi papatum, hoc est ex scripturis sanctis, nunc mirifice gaudeo alios idem facere a posteriori, hoc est ex historiis. 43 Vgl. Heribert Smolinsky: Deutungen der Zeit im Streit der Konfessionen. Kontroverstheologie, Apokalyptik und Astrologie im 16. Jahrhundert. Heidelberg 2000, S. 32f. 44 Seifert: Rückzug (wie Anm. 32), S. 8.

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Ein ganz anderes Beispiel für diese Strategie der Schaffung heilsgeschichtlicher Dignität wäre etwa die Selbststilisierung Columbus’ als Botschafter eines neuen Himmels und einer neuen Erde vor der Rückeroberung Jerusalems, als „Christoferens“ also.45 Es wäre interessant zu wissen, ob ein solches self-fashioning von anderen akzeptiert worden ist; im Falle Luthers ist etwa deutlich auszumachen, dass seine Anhänger sehr früh begannen, ihn als dritten, endzeitlichen Elias zu deuten; Luther war für sie vielfach tertium Eliam, Germaniae Prophetam, magnum filii Dei Evangelistam.46 Diese – letztlich figurale oder typologische47 – Einordnung der Gegenwart und gegenwärtiger Personen in einen komplizierten heilsgeschichtlichen Kontinuitätszusammenhang wurde ebenfalls nicht immer stringent durchgehalten; zuweilen vermutet man, es eher mit einer allenfalls rhetorisch gemeinten Pseudo-Typologie zu tun zu haben. So erschien zum 45 Vgl. Pauline Moffitt Watts: Prophecy and Discovery. On the Spiritual Origins of Christopher Columbus’s ‚Enterprise of the Indies‛. The American Historical Review 90 (1985) S. 73–102; siehe auch: Smolinsky: Apokalyptik (wie Anm. 20), S. 26. Die Beispiele Luther und Columbus zeigen, dass bei mindestens zweien der üblicherweise genannten neuzeitkonstitutiven Aktionen heilsgeschichtliche Interpretamente im Spiel sind. Ich weise nicht darauf hin, um die „Legitimität der Neuzeit“ (Blumenberg) in Frage zu stellen – sowohl Luthers Reformation als auch Columbus’ Entdeckung Amerikas haben ja Folgen gezeitigt, die von keiner heilsgeschichtlichen Selbsteinordnung eingeholt werden können. Dennoch schiene es mir interessant, über die Selbstermächtigung des neuzeitlichen Menschen aus dem Geiste der Heilsgeschichte oder auch das Herauswachsen der Neuzeit aus einer heilsgeschichtlichen, gar apokalyptischen Selbstbeschreibung – wenn man das so formulieren möchte – nachzudenken. In diesen Kontext gehörte dann schließlich auch das komplizierte Problem der „Säkularisierung“ heilsgeschichtlicher oder geschichtstheologischer Vorstellungen. Vgl. instruktiv für diesen Kontext: Wolfgang Hübener: Neuzeit und Handlung. In: Philosophische Probleme der Handlungstheorie. Hg. von Hans Poser. Freiburg/München 1982, S. 71–100; Markus Meumann: Zurück in die Endzeit, oder: Ist die Moderne das Tausendjährige Reich Christi? Beobachtungen zum Verhältnis von heilsgeschichtlicher und säkularer Zukunftserwartung in der Neuzeit. ZGWiss 52 (2004) S. 407–425. 46 Michael Neander: Historiola ecclesiae sive populi Dei. In: Michael Neander, Chronica sive Synopsis historiarum.... Lipsiae 1586, fol. 46v. Vgl. als Überblick: Wilhelm Gussmann: Elias, Daniel, Gottesmann. Zur Geschichte des Schlagworts im Reformationszeitalter. In: Quellen und Forschungen zur Geschichte des Augsburgischen Glaubensbekenntnisses. Hg. von Wilhelm Gussmann Band 2. Kassel 1930, S. 233–296. 47 Das Problem der Figuraldeutung/Typologie als Instrument heilsgeschichtlicher Konstruktion scheint mir für das 15. und 16. Jahrhundert noch nicht hinreichend systematisch untersucht. Irritierend ist das komplexe und oft bewusst uneindeutige Changieren typologischer Perspektiven zwischen rhetorisch-literarischen Strategien und genuin geschichtstheologischen Deutungsmustern; dementsprechend ist das Thema zwischen Literatur- und Kunstwissenschaftlern, Theologen und Historikern diskutiert worden, ohne eine klare Definition oder mindestens ein graduell-typisierendes Raster zu erreichen. Vgl. zum Problemkontext und zur Forschungsgeschichte instruktiv: Paul Michel: Übergangsformen zwischen Typologie und anderen Gestalten des Textbezugs. In: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion. Hgg. von Wolfgang Harms und Klaus Speckenbach. Tübingen 1992, S. 43–72. Klassische Forschungspositionen sind: Erich Auerbach: Figura. In: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Hg. von Erich Auerbach. Bern/München 1967, S. 55–92; Friedrich Ohly: Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung. In: Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik. Hg. von Volker Bohn. Frankfurt a. M. 1988, S. 22–63.



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Beispiel im Nachgang des Wormser Reichstags eine Flugschrift, die Luthers Auftritt dort in Sprache und Setting als Passionsgeschichte inszenierte. Luther und seine Anhänger mussten daraufhin dieser vor allem von altgläubigen Gegnern als blasphemisch interpretierten Konstruktion entgegentreten, die letztlich Luther mit Christus identifizierte oder ihn als ‚Postfiguration‘ Christi verstand.48 Was hat dies alles nun mit Geschichtsschreibung zu tun? Dies ist schwerer zu beantworten als die Frage, was es mit Identität zu tun hat. Während die Formulierung von Identitäten und die Formierung gruppenspezifischer Weltbilder in hohem Maße an das Deutungsmuster Heilsgeschichte anschließen kann, zeigt sich bei der Betrachtung der Historiografie des 15. oder 16. Jahrhunderts, dass zwar zumeist in irgendeiner Weise auf Heilsgeschichte rekurriert wird, und zwar gattungsunabhängig in der Universal- wie Kirchengeschichte. So endet zum Beispiel die Schedelsche Weltchronik mit einem Ausblick auf das Jüngste Gericht und einem Gebet – um ein besonders plakatives Beispiel heranzuziehen.49 Aber was solche heilsgeschichtlichen Schemata oder andere Bezüge auf Heilsgeschichte für ein Geschichtswerk jeweils leisten, ob sie mehr sind als Subtexte, in Vorreden geleistete Lippenbekenntnisse oder pragmatisch gehandhabte Konventionen (irgendeine Gliederung muss man ja nehmen), das lässt sich nur im Einzelfall nachvollziehen. Ähnliches gilt offenbar bereits für das Mittelalter, in dem – um einen Titel von Hans-Werner Goetz zu zitieren – in jedem einzelnen Geschichtswerk die Balance zwischen „theologischem Sinn“ und „politischem Gegenwartsinteresse“ auszutarieren war.50 Die heilsgeschichtliche Grundorientierung der mittelalterlichen Geschichtsauffassung schloss nicht aus, dass sie sich in der Praxis sehr stark an politischen oder weltlichen Themen orientierte; neben der Offenbarung des göttlichen Willens sollte sie eine Anleitung zum richtigen Herrschen bieten.51 „Weil die mittelalterlichen Chronisten für den späteren Geschmack so überaus ‚fromm‘, ihr Standpunkt oft klar kirchengebunden war, ist die Tatsache übersehen worden, dass man die Historie kaum benutzte, um das Walten Gottes in der

48 Vgl. Johannes Schilling: Passio Doctoris Martini Lutheri. Bibliographie, Texte und Untersuchungen. Gütersloh 1989, vor allem S. 151–174. 49 Vgl. Hartmann Schedel: Weltchronik. Nachdruck der kolorierten Gesamtausgabe von 1493. Einleitung und Kommentar von Stephan Füssel. Köln u. a. 2001, Augsburg 2004, fol. 262v. 50 Vgl. Hans-Werner Goetz: Theologischer Sinn und politisches Gegenwartsinteresse. Tendenzen, Formen und Funktionen der mittelalterlichen Geschichtsschreibung. In: Geschichte. Ein Grundkurs. Hg. von Hans-Jürgen Goertz. Reinbek 1998, S. 233–244. 51 Vgl. Goetz: Theologischer Sinn (wie Anm. 50). Eine weitere Funktion spätmittelalterlicher Historiografie postuliert Rolf Sprandel: Kurzweil durch Geschichte. Studien zur spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung in Deutschland. In: Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois, Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens. Hgg. von Ernstpeter Ruhe und Rudolf Behrens. München 1985, S. 344–363. Siehe generell auch: František Graus: Funktionen der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung. In: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Hg. von Hans Patze. Sigmaringen 1987, S. 11–55.

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Geschichte zu illustrieren.“52 Keinesfalls kann man also davon sprechen, dass biblische, prophetische, gar apokalyptische Deutungen die mittelalterliche und reformatorische Historiografie in toto dominieren oder deren einziges Interesse wären; auch politische Identitätsangebote ohne starke heilsgeschichtliche Überformung waren also sehr wohl denkmöglich. Formen des Deutungsmusters Heilsgeschichte waren zwar prägend und omnipräsent, aber sie waren immer nur eine, wenn auch eine besonders hervorstechende Möglichkeit, die Geschichte zu deuten, aus ihr zu lernen und mit ihr etwas anzufangen. Doch was folgte aus heilsgeschichtlichen Selbstverortungen? Was sollte daraus folgen? Welche Art von Handeln ließ sich daraus ableiten?

2 Heilsgeschichte und Handlungsdirektiven Biblisch, prophetisch oder apokalyptisch fundierte Geschichtsdeutung impliziert, wie gesehen, die Vorstellung eines geschlossenen Zukunftshorizontes. Die stillschweigenden oder ausdrücklichen Handlungsanweisungen, die aus ihr folgen, sind daran gebunden, dass die Zukunft nicht offen und daher auch nicht im großen Stil gestaltbar ist. Dennoch ist natürlich die Vorstellung von gebotenen Handlungen, Handlungen, die getan werden müssen, ein – neben den Geschichtskonzepten einer Gruppe – besonders wichtiges Element von Gruppenidentitäten. Als ein genereller Unterschied des vormodernen vom modernen Geschichtsdenken lässt sich festhalten: Man kann in der Vormoderne relativ eindeutig aus der Geschichte lernen und danach handeln.53 Die viel zitierte Formel Melanchthons, die diesen Zusammenhang begründet, lautet: Welt bleibt welt, darümb bleiben auch gleiche hendel in der welt, ob schon die personen absterben.54 Prophetisch oder biblisch fundierte Geschichtsdeutung nun zeichnet sich gegenüber anderen Optionen des Lernens aus der Geschichte dadurch aus, dass es ihr nicht nur – gemäß dem Cicero-Diktum, die 52 Graus: Funktionen (wie Anm. 51), S. 24. Auch Klaus Schreiner meint: „Eine Abkehr von der universalen Heilsgeschichte […] lag außerhalb der Denkmöglichkeiten spätmittelalterlicher Chronisten. Dessenungeachtet waren sie bestrebt, die Grenzen zwischen Geschichte und Heilsgeschichte nicht vorschnell zu verwischen. Glaube an den göttlichen Sinn der Geschichte schloß nicht aus, empirisch wahrnehmbare Geschichtsdaten nach strukturellen Gesichtspunkten zu ordnen, sich ihre jeweilige Andersheit bewußt zu machen und chronologisch abgrenzbare Einheiten zusammenzufassen.“ Schreiner: Diversitas temporum (wie Anm. 17), S. 420. 53 Dass man dies in der Moderne nicht mehr so einfach kann, ist eine zentrale Einsicht Kosellecks; siehe Reinhart Koselleck: Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 3. Aufl. 1995, S. 38–66; Hans Ulrich Gumbrecht: Als es mit dem Lernen aus der Geschichte vorbei war. In: Ders.: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Frankfurt a. M. 2001, S. 445–480. 54 Melanchthons Vorrede zur Chronica Carionis von 1532. In: Die Anfänge der reformatorischen Geschichtsschreibung. Melanchthon, Sleidan, Flacius und die Magdeburger Zenturien. Hg. von Heinz Scheible. Gütersloh 1966, S. 14–18, hier S. 15.



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Geschichte sei magistra vitae – um das moralische Lernen aus Exempla gehen konnte, sondern immer um eine Gesamtsicht von Geschichtsabläufen. Wie diese verschiedenen Lernebenen nebeneinandergestellt werden, macht ebenfalls Melanchthon deutlich, wenn er in einer Chronikvorrede drei Funktionen der Geschichte aufzählt: Erstens solle die Geschichte durch Exempla zu der tugent vermanen, von untugend abschrecken, zweitens besitze sie für die dogmatische Auseinandersetzung den Nutzen, das man streitige leer zu richten vil anleitung darauß haben kann, drittens schließlich – und am eindeutigsten heilsgeschichtlich – postuliert Melanchthon: On hilf der chronicken kann man die propheten nit verstehen.55 Die Geschichte ist also prophetisch fundiert – und konsequenterweise kann man deshalb nur mit ihrer Hilfe Bibelexegese betreiben. Auch spätere Autoren äußern sich so: Vnd ist ein Theologus ohne verstandt der Historien vnd zeitrechung/ eben wie eine stadt ohne zeiger oder Schlaguhr.56 Aus der Geschichte also nicht einzelne Exempla zu entnehmen, sondern zu lernen, wie der göttliche Heilsplan die Geschicke der Menschen präformiert und lenkt und daraus auch Handlungsdirektiven abzuleiten, ist charakteristisch für heilsgeschichtliche Deutungen.57 Dies ist im Kontext der Frage nach Identität zentral, weil Identität eben auch auf gemeinsames Handeln abzielt oder doch mindestens abzielen kann. Die konkreteren Handlungsanweisungen, die aus einer heilsgeschichtlichen Selbstpositionierung folgen können, sind allerdings kontingent; das heißt: Aus einer bestimmten heilsgeschichtlichen Ortsbestimmung folgt keine klare Handlungsanweisung. Andere Elemente müssen hinzutreten. Dies lässt sich leicht illustrieren: Luthers zitierter Satz, wir seien die letzte Posaune, ist vor dem Hintergrund einer omnipräsenten apokalyptischen Selbstdeutung der lutherischen Reformation zu verstehen.58 Aus dieser Selbstdeutung folgen aber kaum außergewöhnliche Handlungsmaximen, weil nach dieser Zeit, so der Bapst offenbart, nichts zu hoffen noch zu gewarten ist, denn der welt ende vnd aufferstehung der Todten.59 Die Konsequenzen aus Luthers heilsgeschichtlicher Selbstpositionierung sind also gerade nicht innerweltlich aktivierend, jedenfalls 55 Vgl. Melanchthons Vorrede zu: Caspar Hedio. Eine auserlesene Chronik (1539). In: Anfänge. Hg. von Scheible (wie Anm. 54), S. 19–26, Zitate: S. 19, 21, 23. 56 Leonhard Krentzheim: Chronologia/ Das ist/ Gründtliche und Fleissige Jahrrechung/ Sammpt Verzeichung der fürnemsten Geschichten/ Verenderungen vnd Zufell/ so sich beyde in Kirchen und Welt Regimenten zugetragen haben/ zu jeder zeit/ von anfang der welt/ biß auff vnsere…. Görlitz 1577, fol. + iiij v. 57 Vgl. Markschies: Geschichte/Geschichtsauffassung (wie Anm. 8), Sp. 790. 58 Vgl. als einschlägige Studien: Robin Bruce Barnes: Prophecy and Gnosis. Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation. Stanford 1988; Volker Leppin: Antichrist und jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618. Gütersloh 1999; Thomas Kaufmann: Apokalyptik und politisches Denken im lutherischen Protestantismus in der Mitte des 16. Jahrhunderts. In: Ders.: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts. Tübingen 2006, S. 29–66. Zu Luthers endzeitlichem Selbstverständnis vgl. unter anderem Heiko A. Oberman: Martin Luther. Vorläufer der Reformation. In: Ders.: Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf. Göttingen 1986, S. 162–188. 59 WA DB 11/2,113.

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nicht in einem die Gesellschaft umstürzenden Sinne. Für Luther sind es eher Gott und Teufel als die Menschen, die historisch handeln,60 oder: Gott wirkt durch uns: wir sind seine larven […], vnter wilcher er sich verbirget vnd alles ynn allen wirckt.61 Ganz anders als Luther und die meisten seiner Anhänger positionieren sich radikale Reformatoren. Diese beziehen häufig mehr oder weniger sozialrevolutionäre Positionen; oft wird auch diese Handlungsoption heilsgeschichtlich untermauert. Gerade wenn eine heilsgeschichtliche Selbstpositionierung sich mehr oder minder systematisch an die chiliastische Vorstellung eines endzeitlichen, tausendjährigen innerweltlichen Friedensreiches anlehnt,62 kann sie sehr unmittelbare soziale oder politische Handlungen zur Folge haben. Der theologisch eigentlich relativ eindeutige Begriff des ‚Chiliasmus‘ mit seiner Bezugnahme auf Offb 20 ist in der Forschung – nicht immer aus terminologischer Unschärfe, sondern wegen der Verschwommenheit der historischen Phänomene – oft ganz generell für aktivistische oder sozialrevolutionäre Positionen mit heilsgeschichtlichem Unterbau verwendet worden. Man könnte solche Vorstellungen auch als ‚kryptochiliastisch‛ qualifizieren, wenn sie die Erwartung eines – oder die aktive Mithilfe bei der Herbeiführung eines – innerweltlichen Friedensreiches ausdrücken, aber nicht explizit Bezug auf Offb 20 nehmen, sondern stattdessen in häufig synkretistischer Manier unterschiedliche theologische und populäre Endzeithoffnungen miteinander verbinden.63 Ein wichtiges Element radikaler oder chiliastischer heilsgeschichtlicher Muster ist aber neben der zugespitzt selektiven Lesart der Bibel oft auch die ganz vom biblischen Autoritätsmodell gelöste spiritualistische Hermeneutik. Die in der radikalen Reformation verbreitete Abwertung des ‚Wortes‘, damit auch der Bibel, gegenüber dem ‚Geist‘ führte nicht nur zu einer latenten oder manifesten Bildungsfeindschaft innerhalb der radikalen Reformation, sondern eben auch zu heilsgeschichtlichen Hypertrophien.64 Die Geisthermeneutik, die sich von ihrer als Korrektiv fungierenden biblischen Textgrundlage mehr oder weniger entfernte, eröffnete so fast unbegrenzte Möglichkeiten einer nur noch kontingent mit Bibeltexten verknüpften Heilsgeschichte. Die „Entkopplung oder Distanzierung von sinnlich wahrnehmbarem (d.h. hör- oder lesbarem) Wort und innerseelischem Geistwirken“65 ließ auch Raum

60 Vgl. Bernhard Lohse: Martin Luther. Einführung in sein Leben und Werk. München 1981, S. 214. 61 WA 23,8. 62 Vgl. dazu: Frey: Millennium (wie Anm. 33). 63 Vgl. auch die begrifflichen Überlegungen bei: Matthias Pohlig: Konfessionskulturelle Deutungsmuster internationaler Konflikte um 1600. Kreuzzug, Antichrist, Tausendjähriges Reich. Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002) S. 278–316, vor allem S. 280–282. Zum Synkretismus der heilsgeschichtlichen Bezugnahmen vgl. z. B. Bernard S. Capp: Radical Chiliasm in the English Revolution. Pietismus und Neuzeit 14 (1988): Chiliasmus in Deutschland und England im 17. Jahrhundert, S. 125–133. 64 Vgl. zum Problemzusammenhang: Bernd Hamm: Geistbegabte gegen Geistlose. Typen des pneumatologischen Antiklerikalismus. Zur Vielfalt der Luther-Rezeption in der frühen Reformationsbewegung (vor 1525). In: Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe. Hgg. von Peter A. Dykema und Heiko A. Oberman. Leiden u. a. 1993, S. 379–440. 65 Hamm: Geistbegabte gegen Geistlose (wie Anm. 64), S. 416, Anm. 131a.



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für sozialrevolutionäre Konsequenzen (doch auch diese Verbindung bleibt hochgradig kontingent). Luther sah darin charakteristischerweise nur Selbstüberhebung oder einen „selbstmächtigen und insofern sündigen Enthusiasmus“.66 Ein Beispiel, wiederum außerhalb der Geschichtsschreibung: In seinem berühmten späten Brief an die Allstedter formuliert Thomas Müntzer Ende April 1525: Es ist hoch zeyth […] Das ganze deutsche, franzosisch und welsch land ist wag, der meyster will spiel machen, die bößwichter mussen dran. […] Nuhn dran, dran, es ist zeyt, die boßwichter seint frey vorzagt wie die hund. […] Dran, dran, dyeweyl das feuer hayß ist. Lasset euer schwerth nit kalt werden, lasset nit vorlehmen! Schmidet pinkepanke auf den anbossen Nymroths werfet ihne den throm zu bodem! Es ist nit mugelich, weyl sie leben, das ir der menschlichen forcht soltet lehr werden. Man kan euch von Gotte nit sagen, dieweyl sie uber euch regiren. Dran, dran, weyl ir tag habt, Gott gehet euch vor, volget, volget! Die geschichte stehen beschrieben Matt. 24, Ezech. 34, Danielis 74, Esdre 16, Apoca. 6, welche schriefft alle Ro. 13 ercleret.67

In einigermaßen unklarer Weise wird hier ein historisches Dringlichkeitsbewusstsein mit entsprechenden Handlungsfolgen aus einer Bezugnahme auf biblische Historie hergeleitet, die bis zur Überblendung führt. Die pointierte heilsgeschichtliche Interpretation Müntzers ist wohl nur verständlich, wenn man neben seiner Autoritätsberufung auf die Bibel immer auch im Auge behält, wie stark Müntzer für sich selber eine Art spiritualistisches, also vom Heiligen Geist gespeistes Prophetenbewusstsein reklamierte.68 Was das genau für ein heilsgeschichtliches Bewusstsein bei Müntzer ist, tut für das hier interessierende Problem aber weniger zur Sache als die Beobachtung, dass Geschichte überhaupt direkt oder vermittelt zu Handlungen führen kann. So ist im Falle etwa Müntzers oder auch der Münsteraner Täufer vielleicht eine besonders extreme Art von Aktionismus zu erkennen,69 der sich aus einer spezifischen Art der Schriftauslegung und einem daraus folgenden heilsgeschichtlichen Selbstverständnis erklären lässt.70 Auch im konfessionellen Zeitalter, also mindestens bis ins 17. Jahrhundert, konnten sich gesellschaftsverändernder Aktivismus, Gewalt oder Krieg 66 Thomas Kaufmann: Nahe Fremde. Aspekte der Wahrnehmung der „Schwärmer“ im frühneuzeitlichen Luthertum. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hgg. von Kaspar von Greyerz u. a. Gütersloh 2003, S. 179–241, hier S. 184. 67 Müntzers Aufruf an die Allstedter, Mühlhausen, 26. oder 27. April 1525. In: Müntzer, Thomas: Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Günther Franz. Gütersloh 1968, 454–456. 68 Vgl. Gritsch: Thomas Müntzer (wie Anm. 25), S. 60f. 69 Vgl. Ralf Klötzer: Hoffnungen auf eine andere Wirklichkeit. Die Erwartungshorizonte in der Täuferstadt Münster 1534/35. In: Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für HansJürgen Goertz. Hgg. von Norbert Fischer und Marion Kobelt-Groch. Leiden u. a. 1997, S. 153–169; Karl-Heinz Kirchhoff: Berechnungen zur Endzeit im Münsterischen Täufertum 1533–1540. Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 95 (2000) S. 29–36. 70 Vgl. dazu jüngst: Hubertus Lutterbach: Radikale Reformation in Münster. Das Ringen um die Erwachsenentaufe als Quelle der Gewalt? In: Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der

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mit mehr oder minder engem Bezug auf heilsgeschichtliche Interpretamente legitimieren.71 Damit komme ich zu meinem dritten Punkt: Reform und Endzeit.

3 Reform und Endzeit Die beiden wichtigsten und zudem miteinander verknüpften heilsgeschichtlich inspirierten Einzelvorstellungen der Zeit um 1500 sind die Themen Reform und Endzeit.72 In der Forschung ist sogar zutreffend davon gesprochen worden, dass ohne das Florieren vielfältiger, teils profaner, teils aber auch prophetischer renovatio- und reformatioDiskurse im 15. Jahrhundert der rasche Erfolg der Reformation kaum vorstellbar ist.73 Der uneindeutige, in der Regel auf einen als ideal vorgestellten Urzustand zurückverweisende Begriff der Reform nahm dabei eine große Zahl unterschiedlicher Inhalte auf, von Kirchen- und Reichsreformplänen unterschiedlicher Ernsthaftigkeit und Verwirklichungsmöglichkeit bis hin zur Reformation der ganzen Welt. Die Reformdiskurse des 15. Jahrhunderts – etwa die «Reformatio Sigismundi» oder der sogenannte «Oberrheinische Revolutionär» – besitzen klare apokalyptische Obertöne: Der Antichrist ist eine Zentralgestalt dieser Diskurse, dem dann – sozusagen kryptoheilsgeschichtlich, weil nur apokryph inspiriert – Friedenskaiser und Engelspäpste gegenübergestellt wurden.74 Generell war das Spätmittelalter in hohem Maße von auch politisch instrumentalisierbaren heilsgeschichtlich-prophetischen Vorstellungen durchzogen.75 Diese Kriegserfahrung des Westens. Hg. von Andreas Holzem. Paderborn u. a. 2009, S. 439–456, vor allem S. 451. 71 Vgl. Pohlig: Konfessionskulturelle Deutungsmuster (wie Anm. 63). Zu Religion und Gewalt in der Frühen Neuzeit siehe: Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500–1800). Hgg. von Kaspar von Greyerz und Kim Siebenhüner. Göttingen 2006; Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens. Hg. von Andreas Holzem. Paderborn u. a. 2009. 72 Bereits im Titel ablesbar ist dies bei: Micheal Milway: Apocalyptic Reform and Forerunners of the End. Berthold Pürstinger, Bishop of Chiemsee († 1543). In: Zeitsprünge. Forschungen zu Frühen Neuzeit 3 (1999) S. 316–327. 73 Gerald Strauss: Ideas of Reformatio and Renovatio from the Middle Ages to the Reformation. In: Handbook of European History 1400–1600. Late Middle Ages, Renaissance and Reformation. Hgg. von Thomas A. Brady, Jr. u. a. Band 1. Leiden u. a. 1994, S. 1–30, hier S. 18; Tom Scott: The Reformation between Deconstruction and Reconstruction: Reflections on Recent Writings on the German Reformation. German History 26 (2008) S. 406–422, hier S. 417–419. 74 Vgl. z. B. Strauss: Ideas of Reformatio (wie Anm. 73); Klaus H. Lauterbach: Der „Oberrheinische Revolutionär“ – der Theoretiker aufständischer Bauern? In: Bundschuh. Untergrombach 1502, das unruhige Reich und die Revolutionierbarkeit Europas. Hgg. von Peter Blickle und Thomas Adam. Stuttgart 2004, S. 140–179; Tilman Struve: Utopie und gesellschaftliche Wirklichkeit. Zur Bedeutung des Friedenskaisers im späten Mittelalter. HZ 225 (1977) S. 65–95; Bernard McGinn: Angel Pope and Papal Antichrist. Church History (1978) S. 155–173. 75 Vgl. z. B. Norman Housley: The Eschatological Imperative. Messianism and Holy War in Europe. 1260-1556. In: Ders.: Crusading and Warfare in Medieval and Renaissance Europe. (III). Aldershot u.



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reagierten komplementär auf die breit geteilten Empfindungen von Krise, Niedergang, Altern der Welt und Nähe des Weltendes; der Vorstellung eines unvermeidlichen Niedergangs und Endes traten verschiedene, oft heilsgeschichtlich argumentierende Verbesserungsprogramme entgegen. Das Gegenbild zur korrupten Kirche der Gegenwart war dabei etwa – schon zu Luthers Zeit ein Topos – die ecclesia primitiva, deren zeitliche Nähe zu Christus die relative Unverfälschtheit ihrer Lehre garantierte.76 Die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Begriffsgeschichte des Reformationsbegriffs lässt es jedenfalls kaum zu, ‚Reformation‘ als auf Zukunft orientierten Verbesserungsbegriff zu deuten; die Komponente der Rückkehr zu einem Urzustand schwingt, wie vermittelt auch immer, zwangsläufig in diesem Begriff mit.77 Dies ändert sich allerdings an dem Punkt, an dem die ‚Reform‘ eben nicht auf eine offene, sondern auf eine prophetisch festgelegte, endzeitliche Zukunft zielt: Die häufige apokalyptische Grundierung der Reformdiskurse rückt die beiden Themen Reform und Endzeit nahe aneinander. Die Reformation selber bildete dann allerdings zwei Begriffe von Reformation aus: einen prophetischen, der Gott als Reformator der Welt ansieht, und einen den menschlichen Möglichkeiten entsprechenden, pragmatisch-umgrenzten, der sich aber erst langfristig durchsetzte.78 Die Reformation war also in ihrem Selbstverständnis von vornherein an eine prophetisch-heilsgeschichtliche Selbstplatzierung gebunden. Wie mittelalterliche Autoren deuteten auch die Reformatoren ihre Gegenwart gern heilsgeschichtlich oder apokalyptisch. Dieser Befund darf aber nicht zu dem Schluss verführen, dass eine als beängstigend dynamisch erfahrene Transformations- und Krisenzeit wie das frühe 16. Jahrhundert ausschließlich endzeitlich gedeutet – sozusagen heilsgeschichtlich domestiziert – werden konnte; es sind durchaus auch Deutungsmuster für die gesellschaftlichen Krisenphänomene um 1500 nachweisbar, die ohne endzeitliche, ja sogar ohne heilsgeschichtliche Einbettung auskommen.79 Auch sollte die zeitliche wie sachliche Koinzidenz gesellschaftlicher Umbrüche und a. 2001, S. 123–150; Heinz-Dieter Heimann: Antichristvorstellungen im Wandel der mittelalterlichen Gesellschaft. Zum Umgang mit einer Angst- und Hoffnungssignatur zwischen theologischer Formalisierung und beginnender politischer Propaganda. Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47 (1995) S. 99–113; Smolinsky: Apokalyptik (wie Anm. 20); Alexander Patschovsky: Alexander, Chiliasmus und Reformation im ausgehenden Mittelalter. In: Ideologie und Herrschaft im Mittelalter. Hg. von Max Kerner. Darmstadt 1982, S. 475–496. 76 WA 50,12: Man soll keine leer annehmen, die nicht zeugnis hat von der alten reinen Kirchen, die weil leichtlich zu verstehen, das die alte Kirch hat alle Artikel des glaubens haben müssen. Nemlich alles, so zur seligkeit nötig ist. 77 Vgl. Strauss: Ideas of Reformatio (wie Anm. 73); Eike Wolgast: Reform, Reformation. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hgg. von Otto Brunner u. a. Band 5. Stuttgart 1990, Sp. 313–360. 78 Vgl. Strauss: Ideas of Reformatio (wie Anm. 73), S. 20–22; Oberman: Martin Luther (wie Anm. 58). 79 Vgl. Rainer Postel: Geschwinde Zeiten. Zum Krisenproblem im 16. Jahrhundert. In: Krisenbewußtsein und Krisenbewältigung in der frühen Neuzeit. Festschrift für Hans-Christoph Rublack. Hgg. von Monika Hagenmaier und Sabine Holtz. Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 61–72. Siehe generell zu sich wandelnden Deutungsweisen gesellschaftlichen Wandels in der Frühen Neuzeit: Matthias Poh-

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heilsgeschichtlich-apokalyptischer Deutungen nicht dazu führen, heilsgeschichtliche Semantiken nur und ausschließlich als Krisenbewältigungsstrategien zu lesen. Apokalyptik war natürlich auch eine heilsgeschichtliche Deutungsstrategie in sozialen, religiösen und politischen Krisen; sie konnte diese Krisen verstärken oder eskalieren lassen – und sie vielleicht zuallererst auch heraufbeschwören.80 Eine reduktive Sicht übersähe aber die relative Autonomie heilsgeschichtlicher Diskurse (und von Deutungen insgesamt) und, mindestens für die lutherische Seite, die irreduzible Identitätsfunktion heilsgeschichtlicher Selbsteinordnungen.81 Die heilsgeschichtliche Identitätsstiftung der Reformation und damit auch die Herstellung der heilsgeschichtlichen Dignität der Reformation wurde zum Beispiel in der lutherischen Geschichtsschreibung der 1550er und 1560er Jahre – bei Melanchthon, Flacius und in den «Magdeburger Zenturien» – geleistet. Luther und der Reformation wurde hier eine heilsgeschichtliche Unumgänglichkeit oder Zwangsläufigkeit zugesprochen. Diese Unumgänglichkeit wurde vor allem durch die Vorstellung einer endzeitlichen Lehrreinigung der antichristlich gewordenen Kirche hergestellt. Dass der Antichrist der Papst sei – und zwar die Institution des Papsttums, nicht individuelle Päpste –, und dass der Antichrist also innerhalb der Kirche aufgetreten sei, wurde stereotyp aus 2 Thess 2 hergeleitet: eine der beliebtesten Bibelstellen lutherischer Geschichtsschreiber.82 Daneben trat in der im Luthertum häufig vertretenen Theorie des doppelten Antichrist das als politisch-militärische Bedrohung wie als göttliche Strafe gedeutete Osmanische Reich. Luther machte allerdings zwischen den beiden Personifikationen des Antichrist eine hierarchische Abstufung, wenn er bemerkte, papa est spiritus Antichristi, et Turca est caro Antichristi.83 Die religiöse und heilsgeschichtliche Aneignung lig: Wandel und seine Repräsentation. In: Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft? Hg. von Jörg Baberowski. Frankfurt a. M./New York 2009, S. 37–61. 80 Dies gilt jedenfalls dann, wenn man Krisen mindestens auch als Phänomen individueller oder kollektiver Wahrnehmung fasst. Ich folge damit Winfried Eberhard: Die Krise des Spätmittelalters. Versuch einer Zusammenfassung. In: Europa 1400. Die Krise des Spätmittelalters. Hgg. von Ferdinand Seibt und Winfried Eberhard. Stuttgart 1984, S. 303–319, hier S. 319: „Nicht der Strukturwandel, aber die Krise findet also letzten Endes in den Köpfen und Herzen der Menschen statt.“ Für eine ganz objektivistisch gedachte Krisendefinition, die ich nicht übernehmen kann, vgl. Rudolf Vierhaus: Zum Problem historischer Krisen. In: Historische Prozesse. Hgg. von Karl-Georg Faber und Christian Meier. München 1978 (Beiträge zur Historik. Band 2), S. 313–329, vor allem S. 322. Siehe zu heilsgeschichtlichen, aber auch anderen Deutungsmustern der „Krise“ um 1600: Bernd Roeck: Die Krise des späten 16. Jahrhunderts. Überlegungen zu ihren kulturellen Auswirkungen und zu Formen ihrer Bewältigung. In: Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600. Hg. von Heinz Schilling. München 2007, S. 3–21. 81 Für eine reduktionistische Sicht steht etwa: Hartmut Lehmann: Endzeiterwartungen im Luthertum im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. In: Lutherische Konfessionalisierung. Hg. von HansChristoph Rublack. Gütersloh 1992, S. 545–554. Zur Kritik daran: Volker Leppin: Stabilisierende Prophetie. Endzeitverkündigung im Dienste der Konfessionalisierung. Jahrbuch für Biblische Theologie 14 (1999) S. 197–212. 82 Vgl. Pohlig: Gelehrsamkeit (wie Anm. 3), S. 213. 83 WA Tr. 1,135.



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des Türkengefahr-Diskurses spielte gerade für das Selbstverständnis der Reformatoren, aber auch für Altgläubige, eine wichtige und auch reichspolitisch zentrale Rolle.84 Während laut Ulrich Muhlack die humanistische Historiografie eher eine Konzentration auf die Gegenwart und eine halbwegs offene und damit gestaltbare Zukunft einnahm, ohne sich frontal gegen heilsgeschichtliche Deutungen zu stellen,85 führte die Reformation mit ihrer Kopplung von Reform- und Endzeitdiskursen also ein aus dem spätmittelalterlichen Traditionsbestand bekanntes Modell weiter. Die Eigenheiten der reformatorischen Heilsgeschichte sind damit natürlich nicht hinreichend beschrieben, und es scheint mir zum Beispiel plausibel zu sein, von einer gegenüber dem späten Mittelalter noch einmal quantitativ wie qualitativ verbreiterten apokalyptischen Selbsteinschätzung auszugehen, also einer Dramatisierung von Endzeitvorstellungen, die das 16. Jahrhundert charakteristisch prägten.86 Der Zusammenhang

84 Vgl. aus der Vielzahl der Publikationen: Thomas Kaufmann: „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation. Göttingen 2008; Almut Höfert: Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600. Frankfurt a. M./New York 2003; sowie die wichtigen Sammelbände: Europa und die Türken in der Renaissance. Hgg. von Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann. Tübingen 2000; Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Hgg. von Marlene Kurz u. a. Wien/ München 2005. 85 Vgl. Ulrich Muhlack: Zukunftsvorstellungen bei humanistischen Geschichtsschreibern des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Zukunftsvoraussagen in der Renaissance. Hgg. von Klaus Bergdolt und Walther Ludwig. Wiesbaden 2005, S. 64–88. Zur humanistischen Historiografie siehe auch pointierend: Ulrich Muhlack: Die humanistische Historiografie. Umfang, Bedeutung, Probleme. In: Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus. Hgg. von Franz Brendle u. a. Stuttgart 2001, S. 3–18. Für den Begriff des Humanismus scheint mir daneben aus der Literaturfülle empfehlenswert: Gerrit Walther: Humanismus. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger Band 5. Darmstadt 2007, Sp. 665–692; Einleitung und Resümee der Herausgeber in: Humanisten am Oberrhein. Neue Gelehrte im Dienst alter Herren. Hgg. von Sven Lembke und Markus Müller. Leinfeld-Echterdingen 2004, S. 1–8 und S. 303–313; Harald Müller: Specimen eruditionis. Zum Habitus der Renaissance-Humanisten und seiner sozialen Bedeutung. In: Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. Hg. von Frank Rexroth. Ostfildern 2010. S. 117–151. Siehe schließlich meinen Versuch, das Profil des Humanismusbegriffs im Hinblick auf eine für diesen Kontext ambivalente Figur zu schärfen: Matthias Pohlig: War Flacius Humanist? In: Catalogus und Centurien. Interdisziplinäre Studien zu Matthias Flacius und den Magdeburger Centurien. Hgg. von Arno Mentzel-Reuters und Martina Hartmann. Tübingen 2008, S. 19–52. 86 Vgl. Kaufmann: Apokalyptik (wie Anm. 58), vor allem S. 33. Mit Barnes und Leppin scheint mir, dass die apokalyptische Zeitdiagnose konstitutiver Bestandteil mindestens der lutherischen Konfessionsidentität des gesamten konfessionellen Zeitalters gewesen ist; siehe Barnes: Prophecy (wie Anm. 58); Leppin: Antichrist (wie Anm. 58). Dies schließt nicht aus, dass es selbst im lutherischen Bereich nach der Hochphase der frühen Reformation zu gegenläufigen, unapokalyptischen Zeitbestimmungen kommen kann. Vgl. dazu aus historiografiegeschichtlicher Sicht: Markus Völkel: Theologische Heilsanstalt und Erfahrungswissen. David Chyträus’ Auslegung der Universalhistorie zwischen Prophetie und Modernisierung. In: David Chyträus (1530–1600). Norddeutscher Humanismus in Europa. Beiträge zum Wirken des Kraichgauer Gelehrten. Hgg. von Karl Heinz Glaser und Steffen Stuth. Ubstadt-Weiher 2000, S. 121–141.

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von prophetisch-heilsgeschichtlicher Deutung und apokalyptischer Naherwartung scheint im Reformationszeitalter besonders stark ausgeprägt gewesen zu sein. Ein weiterer Faktor der Intensivierung heilsgeschichtlicher Bezüge in der Reformationszeit, gerade auch in der dramatisierenden Zuspitzung auf apokalyptische Themen, war wohl die Möglichkeit, mittels des Buchdruckes und der verknappten Form des Flugblattes heilsgeschichtliche Deutungen auch außerhalb des gelehrten Diskurses, sozusagen „for the sake of simple folk“, in einfacher und preiswerter Form zu verbreiten.87 Der Buchdruck, so mein Eindruck, veränderte also die Charakteristika heilsgeschichtlicher Deutungen um 1500 nicht grundlegend, wirkte aber schon quantitativ ungeheuer intensivierend und war vor allem in den einfacheren Präsentationsformen eher dramatisierungsaffin. Klaus Schreiner trifft also hinsichtlich der relativen Verengung der protestantischen Geschichtsschreibung auf Heilsgeschichte etwas Richtiges, wenn er von einer Entpluralisierung von Geschichtskonzeptionen gegenüber dem Spätmittelalter ausgeht.88 Diese Entpluralisierung, die man auch als eine normative Zentrierung des historischen Bewusstseins auf Heilsgeschichte und Endzeit beschreiben könnte,89 sollte jedoch nicht übertrieben werden. Denn ein Blick auf verschiedene historiografische Werke unterschiedlicher Gattungen der frühen und auch der späteren Reformationsepoche zeigt, dass auch hier, wie im Mittelalter, die heilsgeschichtliche Grundierung stärker im Vordergrund oder auch im Hintergrund stehen konnte.90 Nicht einmal in der Epoche der Konfessionalisierung ging also konfessionelle Historiografie in Identitätsstiftung auf. Und nicht einmal im Zeitalter der Reformation war die heilsgeschichtliche Deutung von Vergangenheit und Gegenwart das einzige und alles beherrschende Modell. Zumal in der Historiografie, die ja, wie mehrfach betont, nur eine Ausdrucksform heilsgeschichtlichen Denkens ist, verhinderte die Eigenlogik von historiografischen Gattungen und Schreibanlässen immer wieder eine totalisierende Instrumentalisierung der Geschichtsschreibung für konfessionelle Zwecke und für heilsgeschichtliche Identitätsstiftung.

87 Vgl. statt vieler Belege: Robert W. Scribner: For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation. Oxford 1994. 88 „Gegenüber der Geschichtsauffassung spätmittelalterlicher Konziliaristen, welche ‚Zeitverschiedenheit‘ zu einem Element ihres Geschichtsdenkens und ihrer kirchenpolitischen Handlungstheorie gemacht hatten, bedeutete das Geschichtsbild der Reformatoren einen Verlust an Rationalität.“ Schreiner: Diversitas temporum (wie Anm. 17), S. 425. 89 Vgl. zum Begriff: Bernd Hamm: Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft. Jahrbuch für Biblische Theologie 7 (1992) S. 241–279. 90 Hierzu und zum Folgenden: Pohlig: Gelehrsamkeit (wie Anm. 3), passim.



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4 Heilsgeschichte: Vier Idealtypen Das Deutungsmuster Heilsgeschichte bildete nur eines, wenn auch ein sehr wirkmächtiges Modell des Zusammenhangs von Identitätsstiftung und Geschichtsdeutung um 1500. Die Reformation verstärkte einen bestehenden Trend und beschnitt mittelfristig die Entfaltungspotenziale anderer Optionen. Die Verbindungen zwischen einer heilsgeschichtlichen Deutung, mehr oder minder aktivistischen Handlungsanweisungen und der Formierung von Gruppenidentitäten religiöser Art scheinen mir offenkundig zu sein. Viel weniger klar ist, welche Rolle die Geschichtsschreibung im strengen Sinn in diesem Zusammenhang innehat. Denn Heilsgeschichte ist als oft fragmentierte, subtextartige, assoziative Deutung der Geschichte so omnipräsent, dass ihr Bezug zur zeitgenössischen Geschichtsschreibung – zumal zu ihrer avanciertesten Form, der humanistischen Historiografie – oft eher problematisch erscheint. Um angesichts dieser verwickelten Konstellation nicht ad infinitum darüber zu streiten, wann und in welcher Weise der Begriff der Heilsgeschichte benutzt wird, beziehungsweise um sich nicht bei jeder Verwendung fragen zu müssen, welche der vielfältigen Konnotation mutmaßlich aufgerufen werden oder werden sollen, soll im Folgenden eine Typologie verschiedener Weisen der Bezugnahme auf Heilsgeschichte skizziert werden. Diese wird vermutlich das Problem der unklaren Terminologie nicht lösen können; dezisionistische Definitionsversuche bleiben ja immer bestreitbar, können aber nichtsdestoweniger von Nutzen sein. Die Vermutung, dass oft nichttheorie- oder -theologieförmige, unsystematische Bezüge auf Heilsgeschichte vorliegen, schließt nicht aus, dass es nützlich sein könnte, Typen zu bilden – wenn dabei bewusst bleibt, dass es sich um die systematische Rekonstruktion (des heutigen Historikers) expliziter, häufig aber auch impliziter Programme (der historischen Akteure) handelt.91 Die folgenden Typen des Bezugs auf Heilsgeschichte sind als Idealtypen gemeint; sie finden sich so in der historischen Wirklichkeit nicht wieder, können aber dazu dienen, die in Quellen aufgefundenen Deutungsmuster besser einordnen und verstehen zu können. Sie sind eine zuspitzende Systematisierung dessen, was in diesem Aufsatz als ‚Formen‘ des Deutungsmusters Heilsgeschichte verstanden worden ist. Idealtypen werden nach der viel zitierten Formulierung Webers gebildet „durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht,

91 Diese methodologische Grundfigur nennt Anthony Giddens „doppelte Hermeneutik“ und Johannes Fried „doppelte Theoriebindung des Historikers“; vgl. Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a. M./New York 3. Aufl. 1997, S. 338; Johannes Fried: Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im frühen Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers. In: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen. Hgg. von Jürgen Miethke und Klaus Schreiner. Sigmaringen 1994, S. 73–104.

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vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich zu jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde.“92 Ich schlage folgende vier, absichtlich sehr einfach gestaltete Idealtypen vor: 1. Heilsgeschichte als ‚Schablone‘:93 Gerade in historiografischen Werken ist Heilsgeschichte oft ein konventionelles Prinzip der Stoffgliederung oder der Interpretation. Sie ist ein Leitfaden zum historiografischen Schreiben und Lesen, ist also eng mit Geschichtsschreibung verknüpft. Die Verbindungen zu Identitätsfunktionen (oder gar Handlungsdirektiven) sind nur im Einzelfall zu klären. In vielen Fällen – etwa in der humanistischen Weltchronistik – scheint die heilsgeschichtliche Gliederung dem Inhalt des Textes weitgehend äußerlich zu bleiben. 2. Heilsgeschichte als ‚Brille‘: Die oft unspezifische Form der heilsgeschichtlichen oder biblischen Anspielung, der überblendenden Auratisierung oder der PseudoTypologie lässt sich mit einer Brille vergleichen, und zwar einer heilsgeschichtlich getönten Brille, die einen die Welt auf eine bestimmte Weise wahrnehmen lässt. Derjenige, der diese Brille aufsetzt, sieht Dinge, Personen und Ereignisse nach biblischem Muster; doch sagt sie ihm weder, wo er sich heilsgeschichtlich befindet, noch was er tun soll. So ist zu Luther bemerkt worden, er habe biblische Gestalten wie seine eigenen Zeitgenossen, die eigenen Zeitgenossen aber auch wie biblische Gestalten wahrgenommen und gedeutet.94 Diese ‚Brille‘ hat viel mit dem Themenkomplex Heilsgeschichte und Identität zu tun, weniger aber mit klaren heilsgeschichtlichen Abläufen, gar theorieförmigen Konzepten oder mit Geschichtsschreibung. 3. Heilsgeschichte als ‚Fahrplan‘: Man kann heilsgeschichtliche Bezüge dazu nutzen, um an ihnen abzulesen, wo man sich selbst historisch befindet und wo es mit einem hingeht, ohne dass man selbst im starken Sinne Handelnder ist. Wieder wäre die eher quietistische Apokalyptik des Luthertums ein gutes Beispiel. Handlungsdirektiven sind in diesem Zusammenhang möglich, aber kontingent. Die Identitätsfunktion dieses Typs ist hoch; seine Verknüpfung mit Historiografie ist möglich, aber nur im Einzelfall abzuklären; sowohl weil dieser Typ auch außerhalb der Historiografie auftritt als auch, vor allem, weil viele historiografische Werke Heilsgeschichte eher als konventionalisierte ‚Schablone‘ (siehe Typus 1) nutzen.

92 Max Weber: Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Ders.: Schriften zur Wissenschaftslehre. Hg. von Michael Sukale. Stuttgart 1991, S. 21–101, hier S. 73. 93 Für diesen Punkt danke ich Carla Meyer (Heidelberg). 94 Vgl. Gerhard May: „Je länger, je ärger“? Das Ziel der Geschichte im Denken Martin Luthers. Zeitwende 60 (1989) S. 208–218, hier S. 209. Die optische Metapher der Brille scheint nahezuliegen; auf sie verweist auch Gadi Algazi, macht aber vor allem auf einen ‚Teleskop-Blick‘ aufmerksam, der eine Aufhebung historischer Distanz bewirke – eine Perspektive, die ja auch hinter den hier vorgestellten Typen steht. Vgl. Gadi Algazi: Ein gelehrter Blick ins lebendige Archiv. Umgangsweisen mit der Vergangenheit im fünfzehnten Jahrhundert. HZ 266 (1998) S. 317–357, hier S. 334.



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4. Heilsgeschichte als ‚Regiebuch‘: Jörg Trelenberg hat diesen Begriff für die direkt in Aktion umgesetzte Bezugnahme der Münsteraner Täufer auf die Bibel geprägt;95 er scheint mir aber auch über den Fall Münster hinaus eine Möglichkeit heilsgeschichtlicher Deutung zu indizieren, die auf eine sehr enge Verknüpfung von (oft spiritualistisch überformten) Geschichtsdeutungen und daraus folgenden historischen Selbstverortungen mit häufig sozial radikalen Handlungsdirektiven abzielt. Dieser Typ unterhält kaum Verbindungen zur Geschichtsschreibung. Die Abfolge dieser Typen könnte auf den ersten Blick wie eine gradualistische Skalierung wirken: wie eine Steigerung etwa der handlungsleitenden Intensität von Heilsgeschichte; wie ein Übergang von eher formalen zu eher inhaltlichen heilsgeschichtlichen Bezügen; wie eine Abfolge, die vom eher gelehrten zum eher populären Diskurs führt. Alle diese Tendenzen treffen mehr oder weniger etwas Richtiges. Insgesamt aber geht die Intuition einer graduellen Steigerung nicht auf, weil nicht klar ist, was überhaupt in welche Richtung intensiviert wird oder werden kann. Dies hat seinen Grund in der Kombination sehr diverser Parameter: Identitätsfunktion, handlungsleitende Funktion, Bezug auf Geschichtsschreibung. In allen vier Typen ist dieses Bündel von Merkmalen in je unterschiedlichen Mischungsverhältnissen aufzufinden. Daher ist der Eindruck einer gewissen Intensivierung des heilsgeschichtlichen Bezugs vor allem im Vergleich des Typs 1 und des Typs 4 nicht falsch; eine klare Richtung ergibt sich daraus jedoch nicht.96 Wie wenig heilsgeschichtliche Selbstplatzierung mit historiografischer Detailliertheit und Konkretisierung einhergehen musste, möge noch einmal ein abschließendes Luther-Zitat illustrieren: Ich aber fur mich lasse mir daran genügen, das der Jüngste tag fur der Thür sein mus, Denn die Zeichen, so Christus verkündiget, vnd die Apostel Petrus vnd Paulus, sind nu fast alle geschehen. Vnd die Bewme schlahen aus, die Schrifft grunet und blühet. Ob wir den Tag nicht so eben wissen koennen, ligt nicht dran, Ein andrer mache es besser, Es ist gewislich alles am Ende.97

95 Vgl. Jörg Trelenberg: Die Bibel als „Regiebuch“ für das Täuferreich in Münster. Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 104 (2008) S. 79–109. Siehe auch Karl-Heinz Kirchhoff: Die Endzeit­­­erwartung der Täufergemeinde zu Münster 1534/35. Gemeindebildung unter dem Eindruck biblischer Verheißungen. Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 78 (1985) S. 19–42. 96 Dazu kommt, dass oft gar nicht entschieden werden kann, mit welchem Typus man es zu tun hat – daran werden dann die Grenzen der heuristischen Typenbildung sichtbar. Wenn etwa ein Geistlicher oder ein Fürst sich als biblische Gestalt darstellen lässt: Was bedeutet das für dessen (heilsgeschichtliches) Selbstverständnis? Wie „ernst“ ist das jeweils gemeint? Vgl. zu den großen Aneignungsspielräumen des „Identifikationsporträts“: Friedrich B. Polleross: Between Typology and Psychology. The Role of the Identification Portrait in Updating Old Testament Representations. Artibus et historiae 24 (1991) S. 75–117. 97 WA DB 11/2,125. Vgl. auch Gottfried Seebass: Antichrist IV. In: TRE. Hgg. von Gerhard Müller u. a. Band 3. Berlin 1978, Sp. 28–43, hier Sp. 30.

Albert Schirrmeister

Gegenwärtige Vergangenheiten. Historiographisches Publizieren im 16. Jahrhundert1 I Alain Bouchart (1478–1530) eröffnet 1514 seine «Grandes croniques de Bretaigne» mit einer gewissermaßen veralteten Differenzierung zwischen chronique und histoire: Die erste handele von vergangenen Dingen, die zweite allein von gegenwärtigen.2 Bouchart überträgt also die von Isidor von Sevilla in seinen «Etymologiae» getroffene Unterscheidung zwischen annales und historia3 auf seine eigene Darstellung, 1 Dieser Beitrag ist Teil der Arbeiten am Projekt A4 „Humanistische Historiographie“ im von der DFG finanzierten SFB 644 „Transformationen der Antike“ an der Humboldt-Universität zu Berlin; für wertvolle Hinweise und Kritik an unterschiedlichen Versionen dieses Aufsatzes danke ich insbesondere Lutz Bergemann, Johannes Helmrath, Ronny Kaiser, Matthias Pohlig und Stefan Schlelein. 2 Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne. Hgg. von Marie-Louise Auger und Gustave Jeanneau. Paris 1986 (Sources d’histoire médiévale. Band 18): Prologue, Band 1, S. 78: se prend de cronon qui est nom grec, qui vault autant à dire comme temps ou livre contenant les faiz et gestes de divers temps, composé par celuy qui a ce faire a este commis [...] Histoire selon son vray entendement est la recollection par escript des faitz presens à l’escripvant. Vgl. dazu Dominique Philippe: L’élaboration d’une méthode historique: la chronique bretonne aux XIVe et XVe siècles. Annales de Bretagne et des pays de l’Ouest 104 (1997) S. 47–58, hier S. 51: „Définition riche d’enseignements, qui éclaire sa méthodologie. Ici chroniques et histoires s’affirment nettement comme des genres différents; aux premières se rattachent les événements passés, aux secondes les faits contemporains. Pour l’auteur, l’historien est donc le témoin du présent, l’observateur de son époque, le chroniqueur apparaissant davantage comme le gardien de mémoire, l’investigateur du passé.“ Die kritische Ausgabe von Auger und Jeanneau verdient ihren Namen in Hinsicht auf die Textgestaltung zu Recht: Sie verzeichnet die unterschiedlichen Lesarten und kleinste Differenzen zwischen verschiedenen Exemplaren der Erstausgabe von 1514 (Alain Bouchart, Le gra[n]des croniques de Bretaigne, Paris: Du pre/La roche, 1514). Sie vernachlässigt hingegen vollständig die medialen Eigenschaften des Druckes, der mit zahlreichen Holzschnitten ausgestattet ist. Nicht berücksichtigt wurden die Exemplare der Herzog-AugustBibliothek Wolfenbüttel, von denen eines auf Pergament gedruckt und handkoloriert ist (Signatur: A: 276.5 Hist. 2°; nicht koloriert, Papier: A: 3 Hist.). Auf diese Exemplare beziehe ich mich im Folgenden neben der kritischen Ausgabe. Zum kolorierten Exemplar mit Abbildungen der wichtigsten Holzschnitte Mary Beth Winn: Alain Bouchart’s Grandes Croniques de Bretaigne and Claude de France. Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 35 (2010) S. 99–109, passim. Dort auch die schlüssige Argumentation, dass dieses Exemplar für Claude de France bestimmt war. 3 Isidori Hispalensis episcopi etymologiarvm sive originvm. Libri XX. Hg. von Wallace Martin Lindsay. Band I. Oxford 2007, S. 41–44; einschlägig besonders die folgende Passage mit Nennung von Autoren: I, S. 44: De generibus historiae. Genus historiae triplex est. Ephemeris namque appelatur unius diei gestio. Hoc apud nos diarium vocatur. Nam quod Latini diurnum, Graeci ephemerida dicunt. Kalendaria appellantur, quae in menses singulos digeruntur. Annales sunt res singulorum annorum.



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die bis zum Tod des Herzogs François II. 1488 reicht. Sie ist allerdings mit Blick auf die Begriffsverwendung in zeitgenössischer französischsprachiger Geschichtsschreibung kaum zu rechtfertigen, sie trifft auch nicht die Bedeutung, die den lateinischen Wörtern historia und chronica zeitgenössisch gegeben wird.4 Gerade deswegen aber sollte dieser Differenzierung der Genres aufgrund ihrer zeitlichen Zuordnung besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Sie eröffnet die Perspektive auf die für diesen Beitrag zentrale Frage, inwieweit historiographische Werke im 16. Jahrhundert ihren Vergangenheitsbezug reflektieren. Diese Frage allerdings muss in mehrere Einzelfragen differenziert werden: Einerseits stehen die unterschiedlichen Bewertungen des in der Geschichtsschreibung hergestellten Verhältnisses zu Vergangenheit zur Diskussion: Wird also eher eine Alterität der dargestellten Vergangenheit konstruiert oder vielmehr eine Kontinuität und Anbindung an die eigene Gegenwart behauptet? Andererseits konzentrieren sich die folgenden Seiten auf die medialen Formen und die intermedialen Beziehungen, in denen die historiographischen Schriften ihren Vergangenheitsbezug präsentieren: Wie wird also durch das Druckbild, die Verbindung von Abbildungen – zumal auf einem Titelblatt – und Text, die Anordnung von Elementen in einer medialen Einheit oder auch die Kombination verschiedener textueller Elemente eine Aussage zu einem zeitlichen Verhältnis erkennbar? Da es an dieser Stelle nicht darum gehen kann, eine Medientheorie auszuarbeiten,5 gehe ich pragmatisch vor und beziehe mich mit meinen Fragen nach der Medialität der Geschichtsschreibung auf die materiellen Formen und Gestaltungselemente, die ich allein aus analytischen Gründen vom Narrativ getrennt betrachte. Diesen Fragen liegt die Annahme einer agency nicht-menschlicher Realitäten zu Grunde: Auch

Quaquae enim digna memoriae domi militiaeque, mari ac terrae per annos in commentariis acta sunt, ab anniversariis gestis annales nominaverunt. Historia autem multorum annorum vel temporum est, cuius diligentia annui commentarii in libris delati sunt. Inter historiam autem et annales hoc interest, quod historia est eorum temporum quae vidimus, annales vero sunt eorum annorum quos aetas nostra non novit. Unde Sallustius ex historia, Livius, Eusebius et Hieronymus ex annalibus et historia constant. Dass Aulus Gellius in den «Noctes Atticae» (5, 18) zwischen historia und annales ähnlich differenziert hat, dürfte in diesem Fall unerheblich sein. 4 In größter Nähe vgl. z. B. Pierre Le Baud: Cronique des roys et princes de Bretaigne armoricane (1505); daneben z. B. Claude Barthelemi Bernard: Histoire de Rhion, chef d’Auvergne, en vulguere françois. Lyon 1559. Zum französischen Sprachgebrauch vgl. auch die entsprechenden Einträge in Alain Rey: Dictionnaire historique de la langue française. Paris 2010: Chronique, chroniqueur (S. 453), Histoire, historien (S. 1028); vgl. allgemein die terminologischen Bemerkungen von Graeme Dunphy: Chronicles (Terminology). In: EMC. Hg. von Graeme Dunphy. Leiden/Boston 2010, S. 274– 282 mit Hinweisen z. B. zum Gebrauch von Froissart; Gianna Pomata und Nancy Siraisi: Introduction. In: Dies. (Hgg.): Historia. Empiricism and Erudition in Early Modern Europe. Cambridge/London 2010, S. 1–38, mit dem Nachweis, dass mit historia eine spezifische Erkenntnis- und Darstellungsweise angesprochen wird, nicht aber eine zeitliche Differenzierung gemeint ist. 5 Vgl. hierzu Matthias Vogel: Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien. Frankfurt a. M. 2001, S. 114–136 mit einer kritischen Durchsicht ‚der seriösen und der einflussreichen‘ Medientheorien.

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Dinge können in kulturellen (Transformations-)Prozessen und im Wechselspiel mit Institutionen und menschlichen Akteuren eine Wirkmächtigkeit erhalten: Die medialen Formen verändern den Zustand eines Gegenstandes oder einer Angelegenheit, sie sind keine neutralen Informationsträger oder Übertragungskanäle.6 Transformation wird hierbei zugleich als theoretisch gefüllter Begriff verwendet, dessen Anwendung dabei hilft, das Verhältnis der Historiographie zu ihrem Gegenstand ebenso genauer zu analysieren wie die Effekte herauszuarbeiten, die Geschichtsschreibung durch ihre Konstruktion einer Vergangenheit in ihrer zeitgenössischen Kultur bewirkt. Diese Verwendung des Transformationsbegriffs legt also größtes Gewicht darauf, dass die Referenzobjekte einer Transformation in den Medien der Aneignung stets neu hervorgebracht werden und sich zugleich im Akt der Aneignung auch der Aufnahmebereich verändert. Das konstruktive Handeln in der Aneignung einer Referenz folgt zeittypischen Regeln und Anstößen, ist also keinesfalls eine bloße Übernahme. In einer solchen Transformation erzeugen die Aufnahmekulturen stets ein Selbstverhältnis mit und verändern somit zugleich die Referenzobjekte als auch ihre eigene kulturelle Identität.7 Bei den Diskussionen dieser Fragen beziehe ich mich auf einen breiten Ausschnitt historiographischer Produktion im 16. Jahrhundert, deren Elemente dennoch durch bestimmte gemeinsame Elemente in Verfahrensweisen und Verwendungsweisen einander vergleichbar sind. Der weite Fokus ist auch deshalb gewählt, weil die gut etablierte Forschung zu Publikationsformen, Druck- und Lesegeschichte Fragen, die die historischen Dimensionen z. B. der Gestaltung von Titelblättern betreffen, vernachlässigt.8 Anhand des Widmungsbriefs von Alain Bouchart und einer Vorrede des in Heidelberg wirkenden Hubert Thomas Leodius möchte ich die sozialen und kulturellen Situationen kennzeichnen, in der diese Geschichtsschreibung nach welchen Vorstellungen und aufgrund welcher Anlässe geschrieben wird – und inwieweit sich diese historiographischen Texte miteinander in Beziehung setzen (II.). Daran anschließend sollen die verschiedenen Ansätze, anhand derer Historiographien ihren Bezug zur Vergangenheit herstellen, nämlich über Personen, die Konstruktion von ethnischer 6 Im Kontext des Transformationskonzepts dazu genauer: Lutz Bergemann, Martin Dönike, Albert Schirrmeister, Georg Toepfer, Marco Walter und Julia Weitbrecht: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. In: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. Hgg. von Hartmut Böhme u. a. München 2011, S. 39–56, hier S. 44. 7 Vgl. ebd. S. 40 die Definition des hier verwendeten Transformationsbegriffs sowie (S. 47–56), konkreter, der offene Katalog an Transformationstypen, in denen einzelne Elemente von Transformationsprozessen fokussiert werden. 8 Vgl. z. B. Jean-François Gilmont u. a. (Hgg.): La page de titre à la Renaissance. Treize études suivies de cinquante-quatre pages de titre commentées et d’un lexique des termes relatifs à la page de titre. Turnhout 2008: Es werden konkrete Titelblätter diskutiert, Fragen zu bestimmten Autoren gestellt. Ausgangspunkt der neueren Publikationsforschung mit Beiträgen zur Manuskript- und Frühdruckkultur, zu Illustrationen zum „espace visuel“: Roger Chartier und Henri-Jean Martin (Hgg): Le livre conquérant. Du Moyen Age au milieu du XVIIe siècle. Paris 1989 (Histoire de l’édition française. Band 1).



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und geographischer Einheit und, darauf aufbauend, identitätsstiftende Aspekte diskutiert werden (III.).

II «De Tungri et Eburonibus», von den Tongern und den Eburonen – so heißt das Werk, anhand dessen Praefatio ich einige Rahmenbedingungen erläutern möchte, es ist von Hubert Thomas Leodius verfasst, der 1495 in Lüttich geboren wurde und 1555/1556 in Heidelberg starb. Er war dort in der Kanzlei des Pfalzgrafen und späteren Kurfürsten Friedrich II. tätig, unternahm für ihn Reisen durch ganz Westeuropa. Für sein gelehrtes Leben markiert der (schmale) Briefwechsel mit Beatus Rhenanus einen Höhepunkt, sein zu Lebzeiten ungedruckt gebliebenes Hauptwerk sind Annalen der Kurpfalz zur Zeit des Pfalzgrafen Friedrich II. (dessen Tod er nicht mehr berichtet), daneben verfasste er eine Bearbeitung des Gedichtes über den Bauernkrieg von Peter Harer sowie lokal-antiquarische Schriften über Heidelberg.9 Das Vorwort ist als Brief aus Heidelberg an den Lütticher Bischof Cornelius van Berghen gefasst, datiert auf den 1. Dezember 1540, gedruckt in Straßburg 1541. Leodius entwirft dort ein Bild, wie er seine historiographische Arbeit angefangen und durchgeführt habe: Er habe, so lassen sich die Ausführungen paraphrasieren, die Schrift über die Tongern und Eburonen in seinen mühsam erkämpften Ruhepausen auf der Grundlage von Caesars Bericht über den gallischen Krieg verfasst. Dieser sei ihm ein Ersatz gewesen für die wegen seiner Reisen unmögliche Autopsie – auf sich genommen habe er die Mühe, um seiner Pflicht gegenüber der patria nachzukommen.10 Bereits in dieser Para9 Neuere Forschungen zu Hubert Thomas Leodius sind rar. Einschlägig nach wie vor die beiden Artikel von Karl Hartfelder: Leodius, Hubertus. In: ADB. Hg. durch die Historische Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften Band 18. Berlin 1883, S. 295–296; Karl Hartfelder: Der Historiker Hubertus Thomas Leodius. Forschungen zur deutschen Geschichte 25 (1885) S. 273–289; sowie als neuere Arbeit: Gilbert Tournoy: Humanistische Historiographie in Heidelberg: Hubertus Thomas Leodius. Heidelberger Jahrbücher 38 (1994) S. 201–214; die Benennung schwankt: in der ADB ist der Artikel unter Leodius eingeordnet, in seinem zweiten Aufsatz spricht Hartfelder meistens umstandslos von Hubertus, manchmal auch von Thomas Hubert; Gilbert Tournoy nennt ihn durchgehend Hubert Thomas. 10 Hubert Thomas Leodius: De Tungris et Eburonibus, aliisque inferioris Germaniae populis ... Commentarius. Straßburg 1541, fol. A iir–[A vi]r: Reverendissimo in christo Patri, eidemque illustrissimo Principi, D. Cornelio a Sevenberg Leodiorum antistiti domino suo clementissimo, Hubertus Thomas Leodius S.P.D., hier fol. A iiiiv–A vv: Nihilominus tandem supra vires animum sumpsi, volens desiderio meo satisfacere, atque incipio relegere historias, digressus ab equis in diversoria, dum coena paratur, equi insternuntur, frenantur, famulus adcingitur, annoto quicquid ad Tungros & Eburones facere deprehendo, conscribo in schedas & nonnullis interdum ostendo, quibus ceptum omnino non discplicuit, praesertim D. Henrico a Dhornis, & D. Arnoldo a Tungris viris altero genere, altero pietate utroque vero insigni doctrina spectabilibus, dictu mirum quam hiis labor noster perplacuit, & quantis precibus insteterint ut pergerem, imo contendere crebribus ut inchoatum opus absolverem, nec tolerarem diutius Tungros

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phrase wird also deutlich, wie und warum Leodius nach eigener Aussage Geschichte schreibt. Das ist erst einmal wenig originell: Ähnlich formuliert – mit Hinweis auf Cicero, «De oficiis», und Macrobius, «In somnium Scipionis» – Alain Bouchart in seinem Widmungsbrief zu den «Grandes croniques de Bretaigne», dass er als gebürtiger Bretone die Verpflichtung habe, den Ruhm der Bretagne zu mehren. Bouchart hebt weiter hervor, dass er seinem Schreiben mit der Suche nach Dokumenten in den Archiven11 besondere Glaubwürdigkeit verschaffen wolle. Leodius wiederum fügt hinzu, er habe seine Aufzeichnungen zur Durchsicht gelehrten Freunden anvertraut – insgesamt beschreibt er also das, was den ergänzenden Übersetzer der französischen Chronik des Robert Gaguin (1433–1501) bewogen hat, diesem das Adjektiv scientifique zuzuerkennen. Dort ist das ursprüngliche «Compendium de origine et gestis Francorum» dann zu «Grandes Chroniques» geworden – womit eine offizielle Geltung der Historiographie in der Nachfolge der mittelalterlichen königlichen «Grandes Chroniques» angedeutet wird, denn als Chronist durfte, wie auch Bouchart hervorhebt, nur derjenige arbeiten, der den herrscherlichen Auftrag dazu erhalten hatte.12 Während bei Bouchart also die patriotische Verpflichtung, den Ruhm der Bretagne zu mehren, durch einen ausdrücklichen Auftrag der Herzogin zusätzlich begründet wird, fehlt dieser Anlass bei Leodius. Er nennt stattdessen eine aufschlussreiche andere Begründung: Wir lasen vor nicht allzu vielen Jahren Historien alter Schriftsteller über Dinge, die entweder von den Deutschen auf fremden Boden oder von Ausländischen in Deutschland getan wurden, gern gewiss, beim Hercules, aber nicht ohne Verdruss, weil wir nicht die Namen der Völker, durch die oder bei denen es sich ereignet haben soll, wiedererkannten und uns heftig wunderten, woher ein so großer Wortzank aller Dinge entstanden ist, dass kein Volk, keine Provinz,

atque Eburones, hoc est patriam in qua natus essem, perpetuo exulare, nec verendum ess mihi Auli illius infamiam, quem Cato ob id ipsum nugatorem appelavit, quod nulla necessitate coactus Romanorum res graecae scripsisset, culpamque deprecaretur, si usquam peccasset homo Romanus in aliena lingua, qui si a scribendo abstinuisset, culpa prorsus vacavisset. Patria hoc peteret, patriae hoc deberem quae me nutriuisset, & ingratitudinis reum proculdubio accusaret, si tantillum operae sibi denegarem. Collegi igitiur animum, & quam videt Celsitudo tua Tungrorum & Eburonum historiam ex diversis authoribus, praesertim ex disertissimis Caij Iulii Caesaris commentariis de bello Gallico, congessi, subinde locorum & nominum mutationes indicans, quae hactenus lectores remoratae sunt. Ganz ähnlich bei Bouchart; vgl. dazu Philippe: L’élaboration (wie Anm. 1), S. 49: „dès nostre naissance, nous sommes ‚naturellement tenuz et obligez, non pas seullement à noz progénitures, mais au pays auquel nous avons prins nostre nativité.‘ Double mission donc, envers ses contemporains et envers sa terre, l’historien place son travail sous le signe de l’engagement.“ 11 Das gilt ebenso für Pierre Le Baud, vgl. zu beiden Philippe: L’élaboration (wie Anm. 1), S. 55. 12 Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne (wie Anm. 1): Prologue, Band 1, S. 77: car il n’est permis à personne composer cronique s’il n’y a esté ordonné et député. Der französische Titel des Compendiums von Robert Gaguin lautet: «Les grandes croniques, excellens faits et virtueux gestes des très illustres, très chrestiens, magnanimes et victorieux roys de France ...». Paris 1514; dort heißt es fol. A iir im Proesine ou Prologue de Pierre Desrey über Robert Gaguin: En son vivant ministre general de lordre da la saincte trinite ... souverain orateur et scientifique historiographe.



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keine Gegend Germaniens den Namen, mit dem es einst benannt wurde, heute bewahrt hat. Schließlich kommt uns als sorgfältigster Durchforscher des Altertums Beatus Rhenanus aus Schlettstadt mit seinen zwei Büchern über die deutsche Geschichte zur Hilfe, und Althamer mit seinen Editionen zum Büchlein des Cornelius Tacitus über die Lage und Sitten Germaniens, ebenso bringt uns Gerhard Noviomagus die Bataver zurück. D. Aegidius Tschudi die Rhaeter, die Bayern Aventin, ein anderer die Flandern, wieder ein anderer die Gothen und Scandinavier. Insgesamt bleibt kaum ein Volk in Deutschland übrig, welches nicht seinen Illustrator gefunden hat. Allein die Tungrer und Eburronen [sic], die ältesten aller Deutschen im Belgischen Gallien, und welche unter diesen zusammengefasst werden, so wie durch dauerhaften Rauch bedeckt, bleiben dunkel und unbekannt.13

Leodius konstatiert hier eine Konkurrenz mit den Regionen und Nationen, die schon historiographische Darstellungen haben, hinter denen die Tongern und Eburonen nicht zurückstehen sollten. Auch hiermit geht Leodius über nichts hinaus, was nicht schon in den zu Anfang des 16. Jahrhunderts gedruckten Texten üblich war – so setzt z. B. Jakob Wimpfeling im Einleitungsbrief seiner «Epithoma rerum Germanicarum» mit einem solchen Befund ein.14 Was Leodius an dieser Stelle aber interessant macht, ist sein Vergleich mit anderen Neuerscheinungen, unter denen er unterschiedlichste Textsorten nennt: als erstes kommt ihm zwar Beatus Rhenanus in den Sinn, doch schreibt er von zwei statt richtig von den 1531 erschienenen «Rerum Germanicarum libri tres».15 Dann fasst er mit dem Wort „Editionen“ die 1529 erschienen «Scholia» und die 1536 erschienenen «Commentaria» des Andreas Althamer (um 1500–1539)

13 Leodius: Tungris (wie Anm. 9), fol. A iii r: Legebamus non adeo ante multos annos, veterum scriptorum historias, de rebus vel a Germanis in alieno solo, vel ab exteris in Germania gestis, libenter quidem me hercule, sed non sine fastidio, cum nec nomina gentium per quas & in quibus contigisse memorabatur, agnosceremus, miraremurque vehementer unde tanta omnium rerum alteratio, ut nulla gens, nulla provincia, nullus Germaniae tractus, nomen quo olim appellabatur, hodie retineret. Tandem addubitantibus succurrit nobis diligentissimus antiquitatis scrutator Beatus rhenanus Slettadiensis de rebus Germanicis libris duobus [!], et Althamerus editis in Cornelii Taciti libellum de situ & moribus Germaniae, Gerhardus item Noviomagus nobis restituit Batavos. D. Aegidius Tschudius Retos, Baioarios Aventinus, Flandros alius, alius Gothos & Scandianos. In summa vix ulla gens restat in Germania quae suum non repererit illustratorem. Soli Tungri & Eburrones [!] Germanorum omnium in Gallia Belgica antiquissimi, & qui sub hiis comprehenduntur, tanquam perpetua tecti caligine, obscuri & ignoti remanent. 14 Jakob Wimpfeling: Briefwechsel. Hgg. von Otto Herding und Dieter Mertens Band 1. München 1990 (Jacobi Wimpfelingi opera selecta. Band 3), S. 464–468, Brief Nr. 164: An Thomas Wolf d. J. 1 Straßburg, 24. IX. 1504: Videns Romanas, Venetas, Anglas Pannonumque et Bohemorum ac Francigenum historias in dies lectum iri excitaveram nuper Sebastianum Murrhonem, ut ex priscis historiographis epithoma saltem rerum a Germanis magnifice gestarum comportaret, ne, cum ceterae nationes egregia maiorum suorum facinora disseminare student, nos veluti somnolenti et parvi animi gloriaeque avitae contemptores perpetuo dormitare videremur. Zur Identifizierung der genannten Nationalgeschichten vgl. dort Fn. 2. 15 Die vorzügliche Edition: Beatus Rhenanus: Rerum Germanicarum libri tres (1531). Ausgabe, Übersetzung, Studien. Hg. von Felix Mundt. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit. Band 127).

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zum antiken Autor Tacitus zusammen,16 namentlich nennt er noch Aegidius Tschudi (1505–1572) mit seiner 1538 erschienenen «Uralt warhafftig alpisch Rhetia»17 und Gerhard Geldenhauer (1482–1542) mit seiner «Historia Batavica»18. Zu diesen Landesbeschreibungen fügt sich passend der durch den Leser zu identifizierende Jacques de Meyere mit seinen Schriften über Flandern,19 einigermaßen überraschend aber kann der zweite ungenannte Autor, der die Goten und Scandinavier zurückbringt, allein Olaus Magnus sein: noch nicht aber mit seiner erst 1555 gedruckten, umfassenden «Historia de gentibus septentrionalibus», sondern mit der 1539 gedruckten «Carta marina».20 Als erstes und wichtigstes Auswahlkriterium wird hier Neuigkeit erkennbar, konfessionell aber ist die Auswahl nicht gebunden. Ganz wichtig scheint, dass alle genannten Texte eine eigene Geschichte thematisieren. Irrelevant ist für Leodius hingegen die jeweilige Textsorte, in der dies geschieht – ob als eigene Darstellung oder als Edition, ob als Text oder als Karte.21 Auch der ethnische und geographische Raum, 16 Andreae Althameri Brenzii Scholia in Corneliu[m] Tacitu[m] Rom. historicu[m], De situ moribus, populisq[ue] Germaniae .... Nürnberg 1529; sowie: Andreae Althameri Commentaria Germaniae In P. Cornelii Taciti Equitis Rom. libellum de situ, moribus et populis Germanorum .... Nürnberg 1536; vgl. Ronny Kaiser: Sola historia negligitur. Historiographisches Erzählen in Andreas Althamers Scholia zur Germania des Tacitus. In: Antikes erzählen. Narrative Transformationen der Antike in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hgg. von Anna Heinze u. a. Berlin/Boston 2012 (Transformationen der Antike. Band 27), S. 91–116. 17 Nicht zu klären ist, ob hier auf den lateinischen oder den deutschen Druck angespielt wird: Aegidii Tschvdi ..., de prisca ac uera Alpina Rhaetia, cum caetero Alpinarum gentium tractu, nobilis ac erudita ex optimis quibusq[ue] ac probatissimis autoribus descriptio. Basel 1538; bzw. Aegidius Tschudi: Die vralt varhafftig Alpisch Rhetia .... Basel 1538. Vgl. hierzu Bernhard Stettler: Aegidius Tschudi. „Vater der Schweizergeschichte“. In: Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus. Hgg. von Franz Brendle u. a. Stuttgart 2001 (Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Band 56), S. 123–134. 18 Der Erstdruck: Gerhard Geldenhauer: Historia Batavica cum appendice de vetustissima nobilitate, regibus ac gestis Germanorum. Straßburg 1530; eine historisch-kritische Ausgabe in: Gerhard Geldenhauer: Historische werken. Hilversum 1998 (Middeleeuwse studies en bronnen. Band 59), S. 50–156. 19 Iacobi Meyeri Baloliani Flandricarum rerum tomi X. Antwerpen 1531, Edition: Rerum Flandricarum Tomi X. Brügge 1843 (Recueil de Chroniques, Chartes et autres Documents concernant l’Histoire et les Antiquités de la Flandre-Occidentale: 1. Série, B, Chroniques générales des Flandres. Band 1); Ders.: Compendium Chronicorum Flandriae. Nürnberg 1538. Unersetzt und fundiert: Victor Fris: Essai d’une Analyse des Commentarii sive Annales Rerum Flandricarum (Annales Flandriae, 1561) de Jacques de Meyere. 1e Partie: Examen des Sources des Annales Flandriae. Gent 1908 (Université de Gand. Recueil de Travaux publiés par la Faculté de Philosophie et Lettres. Fasc. 37); Ders.: Notes sur les Œuvres historiques de Jacques de Meyere. Bulletin de la Commission Royale d’Histoire 84 (1920) S. 245–303. 20 Olaus Magnus: Carta marina et descriptio septentrionalium terrarum ac mirabilium rerum in eis contentarum diligentissime elaborata. Venedig 1539. 21 Vgl. zur Abgrenzung unterschiedlicher Textsorten Albert Schirrmeister: Was sind humanistische Landesbeschreibungen? Korpusfragen und Textsorten. In: Medien und Sprachen humanisti-



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auf den sich die Texte beziehen, ist vielfarbig: zwischen ethnischen Großgruppen wie den Deutschen oder den Schweden oder den partikularen Landesbeschreibungen über Flandern oder die Bataver unterscheidet er nicht. Entscheidend für die Fragestellung dieses Beitrags aber ist ein weiterer Punkt: Leodius verspricht, die Identifikation der alten mit den neuen Orten und Namen zu leisten, wie es auch Beatus Rhenanus als wichtiges Element der Geschichtskenntnis fordert.22 Denn die Namen der Völker werden nicht wiedererkannt, weil kein Volk und keine Gegend – dies ist also zugleich personal und territorial gedacht – sich die ursprünglichen Namen bewahrt hätten. Hubert Thomas Leodius formuliert hier eine Wahrnehmung einer Distanz, die es gilt, durch Geschichtsschreibung aufzuheben – er möchte die Vergangenheit vergegenwärtigen. Zugleich spricht aber aus dem Desiderat, die Orte ihren neuen und alten Namen zuzuordnen die Wahrnehmung einer Identität: Leodius – und eben genauso Rhenanus, Wimpfeling und andere – gehen davon aus, dass es sich um die gleichen Völker, Gegenden, Provinzen handelt, mit deren Namensänderung sich gewissermaßen nur ein accidens verändert hat, nicht aber ihre Essenz. Ein gewichtiger Hinweis hierauf ist der einzige gleich bleibende Name: Germania wird sowohl für das antike Germanien als auch für ein gegenwärtiges ‚Großgermanien‘ verwendet. Wenn ich also von Distanz und Distanzierung spreche, so ist damit keine modern-wissenschaftliche Distanz gemeint, sondern allenfalls eine graduelle Historisierung.

III Wie präsent kann aber eine solche Gegenwärtigkeit von Vergangenheiten in den TextBild-Kombinationen gelehrter Historiographie des 16. Jahrhunderts sein? Die meisten Text-Bild-Kombinationen finden sich auf Titelblättern, deren programmatischer Rang zugleich besonders groß ist, die deshalb im Vordergrund der Betrachtung stehen. Die Angaben des Leodius aufnehmend und fortführend, stelle ich den Fokus recht weit und betrachte lokale (Joachim Vadian, Caspar Peucer), regionale (Bouchart, Meyere, Leodius) und nationale Historiographien (Olaus Magnus, die Erstausgaben des Otto von Freising und des Einhard) aus unterschiedlichen Ländern, in unterschiedlichen Textformen (Editionen, Prosatexte und ein Gedicht) und bewusst mit einem zeitlich weiten Blick vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis 1590 vergleichend. Publikation scher Geschichtsschreibung. Hgg. von Johannes Helmrath u. a. Berlin 2009 (Transformationen der Antike. Band 11), S. 5–46. 22 Beatus Rhenanus spricht im Widmungsbrief an König Ferdinand von der nur mit gutem Urteilsvermögen zu bewältigenden Notwendigkeit, zu wissen, wo und wann die Namen von Völkern und Provinzen entstanden sind: Beatus Rhenanus: Rerum Germanicarum (wie Anm. 14), S. 28, Z. 18–28; vgl. ebd. Felix Mundts Ausführungen zum Umgang mit der mutatio der Namen bei Biondo, Aventin und Rhenanus: S. 473f. und 492f.

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bedeutet für diese Geschichtsschreibung in fast jedem Fall „Druck“, auf die Besonderheiten der Präsentationsformen von Handschriften mache ich allein mit dem Beispiel Joachim Vadians aufmerksam. Drei kategorial nicht gleichrangige Ansatzpunkte für Bezugnahmen auf die zeitlichen Dimensionen in den medialen Formen lassen sich beobachten, die auch die folgenden Ausführungen gliedern: –– Personen: Ob als genealogische Folge, als Reihe oder als Gegenüberstellung zweier Personen (Bouchart, Gaguin, Meyere, Otto von Freising, Einhard). –– Raum (Leodius, Peucer, Vadian). –– Identität: Dies baut auf die beiden erstgenannten Gliederungspunkte auf, fasst die Ergebnisse zusammen und meint räumliche, ethnische, charakterliche Identitätskonstruktionen (und bezieht sich deshalb auf sämtliche Beispiele). Bevor ich auf die bebilderten textlichen Beispiele zu sprechen komme, weise ich zunächst auf das von Leodius genannte Werk hin, mit dem „die Goten und Skandinavier zurückgebracht wurden“, da es sich von den anderen als eine beschriftete Karte unterscheidet – schon das quantitative Verhältnis von Text und Bild ist also umgekehrt. Anhand dieses Beispiels und der spezifischen Bedingungen einer historiographischen Kartographie können wesentliche Regeln für das Zusammenwirken von Text und Bild insgesamt und für das Verständnis von Bildlichkeit in der Vormoderne benannt werden. Die hier nicht vollständig zu interpretierende «Carta marina» wurde 1539 in Venedig gedruckt, begleitet von separat gedruckten italienischen und deutschen Erklärungen, die sich auf ein System von Buchstaben beziehen, die die Karte überziehen: Die Buchstaben von A bis I erschließen jeweils mit weiteren, kleineren Majuskeln die Karte.23 Sie stellt im Zentrum Schweden und Skandinavien dar, im Norden und Westen ist die Darstellung von Island, der Insel Thule und Teilen der Britischen Inseln begrenzt, im Süden ist Norddeutschland, im Osten sind Livland und die Grenzgebiete zu Russland die äußersten dargestellten (und zugleich kommentierten) Bereiche. Leodius kann die Karte neben den Texten als ein historiographisches Beispiel nennen, weil sie wie diese historisch, aber nicht heilsgeschichtlich orientiert ist: Sie bildet einerseits die aus Skandinavien stammenden Völker mit Kronen am Rand ab und zeigt somit Skandinavien als eine Geburtsstätte der Völker und zeigt andererseits Herrschaftsverhältnisse und Lebensweisen sowohl in der Gegenwart als auch 23 Vgl. die Beschreibung bei Maike Sach: Kartographie als Verlustbeschreibung und Appell. Die Carta Marina des Olaus Magnus von 1539 als Beitrag im Ringen um die Einheit der Kirche. In: Aufsicht – Ansicht – Einsicht. Neue Perspektiven auf die Kartographie an der Schwelle zur Frühen Neuzeit. Hgg. von Tanja Michalsky u. a. Berlin 2009 (Frankfurter kulturwissenschaftliche Beiträge. Band 3) S. 193-221 mit weiterer Literatur. Sach geht auf die biographischen und wissenschaftlichen Kontexte ebenso ein wie sie kurz (S. 202f.) auf „die besondere Bedeutung von bildlichen Darstellungen als Medien der Gedächtniskultur“ und ihre Reflexion bei Olaus Magnus hinweist. Faksimiliert ist die gesamte Karte beigegeben zu: Olaus Magnus: Die Wunder des Nordens. Hgg. von Elena Balzamo und Reinhard Kaiser. Frankfurt a. M. 2006 (Die Andere Bibliothek. Band 261).



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in der Vergangenheit. So wird, um ein konkretes Beispiel an der Peripherie der Karte zu nennen, auf den Orkney-Inseln (D-h) eine Krone abgebildet, die auf der Karte mit der Beschriftung Olim Regnum ergänzt wird. In der deutschsprachigen Erläuterung, die mit der Karte 1539 gedruckt und verkauft wurde, heißt es dazu: Die insellen Orcades sein 33 und haben vor alten zeyten aines Künigstitel.24 In der gleichzeitigen italienischen Erläuterung des «Opera breve» heißt es entsprechend: havevano gia per l’amplitudine loro uno Re25 – die Vergangenheit der Königswürde wird also jeweils betont. Die «Carta marina» kann – dies ist bekanntermaßen eine Besonderheit des Mediums – zugleich Gegenwärtiges und Vergangenes abbilden, die Einheit des Raumes in Vergangenheit und Gegenwart wird auf ihr wie auf ähnlichen ‚Geschichtskarten‘ dargestellt. Grundlegend für das Verständnis der Abbildungen in den Texten und das Zusammenwirken von Bildlichkeit und sprachlichen, textlichen Sinneinheiten ist das Zusammenwirken von Mimesis und Symbolik, das auch auf der hier erwähnten Karte beherrschend ist. Umgekehrt aber zu dem Bildverständnis gilt im Fall der Kartographie, dass die mimetische Darstellung nicht als neueres Element symbolische Darstellungsprinzipien ablöst.26 Im Gegenteil spezialisiert sich kartographische Darstellung auf eigene symbolische Darstellungsprinzipien, während mimetische Elemente, die auf der «Carta marina» vor allem naturale Elemente sind,27 zunehmend ausgeblendet (bzw. zunächst an die Ränder versetzt) werden. Entscheidend aber ist, dass für symbolische Darstellungen ganz eigene Prinzipien für eine Wiedergabe von Zeitlichkeit gefunden werden müssen: Einer Krone sieht man eben nicht an, ob sie ein schon lange untergegangenes Königreich bezeichnet oder ein gegenwärtiges, weshalb die textliche Ergänzung olim regnum wichtig wird: Der Kartograph hielt es offenbar für notwendig oder mindestens wünschenswert, die zeitliche Dimension mit abzubilden. Die «Carta marina» des Olaus Magnus ist in dieser Hinsicht tatsächlich eine ‚Geschichtskarte‘, umfassender als viele andere, nahezu 24 Olaus Magnus: Ain kurze Auslegung und Verklerung der neuuen Mappen von den alten Goettenreich und andern Nordlenden .... Venedig 1539, fol. [A iv]v. 25 Olaus Magnus: Opera breve, la quale demonstra, e dechiara, overo da il modo facile de intendere la charta .... Venedig 1539, fol. [A iv]v. 26 Zur Entwicklung des frühneuzeitlichen Bildverständnisses vgl. Birgit Emich: Bildlichkeit und Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Eine interdisziplinäre Spurensuche. Zeitschrift für historische Forschung 35 (2008) S. 31–56; vgl. zu den funktionalen und inhaltlichen Differenzen von kartographischer und malerischer Raumdarstellung in der Frühen Neuzeit die Arbeiten von Tanja Michalsky: Medien der Beschreibung. Zum Verhältnis von Kartographie, Topographie und Landschaftsmalerei in der Frühen Neuzeit. In: Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne. Hgg. von Jürg Glauser und Christian Kiening. Freiburg i. Br. 2007 (Rombach-Wissenschaften. Reihe Litterae. Band 105), S. 319–349; bzw. Tanja Michalsky: Projektion und Imagination. Die niederländische Landschaft der Frühen Neuzeit im Diskurs von Geographie und Malerei. Paderborn 2011. 27 Fische und Meeresungeheuer, Wälder und Berge, daneben aber auch menschliche Aktionen in Vergangenheit und Gegenwart können teilweise mimetischen Darstellungsprinzipien zugeordnet werden.

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gleichzeitige Karten, wie diejenige des Philipp Apian, anders auch als die Karte Skandinaviens, die Olaus Magnus seiner ethnologischen Beschreibung der schwedischen und gotischen Völker beigibt.28 Sie fällt in der (nicht als chronologische Folge gedachten) von Gyula Pápay vorgeschlagenen Kategorisierung in die zweite Gruppe von Geschichtskarten: Diese Gruppe integriert die unterschiedlichen Zeitebenen, wobei die historischen Informationen eine dominierende Bedeutung erhalten, während in der ersten Gruppe die aktuellen Informationen Vorrang haben und die dritte Gruppe an Karten rein retrospektiv orientiert ist.29 Die Ergänzung der symbolischen Darstellungen durch textliche Beigaben zeigt zugleich, dass zumindest in der Mitte des 16. Jahrhunderts eine Wahrnehmung von historischer Differenz und vor allem eine Reflektion darüber, wie eine solche Differenz dargestellt werden sollte, in bestimmten, historiographischen Medien möglich ist. Naheliegend ist, dass gerade die synoptische und folglich synchrone Darstellung auf Karten die Aufmerksamkeit für diachrone, historische Differenz fördern konnte.

III.1 Personenreihen Einzelpersonen spielen für die gelehrte Historiographie des 16. Jahrhunderts in mehrerer Hinsicht eine Rolle: Zum einen werden Autoren genannt, die für die eigene historiographische Darstellung genutzt wurden, zum zweiten sind Einzelpersonen Objekte der Historiographie. Ihre Einordnung verpflichtet jeweils dazu, zu einer historischen Differenz Stellung zu nehmen. Die einfachste Form einer solchen Einordnung ist eine Liste, ohne dass dies eine klare historische Differenzierung bedeuten müsste. Dies gilt z. B. für die Liste der Autoren, die Jacques de Meyere seinem 1538 in Nürnberg gedruckten «Compendium chronicorum Flandriae» voranstellt, die unter dem Titel autores ex quorum collatione haec historia conscripta est 55 Autoren von der Antike bis in seine Gegenwart hinein nennt, Autoren, die weder chronologisch noch nach Genera ihrer Schriften, nach ihrer Herkunft, sozialem Rang oder nach ihrer Bedeutung für Meyeres historiographische Erzählung erkennbar geordnet wären.30 Hubert Thomas Leodius stellt seinem Werk eine ähnliche Liste voran, die wenigstens eine grundsätzliche 28 Olaus Magnus: Historia de gentibus septentrionalibus earumque diversis statibus, conditionibus, moribus, ritibus .... Rom 1555, fol. [a iv]v nach der Praefatio mit der Überschrift: Regnorum Aquilonarum descriptio huius Operis subiectum. Für eine hebräische Geschichtskarte Palästinas kann als einziges Beispiel eine um 1560 in Mantua gefertigte Karte genannt werden, die zugleich Venedig und den Auszug der Israeliten aus Ägypten abbildet; siehe hierzu Rehav Rubin: A Sixteenth-Century Hebrew Map from Mantua. Imago Mundi 62 (2009) S. 30–45, passim. 29 Gyula Pápay: Die Anfänge der Geschichtskartographie. In: Geschichtsdeutung auf alten Karten. Archäologie und Geschichte. Hg. von Dagmar Unverhau. Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Forschungen. Band 101), S. 165–191, passim, hier v. a. S. 177f. 30 Jacques de Meyere: Compendium (wie Anm. 18), fol. aa 2v: Diese Liste folgt direkt auf das kaiserliche Druckprivileg und steht vor einem 17 Seiten umfassenden, alphabetischen Index rerum insignium,



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Differenzierung bietet. Auf den gängigen Titel Auctores quibus usus sum[us] folgen achtzehn sowohl griechische, als auch und vor allem römische Autoren, unter ihnen Plutarch, Strabo, Ptolemaeus und Tacitus. Am Anfang der Liste steht Caesar, am Ende Appian – sie ist also weder chronologisch noch nach der sprachlichen Zuordnung binnendifferenziert. An diesen ersten Teil der Liste aber schließen sich vier weitere Autorennamen bzw. Werktitel an, die durch den Zwischentitel ex recentioribus abgegrenzt werden: Es sind, in dieser Reihenfolge, Beatus Rhenanus, Abbas Urspergensis, Annales Leodiorum und ein Placentius.31 Anders als bei diesen offenen Listen, die historiographische Traditionen konstruieren, liegt der Fall bei genealogischen (und damit zwangsläufig chronologischen) Reihen, die historische Personengruppen konstruieren: Der erstgenannte gehört unbedingt in die gleiche Reihe wie der letztgenannte, der Anfang ist durch eine möglichst ununterbrochene Linie mit dem Ende verbunden, dessen Zwangsläufigkeit auf diese Weise evident gemacht wird. So stellt Alain Bouchart in seinen «Grandes croniques de Bretaigne» eine Amtsgeneaologie ans Ende seines Werkes: Les noms des rois bretons de la Grande Bretagne, mit der Markierung des Lucius als premier roi chrétien, bis zu dem premier roi anglais Adelscanus. Als weitere Untergruppe folgen les noms des rois bretons de Bretagne armorique tous crestiens contenuz au ii. livre sowie für die beiden letzten Bücher les noms des ducs de Bretagne, schließend mit Francoys II. Zäsuren werden also kenntlich gemacht, die Reihe aber als zusammengehörende Geschichte präsentiert.32 Ähnlich setzt die Pariser Ausgabe des Jahres 1500 von Robert Gaguins «Compendium de origine et gestis Francorum» nach einem alphabetischem Index eine Tabula Regum francorum, während die französischsprachige Ausgabe 1514 direkt mit einem chronologischen Inhaltsverzeichnis beginnt.33 Die verschiedenen Drucke des Jacques de Meyere reflektieren die Situation Flanderns auch bei der Abbildung der Personenreihen, indem das 1538 mit kaiserlichem Privileg gedruckte «Compendium» einem auf den ein catalogus comitum Flandriae und eine Liste der Regierungszeiten der einzelnen comites folgen. 31 Leodius: Tungris (wie Anm. 9), fol. [A vi]v: Diese Liste steht nach dem Widmungsbrief, vor zwei leeren Blättern und dem dann fol. Br folgenden Beginn der historiographischen Erzählung De Vetustissimae urbis Tungrorum et Germani nominis originibus. Der letztgenannte ist Johannes Placentius, Autor eines Catalogus omnium antistitum Tungarorum, Traiectensium, ac Leodiorum, & rerum domi, bellique gestarum compendium. 32 Feuillet cccl–[cccli]. Es spricht für die Bedeutung, die dieser Liste zugeschrieben wird, dass der Neudruck (Alain Bouchard, Les Croniques Annales des Pays dangleterre et Bretaigne, Paris 1531) sie vom Ende an den Anfang versetzt: Sie findet sich dort auf der Verso-Seite des Titels, vor dem eigentlichen Inhaltsverzeichnis und nun schließend mit einer graphisch etwas abgesetzten Rubrik, in der Karl VIII., König von Frankreich und Herzog der Bretagne sowie seine beiden Nachfolger Ludwig XII. und Franz I. genannt werden. 33 Robert Gaguin: Compendium super Francorum gestis. Paris 1500, fol. [Aa v]v–[Aa vi]r: Tabula regum francorum quorum gesta in hoc compendio describuntur; Robert Gaguin: Les grandes croniques (wie Anm. 11), fol. A iiv–[B iv]v.

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catalogus comitum Flandriae lediglich eine Liste ihrer Regierungszeiten folgen lässt, während im Antwerpener Druck von 1531 die Herzöge von Flandern mit den fränkischen und französischen Königen zusammen aufgeführt werden, die in der späteren Fassung keine Erwähnung mehr finden.34 Der Einschätzung entsprechend, dass gelehrte historiographische gedruckte Publikationen (wenigstens) in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts – einschließlich des Titelblattes – häufiger ganz ohne bildliche Elemente auskommen, war bis hierhin von allein schriftlichen Präsentationsformen die Rede. Bildliche Präsentationsformen in Historiographien entwickeln, vor allem in der Darstellung von Einzelpersonen, drei deutlich in ihrer zeitlichen Dimensionierung zu unterscheidende eigene Darstellungsprinzipien: Zunächst sei hier auf umfangreichere und umfassendere Werke hingewiesen, die die retrospektive Wahrnehmung historiographischer Publikationen beherrschen und in denen zwei Traditionsstränge nebeneinander bestehen: Auffällige Ähnlichkeiten finden sich im Vergleich der Schedelschen Weltchronik von 1493 und Heinrich Pantaleons Heldenbuch in seiner lateinischen wie in seiner deutschen Fassung von 1565/66 bzw. 1568/70, zwischen deren Publikation immerhin mehr als 70 Jahre liegen: Bei beiden kann kaum ein Interesse an historischer Differenzierung und individualisierenden Portraits konstatiert werden. Die Abbildungen folgen keinen mimetischen, sondern symbolischen Prinzipien: Arminius ist bei Pantaleon als beliebiger Heerführer, Marbod (ca. 30 v. Chr.–37 n. Chr.), der Herrscher der Markomannen, als König dargestellt; in der Schedelschen Weltchronik (deren deutsche Ausgabe hier herangezogen ist) werden z. B. Kaiser Lothar II. und Kaiser Sigismund durch die gleichen Vollfiguren abgebildet.35 Ähnlich werden in Alain Boucharts Chronik die Abbildungen verwendet: Sie gehen nicht historisierend vor, aber die Illustrationen werden zu herausragenden Ereignissen der bretonischen Geschichte in Beziehung gesetzt, zu denen 34 Meyere: Compendium (wie Anm. 18), fol. cc 3v: Catalogus comitum Flandriae; fol. cc 4r: Quot singuli comites annos imperaverint; Ders.: Flandricarum rerum tomi X (wie Anm. 18): tomus 7, fol. 24v–26r: De catalogo principum Flandriae regumque Franciae. Bis auf geringfügige Differenzen der Sterbejahre stimmen die Listen der comites überein. 35 Die Schedelsche Weltchronik von 1493, kommentiert von Rudolf Pörtner, Dortmund 1978: Lothar fol. 199r, Sigmund fol. 239r; ähnliches gilt für die durchlaufende Papst-Reihe, die zwar mit variierenden, aber wiederholten Portraits abgebildet ist; Heinrich Pantaleon: Teutscher Nation Heldenbuch, 3 Teile. Basel 1568–1570; zuerst lateinisch: Prosopographia heroum atque illustrium virorum totius Germaniæ, 3 Teile. Basel 1565–1566, dort Marbod S. 96, Arminius S. 99. Vgl. Hans Jakob Meier: Das Bildnis in der Reproduktionsgraphik des 16. Jahrhunderts. Zeitschrift für Kunstgeschichte 58 (1995) S. 449–477, zu Pantaleon insbesondere S. 471–475, Zitat S. 473: „Pantaleon versieht die Viten mit den aus Koberger vertrauten Bildnistypen, die nicht die individuelle Person allein, sondern deren gesamten Stand zu vertreten haben. Fast nie trifft man auf Bildnisse nach Künstlern aus der Gegenwart.“ Umso auffälliger die äußerst seltenen Gegenbeispiele: Das Portrait des Andreas Vesalius (lat., Band 3, S. 271; dt. Band 3, S. 272) ist dem Portrait der (in Basel gedruckten) «De humani corporis fabrica libri septem» nachgebildet; Maximilian I. (lat., Band 3., S. 1, dt., Band 3, S. 1) und Karl V. (lat. Band 3, S. 15) sind den vorherrschenden Bildnistypen entsprechend geschnitten.



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in der heilsgeschichtlich geprägten Darstellung auch die Verkündigung an Maria und die Geburt Christi zählen. Wie genau die jeweiligen Stellen jedenfalls teilweise vorgegeben sind, zeigen halbe bis fast vollständige Leerseiten vor bzw. nach den Holzschnitten, die dafür sorgen, dass die Bindung zum Text gefestigt wird.36 Neben den beiden Illustrationen heilsgeschichtlicher Ereignisse finden sich mit einer bedeutsamen Ausnahme keine Individualbildnisse: Eine eigene Darstellung auf einer ganzen Seite erhält der Heilige Yves als Patron der Bretagne.37 Diese wird ergänzt durch ein Sammelbild bretonischer Heiliger,38 sodann durch zwei Schlachtenszenen,39 Darstellungen des bretonischen Wappens sowie einen Holzschnitt des bretonischen Herzogs im Parlament.40 Alle diese Abbildungen gehorchen typologischen Darstellungsprinzipien, dennoch werden lediglich die beiden letztgenannten Abbildungen wiederholt bei unterschiedlichen Gelegenheiten eingesetzt. Die Positionierung der dargestellten Personen der Parlamentsszene ist zwar bei seiner Erstverwendung genauestens auf den Text anlässlich der Konstitution des ersten bretonischen parlement abgestimmt, so dass die dargestellten Personen nicht nur nach ihrer Funktion und ihrem Rang, sondern auch individuell identifiziert werden können, ohne dass die Darstellung individualisierend bzw. mimetisch erfolgte.41 Die sechsmal eingesetzte Parlamentsszene wird vornehmlich anlässlich 36 Um den Abgleich mit der historisch-kritischen Ausgabe, die die Illustrationen verschweigt, zu ermöglichen, seien sie im Folgenden jeweils mit Foliozählung sowie den passenden Seitenzahlen der Edition zum Text angegeben: Verkündigung: fol. 19r (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 1, S. 130); Christi Geburt: fol. 22v (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 1, S. 132); Hl. Katharina: fol. 37v (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 1, S. 179); Ein Beispiel für eine großzügige Platzverwendung, um eine Illustration an die passende Stelle zu rücken, bietet das bretonische Wappen, das den Beginn des dritten Buches markiert: fol. 96v (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 1, S. 347). 37 Vor dem Kapitel De Monseigneur Sainct Yves confesseur qui fut en ce temps: [fol. 146r] (Doppelzählung) (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 2, S. 14): vor bretonischem Hermelin, im Habit mit Buch in der Hand und einem vor ihm knienden Bittsteller; im kolorierten Exemplar der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel (wie Anm. 1) ist das Habit als Hermelin gestaltet. 38 Die bretonischen Heiligen vor Beginn des zweiten Buches, mit dem die eigentliche Geschichte der Bretagne einsetzt: fol. 45r (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 1, S. 203); im kolorierten Exemplar der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel (wie Anm. 1) ist der Holzschnitt am Ende nochmals verwendet [fol. 352]r; ebenso in einem Exemplar der BNF Paris (Signatur: Res LK 2 442). 39 Der Kampf des von der Jungfrau Maria unterstützen König Artus’ mit Flollo in Buch II, fol. 64r (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 1, S. 256); der Kampf des Charles de Blois gegen Jean de Montfort 1364: fol. 172v (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 2, S. 87), mitten im Kapitel Le commencement de la bataille d’Aulray. 40 Im kolorierten Exemplar werden einige Wappendarstellungen durch spezifischere Holzschnitte ersetzt, siehe dazu die Einzelnachweise in Anm. 41. 41 Erstverwendung der Parlamentsszene: fol. 118v (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 1, S. 405‒408) zu: Comment le duc Alain quatriesme crea premierement les sieges de la justice et du parlement de Bretaigne; weitere Verwendungen: fol. 141r (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 1, S. 469), am Ende des dritten Buches; fol. 237v (Alain

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der Schilderung von Parlamentseinsetzungen oder von feierlichen entrées der bretonischen Herzöge bzw. Könige genutzt, bei diesen Gelegenheiten wechseln sie sich mit den Wappenholzschnitten ab. Für diese gilt ähnliches: Innerhalb des Textes ist es immer ein von zwei Löwen gehaltenes Wappen mit Helm und Helmzier, zu Beginn des Buches sowie am Ende sind die Löwen durch Engel und der Helm durch eine Krone ersetzt; ein expliziter textlicher Bezug findet sich bei der Erzählung von der Wappenänderung der Bretagne des Pierre de Dreux Mauclerc (regierend 1213–1237), die das Hermelin hinzufügt. Die immer wieder und auch zuvor schon abgebildete Version allerdings ist diejenige Herzogs Jean  III. (regierend 1312–1341) von 1316.42 Wappen werden bei Bouchart als das im mittelalterlichen höfischen Code etablierte Mittel verwendet, um eine Person – hier den bretonischen Herzog – in ihrer Funktion

Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 2, S. 270), mit der Unterschrift: L’arrest de Parlement donné contre ceulx de Painthievre; fol. 286r, (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 2, S. 322) zu du duc de Bretaigne François premier de ce nom; comment il espousa Madame Ysabel d’Escoce, fille du Roy d’escoce, et de son entree comme duc à Rennes (die Kapitelüberschrift auf der vorhergehenden Seite, das Kapitel selbst auf der nachfolgenden Seite); fol. 301v (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 2, S. 362) zu comment le duc Pierre de Bretaigne tint son parlement general en la ville de Vennes (Überschrift des Kapitels auf der vorhergehenden, Text auf der nachfolgenden Seite); fol. 309r (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 2, S. 380) zu Comment François de Bretaigne, nepveu du Duc Artur dernier trespassé, fist à Rennes son entree comme duc de Bretaigne. 42 Zur inhaltlich am engsten verbundenen Textstelle eine besondere Version: Das von Engeln gehaltene Wappen wächst aus einem Baumstamm heraus: fol. 135r (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 1, S. 454): Die Marginalie zum Kapitel über die Herzogserhebung von Pierre de Dreux (1213) weist auf die Bedeutung hin: Les armes de Bretaigne changees; das kolorierte Exemplar der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel (wie Anm. 1) verwendet hier einen anderen Holzschnitt: das von einem Engel und einem Salamander gehaltene Wappen der Claude de France. Die weiteren Verwendungen: Zu Beginn: unpaginiert, [fol. Aai]r (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 1, S. 24): gekrönt und von Engeln gehalten; zu Beginn des dritten Buches: fol. 96v (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 1, S. 347): 1. Kapitel betitelt: De Alain le Grant, premier duc de Bretaigne; fol. 144r (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 2, S. 7f.) zwischen den Kapiteln Des couronnemens de Philippe le Bel Roy de France et de sa femme, Dame Jehanne Roine de Navarre und Du Duc Jehan deuxiesme de ce nom, de Beatrix, fille du Roy d’Angleterre, sa femme, et de leur filz Artur qui depuis fut duc de Bretaigne; das kolorierte Exemplar der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel setzt hierhin einen Holzschnitt, der sich auf das letztgenannte Kapitel bezieht und ein sitzendes Paar mit einer kleineren Figur im Vordergrund zeigt; fol. 228r (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 2, S. 243) – das kolorierte Exemplar wiederum mit einem Holzschnitt, der passend zum Text des folgenden Kapitels (comment le Duc Jehan de Bretaigne cinquiesme de ce nom feist son entree à Rennes) eine feierliche entrée zeigt. Ebenso zeigt dieses Exemplar eine Krönungsszene auf fol. 299v (Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 2, S. 358) zu comment le Duc Pierre fist son entree à Rennes. Auch am Ende des Druckes (fol. 351v; Alain Bouchart: Grandes croniques de Bretaigne [wie Anm. 1], Band 2, S. 505) im kolorierten Exemplar die markante Abweichung, dass das Wappen der Anne de Bretagne verwendet wird, während ansonsten das Hermelinwappen von Jean III. verwendet wird.



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in eine historische Reihe zu stellen. Deshalb ist es wichtig, die gleiche Wappenversion ebenso zu Beginn des Buches zu verwenden wie an seinem Ende.43 Konträr zu diesem ersten, typologisierenden Verfahren, das allein auf den Rang der dargestellten Person Wert legt, stehen für ein zweites Prinzip die bildlichen Ergänzungen von Kaiserviten-Sammlungen, also zunächst einmal Sueton-Handschriften und -Drucke. Bei ihnen wurde generell auf antiquarische Genauigkeit so sehr Wert gelegt, dass neue Münzfunde immer wieder ergänzt wurden oder auch Herrscher, zu denen ein Münzbild fehlt, lediglich mit einem leeren Rahmen abgebildet wurden.44 So plante der Wiener Humanist Johannes Cuspinian, seine eigene Sammlung von Kaiserviten (die vornehmlich auf Sueton und der «Historia Augusta» beruht) mit Münzbildern zu versehen, für deren Gestaltung er sich Albrecht Dürer wünschte.45 Ist im erstgenannten Abbildungsverfahren durch die typologische Gestaltung eine Ignoranz der zeitlichen Distanz oder ihrer Bedeutung zu erkennen, so betont die antiquarische Gestaltungsregel die temporale Bindung der einzelnen Kaiser: Ihre Münzen werden als authentische, weil zeitgenössische und zugleich vor allem autorisierte Bilder 43 Ebenso verfährt die Königsreihe am Ende von Sebastian Brants 1495 gedrucktem «De origine et conversatione bonorum regum et laude civitatis Hierosolymae». Dieses historiographische Werk mit aktuellen politischen Absichten bietet eine typologisch angelegte Darstellung, in der mit Hilfe von Wappenschilden als personalen Zeichen Unterscheidungen möglich werden: Die fünf Figuren der Könige, die durch ihre Eroberungen Jerusalems ihren Rang erhalten, sind selber nicht unterscheidbar. Differenziert und identifizierbar aber werden sie anhand der beigefügten Schilde, die ihre Wappen tragen: Im Vordergrund steht mit König Maximilian der Widmungsempfänger, der eine Georgfahne mit sich führt und mit diesem Werk zum Kreuzzug aufgefordert wird, während mit den vier weiteren Fürsten (von links nach rechts) König Ferdinand von Kastilien und Aragón (Wappen von Kastilien, Granada, Leon), Gottfried von Bouillon, der Eroberer von Jerusalem (mit dem Jerusalemkreuz), Karl der Große (Wappen von Aachen) und König David (Harfe) dargestellt sind: Sebastian Brant: De origine et conversatione bonorum regum et laude civitatis Hierosolymae cum exhortatione eiusdem recuperandae. Basel 1495, hier fol. T iiiir, Digitalisat: http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0002/ bsb00026708/images/ (13.03.2015); vgl. Antje Foresta: Sebastian Brant als Historiker. Zur Perzeption des Reichs und der Christenheit im Schatten der Osmanischen Expansion. (Phil. Diss. Freiburg 2004). Freiburg 2010. http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/7674/pdf/Dissertation_Antje_ Foresta. pdf (13.03.2015); ihr folge ich in der Identifikation der Könige, vgl. ebd. S. 27f. mit Fn. 2 zu anderen Identifikationsvorschlägen. 44 Vgl. zu Sueton-Handschriften: Elisabeth Schröter: Eine unveröffentlichte Sueton-Handschrift in Göttingen aus dem Atelier des Bartolomeo Sanvito. Zur Sueton-Illustration des 15. Jahrhunderts in Padua und Rom. Jahrbuch der Berliner Museen 29/30 (1987/1988) S. 71–121; zu Münzbildern: Johannes Helmrath: Die Aura der Kaisermünze. Bild-Text-Studien zur Historiographie der Renaissance und zur Entstehung der Numismatik als Wissenschaft. In: Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung. Hgg. von Johannes Helmrath u. a. Berlin 2009 (Transformationen der Antike. Band 11), S. 99–138; z. B. lässt Johannes Huttich Münzbilder für die fiktive Reihe der Triginta Tyranni leer; vgl. auch im gleichen Band: Elisabeth Klecker: Extant adhuc in Pannonia monumenta Severi. Historia Augusta-Rezeption und humanistisches Selbstverständnis in Cuspinians Caesares, S. 77–98, hier S. 92. 45 Vgl. hierzu Klecker: Historia Augusta-Rezeption (wie Anm. 43), hier S. 78f., Helmrath: Kaisermünze (wie Anm. 43), S. 126.

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geschätzt. Dieser Authentizitätsanspruch musste allerdings nicht verhindern, dass die Bildnisse idealisiert und gewissermaßen „hyperantikisiert“ wurden.46 Da aber die Kaiserviten als Reihe präsentiert werden, stellen sie trotz ihrer Historisierung eine enge Verknüpfung auch der entferntesten Vergangenheit mit der eigenen Gegenwart her. In der Erstausgabe von Cuspinians «Caesares» wird dies besonders deutlich: Hier wird die historisierende, authentifizierte Kaiserdarstellung für die mittelalterlichen Kaiser in antikisierenden Darstellungen fortgeführt, die dann – vermehrt in der deutschen Übersetzung 1541 – die Prinzipien umkehren und typologisch verfahren. So wird für die nicht bebilderten Kaiser immer wieder das gleiche Profil-Bild verwendet, das schon bei den antiken Kaisern als Platzhalter fungiert hatte, während in der lateinischen Fassung die mittelalterlichen Kaiser bei Mangel an als authentisch angesehenen Porträts unbebildert bleiben. Die dritte Möglichkeit, historische Personen in Drucken und Handschriften des 16. Jahrhunderts darzustellen, vollzieht sich in der deutlichsten Negation einer Distanz und in einer Vergegenwärtigung der Personen – lediglich auf zwei besonders anschauliche Beispiele sei hier mit der Nennung des Hans Brosamer zugeschriebenen Arminius-Porträts und der Prachthandschrift von Spalatins Chronik mit der Darstellung des Widukind verwiesen: Beide werden in zeitgenössischem Gewand als vornehme, prächtige Adlige dargestellt.47 Bei den bisher genannten historiographischen Publikationen stellte sich allein die Frage nach der Einordnung historischer Figuren, um die jeweilige Vergangenheit zur eigenen Gegenwart (reflektiert) in Bezug zu setzen. Eine ganz andere Verschränkung, die die drei genannten Möglichkeiten (Typologisierung, Antikisierung, Appropriation) der historischen Einordnung in ihren Tragfähigkeiten zusätzlich herausfordert, ergibt sich aber, wenn gleichzeitig die dargestellte historische Figur mit einer konkreten gegenwärtigen Person in Beziehung gesetzt und ein historischer Text selber (und womöglich sein Autor) als Referenzobjekt transformiert werden, wie es

46 Johannes Helmrath: Bildfunktionen der antiken Kaisermünze in der Renaissance oder: Die Entstehung der Numismatik aus der Faszination der Serie. In: Zentren und Wirkungsräume der Antikerezeption. Zur Bedeutung von Raum und Kommunikation für die neuzeitliche Transformation der griechisch-römischen Antike. Hgg. von Kathrin Schade u. a. Münster 2007, S. 77–88 mit Abb. 1–11, hier S. 88 und Tafel 23, 5, 6 mit Hinweis auf eine Historia-Augusta-Handschrift der Biblioteca Nazionale Vittorio Emanuele in Rom (cod. 1004). 47 Die Abbildung Widukinds bei Spalatin Tafel 4 in: Christina Meckelnborg und Anna-Beate Riecke: Georg Spalatins Chronik der Sachsen und Thüringer. Ein historiographisches Großprojekt der Frühen Neuzeit. Köln 2011 (Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs. Band 4); sowie: Georg Spalatin: Chronik der Sachsen und Thüringer, Bd.e 1–3, Coburg, Landesbibliothek, Ms. Cas. 9–11 (1520–1525). Transkription: Christina Meckelnborg und Anne-Beate Riecke: http://vb.uniwuerzburg.de/ub/spalatin/spalatin_chronik.html; Blatt 5r mit Widukinds Darstellung: http://vb.uniwuerzburg.de/ub/spalatin/pages/lbcmscas09/9.html (08.06.2015); die Hans Brosamer zugeschriebene Arminius-Darstellung ist z. B. abgebildet in: Rudolf Asskamp (Hg.): 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos. Stuttgart 2009, S. 168.



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bei der Caesar-Übersetzung des Matthias Ringmann Philesius (1507) und den Erstausgaben des Einhard (1521) und des Otto von Freising (1515) der Fall ist. Ringmanns Caesar-Ausgabe, zu deren fulminanter übersetzerischer Qualität hier nichts gesagt werden soll,48 ist bei Johannes Grüninger in Straßburg erschienen, der für seine reich illustrierten Drucke berühmt ist.49 Der Druck enthält nicht allein die Bücher über den gallischen und diejenigen über den Bürgerkrieg, sondern kontextualisiert sie u. a. mit einer Übersetzung der Caesar-Vita des Plutarch.50 Die Herkunft aus Grüningers Offizin zeigt sich nachdrücklich in den jeweils zu Beginn eines jeden Buches abgebildeten ganzseitigen Bildern und den jeweils die Bücher abschließenden halb- bzw. drittelseitigen Illustrationen. Diese letzteren setzen sich aus mehreren kleineren Holzschnitten zusammen, die – typisch für Grüningers geschäftstüchtige Verwendung von Bildstöcken – auch in anderen Kombinationen Verwendung fanden.51 Trotz dieses ‚Recyclings‘ sind auch die abschließenden Bilder genau auf die explizite Absicht des Übersetzers und die mit der Widmung an Maximilian I. verbundene Zielsetzung abgestimmt: Julius Caesar wird durchweg als erster Kaiser mit einer Adlerstandarte dargestellt, besonders beeindruckend auf dem Titelblatt: Bärtig mit Bügelkrone auf dem Pferd, geschmückt mit dem Reichsadler in den Krieg ziehend.52 Der Druck von Grüninger führt damit den mittelalterlichen deutschen Blick auf Caesar als Gründer des deutschen Reichs53 mit dem gelehrten, humanistischen Blick auf den Autor Caesar zusammen. Das siebte Buch des gallischen Kriegs endet dann auch mit einem Schnitt, auf dem Reichsapfel, Reichszepter und Reichsschwert

48 Vgl. Sven Limbeck: Theorie und Praxis des Übersetzens im deutschen Humanismus. Albrecht von Eybs Übersetzung der ‚Philogenia‘ des Ugolino Pisani. (Phil. Diss. Freiburg 2000). Freiburg 2005, S. 15–17. http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/2147/pdf/limbeck.pdf (13.03.2015). 49 Hierzu Cécile Dupeux: Jean Grüninger. 1507–1512. Straßburg 2009 (La gravure d’illustration en Alsace au XVIe siècle. Band 3), speziell zur Livius-Ausgabe S. 10, 32f., Illustrationen 16–50; sowie zu den früheren Drucken: Cécile Dupeux und Jacqueline Lévy: Jean Grüninger. 1501–1506. Straßburg 1992 (La gravure d’illustration en Alsace au XVIe siècle. Band 1). 50 Julius der erst Römisch Keiser von seinen kriegen erstmals vß dem Latin in Tütsch bracht vnd nüw getruckt. Hg. von Matthias Ringmann. Straßburg 1507; Digitalisat: http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:bvb:12-bsb00001890-3 (13.03.2015); zur genauen Zusammensetzung des Drucks vgl. Franz Josef Worstbrock: Ringmann, Matthias. In: VL. 2. Aufl. Hg. von Burghart Wachinger Band 11. Berlin 2. völlig neu bearb. Aufl. 2004, Sp. 1310–1326, hier Sp. 1321-1323; sowie Dupeux: Jean Grüninger (wie Anm. 48), S. 9f., 31f., Illustrationen 1–15. 51 Die Nachweise über die Mehrfachverwendungen der einzelnen Schnitte bei Dupeux: Jean Grüninger (wie Anm. 48) in der Synopsis, S. 51‒54. 52 Julius der erst. Hg. von Ringmann (wie Anm. 49), Titelseite: Digitalisat: http://daten.digitalesammlungen.de/~db/bsb00001890/image_3 (01.06.2015). 53 Vgl. Heinz Thomas: Julius Caesar und die Deutschen. Zu Ursprung und Gehalt eines deutschen Geschichtsbewußtseins in der Zeit Gregors VII. und Heinrichs IV. In: Die Salier und das Reich Band 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier. Hg. von Stefan Weinfurter. Sigmaringen 1991, S. 245–277.

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Abb. 1: Einhard: Vita et Gesta Karoli Magni, hg. v. Hermann von Neuenahr. Köln 1521, Titelblatt.



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angeordnet sind.54 Der Widmungsempfänger Maximilian wird in der Darstellung in eine bruchlose Verbindung mit dem Autor und gleichzeitigen Helden des Referenztextes gestellt. In gleicher Weise gilt dies für die Vorsatzblätter bei Schöfferlins LiviusÜbersetzung und ihrem Straßburger Plagiat, dessen Titelblatt mit geringen Varianten ebenso den Kaiser im Kreise der Kurfürsten darstellt.55 Neben dem veränderten Hintergrund fällt vor allem die neue Überschrift auf, die darauf verweist, dass die Mainzer Erstverwendung des Holzschnitts schon auf eine Mehrfachverwendung (für den Reichstagsabschied) ausgelegt war: Bei Schöfferlin steht „Maximimilian Romischer konig“ während bei Grüninger „Römsche History uß T. Livio“ über das Bild gesetzt wird. Die Vergegenwärtigung des Livius, die bei beiden Schnitten durch das gotische Interieur und die durch Wappen und standesgemäße Kleidung und Bekrönung als Kurfürsten und Kaiser erkennbaren zeitgenössischen Personen geleistet wird, wird so in der Straßburger Fassung noch expliziter.56 Umso auffallender ist vor diesem Hintergrund die von Hermann von Neuenahr verantwortete Erstausgabe der Vita Karls des Großen von Einhard. Dieser am weitesten verbreitete mittelalterliche Referenztext zum Schreiben einer (Herrscher-)Biographie, der selber eine Transformation der Viten Suetons ist, ist dem gerade gewählten Kaiser Karl V. zu seiner Ankunft in Deutschland gewidmet und erscheint im Jahr 1521.57 Beide Kaiser werden einander auf dem Titelblatt, gerahmt durch je drei Wappen, in Vollfiguren gegenübergestellt (Abb. 1): Die nicht nur bärtige, sondern auch „barbarische“ Darstellung des alten Kaisers betont allerdings die Distanz zum jungen, modisch gekleideten und durch die unverkennbare habsburgische Physiognomie mindestens ebenso deutlich wie durch seine Insignien identifizierbaren Karl V. Dennoch wird – nicht zuletzt durch die gemeinsamen Wappen in den beiden unteren Ecken, durch den gemeinsamen Namen und durch ihre Nummerierung die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Reihe betont.58 Die Gründerfigur des Caesar wird hier ersetzt durch die 54 Julius der erst. Hg. von Ringmann (wie Anm. 49), fol. 64v; Digitalisat: http://daten.digitalesammlungen.de/~db/bsb00001890/image_132 (01.06.2015). 55 Römische Historie vß Tito Liuio gezogen. Übers v. Bernhard Schöfferlin u. Ivo Wittig, Mainz 1505 bzw. Livius: Römsche [sic!] History vsz T. Liuio. Übers. v. Bernhard Schöfferlin u. Ivo Wittig. Straßburg 1507. 56 Online verfügbare Digitalisate der beiden Blätter: Römsche [sic!] History vsz T. Liuio, Straßburg 1507 (wie vorige Anm.): http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/bsb00001874/image_3 (01.06.2015); zu diesem vgl. Dupeux: Jean Grüninger (wie Anm. 48), hier S. 32; Römische Historie vß Tito Liuio, Mainz 1505 (wie vorige Anm.): http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/bsb00004902/ image_5 (01.06.2015). 57 Einhard: Vita et Gesta Karoli Magni. Hg. von Hermann von Neuenahr. Köln 1521. Digitalisat: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00004353-2 (13.03.2015). Zur Überlieferung des Einhard insgesamt umfassend vgl. Matthias M. Tischler: Einharts Vita Karoli. Hannover 2001 (Schriften der MGH. Band 48). Zu dieser Ausgabe S. 1666–1673. 58 Das ist diejenige Deutung des Titelblatts, die von Tischler (wie Anm. 56, hier S. 1667f.) hervorgehoben wird. Das unentschiedene Spielen des Titelblatts zwischen einer historischen Distanzierung und einer Herstellung von Nähe kann auch mit der kaum zu entscheidenden Frage belegt werden, ob

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Gründerfigur Karl, dem der fünfte seines Namens nicht nur nacheifern, sondern den er, wie es am Ende der Vorrede auffordernd heißt, als maximus auch übertreffen solle. Für beide Personendarstellungen auf dem Titelblatt der Einhard-Vita gilt, dass sie typologische Elemente – wozu vor allem die Herrschaftsinsignien und die Wappen zu zählen sind – mit mimetischen Elementen mischen, die den historisierenden Absichten zurecht gemacht werden:59 Karl der Große wird wenigstens teilweise entsprechend der Beschreibung in Einhards Vita dargestellt: Er ist größer als Karl  V., kräftig und stark – ob seine Nase länger, sein Nacken etwas dick und kurz sind und sein Bauch ein wenig hervortritt, wie Einhard ebenfalls schreibt, mag schwierig zu entscheiden sein. Doch auch die Kleidung kann als Anklang an die Schilderung im 23. Kapitel der Biographie gelesen werden: „Er kleidete sich nach der nationalen Tracht der Franken: Auf dem Körper trug er ein Leinenhemd, die Oberschenkel bedeckten leinene Hosen; darüber trug er eine Tunika, die mit Seide eingefasst war; die Unterschenkel waren mit Schenkelbändern umhüllt. Sodann umschnürte er seine Waden mit Bändern und seine Füße mit Fußkleidern.“60 Die unüblich barbarisierende Art, wie Einhards Text in die bildliche Darstellung überführt ist, betont die zivilisatorische Distanz zwischen Karl I. und Karl V. ebenso wie die auffälligste Besonderheit im Vergleich zu einer typologischen Darstellung: Kaiser Karl der Große trägt eben nicht – wie sogar Caesar in der Straßburger Übersetzung – die kaiserliche Bügelkrone, sondern einen krönenden Schmuck, der vielleicht eine Strahlenkrone (ähnlich wie auf römischen Münzen) sein könnte, aber noch eher einem Federschmuck gleicht.61 auch Karl V. entgegen der für diese frühe Regierungszeit herrschenden Ikonographie einen (knappen, dünnen) Bart hat oder ob er glattrasiert ist. 59 Meier: Bildnis (wie Anm. 34), hier S. 455, der dieses Titelblatt nicht erwähnt, sieht erst ab 1560, bewirkt durch archäologische und numismatische Diskussionen, das Bemühen „das Bildnis des Mittelalters und der Neuzeit nach Traditionen und Überlieferungsketten zu scheiden.“ 60 Einhardi Vita Karoli Magni. Hg. von Oswald Holder-Egger. Hannover 6. Aufl. 1911 (MGH SS rer. Germ. Band 25). (ND 1965), cap. 22f., S. 26–28: Corpore fuit amplo atque robusto, statura eminenti, quae tamen iustam non excederet – nam septem suorum pedum proceritatem eius constat habuisse mensuram –, apice capitis rotundo, oculis praegrandibus ac vegetis, naso paululum mediocritatem excedenti, canitie pulchra, facie laeta et hilari. Unde formae auctoritas ac dignitas tam stanti quam sedenti plurima adquirebatur; quamquam cervix obesa et brevior venterque proiectior videretur, tamen haec ceterorum membrorum celabat aequalitas. Incessu firmo totaque corporis habitudine virili; voce clara quidem, sed quae minus corporis formae conveniret. [...] Vestitu patrio, id est Francico, utebatur. Ad corpus camisam lineam, et feminalibus lineis induebatur, deinde tunicam, quae limbo serico ambiebatur, et tibialia; tum fasciolis crura et pedes calciamentis constringebat. Die Übersetzung aus Kapitel 23 der Karlsvita zitiert nach: Einhard: Vita Karoli Magni. Das Leben Karls des Großen. Lateinisch/ Deutsch. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Evelyn Scherabon Firchow. Stuttgart 1995 (Reclams Universal-Bibliothek. Nr. 1996), S. 45–47: Dort wird calceamentis mit Stiefel übersetzt, was eine klare Differenz zum Titelbild bedeuten würde, die Bedeutungsspanne von calceamentum aber unbegründet einschränkt. 61 Ohne beanspruchen zu können, die Ikonographie vollständig zu überblicken, scheinen mir solche Federkronen relativ selten zu sein. Ein zeitlich einigermaßen nahes Beispiel bietet der Holzschnitt Dise figur anzaigt uns das volck und insel ..., gedruckt bei Johann Froschauer in Augsburg 1505 zu



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Nicht mehr um eine Gründungsfigur, sondern um einen Herrscher, mit dem ein anderer Referenzpunkt der Traditionsbildung Maximilians benannt ist, geht es in der Erstausgabe der Werke Otto von Freisings. Sie setzt ebenfalls den Autor eines historiographischen Werks, die behandelte Person und den Widmungsempfänger in eine Beziehung. Doch damit ist es nicht getan, da Otto von Freisings Werke Teil einer ganzen Gruppe von historiographischen und panegyrischen Publikationen im Umkreis Kaiser Maximilians sind. Der Editor der Werke, Johannes Cuspinian, ist kaiserlicher Diplomat und Autor eines Diarium zum von ihm maßgeblich mit vorbereiteten Wiener Fürstentreffen 1515; Benedikt Chelidonius ist nicht allein der Verfasser eines begleitenden Gedichts innerhalb dieser Edition, sondern auch Autor eines Epos «De conventu Divi Caesaris»62; ein Parallelstück zu dieser Edition ist zudem die Amerigo Vespuccis «Mundus Novus»; Abbildung bei Hildegard Frübis: Conflicting Images. Die Bilder aus der Neuen Welt im Prozess der Konfessionalisierung. In: Berichten, Erzählen, Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas. Hgg. von Susanna Burghartz u. a. Frankfurt a. M. 2003 (Zeitsprünge. Band 7), S. 334–360, hier S. 339, Abb. 3; vgl. dort auch Abb. 4 (S. 341), ebenfalls zu einer Vespucci-Übersetzung, Holzschnitte aus einem GrüningerDruck in Straßburg 1509, die keinerlei Federschmuck zeigen. Mit deutlich späterem Material zur Darstellungslogik für Indigene in Berichten aus der Neuen Welt vgl. Susanna Burghartz: Mimetisches Kapital und die Aneignung Neuer Welten. Zur europäischen Repräsentationspraxis um 1600. WerkstattGeschichte 37 (2004), S. 24–48 sowie Dies.: Alt, neu oder jung? Zur Neuheit der „Neuen Welt“. In: Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance. Hgg. von Achatz von Müller und Jürgen von Ungern-Sternberg. München 2004 (Colloquia Augusta Raurica. Band 8), S. 182–200. Vgl. auch die Darstellung Karls bei Pantaleon: Nation (wie Anm. 34): Das – ausnahmsweise in der lateinischen wie in der deutschen Fassung gleiche – Portrait zeigt in Frontalansicht einen mit einer unspezifischen Krone gekrönten, würdevoll-langbärtigen und langhaarigen Karl, der keinerlei „barbarische“ Anspielungen bietet. Zu den Darstellungsmöglichkeiten für Karl den Großen umfassend Lieselotte Saurma-Jeltsch: Karl der Große im Spätmittelalter. Zum Wandel einer politischen Ikone. Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 104/105 (2002/2003), S. 421–461, insbesondere zu Dürers unterschiedlichen Bildnissen (S. 443–459), u. a. dem Idealbildnis für die Nürnberger Heiltumskammer und der Skizze in der Albertina, die Karl den Großen ebenfalls im Krönungsornat mit Reichsinsignien zeigt, aber – nach Saurma-Jeltsch (S. 453) – den Angaben Einhards folge und Karl bartlos zeigt. 62 Claudia Wiener: Der „Wiener Kongress“ von 1515 als literarisches Doppelprojekt. Zum Verhältnis von Benedictus Chelidonius’ Epos De conventu Divi Caesaris zu Johannes Cuspinians Diarium. In: Johannes Cuspinianus. Humanistische Geschichtsschreibung in Wien zwischen historischer Forschung und habsburgischer Herrschaftslegitimation. Hgg. von Christian Gastgeber und Elisabeth Klecker. Wien 2012 (Singularia Vindobonensia. Band 2) S. 349–377. S. 362 zu Johannes Cuspinians Diarium vom Wiener Fürstentag: „Er selbst will sich in eine andere Traditionslinie eingereiht sehen. Als einen Historiographen, der sich der veritas verpflichtet fühlt und deshalb in einfachem Stil und verständlicher Sprache seine Inhalte mitteilt, preist er Otto von Freising, und zwar in diesem Kontext mit denselben Begriffen, wie er sie zur Charakterisierung seines eigenen Stils im Diarium verwendet hat.“ Sowie S. 366: „Mag es auch zum gängigen Exordialtopos der Historiographie gehören, wenn Cuspinian den Wahrheitsanspruch des Historikers mit der Augenzeugenschaft bzw. dem Quellenstudium und mit dem Verzicht auf gekünstelten Sprachstil in Zusammenhang bringt, so ist trotzdem festzuhalten, dass Cuspinian damit deutlich signalisiert hat, dass sich damit eine grundlegende Gemeinsamkeit im literarischen Anspruch und in der Intention seiner eigenen Historiographie mit der eines Otto von Freising manifestiert.“

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Abb. 2: Ottonis Phrisingensis Episcopi Rerum ab origine mundi ad ipsius vsque tempora gestarum, Libri Octo ... Straßburg 1515, Titelblatt.



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Ausgabe des «Ligurinus», die 1507 durch die Augsburger sodalitas um Conrad Celtis und Conrad Peutinger veranstaltet wurde und in der Peutinger in einem Brief an Maximilian bereits eine Ausgabe der Werke Otto von Freisings angekündigt hat.63 In diesen Kontext also fügt sich die erst 1515, nun durch Johannes Cuspinian herausgegebene und in Straßburg erarbeitete Werkausgabe des Historikers Friedrich Barbarossas ein.64 Schon das Titelblatt (Abb. 2) bietet eine Vielzahl unterschiedlicher Elemente, die aufeinander bezogen sind und vielfältige, zeitlich wie kulturell differente Anspielungen präsentieren, die damit jeweils einen eigenen zeitlichen Index besitzen: Maximilian thront als Maximilianus Augustus auf dem Titelblatt in der Mitte zwischen seinen beiden Enkeln, Karl und Ferdinand (diese werden allerdings allein durch je beigefügte Wappenschilde kenntlich gemacht). Die herrschaftliche Orientierung des Bandes wird weiter durch den reichen Wappenschmuck an beiden Blatträndern, insbesondere aber durch das in der Mitte unter Maximilian hängende kaiserliche Wappen mit der Kette des Ordens vom Goldenen Vlies akzentuiert. Diese wird durch einen in griechischen Majuskeln gehaltenen Vers aus der Ilias (II, 118) gerahmt: τοῦ γὰρ κράτος ἐστὶ μέγιστον. („Seine Macht ist die größte.“) Unter dem rot gedruckten eigentlichen Titel des Druckes, der die Werke Ottos und die Fortsetzung durch Rahewin nennt, ist eine weitere Tafel gestaltet, die in Form einer Inschrift Maximilian als pater patriae und Bewahrer der Freiheit rühmt. Als Sprecher tritt dort Beatus Rhenanus auf, obwohl er mit dieser Publikation nicht ausdrücklich in Verbindung gebracht werden kann, sondern allein mit der früher gedruckten Edition der Werke des Gregor von Nyssa, bei der dasselbe Titelblatt Verwendung gefunden hatte: Sie bezog noch expliziter Maximilians Enkel mit in die Ehrung ein und verwies mit weite-

63 Gunther der Dichter: Ligurinus. Hg. von Erwin Assmann. Hannover 1987 (MGH SS. Band 7, 63): Einleitung, S. 7–147, A. I, S. 7–35: Die Editio princeps von 1507 und ihre Vorlage; Jan-Dirk Müller: Konrad Peutinger und die Sodalitas Peutingeriana. In: Der polnische Humanismus und die europäischen Sodalitäten. Hgg. von Stephan Füssel und Jan Pirozynski. Wiesbaden 1997 (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung. Band 12), S. 167–186. Zu den schwäbischen identifikatorischen Absichten der Ausgburger Editionsbemühungen vgl. Dieter Mertens: Spätmittelalterliches Landesbewusstsein im Gebiet des alten Schwaben. In: Spätmittelalterliches Landesbewusstsein in Deutschland. Hg. von Matthias Werner. Stuttgart 2005 (VuF. Band 61), S. 93–156, hier S. 149. 64 Ottonis Phrisingensis Episcopi, viri clarissimi, Rerum ab origine mundi ad ipsius vsque tempora gestarum, Libri Octo. Eiusdem De gestis Friderici primi Aenobarbi Caes. Aug. Libri Duo. Radevici Phrisingensis ... Libri duo, ... de eiusdem Friderici Imp. gestis. Straßburg 1515; Digitalisat: http://nbnresolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00007723-2 (13.03.2015). Vgl. zur Edition Brigitte Schürmann: Die Rezeption der Werke Ottos von Freising im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Stuttgart/Tübingen 1986 (Historische Forschungen. Band 12), hier S. 117f; wichtig der Hinweis, dass das Druckprivileg und der Widmungsbrief an Jacob de Banissis bereits aus dem Frühjahr 1514 datieren: Johannes Cuspinian: Reverendo patri ac domino, d. Jacobo de Banisiis … Jo. Cuspinianus ... S.P.D., (1. März 1514), fol. A iiv–A iii; ediert in: Johannes Cuspinians Briefwechsel. Gesammelt, hg. u. erläutert von Hans Ankwicz v. Kleehoven. München 1933 (Humanistenbriefe. Band 2), S. 55–58 (Nr. 27).

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ren Homer-Zitaten auf Maximilians Herrschertugenden.65 Der thronende Maximilian und seine Enkel werden als Habsburger, als kaiserliche Familie und als homerische Herrscherfiguren dargestellt. Mit der Reduktion der Verweise auf Homer und dem Verzicht auf die namentliche Nennung Ferdinands und Karls wird die Aussage des Titelblatts stärker auf die Beziehung des thronenden Maximilian und des beschriebenen Friedrich Barbarossa gerückt – in dieser Form konnte das Titelblatt dann 1518 ein drittes Mal ebenso adäquate Verwendung finden für eine Edition der Alexander-Vita des Quintus Curtius.66 Diese Dreifachverwendung wird nicht zuletzt dadurch ermöglicht, dass in den graphischen Elementen des Titelblattes nirgends auf den Inhalt der jeweils edierten Texte eingegangen wird, sondern allein der zeitgenössische Herrscher in den Vordergrund gerückt wird. Doch anders als im Fall des Philosophen und Theologen Gregor, anders als im Fall des griechischen Herrschers (immerhin im Rahmen der DanielsProphezeiung mit heilsgeschichtlicher Bedeutung) und seines Biographen Quintus Curtius wird die Beziehung Maximilians zu Friedrich durch weitere Elemente in der Darstellung entsprechend zu Maximilians eigener herrscherlicher Bezugnahme auf den Staufer gestützt67 und zugleich die Dignität des edierten Textes hervorgehoben. 65 Angesichts einerseits der vielfältigen Involvierung des Rhenanus in die gelehrte verlegerische Arbeit am Oberrhein und andererseits einer kaum anzunehmenden Anwesenheit des Johannes Cuspinian in Straßburg ist eine Beteiligung des Rhenanus umgekehrt aber auch nicht auszuschließen. Wie Schürmann: Rezeption (wie Anm. 63), S. 118 ausführt, wurde erst in Straßburg durch einen ungenannten Mitarbeiter Schürers die Zusammenführung verschiedener Handschriften geleistet. Die Erstpublikation des Titelblattes: Divini Gregorij Nyssae Episcopi ... Libri octo. Straßburg 1512; eine Abbildung des Titelblatts in dieser ursprünglichen Form bei Frank Hieronymus: En Basileia polei tēs Germanias. Griechischer Geist aus Basler Pressen. Basel 1992 (Publikationen der Universitätsbibliothek Basel. Band 15), S. 10 (mit Erläuterungen S. 9): Am oberen wie am unteren Rand hängen zwei in griechischen Schriftzeichen mit Ausschnitten aus dem zweiten Buch der Ilias (24f., 204f.) beschriftete Tafeln. Die einzige Abweichung vom Wortlaut betrifft die letzten beiden Worte des Verses 24 des zweiten Buches (βουληφόρον ἄνδρα), die in der Kasus-Veränderung bei βουληφόρος zum Nominativ sowie in der Veränderung von ἄνδρα/Mann zu ἅναξ/Herr, Führer, Kommandant den Herrscher selber zum Ratgeber macht, der sich keinen Schlaf gönnen solle – und somit die Verse eindeutiger auf Maximilian hindeuten (Für die notwendigen Hinweise danke ich Thomas Poiss). Ebenso auf den alleinherrschenden Kaiser bezogen sind die weiteren Ausschnitte (Ilias, II, 204f.) οὐκ ἀγαθὸν πολυκοιρανίη: εἷς κοίρανος ἔστω, εἷς βασιλεύς. In dieser Erstedition wird durch den einleitenden Brief des Rhenanus an Jacob Faber Stapulensis die Verbindung zu Maximilian und zum gelehrten Wettkampf der Nationen gesichert: Epistulae Beati Rhenani. La Correspondance latine et grecque de Beatus Rhenanus de Sélestat. Edition critique raisonnée, avec traduction et commentaire. Hg. von James Hirstein Band 1. Turnhout 2013 (Studia humanitatis. Band 3), Nr. 34, S. 256-283 (Basel, 1.3.1512). 66 Quintus Curtius: De Rebus Gestis Alexandri Magni ... Cum Annotationibus Des. Erasmi Roterodami. Straßburg 1518. 67 Auf diese Bezugnahme wurde wiederholt hingewiesen; Vgl. insbesondere Schürmann: Rezeption (wie Anm. 63), hier S. 100‒119, insbes. S. 102: Für Maximilian wurde Otto von Freisings Bericht aus den »Gesta Friderici« über Romzug und Kaiserkrönung Friedrichs I. übersetzt; auf dem Konstanzer Reichstag 1507 hielt Maximilian eine Rede, die als imitatio et aemulatio des Staufers angelegt ist (das Referat der von Spalatin erwähnten Rede als Beilage ediert bei Johann Christian Gotthold Neude-



Gegenwärtige Vergangenheiten 

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Zu den unauffälligeren Merkmalen, die dazu beitragen, den edierten Text in den Rang eines antiken Referenzwerks zu heben, mag man die Schrifttype der Antiqua zählen, die von den Humanisten in der Regel für ihre gelehrten Werke gewählt wird. Auffälliger ist die Ergänzung des Quellentextes durch eine Biographie des Autors, wie es bei Editionen antiker Autoren üblich war – siehe dazu die oben erwähnte Caesar-Übersetzung des Matthias Ringmann. Zugleich aber wird Otto von Freisings Werk anders als eine wissenschaftliche Edition antiker Autoren (wie z. B. die nahe verwandten Ausgaben des Quintus Curtius oder der Werke des Gregor von Nyssa) ohne Scholien ediert und in einem entscheidenden Moment fortgeschrieben: Die Kaiser-Papst-Reihe am Ende des siebten Buches der Chronik endet erst bei Maximilian, danach folgt das apokalyptische achte Buch. Durch die solcherart fortgeführte Herrscherfolge wird die zeitliche Distanz verringert: Otto wird zum gegenwärtigen Schriftsteller – zugleich aber im Rang eines antiken. Ebenso werden im Zusammenspiel der unterschiedlichen Publikationen und der unterschiedlichen Elemente der Werkausgabe die kulturellen Identitäten von Maximilian und Cuspinian beeinflusst: Der gegenwärtige Kaiser wird mit dem Kaiser aus dem historiographischen Text in eins gesetzt, der Autor von damals mit dem Editor von heute, der als Historiograph des Wiener Fürstentags (und mit seiner «Austria» und den «Caesares») eine panegyrische Geschichtsschreibung mit humanistischer Methode verfasst hat und in Benedikt Chelidonius mit seinem Epos über Maximilian und dem in Otto von Freisings Chronik inserierten Preisgedicht seinen Gunther und seinen «Ligurinus» mitbringt.

III.2 Räumliche Einheit Eine räumliche Einheit ist als Text-Bild-Kombination offenbar am schwierigsten darzustellen, wenn nicht das oben angeführte spezialisierte Medium der Kartographie herangezogen werden soll. Auf struktureller Ebene fangen humanistische Geschichtswerke dies durch das Einbetten von Landesbeschreibungen in ihre Nationalgeschichten auf: Sie garantieren eine räumliche Einheit bei temporaler Differenz.68 Dies schlägt sich auch in den ostentativ benannten Verfahren nieder. Immer wieder wird die Autopsie hervorgehoben, wie in der oben genannten Formulierung des Leodius: Sie hilft heute zu sehen, was früher gewesen ist, trotz der Veränderung der Namen. Umgekehrt wird eine Gleichheit von Ortsnamen in besonderer Weise herausgestrichen, um nicht nur eine Siedlungskontinuität und ethnische Identität, sondern auch ihre damit zu verbindenden Tugenden über die Zeitläufte hin zu behaupten. Marian Rothstein hat dieses Verfahren bei Jean Lemaire de Belges (um 1473–nach 1515) und cker und Ludwig Preller (Hgg.): Georg Spalatin’s historischer Nachlaß und Briefe. I. Das Leben und die Zeitgeschichte Friedrichs des Weisen. Jena 1851, 204–220). 68 Vgl. hierzu Schirrmeister: Landesbeschreibungen (wie Anm. 20), passim, bes. S. 15–21.

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seinen «Illustrations de Gaule» untersucht: Francus als Namensgeber verbindet auch in seiner Gegenwart das deutsche Frankenland und das Königreich Frankreich: „Again and again Lemaire calls on the truth carried in topographical onomastics to prove that ‚les deux France, orientale et occidentale,‘ were, are, and will be forever intricately intertwined. The Illustrations offer the bright promise of that land’s rebirth in glory once its real political situation is again in harmony with its origins.“69 Die Erwähnung antiker oder einfach alter Überreste in historiographischen Darstellungen dient dem gleichen Zweck: Die Zugehörigkeit zum Römischen Reich zu belegen und die Dignität der beschriebenen Einheit hervorzuheben.70 Martin Ott hat wiederholt darauf hingewiesen, dass auch die Inschriftensammlungen bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts nicht die antiquarische Genauigkeit ihrer Abbildungen, sondern vielmehr die Genauigkeit ihrer räumlichen Anordnung in den Vordergrund stellen.71 Sie bilden damit gewissermaßen ein eigenes, antiquarisches Genre der Geschichtsschreibung aus, das sich mit der narrativen Historiographie allerdings nach Otts Urteil erst spät vereinigt hat. Weniger zum Druck gelangt als monarchische oder großräumiger angelegte historiographische Werke in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts lokale Geschichtsschreibung – dies gilt nicht nur für Ortschroniken, sondern gleichfalls für Klostergeschichten. Gerade hier ist aber das Bedürfnis, eine über die Zeiten bestehende Identität des beschriebenen Gegenstandes räumlich herzustellen, größer als in den anderen Fällen, da sich kaum eine genealogische Kontinuität konstruieren lässt. Für solche Geschichtsschreibung hat Rudolf Gamper vor einiger Zeit aus eidgenössischen Beispielen eine Gruppe von Handschriften als „repräsentative Chronikreinschriften“ konstituiert, die sich durch ihre elaborierte Textorganisation und das hiermit in Verbindung stehende prächtige Erscheinungsbild auszeichnen.72 Eine solche Chronik, 69 Marian Rothstein: Etymology, Genealogy, and the Immutability of Origins. Renaissance Quarterly 43 (1990), S. 332–347, hier S. 339: „As a person’s genealogy marks the truth of a person, so by extension do place names conserve in potentia the vigor of their origins, understood as the moment of their discovery or founding. This is implicit in Lemaire’s project, the Illustrations, built on the conviction that the ideal constitution of the political entity, Gaul, will recapitulate its original geography. Francus, the best-known of the Trojan diaspora in Europe, marked much of it with his name.“ 70 Vgl. zu einem Beispiel aus einem aktuellen politischen Text des Johannes Cuspinian: Schirrmeister: Landesbeschreibungen (wie Anm. 20), S. 12. 71 Zuletzt: Martin Ott: Gelehrte Topographie im Geist des Altertums.  Antike Inschriften und die Erfassung des Raumes in der Zeit der Renaissance. In: Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung. Hgg. von Johannes Helmrath u. a. Berlin 2009 (Transformationen der Antike. Band 11), S. 139–166. 72 Rudolf Gamper: Repräsentative Chronikreinschriften in der Reformationszeit. In: Aegidius Tschudi und seine Zeit. Hgg. von Katharina Koller-Weiss und Christian Sieber. Basel 2002, S. 269–286, hier S. 270: „Das Erscheinungsbild der repräsentativen Chronikreinschriften ist gekennzeichnet durch grosse Formate, massive Einbände und Illustrationen. Zur Textorganisation gehört das Titelblatt mit Nennung des Autors und Werktitel, die Unterteilung des Textes in ‚Bücher‘, die durch Überschriften in Auszeichnungsschrift eingeleitet und teilweise durch Seitenüberschriften (le-



Gegenwärtige Vergangenheiten 

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die wegen ihres begrenzten Adressatenkreises lediglich als Handschrift verbreitet wurde, gar nicht für den Druck vorgesehen war und deren bildlichen Elemente in genauer Weise als Abbild ihrer historischen Aussage konzipiert sind, ist Vadians 1544– 1546 verfasste sogenannte «kleinere Chronik der Äbte von St. Gallen» in ihrer 1549 unter Beteiligung Vadians von Wolfgang Fechter angefertigten Reinschrift.73 Joachim Vadian schreibt in diesem in drei Teile geordneten Werk weniger als humanistischer Gelehrter, sondern mehr noch als Bürgermeister und zum Lob seiner Heimatstadt, der sich selbstbewusst auf dem Titelblatt ein Portrait (immerhin als humanistischer poeta laureatus) in den Zwickel der Gewölbedarstellung hat setzen lassen.74 Nach einer Darstellung zum Heiligen Gallus und dem zweiten Teil, der die eigentliche kleinere Chronik der Äbte enthält, folgt im dritten Teil eine Darstellung zu St.  Gallen («Von anfang, gelegenheit, regiment, und handlung der weyterkandten frommen statt zu Sant Gallen»75), auf deren Titelblatt es mir ankommt. Im Zentrum des Geschichtswerks steht der Konflikt zwischen Kloster und Stadt St.  Gallen.76 Der Rang der Stadt als Reichsstadt wird in der Narration gegenüber der klösterlichen Herrschaft und ihren Zumutungen von Beginn an hervorgehoben, wie sich St. Gallen aus der Vormacht der Äbte befreite, beherrscht die Darstellung77 und findet seinen Wiederhall im Titelbild (Abb. 3). Das dreiteilig aufgebaute Bild bende Kolumnentitel) bezeichnet sind. Der Texterschliessung dienen ein Personen- und Sachregister oder ein Inhaltsverzeichnis. Mit den Illustrationen (eingeklebte Holzschnitte oder kolorierte Federzeichnungen) werden die erzählten Geschichten nicht nur veranschaulicht, der Text wird auch optisch gegliedert. Das Erscheinungsbild, die Textorganisation und die Texterschliessung der repräsentativen Chronikreinschriften sowie die Verwendung von Illustrationen orientieren sich an damaligen Drucken von Werken mit wissenschaftlichem Anspruch.“ 73 Die Handschrift liegt im Stadtarchiv St. Gallen, Signatur: 677a; zur Handschrift vgl. Gamper: Chronikreinschriften (wie Anm. 71), S. 281–283. Die unverzichtbare Neuedition konnte für diesen Aufsatz noch nicht herangezogen werden: Joachim von Watt (Vadian): Die Kleinere Chronik der Äbte. Abtei und Stadt St. Gallen von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit (719–1532) aus reformatorischer Sicht. Bearb. und hg. von Bernhard Stettler. Zürich 2013 (St. Galler Kultur und Geschichte. Band 37). 74 Abbildung bei Gamper: Chronikreinschriften (wie Anm. 71), Tafel XI, allerdings seitenverkehrt. 75 Edition nach dem Autograph: Ernst Gerhard Rüsch: Vadians Schriften über die Stadt St. Gallen und über den obern Bodensee. Schrr VG Bodensee 117 (1999), S. 99–155. 76 Vgl. zur Darstellung des Konflikts, immer mit Bezug auf Vadians Darstellung: Werner Näf: Vadian und seine Stadt St. Gallen. Erster Band: Bis 1518. Humanist in Wien. St. Gallen 1944, S. 17–81, S. 90–108. 77 Zur Intention der Schrift, insbesondere des dort edierten dritten Teils vgl. Rüsch: Schriften (wie Anm. 74), hier S. 100: „Die Schrift ist keine neutrale Schilderung, sondern ein Empfehlungsschreiben, eine Lobschrift. Das tut ihrem hohen Reiz keinen Abbruch, ist doch daraus die leidenschaftliche Anteilnahme des Bürgermeisters am Wesen und Leben der Stadt, die im wahren Sinn des Wortes seine Stadt geworden ist, zu erspüren. Die längeren Abschnitte über das Lehenrecht und über die ‚Gerechtigkeiten‘ der Stadt innerhalb des Klosterbezirks waren angesichts der stets in ihrer mühsam errungenen Freiheit bedrohten und angefochtenen Stadt notwendig und von praktischer Bedeutung. Daß Vadian dabei die Linien der Entwicklung da und dort etwas verkürzt und verzeichnet und einiges überbewertet hat, liegt in der Natur einer Schrift, die zu Lob und Verteidigung verfaßt worden ist.“

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Abb. 3: Joachim Vadian: «Kleinere Chronik der Äbte von St. Gallen», Reinschrift Stadtarchiv St. Gallen, Signatur: 677a, S. 431: Vorsatzblatt zu «Von anfang, gelegenheit, regiment, und handlung der weyterkandten frommen statt zu Sant Gallen».



Gegenwärtige Vergangenheiten 

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zeigt unten einen liegenden Bären, der für den Ursprung der Stadt steht: der Heilige Gallus sei von einem Bären versorgt worden, heißt es in der Ursprungssage; in der Mitte in einem Schmuckrahmen die Silhouette der gegenwärtigen Stadt: dieser eingeklebte kolorierte Holzschnitt stammt aus der großen Eidgenössischen Chronik von Johannes Stumpf (1547–1548); darüber steht der Doppeladler für das Reich. Mit diesem Blatt wird die Aussage des ersten Titelblattes, das die Wappen St.  Gallens, Doppeladler und Reichskrone zeigt, aufgenommen und durch eine zeitliche Dimension erweitert: Die politische Identität der Stadt wird in der Bindung ans Reich und in der Dauerhaftigkeit ihrer Existenz vorgestellt. Wenn Gamper hervorhebt, dass die Chronikreinschriften sich in ihrer Gestaltung an gelehrten Büchern orientieren, so trifft dies zwar teilweise zu. Doch hinzu kommt für Vadians Reinschrift, dass sie die Gestaltungsmöglichkeiten einer Handschrift klug zu nutzen weiß, indem sie mit der Einklebung von Holzschnitten individualisiertere Gestaltungselemente nutzen kann als eine gedruckte gelehrte Geschichtsschreibung, deren Kosten ansonsten zu sehr in die Höhe getrieben würden.78 Erleichtert wird diese reiche Gestaltung durch das für gelehrte Historiographie eher ungewöhnliche Format: Das sogenannte Regalformat (Großfolio), bei dem der Buchblock 43 x 28,5 cm misst, ist deutlich größer als das jeder anderen hier behandelten gedruckten Publikation. Caspar Peucers 1583 im Gefängnis verfasstes und 1594 gedrucktes Gedicht «Idyllium Patria»79 zeigt hingegen, dass die Einschränkungen, die für historiographische Drucke in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gelten, am Ende des Jahrhunderts weniger Bedeutung haben: Es ist immerhin eine lokalgeschichtliche Publikation, die auch heute noch in einer nicht zu geringen Zahl in den Bibliotheken vertreten ist. Zwar ist das Format und insgesamt die äußere Gestalt des Druckes im Vergleich zu der allerdings auch mit offiziellem städtischem Rang geadelten handschriftlichen Chronik Vadians bescheiden gehalten, doch ist das Titelverso programmatisch mit einem Holzschnitt des Bautzener Stadtwappens in einer stark geschmückten Fassung mit einem Spangenhelm gestaltet. Das Wappen nimmt Caspar Peucer als Ansatzpunkt für sein historisch-panegyrisches Gedicht. Er deutet die einzelnen Bestandteile des Wappens, besonders die goldene Mauer und die blaue Farbe, als Verbindungselemente zu einer würdigen Vorzeit: Dass Bautzen heute dieses „altehrwürdige Wappen“ trägt, verbürgt die Identität der alten Stadt mit der gegenwärtigen. Es sind Verdienste, 78 Die Handschriften folgen damit einem die Möglichkeiten von Druck und Handschrift kombinierenden Gestaltungsmuster, wie es in jüngerer Zeit umfassend für die Inkunabelzeit und die klösterliche Kultur rekonstruiert worden ist: Peter Schmidt: Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Köln u. a. 2003 (Pictura et poesis. Band 16). 79 Biographisches zu Caspar Peucer: Günther Wartenberg: Caspar Peucer ‒ ein Humanist und Universalgelehrter im konfessionellen Zeitalter. In: Caspar Peucer (1525–1602). Wissenschaft, Glaube und Politik im konfessionellen Zeitalter. Hgg. von Hans-Peter Hasse und Günther Wartenberg. Leipzig 2004, S. 19–32; im selben Band zum «Idyllium patria»: Rainer Kössling: »Idyllium Patria« — Caspar Peucers Lobgedicht auf die Oberlausitz, S. 299–318; Edition mit Wiedergabe des Erstdrucks und Übersetzung von Rainer Kössling. Stadtmuseum Bautzen. Jahresschrift 7 (2001).

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die die Stadt „vor Zeiten“ erworben hat, als deren dauerhaftes Zeichen das Wappen gilt. Auch in der Widmung setzt sich die enge Verbindung der Vergangenheit mit der Gegenwart fort. Peucer nimmt bei aller Kunstlosigkeit der Verse für sich in Anspruch, „tief in die Zeit zu dringen“, wahrheitsgemäß zu berichten und damit den wenigen Altertümern zu ihrem Recht zu verhelfen: Haec patria memoro tenui quae carmine gesta / altius historica sed repetita fide; Peucer kann zwar wenig berichten, doch manches Denkmal weise dennoch aufs Alter hin.80

III.3 Charakterliche Einheit In der sprachlichen Ausdeutung wird das Wappen der Stadt Bautzen dann zum Zeichen einer charakterlichen Identität der alten Stadt mit der gegenwärtigen. Die Form des Textes als Gedicht ermöglicht einen weiteren Schritt: In einer Personifikation wird die Stadt selber zum Subjekt gemacht, zur Trägerin der Eigenschaften ihrer Bürger. Sie ist es, die sich den Wappenschmuck verdient hat, in ihrer Tapferkeit im Dienst des christlichen Reiches gegen die heidnische sarmatische Schar, wie Peucer im Epigramm auf das Wappen schreibt. Die Stadt ist schon vor Zeiten begnadet von Christus, der alte Ruhm wird mit dem Wunsch verbunden, auch in der Gegenwart durch Gottes Hilfe eine städtische Regierung zu finden, die dem Recht und dem Frieden und der Liebe zur patria verpflichtet ist. Die räumliche Einheit der Stadt wird in der Dichtung zur Verpflichtung einer charakterlichen Einheit, die die zeitliche Distanz überdauert. In der Präsentation des Druckes ist das Zeichen hierfür das „altehrwürdige Wappen“. Wappen eignen sich dafür, sowohl räumlich als auch personal eine Identität zu behaupten, da sie als Insignien nicht nur für Individuen oder Familien, sondern auch für politische Herrschaftseinheiten fundamentale Relevanz besaßen. Historiographische Publikationen sind die quasi-natürlichen Orte, um die genealogischen Bedeutungen von Wappen hervorzuheben und – wenn auch nicht immer so explizit wie bei Peucer, so doch implizit die „Altehrwürdigkeit“ von Wappen zu belegen. Die hier untersuchten historiographischen Publikationen verwenden deshalb auch immer wieder Wappen, um eine Identitätsbehauptung ihrer Darstellung zu stützen. Dies gilt schon für die «Carta marina» des Olaus Magnus, auf der an prominentester Stelle und mit ausführlichem Kommentar die schwedischen Wappen und ihre geschichtliche Entwicklung behandelt werden. Das gilt ebenso für das Titelblatt der französischen Geschichte Robert Gaguins: Im Zentrum stehen der Heilige Dionysius, der seinen Kopf unter dem Arm bis zum dadurch als auserwählten Ort gekennzeichneten späteren Platz der königlichen Abtei St. Denis getragen hat und neben ihm der zweite Heilige des französischen 80 Caspar Peucer: Idyllium Patria: fol. A iiv: Ad ordines amplissimos superioris Lusatiae. Die Übersetzung von Kößling: „Diese Geschichte der Lausitz, die ich in kunstlosen Versen schildere, tief in die Zeit dringend, doch wahrheitsgemäß.“



Gegenwärtige Vergangenheiten 

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Königtums, der Heilige Remigius. Umrandet werden diese beiden Figuren, die für das Königreich stehen, mit den Wappenbildern der französischen Regionen und Orte, die gemeinsam das Königreich bilden.81 Werden hier die Abbildungen auf das nationale Königtum bezogen, so sind die zahlreichen Wappen auf dem Titelblatt der Werke Otto von Freisings Zeichen der besonderen Würde der habsburgischen Familie (unter Karl: Burgunds Wappen seitenverkehrt). In Alain Boucharts häufiger Verwendung des Wappens wird die Identitätsbehauptung der ältesten mit der gegenwärtigen Bretagne manifest, insbesondere da er erstens die Wappenveränderungen in der Erzählung benennt und da zweitens im kolorierten Exemplar für Claude de France ihre individuelle Variante des bretonischen Wappens gezielt eingesetzt wird. Verwendungen in dieser Art ergänzen Bilder in Drucken, wie sie nicht nur bei Alain Bouchart, sondern sowohl in Robert Gaguins französischer Geschichte als auch in seiner Caesar-Übersetzung gefunden werden können. Exemplarisch genannt sei hier Robert Gaguins Caesar-Übersetzung mit einem Schlachtenbild, das den römischen Caesar als mittelalterlichen Feldherrn zeigt: Die antike Vergangenheit ist indifferent zur Gegenwart. Wie Gaguin in der Vorrede an den französischen König Karl VIII. schreibt, könne er aus Caesars Beschreibungen die Sitten und Lebensweisen seiner Völker, wie sie sie von Anfang an hatten und immer noch haben, kennenlernen; Caesar zu lesen könne ihm helfen, sie nach ihrer natürlichen Veranlagung und alter Sitte, die sich nur durch Zwang oder Gewalt und nicht ohne großen Lärm und Schaden ändern ließen, zu regieren.82 Die Gallier zu Caesars Zeiten sind identisch mit dem Volk des französischen Königs. Als gegenwartsorientierte Vergangenheitsdarstellungen im Sinne von Hans Werner Goetz vermitteln die historiographischen Publikationen ihre je spezifischen Identitätskonstruktionen, nicht um „das Vergangene in seiner jeweiligen Besonderheit zu würdigen, es erhöhte aber den Aussagewert der Geschichte in bezug auf die

81 Gaguin: Compendium (wie Anm. 32): Abgebildet sind (von links oben bis rechts unten) folgende beschriftete Wappen: Reims, Langres, Laon, Beauvais, Chalon, Noyon, Bourgogne, Normandie, Guyenne, Champaigne, Toulose, Flandres. In der Mitte zwischen den beiden Heiligen steht ein Wappenbaum mit dem gekrönten Lilienwappen, die Unterschrift lautet: Haec sunt francorum celebranda insignia regum quae demissa polo sustinet alma fides. 82 Robert Gaguin: Les commentaires de Jules Cesar. Paris 1485, Vorwort an König Karl VIII., fol. a iiv–a iiir: et par ce il vous apperra quelles condicions, quelles meurs et quelle conduite, quelle puissance, quelle force et quelle maniere de vivre chascune gent estant soubz vostre gouvernement et seigneurerie auoient des lors et comment encores ilz retreuvent auscunes choses de ce temps la, et ce vous peut beaucoup prouffiter a conduire et gouverner chascune nacion selon linclinacion naturelle et coustume ancienne laquelle ne se peut changier par rigueur ou violence sans grant bruit et dommaige et quant a ce qui touche les faiz de cheuallerie et de guerre vous cognoistrez en ce liure le conseil et meure deliberacion quon doit avoir avant quon commence discord ne guerre et comment on ne doit estre legier ne soudain a croire mauvaiz raportz ne a entreprendre grans et perilleux affaires telz comme sont guerres par lesquelles lestat des princes et de toutes communautes et choses publicques est souuent enuerse perdu et deffait. Et pour ce que en lisant vous apperceuerez quelle utilite ce liure vous pourra faire.

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eigene Zeit.“83 Als Bedingung, um exempla aus der Geschichte ziehen zu können ist eine gewisse andauernde „Gleichheit“ von Handlungsbedingungen notwendig. Gaguin führt dies in seiner Vorrede aus und die typologische Verwendung von Abbildungen und Wappen in den Historiographien suggeriert sie.84 Diese Art der Geschichtswahrnehmung zeigt sich auch in den unscheinbaren Listen, die in den Drucken von Meyere und Leodius für die verwendeten Autoren, wichtiger aber auch in den Herrscherlisten, die bei Robert Gaguin und Alain Bouchart abgedruckt sind. Sie unterstützen die identifikatorische Anlage von Boucharts Geschichtsschreibung, die, wie Laurence Moal herausgearbeitet hat, durch eine Alteritätskonstruktion der Erzählung hergestellt wird.85 Gemeint ist aber keine historische, sondern eine geographische Alterität, die einer historischen Kontinuität entgegengestellt wird: Boucharts Wunsch, eine ethnische Kontinuität darzustellen, führe dazu, dass die Bretonen des Festlands von den Bretonen der Britischen Inseln unterschieden werden müssen.86 Für die Identitätskonstruktion der Geschichtsschreibung sind deshalb die Markierungen von Zäsuren ebenso wichtig wie die Anfänge, die die Bretonen an einem Ur-Anfang zeigen.87 Denn über die Zäsuren 83 Hans-Werner Goetz: Die Gegenwart der Vergangenheit im früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein. HZ 255 (1992), S. 61–97, hier S. 82; vgl. auch S. 78 „trotz historischen Sinns, den Charakter einer gewissen Zeitentrücktheit, nämlich einer mangelnden Sensibilität für epochen- und situationsspezifische Bedingungen“. 84 Goetz fasst dies für die Geschichtswahrnehmung des Mittelalters insgesamt zusammen: HansWerner Goetz: Vergangenheit und Gegenwart. Mittelalterliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster am Beispiel der Vorstellungen der Zeiten in der früh- und hochmittelalterlichen Historiographie. In: Zwischen Wort und Bild. Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter. Hgg. von Hartmut Bleumer u. a. Köln u. a. 2010, S. 157–202, hier S. 199f: „Etwas konnte vergehen und entstehen, vergessen oder erneuert werden, aber es war nicht von grundauf anders(artig) und konnte daher ohne weiteres mit gegenwärtigen Zuständen verglichen und nach denselben Kriterien bemessen werden.“ Vgl. auch S. 174: „Sind praeteritus und antiquus, aber auch olim und tunc somit zunächst auf einen – viel oder auch nur wenig – früheren (allerdings oft andauernden) Zustand gerichtet, so schafft die häufige Gegenüberstellung von ‚Damals‘ und ,Jetzt‘ jeweils eine mehr oder weniger klare Abgrenzung beider Zeiten, die in jedem Einzelfall eine zeitliche Einordnung erlaubt, im Gesamtvergleich allerdings ebensowenig zu einem eindeutigen Ergebnis führt: Es gibt keine feste Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit.“ und ebd. S. 197: „Man wird ebenso feststellen können, daß über der chronologischen Erzählung (...) eine Abgrenzung der Vergangenheit von der Gegenwart begrifflich und in der Vorstellung vorhanden, eine klare zeitliche (und nur ansatzweise auch eine inhaltliche) Scheidung jedoch weder intendiert war noch notwendig erschien und letztlich auch gar nicht möglich war.“. 85 Laurence Moal: Les peuples étrangers dans les chroniques bretonnes à la fin du Moyen Âge. RH 131 (2009), S. 499–528, hier S. 500: „La quête identitaire ne va pourtant pas de soi et se fonde en partie sur la conscience de l’altérité. Si leur mission première consiste à glorifier le duché et les Bretons, les chroniqueurs s’efforcent aussi d’établir une distinction avec les autres nations mais l’entreprise n’est pas aisée.“ 86 Moal: Les peuples (wie Anm. 84), S. 511: „Le désir de continuité ethnique revendique jusque-là entre les Bretons armoricains et insulaires n’est plus possible, un même nom ne pouvant pas être porté dans deux territoires.“ 87 Moal: Les peuples (wie Anm. 84), S. 527: „Les Bretons doivent en fait apparaitre comme les premiers arrivés en Gaule, les premiers convertis et les premiers detenteurs d’une autorité royale.“



Gegenwärtige Vergangenheiten 

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hinaus wird in der Fortführung der Liste eine Kontinuität der Geschichte, eine unauflösbare Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart dargestellt.88 Eine solche starke Beziehung zum historischen Gegenstand wird durch das programmatische Titelblatt der Werke Otto von Freisings ebenfalls ausgestellt. Im Unterschied zu Alain Bouchart aber scheint sich hier eine Differenzierung der Zeiten und eine Konzentration auf das kaiserliche Mittelalter als bevorzugte Referenzkultur durchzusetzen – weshalb auch die homerischen Zitate, die ohne Beeinträchtigung der Anlage des Titelblattes getilgt werden konnten, bei der Edition der Werke Ottos abgeschnitten wurden.89 In der Konzentration auf die Habsburger Wappen und der Löschung der Namen und Titel Karls und Ferdinands wird zusätzlich deutlich, dass mit den Wappen die Identität der Person durch eine historische Dimension verstärkt wird.90 Diesen identifikatorischen und tendenziell bruchlos positiven Vergangenheitsdarstellungen entgegen steht das Titelblatt der Einhard-Edition. Es ist ebenfalls auf die eigene Gegenwart bezogen, doch zeigt es einen völlig anderen Umgang mit der Referenzkultur. Es sind lediglich zwei Elemente, die Zusammenhang und Gemeinsamkeit der beschriebenen historischen Person und der die Widmung empfangenden gegenwärtigen Person betonen, nämlich der gemeinsame Name und der kaiserliche Doppeladler. Überbietend und distanzierend hingegen können die weiteren Elemente des Blattes verstanden werden. Das gilt sowohl für die oben ausführlich besprochene Personendarstellung als auch für die weiteren Wappen und ihre Zuordnung. Während auf der Seite des Habsburgers die Wappen Österreichs und Aragon-Kastilien stehen, werden Karl dem Großen die französischen Lilien und zugleich die älteren Kröten zugedacht, die als pagane Symbole angeblich nur Verwendung bis zur Taufe Chlodwigs gefunden hatten.91 88 Vgl. hierzu wiederum Hans-Werner Goetz: Vergangenheit und Gegenwart (wie Anm. 83), hier S. 165: „Nicht minder bedeutsam ist die Vorstellung von Wandel und Zäsuren in der Geschichte, die jedoch konform geht mit der Betonung der Kontinuität und des ständigen Bezugs von Vergangenheit und Gegenwart: Einer ‚Verzeitlichung‘ der Ereignisse entspricht auf der Sinnebene eine ‚Entzeitlichung‘ des Vergangenen.“ 89 Zur Bedeutung des Mittelalters als eigener Referenzepoche für die Memoriakultur um Maximilian und die bedeutende Rolle Peutingers vgl. neben anderen Arbeiten derselben Verfasserin: Uta Goerlitz, „…sine aliquo verborum splendore…“ Zur Genese frühneuzeitlicher Mittelalter-Rezeption im Kontext humanistischer Antike-Transformation. Konrad Peutinger und Kaiser Maximilian I. In: Historiographie des Humanismus. Literarische Verfahren, soziale Praxis, geschichtliche Räume. Hgg. von Johannes Helmrath u. a. Berlin 2012 (Transformationen der Antike. Band 12), S. 85-110. 90 Vgl. dazu Karl Vocelka und Lynne Heller: Die Lebenswelt der Habsburger. Kultur- und Mentalitätsgeschichte einer Familie. Graz 1997, S. 153–157. Valentin Groebner legt besonderen Wert auf die individuelle Verfügbarkeit von Wappen und verkleinert dabei die „herkömmliche“ Bewertung von Wappen. Die Wahl der Wappen aber ist weder so frei, wie dies Groebner suggeriert, noch erschöpft sie sich in einer Darstellung der gegenwärtigen Person. Die Identität und die Dignität der Person werden durch die historische Dimension der Wappen in besonderer Weise gefördert. Vgl. Valentin Groebner: Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters. München 2004, hier S. 32–36. 91 Zur zwiespältigen Symbolik der Kröten, je nach Blick auf die aktuelle französische Monarchie, vgl. Michael Randall: On the Evolution of Toads in the French Renaissance. Renaissance Quarterly

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 Albert Schirrmeister

Statt einer Identitätsbehauptung von vergangener Zeit und eigener Gegenwart wird hier eine Distanzbehauptung aufgestellt, die die Größe Karls  V. als besonderen zivilisatorischen Fortschritt konstruiert und insofern den zeitlichen Abstand des großen Kaisers Karl I. zur eigenen Gegenwart ähnlich wahrnimmt wie Susanna Burghartz es später in der Parallelisierung der Picten zu den amerikanischen Ureinwohnern bei de Bry beobachtet hat: „Indem das ‚damals‘ der Picten und damit der ‚Alten Welt‘ zum ,jetzt‘ der ‚Neuen Welt‘ wird, werden zeitliche und räumliche Distanz zum Äquivalent, Entwicklung wird zum verbindenden Dritten zwischen Vergangenheit und Fremde.“92 Eine solche, Epochen abgrenzende, Art der Präsentation ist allerdings die Ausnahme unter den hier behandelten historiographischen Publikationen und wohl kaum zufällig mit einer Edition eines mittelalterlichen Autors zu verbinden. Offenbar ist für eine identifikatorische Funktion der Historiographie die Darstellung eines möglichst bruchlosen Zusammenhangs von Vergangenheit und Gegenwart naheliegender und hilfreicher als die Konstruktion eines Neuanfangs und einer Alterität, weshalb auch der Gebrauch von media aetas oder media antiquitas bei Vadian und Rhenanus nicht von vorneherein als Terminus technicus für eine abgeschlossene Epoche genommen werden können.93 Die Darstellungsformen unterstützen durchweg die Tendenz der Geschichtsschreibung, Evidenzen und Eindeutigkeiten herzustellen – gegenläufige Argumentationen finden sich in den Ausstattungselementen nicht, unterstützt wird der Anspruch (emphatisch gesprochen), die einzig wahre Geschichte zu sein. Auf Wappen als wichtige identifikatorische Mittel mit historischer Dimension habe ich wiederholt hingewiesen, doch sind die augenfälligsten und auffälligsten Darstellungselemente nicht 57 (2004), S. 126–164, insbesondere S. 143‒146 zu den Deutungsmöglichkeiten für eine positive Einschätzung der Kröten; S. 156‒158 zu den negativen Deutungen im 17. Jahrhundert von den spanischen Niederlanden aus mit Bezug auf die französische Monarchie. Eine ähnliche Wappendarstellung für Karl, die seine französische Herrschaft und das Reich zusammenführt, aber auf die Kröten verzichtet, zeigt ein süddeutsches Wappenbuch aus der Zeit um 1530: BSB Cod.icon. 391, fol 139r für Karl den Großen: Kombination aus goldenen Lilien auf blauem Grund (links) und Doppeladler (rechts), Digitalisat: . 92 Burghartz: Alt, neu oder jung? (wie Anm. 60), S. 198; vgl. auch ebd., S. 196: „Der erste von Theodor de Bry edierte Band enthielt einen kolonialen Werbetext zur aktuellen Lage der neu gegründeten englischen Kolonie Virginia von Thomas Harriot und zweiundzwanzig Kupferstiche zum ‚neugefundenen‘ Land und seinen Einwohnern. Diesen Darstellungen fügte de Bry fünf weitere Kupferstiche nach Vorlagen von White und Le Moine bei und erklärte in einer kleinen Vorrede, es handle sich hier um ‚Contrafeyt der Volcker, genannt Picten‘, die vor Zeiten in England gelebt hätten. Die Parallelisierung zwischen den Bewohnern der ,Neuen Welt‘ und den ursprünglichen Einwohnern der ,Alten‘ – den eigenen Vorfahren und Urahnen fand nicht nur auf der Ebene der Bilder statt, sondern wurde schon einleitend im Text explizit gemacht, wo de Bry erklärte, es gehe ihm darum zu beweisen, daß die Engländer vor Jahren eben so wild gewesen seien ‚als die Virginischen‘.“ 93 Vgl. hierzu knapp und prägnant: Peter Schäffer: The Emergence of the Concept „Medieval“ in Central European Humanism. Sixteenth Century Journal 7 (1976), S. 21–30.



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unbedingt die bedeutsamsten; häufig genug kommt gerade gelehrte Geschichtsschreibung wie die des Leodius, des Beatus Rhenanus oder anderer sogar ohne aufwändige Titelblätter und Bebilderung aus. Je nach Ziel und Publikum und je nach Umfang der Ausstattung erhalten die einzelnen Elemente: Schriften, Indices, Titelblätter, Bebilderung und anderes unterschiedliche Bedeutung. Eine historische Dimension kann dann auch ein kaiserliches Druckprivileg erhalten, zumal wenn es als eines der wenigen paratextuellen Elemente besondere Aufmerksamkeit erlangen kann. Kaiserliche Druckprivilegien sollen zunächst dem Drucker und Verleger besondere Sicherheit vor Nachdruck und dem gedruckten Text eine kaiserliche Autorität verleihen, sie haben also politische, juristische und ökonomische Bedeutung. Sie sind als Privilegien Ausdruck kaiserlichen, herrschaftlichen Willens. Dies gilt genauso auch für das Privileg für den Druck des «Compendium chronicorum Flandriae» von Jacques de Meyere 1538 in Nürnberg. Gerade hier aber lässt eine Formulierung über die Druckbedingungen aufhorchen: Nous luy octroyons qu’il pourra faire imprimer son dit ouvraige et livres des histoires et croniques de Flandres ... pourveu toutefoys que ledit suppliant en faisant faire ladite impression ensuivra les corrections et changements faitz audit livre par lesdits de nostre conseil en Flandres, et qu’il y obmettra linsertion des previleges daucunes villes et communautés particulieres, dont audit volume est faicte mention.94 Hier werden das Strittige der Vergangenheitsdeutung, die Brüchigkeit der Evidenz und eine alternative Identifikation zugleich abgewiesen und dennoch sichtbar gehalten. Gegen die Eigenständigkeit der flämischen Städte wird die Geschichtsdeutung autoritär festgeschrieben und dennoch durch den Druck die alternative Möglichkeit präsentiert. Pointiert und zum Abschluss wird damit die politische Bedeutung von Geschichtsschreibung ob lokal, regional oder national und ihren Kontinuitätskonstruktionen noch einmal offengelegt. Deshalb heißt es eben nicht nur bei Bouchart, dass eine Chronik nur derjenige schreiben darf, der dazu beauftragt ist, so wie er es von Anne ist.95 Da gelehrte Geschichtsschreibung in den Auseinandersetzungen um politische Herrschaft zwischen den verschiedenen Herrschaftsträgern genutzt wird96, ist nicht der Autor des Textes allein der Herrscher über die Gestalt des Buches und ist die Präsentationsform eminenter Teil einer Identitätskonstruktion, die die Vergangenheit als Teil der eigenen Gegenwart versteht.

94 Meyere: Compendium (wie Anm. 18), fol. aa 1v–aa 2r. 95 Siehe Anm. 11. 96 Eine Fallstudie zu einem ähnlich gelagerten Fall im späteren 16. Jahrhundert: Arno Strohmeyer: Propaganda durch Geschichte? Die Verbreitung des Geschichtsbildes der Stände in den innerösterreichischen Ländern im Zeitalter der Konfessionalisierung. In: Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert). Hg. von Karel Hruza. Wien 2002 (DenkschrWien. Band 307. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters. Band 6), S. 255–272, hier S. 270: „in der Stabilisierung bzw. im Ausbau der konstitutionellen und konfessionellen Ideologie der Landschaften, die in Opposition zum wachsenden landesfürstlichen Zentralismus stand und dazu diente, die verfassungsmäßige Stellung der Stände – ihre politische Partizipation – zu untermauern.“

Henrike Manuwald

Mediale Inszenierungen von Geschichtsmodellen in den Codices picturati des «Sachsenspiegels» Des heiligen geistes minne, die sterke mine sinne. Dat ik recht unde unrecht der sassen besceide nach godes hulden unde na der werlde vromen.1 Dieser erste Satz des Prologus des «Sachsenspiegels» stellt nicht nur das Vorhaben des Verfassers vor, Recht und Unrecht zu erklären, sondern es wird (in den meisten Handschriften) mit den Sachsen auch eine bestimmte Bezugsgruppe benannt.2 Deren aktuelle Rechtsgewohnheiten, so vermitteln es die verschiedenen Vers- und Prosavorreden3 in einer synchronen Perspektive, seien in dem Werk aufgezeichnet.4 In der 1 Das Landrecht [im Folgenden Ldr.] des «Sachsenspiegels» wird zitiert nach: Des Sachsenspiegels erster Theil oder das sächsische Landrecht. Nach der Berliner Handschrift vom Jahre 1369. Hg. von Carl Gustav Homeyer, 3., umgearb. Ausg. Berlin 1861. Diese Ausgabe wird hier zugrunde gelegt, weil die neuere Ausgabe von Karl August Eckhardt (Sachsenspiegel Landrecht. 3., durchg. Ausg. Göttingen u. a. 1973 [MGH. Fontes Iuris Germanici Antiqui, Nova Series. Band 1,1–2]) als Referenzausgabe problematisch ist. Vgl. dazu Ruth Schmidt-Wiegand: Der Sachsenspiegel. Überlieferungs- und Editionsprobleme. In: Der Sachsenspiegel als Buch. Hgg. von Ders. und Dagmar Hüpper. Frankfurt a. M. u. a. 1991 (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte. Band 1), S. 19–56, hier S. 19f., 38–50. Angesichts der komplexen Textgeschichte des «Sachsenspiegels» kann auch Homeyers Ausgabe, die einen Text der Vulgatfassung bietet, nur einen Behelf darstellen. Zur Textentwicklung vgl. Ulrich-Dieter Oppitz: Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters, 3 Bd.e. Köln/Wien 1990–1992, Bd. 1, S. 21–30; Hiram Kümper: Sachsenrecht. Studien zur Geschichte des sächsischen Landrechts in Mittelalter und früher Neuzeit. Berlin 2009 (Schriften zur Rechtsgeschichte. Heft 142), S. 134–165. 2 Vgl. auch die sassen (Vorrede in Reimpaaren, V. 97). Gerichtet war das Werk aber offenbar an alle Leute im ‚Land Sachsen‘; das lässt sich aus den gesonderten Regelungen für Schwaben, Thüringer und Wenden im «Sachsenspiegel» selbst erschließen, die gleichzeitig belegen, dass sich das Territorialitätsprinzip noch nicht durchgesetzt hatte. – Zu dem Befund in den Handschriften vgl. Anm. 108. 3 Die Vorrede von der herren geburt stammt vermutlich ebenso wenig von Eike von Repgow wie die Vorrede in Strophen; die Vorrede in Reimpaaren und die Prosavorreden gelten als authentisch. Vgl. dazu Rolf Lieberwirth: Die Sachsenspiegelvorrede von der herren geburt. In: Schmidt-Wiegand und Hüpper (Hgg.): Sachsenspiegel (wie Anm. 1), S. 1–18, wieder abgedruckt in: Ders.: Rechtshistorische Schriften. Hg. von Heiner Lück. Weimar u. a. 1997, S. 491–503; Alexander Ignor: Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow. Paderborn u. a. 1984 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F. Heft 42), S. 66. 4 Inwieweit sich der «Sachsenspiegel» auf die orale Rechtskultur und inwieweit auf schriftliche Quellen stützt, ist umstritten. Vgl. zur Forschungsdiskussion u.a. Christa Bertelsmeier-Kierst: Kommunikation und Herrschaft. Zum volkssprachlichen Verschriftlichungsprozeß des Rechts im 13. Jahrhundert. Stuttgart 2008 (ZfdA Beihefte. Band 9), S. 86–94; Bernd Kannowski: Die Rechtsgrundlagen von Königtum und Herrschaft in der Gegenüberstellung von «Sachsenspiegel» und «Buch’scher Glosse». In: Die Anfänge des öffentlichen Rechts. Bd. 3: Auf dem Wege zur Etablierung des öffentlichen Rechts zwischen Mittelalter und Moderne. Hgg. von Gerhard Dilcher und Diego Quaglioni. Bologna/ Berlin 2011 (Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Beiträge. Band 25),



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Vorrede in Reimpaaren war aber bereits eine vertikale Zeitachse eingeführt worden, insofern zur Legitimation des Verschriftlichungsprozesses betont wird, dass das Recht von alters her von ‚unseren guten Vorfahren‘ überliefert sei.5 Im Prologus leitet das Autor-Ich außerdem mit dem Satz Got is selve recht6 systematisch die Notwendigkeit des rechtmäßigen Verhaltens von Gott ab. Im Textus Prologi wird anschließend das Rechtssystem historisch verortet, indem die gesamte Heilsgeschichte skizziert wird: Got, die dar is begin unde ende aller dinge, de makede to irst hemel unde erde, unde makede den minschen binnen ertrike, unde satte ine in dat paradies; die gebrak den gehorsam uns allen to scaden. Dar umme ginge wie irre alse de hirdelosen schape bit an die thied, dat he uns irloste mit siner matere. Nu aver we bekart sin unde uns got weder geladet hevet, nu halde we sine e unde sin gebot, dat sine wiessagen uns geleret hebbet unde geistlike gude lüde, unde ok kerstene koninge gesat hebbet: Constantin unde karl, an den sassen land noch sines rechten tiüt.

Der Rückgriff auf einen auf dem Bibelgeschehen basierenden Ablauf der Vergangenheit dient zur Erklärung der Existenz einer allgemeinen christlichen Rechtsordnung. Zugleich werden Gruppenidentitäten geschaffen: das Wir der Christen, wie es die Heilsgeschichte konstituiert, und die (darin enthaltene) Gruppe der Sachsen, deren Recht, das in der – allerdings nicht in alle Handschriften übernommenen – Vorrede in Reimpaaren bereits durch Rekurs auf die Vorfahren legitimiert ist, zusätzlich auf Karl zurückgeführt wird.7

S. 89–110, hier S. 96–99. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist der topische Charakter insbesondere der Vorrede in Reimpaaren unverkennbar; das bedeutet aber nicht, dass die darin getroffenen inhaltlichen Aussagen bloße Floskeln sein müssen. – Zu den Quellen des «Sachsenspiegels» vgl. jetzt auch Bernd Kannowski: Wieviel Gelehrtes Recht steckt im Sachsenspiegel und war Eike von Repgow ein Kanonist? Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 99 (2013) S. 382–397 (mit einer deutlichen Stellungnahme für den hohen Stellenwert der oralen Tradition). Dieser Beitrag konnte hier nicht mehr berücksichtigt werden. 5 Diz recht ne han ich selve nicht underdacht; / iz haben von aldere an unsich gebracht / Unse gute vore varen (V. 151–153). 6 Zur Interpretation dieses Satzes vgl. Ignor: Rechtsdenken (wie Anm. 3), S. 134–166; Klaus Schreiner: Got is selve recht. Angewandte Theologie in Rechtsordnungen und Rechtsverfahren des späten Mittelalters. In: Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Teil 2: Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1996–1997. Hgg. von Hartmut Boockmann u. a. Göttingen 2001 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse, 3. Folge. Band 239), S. 335–368, hier S. 341; Gerhard Otte: Got is selve recht. Recht oder gerecht? In: Von den Leges Barbarorum bis zum ius barbarum des Nationalsozialismus. Festschrift für Hermann Nehlsen zum 70. Geburtstag. Hgg. von Hans-Georg Hermann u. a. Köln u. a. 2008, S. 163–172. 7 Auch unabhängig von der Integration von Geschichtskonzepten kann der «Sachsenspiegel» insgesamt als identitätsstiftend gelten, insofern die eigenen Wertkonzepte ‚der Sachsen‘ reflektiert werden. Vgl. dazu Franz-Josef Arlinghaus: Konstruktionen von Identität mittelalterlicher Korporationen – rechtliche und kulturelle Aspekte. In: Die Bildlichkeit korporativer Siegel im Mittelalter. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch. Hg. von Markus Späth unter redaktioneller Mitarbeit von Sas-

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 Henrike Manuwald

Bereits an dieser Eingangspassage des «Sachsenspiegels» ist abzulesen, dass in einer nicht-historiographischen Quelle Geschichte argumentativ eingesetzt wird.8 Dabei stehen im kurzen Textus Prologi verschiedene Geschichtsmodelle nebeneinander: das der Heilsgeschichte und das der ‚politischen‘ Geschichte, das über die Herrscher Konstantin und Karl andeutungsweise aufgerufen wird, aber in die Heilsgeschichte eingebunden erscheint.9 Dieses Nebeneinander führt zu der Frage, welche Bedeutung diesen Geschichtsmodellen im gesamten Text jeweils für die Legitimation des Rechts zukommt. Außerdem ist angesichts der über den ursprünglichen Adressatenkreis hinausreichenden breiten Rezeption des «Sachsenspiegels»10 zu diskutieren, ob die Gewichtungen zwischen den verschiedenen Modellen und der identitätsstiftende Umgang mit Vergangenheit erhalten blieben oder sich möglicherweise verändert haben.11 Von den zahlreichen Zeugnissen für die Rezeption des «Sachsenspiegels» sollen hier die sogenannten Codices picturati12 näher betrachtet werden, die mit der fortlaukia Hennig von Lange. Köln u a. 2009 (sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst. Band 1), S. 33–46, hier S. 42, mit weiterer Literatur. 8 Dieses Verfahren lässt sich auch im weiteren Verlauf des Textes beobachten. Vgl. dazu Gerhard Theuerkauf: Geschichte in Rechtsaufzeichnungen. Sachsenspiegel und Magdeburger Rechtskreis. In: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen. Hg. von Hans-Werner Goetz. Berlin 1998, S. 201–216, hier S. 202. 9 Die Verknüpfung eines heilsgeschichtlichen Rahmens mit „einem politischen, an Fakten (res ges­ tae) und Personen interessierten Geschichtsbild“ kann für das hochmittelalterliche Geschichtsdenken als typisch gelten. Vgl. Hans-Werner Goetz: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter. 2., erg. Aufl. Berlin 2008 (Orbis mediaevalis. Band 1), S. 92–94, zit. S. 94. 10 Mit Kümper (Sachsenrecht [wie Anm. 1]) werden zur Rezeption sowohl die handschriftliche Verbreitung des «Sachsenspiegels» als auch seine Bearbeitung in späteren Rechtsbüchern gezählt (zum Terminus ‚Rechtsbuch‘ vgl. ebd., S. 16–48). 11 Vgl. in diesem Zusammenhang z. B. die Funktionalisierung Karls des Großen im «Deutschenspiegel». Vgl. dazu Stephan Müller: «Schwabenspiegel» und «Prosakaiserchronik». Textuelle Aspekte einer Überlieferungssymbiose am Beispiel der Geschichte Karls des Großen (mit einem Anhang zur Überlieferung der «Prosakaiserchronik»). In: Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Kolloquium 2004. Hg. von Eckhart Conrad Lutz in Verbindung mit Wolfgang Haubrichs und Klaus Ridder. Berlin 2006 (Wolfram-Studien. Band 19), S. 233– 252, hier bes. S. 238. Die generellen Prozesse der ‚Verrechtlichung der Geschichte‘ bzw. ‚Historisierung des Rechts‘, wie sie insbesondere in den Überlieferungsgemeinschaften des «Schwabenspiegels» zum Ausdruck kommen, müssen hier jedoch ausgespart bleiben. Vgl. dazu Thomas Ertl: Religion und Disziplin. Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum. Berlin/New York 2006 (Arbeiten zur Kirchengeschichte. Band 96), bes. S. 330, 347–359. 12 Sie sind von Theuerkauf (Geschichte [wie Anm. 8]) in seiner Untersuchung ausdrücklich ausgespart worden (vgl. S. 209). – Mit der Sammelbezeichnung Codices picturati sind folgende Handschriften gemeint: H: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 164 (Ostmitteldeutschland, Anfang des 14. Jahrhunderts); O: Oldenburg, Landesbibliothek, Cim 410 I, Leihgabe der Niedersächsischen Sparkassenstiftung (Kloster Rastede, 1336); D: Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek, Mscr. Dr. M 32 (Raum Meißen, 3. Viertel des 14. Jahrhunderts); W: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2° (Raum Meißen [Leisnig], 3. Viertel des 14. Jahrhunderts). Vgl. den ausführlichen Forschungsüberblick zu den Codices picturati bei Kümper: Sachsenrecht (wie



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fenden Illustration des Textes in einer Bildspalte innerhalb der «Sachsenspiegel»-Überlieferung einen Sonderfall darstellen. Die Wahl dieses Untersuchungsgegenstandes erweitert medial die Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich des Umgangs mit den im «Sachsenspiegel» angelegten Geschichtsmodellen13 und erlaubt es, eventuelle Umakzentuierungen zu erfassen, die die Substanz des Textes nicht berühren.14 Allerdings ergeben sich bei diesen Codices picturati auch besondere methodologische Probleme. Einerseits kann man davon ausgehen, dass sie für wohlhabende Auftraggeber angefertigt wurden, die auf die inhaltliche Ausrichtung Einfluss genommen haben dürften und die Handschriften möglicherweise ihrerseits zur Identitätsstiftung eingesetzt haben. Andererseits sind die Bilderzyklen offensichtlich direkt oder indirekt voneinander abhängig,15 so dass – trotz gewisser Bearbeitungstendenzen16 – nicht hinter jedem Detail eine mehr oder weniger explizite Einflussnahme des jeweiligen Auftraggebers vermutet werden sollte. Hinzu kommt die Frage, ob man bei Differenzen zwischen Text und Bild tatsächlich eine interpretierende Akzentsetzung durch die Bilder annehmen kann oder ob sich nicht manches allein durch die Übertragung in eine andere mediale Anm. 1), S. 142–160 (mit Angaben zu den jeweiligen Ausgaben); noch nicht berücksichtigt werden konnten darin: Henrike Manuwald: Medialer Dialog. Die ‚Große Bilderhandschrift‘ des «Willehalm» Wolframs von Eschenbach und ihre Kontexte. Tübingen/Basel 2008 (Bibliotheca Germanica. Band 52), S. 412–472; die neuen Ausgaben von H: Der Sachsenspiegel. Die Heidelberger Bilderhandschrift. Faksimile, Transkription, Übersetzung, Bildbeschreibung. Interaktive CD-ROM PC/Mac. Hg. von Dietlinde Munzel-Everling. Heidelberg 2009; Eike von Repgow: Sachsenspiegel. Die Heidelberger Bilderhandschrift Cod. Pal. Germ. 164. Vollständige Faksimileausgabe im Originalformat der Handschrift aus der Universitätsbibliothek Heidelberg. Textband, Kommentarband. Hgg. von Gernot Kocher und Dietlinde Munzel-Everling. Graz 2010 (Codices selecti. Band 115); die Digitalfaksimiles von O (http://digital.lb-oldenburg.de/ssp/nav/classification/137692 [06.07.2013]) und von D (http:// www.slub-dresden.de/index.php?id=5363&tx_dlf[id]=6439 [27.02.2011]) und der Band: Dresdner Sachsenspiegel. Aufsätze und Untersuchungen. Hg. von Heiner Lück. Graz 2011 (Codices selecti. Band 107); Hanna Sofia Hayduk: Rechtsidee und Bild. Zur Funktion und Ikonografie der Bilder in Rechtsbüchern vom 9. bis zum 16. Jahrhundert. Wiesbaden 2011. 13 Mit der Analyse von ‚Bildquellen‘ ordnet sich die Untersuchung in das Forschungsfeld der Medialität der Geschichte ein, das auch die „vielfältigen und wechselvollen Kooperationen von Erzählung und Bild bei der Hervorbringung historischer Welten“ umfasst; vgl. dazu einführend: Fabio Crivellari u. a.: Einleitung. Die Medialität der Geschichte und die Historizität der Medien. In: Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive. Hgg. von Dens. unter Mitarbeit von Sven Grampp. Konstanz 2004 (Historische Kulturwissenschaft. Band 4), S. 9–45, hier S. 37. 14 Zu den Textfassungen in den Bilderhandschriften, die zur Ordnung IIb gehören, und deren Verhältnis zur (späteren) Vulgatfassung vgl. Ulrich-Dieter Oppitz: Die formale Einordnung der Heidelberger Handschrift und die anderen Handschriften. In: Kocher und Munzel-Everling (Hgg): Heidelberger Bilderhandschrift (wie Anm. 12), Kommentarband, S. 23–28, hier S. 23f. 15 Vgl. dazu Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 1), S. 143. 16 So sind z. B. die Wappen in den einzelnen Handschriften teilweise aktualisiert worden. Vgl. dazu Klaus Nass: Die Wappen in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. Zu Herkunft und Alter der Codices picturati. In: Text – Bild – Interpretation. Untersuchungen zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. 1. Textband, 2. Tafelband. Hg. von Ruth Schmidt-Wiegand. München 1986 (Münstersche Mittelalter-Schriften. Band 55,1–2), Bd. 1, S. 229–270; Bd. 2, Tafeln CLVI–CLVIII.

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Ausdrucksform ergeben hat. Mit anderen Worten: Sind die geschichtlichen Bezüge des «Sachsenspiegels» in den Codices picturati bloß visualisiert worden oder regelrecht inszeniert in dem Sinne, dass man es mit einer absichtsvollen Zeichenverwendung zu tun hat, die eine bestimmte Interpretation von ‚Geschichte‘ erkennen lässt?17 Im Folgenden seien die an verschiedenen Stellen des «Sachsenspiegels» in die Argumentation eingebundenen Geschichtsmodelle18 zunächst zusammenfassend dargestellt und auf die Funktionalisierung von Vergangenheit hin untersucht. An zwei der vier Bilderhandschriften (O und W)19 wird dann im Einzelnen gezeigt, wie die dem Text inhärenten Konzeptionen von Geschichte durch die Bebilderung und die Anlage der Handschriften insgesamt präsentiert und teilweise auch inszeniert worden sind.

17 In Anlehnung an Überlegungen zur Medientheatralität wird ‚Inszenierung‘ hier übertragen verwendet, wobei der Aspekt des Absichtsvollen der aufführungsorientierten Definition Martin Seels entnommen ist. Vgl. Martin Seel: Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs. In: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Hgg. von Josef Früchtl und Jörg Zimmermann. Frankfurt a. M. (edition suhrkamp. Band 2196/Aesthetica), S. 48–62, hier S. 49; zur Medientheatralität vgl. z. B. Sebastian Pranz: Theatralität digitaler Medien. Eine wissenssoziologische Betrachtung medialisierten Alltagshandelns. Wiesbaden 2009, S. 31. Sowohl die Bilder (als Zeichensystem) als auch die Handschrift (die als Trägermaterial fungiert, aber z. B. durch Kombination verschiedener Texte auch neue Sinnzusammenhänge erzeugt) sollen als Medien angesehen werden. Darauf bezieht sich die im Titel genannte ‚mediale Inszenierung‘, nicht auf Strategien der Wirklichkeitsästhetisierung in den Massenmedien, für die der Terminus ebenfalls gebräuchlich ist. Das Moment der ‚Inszenierung‘ wird im Folgenden in der interpretierenden medialen Umsetzung selbst verortet, die somit nicht als ‚Inszenierung zweiter Ordnung‘ (vgl. zu diesem Konzept Pranz ebd.) zu klassifizieren ist. Vgl. dagegen ein abweichendes Konzept von ‚Inszenierung‘ bei Schmid, der sich bei seiner Analyse von Inszenierungen in Bilderhandschriften darauf bezieht, dass herrschaftliche Akte regelhaft inszeniert und bei der visuellen Umsetzung diese Regeln beachtet wurden. Vgl. Wolfgang Schmid: Zur Inszenierung von Politik in der Bilderhandschrift. In: Der Weg zur Kaiserkrone. Der Romzug Heinrichs VII. in der Darstellung Erzbischof Balduins von Trier. Hgg. von Michel Margue u. a. Trier 2009 (Publications du CLUDEM. Band 24), S. 139–151, hier S. 149. 18 Anders als bei Theuerkauf (Geschichte [wie Anm. 8]) soll der Quellenwert von ‚Geschichten‘ (im Sinne narrativ aufbereiteter historischer Rechtsfälle) für Rechtsnormen, der im «Sachsenspiegel» eine geringe Rolle spielt, ausgespart werden. 19 Der Grund für diese Auswahl liegt darin, dass H sehr lückenhaft überliefert und W gegenüber der wahrscheinlich direkten Vorlage D besser erhalten ist. Zum Verhältnis von D und W vgl. Manuwald: Dialog (wie Anm. 12), S. 414.



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Geschichtsmodelle im «Sachsenspiegel»-Text Die Rekurse auf Geschichtsmodelle konzentrieren sich im «Sachsenspiegel» vor allem auf den Anfang des Werks20 und auf den gedanklichen Neuansatz ab Ldr. III,42, der von einigen Forschern21 als der Beginn des zweiten Teils des «Sachsenspiegels» angesehen wird.22 Der Textus Prologi setzt in seiner Anfangsstellung den Rahmen für alle weiteren Ausführungen. Das betrifft nicht nur die aufgerufenen Geschichtsmodelle, sondern vor allem die dadurch vermittelten Rechtskonzeptionen: Die Skizze der Heilsgeschichte in der Triade ‚Schöpfung/Paradies – Sündenfall – Erlösung‘ erläutert die Herkunft göttlichen beziehungsweise biblischen Rechts und die Notwendigkeit, es einzuhalten. Über die Einführung von Personen, die das biblische Recht vermitteln, erfolgt der Übergang zu den hier dezidiert als christlich apostrophierten Kaisern Konstantin und Karl, von denen wiederum das menschlich gesetzte Recht abgeleitet wird. Bemerkenswerterweise erscheint das positive Recht hier nicht als nach dem Sündenfall erforderliche ‚Notordnung‘,23 sondern die Rechtsordnung wird von dem Zustand der Erlösung her erklärt. Während die Heilsgeschichte als Erzählung ausgeführt ist, indem ein zeitlicher Ablauf skizziert wird (to irst – bit an die thied – nu), ist auf die Vermittlung des Rechts durch die Herrscherautoritäten nur in einem Nebensatz verwiesen.24 Dadurch gewinnt das ‚triadische Geschichtsmodell‘ an Gewicht und zugleich die Rückführung der welt20 Im Folgenden werden die Reimvorreden nicht näher behandelt, weil sie in den Codices picturati nicht überliefert sind. Zu den Verweisen auf biblische Geschichte in der Vorrede in Reimpaaren vgl. Theuerkauf: Geschichte (wie Anm. 8), S. 201f. 21 Vgl. z. B. Ignor: Rechtsdenken (wie Anm. 3), S. 260–281. Zur Kritik an solchen Gliederungsvorschlägen vgl. Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 1), S. 188–194. 22 Daneben finden sich vor allem kurze erklärende Verweise auf die Vergangenheit, etwa auf das Fehlverhalten der weiblichen Vorfahren der Schwaben, woraus eine erbrechtliche Regelung für die Schwaben hergeleitet wird (Ldr. I,17§2; vgl. dazu Theuerkauf: Geschichte [wie Anm. 8], S. 212). 23 Zur Dominanz dieser Auffassung vgl. Peter Landau: Der biblische Sündenfall und die Legitimität des Rechts. In: Die Begründung des Rechts als historisches Problem. Hg. von Dietmar Willoweit unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner. München 2000 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien. Band 45), S. 203–214, hier S. 203f. 24 Mit der Einführung von Konstantin und Karl und ihrer Rechtssetzungskompetenz an dieser prominenten Stelle des «Sachsenspiegels» ist die Rezeption des «Sachsenspiegels» als Kaiserrecht schon angelegt. Zu dieser Stelle vgl. Winfried Trusen: Die Rechtsspiegel und das Kaiserrecht. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 102 (1985) S. 12–59, hier S. 18; zustimmend Kümper (Sachsenrecht [wie Anm. 1], S. 218), der auch betont, dass es sich bei den Verweisen auf die Kaiserfiguren eben nicht um eine Geschichtserzählung handele, sondern dass sie dazu dienten, den Ursprung des Rechts zu legitimieren (vgl. S. 216); zum «Sachsenspiegel» insgesamt vgl. auch Gerhard Dilcher: Der mittelalterliche Kaisergedanke als Rechtslegitimation. In: Willoweit und Müller-Luckner (Hgg.): Begründung (wie Anm. 23), S. 153–170, hier S. 167f.; Heiner Lück: Der Sachsenspiegel als Kaiserrecht. Vom universalen Geltungsanspruch eines partikularen Rechtsbuches. In: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters. 29. Ausstellung des Europarats in Magdeburg und Berlin und Landesaus-

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lichen Rechtsordnung auf Gott, die mit der imperialen Version der Zweischwerterlehre im nächsten Kapitel (Ldr. I,1) gleich noch einmal bekräftigt wird. Es mag problematisch sein, im Hinblick auf die heilsgeschichtliche Skizze, wie sie sich im Textus Prologi des «Sachsenspiegels» findet, von einem triadischen Geschichtsmodell zu sprechen, da die dafür typische Sehnsucht nach der Wiedergewinnung des paradiesischen Naturzustandes (in dem Sinne, dass die Menschheit durch den Tod Christi grundsätzlich erlöst wurde) dort bereits als erfüllt dargestellt ist.25 Eine triadische Struktur ist aber vorhanden, und der Terminus ‚Geschichtsmodell‘ erscheint für den Charakter der geschichtlichen Bezüge im «Sachsenspiegel» durchaus passend, weil in der Regel nicht auf einzelne historische Ereignisse Bezug genommen ist,26 sondern Konzepte für die Gliederung der Weltgeschichte beziehungsweise auf aitiologischen Mustern oder Analogie beruhende Erklärungsmodelle entworfen werden. So wird in Ldr. I,3 das universalchronistische Modell der Weltalterlehre in enzyklopädischer Weise dazu genutzt, um synchrone Ordnungssysteme in der Welt, die Heerschildordnung und die Zahl der Verwandtschaftsgerade, die zur sippe zählen, dazu in Beziehung zu setzen.27 Die einzelnen Weltalter werden aufgezählt, wobei aber nicht der zeitliche Ablauf im Vordergrund steht, vielmehr die durch ‚Origenes‘ überlieferte Länge von je 1000 Jahren pro Weltalter und die durch die Bibel gesicherten Anfangspunkte der einzelnen Weltalter, die jeweils an Personen gebunden sind.28 stellung Sachsen-Anhalt. Hgg. von Matthias Puhle und Claus-Peter Hasse. Bd. 2: Essays. Dresden 2006, S. 263–275. 25 Der Textus Prologi kennt nicht „das durch irdische Unvollkommenheit geprägte saeculum zwischen Schöpfung bzw. Sündenfall und Jüngstem Gericht“. Zu dieser verbreiteten Geschichtsauffassung vgl. Goetz: Geschichtsschreibung (wie Anm. 9), S. 92 (Zitat ebd.). 26 Eine Ausnahme bildet der Verweis darauf, dass Kaiser Konstantin Papst Silvester ein weltliches Gewette zuerkannt habe (Ldr. III,63§1), aber auch hier wird das Einzelereignis modellhaft aufgefasst und dient zur Herleitung des allgemeinen Prinzips, wie weltliches und geistliches Gericht sich zueinander verhalten sollen. Zur Stelle, deren Bezug zur konstantinischen Schenkung umstritten ist, und ihrer Bebilderung in den Codices picturati vgl. Roderich Schmidt: Das Verhältnis von Kaiser und Papst im Sachsenspiegel und seine bildliche Darstellung. In: Schmidt-Wiegand (Hg.): Text (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 95–115; Bd. 2, Tafeln LXV–LXXXV, hier S. 113f. – Nach Trusen (Rechtsspiegel [wie Anm. 24], S. 16f.) „abstrahiert“ Eike generell „bewußt von der Zeitgeschichte“, um bestimmte Idealvorstellungen zu vermitteln. 27 Wie beim enzyklopädischen Typ der Weltchronistik wird hier – im Kleinformat – eine zeitliche Gliederung mit anderen Wissensbeständen verbunden. Zu den unterschiedlichen Typen von Weltchroniken vgl. Anna-Dorothee von den Brincken: Die lateinische Weltchronistik. In: Mensch und Weltgeschichte. Zur Geschichte der Universalgeschichtsschreibung. Hg. von Alexander Randa. Salzburg/München 1969 (Forschungsgespräche des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg. Band 7), S. 43–58. Theuerkauf (Geschichte [wie Anm. 8], S. 205) spricht in Zusammenhang mit Ldr. I,3 von dem „von Gott gesetzten, als Geschichte tradierten Weltzusammenhang[]“. 28 Zur Interpretation der Berufung auf ‚Origenes‘ und zu den Quellen der Weltalterlehre im «Sachsenspiegel» vgl. Hermann Schadt: Zum Verwandtschaftsbild und der Weltalterlehre des Sachsen-



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Eine teleologische Zeitachse kommt ins Spiel, indem davon die Rede ist, dass die Welt im siebten Weltalter zu Ende gehen werde. Die in der Gegenwart des Autor-Ichs lebenden Menschen (‚wir‘) sind in diesem siebten Weltalter verortet, dessen ungewisse Dauer betont wird.29 Diesem umfassenden Modell der Weltgeschichte, das wie die heilsgeschichtliche Triade im Textus Prologi die Gesamtheit der Christen (‚wir‘) in den Blick nimmt, steht – eingebunden in die Argumentation von Ldr. III,44 – die Vier-Reiche-Lehre als zweites ‚großes Periodisierungssystem‘30 gegenüber, das jedoch anders ausgerichtet ist: Nach der Feststellung, dass das Reich in Babylon begonnen habe, sind durch Verben, die eine Veränderung beschreiben, die Übergänge zum jeweils nächsten Land, das die Vormachtstellung übernimmt, angegeben (Persien, Griechenland, ‚Rom‘).31 Als Akteure der Veränderung werden einzelne Herrscher (Kyros, Alexander, der Dareios ‚überwindet‘) beziehungsweise ‚Rom‘ (mit dem Ergebnis des Kaisertums von ‚Caesar‘) benannt. Aufschlussreich ist, dass sich die Identität des Reiches nicht ändert.32 Das zeitgenössische Reich erscheint somit als Fortsetzung der römischen Herrschaft, indem gesagt wird, dass Rom die Macht und das weltliche Schwert n o c h habe, ebenso habe Rom von Petrus das geistliche Schwert.33 spiegels. Kunstgeschichte als Hilfswissenschaft der Rechtsgeschichte. Frühmittelalterliche Studien 10 (1976) S. 406–436, Tafeln XXIV–XXVI, hier S. 421–429; Ulrich Drescher: Geistliche Denkformen in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. Frankfurt a. M. u. a. 1989 (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte. Band 12), S. 130–137; Peter Landau: Der Entstehungsort des Sachsenspiegels. Eike von Repgow, Altzelle und die anglo-normannische Kanonistik. Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 61 (2005) S. 73–101, hier S. 87f. 29 Der «Sachsenspiegel» steht hier in einer augustinisch-isidorischen Tradition, in der die bei Augustinus und Isidor ursprüngliche Sechszahl der Weltalter modifiziert wurde (vgl. Schadt: Verwandtschaftsbild [wie Anm. 28], S. 421–429). Dass sich die Menschen im siebten Zeitalter sub gratia befinden, spielt keine Rolle. Vgl. dazu Drescher: Denkformen (wie Anm. 28), S. 128f. 30 Anna-Dorothee von den Brincken: Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising. Düsseldorf 1957, S. 46. 31 To babilonie irhuf sik dat rike, die was geweldich over alle land, die t o v u r d e cyrus unde w a n d e l d e dat rike in persiam; dar stunt it bit an darium den lesten, den v e r s e g e d e alexander unde k a r d e ’ t an krieken; dar stunt it also lange, went is sik rome u n d e r w a n t unde julius keiser w a r t . [Hervorhebungen H. M.] 32 Vgl. dazu auch Werner Goez: Die Danielrezeption im Abendland. Spätantike und Mittelalter. In: Europa, Tausendjähriges Reich und Neue Welt. Zwei Jahrtausende Geschichte und Utopie in der Rezeption des Danielbuches. Hgg. von Mariano Delgado u. a. Freiburg (Schweiz) 2003 (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte. Band 1), S. 176–196, hier S. 193; Kannowski: Rechtsgrundlagen (wie Anm. 4). 33 Dilcher geht davon aus, dass durch den Verweis auf das weltliche Schwert in Rom (und damit das fränkisch-deutsche Reich) das sächsische Recht sowohl welt- als auch heilsgeschichtlich legitimiert werde. Vgl. Gerhard Dilcher: Mythischer Ursprung und historische Herkunft als Legitimation mittelalterlicher Rechtsaufzeichnungen zwischen Leges und Sachsenspiegel. In: Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation. Akten des Gerda Henkel Kolloquiums veranstaltet vom Forschungsinstitut für Mittelalter und Renaissance der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 13.–15. Oktober 1991. Hg. von Peter Wunderli. Sigmaringen 1994, S. 141–155, hier S. 153.

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Im Gegensatz zu Ldr. I,3 ist weder eine Quellenautorität angegeben noch wird in irgendeiner Weise eine Zahl als Ordnungsmuster angeführt. Dominant ist nicht die Vierzahl der Weltreiche, sondern der Gedanke der translatio imperii,34 deren Prozesshaftigkeit durch die Benennung der Abläufe zusätzlich hervorgehoben ist. Die Weltreichslehre im «Sachsenspiegel» erscheint also im Gegensatz zur Weltalterlehre nicht als heilsgeschichtliches Modell, sie wird vielmehr dazu genutzt, bestimmte rechtliche Gegebenheiten aus der ‚politischen‘ Geschichte herzuleiten. Der historische Rückblick dient einerseits der Begründung, warum Rom das Haupt der Welt ist, andererseits der Einordnung der anschließenden Ursprungserzählung, nach der die Vorfahren der Sachsen aus dem Heer Alexanders des Großen stammen und die Thüringer überwunden hätten, in die Weltgeschichte.35 Die für die Gruppe der Sachsen identitätsstiftende Ursprungserzählung wiederum wird vor allem zur Erklärung eingesetzt, wie es zu den Ständen der laten (Zinsbauern) und der dagewerchten (Tagelöhner) gekommen sei: Die Sachsen hätten die thüringischen Herren aus dem Sachsenland vertrieben, aber, da sie selbst zu wenige Leute waren, um den Acker zu bebauen, den eingesessenen Bauern Land überlassen. Daraus habe sich die Gruppe der laten entwickelt, aus den laten, die ihr Recht verwirkt hätten, wiederum die dagewerchten.36 Die nachfolgende Aufstellung (Ldr. III,45) über die Höhe von Buße und Wergeld für ‚alle Leute‘ verdeutlicht, dass die Tagelöhner in der gesellschaftlichen Hierarchie relativ weit unten stehen. Die Existenz von Tagelöhnern wird in Ldr. III,44 als das Resultat eines historischen Prozesses dargestellt. Die einzelnen Schritte scheinen sich beinahe zufällig ergeben zu haben, jedenfalls ist keine Teleologie erkennbar. Wie im Textus Prologi, in dem der Zusammenhang zwischen biblischem Recht und Heilsgeschichte aufgezeigt wird, besteht auch in dieser konkreten Herleitung eine Analogie zwischen dem Geschichtsmodell und dem dadurch erläuterten Rechtskonzept, insofern als die menschengemachten Stände als Resultat einer Entwicklung in der ‚politischen‘ Geschichte erscheinen. Die Abgrenzung des so begründeten Rechtskonzepts zum bibEin heilsgeschichtlicher Zusammenhang wird aber in Ldr. III,44 nicht aufgerufen. Sogar die Erklärung der geistlichen Führungsrolle Roms bleibt insofern innerweltlich, als nicht thematisiert ist, woher der Heilige Petrus das geistliche Schwert hat. 34 Wegen der Identität des Reiches im «Sachsenspiegel» wird hier und im Folgenden die Weitergabe der Herrschaft auch in Bezug auf die vier Weltreiche als translatio aufgefasst. Generell zum Verhältnis der Vier-Reiche-Lehre und dem Konzept der translatio imperii vgl. Werner Goez: Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 1958, S. 366–377. 35 Vgl. dazu Dilcher: Ursprung (wie Anm. 33), S. 150–155. – In der Ursprungserzählung des «Sachsenspiegels» sind eine Herkunftssage und eine Landnahmesage miteinander verknüpft, die beide jeweils weit vor dem 13. Jahrhundert nachzuweisen sind (vgl. ebd., S. 153f.). 36 Theuerkauf (Geschichte [wie Anm. 8], S. 210–213) ordnet den Verweis auf die Vier-Reiche-Lehre mit der anschließenden Ursprungserzählung wie den auf die Weltalterlehre der Kategorie „Begründung geltenden Rechtes in der und durch die Vergangenheit“ zu; bei der Ursprungserzählung wäre aber auch seine Kategorie „Bewußtsein geänderten Rechts, verändert durch Gewohnheit/Verfassung oder Willkür/Gesetz“ (vgl. S. 214–216) relevant.



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lischen Recht wird noch deutlicher, wenn man die Ausführungen zur Unfreiheit des Menschen hinzuzieht (Ldr. III,42), in deren Kontext Ldr. III,44 steht.37 Der Ausgangspunkt der Argumentation in Ldr. III,42 ist bekanntlich die Heilsgeschichte, die in nur einem Satz mit dem Verweis auf die Erschaffung des Menschen und dessen Erlösung zusammengefasst wird. Auf die anschließende Aussage, dass der arme Mensch Gott genauso nahestehe wie der reiche, folgen die in der Form einer Quaestio38 gehaltenen Ausführungen über den Ursprung der Unfreiheit.39 Bei der argumentativen Zurückweisung verschiedener Herleitungen der Unfreiheit aus der biblischen Geschichte fungiert die Bibel als Zeugnis (orkünde) für die Widerlegung; den Leuten, die aus der Bibel heraus die Unfreiheit ableiten wollen, wird jedoch nicht nur vorgehalten, dass sie den Text falsch interpretiert hätten, sondern indirekt auch, dass sie spätere universalgeschichtliche Entwicklungen nicht berücksichtigt hätten,40 das heißt, es wird gefordert, das Zeugnis der Bibel mit weiterem geschichtlichen Wissen zu ergänzen. Argumentiert wird außerdem mit dem geltenden Recht, nach dem sich niemand in Leibeigenschaft begeben könne, ohne dass es sein Erbe rückgängig zu machen vermöge (Ldr. III,42§3); an dieser Stelle erscheint das geltende Recht als der göttlichen Ordnung gemäß.41 Parallel zu dieser Argumentation ist in Ldr. III,42 die Skizzierung einer zur Unfreiheit führenden historischen Entwicklung erkennbar, wie sie ergänzend dann in Ldr. III,44 beschrieben wird.42 Die Ordnungskategorien für diese Entwicklung sind nicht biblische Ereignisse, sondern Stationen der Rechts- und in Ldr. III,44 auch der Herrschaftsgeschichte:43 Ausgangspunkt ist der Urzustand, in dem man zum ersten 37 Zur Funktion von Ldr. III,44 als Bindeglied zwischen Ldr. III,42 und Ldr. III,45 vgl. Dilcher: Ursprung (wie Anm. 33), S. 153. 38 Vgl. Herbert Kolb: Über den Ursprung der Unfreiheit. Eine Quaestio im Sachsenspiegel. ZfdA 103 (1974) S. 289–311. 39 Zur Forschungsgeschichte vgl. Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 1), S. 491–498; Tilman Repgen: Unfreiheit ist wider die Menschenwürde. Eine rechtshistorische Miniatur. In: Der Appell des Humanen. Zum Streit um das Naturrecht. Hgg. von Hans Thomas und Johannes Hattler. Heusenstamm u. a. 2010, S. 125–152, hier S. 132–146 (mit einer Analyse der einzelnen Argumente). 40 Z. B. die ‚Tatsachen‘, dass die Sintflut Kains Geschlecht vernichtet hat oder dass die Nachkommen von Sem, Ham und Japhet jeweils einen Erdteil besiedelten (zu Eikes spitzfindiger Argumentation in diesem Zusammenhang vgl. Kolb: Ursprung [wie Anm. 38], S. 306–309). Eike nutzte für beide Vorstellungen wohl die «Historia scholastica» des Petrus Comestor als Quelle. Vgl. dazu Guido Kisch: Sachsenspiegel and Bible. Researches in the Source History of the Sachsenspiegel and the Influence of the Bible on Mediaeval German Law. Notre Dame, Indiana 1941 (Publications in mediaeval studies. Band 5), S. 77; Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 1), S. 100–103; Repgen: Unfreiheit (wie Anm. 39), S. 136f. 41 Vgl. zu diesem Aspekt Kolb: Ursprung (wie Anm. 38), S. 311. 42 Zwar zählen die dort thematisierten Tagelöhner nicht zu den Unfreien, aber sie fügen sich auch nicht in den zu Beginn von Ldr. III,42 formulierten Gleichheitsgrundsatz ein, der zwar für das Verhältnis der Menschen zu Gott formuliert wird, aber nach dem Kontext auch in sozialer Hinsicht zu verstehen ist. 43 Dass es neben der „Verortung in der Heilsgeschichte“ auch „ganz allgemein um die Chronologie in der Geschichte, auch um die Bestimmung des eigenen Standortes in deren Verlauf“ geht, kann

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Mal Recht gesetzt habe. Damals habe es noch keine Dienstleute gegeben. Dieser Zustand habe noch angedauert, als die Vorfahren der Sachsen in das Sachsenland gekommen seien; da seien noch alle Leute frei gewesen (Ldr. III,42§3). Die Leibeigenschaft sei durch Zwang, Gefangenschaft und unrechte Gewalt entstanden, die man von ‚alters her‘ zur unrechten Gewohnheit gemacht habe und in der Gegenwart für rechtmäßig erklären wolle (Ldr. III,42§6). Typischerweise finden sich im «Sachsenspiegel» noch nicht die terminologischen Differenzierungen, wie sie dann in der Glosse Johanns von Buch vorgenommen sind, wo im Kommentar zu Ldr. III,42§6 (Cap. XL) zwischen natürlichem und gesetztem Recht unterschieden wird.44 Aber inhaltlich wird im «Sachsenspiegel» eine Abgrenzung zwischen der Unfreiheit als Ergebnis menschengemachten ‚Rechts‘, das hier als Gewohnheitsrecht beschrieben wird, und der Freiheit als dem Naturrecht45 gemäße Daseinsform vorgenommen. Insofern bilden die Freiheitsthesen im «Sachsenspiegel» eine klare Stellungnahme in der von Theologen und Juristen geführten Diskussion darüber, wie sich das Naturrecht, von dem häufig die ursprüngliche Freiheit aller Menschen abgeleitet wurde, zu den ‚Gewohnheiten‘ beziehungsweise dem von Menschen gesetzten Recht verhält.46 In der dezidierten Verneinung der Rechtmäßigkeit der servitus nimmt der «Sachsenspiegel» eine Sonderstellung ein und unterscheidet nach Johanek als typisch für die Zeit vom Beginn des 13. Jahrhunderts an gelten. Vgl. Peter Johanek: Geschichtsüberlieferung und ihre Medien in der Gesellschaft des späten Mittelalters. In: Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. Akten des Internationalen Kolloquiums 26.–29. Mai 1999. Hgg. von Christel Meier u. a. München 2002 (Münstersche Mittelalter-Schriften. Band 79), S. 339–357, Abb. 30f. (S. 406f.), hier S. 351f. 44 Vgl. Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht. Buch’sche Glosse. Hg. von Frank-Michael Kaufmann. 3 Bd.e. Hannover 2002 (MGH. Fontes Iuris Germanici Antiqui, Nova Series. Band 7), Bd. 3, S. 1203–1205. – Zu den Interpretationstendenzen in der Glosse zu dieser Stelle vgl. Bernd Kannowski: Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch’sche Glosse. Hannover 2007 (MGH Schriften. Band 56), S. 290–321; zu Johanns Naturrechtsbegriff vgl. ebd., S. 328. 45 Für eine Gleichsetzung von biblischem Recht und Naturrecht lässt sich z. B. Gratian als Parallele anführen. Vgl. Landau: Sündenfall (wie Anm. 23), S. 210; zum Verhältnis von Naturrecht und göttlichem Recht vgl. außerdem (mit weiterer Literatur): Matthias Kaufmann: Göttliches Recht. In: HRG. 2., völlig überarb. und erw. Aufl. Hgg. von Albrecht Cordes u. a., Bd. 2. Berlin 2012, Sp. 500–504. Auch in der Kritik an Rechtsgewohnheiten, die nicht göttlicher Wahrheit entsprechen, finden sich Übereinstimmungen zwischen dem «Decretum Gratiani» und den im «Sachsenspiegel» vorgebrachten Argumenten gegen die Legitimität der Unfreiheit. Vgl. Karl Kroeschell: Wahrheit und Recht im frühen Mittelalter. In: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag. Hgg. von Karl Hauck u. a. Bd. 1. Berlin/New York 1986, S. 455–473, hier S. 472. 46 Vgl. zu dieser Diskussion den Überblick bei Theo Mayer-Maly: IV. Rechtsphilosophie und Rechtstheologie im Mittelalter. In: TRE. Hgg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller, Bd. 28. Berlin/ New York 1997, S. 216–227. Zu Gratians Naturrechtslehre vgl. zusammenfassend Landau: Sündenfall (wie Anm. 23), S. 210f. (mit Stellenbelegen). – Zu naturrechtlichem Gedankengut im «Sachsenspiegel» vgl. Bernhard Töpfer: Naturrechtliche Freiheit und Leibeigenschaft. Das Hervortreten kritischer Einstellungen zur Leibeigenschaft im 13.–15. Jahrhundert. In: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen. Hgg. von Jürgen Miethke und



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sich auch von den «Institutionen» Justinians, in denen die Unfreiheit dem ius gentium zugeordnet und vom ius naturale abgesetzt, aber nicht ausdrücklich verurteilt wird. Frappierend ist aber die Parallelität in der Argumentation zum Ursprung der Unfreiheit, denn in den «Institutionen» wird die Unfreiheit als Folge von Krieg und Gefangenschaft erklärt. Sie widerspreche dem Naturrecht, nach dem ursprünglich (ab initio) alle Menschen frei gewesen seien.47 Wo Eike mit solchen Gedanken möglicherweise in Berührung gekommen ist, kann hier nicht geklärt werden.48 Im Hinblick auf die Funktionalisierung von Geschichtsmodellen ist es aufschlussreich, dass im «Sachsenspiegel» das Naturrecht und das davon abweichende geltende Recht historisch unterschiedlich hergeleitet werden: Das Naturrecht steht mit dem göttlichen Heilsplan in Verbindung, manche Elemente der aktuellen Rechtsordnung werden mit historischen Entwicklungen erklärt, die von Menschen gemacht erscheinen.49 Insgesamt ist der argumentative Bezug auf Vergangenheitskonzepte im «Sachsenspiegel» sehr komplex, da einerseits Heilsgeschichte und ‚politische‘ Geschichte nebeneinander stehen, andererseits sowohl die Rechtsordnung historisch legitimiert als auch eine Fehlentwicklung (die Entstehung der Unfreiheit) historisch erklärt wird. Dabei scheint die ‚politische‘ Geschichte vorrangig zur Erklärung bestimmter Zustände eingesetzt zu werden, biblische Geschichte dagegen als Orientierungsmodell zu dienen. Eine solche systematisierende Zusammenfassung der verschiedenen Konzepte ist angesichts der Argumentationsstruktur des «Sachsenspiegels», bei der es vor allem auf die Kohärenz kleiner Abschnitte anzukommen scheint, sicherlich problematisch, ebenso wie auch der Versuch, die einzelnen weit entfernten Stellen miteinander kompatibel zu machen. Eine verallgemeinernde Einordnung kann aber den Blick für den im «Sachsenspiegel» gegebenen vielschichtigen Umgang mit Geschichtsmodellen und die Querverbindungen zwischen ihnen schärfen, wie man etwa bei der Instrumentalisierung der Figur Karls des Großen erkennen kann, über die ein Berührungspunkt zwischen unterschiedlichen Legitimationen des Rechts Klaus Schreiner. Sigmaringen 1994, S. 335–351, hier S. 338–345; Schreiner: Got (wie Anm. 6), S. 341f.; Kannowski: Umgestaltung (wie Anm. 44), S. 289, 328; Repgen: Unfreiheit (wie Anm. 39). 47 ius autem gentium omni humano generi commune est. nam usu exigente et humanis necessitatibus gentes humanae quaedam sibi constituerunt: bella etenim orta sunt et captivitates secutae et servitutes, quae sunt iuri naturali contrariae. iure enim naturali ab initio omnes homines liberi nascebantur. (Inst. 1,2,2). Vgl. Corpus Iuris Civilis. Die Institutionen. Text und Übersetzung. Hgg. von Okko Behrends u. a. 3., überarb. Aufl. Heidelberg 2007 (UTB. Band 1764), S. 3. Vgl. dazu Töpfer: Freiheit (wie Anm. 46), S. 337f.; Repgen: Unfreiheit (wie Anm. 39), S. 145f. 48 Zu seinen vermutlichen Quellen vgl. Landau: Entstehungsort (wie Anm. 28), bes. S. 96–98; Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 1), S. 92–126; Repgen: Unfreiheit (wie Anm. 39), S. 144–146. 49 Dilcher (Ursprung [wie Anm. 33], S. 153) unterscheidet ebenfalls zwischen dem „historischen Legitimationsstrang“, mit dem die faktische Ungleichheit der Menschen erklärt wird, und den Gleichheitsvorstellungen christlicher Heilsgeschichte. Dagegen verkennt Otte (Got [wie Anm. 6], S. 166) diese Differenzierung, wenn er ‚Recht‘ im «Sachsenspiegel» durchweg mit dem von Menschen gesetzten Recht identifiziert und daraus schließt, dass Recht „nach Eike seinen Anfang nicht vor, sondern in der Geschichte“ habe.

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geschaffen wird: Bei seiner Einführung im Textus Prologi ist Karl der Große zwar nicht Bestandteil des heilsgeschichtlichen Modells, seine eigene Rechtssetzung scheint aber ausschließlich Gottes e und sin gebot auszugestalten.50 Auf diese Weise wird der Eindruck eines Einklangs zwischen dem gesetzten Recht und Gottes Wertmaßstäben erzeugt und Karl als Vorbild stilisiert. In Ldr. I,18 dagegen ist nüchtern auf historische Gegebenheiten Bezug genommen, indem aufgelistet wird, welche rechtlichen Regelungen die Sachsen gegen Karls Willen behalten hätten.51 Hier verkörpert Karl offenbar nicht den christlichen Herrscher, der göttlichem Recht folgt, sondern den Eroberer, der die historisch gewachsene Rechtsordnung jedoch nicht von Grund auf änderte. Denn es wird darauf hingewiesen, dass die Sachsen auch ihr ‚altes Recht‘ bewahrt hätten, solange es dem christlichen Recht (der kristenliker e) und dem christlichen Glauben insgesamt (deme geloven) nicht entgegengestanden habe. Karl, hier als Figur der politischen Geschichte, erscheint anders als im Textus Prologi nicht als Vermittler der göttlichen Rechtsordnung.52 Vielmehr wird demonstriert, dass nicht alle tradierten ‚Gewohnheiten‘ unrechtmäßig sind (so wie die Unfreiheit), und es wird das christliche Recht an die Tradition der Sachsen angeschlossen.

Visualisierung von Geschichtsmodellen in den Codices picturati Charakteristisch für die Bilder der Codices picturati ist ihre starke Textbezogenheit. Abgesehen von einer Ausnahme in O53 werden in den Bildern folglich nur Geschichtsmodelle visualisiert, die im Text aufgerufen werden. Eine zusätzliche ‚Selbstbeschränkung‘ ergibt sich aus der systematischen Anlage der Handschriften, in denen der Text kontinuierlich von Bildern begleitet wird.54 Daher konnten nicht etwa Eingangsbilder zu größeren Textabschnitten dazu genutzt werden, eine inhaltliche Ausrichtung der 50 Auch Drescher (Denkformen [wie Anm. 28], S. 82–84) diskutiert den schwierigen „Zusammenhang zwischen Gottes gebot und menschlicher Satzung“. Den Varianten im «Sachsenspiegel»-Text an dieser Stelle, auf die er verweist, wäre genauer nachzugehen. 51 Bei diesen Ausnahmen handelt es sich anscheinend um eine Anspielung auf die politische Geschichte der jüngeren Zeit, da „diese Rechte [...] im 11. Jahrhundert in Auseinandersetzungen zwischen den Sachsen und dem Königtum eine Rolle“ spielten. Vgl. Dilcher: Ursprung (wie Anm. 33), S. 154. 52 Dilcher (Ursprung [wie Anm. 33], S. 154) sieht in dem Verweis auf die e „eine deutliche und genaue Aufnahme des Gedankens am Ende des Textus Prologi“. 53 S. dazu den letzten Abschnitt dieses Beitrags: „Ausblick: die Verselbstständigung der Bilder“. 54 Räumlich ist eine Parallelführung von Text und Bildern angestrebt; in O, wo die Bebilderung am Ende des Landrechts abbricht, gibt es mehrfach Verschiebungen. Vgl. dazu Friedrich Scheele: Zur Herstellung und Gestaltung der Miniaturen. Mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Illustrationen und Registern. In: Der Oldenburger Sachsenspiegel. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex picturatus Oldenburgensis CIM I 410 der Landesbibliothek Oldenburg,



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Bildprogramme zu schaffen.55 Die Bilder zum Textus Prologi und zu Ldr. I,3 mit der Weltalterlehre erscheinen – ihrer Position im Text gemäß – an prominenter Stelle in den Eröffnungssequenzen der Handschriften (sofern deren Anfang erhalten ist), die Bilder zur Unfreiheitsstelle (Ldr. III,42) und zur Vier-Reiche-Lehre (Ldr. III,44) sind zwischen Bilder zu einzelnen Rechtsregelungen gesetzt.56 Angesichts der durch die Anlage der Handschriften bedingten äußeren Rahmenbedingungen sind kleinere räumliche wie inhaltliche Verschiebungen zwischen Text und Bildern umso aussagekräftiger. Die große Bilderdichte in den Codices picturati kann leicht darüber hinwegtäuschen, dass bei der Visualisierung jeweils einzelne Aspekte aus dem Text ausgewählt und allein dadurch zwangsläufig Schwerpunkte gesetzt werden mussten.57 So folgt in allen Codices picturati das Bild zur Vier-Reiche-Lehre auf eine Szene, die zur Illustration der Argumentation über die Unfreiheit (Ldr. III,42) einen Gefangenen zeigt (z. B. W, fol. 47r, viertes Bild; Abb. 1); Ldr. III,43 mit Ausführungen zum ‚Eigentumsrecht‘ ist also nicht ins Bild gesetzt worden.58 Auf diese Weise steht das Bild zur Vier-ReicheLehre im direkten Kontext der Bilder zur Unfreiheitsstelle, eine thematische Verdichtung, die den gedanklichen Querverbindungen im Text entspricht. Im Anschluss an das Bild zur Vier-Reiche-Lehre sind zentrale Aspekte der Argumentation in Ldr. III,44 visualisiert (stellvertretend sei hier O betrachtet; Abb. 2): Unter dem Bild zum Weltreichsschema (oben auf fol. 75v) findet sich (in der Mitte der Seite) eine Darstellung, die sich auf Rom als Zentrum der geistlichen und weltlichen Macht bezieht. Das unterste Bild zeigt die Leiche Alexanders, die am Strand zurückgelassen wird, als die Vorfahren der Sachsen nach seinem Tod in See stechen. Auf fol. 76r oben ist schließlich zu sehen, wie gerüstete Krieger, zu deren Füßen kleine Leichen zu erkennen sind, die links stehenden Personen belehnen – angezeigt durch die zwei heraldischen Lilien, die überreicht werden. Bei den Figuren links muss es sich also um die besiegten Thüringer handeln, bei den gerüsteten Figuren rechts

Faksimile, Textband und Kommentarband. Hg. von Ruth Schmidt-Wiegand. Graz 1993–1996 (Codices selecti. Band 101), Kommentarband, S. 59–86, hier S. 70. 55 Vgl. dagegen andere bebilderte Handschriften des «Sachsenspiegels», in denen Miniaturen den Text untergliedern. Zu den Bildprogrammen im Einzelnen vgl. Hiram Kümper: Miniaturen und Bilder in Sachsenspiegelhandschriften abseits der Codices picturati. Concilium medii aevi 9 (2006) S. 103–140 (URL: http://cma.gbv.de/z/cma/2006 [27.03.2011]). 56 Der gedankliche Einschnitt in Ldr. III,43 hat sich weder in den verschiedenen Buchgliederungen des «Sachsenspiegels» niedergeschlagen noch in der Struktur der Bilderhandschriften. 57 Vgl. dazu auch Andreas Bauer: Das Recht im Bild. Bildquellen des Mittelalters als Informationsträger für die Rechtsgeschichte. In: Kloster und Bildung im Mittelalter. Hgg. von Nathalie Kruppa und Jürgen Wilke. Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Band 218/ Studien zur Germania Sacra. Band 28), S. 263–300, hier S. 269; Hayduk: Rechtsidee (wie Anm. 12), S. 120. 58 Vgl. H, fol. 19r; O, fol. 75r/v; D, fol. 43r; W, fol. 47r. In D und W ist das Bild zum letzten Satz von Ldr. III,43 jedoch irrtümlich nicht nur mit der Anfangsinitiale zu diesem Satz (N) versehen worden, sondern auch mit der Anfangsinitiale von Ldr. III,43 (S). Offenbar erwartete der Rubrikator hier die Bebilderung eines jeden Kapitels.

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um die Sachsen. Auch in der Bebilderung wird das Geschichtsmodell der translatio imperii also nicht isoliert präsentiert, sondern wie im Text funktional eingebunden. Die Gestaltung der Bilder im Einzelnen lässt sich teilweise auf medienspezifische Transferprozesse zurückführen, wenn etwa die Befriedung und Belehnung durch das Bildzeichen der heraldischen Lilie ausgedrückt werden59 oder die Zahl der Schiffe gegenüber 300 im Text im Bild auf eines reduziert ist. Dass im mittleren Bild auf fol. 75v zur Visualisierung der Ausführungen über Rom als Sitz der geistlichen und weltlichen Macht nicht die Stadt Rom erscheint, sondern menschliche Figuren, könnte man ebenfalls als Resultat eines medienspezifischen In-Szene-Setzens betrachten. Daneben gibt es jedoch – gerade in diesem Bild – auch deutliche Merkmale einer inhaltlichen Interpretation, denn es sind nicht die im Text genannten beiden Schwerter als Symbole für die geistliche und die weltliche Macht zu sehen: Abgebildet ist die Überreichung des Schlüssels an Petrus, die man aus Matthäus 16,9 ableiten kann. Am Anfang von O im Bild zu Ldr. I,1 ist dagegen dargestellt, wie Gott Kaiser und Papst jeweils ein Schwert übergibt (fol. 6v, drittes Bild; Abb. 6).60 Dadurch wird die imperiale Version der Zweischwerterlehre erkennbar gemacht, die dem Papst bekanntlich allein die geistliche Herrschaft zuweist. Vielleicht sollte zur Verdeutlichung der Argumentation in Ldr. III,44 dieser Aspekt durch die Darstellung der Schlüsselübergabe akzentuiert werden (fol. 75v), schließlich handelt es sich nach Matthäus um den Schlüssel zu G o t t e s neuem Reich. Auf jeden Fall wird hier durch das Bild mit seinem Bibelbezug dem Text ein neuer Aspekt hinzugefügt.61 Zugleich bleibt das Schwert für den weltlichen Herrscher reserviert, der durch die im Bild darüber zu sehende translatio imperii legitimiert ist.62

59 Im Bildleistenkommentar (in: Schmidt-Wiegand [Hg.]: «Oldenburger Sachsenspiegel» [wie Anm. 54], Kommentarband, S. 171–263, hier S. 249) wird die Lilie als Zeichen der Belehnung interpretiert (gestützt werden kann diese Interpretation durch die Tatsache, dass auf dem analogen Bild in H [fol. 19v3] Zweige überreicht werden). Die Lilie ist in den Bilderhandschriften jedoch auch ein eingeführtes Friedenssymbol. Vgl. Dagmar Hüpper: Die Bildersprache. Zur Funktion der Illustration. In: Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Aufsätze und Untersuchungen. Kommentarband zur Faksimile-Ausgabe. Hg. von Ruth Schmidt-Wiegand. Berlin 1993, S. 143–162, hier S. 153. 60 Zu dieser Szene in allen vier Codices picturati vgl. Schmidt: Verhältnis (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 109. 61 Hayduk (Rechtsidee [wie Anm. 12], S. 172f.) berücksichtigt diese Visualisierung der ‚Zweischwerterlehre‘ bei ihren verallgemeinernden Ausführungen zu diesem Motiv in den Codices picturati nicht, macht aber für die Prologbilder in O (fol. 6r; Abb. 5) darauf aufmerksam, dass durch die Abwandlung traditioneller ikonographischer Formeln interpretatorische Schwerpunkte gesetzt werden (vgl. auch ebd., S. 137–139). 62 Vgl. dazu auch Schmidt: Verhältnis (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 112f. Er weist zusätzlich darauf hin, dass der weltliche Herrscher im Gegensatz zum Papst nicht in einer Empfängerposition kniet und mit dem Zepter ein weiteres Herrschaftszeichen trägt. Außerdem werde gezeigt, dass das Schwert des weltlichen Herrschers älter sei als der Schlüssel des Papstes, weil es bis in den Anfang der Weltgeschichte zurückgeführt werden könne. Vgl. auch alternative Deutungen bei Ruth Schmidt-Wiegand: Autor und Illustrator in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. In: Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag. Hgg. von Gerhard Köbler und Hermann Nehlsen. München 1997, S. 1043–1064, hier S. 1057.



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In dieses Bild sind die im Text genannten Stationen aufgenommen:63 die Herrschaft Babylons (visualisiert durch die rechts auf einem Turm sitzende Königsfigur), die über Kyros, Darius und Alexander den Großen schließlich an Julius Caesar gelangt. Durch die Geste des Krone-vom-Kopf-Nehmens ist der Übergang der Herrschaft und damit – dem Text entsprechend – auch ein zeitlicher Ablauf angedeutet.64 Sorgfältig ist dabei differenziert, ob im Text davon die Rede ist, dass ein Herrscher den anderen persönlich überwand oder ob er sich des Reichs bemächtigte: Denn nur Alexander, von dem im Text gesagt wird, dass er Darius besiegt habe, wird bei einer Gewaltaktion dargestellt.65 Im entsprechenden Bild in H wird zusätzlich eindeutig markiert, dass der Übergang der Krone von Kyros an Darius friedlich war, indem Darius in Zivil gezeigt wird, während außer Alexander und Caesar (wie in O) auch Kyros ein Schwert trägt.66 In W und D, die an dieser Stelle wohl eine sekundäre Bildstufe zeigen, sind diese Differenzierungen aufgehoben. Offensichtlich sind die Nuancierungen der Darstellung in H aus den Vorgangsverben des Textes abgeleitet. Es ist deshalb fraglich, ob noch weiteres historisches ‚Wissen‘ eingeflossen ist, wenn in allen vier Codices picturati gezeigt wird, dass Alexander Darius tötet, oder ob es sich um eine sinnbildliche Umsetzung des Textes handelt.67 Außer Frage steht dagegen, dass die in den Bildern jeweils gegebene Fünfzahl der Herrscherfiguren aus dem Text übernommen wurde. Dass die symbolische Vierzahl der Weltreiche nicht visualisiert worden sei, ist in der Forschung kritisch angemerkt worden.68 Ist das Geschichtsmodell des Textes hier also missverstanden worden? Wie die obige Textanalyse gezeigt hat, legt auch der Text den Schwerpunkt nicht auf die Vierzahl der Reiche, sondern auf die einzelnen Herrscherpersönlichkeiten und ihr Vorgehen. Man kann also höchstens festhalten, dass der Text im Bild nicht vereindeutigend auf das Modell der Vier-Reiche-Lehre hin interpretiert worden ist.69 Dafür erlaubt es die visualisierte Abfolge von Einzelherrschern, auch den Herrscher im Bild darunter als Fortsetzer 63 Zur Interpretation vgl. auch Schmidt: Verhältnis (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 109–112. 64 Insofern kann die Darstellung als narrativ gelten. Vgl. dazu Manuwald: Dialog (wie Anm. 12), S. 37–49, 444. 65 In O erscheint sein Angriff auf Darius durch die abwertende Profilansicht in negativem Licht. 66 Vgl. dazu Karl von Amira: Die Dresdener Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Bd. 2: Erläuterungen, Teil 2. Leipzig 1926, S. 26f. 67 Von Amira (Bilderhandschrift [wie Anm. 66], Teil 2, S. 26) betont das ‚Widerhistorische‘ der Darstellung. Es ist aber fraglich, ob man die Realgeschichte zum Maßstab machen soll oder vielmehr Geschichtserzählungen wie etwa den biblisch orientierten «Vorauer Alexander», nach dem Alexander Darius ebenfalls tötet. In H und O ist das Motiv jedenfalls interpretatorisch belastbarer als in D und W, wo jeweils auch zu sehen ist, dass Darius Kyros ersticht. 68 Nach Schott wird der Textsinn sogar „verdunkelt“. Vgl. Clausdieter Schott: Zur bildlichen Wiedergabe abstrakter Textstellen im Sachsenspiegel. In: Schmidt-Wiegand (Hg.): Text (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 189–203; Bd. 2, Tafeln CXLIX–CLIV, hier Bd. 1, S. 190f. 69 Da die Fünfzahl der Herrscherfiguren aus dem Text abgeleitet werden kann und die Herrscherreihe zur Legitimation des weltlichen Schwerts hinführt, ist es unwahrscheinlich, dass die Zahl fünf hier als numerus imperfectus gesehen werden soll (so aber Drescher: Denkformen [wie Anm. 28], S. 144).

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dieser Reihe zu sehen. Dass er in O – anders als der weltliche Herrscher im Bild zur Zweischwerterlehre (Ldr. I,1) auf fol. 6v – in Rüstung gezeigt wird,70 verstärkt die Verbindungen zu den historischen Herrschern im Bild darüber.71 Wie einige von ihnen trägt der weltliche Herrscher im mittleren Bild auf fol. 75v ein Schwert – jedoch nicht mehr als Gewaltinstrument, vielmehr als Zeichen der Gerichtsbarkeit (wie man aus dem Text erschließen kann).72 Insofern wird in den Bildern auch eine ganz eigene Geschichte der Herkunft der weltlichen Gerichtsbarkeit erzählt. Dass bei der Auslegung des «Sachsenspiegel»-Texts nicht zwingend die Vierzahl der Reiche im Mittelpunkt stehen musste, lässt sich auch durch die (auf die Zeit zwischen 1325 und 1333 zu datierende) Glosse Johanns von Buch belegen. In den Ausführungen zu Ldr. III,44 (Cap. XLII)73 wird konstatiert, dass nach der Behandlung des natürlichen Rechts nun gezeigt werden solle, woher das gesetzte Recht stamme. Die einzelnen Herrschaftsstationen werden, anders als im «Sachsenspiegel»-Text, jeweils mit den dort erlassenen Gesetzen in Verbindung gebracht, z. B. die Römer mit dem Zwölftafelgesetz, dessen Grundstock – «Digesten» 1,2,2,4 entsprechend – auf die Griechen zurückgeführt wird. In der Argumentation der Glosse werden die Herrscher nicht als Repräsentanten für ihr Reich verstanden, sondern als Einzelpersonen, denn es wird betont, dass ‚die alten Setzungen‘ verschwunden seien, als Caesar erschlagen worden sei. Der Glossator fühlt sich deshalb bemüßigt, die Reihe der Herrscher fortzusetzen, und erklärt, dass das ‚heute‘ gültige Recht mit Kaiser Konstantin seinen Anfang genommen habe, dann werden noch weitere Namen genannt. Angesichts der Bemühungen Johanns von Buch, das gelehrte Recht mit dem Sachsenrecht zu harmonisieren, ist es wenig überraschend, dass Justinian besonders herausgehoben wird. Über die Figur Konstantins schließt sich für den Rezipienten der Glosse die Herleitung des gesetzten Rechts mit den Ausführungen im Textus prologi zusammen. Während in der geschriebenen Glosse Interpretationstendenzen eindeutig auszumachen sind, ist für die den Text begleitenden Bilder nicht von vornherein offenkundig, dass die Ikonographie auf einer eigenständigen Auseinandersetzung mit Geschichtsmodellen beruht. Ein Paradebeispiel dafür, dass eine solche Auseinandersetzung nicht erfolgt ist, scheinen die Bilder zur Quaestio über die Unfreiheit zu sein.74 Sie verweisen jeweils auf die Argumente, die im «Sachsenspiegel»-Text aufgeführt, aber auch wider70 Ebenso in H (fol. 19v1), nicht jedoch in D (fol. 43v1) und W (fol. 47v1). 71 Nach Schmidt (Verhältnis [wie Anm. 26], Bd. 1, S. 113) dagegen soll die Rüstung anzeigen, dass der Kaiser sich das Schwert „auf der Romfahrt geholt“ habe. 72 Zum Bedeutungsspektrum des Schwerts vgl. allgemein Friedrich Merzbacher: Schwert. In: LcI. Hg. von Engelbert Kirschbaum in Verbindung mit Günter Bandmann u. a. Bd. 4. Rom u. a. 1972, Sp. 136f.; in Bezug auf die Eingangssequenzen der Codices picturati vgl. Schmidt: Verhältnis (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 115. 73 Vgl. Kaufmann (Hg.): «Buch’sche Glosse» (wie Anm. 44), Bd. 3, S. 1211–1223, bes. S. 1212–1215. Zum Geschichtsbild in der Buch’schen Glosse vgl. Kannowski: Umgestaltung (wie Anm. 44), S. 557– 560. 74 Vgl. dazu Schott: Wiedergabe (wie Anm. 68), Bd. 1, S. 191.



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legt werden.75 In W ist beispielsweise auf fol. 46v (Abb. 1) im zweiten Bildstreifen von unten Noah in der Arche zu sehen, der zweien seiner Söhne zugewandt ist, während der dritte abseits steht. Dass das Bild die Widerlegung des Arguments, dass die Unfreiheit von Ham komme, nicht wiedergibt, ist in der Forschung bemängelt worden.76 Ein Grund für das Fehlen des Gegenarguments im Bild dürfte jedoch darin liegen, dass Verneinungen im Bild generell schwierig zu visualisieren sind (außer mit Hilfe konventioneller Zeichen).77 Dem Bild deshalb zu unterstellen, dass es das im Text widerlegte Argument affirmiert, ist aber eine zu weit gehende Annahme, vielmehr wird die Grundkonstellation des Arguments vor Augen gestellt. Derjenige, der das Bild entworfen hat, entschied sich offenbar für eine figurenzentrierte (nicht etwa eine kartographische)78 Darstellungsweise, um einen Aspekt des Textes, eine Episode der biblischen Geschichte, zu vergegenwärtigen. Trotz der medienspezifischen Beschränkung liegt also eine interpretierende Verbildlichung vor. Die Figurenzentriertheit der Darstellungsweise hat zwei Bildstreifen darüber zu einer besonders nachdrücklichen Verdeutlichung der heilsgeschichtlichen Zusammenhänge geführt. Dieser zweite Bildstreifen auf fol. 46v79 bezieht sich auf die Eingangspassage zur Quaestio (Ldr. III,42§1): Got hevet den man na ime selven gebeldet, unde hevet ine mit siner martere geledeget, den enen also den anderen, ime is die arme also besvas80 als die rike. Der rechte Teil des Bildstreifens zeigt textentsprechend die Erschaffung Adams. Die dann genannte Erlösung wird im linken Teil des Bildstreifens an Adam und Eva (stellvertretend für alle Menschen) exemplifiziert, die Christus vom Kreuz herab aus dem Höllenschlund befreit (die grüne Farbe des Kreuzes dürfte die Bejahung des Lebens unterstreichen). In Anspielung auf Vorstellungen von der Höllenfahrt Christi wird die Identität des von Gott geschaffenen und erlösten Menschen betont und in ein konkretes historisches Nacheinander übersetzt. Dabei hebt der Kreuznimbus die Identität des Schöpfergottes und des gekreuzigten Christus hervor. Die szenische Verdichtung lässt den Zusammenhang von Martyrium und Erlösung besonders gut

75 H, fol. 18v–19r; O, fol. 74r–75r; D, fol. 42v–43r; W, fol. 46v–47r. Für eine detaillierte Interpretation der einzelnen Bilder vgl. Drescher: Denkformen (wie Anm. 28), S. 260–381. 76 Vgl. Drescher: Denkformen (wie Anm. 28), S. 379. 77 So auch Drescher: Denkformen (wie Anm. 28), S. 380; zum Problem der Verneinung in Bildern vgl. generell Peter Gold: Bild und Negat. In: Bilder im Geiste. Zur kognitiven und erkenntnistheoretischen Funktion piktoraler Repräsentationen. Hg. von Klaus Sachs-Hombach. Amsterdam/Atlanta, Georgia 1995 (Philosophie & Repräsentation. Band 3), S. 235–255. 78 Vgl. etwa die Zuordnung der Namen der Noah-Söhne zu Afrika, Asien und Europa in der Palimpsest-Karte aus dem Codex St. Gallen 237 (fol. 1r). 79 Ausführliche Interpretation bei Clausdieter Schott: Sachsenspiegel und Biblia Pauperum. In: Schmidt-Wiegand (Hg.): Text (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 45–58; Bd. 2, Tafeln XXXI–LII, hier Bd. 1, S. 56–58, und Drescher: Denkformen (wie Anm. 28), S. 268–287. 80 Etliche Handschriften lesen hier lieph (lef). Vgl. dazu den Apparat von Homeyer (Hg.): «Landrecht» (wie Anm. 1).

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erkennen, während die Textaussage, dass Arme und Reiche Gott in gleicher Weise nahestehen, nicht visualisiert ist.81 In Bezug auf die Quaestio über die Unfreiheit lässt sich also festhalten, dass in den Bildern zwar dem Medium entsprechend keine argumentative Auseinandersetzung mit den im Text diskutierten historischen Erklärungen für die Unfreiheit erfolgt, dass aber durch die Auswahl und Gestaltung der dargestellten Szenen die Heilsgeschichte an sich – gegenüber der Argumentation im Text – ein großes Gewicht gewinnt und auf diese Weise doch die dem Text zu entnehmenden Geschichtskonzeptionen eigenständig akzentuiert werden. Neben solchen interpretierenden Umsetzungen des Textes finden sich in den Codices picturati auch bildliche Inszenierungen, die Sinnzusammenhänge entwerfen, die so nicht im Text präsent sind. Das sei an der unterschiedlichen Visualisierung der Weltalterlehre in W und O gezeigt.82 In W sind auf fol. 10v (Abb. 3) im zweiten und dritten Bildstreifen die im Text namentlich genannten Personen zu sehen, mit denen die Weltalter jeweils begonnen haben (zu lesen jeweils von rechts nach links: Adam, Noah, Abraham; Mose, David, Christi Geburt). Dass König David auf die Geburtsszene zeigt, ist eine Verknüpfung der historischen Zusammenhänge, die über die schematische Aufzählung des Textes hinausgeht.83 Im Übrigen folgen die Bilder dem Text insofern, als die Darstellung der Weltalter mit der einer Gruppe von ‚Zeitgenossen‘ abgeschlossen wird, bevor auf derselben Seite unten das hierarchische Modell der Heerschildordnung ins Bild gesetzt ist. Die Ausgestaltung der Wappen zeigt deutliche Aktualisierungstendenzen, z. B. ist das Wappen der weltlichen Reichsfürsten durch das Wappen der Markgrafen von Meißen repräsentiert (steigender schwarzer Löwe in Gold),84 so dass die Relevanz der Heerschildlehre für die Gegenwart erkennbar wird. In welchem Verhältnis sie zu dem historischen Modell der Weltalter steht, bleibt jedoch unklar, da der Analogiegedanke des Textes im Bild nicht wiedergegeben wird und die Darstellung der Heerschildordnung kompositorisch nur schwach mit der der Weltalter verknüpft ist.85 In O ist die Weltalterlehre (fol. 7v; Abb. 4) ebenso figurenorientiert ins Bild gesetzt worden wie in W: Im obersten Bildstreifen in O ist jedoch (rechts) den Repräsentanten der einzelnen Weltalter die im Text genannte Autoritätsfigur ‚Origenes‘ mit Redegestus vorangestellt. Vor allem aber befinden sich in O – im Unterschied zu W – die Figuren, 81 Diese Aussage ist in W (auch in H und D) im Text abgeschwächt, indem sie ins Präteritum gesetzt worden ist, so dass sie auf den Zeitpunkt der Erlösung durch den Kreuzestod Jesu zu beziehen ist, nicht auf die Gegenwart. Auf welcher Textgrundlage die in allen Codices picturati von der Grundaussage her vergleichbare Bildkomposition entwickelt wurde, muss jedoch offenbleiben. 82 Zu den Weltalter-Bildern vgl. Drescher: Denkformen (wie Anm. 28), S. 137–183. 83 Dazu und zu weiteren gestischen Verknüpfungen der Repräsentanten der einzelnen Weltalter vgl. Drescher: Denkformen (wie Anm. 28), S. 178f. 84 Vgl. dazu Klaus Nass: Die Wappen in der Wolfenbütteler Handschrift des Sachsenspiegels. In: Schmidt-Wiegand (Hg.): Bilderhandschrift (wie Anm. 59), S. 97–105. 85 Zur Gestik der Figuren des siebten Weltalters vgl. Drescher: Denkformen (wie Anm. 28), S. 140– 144 (lies 142, 144, 143).



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die für das siebte Weltalter stehen, zwischen den Schilden, die die Heerschildordnung repräsentieren (unten auf fol. 7v). Diese Anordnung könnte man auf Probleme zurückführen, die der Zeichner von O möglicherweise bei der Einteilung des Platzes hatte: Er brachte auf fol. 6r bis 8r so viele Bilder unter, dass er fol. 8v und 9r freilassen musste, um wieder eine räumliche Korrespondenz zwischen Text und Bildern zu erreichen. Da durch die verdichtete Bilderfolge jedoch kohärente Sinneinheiten auf den einzelnen Seiten entstanden sind (fol. 7r: Gerichtsbarkeit; fol. 7v: Weltalter; fol. 8r: Erbfähigkeit), ist bei dem Zeichner eher eine positive Gestaltungsabsicht zu vermuten.86 Dann lässt sich die Positionierung der Figuren des siebten Weltalters zwischen den Heerschilden als eine Verknüpfung der aktuellen politischen Ordnung mit der historischen Ordnung verstehen, denn es wird augenscheinlich gemacht, dass die Heerschildlehre sich auf die Menschen im siebten Weltalter bezieht.87 Dieser Gedanke ist im Text, der sich ganz auf die Analogie zwischen Weltalter- und Heerschildlehre konzentriert, so nicht formuliert.88 Hier ist das bildspezifische Mittel der Komposition dazu genutzt worden, eigenständig historische Sinnzusammenhänge darzustellen. Innerhalb des oben genannten Gestaltungsrahmens sind also bei der Visualisierung von Geschichtsmodellen Akzentuierungen zu beobachten, die nicht allein durch die spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten des Bildmediums bestimmt sind.

Die Gesamtinszenierung von O und W Angesichts der bisher betrachteten punktuellen Interpretation des Textes durch die Bilder stellt sich die Frage, ob in den Handschriften auch generelle Tendenzen in der Funktionalisierung von Vergangenheit zu beobachten sind, insbesondere was den Umgang mit dem im Text gegebenen Nebeneinander von Heilsgeschichte und ‚poli86 Eine solche Deutung ist nicht von vornherein dadurch ausgeschlossen, dass der Künstler an anderen Stellen anscheinend Probleme hatte, seine Vorlagen seitenrichtig wiederzugeben und mit dem Text zu harmonisieren. Vgl. dazu Karl von Amira: Die Genealogie der Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. München 1902 (Königlich Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophischhistorische Klasse. Band 22,2), S. 325–385, hier S. 366–368. Päsler sieht den Zusammenhang zwischen Text und Bild als gestört an und spricht sogar von einem „gescheiterten Buchprojekt“. Vgl. Ralf G. Päsler: Die Oldenburger Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels» als Medienprojekt des Oldenburger Grafenhauses. ZfdA 138 (2009) S. 468–484, hier S. 478. Allein mit der geringeren Zeilenzahl von O gegenüber den anderen Bilderhandschriften, auf die Päsler (ebd.) die ungleichmäßige Bilderdichte in O maßgeblich zurückführt, lässt sich die Bildverteilung nicht erklären, denn durch eine größere Höhe der Bildzeilen hätte sich eine Korrespondenz von Text und Bild trotzdem erreichen lassen, so wie es an etlichen Stellen von O auch geschehen ist. 87 Der Bezug zwischen den Menschen im siebten Weltalter und den Heerschilden wird auch durch die Gestik der Figuren unterstrichen. Vgl. dazu von Amira: Bilderhandschrift (wie Anm. 66), Teil 1. Leipzig 1925, S. 150. 88 Der Gegenwartsbezug wird dort nur durch das ‚Wir‘ in dem Satz über das siebte Weltalter ausgedrückt (Ldr. I,3§1).

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tischer‘ Geschichte angeht. Wie fügen sich die Bilder zu Geschichtsmodellen in die Inszenierung des «Sachsenspiegels» in den Handschriften insgesamt jeweils ein?89 Besonders aufschlussreich für das Gesamtkonzept der Codices picturati ist die jeweilige Bebilderung zu Beginn des «Sachsenspiegel»-Textes. In O (fol. 6r; Abb. 5) fällt im ersten Bild das Balkenwappen Graf Johanns III. von Oldenburg ins Auge, das nicht nur den Auftraggeber angibt, sondern – zusammen mit dem noch zu diskutierenden Kolophon – dem ganzen Buch einen (vom Text unabhängigen) Gegenwartsbezug verleiht. Aus dem «Sachsenspiegel»-Prolog sind bildlich zwei Aspekte hervorgehoben: die Anrufung des Heiligen Geistes durch den Autor als Mönch (wenn auch untonsuriert) in einer Kutte (im obersten Bild) und die Aufforderung, dass alle diejenigen, denen von Gott gerichte90 übertragen sei, bemüht sein sollten, so zu richten, dass Gottes Zorn und Gericht gnädig über sie ergehen möge (im mittleren Bild). Im Bild ist offenbar konkret an einen König oder Kaiser gedacht,91 und es sieht fast so aus, als wolle Gott sein Richtschwert der (mit Betgestus?) zu seiner Rechten knienden gekrönten Figur übergeben.92 Entscheidend ist aber, dass hier der Repräsentant der weltlichen Gerichtsbarkeit als ‚Gerechter‘ (zur Rechten Gottes) erscheint und so das Vertrauen in Autoritätsfiguren gestärkt wird. Die folgenden Bilder beziehen sich auf die historische Perspektive des Textus Prologi und verweisen mit der Erschaffung Adams (unten auf fol. 6r) und dem Sündenfall (oben auf fol. 6v; Abb. 6) auf wichtige Stationen der Heilsgeschichte. Die Erlösung der Menschen ist allerdings nicht visualisiert, sondern das nächste Bild thematisiert die Tradierung des christlichen Rechts. Auf einer Thronbank sitzen zwei gekrönte Figuren (die Kaiser Konstantin und Karl), daneben eine Figur mit Gugel. Die links vor der Thronbank stehenden Figuren drücken durch ihre Handgesten ihre Untergebenheit und Unwissenheit aus. Sie sind also der Unterweisung bedürftig.93 89 Im Folgenden werden die Sinnzusammenhänge, die sich innerhalb der Handschriften ergeben, deskriptiv erfasst. Ob sie alle vom Konzeptor der jeweiligen Handschrift intendiert waren, muss genauso offenbleiben wie die Frage nach dem direkten Einfluss des jeweiligen Auftraggebers. 90 D. h. ‚Gericht‘, ‚Handhabung der Gerechtigkeit, des Richteramtes‘, ‚Entscheidung der Rechtssachen‘, ‚Gerichtsverfahren‘, ‚Urteil‘, aber auch allgemeiner: ‚königliche Gewalt‘ (vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearb. von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. Bd. 2,1. Leipzig 1863, S. 646–649; Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke. Bd. 1. Leipzig 1872, Sp. 880). 91 Nach dem Text können mit denjenigen, denen gerichte übertragen ist, auch die Urteiler gemeint sein. 92 So auch Hayduk (Rechtsidee [wie Anm. 12], S. 173), die in der Übergabe des Schwerts zugleich den Beginn des irdischen Rechts sieht, das mit dem in der Bildzeile durch den Höllenrachen ebenfalls repräsentierten Jüngsten Gericht sein Ende finde. Angesichts des klar wertenden Rechts-linksSchemas ist die von Hayduk angenommene Zeitperspektive jedoch eher unwahrscheinlich, zumal ab dem nächsten Bild ein Zeitablauf entfaltet wird, der vor der Wahrung des irdischen Rechts durch den Kaiser ansetzt. Zur Kombination von Bildmustern des Weltgerichts und des weltlichen Gerichts in der mittleren Bildzeile vgl. auch Bertelsmeier-Kierst: Kommunikation (wie Anm. 4), S. 122. 93 Vgl. dazu den Bildleistenkommentar (wie Anm. 59), S. 180.



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Ihre Haltung korrespondiert mit der derjenigen, die auf fol. 7r abgebildet sind, wie sie die in Ldr. I,2 genannten verschiedenen Gerichte aufsuchen. Durch die Parallelität der Darstellung einer rechtlichen Unterweisung gewinnt das Bild mit Konstantin und Karl einen Gegenwartsbezug, der leicht anders gelagert ist als im Text, in dem das aktuelle Rechtssystem auf die beiden christlichen Kaiser zurückgeführt wird. Insgesamt folgen die Bilder jedoch linear dem Text. Beim Vergleich der Illustrationen von W mit denen von O fallen große Differenzen ins Auge.94 So erscheint die Autorfigur in W im grünen Gewand eines Edelfreien und nicht als Mönch (fol. 9v; Abb. 7). Auch wird als Resultat der Inspiration durch den Heiligen Geist nicht ein Buch gezeigt, vielmehr führt zu Mund und Hand des Autors ein leeres Schrift- oder Spruchband, das für die (mündliche?) Vermittlung des Rechts an den Autor stehen mag. Der hervorstechendste Unterschied zwischen den Handschriften W und O ist aber sicherlich, dass die Autorfigur in W vor den Kaisern Konstantin und Karl kniet, die den Hauptteil des Bildstreifens einnehmen. Sie sitzen gekrönt, mit Reichsapfel beziehungsweise Zepter in der Hand, in einer Thronarchitektur und scheinen dem Autor das Recht mitzuteilen. Die göttliche Inspiration ist hier mit der Legitimation des Werks durch Herrscherautoritäten kombiniert, ihr beinahe nachgeordnet.95 Die Darstellung der beiden Kaiser wird dann nicht noch einmal an der eigentlich einschlägigen Textstelle am Ende des Textus Prologi wiederholt, sondern nach dem Bild zum Sündenfall folgt (im obersten Bild auf fol. 10r) direkt die Illustration zur Zweischwerterlehre, also zu Ldr. I,2. Dass die Bilderfolge zum «Sachsenspiegel» in W (so auch in D) mit der Abbildung der beiden Kaiser Konstantin und Karl eröffnet wird, dürfte in der Entwicklung der Ikonographie der Codices picturati sekundär sein.96 Das Kaiser-Doppelbild korrespondiert mit dem jeweiligen Eingangsbild der beiden Handschriften:97 In W und D ist dem «Sachsenspiegel»-Text der Text des «Mainzer Landfriedens» vorgeschaltet, zu dessen Beginn innerhalb einer Thronarchitektur eine gekrönte Figur in Richterpose (mit gekreuzten Beinen) dargestellt ist, die Reichsapfel und Zepter in den Händen hält (W, fol. 1r; Abb. 8); gemeint ist Friedrich II.98 Offenbar sollte über ähnliche Bildformeln

94 Sie haben in der Forschungsliteratur schon gebührende Aufmerksamkeit gefunden. Vgl. vor allem Drescher: Denkformen (wie Anm. 28), S. 88–98; Schmidt-Wiegand: Autor (wie Anm. 62), S. 1049–1053; Dies.: Die Legitimation des Textes durch das Bild in illuminierten Handschriften mittelalterlicher Rechtsbücher. In: Meier u. a. (Hgg.): Dimensionen (wie Anm. 43) S. 121–134, Abb. 1–20 (S. 381–396), hier S. 127f. Vgl. jüngst auch Hayduk: Rechtsidee (wie Anm. 12), S. 137–141. 95 Am Schluss der Handschrift (im obersten Bild auf fol. 85r) wird die Verbindung von Gott und Recht jedoch ikonographisch hervorgehoben, indem das Werk selbst als ein Buch dargestellt ist, aus dem ein Gotteskopf herausragt. Hier scheint das Bemühen, die einzelnen Textelemente («Lnr.» 78§3) zu verbildlichen, dominant gewesen zu sein. 96 Vgl. Schmidt-Wiegand: Autor (wie Anm. 62), S. 1051. 97 Vgl. Schmidt-Wiegand: Autor (wie Anm. 62), S. 1053; Dies.: Legitimation (wie Anm. 94), S. 128. 98 Vgl. dazu Brigitte Janz: Wir sezzen unde gebiten… Der «Mainzer Reichslandfriede» in den Bilderhandschriften des «Sachsenspiegels». PBB 112 (1990) S. 242–266.

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und die jeweilige Anfangsposition der Bilder eine Analogie zwischen Friedrich II., der Recht erlässt, und Konstantin und Karl hergestellt werden. Der «Sachsenspiegel» erscheint so – wie der «Mainzer Landfriede» – als Kaiserrecht.99 Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Darstellung einer gekrönten Herrscherfigur mit Zepter zu Beginn des Lehnrechts (oberstes Bild auf fol. 59r; Abb. 9).100 Die Bilder vermitteln somit den Eindruck, dass das Recht von (historischen) Herrschern gesetzt beziehungsweise garantiert wird, eine Vorstellung, die am Ende des Textus Prologi nur anklingt. Erst in einem zweiten Schritt wird in W das Recht von Gott abgeleitet, indem Gott im zweiten Bildstreifen auf fol. 9v (Abb. 7) – ebenfalls thronend – mit Gerichtsschwert gezeigt wird. Im Gegensatz zum entsprechenden Bild in O ist dabei nicht die Szenerie des Jüngsten Gerichts verwendet worden. Umso mehr erscheint es so, als werde dem vor Gott knienden König das Gerichtsschwert übergeben. Auf diese Weise gewinnt das weltliche Schwert an Gewicht, denn das geistliche Schwert ist erst auf fol. 9v im Bild zur Zweischwerterlehre zu sehen. Dieser Gewichtung entspricht die bereits erwähnte bildliche Umsetzung des Textes von Ldr. III,44 mit der Darstellung der Überreichung des Petrus-Schlüssels statt des geistlichen Schwertes an den Papst, die sich in W (im obersten Bild auf fol. 47v) ebenso wie in O findet. Zur Prominenz der Herrscherfiguren in W insgesamt passt auch die personenorientierte Visualisierung der Weltreichslehre. Damit soll nicht gesagt sein, dass alle diese Bilder konzeptionell aufeinander bezogen sein sollten. Schließlich sind die beiden letztgenannten entsprechend auch in O vorhanden, gehen also auf Vorlagen zurück. Trotzdem lassen sich in W, so wie die Handschrift vorliegt, die gerade erläuterten Sinnzusammenhänge aufzeigen, die die weltliche Legitimation des Rechts betonen und tendenziell Figuren der ‚politischen‘ Geschichte in den Vordergrund stellen. Gegenüber den Eingangsbildern in W könnten die in O auf den ersten Blick wie reine Textillustrationen wirken. Dieser Eindruck ändert sich jedoch, wenn man den lateinischen Kolophon von O mit in die Interpretation einbezieht (fol. 113v–134r).101 Daraus geht bekanntlich hervor, dass der Text der Handschrift 1336 vom Benediktinermönch Hinricus Gloyesten im Kloster Rastede vollendet wurde, und es werden

99 Vgl. dazu Schmidt-Wiegand: Autor (wie Anm. 62), S. 1053; Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 1), S. 219. Insofern manifestiert sich ikonographisch hier eine Tendenz, die nach Lück (Sachsenspiegel [wie Anm. 24], S. 272) schon für die Zeit der Niederschrift des «Sachsenspiegels» anzunehmen ist und dann immer ausgeprägter wurde. 100 Vgl. dazu Schmidt-Wiegand: Legitimation (wie Anm. 94), S. 129. Sie weist zu Recht darauf hin, dass der Kaiser auch über das kaiserliche Wappen in der Wappenreihe präsent ist und damit markiert werde, dass sich das Lehnrecht ebenfalls aus dem Kaiserrecht herleitet. Allerdings scheint diese Herleitung weniger eine historische als eine hierarchische zu sein. – Auch die Darstellung einer Herrscherfigur zu Beginn des Lehnrechts ist wohl sekundär, vgl. die Lehrerfigur im ersten Bild auf fol. 1r in H. 101 Vgl. dazu Dagmar Hüpper: Der Kolophon. Ein Schreiber und sein Postskriptum. In: Die Oldenburger Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Hg. von Ruth Schmidt-Wiegand. Berlin/Hannover 1993 (KulturStiftung der Länder – Patrimonia. Band 50), S. 77–83; Päsler: Oldenburger Bilderhandschrift (wie Anm. 86), S. 471–475.



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auch der Auftraggeber und seine Motivation genannt. Graf Johann III. wird folgendermaßen eingeführt: […] Iste Iohannes comes erat filius Iohannis comitis de Oldenborch et domine Elizabeth filie illustris principis Iohannis ducis de Luneborch […].102 Der Name des Fürsten Johann Herzog von Lüneburg ist dabei als einziges Wort des Kolophons rubriziert. Es fällt auf, dass Johann III. nicht nur über seine Eltern genealogisch verankert ist, sondern über den Großvater eine Verbindung zum Welfenhof in Lüneburg hergestellt wird.103 Der darin zum Ausdruck kommenden Hochschätzung einer solchen genealogischen und zugleich hierarchischen Einordnung entspricht die oben aufgezeigte Verbindung historischer Entwicklungslinien mit der Heerschildordnung. Dem Kolophon ist zugleich ein Problembewusstsein in Bezug auf die Vergänglichkeit bestehender Ordnungen zu entnehmen, wenn als Motivation, das Recht aufschreiben zu lassen, für Johann III. angegeben wird, dass fast alle älteren Ritter und Vasallen seines Machtgebiets gestorben seien, so dass durch die Abwesenheit jener die Rechte seiner Vorfahren den jungen Vasallen, die dann lebten, zum großen Teil unbekannt gewesen seien. Die Präsenz des Buches werde dazu führen, dass in Streitfällen das Recht der Sachsen konsultiert würde. Das Buch soll also die mündliche Tradierung des Rechts durch die Vorfahren ersetzen.104 Entsprechend prominent ist das Buch im ersten Bild zum Prolog (fol. 6r; Abb. 5) ebenso wie das Wappen des Auftraggebers in Szene gesetzt.105 Indem Johann III. über das Buch die rechtliche Unterweisung seiner Ritter und Vasallen übernimmt, stellt er sich in die Reihe von Konstantin und Karl, die bei der mündlichen Unterweisung gezeigt werden (zweites Bild auf fol. 6v; Abb. 6).106 So dient die Abbildung der Kaiserfiguren nicht allein – wie in W – zur historischen Legitimie-

102 Der Text ist zitiert nach: Schmidt-Wiegand (Hg.): «Oldenburger Sachsenspiegel» (wie Anm. 54), Textband, S. 332. 103 Vgl. dazu Bernd Ulrich Hucker: Graf und Mönch – das herrschaftliche und gesellschaftliche Umfeld des Oldenburger Sachsenspiegels. In: der sassen speyghel. Sachsenspiegel – Recht – Alltag. Bd. 2: Beiträge und Katalog zur Ausstellung ‚Aus dem Leben gegriffen – ein Rechtsbuch spiegelt seine Zeit‘. Hg. von Mamoun Fansa. 2., verb. Aufl. Oldenburg 1995 (Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland. Beiheft 10), S. 51–60, hier S. 51–54. 104 Zur Glaubwürdigkeit dieser Passage vgl. Henrike Manuwald: Literate Illustrationsverfahren in volkssprachigen deutschen Handschriften. Ein Beitrag zur Mündlichkeitsdebatte. Poetica 40 (2008) S. 335–395, hier S. 369–372. – Zur Geltung des sächsischen Rechts im Herrschaftsgebiet Johanns III. vgl. Heinrich Schmidt: Der landesgeschichtliche Hintergrund des «Oldenburger Sachsenspiegels». In: Schmidt-Wiegand (Hg.): «Oldenburger Sachsenspiegel» (wie Anm. 54), Kommentarband, S. 39– 58, bes. S. 55. 105 Vgl. dazu Hayduk: Rechtsidee (wie Anm. 12), S. 138f. 106 Zu Bezügen zwischen der rechtlichen Unterweisung im zweiten Bild auf fol. 6v und dem Kolophon vgl. auch den Bildleistenkommentar (wie Anm. 59), S. 180. – Päsler (Oldenburger Bilderhandschrift [wie Anm. 86], S. 473) sieht im Akt der Verschriftlichung des Rechts sogar eine Privilegierung des Gewohnheitsrechts durch Johann III., der sich zu einer „rechtssetzenden und rechtsnormierenden Gewalt“ mache. Eindeutig nachweisbar ist eine solche Funktion nicht, aber in Anlehnung an die Rolle Karls, die zwischen Rechtsweitergabe und Rechtssetzung changiert, erscheint sie möglich.

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rung der im «Sachsenspiegel» beschriebenen Rechtsordnung, vielmehr dokumentiert die Vorbildfunktion der Kaiser für den Auftraggeber der Handschrift, wie das göttliche Recht zu tradieren ist. Auf diese Weise wird in O der Vorrang der göttlichen Legitimation des Rechts herausgestellt; die ‚politische‘ Geschichte wird der Heilsgeschichte untergeordnet, gewinnt aber durch eine enge Verbindung mit ihr zugleich an Autorität. Gemeinsam ist O und W also eine Würdigung von Autoritätsfiguren. Sie ist selbst dort ablesbar, wo im Text davon die Rede ist, dass die Sachsen Sonderrechte gegen Karls Willen behalten haben (Ldr. I,18). In den zugehörigen Darstellungen in O (fol. 15r unten; Abb. 10) und W (fol. 15r oben) sitzt Karl auf einem Thron, der in O besonders prächtig ausgestaltet ist, und scheint eher Regelungen zu erlassen. Das abstrakte Konzept des ‚alten Rechts‘ der Sachsen (Ldr. I,18§3) ist in den Bildern nicht präsent.107 Die für die Gruppe der Sachsen konstitutive Ursprungserzählung (Ldr. III,44) ist zwar jeweils bebildert, aber ohne dass die Sachsen und Thüringer über die Bewaffnung der Sachsen hinaus als für sich bestehende Gruppen irgendwie charakterisiert wären. Lediglich die aktualisierten Wappen in den einzelnen Handschriften deuten jeweils auf eine konkrete Benutzergruppe hin, wobei nur bei der Darstellung der Heerschildlehre in O auf fol. 7v eine Anbindung an ein Geschichtsmodell erfolgt ist. Das heißt, die Bilder zu Geschichtsmodellen wirken weniger durch die Festlegung auf eine spezifische Gruppe identitätsstiftend, sondern vielmehr dadurch, dass sie der Rechtsordnung Autorität verleihen und so auch die Benutzer aufwerten, die sich auf diese Ordnung stützen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Illustrationen in O ebenso wie in W eine relativ kohärente, jeweils spezifische Gesamtinszenierung der im «Sachsenspiegel»-Text präsenten Geschichtskonzeptionen präsentieren, wobei einerseits die Geschichtsmodelle interpretierend ins Bild gesetzt sind, andererseits Sinnzusammenhänge auch über Bezüge zu Paratexten (Kolophon), zur Mitüberlieferung («Mainzer Landfriede») und zu korrespondierenden Bildern (Eingangsbild zum «Mainzer Landfrieden») erzeugt werden. Nicht nur die Bilder werden als Mittel zur medialen Inszenierung genutzt, sondern auch die Handschrift insgesamt als ein Medium, das verschiedene Texte ineinander vereinen kann.

Funktion der visuellen Inszenierung Im Hinblick auf das aus den Bildern ableitbare Bemühen, die im «Sachsenspiegel»Text argumentativ eingebundenen Geschichtsmodelle jeweils eigenständig zu gewichten, kann man sich fragen, warum dafür überhaupt Bilder eingesetzt wurden. Bei der Beantwortung dieser Frage sind zwei Aspekte zu unterscheiden, zum einen 107 Das mag mit der Schwierigkeit zusammenhängen, Abstraktes zu visualisieren, fügt sich aber auch in die Entwicklung ein, dass der «Sachsenspiegel» immer weniger als partikulares Recht betrachtet wurde (vgl. dazu Lück: Sachsenspiegel [wie Anm. 24], S. 271).



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die Tatsache, dass der «Sachsenspiegel»-Text selbst im Laufe seiner weiteren Verbreitung nur in begrenztem Maß verändert, das heißt dem jeweiligen Verständnis entsprechend umgeschrieben wurde. Das in ihm kodifizierte Recht hatte offenbar schnell eine solche Autorität gewonnen, dass weitergehende Anpassungen an neue Gegebenheiten vor allem durch Glossen vorgenommen wurden.108 Symptomatisch dafür ist das Bestreben Johanns von Buch, durch seine Glosse den Text mit dem römischen Recht und dem kanonischen Recht zu harmonisieren und als Kaiserrecht zu stilisieren.109 Eine entsprechende Funktion erfüllt in D und W der vorangestellte «Mainzer Landfriede». Der zweite Aspekt betrifft den spezifischen ‚Mehrwert‘ von Bildern. Mit den Codices picturati des «Sachsenspiegels» wollte man gewiss repräsentative Handschriften schaffen, allerdings hätte man sich für diesen Zweck nicht mit Federzeichnungen begnügen müssen und die Bücher noch wesentlich kostbarer ausstatten lassen können. Auch sind die kleinteiligen Bilder als Propagandainstrument für große Rezipientengruppen nicht gut vorstellbar und eine praktische didaktische Tauglichkeit ist nicht ohne Weiteres zu erweisen.110 Einem kundigen Betrachter können die Illustrationen jedoch komplexe Sinnzusammenhänge einprägsam und komprimiert vor Augen führen. Die Funktion der Bilder scheint daher vor allem darin zu liegen, dass sie mit ihrer indirekten Kommentierung111 zur reflektierenden Vergegenwärtigung des Textinhalts dienen, und – im Hinblick auf die Bilder zu Geschichtsmodellen – auch zur Selbstvergewisserung des jeweiligen Auftraggebers und damit indirekt der auf den Rechtstext festgelegten Gemeinschaft.

Ausblick: die Verselbstständigung der Bilder Ungewöhnlich vor dem Hintergrund der durchgängigen Textbezogenheit der Bilder in den Codices picturati ist eine Darstellung des Rades der Fortuna in O (fol. 38v; Abb. 11),112 die abschließend betrachtet werden soll, weil dieses Bild dem Text eigenständige Gedanken über geschichtliche Prozesse hinzufügt. Das Bild vom Rad der Fortuna 108 Vgl. aber die Zusätze in den einzelnen Redaktionen (vgl. dazu Kümper: Sachsenrecht [wie Anm. 1]). Verschiedene Varianten im Wortlaut weisen außerdem auf die zunehmende Verbreitung des «Sachsenspiegels» hin: So lesen einige Handschriften in V. 97, dem Eingangsvers der Vorrede in Reimpaaren, dütschin statt sassen, bzw. im ersten Satz des Prologus fehlt der sassen. 109 Vgl. dazu zusammenfassend Kannowski: Umgestaltung (wie Anm. 44), S. 593. 110 Vgl. dazu Manuwald: Dialog (wie Anm. 12), S. 453–457; Kümper: Sachsenrecht (wie Anm. 1), S. 157–159 (jeweils mit weiterer Literatur). 111 Mit der Anlage der Seiten, der Verwendung von Verweisbuchstaben und der Technik der Federzeichnung sind formale Elemente einer Kommentartradition aufgenommen worden. Zum Fehlen der Verweisbuchstaben in O vgl. Scheele: Herstellung (wie Anm. 54), S. 70; zur Interpretation des Verweissystems und der Technik der Federzeichnung vgl. Manuwald: Dialog (wie Anm. 12), S. 320–323, 325f. 112 Die Zeichnung stammt von derselben Hand wie die umgebenden Illustrationen, lediglich die bräunlichen Gesichtszüge der Figuren sind später ergänzt.

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lässt sich keiner bestimmten Textstelle des «Sachsenspiegels» eindeutig zuordnen.113 Es gibt auch keine Parallele in den anderen erhaltenen Codices picturati.114 Unsicher ist allerdings, ob das Rad der Fortuna schon in der hypothetischen Vorlage von O enthalten war oder nicht.115 Abbildungen des Rades der Fortuna, die einen Text nicht illustrieren, sondern vielmehr kommentieren, finden sich nicht selten in mittelalterlichen Handschriften,116 denn über die diagrammatische Struktur lassen sich komprimiert Sinnkonzepte vermitteln, die dann memoriert werden können.117 In vielen Fällen spielt die bildliche Darstellung des Rades der Fortuna sicherlich auf «De consolatione philosophiae» des Boethius an und damit auf das dort thematisierte Verhältnis von göttlicher Providenz und menschlichem Handeln;118 aber Abbildungen des Rades der Fortuna tauchen auch als erklärendes Element in weltlicher Historiographie auf, wo das Motiv für den Rezipienten als Warnung vor superbia und als Aufforderung zur Demut fungieren kann.119 Welches Bedeutungsspektrum jeweils relevant ist, lässt sich letztlich nur aufgrund des Kontextes der Darstellung entscheiden. Vor dem Hintergrund der im «Sachsenspiegel»-Text parallel geführten Modelle der Heilsgeschichte und der weltlichen Herrschaftsgeschichte könnte man in der Abbildung des Rades der Fortuna in O, sofern damit auf die Überlegungen des Boethius angespielt sein sollte, einen

113 Vgl. dazu Anna Viola Siebert: Fortuna und ihr Rad. Die Bedeutung eines antiken Symbols im Mittelalter. In: Fansa (Hg.): sassen speyghel (wie Anm. 103), S. 91–96, hier S. 91. So auch Hayduk (Rechtsidee [wie Anm. 12], S. 121), die in der Motivwahl „programmatische Absichten“ vermutet, die Klärung der Text-Bild-Relation aber als Forschungsdesiderat stehen lässt. 114 Hayduk (Rechtsidee [wie Anm. 12], S. 108) hält es sogar für singulär in der gesamten Rechtsbuch­ illustration. 115 Scheele (Herstellung [wie Anm. 54], S. 66) führt das Rad der Fortuna wie anderes Sondergut in O auf die hypothetische Vorlage N zurück. Denkbar erscheint aber auch, dass der Oldenburger Zeichner das Bild aus seinem Vorlagenfundus neu eingebracht hat (so von Amira: Genealogie [wie Anm. 86], S. 368). Manche Gestaltungsschwierigkeiten des Künstlers (s. o. Anm. 86) lassen es möglich erscheinen, dass das Rad der Fortuna tatsächlich keinerlei Textbezug hat (so von Amira ebd.); es ist aber auch nicht auszuschließen, dass ein Textbezug intendiert war, zumal wenn man an den oben (S. bei Anm. 82) beobachteten Umgang mit dem Bildmaterial denkt. – Im Folgenden soll unabhängig von der Frage der Intention aufgezeigt werden, welche Interpretationsmöglichkeiten der status quo bietet. 116 Vgl. dazu Michael Schilling: Rota Fortunae. Beziehungen zwischen Bild und Text in mittelalterlichen Handschriften. In: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973. Hgg. von Wolfgang Harms und L. Peter Johnson. Berlin 1975 (Publications of the Institute of Germanic Studies University of London. Band 22), S. 293–313 (mit 6 Tafeln), hier S. 301–313. 117 Vgl. dazu Matthias Vollmer: Das Bild vor Augen – den Text im Kopf. Das Rad der Fortuna als textsubstituierendes Zeichen. In: Boethius Christianus? Transformationen der «Consolatio Philosophiae» in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hgg. von Reinhold F. Glei u. a. Berlin/New York 2010, S. 355–386. 118 Zum Fortuna-Konzept des Boethius vgl. Matthias Vollmer: Fortuna Diagrammatica. Das Rad der Fortuna als bildhafte Verschlüsselung der Schrift «De Consolatione Philosophiae» des Boethius. Frankfurt a. M. u. a. 2009 (Apeliotes. Studien zur Kulturgeschichte und Theologie. Band 3), S. 63–74. 119 Vgl. Schilling: Rota (wie Anm. 116), S. 305–307.



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Versuch der Harmonisierung sehen. Doch lassen sich weder aus der Gestaltung des Bildes noch aus seiner Positionierung entsprechende Hinweise ableiten. Die bildliche Konzeption des Rades in O folgt dem verbreiteten Schema der vier gekrönten Herrscherfiguren, deren Position am Rad und deren Körperhaltung den Wandel beziehungsweise die Gefährdung von Herrschaft symbolisieren. Bei der Figur in den Speichen des Rades muss es sich um Fortuna handeln; dass es eine weibliche Figur sein soll, kann man jedoch nur aufgrund der Gewandlänge und der angedeuteten Langhaarfrisur erahnen.120 Sie hält in der Hand eine leere Schriftrolle,121 die sich als Verweis auf Fortunas prophetischen Charakter deuten lässt.122 Der unten am Rad platzierte Herrscher, der seine Herrschaft verloren hat, scheint sich am Ende dieser Schriftrolle festzuhalten, jedenfalls wurde das bisher angenommen.123 Die horizontale Doppellinie an seiner rechten Hand ist jedoch schlüssiger als Parierstange eines Kurzschwerts zu deuten, in das er sich in seinem Unglück gestürzt hat, so dass die Klinge aus seinem Rücken wieder herauskommt. Für dieses Selbstmordmotiv gibt es ikonographische Parallelen.124 Auffällig dagegen ist, dass die thronende Herrscherfigur oben auf dem Rad außer dem Zepter einen Doppelbecher in ihren Händen hält (nicht etwa einen Reichsapfel). Ein Vergleich mit den anderen gekrönten Figuren in der Handschrift zeigt, dass das Zepter zum Zeichen der Königs-, selbst der Kaiserwürde in der Regel ausreicht (vgl. z. B. fol. 15r; Abb. 10). Der Doppelbecher ist das konventionelle Zeichen für Erbe, so auch im untersten Bild auf fol. 23r, das die Angabe im Text erläutert, dass bei einer Reichsacht das Erbe an den König fällt.125 Mit aller Vorsicht könnte man die Ausstattung des Herrschers mit einem Doppelbecher daher bildimmanent als Warnung davor deuten, dass auch ererbte Herrschaft nicht sicher und dem Wirken der Fortuna unterworfen ist. Hinter der Anspielung auf 120 Sie ist im Gegensatz zur Fortuna-Figur in vielen anderen Darstellungen nicht gekrönt, so dass die Herrschaftssymbole ganz auf die Könige konzentriert sind. 121 Vgl. als Parallele die Fortuna-Darstellung in den «Carmina Burana» (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4660, fol. 1r). Zur Deutung vgl. Elisabeth Klemm: Die illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek. Wiesbaden 1998 (Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Band 4), Kat.-Nr. 105, S. 121–123, hier S. 122. 122 Zur Schriftrolle als Attribut von Propheten vgl. Norbert H. Ott: Texte und Bilder. Beziehungen zwischen den Medien Kunst und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Horst Wenzel. Wien 2000, S. 105–143, hier S. 106f. 123 So der Bildleistenkommentar (wie Anm. 59), S. 211. 124 Vgl. die Eingangsminiatur zum «Bellum Judaicum» des Flavius Josephus auf fol. 203v des Clm 17404 der Bayerischen Staatsbibliothek (vgl. Schilling: Rota [wie Anm. 116], S. 305 und Abb. 3). 125 Dieses Bild ist auch ein Beleg dafür, dass der Doppelbecher nicht immer für eine Erbteilung steht (so aber Hüpper: Bildersprache [wie Anm. 59], S. 147f.). Zur Deutung des Doppelbechers als Zeichen für das Erbe vgl. den Bildleistenkommentar (wie Anm. 59), S. 211. – An welcher Vorlage sich die Darstellung des Rades der Fortuna auch immer orientiert, die Ikonographie wurde offensichtlich an die der anderen «Sachsenspiegel»-Bilder angepasst.

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den möglichen Verlust der Herrschaft könnte ein Geschichtsmodell stehen, wie es in den Bildern auf fol. 75v bei der Darstellung der translatio imperii zum Ausdruck kommt. Die sichtbare Gefährdung der (ererbten) Herrschaft korrespondiert innerhalb der Handschrift mit dem Kolophon, denn die im Rad der Fortuna manifeste Idee, dass Bestehendes nicht verlässlich ist, lässt sich auf die aus dem Kolophon zu erschließende Vorstellung beziehen, dass auch bestehende Ordnungen fragil sind und Ererbtes (!) bewahrt werden muss. Umgekehrt könnte die Darstellung des Rades der Fortuna auch als Bestätigung der Bemühungen Johanns III. von Oldenburg um die Rechtsordnung gesehen werden, wenn man die besonders in der Spruchdichtung präsente Deutungsmöglichkeit heranzieht, dass sich der gerechte Herrscher aufgrund seiner Tugenden in seiner Position halten kann.126 Wie es einem ungerechten König ergeht, demonstriert sinnfällig das Bild zum Widerstandsrecht (Ldr. III,78§2) in der dritten Bildzeile auf fol. 86r (Abb. 12). Dort wird der Widerstand, den ein man gegen seinen Richter beziehungsweise König leistet, um Unrecht zu verhindern, dadurch visualisiert, dass er mit einem Schwert in der Hand einer Herrscherfigur mit Zepter die Krone vom Kopf nimmt.127 Anders als beim Bild zur translatio imperii und bei der Darstellung des Rades der Fortuna besteht hier ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Verlust der Krone und einer Verfehlung des Herrschers. Wenn man auch für die Darstellung des Rades der Fortuna annimmt, dass das Thema der gerechten Herrschaft relevant ist, bleibt aber die Frage offen, warum es ausgerechnet auf fol. 38v gezeichnet worden ist. In dem Text auf der Seite (Ldr. II,3§1–4§1) geht es um Fristen bei einer Zweikampfklage und um Verfestung; dazu lässt sich keinerlei Bezug herstellen. Da in O Text- und Bildspalte manchmal jedoch leicht gegeneinander verschoben zu rezipieren sind, ist auch ein weiteres Textumfeld zu beachten. Auf der Seite davor findet sich ein Rechtsartikel (Ldr. II,1), in dem festgehalten wird, dass Fürsten oder Herren, die sich mit Eiden verbünden, gegen das 126 Vgl. dazu Ruth Schmidt-Wiegand: Fortuna Caesarea. Friedrich II. und Heinrich (VII.) im Urteil zeitgenössischer Spruchdichter. In: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst. Hgg. von Rüdiger Krohn u. a. Stuttgart 1979 (Karlsruher Kulturwissenschaftliche Arbeiten. Band 1), S. 195–205. 127 Zu den kontroversen Deutungen dieser Darstellung und des Textes von Ldr. III,78§2 vgl. Kan­ nowski: Umgestaltung (wie Anm. 44), S. 249–251. Neben der Interpretation des Schwertes als Kampfwerkzeug erscheint angesichts der Art, wie der man das Schwert aufgerichtet hält, auch möglich, dass es ein Rechtssymbol sein soll (die Darstellung in O ist wohl seitenverkehrt; in den beiden existierenden analogen Bildern [H, fol. 26r1; D, fol. 52r1] hat der man das Schwert jeweils in der rechten Hand). Vgl. als Parallele vor allem das mittlere Bild auf fol. 75v (Abb. 2). Eine analoge Schwerthaltung ist in den Bildern auch in anderen Kontexten zu beobachten, aus denen jeweils hervorgeht, dass das Schwert nicht als Kampfwerkzeug anzusehen ist: vgl. u. a. das Schwert als Zeichen der (Hoch-)Gerichtsbarkeit: z. B. fol. 23r1 (mit Schwertscheide), fol. 37r4 (ohne Schwertscheide); das Schwert als Zeichen für das Gerüfte: z. B. fol. 37r1; das Schwert als Richtinstrument in der Hand des Fronboten: z. B. fol. 80r1. Zum Bedeutungsspektrum des Schwerts vgl. auch Dietlinde Munzel-Everling: Die Verwendung von Rechtssymbolen in der Heidelberger Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. In: Kocher und Dies. (Hgg.): Heidelberger Bilderhandschrift (wie Anm. 12), Kommentarband, S. 141–147, hier S. 143.



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Reich handeln, wenn sie nicht ausdrücklich ausschließen, dass ihr Bündnis gegen das Reich gerichtet ist.128 Möglicherweise wird mit dem Bild vom Rad der Fortuna auf diesen Gedanken einer Gefährdung des Reichs angespielt, der gerade nach der durch Fürstenabsprachen zustande gekommenen Doppelwahl des Königs im Jahr 1314 und deren Folgen auch in Norddeutschland 1336 noch von gewisser zeitgeschichtlicher Aktualität gewesen sein könnte.129 Jedenfalls vermittelt das Bild mehr als der Text einen Eindruck von Veränderlichkeit, nicht als Ablauf in der Vergangenheit wie bei der textnahen Illustration der translatio imperii, sondern als bedrohliche Gefahr, wodurch die Notwendigkeit der Bewahrung des Hergebrachten umso dringlicher erscheint. Das Rad der Fortuna kann auf diese Weise nicht nur als Kommentar zu Vorgängen gelesen werden, wie sie in der politischen Geschichte zu beobachten sind, sondern lässt sich innerhalb des Gesamtkonzepts von O zugleich als indirekte Handlungsanweisung verstehen, die aus der Heilsgeschichte abgeleitete Rechtsordnung weiter zu tradieren. Als ein Ergebnis der Traditionswahrung mit den Mitteln der medialen Inszenierung kann auch die Handschrift O selbst gelten.

128 War vorsten eder heren mit eden sic to semende sekeret, se ne bescheden dat rike dar unbuten, so hebbet se weder dat rike dan. (zitiert nach: Schmidt-Wiegand [Hg.]: «Oldenburger Sachsenspiegel» [wie Anm. 54], Textband, S. 138). 129 Dass der König auf dem Rad der Fortuna einen Doppelbecher in der Hand hat, ist bei der Annahme dieser konkreten Bezugnahme allerdings erklärungsbedürftig, auch wenn die mit dem Motiv zum Ausdruck gebrachte Vorstellung vom Königtum zum dynastiebewussten Johann III. passen würde.

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Abb. 1: Wolfenbütteler Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels», 3. Viertel des 14. Jahrhunderts, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2°, fol. 46v/47r

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Abb. 2: Oldenburger Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels», 1336, Oldenburg, Landesbibliothek, Cim 410 I (Leihgabe der Niedersächsischen Sparkassenstiftung), fol. 75v/76r

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Abb. 3: Wolfenbütteler Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels», 3. Viertel des 14. Jahrhunderts, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2°, fol. 10v



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Abb. 4: Oldenburger Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels», 1336, Oldenburg, Landesbibliothek, Cim 410 I (Leihgabe der Niedersächsischen Sparkassenstiftung), fol. 7v

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Abb. 5: Oldenburger Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels», 1336, Oldenburg, Landesbibliothek, Cim 410 I (Leihgabe der Niedersächsischen Sparkassenstiftung), fol. 6r



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Abb. 6: Oldenburger Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels», 1336, Oldenburg, Landesbibliothek, Cim 410 I (Leihgabe der Niedersächsischen Sparkassenstiftung), fol. 6v/7r

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Mediale Inszenierungen von Geschichtsmodellen 

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Abb. 7: Wolfenbütteler Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels», 3. Viertel des 14. Jahrhunderts, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2°, fol. 9v/10r

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Abb. 8: Wolfenbütteler Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels», 3. Viertel des 14. Jahrhunderts, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2°, fol. 1r



Mediale Inszenierungen von Geschichtsmodellen 

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Abb. 9: Wolfenbütteler Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels», 3. Viertel des 14. Jahrhunderts, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2°, fol. 59r (Detail)

Abb. 10: Oldenburger Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels», 1336, Oldenburg, Landesbibliothek, Cim 410 I (Leihgabe der Niedersächsischen Sparkassenstiftung), fol. 15r (Detail)

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Abb. 11: Oldenburger Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels», 1336, Oldenburg, Landesbibliothek, Cim 410 I (Leihgabe der Niedersächsischen Sparkassenstiftung), fol. 38v



Mediale Inszenierungen von Geschichtsmodellen 

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Abb. 12: Oldenburger Bilderhandschrift des «Sachsenspiegels», 1336, Oldenburg, Landesbibliothek, Cim 410 I (Leihgabe der Niedersächsischen Sparkassenstiftung), fol. 86r (Detail)

Bildnachweis Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: 1; 3; 7–9 Landesbibliothek Oldenburg, Niedersächsische Sparkassenstiftung: 2; 4; 5f.; 10–12

Thomas Noll

Ordnungsmodelle in der Kunstgeschichte. Von Boccaccio, Alberti und Vasari zu Kugler und Riegl Im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts schuf Cimabue (um 1240–1301/1302) sein zweites, auf stilkritischem Weg ihm zuzuschreibendes Tafelkreuz (croce dipinta), das sich heute im Museo dell’Opera di S. Croce in Florenz befindet und das nicht zuletzt durch seine starke Beschädigung bei der Flutkatastrophe in Florenz 1966 und durch die anschließenden Restaurierungsmaßnahmen bekannt ist (Abb. 1).1 Es handelt sich um ein monumentales Kreuz, das ursprünglich in der Franziskanerkirche S. Croce (höchstwahrscheinlich) als Triumphkreuz diente und den toten Christus – ‚Christus patiens‘ – vor Augen bringt. Hochrechteckige Bildfelder, die an die Querarme des Kreuzes sich anschließen, zeigen die Halbfigurenbilder der trauernden Maria und Johannes; eine querrechteckige Tafel für den Titulus findet sich am oberen Kreuzesstamm, ornamentierte schmalhohe Felder beiderseits des unteren Schaftes und dessen Verbreiterung auch auf Höhe der Füße Christi ermöglichen die Wiedergabe des Erlösers in seiner über den Kreuzesstamm hinausgreifenden Körperlichkeit. Verloren ist ein Medaillon mit der Büste „des segnenden Erlösers“2 als Bekrönung des Kreuzes. Die Arme waagerecht ausgebreitet, mit geneigtem Kopf – den ein Nimbus hinterfängt – und weit nach links ausschwingendem Leib ist Christus mit vier Nägeln ans Kreuz geheftet. Überaus detailliert und differenziert modelliert erscheint der Körper, dessen Plastizität zumal durch ein fein gefälteltes, halb durchsichtiges Lendentuch noch betont wird. Eine leichte Drehung der Beine, die Überschneidung des rechten 1 Cimabue, Tafelkreuz, letztes Viertel 13. Jahrhundert, Tempera und Blattgoldauflagen auf Holz, 431 x 390 cm, Museo dell’Opera di S. Croce, Florenz. Enio Sindona: L’opera completa di Cimabue e il momento figurativo pregiottesco. Mailand 1975 (Classici dell’Arte. Band 81), Nr. 3; Umberto Baldini und Ornella Casazza: Das Kruzifix von Cimabue, Ausst.-Kat. Alte Pinakothek, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München, 22.9.–30.10.1983. Himberg bei Wien 1983; Luciano Bellosi: Cimabue. Apparati a cura di Giovanna Ragionieri. Mailand 1998, S. 96–102 und Kat. Nr. 2, S. 273f.; Maria Magrini: Cimabue. In: AKL. Hgg. von Günter Meissner u. a. Band 19. Berlin u. a. 1998, S. 220–224, hier S. 221; gegenüber der Datierung hier „in die 2. H[älfte]. der 1270er Jahre“ plädiert Michael Viktor Schwarz für eine Spätdatierung zwischen 1295 und 1301. Michael Viktor Schwarz und Pia Theis, unter Mitarbeit von Michaela Zöschg: Giottus pictor. 2 Bd.e. Wien u. a. 2004, 2008, Band 1: Giottos Leben, Band 2: Giottos Werke, hier Band 2, S. 284f. Zu Cimabues Kreuz im Gesamtzusammenhang der croci dipinte siehe insbesondere Marcello Gaeta: Giotto und die ‚Croci dipinte‘ des Trecento. Studien zu Typus, Genese und Rezeption. Mit einem Katalog der monumentalen Tafelkreuze des Trecento (ca. 1290–ca. 1400). (Diss. phil. Bonn 2008) Münster 2013 (Tholos. Kunsthistorische Studien. Band 6), S. 47‒63, mit einer Datierung „um 1275‒1285“ (S. 47). 2 Gaeta: Giotto (wie Anm. 1), S. 50; von einem „Medaillon mit Gottvater“ ist die Rede bei Schwarz und Theis: Giottus pictor. Band 2 (wie Anm. 1), S. 286; vgl. ebd., S. 281, Abb. 136.



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Abb. 1: Cimabue, Tafelkreuz, letztes Viertel 13. Jahrhundert, Tempera und Blattgoldauflagen auf Holz. Florenz, Museo dell’Opera di S. Croce. Bellosi: Cimabue (wie Anm. 1), Abb. S. 96.

durch das linke Bein, das mit dem Knie gegen den Betrachter vorzuragen scheint, verstärkt eine Illusion von Räumlichkeit, die schon durch die scheinbar den Rahmen des Kreuzes überlagernden Körper- und Gewandpartien – die Daumen der Hände, Kopf und Nimbus, das Lendentuch, Beine und Füße – absichtsvoll hervorgerufen wird. Demgegenüber bleiben die Proportionen und die anatomische Durchgestaltung des Körpers, ebenso wie dessen s-förmiger Schwung hinter einer naturalistischen Gestaltung zurück, oder richtiger: folgen dem Naturvorbild in dieser Hinsicht nicht. Und dies gilt auch für die Beziehung des Toten zu seinem Marterinstrument. Wiewohl aus

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allen fünf Wundmalen das Blut strömt und bei den Händen und Füßen in illusionistischer Weise scheinbar auf dem Rahmen sich staut, so dass auch in diesem Betracht eine Körper- und Raumillusion entstehen, ist der Körper doch nicht wirklich als am Kreuz hängend aufgefasst; vielmehr wird Christus ohne Körperschwere wie schwebend vor dem Kreuzesholz dargestellt und damit, so scheint es, über die menschliche bzw. leibliche Natur des leidenden Erlösers hinaus auch dessen Göttlichkeit anschaulich gemacht. Als eigene Ausdrucksqualität und als inhaltlicher Aspekt ist mithin die Differenz zum Naturvorbild zu werten. Als sprechende Leidenschiffre erscheint der gelängte, s-förmig geschwungene Körper, als Zeichen der Göttlichkeit des im Tod über den Tod triumphierenden Heilands dürfte dessen Schwerelosigkeit zu begreifen sein. In der Distanz zum Naturvorbild erfüllt sich der theologische Gehalt dieser Kreuzigungsdarstellung, deren Linienschönheit, nuanciertes Kolorit und Feinheit der Modellierung im Übrigen den außerordentlichen künstlerischen Rang außer Zweifel setzen. In großer zeitlicher Nähe zu Cimabue schuf Giotto (um 1270–1337) eine entsprechende (urkundlich für ihn gesicherte) croce dipinta als Triumphkreuz für die Dominikaner von S. Maria Novella in Florenz, die 1301 vollendet war (Abb. 2).3 In gleicher Weise begegnet hier die Form des Kreuzes mit den Halbfiguren von Maria und Johannes an den Enden des Querholzes, dem Bildfeld für den Titulus – der hier allerdings nicht nur in Latein, sondern gemäß Joh 19,19–20 in drei Sprachen erscheint4 –, den schmalhohen Feldern beiderseits des Kreuzesstamms und dessen Verbreiterung auf Fußhöhe des Gekreuzigten. (Wiederum auch ist eine Medaillonbüste mit dem Erlöser verloren.) Hinzu kommt hier noch eine trapezförmige Basis, die den Felsen von Golgota mit dem Grab des Stammvaters Adam darstellt. Der gleiche Typus des Tafelkreuzes und die Wiedergabe abermals des toten Christus zeigen jedoch auf den ersten Blick eine veränderte Auffassung. Nicht nur erscheint der Gekreuzigte, im Anschluss an entsprechende Vorbilder, in dem neuen, für die Gotik (und die Folgezeit) kennzeichnenden ‚Dreinageltypus‘, sondern gewandelt hat sich auch die Körperbildung. Erheblich gedrungener in den Proportionen und anatomisch genauer durchgeformt, das heißt kurz: sehr viel naturalistischer, erscheint hier Christus. Überdies ist die starke, ‚unnatürliche‘ Körperbiegung aufgegeben; stattdessen wird die ganze Gestalt (nicht nur der Bereich der Beine) ins Dreiviertelprofil

3 Giotto, Tafelkreuz, um 1300, Tempera und Blattgoldauflagen auf Holz, 578 x 406 cm, S. Maria Novella, Florenz. Giancarlo Vigorelli (Presentazione) und Edi Baccheschi (Apparati critici e filologici): L’opera completa di Giotto. Mailand 5. Aufl. 1971 (1. Aufl. 1966 [Classici dell’Arte. Band 3]), Nr. 49; Marco Ciatti und Max Seidel (Hgg.): Giotto. La croce di Santa Maria Novella. Florenz 2001; Schwarz und Theis: Giottus pictor. Band 2 (wie Anm. 1), S. 280–298 (hier S. 282f. die Datierung „zwischen 1298 […] und 1301“), zudem Band 1 (wie Anm. 1), S. 46f. (über die beiden Tafelkreuze von Cimabue und Giotto); Michael Viktor Schwarz und Pia Theis: Giotto. In: AKL. Hgg. von Günter Meissner u. a. Band 54. Berlin u. a. 2007, S. 471–477, hier S. 472; Gaeta: Giotto (wie Anm. 1), S. 65‒121. 4 Siehe dazu Schwarz und Theis: Giottus pictor. Band 2 (wie Anm. 1), S. 287–289.



Ordnungsmodelle in der Kunstgeschichte 

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Abb. 2: Giotto, Tafelkreuz, um 1300, Tempera und Blattgoldauflagen auf Holz. Florenz, S. Maria Novella. Luciano Bellosi: Giotto. Florenz 1981, Abb. S. 7.

nach links gekehrt. Durch die Wendung aus der Fläche in den Raum, aber auch durch ein Detail wie die ihrerseits aus der Bildebene in den Raum gedrehten – und damit in perspektivischer Verkürzung dargestellten – Hände ist die Illusion eines dreidi-

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mensionalen Körpers, der sich räumlich vor dem Kreuz befindet, erheblich gesteigert. Entsprechend trifft das Blut, das aus den Nägelmalen der Füße strömt, auf der Schräge des Felsens, das heißt in der ‚richtigen‘ räumlichen Ebene vor dem Kreuz, auf, um weiter herabzufließen bis zu den Gebeinen Adams, dessen Erlösung nun aus dem Sühneopfer des ‚neuen Adam‘ folgt. Mit der plastisch-räumlichen, anatomisch korrekter durchgebildeten Körperlichkeit Christi verbindet sich schließlich aber auch die Illusion der Körperschwere. Mit schräg herabgeführten Armen und auf die Brust gesunkenem Haupt (wohingegen der Kopf des Erlösers bei Cimabue ‚unnatürlich‘ zur Seite geneigt ist), mit eingeknickter Hüfte und gebeugten Knien lastet der tote Christus scheinbar mit einigem Gewicht am Kreuz und gibt damit zugleich die Schwere dieses Todes in ganz neuer Unmittelbarkeit und sinnlicher Präsenz zu erkennen. Dies ist die Folge des erhöhten Naturalismus und des gesteigerten Illusionismus: eine größere Authentizität und Nähe des dargestellten Geschehens, das wie greifbar im Raum des Betrachters und direkt vor seinen Augen sich vollzieht, und eine neue Form der Anteilnahme, der Vergegenwärtigung werden eröffnet. An die Stelle der Leidenschiffre tritt die Buchstäblichkeit des Leidens. Doch verloren geht damit die Durchsichtigkeit auf die göttliche Natur des Erlösers, die in der ‚Unnatürlichkeit‘ des Schwebens sich angedeutet hatte. Der gesteigerte Naturalismus, der in stärkerem Maße einer von der bildlichen Anschauung stimulierten compassio des Betrachters dienen kann, zieht Christus doch auch ganz in die Immanenz, in das irdische Hier und Jetzt. Vergleicht man mithin die beiden Kruzifixe von Cimabue und Giotto, so wird deutlich, dass mit einem Gewinn an Naturalismus ein Verlust an Transzendenz, mit einer gesteigerten Leidensunmittelbarkeit eine Verengung des (durch die Anschauung vermittelten) theologischen Gehalts einhergeht. Allerdings ist Giottos Kreuz (geringfügig) jünger, oder besser: das Werk eines jüngeren Meisters, und bedeutet als gewandelte Darstellungsform einen Entwicklungsschritt im Sinne einer absichtsvollen Veränderung, die sich in der Zeit vollzieht. Dies darf umso nachdrücklicher festgestellt werden, als der hier über Cimabue hinaus weitergeführte Naturalismus die Richtung bezeichnet, in der die nachfolgenden Künstlergenerationen ihrerseits voranschreiten sollten. Doch heißt das nicht mehr, als dass ein veränderter und sich fortgesetzt wandelnder künstlerischer Modus oder Stil gewählt bzw. entwickelt wird. Eine offene Frage bleibt die Beurteilung und Bewertung dieser Entwicklung.

I Bestimmend für die gesamte Kunstgeschichte und deren Ordnung – und das heißt nicht nur für die Geschichte der Malerei, auch wenn im Folgenden von Ordnungsmodellen in Bezug vor allem auf die Malerei und die bildenden Künste die Rede sein wird, während die Architekturgeschichte außer Betracht bleibt –, bestimmend ist die schon im 14. Jahrhundert getroffene Entscheidung darüber, wie diejenigen Verände-



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rungen, die sich exemplarisch im Vergleich zwischen den beiden croci dipinte haben beobachten lassen, zu beurteilen sind. Bereits Mitte des 14. Jahrhunderts findet sich in Boccaccios «Decameron» die folgende bekannte und wegweisende Kennzeichnung Giottos. Dieser habe, so heißt es in der fünften Novelle des sechsten Tags, ein derart außerordentliches Ingenium besessen, dass es keinen Gegenstand der Natur gab, der Mutter aller Dinge und Werkmeisterin unter dem fortwährenden Kreislauf der Himmel, den er nicht mit dem Griffel, mit der Feder oder mit dem Pinsel so ähnlich hatte darstellen können, dass er nicht ähnlich, sondern vielmehr er selbst zu sein schien, dergestalt, dass der Gesichtssinn der Menschen getäuscht wurde, indem sie glaubten, es sei real [wahr], was er dargestellt hatte. Und deshalb kann man zu Recht sagen, dass er eine der Leuchten des Ruhmes von Florenz sei, denn er hat jene Kunst wieder ans Licht gebracht, die viele Jahrhunderte unter dem Irrtum derer begraben lag, die lieber etwas darstellten, um den Augen der Ignoranten zu schmeicheln, als dem Verstand der Gelehrten zu gefallen […].5

Von ganz anderer Seite erklärt im Prinzip ähnlich Cennino Cennini (als Urenkelschüler Giottos) in seinem Malereitraktat an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert, es sei Giotto gewesen, der „die Malkunst vom Griechischen wieder ins Lateinische verwandelte [will sagen: von der byzantinischen Kunst sich abkehrte und wieder an die – auf italienischem Boden beheimatete – Antike anknüpfte] und sie zum gegenwärtigen Stand führte; und er übte die[se] Kunst mit größerer Vollkommenheit aus als irgendeiner zuvor.“6

5 […] Giotto, ebbe uno ingegno di tanta eccellenza, che niuna cosa dà’lla natura, madre di tutte le cose ed operatrice col continuo girar de’ cieli, che egli con lo stile e con la penna o col pennello non dipignesse sí simile a quella, che non simile, anzi piú tosto dessa paresse, in tanto che molte volte nelle cose da’llui fatte si truova che il visivo senso degli uomini vi prese errore, quello credendo esser vero che era dipinto. E perciò, avendo egli quella arte ritornata in luce, che molti secoli sotto gli error d’alcuni che piú a dilettar gli occhi degl’ignoranti che a compiacere allo ’ntelletto de’ savi dipignendo era stata sepulta, meritamente una delle luci della fiorentina gloria dir si puote […]. Giovanni Boccaccio: Il Decameron. Edizione critica. Hg. von Aldo Rossi. Bologna 1977, VI, 5, S. 338; siehe dazu Julius Schlosser: Zur Geschichte der Kunsthistoriographie. In: Ders.: Präludien. Vorträge und Aufsätze. Berlin 1927, S. 248–295 (zuerst erschienen: Lorenzo Ghiberti’s Denkwürdigkeiten. Prolegomena zu einer künftigen Ausgabe. Jahrb. K. K. Zentral-Komm. Hist. Denkmale 4 [1910], S. 105–211, hier S. 118–133 und S. 163– 179), hier S. 248–261; August Buck: Zu Begriff und Problem der Renaissance. Eine Einleitung. In: Zu Begriff und Problem der Renaissance. Hg. von Dems. Darmstadt 1969 (WdF. Band 204), S. 1–36, hier S. 5: „Damit [mit Boccaccios Äußerungen] erhält Giotto in der Kunst die gleiche Stellung wie Petrarca in der Literatur: Mit beiden beginnt eine neue Epoche.“ Siehe auch Schwarz und Theis: Giottus pictor. Band 1 (wie Anm. 1), S. 70–76 und S. 348–352. 6 […] il quale Giotto rimutò l’arte del dipignere di grecho in latino e ridusse al moderno, e ebe l’arte più compiute ch’avessi mai più nessuno. Cennino Cennini: Il libro dell’arte. Hg. von Fabio Frezzato. Vicenza 3. Aufl. 2006 (1. Aufl. 2003), I, S. 63; siehe hier die ausführliche „Introduzione“, S. 11–54. Vgl. die Übersetzung: Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei des Cennino Cennini da Colle di Valdesa. Übers., mit einer Einleitung, Noten und Register versehen von Albert Ilg. Wien 1871 (Quellenschr. für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance. Band 1), 1, S. 4f.; siehe dazu Schwarz und Theis: Giottus pictor. Band 1 (wie Anm. 1), S. 336f.

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Kurz zuvor wird Giotto von Filippo Villani, und damit nun von einem Historiker, in einen größeren entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang gebracht. In seiner Schrift «De origine civitatis Florentie et de eiusdem famosis civibus» (1381–1390) erklärt Villani nach einem Hinweis auf die berühmten Maler und Bildhauer der Antike – Zeuxis, Apelles, Phidias, Praxiteles u. a. –, dass an dieser Stelle auch die herausragenden florentinischen Maler eingefügt werden sollten, da sie „die entkräftete und fast ganz ausgelöschte Kunst wieder zum Leben erweckt haben“.7 Nach vielen Jahrhunderten, in denen die griechische und lateinische – also die byzantinische und italienische – Kunst grober Unkenntnis unterlegen waren, sei unter denjenigen Florentinern, die eine Erneuerung herbeigeführt hatten, der erste Cimabue gewesen; die überlebte Malerei, die durch die Unwissenheit der Maler sowohl in kindischer Weise vom Naturvorbild abgewichen als auch wie zügellos lange umhergeschweift sei, habe er durch Kunstfertigkeit und Ingenium wieder zum Naturvorbild zurück geführt.8 Auf ihn folgte Giotto, der nicht nur den berühmten Malern des Altertums an Ruhmesglanz gleich zu stellen, sondern nach Kunstfertigkeit und Ingenium vorzuziehen sei; in ihre vormalige Würde und ihr hohes Ansehen habe er die Malerei wieder eingesetzt. Denn seine mit dem Zeichenstift geschaffenen Bilder stimmten so sehr mit den Formen der Natur überein, dass sie den Betrachtern zu leben und zu atmen scheinen. Dermaßen treffend habe er seine Abbilder verfertigt, dass sie aussehen, als würden sie reden, weinen, sich freuen und anderes mehr tun, nicht ohne Vergnügen für den Betrachter und zum Lob von Hand und Ingenium des Künstlers.9 Giotto war in der Tat, wenn man seine Malkunst einmal beiseite lässt, ein Mann von großer Einsicht und bewährt in vielen praktischen Dingen; überdies verfügte er über eine umfassende Kenntnis der Geschichte. Und so wurde er [mit seiner Kunst] ein Nachahmer [im Sinne von Konkurrent] 7 […] egregios pictores florentinos […], qui artem exanguem et pene extinctam suscitaverunt. Philippus Villani: De origine civitatis Florentie et de eiusdem famosis civibus. Hg. von Giuliano Tanturli. Padua 1997 (Thesaurus mundi. Band 26), S. 411, siehe auch S. 152, S. 213, S. 463. Der hier wesentliche Abschnitt ist abgedruckt auch in: Julius von Schlosser: Quellenbuch zur Kunstgeschichte des abendländischen Mittelalters. Wien 1896 (Quellenschr. für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Neuzeit. Neue Folge. Band 7). ND Hildesheim u. a. 2. Aufl. 1986 (1. Aufl. 1976), Nr. 52, S. 370f.; siehe dazu Schlosser: Geschichte der Kunsthistoriographie (wie Anm. 5), S. 261–270; Buck: Begriff (wie Anm. 5), S. 6; Michael Baxandall: Giotto and the Orators. Humanist Observers of Painting in Italy and the Discovery of Pictorial Composition 1350–1450. Oxford 1971 (Oxford-Warburg Studies), S. 66–78; Schwarz und Theis: Giottus pictor. Band 1 (wie Anm. 1), S. 287–290. 8 Inter quos primus Iohannes, cui cognomento Cimabue dictum est, antiquatam picturam et a nature similitudine ‚pictorum inscitia pueriliter discrepantem ad nature similitudinem‘ quasi lascivam et vagantem longius arte et ingenio revocavit. Villani: De origine (wie Anm. 7), S. 411. 9 Post hunc, strata iam in novis nivibus ‚via‘, Giottus, non solum illustris fame decore antiquis pictoribus comparandus, sed arte et ingenio preferendus, in pristinam dignitatem nomenque maximum picturam restituit. Huius enim figurate radio ymagines ita liniamentis nature conveniunt ut vivere et aerem spirare contuentibus videantur, exemplares etiam actus gestusque conficere adeo proprie, ut loqui, flere, letari et alia agere non sine delectatione contuentis et laudantis ingenium manumque artificis pro­­spectentur […]. Villani: De origine (wie Anm. 7), S. 411f.



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der Dichtkunst insofern, als er nach dem Urteil derer, die es genau betrachten, das malt [das heißt in der Lage ist zu malen], was jene [die Dichter] nur sich ausdenken.10

Die zitierten Äußerungen von Villani, Cennino Cennini und Boccaccio gehören unüberhörbar in den Kontext des neuen humanistischen Geschichtsbewusstseins, das mit der Vorstellung einer Erneuerung oder Wiederbelebung namentlich von Literatur und Kunst zugleich gegenüber voraufgehenden Jahrhunderten, einer Epoche, in der eben diese Bereiche der Kultur vermeintlich darnieder lagen, sich abgrenzt, um stattdessen an die Errungenschaften der Antike anzuschließen. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist nun, dass mit den zitierten Anschauungen schon gleichsam in der ersten Stunde, in der die Vorstellung einer Wiedergeburt auf die bildende Kunst bezogen wird – noch vor Leon Battista Alberti oder Lorenzo Ghiberti und lange vor Giorgio Vasari – alle zentralen Gesichtspunkte präsent sind, die im Folgenden, und zwar für ein halbes Jahrtausend, das Verständnis, die Beurteilung und die historische Ordnung der Kunst bestimmen sollten. Das betrifft zunächst überhaupt den geschichtlichen Blick auf die Kunst, ihre Zusammenschau in einem historischen Rahmen, als einem Entwicklungsprozess; und es betrifft, unmittelbar damit verbunden, ihre Periodisierung anfangs in drei Epochen: die Kunst des Altertums, auf die eine ‚mittlere‘ Zeit (des Verfalls) – das ‚Mittelalter‘ – folgte, an die, als die gegenwärtige Zeitstufe, eine Wiedergeburt der Kunst – die ‚Renaissance‘11 – sich anschloss. Zum dritten betrifft es die Auffassung der Kunst10 Fuit sane Giottus, arte picture seposita, magni vir consilii et qui multarum ‚rerum‘ usum habuerit; hystoriarum insuper notitiam plenam habens, ita poesis extitit emulator, ut ipse pingere que ipsi fingere subtiliter considerantibus perpendatur. Villani: De origine (wie Anm. 7), S. 412. Für Hilfe bei der genauen Übersetzung dieses Abschnitts – vor allem des letzten Halbsatzes – danke ich herzlich Herrn Prof. i. R. Dr. Fidel Rädle, Göttingen. Von erheblichen Belang ist das interpretierend-verdeutlichende „nur“ hinsichtlich des fingere der Dichter; dies trägt dem durch Jahrhunderte hindurch negativ beurteilten Schaffen der (heidnischen) Poeten als bloße figmenta Rechnung (siehe dazu Ludwig Gompf: Figmenta poetarum. In: Literatur und Sprache im europäischen Mittelalter. Festschrift für Karl Langosch zum 70. Geburtstag. Hgg. von Alf Önnerfors u. a. Darmstadt 1973, S. 53–62). Wenn auch Giotto als emulator der Dichter dargestellt wird und damit zeitlich als der Erste unter denjenigen Malern bzw. bildenden Künstlern figuriert, deren Stellung durch die enge Beziehung zur Dichtkunst, im Sinne des ut pictura poesis, aufgewertet werden soll, scheint doch bei Villani zugleich noch ein ‚mittelalterlicher‘ Vorbehalt gegenüber dem Geschäft der Poeten in diesem fingere nachzuklingen. Villanis Formulierung bezeichnet damit gleichsam eine Wasserscheide nicht nur bei dem Zusammenhang zwischen Malerei und Dichtkunst in nachantiker Zeit, sondern auch bei der Bewertung des dichterischen Schaffens. 11 Zur Begriffsgeschichte siehe Buck: Begriff (wie Anm. 5), bes. S. 7 und S. 9–17. Den Ausgangspunkt bildete hier Mitte des 14. Jahrhunderts Petrarcas Unterscheidung von drei Epochen: der Antike, einer Zeit der Finsternis (tenebrae) – die die Spätantike und das Mittelalter umfasst – und einer nur erst erhofften, kommenden „neuen Zeit“, mit der eine „geistige Wiedergeburt“ sich verbindet. Siehe dazu Theodor E. Mommsen: Der Begriff des „finsteren Zeitalters“ bei Petrarca. In: Begriff. Hg. von Buck (wie Anm. 5), S. 151–179 (zuerst erschienen: Petrarch’s Conception of the „Dark Ages“. Speculum 17 [1942], S. 226–242), Zitate S. 166 und S. 176. Über das Aufkommen des Ausdrucks ‚Mittelalter‘ siehe

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entwicklung als eines Fortschritts, den Villani deutlich in der Beziehung zwischen Cimabue und Giotto konstatiert. (Nur am Rande sei an Dantes Verse in der «Divina Commedia», Purg. XI, 94–96, erinnert, die zuvor bereits, wenn auch mit anderer Akzentsetzung, Cimabue und Giotto in Vergleich bringen und den Anknüpfungspunkt bilden für Boccaccio und Villani.12) Das Vorbild dafür bot Plinius der Ältere in seiner «Naturalis historia», in der zuvor schon die geschichtliche Entwicklung der Künste bei den Griechen als eine schrittweise vollzogene Erschließung der Bildmittel begriffen wird (wir kommen darauf zurück).13 Zum vierten betrifft es die Idee eines Fortschritts sogar über das geschätzte Vorbild der Antike hinaus; Villani stellt Giotto, mit welcher Überzeugung auch immer,14 über die berühmten Maler des Altertums, und auch Cennino Cennini spricht davon, dass Giotto ebe l’arte più compiute ch’ avessi mai più nessuno – dass Giotto die Malerei mit größerer Vollkommenheit ausgeübt habe als irgendeiner zuvor. Vielfach wird diese Frage nach dem Vorrang der antiqui oder der moderni in den folgenden Jahrhunderten eine Rolle spielen. Es betrifft zum fünften, als zentralen Aspekt, die Gewissheit einer unverrückbaren künstlerischen Norm. Die Urteile aller drei Zeugen der ersten Stunde setzen, so unbestimmt sie noch sein mochte, eine normative Ästhetik ante litteram, das heißt die Vorstellung von Regeln, Gesetzmäßigkeiten bzw. einem künstlerischen Ideal, voraus, nach dem sichere Werturteile wie selbstverständlich gefällt werden konnten. Dies war in der Natur der Sache begründet, denn als eine der artes mechanicae, zu denen die Malerei, nicht anders als die übrigen bildenden Künste, nach mittelalterlichem Verständnis gehörte, wie als eine den artes liberales gleich gestellte Wissenschaft, ein von Villani

ebd., S. 177f. „Für die Humanisten des fünfzehnten Jahrhunderts […] war die ‚neue‘ Ära tatsächlich ans Licht gekommen, und zwar durch die Werke der großen Künstler und Dichter des vierzehnten Jahrhunderts, unter ihnen Petrarca selbst.“ Ebd., S. 177f. 12 Credette Cimabue nella pittura / tener lo campo, e or ha Giotto il grido, / sì che la fama di colui è scura. Siehe dazu Schlosser: Geschichte der Kunsthistoriographie (wie Anm. 5), S. 248f.; Maurizio Bonicatti: Giotto. In: Enciclopedia Dantesca. Hg. von Umberto Bosco Band 3. Rom 1971, S. 176–178; Schwarz und Theis: Giottus pictor. Band 1 (wie Anm. 1), S. 45–47 und S. 359f. (danach das Zitat); hier findet sich folgende bemerkenswerte Feststellung über die Nennung Giottos an dieser Stelle: „Vielleicht war Dantes Terzine bei aller Indifferenz gegenüber der Leistung des Malers für Giottos Andenken wichtiger als sämtliche Bilder, die er je gemalt hat.“ Ebd., S. 47. 13 Genauer sieht Baxandall: Giotto (wie Anm. 7), S. 77, „Pliny’s account of the relation between Apollodorus and Zeuxis“ als Villanis „model for saying how Cimabue stood to Giotto.“ Vgl. C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturalis historiae libri XXXVII – Naturkunde. Lateinisch – deutsch, Band 35: Farben, Malerei, Plastik. Hg. von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler. Düsseldorf u. a. 2., überarb. Aufl. 1997 (1. Aufl. 1978), 60f., S. 54f. 14 Baxandall: Giotto (wie Anm. 7), S. 72, erklärt nachdrücklich, dass es sich bei diesem Lob um einen – von Villani selbst mehrfach gebrauchten – humanistischen Topos handele. Inwieweit die Aussage sich damit relativiert, bleibt eine Frage. Im Übrigen fehlte Villani allerdings jede Möglichkeit, im Hinblick auf die Qualität der antiken Malerei ein begründetes Urteil zu fällen.



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bereits ausdrücklich vertretener Anspruch, war die Malerei, wie die anderen Künste, an Regeln welcher Art auch immer per definitionem gebunden.15 Sechstens betrifft es, als eines der Hauptkriterien dieser normativen Ästhetik, die naturalistische, ja illusionistische Darstellungsform. Boccaccio und Villani gleichermaßen streichen mit dem denkbar größten Nachdruck Giottos Vermögen der Augentäuschung als wesentlichen Beleg seiner Kunstfertigkeit und seines Ingeniums heraus. Die antike Herkunft dieses Topos, der geradezu mit Penetranz das Künstlerlob der folgenden fünf Jahrhunderte durchzieht, ist bekannt, und es genügt, auf den Wettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios zu verweisen – von denen jener mit gemalten Trauben die Vögel, dieser mit einem gemalten Vorhang sogar seinen Kollegen zu täuschen vermag – oder auf das von Apelles gemalte Pferd, bei dessen Anblick lebende Pferde zu wiehern beginnen, anders als vor Pferdebildern der Künstlerkollegen, deren nachrangiges Genie damit erwiesen sein soll.16 Als Maßstab des künstlerischen Vermögens bereits in der Antike war ungeachtet ihres topischen Charakters die überzeugende Wirklichkeitsschilderung mit Boccaccio und Villani in den Kreis der Anforderungen auch an die nachmittelalterliche Kunst einbezogen. Man sollte betonen, dass die mit dieser naturalistisch-illusionistischen Wiedergabe engstens verbundene Vorstellung einer (scheinbar realen) Präsenz der dargestellten Personen und Dinge keineswegs notwendig an genau diese Darstellungsform einer augentäuschenden Mimesis geknüpft ist. Die nach heutigen Begriffen eher zeichenhafte oder stilisierte Bildform im frühen und hohen Mittelalter brachte das damit Bezeichnete in den Augen der Zeitgenossen ohne Zweifel nicht minder ‚real‘ zur Anschauung (eher sogar in höherem Grade).17 Wichtig ist hier nur, dass im 14. Jahrhundert in der Kunsttheorie und Kunstgeschichtsschreibung der Grad an Naturalismus bei der bildlichen Darstellung ein wesentliches Kriterium nicht nur der chronologischen Ordnung in der Entwicklungsgeschichte der Kunst als einer Geschichte des künstlerischen Fortschritts, sondern dass er ein maßgebliches ‚objektives‘ Qualitätskriterium bildet.

15 Villani: De origine (wie Anm. 7), S. 412, erklärt: […] extimantibus multis […] pictores non inferiores ingenii his quos liberales artes fecere magistros, cum illi artium precepta scripturis demandata studio atque doctrina percipiant, hii solum ab alto ingenio tenacique memoria que in arte sentiant exigant. „[…] nach der gar nicht abwegigen Ansicht Vieler haben die Maler kein geringeres Ingenium als diejenigen, die über das Studium der ‚artes liberales‘ zu Magistern geworden sind, weil nämlich diese sich die in [Lehr-]Büchern niedergelegten Regeln ihrer Disziplinen durch Studium und Unterricht aneignen [können], jene jedoch nur aus der Tiefe ihres Ingeniums und aus dem Vermögen fest haftender Erinnerung das heraus treiben [zum Ausdruck bringen können], was sie in ihrer Kunst empfinden“ (Übersetzung Fidel Rädle, Göttingen). Siehe dazu Schlosser: Geschichte der Kunsthistoriographie (wie Anm. 5), S. 265; Baxandall: Giotto (wie Anm. 7), S. 70f. Hier der Verweis auf Isidor von Sevilla, der erklärt: Ars vero dicta est, quod artis praeceptis regulisque consistat. Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive originum libri XX. Hg. von W. M. Lindsay, 2 Bd.e. Oxford 1966 (1. Aufl. 1911), Band 1, I, I, 2. 16 Plinius Secundus: Naturalis historia (wie Anm. 13), 65f., S. 56–59, 95, S. 76f. 17 Vgl. Ernst Kris und Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Mit einem Vorwort von Ernst H. Gombrich. Frankfurt a. M. 1980 (zuerst erschienen: Wien 1934), S. 106f.

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Ein siebenter und letzter Aspekt, der in den Äußerungen der drei Zeugen zu fassen ist, betrifft die Beziehung der Malerei zur Dichtkunst, wie sie gekennzeichnet ist durch das Horazische ut pictura poesis («Ars poetica», 361) und das durch Plutarch («Moralia», 18A, 346F–347A und 748A) überlieferte Wort des Simonides von Keos, dass die Malerei eine stumme Dichtung (wie die Dichtkunst eine sprechende Malerei) sei.18 Ausdrücklich erklärt Cennino Cennini, dass die Malerei den zweiten Rang nach der Wissenschaft verdiene und von der Poesie gekrönt werden müsse, und zwar aus dem Grund, dass sie nicht anders als die Dichtkunst mit aller Freiheit nach ihrer Phantasie Gestalten bilden könne.19 Villani spricht von Giotto geradezu als emulator der Dichtkunst, der, als pictor doctus (auch wenn nicht schon dieser Begriff fällt), durch umfassende Bildung und Erfahrung sich hervorgetan habe, ut ipse pingere que ipsi fingere subtiliter considerantibus perpendatur.20 Mit diesen sieben Gesichtspunkten sind im Moment der nachmittelalterlichen (Wieder-)Vergeschichtlichung der Kunst diejenigen Faktoren und Kriterien an die Hand gegeben, mit deren Hilfe das Kunstgeschehen zu ordnen, die Kunstproduktion zu beurteilen und zu klassifizieren war. Weit über Boccaccio, Cennino und Villani hinaus gehen, was die Historiographie wie die Theoriebildung angeht, wenig später schon Lorenzo Ghiberti und Leon Battista Alberti. Erstmals Ghiberti zieht in seinen drei Bücher umfassenden «Commentarii» die antike Künstlergeschichte in seine Entwicklungsgeschichte der Kunst mit ein und verknüpft sie mit deren Erneuerung in jüngster Vergangenheit. Nach einer Schilderung der Hauptmeister des Altertums im ersten Buch hebt das zweite (um 1447/1448) an mit dem Hinweis auf die Diskreditierung der antiken Skulpturen und Malereien als Götzenbilder. Die Rede ist von dem Verlust unzähliger herausragender Werke, aber auch von kunsttheoretischen Schriften und Regelwerken; così finì l’arte statuaria e la pictura et [sic] ogni doctrina che in essa fosse fatta.21 600 18 Siehe dazu Rensselaer W. Lee: Ut pictura poesis. The Humanistic Theory of Painting. New York 1967 (zuerst erschienen in: Art Bull. 22 [1940], S. 197–269); Hubert Locher: Ut pictura poesis. In: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Hg. von Ulrich Pfisterer. Stuttgart/ Weimar 2., erw. und aktual. Aufl. 2011 (1. Aufl. 2003), S. 454–459. 19 E con ragione merita metterla [die Malerei] a ssedere in secondo grado alla scienza e choronarla di poexia. La ragione è questa: che ’l poeta, con la scienza per una che à, il fa degnio e llibero di potere comporre e lleghare insieme sì e nno come gli piacie, secondo suo volontà. Per lo simile, al dipintore dato è libertà potere comporre una figura ritta, a sedere, mezzo huomo mezzo cavallo, sì chome gli piace, secondo suo’ fantasia. Cennino: Il libro dell’arte (wie Anm. 6), 1, S. 62; dazu die Übersetzung: Ders.: Das Buch von der Kunst (wie Anm. 6), 1, S. 4. Den Bezug bildet Horaz: Ars poetica, 1–13. Siehe dazu Schlosser: Geschichte der Kunsthistoriographie (wie Anm. 5), S. 265f.; Julius Schlosser: Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte. Wien 1924. ND 1985, S. 79f. 20 Siehe oben Anm. 10. 21 Lorenzo Ghiberti: I commentarii. Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze, II, I, 333. Introduzione e cura di Lorenzo Bartoli. Florenz 1998 (Biblioteca della Scienza Italiana. Band 17), II. Arte moderna, I. 1., S. 83. Die hier wesentlichen Abschnitte sind abgedruckt auch in: Schlosser: Quellenbuch (wie Anm. 7), Nr. 54, S. 373–384; zur Datierung siehe Schwarz und Theis: Giottus pictor. Band 1 (wie Anm.



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Jahre habe die Kunst in der Folge darnieder gelegen, ehe die Greci – die byzantinischen Künstler – mit aller Ungeschicklichkeit (debilissimamente) die Malerei wieder aufgenommen und Werke von großer Ungeschlachtheit (con molta rozeza) hervorgebracht hätten. Von Neuem habe sich dann die Malerei jedoch erhoben in Etruria – in der Toskana – mit Giotto, auf dessen Talent Cimabue aufmerksam geworden sei, als er den Knaben am Wegesrand sitzen und ein Schaf nach der Natur auf eine Steinplatte (lastra) zeichnen sah.22 Kennzeichnend für Ghibertis Darstellung ist die gegenüber seinen Vorgängern ausführlicher entfaltete und genauer begründete Periodisierung der Kunstgeschichte in drei Epochen mit einer Zeit des Niedergangs zwischen einer Blütezeit der Kunst in der Antike und einer Zeit der Erneuerung seit dem späten Duecento; des Weiteren die klar formulierte Überzeugung von regole und doctrine als Grundlagen rechter Kunstübung, und das heißt von Normen auch zur Beurteilung der Ergebnisse; dann die selbstverständliche Orientierung am Naturvorbild – darauf zielt programmatisch die Anekdote des ‚nach dem Leben‘ zeichnenden jungen Giotto –, die Ausrichtung mithin auf eine naturalistische Wirklichkeitsschilderung. Aber kennzeichnend ist auch die Auflistung verschiedenster Wissenschaften (arti liberali), von der Grammatik über die Medizin bis hin zur Teorica disegno und Arithmetik, bereits auf den ersten Seiten des ersten Buches,23 die ein Maler und ein Bildhauer beherrschen müssten, und die nachdrückliche (dabei abermals topische) Feststellung schließlich, dass bereits Giottos Schüler furono tutti dotti al pari delli antichi Greci;24 damit ist zum Ausdruck gebracht, dass die Erneuerung der Kunst mit erstaunlicher Schnelligkeit die Errungenschaften der Antike zurück gewonnen habe. Die überragende Gestalt in der Kunsttheorie des Quattrocento ist Leon Battista Alberti, dessen Traktate über die Architektur, die Malerei und die Bildhauerkunst – die beiden letztgenannten zehn bis fünfzehn Jahre vor Ghibertis «Commentarii» – in vielfältiger Hinsicht Aufschluss geben über das Kunstverständnis der Frührenaissance.25 An dieser Stelle genügt es, einige Gesichtspunkte herauszuheben, mit denen Alberti, durchaus im Anschluss an seine Vorläufer, die Prämissen der Kunst 1), S. 294; dazu Peter Murray: Ghiberti e il suo secondo ‚Commentario‘. In: Lorenzo Ghiberti nel suo tempo. Atti del convegno internazionale di studi (18.–21.10.1978), 2 Bd.e. Florenz 1980, Band 2, S. 283– 292; Janice L. Hurd: The Character and Purpose of Ghiberti’s Treatise on Sculpture. In: ebd., Band 2, S. 293–315; Gerda S. Panofsky: Ghiberti, Alberti und die frühen Italiener. In: Kunst und Kunsttheorie 1400–1900. Hgg. von Peter Ganz u. a. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Forschungen. Band 4), S. 1–28; siehe auch Giorgio Vasari: Das Leben des Lorenzo Ghiberti. Neu ins Deutsche übersetzt von Victoria Lorini. Hg., kommentiert und eingeleitet von Birgit Witte. Berlin 2011, Bibliographie, S. 85–91. 22 Ghiberti: I commentarii (wie Anm. 21), II. Arte moderna, II. 1., S. 83; zu dieser Schilderung der ‚Entdeckung‘ Giottos siehe Kris und Kurz: Legende (wie Anm. 17), S. 46–51, sowie Schwarz und Theis: Giottus pictor. Band 1 (wie Anm. 1), S. 14–18 und S. 291–294. 23 Ghiberti: I commentarii (wie Anm. 21), I. Arte antica, II. 1., S. 46. 24 Ghiberti: I commentarii (wie Anm. 21), II. Arte moderna, II. 1., S. 84. 25 Zu Alberti siehe als Gesamtdarstellung Anthony Grafton: Leon Battista Alberti. Baumeister der Renaissance. Berlin 2002 (zuerst erschienen: Leon Battista Alberti. Master Builder of the Italian Renaissance. New York 2000), bes. S. 161–216.

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und deren Beurteilungskriterien definiert und präzisiert. Zunächst war auch Alberti von einer Erneuerung der Künste in seiner Zeit durchdrungen. Ohne dass diesmal von Cimabue oder Giotto die Rede wäre, erklärt er im Prolog der italienischen Fassung seines Malereitraktats, in einem an Filippo Brunelleschi gerichteten Schreiben 1436, seine vormalige Auffassung, dass „viele hervorragende und göttliche Künste und Wissenschaften“, die die „Alten“ gepflegt hätten, darunter die Malerei, Bildhauerei und Architektur, inzwischen „fast gänzlich verloren“ seien.26 Angesichts von Brunelleschi, Donatello, Masaccio und anderen findet er jedoch „eine zu jeder rühmenswerten Tat bereite schöpferische Fähigkeit“, die keiner der früher existierenden „alten und berühmten in diesen Künsten hintanzusetzen“ sei.27 Vor allem von Bedeutung ist dann die von Alberti definierte Aufgabe des Malers, jeden beliebigen gegebenen Körper so auf einer Fläche mit Linien und Farben zu zeichnen und zu malen, dass – aus einem bestimmten Abstand und bei einer bestimmten, im voraus zugewiesenen Stellung des Zentralstahls [gemeint ist die in einem zentralperspektivisch konstruierten Bildraum lotrecht auf den Fluchtpunkt ausgerichtete Blickachse] – alles, was man gemalt sieht, plastisch und dem gegebenen Körper vollkommen ähnlich erscheint.28

Entsprechend wird die Fläche eines Gemäldes „gewissermaßen als offenstehendes Fenster“ begriffen (quod quidem mihi pro aperta fenestra est).29 Auch für die Bildhau26 […] che tante ottime e divine arti e scienze, quali per loro opere e per le istorie veggiamo copiose erano in que’vertuosissimi passati antiqui, ora cos siano mancate e quasi in tutto perdute: pittori, scultori, architetti […]. Leon Battista Alberti: Prologus der italienischen Fassung von ‚Della Pittura‘. In: Ders.: De statua. De pictura. Elementa picturae – Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei. Hgg., eingeleitet, übers. und kommentiert von Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin, unter Mitarbeit von Kristine Patz. Darmstadt 2000, S. 363–365, hier S. 363f.; dazu – neben Bätschmanns Einleitung in der Textausgabe – Baxandall: Giotto (wie Anm. 7), S. 121–139; Panofsky: Ghiberti (wie Anm. 21), bes. S. 1–14. 27 […] compresi in molti […] essere a ogni lodata cosa ingegno da non posporli a qual si sia stato antiquo e famoso in queste arti. Alberti: Prologus (wie Anm. 26), S. 363f. Pfisterer macht darauf aufmerksam, dass für den „Beginn der Renaissance […] drei Modelle diskutiert [wurden]: Das erste ließ sie mit Giotto einsetzen, das zweite mit den Künstlern des frühen 15. Jahrhunderts. Das dritte ging von einem unabhängigen Neuanfang von Malerei und Skulptur aus, mit Giotto im 14. Jahrhundert und Donatello im 15. Jahrhundert als jeweiligen Begründern. Erst Vasaris Entwurf in der Einleitung zu seinen ‚Viten‘ sollte diese verschiedenen Vorstellungen dann erfolgreich vereinen und zugleich ersetzen […].“ Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen. Hg. von Ulrich Pfisterer. Stuttgart 2002, S. 84. Während Ghiberti dem ersten Modell folgt, vertritt Alberti das zweite; das dritte findet sich bei Alamanno Rinuccini (1473), siehe dazu unten Anm. 38. Dass Alberti „sich eines Renaissance-Standpunktes bewußt war“, wird allerdings von Gerda S. Panofsky bezweifelt. Panofsky: Ghiberti (wie Anm. 21), S. 11, Anm. 54; siehe auch S. 10 und S. 14. 28 Leon Battista Alberti: De pictura – Die Malkunst. In: Ders.: De statua. De pictura. Elementa picturae (wie Anm. 26), S. 193–333, hier 52, S. 293, der lateinische Text ebd., S. 292; zur Datierung in die Jahre um 1435/1436 siehe auch S. 317f. 29 Alberti: De pictura (wie Anm. 28), 19, S. 224f.; siehe dazu Gerd Blum: ‚Fenestra prospectiva‘. Das Fenster als symbolische Form bei Leon Battista Alberti und im Herzogspalast von Urbino. In: Leon



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erei gilt, dass sie Werke zu schaffen habe, die „dem Betrachter so erscheinen, dass er den Eindruck gewinnt, sie seien den tatsächlichen Körpern in der Natur vollkommen ähnlich.“30 Ausdrücklich wird damit ein geradezu augentäuschender Naturalismus als Forderung und damit als Maßstab der Kunstleistung aufgestellt (auf der Grundlage weiterhin der antiken Kunstliteratur). Mehr noch als auf die naturgetreue Wiedergabe hat der Künstler für Alberti aber auf die Schönheit zu achten. Über den Maler heißt es, er müsse „in erster Linie sein Streben und seinen Fleiß darauf richten, Schönheit wahrzunehmen, festzuhalten und wiederzugeben.“31 Verfehlen dürfe er nicht „jene Idee der Schönheit, welche selbst die Kenntnisreichsten kaum deutlich zu unterscheiden vermögen“ (pulchritudinis idea quam peritissimi vix discernunt).32 Naturalistisch, ja illusionistisch soll mithin die sichtbare Wirklichkeit vor Augen gebracht werden, zugleich aber kraft einer dem Künstler innewohnenden (erworbenen oder angeborenen) Idee der Schönheit überhöht oder idealisierend zur Erscheinung kommen. Schließlich – und das ist der dritte Gesichtspunkt, der hier vor allem von Interesse ist – soll der Maler seine Aufmerksamkeit vornehmlich auf die Darstellung einer historia, eines szenischbewegten Figurenbildes, richten; damit erreiche sein Werk den Gipfel, vorausgesetzt diese historia besitzt „die ganze Fülle und Erlesenheit der Dinge“ (omnis rerum copia et elegantia).33 Die enge Verbindung zwischen Malerei bzw. den bildenden Künsten allgemein und der Dichtkunst oder überhaupt der Literatur erfährt damit eine nachdrückliche Bekräftigung (wobei die Unterschiede etwa gegenüber Cennino Cennini hier keine Rolle spielen).34 Die vielfältigen Kenntnisse und Fertigkeiten, die nach Battista Alberti. Humanist – Architekt – Kunsttheoretiker. Hgg. von Joachim Poeschke und Candida Syndikus. Münster 2008, S. 77–122. 30 Leon Battista Alberti: De statua – Das Standbild. In: Ders.: De statua. De pictura. Elementa picturae (wie Anm. 26), S. 141–191, hier 2, S. 145, der lateinische Text ebd., S. 144; zur Datierung um 1434/1435 siehe auch S. 183f. 31 Alberti: De pictura (wie Anm. 28), 55, S. 299, der lateinische Text ebd., S. 298. 32 Alberti: De pictura (wie Anm. 28), 56, S. 300f.; zur „Idee der Schönheit“ siehe Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie. Berlin 7. Aufl. 1993 (1. Aufl. 1924); Andreas Beyer: Idea. In: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Hg. von Pfisterer (wie Anm. 18), S. 189–192. 33 Alberti: De pictura (wie Anm. 28), 60, S. 306f.; siehe dazu Baxandall: Giotto (wie Anm. 7), S. 135–139; Kristine Patz: Zum Begriff der ‚Historia‘ in L. B. Albertis ‚De Pictura‘. Zeitschrift für Kunstgeschichte 49 (1986) S. 269–287, bes. S. 285–287; Alberti: De statua. De pictura. Elementa picturae (wie Anm. 26), Einleitung, S. 87–94. Hier definiert Bätschmann historia als eine „zusammenhängende Szene mit menschlichen Figuren in körperlicher und seelischer Bewegung im Raum“ (S. 88). Wenn der Begriff folglich nicht mit dem des Historienbildes gleichgesetzt werden darf und theoretisch auch Genreszenen damit zu bezeichnen wären, so sind tatsächlich doch Themen gemeint, die der später sogenannten Historienmalerei entsprechen. Patz, S. 287, erklärt zu Recht, dass Alberti in jedem Fall historisch „mit seiner Grundlegung zur historia und unter Einbezug des Begriffes selbst den Beginn jener Entwicklung [markiert], in der sich das Historienbild als wichtigste und damit auch als höchste Gattung der Malerei für nahezu drei Jahrhunderte etablieren konnte.“ 34 Siehe dazu Alberti: De statua. De pictura. Elementa picturae (wie Anm. 26), Einleitung, S. 98.

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Albertis Verständnis ein Künstler besitzen muss – ausführlich wird dies im Hinblick auf den Maler dargelegt –, die von ihm geforderte Geistes-, aber auch Herzensbildung können hier auf sich beruhen. Entscheidend in unserem Zusammenhang sind die Kriterien zur Beurteilung eines Kunstwerks, die wie selbstverständlich auf einer normativen Ästhetik beruhen, auf der Überzeugung von feststehenden Regeln und Erfordernissen, die ein Künstler zu beachten habe.

II Auf dem Fundament der kunsttheoretischen und kunst- bzw. künstlergeschichtlichen Überlegungen der Antike wie der Frührenaissance steht das bekannteste und wirkmächtigste Ordnungsmodell der neueren Kunstgeschichte, das sich in den umfangreichen «Vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori» von Giorgio Vasari findet (1550; erweiterte und überarbeitete Auflage 1568).35 In monumentaler und ausdifferenzierter Form wird hier diejenige Geschichtskonzeption vorgetragen, die im Prinzip bereits bei Boccaccio, Cennino Cennini und Villani begegnet. Rund 200 Jahre nach Boccaccio und 150 Jahre nach Villani hat die Entwicklungsgeschichte der Kunst in drei großen Epochen – einer Zeit der Blüte in der Antike, des Verfalls im ‚Mittelalter‘ und der Wiedergeburt im späteren 13. und frühen 14. Jahrhundert – die Qualität einer geradezu selbstverständlichen Überlieferung erlangt. Über seine Vorgänger hinaus, die namentlich von Plinius die Vorstellung einer schrittweise erreichten Vervollkommnung der Künste übernommen und auf die Zeit der Erneuerung – auf das Verhältnis zwischen Cimabue und Giotto zunächst – übertragen hatten, unternimmt es Vasari nun, zweieinhalb Jahrhunderte nach diesen Anfängen der Regeneration, diese dritte Epoche ihrerseits als eine Entwicklungsgeschichte in drei Stufen des Fortschritts, das heißt in ‚Unterepochen‘, zu gliedern. Genauer ist von „drei Abschnitte[n] oder Zeitalter[n]“ (tre parti, o vogliamole chiamare età) der rinascita die Rede,36 35 Zu Vasari siehe als Gesamtdarstellungen T. S. R. Boase: Giorgio Vasari. The Man and the Book. Princeton, New Jersey 1979, bes. S. 43–72; Patricia Lee Rubin: Giorgio Vasari. Art and History. New Haven/London 1995; Gerd Blum: Giorgio Vasari. Der Erfinder der Renaissance. Eine Biographie. München 2011, bes. S. 144–164 und S. 182–188, mit weiterer Literatur. 36 Giorgio Vasari: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567. Übers. von Ludwig Schorn und Ernst Förster, neu hg. und eingeleitet von Julian Kliemann, 6 Bd.e. Worms 2. Aufl. 1988 (1. Aufl. 1983; zuerst erschienen: Stuttgart/Tübingen 1832–1849), Band 2, 1, S. 5; Giorgio Vasari: Le vite de più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568. Testo a cura di Rosanna Bettarini. Commento secolare a cura di Paola Barocchi, 6 Bd.e. Florenz 1966‒1987, Band 3, Text (1971), S. 5 (zitiert wird hier und im Folgenden nach der Ausgabe von 1568); siehe auch Giorgio Vasari: Kunsttheorie und Kunstgeschichte. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien. Neu übers. von Victoria Lorini. Hg., eingeleitet und kommentiert von Matteo Burioni und Sabine Feser. Berlin 2004; dazu Svetlana Leontief Alpers: ‚Ekphrasis‘ and Aesthetic Attitudes in Vasari’s ‚Lives‘. Journal of



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deren Zahl aus den Jahrhunderten vom Trecento bis zum Cinquecento sich zwanglos ergeben mochte und sachlich zu begründen war, auch eine schöne Analogie zu den drei ‚Großepochen‘ bildete; darüber hinaus aber stellte dies ein sinnbildlich aufgeladenes Gliederungsschema dar (man denke nur an die Heilsepochen ante legem, sub lege und sub gratia), das vorzüglich geeignet war, um die Entwicklung von einer Zeit der Anfänge und der Verheißung bis zu der der Vollendung und Erfüllung zu strukturieren. Klarer geordnet als bei Plinius erscheint damit die Entwicklungsgeschichte der Kunst, die Geschichte ihres Fortschritts, bei Vasari; aber auch die Errungenschaften im Laufe der Zeit werden systematischer erfasst. Die Rede ist nicht von Einzelleistungen, etwa wer als erster Maler Mann und Frau unterschiedlich dargestellt oder als erster Verkürzungen wiedergegeben, wer zuerst den Gesichtsausdruck differenziert oder zuerst Symmetrie in seine Bilder gebracht habe.37 Vielmehr geht es Vasari darum zu zeigen, wie in den verschiedenen Bereichen der bildenden Kunst – der Erfindung, der Zeichnung, den Proportionen der Figuren etc. – im Hinblick auf a priori bestehende Erfordernisse, das heißt durch die Arbeit der einzelnen Künstler an einer gemeinschaftlichen Aufgabe, nämlich der Verwirklichung eines Ideals oder einer Norm,38 sukzessive die Perfektionierung der Künste erreicht wurde. Kennzeichnend auch für Vasari bleibt die selbstverständliche Überzeugung von bestimmten Bedingungen, unter denen nur ein Werk der Kunst zur Vollkommenheit gelangen konnte. Entsprechend werden in seinen Viten in einleitenden, übergreifenden Abschnitten die jeweiligen Leistungen in den drei Zeitaltern der rinascita resümiert. Noch weit von der Vollendung entfernt seien die Künste in dem ersten Zeitalter gewesen; „wenn auch Einiges an ihnen gut war, so verband sich damit doch noch so viel Unvollkommenes, daß fürwahr jener Zeit an sich kein sonderliches Lob the Warburg and Courtauld Institutes 23 (1960) S. 190–215; Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte? München/Berlin 1983, S. 63–91 (Vasari und die Folgen. Die Geschichte der Kunst als Prozeß?; zuerst erschienen in: Historische Prozesse. Hgg. von Karl-Georg Faber und Christian Meier. München 1978, S. 98–126); Julian Kliemann: Giorgio Vasari. Kunstgeschichtliche Perspektiven. In: Kunst. Hgg. von Ganz u. a. (wie Anm. 21), S. 29–74; Le ‚Vite‘ del Vasari. Genesi, topoi, ricezione – Die ‚Vite‘ Vasaris. Entstehung, Topoi, Rezeption. Hgg. von Katja Burzer u. a. Venedig 2010 (Collana del Kunsthistorisches Institut in Florenz. Max-Planck-Institut. Band 14), mit zahlreichen hier einschlägigen Beiträgen und weiterer Literatur; zum Begriff der rinascita vgl. Buck: Begriff (wie Anm. 5), S. 10f.; zu dem dreistufigen Geschichtsmodell siehe bes. Gerd Blum: Provvidenza e progresso. La teologia della storia nelle ‚Vite‘ vasariane. Con alcune considerazioni su periodizzazione e paginatura nella Torrentiniana. In: Le ‚Vite‘. Hgg. von Burzer u. a. (wie Anm. 36), S. 131–152; Blum: Vasari (wie Anm. 35), S. 187. 37 Plinius Secundus: Naturalis historia (wie Anm. 13), 56, S. 50–53, 58, S. 52f., 67, S. 58f. 38 Vgl. in diesem Zusammenhang Ernst H. Gombrich: Der Fortschrittsgedanke im Kunstleben der Renaissance. In: Ders.: Norm und Form. Stuttgart 1985 (Zur Kunst der Renaissance. Band 1), S. 11–23 und S. 174–179 (zuvor erschienen: The Renaissance Conception of Artistic Progress and its Consequences. In: Ders.: Norm and Form. London 1966 [Studies in the Art of the Renaissance. Band 1], S. 1–10 und S. 137–140).

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zukommt.“39 Einigen Ruhm gönnt Vasari den Werken dieser Zeit dennoch, weil sie am Anfang desjenigen Weges stehen, „der zum Besseren führte“. Anerkannt wird mithin ihre geschichtliche Bedeutung, während sie kaum Beifall verdienen würden, „wenn man sie nur streng nach den Regeln der Kunst beurtheilen wollte.“40 Für die Malerei, und genauer für Giotto, konstatiert Vasari etwa, dass dessen Figuren, verglichen mit denen der älteren Zeit, anmutigere Gesichter, schönere Stellungen, eine größere Lebendigkeit und in den Gewändern einen natürlicheren Faltenwurf aufwiesen.41 Im zweiten Zeitalter – dem Quattrocento – seien dann die Werke besser, „mit mehr Erfindung und Zeichnung, mit schönerer Manier und größerem Fleiße ausgeführt, und die alterthümliche Rohheit und die plumpen Mißverhältnisse verbannt“,42 die man zuvor noch habe beobachten können. Doch erst im dritten Zeitalter habe die Kunst „gethan, was in Nachbildung der Natur zu leisten vergönnt ist“, und sei „so hoch gestiegen, daß man eher befürchten müsse, sie werde wieder sinken, als daß man hoffen dürfe, sie könne zu noch höherer Vollendung gelangen.“43 Die Qualitätskriterien, nach denen Vasari diese Vollkommenheit bemisst, sind nach wie vor eine naturalistische Wiedergabe der sichtbaren Wirklichkeit, namentlich eine korrekte Zeichnung, anatomische Richtigkeit bei den Figuren (um deren Darstellung in ‚Historien‘ es selbstverständlich in erster Linie geht) und ein schöner Faltenwurf in den Gewändern, dann aber eine idealisierende Übersteigerung des Naturvorbilds durch eine Manier – eine stilistische Form –, die das Vollkommene aus den schönsten Vorbildern vereint (in Geltung bleibt mithin die „Idee der Schönheit“), Anmut und Lebendigkeit, Mannigfaltigkeit in verschiedener Hinsicht, ein reizvolles Kolorit und eine gelungene Anordnung der Bildgegenstände, schließlich „eine gewisse Freiheit, die, ohne Regel zu seyn, durch die Regel geordnet ist und bestehen kann ohne Verwirrung zu veranlassen und die Ordnung zu verderben.“44 Erreicht hatte die Vollkommenheit in der Malerei für Vasari 39 Vasari: Leben (wie Anm. 36), Band 2,1, S. 5. […] come elle [arti] abbiano avuto qualcosa di buono, essere stato acompagnato da tanta imperfezzione, che e’ non merita per certo troppa gran lode […]. Vasari: Le vite (wie Anm. 36), Band 3, Text, S. 6. 40 Vasari: Leben (wie Anm. 36), Band 2,1, S. 5. […] ancora che, per aver dato principio e via e modo al meglio che seguitò poi, se non fusse altro, non si può se non dirne bene e darle un po’ più gloria che, se si avesse a giudicare con la perfetta regola dell’arte, non hanno meritato l’opere stesse. Vasari: Le vite (wie Anm. 36), Band 3, Text, S. 6. 41 Vasari: Leben (wie Anm. 36), Band 2,1, S. 10f.; Vasari: Le vite (wie Anm. 36), Band 3, Text, S. 12. 42 Vasari; Leben (wie Anm. 36), Band 2,1, S. 5. Nella seconda [età] poi si veggono manifesto esser le cose migliorate assai e nell’invenzioni e nel condurle con più disegno e con miglior’ maniere e con maggior diligenza, e così tolto via quella ruggine della vecchiaia e quella goffezza e sproporzione che la grossezza di quel tempo le aveva recata adosso. Vasari: Le vite (wie Anm. 36), Band 3, Text, S. 6. 43 Vasari: Leben (wie Anm. 36), Band 2,1, S. 6. […] che ella sia salita tanto alto, che più presto si abbia a temere del calare abasso che sperare oggimai più augumento. Vasari: Le vite (wie Anm. 36), Band 3, Text, S. 7. 44 Vasari: Leben (wie Anm. 36), Band 3,1, S. V–XIII; das letzte Zitat ebd., S. VIIIf.; Vasari: Le vite (wie Anm. 36), Band 4, Text (1976), S. 4f. […] nella regola una licenzia, che, non essendo di regola, fosse ordinata nella regola e potesse stare senza fare confusione o guastare l’ordine […]. Ebd., S. 5.



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insbesondere Raffael, der aus Natur und Kunst das Beste gewählt und vereinigt, und der damit die Natur besiegt und die größten Meister des Altertums, Apelles und Zeuxis, übertroffen habe.45 Der Preis vor allen Künstlern, vor den lebenden und den toten, wird jedoch Michelangelo vindiziert, und zwar in der Architektur, der Skulptur und der Malerei gleichermaßen.46 Ein Äußerstes war damit gesagt; die Fortschrittsgeschichte der Kunst in der dritten ‚Großepoche‘, der Epoche ihrer Wiedergeburt, war in drei Zeitaltern mit einer fortwährenden Progression vom Guten zum Besseren zu einem Ziel gelangt. Sie erreichte die höchste Vollkommenheit, die nach festen Kriterien zu beurteilen war, nach einer Norm, die sich im Hinblick auf die bildenden Künste kurz als idealisierender Naturalismus, als eine ins Ideal-Schöne gesteigerte Wirklichkeitsschilderung beschreiben lässt. Und sie betraf vor allem die narrative, figürliche Darstellung, die in geschwisterlicher Beziehung zur Dichtkunst, zur Literatur stand. In dieser geschichtlichen, oder richtiger: in dieser von ihm selbst in dieser Weise Mitte des 16. Jahrhunderts definierten Situation musste Vasari konstatieren, dass man nun eher zu befürchten habe, die Kunst „werde wieder sinken, als daß man hoffen dürfe, sie könne zu noch höherer Vollendung gelangen.“47 Zugleich stellte er fest, dass die von ihm im Folgenden (in Form von Künstlerbiographien) beschriebene Entwicklungsgeschichte der rinascita ihre Parallelen in anderen Zeiten, nämlich in der Antike, habe; die von Plinius geschilderte Fortschrittsgeschichte der Künste im Altertum gliederte Vasari ihrerseits in drei Phasen (wobei die dritte Phase in der Skulptur etwa mit Polyklet, in der Malerei zum Beispiel mit Apelles bezeichnet wird),48 so dass die Zeit der Erneuerung von Cimabue bis Michelangelo auch strukturell in Analogie zur ersten Blüte der Kunst gebracht war. Unübersehbar ergab sich daraus nun aber ein zyklisches Geschichtsmodell, und entsprechend den vorgenannten Befürchtungen Vasaris lag ein neuerlicher Niedergang der Künste tatsächlich in der Natur der Sache, mochte auch immer durch eine Kodifizierung des Erreichten und durch dessen Vermittlung an die nachfolgenden Künstler in den nun entstehenden Kunstakademien49 dieser Verfall verzögert oder gemildert werden. Es erhob sich unweigerlich die Frage, wie in Rücksicht auf Vasaris überwältigend evident anmutendes Entwicklungsmodell die weitere Geschichte der Künste fortgeschrieben werden könne. Außer Zweifel stand für die nachfolgenden Kunstschriftsteller und -theoretiker jedoch nicht nur Vasaris klar durchstrukturierte Geschichtskonstruktion mit zwei Gipfelpunkten der Kunstentwicklung in der Antike und in der (heute so bezeichneten) Hochrenaissance. Wesentlich ist in unserem Zusammenhang, dass weitere Ord45 Vasari: Leben (wie Anm. 36), Band 3,1, S. XIII; Vasari: Le vite (wie Anm. 36), Band 4, Text, S. 8f. 46 Vasari: Leben (wie Anm. 36), Band 3,1, S. XVI; Vasari: Le vite (wie Anm. 36), Band 4, Text, S. 10f. 47 Siehe oben Anm. 43. 48 Vasari: Leben (wie Anm. 36), Band 2,1, S. 6f.; Vasari: Le vite (wie Anm. 36), Band 3, Text, S. 7f. 49 Siehe dazu die ‚klassische‘ Studie von Nikolaus Pevsner: Die Geschichte der Kunstakademien. München 1986 (zuerst erschienen: Academies of Art. Past and Present. Cambridge 1940; 2. Aufl. 1973).

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nungsmodelle bzw. Gesichtspunkte zur Beurteilung von Kunstwerken als Grundlage für deren Einordnung oder Klassifizierung ihre Gültigkeit behielten. Zum ersten wird wie selbstverständlich an einer normativen Ästhetik festgehalten, an feststehenden – das heißt geschichtlich nicht relativierten – Qualitätskriterien, nach denen der Rang eines Kunstwerks zu bestimmen war. Zum zweiten blieb die naturalistische Wirklichkeitsschilderung als Aufgabe der bildenden Künste bestehen. Zum dritten war speziell in der Malerei – bei einem seit dem 15. Jahrhundert breit sich ausfächernden Motivkreis – die historia, die Darstellung biblischer, mythologischer, literarischer und geschichtlicher Themen wie auch allegorischer Motive in narrativen Szenen, weiterhin die vornehmste Aufgabe, ungeachtet der Beliebtheit, die namentlich Landschaften, nicht nur nördlich der Alpen, bei Sammlern aus jeder Gesellschaftsschicht genossen. Dies gilt auch für einen Niederländer wie Karel van Mander; bei aller Wertschätzung namentlich der Landschaftsmalerei und bei aller Ermunterung der Kunst­ adepten, dieser Gattung der Malerei sich zu widmen, folgte er in seinem «SchilderBoeck» (1603–1604) doch ohne Weiteres den Italienern in der Beurteilung der historia als der würdigsten Aufgabe eines Malers. Die niederländische Figurenmalerei auf das Niveau der ultramontanen zu heben, ist nicht zum wenigsten das Ziel seiner Schrift, namentlich des vorangestellten ‚Lehrgedichts‘.50 Von Belang ist van Manders «Schilder-Boeck» für uns noch deshalb, weil neben der chronologischen Künstlergeschichtsschreibung, die nach den Meistern der Antike die der jüngeren Vergangenheit bzw. der eigenen Zeit zur Sprache bringt – wie dies zuerst Ghiberti getan hatte –, hier überdies die Ordnung der Künstler nach geographischen bzw. nach Schulzusammenhängen voll ausgeprägt ist. Bereits Ghiberti weiß neben den Malern und Bildhauern seines Heimatlands von einem nicht genauer fassbaren maestro nell’arte statuaria aus Köln mit Namen Gusmin51 zu berichten, und auch Vasari berücksichtigt in seinen Viten verschiedene herausragende deutsche und niederländische Künstler. Van Mander bietet indes neben je einem Buch über die antiken und über die 50 Das Lehrgedicht des Karel van Mander. Text, Übers. und Kommentar nebst Anhang über Manders Geschichtskonstruktion und Kunsttheorie von Rudolf Hoecker. Den Haag 1916 (Quellen zur holländischen Kunstgeschichte. Band 8). Die Italiener, so erklärt van Mander, würden die Niederländer für gut in Landschaftsdarstellungen, sich hingegen im Figürlichen halten, „doch“, setzt er hinzu, „hoffe ich, dass wir ihnen ihr Teil noch entreissen werden“ (Dan ick hoop of wy haer deel oock ontstelden). Siehe auch Kap. V, 9 und 13f., S. 98–101. Für den „wichtigsten Teil der Kunst“ (het besonderste deel der Consten) hält van Mander wie selbstverständlich, „eine menschliche Figur richtig konstruieren zu lernen“ (te weten / een Menschlijk beeldt te leeren stellen). Ebd., Vorrede, S. 12f.; siehe ferner den Kommentar ebd., S. 340–345. Zu van Mander siehe auch Wolfgang von Löhneysen: Carel van Mander zwischen Vasari und Winckelmann. In: Kunst. Hgg. von Ganz u. a. (wie Anm. 21), S. 101–134; ferner Jürgen Müller: Concordia Pragensis. Karel van Manders Kunsttheorie im Schilder-Boeck. Ein Beitrag zur Rhetorisierung von Kunst und Leben am Beispiel der rudolfinischen Hofkünstler. (Diss. phil. Bochum 1991) München 1993 (VCC. Band 77). 51 Ghiberti: I commentarii (wie Anm. 21), Band 1, II, 17, S. 43; siehe dazu Murray: Ghiberti (wie Anm. 21), S. 291.



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italienischen Maler52 einen umfangreichen dritten Teil mit Künstlerviten, in denen, analog zu der Entwicklungsgeschichte der antiken und der italienischen Kunst, der künstlerische Progress in den Niederlanden und Deutschland dargelegt wird.53 Das Modell eines anhand von Künstlerbiographien verfolgten Aufstiegs (oder Wiederaufstiegs) der Kunst wird, durchaus in nobilitierender Absicht, für die Entwicklung der niederländischen Malerei adaptiert und ein Ordnungsmuster geprägt – nämlich die Beschreibung der Kunstentwicklung nach einzelnen nationalen Schulen –, das weiter ausgebaut und ausdifferenziert werden konnte. Nicht die folgenden Entwicklungsstufen dieses Ordnungsmodells sollen hier jedoch behandelt werden, sondern diejenigen von Vasaris kunstgeschichtlichem bzw. kunsttheoretischem Konzept, die Rezeption des Drei-Epochen-Modells mit seinen zyklischen Implikationen, die Idee eines Fortschritts in den Künsten im Zusammenhang mit einer normativen Ästhetik, der naturalistisch-idealisierenden Wirklichkeitsschilderung und der historia als der vornehmsten Bildgattung.

III Unter diesen Voraussetzungen ließ sich etwa in Frankreich im 17. Jahrhundert eine deutliche Vorstellung vom weiteren Entwicklungsgang der Kunst seit der Hochrenaissance und seit Vasaris Viten gewinnen. André Félibien folgt in seinen «Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellens peintres anciens et modernes» (1666–1688) zunächst ohne Weiteres dem Drei-Epochen-Modell, wie die italienische Kunsthistoriographie und vor allem Vasari es vorgeben; er konstatiert den Beginn einer Erneuerung der Malerei (die hier wieder exemplarisch genannt sei) um 1240 mit der Geburt Cimabues und sieht deren Gipfelpunkt in Raffael, der alle seine Vorläufer 52 Karel van Mander: Het Leven der oude Antijcke doorluchtighe Schilders / soo wel Egyptenaren / Griecken als Romeynen / uyt verscheyden Schrijvers by een ghebracht / en in Druck uytgegheven / tot dienst / nut / en vermaeck der Schilders / en alle Const-beminders (= Het Schilder-Boeck. Band 2). Haarlem 1603. Geschildert wird hier die Entwicklung der Kunst bis zur Zeit des Kaisers Hadrian; Ders.: Het Leven der Moderne / oft dees-tijtsche doorluchtighe Italiaensche Schilders. Beginnende aen de ghene / die d’Edel Schilder-const in dese leste Eeuwen weder als van der Doot verweckt / oft herbaert / en tot desen onsen tijdt in Italien hebben gheoeffent / en tot meer en meer volcomenheyt gebracht / tot groot nut en vermaeck der Schilders / en Schilder-const beminders (= Het Schilder-Boeck. Band 3). Haarlem 1603. Hier geht es, im direkten Anschluss an Vasari u. a., um die Entwicklung nach dem Niedergang der Kunst seit der Zeit Konstantins des Großen: Hoe dat dan de Const van den ondersten trap tot nu ter tijdt nae boven toe weder opgheclommen is, beginnende in Italien, en van daer elder verspreyt wesende […]. Ebd., fol. 93v. Der Aufstieg der Malerei beginnt auch für van Mander mit der Geburt Cimabues, die auf 1240 datiert wird. Ebd., fol. 94r. 53 Karel van Mander: Het Leven der Doorluchtighe Nederlandtsche / en Hooghduytsche Schilders. […] Alles tot lust / vermaeck / en nut der Schilders / en Schilder-const beminders (= Het SchilderBoeck. Band 4). Haarlem 1604. Der Aufstieg der Malerei beginnt hier mit Jan van Eyck.

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übertroffen habe.54 Was Vasari befürchtet hatte, einen neuerlichen Verfall der Kunst nach deren Blüte in der Hochrenaissance, ist für Félibien nun tatsächlich eingetreten. Raffael habe die Malerei zur höchsten Vollendung geführt, und einige seiner Schüler seien ihm recht glücklich gefolgt; diejenigen aber, die danach gekommen waren, hätten sich schließlich weit von dem Weg, den die großen Meister gewiesen hatten, entfernt, sei es, dass sie kein hinlängliches Genie besaßen, sei es, dass sie das für ihre Vorhaben notwendige Studium vernachlässigten.55 Um 1600 war für Félibien in allen Schulen Italiens die Malerei bereits sehr heruntergekommen. Man habe kein genaues Studium dessen mehr betrieben, was zur Vollkommenheit eines Werkes erforderlich ist, ein jeder sei nur seinen Einfällen gefolgt. In Rom namentlich habe es zwei Parteien gegeben, die die Jugend entzweiten; dabei hätten die einen (mit Caravaggio allen voran) die Natur gerade so wiedergegeben, wie sie sie fanden (das heißt ohne deren Steigerung ins Ideale), während die anderen (mit dem Cavaliere Guiseppe d’Arpino als ihrem Hauptvertreter) im Gegenteil die Natur gar nicht studiert, sondern, indem sie sich allein von der Einbildungskraft leiten ließen, nur nach den Bildern gearbeitet hätten, die sie sich im Geist bildeten. Die Kunst der Malerei würde binnen kurzem, so Félibien, ganz verloren gewesen sein, hätte der Himmel nicht Annibale Carracci auf die Welt kommen lassen, um sie aus den Händen derer zu retten, die sie so übel traktierten.56 Eine abermalige Erneuerung oder Wiedergeburt der Kunst wird damit veranschlagt, ein Aufstieg zu neuen Höhen, der diesmal, im Frühbarock, mit Annibale Carracci und der Bologneser Malerschule beginnt. Den neuerlichen Gipfel, 54 André Félibien: Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellens peintres anciens et modernes; avec la vie des architectes, 6 Bd.e. Trévoux 1725. ND in einem Band. With an Introductory Note by Sir Anthony F. Blunt. Farnborough, Hants. 1967, Band 1, Second Entretien, S. 155 und S. 291; zu Félibien siehe Stefan Germer: Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich Ludwigs XIV. (Habilitationsschrift Bonn 1994) München 1994; über die «Entretiens» siehe hier S. 439–503. 55 La Peinture, comme les autres Sciences & les autres Arts, n’est pas toûjours demeurée dans un même état; elle a eu son commencement, son progrès; & après être arrivée au plus haut point où on l’ait vûe, elle est comme tombée, & ceux mêmes qui avoient pour exemple les plus excellens Peintres, ne les ont pas suivis dans le chemin qu’ils leur avoient tracé. Raphael est sans contredit, celui des Peintres Modernes qui a mis cet Art dans sa plus haute perfection […]. Quelques-uns de ses disciples l’ont suivi assez heureusement; mais enfin ceux qui sont venus depuis, soit qu’ils n’eussent pas un génie assez élevé, soit qu’ils negligeassent l’étude necessaire pour ce qu’ils entreprenoient, se sont éloignez beaucoup de la route que ces grands Maîtres leur avoient marquée. Félibien: Entretiens (wie Anm. 54), Band 3, Sixième Entretien, S. 245. 56 Cependant la Peinture étoit alors déjà beaucoup déchûe dans toutes les Ecoles: on n’y faisoit plus une étude exacte de tout ce qui est nécessaire à la perfection d’un Ouvrage: chacun suivoit son caprice, & dans Rome il s’étoit élevé comme deux différens partis qui partageoient tout la jeunesse. Les uns s’attachoient particuliérement à imiter la nature telle qu’ils la trouvoient […]; & les autres, sans examiner le naturel, se laissant conduire par la force de leur imagination, & sans autre modéle que leurs seules idées, travailloient d’après les images qu’ils se formoient dans l’esprit. […] l’on peut dire que le bel Art de la Peinture se seroit bien-tôt perdu, si le Ciel n’eût fait naître Annibal Carache pour le sauver des mains de ceux qui le traitoient si mal. Félibien: Entretiens (wie Anm. 54), Band 3, Sixième Entretien, S. 247f.



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oder vielmehr einen Grad der Perfektion, wie er nie zuvor erreicht worden war, sieht Félibien dabei (nicht anders als zuvor Vasari oder Alberti) in seiner eigenen Zeit, und zwar nicht in Italien, sondern in Frankreich unter Ludwig XIV. Die Lichtgestalt ist nun Nicolas Poussin, von dem Félibien erklärt, dass er, der der Ruhm und die Ehre der französischen Nation gewesen sei, alle Wissenschaft der Malerei gleichsam in seine Arme genommen habe, um sie von Griechenland und Italien nach Frankreich zu tragen, wo die höchsten Wissenschaften und die schönsten Künste derzeit sich niedergelassen hätten.57 Keinen Maler habe es gegeben, der eine höhere Idee von der Vollkommenheit der Malerei besessen oder besser als Poussin gewusst habe, was ein Werk zur Vollendung bringen kann.58 Deutlicher erklärte Charles Lebrun in seiner «Conférence» über Poussins «Mannawunder» 1667, dass hier nicht nur die großartige Zeichenkunst Raffaels, das Kolorit Tizians und die Leichtigkeit des Pinsels von Paolo Veronese, sondern „darüber hinaus andere [Fähigkeiten], die man bei den genannten Malern keineswegs hatte beobachten können“,59 ausgeprägt seien. Nochmals deutlicher und zumal detaillierter und systematischer kommt diese Auffassung in Charles Perraults «Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les arts et les sciences» (1688–1697) zum Vorschein. Für die Malerei (um bei diesem Beispiel zu bleiben) werden zunächst wie selbstverständlich die Antike – die Epoche des Zeuxis und Apelles –, die Renaissance – die Epoche von Raffael, Tizian und Veronese – und das eigene Jahrhundert als drei Blütezeiten ausgewiesen.60 Wie nun aber (von dem für Perrault sprechenden Dialogpartner) die Renaissance über die Antike gestellt wird, so wird die eigene Epoche über die Antike und die Renaissance erhoben. Und dies geschieht auf der Basis einer normativen Ästhetik; auf-

57 [Poussin] qui a été l’honneur & la gloire de notre Nation, & qu’on peut dire avoir enlevé toute la science de la Peinture, comme d’entre les bras de la Grece & de l’Italie, pour l’apporter en France, où les plus hautes Sciences & les plus beaux Arts semblent s’être aujourd’hui retirez. Félibien: Entretiens (wie Anm. 54), Band 1, Préface, S. 45. 58 […] je ne crois pas qu’il y ait eu de Peintre qui ait possedé une plus haute idée de la perfection de la Peinture, ni qui ait mieux sçû que lui, tout ce qui peut rendre un Ouvrage accompli. Félibien: Entretiens (wie Anm. 54), Band 1, Préface, S. 21. 59 Wilhelm Schlink: Ein Bild ist kein Tatsachenbericht. Le Bruns Akademierede von 1667 über Poussins ‚Mannawunder‘. Freiburg i. Br. 1996 (Rombach Wissenschaft. Reihe Quellen zur Kunst. Band 4), S. 29. Mais qu’il [Lebrun] fera remarquer dans l’ouvrage du fameux M. Poussin toutes ces parties rassemblées, et encore d’autres que l’on n’a point observées dans les peintres dont l’on a parlé. Ebd., S. 10. Zu den „Conférences“ siehe auch Germer: Kunst (wie Anm. 54), S. 347–352 und S. 370–379; Jutta Held: Französische Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts und der absolutistische Staat. Le Brun und die ersten acht Vorlesungen an der königlichen Akademie. Berlin 2001, bes. S. 92–105 (Lebrun über das «Mannawunder») und S. 339–367 (Text und Übersetzung). 60 Charles Perrault: Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, 4 Bd.e. Paris 1688–1697. ND mit einer einleitenden Abhandlung von Hans Robert Jauss und kunstgeschichtlichen Exkursen von Max Imdahl. München 1964 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste. Texte und Abhandlungen. Band 2), S. 150 (S. 197f.); siehe dazu auch Hippolyte Rigault: Histoire de la querelle des anciens et des modernes. Paris 1856, S. 174–208.

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grund von a priori festgesetzten, dabei an die Gesichtspunkte schon der frühen italienischen Kunsttheorie anschließenden Kriterien wird eine auf diesen drei Gipfelpunkten schrittweise vollzogene Perfektionierung der Bildmittel und der Darstellungsform postuliert. So hätten die berühmten Maler des Altertums zwar das Auge und das Herz des Betrachters erfreut, indem sie sowohl eine korrekte Zeichnung und richtige Lokalfarben als auch einen lebendigen Ausdruck zeigten, in dem die Seelenregungen der dargestellten Personen sichtbar werden. Gefehlt habe jedoch ein Drittes, das zusätzlich den Verstand (la raison) erfreut, nämlich eine richtige Verteilung von Licht und Schatten, eine Luftperspektive und eine schöne Bildordnung (ordonnance).61 Aber auch einem Raffael, Veronese und den Meistern der Renaissance im Ganzen sei namentlich ein Künstler wie Charles Lebrun, ‚Premier Peintre‘ Ludwigs XIV., entschieden überlegen, und zwar schon im Hinblick auf die Luftperspektive, von der Raffael noch kaum etwas gewusst habe.62 Überdies aber vermöchte etwa Veronese in seinem «Emmaus-Mahl» (Abb. 3) – von Fehlern in der Linearperspektive ganz abgesehen – im Unterschied zu Lebrun in seinem «Zelt des Darius» (Abb. 4; beide Gemälde hingen damals vis-à-vis in der ‚Chambre de Mars‘ im Schloss von Versailles), nicht der Forderung nach den drei Einheiten, nämlich von Ort, Zeit und Handlung, Genüge zu tun; dies aber war notwendig, da ein Gemälde ein stummes Dichtwerk sei.63 Denn le lieu y est immutable, le temps indivisible, & l’action momentanée.64 Diese Argumente machen deutlich, dass die Entwicklungslinie von Vasari weiter ausgezogen wird und dass der Fortschritt – in der Malerei – ganz entsprechend in der Perfektionierung einer Verbildlichung von ‚Historien‘ besteht, von (gehobenen, nicht genrehaften) narrativen Szenen, die in einem naturalistisch-idealisierenden Stilidiom vor Augen gebracht werden. Dass in der ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘, in der Perrault als Vertreter der ‚Modernes‘ sich zu Wort meldet, auch umgekehrt von den ‚Anciens‘ die Antike als höchster Gipfelpunkt der Kunstentwicklung betrachtet werden konnte, darf in unserem Zusammenhang beiseite bleiben; das hier in Rede stehende Ordnungsmodell und die Gesichtspunkte der Kunstbetrachtung werden davon nicht grundsätzlich berührt. Der Unterschied liegt nur in der jeweiligen Höhe der Gipfel – ob der erste oder der letzte der höhere sei – und in dem Qualitätsurteil, das aber hier wie dort auf eine normative Ästhetik sich gründet. 61 Perrault: Parallèle (wie Anm. 60), S. 154 (S. 212–215). 62 Perrault: Parallèle (wie Anm. 60), S. 159 (S. 233f.). 63 Perrault: Parallèle (wie Anm. 60), S. 156f. (S. 222–226); zu den beiden Gemälden von Veronese und Lebrun, ihrem inhaltlichen Zusammenhang in der ‚Chambre de Mars‘ und der Beurteilung durch Perrault siehe Hans Körner: Der ‚Neue Alexander und die Spieler‘. Zur Ikonologie der ‚Chambre de Mars‘ in Versailles. Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 40 (1989) S. 141–152, bes. S. 144f.; siehe auch Germer: Kunst (wie Anm. 54), S. 208–218 (Félibiens Beurteilung von Lebruns Gemälde). Zu Lebruns Gemälde siehe zuletzt Michael Rohlmann: Die Kunst zu Füßen des wahren Alexander. Charles Le Bruns ‚Reines de Perse‘. Wallraf-Richartz-Jahrbuch 71 (2010) S. 233–263 (mit umfangreicher Bibliographie). 64 Perrault: Parallèle (wie Anm. 60), S. 156 (S. 223).



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Abb. 3: Paolo Veronese, «Das Emmaus-Mahl», um 1559/1560, Öl auf Leinwand. Paris, Musée du Louvre. Körner: Der ‚Neue Alexander und die Spieler‘ (wie Anm. 63), S. 143, Abb. 3.

Abb. 4: Charles Lebrun, «Das Zelt des Darius» («Die Königinnen von Persien zu Füßen Alexanders des Großen»), 1661, Öl auf Leinwand. Versailles, Château de Versailles. Körner: Der ‚Neue Alexander und die Spieler‘ (wie Anm. 63), S. 143, Abb. 2.

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Wichtiger ist zum einen, dass neben der klaren chronologischen Ordnung der Kunstepochen nun im Hinblick auf die Malerei auch eine feste Ordnung in der Hierarchie der Bildgattungen formuliert wird, und zwar wiederum von Félibien 1669 in der Einleitung zu den ersten «Conférences de l’Académie royale de peinture et de sculpture», den Vorträgen des Jahres 1667; geradezu auf metaphysischer Grundlage bekommt die mit einem allegorischen Sinngehalt aufgeladene Historienmalerei hier nachdrücklich vor dem Porträt, dem Tierstück, der Landschaft und dem Stillleben (von der Genremalerei ist nicht die Rede) den höchsten Rang zugesprochen.65 Und wichtiger ist zum anderen, dass die ästhetischen Urteilskriterien in ein denkbar differenziertes, in seiner subtilen Starrheit unübertroffenes Regelwerk münden, in die sechs «Tables de préceptes» (Lehrtafeln) von Henri Testelin, der wie Félibien zeitweise Sekretär der ‚Académie royale‘ war; in Tabellenform werden hier die Bestandteile, Erfordernisse und Gesichtspunkte der Zeichnung (le traict), der Proportionen (les proportions), des Ausdrucks (l’expression), der Bildordnung (l’ordonnance), des Helldunkels (le clair et l’obscure) und der Farbe (la couleur) auseinandergesetzt.66 Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch die berühmt-berüchtigte «Balance des peintres», die Roger de Piles seinem «Cours de peinture par principes» (1708) beifügt und in der 58 Maler der verschiedensten Epochen und Schulen nach vier Gesichtspunkten – la composition, le dessin, le coloris et l’expression67 – mit Punkten (maximal 20) bewertet werden. Alle diese Äußerungen der französischen Kunsttheorie im Zeitalter Ludwigs XIV. sind als Bemühungen um eine objektive Beurteilung und Klassifizierung der Kunst zu verstehen, die letzten Endes (nicht anders als Vasaris kunsttheoretische Anstrengungen) praktisch darauf zielten, die postulierte aktuelle Blüte möglichst zu verlängern, wenn schon nicht zu konservieren.

IV Wenn in diesem Rahmen ohnehin keine auch nur annähernd lückenlose Übersicht über die vielfältigen Adaptionen und Modifikationen von Vasaris bzw. dem in der italienischen Kunstliteratur aufgebrachten Ordnungsmodell gegeben werden kann, so 65 André Félibien: Préface aux ‚Conférences de l’académie royale de peinture et de sculpture pendant l’année 1667‘ (1669). In: Les Conférences de l’Académie royale de peinture et de sculpture au XVIIe siècle. Hg. von Alain Mérot. Paris 2. aktual. Aufl. 2003 (1. Aufl. 1996 [Collection Beaux-Arts Histoire]), S. 43–59, hier S. 50f.; siehe dazu Germer: Kunst (wie Anm. 54), S. 356–369; Held: Kunsttheorie (wie Anm. 59), S. 119–138 und S. 237–269 (Text und Übersetzung). 66 Henri Testelin: Les Tables de préceptes et leurs commentaires (1675–1679). In: Conférences. Hg. von Mérot (wie Anm. 65), S. 309–380. 67 Roger de Piles: Cours de peinture par principes. Préface de Jacques Thuillier. Paris 1989, S. 236–241, hier S. 237; zu Roger de Piles siehe Thomas Puttfarken: Roger de Piles’ Theory of Art. New Haven/London 1985; Svetlana Alpers: Roger de Piles and the History of Art. In: Kunst. Hgg. von Ganz u. a. (wie Anm. 21), S. 175–188.



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darf vielleicht mit einem Sprung, auch über Winckelmann und die Überführung der Künstler- in eine Kunstgeschichte hinweg, zuletzt noch die Frage nach der Beziehung der sich etablierenden Kunstwissenschaft zu diesem Erbe gestellt werden. Die ersten kunstwissenschaftlichen Überblickswerke oder Gesamtdarstellungen stammen von Franz Kugler, der nach seiner Habilitation in Berlin 1833 – die „durch ihr Thema (‚Geschichte der Baukunst‘) als die erste kunstgeschichtliche Habilitation angesehen werden“68 kann – sowohl an der Universität wie an der Akademie der Künste in Berlin Vorlesungen hielt.69 1837 erschien in zwei Bänden sein «Handbuch der Geschichte der Malerei von Constantin dem Grossen bis auf die neuere Zeit», 1842 sein «Handbuch der Kunstgeschichte». Nimmt man das frühere Werk, das sich in den hier interessierenden Punkten jedoch nicht prinzipiell von dem späteren unterscheidet, so finden sich eine chronologische Darstellung und eine Gliederung des Stoffes nach Ländern und Schulen. Band 1 behandelt die «Geschichte der Malerei in Italien seit Constantin dem Grossen», wobei innerhalb der zeitlichen Ordnung die Künstler nach lokalen, und das meint stilistischen Zusammenhängen vorgestellt werden. Der zweite Band ist der «Geschichte der Malerei in Deutschland, den Niederlanden, Spanien, Frankreich und England» gewidmet. Diese Aufteilung zeigt deutlich eine Bevorzugung der Malerei in Italien, die sich nicht ohne Weiteres aus der Natur der Sache ergibt, sondern auf einen Standpunkt hindeutet, der der italienischen Kunst einen qualitativen Vorrang zugesteht. Und kennzeichnend ist nun, dass auch hier noch immer, 1837, in wesentlichen Aspekten die Auffassung der traditionellen, im Trecento grundgelegten Kunsttheorie sich fortgeschrieben findet. Allerdings wird die spätantike bzw. frühchristliche Figurendarstellung differenziert charakterisiert und gewürdigt, und auch der byzantinischen Kunst können positive Seiten abgewonnen werden. Außer Frage aber stehen zugleich deren Defizite und die Tatsache, dass es sich um Werke einer Zeit, wenn nicht rein des Verfalls, so doch lediglich der Vorbereitung handelt. Vertraut klingen die Schilderung eines Wiederaufstiegs der Malerei (bzw. der Künste) in der Zeit von Cimabue und Giotto und die Gliederung dieser Entwicklung in drei Perioden. Da heißt es:

68 Kilian Heck: Die Bezüglichkeit der Kunst zum Leben. Franz Kugler und das erste akademische Lehrprogramm der Kunstgeschichte. Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 32 (2005) S. 7–15, hier S. 8. 69 Zu Kugler siehe Gabriele Bickendorf: Die ‚Berliner Schule‘: Carl Friedrich von Rumohr (1785– 1843), Gustav Friedrich Waagen (1794–1868), Karl Schnaase (1798–1875) und Franz Kugler (1808– 1858). In: Klassiker der Kunstgeschichte, 2 Bd.e. Hg. von Ulrich Pfisterer. München 2007–2008, Band 1: Von Winckelmann bis Warburg, Band 2: Von Panofsky bis Greenberg, hier Band 1, S. 41–61; Peter Betthausen: Kugler, Franz Theodor. In: Ders. u. a.: Metzler-Kunsthistoriker-Lexikon. 210 Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten. Stuttgart/Weimar 2. aktual. und erw. Aufl. 2007 (1. Aufl. 1999), S. 247–249, mit Bibliographie; Franz Theodor Kugler. Deutscher Kunsthistoriker und Berliner Dichter. Hgg. von Michel Espagne u. a. Berlin 2010; Eric Garberson: Art History in the University. Toelken – Hotho – Kugler. Journal of Art Historiography 5 (2011), online-Ressource: http:// arthistoriography.files.wordpress.com/2011/12/garberson-toelken-kugler1 (01.07. 2015).

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In der ersten Periode der neuerwachenden Kunst, um das Ende des dreizehnten Jahrhunderts, hatte man die heiligen, aus früher Vorzeit überlieferten Gegenstände mit lebendigem Sinne darzustellen und in demselben Geiste weiter zu bilden gestrebt; in der zweiten Periode war der Geist und das Gemüth des Künstlers in freier selbstschöpferischer Thätigkeit herausgetreten und seiner eigenen Kräfte, seines eignen Rechtes bewusst geworden; noch ein Element war zur Vollendung der Kunst erforderlich, ‒ das Studium, die freie, naturgemässe Durchbildung der Form. […] Diese dritte Periode bezeichnet die Befreiung der Kunst in ihren äusseren Verhältnissen, wie in der vorigen die Befreiung ihres inneren Lebens vor sich gegangen war.70

Nicht ganz decken sich diese Perioden mit den drei Zeitaltern bei Vasari, wenn Kugler etwa die dritte Periode bereits mit Masaccio beginnen lässt und die Blütezeit an das Ende dieser dritten als eine weitere Periode setzt. Im Prinzip ändert sich jedoch nichts gegenüber Vasaris Urteil, wenn Kugler schreibt: Was in den verschiedenen, bisher betrachteten Perioden der neueren Malerei in einzelnen einseitigen Richtungen aus einander getreten war, was sich stufenweise, eins mit Ausschliessung des andern, entwickelt und die v e r s c h i e d e n e n Bedingnisse einer vollkommensten Kunstübung zum lebendigen Bewusstsein gebracht hatte, v e r e i n i g t e sich nach dem Ablaufe der letzten Periode, um den Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, und schuf somit einen der seltensten Höhenpunkte menschlicher Bildung, eine Zeit der lautersten Offenbarungen jener göttlichen Kraft, deren der Mensch theilhaftig geworden ist. In edelster Form, mit tiefsinnigster Auffassung sehen wir die würdigsten Gegenstände in den Meisterwerken dieser neuen Periode dargestellt, wie es die Folgezeit bis jetzt noch nicht wieder erreicht hat.71

Diese Blütezeit bildet für Kugler, nicht anders als knapp drei Jahrhunderte zuvor für Vasari, den zweiten Gipfel der Kunstgeschichte. „Raphaels Sixtinische Madonna und Phidias rossebändigender Heros [gemeint ist einer der beiden Rossebändiger vor dem Quirinalspalast, der irrtümlich Phidias zugewiesen ist72], Leonardo’s Abendmahl und Skopas Gruppe der Niobiden“73 bezeichnen exemplarisch diese Epochen der Kunstblüte. Was Vasari befürchtet und was nachfolgende Autoren diagnostiziert hatten, bestätigt Kugler: auf die Zeit der Blüte folgte ein neuerlicher Verfall – die Zeit des (heute sogenannten) Manierismus –, an die sich immerhin um 1600, wie bereits Félibien befunden hatte, mit Annibale Carracci und der Bologneser Malerschule eine, wenn auch als eklektizistisch apostrophierte, Epoche der Restauration anschloss, ehe ein abermaliger Verfall einsetzte. Nur als „ein Künstler von grossem Talent, von 70 Franz Kugler: Handbuch der Geschichte der Malerei von Constantin dem Grossen bis auf die neuere Zeit, 2 Bd.e. Berlin 1837, Band 1: Handbuch der Geschichte der Malerei in Italien seit Constantin dem Grossen, Band 2: Handbuch der Geschichte der Malerei in Deutschland, den Niederlanden, Spanien, Frankreich und England, hier Band 1, S. 87f.; siehe dazu Regine Prange: Die Geburt der Kunstgeschichte. Philosophische Ästhetik und empirische Wissenschaft. Köln 2004, S. 144–147. 71 Kugler: Handbuch. Band 1 (wie Anm. 70), S. 147. 72 Siehe dazu Francis Haskell und Nicholas Penny: Taste and the Antique. The Lure of Classical Sculpture 1500–1900. New Haven/London 6. Aufl. 2006 (1. Aufl. 1981), S. 136–141. 73 Kugler: Handbuch. Band 1 (wie Anm. 70), S. 148.



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reicher Phantasie und leichtester Darstellungsgabe, aber ohne die innere Lauterkeit und Sammlung, welche dem Werke der Hand das Gepräge des Geistes giebt“,74 figuriert übrigens Lebrun. Eine neue Blütezeit der Kunst allgemein knüpfte sich für Kugler erst an die Person von Johann Joachim Winckelmann, und speziell in der Malerei, in Maßen, an das Schaffen von Anton Raphael Mengs, der allerdings als neuerlicher Eklektizist erkannt wird. Durch diese beiden „Ausländer“ sei im „Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts […] in die Geschmacksverwirrung der italienischen Kunst wiederum ein strengeres Studium“ eingetreten.75 „Es scheint“, resümiert Kugler, da die Kunst der Romantik nur als „eine vorübergehende Krisis“ sich erwiesen und die Resultate der „bedeutsamen vorangegangenen Bestrebungen“ Winckelmanns und seiner Gesinnungsgenossen nicht zunichte gemacht habe, „als ob sich unsere Zeit wiederum einem der Höhenpunkte, deren die Kunstgeschichte so wenige zählt, anzunähern im Begriff stehe.“76 So unbestritten bei Kugler ein Fortschritt in der Entwicklung der Kunstwissenschaft zu beobachten ist, in Geltung bleibt doch ein Ordnungsmodell, das die Entwicklung der Kunst als eine Folge von Blüte- und Verfallszeiten begreift; bestehen bleiben unangefochten die (griechische) Antike und die (Hoch-)Renaissance als Gipfel der Kunst, auch der Anspruch oder wenigstens die Hoffnung auf einen neuerlichen Gipfel in der eigenen Zeit (wohingegen das Zeitalter Ludwigs XIV. sich bestenfalls als Hochebene ausnimmt). Bestehen bleibt damit aber noch immer auch die Überzeugung von bestimmten normativen Qualitätskriterien, die sich bei Kugler kurz in der Forderung nach „Schönheit der äusseren Form“ – einer ins Ideal-Schöne gesteigerten naturalistischen Wirklichkeitsschilderung – als „Ausdruck innerer Sittlichkeit“ geltend macht.77 Raffael erfüllte diese Forderung im höchsten Grade, sein Zeitgenosse nördlich der Alpen, Albrecht Dürer, tat es nicht oder doch nur ausnahmsweise; „blicken wir […] auf das höchste Ziel der Kunst, auf die Schönheit, welche das Geheimniss offenbar machen, Inhalt und Form als Eins und untrennbar darstellen soll, so finden wir hier nur im seltensten Falle eine vollkommene Befriedigung.“78 So das Urteil über Dürer. Schließlich bleibt bei dieser Auffassung sogar die Historienmalerei unausgesprochen in ihrem Rang als vornehmste Bildgattung bestehen.

V Mit seinen Ordnungs- und Urteilskriterien steht Kugler im 19. Jahrhundert nicht allein. Nur im Detail stellte sich etwa für seinen Schüler und Freund, für den Bearbeiter auch 74 Kugler: Handbuch. Band 2 (wie Anm. 70), S. 277. 75 Kugler: Handbuch. Band 1 (wie Anm. 70), S. 358f. 76 Kugler: Handbuch. Band 2 (wie Anm. 70), S. 314f. und S. 318. 77 Kugler: Handbuch. Band 1 (wie Anm. 70), S. 242; eine Kennzeichnung von Raffaels Kunst. 78 Kugler: Handbuch. Band 2 (wie Anm. 70), S. 88.

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der zweiten Auflage von beiden Handbüchern, für Jacob Burckhardt, die Entwicklung der Kunst anders dar; gleichermaßen kannte er Blüte- und Verfallszeiten und hielt an einem überzeitlichen Qualitätsmaßstab fest, so großzügig auch immer sein Urteil im Laufe der Zeit etwa über die vermeintliche Verfallsepoche des Barock ausfiel.79 Selbst ein Mann wie Gustav Friedrich Waagen, seit 1830 Direktor der Gemäldegalerie des neu gegründeten Königlichen Museums in Berlin, musste in seinem «Handbuch der deutschen und niederländischen Malerschulen» (1862) der italienischen Malerei konzedieren, dass sie „die höchsten Schöpfungen der ganzen christlichen Kunst“80 hervorgebracht habe. Einen Stich gewinnt die altniederländische Malerei damit, dass sie origineller, eigenständiger als die der Antike nachfolgende italienische erscheint.81 Eine grundsätzliche Revision derjenigen Perspektive auf den Entwicklungsgang der Kunst, der, etwas überspitzt, (in nachantiker Zeit) von Boccaccio bis Burckhardt Bestand hatte – was nicht heißen soll, dass nicht daneben auch andere Positionen vertreten worden sind82 –, einen wirklichen ‚Paradigmenwechsel‘ brachte 79 Siehe dazu Thomas Noll: Vom Glück des Gelehrten. Versuch über Jacob Burckhardt. Göttingen 1997, S. 270–475, bes. S. 335–340, über die Beurteilung der Barockarchitektur. – Nur beiläufig sei erwähnt, dass auch ein Mann wie Carl Friedrich von Rumohr, der in seinen dreibändigen «Italienischen Forschungen» sich eingehend mit der italienischen Kunst des Mittelalters befasst, doch wie selbstverständlich „vom Wiederaufleben des Geistes im dreyzehnten Jahrhundert bis auf das Zeitalter Raphaels“ oder von der Hochrenaissance als der „Epoche der höchsten Entwickelung der neueren Kunst“ sprechen kann. Carl Friedrich von Rumohr: Italienische Forschungen. 3 Teile. Berlin/Stettin 1827–1831, Teil 1, S. 159 und Teil 3, S. IV. Übrigens enthält der dritte Teil als Hauptstück (S. 1–154) eine Abhandlung über Raffael, deren erstes Kapitel überschrieben ist: „Was Raphael vor allen neueren Künstlern auszeichnet.“ Ebd., Teil 3, S. 3. 80 Gustav Friedrich Waagen: Handbuch der Geschichte der Malerei, Band 1: Handbuch der deutschen und niederländischen Malerschulen. Stuttgart 1862, Erste Abt., S. 68; zu Waagen siehe Gabriele Bickendorf: Die Anfänge der historisch-kritischen Kunstgeschichtsschreibung. In: Kunst. Hgg. von Ganz u. a. (wie Anm. 21), S. 339–374; Bernhard Ridderbos: From Waagen to Friedländer. In: Early Netherlandish Paintings. Rediscovery, Reception and Research. Hgg. von Bernhard Ridderbos u. a. Amsterdam 2005, S. 218–251; Bickendorf: ‚Berliner Schule‘ (wie Anm. 69); Peter Betthausen: Waagen, Gustav Friedrich. In: Betthausen u. a.: Metzler-Kunsthistoriker-Lexikon (wie Anm. 69), S. 464–467, mit Bibliographie. 81 Waagen: Handbuch (wie Anm. 80), Erste Abt., S. 68: Die Werke der italienischen Kunst seien „doch, mit der antiken, namentlich mit der griechischen Kunst verglichen, keineswegs so durchaus originell, als jene Malerei der alten Niederländer, sondern erscheinen vielmehr als eine Art von glücklicher Mittelbildung der antiken und der christlich-germanischen Kunst. Darin aber, dass uns in diesen, von allen fremden Einflüssen freien Bildern der altniederländischen Schule der Gegensatz des griechischen und germanischen Kunstnaturells, als das der beiden Hauptstämme der Kultur der antiken und modernen Welt, in einer Reinheit und einer Schärfe entgegentritt, wie sonst nirgend, liegt eine hohe Bedeutung dieser Schule für die allgemeine Kunstgeschichte.“ Ihren hohen Rang bezieht die altniederländische Malerei demnach insbesondere aus ihrem kulturgeschichtlichen Stellenwert, nämlich als unverfälschtes Dokument des „germanischen Kunstnaturells“. 82 Etwa ein Künstler wie Caspar David Friedrich kann 1809 dem Modell einer Entwicklungsgeschichte und der normativen Ästhetik eine Auffassung entgegensetzen, die er graphisch als Punkt veranschaulicht, um den ein Kreis gezogen ist; von diesem Kreis führen Linien – wie die Speichen in einem



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erst die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In derselben Zeit, in der in der Malerei eklatant etwa mit dem ‚Ende der wissenschaftlichen Perspektive‘ bei Paul Cézanne83 das Postulat einer naturalistischen Wirklichkeitsschilderung und damit die „Idee der Schönheit“ außer Kraft gesetzt wurde und folglich eine über ein halbes Jahrtausend bestehende Prämisse der bildenden Kunst ihre Gültigkeit verlor, änderten sich auch das traditionelle Ordnungsmodell und die Urteilskriterien über die Kunst. Zentrale Bedeutung besitzt hier Alois Riegls epochales Buch über die «spätrömische Kunst-Industrie» von 1901 (dessen Titel etwas irreführend ist, da neben der ‚KunstIndustrie‘, der ‚angewandten Kunst‘, wie wir sagen würden, auch Architektur, Skulptur und Malerei berücksichtigt sind). Der Verfallsepoche par excellence, der Zeit vom 4. bis 9. Jahrhundert, also von Konstantin bis Karl dem Großen, gilt hier alle Aufmerksamkeit. Kritisch wendet Riegl sich gegen die traditionelle Auffassung, der zu Folge die bildende Kunst „von dem hohen Stande der Entwicklung, zu dem sie es bei den Mittelmeervölkern gebracht hatte, durch das zerstörende Eingreifen barbarischer Völkerschaften im Norden und Osten des römischen Weltreiches herabgeschleudert worden, so dass sie von Karls des Großen Zeit an eine aufsteigende Entwicklung von neuem beginnen musste.“84 Gegen diese, als „Vorurtheil“ bezeichnete Haltung setzt Riegl seine Rad – zu dem (Mittel-)Punkt hin. Dazu erklärt er, „daß die Wege, so zur Kunst führen, unendlich verschieden sind; daß die Kunst eigentlich der Mittelpunkt der Welt, der Mittelpunkt des höchsten geistigen Strebens ist, und die Künstler im Kreise um diesen Punkt stehen. Und so kann es sich leicht zutragen, daß zwei Künstler sich gerade entgegen kommen, während sie beide nach einem Punkte streben. Denn die Verschiedenheit des Standpunktes, ist die Verschiedenheit der Gemüther, und sie können auf entgegen gesetzten Wege beide ein Ziel erreichen. Nur die beschrenktheit herzloser Kunstrichter […] können [sic] wähnen daß nur ein einziger Weg zur Kunst führe […].“ Caspar David Friedrich: Brief an Johannes Karl Hartwig Schulze, Dresden, 8.2.1809. In: Ders.: Die Briefe. Hg. von Herrmann Zschoche. Hamburg 2005, Nr. 20, S. 51–57, hier S. 51. Demgegenüber bleiben die Nazarener – wie in Frankreich die ‚Barbus‘ – trotz abweichender Anschauungen im Hinblick auf die Blüteund Verfallszeiten der Kunst dem in Rede stehenden Ordnungsmodell im Prinzip verpflichtet. Siehe dazu Ernst H. Gombrich: Kunst und Fortschritt. Wirkung und Wandlung einer Idee. Köln 1978 (zuerst erschienen: The Ideas of Progress and their Impact on Art. New York 1971), S. 61–73. 83 So der Titel des bekannten Buches von Fritz Novotny: Cézanne und das Ende der wissenschaftlichen Perspektive. Wien 1938. ND 1970. 84 Alois Riegl: Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesammtentwicklung der bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern. 2 Teile. Wien 1901, Teil 1, S. 4. Den Stellenwert dieses Buches zeigen die Neuauflagen; nach drei Nachdruckauflagen der 2. Aufl., Wien 1927, in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt, zwischen 1964 und 1987 ist im Jahr 2000 im Gebr. Mann Verlag, Berlin, eine Neuausgabe (mit einem Nachwort von Wolfgang Kemp) erschienen. Zu Riegl siehe Hans Sedlmayr: Einleitung. In: Alois Riegl: Gesammelte Aufsätze. Hg. von Karl M. Swoboda. Augsburg 1924, S. XI–XXXIV, bes. S. XVIIf.; Willibald Sauerländer: Alois Riegl und die Entstehung der autonomen Kunstgeschichte am Fin de siècle. In: Fin de siècle. Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hgg. von Roger Bauer u. a. Frankfurt a. M. 1977 (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Band 35), S. 125–139; Wolfgang Kemp: Alois Riegl (1858–1905). In: Altmeister moderner Kunstgeschichte. Hg. von Heinrich Dilly. Berlin 1990, S. 36–60; Peter H. Feist: Riegl, Alois. In: Betthausen u. a.: MetzlerKunsthistoriker-Lexikon (wie Anm. 69), S. 344–347, mit Bibliographie; Alois Riegl Revisited. Beiträge

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Auffassung eines ununterbrochenen Fortschritts; nicht im Sinne einer zunehmenden Vervollkommnung der Kunst, die an feststehenden Qualitätskriterien zu ermessen wäre, sondern als eine folgerichtige Entwicklung der künstlerischen Formensprache. Tatsächlich gebe es in der Geschichte keinen Verfall, und nur ein falsches Geschmacksurteil fordere von einem Kunstwerk „Schönheit und Lebendigkeit“. Dass aber jemals auf Hässlichkeit und Leblosigkeit, wie wir ihnen in der spätrömischen Kunst zu begegnen glauben, ein positives Kunstwollen gerichtet gewesen sein könnte, erscheint uns vom Standpunkte des modernen Geschmackes schlechthin unmöglich. Es kommt aber alles darauf an, zur Einsicht zu gelangen, dass weder mit demjenigen, was wir Schönheit, noch mit demjenigen, was wir Lebendigkeit nennen, das Ziel der bildenden Kunst völlig erschöpft ist, sondern dass das Kunstwollen auch noch auf die Wahrnehmung anderer (nach modernen Begriffen weder schöner noch lebendiger) Erscheinungsformen der Dinge gerichtet sein kann.85

Damit ist der zentrale Begriff von Riegls Verständnis der Kunstgeschichte genannt; jedes Werk erscheint als „das Resultat eines bestimmten und zweckbewussten Kunstwollens“86 und kann damit grundsätzlich nicht defizitär oder ein Verfallsprodukt sein. Riegls „Kunstwollen“ darf dabei nicht als psychologisierend missverstanden, nicht als bloße künstlerische Intention verkürzt werden. Gemeint ist damit zuletzt, mehr oder weniger im Hegelschen Verständnis, eine Manifestation des ‚Weltgeistes‘ (nicht einfach nur eines ‚Zeitgeistes‘) im Bereich der Kunst, deren Hauptcharakteristika für Riegl ihre wesensmäßige Entsprechung allenthalben in der jeweiligen Weltepoche finden. Ausdrücklich teleologisch87 ist mithin Riegls Kunstverständnis; als sinnhaft-positiv und zielgerichtet stellt sich ihm die Entwicklungsgeschichte der Kunst dar, in der es für ihn „nicht allein keinen Rückschritt, sondern auch keinen Haltpunkt gibt und vielmehr alles beständig vorwärts fließt“88. An die Stelle von Berggipfeln und Niederungen, von Blüte und Verfall tritt damit gewissermaßen das Bild einer Flusslandschaft, an die Stelle von Zyklen des Aufstiegs und Niedergangs die Vorstellung eines großen Kontinuums. Mochten Epochengrenzen als Ordnungsfaktoren beibehalten werden, so erhielten sie doch nun eine andere Bedeutung. Einer normativen Ästhetik war hingegen der Boden vollständig entzogen. Bringt man den ‚Weltgeist‘ in Abzug und entkleidet das „Kunstwollen“ seiner metaphysischen und teleologischen Dimension, um stattdessen rein diesseitige, weltimmanente Entwicklungsfaktoren und Zwecke einzusetzen, so ist damit im Wesentlichen die Position der

zu Werk und Rezeption – Contributions to the Opus and its Reception. Hgg. von Peter Noever u. a.. Wien 2010 (Veröffentlichungen der Kommission für Kunstgeschichte/Österreichische Akademie der Wissenschaften. Band 9). 85 Riegl: Kunst-Industrie (wie Anm. 84), S. 6. 86 Riegl: Kunst-Industrie (wie Anm. 84), S. 5. 87 Riegl: Kunst-Industrie (wie Anm. 84), S. 5. 88 Riegl: Kunst-Industrie (wie Anm. 84), S. 10.



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neueren Kunstwissenschaft bezeichnet, unbeschadet der Zählebigkeit von biologistischen oder Vegetations-Metaphern, von kunstimmanenten Teleologien u. ä. Riegls «spätrömische Kunst-Industrie» bildet einen deutlich sichtbaren Markstein in der Kunstgeschichtsschreibung, aber die hier vorgenommene Revision des überkommenen Ordnungsmodells und der entsprechenden Urteilskriterien findet sich auch bei anderen Autoren. An wenig auffälliger Stelle urteilte etwa Franz Bock 1909: Anstatt einer allgemein anerkannten und angewandten Methode der Wertung haben bisher in der Kunstwissenschaft nacheinander, nebeneinander oder auch durcheinander im wesentlichen drei Konventionen geherrscht: die akademische, die klassizistische, die italienische. Alle drei fließen zu der einen ungeheuren Einseitigkeit zusammen, daß man seit dem 16. Jahrhundert a l l e Kunst mit südlichem Maßstab gemessen und entsprechend gewertet hat. […] Meine Meinung ist aber eben die, daß eine historische Wissenschaft jeweils aus den wechselnden Zeitstilen selbst und aus der sehr verschiedenen Kunst der Großen selbst die wechselnden und verschiedenen Maßstäbe zu entnehmen hat.89

Vertreten wird diese durchaus ‚moderne‘ und auch heute gültige Position (die bei Bock allerdings mit stark nationalistischen Tendenzen einhergeht) im Hinblick auf Mathis Gothart Nithart, den sogenannten Matthias Grünewald, der hier neben Rembrandt – und vor Dürer – für den „größten bildenden Künstler des Nordens“90 angesehen wird. Noch 1873 hatte Alfred Woltmann als „das Edelste und Großartigste“ in Grünewalds Isenheimer Retabel die monumentalen Gestalten der Heiligen Antonius und Sebastian betrachtet, auch wenn der letztere „kein Jüngling von idealer Schönheit, wie ihn die Italiener malen“, sei; das Hochaltarretabel des Hans Baldung Grien im Freiburger Münster war ihm demgegenüber „an maßvollem Ernst, an deutscher Tüchtigkeit, an sicherem Stilgefühl“ als „weit überlegen“ erschienen.91 Im Jahre 1919 wurde derselbe Grünewald bei Wilhelm Hausenstein „die kühnste Fregatte deutscher Malerei; und wahrscheinlich nicht bloß der deutschen (denn noch immer begreifen wir nicht ganz, um was für ein Format es sich beim Isenheimer Altar handelt).“92 Mit der Erhebung eines Künstlers wie Grünewald – der nun sogar noch vor Albrecht Dürer rangiert – in den absoluten und bedingungslosen Superlativ spiegelt sich nicht anders als in der Beurteilung der «spätrömischen Kunst-Industrie» der Beginn einer grundsätzlich neuorientierten Epoche der Kunstgeschichtsschreibung.

89 Franz Bock: Matthias Grünewald. Erster Teil. München 1909, S. VIf.; siehe dazu Thomas Noll: Rilke und die Rezeption des sog. Matthias Grünewald im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Im Schwarzwald. Uncollected Poems 1906–1911. Hgg. von Erich Unglaub und Jörg Paulus. Göttingen 2012 (Blätter der Rilke-Gesellschaft. Band 31), S. 133–156. 90 Bock: Grünewald (wie Anm. 89), S. VI. 91 Alfred Woltmann: Streifzüge im Elsaß V. Der deutsche Correggio. Zeitschrift für bildende Kunst 8 (1873) S. 321–331, hier S. 322 und S. 329. 92 Wilhelm Hausenstein: Der Isenheimer Altar des Matthias Grünewald. München 1919, S. 56.

 Teil 2: Vergangenheitsbilder in der Konstruktion personaler Identitäten

Hartmut Bleumer

Alexanders Welt Geschichte und Bild zwischen historia und Roman

1 Alexander der Große und die große Erzählung Die Geschichte Alexanders des Großen müsste zu den großen Erzählungen der europäischen Kultur gehören. Doch auch wenn Alexander eine historisch wie literarisch überragende Gestalt abgibt, – gerade der Status seiner Geschichte als ‚grand récit‘ ist zweifelhaft.1 Zwar nimmt das Erzählen von Alexanders Welteroberung derart staunenswerte Dimensionen an, dass man versucht ist zu sagen: Die Filiationen dieses Erzählens erreichen in ihren antiken, orientalischen und okzidentalischen Fassungen wahrhaft weltliterarische Geltung.2 Dennoch will sich die Qualität dieses Erzählens dem Postulat einer typischen Meistererzählung nicht fügen. Es hat sogar den Anschein, als ob Alexander als historisches Phänomen gerade dadurch Größe gewinnt, dass sich narrative Sinnbildungsmuster an ihm als schwierig erweisen. Das Alexanderphänomen scheint daher geeignet, eine alte Frage noch einmal aufzugreifen, inwiefern nämlich narrative Fiktionen das metahistorische Rückgrat des historischen Diskurses bilden.3 Dabei kann es freilich nicht mehr darum gehen, die Missverständnisse und Kontroversen um die verschiedenen Fiktionsbegriffe in 1 Vgl. zum allgemeinen Stellenwert des Begriffs den prägenden Essay von Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. von Peter Engelmann. Wien/Graz 1986 (Edition Passagen. Band 7), S. 63–75, S. 112 und S. 175. Aus geschichtswissenschaftlich-mediävistischer Sicht dazu die kritische Zwischenbilanz von Frank Rexroth: Meistererzählungen und die Praxis der Geschichtsschreibung. Eine Skizze zur Einführung. In: Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochen­ imaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplin. Hg. von Dems. München 2007 (Beiheft zur Historischen Zeitschrift. N.F. Heft 46), S. 1–22. 2 Vgl. zur Vororientierung dazu aus germanistisch-mediävistischer Sicht die graphische Übersicht zur antiken und mittelalterlichen Alexandertradition bei Trude Ehlert: Deutschsprachige Alexanderdichtung des Mittelalters. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte. Frankfurt a. M. u. a. 1989 (Europäische Hochschulschriften I. Band 1174), S. 17; sowie die Skizze bei Elisabeth Lienert: Deutsche Antikenromane des Mittelalters. Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik. Band 39), S. 26–30. Zur Deutungsvielfalt und der damit verbundenen Auflösung des sogenannten Alexanderbildes im Mittelalter die groß angelegte Skizze bei Rüdiger Schnell: Der ‚Heide‘ Alexander im ,christlichen‘ Mittelalter. In: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichungen der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes. Hg. von Willi Erzgräber. Sigmaringen 1989, S. 45–63. 3 Ausgehend insbesondere von Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Aus dem Amerikanischen von Peter Kohlhaas. Frankfurt a. M. 1991. Die weiteren Schriften Whites verzeichnet Ewa Domańska: Bibliography of Hayden White: Works in English. In: Re-Figuring Hayden White. Hgg. von Ders. u. a. Stanford, California 2009, S. 351–366.

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Literatur- und Geschichtswissenschaft erneut zu beleuchten, – diese Diskussion hat sich erschöpft. Dass die Fiktion als Bedingung der Möglichkeit des historischen Denkens gelten darf, wird daher vorausgesetzt. Die folgenden Überlegungen setzen anders an. Sie gelten dem Narrationsbegriff. Wer zum Beispiel die These vertritt, dass ein historischer Diskurs auf die eine oder andere Weise auf die Fiktion einer Meistererzählung angewiesen ist, den müsste das Alexanderphänomen sofort irritieren: Die Macht der Fiktion ist bei ihm offensichtlich, aber genauso ist auch die Rolle der Narration fraglich. Lässt man also die These zu, dass die historische Identität Alexanders erst auf der Basis narrativer Fiktionen emergiert, so sieht man sich früher oder später mit dem Einwand konfrontiert, was denn an dem Leben und den Taten Alexanders eigentlich narrativ sein soll: Die Taten Alexanders wirken jedenfalls zu disparat, als dass sie sich bruchlos in ein großes narratives Muster integrieren ließen. Es scheint zunächst naheliegend, diesen Befund gegen den historisch-narratologischen Ansatz zu verwenden. Denn dieser Ansatz gerät in den Verdacht, dass er zwar eine Art Verwilderung in der Geschichte Alexanders konstatiert, dass er diese Verwilderung aber zunächst durch sein eigenes Narrativitätspostulat produziert hat und dann durch seine Beschränkung auf narratologische Begriffe nicht mehr bannen kann.4 Allerdings lässt sich dieser Argwohn gegen die Meistererzählung eben auch positiv formulieren, denn er führt auf die hermeneutische Basisparadoxie des Erzählens. Eine Weise, diese narrative Paradoxie auszuformulieren, könnte lauten: Das Erzählen tendiert zur Selbstaufhebung, und gerade in dieser Selbstaufhebung erfüllt sich seine semantische Funktion. Der vollständige Erfolg des Erzählens impliziert damit aber paradoxerweise zugleich auch sein Scheitern. Die perfekte Geschichte zu erzählen, das hieße, einen Erzählgegenstand so vollkommen zu behandeln, dass er danach seinen semantischen Reiz ein für allemal verloren hat. Darum bleiben Bedeutungen im Erzählen genau so lange aktiv, wie dessen narrative Sinnbildungen gerade nicht vollständig gelingen: Nur in ihrer fortwährenden Offenheit konstituiert die Erzählung weiterhin Sinn.5 Für das Alexanderphänomen führen diese Annahmen 4 Vgl. dazu den Grundgedanken anhand der strukturellen Heterogenität des spätmittelalterlichen französischen Romans zwischen „märchenhafter Wahrscheinlichkeit“ und „episch-geschichtliche[r] Wahrheit“, die sich wie eine Wiederkehr der narrativen Heterogenität des sogenannten Alexanderromans lesen lässt, bei Karlheinz Stierle: Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit. In: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht. Heidelberg 1980 (Begleitreihe zum GRLMA. Band 1), S. 253–313, zit. S. 258. 5 Die im Folgenden verwendete Annahme von der fortgesetzten sinnkonstituierenden Arbeit der Erzählung an einer in der Geschichte angelegten Bedeutung bedürfte immer noch einer ausführlichen Erörterung. Vgl. zu den dazu nötigen Bausteinen Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung. In: Ders.: Funktion – Begriff – Bedeutung. Hg. von Mark Textor. Göttingen 2002 (Sammlung Philosophie. Band 4), S. 23–46; die sehr knappe Integration der Termini Freges in die Narratologie bei Tzvetan Todorov: Sprache und Literatur. In: Ders.: Poetik der Prosa. Frankfurt a. M. 1972 (Ars poetica. Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst. Studien. Band 16), S. 32–40, hier S. 36; sowie Lubomír Doležel: Occidental Poetics. Tradition and Progress. Lincoln/London 1990, S. 89–95.



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dann aber zu der umgekehrten These: Wenn die narrative Sinnkonstitution hier an Alexander scheitert, so könnte gerade dies seine besondere historische Bedeutung indizieren. Die strukturellen Verluste des Erzählens würden so letztlich doch auf einen historisch-semantischen Gewinn hinauslaufen. Entsprechend dieser paradoxen Grundfigur wäre also der Weg des prekären Verhältnisses von Alexanderphänomen und narrativer Struktur genauer nachzuzeichnen. Dass die narrativen Schwierigkeiten des Alexanderphänomens nun insbesondere die Alexanderdichtungen des europäischen Mittelalters in den Rang historischer Testfälle rücken, ist gerade mit Blick auf die komplexen Forschungsanstrengungen der letzten 20 Jahre wohl keine überraschende Aussage.6 Doch was den historischen Testfall genau ausmacht, wie er sich überhaupt sinnvoll konturieren lässt, bleibt dabei immer schwierig: Stets scheinen die Verhältnisse unübersichtlich, so auch dann, wenn man nur einen kleinen Untersuchungsausschnitt im Bereich der deutschen Literatur des Mittelalters wählt. Das gilt inter-, aber auch intratextuell. Denn fast sieht es so aus, als schlage sich die curiositas in Alexanders Welt auch in der narrativen Verfassung der Texte nieder.7 So wie der Alexander der mittelalterlichen Überlieferung schließlich rastlos immer neue Phänomene in Augenschein nimmt, so knüpfen die Dichtungen immer wieder andere Beziehungen an und sind dabei von den Phänomenen ihrer Episoden derart in den Bann geschlagen, dass sie die Fähig-

6 Ergebnisse sind für die im Folgenden behandelten Texte vorrangig formuliert von Jan Cölln, mit dem für die folgenden Überlegungen sehr passenden Titel: Arbeit an Alexander. Lambrecht, seine Fortsetzungen und die handschriftliche Überlieferung. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen. Hgg. von Dems. u. a. Göttingen 2000 (Veröffentlichung aus dem Göttinger Sonderforschungsbereich 529 „Internationalität nationaler Literaturen“. Serie A. Literatur und Kulturräume im Mittelalter. Band 1), S. 162–207, hier zum Erzählproblem der Hinweis auf S. 206. Weiter seien nur die im Umfeld des Projekts entstandenen monographischen Qualifikationsschriften genannt: Susanne Friede: Die Wahrnehmung des Wunderbaren. Der «Roman d‘Alexandre» im Kontext der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts. Tübingen 2003 (Beihefte zur ZfromPh. Heft 317); Markus Stock: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im «Straßburger Alexander», im «Herzog Ernst B» und im «König Rother». Tübingen 2002 (MTU. Band 123). 7 Vgl. die Feststellungen zum Bedingungsverhältnis von Neugier und Erzählen mit den Literaturangaben bei Martin Baisch und Elke Koch: Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. In: Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. Hgg. von Dens. Freiburg i. Br. u. a. 2010 (Rombach Wissenschaften: Reihe Scenae. Band 12), S. 7–23, hier S. 7–11. Auf die Beiträge des Bandes mit ihren unterschiedlichen Behandlungen der curiositas-Thematik ist generell hinzuweisen. Vgl. ferner die Beiträge in: Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. von Klaus Krüger. Göttingen 2002 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft. Band 15); sowie besonders zu dem im Folgenden interessierenden Zusammenhang von historia und curiositas Jan-Dirk Müller: Curiositas und erfarung der Welt im frühen deutschen Prosaroman. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Hgg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann. Stuttgart 1984 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände. Band 5), S. 252–271, bes. S. 253f. und passim.

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keit zur strukturierten Erzählung verlieren. In Alexanders faszinierender Welt der wundersamen Bilder verliert sich die Geschichte.8 Diese eigentümliche Auflösung der Geschichte in Alexanders Art der Weltwahrnehmung bedeutet gleichwohl keinen Geschichtsverlust. Und das erlaubt die Vermutung: Vielleicht geht die Geschichte Alexanders gerade auch in den Bildern auf, die sie produziert. Dann fände das Erzählproblem um Alexander sein positives Gegenstück in der Narrativität des Bildes.9 Zur vorläufigen Plausibilisierung dieser These vom Weg zur Geschichte ins Bild mag vorerst eine alltägliche Beobachtung genügen, die zugleich die Relevanz gerade des mittelalterlichen Alexanderphänomens andeutet. Wenn etwa Literaturwissenschaftler versuchen, zunächst Leben und Taten des historischen Alexander nachzuvollziehen, so werden sie nicht selten, aller literaturtheoretischen Bewusstheit zum Trotz, zu naiven Historikern. Als solche kartieren sie die Vergangenheit und nennen die historischen Landkarten den ‚historischen Hintergrund‘. Dieser ‚historische Hintergrund‘ führt für Alexander aber buchstäblich zu einer blinden Skizze. Zu groß ist die Fülle von Namen, Orten, Zeitangaben und Konfliktpunkten. Und genau damit stellen sich elementare narrative Schwierigkeiten ein: Die res gestae Alexanders erscheinen als Ereigniskette in einer zeitlichen und räumlichen Sukzession, in der man zunehmend den narrativen Faden verliert. Denn die bloßen res gestae bieten noch keine narrative Orientierung. Um dieses narrative Kartierungsproblem zu kompensieren, greifen die wissenschaftlichen Alexanderdarstellungen dann wiederum zum Bild, genauer: zum visuellen Medium der Karte. Kaum eine geschichtswissenschaftliche Alexanderdarstellung kommt jedenfalls – wie zur Bestätigung der postmodernen Forderung im sogenannten ‚topographical turn‘, „to spatialize the historical narrative“10 – ohne das anschauliche Hilfsmittel der Weltkarte aus.11 Weil aber Karten alles andere 8 Zur Exponierung des Faszinationsbegriffs in der Mediävistik vgl. Martin Baisch: Faszination als ästhetische Emotion im höfischen Roman. In: Machtvolle Gefühle. Hg. von Ingrid Kasten. Berlin/ New York 2010 (Trends in Medieval Philology. Band 24), S. 139–166. 9 Zur spezifisch narratologischen Bilddiskussion vgl. die Skizzen von Werner Wolf: Pictorial Narrativity. In: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. Hgg. von David Herman u. a. London/New York 2005, S. 431–435; und Mieke Bal: Visual Narrativity. In: ebd., S. 629–633, die aus kunsthistorischer Sicht zu ergänzen wären. Zur germanistischen Mediävistik und ihren terminologischen Pro­ blemen der Versuch mit den weiteren Forschungsnachweisen bei Hartmut Bleumer: Zwischen Wort und Bild. Narrativität und Visualität im «Trojanischen Krieg» Konrads von Würzburg. (Mit einer kritischen Revision der Sichtbarkeitsdebatte). In: Zwischen Wort und Bild. Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter. Hgg. von Dems. u. a. Köln u. a. 2010, S. 109–156. 10 So die bekannte Forderung von Edward W. Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London/New York 1989, S. 1. Vgl. dazu Sigrid Weigel: Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. KulturPoetik 2,2 (2002) S. 151–165, hier S. 154. 11 Vgl. als Beispiele nur aus den jüngeren Darstellungen die als ‚Biographie‘ konzipierte, das heißt dezidiert narrativ angelegte Überblicksdarstellung von Claude Mossé: Alexander der Große. Leben und Legende. Aus dem Französischen von Jochen Grube. Düsseldorf/Zürich 2004, der im Übrigen



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als einfache visuelle Hilfsmittel zur räumlichen Orientierung sind, sondern kulturell voraussetzungsreiche semiotische Bildsysteme, heißt das auch im Bereich der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Alexander: Fehlende Narrativität korreliert mit Visualität, so als könnte das Bildsystem einer Karte dem Gerüst historischer Fakten um Alexander zurückgeben, was ihm seiner narrativen Struktur nach fehlt. Es ist darum wohl kaum ein Zufall, dass diese Korrelation des prekären Ale­ xandernarrativs mit dem Medium der Weltkarte schon im Mittelalter signifikant wird und hier sogar im Erzählen selbst vorkommt – im narrativen Textmedium prominent beschrieben in der «Alexandreis» Walthers von Chatillon, wo sich auf dem Grab des von Alexander getöteten Darius eine Weltkarte befindet, und im Bildmedium dargestellt in der «Ebstorfer Weltkarte» oder der «Hereford Map», in denen die Stationen des Alexandernarrativs sorgfältig verzeichnet sind.12 Alexanders Geschichte kartiert sich damit sozusagen immer schon selbst. Die moderne wissenschaftliche Betrachtung und die mittelalterlichen Erzählungen von Alexanders Betrachtungen seiner Welt erscheinen so nur als zwei Seiten des gleichen Mechanismus. Für den beschränkten folgenden Argumentationszusammenhang anhand einiger mittelhochdeutscher Texte genügt dazu die Feststellung: Die neuzeitlich-faktenorientierte Ereignisdarstellung hat genau davon zu wenig, wovon die mittelalterlichen Erzählungen zu viel haben. Die Unanschaulichkeit der modernen Geschehensrationalität steht selbst schon auf die interessante Parallele zu mittelalterlichen Alexandererzählungen hinweist, dass ausgerechnet das „Alexander-Bild dieser Zeit […] all die Kontraste der schillernden Persönlichkeit des Makedonenkönigs auf[weist], die wir bereits kennengelernt haben“ (S. 213), die unschwer erkennbar auf die Verwendung ähnlicher narrativer Verfahren zurückzuführen ist. Die Kartierung ist ein buchhändlerisches Argument: „Mit 50 Abbildungen und Karten im Text“ notiert das Frontispiz zu Robin Lane Fox: Alexander der Große. Eroberer der Welt. Aus dem Englischen von Gerhard Beckmann. 3. Aufl. Stuttgart 2005; vgl. etwa auch die Kartenanhänge in der Einführung von Richard Stoneman: Alexander the Great. A Life in Legend. London 2008. 12 Vgl. «Alexandreis», Lib. 7, 393–424. Ausgabe: Galteri de Castellione Alexandreis. Edidit Marvin L. Colker. Padua 1978 (Thesaurus Mundi. Bibliotheca Scriptorum Latinorum Mediae et Recentioris Aetatis. Band 17). Dazu die Abbildungen bei David John Athole Ross: Illustrated Medieval Alexander-Books in Germany and the Netherlands. A study in comparative iconography. Cambridge 1971 (Publications of the Modern Humanities Research Association. Band 3), Fig. 34 und 351. Die mittelalterliche Kartierung der Alexandergeschichte lässt sich verfolgen über den Kommentar der opulenten Ausgabe zur «Ebstorfer Weltkarte» von Hartmut Kugler: Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden. Hg. von Dems. Unter Mitarbeit von Sonja Glauch und Antje Willing. Bd. 1: Atlas, Bd. 2: Untersuchungen und Kommentar. Berlin 2007. Vgl. auch Hartmut Kugler: Der Alexanderroman und die literarische Universalgeographie. In: Internationalität nationaler Literaturen. Beiträge zum ersten Symposion des Göttinger Sonderforschungsbereichs 529. Hg. von Udo Schöning. Göttingen 2000 (Sonderband der Veröffentlichungen aus dem Göttinger Sonderforschungsbereich 529 „Internationalität nationaler Literaturen“), S. 102–120; zuvor Ders.: Die Ebstorfer Weltkarte. Ein europäisches Weltbild im deutschen Mittelalter. ZfdA 116 (1987) S. 1–29, hier S. 23–27. Zusammenfassend auch Hartmut Bleumer: Kartierte Immersion. Ein Versuch zum imaginären Raum der Ebstorfer Weltkarte. In: Orte der Imagination – Räume des Affekts. Die mediale Formierung des Sakralen (1100–1600). Hgg. von Elke Koch und Heike Schlie. Paderborn 2016, S. 139–162.

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offenbar einer visuellen Überfülle der mittelalterlichen Welt Alexanders gegenüber, die zu einer textexternen oder zu einer textinternen Kartierung führen kann. Von welcher Seite man dann das Bildproblem Alexanders auch betrachtet, stets hängt es mit demselben Problem der Erzählstruktur zusammen. Die textexterne Kartierung der Reisen Alexanders, wie sie sich in neueren Geschichtswerken selbstverständlich findet, erscheint als die Kehrseite des prekären Alexandernarrativs mit seiner textinternen Überfülle an inneren Bildereignissen. Wenn dieser Zusammenhang zwischen Geschichte und Bild auf diese Weise richtig angedeutet sein sollte, dann müsste dies abschließend heißen, dass in den mittelalterlichen Alexanderdichtungen kein historisches Sonderphänomen vorliegt, sondern ein transhistorischer Medieneffekt, dessen Signifikanz auch neuzeitlich greifbar wird, der sich aber gerade im mittelalterlichen Erzählen formiert. Das prekäre Alexandernarrativ würde demnach nicht nur von ästhetischen Effekten erzählen, seine narrativen Probleme wären mit den visuellen Phänomenen seiner Welt auf eine intrikate Weise verbunden.

2 Die ‚Eroberungsgeschichte‘ am Beispiel des «Vorauer Alexander» Der deutsche «Alexanderroman» wirkt, gemessen an den Kohärenzerwartungen neuzeitlichen Erzählens, aber auch mit Blick auf die präzisen kompositorischen Möglichkeiten des höfischen Romans, geradezu enttäuschend. Es ist daher zumindest vor dem Hintergrund neuzeitlicher Gattungsbegriffe terminologisch irreführend, die Alexanderüberlieferung als ‚Roman‘ zu bezeichnen, die strukturelle Offenheit der historia ist auch für das Feld der mittelhochdeutschen Alexanderdichtungen festzuhalten. Sie geben zunächst einem Erzähltypus aus der Alexanderüberlieferung den Vorzug, dessen Prototyp durch den mittellateinischen «Alexanderroman», das heißt die verschiedenen Rezensionen der unter anderem so genannten «Historia de preliis Alexandri Magni» des Archipresbyters Leo, gebildet wird.13 Das Erzählen dieses Typus wirkt nicht nur ausgesprochen spröde, es müsste auch einem faktenorientierten Geschichtsverständnis als historisch zweifelhaft erscheinen. Es ist auffällig heterogen und dabei erstaunlich detailreich. Formal ist die Gattungsmischung aus Biographie, Briefroman und Anekdotensammlung offenkundig, die dann die weitere Aufnahme der berühmten, kurios anmutenden Anekdoten auf Alexanders Weg zum Paradies

13 Ausgabe: Die Historia de preliis Alexandri Magni (Der lateinische Alexanderroman des Mittelalters). Synoptische Edition der Rezensionen des Leo Archipresbyter und der interpolierten Fassungen J1, J2, J3, (Buch I und II). Hg. von Hermann-Josef Bergmeister. Meisenheim am Glan 1975 (Beiträge zur klassischen Philologie. Band 65) [im Folgenden Hdp].



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begünstigt. Nur wird durch die weitere Ausdehnung der Darstellung die narrative Organisation des Materials eben noch schwieriger. Den historischen Anspruch des mittellateinischen Typus, eine historia Alexandri zu liefern, scheinen die Wunderfahrten Alexanders, jedenfalls nach Ausweis seines Prologs, jedoch keineswegs zu beeinträchtigen. Den historischen Anspruch garantiert schon die materia Alexandri, weshalb sich hier kein elaboriertes narratives Formbewusstsein etablieren muss. Vermutlich kann man sogar sagen: Die Erzählungen von Alexander haben Ecken und Kanten, sie sind keine guten Formen, gelten aber gerade darin als historisch-authentisch, – gewissermaßen als eine mittelalterliche Variante des modernen literarischen Realitätseffekts.14 Auf der ersten Stufe der mittelhochdeutschen Überlieferung ist dieser Effekt dann derart deutlich, dass es zu einem aufschlussreichen narrativen Selbstwiderspruch kommt. Den Ausgangspunkt der Überlieferung bilden zwei Texte, das «Alexanderlied» des Pfaffen Lambrecht beziehungsweise der «Vorauer Alexander» einerseits und der «Straßburger Alexander» andererseits.15 Beide Texte vertreten über ihre französische Vorlage den durch die mittellateinische «Historia de preliis» initiierten Erzähltypus. Während aber das «Alexanderlied» Lambrechts in der Vorauer Fassung im Prinzip mit dem Sieg über Darius endet, erzählt der «Straßburger Alexander» die Geschichte weiter: Unter neuerlicher Verwendung der «Historia de preliis» und des «Iter ad paradisum» wird wiederum der weitere Zug Alexanders bis zum Anfang der Welt dargestellt, das heißt der Weg Alexanders ganz im Sinne des lateinischen Typus vollendet.16 Gerade durch diese Vervollständigung gewinnt der Text seine prekäre narrative Qualität und thematische Eigenart. Die Differenzierung der Fassungen im Deutschen erfolgt generell nach zwei unterschiedlichen Diskursmustern. Diese These geht von der wohl klarsten Bestandsaufnahme zum Kohärenzproblem des Texts von Udo Friedrich aus, der für den «Alexander» einen diskursanalytischen Ansatz vorgeschlagen hat.17 Die folgenden Über14 Roland Barthes: Der Wirklichkeitseffekt. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2006 (Kritische Essays. Band 4), S. 164–172. 15 Ausgabe: Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch – Neuhochdeutsch. Hg., übers. und kommentiert von Elisabeth Lienert. Stuttgart 2007 (RUB. Band 18508) [im Folgenden VA bzw. SA]. 16 Ausgabe: Iter Alexandri Magni ad Paradisum. Bearb. von Helmut van Thiel. In: Friedrich Pfister: Kleine Schriften zum Alexanderroman. Meisenheim am Glan 1976 (Beiträge zur Klassischen Philologie. Band 61), S. 359–365. 17 Udo Friedrich: Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im «Straßburger Alexander». In: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit. Hgg. von Wolfgang Harms und C. Stephen Jaeger, in Verbindung mit Alexandra Stein. Stuttgart/Leipzig 1997, S. 119–136, hier die folgenreichen Hinweise, dass „Alexander […] nicht das alleinige Zentrum der Darstellung“ sei, sich die Interpretation daher nicht „linear an der Hauptfigur orientier[en]“ dürfe (S. 120) und dass zudem für die Orientfahrt des zweiten Teils ein „anderes Kohärenzprinzip“ (S. 122) als für den ersten Textteil gelte. Zuvor wird die strukturelle Diversität des Texts auf unterschiedliche Weise bestätigt und

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legungen formulieren aber die Grundbeobachtungen narratologisch um, fragen also nicht allgemein nach Diskursen, sondern speziell nach narrativen Diskursmustern. In narratologischer Hinsicht treten dann zwei Strukturierungsweisen zutage. Lambrechts «Alexanderlied» beschränkt sich im «Vorauer Alexander» auf das, was im Folgenden Eroberungsgeschichte heißen möge, dagegen überführt der «Straßburger Alexander» die Handlung zusätzlich in ein Entdeckungsgeschehen. Eroberungsgeschichte und Entdeckungsgeschehen sind dabei als Tiefenstrukturen der dargestellten Handlung und noch nicht als Oberflächenphänomene aufzufassen. Der Geschichte und dem Geschehen ordnen sich dann auf der Diskursebene die Diskurstypen von narrativem und beschreibendem Diskurs, oder einfacher: von Erzählen und Bericht, zu.18

interpretiert, so strukturgeschichtlich als Ausgangspunkt in der Skizze von Walter Haug: Struktur und Geschichte. Ein literarhistorisches Experiment an mittelalterlichen Texten. In: Ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 236– 256, der sehr allgemein von einer nur „additiven Struktur“ (S. 243) gesprochen hat, oder aber in der etwas angestrengten Theoretisierung durch Peter K. Stein: Ein Weltherrscher als vanitas-Exempel in imperial-ideologisch orientierter Zeit? Fragen und Beobachtungen zum «Straßburger Alexander». In: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst. Hgg. von Rüdiger Krohn u. a. Stuttgart 1979 (Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten. Band 1), S. 144–180, der so weit geht, schon eine einheitliche Isotopieebene der Herrschaftsthematik in den ansonsten ziemlich divergenten Geschehensabläufen als „durchthematisierende […] Struktur“ (S. 171) zu akzeptieren. Einen ähnlich allgemeinen Befund liefert die Lektüre des kleinteiligen interpretierenden Textdurchgangs von Christoph Mackert: Die Alexandergeschichte in der Version des ‚Pfaffen‘ Lambrecht. Die frühmittelhochdeutsche Bearbeitung der Alexanderdichtung des Alberich von Bisinzo und die Anfänge weltlicher Schriftepik in deutscher Sprache. München 1999 (Beihefte zu Poetica. Heft 23), S. 181–335, der auf einem „einheitliche[n] literarische[n] Entwurf“ (S. 336) insistiert, dessen Komplexität betont wird, als dessen thematischer Fokus dann aber wenig mehr als der kritische Umgang mit einer archaischen Kriegerethik gelten muss, während die sich im Detail an Mackert anschließende Studie von Ralf Schlechtweg-Jahn: Macht und Gewalt im deutschsprachigen Alexanderroman. Trier 2006 (Literatur – Imagination – Realität. Anglistische, germanistische, romanistische Studien. Band 37), S. 32, wiederum gerade das Problem der zu rigiden Kohärenzunterstellung betont. 18 Zu den Begriffen von ,Geschehen‘ und ,Geschichte‘ sowie ,Narration‘ und ,Deskription‘ zusammenfassend Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin/New York 2005, bes. S. 17f. und S. 241– 243. Dass die damit verbundene strukturelle Differenz sich auch in der Figurenkonzeption Alexanders niederschlägt, ist öfter beobachtet worden, so auch bei Stock: Kombinationssinn (wie Anm. 6), der daher im Sinne der genannten Unterscheidung von zwei ‚Identitäten‘ Alexanders, der des Eroberers und des Entdeckers, gesprochen hat. Den erzähltechnischen Konsequenzen hat Stock sich gleichwohl schon im Ansatz verweigert, durch das – gegen die von Friedrich: Überwindung (wie Anm. 17) gebündelten Forschungsbeobachtungen zum Kohärenzproblem gerichtete – Insistieren auf einer einheitlichen Protagonistenfunktion. Vgl. demgegenüber noch einmal die auch terminologisch treffende Formulierung in dem allgemeinen Hinweis bei Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen 2009 (Historische Semantik. Band 5), S. 101, „daß der plot mitunter hinter den diskursiven Erörterungen verschwindet“, in der die Umstellung von Erzählung und Geschichte auf Bericht und Geschehen bereits indiziert ist.



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Im «Vorauer Alexander» wird die Geschichte Alexanders in zwei Zügen erzählt: Der erste erstreckt sich über die Jugendphase von der Geburt Alexanders bis zu seinem Herrschaftsantritt (VA 1–551), er gilt dem Problem der genealogischen Identität des Helden. Der zweite Zug legt diese Identität über den Aufstieg Alexanders zum Kriegerkönig aus und ist als Feldzug des Helden gestaltet, der zu Darius führt und mit der Schlacht und dem Sieg Alexanders endet (VA 552–1515). Dabei sind die beiden Erzählzüge von Anfang an dadurch miteinander verknüpft, dass Alexanders Vater Philipp gegenüber Darius zinspflichtig ist und Alexander diese Zinspflicht beseitigen will. Dadurch ergibt sich schon in der Jugendphase eine Mangelsituation oder ein Ungleichgewicht an objektiven Werten, das am Ende des Texts durch den Sieg Alexanders ausgeglichen oder aufgehoben ist. Das wäre also ein klassischer narrativer Dreischritt aus Anfang, Mitte und Schluss. Aber er ist von Anfang an gerade in seiner Klarheit problematisch. Der Dreischritt ist, durch Alexanders besondere Qualität, seine herausragenden subjektiven Werte, was also der Held kann oder weiß, kein offener, sondern ein von vornherein geschlossener Prozess.19 Die notwendige Vorbedingung einer narrativen Sinnkonstitution, die hermeneutische Offenheit der Geschichtsstruktur, wird so durch die Qualität Alexanders selbst infrage gestellt. Alexanders Anspruch auf die Herrschaft seines Vaters verteidigt er bereits frühzeitig nach außen: Als die Boten von Darius erscheinen und die Zinsforderung des Perserkönigs vortragen, schickt er sie nicht mit dem Tribut, sondern mit einer Botschaft zurück. Wenn er nicht auf den Zins verzichten wolle, so werde er ihm diesen Zins in seiner Heimat so auszahlen, dass Darius ihm seinen Kopf dafür lassen müsse (VA 1127–31).20 Der Zug gegen Darius ist damit bereits kompositorisch motiviert, das Erzählen erscheint semantisch offen und verspricht, über seine narrative Gestaltung einen Sinn zu konstituieren.21 Denn die Rede vom Zins indiziert eine metaphorische 19 Zum narrativen Problem der Wertezyklik für die Struktur der Geschichte die klassisch-strukturalistische Beschreibung von Algirdas Julien Greimas: A Problem of Narrative Semiotics. Objects of Value. In: Ders.: On Meaning. Selected Writings in Semiotic Theory. Translation by Paul J. Perron and Frank H. Collins. Foreword by Fredric Jameson. Introduction by Paul J. Perron. London 1987, S. 84–105. 20 Vgl. zur Übersicht die Musterung der Zins-Nennungen im Zusammenhang des handlungslogischen Textdurchgangs bei Rose Schäfer-Maulbetsch: Studien zur Entwicklung des mittelhochdeutschen Epos. Die Kampfschilderungen in «Kaiserchronik», «Rolandslied», «Alexanderlied», «Eneide», «Liet von Troye» und «Willehalm». 2 Teile. Göppingen 1972 (GAG. Band 22–23), hier Teil 2, S. 408f. 21 Vgl. besonders die Akzentuierung bei Peter Strohschneider und Herfried Vögel: Flußübergänge. Zur Konzeption des «Straßburger Alexander». ZfdA 118 (1989) S. 85–108, hier S. 89f. Vgl. zum Begriff der kompositorischen Motivierung Boris Tomaševskij: Theorie der Literatur. Poetik. Nach dem Text der 6. Aufl. (Moskau-Leningrad 1931). Hg. und eingeleitet von Klaus-Dieter Seemann. Aus dem Russischen übersetzt von Ulrich Werner. Wiesbaden 1985 (Slavistische Studienbücher. N.F. Band 1), S. 225f. Auf die Überschneidung mit der ‚Motivation von hinten‘ nach Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1994 (stw. Band 151), S. 66–82, ist hingewiesen worden, bes. wirksam durch Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996 (Palaestra. Band 298). Dazu ist jedoch festzuhalten, dass

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Relation: Die semantische Offenheit der Geschichte beruht konkret auf der Frage, was die Rede vom Zins und damit auch der Zins in der Handlung eigentlich für die Interpretation des Protagonisten bedeutet. Tatsächlich in Gang kommt die Auseinandersetzung mit Darius aber erst nach dem Tode Philipps und dem Herrschaftsantritt Alexanders, und sie endet auf genau die angekündigte Weise. Es kommt zur Schlacht, in ihr stehen sich Darius und Ale­ xander schließlich gegenüber, und Darius wird von Alexander mit den Worten erschlagen: Ir sulten zins hie infâhen, / dâ ir vil manegen tach habet nâch gesant, / den hân ich iu brâht in diz lant (VA 1503–1504). Die Geschichte ist damit abgeschlossen, der Mangel ist aufgehoben, aber dennoch ist dieser Abschluss narrativ unbefriedigend. Dieses narrative Defizit hat etwas mit der Kombination von Jugendgeschichte und Eroberungshandlung zu tun. Die Erwartung an die kompositorische Motivierung, das Versprechen der semantischen Offenheit, die ihren Sinn über die erzählerische Form finden soll, bleibt nämlich unerfüllt. Stattdessen erweist sich, dass diese Motivierung nur eine einfache finale Motivation auf der Handlungsebene war. Der Zins, von dem die Rede war, ist kein weiter ausdeutbares Motiv. Seine Metaphorik bleibt auffallend flach: Der Zins ist der Tod – nichts weiter. Der Versuch, die Zinsmetapher kompositorisch aufzuwerten, wird sogar ziemlich deutlich abgewiesen. Als es zwischen Darius und Alexander über einen Briefwechsel zunächst zu einer rein symbolischen Auseinandersetzung kommt, bietet sie die Möglichkeit zu einer stärkeren Semantisierung geradezu an: Darius sendet Alexander einen Ball und ein Schuhband, um ihn über das Kinderspielzeug symbolisch zu demütigen und über das Schuhband zur Unterwerfung aufzufordern. Den beiden Gegenständen ist auch etwas Gold beigegeben – darüber werden die Symbole insgesamt auf die Zinsforderung an Alexanders Vater beziehungsweise an Alexander gemünzt (VA 1044–1055). Alexander hätte nun gewiss die Möglichkeit zu einer ebenso symbolischen Antwort zur semantischen Komplexitätssteigerung, aber er entscheidet sich in seiner Replik für eine Komplexitätsreduktion: Daz golt, daz ir mir habet prâht, / dâ mit habet ir mir gesaget, / daz iz mir al einem wol gezem, / daz ich den zins von ime neme / unde dar zuo von allen landen / unde betwinge die ze mînen handen (VA 1110–1115). Er wiederholt schlicht seine Ankündigung, Darius seine Zinsforderung heimzahlen zu wollen.

jener in der ‚Motivation von hinten‘ mit angelegte providentielle Nexus, den Martínez als ‚finale Motivation‘ bezeichnet hat (S. 15–30), in dieser Spielart der kompositorischen Motivierung eben nicht greift, weil sich die Erwartung an die Enthüllung des semantischen Gehalts gerade nicht erfüllt. Vielmehr läuft die Darstellung auf die von Martínez so genannte ‚kompositorische Motivation‘ hinaus, wobei jedoch für eine genauere Diskussion in Ergänzung dazu die Unterscheidung von ,Motivation‘ und ,Motivierung‘ nötig wäre, dazu grundlegend: Aage A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien 1978 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Sitzungsberichte. Band 336), S. 197–200.



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Weil damit, um im Bild zu bleiben, der Ball nur zurückgespielt wird, kann die Zinsmetapher ihre Wirkung weiterhin nicht recht entfalten. Was sich im Zug gegen Darius ereignet, offenbart so gerade keinen neuen Sinn, die Figur der Rede findet im weiteren Verlauf der Handlung gerade keine Entsprechung in der Gestalt des Erzählens, sondern die Geschichte läuft schlicht auf das hinaus, was man nach der Vorgeschichte praktisch erwarten konnte. Die kompositorische Motivierung mit ihrer Aktivierung der metaphorischen Relation läuft ins Leere. Dieser Befund wirkt auch insgesamt ernüchternd, denn um die schlichte Erwartung an den Sieg Alexanders bemüht sich die Erzählung fortwährend. So ist Alexander von einer kämpferischen Wildheit, die sich in all seinen Handlungen zeigt.22 Diese Wildheit lässt Alexander zwar als wunderlich erscheinen, aber das heißt im Kontext des «Vorauer Alexander» wenig mehr als ‚staunenswert-merkwürdig‘.23 Das wundersame Gewaltpotential Alexanders verschließt sich geradezu gegenüber der Möglichkeit einer latenten Semantik des Wunderbaren. Signalhaft wird das bereits in der frühesten Gewalttat, der Ermordung von Alexanders Lehrer, klar. Denn diese Tat bildet vor dem Hintergrund der lateinischen Tradition eine vielsagende Lücke. Sie tritt an die Stelle der Nectanabus-Vorgeschichte der lateinischen historia, die «Vorauer» und «Straßburger Alexander» nicht kennen wollen. Die mittellateinische Erzählung des Archipresbyter Leo umgibt Alexanders Geburt mit der Aura einer künstlich fingierten und damit ausgesprochen literarischen Heroik. Sie berichtet, der Mazedonier sei ein Kind der Vereinigung Olympias mit dem ägyptischen Magierkönig Nectanabus, der der Königin in der Gestalt eines Drachen beiwohnt und ihr damit bildlich vorgaukelt, sie habe Alexander von einem Gott empfangen (Hdp, Lib. 1, 4–11). Dieser Trug künstlich fingierter Göttlichkeit funktioniert problemlos, offenbar hat Olympia genug griechische Mythen gelesen, um an das Muster einer derartigen Empfängnis glauben zu können. Für sie ist die Fiktion jedenfalls wahr und bleibt gerade damit in ihrem Fiktionscharakter verdeckt. Dagegen wird sie für den Leser, der das berühmte poetische Muster leicht erkennt, gerade als Fiktion durchschaubar gemacht. Alexander ist derart im Lateinischen eine literarisch markierte, selbstreferentielle pseudo-heroische Figur. Die Geburt ist ein von Anfang an erkennbares kompositorisches Element. Über diese Markierung ergibt sich dann im weiteren Textverlauf eine ganze Kette von bildlichen Imaginationen und deren Deutungsversuchen, die zur Gesamtinterpretation des Texts herangezogen werden kann. Mit dieser selbstreflexiven Figur markierter Literarizität können die deutschen Versionen nichts anfangen, weil hier die Genealogie Alexanders nicht infrage 22 Zur Interpretation der Wildheit bes. Friedrich: Überwindung (wie Anm. 17), S. 126; sowie Ders.: Menschentier (wie Anm. 18), S. 304–312. 23 Die im Einzelnen immer wieder hervorgehobenen Belege zum «Vorauer» und «Straßburger Ale­ xander» sind insgesamt gemustert bei Ehlert: Alexanderdichtung (wie Anm. 2), S. 63–66, und lassen sich erst je nach Kontext unterschiedlich nuancieren.

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stehen darf.24 Für die narrative Konstruktion der Handlung hat dieses Unverständnis grundsätzliche Folgen: Während sich Alexander im Lateinischen seine stets fragliche genealogische Position durch seine Taten als heroischer König erst erarbeiten muss, während er hier also gerade dadurch, dass er eben nicht das Kind des Königs Philipp ist, diesen überhaupt erst symbolisch übertreffen kann, wird im Deutschen die genealogische Achse von vornherein stabilisiert. Nur trivialisiert das eben auch im Gegenzug die narrative Semantik. So bleibt von der Gestalt des Nectanabus nur die Figur eines namentlich nicht genannten Lehrers, der von Alexander, wie im Lateinischen, getötet wird. Das erledigen die beiden deutschen Alexanderversionen auch noch in nur gut einem Dutzend Versen (VA 227–236/SA 255–268). Hier heißt es lediglich, dass der Lehrer behauptet habe, Alexanders Vater zu sein, darum habe Alexander ihn getötet: Dies zeige, wie sehr Alexander die Wahrheit geliebt habe – diese Formel ist alles, was von der Nectanabus-Erzählung bleibt. So wischt Alexander selbst die These seiner genealogisch unklaren Geburt als eine lugene (SA 264) vom Tisch und bestätigt, was schon der Erzähler anfangs nachdrücklich behauptet hat: Nû sprechent bôse lugenâre, / daz er eines goukelâres sun wâre. / Di ez imer gesagent, / di liegent alsô bôse zagen, / oder di es î gedâhten. / Er was rehter cheiser slahte (VA 71–76, vgl. SA 83–91). Alexander ist damit kein künstlich markierter, poetisch fingierter Pseudo-Heros wie im Lateinischen, sondern einfach ein Königssohn mit staunenswerten Fähigkeiten. Aus der früheren kompositorischen Motivierung wird eine finale Motivation. Was dem Rezipienten als Frage aufgegeben wird, die zu einer semantischen Anreicherung bei der Suche nach der narrativen Form führen mag – nämlich: Was bedeutet die trügerische Herkunft für den Status dieses Helden? – verschwindet im Deutschen zugunsten einer einfachen Erfolgsgeschichte, die man selbst als kurios bestaunen, aber damit nicht mehr interpretieren kann, sondern als gegeben hinnehmen muss. Weil es auf diese Weise zu einer final motivierten, von vornherein absehbaren Abfolge des Geschehens kommt, ereignet sich auf der histoire-Ebene zunächst wenig. Die Folge der Kämpfe ist zwar durchaus geschehensreich, gleichwohl ist die Handlung aus erzähltheoretischer Sicht nicht sehr ereignishaft. Damit illustriert der «Vorauer Alexander» geradezu mustergültig die Relevanz des narratologischen Ereignisbegriffs: Über ihn wird greifbar, weshalb bloß eine quantitative Fülle von Geschehnissen im Erzählen noch nicht zwangsläufig die Qualität von Ereignissen haben muss. In äußerster Vereinfachung ist dazu festzuhalten: Im narratologischen Verständnis ist das Ereignis eben nicht nur ein einfaches Geschehenselement, sondern ein semantischer Komplex. Sein semantischer Gehalt ergibt sich durch eine Verschiebung innerhalb eines kulturell definierten Wahrnehmungs- und Werterahmens, die diesen Rahmen mit seiner Axiologie zugleich übersteigt, indem sie gegen den von ihm gebildeten Erwartungshorizont verstößt. Erst wenn ein Geschehnis als unvor24 Vgl. zur Interpretation im Feld der unterschiedlichen Version von Alexanders Geburt Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur Höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 82.



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hergesehene semantische Transgression von einem Ausgangs- zu einem Endzustand wahrnehmbar wird, hat das Geschehnis eine Ereignisqualität. Das Ereignis ist damit also ein semantischer Prozess mit einer Metaphernstruktur, der sich paradoxerweise zugleich durch Identität und Differenz auszeichnet.25 Auf dieser terminologischen Grundlage wären etwa die Schlachten Alexanders zu Beginn des Texts noch als semantische Ereignisse zu beschreiben. Zwei Heere stehen sich am Anfang der Schlacht gegenüber, und an ihrem Ende, nach dem militärischen Konflikt, hat sich durch Sieg oder Niederlage nicht nur eine der kämpfenden Parteien behauptet: Vielmehr hat sich die kulturelle Semantik dieser Partei durch den Sieg verschoben. Der Sieger wird durch den Sieg qualitativ ein anderer. Der Sieger wird zu etwas, das zuvor sein Gegner war, nur in besserer Form. Das heißt, er bleibt derselbe und ist doch axiologisch ein anderer. In der lateinischen «Historia de preliis» funktioniert dieser Mechanismus, weil Alexander im Sieg über Darius moralische Größe im Umgang mit dem Gegner zeigt, in der Ehrung des überwundenen Königs zugleich aber auch dessen Anspruch auf Göttlichkeit für sich übernimmt und damit neu füllt (Lib. 2, 20–23). Im «Vorauer Alexander» funktioniert der semantische Mechanismus dagegen kaum, weil gerade die moralische Selbsterhöhung in der forcierten Konzentration auf den bloßen Kampf fehlt. Alexander schlägt seinem Gegner Darius mit seinem Schwert den Kopf ab (VA 1506–1510), so dass dieser vor das Pferd des Königs fällt – und damit ist die bis dahin größte Schlacht aller Zeiten auch schon zu Ende, deren Beschreibung insgesamt nur 24 Verse beansprucht (VA 1487–1510).26 Wie sich schon hier andeutet, lässt sich der narratologische Ereignisbegriff positiv, aber auch negativ verwenden. Dabei erweist sich Ereignishaftigkeit als skalierbare Kategorie. Je ausgeprägter der Verstoß gegenüber den im Wahrnehmungsrahmen angelegten Erwartungshaltungen ist, desto höher ist die Ereignishaftigkeit, das heißt in der Umkehrung: Ist die semantische Verschiebung eines Geschehens in seinem gegebenen kulturellen Wahrnehmungsrahmen nur geringfügig, dann ist es narratologisch nur wenig ereignishaft, liegt das Geschehen vollständig im Rahmen der Erwartungen, so ist es sogar gar kein narratives Ereignis. Im deutschen «Alexanderlied» der Vorauer Fassung ist nun genau dieser Verlust von narrativer Ereignishaftigkeit zu beobachten. Es kommt zu keiner ausgeprägten Assimilation mit Darius, wie auch generell gilt, dass mit jedem neuen Sieg Alexanders die Ereignishaftigkeit des Sieges abnimmt, weil der Sieg zunehmend durch den Erwartungsrahmen des vorangegangenen Handelns vorgegeben erscheint. Je weiter 25 Dies als Fokus der einzelnen Kriterien des Ereignisbegriffs nach Schmid: Elemente (wie Anm. 18), S. 20–27. 26 Es versteht sich, dass der kurze Schluss des «Vorauer Alexanders» in der älteren Echtheitsdiskussion eine Rolle gespielt hat, er ist aber für die Interpretation als Faktum hinzunehmen, vgl. bes. Ferdinand Urbanek: Umfang und Intention von Lamprechts Alexanderlied. ZfdA 99 (1970) S. 96–120, hier S. 101.

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sich das Geschehen nach Osten hinzieht, desto weniger sind die Schlachtereignisse um Alexander noch bemerkenswert. Und das heißt für die Taten Alexanders: Sie verlieren zusehends die Möglichkeit, noch in eine Geschichte integriert zu werden. Sie sind als Folge von Alexanders eigenen staunenswerten Qualitäten als Kriegerkönig in der ereignisgeschichtlichen Sicht weniger narrativ gebunden als seriell gestaffelt.27 Eben deshalb ist es zunehmend schwierig, sich mit dem Bericht der Feldzüge in der historischen Welt Alexanders zurechtzufinden. Zu diesem Eindruck trägt nicht zuletzt eine heilsgeschichtlich grundierte Vorausdeutung bei, die der Erzähler gleich zu Beginn vornimmt: Er erinnert bei der ersten Nennung von Darius an den Traum Daniels, Dn. 8, 3–7 und 20f., das heißt an die biblische Vision des Kampfes von Widder und Ziegenbock, die auf die Überwindung Darius’ durch Alexander hin ausgelegt wird. Die Vorausdeutung über die schon genannte Zinsmetapher schließt sich an: Daz Philippus den zins galt / in Darios gewalt / dannen uber manegen tach, / daz was tem sune ungemach. / Darius, er wart umbe den selben zins erslagen, / daz ich iu sal wâre sagen (VA 472–477). Bereits mit dieser metaphorischen Vorausdeutung läuft die Handlung also in ihren finalen Zirkel hinein. Darum ist das Ende der Handlung zwar klar erkennbar, es weist gegenüber dem Anfangszustand aber keine erkennbare semantische Verschiebung auf. Anfangs wird der Tenor des Erzählens vorgegeben: Alexander was ein wîse man, / vil manec rîche er gewan (VA 7f.). Mit anderen Worten: Alexander ist ein Eroberer. Seine Macht und sein Reichtum übertreffen, wie der Erzähler kommentiert, die aller Könige mit Ausnahme Salomons: Man mûste in wol ûz sceiden, / wande Ale­ xander was ein heiden (VA 69f.). Alexanders Sieg über Darius reichert diese vorchristliche Eroberungshandlung buchstäblich an, denn den Worten Alexanders zufolge hat dieser anderes neheine frumicheit, / wan daz er scaz uber ein ander leit (VA 482f.). Wenn mit dem Sieg über Darius schließlich aber vor allem der persische Reichtum auf Alexander übergeht, dann steht der Wert der Eroberung des Perserreichs damit zugleich infrage: Denn der Sieg bringt Alexander einen Gewinn, der eigentlich nichts Neues kennt. Die Eroberung bestätigt Alexander als denjenigen, als der er von vornherein kenntlich war, sie führt zum Tod desjenigen, der aus Sicht Alexanders ohnehin keine Achtung verdient, und der bloße Reichtum ist für Alexander offenbar nicht von Wert. Der Eroberer hat seine Macht quantitativ vermehrt, aber er hat qualitativ nichts hinzugewonnen. Man könnte die Eroberungsgeschichte damit vor dem Hintergrund des skalierbaren Ereignisbegriffs als ein ‚schwaches Narrativ‘ bezeichnen, weil in ihr die Axiologie der Geschichte zunehmend als unterdeterminiert erscheint. Die Geschichte hat eine klare, final determinierte und damit geschlossene Struktur, sie ist von geringer narra-

27 Vgl. Schlechtweg-Jahn: Macht (wie Anm. 17), S. 31, mit der Interpretation der ungebrochenen aktantiellen Überlegenheit Alexanders im «Alexanderlied» als Ausdruck eines ‚heroischen Gewaltprinzips‘, S. 41 und 47.



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tiver Ereignishaftigkeit und Metaphorizität und vermittelt über ihre narrative Struktur einen vergleichsweise geringen semantischen Ertrag.

3 Das ‚Entdeckungsgeschehen‘ am Beispiel des «Straßburger Alexander» Dieses narrative Problem wandelt sich nun genau dort, wo die Eroberungen Ale­ xanders in Entdeckungen übergehen. Mit Darius’ Tod ist ein von vornherein erklärtes Ziel erreicht, die axiologische Schwäche der Eroberungsgeschichte ist auch eine semantische, gerade weil ihr Ende klar ist. Im Gegenzug dazu ist dann aber das Ende der Entdeckungen im zweiten deutschen Text, im «Straßburger Alexander», unklar. Im Unterschied zum «Vorauer Alexander» scheint es hier nämlich so, als versuche der Text, sozusagen jenseits seiner Geschichte weiterzuerzählen. Gerade dadurch bekommt Alexander die Welt auf eine neue Weise in den Blick. Die Ereignisse, die Alexander begegnen, sind nämlich weniger praktisch zu bewältigende Herausforderungen einer Geschichte, vielmehr erscheinen sie zunehmend als ein schwieriges Wahrnehmungsgeschehen.28 Was wahrgenommen wird, ist nämlich geradezu sensationell. Das macht den narrativen Status der Szenen ausgesprochen schwierig. Weil das Wahrgenommene jeden Erwartungsrahmen sprengt, wirken die Entdeckungen Alexanders nicht einfach nur ereignishaft, vielmehr überfordern die Entdeckungen jeden Wahrnehmungsrahmen, sie können darum nicht mehr narrativ eingebunden werden und bleiben so semantisch opak. Die Wahrnehmung operiert jenseits der narrativen Begriffe. Diese Entnarrativierung des zweiten Teils hat evidente Folgen für das Raumverständnis des Texts: Jenseits der Geschichte dehnt sich der Raum und längt sich, er wird zudem frei für eigene semantische Besetzungen, droht aber auch mit seiner narrativen Entgrenzung zugleich verloren zu gehen. Damit stößt man hier auf die elementare, kulturhistorisch so folgenreiche Verbindung von Raum und Geschichte. Dass die Geschichte als die zentrale Struktur menschlicher Zeitsemantik gelten kann, ist seit Paul Ricœur keine revolutionäre These, zumal nicht für Mediävisten, ist Ricœurs erster Gewährsmann doch Augustinus.29 Weil die Zeitkategorie aber mit der Raumkategorie verbunden ist, ist die narrative Struktur für die Raumwahrnehmung nicht weniger prägend. Im Erzähltext gilt jedenfalls: Die Kategorie des Raums 28 Auf die unterschiedlichen Wahrnehmungsschemata in «Vorauer» und «Straßburger Alexander», das heißt den Ausbau des Reflexionsmoments im zweiten Text, hat Gert Hübner: Kognition und Handeln im «Vorauer Alexander», im «Straßburger Alexander» und im «König Rother». Archiv 242 (2005) S. 241–258, hier S. 244–248, aufmerksam gemacht. 29 Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. München 1988 (Übergänge. Band 18,1), S. 15–53.

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ist phänomenologisch an die narrative Struktur gebunden – ohne Geschichte keine Diegese. Vielleicht verdient dieses grundsätzliche Bedingungsverhältnis angesichts der stillschweigenden Privilegierung sogenannter euklidischer Raumkonzepte in der neueren Narratologie inzwischen sogar eine nachdrückliche Akzentuierung: Nicht der Raum ist die Bedingung des narrativen Handelns, sondern erst der narrative Entwurf der Handlung führt zur Entstehung der Erzählwelt. Nimmt man die narrative Struktur aus dieser Welt heraus, wird der Raum also nicht nur weit, werden Wege nicht nur merkwürdig verschlungen, sondern der Raum selbst wird flüchtig.30 Im «Straßburger Alexander» ist dieses vorgängige Bedingungsverhältnis von der Geschichte zum Raum besonders deutlich. Der Text markiert den Wechsel von der Eroberungsgeschichte zum Entdeckungsgeschehen zunächst auch äußerlich über einen Medienwechsel: Statt eine Geschichte zu erzählen, wird nun ein Geschehen berichtet, und dies erfolgt nicht durch einen Erzähler gegenüber seinem Publikum, sondern im schriftlichen Medium eines Briefes, den Alexander an seine Mutter Olympia und seinen Lehrer Aristoteles adressiert. Sein medial geschlossener Bericht eröffnet einen eigenen Textblock (SA 4456–6148), der einem bekannten Typ von Grenzerzählungen folgt, den Walter Haug schon vor 40 Jahren idealtypisch am Beispiel des irischen «Imram Maelduin» und der «Brandan-Legende» beschrieben hat.31 Dieses Erzählen jenseits der Grenze geht mit einer spezifischen Eigenzeitlichkeit einher. Im «Straßburger Alexander» sind denn auch die Briefereignisse zeitlich unbestimmt, sie erscheinen als Erinnerungsprozess Alexanders an ein Geschehen, das zwar vergangen sein muss, aber zeitlich nicht näher determiniert wird, so dass man sich sogar fragen kann, ob es sich denn je ereignet hat. Charakteristisch für diesen Diskurstyp ist eine einfache Verschiebung: Der Protagonist wird zum Beobachter, die Geschichte verliert ihr strukturelles Subjekt, sie wird zu einem objektiven Geschehen, die Handlung ist gerade kein narrativer Entwurf zwischen Anfang und Ende, sondern eine Sukzession von Episoden. Diese Umakzentuierung von der Geschichte zum Geschehen wird für den «Straßburger Alexander» im Medium des Briefes auch diskursiv erkennbar gemacht. Alexander kann im Brief ‚Ich‘ sagen, ohne damit schon zu einem Ich-Erzähler zu werden, denn er erzählt nicht von sich als Subjekt der Geschichte, er berichtet von dem, was ihm auf seinem Weg objektiv begegnet. Dass die Ebene der Narration vom Diskurstyp der Erzählung auf 30 Zur Theorie und Praxis des mittelalterlichen Raumdenkens in mittelhochdeutscher Literatur Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin/New York 2007, bes. S. 22–76. Ein im Unterschied zu den weiteren Überlegungen komplexerer Versuch zur literarischen Räumlichkeit bei Hartmut Bleumer: Im Netz des Strickers. Immersion und Narration im «Daniel von dem Blühenden Tal». In: Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit. Hgg. von Martin Baisch u. a. Freiburg i. Br. u. a. 2013 (Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae. Band 191), S. 179–210. 31 Walter Haug: Vom Imram zur Aventüre-Fahrt. Zur Frage nach der Vorgeschichte der hochhöfischen Epenstruktur. In: Ders.: Strukturen (wie Anm. 17), S. 379–408; Barbara Haupt: Welterkundung in der Schrift. Brandans «Reise» und der «Straßburger Alexander». ZfdPh 114 (1995) S. 321–348.



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den des Berichts umstellt, mag narratologisch als trivial erscheinen, gerade deshalb ist aber auf die interpretatorischen Konsequenzen zu achten.32 Vorbereitet wird diese Akzentverschiebung von der erzählten Geschichte zum brieflichen Bericht damit, dass der «Straßburger Alexander» schon die Eroberungsgeschichte narrativ pointiert. Das schwache Eroberungsnarrativ wird dazu am Ende in eine starke Erzählvariante umgeschrieben: Nicht Alexander tötet Darius, sondern Darius wird verraten, ermordet (SA 3238–3437), und Alexander ahndet und beklagt diesen Tod, bevor er Darius’ Königswürde übernimmt und sich nachträglich auch noch über die Ehe mit Roxane, der Tochter von Darius, in dessen Dynastie einheiratet (SA 3530–3607). Mit dieser Ehrung seines Gegners und seiner Eheschließung wird Alexander indes zu einem neuen, einem besseren Darius. Die Geschichte gewinnt so auch für Alexander etwas von ihrem klassisch-semantischen Ertrag zurück.33 Wie im Gegenzug zu dieser Stärkung seiner Geschichte rollt sich nun gewissermaßen unter Alexanders Füßen eine heilsgeschichtlich determinierte Geographie aus, die nicht etwa ein Ergebnis des Alexandernarrativs ist, sondern die mit Alexanders Geschichte geradezu konkurriert. Die heilsgeschichtliche Kartierung des Handlungsraums zeigt sich immer dann, wenn Alexander biblische Orte passiert, denn der Erzähler unterlässt es dann nicht, auf deren Bedeutung hinzuweisen. Für Tyrus wird auf das Wirken Christi hingewiesen (SA 960–964), als Alexander die Stadt Sardis erobert, kommt deren Erwähnung als Wirkungsort der Apostel in der Apokalypse zur Sprache (SA 1465–1472), Medien wird als der Ort bezeichnet, an dem der Engel mit Tobias erschien (SA 1543–1544), Armenien ist das Land, in dem die Arche Noah landete (SA 1553–1557), für Korinth wird das Bekehrungswerk des Paulus erwähnt (SA 1853–1855) und so weiter. Der Raum gewinnt so, jenseits der Geschichte Alexanders, eine vorgängig wirksame, eigene Bedeutung. Er wird zu einem regelrechten „metahistorical argument“.34 Denn auch diese Raumsemantik ist prinzipiell an ein narratives Muster gebunden. Nur ist es eben nicht die Geschichte Alexanders, die den Orten ihren Sinn gibt, sondern diese gewinnen ihre Bedeutung durch die Erzählungen, die Teil der christlichen Heilsgeschichte sind. Wo aber die narrative Struktur im Weg Alexanders abhandenkommt, wo Alexanders Handlung für ihn zur bloßen Serie von Entdeckungen wird, verändert sich sein Raum: In Alexanders Welt längt sich der Raum merklich, nachdem seine Eroberungshandlungen abgeschlossen sind (SA 4312–6572). Zwar können sich in diesem erweiterten Raum Bilder und Erscheinungen zeigen, gerade in ihnen taucht nun aber das semantische Defizit der reduzierten narrativen Struktur wieder auf: Ohne die axiolo32 Vgl. Dennis Howard Green: The «Alexanderlied» and the Emergence of the Romance. GLL 28 (1974/75) S. 246–262, zum Vordringen deskriptiver Elemente S. 251 sowie zur Veränderung des Raums im zweiten Teil S. 254. 33 Vgl. daher die entsprechend emphatischen Interpretationen der Stelle vor allem in der älteren Forschung, diese zusammenfassend Schäfer-Maulbetsch: Studien (wie Anm. 20), Bd. 2, S. 416. 34 Green: «Alexanderlied» (wie Anm. 32), S. 247.

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gischen Besetzungen der Geschichte bleibt die Welt unlesbar. So sind die Wesen und Bereiche, die Alexander entdeckt, als curiosa zu bestaunen, aber sie sind für den Entdecker nicht zu verstehen: weder mit Blick auf seine eigene Geschichte – weil er diese nicht mehr hat –, noch mit Blick auf die Offenbarung der Heilsgeschichte, – weil er diese noch nicht hat. Und das heißt für den Entdecker zwischen den Geschichten: Er muss rastlos immer mehr entdecken, gerade weil es für ihn nichts zu verstehen gibt, das ein Innehalten lohnt. Damit wäre man an der dilemmatischen Dynamik des Entdeckungsberichts angelangt, die sich im zweiten Teil des Alexanderromans ausprägt. Dass die Eroberungsgeschichte nach dem Sieg über das indische Heer zu Ende ist, wird im Text ausdrücklich gesagt: Aus dem ersten Land Occidratis, das Alexander nun erreicht, erhält er einen Brief mit der Frage Alexander, wes mûwestu dih? / Du vindis hie niht ze nemene (SA 4353f.). Die Occidrates-Episode ist, dies zeigt sich vor dem Hintergrund der weiteren Alexanderüberlieferung, im «Straßburger Ale­ xander» besonders daraufhin zugespitzt, dass es für Alexander hier materiell, aber auch ideell einfach nichts mehr zu gewinnen gibt.35 Und tatsächlich ist Alexander nicht auf Eroberung aus, sondern auf eine radikale Form der Fremdwahrnehmung. Anhand der oft interpretierten Episode der Blumenmädchen sei dies verdeutlicht (SA 4708–4908). Die Blumenmädchenepisode wird noch im besagten Brief Alexanders an seine Mutter Olympia und seinen Lehrer Aristoteles dargestellt. Entsprechend wird auch sie weniger als eine Geschichte erzählt, denn als ein Wahrnehmungsgeschehen berichtet.36

35 Vgl. Karl Stackmann: Die Gymnosophisten-Episode in deutschen Alexander-Erzählungen des Mittelalters. In: Ders.: Kleine Schriften I: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Hg. von Jens Haustein. Göttingen 1997, S. 120–140, hier S. 125–127 und 137f. Vgl. auch Schlechtweg-Jahn: Macht (wie Anm. 17), S. 77, sowie die Darstellung der Episode im ausführlichen Durchgang durch die Romantradition bei Florian Kragl: Die Weisheit des Fremden. Studien zur mittelalterlichen Alexandertradition. Mit einem allgemeinen Teil zur Fremdheitswahrnehmung. Bern u. a. 2005 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie. Band 39), S. 295–311. 36 Die notwendige Unterscheidung in Erzählung und Bericht wird mit hinlänglicher Genauigkeit gemacht bei Haupt: Welterkundung (wie Anm. 31). Die Anregung, den Charakter des ‚Augenzeugenberichts‘ auch als erzähltechnisches Mittel ernst zu nehmen (S. 337–343), steht dennoch immer noch im Raum: So hatte Haupt selbst zuvor die gegenteilige Richtung eingeschlagen, mit der These, schon die Ich-Perspektive des Briefs indiziere einen ‚Lernprozess‘, womit dann allerdings der Begriff des nur linear berichteten Geschehens zugunsten des Begriffs der ‚Erzählgeschichte‘ mit seiner narrativen Dynamik aufzulösen wäre. Vgl. Barbara Haupt: Alexanders Orientfahrt (Straßburger Alexander). Das Fremde als Spielraum für ein neues Kulturmuster. In: Begegnung mit dem ,Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Hg. von Eijirō Iwasaki. Bd. 7: Sektion 12: Klassik – Konstruktion und Rezeption. Sektion 13: Orientalismus, Exotismus, koloniale Diskurse. Hg. von Yoshinori Shichiji. München 1991, S. 285–295, hier S. 292 und Anm. 25. Der Begriff der ‚Erzählgeschichte‘ bei Schmid: Elemente (wie Anm. 18), S. 268f. Ein weiteres Beispiel dafür, wie die strukturelle Differenz terminologisch unterschlagen werden kann, liefert Stock: Kombinationssinn (wie Anm. 6), S. 113, mit seiner Qualifikation des Briefs als ‚eingeschobene Erzählung‘.



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Seine Begegnung mit den Blumenmädchen schildert Alexander als eine intensive sinnliche Erfahrung, die ihn und seine Männer der Wirklichkeit entrückt, weil sie Zeit und Mühsal vergessen. Die wundir (SA 4711), auf die Alexander und seine Männer aus sind, wenden sich an Augen und Ohren: Zu hören ist eine wunderbare Musik an einem idealen Naturort von beglückender Schönheit, die von Mädchen gesungen wird, welche aus Blumen erwachsen und zunächst in ihrer Schönheit wie Blumen aussehen. Doch was wie ein topisch amoener Ort aus der lyrischen Poesie erscheint, von dem man erwartet, dass er mit Liebesmetaphern geradezu angereichert sein könnte, erweist sich als ein Ort, an dem die Semantik der Metapher sich auf eine irritierend radikale Weise verwirklicht. Die direkte Konkretisierung der Metapher, die im ersten Teil des Alexanderromans über die Zinsmetapher noch in der Handlung Alexanders angesiedelt war,37 sie findet sich nun in Alexanders Welt wieder. Und das heißt: Eben dadurch, dass hier die Metapher wörtlich real wird, löst sie sich bei der Betrachtung der Welt anschaulich auf.38 Die Mädchen sind Blumen: Das ist gerade keine Metapher, es ist deren entsemantisierte Umsetzung. Die Mädchen sind tatsächlich schöne Blumen und als Blumen vollkommene Jungfrauen von idealem höfischen Gebaren. Die Blumen verweisen in ihrer Schönheit nicht über sich hinaus, sie haben keine weitere Bedeutung. Zwar verweilen Alexander und seine Gefährten bei diesen Mädchen voller Glück, doch nach einiger Zeit verwelken die Blumen, die Frauen vergehen, weil sie eben nur Blumen sind, und die Männer sind betrübt. Die Kenntnis von poetischen Verfahren und die Möglichkeiten einer literarischen Hermeneutik nutzen dem Helden angesichts dieser Welt offenbar nichts. Der so inszenierten vorreflexiven aisthesis, in der die Möglichkeit der metaphorischen Bedeutung aufgelöst ist und sich die sinnliche Perzeption der Welt unmittelbar in die Stimmungen von Freude und Leid verwandelt, steht dann in der Paradiesepisode ein ausgesprochen reflexiver Wahrnehmungsprozess gegenüber (SA 6164–6517). Doch auch ihm ist die Bedeutung des Gesehenen nicht zugänglich. Der Bericht von der Paradiesfahrt Alexanders schließt sich an den großen Alexanderbrief an und wird vom Erzähler ausdrücklich mit dem Hinweis auf Alexanders tumpheit eingeleitet (SA 6221). Diese tumpheit besteht nun aber nicht einfach in einem Mangel an Reflexion, sondern in dem Irrtum Alexanders, der genau die nicht-metaphorische Weltauffassung der Blumenmädchenepisode in der Handlung repliziert: Die Mädchen waren 37 Siehe Anm. 20. 38 Zur Demetaphorisierung Friedrich: Überwindung (wie Anm. 17), S. 130. Vgl. zur Episode auch Tomas Tomasek: Die Welt der Blumenmädchen im «Straßburger Alexander». Ein literarischer utopischer ,Diskurs‘ aus dem Mittelalter. In: „Das Schöne soll sein“. Aisthesis in der deutschen Literatur. Festschrift für Wolfgang F. Bender. Hgg. von Peter Hesselmann u. a. Bielefeld 2001, S. 43–55, dem die Metaphorik gewiss nicht entgeht, da er die Szene über sie im „geistlich-allegorischen Horizont“ (S. 47) des Texts verortet. Dennoch ist stärker auf der praktischen Radikalität der Metapher zu insistieren, weil diese die direkte Applikation des Begriffs der möglichen Welt nicht zulässt, die Tomasek über seinen Utopie-Begriff für die Episode ansetzt (S. 45). Von einer regelrechten „utopische[n] Alternativordnung[…]“ spricht Schlechtweg-Jahn: Macht (wie Anm. 17), S. 81f., zit. S. 81.

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wirklich Blumen, Alexander will wirklich ins Paradies gelangen. Der Weg ins Paradies ist kein spiritueller, er wird als eine konkrete Handlung betrieben, die sich diesseits der Transzendenz rein weltimmanent vollziehen lassen soll. Damit sind die Wunder Gottes dem Entdecker nur durch Betrachtung zugänglich und so zugleich verborgen, sie erscheinen, kommen aber nicht auf den Begriff des Wunders, denn die hinter den Erscheinungen liegende Bedeutung bleibt unentdeckt. Um aus dem Entdeckungsgeschehen doch noch eine semantische Entdeckung und damit eine Geschichte zu machen, wird im «Straßburger Alexander» eine Schlussepisode angehängt, die das semantische Problem geradezu experimentell vor Augen führt. Zunächst gelangt Alexander an Drachen und anderen Gefahren vorbei mühevoll zum Euphrat, der dem Paradies entspringt und den Alexander folglich in Richtung des Paradieses befährt. Der Gefahr des reißenden Flusses trotzend, den Alexander in höchster Anstrengung stromaufwärts rudert, gelangt seine Expedition schließlich zur Mauer des Paradieses.39 Doch diese kann Alexander praktisch nicht durchdringen, ihm wird auch nicht aufgetan. Dafür erhält er aber einen Stein mit einer für Alexander geheimnisvollen Bedeutung. Die Bedeutung des schlichten Steins soll Alexander, der alles besitzt, zur mâze führen (vgl. SA 6497). Mit dem Stein als semantischem Schlüssel zu seiner vergeblichen Paradiesfahrt kehrt Alexander nach Griechenland zurück, aber die Bedeutung des Steins kann ihm niemand nennen. Dabei erscheint sie buchstäblich als lapidar. Der Stein ist eine abschließende Metapher, sie antwortet auf die Frage nach dem Wert von Alexan­­ders Entdeckungen. Stattdessen werden Alexander von seinen Ratgebern naturkundliche Bezeichnungen für Steine vorgeschlagen. Aber die wissenschaftlich korrekten Bezeichnungen wie Topas, Beryll, Onyx, Amethyst, Jaspis und so weiter helfen in semantischen Fragen nicht weiter (SA 6587–6623).40 Die Entdeckungen Alexanders können auf diese Weise offensichtlich nicht sinnvoll beendet werden. Der Entdecker kann Gegenstände sammeln, er kann sie ausstellen und bezeichnen, aber damit kommt die Geschichte der Entdeckungen nicht 39 Zur Tradition der Erzählelemente und Details besonders Hans Szklenar: Studien zum Bild des Orients in vorhöfischen deutschen Epen. Göttingen 1966 (Palaestra. Band 243), S. 82–85. Zum Niederschlag des im Alexanderroman tradierten Typus der Paradiesgrenze in mittelalterlichen Weltkarten im Unterschied zu enzyklopädischen und exegetischen Texten vgl. Monika Unzeitig: Mauer und Pforte. Wege ins Paradies in mittelalterlicher Literatur und Kartographie. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 52 (2011) S. 9–29. 40 Zur Motivgeschichte der Episode vgl. Josef Quint: Die Bedeutung des Paradiessteins im «Alexanderlied». In: Formenwandel. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann. Hgg. von Walter Müller-Seidel und Wolfgang Preisendanz. Hamburg 1964, S. 9–26, mit der Akzentuierung als „Leitidee“ in einem regelrechten „Entwicklungsroman“ (S. 25). Offenbar im Banne des Strukturprinzips des klassischen Artusromans mit einem ähnlichen Kohärenzoptimismus auch Stock: Kombinationssinn (wie Anm. 6), S. 140 und 145f., der eine strukturelle Spiegelungsfunktion auf den Gesamttext sieht, dessen Nachweis der dazu nötigen Äquivalenzrelationen aber misslingt. Vgl. zuvor auch der Rekurs auf dieses Prinzip über die Topographie des ersten Textteils im entsprechend stark thesenartigen Ansatz von Strohschneider und Vögel: Konzeption (wie Anm. 21).



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an ein Ende und bleibt ein sinnloses Entdeckungsgeschehen. Um die Entdeckungsreise sinnvoll zu beenden, das heißt das Geschehen zu einer Geschichte werden zu lassen, braucht man also, will man Alexander nicht doch einfach an einem Fieber auf der Reise sterben lassen oder ihn einem Giftmord anheimgeben, eine zusätzliche narrative Einwirkung. Im «Straßburger Alexander» kommt sie von Seiten der Heilsgeschichte. Erst ein sehr alter Jude kann die Bedeutung des Steins aufschließen, und zwar mit Hilfe eines wissenschaftlichen Experiments. Nur wird dieses Experiment genutzt, um die bloß physikalische Auffassung der Welt mit einer hermeneutischen zu kontrastieren. Der Jude wiegt den Stein zuerst gegen Gold auf, und der Stein ist weit schwerer als alles Gold, was in die Waagschale gelegt wird. Dann aber wird er mit einer Feder aufgewogen, und der Stein ist leichter als eine Feder. Er wird daraufhin allgemein als Wunder bestaunt, offenbar, weil der Stein gegen die physikalischen Gesetze verstößt. Aber der Jude erklärt den Verstoß nicht, – er deutet ihn. Er verfügt über einen hermeneutischen Schlüssel, denn er legt den Stein über seinen metaphorischen Wert auf Alexanders Paradiesfahrt und die Vermessenheit Alexanders hin aus (SA 6654–6758). Nur wird die Metapher durch die fortgesetzte, gleichnishafte Erklärung ihrer Unmittelbarkeit beraubt: Sie wird zur Allegorie. Immerhin: Alexander gelangt anhand dieser Auslegung des Steins auf sein eigenes Verhalten hin zur Einsicht und zur Umkehr.41 Diese innere Umkehr Alexanders ist dem Entdeckungsgeschehen ohne größere narrative Plausibilität angehängt, weil sie einem anderen, dem prekären Alexandernarrativ äußerlichen Erzählmuster geschuldet ist. Nachträglich wird so zum Weg des Entdeckers noch ein Deutungsangebot nachgeliefert, nur wirkt dieses Angebot, gerade weil es so offenkundig kompositorisch motiviert ist, auch kompositorisch unpassend. Denn es ist nicht aus dem Entdeckungsgeschehen selbst entwickelt, sondern wird aus der Kenntnis der Heilsgeschichte als allegorische Interpretation importiert.42 Gewiss, in der Welt Alexanders, in den Räumen, die er durchquert, zeichnete sich die Heilsgeschichte schon ab, aber seinem eigenen Handeln bleibt dieses narrative Muster mit seinen Werten fremd. Darum wird nicht plausibel, wo die Einsicht des Mazedoniers plötzlich herkommen soll.

41 Vgl. Haug: Struktur (wie Anm. 17), S. 239f. und Ehlert: Alexanderdichtung (wie Anm. 2), S. 74–77, die dafür einen Legendenmechanismus geltend gemacht hat. Ergänzend zu den damit verbundenen verschiedenen thematischen Aktzentverlagerungen des Texts, die noch nicht in „einem stringenten Erzählkonzept“ aufgehen, Barbara Haupt: Alexander, die Blumenmädchen und Eneas. ZfdPh 112 (1993) S. 1–36, hier S. 14f. und 16 (zit.). 42 Zum Erzählmuster erhellend Northrop Frye: Analyse der Literaturkritik. Stuttgart 1964 (Sprache und Literatur. Band 15), zu den narrativen Archetypen S. 160–243; sowie als abschließende Synthese: Ders.: Der Große Code. Die Bibel und Literatur. Aus dem Englischen von Peter Seyffert. Hg. von Peter Tschuggnall. Salzburg 2007 (Im Kontext. Band 27), hier bes. zum basalen Erzählmuster der Heilsgeschichte S. 197.

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Auf die kompositorische Ebene des Erzählens wird dabei deutlich genug angespielt. Als Alexanders Männer an die Mauer des Paradieses gelangen, verlangen sie nicht etwa nur, ins Paradies eingelassen zu werden. Sie fordern die Engel auf, sie sollten lâzen ir singen / unde zins bringen / irem hêren Alexandro (SA 6427–6429).43 Die Zinsmetapher wird so noch einmal aktiviert – doch was die Krieger auf diese Forderung nach dem Zins erhalten, ist nichts anderes als der Stein. Der Stein ist der Zins. Der Stein ist damit eine weitere, Realität gewordene Metapher. Nur kann Alexander diese Metapher weiterhin nicht lesen. Der reichste, mächtigste aller Könige kehrt mit einem Stein als Tribut zurück – und kann die Welt nicht verstehen. Der kompositorische Lektüreschlüssel, der die Nichtigkeit von sämtlichen rein praktisch angelegten weltlichen Bestrebungen Alexanders markiert, ist so offensichtlich – in seiner Pauschalität aber eben auch ein ziemlich grober kompositorischer Keil angesichts der Fülle von Wundern und Erscheinungen, die es im Nachhinein zu integrieren gilt. Das Ende ist damit als eine nachgeschobene Legitimation des Texts erkennbar, so als ob Alexander nur deshalb deutlicher in die Heilsgeschichte hereingeholt würde, damit auch der Rezipient die curiosa seiner Welt bestaunen darf. Das hieße dann aber, dass auch ein solcher Rezipient, der sich mit Alexander ein solches Erstaunen erlaubt, die Heilsgeschichte ästhetisch suspendiert hat.44

4 Bild und Identität: Johannes Hartliebs «Alexander» Dieser letzte Mechanismus zeigt sich besonders im Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit: an der Übersetzung des lateinischen Alexanderromans durch Johannes Hartlieb.45 Dass Hartlieb bei seiner Übersetzung kurz nach 1450 wiederum nicht auf den narrativ plausiblen und im neuzeitlichen Sinne historisch kohärenten, sondern auf den heterogenen mittelalterlichen Erzähltypus zurückgreift, kann nach dem Gesagten nicht mehr erstaunen. Denn die narrative, das heißt letztlich auch: die heilsgeschichtliche Ungebundenheit des Mazedoniers, ist genau das, was der Figur für Hartlieb in der frühen Neuzeit eine eigene ästhetische Modernität verliehen haben dürfte.

43 Vgl. zu dem gegenüber dem «Iter ad paradisum» gesteigerten Eroberungscharakter den Vergleich durch Monika Unzeitig: Alexander auf dem Weg ins Paradies. In: kunst und saelde. Festschrift für Trude Ehlert zum 65. Geburtstag. Hgg. von Katharina Boll und Katrin Wenig. Würzburg 2011, S. 149–159, hier S. 153. 44 Dass der Begriff der curiositas für den Text überhaupt greift, bestreitet Stock: Kombinationssinn (wie Anm. 6), S. 127. 45 Zur historischen Autorperson Hartliebs vgl. Frank Fürbeth: Johannes Hartlieb. Untersuchungen zu Leben und Werk. Tübingen 1992 (Hermaea. N.F. Band 64), S. 12–41; sowie im Kontext der Alexanderforschung Ehlert: Alexanderdichtung (wie Anm. 2), S. 204–215.



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Die Überlieferung markiert für Hartliebs «Alexander» und dessen episodische Auffassung der Alexander-Historie noch einmal ein sekundäres Überschriftengerüst, das die Handlung in kleine Geschehensabschnitte zergliedert. Die Ordnung der Episoden wird dabei noch weiter von ihren narrativen Trägerstrukturen abgelöst, denn sie wird zum Teil variabel. Dass dies Folge eines ästhetischen Modernitätseffekts schon des mittelalterlichen Erzählens ist, lässt sich im Umgang mit den Traumdeutungen der Alexandertradition, das heißt mit den semantischen Möglichkeiten bildlicher Imagination, verdeutlichen, die durch die Alternation von Bericht und Erzählung in der Ich-Rede des Briefmediums und dem übergeordneten narrativen Diskurs des Erzählers noch einmal intensiviert erscheint.46 In allen Fassungen des Alexanderromans lassen sich die Traumdeutungen als Beispiele für imaginative Deutungsstrategien auffassen, in denen Interpretationen des erzählten Geschehens modellhaft im Bild erprobt, verifiziert oder falsifiziert werden können. Dass dazu anfangs auf den biblischen Traum Daniels verwiesen werden kann, ist mehr als nur eine heilsgeschichtliche Anbindung des Geschehens. Der Hinweis zitiert zugleich den Traum als imaginäres, deutungsbedürftiges Bildmedium, das für die Lektüre der Texte entscheidend ist. Entsprechend begegnen auch Alexander Traumbilder, aber an ihnen werden alle Vorhersagen, die sich auf die Zukunft beziehen, schlicht verweigert. Und zwar nicht einfach deshalb, weil man sein Schicksal nicht kennen darf, sondern weil die bloße Kenntnis des zukünftigen Geschehens in genau jenen finalen Zirkel führt, der das Erzählen von Alexander auch sonst prägt. Zu wissen, was einem widerfahren wird, bedeutet noch keinerlei Orientierung über die Bedeutung des eigenen Lebens, ebenso wie eine Geschichte, deren Ende man kennt, sinnlos bleibt, wenn nur geschieht, was zu erwarten war. Bei Hartlieb ist dieser Zusammenhang deshalb interessant, weil Alexander gleich zu Beginn versucht, ihm praktisch zu entgehen. Hartlieb greift hier auf die in den frühen deutschen Versionen ausgesparte Nectanabus-Vorgeschichte zurück, die im Lateinischen aber auf poetisch interessante Weise markiert ist. Am Magierkönig Nectanabus, der Alexander in Gestalt eines künstlichen Trugbildes gezeugt hat, zeigt sich für Alexander die Struktur seiner eigenen Geschichte, und zwar auf höchst rationale Weise (HA 130–412; 507–560).47 Nectanabus ist ein Wissenschaftler, ein Astrologe und kräuterkundiger Illusionist, der die Zukunft zuverlässig berechnen und die Bildimagination seiner Umgebung manipulieren kann. Alexander weiß nicht, dass Necta46 Vgl. die Anregungen von Hans-Jürgen Bachorski: Briefe, Träume, Zeichen. Erzählperspektivierung in Johann Hartliebs «Alexander». In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hgg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg. München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur. Band 19), S. 371–391, denen narratologisch genauer nachzugehen wäre. Daran anschließend auch das Resümee bei SchlechtwegJahn: Macht (wie Anm. 17), S. 357. Weitere Forschungspositionen zur weiteren Briefkommunikation in kritischer Zusammenstellung bei Kragl: Weisheit (wie Anm. 35), S. 433–447. 47 Ausgabe: Johann Hartliebs «Alexander». Eingeleitet und hg. von Reinhard Pawis. München/ Zürich 1991 (MTU. Band 97) [im Folgenden HA].

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nabus sein Vater ist, und als dieser ihm aus seiner astrologischen Kenntnis erstens vorhersagt, dass er die Welt erobern, aber auch jung sterben werde, und zweitens prophezeit, dass er, Nectanabus, durch die Hand des eigenen Sohnes sterben werde, versucht Alexander sein Schicksal durch einen Syllogismus abzuwenden. Ausdrücklich heißt es: Da nun Alexander daz erhortt, er gedachtt in seinem synnee: Wiee mag ich daz gewendten, vnd gedachtt: ich wil dich selber totten, so dann dein warsagen dier geuältt hatt, so vältt auch daz, daz du mier gesagt hast (HA 536–539). Indem er Nectanabus tötet, glaubt der Jüngling, die Vorhersage des Astrologen zu falsifizieren und seinem eigenen Schicksal zu entgehen. Weil Nectanabus aber tatsächlich sein Vater ist, der nun durch den Sohn getötet wird, verifiziert Alexander nur dessen Vorhersage und bestätigt damit auch noch für sich selbst die Unausweichlichkeit des kommenden Geschehens. Alexander unterstreicht zugleich unfreiwillig, dass er kein Königssohn, sondern, wie wir heute sagen würden, Sohn eines Wissenschaftlers ist.48 So geschieht es wie vorhergesagt: Alexander wird zum Weltenherrscher. Aber diese sichere Determination Alexanders bedeutet gerade keine narrative Orientierung des Helden. Sie bedeutet vielmehr seine Auslieferung an die Kontingenz. Diese Kontingenz ist nur gerade keine faktische, sondern eine moralische. Denn so oder so wird Alexander als Krieger zum Herrscher aufsteigen, praktisch ist Alexander in seiner Karriere determiniert. Indes ist die Kehrseite dieser praktischen Determination eine besondere Freiheit: Niemand kann für Alexander bestimmen, auf welche Weise er seine Herrschaft erlangt und wo die Grenzen seines Handelns liegen. Es ist diese determinierte Freiheit Alexanders, die Orientierung dringend nötig macht: Darum wird Alexander bei Johannes Hartlieb ausführlich belehrt und liefert auch selbst breite Explikationen seiner Handlungsmaximen. Auf der Basis der praktischen Kontingenz der erzählten Welt gerät der Text zum Fürstenspiegel, er richtet sich ausdrücklich an die naturleich[…] vernunfft (HA 55) der Leser, wird zum Reflexionsmedium. Zugleich ermöglicht die Auflösung der Erzählung aber auch das Eindringen naturkundlicher Wissensdiskurse, denn an die Stelle der Erzählung tritt der Bericht, an die Stelle der Narration des Erfahrenen die Deskription des Beobachteten.49 Mit der Dominanz des Wissens gibt Hartlieb den «Alexanderroman» als Erzähltext freilich verloren. Die weiteren Einbußen der narrativen Semantik schlagen sich wieder in der Wahrnehmung nieder. Am deutlichsten wird dies wohl am Begriff des Bildes, den schon der «Straßburger Alexander» an zentraler Stelle exponiert, der jedoch bei Hartlieb radikal verändert und damit letztlich ebenfalls aufgelöst wird.

48 Zu den Verwissenschaftlichungstendenzen allgemein auch Ehlert: Alexanderdichtung (wie Anm. 2), S. 224–241. 49 Vgl. zur Funktion der naturkundlichen Wissensdiskurse jetzt die Skizze bei Udo Friedrich: Wahrnehmung – Experiment – Erinnerung. Erfahrung und Topik in Prosaromanen der Frühen Neuzeit. Das Mittelalter 17,2 (2012) S. 75–94, hier S. 80–85.



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Für das Bildkonzept des «Straßburger Alexanders» steht die Candacis-Episode: Sie bildet eine Art kompositorisches Achtergewicht des mittelhochdeutschen Texts.50 Alexander versucht im Zusammentreffen mit der Königin Candacis seine Identität zu verschleiern. Er gibt sich als ein anderer aus, als der er ist. Das Erkennen des Helden ist in mittelhochdeutschen Erzählungen immer poetologisch signifikant, schon der «Straßburger Alexander» macht hier keine Ausnahme. Aber das Inkognito Alexan­ ders, der nur durch einen anderen Namen getarnt den Palast der Königin betritt, scheitert am Bild. Denn der Palast ist ein von Candacis selbst konzipierter Ort der Bilder. Dabei korrespondiert die räumliche Offenheit der erzählten Welt auffällig mit der räumlichen Geschlossenheit von Candacis’ Palast. Der antinarrativen Flüchtigkeit des Raumbegriffs stellt Candacis offenbar gezielt ihren Raum der Bilder entgegen. Seine Beschreibung macht diesen Bilderraum (SA 5543–5630) auch für den Rezipienten zu einem staunenswerten künstlich-visuellen Ereignis. In Candacis’ Bilderräumen wird Alexander von der Königin erkannt und mit Namen angesprochen (SA 5679), was wiederum seine Bestätigung im Bild findet. Candacis lässt ein Bild Ale­ xanders holen und zeigt es ihm: Alexander, / nû du dîn bilide hâst gesehen, / nû mûstu mir von rehte jehen, / daz ih dih wol irkenne, / wandih dih rehte nenne. / Ih weiz wol, wer du bist (SA 5708–5713). Dass Candacis Alexanders Identität aufdecken kann, ruft Alexanders Erstaunen hervor und ist zugleich ein zutiefst doppeldeutiger Vorgang. Das Bild trifft Alexanders Identität nämlich in besonderer Weise. Es bildet nicht einfach Alexanders Äußeres ab, es wird mit der Formel kombiniert: ‚Ich weiß, wer du bist‘. Candacis expliziert genauer, was das heißt: Sie identifiziert Alexander an seinen bisherigen Taten in seiner Eroberungsgeschichte, wie sie der Text zuvor erzählt hat. Weil Alexander diese Geschichte hat, besitzt Candacis sein Bild und kann seinen Namen nennen. Auf den Zusammenhang von Geschichte, Name und Bild kommt es besonders an, denn dieses Bild ist erst auf der Grundlage der narrativen Semantik des Alexandernarrrativs mehr als ein schlichtes Abbild, es fokussiert den mächtigen Protagonisten Alexander in seiner narrativ konstituierten Identität, die durch die Eroberungsgeschichte bestimmt ist.51 Das Bild kann diese narrative Identität einfangen und 50 Zur Interpretation der umfänglichen Episode als imaginärer Raum besonders Hans Jürgen Scheuer: Cerebrale Räume. Internalisierte Topographie in Literatur und Kartographie des 12./13. Jahrhunderts (Hereford-Karte, «Straßburger Alexander»). In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hg. von Hartmut Böhme. Stuttgart u. a. 2005 (GermanistischeSymposien-Berichtsbände. Band 27), S. 12–36, hier S. 21–31. Vgl. in Kombination damit auch die These von Friedrich: Überwindung (wie Anm. 17), S. 133–136 und Ders.: Menschentier (wie Anm.  18), S.  318–320, dass in den Bildinhalten „eine technische Herrschaft über die natürlichen Vorbilder“ (S. 319) angelegt sei. Die folgenden Überlegungen zu den spezifisch narrativen Voraussetzungen des Bildes wären im Sinne Scheuers als notwendige narrative Intensivierungen zu interpretieren. Vgl. zu diesem Ansatz genauer Bleumer: Immersion (wie Anm. 12). 51 Vgl. zu den rhetorischen Grundlagen dieser Relation von Geschichte, Name und Bild den Ansatz von Björn Reich: Name und maere. Eigennamen als narrative Zentren mittelalterlicher Epik. Mit exemplarischen Einzeluntersuchungen zum «Meleranz» des Pleier, «Göttweiger Trojanerkrieg» und «Wolfdietrich D». Heidelberg 2011 (Studien zur historischen Poetik. Band 8).

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dialektisch aufheben: Deshalb wird Alexander durch ein Bild entmachtet und befindet sich so konkret räumlich in der Gewalt der Königin. Im «Alexander» Johannes Hartliebs geht es dagegen ungleich pragmatischer zu. Das Bild verarmt hier zum semantisch schlichten, oberflächlichen Abbild jenseits der Geschichte. Die Identifikation Alexanders wird jetzt sorgsam final motiviert und ist darum nicht einmal mehr verwunderlich. Candacis lässt Alexander anfangs heimlich mit großer technischer Sorgfalt abmalen (HA 3810), wobei es dem Maler um größtmögliche Wirklichkeitstreue und nicht etwa um jene Semantik eines Portraits geht, die es als Bild vom bloßen Abbild unterscheidet.52 Der Maler soll Alexander abmalen und kuntterfaytteen (HA 3810), dazu vermerckt [er] sein effigy, form vnd gestaltt gar aygentleichen vnd wol, also, daz im an aller physonomey, pyldung vnd armoney gar nichcz geprach, was er mit einem scharff pennßel aufs Blatt bringt (HA 3813–3815; 3816). Mit diesem Steckbrief ausgerüstet erkennt Candacis Alexander dann ebenfalls wieder, aber die Identifikation hat einen gänzlich anderen Charakter als im «Straßburger Alexander», weil das einfache Abbild Alexanders selbst gar keine Semantik hat, ebenso wie das Erkennen nur final und nicht kompositorisch motiviert ist. Wie zum Erweis des Abbildcharakters erhält das Gemälde von Alexanders Antlitz eine bloße Spiegelfunktion. Candacis hält ihm das kuntterfaytt pylde (HA 4038) vor Augen und erklärt: Alexannder, schaw dich selber an (HA 4038f.). Natürlich ist diese Formel doppeldeutig. Gerade weil es im Gemälde nichts zu sehen gibt außer dem Abbild Alexanders, hört man an dieser Stelle die Formel des ‚erkenne dich selbst‘ heraus. Aber für Alexander bedeutet das letztlich noch einmal die Markierung eines fortwährenden Dilemmas. Die bloße äußerliche Betrachtung der Welt erschließt ihre Semantik nicht, so wie auch die bloße Betrachtung des eigenen Abbildes noch keine Selbsterkenntnis bedeutet. Bedeutung und Sinn der Welt wie des Einzelnen in ihr sind vielmehr an die Voraussetzung der Geschichte gebunden. Wo diese aber abhanden kommt, wird nicht nur die Betrachtung der Welt rastlos, schweifend und endlos, werden nicht nur die Räume weit und schwer begreifbar; – ohne die semantische Wirkung der Geschichte verwandeln sich auch die Bilder in der Welt zu bloßen Abbildern ohne Sinn. Während also der «Straßburger Alexander» immerhin noch eine Hoffnung auf Sinn gewährt, indem er seinen Helden zumindest an die Grenze zum Paradies gelangen lässt und damit nachträglich in das große Erzählmuster der Heilsgeschichte hinein zitiert, steht Hartliebs «Alexander» schon vollständig auf dem Boden der modernen Entdeckungsdynamik. Darum kennt Hartliebs «Alexander» auch die Paradiesfahrt nicht, dafür aber den Greifenflug in den Himmel und die Tauchfahrt Alexanders in den Tiefen des Meeres, von denen Alexander im Brief an seine Mutter berichtet. Darum notiert er zuvor seine 52 Zu den Möglichkeiten und Grenzen des Portraitbegriffs grundsätzlich Dieter Kartschoke: Der ain was grâ, der ander was chal. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hgg. von Johannes Janota u. a. Bd. 1. Tübingen 1992, S. 1–24, hier auch der Hinweis auf den «Straßburger Alexander», S. 16f.



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gesammelten Wahrnehmungsfunde im Osten in einem Brief für den naturwissenschaftlichen Verstand seines Lehrers Aristoteles, freilich ohne sie selbst beurteilen zu können (HA 203–250). Wie ein modernes Individuum kann dieser Held damit die Welt in allen Dimensionen durchmessen, in dieser radikalen quantitativen Ausdehnung seines Entdeckungswegs wird aber die verlorene semantische Qualität der Geschichte immer nur unzureichend kompensiert. Und so geht die Suche des Helden immer weiter: Weil der Blick des Entdeckers nicht mehr weiß, dass er eigentlich nach Bedeutungen sucht, kommt es zu einer Inflation des Wissens ohne Sinn. Durch das, was er erblickt, wird der Entdecker darum nie mehr ruhig gestellt. 53 Insgesamt heißt das in aller Kürze: Vielleicht darf man Alexander als historischen Prototyp einer prinzipiellen narrativen Paradoxie historischer Phänomene bezeichnen. Gerade durch das Scheitern in und an der narrativen Struktur wird Alexander zu einem historischen Phänomen. An diesem Phänomen zeigen sich zwei Seiten desselben Erzählproblems: Wird ein Protagonist durch die narrative Struktur vollends bewältigt, verliert das Erzählen seinen Sinn, aber dominiert der Protagonist dagegen die Möglichkeiten des Erzählens so vollständig wie Alexander und tritt sogar noch aus der Geschichte heraus, so geht mit der narrativen Struktur auch die Möglichkeit des Weltverstehens verloren. Im Bild jedoch kehrt sie noch einmal zurück. Auch wenn sich Räume und Zeiten ohne die Geschichte längen und verwirren, in den künstlichen Bildräumen kann die Geschichte noch einmal semantisch wirksam werden. Die Geschichte erzeugt erst das Bild Alexanders. So wie die narrative Struktur der Geschichte die Diegese hervorbringt, so konstituiert diese Struktur auch den Begriff des Bildes, der eben mehr meint als nur die oberflächliche Sichtbarkeit. Im Bild kehrt so die Möglichkeit des narrativen Weltverstehens mit Blick auf die Alexanderfigur noch einmal zurück. Erst wenn das szientistische Abbild herrscht, wenn der Blick und das Schauen zu Teilen einer bloßen Beobachtungstätigkeit geworden sind, beginnt die Blindheit für die Metaphern der Welt. Und dann ist auch die Zeit der Geschichte vorbei.

53 Die Formulierung „Die Welt hat kein Ende, die Neugier ist unbegrenzt“ trifft demnach, wenn man sie umkehrt: Schlechtweg-Jahn: Macht (wie Anm. 17), S. 316.

Karl Enenkel

Identitätskonstituierungen in der humanistischen Autobiographik des 14.–16. Jahrhunderts Im Zeitraum vom 14.–16. Jahrhundert gab es für Textverfasser keine eo ipso gegebene Berechtigung, als Autor auftreten zu dürfen und gehört zu werden. Literatur und Wissenschaft funktionierten in einem komplexen, mit einem umfänglichen Regelwerk ausgestatteten Beziehungsgewebe, das sich eher ‚Eindringlingen‘ in den Weg stellte als Neulinge zur Rede einlud. Auch war die ‚Urheberschaft‘ von Neuem und ‚Originellem‘ (in Bezug auf Inhalt, Form, Stil usw.) kein Universalschlüssel, der einem Verfasser das Tor zum Publikum im Handumdrehen aufschloss. Wenn man sich Zugang verschaffen wollte, waren andersartige Mittel erforderlich, zuvorderst verschiedene Arten von Nachweisen, mit denen man sich als Autor legitimieren musste.1 Schon aus diesen Rahmenbedingungen folgt, dass man für die frühe Neuzeit kaum von einem empathischen, von gesteigertem Selbstvertrauen gespeisten Autorbegriff wird ausgehen dürfen, wie zuweilen behauptet wird.2 Insbesondere deutet die Zunahme von Paratexten im 14.–16. Jahrhundert in Umfang, Anzahl, Reichweite und Variation darauf hin, dass vielmehr von einem sehr ausgeprägten, gegenüber vorhergehenden Perioden gesteigerten Autorisierungsbedürfnis die Rede ist; dass die Durchsetzung des Autorschaftsanspruchs durch Selbst- und Fremddarstellungen eine nahezu unverzichtbare Sache war, die es erforderlich machte, auf sie Sorgfalt und Kreativität zu verwenden.3 Nicht wenige humanistische Autobiographien sind gerade im Hinblick auf diese Aufgabe konzipiert worden. Auffällig oft kommt es vor, dass sie nicht den Status eines selbständigen Werkes besitzen. Z. B. sind Petrarcas Autobiographie «Epistola Posteritati» als Textbeigabe zu seinem Briefcorpus «Rerum senilum libri» (ca. 1370), Eobanus Hessus’ Heroinenautobiographie als Bestandteil zu seinen «Heroides Christianae» (ca. 1515), Jacopo Sannazaros Autobiographie als Teil seiner Elegiensammlung (ca. 1527), Giannantonio Campanos (Mitte des 15. Jahrhunderts), Joannes Fabricius’ und Jacques de Sluperes (beide 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts) Autobiographien als Bestandteile jeweils von Gedichtsammlungen, Joseph Scaligers Autobiographie als Abschnitt seiner Familien-Genealogie und Justus Lipsius’ Autobiographie als 1 Zu dieser Thematik vgl. die Monographie des Verfassers: Die Stiftung von Autorschaft in der neulateinischen Literatur (ca. 1350–ca. 1650). Zur autorisierenden und wissensvermittelnden Funktion von Widmungen, Vorworttexten, Autorprotäts und Dedikationsbildern. Leiden/Boston 2015 (Mittellateinische Studien und Texte. Band 48), insbes. S. 1–53 (50–51). 2 Z. B. Kevin Dunn: Pretexts of Authority. The Rhetoric of Authorship in the Renaissance Preface. Stanford, California 1994. 3 Vgl. Dunn: Pretexts (wie Anm. 2), S. 52f.



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Bestandteil seiner gedruckten Briefsammlung (ca. 1600) konzipiert worden. Einige Autobiographien besitzen formal den Status von Paratexten, andere sprengen diese Kategorisierung, indem sie, Text und Paratext in einem, einerseits einen vom Autor verfassten literarischen Text darstellen, andererseits Autorschaftsnachweise darbieten, den Autoren also Zugangspässe zur Respublica litteraria ausstellen. In meinem Beitrag beziehe ich mich selbstverständlich auf mein Buch «Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius».4 Wenn an dieser Stelle jedoch der Begriff der personalen Identität den zentralen Diskussionsgegenstand bilden soll, so geschieht das im Hinblick auf diese Tagung, nicht, weil er auch in besagtem Buch die Hauptrolle spielen würde. Bei den Vorbereitungen zu diesem suggerierten manche Kollegen, dass man es am besten als Analyse der Entwicklung eines distinkten, frühneuzeitlichen Individualitätsbegriffes, auf der Grundlage der Hermeneutik, manche, dass man es als Beitrag zu dem damals stark im Aufwind befindlichen historischen Studium der sogenannten EgoDokumente anlegen solle. Der riesige Umfang des Materials bewirkte, dass es mich einige Zeit kostete, zum Schluss zu kommen, dass diese Herangehensweisen letztlich unbefriedigend blieben, da sie an wesentlichen Aspekten des humanistischen autobiographischen Schreibens vorbeiführten.5 Denn im Zuge der Einzelanalysen stellte sich immer mehr heraus, dass die humanistischen autobiographischen Texte im Grunde keine mehr oder weniger subjektiven, jedoch im Grunde authentischen und wirklichkeitsnahen Festlegungen von Ich-Zuständen und Erlebnissen darbieten; dass weder das realistische ‚Abbilden‘ subjektiver Lebenswirklichkeiten noch die archivarische, verifizierbare Dokumentierung biographischer Fakten wesentliche Strategien der humanistischen Autobiographik bilden. Außerdem brachte jeder Versuch, eine in irgendeiner Weise homogene Textgattung ‚humanistische Autobiographie‘ zu definieren, jeweils mehr Probleme mit sich, als er löste. Die Konstatierung, dass weder eine einzige Gattung noch ein einziger, klar umrissener autobiographischer Diskurs vorliegt, sondern eine Vielzahl von Diskurs- und Gattungseinschreibungen, ist für das Verständnis der neulateinischen Autobiographik von grundlegender Bedeutung. Die Strategien der Selbstdarstellung, die dingfest gemacht werden konnten, hängen damit zusammen. Weiterhin wurde im Verlauf der Studien zunehmend klar, dass den humanistischen Autobiographien – anders als in der traditionellen geisteswissenschaftlichen Renaissanceforschung meist angenommen wurde – weder der Wunsch nach einer empathischen Identitätsfestlegung noch die Konzeption eines klar definierbaren Individualitätsbegriffes zugrunde liegen. Die Analysen der Autobiographien etwa Francesco Petrarcas, Giovanni Conversinos, Giannantonio Campanos, Michael 4 Karl Enenkel: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius. Berlin/New York 2008. 5 Vgl. Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), Einleitung. Gegenstand und Methodik, S. 1–39.

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Marules’, Eobanus Hessus’, Desiderius Erasmus’, Sigmund von Herbersteins, Joannes Fabricius’, Jacques de Sluperes, Joseph Scaligers und Justus Lipsius’ ergaben, dass diese erstens keine festen personalen Identitäten beschreiben, zweitens keine personalen Identitäten abbilden, die sich in der realen Wirklichkeit außerhalb der Texte einwandfrei orten ließen.6 Es konnte gezeigt werden, dass die Verfasser vielmehr davon ausgingen, dass ihre Selbstentwürfe sowohl machbar als auch variabel, zudem heterogen und inkonsistent sein durften, und für den Fall, dass von mehreren Selbstentwürfen die Rede war, diese nicht unbedingt miteinander im Einklang zu sein brauchten. Einige der genannten Autoren haben in der Tat mehrere Selbstdarstellungen hinterlassen, Campano und Joannes Fabricius zwei, Erasmus wenigstens drei, Sigmund von Herberstein sogar vier oder fünf; bei Petrarca haben überhaupt die meisten lateinischen Werke eine autobiographische Ausrichtung. Bei dem Zürcher Theologen Joannes Fabricius ergibt sich der interessante Fall, dass der Autor in ein und demselben Jahr (1565) zwei Autobiographien verfasst hat, eine in Prosa und eine in Versen.7 Das Individuum, das uns jeweils entgegentritt, ist auffällig divergent. Der Fabricius der Prosa-Autobiographie ist eine sehr selbstbewusste Person; er stellt sich als intelligent, rege, lernfähig, flexibel und ambitioniert dar. Er betont die Tatsache, dass er eine ausgezeichnete Ausbildung genoss, die ihre Früchte abgeworfen habe und weiter abwerfen werde. Er ist davon überzeugt, dass er von Gottes Gnade erleuchtet worden sei und dass ihn dieselbe auf seinem Lebensweg stets begleitet und gefördert habe. Weiter weiß er sich von einem starken Netzwerk von Personen und Institutionen unterstützt: von der Regierung der Stadt Zürich, von der Calvinistischen Kirche, von seiner Familie, ganz besonders von seinen Onkeln Leo Jud8 (Leo Keller, † 1542) und Johann Heinrich Winckeli, sowie von einigen bedeutenden zeitgenössischen Intellektuellen. Er stellt sich als erfolgreichen Familienvater dar, dem es gelungen sei, ein respektables und glückliches Familienleben zu führen, mit seinen geliebten Ehefrauen Katharina Stutz, der Tochter des Kaplans des Zürcher Münsters, und Agatha Collin, der Tochter des Patriziers und Humanisten Rudolph Collin. Mit Stolz blickt Fabricius auf seine Karriere als Priester, Lehrer und Rektor des Zürcher Münsters zurück. Der Fabricius der Vers-Autobiographie ist von all dem das genaue Gegenteil. Ihm fehlt jegliches Selbstvertrauen. Schon im Knabenalter er habe er sein Zuhause 6 Vgl. Enenkel: Erfindung (wie Anm 4), Kap. II, IV–VI, VIIIf., XIVf., XVII, XIX–XXI, XXIV und XXVI. 7 Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 575–618; Siegmar Döpp: Ioannes Fabricius Montanus. Die beiden lateinischen Autobiographien. Stuttgart 1998 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Geistes- und Sozialwissenschaftliche Klasse. Band 1998,8). 8 Zu Leo Jud vgl. den Artikel von Peter G. Bietenholz: Leo Jud. In: Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation. Hgg. von Dems. und Thomas B. Deutscher, Bd. 2. Toronto u. a. 1986 (Collected Works of Erasmus. Supplement), S. 248–250; Leo Weisz: Leo Jud. Ulrich Zwinglis Kampfgenosse 1482–1542. Zürich 1942 (Zwingli-Bücherei. Band 27); Karl-Heinz Wyss: Leo Jud. Seine Entwicklung zum Reformator 1519–1523. Bern/Frankfurt a. M. 1976 (Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften. Band 61).



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verloren, seine Eltern und sein Vaterland (Elsass). Er stellt sich als einsam, isoliert und verzweifelt dar. Er darbe in einem Land, das ihm fremd sei (Schweiz), unterstützt von niemandem, völlig sich selbst überlassen. Das habe zu einem verwirrten und desolaten Seelenzustand geführt, der bewirkt habe, dass der Unterricht, den er genieße, keine Früchte abwerfe. Wegen Fabricius’ Unfähigkeit, zu lernen, wurde sein Bildungsweg jäh abgebrochen. Aus diesem Grund bleibe ihm auch eine erfolgreiche Karriere versagt, müsse er fortan in Armut und Elend darben. Seine erste Ehe sei für ihn traumatisch gewesen, da seine Frau bald gestorben sei. Nicht weniger traumatisch sei seine zweite Ehe gewesen, da sie ihm zwar viele Kinder gebracht habe, diese jedoch eines nach dem anderen gestorben seien. Die Personendarstellungen ein und desselben Mannes, verfasst in ein und demselben Jahr, sind so unterschiedlich, dass man zu Recht die Frage stellen könnte, ob wir überhaupt dasselbe Individuum vor uns haben. Klar ist auch, dass sich im Fall des Fabricius die Anwendung des Begriffs ‚personale Identität‘ sehr problematisch gestaltet. Was ist seine Identität? Gibt es überhaupt eine bestimmte Identität? Identifiziert er sich mit seinem Status als erfolgreicher Religionslehrer, Theologe und Familienvater oder betrachtet er sich als ein vom sozialen Leben ausgegliederter Sonderling und Verbannter? Weiß er sich von seinem Umfeld unterstützt oder nicht? Betrachtet er seine langjährige Wirkungsstätte Zürich als seine neue Heimat oder nicht? Das Beispiel des Fabricius soll hier dazu dienen, den Begriff der personalen Identität zu problematisieren. Es zeigt zunächst, denke ich, dass der Begriff einer vorsichtigen und differenzierenden Herangehensweise bedarf. Wichtig ist zunächst einzukalkulieren, dass im humanistischen autobiographischen Schrifttum personale Identitäten keine feststehenden und im außertextlichen Bereich fest verankerten Tatsachen zu sein brauchen, und weiter, dass die frühneuzeitlichen Autobiographen es nicht als ihre Hauptaufgabe betrachteten, in den Texten ihre Identität durch Introspektion und psychologische Selbstanalyse zutage zu fördern. Es gibt eine Reihe von anderen Aufgaben, die urgenter sind. Man muss zwischen den verschiedenen Strategien differenzieren, die sich auf die jeweiligen Aufgaben beziehen. Die Notwendigkeit zur Differenzierung geht a fortiori aus der Tatsache hervor, dass sich die neulateinischen Autobiographien und ihre personalen Identitätsentwürfe durch einen ausgeprägten Konstruktcharakter auszeichnen; weiter aus der Beobachtung, dass die Autobiographen dabei einen ziemlich weiten Handlungsspielraum besaßen. Ich setze hier gleich hinzu, dass für die betreffenden personalen Identitätskonstrukte ihre literarische Verfasstheit, die jeweiligen literarischen Diskurse, in welche sie eingeschrieben wurden, und außerdem ihre rhetorisch-persuasive Ausrichtung grundlegend sind. Der humanistische Autobiograph beschreibt nicht auf möglichst objektive Weise eine bestimmte Identität oder einen bestimmten Zustand des Ichs, sondern er versucht mit seinen Selbstdarstellungen vor allem etwas zu bewirken, in concreto den Leser zu einer bestimmten Betrachtungs- oder Handlungsweise zu überreden. Es ist bemerkenswert, wie groß der autobiographische Handlungsspielraum war, ganz besonders,

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wie weit sich die selbstkonstruierten personalen ‚Identitäten‘ von den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen realen Wirklichkeiten entfernen durften. Etwa der von griechischen Eltern abstammende, jedoch als Autor nur in der lateinischen Sprache hervortretende Michael Marules konstruiert in seinem autobiographischen Gedicht, mit dem er seine Autorschaft begründet, seine personale Identität als nunmehr im Exil darbender Bürger und Patrizier Konstantinopels mit dem Namen Michael Tarchaneiota Marullus Constantinopolitanus vir patricius.9 Der grundlegende Baustein seiner Identität ist, dass er sich zum Zeitpunkt der Eroberung Konstantinopels durch die Türken (1453) dort aufgehalten hat, aus der Stadt vertrieben wurde und zur Abfassungszeit des Textes – nach einer abenteuerlichen Flucht durch weite Teile Asiens – unter einem barbarischen Herrscher des Ostens am Schwarzen Meer zähneknirschend diente. Er stellt sein Verhalten von 1453 in einem umfassenden Schuldbekenntnis als moralische Fehlleistung dar, für die er nunmehr büßen müsse, und zwar, obwohl er damals wegen seiner Jugend noch nicht adäquat kämpfen konnte. Er hätte damals in seiner Vaterstadt den letzten Blutstropfen hingeben müssen. Alles wolle er nunmehr tun, um seine Schuld wieder gutzumachen. Als reumütiger Selbstmordkämpfer will er in der Schlacht den Tod finden, wie einst der Trojaner Euryalus – ein intertextuelles Fenster zu Vergil.10 Der eindringlichen Wirkung des mit pathetischer indignatio-Rede vorgetragenen Identitätskonstruktes vermag sich kaum ein Leser zu entziehen. Angesichts dieser Tatsache mag es dann schon überraschen, wenn man feststellt, dass Marules in Wirklichkeit, als Konstantinopel erobert wurde (1453), noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt hatte, dass er seine ‚Vaterstadt‘ niemals betreten hatte, geschweige denn, dass er je Bürger dieser Stadt gewesen wäre. Besonders überrascht, dass er zur Abfassungszeit der Autobiographie weder auf der Flucht war noch sich im Orient aufhielt noch unter einem orientalischen Tyrannen darbte. Er verfasste die Autobiographie mehr als vierzig Jahre nach der Eroberung Konstantinopels 9 Vgl. Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 368–428 mit Textnachweisen. Für weiterführende Literatur sehe man ebd. S. 886–890. Die Selbstpräsentation unter diesem Namen fand in Marules’ Buchpublikationen statt. Die hier zitierte Namensform taucht u. a. in der editio princeps der «Epigrammata», ohne Ort ohne Jahr [= Rom 1489] (Hain, Nr. 10877) auf. In der Überschrift der «Hymni naturales» nennt sich Marules Michael Tarchaniota Marullus Constantinopolitanus (Florenz: Societas Colubris, 1497). Für die Frage des Namens vgl. Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 401–409. Das autobiographische Gedicht trägt den Titel «De exilio suo» und erschien als Nummer III,37 im Rahmen der vier Bücher der «Epigrammata». Für den lateinischen Text mit deutscher Übersetzung vgl. Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 368–371 und für den lateinischen Text Michael Marullus: Carmina. Hg. von Alessandro Perosa. Zürich 1951 (Thesaurus mundi. Band 3), S. 71–73 (nach Michael Marullus: «Epigrammata», Florenz: Societas Colubris, 1497). Für eine Interpretation des Gedichtes als ‚Politik der lateinischen Subjektivität‘ vgl. Yasmin Haskell: The «Tristia» of a Greek Refugee. Michael Marullus and the Politics of Latin Subjectivity after the Fall of Constantinople (1453). In: Proceedings of the Cambridge Philological Society 44 (1998) S. 110–136. 10 animus lucis contemptor, «Aeneis» IX,205 (zitiert nach: P. Vergilius Maro: Opera. Hg. von Roger A. B. Mynors. Oxford 1969 [Scriptorvm Classicorvm Bibliotheca Oxoniensis], S. 312); vgl. Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 379.



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als erwachsener Mann und lateinischer Dichter in Norditalien (1497). Ebenso auffällig ist, dass er als Autor als ersten Familiennamen nicht jenen des Vaters (Marules), sondern der Mutter (Tarchaneiota/ Tarchaneiotes) angibt. Sogar der Familienname des Autors stellt sich somit als Konstrukt heraus. Der Grund ist, dass Marules seinen Vater als Feigling betrachtete und sich am liebsten mit dem Onkel mütterlicherseits, Michael Tarchaneiotes, identifizierte, der in Sparta gegen den Sultan den Heldentod gestorben war, wie einst der Spartanerkönig Leonidas im Kampf gegen die Perser. In seinem Gedichtband modelliert sich Marules eine Identität als antiker, spartanischer Kämpfer, der sich freiwillig in den Tod stürzt, zusammen, als ein Mann, dem das Leben nichts mehr gilt und für den Leichenhaufen, die auf dem Schlachtfeld verrotten, das höchste Ideal sind.11 Die Toten sind für ihn die Auserkorenen, die in Erfüllung ihrer Pflicht sterben durften. Nur als Selbstmordkämpfer, meint Marules, verdiene er sich in Italien und in der lateinischen Sprache das Recht zur Autorrede. Mit diesem auffälligen, stark rhetorisch angelegten Zugangspass zur Respublica litteraria schützt sich Marules vor der moralischen Entautorisierung durch seine italienischen Gastherren, welche Griechen oft als Feiglinge und Parvenüs vorverurteilten. Humanisten konstituierten, wie das selbstmörderische Spartanertum des Marules zeigt, ihre personalen Identitäten nicht selten durch harsche Diskontinuitätsansagen. Manche Humanisten präsentierten sich sogar ausgesprochen als ‚Unzeitgemäße‘, die sich mit ihrer Zeit und ihren Strukturen eben nicht identifizierten. Das fängt gleich mit Francesco Petrarca, dem Vater des Humanismus, an.12 Er will nicht im Hier und Heute geboren sein. Er ist der Meinung, dass in seiner Zeit, im 14. Jahrhundert, alle wesentlichen Strukturen, die Identität vermitteln, aus den Fugen geraten waren, oder anders gesagt: dass die Identität der identitätsspendenden Instanzen selbst zu sinnlosem Bedeutungsschutt zerbröckelt war. Dieser Identitätsmangel durchzieht alle autobiographischen Schriften Petrarcas. Auffällig ist gleichwohl, dass er ihn in seiner Autobiographie «Epistola Posteritati» aufs engste mit seiner Antikenrezeption in Zusammenhang bringt: Neben vielen anderen Gegenständen widmete ich mich vor allem der Altertumswissenschaft, da mich unser Zeitalter stets mit Abneigung erfüllte – so sehr, dass, wenn mich die Zuneigung zu den mir Teuren nicht zurückhalten würde, ich wünschen möchte, in einer beliebigen anderen Zeit geboren zu sein, nur nicht in unserer, und die unsere hier zu vergessen, indem ich versuche, mich im Geist immerzu in andere Zeitalter zu versetzen. Incubui unice, inter multa, ad notitiam vetustatis, quoniam michi semper etas ista displicuit, ut, nisi me amor carorum in diversum traheret, qualibet etate natus esse semper optaverim et hanc oblivisci, nisus animo me aliis semper inserere. (Ep. Post. 9)13

11 Vgl. Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 410–415. 12 Vgl. Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 40–145 mit Text- und Literaturnachweisen; für weiterführende Literatur ebd. S. 865–871. 13 Vgl. Karl Enenkel: A Critical Edition of Petrarch’s «Epistola Posteritati» with an English Translation. In: Modelling the Individual. Biography and Portrait in the Renaissance. With a Critical Edition of

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Diese Konstellation muss man stets berücksichtigen, wenn man humanistische Selbstentwürfe analysiert. In sie spielen stets, jedoch auf ganz unterschiedliche Weise, sowohl die literarischen und wissenschaftlichen Diskurse der Antike als auch ihre Materialbausteine, Daten und Fakten hinein. Sie erweisen sich als eine für vielerlei Zwecke hervorragend geeignete autobiographische Knetmasse, welche die humanistischen Autobiographien mit hoher Kreativität bearbeiteten und mit deren Hilfe sie sich bewusst von der Masse ihrer Zeitgenossen abgrenzten. Diese ‚kreative Knetmasse‘ bewirkte zugleich, dass sich die personale Identität der humanistischen Autobiographen so komplex, anspruchsvoll und variabel gestaltet. In der autobiographischen Schreibpraxis standen den humanistischen Autoren ganze Arsenale personaler Identitätszuordnungen zur Verfügung: die gesamte überlieferte lateinische, später auch die griechische Literatur der Antike mit einer großen Vielfalt an Autoren, Textgattungen, philosophischen Systemen, Stilen, rhetorischen Darbietungsweisen usw. Namentlich die Historiographie, aber auch andere Gattungen, wie die Enzyklopädik, die Satire, das Epos und die Biographie überlieferten ganze Heerscharen moralisch und anderwärtig auswertbarer Exempel, die zur Konstituierung frühneuzeitlicher personaler Identitäten herangezogen wurden. Wenn man das Konzept der personalen Identität auf Spätmittelalter und frühe Neuzeit anwendet, wäre es, denke ich, an sich durchaus legitim, von einer gewissen Stabilität auszugehen. Diese Annahme scheint angesichts der Tatsache gerechtfertigt, dass in dem Zeitraum vom 14.–16. Jahrhundert diverse Zugehörigkeiten die Existenz des Menschen nach innen und außen hin weitgehend festlegten. Eine Person gehörte in engem Verbund ihren Eltern, ihrer Familie, Sippe (Adels- oder Bürgergeschlecht) zu, und man identifizierte sich weiter mit seinem Bezirk, Wohnort/Stadt, Stand, seiner Berufsgruppe usw.; Stabilität scheint schon dadurch gewährleistet, dass diese Bindungen zur Starre tendierten. Wer in einem gewissen Stand geboren war, durfte im Allgemeinen davon ausgehen, dass er in diesem Stand erwachsen werden, altern, sterben würde. Die soziale Mobilität war, verglichen mit der Situation des 20. oder 21. Jahrhunderts, bekanntlich ansehnlich geringer. Für die humanistische Autobiographik ist jedoch bezeichnend, dass diese herkömmlichen Identitätskomponenten häufig in den Hintergrund treten. Oft ‚vergessen‘ die Verfasser ihre Herkunft, Eltern, Familie oder sie konstruieren Ersatzab stammungen. Nicht selten werden die Eltern nicht einmal mit Namen genannt, geschweige denn, dass ihre Rolle im Hinblick auf Kindheit, Jugend und Ausbildung eingehend erörtert werden würde. Das gilt sowohl für Väter als auch für Mütter, für Mütter vielleicht a fortiori, insofern sie bei der geistigen Erziehung eine noch geringere Rolle spielten als die Väter. Petrarca etwa nennt in seiner «Epistola posteritati» Petrarch’s «Letter to Posterity». Hgg. von Dems. u. a. Amsterdam/Atlanta, Georgia 1998 (DQR Studies in litterature. Band 23), S. 243–281, hier S. 262. Dazu Ders.: Modelling the Humanist. Petrarch’s «Letter to Posterity» and Boccaccio’s Biography of the Poet Laureate. In: ebd., S. 10–49, mit Literaturangaben.



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weder den Namen des Vaters noch der Mutter. Er sagt von ihnen nur so viel, dass es sich um ‚unbescholtene Leute‘ (honesti parentes) gehandelt habe, die ein bescheidenes Vermögen besaßen, welches jedoch stets mehr zur Neige ging.14 Der deutsche Humanist und Dichter Helius Eobanus Hessus thematisiert in seiner Autobiographie die Tatsache, dass er die Namen seiner Eltern verschweigt: Frage nicht, was mein Familienwappen oder wer meine Eltern gewesen sind! Sie waren beide arme, jedoch unbescholtene Leute. Ich führe hier weder Adel noch Ahnherren noch Ahnentafeln auf. Ach, möchte ich doch meiner Tugend wegen als edel gerühmt werden! Quae mihi signa domus, qui sint, ne quaere, parentes. Pauper uterque fuit, sed sine labe parens. Non genus aut proavos numero, non stemmata avorum Virtute o utinam nobilis esse ferar. (Z. 63–66)15

Der Familienname, den Eobanus hier verschweigt, war Koch.16 Die Familie Koch, Bauern, klammert Eoban aus seinem Identitätskonstrukt aus. Das gilt interessanterweise nicht nur für Humanisten von ausgesprochen niedriger Abstammung. Auch der Edelmann Jacopo de San Nazaro verschweigt die Namen seiner Eltern. Von der Mutter vermeldet er nur ein einziges Informationsbruchstück, in dem er sie als ‚Gebärerin‘ (genitrix) bezeichnet (Z. 17), wobei er ihren Namen verschweigt.17 Wenn die Väter von bestimmten humanistischen Autobiographen denn doch genannt werden, dann kommt ihnen meist nicht die Funktion einer Identifikationsperson zu, sondern eher eines Faktors, der der humanistischen Identität im Wege steht. Z. B. ist alles, was der süditalienische Humanist Campano, später Bischof von Teramo, in seiner ersten Autobiographie von seinem Vater Puccio de Teoli berichtet, dass dieser ihn zum Viehhirten machen wollte, wobei er die großen Talente, die in ihm schlummerten, verkannte.18 Wenn ihn die Götter Apoll und Pallas sowie seine beiden Onkels, die beide Kleriker waren, nicht von dem väterlichen Joch befreit hätten, wäre gewiss nichts aus ihm geworden. Ähnliches gilt für die Väter des Conrad Celtis, des Petrarca und sogar jenen des Enea Silvio Piccolomini, Silvio Postumo, der immerhin ein Edelmann war. 14 Petrarca: «Epistola Posteritati» 2 (wie Anm. 12): ‚Honestis parentibus, Florentinis origine, fortuna mediocri et – ut verum fatear – ad inopiam vergente […]‘, S. 256. 15 Für den Text von «Eobanus Posteritati» siehe: Helius Eobanus Hessus: Dichtungen Lateinisch und Deutsch. Hg. und übers. von Harry Vredefeld, Bd. 3: Dichtungen der Jahre 1528–1537. Bern u. a. 1990 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken. Band 39), S. 476–483. 16 Zu Eobans Autobiogaphie (mit Literaturnachweisen) vgl. Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 429–449. 17 «Elegie» III,2; für Sannazaros Autobiographie vgl. Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 513–545; Edition und Übersetzung S. 514–517. 18 Für eine kritische Edition des lateinischen Textes dieser (ersten) Autobiographie Campanos siehe Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 230–234. Die negativen Bemerkungen über den Vater stehen in den Verszeilen 23–26.

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Silvio Postumo, der sich letztlich ohne Erfolg abmühte, die Schar seiner 18 Kinder durchzufüttern, setzte – jedenfalls nach dem Lebensbericht des Enea Silvio – seinen Sohn ausschließlich als Viehhirten und Knecht in der Landwirtschaft ein.19 Erst im achtzehnten Lebensjahr gelang es dem Sohn, die bäurische Lebensweise abzuschütteln und endlich Latein zu lernen. Eine unglaubliche Energieleistung war erforderlich, um den gewaltigen Bildungsrückstand, den Vater Piccolomini verursacht hatte, aufzuholen. Merkwürdig bleibt dabei immerhin, dass Silvio Postumo, der ja ein gebildeter Mann war, dem Sohn nicht irgendwann die Grundzüge der lateinischen Sprache beigebracht haben soll. Das ‚Vergessen‘ der Familienzugehörigkeit kommt sinnfällig auch dadurch zum Ausdruck, dass zahlreiche Humanisten einen neuen Namen annehmen. Dieser besitzt nicht nur als Autor- und Gelehrtenname, sondern auch darüber hinaus Gültigkeit. Niemand kannte Gerrit Gerritsz, ganz viele jedoch Desiderius Erasmus; Herr Koch gab sich in der Autobiographie und auch sonst den Namen Eobanus Hessus; Giovanni de Teoli war auch als Kleriker unter dem Namen Johannes Antonius Campanus bekannt; Konrad Bickel kannte niemand, jedoch Conradus Celtis galt als einer der berühmtesten Leute des deutschen Sprachraumes; Boccaccio hieß Johannes de Certaldo; Beat Bild Beatus Rhenanus; Hans Schmid wurde Johannes Fabricius; Herr de’ Sacchi Bartholomaeus Platina, Herr Jäger Joannes Crotus Rubeanus, Herr Molsheym Jacobus Mycillus usw. Sinn dieser neuen Identität war nicht nur, eine ‚niedrige‘ Abstammung zu verbergen. Auch humanistische Edelmänner gaben sich neue, lateinische Namen. Zum Beispiel taufte sich Jacopo de San Nazaro Actius Sincerus, ein Name, welcher noch mehr als ein Jahrhundert nach seinem Tod nicht nur in den Titeleien seiner Werke, sondern auch in (literatur)historischen Betrachtungen aufscheint. Es handelte sich tatsächlich um eine neue Identität, welche die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Humanisten und Gelehrten, der lateinischen Respublica litteraria, zum Ausdruck bringen sollte. Zur Abschreibung herkömmlicher Identitäten in der humanistischen Autobiographik gehört, dass für die meisten Humanisten die ‚Muttersprache‘ kein Thema ist. Die Identifikationssprache ist Latein und diese wurde niemals von der Mutter, in einigen Fällen von den Vätern, meist jedoch von Dritten vermittelt. Da treten im ‚normalen Leben‘ die Lehrer auf den Plan. Dabei ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, dass beileibe nicht alle Lehrer Zierden der humanistischen Wissenschaft waren und dass die Humanisten den Unterricht, den sie genossen, oft als rückständig, ja grob und barbarisch empfanden. Deshalb wurden oft auch die Lehrer verschwiegen oder abgeschrieben und präsentierten sich nicht wenige Humanisten im Grunde als Autodidakten. So verschweigt Petrarca in seiner «Epistola posteritati» den Namen seines Grammatiklehrers in Avignon und Carpentras, Convenevole da Prato, immerhin eines poeta laureatus, ebenso wie die seiner Lehrmeister an den berühmten Universitä19 Für Enea Silvios Autobiographie, die «Commentarii», Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 266– 276, 300–329.



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ten von Montpellier und Bologna; die Bedeutung des Unterrichts bei Convenevole im Trivium stufte er als verschwindend gering ein: Der Leser sehe ja selbst ein, wie wenig er dort gelernt haben mag (Ep. Post. 13). Ebenso wenig nennt Enea Silvio in den «Commentarii» seine Lehrmeister an der Universität von Siena in der Grammatik, Rhetorik, Poetik und im Bürgerlichem Recht, und das, obwohl nach den langen Jahren einer erzwungenen bäurischen Existenz der Unterricht für ihn eine geradezu himmlische Erleuchtung gewesen sein muss. ‚Professoren‘ waren es, das ist alles, was wir erfahren («Commentarii», cap. 2). Giovanni Conversino nennt in seiner Autobiographie «Rationarium vite» zwar seinen Grammatiklehrer Filippino da Lugo mit Namen, jedoch von einer Identifikation mit demselben ist keine Rede (Kapitel V),20 im Gegenteil von einem ausgesprochenen Hass, einem Hass, der so groß gewesen sei, dass der Schüler zweimal versucht habe, den Lehrer zu vergiften (Kapitel IX,1– 2).21 Auch Erasmus nennt in seinen autobiographischen Abrissen seine Lehrer an den Schulen der Brüder des Gemeinen Lebens in Den Bosch und Deventer sowie an der Universität Paris nicht mit Namen. Es mag sein, dass auch er sie wegen der Schläge, die er wahrscheinlich von ihnen empfangen hatte, hasste; viel wichtiger war jedoch, dass er das Wissen, das sie ihm vermittelten, für seine Identität als Humanist für irrelevant hielt. Ähnliches gilt für andere auf der Hand liegende Konstituenten personaler Identität: Geburtsorte, Orte der Kindheit, Wohnhäuser der Eltern usw. Auch diese werden in der humanistischen Autobiographik meist entweder ausgeklammert oder verschwiegen oder bis zur Unkenntlichkeit verformt. Petrarca ent-identifiziert sich mit seiner Geburtsstadt Arezzo, indem er sie sogleich als ‚Exil‘ abqualifiziert;22 Eobanus Hessus nennt seinen Geburtsort (Halgenhausen) nicht; stattdessen behauptet er, in der Stadt Frankenberg das Licht der Welt erblickt zu haben. Der Edelmann Jacopo Sannazaro verschweigt sowohl seinen Geburtsort, immerhin die berühmte Stadt Neapel, sowie das Wohnhaus seiner Kindheit, immerhin den ansehnlichen Stadtpalast seines Vaters Nicola de San Nazaro in Neapel.23 Während Sannazaro tatsächlich den Hauptteil seiner Kindheit und Jugend in Neapel verbrachte, macht er in seiner Autobiographie den Leser glauben, dass er damals auf dem Land, in einem einsamen Tal mitten in den Bergen, weilte.24 Dabei mag er den Landsitz der Familie der Mutter bei Santo Mango vor Augen gehabt haben, wobei jedoch wieder bezeichnend ist, dass er ihn in der Autobiographie nicht namentlich nennt.

20 Giovanni Conversini da Ravenna: Rationarium vite. Introduzione, edizione, note a cura di Vittore Nason. Florenz 1986 (Accademia Toscana di Scienze e Lettere «La Colombaria», Studii. Band 79), S. 68–73. 21 Conversini: «Rationarium vite» (wie Anm. 20), S. 73. 22 Petrarca: «Epistola Posteritati» 2 (wie Anm. 13), S. 257. 23 Sannazaro: «Elegie» III,2 (wie Anm. 17). 24 Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 513–519.

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Aus den Analysen der Autobiographik des Erasmus und des Lipsius ging hervor, dass sich der Begriff einer festen Identität mit den dort feststellbaren Selbstkonstituierungsprozessen grundsätzlich nicht verträgt.25 Es gibt dort kaum noch etwas Greifbar-Konsistentes mehr. Während beide Autoren vorgeblich Daten und Ereignisse ihres Lebens belegen, sind ihre Beweise und Argumente doch ausschließlich von den jeweiligen persuasiven Ad-hoc-Zielsetzungen eingegeben. Die Selbstkonstituierungen passen sich diesen Zielsetzungen jeweils chamäleontisch an. Lipsius hat sogar eine genuine Ästhetik eines Phänomens entwickelt, das ich als „chamäleontische Autobiographik“26 bezeichnet habe. Den ‚guten‘, weil überzeugenden Farbwechsel wendet Lipsius bemerkenswerterweise selbst dort, wo keine unmittelbare rhetorische oder sachliche Notwendigkeit vorliegt, als primäre autobiographische Darstellungsstrategie auf geradezu lustvolle Weise an. Die Strategien humanistischer Identitätskonstituierung liefen vielfach über andere Schienen als die der herkömmlichen Identitätskonstituenten. Entscheidend waren die lateinische Sprache, die verschiedenen Diskurse der lateinischen Literatur, Wissenschaft und Bildung, die diversen Gattungen der antiken Literatur, die antiken Autoren, die Materialbausteine der antiken Überlieferung, die von der Historiographie tradierten antiken Exempel usw. Die neue Identität, die Petrarca für sich konstruiert, war die eines antiken, lateinischen Autors nach den Vorbildern v. a. des Cicero, Vergil, Horaz, Valerius Maximus, Livius und Augustinus. Hinzu kam die Identität als gekrönter lateinischer Dichter (poeta laureatus) nach dem Vorbild des Statius. Dazu gehörte auch ein neuer, antiker Name: Statt des Patronymicums di Petraccho gab er sich den antikisierenden Namen Petrarca, zusammengesetzt aus petrus (‚Fels‘) und arca (‚Ursprung‘), etwa: ‚der Felsgeborene‘. Damit verband er eine lokale Identität mit seinem Haus in der Vaucluse in der Nähe der Felsenwand, aus der der Fluss Sorgue entsprang. Die Vaucluse war sein idealer Dichterort, locus amoenus und Klause zugleich, der selbst ‚erfundene‘ Standort seiner vita solitaria.27 Bezeichnend scheint mir zu sein, dass es sich bei dem Konstrukt um eine sehr komplexe und vielgestaltige Identität handelte. Petrarca identifizierte sich nicht mit einem einzigen antiken Autor, sondern mit mehreren zugleich. Er betrachtete sich nicht nur als neuer Vergil, sondern auch als neuer Cicero, neuer Horaz, neuer Valerius Maximus, Livius, Augustinus usw. Diese neuen Identitäten trug er in mehrfacher Hinsicht mit sich herum: Als Schriftsteller, Gelehrter, Leser, Mensch und gläubiger Christ. Sie waren nicht nur in seinem Denken und Gedächtnis, sondern auch leibhaftig anwesend, in Gestalt von Handschriften, die er ständig bei sich hatte; insofern 25 Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 467–512, 777–822. 26 Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), S. 827. 27 Vgl. zur Thematik Francesco Petrarca: De vita solitaria. Buch 1. Kritische Textausgabe und ideengeschichtlicher Kommentar. Hg. von Karl Enenkel. Leiden u. a. 1990 (Leidse romanistische reeks van de Rijksuniversiteit te Leiden/Publications romanes de l’Université de Leyde. Band 24).



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es sich um kleinformatige Handschriften handelte, nahm er sie auch auf seinen Spaziergängen und Reisen als ständige Weggefährten mit. Er benutzte sie dann in seinen inneren Dialogen als Ansprechpartner. Seine Werke entwickelte er sozusagen aus ihnen. Als Autor des Epos «Africa» und des «Bucolicum Carmen» identifizierte er sich mit Vergil; als Autor seiner lateinischen Prosabriefe – übrigens eine sehr originelle Leistung – mit Cicero; als Autor seiner Exempelsammlung «Rerum memorandarum libri» mit Valerius Maximus; als Autor von «De viris illustribus» mit Livius; als Autor der metrischen Briefe mit Horaz; als Autor seines Dialogs «Secretum» mit Augustinus und Boethius. Die Vielgestaltigkeit der Identitätskonstituierungen bedingt, dass man nicht von einer einfachen, festen Identität reden kann. Wer war Petrarca? Petrarca war jeder dieser Autoren, manchmal einer, manchmal mehrere zugleich; seine Identität richtete sich nach dem Werk, mit welchem er sich jeweils beschäftigte; an dem einen Tag war er mehr Horaz, an dem anderen mehr Vergil, an einem weiteren mehr Cicero. Zusätzlich verlieh er sich die Namen Silvius und Silvanus, etwa ‚Waldmann‘, und Solitarius, etwa der ‚Einsame‘, im Hinblick auf die von ihm bevorzugte Lebensweise der vita contemplativa,28 als Autor bukolischer Gedichte, als Bewohner der Vaucluse, jedoch auch als Verfasser metrischer Briefe, philosophischer Werke und Kommentator antiker Texte. Ein weiterer Identifikationsfaktor war seine Geliebte Laura, die er mit seiner Dichterschaft und dem Dichterort Vaucluse sowie mit dem Dichterlorbeer identifizierte, den er 1341 erhalten hatte; sinnstiftend pflanzte er im Garten seines Hauses in der Vaucluse Lorbeerbäume. Diese Identitätskonstituenten trug er über viele Jahre in wechselnder Zusammenstellung mit sich herum. Mit Hilfe der fiktiven Dialogperson Augustinus nahm er zudem einen krassen Identitätswechsel vor: Von dem antikisierenden Dichtertum der Marke Vergil, der Lyrik zum Lobe der Madonna Laura und der antiken Historiographie will er sich distanziert und sich stattdessen der Moralphilosophie nach dem Vorbild des Cicero und Seneca und dem Studium der Bibel hingewendet haben. Diverse moderne Gelehrte sind Petrarcas Geheimautobiographie «Secretum» auf den Leim gegangen, indem sie sie als einschneidende spirituelle conversio bewerteten.29 Das Wesentliche ist jedoch eine neue Konstruktion und Legitimierung seiner Autorschaft, die selbstverständlich alles andere als geheim bleiben sollte.30 In diesem Zusammenhang drängt sich die grundlegende Frage auf, was diese verschiedenartigen Identitätskonstituierungen, verbunden mit diversen Diskurseinschreibungen, leisten. Es handelt sich dabei – mit ganz unterschiedlichen Strategien – jeweils um die Durchsetzung diverser Autorschaftsansprüche. Die Verfasser stellten sich damit Bescheinigungen zur Teilnahmeberechtigung am literarischen Prozess bzw. Zugangspässe zur Respublica litteraria aus. Bei Petrarca etwa dient die 28 Petrarca: «De vita solitaria» (wie Anm. 27), S. 216, 252, 325, 418, 535, 542, 553. 29 Z. B. Hans Baron: Petrarch’s «Secretum». Its Making and Meaning. Cambridge, Massachusetts 1985 (Medieval Academy Books. Band 94). 30 Enenkel: Erfindung (wie Anm. 4), Kap. V, S. 127–145.

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Identifizierung mit den antiken Autoren dazu, die Autorschaft seiner diversen, zum Teil sehr originellen Werke glaubwürdig und akzeptabel zu gestalten. Gleiches gilt für die neuen lateinischen Namen, die Identifizierung mit dem Dichterort, den poetalaureatus-Titel, die Identifizierung mit Madonna Laura usw. Wenn sich Giannantonio Campano mit seiner ersten Autobiographie in den Diskurs von Ovids Dichterautobiographie «Tristia» IV,10 einschreibt, autorisiert er sich sowohl als lateinischer elegischer Dichter als auch als Verfasser einer Dichterautobiographie. Ähnliches gilt mutatis mutandis für Marules’ Dichterautobiographie. Indem er sich als im Exil lebender, aus seiner Vaterstadt Vertriebener darstellt, der am Schwarzen Meer unter einem Tyrannen des Ostens darbe, schreibt er sich in den Diskurs von Ovids Dichterautobiographie «Tristia» IV,10 ein. Er legitimiert sich damit als lateinischer Dichter, was gerade für einen Fremdling griechischer Abstammung wichtig ist. Dadurch, dass er seine biographischen Daten verfälscht, erwirbt er sich Akzeptanz in einem Umfeld, das die griechischen Flüchtlinge gemeinhin als feige Parvenüs ent-autorisierte. Die merkwürdige Selbstdarstellung von Joannes Fabricius in seiner metrischen Autobiographie erklärt sich von einer gleichläufigen Funktion her. Sie sollte als legitimierender Text für seine gesammelten Gedichte («Poemata») dienen. Der Theologe und Pfarrer autorisiert sich durch das seltsame Identitätskonstrukt als lateinischer Dichter. Dies versucht er damit zu erreichen, dass er sich als neuen Ovid darstellt. In der metrischen Autobiographie wird Schmid zu Ovid. Deswegen darbt Schmid wie Ovid in der Ferne, im Exil; ist Schmid, wie Ovid, einsam, isoliert und verzweifelt, wird Schmid von niemandem unterstützt, bleibt hoffnungslos sich selbst überlassen, obwohl sich die Schweizer so rührend um ihn kümmerten. Wie Ovid attestiert sich Schmid einen verwirrten und desolaten Seelenzustand, welcher ihm (scheinbar) das Wort entzieht. Auch Ovid behauptet ja, dass er, umgeben von Barbaren, das Dichten verlernt hätte, natürlich wohlgemerkt im Gedicht. Indem sich Giovanni Conversino in den Beichtdiskurs von Augustinus’ «Confessiones» einschreibt, legitimiert er sich sowohl als autobiographischen als auch als humanistischen Autor; die conversio Augustins zum Christentum transformiert er dabei in eine stetige Hinwendung zur humanistischen Lebensweise und zur Moralphilosophie. Demselben Zweck dient, dass er sich mit dem Philosophen Seneca und mit Petrarca, dem Autor des Traktates «De vita solitaria», dem Humanisten, der sich in der Klause aufhielt, identifiziert. Weiter dienen die Diskurseinschreibungen der prinzipiellen Regulierung der Rezeptions- und Interpretationsprozesse. Die Einschreibungen mit ihren Identitätskonstituierungen bilden damit die eigenzeitliche Verständnisgrundlage dieser Texte, die condicio sine qua non der literarischen Kommunikation und ihre relevante Erkenntnisstruktur. Dabei entfalten sie einen starken ‚Beglaubigungseffekt‘, der sich auf die verschiedensten Bereiche erstreckt. Die Diskurseinschreibungen vermögen ‚Fakten‘, Bilder, Zusammenhänge und Interpretationen zu beglaubigen. Ihre grundlegende Beglaubigungswirkung beruht auf der Tatsache, dass sie den Leser zu Bekanntem hinleiten, einen Rezeptionsprozess initiieren, der bereits Eingeübtes aus dem Langzeitgedächtnis abruft und zu einem Erkenntnisprozess führt, bei dem wesent-



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lich die Erinnerungsstruktur des Lesers angesprochen und manipuliert wird. Die Erinnerungsstruktur der frühneuzeitlichen Respublica litteraria war von der Tatsache gekennzeichnet, dass ihre Teilnehmer die antike Literatur, vor allem die lateinische, in einem Umfang und mit einer Festigkeit in ihrem Gedächtnis gespeichert hatten, welche heute kaum noch nachvollzogen werden können. Es ist diese Tatsache, welche sich die Verfasser der Autobiographien zunutze machten und welche den autobiographischen Darstellungsprozess wesentlich steuert. Die neulateinischen Autobiographien stellten ihr Leben dergestalt dar, dass es die Leser aus dem Gedächtnisvorrat der antiken lateinischen Literatur abrufen konnten. Mit anderen Worten: Sie fordern die Leserschaft auf, ihre jeweiligen Autobiographien aus der Erinnerung an die – eo ipso autoritative – antike Literatur heraus zu lesen, der man einen Wahrheitsgehalt zuschrieb, der den der empirischen Wahrnehmung weit überstieg. Die Einbindung der Vita in die antike Literatur autorisierte und bestätigte, während der empirischen Wahrnehmung das Odium der Hinfälligkeit alles Sinnlichen anhaftete. Es ist dieses umfängliche und mit großer Hingabe verinnerlichte Wissen, das in der humanistischen Autobiographik die Grundlage der Konstruktion personaler Identitäten bildet.

Gabriele Jancke

Selbstzeugnisse von Gelehrten und soziale Praktiken des Wortes – personale Identität? Personkonzepte, Zugehörigkeit und Vergangenheitskonstruktionen1 Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit waren von vornherein auf Sozialität hin angelegt. Zu dieser Sozialität innerhalb einer traditionalen Gesellschaft gehörten aktuelle Gruppenbildungsprozesse, wie sie zum Beispiel in gastlichen Situationen stattfanden und in Selbstzeugnissen von Gelehrten häufig thematisiert wurden. Ebenfalls gehörten auch die Mechanismen von Tradition und Traditionsbildung zu dieser Sozialität. Die Konstruktion von Vergangenheit in Selbstzeugnissen hatte im 15. und 16. Jahrhundert viele Facetten. Die beschriebene eigene Person war immer ein Teil dieser Vergangenheitskonstruktionen, bildete aber nicht notwendigerweise auch deren Ausgangspunkt oder ihren Mittel- oder ihren Zielpunkt. Sowohl eine zentrale als auch eine eher marginale Positionierung waren möglich, so dass autobiographische Vergangenheitskonstruktionen keineswegs auf die eigene Person und deren Lebenszeit beschränkt sein mussten. Sie konnten sowohl in zeitlicher als auch in sozialer Hinsicht über die eigene Person weit hinausreichen und von vornherein andere Personen und die unterschiedlichsten Sozialgebilde und deren Vergangenheit mit umfassen. Soziale Beziehungen und Gruppen, aber auch Gemeinwesen und überhaupt größere soziale Zusammenhänge waren vielfach als Kontexte wichtig, in denen VerfasserInnen ihre autobiographische Person platzieren wollten. Die Vergangenheitskonstruktionen autobiographischer Texte manifestierten sich darin, wie die AutorInnen die zeitlichen Aspekte ihrer eigenen Person und der von ihnen jeweils hergestellten Kontexte akzentuierten. Dabei spielte zunächst die für sie synchrone, zeitgeschichtliche Nähe eine große Rolle, sodann aber in diachroner Hinsicht auch historische Ferndimensionen. Es eröffnet sich also ein weites Feld, das sich in diesem Aufsatz längst nicht ganz erschließen lässt. Die folgenden Überlegungen setzen zunächst bei der Person und bei den Selbstzeugnissen an, um grundsätzliche Fragen der Konzeptionalisierung zu klären. Sodann werden am Beispiel von Praktiken der Gastfreundschaft konkret die sozialen Zugehörigkeiten diskutiert, in die gelehrte Verfasser in ihren Selbstzeugnissen ihre Person hineinstellten; hier eröffnen sich auch Perspektiven auf den Umgang mit Worten in einem solchen Feld von Praktiken. Schließlich wird das Spektrum von Möglichkeiten zur autobiographischen Vergangenheitskonstruktion vorgeführt, das sich in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts für die 1 Ich bedanke mich bei Stefan Hanß für eine kritische Lektüre dieses Beitrages und für einige Hinweise.



Selbstzeugnisse von Gelehrten und soziale Praktiken des Wortes 

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autobiographische Person und ihre Sozialität im gelehrten Umfeld findet. Am Schluss werden die Befunde zu Vergangenheitskonstruktionen in Selbstzeugnissen daraufhin reflektiert, welche Arten von Zeitlichkeit sich in dieser Textgruppe feststellen lassen.

1 Die Frage nach Personkonzepten – ‚Person‘ als analytische Kategorie Ausgangspunkt für diesen Beitrag ist eine Frage, die sich auf das weite Feld der Personkonzepte in allen ihren möglichen Spielarten richtet, so wie sie in autobiographischen Schriften fassbar werden. Der Begriff der ‚personalen Identität‘ wird als Teil dieses Feldes gesehen, aber nicht von vornherein als die einzige mögliche Antwort behandelt. Diese Fragestellung schließt an eine Diskussion an, die seit einiger Zeit in der Selbstzeugnisforschung über den Begriff der ‚Individualität‘ geführt worden ist. Die lange selbstverständlich angewandte Kategorie der ‚Individualität‘ hat sich demnach als wenig geeignet erwiesen, um vormoderne autobiographische Schriften interpretieren zu können. So führte die Suche nach der ‚Individualität‘ dazu, viele autobiographische Texte auszuschließen, weil sie diesem Kriterium nicht zu genügen vermögen. Zugleich ließen sich viele Eigenarten der Texte nicht erfassen. Nachdem unter dem weiten Oberbegriff der ‚Selbstzeugnisse‘ oder ‚Egodokumente‘ die Textbasis erheblich erweitert und die Texte zu einer großen Bandbreite von Themen befragt worden waren, wandte man sich auch dem darin beschriebenen ‚Selbst‘ zu und begann sich damit von einer Fokussierung auf die ‚Individualität‘ der Person zu lösen. So stellte sich heraus, dass in frühneuzeitlichen autobiographischen Schriften eine Selbstdefinition primär durch Andere und Anderes, kaum aber aus sich selbst und in Bezug auf sich selbst vorgenommen wurde. Um diesen Befunden an frühneuzeitlicher Autobiographik auch konzeptuell gerecht werden zu können, wurde etwa der Begriff der ‚Heterologie‘ vorgeschlagen. Statt eine neutrale wissenschaftliche Beschreibungskategorie zu sein, hat sich die ‚Individualität‘ als ein inhaltlich sehr spezifisches, historisch und regional partikulares Konzept herausgestellt. Es wurde deutlich, dass sich in einem Begriff wie ‚Individualität‘ Grundannahmen über ‚Person‘ niedergeschlagen haben, die es zunächst zu dekonstruieren galt, um sodann in einem nächsten Schritt die bisherigen Vorannahmen in offene Fragen umformulieren und schließlich eine Re-Konstruktion auf neuer konzeptueller Basis vornehmen zu können. Aus diesem Diskussionsprozess sollen einige Überlegungen resümiert werden, um die konzeptuellen und methodischen Voraussetzungen für das Folgende zu klären.2 2 Zur Heterologie siehe Eva Kormann: Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert. Köln u. a. 2004 (Selbstzeugnisse der Neuzeit. Band 13). Der Terminus der ‚Personkonzepte‘ (‚concepts of

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Für die Untersuchung der Vergangenheitskonstruktionen ist die Frage zentral, wie die autobiographisch dargestellte Person zu fassen ist. Als eine textuelle und konstruierte ‚persona‘ ist sie zunächst von der realen Person zu unterscheiden, die sich in ihrer außertextlichen Wirklichkeit mit allen ihren körperlich-materiellen, psychischen und raum-zeitlichen Dimensionen und keineswegs nur in Form von Worten und Schriftlichkeit manifestiert. Drei Punkte sind besonders wichtig: Erstens, in autobiographischen Schriften sind es nicht die Personen selbst, die man wahrnehmen kann – die Personen der VerfasserInnen in ihrem jeweiligen Leben, in Fleisch und Blut, in ihren Handlungen und Leidenschaften, in ihren glücklichen oder traumatisierten Teilen. Was sichtbar wird, ist etwas, was man die ‚autobiographische Person‘ nennen könnte. Sie ist aus anderem Material gemacht als eine reale und physische Person, gestaltet durch Sprache in verschiedenen Formen und Textsorten, zum Thema erhoben, über das gesprochen und diskutiert werden kann, möglicherweise transformiert in eine wertvolle Ressource von wichtigem Wissen, das sich an zukünftige Generationen weitergeben lässt. Autobiographische Personen sind daher nicht so sehr als reale Personen, sondern viel eher als Konzepte von Personen lesbar, absichtsvoll gestaltet und auf schriftlichem Wege mitgeteilt. Dabei spielt der Gesichtspunkt der Übersetzung aus dem Medium des gelebten Lebens und seiner (auch und nicht zuletzt) materiell-physischen Erfahrungen in ein anderes Medium, das von Sprache und Text, eine zentrale Rolle3 und muss mit reflektiert werden. Fragen von zeitlicher Strukturierung betreffen einerseits die schreibenden und beschriebenen Personen und andererseits die materiell objektivierten Texte auf unterschiedliche Weisen, die auch getrennt zu untersuchen wären. person‘) ist üblich u. a. in der Ethnologie, Philosophie und Psychologie; von dort ist er in die Autobiographie- und Selbstzeugnisforschung übernommen worden, siehe Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. In: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Hgg. von Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich. Göttingen 2005 (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung. Band 10), S. 7–27. Für die osmanistische Forschung vgl. Cemal Kafadar: Self and Others. The Diary of a Dervish in Seventeenth Century Istanbul and First-Person Narratives in Ottoman Literature. Studia Islamica 69 (1989) S. 121–150; sowie zuletzt: Many Ways of Speaking about the Self. Middle Eastern Ego-Documents in Arabic, Persian, and Turkish (14th–20th Century). Hg. von Ralf Elger. Wiesbaden 2010. Das Folgende nach Elke Hartmann und Gabriele Jancke: Roupens „Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs“ (1921/1951) im transepochalen Dialog – Konzepte und Kategorien der SelbstzeugnisForschung zwischen Universalität und Partikularität. In: Selbstzeugnis und Person – transkulturelle Perspektiven. Hgg. von Claudia Ulbrich u. a. Köln u. a. 2012 (Selbstzeugnisse der Neuzeit. Band 20), S. 31–71, hier S. 35–38. 3 Interpreting the Self: Autobiography in the Arabic Literary Tradition. Hg. von Dwight F. Reynolds. Gemeinsam verfasst von Kristen E. Brustad u. a. Berkeley u. a. 2001, S. 2f., 42; Jancke und Ulbrich: Individuum (wie Anm. 2), S. 26; Gabriele Jancke und Sebastian Cwiklinski: Räume des Selbst – Gastfreundschaft im Reisebericht des tatarischen gelehrten Publizisten Abdurraschid Ibrahim (frühes 20. Jahrhundert). In: Räume des Selbst. Selbstzeugnisse transkulturell. Hgg. von Andreas Bähr u. a. Köln u. a. 2007 (Selbstzeugnisse der Neuzeit. Band 19), S. 131–150 bei Anm. 5.



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Auch ist zu berücksichtigen, dass Muster gelebten Lebens – das heißt sowohl strukturierte Verhaltensweisen als auch Deutungsschemata – beim autobiographischen Schreiben kaum direkt widergespiegelt, sondern in die Muster des praktizierten und vertrauten Schreibens gebracht werden. Hier sind also Praktiken der Alltagsschriftlichkeit, Leseerfahrungen, vorbildliche narrative Formen, textsortenspezifische Muster und Traditionen, ästhetische Gestaltung und intertextuelle Bezüge mit ins Auge zu fassen. Unter diesen Gesichtspunkten muss mit dem Begriff ‚Personkonzepte‘ sehr zurückhaltend umgegangen werden, hat man doch bei den Selbstzeugnissen alles andere als explizite theoretische Traktate über ein Konzept vor sich, sondern Berichte und Erzählungen über Ereignisse und Handlungen, bei denen unter anderem auch mit lebensweltlich praktizierten Personkonzepten hantiert wird. Solche Personkonzepte sind an der Schnittstelle zwischen unbewusstem Verhalten und individuellem geplanten Handeln, zwischen der Einbindung in Strukturen und Zwänge einerseits und dem Finden von Möglichkeiten andererseits angesiedelt und verweisen auf Normativitätsdiskurse, die den VerfasserInnen wichtig waren. Diese Art des sozialen Wissens bleibt in den Texten meist implizit und kann nur in einer umfassenden Kontextualisierung erschlossen werden. Sodann ist die autobiographische Person mit einer artikulierten Stimme vernehmbar, die das autobiographische Material gestaltet und organisiert, ein Publikum anspricht, eine textuelle Form findet, Absichten und Strategien verfolgt, bewegt durch Motive, die vornehmlich in ihrer gegenwärtigen Situation liegen und als solche zugleich weit in die Vergangenheit zurückreichen können. In frühneuzeitlichen autobiographischen Schriften ist die Stimme der schreibenden Person oft ein hervorstechendes Merkmal, und sie hörbar zu machen, war den VerfasserInnen ein wichtiges Anliegen. Durch diese Stimme ist die schreibende Person bezogen auf Dialoge, Debatten, Konflikte. Ihr autobiographisches Schreiben hat seinen Ort in verschiedenen Arten von sozialen und dialogischen Situationen. Es ist als Teil einer fortgesetzten Kommunikation oder als kommunikativer Input in eine soziale Situation zu verstehen. Kommunikative, literarische, rhetorische und intertextuelle Komponenten waren Teil solcher Situationen. Nicht immer schrieben AutorInnen selbst, sie konnten auch diktieren oder schreiben lassen, wie es bei Götz von Berlichingen (1480–1562) oder Kaiser Maximilian I. (1459–1519) der Fall war.4 VerfasserInnen autorisierten auch nicht immer selbst, was sie geschrieben hatten, das konnten sie in frühneuzeitlichen Verhältnissen an einen Patron delegieren. Schreiben und die Kontrolle darüber mussten nicht in einer einzigen realen Person verbunden werden, sondern konnten aufgeteilt sein auf mehrere Personen. In vielen Fällen gab es verteilte Rollen 4 Nähere Informationen zu den autobiographischen Texten, Kurzangaben zu den VerfasserInnen sowie weitere Literatur findet sich für alle in diesem Beitrag genannten Beispiele in: Gabriele Jancke: Selbstzeugnisse im deutschsprachigen Raum. Autobiographien, Tagebücher und andere autobiographische Schriften. 1400–1620. Eine Quellenkunde. Unter Mitarbeit von Marc Jarzebowski u. a. http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/jancke-quellenkunde (13.08.2008, zuletzt gesehen: 04.04.2012).

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und geteilte Verantwortlichkeiten. All dies muss berücksichtigt werden, wenn man über autobiographische Konzepte von Autorschaft nachdenkt. Autorkonzepte sind ein Teil der Personkonzepte, mit denen autobiographisch Schreibende in Kommunikationssituationen umgehen. Zugleich sind sie in Verbindung mit dem jeweiligen Text- und Literatursystem und mit anderen Formen von Schriftlichkeit zu sehen, die die jeweiligen VerfasserInnen praktizierten. Drittens werden autobiographische Personen in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen meist präsentiert als Teil von Gruppen und in sozialen Beziehungen und Hierarchien, durch die solche Gruppen konstituiert werden. Personkonzepte werden zum Teil gruppenspezifisch gefasst, und Sozialität bedeutet Handlungsräume, aber keineswegs ein Aufgehen in der Gruppe (ohne eigenen Willen und Handlungsmöglichkeiten).5 Mit einfachen Gegenüberstellungen wie einem ‚egozentrischen‘ vs. ‚soziozentrischen‘ Personkonzept sind diese komplexen Verhältnisse und ihre Einbindung in die ganz konkreten und partikularen gesellschaftlichen und historischen Kontexte nicht fassbar zu machen. ‚Person‘ muss daher, wie es bereits Marcel Mauss 1938 vorgeschlagen hat, als analytische Kategorie reflektiert werden, damit sie als Gegenstand in kontextangemessener Weise beschreibbar wird und damit Selbstzeugnisse für solche Fragen lesbar werden.6 Auf einer sehr allgemeinen Ebene sollten 5 So bereits formuliert bei Natalie Zemon Davis: Boundaries and the Sense of Self in Sixteenth-Century France. In: Reconstructing Individualism. Autonomy, Individuality, and the Self in Western Thought. Hgg. von Thomas C. Heller u. a. Stanford 1986, S. 53–63, 332–335 (deutsche Übers.: Bindung und Freiheit. Die Grenzen des Selbst im Frankreich des 16. Jahrhunderts. In: Dies: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers. Berlin 1986, S. 7–18, 133–135). Anders John Jeffries Martin: Myths of Renaissance Individualism. Basingstoke, Hampsh./New York 2004 (Early Modern History: Society and Culture), S. 30–32, der Sozialität ganz klassisch wie bereits Burckhardt als Aufgehen des Individuums in der Gruppe fasst („the social or conforming self“). 6 Marcel Mauss: Une catégorie de l’esprit humain. La notion de personne, celle de „moi“. Journal of the Royal Anthropological Institute 68 (1938) S. 263–281 (Huxley Memorial Lecture) (deutsche Übers.: Eine Kategorie des menschlichen Geistes. Der Begriff der Person und des „Ich“. In: Ders.: Soziologie und Anthropologie Band. 2: Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellung, Körpertechniken, Begriff der Person. Frankfurt a. M. u. a. 1978 (Anthropologie), S. 223–252; englische Übers.: A Category of the Human Mind. The Notion of Person; the Notion of Self. In: The Category of the Person. Anthropology, Philosophy, History. Hgg. von Michael Carrithers u. a. Cambridge 1985, S. 1–25; nochmals in: Identity: A Reader. Hgg. von Paul du Gay u. a. London u. a. 2000, S. 325–345). Personkonzepte in der Dichotomie von egozentrisch und soziozentrisch diskutieren Richard A. Shweder und Edmund J. Bourne: Does the Concept of the Person Vary Cross-Culturally? In: Culture Theory. Essays on Mind, Self and Emotion. Hgg. von Richard A. Shweder und Robert A. LeVine. Cambridge 1984, S. 158–199, ohne allerdings das binäre Denken als solches in Frage zu stellen und ohne Schicht und Geschlecht systematisch zu berücksichtigen. Die impliziten Geschlechterannahmen des egozentrischen Individuumskonzeptes wurden in der Kohlberg-Gilligan-Debatte der 1980er Jahre diskutiert; vgl. Carol Gilligan: In a Different Voice. Psychological Theory and Women’s Development. Cambridge, Mass. 1982 (deutsche Übers.: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau. München/Zürich 1984); vgl. neuerdings Janet Carsten: After Kinship. Cambridge u. a. 2004 (New Departures in Anthropology), bes. Kap. 4: „The Person“, S. 83–108.



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die theoretischen Werkzeuge deshalb mindestens drei Aspekte enthalten: Erstens, im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu Gruppen ist ‚Person‘ als eine partizipative Kategorie zu sehen; zweitens, im Hinblick auf soziale Beziehungen geht es bei ‚Person‘ um eine Beziehungskategorie; und drittens ist ‚Person‘ mit Blick auf Praktiken eine performative Kategorie (‚doing person‘).7 Ein Personverständnis, das einseitig auf das Bewusstsein und auf Selbstreflexivität orientiert ist, würde sich nur auf einen kleinen Ausschnitt konzentrieren und ist deshalb als analytisches Konzept zur Untersuchung historischer Phänomene zu eng gefasst. Solche Überlegungen haben sich ursprünglich aus der Autobiographie- und Selbstzeugnisforschung ergeben, dann aber als relevant für Gesellschaften grundsätzlich erwiesen: Wie Personen sich verstehen, wie sie selbst danach handeln und andere verstehen und behandeln, das geht in seiner Bedeutung weit über Selbstzeugnisse hinaus. Selbstzeugnisse sind, von der Frage nach Personkonzepten her gesehen, nur eine mögliche Quellensorte, aber sicher eine besonders ergiebige. Wenn in der Selbstzeugnisforschung solche und andere Fragen nach der Person gestellt werden, dann ist das Ziel dieses Unternehmens, offenere Kategorien zu verwenden, die auch das Potential haben, auf verschiedene Kulturen, Epochen und Textsorten anwendbar zu sein und diese wechselseitig zu erhellen. Konsens besteht darüber, dass Personkonzepte stets in Verbindung mit sozialen Kategorien wie Stand, Schicht, Geschlecht und Religion konstruiert sind.8 In historischen (und auch ethnologischen) Arbeiten hat sich ‚Person‘ grundsätzlich als ein historisch und kulturell wandelbares, noch weitgehend unerforschtes Gebiet gezeigt, das für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit etwa von Charles Taylor mit einer unbekannten Sprache verglichen worden ist.9 Als Konsequenz aus solchen Befunden muss ‚Person‘ als eine grundlegende Kategorie angesehen werden, die sowohl mit den sozialen Grundeinheiten einer Gesellschaft als auch mit einer reichen historischen und kulturellen Vielfalt befasst ist. Ähnlich wie Marcel Mauss es formuliert hat, würde es 7 Zu einem ‚performative self‘ siehe auch Martin: Myths (wie Anm. 5), S. 35–37, der dies als bewusste, theatralische Inszenierung begreift; Gabriele Jancke: Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Köln u. a. 2002 (Selbstzeugnisse der Neuzeit. Band 10); Jancke und Ulbrich: Individuum (wie Anm. 2); vgl. auch Gabriele Jancke: Patronagebeziehungen in autobiographischen Schriften des 16. Jahrhunderts – Individualisierungsweisen? In: Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive. Hg. von Kaspar von Greyerz unter Mitarb. von Elisabeth Müller-Luckner. München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Band 68), S. 13–31. Zu ‚doing person‘ siehe Dies.: „Individuality“, Relationships, Words about Oneself: Autobiographical Writing as a Resource (15th/16th Centuries) – Konrad Pellikan’s Autobiography. In: Forms of Individuality in the Medieval and Early Modern Period. Hg. von Franz-Josef Arlinghaus. Turnhout 2015 (Utrecht Studies in Medieval Literacy 31), S. 151‒175. 8 Claudia Ulbrich: Person and Gender: The Memoirs of the Countess of Schwerin. German History 28, 3 (2010) S. 296–309. 9 Charles Taylor: The Person. In: The Category. Hgg. von Carrithers u. a. (wie Anm. 6), S. 257–281, hier S. 269f.; ausführlich dazu siehe Jancke: „Individuality“ (wie Anm. 7).

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zu kurz greifen, sie als kulturell, historisch und sozial invariable Größe anzusehen, die überall und immer und für alle das Gleiche meinen kann.10 Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass der Terminus der ‚personalen Identität‘ im Feld der Personkonzepte angesiedelt ist. Dabei handelt es sich allerdings bereits um eine spezifische Antwort. Sie postuliert einige Merkmale wie die Stabilität von Person, einen Schwerpunkt des Personkonzepts im Bewusstsein sowie eine Selbstreflexivität der Person, bevor nach Personkonzepten wirklich explizit gefragt worden ist. Will man aber diese Frage nicht von vornherein im Sinne einer essentialisierenden, entzeitlichten Vorannahme stellen, bei der sich ‚Person‘ grundsätzlich im Sinne einer überzeitlich gültigen Anthropologie (1) durch Stabilität, Kontinuität, einen festen Kern und feste Grenzen auszeichnet, ferner (2) durch einen Vorrang des Bewusstseins vor Praktiken sowie (3) von Selbstreflexivität vor Partizipation, dann sind alle diese Bestimmungsmomente zwar möglich, aber nicht selbstverständlich. Damit werden aber Stabilität und Kontinuität, Bewusstsein und Selbstreflexivität zu wichtigen Fragen in der Selbstzeugnisforschung, die es auch mit den Ergebnissen der allgemeinen historischen Forschung zu verknüpfen gilt. Mit dem Begriff ‚personale Identität‘ ist man also sofort in der historischen Wirklichkeit, die es auch in Hinsicht auf eine solche fundamentale Kategorie wie ‚Person‘ eigens zu untersuchen gilt. Für einen historisch-anthropologischen Zugang, wie er hier gewählt wird, spielen zum einen die Konzepte historischer AkteurInnen eine Rolle, wie sie sich in Selbstzeugnissen und anderen Quellen niedergeschlagen haben. Zum anderen stellt sich im Zusammenhang mit personaler Identität auch allgemein die Frage danach, wie Stabilität, Kontinuität und Sicherheit in einer unsicheren Welt für die historischen AkteurInnen zu erreichen waren und was dafür von ihnen als ausschlaggebend betrachtet wurde. Für historische AkteurInnen waren noch die ganze Frühe Neuzeit hindurch Kontinuitäten und Verstetigungen stets gefährdet. Aus ihrer Sicht stellten sie, worauf unter anderem Giovanni Levi oder Margareth Lanzinger hingewiesen haben, kulturelle Leistungen dar, die sie aktiv und unter beträchtlichem Aufwand durch gezieltes Handeln eigens herstellen und mit gezielten, kontinuierlichen Bemühungen aufrechterhalten mussten.11 Für spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Selbstzeugnisse hat die bisherige historische Forschung ein an Gruppenkulturen, an sozialen Beziehungen und an Praktiken orientiertes Konzept im Sinne eines ‚doing person‘ herausgearbeitet, das ebenfalls eine Stabilität nicht als selbstverständliche Gegebenheit behandelt.

10 Mauss: Une catégorie (wie Anm. 6). 11 Giovanni Levi: Das immaterielle Erbe. Eine bäuerliche Welt an der Schwelle der Moderne. Berlin 1986 (zuerst italienisch: L’eredità immateriale. Carriera di un esorcista nel Piemonte del Seicento. Turin 1985), S. 106; Margareth Lanzinger: „Der Bittsteller hat vorerst einen Hausbesitz nachzuweisen...“. Heirat in lokalen und familiären Kontexten. Innichen 1700–1900. Projektbericht. In: Regionale Ökonomien. Hgg. von Andrea Bonoldi und Wolfgang Meixner. Innsbruck u. a. 2001 (Geschichte und Region/Storia e regione. Band 10, 1), S. 85–107, hier S. 87.



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Stabile Grenzen wiederum nahm man, wie Natalie Zemon Davis an frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen gezeigt hat, eher für soziale Zusammenhänge wie die Familie denn lediglich für einzelne Personen an.12 ‚Person‘ war dann nur bedingt eine für sich bestehende, in sich abgegrenzte soziale Basiseinheit, die ohne ihre sozialen Einbindungen konzipiert und als Individuum unmittelbar neben andere Einheiten dieser Art platziert worden wäre. Solche an separaten Individuen orientierten Personkonzepte sind erst seit dem 18. Jahrhundert und in einigen europäischen Regionen entwickelt und zu einer kulturellen Dominanz gebracht worden. Mittlerweile ist sehr deutlich geworden, dass ihre zeitliche und räumliche Partikularität eine Kontextualisierung dringend erforderlich macht und zugleich gegen eine unbesehene Generalisierung spricht. Im Licht dieser Forschungen wäre es wenig einleuchtend, ‚Person‘ durch ein bestimmtes Vorverständnis von ‚personaler Identität‘ in scheinbarer Selbstverständlichkeit nun doch wieder als stabilitätsgarantierende Kategorie einzuführen, zumal nachdem sich auch andere Größen wie soziale Gruppen, Raum, Hierarchie und auch Zeit13 längst als beweglich, performativ oder als in mühsamer Anstrengung erzeugt erwiesen haben. Nach denjenigen Größen, die in historischen Handlungskontexten von den AkteurInnen als maßgeblich für Stabilität, Kontinuität, Sicherheit oder Vergewisserung angesehen wurden, muss dann eigens gefragt werden. Ob und unter welchen Voraussetzungen und in welchen Kontexten in Selbstzeugnissen die eigene Person als eine feste, Stabilität in Form von personaler Identität garantierende Größe behandelt wird, ist also eine offene Frage. Diese Überlegungen gelten unabhängig davon, ob unter personaler Identität (a) eine außertextliche Tatsache in Bezug auf die reale materiell-physische Person, (b) etwas durch autobiographisches Schreiben performativ Verfestigtes und vielleicht auch erst Hergestelltes oder aber (c) eine im Text als feste Größe auf der Ebene der autobiographischen Person konstruierte Kategorie, über deren außertextliche Relevanz sich keine genauen Aussagen treffen lassen, verstanden werden soll. Wenn ‚Person‘ sowohl in historischer als auch in transkultureller Hinsicht als eine offene analytische Kategorie konzipiert wird, dann stellt dafür eine selbstreferentielle Bestimmung und Stabilisierung durch ‚personale Identität‘ nur eine von vielen Möglichkeiten dar. Für spätmittelalterliche und frühneuzeitliche autobiographische Schriften ist sie als eine eher problematische Kategorie einzuschätzen, insofern sie an den tatsächlich sichtbar werdenden Personkonzepten mit ihren partizipativen, relationalen und performativen Aspekten vorbei geht.

12 Davis: Boundaries (wie Anm. 5), S. 53 (deutsche Übers.: Bindung und Freiheit, S. 7). 13 Zu Zeit vgl. u. a. Norbert Elias: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Hg. von Michael Schröter. Frankfurt a. M. 1988 (zuerst 1984); Johannes Fabian: Time and the Other. How Anthropology Makes its Object. With a New Foreword by Matti Bunzl. New York 2002 (zuerst 1983); Achim Landwehr: Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘. Historische Zeitschrift 295 (2012) S. 1–34.

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Angesichts der grundlegenden Bedeutung eines performativen Personverständnisses im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit setzen methodische Überlegungen für das Folgende ganz allgemein bei einem an Praktiken orientierten Zugang an. Die verwendeten Begriffe müssen mit entsprechenden Theoriekonzepten reflektiert sein, wie dies für ‚Kultur‘, ‚Geschlecht‘ und ‚Raum‘ bereits vielfach getan wird. Dabei kann auf ein mittlerweile reiches Theorieangebot der Kulturwissenschaften zurückgegriffen werden, die sich in den letzten Jahrzehnten intensiv mit einer an Praktiken orientierten, performativen Reformulierung gesellschaftsanalytischer Schlüsselbegriffe befasst haben.14

2 Selbstzeugnisse als Schriften der Sozialität – die sozialen und zeitlichen Dimensionen der autobiographischen Person Was die Quellengruppe der Selbstzeugnisse mit ihren vielfältigen Textsorten verbindet, ist das ‚Selbst‘ oder die Person, die hier aus ihrer eigenen Sicht über sich schreibt. Lange Zeit hat man Selbstzeugnisse als Quellen für Individualität gelesen und für alles, was damit assoziiert wird: Privatheit, Innerlichkeit, Selbstreflexion, Entfaltung des eigenen Ich in einer kontinuierlichen Entwicklungsgeschichte.15 Damit gehen

14 Vgl. etwa zu Kultur: Gadi Algazi: Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires. In: Normale Arbeitstage. Hgg. von Christa Hämmerle u. a. Wien u. a. 2000 (L’Homme Z.F.G. Band 11, 1), S. 105–119. Geschlecht: Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York 1990; Dies.: Bodies that Matter. On the Discursive Limits of „Sex“. New York/London 1993; Andrea Griesebner und Christina Lutter: Geschlecht und Kultur. Ein Definitionsversuch zweier umstrittener Kategorien. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde, Sondernummer 2000: Geschlecht und Kultur. Hgg. von Andrea Griesebner und Christina Lutter, S. 58–64. Raum: Doris Bachmann-Medick: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006, Kap. 6: „Spatial turn“, S. 284–328; Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001; The Anthropology of Space and Place. Locating Culture. Hgg. von Setha M. Low und Denise Lawrence-Zúñiga. Malden, MA u. a. 2003 (Blackwell Readers in Anthropology. Band 4). 15 Die Ausführungen dieses Abschnittes bieten eine Zusammenfassung aus folgenden Arbeiten: Jancke und Ulbrich: Individuum (wie Anm. 2); Gabriele Jancke: Autobiographische Texte – Handlungen in einem Beziehungsnetz. Überlegungen zu Gattungsfragen und Machtaspekten im deutschen Sprachraum von 1400 bis 1620. In: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Hg. von Winfried Schulze. Berlin 1996 (Selbstzeugnisse der Neuzeit. Band 2), S. 73–106; Dies.: Patronagebeziehungen (wie Anm. 7); Dies.: Jüdische Selbstzeugnisse und Egodokumente der Frühen Neuzeit in Aschkenas. Eine Einleitung. In: Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente frühneuzeitlicher Juden in Aschkenas – Beispiele, Methoden und Konzepte. Hgg. von Birgit Klein und Rotraud Ries. Berlin 2011 (minima Judaica. Band 6), S. 9–26; Hartmann und Jancke: Roupens „Erinnerungen“ (wie Anm. 2).



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Vorannahmen einher, die sowohl die räumliche16 als auch die zeitliche Strukturierung der Person betreffen. Autobiographische Texte sind jedoch nicht nur auf ein ‚Selbst‘, sondern auch auf Gemeinschaft und Zugehörigkeit bezogen. Dieses zentrale Ergebnis der neueren Selbstzeugnisforschung bedeutet, dass die Frage nach dem ‚Selbst‘, dem Individuum oder der Person nicht von Zugehörigkeit und Gruppenkulturen getrennt werden kann: Beides gehört zusammen, jedenfalls für die VerfasserInnen spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Selbstzeugnisse. Die Bedeutung der Selbstzeugnisse liegt also keineswegs in einer Geschichte der Individualisierung, sondern in einer Geschichte der Sozialität, in deren Rahmen die möglichen sozialen Räume für Individuen bereitgestellt oder verweigert, gestaltet und eingebunden werden. Diese Quellengruppe eröffnet einen Zugang zu den konkreten Ausprägungen von Sozialität in verschiedenen Gesellschaften und Gruppen. Dabei spielen soziale Beziehungen und Netzwerke in der Selbstdarstellung eine prominente Rolle. Dementsprechend betrifft die in Selbstzeugnissen anzutreffende Zeitlichkeit die Person in ihrer sozialen Vernetzung. Der spezielle Beitrag autobiographischer Schriften zur Sozialität besteht darin, immer den Blickwinkel einer bestimmten Person zu liefern und die dargestellten Phänomene in ein spezifisches Nah- oder Fernverhältnis zur eigenen Person zu setzen. Die VerfasserInnen entwickeln ihre Perspektive auf sich selbst und ihre Verhältnisse von ihrem jeweiligen sozialen Kontext und ihrer sozialen Position aus und zugleich in einer konkreten Kommunikationssituation. Das bedeutet, dass autobiographische Texte keine bloße Widerspiegelung von Strukturen im Sinne von ‚Typen‘ oder Repräsentativität bieten, aber auch keineswegs eine bloße, losgelöste und singuläre Individualität. Das Individuum autobiographischer Schriften ist nie direkt und unmittelbar, sondern immer nur als Teil von sozialen Strukturen, geregelten Verhaltensweisen, Schreibmustern und Kommunikationssituationen zugänglich. Die Person, die sich in einem autobiographischen Text selbst darstellt, macht sich also nicht nur durch die Inhalte der Erzählung sichtbar, sondern gleichzeitig durch ihr kommunikatives Handeln in der Schreibsituation und durch die Gestaltung ihrer Selbstbeschreibung. Die erzählte Person liegt auf einer anderen zeitlichen Ebene als die schreibende und kommunikativ handelnde Person. Direkt in ihrem Handeln zu beobachten ist die schreibende Person in der Gegenwart ihrer Schreibsituation, während die von ihr dargestellte Person der Vergangenheit angehört und nicht mehr direkt wahrgenommen werden kann. Dieser vergangene Teil der Person erscheint im Text nur vermittelt und gefiltert durch die gegenwärtige schreibende Person und ihre aktuellen Befindlichkeiten, Interessen und Möglichkeiten. Der methodische Zugang über die Schreibsituation hat politisch-gesellschaftliche Implikationen, da als Untersuchungseinheit nicht ein scheinbar in sich ruhendes, auf sich selbst bezogenes Individuum gewählt wird, sondern eine in die Machtverhält16 Vgl. dazu Andreas Bähr u. a.: Räume des Selbst. Eine Einleitung. In: Räume des Selbst. Hgg. von Bähr u. a. (wie Anm. 3), S. 1–12.

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nisse ihrer Zeit und Gesellschaft eingebundene Person. Diese wird in ihrem Handeln situativ und kontextuell als eine performative Größe sichtbar und kann so Aufschlüsse über die Person- und Gesellschaftskonzepte geben, mit denen sie dabei operiert. Nicht nur inhaltlich, sondern auch auf der Ebene der Kommunikationssituation wird die autobiographische Person in erster Linie durch ihre Praktiken sichtbar. Damit ist autobiographisches Schreiben als Teil ganz verschiedener Praktiken zu bestimmen, in die die AutorInnen jeweils involviert waren. Schreib- und Autorschaftsverhalten ist dann speziell im Rahmen von Praktiken des Wortes und der Kommunikation zu verorten. Für die Konstruktion von Vergangenheit in Selbstzeugnissen macht es einen Unterschied, welche autobiographische Textsorte von den VerfasserInnen gewählt wird, um die eigene Person ganz oder in Ausschnitten darzustellen. So sind Autobiographien oder auch knappe Lebensläufe im Rückblick geschrieben und können damit Einblicke in die möglicherweise völlig anderen Lebensweisen früherer Lebensphasen oder auch eine noch weit vor die eigene Lebenszeit zurückreichende Vorgeschichte geben. Tagebücher verfolgen, auch wenn sie erst viele Jahre später zusammengestellt und redigiert wurden, ein Geschehen von Tag zu Tag und legen Wert auf die alltäglichen Details. Briefe bieten offene Formen für alle möglichen Verarbeitungen autobiographischer Stoffe zu Erzählungen an unterschiedliche EmpfängerInnen und in unterschiedlichen Kommunikationssituationen, wobei die Beziehung zum jeweiligen Adressaten oder der Adressatin einen maßgeblichen Anteil an Auswahl und Gestaltung der Inhalte zu spezifischen Botschaften hat; die dafür ausgewählten Vergangenheitsaspekte sind bei Briefen in höchstem Maße variabel. Die in Selbstzeugnissen präsentierte eigene Person liegt gegenüber dem Schreibzeitpunkt immer in der Vergangenheit. Die beschriebene Person wird von der schreibenden Person konstruiert und als deren Vergangenheit präsentiert. Von der Gegenwart ausgehend und für die gegenwärtigen Anliegen der schreibenden Person wird auch ihre Vergangenheit in eine schriftliche Form gefasst. Sichtbar wird durch diesen autobiographischen Schreibprozess also nicht einfach alles, was eine reale Person über sich selbst erinnert oder was sie in schriftlichen Dokumenten noch vorliegen hat. Aus dem für die Schreibenden gegenwärtig zugänglichen Vergangenheits-Fundus geht nur das in ein Selbstzeugnis ein, was von den VerfasserInnen zum Aufschreiben für geeignet befunden, im Rahmen der gewählten Textsorte passend erscheint und für den betreffenden Text gemäß den jeweils verfolgten Absichten ausgewählt wird. Die in Selbstzeugnissen fassbar werdende, aus Worten hergestellte autobiographische Person – die von der realen in ihrer außertextlichen Wirklichkeit zu unterscheiden ist – hat also in sich diachrone ebenso wie synchrone Aspekte, die beide durch die Autorinnen oder Autoren von einer selbst gestalteten Kommunikationssituation aus für diesen eigens hergestellten Kontext organisiert und in differenzierten Formen entfaltet werden. Ganz gleich, wie nah die erfassten zeitlichen Dimensionen dem Schreibzeitpunkt sind oder wie fern sie sich davor in die Vergangenheit erstrecken, die Vergangenheits-



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konstruktionen autobiographischer Texte werden zunächst an der Beschreibung der eigenen Person und ihrer jeweiligen zeitlichen Dimensionen deutlich. Das Thema Gastfreundschaft bietet einen guten Zugang, um die Sozialität als Vergangenheitskonstruktion der in Selbstzeugnissen dargestellten Personen zu erfassen und die damit verbundenen Gruppenbildungsprozesse und sozialen Praktiken näher zu untersuchen.

3 Vergangenheitskonstruktionen I: Zugehörigkeit – Gastfreundschaft und die Worte der Gelehrten in einem Feld von Praktiken man leistet uns gu(o)te Geselschaft, wir leisteten inen gu(o)te geselschaft – Sätze wie diese ziehen sich wie ein roter Faden durch die Autobiographie Felix Platters im 16. Jahrhundert. Felix Platter (1536–1614), Sohn Thomas Platters (1499–1582), schrieb dies ab 1609 in seinen letzten Lebensjahren in seiner Autobiographie. Für wen er schrieb und mit welchen Absichten, sagt er nicht ausdrücklich. Aber er hatte bereits lange Jahre mit regelmäßigen Tagebuchaufzeichnungen und auch Briefabschriften einen Fundus an Material angesammelt, den er dann in einem zusammenhängenden Text verarbeitete. Wie sein Vater und die meisten anderen, die in der Frühen Neuzeit autobiographische Texte verfassten, hatte er vermutlich an ein Publikum in der nächsten Generation seiner Familie gedacht. Dort wurde diese Autobiographie auch überliefert, und man fertigte mehrere Abschriften an.17 Auch wenn sein Text wie ein Tagebuch gestaltet ist, stellte er diese zur Überlieferung vorgesehene Version erst im Alter her. Das Dargestellte erscheint zeitnah, ist aber tatsächlich wie viele andere tagebuchähnliche Selbstzeugnisse bereits biographische Vergangenheit. Der tagebuchartige Text bietet eine spezifische Konstruktion der eigenen Vergangenheit, die aus einer zeitlichen Distanz von mehreren Jahrzehnten heraus vorgenommen wurde. Die gastliche Geselligkeit war demnach für Felix Platter ein Lebensmittelpunkt: Ich fieng glich die erste nacht an, gest han, herr Wernhar Wölflin, herr Ru(o)dolf Schenck etc., wie auch hernoch, wan ich von außreisen heim kam.18 Dies notiert Platter für den Abend, nachdem er mit seiner Frau bei seinen Eltern ausgezogen war und einen eigenen Haushalt begründet hatte – für eine Zeit, zu der seine Hochzeit bereits drei Jahre zurück lag. Platter bezieht sich hier nicht auf seine Studentenzeit und auch nicht auf den Zeitpunkt der Eheschließung. Die Gründung eines eigenen Haushaltes war der Punkt, von dem an er seine eigenen Gäste einladen und damit seine eigenen 17 Felix Platter: Tagebuch (Lebensbeschreibung) 1536–1567. Hg. von Valentin Lötscher. Basel/ Stuttgart 1976 (Basler Chroniken. Band 10), S. 49–533, hier S. 127f. 18 Platter: Tagebuch (wie Anm. 17), S. 369.

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Formen von Geselligkeit betreiben konnte. Erst nachdem das junge Paar nicht mehr unter dem Dach seiner Eltern wohnen musste und sich mit dem eigenen Budget auch eigene Räumlichkeiten leisten konnte, das heißt frei war, die eigene Arbeitskraft auch für die eigene Tasche einsetzen zu können, fing für ihn das eigene Leben richtig an. In diesem deutschsprachigen Text spielt Gastfreundschaft für die biographische Vergangenheitskonstruktion eine große Rolle. Felix Platter war Arzt, später auch Stadtarzt in Basel und Professor an der Universität. Er war ein lebenslustiger Mensch, und dies nicht nur als Student, sondern ebenso als etablierter, erwachsener Mann, wie diese zitierten Sätze bezeugen. Es ist in seiner Autobiographie so viel von Musik und Tanz und von Kleidung die Rede, dass man diesem speziellen Autor die Freude an gastlicher Geselligkeit auch ohne weiteres abnimmt. Aber dies gilt ja erst einmal nur für diese eine Person und diesen einen Text. Man muss also noch ein paar Fragen stellen, damit es Antworten geben kann. Was genau lässt sich hier über Praktiken und Rituale der Zugehörigkeit erkennen? Was davon geht über diesen einen Text und diese eine Person hinaus, lässt sich auch genereller von Gelehrten und ihren Selbstzeugnissen in der Frühen Neuzeit sagen? Wie sind diese Schriften mit Gruppenbildungsprozessen in Verbindung zu bringen? Welche Vergangenheitskonstruktionen werden mit der eigenen Person vorgenommen? Welche Person- und Gesellschaftskonzepte zeigen sich dabei? Will man Felix Platters Autobiographie auf gastliche Praktiken und Rituale der Zugehörigkeit hin lesen, dann ist dies nur vor dem Hintergrund anderer Quellen möglich. Erst wenn sich auf dieser Grundlage Schreib- und Handlungsmuster abzeichnen, lässt sich identifizieren, was im Rahmen der Gelehrtenkultur üblich war, was die Gelehrtenkultur vielleicht mit der Gesamtgesellschaft teilte und was andererseits für die Person Felix Platters und seinen speziellen Text etwas Besonderes war. Bei einer solchen Lektüre von Selbstzeugnissen ergibt sich, dass Felix Platter mit seiner Liebe zur Geselligkeit und zu ihrer selbstbestimmten Realisierung in gastlichen Situationen im eigenen Haushalt keineswegs allein war.19 Ähnliche Sätze und Beschreibungen finden sich bei vielen anderen Gelehrten – von Erasmus von Rotterdam (1466/1469–1536) über Konrad Pellikan (1478–1556) und Abraham Scultetus (1566–1624) im 16. Jahrhundert, beispielsweise, bis hin ins 18. Jahrhundert. Nicht 19 Vgl. ausführlicher Gabriele Jancke: Ritualisierte Verhaltensweisen in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur – Bettgeschichten. In: Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit. Hgg. von Alf Lüdtke und Reiner Prass. Köln u. a. 2008 (Selbstzeugnisse der Neuzeit. Band 18), S. 235–246; Dies.: Gelehrtenkultur – Orte und Praktiken am Beispiel der Gastfreundschaft. Eine Fallstudie zu Abraham Scultetus (1566–1624). In: Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa. Hgg. von Barbara Krug-Richter und Ruth-E. Mohrmann. Köln u. a. 2009 (Archiv für Kulturgeschichte. Beiheft 65), S. 285–312; Dies.: „Man leistet uns gu(o)te geselschaft“. Gastlichkeit und Geselligkeit in der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. In: Gastlichkeit und Geselligkeit im akademischen Milieu in der Frühen Neuzeit. Hgg. von Kirsten Bernhardt u. a. Münster 2013, S. 153‒174. Quellennachweise werden in diesem Abschnitt nur gegeben, sofern sie über das in diesen Aufsätzen verwendete Material hinausgehen.



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nur war die frühneuzeitliche Gelehrtenkultur offenbar eine, in der Gastfreundschaft und Geselligkeit einen hohen Stellenwert besaßen, sondern in der auch eine entsprechende Selbstdarstellung für sinnvoll gehalten wurde. Ebenso wichtig war es offenbar für die Selbstdarstellung, sich auf die Gastlichkeiten unter Gelehrten zu konzentrieren oder auch ganz zu beschränken, während die genauso üblichen Besuche in der Nachbarschaft oder Verwandtschaft in den Selbstzeugnissen der Gelehrten kaum erkennbar werden. Sind sie überhaupt erwähnt, so wurden sie oft der Ehefrau zugeschrieben als ihr spezieller Bereich von Sozialität und gastlichen Kontakten, wie etwa bei dem Züricher Hebraisten und Professor für Altes Testament Konrad Pellikan. Dass hier alltägliche ritualisierte Praktiken im Rahmen einer Zugehörigkeit zu anderen Gruppenkulturen als der der Gelehrten vorlagen, lässt sich aus solchen spärlichen Äußerungen zwar erschließen, wird aber nicht weiter ausgeführt – den Beteiligten mussten die Handlungsmuster nicht eigens erklärt werden. Solche Fragmente lassen ein implizites Wissen der AkteurInnen erkennen, das als ein informelles soziales Ethos in alltäglichen Handlungszusammenhängen funktionierte und für seine Wirksamkeit der Verschriftlichung nicht bedurfte. Nicht immer fand die Gastlichkeit, so wie bei Felix Platter beschrieben, auf eine ausdrückliche Einladung des Gastgebers hin statt. Häufig waren vielmehr auch zwei andere Typen von gastlichen Situationen: Zum einen unangekündigte Besuche, bei denen man etwa einen berühmten Gelehrten aufsuchte, um mit ihm zu sprechen; und zum anderen längere Aufenthalte im Haushalt eines Gelehrten als dessen Kostgänger und Tischgenosse. In beiden Fällen ging es vor allem um die gelehrten Ressourcen, die in Form von mündlicher Kommunikation um einen gastlichen Tisch herum sowohl von Schülern und Studenten als auch von erwachsenen und etablierten Gelehrten gesucht wurden. Für beides hat auch Felix Platter etliche Beispiele in seinen Text mit aufgenommen. So beschreibt er etwa einen Gelehrtenbesuch, den er in Arles bei François Valleriola (1504–1580) machte, während er mit einer Gruppe anderer deutscher Studenten von Montpellier aus, wo er studierte, eine Reise nach Marseilles unternahm: Zu(o) Arles bliben wir den 17 septembris; wir giengen in doctoris Francisci Valeriolae haus, der bewis uns vil frindtschaft, zeigt uns sein libery, dorunder seine scripta, ettlich merfisch gedört, dorunder ein orbis marinus, schreib unsere namen auf, vermant uns im oft zeschreiben, entbot sich alles gu(o)ts, fu(o)rt uns in der statt herumb, zeigt uns vil antiquitates, darunder seulen, welche gar groß, so von steinen gossen sindt, welche kunst, Valeriola sagt, kente er auch.20

In dieser Darstellung finden sich eine Reihe von ritualisierten Elementen, die in solchen Gelehrtenbesuchen eine Rolle spielen konnten: (1) das Erweisen von Freundschaft, was für die noch jungen und unbekannten Studenten eine Ehre war; (2) das Vorzeigen der gelehrten Schätze, über die man verfügte – hier entsprechend der eher naturkundlichen Ausrichtung der Mediziner vor allem in Form von Sammlungsge20 Platter: Tagebuch (wie Anm. 17), S. 224f.

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genständen, in anderen Fällen auch in Form von gelehrten Reden in lateinischer oder griechischer Sprache oder durch Vorzeigen eigener gelehrter Schriften; (3) das Aufschreiben der Namen der Besucher in ein offenbar bereit liegendes Gästebuch – etwas, was offenbar üblich war, so dass über viele Jahre hinweg Besucher nicht nur notiert wurden, sondern auch im Nachhinein in rückblickenden Selbstdarstellungen minutiös aufgeführt werden konnten; (4) der Eintritt in eine Korrespondenzbeziehung, durch die die anfangs erwähnte Freundschaft auch mit konkreten Praktiken tatsächlich betrieben werden konnte; (5) das Angebot zum Erweisen weiterer Wohltaten, das eben darin seinen Wert hatte, dass es nicht weiter spezifiziert wurde, also inhaltlich offen blieb; (6) das Herumführen in der Stadt und Zeigen von Sehenswürdigkeiten. Bei diesen Elementen handelte es sich um ein Repertoire, aus dem in großer Variabilität geschöpft werden konnte. Die Auswahl, Anzahl und Reihenfolge war sehr weitgehend für die Akteure verfügbar. Zur Ritualisierung gehörte aber auch oft eine Handlungskette, in der Handlungselemente durch ihre Abfolge und ihren Stellenwert ihre Bedeutung erhielten, was bei Felix Platter allerdings nicht sehr deutlich wird. Was hier fehlt, aber in anderen Texten erwähnt wird, ist zum Beispiel eine ritualisierte Steigerung der Gastlichkeit von einer ersten Stufe des Gesprächs über eine zweite mit Einladung zu einer Mahlzeit, eventuell noch ergänzt durch die zusätzliche Einladung weiterer Gäste, sodass der Gast durch deren Anwesenheit noch mehr geehrt wurde. Schließlich konnte drittens eine mögliche Einladung folgen, über Nacht zu bleiben und sich sogar unter Umständen für eine Zeitlang im Haushalt des Gastgebers aufzuhalten, damit dieser die Gesellschaft seines Besuchers noch länger genießen konnte, wie es etwa bei Erasmus oder bei Abraham Scultetus beschrieben wird. In einer solchen ritualisierten Handlungskette ging es um Ehre als eine auch in der Gelehrtenkultur besonders wichtige Ressource. Gastliche Situationen waren vielfältige und gestaltbare Umschlagplätze dafür. Wenn in diesem Zusammenhang von materiellen Ressourcen, wie Essen, Trinken oder Schlafplätzen, die Rede war, dann nicht als Selbstzweck, sondern um diese Ritualisierung der Zugehörigkeit und der besonders ehrenvollen Platzierungen deutlich zu machen. Von Seiten der Gäste konnte auch das Überbringen von Grüßen oder Briefen eine Rolle spielen und sogar, wie Erasmus sagt, als eine Art Eintrittskarte gelten, um überhaupt zu dem berühmten Gelehrten vorgelassen zu werden. Schließlich konnte man ein Stammbuch dabei haben, in dem sich bereits andere Gelehrte eingetragen hatten, was ebenfalls als Empfehlung bei weiteren besuchten Gelehrten dienen konnte – je mehr Namen und vielleicht ausführlichere Einträge ein solches album amicorum enthielt, um so kostbarer wurde es als eine Sammlung von wertvollen Kontakten, die einem wiederum selbst Ansehen verschafften. Dementsprechend konnte Erasmus auch eine solche Unterschrift mit seinem Namen verweigern, wenn er dem betreffenden Besucher nicht die Gelegenheit geben wollte, mit diesem Kapital weiter zu wuchern. Und dass er ein solches Wuchern im ganz materiellen Sinn verstand, erläuterte er an verschiedenen Beispielen, wo es seinen Besuchern gelungen sei, unter



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Berufung auf seine Freundschaft längere kostspielige Aufenthalte bei seinen Freunden und weitere materielle Güter herauszuschlagen, ja sogar beim Papst und sogar dann, wenn ein Besuch bei Erasmus tatsächlich niemals stattgefunden hatte. Die andere Art von verbreiteter Gastlichkeit unter Gelehrten war ein längerer Aufenthalt als Tischgänger, wofür man in aller Regel bezahlen musste. Die gastliche Gabe des gelehrten Haushaltsvorstandes bestand in diesem Falle nicht nur in Kost und Logis, sondern auch und vor allem in seinen Worten. Genau wie das Essen gehörten die Worte zu den ritualisierten Elementen, die die gastliche Tischgemeinschaft von Gelehrten erst zu dem machten, was an ihr besonders war: Die gelehrten Worte als eine Art geistiger Speise und, zweitens, der disziplinierte Umgang mit ihnen. Worte waren auf diese Art komplexe Objekte in ritualisierten Praktiken. Letzten Endes sollten die Worte in gastlichen Situationen nicht so sehr an ihren Inhalten gemessen werden, sondern an Verhaltensweisen und damit auch an ethischen Qualitäten. Zur Debatte standen damit in der gelehrten Gruppenkultur auch Fragen der Lebensweise und der Gemeinschaftsbildung. Dafür gab es eine gerade den Gelehrten sehr bewusste antike und mittelalterliche Tradition, mit der sie in diesem Zusammenhang auch bewusst hantierten.21 Dass etwa Konrad Pellikan eine solche Gelehrtenpension betrieb, in der seine Tischgänger mit Geld zu bezahlen hatten, nahm seinen Worten nichts von ihrem Charakter als das eigentliche, von seinen Gästen dort gesuchte Gut. Auch, um dies nebenbei zu bemerken, tat die Bezahlung mit Geld der Auffassung dieser Praktiken als eine Form von Gastfreundschaft keinen Abbruch. Im Rahmen frühneuzeitlicher gastlicher Praktiken hatte diese Form ihren selbstverständlichen Platz, so wie auch kommerzielle Gasthäuser ohne weiteres zu der von einer Gesamtgesellschaft bereitgestellten Gastlichkeit gezählt wurden. Geistliche beider Konfessionen konnten auf dieser Grundlage dann argumentieren, sie selbst müssten in ihren Haushalten keine Gastfreundschaft für Arme und Fremde anbieten, weil es in ihrer gegenwärtigen Gesellschaft ja auch die Gasthäuser gab. Gegenseitigkeit wurde in der frühneuzeitlichen Gastlichkeit insgesamt als das grundlegende Prinzip angesehen und ließ sich aus der Sicht der AkteurInnen am ehesten im Rahmen der Zugehörigkeit zu Gruppenkulturen praktizieren. Ob sich dabei unter den verhandelten Ressourcen auch Geld befand, spielte keine entscheidende Rolle – auch Geld wurde im Rahmen dieser Gabenkultur verwendet.22 Dies galt auch für die Gelehrten. Speziell war bei den Gelehrten, dass ihre gastlichen Praktiken so stark auf das Gespräch und verschiedenste Formen des Umgangs 21 Vgl. etwa Pierre Hadot: Exercices spirituels et philosophie antique. Paris 1981 (deutsche Übers. mit zum Teil veränderten Kapiteln unter dem Titel: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit. Frankfurt a. M. 2002). 22 Ausführlicher dazu Gabriele Jancke: Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft – Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten. Göttingen 2013 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 15).

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mit Worten fokussiert waren. Viele Notizen über gastliche Situationen beschränken sich denn auch auf die Mitteilung, wen man besucht, und möglicherweise noch, worüber man gesprochen habe. Ob es auch etwas zu essen oder zu trinken gab, war in den allermeisten Fällen nicht der Rede wert. Und diese Wortkargheit war ebenfalls eine ritualisierte Praxis, die den Wert von Worten und anderen Objekten zu markieren geeignet war. Felix Platter als Arzt, dem auch die materiellen Objekte von großer Wichtigkeit im Rahmen der Gelehrtenkultur waren, scheint eher eine naturkundliche Form von Gelehrsamkeit zu vertreten. Das betrifft jedoch nur die Tatsache, dass es dadurch bei ihm auch andere Inhalte und zusätzliche bedeutsame Gegenstände gab, zum Beispiel sezierte Körper. In Hinsicht auf die skizzierten Praktiken und Rituale der Zugehörigkeit teilte er die Orientierung auf Worte und Geselligkeit, die sich auch bei Vertretern anderer inhaltlicher Spezialisierungen findet. Zugehörigkeit wurde über Praktiken hergestellt und in Selbstzeugnissen genau unter diesem Gesichtspunkt beschrieben. In einem solchen Geflecht von relevanten und immer wieder neu herzustellenden oder zu aktualisierenden Zugehörigkeiten fand auch das ‚Machen‘ von Person durch ritualisierte Handlungen statt. Gastliche Situationen stellten dafür eine wichtige Plattform bereit, und eine gewisse Verbreitung und Dauerhaftigkeit des als relevant angesehenen Geschehens konnte man durch Kommunikation erreichen. Selbstzeugnisse waren dafür ein wichtiges Instrument. Durch die Untersuchung gastlicher Praktiken und ihrer Ritualisierungen von Zugehörigkeit lässt sich viel darüber erfahren, mit welchen sozialen, zeitlichen und normativen Kontexten Gelehrte ihre Wort-Praktiken im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit verbanden. Nicht selten wurde das über die eigene, vergangene Person Erzählte mit normativen Akzenten versehen, indem man entweder eine beschädigte Ehre wiederherzustellen oder vorbildliche Praktiken anzuempfehlen suchte. Die Konstruktion der eigenen Vergangenheit transportierte dann ein nützliches Wissen über gültige soziale Normen oder über die gewünschte Relevanz solcher Normen, meist wie bei Felix Platter an die nachkommenden Generationen gerichtet. Dieses facettenreiche Orientierungswissen wurde unter anderem in Selbstzeugnissen verarbeitet, um in längerer zeitlicher Dauer wirksam werden und bleiben zu können. Wenn das Thema der Gastlichkeit dabei zur Sprache kommt, dann geht es von vornherein um mehr als nur um faktische Mitteilung von Ereignissen, die stattgefunden hatten. Die Selbstzeugnisse gehören im Blick auf die darin beschriebenen, diskutierten und als nützliches Wissen überlieferten Praktiken in das weite Feld normativer Schriften mit ihren langen Traditionen seit der Antike mit hinein.23

23 Am Beispiel der Comtesse de Scheverin entfaltet bei Ulbrich: Person (wie Anm. 8), und am Beispiel von Konrad Pellikan diskutiert bei Jancke: „Individuality“ (wie Anm. 7); ferner Hartmann und Jancke: Roupens „Erinnerungen“ (wie Anm. 2), S. 50f.



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Autorschaft konnte die gelehrten Verfasser individuell von anderen einzelnen Autoren, aber gleichzeitig auch als soziale Gruppe von anderen Gruppen abheben. Bezogen auf die Gelehrtenkultur erwiesen Gelehrte in ritualisierten Praktiken des Wortes ihre Zugehörigkeit und versuchten sich innerhalb der sozialen Gruppe und auch nach außen hin dadurch einen bestimmten Status zu erwerben. Das performative Gelingen dieser sozialen Praktiken hing indes immer davon ab, dass andere den Sinn dieser Handlungen zu verstehen, zu akzeptieren und dann auch durch entsprechende Verhaltensweisen ihrerseits zu honorieren bereit waren. Ohne ein solches Umfeld mit seinem sozialen Wissen und seinen ritualisierten Handlungsrepertoires sowie der Orientierung an den zugehörigen Normen, Werten und Lebensweisen hätten solche Praktiken ins Leere laufen müssen. Um so einleuchtender erscheint es, dass gerade Gelehrte einen Sinn für die Verflechtung ihrer speziellen Wort-Praktiken mit sozialen Normen entwickelten und dass sie auf die zeitlichen Aspekte von deren Stabilisierung so viel Aufmerksamkeit verwendeten. Die Geschlechterdimensionen der Gelehrtenkultur steckten denn auch hauptsächlich in diesen sozialen Praktiken und den normativen sozialen Vorstellungen, die als implizites soziales Wissen in sie eingegraben waren. Wenn Gelehrtenkultur zu einem großen Teil als ritualisierte Verteilung von Ehre unter Männern praktiziert wurde, dann saßen die Ausschlussmechanismen nicht primär in der (Un-) Zugänglichkeit gelehrten Wissens, sondern dort, wo Worte als Objekte ritualisierter Verhaltensweisen behandelt wurden. Diese Exklusion wurde gegenüber Frauen ebenso wie gegenüber Handwerkern, bäuerlicher Landbevölkerung und anderen Männern eingesetzt, die qua Zugehörigkeit als nicht für die entsprechenden Ehrmechanismen qualifiziert angesehen wurden, und zwar unabhängig davon, ob sie über gelehrtes Wissen und gelehrte Kompetenzen verfügten oder nicht. So wie bei Felix Platters «Tagebuch» wurde die autobiographische Vergangenheitskonstruktion auch in anderen Selbstzeugnissen mit Blick auf gegenwärtige und zukünftige Kommunikationskontexte vorgenommen. Dabei besaßen die für die eigene Person beschriebenen Praktiken neben ihren sozialen und zeitlichen Aspekten auch normative Dimensionen: Regeln und Wertungen fand man schon vor, Regeln und Relevanzen wollte man auch weitergeben. Die beschriebenen Verhaltensweisen wurden in einem synchronen und diachronen sozialen Geflecht angesiedelt, das für seine Existenz und sein Funktionieren auf Kontinuitäten angewiesen war. Dieses soziale Geflecht war in seiner Stabilität stets prekär und für seine weitere Existenz auf die Mühe angewiesen, die die AkteurInnen in seine Aufrechterhaltung investierten. Die für sie relevanten Praktiken und ihre performative Ritualisierung waren ihrerseits in Lebensweisen eingebunden, die für bestimmte Gruppenkulturen charakteristisch waren und damit gleichzeitig auch Strukturen und Normen der frühneuzeitlichen Gesellschaft insgesamt reflektierten. Dazu gehörten auch die Praktiken des Wortes, wie sie beonders ausführlich und differenziert von Gelehrten in ihren Selbstzeugnissen entfaltet wurden. Auch das Schreiben, Gestalten, Platzieren und Überliefern von Selbstzeugnissen war für sie in diesem Zusammenhang angesiedelt.

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4 Vergangenheitskonstruktionen II: Zeithorizonte – Gebrauchsvergangenheit und Zukunftsorientierung Vergangenheitskonstruktionen werden in Selbstzeugnissen so angelegt, dass sie in irgendeiner Form an die eigene Person angebunden sind. In der kleinsten möglichen Variante betrifft die konstruierte Vergangenheit nur die eigene Person und ihre Lebenszeit oder zumindest Ausschnitte daraus, wie es am Beispiel gastlicher Praktiken von Gelehrten bereits vorgestellt wurde. In Selbstzeugnissen geht es zunächst um die Vergangenheit der eigenen Person, aber nur um bestimmte Teile und Aspekte davon. Dafür, welche Ausschnitte aus der Vergangenheit ausgewählt und welche thematischen Stränge wie weit zurück verfolgt werden, spielt auch die Textsorte eine Rolle, die sich jemand für das autobiographische Schreiben wählt. In einem Brief oder einer Vorrede für ein gelehrtes oder dichterisches Werk, in einem poetischen Text oder in einem Lehrdialog, in einem Rechnungsbuch oder einer Kostümautobiographie, in literarischen Werkkatalogen und biographischen Lexikonartikeln ist von vornherein die Ausschnitthaftigkeit vorgeprägt, oft mitsamt den inhaltlichen Schwerpunkten, die in einem solchen Rahmen von Bedeutung sind. Wie sich am Beispiel der Gastfreundschaft schon gezeigt hat, war die autobiographisch festgehaltene Vergangenheit der eigenen Person in aller Regel angefüllt mit vielen weiteren Personen, die zumindest mit Namen, oft aber auch mit detaillierteren Beschreibungen von Interaktionen und Beziehungen auftauchen. Die eigene Vergangenheit, die in Selbstzeugnissen konstruiert wurde, war in sozialen Bezügen angelegt. Fand jemand im Blick auf soziale Beziehungen einmal einen Mangel an sich zu verzeichnen wie der Byzantinist Hieronymus Wolf (1516–1580), so wurde dies Anlass zu Reflexionen über die Gründe dafür.24 Sozialität war offensichtlich eine implizit wirksame Norm nicht nur im realen Leben, sondern auch für die schriftliche Selbstdarstellung. Die Frage ist dann, welche sozialen Bezüge die VerfasserInnen für ihre Vergangenheitskonstruktionen wählten. Die Vielfalt der Möglichkeiten zeigt sich zunächst, wenn man die Sozialität zusammen mit den jeweils dargestellten PersonAusschnitten auf ihre Zeithorizonte25 hin befragt. Viele VerfasserInnen fingen nicht erst mit der eigenen Geburt an, sondern lieferten eine Vorgeschichte. Diese konzentriert sich dann häufig auf die familiäre Her-

24 Hieronymus Wolf: Die Autobiographie des Hieronymus Wolf (Hieronymus Wolf: Commentariolus de vita sua). Hg. von Helmut Zäh. Donauwörth 1998. 25 Der Begriff der ‚Zeithorizonte‘ wird hier in inhaltlich offenem Verständnis gebraucht, um u. a. auch die zeitlichen Vorstellungshorizonte von historischen AkteurInnen zu bezeichnen. Neben der Makroebene und einer Außenperspektive heutiger HistorikerInnen, wie sie bei Reinhart Koselleck und Niklas Luhmann mit diesem Terminus verbunden werden, schließe ich die Innenperspektive der Beteiligten und die Mikroebene ausdrücklich in den Begriff der ‚Zeithorizonte‘ mit ein.



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kunft: die Eltern, vielleicht noch die Großeltern. Manchmal wurde die Biographie des Vaters der eigenen vorangestellt, so dass sich eine Abfolge männlicher Personen ergab, so wie der Jurist Johannes Fichard (1512–1581) es in seiner Autobiographie tat.26 Etwas Ähnliches macht aber auch Konrad Pellikan (1478–1556), wenn er seiner eigenen Lebensgeschichte die Biographie seines Onkels Jodocus Gallus (um 1459–1517) voranstellt.27 Dann schreibt er diesem Geistlichen die Rolle seines eigenen Vorgängers und auch Vorbildes zu. Der Goldberger Lehrer und Ratsherr Zacharias Bart (1529–1612) wiederum bezieht die Biographien seines Lehrers Trotzendorf und die seines Rektors Martin Tabor, aber auch die seiner ersten Frau Anna Wiliana und die seiner Tochter Justina mit ein.28 In diesen Fällen geht es um die Errichtung einer Genealogie, die in aller Regel eine Verbindung unter Männern in einer diachronen Abfolge herstellt, aber nicht unbedingt auf der leiblichen Vaterschaft basieren muss. Für Gelehrte gab es viele Möglichkeiten, sich eine solche Tradition herzustellen, an die sie ihre eigene Person anbinden wollten. So findet sich zum Beispiel Augustinus als Traditionsstifter dort, wo man sich als Gelehrter über die eigenen gelehrten Werke und einen Werkkatalog definieren wollte, etwa bei dem Arzt und Universalgelehrten Conrad Gesner (1516–1565).29 Häufig strukturierten VerfasserInnen ihre Texte aber auch so, dass die eigene Lebensgeschichte die Vorgeschichte bildet für das Amt, das sie zum Schreibzeitpunkt innehatten, etwa als Bischof oder als Abt oder Äbtissin, wie bei Clara Staiger (1588– 1656).30 Solche auf ein Amt bezogenen Selbstzeugnisse widmen sich tagebuchartig den Amtsgeschäften, gelegentlich auch ohne eine vorangestellte Lebensgeschichte wie bei den Bischöfen Ulrich Putsch (evt. späte 1350er–1437) oder Peter Krafft (um 1470–1530).31 Manchmal hat die aufgeschriebene Lebensgeschichte auch den Sinn, den eigenen Weg zu einem solchen hohen Amt festzuhalten, wie bei Nicolaus Cusanus (1401–1464), Joseph Nas (1534–1590) oder Melchior Klesl (1552–1630), ohne dann

26 Johannes Fichard: Descriptio brevis cursus vitae meae Johannis Fichardi, J.U.D. et patris mei. Frankfurtisches Archiv für ältere deutsche Litteratur und Geschichte 2 (1812) S. 1–53, Text S. 3–53. 27 Konrad Pellikan: Das Chronikon des Konrad Pellikan. Zur vierten Säkularfeier der Universität Tübingen. Hg. von Bernhard Riggenbach. Basel 1877 (lateinisch); deutsche Übers.: Die Hauschronik Konrad Pellikans von Rufach. Ein Lebensbild aus der Reformationszeit. Deutsch von Theodor Vulpinus. Straßburg 1892. 28 Zacharias Bart: Aus dem Hausbuche des Goldberger Lehrers Zacharias Bart. 1529–1612. Familien- und Schulnachrichten. Hg. von Gustav Bauch. Progr. Breslau 1907, Text S. 4–31. 29 Conrad Gesner: Art. Conrad Gesner. In: Ders.: Bibliotheca universalis. Zürich 1545, S. 179v–183r. 30 Clara Staiger: Klara Staigers Tagebuch. Aufzeichnungen während des Dreißigjährigen Krieges im Kloster Mariastein bei Eichstätt. Hg. von Ortrun Fina. Regensburg 1981; dazu Gabriele Jancke: Clara Staiger – la priora. In: Barocco al femminile. Hg. von Giulia Calvi. Rom/Bari 1992, S. 97–126. 31 Ulrich II. Putsch: Victor Schaller: Ulrich II. Putsch, Bischof von Brixen, und sein Tagebuch. 1427–1437. Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg 3,36 (1892) S. 225–322, 568–572, Text S. 285–322; Hans Ulrich Krafft: Reisen und Gefangenschaft Hans Ulrich Kraffts. Hg. von K[onrad] D[ieterich] Hassler. Stuttgart 1861 (Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart. Band 61).

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aber noch dieses Amt mit darzustellen.32 Dann hat der Text die Funktion, die Vorgeschichte der aktuellen Lebenssituation mitzuteilen und eben auch darauf hin zu konstruieren. In den gerade genannten Fällen war die Kirchenhierarchie oder das Kloster die größere Gemeinschaft, in die sich die Schreibenden hineinstellten und innerhalb derer sie ihren Ort durch eine solche Vergangenheitskonstruktion bestimmten. Dies konnte dann auch so aussehen, dass man das eigene Leben in dem institutionellen Rahmen eines Klosters platzierte, aber vorrangig die ganze Geschichte dieser speziellen Institution erzählte – sei es wie bei Martin von Leibitz (1400–1464) in Form eines Lehrdialogs, sei es wie bei Johannes Trithemius (1462–1516) im Zusammenhang einer Klosterchronik, in der er dann als der aktuelle Abt auch seinen Platz fand.33 Größere Gemeinschaften konnten aber auch dann einen Platz in der autobiographischen Vergangenheitskonstruktion finden, wenn es sich um säkulare Gemeinwesen wie Städte und Territorien handelte. So fügte Burkhard Zink (um 1396–1474/1475) seiner aus vier Teilen bestehenden Stadtchronik von Augsburg als dritten Teil einen autobiographischen Abschnitt mit ein; als Zugewanderter konnte er damit seine nunmehrige Zugehörigkeit auf dauerhafte Weise festhalten und überliefern, denn die Stadt Augsburg sicherte sich das Eigentum an diesem von ihr aus politischen Gründen für wichtig gehaltenen Text.34 Sowohl Jakob Andreae (1528–1590), der sogenannte Vater der Konkordienformel, als auch Abraham Scultetus (1566–1624) definierten sich über ihre Zugehörigkeit zu ihrem Landesherrn und dessen Territorium.35 Andreae betont, 32 Nicolaus Cusanus: Kurze Autobiographie des Nikolaus von Kues. In: Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues. Hgg. von Erich Meuthen und Hermann Hallauer Band 1, Lieferung 2: 1437 Mai 17 – 1450 Dezember 31. Hamburg 1983, Nr. 849, S. 602f., Text S. 603; Johannes Nas: Ignaz Zingerle: Selbstbiographie des Johannes Nasus. ZfdPh 18 (1886) S. 488–490; Melchior Klesl: Theodor Wiedemann: Beiträge zur Geschichte der Erzdiözese Wien XIX. Klesel als passau’scher Offizial (3. Febr. 1580 bis 25. Febr. 1600). Österreichische Vierteljahresschrift für katholische Theologie 12,4 (1873) S. 617–628, Text S. 623–627. 33 Martin von Leibitz: Senatorium sive Dialogus Historicus Martini Abbatis Scotorum Viennae Austriae. In: Scriptores rerum Austriacarum veteres ac genuini ... Band 2. Hg. von Hieronymus Pez. Leipzig 1725 (ND Wien 1743), Sp. 623–674, Text Sp. 625–674; Johannes Trithemius: De Iohanne Trithemio, Abbate huius monasterii XXV. & de quibusdam gestis per eum, variisque actis illius temporis, qui praefuit annis XXIII. mensibus II. & diebus XIV. translatus Herbipolim. In: Ders.: Chronicon Sponheimense. In: Opera Historica. Hg. von Marquard Freher. 2 Teile. Frankfurt a. M. 1601 (ND 1966), Teil 2, S. 236–435, 394–428 (autobiographischer Teil im «Chronicon Sponheimense»), Werkverzeichnis S. 236f. 34 Burkhard Zink: Chronik des Burkhard Zink. 1368–1468. Buch III. In: Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg. Hg. von Ferdinand Frensdorff Band 2. Leipzig 1866 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert. Band 5) (ND Göttingen 1965), S. 122–143. Dieser autobiographische Teil der Stadtchronik ist öfters separat abgedruckt worden und ruft dann den Eindruck einer in sich abgeschlossenen Autobiographie hervor, was den Intentionen des Verfassers eindeutig zuwiderläuft. 35 Jakob Andreae: Leben des Jakob Andreae, Doktor der Theologie, von ihm selbst mit grosser Treue und Aufrichtigkeit beschrieben, bis auf das Jahr Christi 1562. Lateinisch und deutsch. Eingel., hg. und übers. von Hermann Ehmer. Stuttgart 1991 (Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte. Band 10); zu Andreae siehe Jancke: Autobiographie (wie Anm. 7), S. 54–66; Abra-



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dass er lebenslang von württembergischen Herzögen gefördert worden sei und dass seine theologische Arbeit vollkommen in Abhängigkeit von ihnen zu sehen sei. Scultetus war in Schlesien geboren. Seine Autobiographie beginnt er aber damit, dass er sich zuallererst seinem kurpfälzischen Landesherrn, dessen Hofprediger er bis in die Anfänge des 30jährigen Krieges gewesen war, und dessen Territorium zuordnet. Erst danach erwähnt er seine Herkunft. Auch hier ist die ganze Lebensgeschichte von der Amtstätigkeit und ihrer Zuordnung zu einem größeren Gemeinwesen her gedacht. Johann Aventin (1477–1534) nutzte sein Tagebuch unter anderem für historisch-politische Einträge zur deutschen und bayerischen Geschichte, ebenso wie für Notizen zu seiner Stellung als Prinzenerzieher und Landeshistoriograph.36 Der Tübinger Gräzist Martin Crusius (1526–1607) sammelte zunächst in fast fünf Bänden seine handschriftlichen Notizen mit Material für seine mehrbändige schwäbische Chronik «Annales Svevici», um dann noch autobiographische Tagebuchnotizen in weiteren vier Bänden anzuschließen.37 In diesem zweiten, autobiographischen Teil hielt er auch Details zur Rezeption seiner mittlerweile (1595–1596) gedruckten Chronik fest. Dabei beschäftigten ihn besonders die Honorierungen durch die von ihm historiographisch gewürdigten adligen Familien und Städte. Ebenfalls nahm er in den Tagebuchteil auch weitere Informationen auf, die für dieses chronikalische Werk von Interesse waren, zusätzlich mit Angaben darüber, wer ihm die Informationen auf welchem Wege beschafft hatte. Hier lassen sich also die allmähliche Entstehung eines historiographischen Werkes ham Scultetus: De curriculo vitae Inprimis vero De actionibus Pragensibus Abrah. Sculteti Professoris nuper Theologi in Florentissima tunc Academia Heidelbergensi Narratio Apologetica. Emden 1625; deutsche Übers.: Die Selbstbiographie des Heidelberger Theologen und Hofpredigers Abraham Scultetus (1566–1624). Neu hg. und erl. von Gustav Adolf Benrath. Karlsruhe 1966 (Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der evangelischen Landeskirche in Baden. Band 24) (deutsche Übers. aus dem Jahr 1628); zu Scultetus siehe Jancke: Gelehrtenkultur (wie Anm. 19). 36 Johann Aventin: Hauskalender. In: Johannes Turmair’s gen. Aventinus Sämmtliche Werke. Auf Veranlassung des Königs von Bayern hg. von der königlichen Akademie der Wissenschaften. 1., 2., 4. Band, 1. Hälfte. München 1881–1882; 3., 4. Band, 2. Hälfte, 5. Band. München 1883 und 1884; 6. Band. München 1908. Band 1: Johannes Turmair’s genannt Aventinus Kleinere historische und philologische Schriften. Hgg. von Karl von Halm (lateinische Schriften) und Franz Muncker (deutsche Schriften). München 1881, S. 655–689, Text S. 658–689. 37 Der autobiographische Teil dieser Aufzeichnungen in neun Bänden ist publiziert: Martin Crusius: Diarium Martini Crusii 1596–1597. Hgg. von Wilhelm Göz und Ernst Conrad. Mit einem Bildnis des Martinus Crusius Band 1. Tübingen 1927; Ders.: Diarium Martini Crusii 1598–1599. Hgg. von Wilhelm Göz und Ernst Conrad Band 2. Tübingen 1931; Ders.: Diarium Martini Crusii 1600–1605. Hgg. von Reinhold Stahlecker und Eugen Staiger unter Mitwirkung von Reinhold Rau und Hans Widmann Band 3. Tübingen 1958; Ders: Diarium Martini Crusii. Gesamtregister. Bearb. von Eugen Staiger Band 4. Tübingen 1961. Die schwäbische Chronik erschien unter dem Titel: Martin Crusius: Annales Svevici: siue Chronica Rervm Gestarvm Antiqvissimæ Et Inclytae Svevicae Gentis ... ; Adivnctis Interim Caeterae Qvoque Germaniæ, Orientis & Occidentis ac vicinarum prouinciarum ad nostra vsque tempora, memorabilibus rebus ac scitu dignis. ... / Avctore Martino Crvsio, Graecae Et Latinae Lingvae, cum Oratoria in celebri Academia Tybingensi Professore & Historico. Frankfurt a. M. 1595–1596.

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ebenso wie die nachfolgende Arbeit, mögliche soziale Auswirkungen und Gebrauchsweisen im Tagebuch verfolgen. Eine andere Variante findet sich bei Katharina Zell (ca. 1498–1562), der Straßburger Reformatorin und Publizistin.38 In ihrer geistlichen Autobiographie blickt sie auf die Zeit der frühen Reformation zurück, um sie zu einer Norm zu erklären, an die sich auch die zweite Generation reformatorischer Pfarrer zu halten hätte. Es ging ihr dabei um aktuelle Streitigkeiten der Geistlichkeit mit dem Rat der Stadt, in denen die Pfarrer verlangten, alle Einwohner hätten sich zur lutherischen Konfession zu bekennen, oder aber sie müssten vertrieben werden. Zell war gegen eine solche intolerante Vertreibungspolitik und berief sich dafür auf die frühe Reformation. Hier wurde die eigene Person im politischen und kirchlichen Gemeinwesen der Stadt verankert, um aus der beschriebenen Vergangenheit eine verbindliche Tradition abzuleiten und in der Gegenwart auch wirksam machen zu können. Die Gastfreundschaft von Katharina und Matthäus Zell im Rahmen eines geistlichen Haushaltes stand sowohl mit ihren Funktionen der Armenfürsorge als auch mit ihrer konfessionellen Offenheit im Zentrum dieser kirchenpolitischen Überlegungen. Neben den Traditionen, in die die AutorInnen sich autobiographisch hineinstellten, gab es so wie in diesen Beispielen immer zugleich auch die Traditionen, die sie selbst stiften oder zu deren Aufrechterhaltung sie beitragen wollten. Vergangenheitskonstruktionen der eigenen Person und der anderen Personen und Gemeinschaften, denen man sich zugehörig erweisen wollte, wurden mit Blick auf eine Zukunft vorgenommen. In dieser Hinsicht sahen die VerfasserInnen auf diejenigen, die sie sich als Publikum vorstellten oder wünschten, oft auch so wie Katharina Zell auf aktuelle Probleme, zu denen sie Stellung nehmen wollten. Eine solche Zukunftsperspektive konnte bei Erasmus (1466/1469–1536) die schlichte Form annehmen, dass er seine Lebensgeschichte aufschrieb und im Rahmen eines Briefes an seinen Freund Goclenius schickte.39 Damit wollte er dafür sorgen, dass seine Biographen auch eine von ihm selbst zusammengestellte und kontrollierte Informationssammlung zu ihrer 38 Katharina Zell: Ein Brieff an die gantze Burgerschafft der Statt Straßburg/ von Katherina Zellin/ dessen jetz sa(e)ligen Matthei Zellen/ deß alten und ersten Predigers des Euangelij diser Statt/ nachgelassne Ehefraw/ Betreffend Herr Ludwigen Rabus/ jetz ein Prediger der Statt Ulm/ sampt zweyen brieffen jr und sein/ die mag mengklich lesen und urtheilen on gunst vnd hasß/ sonder allein der warheit warnemen. Dabey auch ein sanffte antwort/ auff jeden Artickel/ seines brieffs. Anno M.D.LVII [Straßburg]. In: Katharina Schütz Zell Band 2: The Writings. A Critical Edition. Hg. von Elsie Anne McKee. Leiden u. a 1999 (Studies in Medieval and Reformation Thought. Band 69, 2), S. 167–303. 39 Desiderius Erasmus von Rotterdam: Compendium Vitae Erasmi. In: Opus Epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami Tom. 1: 1484–1514. Hg. von P. S. Allen. Oxford 1906, S. 46–52; der zugehörige Brief gleichen Datums an Goclen: Opus Epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami Tom. 5: 1522–1524. Hgg. von P. S. Allen und H. M. Allen. Oxford 1924, S. 431–438 no. 1437; deutsche Übers. in: Der deutsche Renaissancehumanismus. Abriß und Auswahl von Winfried Trillitzsch. Frankfurt a. M. 1981, S. 331–337. Zu Erasmus’ intensiven publizistischen Bemühungen beim Auswählen, Redigieren und Edieren dessen, was die Nachwelt von ihm überliefert bekommen sollte, vgl. die Studie von Lisa Jardine: Erasmus, Man of Letters. The Construction of Charisma in Print. Princeton 1993.



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Verfügung hatten. Erasmus sah noch viel intensiver als viele andere seine jeweilige Gegenwart und biographische Vergangenheit als eine zukünftige Vergangenheit an, die nicht nur bewahrt und überliefert zu werden verdiente, sondern die vor allem auch seiner aktiven, gestaltenden Vorsorge bedurfte. Viele AutorInnen schrieben ihre Selbstzeugnisse, um damit nützliches Wissen für die nächsten Nachkommen oder auch noch nachfolgende Generationen bereitzustellen. Am deutlichsten wird dies bei Familienchroniken oder auch Rechnungsbüchern. Dabei konnte es um Kontakte gehen, bei denen die nächste Generation für den aktuellen Stand der Beziehungen auch die Vorgeschichte kennen oder auch nur die Namen derer wissen musste, die man für irgendwelche Anliegen ansprechen konnte, etwa bei dem Fugger-Juristen Lukas Geizkofler (1550–1620) oder dem sächsischen Oberhofprediger Matthias Hoe von Hoenegg (1580–1645).40 Die implizite Voraussetzung für das Funktionieren solcher Wissensbestände war, dass man in sozialen Beziehungen über die Generationen hinweg zur Fortsetzung der Reziprozität verpflichtet wäre, dass also etwa Dienste, die die AutorInnen selbst jemandem geleistet hatten, auch in der nächsten Generation durch Gegenleistungen an ihre Nachkommen erwidert zu werden hatten.41 Umso wichtiger musste es sein, dass die nächste Generation über die Beziehungen generell und insbesondere über den Stand der Interaktionen genau informiert war. Eine Tradition, die man mit einem Selbstzeugnis weitergeben oder stiften wollte, konnte aber auch ganz explizit im Sinne von verpflichtenden Verhaltensnormen gemeint sein, so wie sie etwa Konrad Pellikan in Form eines ethischen Testamentes überlieferte, das in jedem einzelnen Textelement Exempla für das Leben von Gelehrten liefern sollte.42 Gedacht war dies für seinen Sohn Samuel und seinen Neffen Konrad Wolfhart. Er wollte also auch für die nächste Generation eine biographische Nachfolge herstellen, die er auch weiterhin zwischen Onkel und Neffen für möglich hielt. Diese beiden Adressaten forderte er auf, sein eigenes Leben ebenso wie das seines Onkels als Sammlung von Exempla zu behandeln, die sich insbesondere auch auf Gastfreundschaft konzentrierten. Darüber hinaus sollten sie dann auch wiederum ihr eigenes Leben zu Exempla verschriftlichen und zum Gebrauch für die ihnen nachfolgende Generation bereitstellen. Pellikan stellte sich vor, dass die Gelehrten in dieser Weise ein immaterielles Erbe ansammeln sollten, das für weitere Gelehrte der Familie als bindende Tradition überliefert und von ihnen genutzt werden sollte. Wie 40 Lukas Geizkofler: Manfred Linsbauer: Lukas Geizkofler und seine Selbstbiographie. 2 Bd.e. (Diss. phil.) Wien 1978, Text S. 164–372, Kommentar S. 379–515; Matthias Hoe von Hoenegg: (a) D. M. Hoë de vita propria, ex ejus Autographo. In: Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen. 3. Beytrag. Leipzig 1720, S. 398–410, sowie (b) Bruchstück einer Selbstbiographie des kursächsischen Oberhofpredigers D. Mathias [!] Hoe von Hoenegg. Mitgeteilt von Pfarrer Scheuffler. Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 13 (1892) S. 28–40, 105–135, Text ab S. 29. 41 Dazu Jancke: Autobiographie (wie Anm. 7), S. 56 mit Anm. 35 sowie S. 157–161. 42 Dazu genauer siehe Jancke: „Individuality“ (wie Anm. 7). Siehe unten Anm. 49.

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Felix Platter fand er, dass sein eigener Haushalt ihm ebenso wie seinem Onkel die Möglichkeit zur Gastfreundschaft bot. Anders als Martin von Leibitz meinte er aber, dass nur ein Haushalt, der auf einen mit oder ohne Ehe lebenden einzelnen Gelehrten hin zugeschnitten war, nicht aber ein Kloster, den Rahmen für eine solche Traditionsstiftung zu bieten hatte. Die zeitlichen Dimensionen für die autobiographisch vorgenommenen Vergangenheitskonstruktionen waren also grundsätzlich synchron-zeitgeschichtlich ausgerichtet, während sie diachron in aller Regel mit einem relativ kurzen Zeithorizont von bis zu einigen Generationen versehen waren. Zumeist für ein familiäres Publikum geschrieben und dort auch überliefert, stehen Selbstzeugnisse damit an einer Stelle, an der die VerfasserInnen sich intensiv um ein kollektives Gedächtnis bemühten. Ihre autobiographischen Aufzeichnungen konzentrierten sich überwiegend auf die vorangegangene oder nachfolgende Kette von wenigen Generationen und beschränkten sich damit auf denjenigen Teil des kollektiven Gedächtnisses, den Aleida und Jan Assmann das ‚kommunikative Gedächtnis‘ genannt haben.43 Jedoch handelt es sich hier eben nicht nur um mündliche Überlieferung, sondern um ganz gezielte Verschriftlichung, um damit Eingang in dauerhaftere Überlieferungszusammenhänge mit größeren Zeithorizonten zu finden und diese mit zu prägen. Maßgeblich war für die VerfasserInnen von Selbstzeugnissen die Zugehörigkeit zu Gruppenkulturen, die man sowohl durch eine synchrone Vernetzung als auch durch ein diachrones Einfügen in eine Generationenkette zu erreichen oder zu befestigen suchte. Diese Kette von Generationen war vielfach familiär oder verwandtschaftlich gedacht, konnte aber auch Lehrer oder AmtsvorgängerInnen mit umfassen und nicht-verwandtschaftliche Gemeinschaften betreffen, wie es sich für geistliche Institutionen, gelehrte Gruppenkultur und politische Gemeinwesen besonders deutlich gezeigt hat. Verbindung und Kontinuität waren dabei die leitenden Prinzipien, die eine ausführliche Entfaltung und Darstellung der Person in ihren weiter ausgreifenden Zeithorizonten möglich und sinnvoll machten. Mit diesen Zeitspannen von nur wenigen Generationen erfassen Selbstzeugnisse zumeist kürzere Zeithorizonte. Dieser Befund erstreckt sich jedoch in erster Linie nur auf die thematisierten Inhalte und die angestrebten AdressatInnen. Bezieht man auch andere Textdimensionen mit ein, wie etwa Zitate und Anspielungen, Vorbilder und literarische Traditionen, und zwar unabhängig davon, ob sie explizit aufgerufen oder eher als implizites Wissen stillschweigend vorausgesetzt wurden, dann öffnen

43 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 5., durchgesehene Aufl. München 2010 (1. Aufl. 1999; zuerst Habilitationsschrift 1992); Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Selbstzeugnisse bieten eine gute Möglichkeit, diese Prozesse genauer zu studieren, sind dafür aber noch wenig genutzt worden; vgl. dazu Claudia Ulbrich u. a.: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven. In: Selbstzeugnis und Person. Hgg. von Ders. u. a. (wie Anm. 2), S. 1–19, hier S. 10–14.



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sich sogleich viel weitere Zeiträume, die in Selbstzeugnissen ausschnittweise präsent waren. Wenn Katharina Zell in ihrer geistlichen Autobiographie mit biblischen Zitaten argumentierte oder wenn Martin Luther (1484–1546) seine reformatorischen Aktivitäten autobiographisch mit einem intensiven Schriftstudium begründete, so griffen sie auf einen aus der Antike stammenden Textfundus zurück, der auch in ihrer zeitgenössischen Gesellschaft noch als relevant galt.44 Mit jeder einzelnen Aufrufung solcher Textbestände verwies man nicht nur auf lange vergangene Zeiten, sondern auch auf eine verbindende Kontinuität. Die aktuelle Geltung solcher Überlieferungen für die eigene Gegenwart wurde mit jeder Bezugnahme sowohl vorausgesetzt als auch erneut bekräftigt. Auch wenn persönliche und historische Brüche thematisiert wurden, wie etwa bei Zell und Luther im Kontext der Reformation, sah man Kontinuität als einen hohen Wert an und suchte zu erweisen, dass man selbst und die eigene Gruppe sich im Rahmen von Tradition und Kontinuität verhalten hätten, während man einen Kontinuitätsbruch und damit auch Illegitimität den GegnerInnen zuschrieb. Eine besonders große Rolle spielten Vorbilder, durch die Verhaltensmuster und Zugehörigkeiten ebenso wie deren bereits etablierte Hochschätzung in ein Selbstzeugnis eingebracht werden konnten. Auf Vorbilder, die über Zeitspannen von vielen Hunderten von Jahren hinweg relevant waren, verwies etwa der Buchbinder Georg Frell (1530–nach 1597), der sich auf die Apostel, die Jünger und die ersten Christengemeinden berief, um seine Orientierungen als Täufer in eine legitime Traditionslinie hineinzustellen.45 Die bis in die Antike zurückreichende Vergangenheit, die hier konstruiert wurde, war deshalb so wichtig, weil es in der Gegenwart für die Täufer so große Legitimitätsprobleme wegen der fehlenden Tradition ihrer Praktiken gab. Nicht viel anders verfuhren Gelehrte wie Simon Lemnius (ca. 1511–1550), der sich zur Legitimation seiner speziellen Wahl eines Patrons ganz generell auf das antike Vorbild des Maecenas berief, oder all diejenigen, die sich mit unterschiedlichen Akzenten auf Augustinus bezogen: Martin Luther für das Schriftstudium, Conrad Gesner für die Zusammenstellung von bio-bibliographischen Angaben oder Petrus Canisius (1521– 1597) für einen geistlichen Dialog mit Gott.46 44 Zell: Brieff (wie Anm. 38); Martin Luther: Praefatio zu Martin Luther: Opera omnia 1, Wittenberg 1545 (Helmar Junghans). In: Martin Luther: Studienausgabe. Hg. von Hans-Ulrich Delius Band 5. Leipzig 1992, S. 618–638, Text S. 624–638 (nach WA 54, S. 179–187); deutsche Übers.: Ernst Stracke: Luthers großes Selbstzeugnis 1545 über seine Entwicklung zum Reformator. Historisch-kritisch untersucht. Leipzig 1926 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte. Band 140). 45 Georg Frell: Die Autobiographie des Georg Frell von Chur. Hg. von Simon Rageth, eingeleitet von Oskar Vasella. Zwingliana VII (1939–1943) S. 457–469. 46 Simon Lemnius: Lothar Mundt: Lemnius und Luther. Studien und Texte zur Geschichte und Nachwirkung ihres Konfliktes (1538/9). Teil 1: Studien. Teil 2: Texte. Bern u. a. 1983 (Arbeiten zur Mittleren Deutschen Literatur und Sprache. Band 1 und 2), darin Apologia: Band 2, S. 173–255 (lateinischer Text und deutsche Übers.), Band 1, S. 269–284 (Kommentar), zu Maecenas Band 2, S. 242 Z. 17–244 Z. 2.; Luther: Praefatio (wie Anm. 44), WA 54, S. 196; deutsche Übers. nach Stracke: Selbstzeugnis (wie Anm. 44), S. 14; Gesner: Art. (wie Anm. 29); Petrus Canisius: Canisii autobiographia sive confessiones et testamentum. In: Beati Petri Canisii, societatis Iesu, epistulae et acta. Collegit et adnotationibus

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Vergangenheit zeigt sich gerade hier bei der Berufung auf Vorbilder als ein Feld, das in Selbstzeugnissen nicht insgesamt und um seiner selbst willen (re-)konstruiert werden sollte. Vielmehr hatten die genannten AkteurInnen Zugang zu diesem Feld und konnten sich Vorbilder und andere Modelle für ihre gegenwärtigen Handlungsoptionen daraus entnehmen – sich selbst aber dabei zugleich im Lichte dieser Vorbilder präsentieren, versehen mit einer lange zurückreichenden zeitlichen Vor-Formierung ihrer eigenen Person.47 Der eigene Gebrauch dieser ausgewählten Vergangenheit stand im Vordergrund und führte dazu, dass ‚Tradition‘ eine stets veränderliche und beeinflussbare Größe war, die durch jeden Zugriff neu akzentuiert und letztlich auch gestaltet wurde. Ein großes Feld eröffnete sich auch dann, wenn durch die Form des jeweiligen Textes Traditionen aufgerufen wurden. Das konnte wie bei Johannes Butzbach (1478–1526) durch Abgrenzung geschehen. Der Benediktinermönch und Novizenlehrer Butzbach verwahrte sich dagegen, dass seine Autobiographie mit Legenden und Heiligenviten auf eine Stufe gestellt würde – offensichtlich erschien ihm diese Verbindung mitsamt einer daran anknüpfenden kritischen Bewertung als so zwingend, dass er sich gleich in den einleitenden Sätzen zu diesem Problem Stellung zu nehmen genötigt sah. Er hatte, ähnlich wie auch Johann Eck (1486–1543), die bescheidenere, aber ebenfalls als mittelalterliche Tradition bekannte Form eines ‚vocation letter‘ im Sinn, der den Adressaten zur Übernahme der eigenen Lebensweise motivieren sollte.48 Butzbach wie Eck (und viele andere) machten sich selbst zum Exemplum, an dem im Sinne eines ‚ethischen Testamentes‘ das Vorbildhafte beschrieben und zur Nachahmung empfohlen wurde.49 Damit wurde die eigene Person zum Träger illustravit Otto Braunsberger, eiusdem societatis sacerdos. Insgesamt 8 Bd.e. 1896–1923: Band 1. 1541–1556. Cum effigie Beati Petri Canisii. Freiburg i. Br. 1896, S. 1–68, Text S. 6–31 (Confessionum Canisii liber primus), 32–52 (Testamentum P. Petri Canisij ante mortem ab eo conscriptum: in quo fide bona vitae suae cursum Exponit), 52–68 (Reliquiae illarum partium „Confessionum“ et „Testamenti“, quae integrae superesse non videntur). Außer Augustinus nennt Canisius auch seinen Lehrer Petrus Faber SJ mit seinem «Memoriale» als Vorbild für seinen Text. 47 Vgl. zu den entsprechenden, am ordo ausgerichteten Personkonzepten Eva Schlotheuber: Norm und Innerlichkeit. Zur problematischen Suche nach den Anfängen der Individualität. Zeitschrift für historische Forschung 31,3 (2004) S. 329–357. 48 Johannes Butzbach: Odeporicon. [Eine Autobiographie aus dem Jahre 1506.] Einl., Übers. und Komm. von Andreas Beriger. Weinheim 1991 (Acta humaniora); Johann Eck: Epistola de ratione studiorum suorum (1538). Hg. von Johannes Metzler SJ. Münster 1921 (Corpus Catholicorum. Band 2), S. 38–75. Zu ‚vocation letters‘ siehe Jean Leclercq O.S.B.: The Love of Learning and the Desire for God. A Study of Monastic Culture. London 1978 (zuerst französisch: L’amour des lettres et le désir de Dieu. Initiation aux auteurs monastiques du moyen âge. Paris 1957), S. 224–228. 49 Siehe oben Anm. 42. Die bis in die Antike zurückreichende Tradition der ethischen Testamente ist bisher für jüdische Selbstzeugnisse untersucht worden, siehe Avriel Bar-Levav: „When I was alive“. Jewish Ethical Wills as Egodocuments. In: Egodocuments and History. Autobiographical Writing in its Social Context since the Middle Ages. Hg. von Rudolf Dekker. Hilversum 2002, S. 45–59 (deutsche Übers.: „Ganz so wie zu meinen Lebzeiten“. Jüdische ethische Testamente als Ego-Dokumente. In: Selbstzeugnisse. Hgg. von Klein und Ries [wie Anm. 15], S. 27–46). Für christliche Selbstzeugnis-



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gemeinsamer und auf eine Gemeinschaft orientierter Werte, die sowohl Vergangenheits- und Gegenwarts- als auch Zukunftsaspekte besaßen – letzteres zumindest nach dem Willen des Schreibenden. Der Dresdener Superintendent Daniel Greiser (1504–1591) nannte die Biographien fürtrefflicher Menner und insbesondere diejenigen des Plutarch als seine eigenen Vorbilder, wollte aber gleichzeitig auch sein eigenes Leben für die ihm unterstellten Pfarrer als nachzuahmendes Vorbild präsentieren.50 Der Baseler Theologe und Arzt Heinrich Pantaleon (1522–1595) wiederum stellte sich mit seinem biographischen Sammelwerk «Prosopographiae heroum atque illustrium virorum totius Germaniae» (lateinische Erstfassung) bzw. «Teutscher Nation Warhafften Helden» (deutsche Übersetzung) in den Kontext einer bis in die Antike zurückreichenden Gruppe vorbildlicher Männer und deren literarischer Repräsentationen hinein, indem er sich selbst am Schluss ebenfalls mit einem biographischen Artikel einreihte.51 Der humanistische Dichter und Geschichtsprofessor Helius Eobanus Hessus (1488–1540) schließlich konnte sich darauf verlassen, dass seine autobiographische Epistel innerhalb seines als «Helii Eobani Hessi Heroidum libri tres» betitelten Werkes auf die «Heroides» des Ovid bezogen werden würde, ohne dass noch ausdrückliche Hinweise nötig gewesen wären.52 Implizites Wissen war auch auf der Ebene der Schreibpraktiken maßgeblich se sind ethische Testamente bisher praktisch gar nicht wahrgenommen worden. Jedoch finden sich außer den hier genannten Beispielen so zahlreiche christliche Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und die ganze Frühe Neuzeit hindurch, die die gleichen Funktionen haben, dass sie ebenfalls als ethische Testamente untersucht werden sollten. 50 Hans Daniel Greiser: HISTORIA Vnd beschreibunge des gantzen Lauffs vnd Lebens/ wie nemlich ich DANIEL GREISER, Pfarrer und Superintendens in Dreßden/ meinen Curriculum vitae, vom 1504. Jare an/ bis ins jtzo lauffende 1587. Jar/ als nun mehr ein 83.järiger/ durch Göttliche gnad geführet habe/ Von mir selbsten für meinem seligem ende schlecht vnd einfeltig den guthertzigen/ so dessen gerne wissenschafft tragen möchten/ zusammen bracht. DRESDAE 1587 (fol. Air abweichende Überschrift: HISTORIA Vnd beschreibunge des gantzen lauffs vnd lebens / des Achtbarn / Ehrwirdigen vnd Wolgelahrten Herrn Daniel Gresers / Pfarrhers vnd Superintendent in der Churfürstlichen Stadt Dreßden). 51 Heinrich Pantaleon: Prosopographia heroum atque illustrium virorum totius Germaniae. Basel 1565–1566, am Schluss (lateinisch); Ders.: Heinrich Pantaleon Medicus vnd Historicus. In: Der Dritte vnd letste Theil Teutscher Nation Warhafften Helden: Inn diesem werden aller Hochberümpten Teutschen Personen / Geistlicher vnd Weltlicher / hohen vnnd nidern stadts / Leben vnnd nammhaffte Thaten gantz warhafftig beschrieben / welliche durch jhre tugendt / grosse authoritet / starcke waffen / frommkeit / weißheit / vnd gute künst / vnder den fünff letsten Keysern Maximilian I. Carolo V. Ferdinando / Maximilian II. vnd Rudolphen II. von dem 1500. biß auff das lauffende 1578. jar / jhr Vatterland Teütsche Nation höchlich bezieret / vnd groß gemachet. Erstlich durch den Hochgelehrten Herren Heinrich Pantaleon fast auß aller Völckern Historien / Chronecken / vnnd Geschichtrodeln (...) in Latein zusamen gebracht / (...) verteutschet / reichlich gemehret / geenderet / vnd gebesseret (...). Basel 1578, S. 529–534 (deutsch). 52 Helius Eobanus Hessus: Eobanus Posteritati. In: Helii Eobani Hessi Heroidum libri tres. Hagenau 1532 (lib. III), neubearb. nach: Ders.: Heroidarum Christianarum epistolae. Leipzig 1514; lateinischer Text und deutsche Übers. in: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten. Lateinisch und deutsch. Hg. von Harry C. Schnur. 2. Aufl. Stuttgart 1978, S. 210–219.

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daran beteiligt, welche Vergangenheitskonstruktionen die VerfasserInnen vornehmen und bei ihrem Publikum abrufen konnten. Auch in diesen Fällen war die mit Selbstzeugnissen konstruierte Vergangenheit eine, die in gegenwärtigen Situationen gebraucht wurde, die wichtige Ressourcen zugänglich machte und mit der sich Beziehungen knüpfen sowie Zugehörigkeiten herstellen und aufrechterhalten ließen. Die konstruierte Vergangenheit hatte jeweils sehr viel Nützliches zum Betreiben gegenwärtiger Verhältnisse einzubringen. Gleichzeitig sollte sie darüber weit hinausreichen und eine Zukunft gestalten helfen, in der Wünsche und Absichten der Schreibenden durch ihre AdressatInnen realisiert werden würden. Gegenwart und Zukunft wurden als Handlungsfelder gesehen, in denen die AkteurInnen vor dem Hintergrund von überlieferten gemeinsamen Werten und Normen die Aufgabe hatten, Stabilität zu erreichen und zu diesem Zweck Kontinuitäten zu wahren, damit sich die gemeinsamen Angelegenheiten auch weiter betreiben ließen. Kein Wunder, dass die Gegenwart sich in den Selbstzeugnissen als Schauplatz aller möglichen Konflikte um solche Konstruktionen und Orientierungen erwies, als Experimentierfeld zur Positionierung und Re-Positionierung in zeitlich und sozial weit ausgreifenden Geflechten.

5 Fazit: Verflochtene Zeitlichkeit Vergangenheitskonstruktionen, die in Selbstzeugnissen an der eigenen Person vorgenommen wurden, waren ebenso wie das autobiographische Schreiben und andere Praktiken des Wortes ein Teil der Sozialität von Tradition und Traditionsbildungsprozessen. Gelehrte entfalteten hier besonders vielfältige Aktivitäten. Die individuellen Personen, die solche Selbstzeugnisse verfasst und sich selbst darin dargestellt haben, hatten Anliegen im Sinn, die über ihre eigene Person hinausgingen. Solche Anliegen bezogen sich auf Gemeinschaften und Gemeinwesen, denen sie angehörten und die sie mit gestalten wollten. In Bezug auf solche Gruppenbildungsprozesse, wie sie etwa am Beispiel der Gastfreundschaft in Selbstzeugnissen zu beobachten sind, lässt sich die Frage nach personaler Identität in die bisherigen Forschungen zu Personkonzepten einordnen und ganz ausdrücklich als eine Frage nach handlungsleitenden Person- und Gesellschaftskonzepten neu formulieren. Entsprechend sind auch die Vergangenheitskonstruktionen in Selbstzeugnissen mit der für diese Texte grundlegenden Sozialität verknüpft. Selbstzeugnisse des 15. und 16. Jahrhunderts zeigen vielfach eine Rückbindung in historische Traditionen des Mittelalters und der Antike. Die Texte fungierten als Träger des Vergangenheitsbezuges, der von der eigenen Gegenwart her und nachdrücklich auch auf sie hin organisiert wurde. Bezüge konnten explizit oder implizit hergestellt und entweder auf der Ebene von Inhalten oder auf der Ebene von Texten und ihrer formalen und ästhetischen Gestaltung angesiedelt werden. Für Personen,



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Handlungsweisen oder Schreibpraktiken wurden dadurch Vorbilder aufgerufen, die als hoch bewertete Traditionsbestände Vergangenheit in den gegenwärtigen Text hineinbrachten. Auf diese Weise wurde Kontinuität vorausgesetzt, zugleich aber mit den Selbstzeugnissen auch ganz entscheidend hergestellt. Die so konstruierte Zeitlichkeit war also eine, die von der Gegenwart aus eine Kontinuität zur Vergangenheit darstellte, jedoch immer in ausgewählten Elementen. Dabei war neben einer Anbindung an die Vergangenheit genauso sehr eine Verknüpfung mit der Zukunft beabsichtigt. Die konstruierte Vergangenheit lässt sich daher noch genauer, in Analogie zu Bourdieus Formulierung der Nutzungs- oder Gebrauchsverwandtschaft,53 als ‚Gebrauchsvergangenheit‘ bezeichnen: Aufgerufen, zitiert und herangezogen wurde von den VerfasserInnen diejenige Vergangenheit, die aus der jeweiligen Perspektive der schreibenden Person in ihrer Schreibsituation heraus von Bedeutung sein konnte, und zwar sowohl für einen Gebrauch durch die schreibende Person als auch vor allem für die anvisierten AdressatInnen eines Selbstzeugnisses. Auch bei den Konstruktionen von Vergangenheit, die mit Selbstzeugnissen vorgenommen wurden, standen für die VerfasserInnen Praktiken und Gebrauchsweisen im Vordergrund. Es ging also in Selbstzeugnissen genauso wenig um eine umfassende (Re-)Konstruktion von Vergangenheit, wie es den AutorInnen in diesen Texten um eine umfassende (Re-)Konstruktion ihrer ganzen Lebensgeschichte und Person ging. Wie für die Geschichtsschreibung insgesamt, waren die Schreibpraktiken auch bei Selbstzeugnissen im 15. und 16. Jahrhundert weniger auf objektives, vollständiges Sachwissen ausgerichtet als auf den jeweils angestrebten Nutzen und die dafür verwendbaren Wissensbestände.54 Damit wurde ein Raum des Handelns mit Texten in Kontexten 53 Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1997 (zuerst französisch: Le sens pratique. Paris 1980), Kap.: „Sozialer Nutzen der Verwandtschaft“, S. 288–351, hier S. 299f., 302. Bourdieu unterscheidet die praktische Verwandtschaft mit ihrem Nutzen im praktischen Gebrauch (S. 299f.) von der Vorzeigeverwandtschaft (S. 302) und geht in diesem Zusammenhang auch auf Vergangenheitskonstruktionen wie etwa genealogisches Wissen, Stammbäume etc. ein. 54 Rüdiger Landfester: Historia magistra vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtsheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts. Genf 1972 (Travaux d’humanisme et renaissance. Band 123); Joachim Knape: „Historie“ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden 1984 (Saecula spiritalia. Band 10); Horst Walter Blanke und Dirk Fleischer: Artikulation bürgerlichen Emanzipationsstrebens und der Verwissenschaftlichungsprozeß der Historie. Grundzüge der deutschen Aufklärungshistorie und die Aufklärungshistorik. In: Aufklärung und Historik. Aufsätze zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft, Kirchengeschichte und Geschichtstheorie in der deutschen Aufklärung. Mit Beilagen. Hgg. von Horst Walter Blanke und Dirk Fleischer. Waltrop 1991, S. 33–112 (Erstdruck in: Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Hgg. von Horst Walter Blanke und Dirk Fleischer 2 Bd.e. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990 [Fundamenta Historica. Band 1], Band 1, S. 19–102), S. 46 u. ö. (zur traditionellen Funktion der Geschichte – historia magistra vitae); Horst Walter Blanke: Von Chyträus zu Gatterer. Eine Skizze der Historik in Deutschland vom Humanismus bis zur Spätaufklärung. In: Aufklärung. Hgg. von Blanke und Fleischer (wie Anm. 54), S. 113–140, 118f.; Ulrich Muhlack:

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 Gabriele Jancke

frei, der es erlaubte, die eigene Person und ihre gegenwärtigen Praktiken in Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbezüge einzuordnen. Dieser Handlungsraum mit Texten stellte für die Schreibenden eine große Bandbreite an kombinatorischen Möglichkeiten zur Verfügung. Insbesondere Gelehrte konnten sich als die Schriftlichkeitsspezialisten ihrer Gesellschaft aus einem immensen Fundus bedienen und hatten zugleich Zugang zu AdressatInnen, die ebenfalls an diesem gemeinsamen Traditionsbestand partizipierten. Vergangenheit bedeutete unter diesen Gesichtspunkten nicht zuletzt einen Fundus an Ressourcen, der indes den historischen AkteurInnen in sehr unterschiedlichem Ausmaß zur Verfügung stand. Gelehrte besaßen und verwalteten ein besonders breites und vielfältiges Repertoire. Mit Hilfe von gelehrtem Wissen und gelehrten Spezialisten erschlossen sich im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit zunehmend auch Adlige diese Möglichkeiten für ihre gruppenspezifischen Vergangenheitskonstruktionen. Für viele andere stellten die Bibel und andere religiöse Texte das wichtigste Repertoire bereit, ebenfalls eigene Vergangenheitskonstruktionen vorzunehmen, wie es etwa bei dem Buchbinder Georg Frell oder der Straßburger Reformatorin und Pfarrfrau Katharina Zell deutlich wurde. Damit wurde die eigene Person in Selbstzeugnissen zum Knotenpunkt einer netzwerkartig gedachten Zeitstruktur. Die Zeitlichkeit in ihren Selbstzeugnissen war für die AkteurInnen nicht einseitig durch interne, lineare Prozess- und Entwicklungsverläufe bestimmt, wie sie vor allem seit dem 18. Jahrhundert in ‚Nation‘, ‚Staat‘ und ‚Person‘ als in sich abgrenzbaren Grundeinheiten angesiedelt wurden. Ebenfalls lässt sie sich nicht durch die mit diesen in sich abgegrenzten Basiseinheiten einhergehende Aufteilung in öffentliche vs. private, soziale vs. persönliche Zeitstrukturen beschreiben, die entsprechend unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionsbereichen aufgeteilt sind. Dieses aufklärerische Modell von Vergangenheitskonstruktion, das nicht zuletzt auch stark den entstehenden Nationalstaaten verhaftet war, wurde durch die Geschichtswissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts als ein dominantes Konzept historischer Zeitstrukturen analog zum Konzept von Behälterräumen etabliert. Im Licht spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Befunde ist dieses Modell jedoch von nicht geringerer regionaler und zeitlicher Partikularität als das bereits erwähnte Personkonzept des Individuums und jedenfalls nicht geeignet, um die Vielfalt frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruktionen erfassen zu können, wie sie unter anderem in Selbstzeugnissen vorgenommen wurden. Charakteristisch sind vielmehr eine Vielfalt von Perspektiven und eine verflochtene Zeitlichkeit.55 Diese waren um die soziale Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991; Anthony Grafton: What was History? The Art of History in Early Modern Europe. Cambridge 2007. 55 Vgl. auch die Bemerkungen zu Pluritemporalität in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen bei Stefan Hanß: „Tempus fugit“. Zeitkonzeptionen in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen. Masterabschlussarbeit, FU Berlin 2011, sowie Ders.: „Bin auff diße Welt gebohren worden“. Geburtsdatierun-



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Basiseinheit des Haushaltes herum organisiert, gleich ob diese Haushalte durch eine Ehe konstituiert wurden – bis hin zu den Herrscherhöfen – oder zum Beispiel von verschiedenen Varianten geistlicher Lebensformen her organisiert waren. An Haushalte als Basiseinheit waren für die VerfasserInnen von Selbstzeugnissen sowohl individuelles Leben als auch die verschiedenen Formen von Vergesellschaftung und Gemeinwesen angeknüpft. Die VerfasserInnen von Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts gestalteten mit ihren Texten die für sie relevanten komplexen Zeitstrukturen mit ihren vielfachen Verflechtungen mehrfachrelationaler Partikel jeweils selbst mit. Durch ihr autobiographisches Schreiben betrieben sie aktiv ein ebenso verflochtenes „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“56, das an jeder Stelle Vergangenheits-, Gegenwartsund Zukunftsaspekte haben konnte. Die Zeitlichkeit der jeweils konstruierten Vergangenheit wurde dann ebenfalls nicht als eine in sich abgeschlossene, von Gegenwart und Zukunft getrennte Zeit-Einheit (etwa analog zu Behälterräumen) entworfen, die man als Inhalt des geschriebenen Textes zur Fixierung niederschreiben und ablegen wollte. Zirkulierende Ströme von Ressourcen, längere Handlungsketten und die Handlungslogiken in spezifischen, auch über die Generationen hinausreichenden Beziehungen im Rahmen von Gruppenkulturen waren für die Konstruktion von Vergangenheit ebenso wie für die Darstellung von Personen in Selbstzeugnissen viel wichtiger als festschreibende Charakterisierungen, die eine identitäre Stabilität und eine zentristische Selbstbezüglichkeit zu formulieren versuchten.

gen in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen. In: Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution. Hg. von Achim Landwehr. Bielefeld 2012, S. 105–153. Hanß greift Überlegungen von Achim Landwehr auf und konzentriert sich auf Fragen des Lebens, Bestimmens und Anzeigens von Zeit. 56 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. 8. Aufl. München 1994 (1. Aufl. 1958), Kap. 25.

Almut Schneider

jâ, zwâre ich bin Achilles Identität und Narration im «Trojanerkrieg» Konrads von Würzburg Die Frage nach Identität, zumal nach personaler Identität im Kontext des Erzählens, schließt die Frage nach der Reflexion eines solchen Begriffs mit ein.1 So führt Wolfhart Pannenberg aus: Wenn Identität im Unterschied zur Kategorie der Einheit ein Reflexionsbegriff ist, und zwar in dem Sinne, daß darin die Einheit ausdrücklich zum Thema der Reflexion wird, dann muß sich die Frage stellen, ob Identität ohne ein solche Reflexion vollziehendes Subjekt denkbar ist. Aber andererseits stellt sich auch die Frage nach der Identität des Subjektes selber.2

Für das mittelalterliche höfische Erzählen ist ein solches reflektierendes Subjekt kaum auf der Figurenebene des Textes zu erwarten. Dennoch kann sich auch die höfische Literatur des Mittelalters als ein Ort erweisen, an dem Konzepte von Identität vorbegrifflich reflektiert und erzählerisch entfaltet werden: im literarischen Spiel des Erzählers, in der Vielschichtigkeit seiner narrativen Korrespondenzen. Solchen Korrespondenzen möchte ich nachgehen in einem Text, der die Bezüge zwischen der Erzählebene und einer Ebene der metapoetischen Reflexion als eine Grundbewegung entwickelt: in Konrads von Würzburg «Trojanerkrieg».3 Das gewaltige Erzählkompendium, das Konrad im Prolog einem Meer vergleicht, in das sich die Ströme seiner verschiedenen Quellen ergießen,4 setzt ein mit der Frage waz sol nu sprechen unde sanc (V. 1), und stellt damit am Beginn seiner Wiedererzählung auch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von Dichtung.5 Narration verbindet sich mit einer 1 Thomas Luckmann benennt die Kriterien Leiblichkeit, Gesellschaftlichkeit und Bewusstsein als grundlegend für die Ausbildung einer persönlichen Identität. Besondere Funktion kommt dabei dem Bewusstsein zu, denn „Bewußtsein ist in Leiblichkeit verwurzelt und Bewußtsein ist gesellschaftlich geformt; aber Bewußtsein mag auch als eine autonome Erklärungskategorie gelten, da es Strukturen entwickelt, die weder einfache Abbildungen bzw. Spiegelungen von Gesellschaftsstruktur sind, noch unmittelbar aus der individuellen Leiblichkeit ableitbar sind.“ Thomas Luckmann: Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz. In: Identität. Hgg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle. München 1979 (Poetik und Hermeneutik. Band 8), S. 293–313, hier S. 297f. 2 Wolfhart Pannenberg: Person und Subjekt. In: Marquard und Stierle (Hgg.): Identität (wie Anm. 1), S. 407–422, hier S. 407. 3 Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten Karl Frommanns und Friedrich Roths zum ersten Mal hg. durch Adelbert von Keller. Stuttgart 1858 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart. Band 44) [im Folgenden als Versangabe im Fließtext zitiert]. 4 «Trojanerkrieg» (wie Anm. 3), V. 234–243. 5 Elisabeth Lienert: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg «Trojanerkrieg». Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter. Band 22); Christoph Cormeau: Quellenkompendium oder Erzählkonzept? Eine Skizze zu Konrads von Würzburg «Trojanerkrieg». In: Befund und



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Reflexion über Sprache – und dies spiegelt sich in Konrads literarischem Spiel um die Konzeption von Identität. Im «Trojanerkrieg» Konrads von Würzburg, so möchte ich im Folgenden zu zeigen versuchen, erweist sich die Frage nach Identität, die auch die Möglichkeit umschließt, ‚Ich‘ zu sagen, nicht allein als eine Schwierigkeit der Figur, sondern auch als eine des Erzählens. Es ist vor allem eine Figur, die zweifach an exponierter Stelle ‚Ich‘ sagt, nämlich Achilles: jâ, zwâre ich bin Achilles und sô bin Achilles ich genamt.6 Beide Aussagen stehen im Kontext seiner Entführung, die seine Mutter Thetis inszeniert, um ihn vor einer Teilnahme am Trojanischen Krieg zu bewahren. Scheint sich hier zunächst eine Figur ihrer Identität bewusst zu sein, so eröffnet der genauere Blick auf beide Stellen eine ganz andere Perspektive. Denn Achill, so ist zu zeigen, formuliert diese affirmative Selbstaussage genau in den Momenten, in denen seine Identität gerade nicht manifest ist, sondern in höchstem Maße zur Disposition steht. In Frage steht Achills personale und soziale Identität wie auch seine Geschlechtsidentität als Mann.7 Achill setzt die erste der beiden zitierten Aussagen fort mit der Frage, waz möhte ich anders sîn, denn er?8 Er stellt damit eine Frage, die ich nicht allein als eine rhetorische verstehen möchte, als die Frage eines Helden, der nie vergisst, wer er ist, aus der Sicherheit seiner Zugehörigkeit zur höfischen Gesellschaft heraus.9 Denn Achill, darin Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Festschrift für Hans Fromm. Hgg. von Klaus Grubmüller u. a. Tübingen 1979, S. 303–319; Beate Kellner: daz alte buoch von Troye […] daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von ‚wiederholen‘ und ‚erneuern‘ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hgg. von Gerd Dicke u. a. Berlin/New York 2006 (Trends in Medieval Philology. Band 10), S. 231–262; Hartmut Bleumer: Zwischen Wort und Bild. Narrativität und Visualität im «Trojanischen Krieg» Konrads von Würzburg. (Mit einer kritischen Revision der Sichtbarkeitsdebatte). In: Zwischen Wort und Bild. Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter. Hgg. von Dems. u. a. Köln u. a. 2010, S. 109–156. Zum Begriff des Wiedererzählens Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea. Band 16), S. 128–142; Beate Kellner: Konrads von Würzburg «Trojanerkrieg». Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Antike und Mittelalter. Poetica 42 (2010) S. 81–116. 6 «Trojanerkrieg» (wie Anm. 3), V. 14096 und V. 14519. Die erste Selbstaussage lässt der Erzähler Achill auf dem Meer ausrufen, die zweite entgegnet der Held trotzig im Disput mit seiner Mutter. 7 Damit scheinen alle Aspekte erschüttert, die sich vielleicht mit Alois Hahn als Elemente einer ‚partizipativen‘ Identität verstehen ließen. Zum Begriff der ‚partizipativen Identität‘ vgl. Alois Hahn: Das Selbst und die Anderen. In: Ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie. Frankfurt a. M. 2000, S. 11–115. Zur Differenzierung personaler und sozialer Identität Hedda Ragotzky und Barbara Weinmayer: Höfischer Roman und soziale Identitätsbildung. Zur soziologischen Deutung des Doppelwegs im «Iwein» Hartmanns von Aue. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hg. von Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 211–253. 8 «Trojanerkrieg» (wie Anm. 3), V. 14097. 9 Anders Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, hier S. 238.

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 Almut Schneider

Parzival vergleichbar, ist gerade fern vom Hof aufgewachsen, in der Wildnis, der Tierwelt näher als der menschlichen Zivilisation. In dieser Entfremdung Parzival noch übersteigend, wurde er erzogen von dem Kentauren Schyron, dessen figûre wilde (V. 5852) in der Gestalt eines Pferdemenschen wilde Natur und zivilisierte Menschlichkeit in sich vereint.10 Schyron selbst stellt ein durch und durch vremdez bilde (V. 5851) dar, dessen Identität sich gerade aus ihrer Fremdheit und Abgrenzung gegenüber der höfischen Gesellschaft bestimmt. Auch wenn er vielfach als Königserzieher und damit ins Zentrum der Gesellschaft wirkt,11 so beruht doch seine Erziehung auf der Loslösung des Zöglings von einer höfischen Lebensweise, indem er ihm jede Annehmlichkeit höfischen Lebens vorenthält – mit Ausnahme von Schachspiel und Musik – und ihn zu maßloser Kühnheit erzieht.12 Die Erziehung des Helden schließt dessen Exklusion aus den Grenzen der sozialen Ordnungsmuster höfischer Kultur zumindest teilweise mit ein. Udo Friedrich, der die Doppelnatur des Kentauren in seinen verschiedenen Korrespondenzen erschlossen hat, spricht von einem Fluchtraum gegenüber der höfischen Kultur.13 Darüber hinaus und abweichend von der antiken Vorlage hat Thetis in Konrads Dichtung ihren Sohn dem Kentauren bereits im Säuglingsalter überantwortet und damit noch vor der Zeit, in der sich eine gesicherte gesellschaftliche Identität hätte ausbilden können.14 Der Beschreibung der Erziehung Achills widmet Konrad breiten Raum. Die Jugendgeschichte des griechischen Helden, die Konrad im Rückgriff auf die «Achilleis» des Statius und doch mit markanten Abweichungen erzählt, ist – so ist in der Forschung beobachtet worden – in auffallender Parallele zur Jugendgeschichte des Paris entwickelt.15 Beide wachsen, bedingt durch die ihnen prophezeiten Rollen bei der Zerstörung Trojas, fern ihres jeweiligen Hofes in der Wildnis auf, und beide 10 Damit bildet der Erzieher Achills, wie Udo Friedrich unterstreicht, eine signifikante Ausnahme gegenüber der Darstellung von Kentauren in der mittelalterlichen Epik, die eher als dämonische Mischwesen gezeichnet sind. Schyron hingegen „repräsentiert […] jene ideale Verbindung von natürlicher Gewalt und kultureller Existenz, die im höfischen Ritter-Pferd-Gefüge auf komplexe Art inszeniert wird.“ Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen 2009 (Historische Semantik. Band 5), S. 241. 11 Vgl. «Trojanerkrieg» (wie Anm. 3), V. 5838–5846; Jan-Dirk Müller: Das höfische Troia des deutschen Mittelalters. In: Der Traum von Troia. Geschichte und Mythos einer ewigen Stadt. Hg. von Martin Zimmermann. München 2006, S. 135–148, hier. S. 143. 12 «Trojanerkrieg» (wie Anm. 3), V. 6352–6357. 13 Friedrich: Menschentier (wie Anm. 10), hier S. 192. 14 Lienert: Geschichte (wie Anm. 5), S. 52. Die Vorstellung, dass Achill schon als Säugling Schyron überantwortet wurde, geht, so vermutet Lienert, auf Konrad zurück. Bei Statius ist Achill ein Kleinkind. 15 Lienert: Geschichte (wie Anm. 5), S. 52; Udo Friedrich: Diskurs und Narration. Zur Kontextualisierung des Erzählens in Konrads von Würzburg «Trojanerkrieg». In: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. Hg. von Jan-Dirk Müller unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner. München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Band 64), S. 99–120, hier S. 110.



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werden von Tieren gesäugt, Paris von einer Hirschkuh, Achill aber von einer Löwin, deren Natur Schyron zu ‚brechen‘ vermochte.16 Zudem setzt Konrads Darstellung des Trojanischen Krieges mit der Geburtsgeschichte Achills ein, das heißt mit der Hochzeit seiner Eltern Thetis und Peleus, an deren Festtag sich nicht allein Paris’ Wiedereingliederung in die trojanische Königsfamilie, sein Wandel vom Hirten zum Königssohn und der Streit der Göttinnen um den Apfel der Discordia ereignen, sondern zuletzt auch die Zeugung Achills. Die Geburt Achills steht im Zeichen der übermächtigen Kampfkraft Hectors, die jener im Zweikampf gegen Peleus unter Beweis stellt. Von Beginn an ist Achill damit als der zentrale Gegenspieler der trojanischen Helden, insbesondere Paris’ und Hectors, ausgewiesen. Um der unheilvollen Prophezeiung des Proteus zu begegnen, Achill werde vor Troja fallen, lässt Thetis ihn also durch den Kentauren Schyron erziehen, der nicht allein Schwert, Schild und Bogen besser zu handhaben weiß als jeder andere Mann, sondern bei aller Wildheit seiner wunderlîchen Gestalt, wie sie seiner Tiernatur entspricht, auch über höfische Kenntnisse, insbesondere der Musik und des Schachspiels verfügt. Seine Weisheit fasst Konrad in das Bild dessen, der seinen Blick unverwandt auf die Sonne richten kann: er mohte dur die sunnen / geblicket hân mit der gesiht (V. 5932f.).17 Doch Schyron arbeitet genau diesem tödlichen Kampf zu, vor dem Thetis ihren Sohn zu schützen sucht, indem er Achill nicht allein zum herausragenden Krieger ausbildet. Darüber hinaus kennzeichnen Abhärtung, Verwilderung, Zivilisationsverweigerung und die Annäherung von Mensch und Tier, wie sie in seiner eigenen Gestalt bereits vorgezeichnet ist, die Erziehung Achills (und auch die seines Jugendgefährten Patroclus), so dass der Held zu Wundertaten befähigt ist. Als Thetis ihn wiedersieht, kommt Achill in der Haut eines jungen Löwen, den er erlegt hat – und dennoch greift er zu ihrer Unterhaltung zu Harfe und Leier. Achill ist damit in genau jener Dichotomie von Natur und Kultur erzogen, die dem Wesen des Kentauren entspricht und die Schyron vom höfischen Erzieher unterscheidet. Thetis versucht erneut, Achill vor der ihm bestimmten Rolle als Krieger vor Troja zu bewahren, und entführt den Schlafenden über das Meer auf die Insel Scyros. Achil-

16 Sichtbar wird hier, so Friedrich: Diskurs (wie Anm. 15), S. 117, Konrads „Stilprinzip der kontrastiven Variation“. Bis hin zur Beschreibung ihrer Kleidung beziehungsweise ihrer Kleiderwechsel sind Achill und Paris kontrastiv aufeinander bezogen. So geht die Wiederaufnahme des Paris in die trojanische Gesellschaft mit einem Akt der Investitur einher, Achills Eintritt in die Gemeinschaft der griechischen Kämpfer aber wird durch eine Devestitur eingeleitet, bei der Achill sich seine weibliche Verkleidung vom Leib reißt. Vgl. Andreas Krass: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen/Basel 2006 (Bibliotheca Germanica. Band 50). 17 Damit korrespondiert Schyron Peleus, der im Kampf gegen Hector den Adler im Wappen trägt als das Tier, dem einzig die Fähigkeit zugeschrieben wird, direkt in die Sonne zu schauen. Vgl. Bleumer: Wort (wie Anm. 5), S. 130. Ist Peleus damit als der adäquate Gegner Hectors mit all seiner Lichthaftigkeit ausgewiesen, der ihn dennoch nicht überwinden kann, so erhält Achill nun einen Erzieher, der gleichfalls über diese Fähigkeit verfügt: Hier nun wächst der Gegner heran, der Hector besiegen wird.

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 Almut Schneider

les reist in einer durchsichtigen Fischblase, gezogen von zwei Delphinen – geschildert mit einer Metaphorik von Erneuerung und Wiedergeburt. Im Meer als dem Grenzraum schlechthin, im Zustand zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Traum und Wahrnehmung, befragt Achilles nun seine Situation in einer Rede, die vor allem die Begegnung mit dem Wunder, das ihm Unbegreifliche seiner Meerfahrt, variierend zum Ausdruck bringt:18 er dâhte: ‚waz ist mir geschehen? weder slâfe ich oder wache? ein wunderlîchiu sache mich füeret an ir zoume. mich dunket, daz mir troume daz fremde unbilde, daz ich spür. waz bræhte mînen ougen für daz wilde wunder anders? nû bin ich Alexanders geselle doch niht worden hie, der in daz tiefe mer sich lie, dur daz er sæhe vremdez dinc. wâ bin ich tumber jungelinc? wie var ich, sô mir got ergaz! ich fürhte, daz mich etewaz von ungehiuren dingen ûz sinnen welle bringen mit der gougelfuore sîn. ich lige doch bî dem meister mîn ûf einem vlinse herte. waz ist diz ungeverte, daz mich alsus betriuget und sich ze schaden biuget mir unde mîner angesiht? bin ich Achilles oder niht, wer kan mich underwîsen des? jâ, zwâre ich bin Achilles. waz möhte ich anders sîn, denn er? […]‘ (V. 14070–14097) 18 Thomas Luckmann betont, die persönliche Identität entwickle sich nicht von ‚Innen nach Außen‘, sondern von ‚Außen nach Innen‘. Erst in der Begegnung mit der Umwelt kann der Mensch sich selbst erfahren, denn „nur Umweltliches gibt sich dem Bewußtsein direkt“. Vgl. Luckmann: Identität (wie Anm. 1), S. 299. In mittelalterlicher Perspektive, so hat Hans Jürgen Scheuer gezeigt, ist die Wahrnehmung Achills als eine innere zu begreifen, als eine „Bilderflut der Imagination, [die,] ungebremst von der eigenen ratio, vorbeirauscht.“ Thetis gelingt es, mittels einer „phantasmische[n] Inversion“ das „Verhältnis von äußerer Welt und innerem Selbstbild[…] umzupolen.“ Hans Jürgen Scheuer: Numquam sine phantasmate – Antike in mittelalterlicher Imagination. In: Germanistik in und für Europa. Faszination – Wissen. Texte des Münchener Germanistentages 2004. Im Auftrag des Vorstands des Deutschen Germanistenverbands hg. von Konrad Ehlich. Bielefeld 2006, S. 381–390, hier S. 389. Das Staunen Achills über die Wunder, die er in dem Raum wahrnimmt, durch den er sich bewegt, wären damit notwendige Voraussetzung, um die Frage nach dem ‚Ich‘ stellen zu können.



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Vergleichbar Apollonius von Tyrland, der in Heinrichs von Neustadt späthöfischem Roman Schiffbruch erleidet und mitten im Meer, an eine Schiffsplanke geklammert, nach seiner Identität fragt (Pin ichs Appolonius?, V. 1346),19 fällt auch hier die Selbstidentifizierung Achills mit der Situation zusammen, in der seine Identität auf das Äußerste in Frage gestellt ist, da er alles zurücklassen musste, was seine Existenz bislang bestimmt hat. Er stellt die Frage nach dem ‚Ich‘ während einer Meerfahrt mit all ihren Unwägbarkeiten, denen immer auch – im Rückgriff auf die literarische Tradition – die Möglichkeit zum Schiffbruch eingeschrieben ist.20 Seine Identität ist dazu in dem Maße erschüttert, in dem sich sowohl sein Wahrnehmungsvermögen als auch seine Erinnerung als konstitutive Bedingungen personaler Identität als unzuverlässig erweisen.21 Entsprechend reagiert Achill erschrocken und fröudelos, als er die Wunder des Meeres erblickt. Als gougelfuore (V. 14087), als Blendwerk trügerischer Zauberei, erscheint Achill das, was er um sich herum wahrnimmt. Es ist eine trügerische Wahrnehmung, verbunden mit der Umkehr von Innen und Außen, die die Frage nach dem ‚Ich‘ auslöst, und die Achill für sich zu beantworten wagt mit dem Ausruf jâ, zwâre ich bin Achilles (V. 14096). Er bestimmt sich damit in Abgrenzung vom Anderen: als NichtJason, Nicht-Iwein, insbesondere aber als Nicht-Alexander, dessen Tauchfahrt und Greifenflug den Welteneroberer als Grenzgänger schlechthin auszeichnen. Doch in der historisch wie literarisch motivierten Abgrenzung gerade von Alexander erscheint Achill durchaus zugleich auf die Rolle des Helden und Grenzgängers perspektiviert.22 Die Frage nach dem ‚Ich‘ also stellt sich an der Grenze, im Übergang zum ganz Anderen – in dem Moment, in dem die eigene Identität am deutlichsten in Frage gestellt ist, wie Achill augenblicklich dann erfährt, als er wieder festen Boden unter den Füßen zu haben glaubt. Denn Thetis eröffnet ihm ihren Plan eines vollständigen Gestaltwandels. Achill soll sich als Mädchen verkleidet unter dem Gefolge der Töchter des Königs Lycomedes verstecken, um der Teilnahme am Trojanischen Krieg zu entge19 Heinrichs von Neustadt «Apollonius von Tyrland» nach der Gothaer Handschrift, «Gottes Zukunft» und «Visio Philiberti» nach der Heidelberger Handschrift hg. von Samuel Singer. Berlin 1906 (DTM. Band 7). 20 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 1979. 21 Zum Zusammenhang von Identität und Erinnerung Otto Gerhard Oexle: Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1994, S. 297–323; Ders.: Memoria und Memorialbild. In: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hgg. von Karl Schmid und Joachim Wollasch. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften. Band 48), S. 384–440. 22 Historisch motiviert ist hier in dem Sinne gemeint, dass es, wie eine dem lateinischen Mittelalter seit der Antike vertraute Anekdote berichtet, genau umgekehrt Alexander der Große ist, der das Grab Achills aufsucht, um an die heroische Troja-Tradition anzuknüpfen. Vgl. Hartmut Wulfram: Explizite Selbstkonstituierung in der Alexandreis Walters von Châtillon. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen. Hgg. von Jan Cölln, Susanne Friede und Hartmut Wulfram. Göttingen 2000, S. 222–269, hier S. 234f.

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 Almut Schneider

hen, auch wenn Thetis Achilles gegenüber anführt, Schyron habe dafür gesorgt, dass Achill gar ze wilde geworden sei (V. 14211), nun aber solle er das sanfte Wesen der Frau erlernen. In ihrer Begründung deutet sich der Blick des Erzählers auf die Mehrschichtigkeit eines ritterlichen Idealbildes an, das kriegerische und höfische Fähigkeiten und Fertigkeiten gleichermaßen vereint und damit auch die Kunst des Minnedienstes beherrscht. 23 Schyron aber hat in Achill vor allem die kriegerische Seite ausgebildet. Und so reagiert Achill auf den Vorschlag des ‚cross-dressing‘, wie es dem Krieger zusteht: einem Löwen gleich, mit Zorn.24 Und wenn Thetis in ihrer Argumentation selbst den höchsten Gott und das irdische Vorbild aller Helden und Halbgötter, Jupiter und Hercules, anführt, indem sie unterstreicht, beide hätten mitunter eine weibliche Gestalt angenommen, so entgegnet Achill energisch und wieder in einem Akt trügerischer Selbstwahrnehmung, im Gegensatz zu ihnen habe er ja wohl nicht um sein Leben zu fürchten, da ihm zu seinen Kräften ein vrîer muot (V. 14500) und ein vrîez leben (V. 14533) gegeben sei, mit dem er Löwen und Drachen besiegt habe: ich triuwe in allen stürmen genesen und erweren mich. vrouw unde muoter lobelich, ziuch mir niht mê die zwêne für, die man in wîbes bilde kür und in juncfrouwen schîne ir leben und daz mîne gehellent weder sus, noch sô. sach man für wîp die zwêne dô, waz gât mich an nû, vrouwe, des? her Jûpiter und Hercules si beide sint geheizen in al der welte creizen, sô bin Achilles ich genamt. nû sich, wie die gehellent samt und merke ir drîer underbint. als ungelîch die namen sint, sus ungelîch ist unser leben. (V. 14506–14523)

23 Vgl. aber die Verse 13402–13459. Zur Erziehung Achills Ulrich Barton: Manheit und minne. Achills zweifache Erziehung bei Konrad von Würzburg. In: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hgg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden. Berlin/New York 2009, S. 189–204. 24 Vgl. V. 14445f.: als ein grimmer löuwe er sach. / mit zorne er zuo der muoter sprach. Zum ‚crossdressing‘ Achills vgl. Krass: Kleider (wie Anm. 16). Zorn als die Emotion, die dem Handeln des Helden vorausgeht, beschreibt Klaus Grubmüller: Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nît und haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hgg. von C. Stephen Jaeger u. a. Berlin/New York 2003 (Trends in Medieval Philology. Band 1), S. 47–69. Der Held bezieht aus dem Zorn seine Kraft.

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Schon der ungleiche Klang ihrer Namen markiert für Achill die Differenz zwischen ihm und den Göttern, mit deren Leben das seine in keiner Weise harmoniere. Zweifach im Kontext seiner Entführung über das Meer betont Achill seine Identität – und beide Male liegt er damit gründlich falsch. Der Moment des Ich-Sagens erweist sich in beiden Fällen als trügerisch, als ein Moment der Selbsttäuschung und des Selbstbetrugs, als der Moment, in dem seine Identität als Held und als Mann in Frage gestellt ist. Wenn Achill darüber hinaus seine Freiheit hervorhebt, so liegt darin ein intertextueller Verweis auf das Leimrutengleichnis in Gottfrieds «Tristan». Dort ist es der vrîe vogel, der sich um seiner vrîheit willen auf die Leimrute setzt, um jede Freiheit einzubüßen.25 Genau so ergeht es Achill, denn es dauert nur wenige Verse, bis er durchaus bereit ist, dem Wunsch der Mutter folgend sogar seine Identität als Mann zu verleugnen. Denn was der Göttin und Magierin Thetis nicht gelingt, das gelingt der Magierin Minne. Deidamie, die Tochter des Königs Lycomedes tritt auf, und Achilles verfällt beim Anblick des Mädchens unmittelbar und vollständig den Fallstricken der Minne. Von ihr unterjocht und seiner selbst beraubt, fügt er sich willig in die Verwandlung zum Mädchen, so dass die Aufgabe seiner Identität sich auch im Namenswechsel von Achilles zu Jocundille manifestiert. Der Name Jocundille scheint kaum zufällig gewählt, denn er lässt sich zurückführen auf jocundus mit der Bedeutung ‚erfreulich, beliebt, angenehm, ergötzlich‘. Der Name verweist auf die Hülle, auf das angenehme Äußere, das den kriegerisch-männlichen Kern Achills verbirgt.26 Achill, der bislang nur die eine Seite ritterlicher Existenz bis hin zum Extrem einer Annäherung an eine Tiernatur kannte, wird von der Minne in vergleichbarer Wildheit vollständig gebannt. Der Liebende Achill ist wie der Kämpfer als eine Figur der Extreme gezeichnet, so dass der Löwenbezwinger es nun nicht wagt, den Blick zu heben. Er het ê die getürstekeit, daz er mit grimmen löuwen streit, und was nû worden von der scham sô blûc und alsô vorhtesam, daz er niht einer megde guot getorste künden sînen muot und sînes herzen ungemach. (V. 15557–15563)

25 Vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg. und übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Nachdruck der 6., durchgesehenen Aufl. 1993. Stuttgart 2002–2003 (RUB. Bände 4471–4473), hier V. 842–848. 26 Chandler verweist darauf, dass es sich mit dem Namen Jocundille wohl um eine eigene Erfindung Konrads handelt. Frank W. Chandler: A Catalogue of Names of Persons in the German Court Epics. An Examination of the Literary Sources and Dissemination, together with Notes on the Etymologies of the More Important Names. Ed. with an Introduction and an Appendix by Martin H. Jones. London 1992 (King’s College London Medieval Studies. Band 8); vgl. auch Lienert: Geschichte (wie Anm. 5), S. 88.

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Es sind also Schwellenmomente, Momente größter Unsicherheit, in denen Konrad seine Figur ‚Ich‘ sagen lässt. Damit markiert er weniger die Identität seiner Figur als gerade ihre Position an einer solchen Grenze vor allem zwischen den beiden Seiten, die im höfischen Roman die ritterliche Identität geradezu konstituieren: zwischen militia und amor. Lässt sich für den «Iwein» festhalten, dass sich die Identität des Protagonisten in der Kongruenz beider Seiten erfüllt – Iwein ist ganz bei sich, wenn er Dame und Reich gewonnen hat – so ist in der Figurenzeichnung Achills eine solche Gleichzeitigkeit von militia et amor gerade nicht angelegt.27 Dies verdeutlicht auch ein Blick auf den «Erec».28 Zu Beginn des ersten Artusromans Hartmanns von Aue, noch bevor Erec sich als Ritter bewährt hat oder auch nur in die Gemeinschaft der Ritter aufgenommen ist (er ist noch bî den wîben),29 wird er konfrontiert mit einer Konstellation aus Ritter, Dame und Zwerg, das heißt, ein Ritter in Begleitung einer Dame und eines Zwergs ist es, der den Artushof in Abwesenheit des Königs provoziert. Die Königin sendet zunächst eine Zofe, dann auch Erec aus, um nach der Identität des fremden Ritters zu fragen, der sich dem Artushof nähert. Doch statt eine Antwort zu geben, stellt sich der Zwerg zankend in den Weg und schwingt seine Peitsche gegen das Mädchen wie auch gegen Erec. In Anwesenheit der Königin fügt er dem jungelinge («Erec», V. 757) eine Demütigung zu und damit eine Provokation, die durch nichts anderes beantwortet werden kann, als durch den Ausritt Erecs zu seiner ersten Aventiurefahrt, in deren Verlauf er nicht allein den Ritter besiegen, sondern auch Enite als Dame gewinnen wird.30 Die Dreierkonstellation, bestehend aus Ritter, Dame und Zwerg also – einer imago ritterlicher Existenz gleich – löst die Bewegung Erecs aus, seinen Weg in die antihöfische Gegenwelt und seine gedoppelte Aventiurefahrt. Zuletzt wird er an den Artushof zurückkehren in einer Konstellation, die genau derjenigen entspricht, die diesen ersten Ausritt motiviert hat: als Ritter in Begleitung einer Dame und eines Zwergs. Doch sind diesmal die Positionen neu besetzt. Die Dame ist Enite und der Zwerg ist der zwergenhafte König Guivreiz, der 27 Hartmann von Aue: Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hg. und übers. von Volker Mertens. Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters. Band 6); zum Auseinanderfallen von minne und strît bei Konrads Gestaltung der Minne Achills vgl. Kellner: Kontinuitäten (wie Anm. 5), S. 101f. 28 Hartmann von Aue: Erec. Hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolf, 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner. Tübingen 1985 (ATB. Band 39). 29 Vgl. Hartmann von Aue: «Erec» (wie Anm. 28), V. 1: bî ir und bî ir wîben. 30 Schon in der ersten Szene des Fragments Hartmanns von Aue wird die Jugendlichkeit Erecs hervorgehoben, denn es ist der junge man («Erec», V. 18), der die Königin fragt, ob er die Herkunft des fremden Trios in Erfahrung bringen soll, und bei seinem Ausritt beklagt die Königin, daz er alsô junger reit («Erec», V. 145). Dorothea Klein hat gezeigt, in welcher Weise Hartmann von Aue Chrétiens Helden neu konzipiert, indem er – ausgehend von der Jugendlichkeit des Helden – dessen Ausbildung einer männlichen Rollenidentität zu einem zentralen Thema des Romans entwickelt. Vgl. Dorothea Klein: Geschlecht und Gewalt. Zur Konstitution von Männlichkeit im «Erec» Hartmanns von Aue. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hgg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 433–463.

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Freund und Vertraute Erecs, an dessen ritterlicher Idealität Hartmann an keiner Stelle einen Zweifel aufkommen lässt.31 Erecs Aufgabe besteht darin, der zu werden, als der er angelegt ist: ein Ritter, der sich eine Dame errungen hat und dem es gelingt, seine Aggression zu zähmen, der Minne und ritterlichen Kampf zu handhaben und zu bändigen weiß. Sein Weg durch den Artusroman ist damit auch zu lesen als der Weg einer Identifizierung mit dem Bild, das seinen Ausritt provoziert. So wird der Diskurs über Identität im «Erec» narrativ entfaltet über eine Struktur der Spiegelung, über die Begegnung des Protagonisten mit den Spiegelbildern des Selbst – und über den Zweikampf als dem zentralen Bild für eine solche Auseinandersetzung. Wenn es Erec zum Schluss gelungen ist, der zu werden, als der er disponiert ist, so führte der Weg dorthin über eine Abfolge von ritterlichen Zweikämpfen. Anders gesagt: Die Auseinandersetzung mit dem Selbst ist auch hier – wie so oft im höfischen Roman – ins Bild des Zweikampfes gefasst. Konrad dagegen erzählt anders. Die Ausbildung einer ritterlichen Identität, wie sie etwa Erec für sich gewinnt, einer Identität, die sich über ein Zusammenfallen von amor et militia konstituiert – ist für Achill nicht möglich. Zwar bedeutet sein ‚crossdressing‘ keinen vollständigen Selbstverlust, denn seine männliche Identität ist zu keiner Zeit aufgehoben. Seine männlich-kriegerische Art, so hat Lydia Miklautsch beschrieben, kommt in seinen Gesten, mehr aber noch in seiner Liebe und seinem Begehren Deidamies immer wieder zum Vorschein.32 Dennoch ist sein Wandel zum Mädchen geradezu als Metamorphose hin zu einem Erscheinungsbild perfekter Weiblichkeit gestaltet. Und die Minne kann nur dort ihren Raum behaupten, wo die Männlichkeit Achills zwar nicht ausgelöscht, wohl aber verborgen werden muss. Insbesondere ist es ein Wechsel der ihm eingeschriebenen Bilder, der Gewinn und Verlust dessen markiert, was Achills Identität bestimmt. Denn als es Ulixes gelungen ist, Achill zu enttarnen und ihn so aller Vorkehrungen zum Trotz als Kämpfer gegen Troja zu gewinnen, ist seine Rückkehr zum Erscheinungsbild eines Helden dadurch markiert, dass das Bild Deidamies in seinem Herzen ausgelöscht wird.33 sîn muoter und diu minne ûz sînem herzen wâren komen. Dêîdamîe wart genomen ûz sînem muote bî der zît. (V. 28530–28533)

31 Zur Spiegelbildlichkeit Erecs und des Zwergenkönigs Guivreiz Burkhard Hasebrink: Erecs Wunde. Zur Performativität der Freundschaft im Höfischen Roman. Oxford German Studies 38 (2009) S. 1–11. Die Parallelität der Szenen beobachtet auch Joachim Bumke: Der «Erec» Hartmanns von Aue. Eine Einführung. Berlin/New York 2006, hier S. 22. 32 Lydia Miklautsch: Das Mädchen Achill. Männliches Crossdressing und weibliche Homosexualität in der mittelalterlichen Literatur. In: Meyer und Schiewer (Hgg.): Leben (wie Anm. 30), S. 575–596, hier S. 590. 33 Deidamias Klagen allerdings wecken wieder die Liebe in Achill, dessen Abschiedsschmerz Konrad gegenüber seiner Vorlage herausstellt. Vgl. Lienert: Geschichte (wie Anm. 5), S. 140.

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Auch Konrad reflektiert damit die Möglichkeit seiner Figur, ‚Ich‘ zu sagen, doch geht es ihm, wie die Figurenzeichnung Achills zeigt, nicht um Identität, sondern vielmehr um Diversifikation, um wechselnde, nicht zur Deckung zu bringende Identitäten, und damit um den Entwurf einer Figur, deren personale Identität sich nicht in der Mehrschichtigkeit übereinandergelagerter Identitäten entwirft, sondern bei der wie bei einer Kippfigur mal die eine, mal die andere seiner partizipativen Identitäten zwischen Einprägen und Auslöschen ihrer inneren Bilder sichtbar wird. So wird in der Metaphorik der Bildprägung auch Achills Ausbildung bei Schyron im Bild von Siegel und Wachs veranschaulicht: alsam daz wahs ein ingesigel formieret nâch dem bilde sîn, swenn ez gedrücket wirt dar în, seht, alsô wart vil sêre nâch sînes meisters lêre geschepfet des juncherren muot (V. 6386–6391)

Dem aber korrespondiert die Darstellung eines seiner Kämpfe mit dem – so weit Konrads Fragment reicht – so sehr überlegenen Hector, der Achill nur deshalb nicht töten kann, weil dieser unverwundbar ist.34 Es gelingt ihm aber, Achill den Brustpanzer so tief in die Haut zu drücken, dass es dem Eindruck von Siegel in Wachs entspricht. doch sluoc in bî den stunden Hector, der junge degen snel, daz im der harnasch in daz vel und in daz fleisch gestempfet wart. diu zwei beliben unverschart, iedoch enphiengen si den pîn, daz die ringe swunken drîn als in ein wahs das ingesigel. (V. 31182–31189)

Hatte sich Schyrons Erziehung dem Wesen Achills wie ein Siegel eingeprägt, so ist es nun der Zweikampf mit dem für ihn zunächst unüberwindlichen Hector, der markiert, in welcher Weise Achills Identität dadurch bestimmt ist, Hectors Gegenspieler zu sein. Dies zeigt sich nicht allein mit dem Zeitpunkt seiner Zeugung genau an dem Abend, an dem Hector im Zweikampf gegen Peleus sein kämpferisches Vermögen offenbart hat, sondern auch mit der Ausbildung durch Schyron, die sich entgegen der Absicht seiner Mutter Thetis als Vorbereitung seiner Konfrontation mit Hector erweist, wie der Text mittels der Korrespondenz des Bildes von Siegel und Wachs unterstreicht.

34 Gegenüber allen Quellen und auch im Vergleich zu Herbort betont Konrad die Hector-AchillPolarität. Vgl. Lienert: Geschichte (wie Anm. 5) S. 134.

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Deutlich wird dieser Bezug auf den Kontrahenten jedoch auch in der Szene, in der sich Achills Rückverwandlung zum Krieger vollzieht. Auch hier steht im Zentrum die Frage nach einem Bild, genauer nach einem heraldischen Zeichen, das ja in besonderer Weise prädestiniert wäre, Identität zu markieren.35 Gegen die gewaltige Kampfkraft Hectors ist den Griechen kein Kraut gewachsen, es sei denn, es gelingt ihnen, Achill zur Teilnahme am Krieg zu bewegen. Ulixes, zum Königshof des Lycomedes aufgebrochen, hat Achill längst an seiner Gestik erkannt, an seinen raumgreifenden Bewegungen, die jede Bändigung unter den Vorgaben weiblicher mâze – wie sie andernorts Medea formvollendet vorführt – konterkarieren.36 Dennoch führt er eine letzte List aus, indem er für die Mädchen aus dem Gefolge Deidamias einen Krämerstand aufbaut mit einerseits allerlei Werkzeug zur Textilverarbeitung und Geschmeide, andererseits aber mit Lanzen, Schilden und Schwertern. Achill, der dem weiblichen Handwerkszeug sofort den Rücken zukehrt, erblickt im Schild sein eigenes Bild. In diesem Moment beginnt seine Wandlung vom Liebenden zum Krieger, der sich endgültig ûz dem stricke / der vröuwelichen mâze (V. 28220f.) windet. Denn wie der Löwe, der erst im Bild seine Stärke erkennt, so erkennt Achill seine Stärke und erinnert sich seiner Identität als Mann und als Kämpfer: der kneht von edelkeite hôch wart als ein gluot enbrennet, wan als er hete erkennet die schilte glanz von golde fîn und er gesach daz bilde sîn dar inne wider glesten, dô wart zehant den gesten erzeiget sîn vil grimmer zorn, wan der juncherre hôchgeborn gedâhte in sînem muote des: ‚bin ich der küene Achilles, den Schŷron erzogen hât, wes trage ich denne wîbes wât und einer megede kleider? dêswâr, ich solte ir beider ungerne muoten unde gern. swer löuwen unde wilde bern betwingen mac mit sîner hant, dem ist ein vröuwelich gewant gemæze noch gebære niht. […]‘ (V. 28366–28385)

35 Friedrich: Menschentier (wie Anm. 10), S. 206. 36 Zu Medea vgl. Burkhard Hasebrink: Rache als Geste. Medea im «Trojanerkrieg» Konrads von Würzburg. In: Meyer und Schiewer (Hgg.): Leben (wie Anm. 30), S. 209–230.

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Achills Blick fällt in den blanken Schild. Anders als bei Statius, dessen Schild eine Darstellung kriegerischer Taten aufweist, ist der Schild bei Konrad leer.37 Er trägt keine bildliche Darstellung, kein Wappenzeichen, sondern bildet einzig eine Projektionsfläche für den Blick des Betrachters auf sich selbst: einen Spiegel, der einen Moment der Erkenntnis offenbart.38 Zugleich aber ist das Bild des Löwen zwar nicht auf dem Schild, wohl aber in der Darstellung der Reaktion Achills präsent, wenn er sich dem Löwen gleich seiner craft erinnert: er tet in sîner touben suht alsam ein löuwe freissam, den ûz eime tiere zam sîn schate machet wilde. swenn er sîn selbes bilde in eime spiegel hât ersehen und er die craft beginnet spehen, der wunder ist an in gewant. (V. 28486–28493)

Auf den Löwen ist Achill durchweg bezogen. Er wurde von einer Löwin gesäugt aufgrund der Fähigkeit Schyrons, den Naturtrieb der Löwin zu bändigen. Als Thetis ihren Sohn wiederfindet, ist er in das Fell eines von ihm erlegten Löwen gehüllt, und einem Löwen gleich erkennt er zuletzt im Spiegelbild seine Stärke. Zugleich ist der Löwe das heraldische Tier schlechthin – und als Wappentier fungiert er auch im «Trojanerkrieg». Doch nicht Achill, sondern Paris und vor allem Hector, um dessentwillen Achill unter allen Umständen zur Teilnahme am Krieg bewogen werden muss, tragen den Löwen im Schild. So hat das Bild des Löwen mit der Assoziation eines Wappentiers nicht die Funktion, Achill eine heraldische Identität zuzuweisen, sondern es geht vielmehr um die Doppeldeutigkeit eines Bildes, das nicht eine Figur identifiziert, sondern zwei 37 Auf diese bedeutsame Differenz macht Lienert: Geschichte (wie Anm. 5), S. 138 aufmerksam: „Bei Statius gerät der Held auf den Anblick des mit Kriegsdarstellungen geschmückten Schildes hin außer sich […].“ Auch in der Jugendgeschichte des Paris spielt der Spiegel eine zentrale Rolle, denn der Säugling Paris lacht beim Anblick seines Spiegelbildes im Schwert seiner Mörder und wird darum verschont. Bleumer: Wort (wie Anm. 5), S. 117, beschreibt die Verschränkung von Schönheit und Untergangsgeschehen. Sie lässt sich auch für den Blick Achills in den Spiegel festhalten, ist dieser Blick doch ursächlich für seine Teilnahme am Krieg. 38 Zum Spiegel als eine Metapher der Erkenntnis vgl. Thomas Cramer: Das Subjekt und sein Widerschein. Beobachtungen zum Wandel der Spiegelmetapher in Antike und Mittelalter. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hgg. von Martin Baisch u. a. Königstein im Taunus 2005, S. 213–229, hier S. 220f.; Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001, hier S. 115–118; Christiane Witthöft: Inszenierte Evidenz. Erzählstrategien gespiegelter Selbsterkenntnis in der Novellistik des Mittelalters («Frauenlist», «Der Spiegel», «Drei listige Frauen»). In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17.–19. Februar 2011. Hgg. von Florian Kragl und Christian Schneider. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik. Band 13), S. 261–284, dort weiterführende Literatur auf S. 262.

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Figuren eine Relation zuweist.39 Entsprechend erkennt Achill sich selbst im Schild des Ulixes nicht zuerst als Löwen, sondern als Löwenbezwinger. Damit nimmt er sich in Bezug auf Hector wahr, ohne dass es dafür ein Figurenbewusstsein gäbe. Wenn Achill erneut, im entscheidenden Kampf, auf einen Schild blicken wird, trägt dieser tatsächlich das Bild eines Löwen – als Wappenzeichen Hectors. Das Bild des Löwen weist damit ein Spannungsmoment auf, einerseits Wappenzeichen zu sein, andererseits aber zugleich das Bild für Achill, das seit der «Rhetorik» des Aristoteles als prominentes Beispiel gilt, das Wesen der Metapher zu erläutern.40 Achill erscheint im «Trojanerkrieg» damit als eine Figur, die nicht im Hinblick auf Identität, sondern vielmehr auf Diversifikation hin entworfen ist. Dennoch hat der Name Achills einen ganz eigenen Ort außerhalb der Erzählebene: im Zentrum der Minne des Paares Achill und Deidamie. Die Minnegeschichte zwischen Achill und Deidamie, so hat Ulrich Barton beobachtet, ist in der Nähe zur Tristanminne entworfen.41 So ist Deidamies Auftritt am Strand von Scyros, der Achills Gestaltwandel motivieren wird, demjenigen Isoldes am irischen Königshof nachgebildet, denn auch ihre Schönheit überstrahlt die ihres Gefolges wie der Mond, der die Sterne übertrifft: als einen mânen vollekomen, der für alle sternen glanz sîn lieht durchliuhtic unde ganz kan breiten unde mêren. nâch vollenclichen êren ir iegelîchiu lûter was, doch schein ir aller spiegelglas diu reine wandels vrîe. (V. 14610–14617)

39 Achill und Hector ‚spiegeln‘ hier einander. Die Fähigkeit zu wechselseitiger ‚Spiegelung‘ aber bezeichnet Thomas Luckmann als „Grundvoraussetzung dafür, daß der einzelne Mensch eine persönliche Identität ausbildet“, Luckmann: Identität (wie Anm. 1), S. 299. Die Metapher des Spiegels hebt die Kategorie der Relation hervor, so zeigt Burkhard Hasebrink: Spiegel und Spiegelung im «Fließenden Licht der Gottheit». In: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998. Hgg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin. Tübingen 2000, S. 157–174, hier S. 162. 40 Aristoteles: Rhetorik. Übers. und hg. von Gernot Krapinger. Stuttgart 2007 (RUB. Band 18006), Buch III,4, S. 161: „Aber auch das Gleichnis ist eine Metapher, denn der Unterschied zwischen beiden ist gering: Wenn man nämlich [von Achill] sagt, ‚wie ein Löwe griff er an‘, so ist das ein Gleichnis, sagt man aber ‚der Löwe griff an‘, eine Metapher. Weil beide mutig sind, nennt man Achill metaphorisch einen Löwen.“ Vgl. Werner Strube: Über verschiedene Arten der Bedeutung sprachlicher Äußerungen. Eine sprachphilosophische Untersuchung. In: Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hgg. von Fotis Jannidis u. a. Berlin/New York 2003, S. 36–67, hier S. 50–53. 41 Vgl. Barton: Manheit (wie Anm. 23).

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Und auch das Beisammensein der Liebenden im Baumgarten ist demjenigen Tristans und Isoldes in der Minnegrotte in der Weise vergleichbar, als das Paar in der Verschränkung von Liebeshandlung und Gesang miteinander musiziert. Wie Tristan ist es hier Achill, der – allerdings in der Rolle Jocundilles – seine Geliebte nicht allein im Spiel von Harfe und Leier unterweist, sondern sie Gesang lehrt. Und auch hier, dem leich Tristanden nachgebildet, wird Achill selbst zum Gegenstand des Gesangs, denn er lehrt sie, den leich von Achill zu singen: und kâmen des beid über ein, daz er si lêrte künste vil. er sprach, ‚mîn liebe trûtgespil, ich wil dich underwîsen des, daz mich dâ lêrte Achilles, dô wir ein ander wâren bî. waz lîren unde harpfen sî, daz solt dû künnen, werdiu fruht. ich lêre dich sîn die genuht, wan ich kan ir beider vil.‘ hie mite er si dô seiten spil begunde lêren alzehant. […] er lêrte singen einen leich die clâren küniginne. dâ wart Achilles inne gerüemet bî der stunde. er selbe von ir munde mit sange wart geprîset. (V. 15810–15849)

Auch wenn Achill seinen Namen und seine Identität am Hof des Lycomedes verbergen muss, er in der Rolle Jocundilles seine Männlichkeit zunächst nicht preisgeben darf, so erhält doch der Name Achill einen spezifischen Ort: im Zentrum der Dichtkunst, im Raum der Lyrik und des Gesangs. Und wenn Deidamie ihrerseits ansetzt, auch ihre Freundin und Vertraute Jocundille unterrichten zu wollen und dabei ihr das Spinnen und Nähen beizubringen sucht, so ist auch ihre Fertigkeit der Erstellung eines Gewebes über die Textilmetaphorik in die Nähe einer dichterischen Produktion gerückt, bei er es mit der Tätigkeit des ordnenden Verflechtens, der Verknüpfung und des Glättens eines Gewebes um die narrativen und rhetorischen Strukturen eines Textes geht.42 Über die Metaebene der poetologischen Reflexion, die Konrads Werk 42 Beate Wagner-Hasel: Textus und texere, hýphos und hyphaínein: Zur metaphorischen Bedeutung des Webens in der griechisch-römischen Antike. In: ‚Textus‘ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld. Hgg. von Ludolf Kuchenbuch und Uta Kleine. Göttingen 2006, S. 15–42; Ulrich Ernst: Text und Intext. Textile Metaphorik und Poetik der Intextualität am Beispiel visueller Dichtungen der Spätantike und des Frühmittelalters. In: ebd., S. 43–75; Gerhart von Graevenitz: Contextio und conjointure, Gewebe und Arabeske. Über

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durchzieht, stellt sich Deidamies Kunst neben die Kunst des Dichters, der durch seine Sprache Gewänder schafft, deren Kunstfertigkeit, wie Konrad im Bild der gedichteten Steine am Gewand des Paris verdeutlicht, erwünschet mit dem munde / und alsô rehte vîn erdâht (V. 2960f.) und damit in der Realität nicht überbietbar ist.43 Zudem tritt Deidamie auch selbst als Dichterin auf, denn sie ist es, die in ihrer Figurenrede den locus amoenus der Liebesbegegnung mit Achill mittels ihrer Worte Gestalt gewinnen lässt, noch bevor der Erzähler sich ihrer Beschreibung anschließt: ‚wol ûf,‘ sprach si, ‚wir müezen gân ze velde mit ein ander. dâ singet der galander und diu liebe nahtegal. waz ob ir wunneclicher schal dîn ungemüete swachet. sô dur dîn ouge lachet vil manic bluome in dînen muot und des vil liehten meigen bluot gelpf in dîn herze glîzet, sô swindet unde slîzet dîn ungemüete garwe von manger hande varwe.‘ […] si giengen z’ einer ouwe, diu mit des meien touwe vil sanfte was erfiuhtet und wunneclich erliuhtet stuont mit bluomen und mit grase. ir ougen bar der grüene wase süez unde senfte weide mit aller hande cleide, daz herze fröuwet unde sin. si giengen zuo den boumen hin und brâchen wol geblüemtiu rîs, mit den wart in dô manic wîs vil sanfte und inneclichen wol. (V. 15688–15723)

Genau hier, an einem Ort, der mit Metaphern des Poetologischen beschrieben ist, öffnet sich der Raum, an dem sich Gesang, das heißt: Heldenlied, und Liebesspiel

Zusammenhänge mittelalterlicher und romantischer Literaturtheorie. In: Literatur, Artes und Philosophie. Hgg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1992 (Fortuna vitrea. Band 7), S. 229–257. 43 Krass: Geschriebene Kleider (wie Anm. 16); Almut Schneider: Das textile Gewebe des Krieges. Gewand und Gewandmetaphorik in Konrads von Würzburg «Trojanerkrieg». In: Beziehungsreiche Gewebe. Textilien im Mittelalter. Hgg. von Kristin Böse und Silke Tammen. Frankfurt a. M. 2012, S. 163–183.

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vermischen.44 Im Zentrum dieser Bewegung aber steht der Name des Helden. Auch wenn die Kunstfertigkeit Deidamies mittels ihrer textilen Fertigkeiten gleichfalls auf die Dichtkunst hin ausgerichtet ist, lehnt Achill es doch energisch ab, die Erstellung eines solchen Textils zu erlernen. Er wendet sich dem Würfelspiel zu und damit nicht der Kunstfertigkeit, sondern dem Zufall.45 Dennoch lenkt das Zusammenspiel von Gesang und Techniken der textilen Produktion zugleich den Blick auf die Dichtkunst selbst. Identität in Konrads «Trojanerkrieg» ist damit wesentlich als ein Problem der Sprache, der Kunst des ‚Ich‘-Sagens entwickelt – und damit performativ entfaltet. Die Frage nach der personalen Identität der Figur führt auf die Reflexion über Dichtkunst als den Ort, an dem über Identifikation nachgedacht, Identifikation als ein Problem der Sprache reflektiert wird. Doch auch auf dieser Ebene geht es nicht um Einheit, sondern vielmehr um die Differenzerfahrung, die die Auseinandersetzung mit der unverzichtbaren und doch unzuverlässigen Sprache mit sich bringt.46 Im zweiten Kapitel seiner Reflexion über die Beredsamkeit in der Volkssprache («De vulgari eloquentia») hebt Dante hervor, dass allein der Mensch der Sprache bedarf, nicht aber das Tier und auch nicht der Engel:47 Wenn wir nämlich genau betrachten, was wir mit dem Sprechen beabsichtigen, wird klar, daß es nichts anderes ist, als andern einen Begriff unseres Geistes zu enthüllen. Da aber die Engel zur Mitteilung ihrer ehrwürdigen Ideen eine ganz unmittelbare und unaussprechliche Fähigkeit des Intellekts haben, wodurch einer dem anderen gänzlich durch sich selbst bekannt wird, oder zumindest durch jenen strahlendsten Spiegel, in dem alle in vollendeter Schönheit vergegenwärtigt sind und auf den alle unersättlich schauen, scheinen sie keines Sprachzeichens zu bedürfen.48

Mit der Spiegelmetapher, deren biblische Provenienz Ruedi Imbach aufzeigt, bezeichnet Dante den göttlichen Geist, durch den ein Engel den Geist des anderen in der 44 Damit ist dieser Raum der Minnegrotte in Gottfrieds «Tristan» nachgebildet. Vgl. Hartmut Bleumer: Gottfrieds «Tristan» und die generische Paradoxie. PBB 130 (2008), S. 22–61. 45 Zum Würfelspiel als Inbegriff des Kontingenten vgl. Mireille Schnyder: Glücksspiel und Vorsehung. Die Würfelspielmetaphorik im «Parzival» Wolframs von Eschenbach. ZfdA 131 (2002) S. 308–325. 46 Zur Unzuverlässigkeit der Sprache und deren dichterischer Reflexion vgl. Winfried Wehle: Zur Einführung. In: Über die Schwierigkeiten, (s)ich zu sagen. Horizonte literarischer Subjektkonstitution. Hg. von Dems. Frankfurt a. M. 2001 (Analecta Romanica. Band 63), S. 7–15. 47 Dante Alighieri: De vulgari eloquentia I. Über die Beredsamkeit in der Volkssprache. Lateinisch– Deutsch. Übers. von Francis Cheneval, mit einer Einleitung von Ruedi Imbach und Irène RosierCatach und einem Kommentar von Ruedi Imbach und Tiziana Suarez-Nani. Hamburg 2007 (Dante Alighieri. Philosophische Werke. Band 3), S. 5. 48 Si etenim perspicaciter consideramus quid cum loquimur intendamus, patet quod nichil aliud quam nostre mentis enucleare aliis conceptum. Cum igitur angeli ad pandendas gloriosas eorum conceptiones habeant promptissimam atque ineffabilem sufficientiam intellectus, qua vel alter alteri totaliter innotescit per se, vel saltim per illud fulgentissimum Speculum in quo cuncti representantur pulcerrimi atque avidissimi speculantur, nullo signo locutionis indiguisse videntur. Dante: «De vulgari eloquentia I» (wie Anm. 47), S. 4.

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Unmittelbarkeit seines Erkenntnisvermögens – sine locutione – erfassen kann.49 Wenn Konrad dagegen seinen Helden Achill in den Spiegel blicken lässt, so erkennt dieser darin keineswegs seine Identität. Mit dem Blick der Figur – auch in den Mehrfachspiegelungen, die sich durch die Vielzahl der Schilde ergeben, die Achill umstehen – wird der Blick des Rezipienten zugleich auf die Vielschichtigkeit der Metapher gelenkt. Damit verweist Konrad die Auseinandersetzung mit Identität ins Zentrum der Sprache. Doch geht es nicht allein darum, die Unfassbarkeit personaler Identität auf die Ambivalenz der Sprache in ihrer Zeichenhaftigkeit zurückzuverweisen. Der Blick in den Spiegel Achills zeigt mehr: Wenn Achill in dem Moment, in dem er auf die Vielzahl der Schilde des Ulixes blickt, sein Spiegelbild als das eines Löwen wahrnimmt, so deutet dieser Blick auf den Zweikampf mit Hector voraus. Denn genau dort wird Achill, von dem es heißt, er het ê die getürstekeit, daz er mit grimmen Löwen streit,50 erneut einem Löwen gegenüberstehen. Diesmal findet sich der Löwe im Schild Hectors und der Erzähler betont, dass der Löwe nicht allein das heraldische Zeichen, sondern zugleich das Charakterzeichen des trojanischen Helden ist:51 daz er den löuwen fuorte, daz was im wol gemæze. sô frech und alsô ræze wart nie grimmer löuwe als er (V. 25970–25973)

Doch der Löwe ist nicht durchgängig als Hectors Wappenzeichen gezeichnet, denn im Kampf gegen Peleus trug er das Zeichen der Sirene.52 Ist der Löwe, auf den Achill so vielfältig bezogen ist, als Verbildlichung einer personalen Identität entworfen, so zeigt sich, dass Identität in Konrads «Trojanerkrieg» als eine temporäre, insbesondere aber als eine relationale Kategorie entwickelt ist, die sich allenfalls im Blick auf den Anderen konstituiert – und doch nur so lange Bestand hat, wie dieser Blick währt. Achills Identität ist nicht zuerst mehrschichtig, sondern in der Dynamik ihrer stets wechselnden Konstitution als nicht greifbar markiert. Dieses Spiel aber, in der Überlagerung einander widersprechender Identitätszuschreibungen, hat seinen Ort in der Dichtung, im Leich von Achill – und damit im Lied. So ist es wohl kein Zufall, wenn sein eigenes Wappenzeichen im Kampf gegen Hector der Schwan ist, der singt,

49 Vgl. den Kommentar der Ausgabe, Dante: «De vulgari eloquentia I» (wie Anm. 47), S. 80f. 50 «Trojanerkrieg» (wie Anm. 3), V. 15557f. 51 Vgl. Friedrich: Menschentier (wie Anm. 10), S. 209f. 52 Zum Zeichen der Sirene als Helmzier Hectors vgl. Bleumer: Wort (wie Anm. 5), S. 129f. Als Sicht- und Klangkunstwerk steht es der Sirene zu, Klang sichtbar zu machen. Sie verweist auf die Verschränkung von Sprachlichkeit und Bildlichkeit des Textes. „Die Bilder des Textes werden erst wahrnehmbar, wenn sie selbst als sprachliche Zeichen begriffen sind.“ Auch für den Löwen als Zimierde Hectors lässt sich sagen, dass „die Wahrnehmung des Bildes erst mit dem Verständnis seiner Verweisstruktur ansetzt.“ Ebd., S. 130.

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wenn er stirbt.53 Zu fragen bleibt, ob die prozesshaft wechselnde Identität der Figur in Konrads «Trojanerkrieg» auch als Korrespondenz zu einer Textbewegung zu verstehen ist, die in ihren stetigen Perspektivwechseln zwischen einer Ästhetik des Glanzes und der gleichzeitigen Darstellung unvorstellbarer Grausamkeit des Kriegsgeschehens eine Ambivalenzstruktur erzeugt, die, wie Jan-Dirk Müller gezeigt hat, den Text insgesamt bestimmt.54 Die Identität Achills als Held des Trojanischen Krieges ist mythographisch bestimmt. Auch die Figur in Konrads «Trojanerkrieg» ist nicht frei von dieser Herkunft, sondern Achill ist als Held konzipiert und damit auf den Tod ausgerichtet. Anders gesagt: Der Tod ist konstitutiv für die Gestaltung Achills, sein Heldentod vor Troja bestimmt den Kern seiner Identität, und so sind Dichtung und Tod hier eng aufeinander bezogen. Der Name Achills und mit ihm seine Geschichte stehen fest – und doch entfaltet Konrad von Würzburg genau darum ein Spiel, in dessen Mittelpunkt es um die Identität des Helden, mehr aber noch um dessen poetische Konstruktion geht, um die Frage, wie Identität performativ hergestellt werden kann. Identität ist nicht auf Dauer gestellt, sie beansprucht keine überzeitliche Gültigkeit, sondern der Held sucht sich immer wieder seiner selbst zu vergewissern. Doch sind es allenfalls partizipative Identitäten, die der Held aussagen kann, und sie führen gerade nicht zu einer Einheit der Figur. Einzig der Name setzt gegen die Diversifikation von Identitäten ein Einheitsmoment. Doch im Kontext der Minnehandlung gibt Achill den Namen sogar auf beziehungsweise verlagert ihn in die Dichtung, in seinen Gesang. Schyron bildet vor, was Achill zu erfüllen hat. Auch dessen Aufgabe ist es, der zu werden, als der er disponiert ist: der Held vor Troja, der auf seinen entscheidenden Kampf gegen Hector ausgerichtet ist. Das Bild von Siegel und Wachs verdeutlicht diese Prägung. Daher rührt auch der weite Blick des Kentauren, der in seiner Zwitternatur genau die Verbindung von Mensch und Tier, von Zivilisation und Wildheit verkörpert, die für Achill durch seine Erziehung zur Grundlage seiner Kampfkraft wird. Achill kämpft wie ein Löwe gegen Löwen. Er erlegt Löwen im Wald und er wird denjenigen töten, dessen heraldisches Zeichen der Löwe ist.55 Und dennoch entfal53 Zum Schwan vgl. Ulrich Wyss: Ich tuon sam der swan, der singet, swenne er stirbet. Über die Lesbarkeit des Minnegesangs. In: Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag. Hgg. von Silvia Bovenschen u. a. Berlin/New York 1997, S. 24–41. Achills Klage über den Tod des Patroclus mündet in die Umdeutung der Liebesformel: dû wære mîn, sô was ich dîn (V. 38822). Vgl. dazu Friedrich Ohly: Du bist mein, ich bin dein. Du in mir, ich in dir. Ich du, du ich. In: Kritische Bewahrung. Beiträge zur deutschen Philologie. Festschrift für Werner Schröder zum 60. Geburtstag. Hg. von Ernst-Joachim Schmidt. Berlin 1974, S. 371–415. 54 Jan-Dirk Müller: schîn und Verwandtes. Zum Problem der ‚Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg «Trojanerkrieg». (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik). In: Dicke u. a. (Hgg.): Wortfeld (wie Anm. 5), S. 287–307. 55 Dabei trägt nicht allein Hector den Löwen im Wappen, auch Paris und andere trojanische Helden sind mit diesem Wappentier ausgezeichnet.



jâ, zwâre ich bin Achilles 

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tet Konrad gerade mit dem Bild des Löwen ein Spiel um Blicke und Spiegelungen und öffnet damit den Blick auf die Diversifikation der Identität Achills. Seine Mutter Thetis versucht einen Gegenentwurf zur Ausbildung durch Schyron, indem sie der wilden Seite Achills die Seite der Minne hinzufügen will, um dessen Erziehung zu vervollständigen,56 im Grunde aber, um die Geschichte zu vereiteln, die sich mit Achill verbindet. Doch Thetis scheitert, auch in ihrem Bemühen, Achill vor seinem frühen Tod zu bewahren. Dieses Scheitern motiviert Konrad nicht allein über die mythographische Rolle Achills, sondern zugleich als ein Scheitern der Kongruenz von Held und höfischem Ritter. Ist Achill auf den Tod hin angelegt, so bindet Konrad diesen Heldentypus an die Minne. Doch anders als der höfische Ritter kann Achill militia und amor nicht zu einer Einheit zusammenführen, sondern die eine Seite seiner partizipativen Identität überblendet jeweils die andere. Auf den ersten Blick ist Achill Kämpfer oder Liebender. Doch auf den zweiten Blick ist seine Rolle als Liebender komplexer gestaltet – und sie fokussiert auf das Thema der Dichtkunst. Denn im Kern seiner Minne zu Deidamia findet sich Gesang, seine Liebe scheint auch darin der Tristanminne nachgebildet. Im Zentrum dieses Gesangs jedoch steht der Name des Helden, den Jocundille mit dem leich von Achill im Minnegeschehen vergegenwärtigt. So bilden militia und amor nicht zwei Seiten einer Medaille, sondern umschließen einander dynamisch. Minne umhüllt militia, militia ihrerseits bildet in der Erscheinungsform des Heldenliedes zugleich das Zentrum der Minne. Inklusion und Exklusion sind in eine Bewegung überführt, die in der Einheit zugleich Gespaltenheit sichtbar werden lässt.57 Identität wird damit als ein Problem ihrer sprachlichen Verfasstheit reflektiert. Dies verdeutlicht der Blick auf den Löwen, denn die seit der Antike geläufige Metapher für Achill erscheint hier als das Wappenzeichen seines Gegners Hector. Achill selbst aber führt den Schwan im Wappen, der singt, wenn er stirbt. Michel Pastoureau unterstreicht, dass das Wortspiel zwischen cygnus und signum konstanter Bestandteil mittelalterlicher Texte zum Schwan sei: „De cygne à signe, de signes en cygnes, le passage est presque obligé: c’est un oiseau qui, plus que tout autre, ‘signifie’ toujours plus que ce qu’il paraît être.“58 So verweist Achills Wappenzeichen zugleich auf die poetologischen aber auch sprachlogischen Zusammenhänge einer Konstruktion von Identität. Identität wird an Sprache und ihre Verbildlichung gebunden und damit als ein performativer Akt reflektiert. Konstanz hat allein der Name – und wenn dieser im Minnehandeln zunächst aufgehoben scheint, so bleibt er doch im Sprechakt, im Gesang Jocundilles erhalten. Zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe steht der Name für eine Geschichte, die an dieser Stelle in Konrads «Trojanerkrieg» noch gar nicht erzählt ist. Der Name – sô bin Achilles ich genamt (V. 56 Vgl. Barton: Manheit (wie Anm. 23), S. 192. 57 Diese Gespaltenheit in der Einheit erinnert an Gottfrieds Minnedefinition als Zusammenspiel von zwîfel und einvalt, wie es die Minnegrotte mit dem Blick Markes veranschaulicht, dem es nicht gelingt, zwîvel und einvalt als untrennbar wahrzunehmen. 58 Vgl. Michel Pastoureau: Bestiaires du Moyen Âge. Paris 2011, S. 155.

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14519) – ist gleichsam Wiedererzählen, und so verbinden sich Narration und Identität im Namen zu einer spannungsvollen Einheit. Konrads Reflexion eines Begriffs von Identität erweist sich damit zugleich als eine Reflexion über die sprachliche Verfasstheit einer Identität, die nicht auf Festlegung zielt und nicht auf Dauer angelegt ist, sondern sich als ein Spiel von Einheit und Diversifikation präsentiert, als eine ‚relative‘ und ‚performative‘ Identität.59 Ihr angemessener Sprachausdruck ist die Metapher.60

59 Zur relativen Identität vgl. Wehle: Einführung (wie Anm. 46), hier S. 7. 60 In welcher Weise die Struktur der Metapher Konrads Erzählen im Trojanischen Krieg bestimmt, zeigt Bleumer: Wort (wie Anm. 5), hier bes. S. 137–140. Den Teilnehmern meines Frankfurter TrojaSeminars danke ich sehr herzlich für ihre wertvolle Diskussion.

Berndt Hamm

Iudicium particulare Personale Identität des Menschen und Gedächtnis Gottes in der spätmittelalterlichen Vorstellung vom Individualgericht Über einen hartgesottenen Sünder, der kurz vor seinem Tode eine Beichte aus wahrer Reue vortäuscht: „Himmel, welch ein Mensch ist das, den weder Alter noch Krankheit, noch Furcht vor dem Tode, dem er sich nahe sieht, oder vor Gott, vor dessen Richterstuhl er in wenigen Stunden zu stehen vermuten muss, von seiner Verruchtheit haben abbringen und zu dem Entschluss führen können, anders zu sterben, als er gelebt hat.“ (Aus: Giovanni Boccaccio: Decamerone. Erste Geschichte des ersten Tages. Übers. von Karl Witte. Düsseldorf u. a. 2005.)

Das Individual- oder Partikulargericht Gottes über die einzelne menschliche Person sofort nach dem Tode1 gewann seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert zusammen mit dem Strafort des Fegefeuers einen festen Platz in der religiösen Vorstellungswelt und theologischen Reflexion der abendländischen Christenheit. Den umfassenden Referenzrahmen dieser eschatologischen Innovation bildet der Glaube an Gott als Garanten einer ebenso universalen wie minutiös-partikularen Erinnerung. In einem ersten Schritt wende ich mich dieser alles umgreifenden und durchdringenden memoria dei zu.

1 Gottes Richten, Strafen und Retten als vergegenwärtigende Kraft seines Gedächtnisses Ziel der mittelalterlichen Memoria in ihren religiösen und profanen Dimensionen ist nicht das historisierende Zurückgehen in eine perfektisch abgeschlossene Vergangenheit, sondern die Kraft der Vergegenwärtigung. Ausgehend von Augustin wird ‚Erinnerung‛ (memoria, recordatio) potentiell als umfassendes Bewusstsein aller Wirklichkeit verstanden, als dauernde Gegenwart des Vergangenen und Künftigen in der Präsenz des Geistes.2 So verstanden ist Gott die aktualisierte Fülle und der uni1 Für inspirierende Gespräche über Fragen dieses Aufsatzes danke ich dem Ulmer Inner-Inder-Circle, namentlich Christoph Kleiber, Dr. Eva Leistenschneider, Dr. Gudrun Litz und Dr. Martin Mäntele. 2 Vgl. Berndt Hamm: Normierte Erinnerung. Jenseits- und Diesseitsorientierungen in der Memoria des 14. bis 16. Jahrhunderts. In: Die Macht der Erinnerung. Hg. von Martin Ebner. Neukirchen/ Vluyn 2008 (Jahrbuch für Biblische Theologie. Band 22 [2007]), S. 197–251, hier S. 205–210 (Erinnerung als Tableau dauernder Gegenwart); wieder abgedruckt in: Ders.: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen. Hgg. von Reinhold Friedrich und Wolfgang Simon. Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation. Band 54), S. 41–81, hier S. 48–51.

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versale Garant der Erinnerung. Indem Gottes Gedächtnis alles gleich präsent hält, stiftet es die Jenseitsorte Himmel, Hölle und Fegefeuer als Räume seines universalen „Menschweltgedenkens“.3 Alle guten und bösen Seelenregungen und Taten prägen sich dem Gedächtnis Gottes, seiner Lohn- und Strafmemoria, ein. So hat sein Erinnern einerseits eine individualisierende Vergegenwärtigungskraft: Es dramatisiert sich für jeden Menschen einzeln sogleich nach seinem Tode zu einem persönlichen Gericht und begründet so die individuelle Weiterexistenz der Person in den Jenseitsräumen. Andererseits führt die universal-kosmische Vergegenwärtigungskraft des göttlichen Gedenkens alle Menschen am Ende der Zeit zum grandiosen Panorama des Weltgerichts zusammen, in dem alles Vergangene mit seinen Ewigkeitskonsequenzen offengelegt wird. Gottes Erinnerungsspeicher wird so zum Instrument seiner distributiven, vergeltenden Gerechtigkeit. Zugleich aber ist die memoria dei auch der Speicher für sein Erbarmen, das im Gericht den Schuldigen verzeiht und sie weit über alles Verdienen und alle Würdigkeit hinaus freigebig belohnt.4 Denn es ist Gottes Gedenken, das all das präsent hält und an den Verstorbenen zur Wirkung kommen lässt, was Jesus Christus, Maria, die Heiligen, Angehörige und Freunde ihnen zugutegetan haben und immer noch tun. In dem Moment, in dem eine Seele gerichtet wird, legt Gott oder in seinem Auftrag der Erzengel Michael dies alles in die Waagschale des Guten, damit sie die Bilanz des Bösen übertrifft. So wird die Waage, die ursprünglich ein reines Gerechtigkeitssymbol ist,5 auch zu einem Gedächtnissymbol der jetzt, im Gericht, aktualisierten Schutzmächte. Ganz in diesem Sinne zeigt ein Holzschnitt des beginnenden 16. Jahrhunderts, der Hans Süß von Kulmbach zugeschrieben wird, den Querbalken des Kreuzes mit den angenagelten Händen Christi als Gerichtswaage (Abb. 1):

3 So Friedrich Ohly: Bemerkungen eines Philologen zur Memoria. In: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens. Hgg. von Karl Schmid und Joachim Wollasch. München 1984, S. 9–68, hier S. 50. 4 Vgl. das gemeinscholastische Axiom: Deus punit citra condignum et remunerat ultra condignum, z. B. bei Aegidius Romanus: In secundum librum Sententiarum. Pars secunda, dist. 27, q. 2, art. 4, responsio. Venedig 1581 [ND Frankfurt 1968], S. 354aC. 5 Vgl. Leopold Kretzenbacher: Die Seelenwaage. Zur religiösen Idee vom Jenseitsgericht auf der Schicksalswaage in Hochreligion, Bildkunst und Volksglaube. Klagenfurt 1958 (Buchreihe des Landesmuseums für Kärnten. Band 4); Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, S. 732–735. Zur Gerichtswaage vgl. auch unten Anm. 25–28.



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Abb. 1: Hans Süß von Kulmbach: Das Schiff der heiligen Ursula. Holzschnitt des beginnenden 16. Jahrhunderts. Wien, Graphische Sammlung Albertina (vgl. Anm. 6).

Sein Sühneleiden kommt den sündenbeladenen Seelen in der Waagschale zu seiner Rechten zugute und rettet sie vor Hölle und Fegefeuer.6 Ebenso kann das Gedächtnis6 Exemplar des Einblattdrucks: Wien, Graphische Sammlung Albertina, Inv.: 1960/1000, S.D.61. Der Holzschnitt ist abgebildet und erläutert bei Thomas Lentes: Die Barke zur Ewigkeit. Der Mastbaum und die Waage des Kreuzes. In: Glaube Hoffnung Liebe Tod – Von der Entwicklung religiöser Bildkonzepte, Ausstellungskatalog (Graphische Sammlung Albertina/Kunsthalle Wien). Hgg. von Christoph Geissmar-Brandi und Eleonora Louis. Wien 1996, S. 194–197. Vorbild für Hans Süß war wohl ein Ursula-Schiff-Holzschnitt in einem Straßburger Druck (bei Bartholomäus Kistler von 1497), auf dem allerdings an dem Querbalken des Kreuzes keine Waagschalen des Gerichts befestigt sind; vgl. den Ausstellungskatalog (Staatliche Kunsthalle Karlsruhe): Spätmittelalter am Oberrhein. Maler und Werkstätten 1450–1525. Stuttgart 2001, S. 390f., Nr. 228 von Marcus Deciert mit Abbildung und Literatur. Vgl. auch unten Anm. 75. Das Motiv der am Kreuzesbalken befestigten heilvollen Gerichtswaage ist bereits auf einer kolorierten Federzeichnung in einer wohl um 1430/1440 am Oberrhein entstandenen Bilderhandschrift nachzuweisen: Hier hängt die Waage mit beiden Schalen nur an einem Ende des Querbalkens. Am Fuße des Kreuzes steht ein Bett mit einem gerade Verstorbenen. Seine nackte Seelenperson steigt gerade betend zum Gekreuzigten

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und Gerechtigkeitssymbol des Gerichtsbuches – vor allem seit Bonaventura – zum Liber vitae werden, in dem alle Gnadengaben verzeichnet sind, die Christus denen erworben hat, die jetzt vom Richter freigesprochen werden.7 So verbürgt Gottes Gedenken, d. h. seine performative Vergegenwärtigung von Stellvertretung, Hilfe (suffragium) und Interzession, die Identität der geretteten Seele durch Tod und Gericht hindurch – eine von der communio sanctorum getragene Identität, deren Charakter noch näher zu bestimmen ist. Zunächst aber werfen wir einen Blick auf das Universalgericht Christi am Jüngsten Tag und in die Jenseitsräume Himmel, Hölle und Fegefeuer.

2 Das Weltgericht (iudicium universale): totale Memoria mit individuellen und kollektiven Dimensionen Die altkirchliche und frühmittelalterliche Vorstellung vom Weltgericht blieb in ihren Grundzügen auch für das ausgehende Mittelalter gültig – mit wichtigen Veränderungen in der Sicht der Zeitspanne zwischen Todesstunde und Jüngstem Tag, auf die ich erst später eingehe. Nach Lehre der meisten scholastischen Theologen findet das Endgericht selbst in einem Moment ohne zeitliche Ausdehnung oder zumindest in einer sehr kurzen Zeitspanne statt,8 geschieht aber gleichwohl ebenso total und empor, während ein Teufel mit einem langen Haken versucht, sie in den geöffneten Höllenrachen zu ziehen – offensichtlich vergeblich, denn die Seele findet im Jünger Johannes und in Maria, die sich fürbittend an den Gekreuzigten wenden, mächtige Interzessoren. Auch ein über dem Sterbebett schwebender Engel, vermutlich der Schutzengel des Toten, setzt sich für dessen Seele ein, indem er an die Vergebungsmacht der fons pietatis appelliert. Christus selbst verstärkt die Fürbitten, indem er sich seinerseits, auf seine Wunden weisend, an Gottvater über den Wolken wendet, der ihm die Erfüllung seiner Fürbitte zusagt. Dieses gesamte Geschehen einer „kombinierten Interzession“ (dazu unten bei Anm. 61) wird durch zahlreiche Spruchbänder vereindeutigt. Den rettenden Ausgang der Partikulargerichtsszene symbolisieren die Schalen der Gerichtswaage: „[…] in der einen Schale sind die Werkzeuge der Passion, in der anderen die Symbole der Sünde. Umsonst bemüht sich ein Teufel, die Sündenschale hinabzuziehen.“ Die Erlösungskraft der Passion gibt der guten Schale das Übergewicht und lässt sie nach unten gehen. Vgl. Fritz Saxl: „Aller Tugenden und Laster Abbildung“. In: Festschrift für Julius Schlosser. Hgg. von Arpad Weixlgärtner und Leo Planiscig. Wien 1927, S. 104–121, hier S. 107f. (Zitat) und 121; Ausstellungskatalog: Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Frankfurt a. M. 1983, S. 338, Nr. 448 mit Abbildung (von Dieter Koepplin). 7 Vgl. Angenendt: Geschichte der Religiosität (wie Anm. 5), S. 732, mit besonderem Hinweis auf Bonaventura: Commentaria in quatuor libros sententiarum Magistri Petri Lombardi, lib. 4, dist. 43, art. 2, quaestio 3. Hg. vom Collegium S. Bonaventurae. Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1889 (Bonaventura: Opera Omnia. Band 4), S. 899. 8 Thomas von Aquin bevorzugt die Auffassung, dass das Gerichtsverfahren rein gedanklich und daher im Augenblick geschieht, während die scholastischen Theologen nach ihm mehrheitlich ent-



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universal wie individuell und personal. Im Nu erscheinen alle Seelen der Weltgeschichte vor dem Weltenrichter Christus, wiedervereint mit ihren restaurierten und transformierten irdischen Leibern. Alles Gute und Böse, was jemals in den Seelen der Menschen und durch ihre Körper geschah, wird nun coram publico bekannt. Wie schon gesagt: Gottes Universalgedächtnis lässt dies alles präsent werden – mit der Konsequenz, dass die Seelen jetzt, durch ihre Verbindung mit den Leibern, ein vollständigeres Seligkeitsempfinden gewinnen und die Verdammten entsprechend durch das Medium ihrer Körper noch furchtbarere Qualen erleiden. Sofern das Endgericht alle Menschen aller Zeiten vereint, alle Leiber und Seelen zusammenführt und alles an ihnen ausleuchtet, ist es von einer unerhörten, einmaligen Totalität, die es weder vorher gab, noch danach wieder geben wird. Andererseits aber bewahrt das Endgericht die personale Individualisierung des vorausgegangenen Partikulargerichts. Auch im Universalgericht werden keine Gruppen kollektiv gerichtet, sondern jede Person empfängt für sich ihr besonderes Lohn- und Strafmaß im Himmel bzw. in der Hölle. Dabei ist für die Zumessung des himmlischen Lohns der Grad der Liebe maßgeblich, den der Mensch auf seinem irdischen Lebensweg aktualisiert hat.9 Im Blick auf die Art der Individualisierung im Jenseits zeigt sich allerdings ein höchst interessanter Unterschied zwischen Himmel und Hölle: Im Himmel empfangen alle Seligen dieselbe Lohnart, die unmittelbare Schau des dreieinigen Gottes und das Hören der Himmelsmusik. Zwar gibt es je nach Verdienst der aktualisierten Gottes- und Nächstenliebe Rangstufen der Seligkeit, unterschiedliche Intensitätsgrade der visio beatifica, wie den Besuchern einer Oper unterschiedliche Ränge zugewiesen werden; aber wie in der Oper sehen und hören auch die Himmelsbewohner alle dasselbe. Das bedeutet aber: Die Seligen im Himmel befinden sich, obwohl sie Einzelpersonen bleiben, im Vollendungsstatus einer weitgehenden Depersonalisierung und Entindividualisierung. Ziel des gesamten Weges von der Taufe zum Himmel ist nicht die Steigerung, sondern die Verminderung des Individuell-Persönlichen.10 Am Ende steht die vollendete Selbst- oder Ichlosigkeit weder dieser Meinung zuneigen oder der Auffassung sind, dass das Gericht sowohl gedanklich als auch mündlich stattfindet und daher eine gewisse, wenn auch sehr kurze Zeitspanne in Anspruch nimmt. Nur wenige Theologen rechnen mit der Möglichkeit, dass das Gerichtsverfahren länger dauert. Vgl. Ludwig Ott: Eschatologie: in der Scholastik, bearb. von Erich Naab. In: Handbuch der Dogmengeschichte. Hgg. von Michael Schmaus u. a. Band IV/7b. Freiburg i. Br. u. a. 1990, S. 157–160. 9 Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologiae, Suppl., quaestio 93, art. 3, responsio: Et ideo diversitas in merendo tota revertitur ad diversitatem caritatis. Et sic caritas viae distinguet mansiones per modum meriti. Mit dem biblischen Begriff mansiones (Joh. 14,2) werden ebd., art. 2, arg. 2 diversi gradus beatitudinis bezeichnet. 10 Daher kann die nordfranzösische Begine Marguerite Porete (als Häretikerin 1310 verbrannt) das Ziel der christlichen Liebe darin sehen, dass die Seele „ihren Namen in dem Einen verliert, in den hinein sie aus sich schmilzt“. Als Beispiel wählt sie einen Fluss wie die Aisne oder Seine: „Dieser Fluss hat seinen eigenen Namen, solange er für sich selbst fließt; aber sobald er in das Meer zurückkehrt, verliert er seinen Namen und sein gesamtes eigenes Wirken.“ Zitate aus Bernard McGinn: Blüte: Männer und Frauen der neuen Mystik (1200–1350). Freiburg u. a. 1999 (Die Mystik im

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der Seligen: Ihre namengebundene Personalität bleibt zwar erhalten, doch haben sie ihr ‚Selbst‘, ihren Eigenwillen und Eigensinn, aufgegeben und sich der Universalität Gottes unterworfen. Das entspricht dem religiös-politischen Ordo-Verständnis der Vormoderne. Die perfekte Ordnung des ewigen Lebens liegt im Gehorsam aller, in denen jede naturhafte Ichhaftigkeit ausgelöscht wurde und deren Leben nun zum universal-kollektiven Schau- und Klangraum des absoluten göttlichen Willens geworden ist.11 Was dies für das transsubjektive Identitätsideal der spätmittelalterlichen Religiosität bedeutet, wird noch zu bedenken sein. Wenn wir nun auf die Straforte Fegefeuer und Hölle blicken, dann fällt auf, dass hier in der Behandlung der Menschen die Individualisierung nicht wie im Himmel zurückgenommen, sondern forciert wird. Das findet darin seinen Ausdruck, dass der Himmel als transpersonaler Seh- und Hörraum, in der Regel aber nicht als taktiler Gefühlsraum von individuellen Berührungserfahrungen dargestellt wird;12 die Seligkeit ist kein permanentes Umarmt- und Gestreicheltwerden. Dagegen dominiert an den Straforten die individuelle Kontakterfahrung des Berührungssinnes. Das peinigende Berühren wird zum Medium, um den Verdammten in der Hölle und den armen Seelen im Fegefeuer nicht nur unterschiedliche Grade derselben Strafe zuzufügen – analog den individuellen Graden der himmlischen Belohnung, – sondern differenzierte Strafarten, Folterungen unterschiedlichster Art: Da werden die Leiber von den teuflischen Dämonen gepackt, gezerrt, zerrissen, gequetscht, verbrannt, gefroren, aufgespießt und verdaut.13 Die unmittelbare Körperberührung garantiert die intensivste Form individueller Sonderbehandlung. Die Ursache für diese Spezifizierung und personale Individualisierung der Torturarten liegt darin, dass sie die Sünden bestrafen; das Wesen der Sünde aber sieht die mittelalterliche Religiosität in einem Ungehorsam des Menschen gegenüber Gottes Ordnung, der vor allem Abfall in die eigensinnige Vereinzelung, in selbstsüchtige Egozentrik und damit in forcierte Individualisierung ist. Umgekehrt bedeutet der Heiligungs- und Tugendweg der Frömmigkeit die Annäherung an eine transindividuelle Lebensform der Selbstlosigkeit in der Gottes- und Nächstenliebe. Es gilt gera-

Abendland. Band 3), S. 463f. Zwar verstieß Porete mit diesem Ideal der völligen Person-Aufhebung und Ich-Vernichtung gegen den Lehrkonsens ihrer Zeit, der darauf insistierte, dass die Subjekt- und Namensidentität des Menschen auch in der seligen Vereinigung mit Gott erhalten bleibt; doch konnte die Radikalität ihres Denkens nur deshalb in diese Richtung gehen, weil die christliche Vollkommenheitslehre des Mittelalters prinzipiell eine Gegenkonzeption zur modernen Identitäts- und Selbstverwirklichungsvorstellung vertrat: das Gleichförmigwerden (die conformitas) des menschlichen Willens mit einer transindividuellen göttlichen Zielbestimmung alles Seins und Wirkens. 11 Das wird in vorzüglicher Weise herausgearbeitet von Hartmut Böhme: Himmel und Hölle als Gefühlsräume. In: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hgg. von Claudia Benthien u. a. Köln u. a. 2000 (Literatur – Kultur – Geschlecht. Kleine Reihe. Band 16), S. 60–81, hier S. 74f. 12 Zum Folgenden vgl. Hamm: Religiosität (wie Anm. 2), S. 465f. (Warum im Himmel – anders als in der Hölle und im Fegefeuer – nicht berührt wird). 13 Vgl. Böhme: Himmel und Hölle (wie Anm. 11), S. 67–73.



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dezu die Regel: Je sündiger, desto individueller; und: Je heiliger, desto allgemeiner in der Gleichförmigkeit mit Christus. Daher herrscht im Himmel trotz der individuellen Abgestuftheit der Lohngrade universale Gleichförmigkeit, während Hölle und Fegefeuer für jede Eigensinnigkeit der Sünde eine angemessene, gerechte und daher besondere Art der Qual parat haben – nur mit dem Unterschied, dass das Fegefeuer den Menschen von den Straffolgen seiner Ich-Bezogenheit reinigt und am Ende in den grandiosen Gleichklang mit Gott überführt, die Hölle hingegen die Sünder permanent auf ihre gottferne Egozentrik fixiert.

3 Das Individualgericht (iudicium particulare) am Ende des Lebens Wer die eschatologische Besonderheit des späten Mittelalters gegenüber den vorausgehenden Jahrhunderten charakterisieren möchte, wird das Gewicht nicht auf das universale Endgericht, sondern auf das Individualgericht (iudicium particulare) legen.14 Dieses göttliche Tribunal wurde in die theologische Reflexion erstmals von der Hochscholastik um die Mitte des 13. Jahrhunderts, namentlich von Thomas von Aquin (allerdings noch nicht mit dem später üblichen Begriff iudicium particulare),15 eingeführt; lehramtlich hat dann der Avignonpapst Benedikt XII. in den Jahren 1335/1336 eine derartige Vorauseschatologie mit ihrer Doppelung der Gerichtsvorstellung sanktioniert.16 Man wollte damit solchen biblischen Aussagen gerecht werden,

14 Zur kirchlichen Lehre vom Individual- oder Partikulargericht unmittelbar nach dem Tode vgl. Peter Jezler: Jenseitsmodelle und Jenseitsvorsorge – eine Einführung. In: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, Ausstellungskatalog. Hg. von Dems. Zürich 1994, S. 13–26, bes. S. 18f., mit Literatur in Anm. 9 (S. 26); Jérôme Baschet: Jugement de l’âme, Jugement dernier: Contradiction, complémentarité, chevauchement? Revue Mabillon 67 (1995) S. 159–203; Peter Dinzelbacher: Die letzten Dinge. Himmel, Hölle, Fegefeuer im Mittelalter. Freiburg i. Br. u. a. 1999 (Herder-Spektrum. Band 4715); Ders.: Von der Welt durch die Hölle zum Paradies – das mittelalterliche Jenseits. Paderborn u. a. 2007, S. 67–97 (mit Literatur); Virginia Brilliant: Envisaging the Particular Judgement in Late-Medieval Italy. Speculum 84 (2009) S. 314–346 (mit weiterer Literatur); Hamm: Religiosität (wie Anm. 2), S. 24f., 30–34 und 429f. Zur Doppelung der Gerichtsvorstellung bereits im 12. und 13. Jahrhundert vgl. Aaron J. Gurjewitsch: Himmlisches und irdisches Leben. Bildwelten des schriftlosen Menschen im 13. Jahrhundert. Amsterdam/Dresden 1997, S. 157–202. 15 Vgl. Thomas: Summa theologiae III, quaestio 59, art. 5 (Utrum post iudicium, quod in praesenti tempore agitur, restet aliud iudicium generale); Suppl., quaestio 88, art. 1 (Utrum generale iudicium sit futurum), mit der Unterscheidung zwischen singulare iudicium (per quod quidem iudicium unusquisque singulariter pro suis operibus iudicatur) nach dem Tode und universale iudicium am Weltende. Bemerkenswert ist, dass Thomas das persönliche Gericht innerhalb der Zeit als gegeben voraussetzt und nach dem Sinn eines zweiten Gerichts nach dem Ende der Zeit fragt, da in der Vulgata bei Nahum 1,9 zu lesen sei: Non iudicabit Deus bis in idipsum (‚Gott richtet nicht zweimal über dasselbe‘). 16 Siehe bei Anm. 46 und 47.

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die – wie beispielsweise die Geschichte vom reichen Mann und vom armen Lazarus (Luk. 16,19–31) oder wie die Zusage Jesu am Kreuz zu einem der beiden Räuber: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Luk. 23,43)17 – offensichtlich von einer Seligkeit der Guten und Verdammnis der Bösen sogleich nach dem Tode und nicht erst nach dem Endgericht am Jüngsten Tage sprechen. Theologisch lag die Lehre vom Individualgericht in der Logik der gleichzeitig entstandenen Fegefeuerdoktrin. Denn wenn es das Purgatorium als eigenen Satisfaktionsort für die noch nicht abgebüßten Sündenstrafen der zur Seligkeit bestimmten Menschen gibt, dann muss sofort nach dem Tode jeder Person die Entscheidung darüber fallen, ob, wie lange und mit welcher Intensität der Peinigungen sie im Fegefeuer zu verweilen hat. Es war naheliegend, in dieser Entscheidung ein vorgezogenes Gottesgericht zu sehen, das jeder Seele nach ihrer Trennung vom Körper widerfährt und das alles ein- für allemal festlegt, was über das Jenseitsschicksal der Menschen zu entscheiden ist: nicht nur hinsichtlich eines Aufenthalts im Fegefeuer, sondern auch bezüglich der Fragen, ob eine Seele sofort und direkt, ohne Umweg über das Fegefeuer, in den Genuss der himmlischen Seligkeit kommt und welcher Grad der Seligkeit ihr zugeteilt wird oder ob eine Seele zur ewigen Verdammnis verurteilt wird und welche Art der Höllenqualen sie erleiden muss. Der Umbau der Gerichtseschatologie nach 1200 führte zur Lehre, dass das Universalgericht am Ende der Weltzeit nichts mehr zu entscheiden hat, sondern nur noch ratifizieren kann, was bereits in den vielen Individualgerichtsurteilen vorher letztgültig entschieden worden ist. Insofern verlagerte sich für den Einzelnen die Dramatik des Eschatons in den Moment des Todes. Zwar hatten die Gläubigen des Spätmittelalters allenthalben die Bilder des Weltgerichts mit Christus auf dem Regenbogen und den anbetenden Interzessionsgestalten Maria und Johannes dem Täufer vor Augen (Abb. 2).18 Aber diese so dominante Ikonographie der Zweiseitigkeit – Seligkeit und Verdammnis, Erbarmen und Strenge – war spätestens seit dem 14. Jahrhundert nicht 17 Diese beiden Bibeltexte werden z. B. von Thomas von Aquin als Belege für das Gericht sofort nach dem Tode angeführt: Summa theologiae III, quaestio 59, art. 5, arg. 1. 18 Das Bildbeispiel (Abb. 2) ist der Holzschnitt eines unbekannten Straßburger Meisters aus der typographischen Ausgabe: Der Antichrist und Die fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Straßburg, unbekannter Drucker, um 1480; Faksimile mit Kommentarband. Hgg. von Karin Boveland u. a., Hamburg 1979, letzte Bildtafel. Zur Weltgerichtsikonographie seit dem 12. Jahrhundert bis in die Zeit Luthers vgl. Reinhard Schwarz: Die spätmittelalterliche Vorstellung vom richtenden Christus – ein Ausdruck religiöser Mentalität. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 32 (1981) S. 526–553; Hamm: Religiosität (wie Anm. 2), S. 28–33 (mit den Belegstellen bei Luther, an denen er diesen für ihn erschreckenden Bildtypus erwähnt, in Anm. 104) und S. 426–428; vgl. auch Christoph Burger: Die Erwartung des richtenden Christus als Motiv für katechetisches Wirken. In: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung. Hg. von Norbert Richard Wolf. Wiesbaden 1987, S. 103–122. In Verbindung mit den Bildern spielten für die spätmittelalterliche Frömmigkeit auch die Weltgerichtsspiele eine wichtige Rolle; vgl. dazu jüngst Wolf-Friedrich Schäufele: Zur theologischen Bedeutung der deutschen Weltgerichtsspiele des Spätmittelalters im Allgemeinen und des Weltgerichtsspiels in Ulrich Tenglers «Neuem Laienspiegel» (1511) im Beson-



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Abb. 2: Weltgericht. Holzschnitt aus dem Druck: «Der Antichrist und Die fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht». Straßburg, um 1480 (vgl. Anm. 18).

deren. In: Ulrich Tenglers Laienspiegel. Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn. Hg. von Andreas Deutsch. Heidelberg 2011, S. 491–520 (mit Literatur); vgl. auch unten Anm. 63.

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nur nach den Maßstäben der scholastischen Theologie, sondern auch gemessen an den eschatologischen Vorstellungen und der alltäglichen Frömmigkeitspraxis des Kirchenvolks antiquiert.19 Nicht nur, dass nun Maria und Johannes im Endgericht mit ihrer Interzession nichts mehr ausrichten konnten; ikonologisch konnten sie nur noch deklarativ, nicht mehr performativ die Zweiseitigkeit von erlösender Barmherzigkeit und bestrafender Gerechtigkeit des himmlischen Richters unterstreichen.20 Wichtiger aber war, dass sich im ausgehenden Mittelalter vor die Zweiseitigkeit des Universalgerichts die dreifache Perspektive von Himmel, Hölle und Fegefeuer schob mit einem Übergewicht des Fegefeuers der armen Seelen für die Alltagspraxis der Gebete, Stiftungen, Ablässe, Almosen und asketischen Übungen.21 Im Zuge der Fegefeuer- und Arme-Seelen-Frömmigkeit, aber auch unter dem Einfluss anderer wichtiger Faktoren, besonders der großen Pest, verlagerte sich im Abendland das Hauptgewicht der Jenseitsängste, Jenseitsvorsorge, Hoffnungen und Tröstungen von der Ferneschatologie des Jüngsten Tages auf die Naheschatologie der Todesstunde.22 Beide Eschatologien, die universale und die partikulare, konnten zusammenfallen, wenn in panischen Ausnahmefällen das Hereinbrechen des Jüngsten Tages für die allernächste Zukunft erwartet wurde. Für die spätmittelalterliche Normalität aber war es charakteristisch, dass die Fixierung auf die nahe Entscheidungssituation der persönlichen Sterbestunde das Universalgericht in eine Ferne von nachgeordneter Dringlichkeit und fehlender Entscheidungsrelevanz schob. Die ars-moriendi-Literatur und ihre Bilder zeigen besonders deutlich das Bemühen, in extremer Finalisierung der Lebensführung die gesamte Frömmigkeit der Gläubigen auf die Dramatik der Todesstunde als Moment der Entscheidung über das Jenseitsschicksal zu beziehen.23 Je stärker aber im 14. und 15. Jahrhundert das Bedürf19 Zur spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraxis der interzessorischen Fürsorge für die gerade Verstorbenen, um ihren Zustand noch vor dem Individualgericht oder nach dem Gericht im Fegefeuer zu verbessern, siehe nach Anm. 77. 20 Dies wird sprachlich verdeutlicht durch die spätmittelalterlichen Weltgerichtsspiele, in denen stereotyp Maria Fürbitte für die zur Verdammnis bestimmten Menschen einlegt, ohne den richtenden Christus umstimmen und seinen Richterspruch beeinflussen zu können – ganz anders als beim Individualgericht; siehe bei Anm. 63. 21 Eine umfangreiche Bibliographie über das Fegefeuer im Mittelalter bis 2006 bietet Peter Dinzelbacher im Anhang zu seinem Aufsatz: Das Fegefeuer in der schriftlichen und bildlichen Katechese des Mittelalters. In: Ders.: Von der Welt (wie Anm. 14), S. 99–163 (Anhang S. 157–163). 22 Vgl. Hamm: Religiosität (wie Anm. 2), S. 475–477. 23 Vgl. als anschauliches Beispiel bes. die Texte und Bilder der um 1450 entstandenen und lateinisch wie volkssprachlich überlieferten Bilder-ars-moriendi mit dem Incipit Quamvis secundum philosophum tercio ethicorum; Edition des lateinischen Textes bei Dick Akerboom: „… Only the Image of Christ in Us“. Continuity and Discontinuity between the Late Medieval ars moriendi and Luther’s Sermon von der Bereitung zum Sterben. In: Spirituality Renewed. Studies on Significant Representatives of the Modern Devotion. Hgg. von Hein Blommestijn u. a. Löwen u. a. 2003, S. 209–272, hier S. 250–260, samt einer Wiedergabe der Holzschnitte aus der sogenannten ‚editio princeps‛ um 1450, S.



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nis der Menschen nach einer gegenwartsnahen und auf das persönliche Sterben bezogenen Eschatologie wurde, desto mehr verlagerte sich die angstvolle Erwartung des Gerichtstribunals und des Gewogenwerdens der Seele vom Weltgericht auf das persönliche Gericht des nahen Todes, bis das Individualgericht schließlich nach der Mitte des 14. Jahrhunderts erstmals nördlich der Alpen auch eigene ikonographische Ausdrucksformen fand. Diese sind als vielfältige Darstellungen einer kombinierten Interzession vor dem göttlichen Richter zu charakterisieren, worauf später noch näher einzugehen ist.24 Einen zweiten Strang der Ikonographie des Individualgerichts kann man in den Verbildlichungen einer postmortalen Seelenwägung, meist durch den Erzengel Michael, sehen.25 Allerdings bildete diese Vorstellung keinen eigenen ikonographischen Typus für die Darstellung des Individualgerichts aus, da das seit dem 12. Jahrhundert beliebt werdende Bildmotiv des seelenwägenden Michaels sowohl auf Weltgerichtsbildern26 als auch bei Verbildlichungen des Individualgerichts Verwendung fand.27 Als Symbol des Richtens war die Jenseitswaage nicht auf ein spezifi261–272; eine Übersetzung des lateinischen Textes in heutiges Deutsch findet sich in: Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und gut zu sterben. Texte von Cicero bis Luther. Hg. von Jacques Laager. Zürich 1996, S. 175–229 (mit den Kupferstichen des Meisters E. S.). Zur Nah-Vergegenwärtigung des Sterbelagers und der Sterbestunde in der Bilder-ars-moriendi und anderen ars-moriendi-Quellen vgl. Hamm: Religiosität (wie Anm. 2), S. 480–483. 24 Siehe bei Anm. 61–64. 25 Ein frühes Beispiel für eine Verknüpfung von Seelenwägung und persönlichem Gericht nach dem Tode ohne Beteiligung Michaels bietet ein Bild in der Handschrift der Staatsbibliothek München, Clm 13031 (Isidor von Sevilla: «Etymologiae»), fol. 1r: Die Waage wird direkt am Bett des gerade verstorbenen Schreibers Swicher von zwei Heiligen unter Anwesenheit des (gnädig) zu Gericht sitzenden Christus betätigt. Zur Handschrift, die um 1160/1170 datiert wird, vgl. Anton Legner: Der artifex. Künstler im Mittelalter und ihre Selbstdarstellung. Köln 2009, bes. S. 211. Für den freundlichen Hinweis auf dieses Bild danke ich Frau Dr. Rebecca Müller (Frankfurt a. M.). Ein noch früheres Beispiel, allerdings ohne göttlichen Richter, enthält die aus Canterbury stammende Handschrift der Biblioteca Laurenziana Florenz, Plut. XII, 17 (Augustinus: «De civitate Dei»), fol. 1v: Eine Miniatur zeigt in der unteren Hälfte eines Halbbogens den Tod eines Kriegers, dessen nackte Seelenperson aus seinem Mund emporsteigt. In der oberen Hälfte hält ein Engel die Gerichtswaage. Drei Teufel erheben Anspruch auf die Seele – umsonst, denn ein neben dem Waage-Engel stehender zweiter Engel hat die Seele bereits in seine Arme genommen. Zur Miniatur und zur Datierung der Handschrift auf ca. 1120 vgl. Baschet: Jugement de l’âme (wie Anm. 14), S. 176 mit Abb. 2 auf S. 194. Zur der am Querbalken des Kreuzes befestigten Gerichtswaage des Partikulargerichts ohne Darstellung einer wägenden Person vgl. die beiden Bildbeispiele oben bei Anm. 6 (Abb. 1). 26 Vgl. Wolfgang Kemp: Seelenreise, Seelengericht IIC. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Hgg. von Engelbert Kirschbaum u. a. Band 4. Freiburg i. Br. 1994, Sp. 144f.; hier wird das Seelengericht mit der Seelenwägung nur als Bestandteil der Weltgerichtsdarstellungen in der byzantinischen und westlichen Kunst thematisiert, während die Ikonographie des Partikulargerichts unberücksichtigt bleibt. 27 Ein schönes Beispiel für die Verknüpfung der kombinierten Interzession des Partikulargerichts mit der Seelenwägung eines gerade Verstorbenen durch den Erzengel bietet das kurz nach 1500 entstandene Epitaph der Dinkelsbühler Familie Scholl, heute in der St. Lambertuskirche von Erkelenz;

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sches Gerichtsszenario festgelegt. Die zahlreichen Bilder, die als isolierte Szene nur die persönliche Seelenwägung durch Michael zeigen, können somit normalerweise sowohl der Gerichtssituation unmittelbar nach dem Tode als auch dem Universalgericht zugeordnet werden.28 Nicht näher eingehen kann ich hier auf das vor allem aus der Visionsliteratur des 11./12. Jahrhunderts stammende Bildmotiv der die Menschen nach ihrem Tode prüfenden Jenseitsbrücke oder -leiter, an der sich entscheidet, ob die Seele in die Hölle oder in den Himmel kommt.29 Diese Imaginationen werden im 13./14. Jahrhundert durch die neue Partikulargerichtstheologie und -ikonographie in Verbindung mit der Fegefeuerdoktrin überholt, bleiben aber in der Popularfrömmigkeit weiterhin präsent. Während das bereits vorchristliche, wohl auf die ägyptische Religion zurückgehende Bildmotiv der Seelenwaage immer eine Gerichtsszene und meist auch die richtende Person darstellt, jedenfalls eine richtende Instanz voraussetzt, kann man das von der prüfenden Jenseitsbrücke und -leiter nicht sagen. Ebenso wenig sind solche Bilder als Gerichtsdarstellungen zu verstehen, die zeigen, wie die – meist nackte – Seelengestalt eines gerade verstorbenen Menschen zum Himmel aufsteigt und von einem oder mehreren Engeln begleitet oder empor getragen wird, oder die einen Kampf zwischen Teufeln und Engeln um die himmelwärts strebende Seele in Szene setzen.30 Denn derartige Bilder können den Übergang der Seelen zum Himmel nach dem Partikulargericht oder zum unmittelbar bevorstehenden Partikulargericht oder zu einem Ruheort vor dem Jüngsten Gericht31 meinen. Sie können auch ohne jeden Gerichtsbezug visualisieren, wie eine Seele aufgrund ihrer besonderen Heiligkeitsqualität unmittelbar zur

vgl. Jezler: Himmel, Hölle, Fegefeuer (wie Anm. 14), S. 282f., Nr. 91 (verfasst von Susan Marti) mit Abbildungen. Auf ein weiteres, etwas späteres Beispiel machte Thomas Noll aufmerksam: Totengedächtnis und ‚Ereignis‛. Das Epitaph der Familie Bubenhofen des Meisters von Meßkirch. In: Das Bild als Ereignis. Zur Lesbarkeit spätmittelalterlicher Kunst. Hgg. von Dominic E. Delarue u. a. Heidelberg 2012, S. 303–331. 28 Bildbeispiele bei Dinzelbacher: Die letzten Dinge (wie Anm. 14), S. 51f., Ders.: Von der Welt (wie Anm. 14), S. 90f., und Brilliant: Envisaging (wie Anm. 14), S. 328–332, zuletzt bei Annette Vowinckel: Das relationale Zeitalter. Individualität, Normalität und Mittelmaß in der Kultur der Renaissance. München 2011, S. 217–231 mit der Unterscheidung von vier Varianten der Bildgestaltung. Eindeutig dem Partikulargericht zuzuordnen ist hingegen aufgrund der zusätzlichen Bildelemente die Darstellung Michaels als Seelenwäger auf dem Holzschnittbild einer deutschsprachigen ars-moriendi-Inkunabel von 1493: Ein zweiter Engel nimmt die gewogene Seele in Empfang und trägt sie in den Himmel (vgl. dazu auch das beigefügte Gebet an den Erzengel mit der Erwähnung Gottvaters als des aller barmhertzigisten Richters); Bild und Text des Gebets bei Jezler: Himmel, Hölle, Fegefeuer (wie Anm. 14), S. 189, Nr. 17. 29 Vgl. Dinzelbacher: Die letzten Dinge (wie Anm. 14), S. 51-57; Ders.: Von der Welt (wie Anm. 14), S. 91–93. 30 Anders die Partikulargerichtsdeutung solcher Bilder bei Brilliant: Envisaging (wie Anm. 14), S. 317–328. 31 Ein Beispiel für die Situation nach dem Partikulargericht wurde bereits oben in Anm. 28 (Inkunabel-Holzschnitt von 1493) erwähnt. Vgl. ferner unten bei Anm. 53‒55.



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himmlischen Schau Gottes gelangt.32 Gab es doch unter dem Einfluss des Johannesevangeliums (Joh. 5, 24–29) im Mittelalter eine Variante der Eschatologie, nach der im Jenseits nur die Bösen gerichtet werden, während die Guten dem Gottesgericht entgehen und vom Tode sogleich ins ewige Leben übergehen. Für sich genommen sind die Bilder der gen Himmel aufsteigenden oder beförderten Seelenperson jedenfalls keine Gerichtsbilder. Allerdings können sie gegen Ende des Mittelalters als Bildmotiv gelegentlich in die Darstellung einer Partikulargerichtsszene, meist am Sterbebett, einbezogen werden.33 Es ist naheliegend, in der Ausbildung der Individualgerichtsvorstellung das Indiz einer stärkeren Betonung des Individuums im Vorfeld neuzeitlicher Individualisierung zu sehen.34 Ich halte es jedenfalls für möglich und sinnvoll, die Entstehung des neuen Gerichtstypus zu sozialen, mentalen und philosophischen Vorgängen des 13. bis 15. Jahrhunderts in Beziehung zu setzen, die den Status des Einzelnen stärker als bisher hervorheben und seinen ontologischen Vorrang vor dem Universalen betonen.35 Allerdings war die christliche Gerichtsvorstellung schon immer, von ihren neu32 Vgl. das von Brilliant: Envisaging (wie Anm. 14), S. 318–320 angeführte Bildbeispiel «Der Tod des heiligen Franciskus von Assisi» aus der Oberkirche von Assisi (Giotto und Werkstatt, um 1296–1300). Das Bild zeigt den auf einem Brett liegenden Leichnam des Franziskus, um den trauernde Brüder knien und seine Wundmale verehren, während im oberen Bildteil die Seele des Heiligen von Engeln himmelwärts getragen wird. Hinweise auf einen Gerichtsvorgang fehlen. Vgl. Gianfranco Malafarina: Die Kirche San Francesco in Assisi. München 2011, S. 261 (Abb.) mit S. 269 (Text). 33 Vgl. z. B. die oben in Anm. 6 beschriebene Federzeichnung von ca. 1430/1440, das in Anm. 27 erwähnte Epitaph der Dinkelsbühler Familie Scholl (um 1500) oder das von Lucas Cranach d. Ä. geschaffene Schmidburg-Epitaph (um 1518), dazu Hamm: Religiosität (wie Anm. 2), S. 439-441 mit S. 582 Abb. 21. Vgl. auch bereits das unten in Anm. 67 beschriebene Bild des Partikulargerichts im Stundenbuch des Rohan-Meisters (um 1420), wobei hier der Tote, um dessen emporsteigende Seele ein Teufel und ein Engel mit Schwert (Michael?) kämpfen, nicht auf dem Sterbebett, sondern aufgebahrt auf einer Decke liegt. Zur Ikonographie des Partikulargerichts am Sterbebett siehe bei Anm. 64. 34 Vgl. Entdeckung des Ich: Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Richard van Dülmen. Köln u. a. 2001. 35 Man denke vor allem an den im 14. Jahrhundert entstehenden Nominalismus; dazu Volker Leppin: Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch. Darmstadt 2003, S. 63–72; Heiko A. Oberman: Via Antiqua and Via Moderna: Late Medieval Prolegomena to Early Reformation Thought (erstmals 1987). In: Ders.: The Impact of the Reformation. Essays. Grand Rapids/Michigan 1994, S. 3–22. Problematisch ist die Hauptthese der sehr anregenden Arbeit von Vowinckel: Das relationale Zeitalter (wie Anm. 28). Mit Recht betont Vowinckel, dass die Renaissance das Individuum nicht im Sinne des 19. Jahrhunderts durch Autonomie und Unverwechselbarkeit auszeichnet, sondern relational auf die Norm des Maßhaltens und des „goldenen Mittelmaßes“ bezieht; allerdings ist schwer einzusehen, weshalb sie dieses relationale Indivualitätsverständnis als Epochenmerkmal der Renaissance gegenüber dem substanzorientierten Denken des Mittelalters und besonders der Scholastik abhebt, wird doch gerade auch in der Religiosität des Mittelalters das personale Individuum in seinem Wert und seinem Tugendverhalten stark relational sowohl auf das göttliche Gegenüber (z. B. bei Duns Scotus und in der skotistischen Lehrrichtung besonders auf die acceptatio divina) als auch zwischenmenschlich auf die Umstände (circumstantiae) des Handelns sowie auf das normative Ideal der rechten Mitte im Bezugsfeld der societas christiana bezogen. Zur Kritik an dieser Art von Epochen-

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testamentlichen Grundlagen her, personal und individuell bestimmt. Nicht ein Drang nach Individualisierung, sondern das Verlangen nach Nähe dürfte wohl das wichtigste Movens für die Genese der Naheschatologie des Partikulargerichts gewesen sein. Dabei ging es aber nicht nur um die Nähe zur Entscheidung Gottes über das Jenseitsschicksal der eigenen Seele, sondern vor allem auch um die Nähe zu den Seelen der Verstorbenen, d. h. um die Verbundenheit mit den „armen Seelen“ im Fegefeuer, denen man helfen wollte, und um die Verbundenheit mit den Seligen und Heiligen im Himmel, auf deren Hilfe man hoffte. Je mehr aber diese Nähe der hilfsbedürftigen und helfenden Seelen betont wurde, desto wichtiger musste für die Gläubigen die Gewissheit von einem Gottesgericht werden, das die Seelen sofort nach dem Tode den Qualen des Fegefeuers und dem vollen Genuss der seligen Gottesschau zuführte. So entsprach die Erwartung des nahen persönlichen Gerichts weniger einem verstärkten Bewusstsein von Individualität als viel eher der Auffassung von einer füreinander eintretenden Solidargemeinschaft der communio sanctorum. Die Person wird nicht nur als individuelles Einzelwesen, sondern auch und noch stärker als pars dieser communio gesehen. Deshalb ist der übliche mittelalterliche Begriff für das Einzelgericht auch iudicium particulare.36 In keinem der spätmittelalterlichen Traktate über das Partikulargericht bin ich auf den Individualitätsbegriff gestoßen. Dennoch halte ich die heutige Bezeichnung „Individualgericht“ für sinnvoll, um deutlich zu machen, dass im Unterschied zum Weltgericht jede Person am Ende ihres Lebens ein individuelles Einzelgericht (singulare iudicium)37 erhält. Auch wenn sie als pars der communio Imagination – Renaissance versus Mittelalter – vgl. Berndt Hamm: Abschied vom Epochendenken in der Reformationsforschung. Ein Plädoyer. ZhF 39 (2012) S. 373–411. 36 Den terminologischen Standard repräsentiert z. B. der Erfurter Theologieprofessor aus dem Orden der Augustinereremiten Johannes von Paltz in seinem handschriftlich überlieferten Sermo «De adventu domini ad iudicium» (1487), wenn er den Lehrkonsens seiner Zeit über das doppelte Gericht so zusammenfasst : et hoc [iudicium] est duplex, scilicet particulare et universale: Iudicium divinum particulare est, quod agitur cum qualibet anima immediate post separationem a corpore in novissimo hominis die, ubi ipsa anima secundum opera sua iudicabitur ad gaudia vel ad tormentum purgatorii vel inferni […]. Edition der Predigt durch Christoph Burger in: Johannes von Paltz: Opuscula. Hg. von Burger u. a. Berlin/New York 1989 (Johannes von Paltz: Werke. Band 3 = Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen. Band 4), S. 351–408, hier S. 392,3–7. Aus dem Bereich der deutschsprachigen katechetischen Literatur vgl. z. B. die 1466/1467 im Benediktinerkloster Comburg bei Schwäbisch Hall entstandene, zunächst handschriftlich überlieferte und dann seit 1483 häufig gedruckte Schrift «Der Seelen Wurzgarten» mit der Formulierung (in der ältesten Handschrift): Von dem gericht gottes, so ùber die menschen und ùber die sele geschicht von stunden [= von Stund an], so sy sterbent, das in latin genant ist judicium particulare, sprechent gemainlichen die lerer der hailigen cristenhait, wie das selb urtail lut [= lautet], das es [statt Hs: er] an dem jùngsten gericht nit gewandlet, sunder ouch dasselb urtail werd. Handschrift Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, cod. St. Peter pap. 23, fol. 127r. Vgl. Werner Williams-Krapp: Der Seelen Wurzgarten. In: VL. 2. Aufl. Hgg. von Kurt Ruh u. a. Band 8. Berlin u. a. 1992, Sp. 1027–1029. 37 Zur gelegentlichen Bezeichnung des persönlichen Gerichts nach dem Tode als singulare iudicium und zur Formulierung, dass in diesem Gericht jeder Mensch singulariter pro suis operibus gerichtet wird, siehe Anm. 15.



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sanctorum gerichtet wird, muss sie doch, um ihren persönlichen Lohn empfangen zu können, ihre eigene Gottes- und Nächstenliebe und ihre eigene Buße sowie ihre eigenen Verdienste und Genugtuungen vorweisen können. Ihre persönlich-individuelle Seelenqualität und -moralität ist nicht durch andere vertretbar.38 Die konkreten Vorstellungen, die sich mit der Eschatologie des Nahgerichts verbanden, waren im Übrigen alles andere als einheitlich. Anders als die Ereignisse des Jüngsten Tages und das Szenario des Universalgerichts wurden die Umstände des persönlichen Gerichts durch die theologischen Lehrer bis zum Beginn der Reformation keinem klärenden Konsens zugeführt; auch wurden sie von ihnen in der Regel literarisch nicht ausführlich diskutiert. Bezeichnend ist, dass einer der wenigen Autoren, die sich einer gründlichen Durchdringung dieses Themas widmeten, der Kartäuser Dionysius von Roermond,39 in seinem Traktat «De particulari iudicio in obitu singulorum dialogus»40 um 1450 einleitend schrieb: „Über jenes allgemeine Gericht breitet die Schrift vieles aus, und die heiligen Väter und katholischen Doktoren haben ausführlich und einleuchtend darüber geschrieben. […] Aber über das erwähnte Partikulargericht haben weder die Schrift noch die Doktoren so ausführlich und klar gesprochen.“41 Dionysius greift daher in seiner Abhandlung, die sich am scholastischen Quaestionenstil orientiert, immer wieder auf nicht-scholastisches Quellenmaterial zurück, indem er bestimmte Lösungen durch Zitate aus der Visionsliteratur, z. B. den Offenbarungen Birgittas von Schweden oder der «Visio Tnugdali», abzusichern sucht. So verbreitet also im 15. Jahrhundert die Erwartung einer individuellen Gerichtssituation am Lebensende war, so diffus und vielfältig waren die Vorstellungen und

38 Allerdings beruht die Erlösungs- und Verdienstwirkung der persönlichen Seelenqualität und der persönlich geleisteten guten Werke prinzipiell auf der Basis der Stellvertretung Jesu Christi, d. h. der grundlegenden Sühne- und Verdienstwirkung seiner Passion, und der stellvertretenden Mitwirkung Marias am Erlösungswerk; vgl. dazu unten bei Anm. 91‒94. Im Übrigen sind durch die communio sanctorum Christi, Marias, der Heiligen und der Lebenden nur Defizite der einzelnen Person auf der Ebene der satisfactio, d. h. der genugtuenden Tilgung zeitlicher Sündenstrafen zu Lebzeiten oder im Fegefeuer, stellvertretend auszugleichen, nicht aber auf der meritorischen Ebene der Verdienstlichkeit guter Werke hinsichtlich des himmlischen Lohns; Verdienste erwerben kann nur jeder für sich selbst, Straftilgung kann er auch durch die stellvertretende Vermittlung anderer empfangen und für andere erwerben. 39 Vgl. Martin Anton Schmidt: Dionysius der Kartäuser. In: VL. 2. Aufl. Hgg. von Kurt Ruh u. a. Band 2. Berlin u. a. 1980, Sp. 166–178. 40 Edition in: Doctoris ecstatici D. Dionysii Cartusiani opera minora, Band 9. Tournai 1912 (Opera omnia. Band 41), S. 419–488. Nach Schmidt: Dionysius der Kartäuser (wie Anm. 39), Sp. 176, gehörte dieser Traktat zu „den nach 1500 am häufigsten aufgelegten und übersetzten Schriften“ des Dionysius. 41 Porro de generali illo iudicio multa pandit Scriptura, et de eodem sancti patres catholicique doctores copiose ac evidenter scripserunt […]. Verum de particulari praetacto iudicio nec Scriptura neque doctores tam diffuse et clare inveniuntur locuti […]. Traktat «De particulari iudicio», prologus, Ausgabe in: Doctoris ecstatici D. Dionysii Cartusiani opera minora, Band 9 (wie Anm. 40), S. 422.

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Lehren, die sich damit verbanden. Schon an der Frage, wer eigentlich die richtende Instanz ist, schieden sich, wie weiter unten noch deutlich wird, die Geister. Dionysius der Kartäuser repräsentiert daher mit seinem großen Traktat nicht einen weitgehenden Konsens, sondern nur einen Vorstellungsbereich und eine Lehrtendenz neben anderen. Auf diese Divergenzen werde ich später eingehen. Ein gewisser Konsens herrscht eigentlich nur darüber, dass die Seele nach ihrer Trennung vom Körper persönlich gerichtet wird und dann sofort in den Himmel, die Hölle oder ins Fegefeuer kommt, um schließlich im Endgericht wieder mit ihrem Körper vereint zu werden und als ganzer Mensch eine Bestätigung des Partikulargerichtsurteils über Seligkeit bzw. Verdammnis zu empfangen.42 Diese Grundaussagen prägten sich der allgemein verbreiteten, popularisierenden, seelsorgerlich orientierten Frömmigkeitstheologie und der Frömmigkeitspraxis des ausgehenden Mittelalters ein. Die eingangs zitierte Passage aus Boccaccios Decamerone vermittelt davon einen guten Eindruck. Ganz selbstverständlich setzt sie die Vorstellung voraus, dass ein Todkranker „in wenigen Stunden“ vor Gottes Richterstuhl stehen wird. Das immense ikonographische Übergewicht der Weltgerichtsdarstellungen gegenüber den Partikulargerichtsbildern kann ebenso wie das entsprechende Übergewicht in der scholastischen Lehrbildung des Mittelalters irreführend sein, wenn es den Blick dafür verdeckt, dass die Alltagsdevotion des 15. und frühen 16. Jahrhunderts nicht vom Weltgerichtsszenario, sondern von der Naheschatologie der schon im Tode gerichteten Seelen dominiert war.43

4 Die Seele und ihr Körper: Zusammengehörigkeit und Trennung Die spätmittelalterliche Kombination zweier Gerichte, einer nahen und einer fernen, einer partikularen und einer universalen Eschatologie zeigt eine seltsame Verbun-

42 Diesen Grundkonsens formulierte prägnant Johannes von Paltz in der oben (Anm. 36) zitierten Passage seiner Predigt «De adventu domini ad iudicium» (1487). Wie unsicher aber dieser Lehrkonsens war, zeigt die ebd. zitierte, weit verbreitete Schrift «Der Seelen Wurzgarten» (Karlsruher Handschrift fol. 127v), indem sie von den Menschen, über die im Partikulargericht geurteilt wird, eine Gruppe von Verstorbenen unterscheidet, deren Urteil bis zum Jüngsten Tag aufgeschoben wird, so dass ihre Seelen an dem unbekannten Jenseitsort, an dem sie sich befinden, in sorgenvoller Ungewissheit sind. 43 Dabei ist vor allem an die gesamte Jenseitsvorsorge zu denken, die mit der Vorstellung vom Fegefeuer zusammenhängt und darauf zielt, durch vielfältige fromme Leistungen zu erreichen, dass man am Ende des Lebens nicht ins Fegefeuer kommt oder zumindest die Dauer der Leidenszeit im Fegefeuer – der eigenen oder die anderer Seelen – verkürzt. Vgl. dazu unten bei Anm. 79‒84 und exemplarisch Michelle Fournié: Le ciel peut-il attendre? Le cult du purgatoire dans le midi de la France (1320 environ–1520 environ). Paris 1997.



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denheit und Trennung von Seele und Körper. Wenn man bedenkt, dass die Auffassung von personaler Identität des Menschen unmittelbar mit dem Verständnis seiner Integrität und Ganzheit zusammenhängt, dann ist nach christlichem Verständnis für die integre Identität des Menschen die enge Verbindung von Leib und Seele und in diesem Sinne eine totus-homo-Anthropologie charakteristisch. Daher legt die altkirchliche und mittelalterliche Christenheit größten Wert darauf, dass der irdische Leib, in dem die Seele gelebt hat, derselbe physische Körper ist, mit dem sie nach der Totenauferstehung am Jüngsten Tag wiedervereint wird. So gesehen bedeutet der Tod nicht im platonischen Sinne die Befreiung der Seele vom Körper, sondern eine beklagenswerte Identitätsspaltung des Menschen, die nach einer Wiederherstellung des totus homo in verklärter Dimension verlangt. Für die Theologie der patristischen Ära und des frühen Mittelalters bis in die Zeit Bernhards von Clairvaux war diese integrative Angewiesenheit der Seele auf ihren Körper so grundlegend, dass für sie – etwa noch für Bernhard – ein seliger Zustand der Seele nach ihrer Trennung vom Körper unvorstellbar war.44 Berühmt und bezeichnend ist Tertullians Diktum, dass das Fleisch der Angelpunkt des Heils sei – caro cardo salutis.45 In der Logik eines solchen Denkens lag es, die Seelen nach dem Tode bis zum Jüngsten Tage in einem schlafähnlichen Wartezustand passiver Ruhe zu sehen. Mit dem physischen Leib fehle ihnen das stoffliche Sinnenmedium, das notwendig sei, um aktiv die Freude himmlischer Seligkeit und die Qual der Höllenstrafen empfinden zu können. Während die Ostkirche diese alte Form der Eschatologie bewahrte, die Fegefeuerdoktrin ablehnte und daher auch nicht die Vorstellung vom Partikulargericht übernahm, bedeutete die beschriebene Gewichtsverlagerung der abendländischen Eschatologie von den Letzten Dingen am Ende der Tage hin zu den Ereignissen gleich nach dem Tode einen bemerkenswerten Schub an Spiritualisierung der Anthropologie. Die im 13. und 14. Jahrhundert aufbrechende Dynamik der Naheschatologie häretisierte die Vorstellung von einem Wartezustand der Seelen. Wo man auf die enge Verbundenheit und den Austausch mit den Verstorbenen drängte, mussten die Seelen sofort nach dem Tode auch ohne das Erfahrungsmedium des Körpers auf spirituell-entleiblichte Weise Seligkeitsfreude und Strafqualen erleben können. Als der Avignonpapst Johannes XXII. in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts sich dieser Dynamik der spiritualisierenden Nah- und Vorauseschatologie entgegenstemmte und in Anlehnung an Bernhard von Clairvaux lehrte, dass die heiligen Seelen erst nach dem Endgericht und ihrer Wiedervereinigung mit den verklärten Körpern in den Genuss der unmittelbaren Gottesschau kämen, scheiterte er am Widerstand der großen Mehrheit unter den theologischen Wortführern. Am 3. Dezember 1334, einen Tag vor seinem Tode, 44 Vgl. Angenendt: Geschichte der Religiosität (wie Anm. 5), S. 687f. 45 Tertullian: De resurrectione mortuorum 8,3. In: Quinti Septimi Florentis Tertulliani Opera. P. 2: Opera Montanistica. Turnhout 1954 (CCSL. Band 2), S. 931; zitiert bei Angenendt: Geschichte der Religiosität (wie Anm. 5), S. 723.

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widerrief er seinen Standpunkt,46 und sein Nachfolger Benedikt XII. ließ zügig eine dogmatische Konstitution folgen, die verbindlich klärte, dass die Seligen sogleich nach dem Tode der vollkommenen Gottesschau teilhaftig würden.47 Wenn nach mittelalterlichem Verständnis die Identität des Menschseins wesentlich in seiner Bestimmung zur Seligkeit liegt, bedeutete dann diese Vorstellung von einer seligen Gottesschau ohne Körper bzw. analog von einer körperlosen Bestrafung der Seelen nicht eine Abspaltung der menschlichen Identität vom Körper und damit einen Bruch mit der totus-homo-Auffassung der christlichen Tradition? Die spätmittelalterliche Religiosität und Theologie hat einen derartigen Bruch – trotz ihrer spiritualisierenden und platonisierenden Tendenzen – nicht wirklich vollzogen. Vielmehr haben die Theologen des 14. Jahrhunderts im Anschluss an die Lehre des Thomas von Aquin48 präzisiert, dass die himmlischen Seelen zwar auch ohne ihre Körper eine vollkommene Seligkeit, d. h. eine unverminderte, direkte geistige Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht genießen; doch wird die selige Freude der Seelen am Jüngsten Tag erweitert und gesteigert, weil nun auch die Körper in die selige Gottesschau einbezogen werden. In diesem Sinne kann Thomas sagen: „Vollkommener wird die Seligkeit der Seele nach der Aufnahme des Leibes sein als vorher.“49 Erst die erneuerte Verbundenheit von Seele und Erdenleib macht die himmlische Glückseligkeit, die Seligkeitsidentität des ganzen Menschen komplett. Insofern setzt sich am Ende die totus-homo-Perspektive durch. Unterstützt wurde diese Sichtweise durch den Einfluss der aristotelischen Anthropologie auf die scholastische Lehrbildung des 13. und frühen 14. Jahrhunderts. Auf dem Konzil von Vienne von 1312 wurde daher die Lehre 46 Zum Lehrstandpunkt des Papstes, den er erstmals in einer Predigt am Allerheiligenfest 1531 öffentlich vortrug, und zur Kontroverse, die sich daran entzündete, vgl. Ott: Eschatologie (wie Anm. 8), S. 242–253; Marc Dykmans: Les sermons de Jean XXII sur la vision beatifique. Rom 1973 (Miscellanea historiae pontificiae. Band 34); Jan Ballweg: Konziliare und päpstliche Ordensreform. Benedikt XII. und die Reformdiskussion im frühen 14. Jahrhundert. Tübingen 2001 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe. Band 17), S. 155–177 (mit Literatur). 47 Constitutio Benedictus Deus vom 29. Januar 1336. In: Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum / Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Begr. von Heinrich Denzinger. Hg. von Peter Hünermann. Freiburg i. Br. u. a. 38. Aufl. 1999, Nr. 1000; vgl. auch den (noch unter dem Pontifikat und im Auftrag seines Vorgängers verfassten) Traktat Benedikts XII. «De statu animarum sanctorum ante generale iudicium» und dazu Friedrich Wetter: Die Lehre Benedikts XII. vom intensiven Wachstum der Gottesschau. Rom 1958 (Analecta Gregoriana. Band 92). 48 Vgl. bes. Thomas von Aquin: Summa theologiae, Suppl., quaestio 93, art. 1: Utrum beatitudo sanctorum sit maior futura post iudicium quam ante. 49 Thomas von Aquin: Summa theologiae, Suppl., quaestio 93, art. 1, responsio: […] perfectior erit beatitudo animae post resumptionem corporis quam ante. Kontrovers diskutiert wurde im späteren 13. und im 14. Jahrhundert die Frage, ob die Seelen durch Auferstehung und Jüngstes Gericht einen nur extensiven Zuwachs ihrer Seligkeit, wie Thomas ausführte, oder auch eine intensive Vermehrung erführen, wofür besonders Papst Benedikt XII. plädierte, ohne dass er diese Frage allerdings in seiner lehramtlichen Entscheidung von 1336 (siehe Anm. 47) berücksichtigte. Vgl. dazu Ott: Eschatologie (wie Anm. 8), S. 253–258.



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als häretisch verurteilt, die behaupte, dass die Substanz der geistigen Seele nicht per se et essentialiter die Form des menschlichen Körpers sei.50 Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt unterstreicht die Gewichtigkeit der Körperexistenz und der ganzheitlichen Identität des Menschen. Im Partikulargericht ebenso wie ratifizierend im Endgericht wird nur die Existenz des Menschen in seinem irdischen Leibe (als viator) beurteilt.51 Solange der Mensch lebt, kann er sündigen oder sich mit Hilfe der göttlichen Gnade bekehren, den Stand der Gottesliebe erreichen, diesen Status intensivieren und aus dieser Seelenqualität heraus durch verdienstvolle Werke seinen himmlischen Lohn erwerben und vermehren. Das notwendige Medium für diesen Bekehrungs-, Intensivierungs- und Vermehrungsprozess ist der Leib. Mit dem Moment des Todes aber endet dieser Prozess abrupt. Eine qualitative Veränderung der Seele und eine Steigerung der Verdienste sind nun nicht mehr möglich. Das heißt: Ohne Körper stagniert die Seele. Der Grad der Liebe, den sie im Moment des Todes erreicht oder nicht erreicht hat, und das durch die Aktivierung der Liebe bis zu diesem Moment akkumulierte Maß an Verdiensten werden in ewiger Permanenz so bleiben und den Grad ihres himmlischen Lohns festlegen. Nur ihre noch nicht abgebüßten zeitlichen Sündenstrafen kann die Gott liebende Seele auch ohne Leib im Fegefeuer abbüßen. Aber das Fegefeuer kann nicht die Liebesqualität der Seelen verbessern und das Quantum ihrer Verdienste steigern. Dieses Konto wird mit dem Tode und dem Individualgericht für immer eingefroren. Gelegentlich ist in nicht-fachtheologischen Texten wie geistlichen Schauspielen davon die Rede, dass eine Seele dank eines besonderen göttlichen Gnadenerweises nach dem Tode noch einmal für kurze Zeit in ihren Körper zurückkehren darf, um ihre Bekehrung zu einer wahren Reue nachzuholen.52 Damit bestätigen diese Texte aber die eherne theologische Doktrin, dass jenseits des irdischen Leibes keine Entwicklung der Seele mehr möglich ist. So gesehen steht das Verständnis menschlicher Identität auch im Hoch- und Spätmittelalter trotz der veränderten Eschatologie nach wie vor unter dem Vorzeichen einer Schlüsselrolle des Körperlichen. Entscheidend im Gericht ist allein, wie die Seele im Körper gelebt und mit ihm gearbeitet hat, ob und wie es ihr gelang, ihn kontrollierend und domestizierend zu beherrschen. Auch die vom Körper getrennte Seele bleibt so im Partikulargericht und danach auf ihre Körper-Seele-Identität festgelegt. Man kann noch weitergehen und sagen, dass das Mittelalter überhaupt keine absolut körperlose Seelenexistenz kennt, auch wenn die Theologen von der puren 50 […] quod substantia animae rationalis seu intellectivae vere ac per se humani corporis non sit forma […], quod anima rationalis seu intellectiva non sit forma corporis humani per se et essentialiter, tamquam haereticus sit censendus. Enchiridion symbolorum (wie Anm. 47), Nr. 9. 51 Eine wichtige Rolle spielte dabei der biblische Beleg 2. Kor. 5,10: „Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder empfange, je nachdem er im Leibe gehandelt hat, es sei gut oder böse.“ Vgl. exemplarisch Thomas von Aquin: Summa theologiae, Suppl., quaestio 88, art. 1, ad 1 (über das persönliche Einzelgericht): […] [iudicium] singulare, quod de eo fiet post mortem, quando recipiet iuxta ea quae in corpore gessit. 52 Quellenbelege bei Dinzelbacher: Von der Welt (wie Anm. 14), S. 85, 89 und 131.

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Geistnatur der Seelen sprechen. Solange die Seele im irdischen, physischen Leib lebt, hat sie diesen Körper als Instrument ihres Weges zum Himmel und ihrer Perfektionierung einer ars moriendi. Verlässt sie aber diesen sterbenden Körper, dann ist sie selbst Leib in einer geistleiblichen Existenzweise,53 die sogar fähig ist, die physischen Flammen des Fegefeuers auf sinnliche Weise – kraft ihrer potentiae sensitivae – als Tortur zu empfinden.54 In diesem Sinne einer feinstofflichen Seelenleiblichkeit ist es zu verstehen, wenn in der bildenden Kunst des Spätmittelalters wie in der Visionsliteratur die Seele im Partikulargericht stereotyp als kleine nackte Person erscheint55 – nackt, d. h. entkleidet von ihrem physischen Körper, aber doch selbst nicht anders als körperlich imaginierbar und nur so als erlebnisfähig vorstellbar.

5 Das Barmherzigkeitspotential des Individualgerichts Man kann – wie etwa Peter Dinzelbacher – mit einigem Recht die These vertreten, dass die Verdopplung der Gerichtsvorstellung den spätmittelalterlichen Geistlichen die Möglichkeit bot, die Jenseitsängste vor dem künftigen göttlichen Richter in Wort und Bild zu verdoppeln.56 In der Tat gibt es Theologen wie Dionysius den Kartäuser um 1450, die in ihren eschatologischen Traktaten betonen, dass sowohl die Schrecklichkeit des Universalgerichts als auch die des Partikulargerichts aufs höchste zu fürchten sei.57 Die Haltung, mit der man dem persönlichen Gericht entgegensehen 53 Vgl. bereits Tertullians Formulierung, dass die Seele schon vor der Auferstehung des Leibes leibhaftig (corporalis) sei. Diese Vorstellung von „einer gleichsam behelfsmäßigen Erstbekleidung“ der Seele in Gestalt eines „Vorausleibes“, der sie zu einer vorläufigen Aktivität vor der Auferstehung befähige, wurde im Frühmittelalter vor allem durch Visionstexte ausgestaltet. Vgl. Angenendt: Geschichte der Religiosität (wie Anm. 5), S. 686 und 723. 54 Vgl. Dionysius der Kartäuser: De particulari iudicio, art. 29 (Doctoris ecstatici D. Dionysii Cartusiani opera minora, Band 9 [wie Anm. 40], S. 453b/C): Certum est autem, quod potentiae sensitivae ad minus radicaliter et originaliter manent in anima separata. 55 Vgl. Birgitta von Schweden: Revelationes 7,13: Videbatur etiam coram iudice quaedam anima astare in magno timore et pavore et nuda sicut infans tunc natus. Zitiert nach Dinzelbacher: Von der Welt (wie Anm. 14), S. 86. 56 Vgl. Dinzelbacher: Von der Welt (wie Anm. 14), S. 72, 77, 80, 97, insbesondere S. 72: „Wir werden sehen, wie sich die spätmittelalterliche Geistlichkeit bemühte, in Wort und Bild die ohnehin vor dem Weltgericht herrschende Angst nochmals durch die vor dem Eigengericht zu verdoppeln.“ Zur Auffassung von der Dominanz des Angstverursachenden und Schreckenerregenden gegenüber den gleichzeitigen Barmherzigkeits-, Gnaden- und Trostvorstellungen in der spätmittelalterlichen Religiosität vgl. auch Ders.: Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung: Mentalitätsgeschichte und Ikonographie. Paderborn 1996, und dazu Hamm: Religiosität (wie Anm. 2), S. 425–445 (Gottes gnädiges Gericht). 57 Vgl. Dionysius der Kartäuser: De particulari iudicio, art. 12 und 13 (Doctoris ecstatici D. Dionysii Cartusiani opera minora, Band 9 [wie Anm. 40], S. 439–443).



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muss, verdichtet er in den angstvollen Ausruf: „Weh mir, wie kann ich vor dem Richterstuhl Christi bestehen und Rechenschaft für meine Taten ablegen!“58 Dionysius lässt in seinem großen Traktat über das Partikulargericht keine abmildernden und tröstenden Aspekte des Erbarmens aufleuchten. Er spricht in den großen Passagen über das urteilende, strafende bzw. belohnende Christustribunal ausschließlich von einem Geschehen streng richtender und vergeltender Gerechtigkeit.59 Damit repräsentiert er den spätmittelalterlichen Strang einer sehr rigiden monastischen Gerichtsund ars-moriendi-Theologie.60 Umso wichtiger ist die Beobachtung, dass es auch einen völlig anderen spätmittelalterlichen Umgang mit dem Individualgericht gibt, der darauf zielt, das immense Erbarmenspotential dieser Gerichtssituation und ihre Barmherzigkeitslogik auszuloten. Dies konnte vor allem so geschehen, dass man den göttlichen Richter des persönlichen Gerichts nicht wie Dionysius mit Christus identifizierte, sondern im Unterschied zum Universalgericht mit Gottvater. Damit aber wurde Christus eine andere Rolle zugewiesen: die des fürbittenden Interzessors, der als Advokat des sündigen Menschen vor dem Tribunal Gottvaters steht, und zwar in der Regel zusammen mit 58 Vae mihi, quomodo habeo stare ante tribunal Christi et actuum meorum reddere rationem! Dionysius der Kartäuser: De particulari iudicio, art. 13 (Doctoris ecstatici D. Dionysii Cartusiani opera minora, Band 9 [wie Anm. 40], S. 441b/B). 59 Auch wenn Dionysius die Furchtbarkeit des Partikular- und Universalgerichts und die Schrecklichkeit der Jenseitsstrafen stark hervortreten lässt und in diesem Zusammenhang keine tröstenden Interzessionsaspekte (die für die Sünder eintretende Hilfe Christi, Mariens, der Heiligen, der Priester, der Angehörigen und Freunde), die der Angst vor dem Gericht entgegenwirken könnten, zur Sprache bringt, warnt er doch gegen Ende seines Traktats im Kontext der Anfechtungen, die den Sterbenden gefährden, in der üblichen Weise der ars-moriendi-Literatur vor der Verzweiflung und empfiehlt als Heilmittel gegen sie die Hoffnung auf Gottes barmherzige Güte, die die eigene Ungerechtigkeit unendlich übertreffe: Incomprehensibilis, omnipotens et immensa est bonitas eius ac pietas, quae omnem meam iniquitatem infinite excedit. Non enim desperabo de Deo, creatore ac salvatore meo, sed in ipso, etiamsi occiderit me, sperabo. De particulari iudicio, art. 36 (Doctoris ecstatici D. Dionysii Cartusiani opera minora, Band 9 [wie Anm. 40], S. 478b/D). Diese Hoffnungsdimension findet jedoch in die Charakterisierung des Partikulargerichts selbst, in der Strenge und Furcht hervortreten, keinen Eingang, sondern weckt den Eindruck einer angehängten theologischen Pflichtübung im Sinne der gängigen Devise, dass ein Christ immer auf dem goldenen Mittelweg zwischen Überheblichkeit und Verzweiflung wandelt und so stets timor und spes miteinander zu kombinieren weiß. 60 Charakteristisch für diese Richtung ist ein in der älteren monastischen Tradition beheimatetes anspruchsvolles ars-moriendi-Programm, das man als „Lebensbogen-Modell“ bezeichnen kann: Die Sterbestunde erscheint als Abschluss einer Entwicklung, der in der Regel nur dann gelingt, wenn das vorausgegangene Leben Vorbereitung auf den letzten Wegabschnitt war. Was im Leben an Heiligung versäumt wird, kann normalerweise im Sterben nicht mehr nachgeholt werden. Dagegen legen andere spätmittelalterliche Autoren besonders großen Nachdruck darauf , dass es für ein seliges Sterben bis zum letzten Atemzug kein „Zu spät“ gibt, weil Gott auch dem größten Sünder, wenn er sich ihm am Ende nur bußfertig anvertraut, im persönlichen Gericht alle Sündenschuld und alle Sündenstrafen vergeben kann. Vgl. Berndt Hamm: Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung. Tübingen 2010, S. 123–126: „Zwei Konzeptionen der Ars moriendi: Lebensheiligung und Chance des Sterbens.“

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Maria und manchmal auch mit Heiligen und Engeln. Sie alle legen Fürsprache für die Seele des verstorbenen Menschen ein und appellieren an Gottes Erbarmen. Vor allem auf Bildern begegnet uns seit der Mitte des 14. Jahrhunderts in vielen Variationen eine derartige Inszenierung des Individualgerichts als „kombinierter Interzession“,61 oft in Form einer vom Menschen zum richtenden Gottvater aufsteigenden Heilstreppe;62 in diesem Fall eines Instanzenweges bittet der Mensch Maria, diese Christus und dieser Gottvater um Erbarmen. Auch entsprechende Texte sind schon seit der Mitte des 13. Jahrhunderts nachweisbar, allerdings nicht in der abstrakt artikulierenden scholastischen Quaestionenliteratur, sondern in bildhaft ausmalenden Legenden, Exempeln, Versdichtungen und dramatisierenden Schauspielen, die das Gerichtstribunal als rhetorisches Ereignis in wörtlicher Rede inszenieren.63 Soweit ich bisher erkennen kann, wurden derartige textliche und bildliche Inszenierungen des Partikulargerichts als Interzessionsforum nicht im südeuropäischen, sondern vorwiegend im deutschsprachigen, besonders im süddeutschen sowie im ober- und mittelrheinischen Raum verbreitet und dort ikonographisch weiterentwickelt. Das gilt auch für einen Bildtyp des Partikulargerichts, der im Zuge der ars-moriendi-Frömmigkeit des 15. Jahrhun-

61 Vgl. Dieter Koepplin: Interzession Mariä und Christi vor Gottvater. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Hgg. von Engelbert Kirschbaum u. a. Band 2. Rom u. a. 1970/1994, Sp. 346–352. Koepplin verwendet hier für die unterschiedlichen Kombinationsweisen von Gottvater mit den Fürbittern Christus und Maria den Begriff der „kombinierten Interzession“ (Sp. 347). 62 Siehe bei Anm. 24. 63 Vgl. das von Dinzelbacher: Von der Welt (wie Anm. 14), S. 82–93, zusammengetragene Textmaterial., zusätzlich Baschet: Jugement de l’âme (wie Anm. 14), S. 178 (über das Gedicht des Zisterziensers Guillaume de Deguileville «Pèlerinage de l’âme» von etwa 1355–1358). Als Beispiel aus dem Bereich geistlicher Schauspiele des Spätmittelalters sei das «Münchner Spiel vom sterbenden Menschen» (1510) genannt. Es lässt in der Art eines verbalisierten und dramatisierten Heilstreppenbildes die brustweisende Maria vor Christus und den wundenzeigenden Christus vor dem zornigen Gottvater (vgl. zu diesen stereotypen Gesten Mariens und Christi den weiteren Text) auftreten – mit dem Ergebnis, dass die Interzession den himmlischen Richter umstimmt. Er kann sich der Bitte seines Sohnes um Erbarmen nicht versagen (er spricht zu Christus: wann [denn] dir nichts müglich zů versagen ist, V. 179), sondern erklärt, dass er von seinem Zorn ablassen und dem Sünder mit Gnaden beistehen will, wenn er sich zu einem Leben der Buße und des Gehorsams bekehrt. Ausgabe von Johannes Bolte: Drei Schauspiele vom sterbenden Menschen. Leipzig 1927 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart. Band 269/270), S. V-VIII und 5-9, V. 103–244; dazu Theo Meier: Die Gestalt Mariens im geistlichen Schauspiel des deutschen Mittelalters. Berlin 1959 (Philologische Studien und Quellen. Band 4). Vgl. hingegen die andersartige Situation des – ebenfalls in geistlichen Schauspielen des 15. Jahrhunderts dargestellten – Weltgerichts (siehe Anm. 18), in dem die Fürbitte Marias erfolglos bleibt und den richtenden Christus nicht mehr beeinflussen kann. Beispiele solcher Weltgerichtsspiele finden sich bei Klaus Schreiner: Maria – Jungfrau, Mutter, Herrscherin. München 1996 (revidierte Fassung der Erstaufl. 1994), S. 207–209. Dass Maria den richtenden Christus im Universalgericht nicht mehr umzustimmen vermag, entspricht der theologischen Logik im Verhältnis von Partikular- und Universalgericht, fällt doch, wie oben gezeigt wurde, die endgültige Entscheidung über das Jenseitsschicksal des Menschen bereits im Individualgericht. Deshalb ist dieses Gericht der Ort, an dem Maria ihre Interzessionskraft erfolgreich zur Geltung bringen kann.



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derts die Szene der kombinierten Interzession mit der Präsenz des die Seele für sich beanspruchenden Teufels an das Sterbebett verlegt.64 Bemerkenswert, aber von der bisherigen Forschung noch nicht bemerkt, ist vor allem die Diastase zwischen dem Befund in der bildenden Kunst und dem in der scholastischen Lehrbildung des 13. bis 15. Jahrhunderts: Während die lateinischen Lehrtexte, soweit sie mir bekannt sind, alle den Richter des Partikulargerichts mit Christus identifizieren65 oder keine Aussagen über die Person des Richters machen,66 begegnet uns in der bildenden Kunst des Spätmittelalters so gut wie immer Gottvater als Richter des Individualgerichts67 oder nur die isolierte Gestalt des – im Auftrag des

64 Vgl. das oben in Anm. 6 beschriebene Beispiel einer kolorierten Federzeichnung von 1430/1440 (vermutlich oberrheinisch). In denselben Entstehungsraum weist auch das früheste bisher bekannte Bildbeispiel, eine kolorierte Miniatur, die wohl in das erste Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts zu datieren ist; so Werner Cohn: Eine unbekannte oberrheinische Miniatur des „Weichen Stils“. In: Festschrift Friedrich Winkler. Hg. von Hans Möhle. Berlin 1959, S. 95–99 (mit Abb.). Vgl. dieselben und andere Beispiele bei Koepplin: Interzession (wie Anm. 61), IIC, Sp. 348–350; Hamm: Religiosität (wie Anm. 2), S. 482f. Das bei Baschet: Jugement de l’âme (wie Anm. 14), S. 179 und 195 Abb. 4 auf ca. 1388 datierte Fresko der Kirche St. Johannes von Želiezovce (Mittelslowakei) dürfte wohl erst im ersten Drittel des 15. Jahrhundert entstanden sein. 65 Vgl. außer dem bereits wiederholt zitierten Traktat über das Partikulargericht des Kartäusers Dionysius (wie oben Anm. 40, bes. art. 1, S. 423–425) die lateinischen, more scholastico gestalteten Predigten der Wiener Theologen Thomas Peuntner und Johannes Geuß; dazu unten Anm. 79. Ein wichtiges biblisches Argument für das Richteramt Christi nicht nur im Universal-, sondern auch im Partikulargericht war Joh. 5,22f.: „Auch richtet der Vater niemanden, sondern er hat das Richten ganz dem Sohn übergeben, damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren.“ 66 So bleibt z. B. bei Thomas von Aquin (wie Anm. 15) oder Johannes von Paltz (wie Anm. 36) offen, wer der Richter im Partikulargericht ist. 67 Die einzige mir bekannte spätmittelalterliche Ausnahme ist im Stundenbuch des Rohan-Meisters (um 1420) der Bibliothèque Nationale Paris (Ms. lat. 9471) zu finden; dazu Dinzelbacher: Von der Welt (wie Anm. 14), S. 87f. (mit Literatur); Adelheid Heimann: Der Meister der „Grandes Heures de Rohan“ und seine Werkstatt. Städel-Jahrbuch 7/8 (1932) S. 1–61, hier S. 19f. (Abb. 17) und 53f. Allerdings vereinigt diese Darstellung des göttlichen Richters (mit dem Spruchband: pour tes pechiez penitence feras. Au jour du jugement avecques moy seras) über einem aufgebahrten Toten (mit dem Spruchband: In manus tuas domine commendo spiritum meum. Redemisti me domine, deus veritatis) vermutlich den Sohn mit dem Vater, da der das Schwert haltende Richter als Greis mit wallendem weißen Haar und Bart dargestellt wird, dessen Nimbus die Inschrift Jhesus nazarenus – rex judeorum trägt. Damit entspräche das Bild der kirchlichen Lehre, dass die Werke der Trinität ad extra, zu denen auch das Richten gehört, immer ungeteilt sind. Es gibt allerdings Kunsthistoriker wie etwa Cohn (Eine unbekannte oberrheinische Miniatur [wie Anm. 64], S. 98), die trotz der Nimbus-Inschrift im Richter des Rohan-Meisters nicht Christus, sondern nur Gottvater sehen wollen. Übrigens wird in demselben Codex auf dem Bild des Weltgerichts Christus ebenfalls als weißhaariger Greis mit Schwert, diesmal mit Dornenkrone, Wundmalen und vielen Blutspuren, dargestellt; vgl. Heimann: ebd., S. 21f. (Abb. 18). Zu einer Darstellung Christi beim Seelengericht am Sterbebett aus dem späten 12. Jahrhundert siehe Anm. 25. Auf den in Anm. 6 erwähnten Bildern (darunter Abb. 1) ist zwar die Gerichtswaage des Partikulargerichts am Querbalken des Kruzifixes befestigt, doch übt der Gekreuzigte selbst nicht die Rolle des Richters, sondern des Interzessors aus.

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nicht dargestellten Richters – die Seele wägenden Erzengels Michael.68 Eine Erklärung dieses seltsamen Befunds ist beim jetzigen Stand der Forschung schwierig. Die Medien, die auch für nicht gelehrte Menschen bestimmt waren und der Popularreligiosität besonders nahe standen wie Bilder und bildlich ausmalende Texte in der Volkssprache, hatten offensichtlich eher als die gelehrten lateinischen Texte die Tendenz, das Individualgericht als gnädiges Gericht zu charakterisieren.69 Noch ein weiterer Aspekt ist zu berücksichtigen: Die Bildwerke, die ein gnädiges Partikulargericht zeigen, wurden in der Regel für einen Kirchenraum oder für den privaten Gebrauch im Auftrag gegeben. Von Interesse ist daher auch die Intention der Auftraggeber, die, wie zu vermuten ist, auf einen gnädigen Richter in der Todesstunde hofften und daher bei Künstlern entsprechende Bildwerke, insbesondere Epitaphgemälde und Illustrationen von Stundenbüchern und anderen Handschriften, bestellten. Waren die Stifter und Auftraggeber Laien, spielte dabei gewiss auch der Rat der beteiligten Seelsorger eine gewichtige Rolle. Worauf die verbalen und bildlichen Darstellungen des Individualgerichts mit Gottvater als Richter zielen und welche theologische Logik der rettenden Barmherzigkeit hier zur Geltung kommt, zeigt exemplarisch ein um 1508 geschaffenes Gemälde von Hans Holbein d. Ä. (Abb. 3).70 Auf diesem Epitaphbild ließ sich in der unteren Bildhälfte der reiche Augsburger Weinhändler Ulrich Schwarz mit seiner Familie darstellen. In der oberen Bildhälfte erscheint über den Wolken die Szenerie des Individualgerichts. Sie weist zwar in der Anordnung der drei Gestalten formale Ähnlichkeiten mit der traditionellen Deesis-Darstellung des Jüngsten Gerichts auf, unterscheidet sich aber dennoch grundlegend von der Weltgerichts-Ikonographie. Indem Gottvater den Platz Christi einnimmt und von den fürbittenden Interzessoren Christus und Maria flankiert wird und indem nicht mehr Erlöste und Verdammte zu Füßen der himmlischen Dreiheit dargestellt werden, sondern nur andächtig betende Gestalten, ändert sich der Charakter des Gerichtsforums völlig: Aus einem

68 Siehe Anm. 28. 69 Gelehrte lateinische Predigten über das Partikulargericht aus dem 15. Jahrhundert wie die des Wiener Pfarrers Thomas Peuntner oder des Wiener Theologieprofessors, Predigers und Domdekans Johannes Geuß können durch ihre intensive Verknüpfung von Theologie und Seelsorge eine Zwischenstellung einnehmen, indem sie zwar an der Richterrolle Christi im Partikulargericht festhalten, zugleich aber stärker als beispielsweise Dionysius der Kartäuser Aspekte des Erbarmens hervorheben. Zu diesen Predigten und ihren Autoren siehe unten Anm. 79. 70 Das Epitaphbild, das Hans Holbein d. Ä. vermutlich im Jahre 1508 im Auftrag des Augsburger Weinhändlers Ulrich Schwarz vollendet hat, hing ursprünglich wohl an einem Pfeiler der Augsburger Kirche St. Ulrich und Afra. Heute ist es Eigentum der Städtischen Kunstsammlungen Augsburg (Inv.Nr. 3701) und befindet sich in der Staatsgalerie Augsburg; vgl. deren Katalog, Band 1: Altdeutsche Gemälde. Hg. von Gisela Goldberg. Augsburg 1967, S. 51–55 (mit älterer Literatur); darüber hinaus vgl. Bruno Bushart: Hans Holbein d. Ä. Augsburg 1987, S. 102–105; Hartmut Boockmann: Die Stadt im späten Mittelalter. München 1986, S. 168f., Nr. 264; Hamm: Religiosität (wie Anm. 2), S. 148–151 und 428–431.

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Abb. 3: Hans Holbein d. Ä.: Epitaphbild mit Partikulargericht, um 1508. Staatsgalerie Augsburg (vgl. Anm. 70).

Tribunal der Zweiseitigkeit von erlösendem Erbarmen und strafender Strenge wird ein pures Barmherzigkeitsgericht der göttlichen Gnade. Christus zur Rechten des Vaters weist ihn auf seine Seitenwunde und damit sein stellvertretendes Leiden und bittet den Richter: Vater, sieh an meine Wunden rot! Hilf den Menschen aus aller Not durch meinen bitteren Tod!71

71 Vatter sich an mein wunden rot. / Hilf den menschen auß aller not / durch meinen bittern tod.

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Maria zur Linken unterstützt Christi Fürsprache, indem sie dem Vater demonstrativ ihre rechte Brust als Symbol des Opfers mütterlicher Barmherzigkeit entgegen hält und sagt: Herr, tu ein dein Schwert, das du hast gezogen, und sieh an die Brüste, die dein Sohn hat gesogen!72

Das fürbittende Eintreten des barmherzigen Erlösers und der erbarmensreichen Miterlöserin für die fromm knienden Sünder und Sünderinnen bewirkt den Umschwung in der Haltung des Vaters: dass er das bereits gezogene Schwert, Symbol seiner richtenden Gerechtigkeit und seines strafenden Zorns, in die Scheide zurückschiebt und die Worte des zentralen Spruchbandes ausspricht: Barmherzigkeit will ich all denen erzeigen, die da mit wahrer Reue von hinnen scheiden.73

Dies sind die entscheidenden Schlüsselworte der Szene, die eine Doktrin und Regel formulieren wollen, die für alle Individualgerichts-Situationen gilt und völlig mit dem Lehrkonsens der Zeit übereinstimmt: Gott erweist allen Menschen Barmherzigkeit, die mit wahrer Reue sterben, d. h. aus Liebe zu Gott aufrichtigen Schmerz über ihre Sünden empfinden. Ihnen gegenüber ist er dadurch barmherzig, dass er ihnen nicht nur die Sündenschuld und die ewige Sündenstrafe der Hölle erlässt, sondern auch ihre Fegefeuerstrafe abmildert oder völlig tilgt. Das Bild zeigt auch exemplarisch, welche theologische Logik und Begründungsstringenz die Barmherzigkeit zum Sieg über das Vergeltungspostulat führt: Es ist die Logik der Stellvertretung und Interzession. Wo ein sündiger Mensch nach seiner Bekehrung aus eigener Qualität und Kraft, auch mit einer noch so intensiven Reue und noch so heiligen Werken, seine Schuld nicht sühnen und Gottes Gerechtigkeit nicht befriedigen kann,74 treten im Individualgericht andere für ihn ein: Christus, Maria, in anderen szenischen Darstellungen auch der Erzengel Michael oder der Schutzengel des Verstorbenen und verschiedene Heilige, besonders der persönliche Schutzpatron.75 Sie, allen voran Christus, erreichen durch ihre Fürbitten bei Gottva72 Her, thůn ein dein schwert, des du hast erzogen, / und sich an die brist, die dein sun hat gesogen. 73 Barmhertzigkait will ich allen den erzaigen, / die da mit warer rew von hinnen schaiden. 74 Vgl. dazu erläuternd unten bei Anm. 92–94. 75 Vgl. Dinzelbacher: Von der Welt (wie Anm. 14), S. 82–93. Vgl. auch den oben bei Anm. 6 erwähnten Holzschnitt des Hans Süß von Kulmbach mit Christus als Gerichtswaage (Abb. 1). Das Bild vereint mit der Sühnewirkung des Leidens Christi auch die Interzessionskraft Marias, der heiligen Ursula samt ihren Gefährtinnen, der heiligen Katharina und des heiligen Petrus sowie vermutlich des heiligen Joachim und der heiligen Anna (der legendären Eltern Marias). Sie alle sitzen zu Füßen des Kreuzes im Schiff der heiligen Ursula. Sie war mit ihren Gefährtinnen die Schutzpatronin der Braunauer Ursula-Bruderschaft, deren Verbreitung das Blatt dienen sollte; zu diesem historischen Hintergrund vgl. Lentes: Die Barke zur Ewigkeit (wie Anm. 6), S. 194f. Das Blatt teilt den Betrachtern mit, dass



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ter, dass er sich umstimmen lässt und ein barmherziges Urteil fällt, ja sogar – wie es gelegentlich ausdrücklich auf Spruchbändern formuliert wird – nicht anders k a n n , als richtend Gnade vor Recht ergehen zu lassen.76 Das Bild Holbeins verdeutlicht, dass man im Individualgericht eben nicht individuell-isoliert vor dem Richter steht, sondern in der interzessorischen Schutzgemeinschaft der himmlischen Helfer und der irdischen Angehörigen, die ebenfalls mit ihrer Fürbitte für ihre Verstorbenen eintreten. Bezeichnend für die mediale Nähe der drei gereimten Spruchbänder der Gerichtsszene zur Frömmigkeitspraxis bürgerlicher Jenseitsvorsorge ist, dass sie nicht nur auf dem Augsburger Bildepitaph, sondern auch als Inschrift auf einem Grabstein des späten 15. Jahrhunderts im Chor der einstigen Nürnberger Franziskanerkirche zu lesen waren.77 So veranschaulicht das Bild paradigmatisch, welche Möglichkeiten die neu entstandene Partikulargerichtsvorstellung im Unterschied zur traditionellen Weltgerichtsauffassung bot, um die Nähe dieses persönlichen Gerichts als Nähe von rettendem Schutz zu verstehen. Auch Autoren, die den Richter des Individualgerichts mit Christus identifizierten, konnten das Barmherzigkeits- und Interzessionspotential, die dieses Tribunal eröffnete, ausschöpfen. Es sind Theologen, die anders als ein Kartäuser wie Dionysius von Roermond eine besondere Nähe zur städtischen Seelsorge haben.78 So hat man in der Schule der Wiener Theologen Heinrich von Langenstein und Nikolaus von Dinkelsbühl nach 1400 angenommen, dass Christus zwischen den Tod eines Menschen und dem Moment des Individualgerichts ein gewisses Zeitinterdie Gebete der im Ursula-Schiff versammelten Heiligen mit ihrer fürbittenden Kraft den Mitgliedern der Bruderschaft besonders im Moment des Todes zugutekommen, galt doch der spätmittelalterlichen Devotion das Schifflein der heiligen Ursula als Sinnbild der sicheren Überfahrt ins Jenseits; vgl. André Schnyder: Die Ursulabruderschaften des Spätmittelalters. Ein Beitrag zur Erforschung der deutschsprachigen religiösen Literatur des 15. Jahrhunderts. Bern/Stuttgart 1986 (Sprache und Dichtung. NF. Band 34). 76 Vgl. die Textbelege bei Hamm: Religiosität (wie Anm. 2), S. 433; vgl. auch oben Anm. 63 («Münchner Spiel vom sterbenden Menschen»). Zur theologischen Reflexion über Können und Nicht-Können Gottes im scholastischen Denken vgl. Ders.: Promissio, pactum, ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre. Tübingen 1977 (Beiträge zur historischen Theologie. Band 54), bes. S. 435f. 77 Vgl. Ulrich Schmidt: Das ehemalige Franziskanerkloster in Nürnberg. Nürnberg 1913, S. 18. 78 Allerdings gab es im ausgehenden Mittelalter auch zahlreiche städtische Prediger und Seelsorger, die mit ihren Aussagen über die furchtbare Strenge des Gerichts und der Jenseitsstrafen eine Strategie der Drohung, Einschüchterung und Ängstigung der Gläubigen verfolgten. Vgl. exemplarisch Dinzelbacher: Von der Welt (wie Anm. 14), S. 77: „der Nürnberger Dominikaner Johannes Herolt (gest. 1468), einer der meistgelesenen Autoren seines Jahrhunderts, erzählt, wie die Seelen so ununterbrochen in die Unterwelt fallen wie Schnee vom Himmel, und daß auf 30.000 Tote nur zwei kommen, die die Seligkeit erlangen, und nur drei, die im Fegefeuer büßen dürfen, während alle 29.995 anderen verdammt sind.“ Zur Bandbreite der städtischen Katechese zwischen Schrecken einflößender Drohung und Vertrauen weckendem Trost vgl. Berndt Hamm: Zwischen Strenge und Barmherzigkeit. Drei Typen städtischer Reformpredigt vor der Reformation: Savonarola – Geiler – Staupitz. In: Ders.: Religiosität (wie Anm. 2), S. 391–424.

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vall schieben kann.79 Den Hinterbliebenen gewährt Christus damit die Möglichkeit, den Status der verstorbenen Person im Gericht durch ihre stellvertretenden satisfaktorischen Werke, durch Gebete, Messen, Fasten und Almosen, so zu verbessern, dass sie nach dem Gericht nicht mehr ins Fegefeuer, sondern direkt in den Himmel kommt.80 Gott will damit zeigen, heißt es, wie geneigt er zum Erbarmen und wie säumig er beim Bestrafen ist (quam pronus ad miserendum, quam tardus ad puniendum).81 Wenn in dieser Weise die spätmittelalterliche Religiosität das Partikulargericht mit einer dominierenden Perspektive der Barmherzigkeit und schützenden Solidargemeinschaft der communio sanctorum verknüpfen kann, dann ist es nur konsequent, dass sie auch das Fegefeuer in denselben Zusammenhang von Erbarmen, Stellvertretung und Interzession zu stellen vermag. Der erschrockene und angstvolle Blick auf die Furchtbarkeit der Fegefeuerstrafen wird dann zum ständigen Anreiz für die Gläubigen, den armen Seelen stellvertretend durch bona satisfactoria opera und Ablässe zu Hilfe zu kommen. Auch aus der Straflogik des Fegefeuers kann so eine Erbarmenslogik werden, die von der Frömmigkeit umso stärker forciert wird, je mehr ihr von häretischen Strömungen wie den Katharern, Waldensern oder Taboriten widersprochen wird.82 Die Vorstellung entwickelt sich, dass Christus durch sein 79 Vgl. Thomas Peuntner: Predigtzyklus mit drei Predigten «De iudicio particulari», Wien, Natio­ nalbibliothek, Codex Palatinus Vindobonensis 4685, fol. 251r–263r: Sermo 1 (fol. 251r–254r) mit Incipit: Notandum de quarto adventu quo scilicet christus dominus venit et iudicat quamlibet animam cum separata fuit a corpore; Sermo 2 (fol. 255r–258v) mit Incipit: Pro vltiori deductione ipsius materie de particulari iudicio occurrit mihi verbum christi Mt. 24 dicentis: Vigilate; Sermo 3 (fol. 258v–263r) mit Incipit: Expedita aliqualiter prima particula de premissis. Die Vorstellung vom Zeitintervall (bei den Verstorbenen, die nicht sogleich nach dem Tode in den Himmel kommen) findet sich in Sermo 1, fol. 252r–254r; Peuntner beruft sich dabei ausdrücklich auf Heinrich von Langenstein (der im 15. Jahrhundert meist als Heinrich von Hessen / Henricus de Hassia zitiert wird), der mit seiner Intervallthese die Zustimmung anderer gefunden habe (fol. 252r): Respondit quidem doctor magister de hassia cui et alii consenantur [gemeint wohl: consonant oder consentiunt]; et dicunt primo […]. Zu Peuntner (um 1390–1439) vgl. Bernhard Schnell: Peuntner, Thomas. In: VL. 2. Aufl. Hgg. von Kurt Ruh u. a. Band 7. Berlin u. a. 1989, Sp. 537–544. Prinzipiell dieselbe Auffassung vom Zeitintervall zwischen Tod und Partikulargericht wie Thomas Peuntner vertritt – ebenfalls mit Berufung auf Heinrich von Langenstein – sein Wiener Zeitgenosse Johannes Geuß in seinem Sermo «De iudicio particulari anime», Wien, Nationalbibliothek, Codex Palatinus Vindobonensis 3651, fol. 247v–252v mit Incipit: In die sancta mater ecclesia incipit sollempniter celebrare adventum Domini nostri ihesu christi, hier fol. 249v–250v (quaestio 3). Zu Geuß (gest. 1440) vgl. Franz Josef Worstbrock: Geuß, Johannes. In: VL. 2. Aufl. Hgg. von Kurt Ruh u. a. Band 3. Berlin u. a. (1981), Sp. 37–41. 80 Thomas Peuntner: Sermo 1 «De iudicio particulari» (wie Anm. 79), fol. 253v/254r. 81 Peuntner: Sermo 1 «De iudicio particulari» (wie Anm. 79), fol. 254r: Et hoc totum fit, ut ostendatur, quam pronus sit deus ad miserendum et quam tardus ad puniendum. Vgl. Johannes Geuß: Sermo «De iudicio particulari anime» (wie Anm. 79), fol. 250r: Deus enim cum sit pronior ad miserendum quam ad puniendum, videtur, quod sit tardior ad puniendum quam premiandum. 82 Zur mittelalterlichen Kritik am Fegefeuerglauben durch Katharer, Waldenser und Taboriten vgl. Dinzelbacher: Von der Welt (wie Anm. 14), S. 99–106. Der Kult der stellvertretenden Frömmigkeitsleistungen der Lebenden für die armen Seelen im Fegefeuer ging offensichtlich vom südfranzösischen Klerus aus und vermehrte sich in der Frömmigkeitspraxis der Bevölkerung des Midi vor allem seit dem



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Blut, Maria durch ihre Milch,83 Engel wie besonders Erzengel Michael und Heilige immens viele Seelen aus dem Fegefeuer befreien. Mystisch begabte Frauen wurden zu Expertinnen im Losbeten von armen Seelen: So berichtet Gertrud die Große von Helfta, dass ihr Christus, als sie von ihm die Befreiung einer Seele erbat, versprach: „Nicht nur jener Seele, sondern tausendmal Tausenden will ich mich aus Liebe zu dir erbarmen.“ Christus reagiert damit, wie es heißt, auf den besonderen amoris affectus der Mystikerin. „Christine Ebner begehrt einmal nach der Kommunion die Seelen im Fegefeuer, und sofort gibt ihr Christus hundert Seelen.“ „Adelheid Langmann erhält von ihm am Gründonnerstag und zu Pfingsten je 30.000, am Dreifaltigkeitstag 15.000, zu Mariä Himmelfahrt 100.000 Seelen. Einmal bleibt sie, statt zum Essen zu gehen, in der Kirche, wofür sie zum Lohne 60.000 Seelen erhält, usw.“84 Ich will hier nicht auf die für das ausgehende Mittelalter typische Quantifizierung der Hilfsleistungen eingehen, wie sie sich auch in der Zahlenarithmetik der Ablassjahre zeigt. Auch der Aspekt der kirchlichen Bereicherung durch das Suffragienwesen, der die kritischen Attacken der Häretiker auf die Fegefeuerdoktrin anstachelte, sei hier übergangen. Wichtig ist mir im Zusammenhang meiner Themenstellung die Beobachtung, wie eng ein beachtlicher Bereich der spätmittelalterlichen Religiosität Individualgericht und Fegefeuer unter dem Leitgesichtspunkt der Interzession und des Erbarmens miteinander verklammert und so dem gleichzeitigen Strom einer angstverstärkenden Predigt, Katechese und Seelsorge entgegenwirkt.

6 Die spannungsvolle Identität des Menschen im Gericht An das Ende meiner Ausführungen zum Individualgericht stelle ich zusammenfassende und weiterführende Überlegungen darüber, welche Art von Identität des Menschen in dieser spätmittelalterlichen Gerichtsreligiosität hervortritt. Der moderne Identitätsbegriff85 ist ihr fremd. Aber auch sie hat das Selbstsein des Menschen im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts, nachdem der Avignonpapst Benedikt XII. das Jenseitsschicksal der Seelen 1336 dogmatisch geklärt hatte (siehe bei Anm. 46 und 47). In Südfrankreich war die Wechselbeziehung zwischen diesem neuen Fegefeuer- und Arme-Seelen-Kult und der immer noch höchst virulenten häretischen Tradition dieser Region offensichtlich. Vgl. Jacques Chiffoleau: La comptabilité de l’au-delà. Les hommes, la mort et la religion dans la région d’Avignon à la fin du Moyen Age. Rom 1980; Fournié: Le ciel (wie Anm. 43). 83 Vgl. Susan Marti und Daniela Mondini: „Ich manen dich der brüsten min, Das du dem Sünder wellest milte sin!“ Marienbrüste und Marienmilch im Heilsgeschehen. In: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Hg. von Jezler (wie Anm. 14), S. 79–90. 84 Alle Zitate aus Dinzelbacher: Von der Welt (wie Anm. 14), S. 120f. 85 Vgl. beispielsweise: Identität. Hgg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle. München 1979 (Poetik und Hermeneutik. Band 8); Identität. Leiblichkeit. Normativität. Neue Horizonte anthropolo-

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Blick, die Besonderheit und Unverwechselbarkeit seiner Persönlichkeit, Individualität und Subjekthaftigkeit in einer gewissen Konsistenz und Permanenz, das Spezifische seines menschlichen Wesens und die Integrität seines Menschseins. Mit dieser Blickrichtung auf den Menschen zeigt die spätmittelalterliche Theologie und Frömmigkeit eine auffallende Spannungsvielfalt. Vier Spannungsverhältnisse seien näher betrachtet: 1. Von grundlegender Bedeutung ist die Spannung zwischen individueller Personalität und transindividueller Zielbestimmung jedes Menschen. Von der himmlischen Entindividualisierung war bereits die Rede, aber auch davon, dass jede Person im Himmel ihr individuelles Maß an Lohn und jeder Mensch im Fegefeuer und in der Hölle die ihm zuerteilte Art und Intensität der Peinigung empfängt. Darüber entscheidet das Individualgericht. Insofern schreibt es die menschliche Individualidentität fest, die von der Taufe an mit einem bestimmten Namen verknüpft ist. Andererseits beurteilt Gott den Menschen im Gericht danach, wie sehr es ihm gelungen oder nicht gelungen ist, seine Individualität und Subjektivität, sein Ich und Selbst, freiwillig zugunsten der transindividuellen Gottes- und Nächstenliebe zurückzunehmen und sich dem Ideal der Selbstlosigkeit, einem Maßstab von Allgemeinheit, anzunähern. Die eschatologische Spannung, die sich hier zeigt, ist die zwischen realer Schöpfungswirklichkeit von Individualität und angestrebter Entindividualisierung der Person, einem Ziel, das dem modernen Ideal von Identitätsfindung als Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung diametral entgegensteht. 2. Die individuelle Schöpfungsidentität des Menschen wird als die von Leib und Seele in ihrer integrativen Zusammengehörigkeit gesehen. Auch hier zeigt sich im Individualgericht eine bemerkenswerte Spannung: Einerseits verfestigt es die durch den Tod bewirkte Identitätsspaltung, die Trennung von Seele und Leib, indem der Richter die Seele jetzt schon mit einer himmlischen Seligkeit ohne Leib belohnt bzw. mit einer körperlosen Pein in der Hölle oder im Fegefeuer bestraft.86 Andererseits belohnt und bestraft der Richter die Seele ausschließlich nach der Qualität und Moralität ihrer Existenz im irdischen Körper, d. h. nach ihrer Lebensführung durch das Medium des Körpers in innigster Verbundenheit von Seelen- und Körperkräften; und er richtet die Seele mit der Zielperspektive, dass die menschliche Person erst als wiederhergestellter totus homo, nach der Zusammenführung von Seele und Körper im Weltgericht, die ganze Fülle ihrer Seligkeit und ihrer Qual erleben kann. 3. Auch die irdische Existenz der Person in ihrer Leib-Seele-Identität zeigt in der spätmittelalterlichen Religiosität eine wesentliche Identitätsspannung: die Spangischen Denkens. Hgg. von Annette Barkhaus u. a. Frankfurt a. M. 1996 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Band 1247); Identität. Biblische und theologische Erkundungen. Hgg. von Alexander Deeg u. a. Göttingen 2007 (Biblisch-theologische Schwerpunkte. Band 30). 86 Die Frage ist allerdings, ob in der mittelalterlichen Religiosität eine völlig körperlose Seligkeit oder Strafexistenz überhaupt vorstellbar ist. Man muss wohl zwischen verschiedenen Arten der Körper- und Leiblosigkeit differenzieren. Siehe bei Anm. 53–55.



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nung zwischen naturhafter Subjektidentität und gnadenhafter Identität. Zum einen hat der Mensch von Natur aus eine individuelle Identität als denkendes, wollendes, fühlendes und handelndes Subjekt. So gesehen liegt seine personale Identität vor allem in der Integrität seines freien Willens, seines Gewissens, seiner Zurechnungsund Verantwortungsfähigkeit. Nur ein solches Wesen kann – anders als ein Tier, ein Engel oder Dämon, die keine freien Subjekte sind – gerichtet werden. Soweit die Natur des Menschen vor und nach dem Sündenfall. Zum andern aber gewinnt der sündhafte Mensch durch Gottes Gnade (die sogenannte gratia infusa oder gratia gratum faciens) eine neue habituelle Identität, die ihn von der Selbstsucht der Todsünde befreit, über den Stand der Schöpfungsnatur und ihrer rein natürlichen Kräfte erhebt und zu einer übernatürlichen Gottesliebe befähigt. Die scholastischen Lehrrichtungen können den Charakter, die Leistungsfähigkeit und die Relation der Schöpfungsnatur und der „eingegossenen Gnade“ sehr unterschiedlich bestimmen.87 Manche Theologen, insbesondere Ockhamisten wie Gabriel Biel (gest. 1495), waren der Ansicht, dass ein Mensch schon vor Empfang der rechtfertigenden gratia gratum faciens aus natürlichem Vermögen in sich Akte reiner Gottesliebe und wahren Reue hervorzurufen vermag.88 Doch besteht im ausgehenden Mittelalter quer durch alle theologischen Schulen der Konsens, dass kein Mensch nur mit seiner Naturausstattung (ex solis naturalibus) und ohne die gratia gratum faciens zum Heil gelangen kann. Es gehört zum theologischen Standard des 14. und 15. Jahrhunderts, dass der Mensch nur im Besitz der Gnadenqualität Genugtuung für seine Sünden leisten und den himmlischen Lohn verdienen kann.89 So wird die personale Identität des Menschen durch die Eingießung der Gnade zu einer integrativen Zweiseitigkeit erweitert: Alles, was der Mensch im Stande der gratia infusa ist und tut, hat sowohl die Dimension seiner freien Subjektidentität als auch die Dimension seiner Gnadenidentität, die sich aufs Innigste mit seinen subjektiven Seelenkräften zu einer personalen Einheit verbindet. Nur diese zweidimensionale Person wird von Gott im Individualgericht barmherzig 87 Zur schwindenden Bedeutung des Gnadenhabitus bei Wilhelm von Ockham und seiner Lehrrichtung bis hin zu Gabriel Biel vgl. Erwin Iserloh: Gnade und Eucharistie in der philosophischen Theologie des Wilhelm von Ockham. Ihre Bedeutung für die Ursachen der Reformation. Wiesbaden 1956 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Band 8); Hamm: Promissio (wie Anm. 76), S. 360–368 (mit Literatur). 88 Vgl. Leif Grane: Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio Contra Scholasticam Theologiam 1517. Gyldendal 1962 (Acta Theologica Danica. Band 4), bes. S. 149–261. 89 Ockhamistische Theologen wie Gabriel Biel begründen dies mit dem Hinweis auf Gottes freie Selbstbindung, die es für die gültige Heilsordnung (den Bereich der potentia Dei ordinata) so festgelegt hat, auch wenn Gott kraft seiner potentia absoluta eine ganz andere Ordnung hätte geben können, in der Menschen auch ohne Besitz des eingegossenen Gnadenhabitus zur Seligkeit gelangen. Vgl. Heiko A. Oberman: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie. Zürich 1965 (Spätscholastik und Reformation. Band 1) (amerik. Originalausgabe: The Harvest of Medieval Theology – Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism. Cambridge, Mass. 1963), S. 31–56; Hamm: Promissio (wie Anm. 76), S. 355–377.

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angenommen, denn nur sie konnte in der andächtigen Haltung wahrer Reue sterben, während der eindimensionale Mensch verstockt in seiner Unbußfertigkeit verharrte. 4. Ich gebrauchte eben den Begriff des ‚Angenommenwerdens‛ im Individualgericht: Der reuige, liebesfähige Mensch wird vom Richter barmherzig zum Heil akzeptiert,90 entweder zur sofortigen Seligkeit oder zu einer nach dem Fegefeuerintervall verzögert gewährten Seligkeit. Damit kommt noch eine weitere Identitätsspannung des Menschen in den Blick, die für seine Gottesbeziehung ebenso grundlegend ist wie die zwischen Leib und Seele und zwischen natürlicher und gnadenhafter Beschaffenheit. Es ist die Spannung zwischen der Qualität der Person und ihrer guten Werke, die vom Richter oder – in seinem Auftrag – vom Erzengel Michael gewogen wird, und einer Außendimension von Interzession, Stellvertretung, Hilfe und Schutz, die von größter Tragweite für das Jenseitsschicksal des Menschen wird. Anders formuliert: Entscheidend im Gericht ist nicht nur die Inseität der Person: was sie in sich (in se) ist und aus innerer Gnadenqualität heraus gewirkt hat, sondern auch ihre Externität:91 was ihr in der Schutzgemeinschaft mit Christus, Maria, den Heiligen, Engeln und irdischen Helfern von außen zugeeignet wird – so wie auf Holbeins Gemälde (Abb. 3) an erster Stelle die Sühnekraft des stellvertretenden Leidens Christi und an zweiter Stelle das mütterliche Erbarmen Mariens92 oder wie auf dem Holzschnitt von Hans Süß (Abb. 1) neben der Schutzwirkung Christi und Mariens noch die Ursulas, Katharinas und anderer Heiliger.93 Die dort visualisierte Gerichtswaage entscheidet zugunsten der gewogenen Seelenpersonen, weil die Waagschale der Rettung ihr Gewicht nicht nur durch die positive Lebensbilanz der Personen, sondern vor allem durch die hilfreichen Jenseitsmächte erhält.94 Die in der Regel von Michael gehaltene Gerichtswaage auf Partikulargerichtsbildern ist mit der heilvollen Wirkung der Interzessionsgestalten zu einem integrativen Ganzen des Gerichtsgeschehens zusammenzudenken. Oft wird auf den Bildern auch gezeigt, wie teuflische, meist als Monster dargestellte Mächte vergeblich einen verderblichen Einfluss auf die Waag90 Der Begriff acceptatio gewann vor allem durch die Heils-, Gnaden-, Rechtfertigungs-, Lohn- und Verdienstlehre des Johannes Duns Scotus (gest. 1308) eine tragende Bedeutung und größten Einfluss auf die scholastische Theologie des Spätmittelalters. Vgl. bes. Werner Dettloff: Die Lehre von der acceptatio divina bei Johannes Duns Scotus mit besonderer Berücksichtigung der Rechtfertigungslehre. Werl 1954 (Franziskanische Forschungen. Band 10); Ders.: Die Entwicklung der Akzeptations- und Verdienstlehre von Duns Scotus bis Luther mit besonderer Berücksichtigung der Franziskanertheologen. Münster 1963 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Band 40,2). 91 Zu diesen Dimensionen des Personbegriffs seit der Definition des Boethius (Persona est rationalis naturae individua substantia) bis zu Luthers „exzentrischem Personverständnis“ vgl. Wilfried Joest: Ontologie der Person bei Luther. Göttingen 1967. 92 Siehe bei Anm. 71 und 72. 93 Siehe Anm. 75. 94 Die oben in Anm. 6 beschriebene Federzeichnung von 1430/1440 spitzt diese externe Hilfe im Partikulargericht christologisch zu, indem sie die Waagschale des Heils durch die Werkzeuge der Passion beschwert sein lässt.



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schalen zu nehmen versuchen. Anders als die Externität der communio sanctorum vermag die Externität der Teufel und Dämonen das Jenseitsschicksal der Verstorbenen prinzipiell nicht zu beeinflussen. Nur als Exekutoren der von Gott verfügten Strafen können sie wirksam werden. Die Bilder, die das Individualgericht als Szene der kombinierten Interzession mit oder ohne Seelenwägung darstellen, veranschaulichen somit etwas theologisch sehr Grundlegendes: Die eigene Qualität, Moralität und Andacht des geheiligten Menschen, die aus dem Zusammenwirken der göttlichen Gnade und des menschlichen Willens entstehen, sind zwar die notwendige Bedingung dafür, dass er am Ende seines Lebens von Gott zum Heil akzeptiert wird. Doch würde ihn sein gerechtes Leben nie und nimmer aus sich selbst heraus des göttlichen Erbarmens, Verzeihens und Belohnens wert und würdig machen, wie spätmittelalterliche Prediger insbesondere mit Verweis auf den Vulgatavers Jes. 64,6 hervorheben können: Vor Gott „sind alle unsere Gerechtigkeiten beschmutzt wie das Tuch einer menstruierenden Frau“ (quasi pannus menstruatae universae iustitiae nostrae).95 Erst die von außen kommende, schützend für ihn eintretende und ihn gleichsam emporhebende Hilfe der communio sanctorum macht den Verstorbenen im Gericht für Gott so akzeptabel, dass dieser ihm die himmlische Seligkeit schenkt, die Fegefeuerstrafen erlässt oder vermindert. Die Identität der so begnadigten Person ist also eine relationale und externe Gemeinschaftsidentität, die sich schützend um ihre interne, subjekthafte und individuelle Identität legt. Nur dank dieser komplexen Identität wird der Person des Menschen eine Integrität geschenkt, die alle subjekthafte Individualität transzendiert. Der Garant dieser himmlischen Identität und Integrität ist allein Gottes barmherziges Gedenken, das bereits im Individualgericht alles zusammenführt und präsent werden lässt, was die spannungsreiche Identität des Menschen ausmacht: seine Identität als einzigartiges Individuum mit einem bestimmten Namen und als ein zur transindividuellen Seligkeit bestimmtes Wesen, seine Identität von Leib und Seele, seine Identität als naturhaftes Schöpfungssubjekt und als geheiligte Gnadenperson und schließlich seine Identität als Mensch mit einer unverwechselbaren Bilanz seines Erdendaseins und als Glied einer himmlischen und irdischen Schutzgemeinschaft. In Gottes Memoria findet so die Identität der Person über alle Spannungen und Brüche hinweg ihre letztgültige Konsistenz und Permanenz. Nachtrag eines jüngst erschienenen Aufsatzes zur Ikonographie des Partikulargerichts: Berndt Hamm: Frömmigkeitsbilder und Partikulargericht vom 14. bis zum frühen 16. Jahrhundert, in: Kunst-Kontexte. Festschrift für Heidrun Stein-Kecks. Hg. von Hans-Christoph Dittscheid u. a. Petersberg 2016, S. 130–152.

95 Vgl. Adolar Zumkeller: Das Ungenügen der menschlichen Werke bei den deutschen Predigern des Spätmittelalters. ZkTh 81 (1959) S. 265–305.

Jürgen Heidrich

Virtuosenkult um 1500: Zur Konstruktion künstlerischer Identität am Beispiel des Organisten Paul Hofhaimer I Einleitung Anders als bildende Künstler oder Literaten, deren Ruhm und Wertschätzung sich in der Regel vor allem auf die Zurschaustellung bzw. Publikation des fertigen (oder mitunter auch fragmentarischen) Produkts gründet (Portraits, Plastiken, Tafelbilder, literarische Erzeugnisse jeglicher Couleur), ist die Situation des Musikers – heute wie im Spätmittelalter – eine differenzierte: Es ist zu unterscheiden zwischen der ingeniösen bzw. intellektuellen Erschaffung samt nachfolgender Publikation des musikalischen Artefakts einerseits und dessen – davon unabhängiger – Exekution vor einem Auditorium, dessen eigentlicher Realisierung in einem performativen Akt also, andererseits. Mit dieser Differenzierung einher geht die werkästhetische Einsicht, dass eine musikalische Komposition erst im Erklingen ihre eigentliche Gestalt annehme, ihren eigentlichen Werkbegriff rechtfertige. Mit Blick darauf wird die Fähigkeit, ein bereits vorhandenes Musikstück zu reproduzieren, zu interpretieren, die Autormeinung zu repräsentieren, ja, sich dem Ingenium des Komponisten so weit als möglich anzunähern und sich in seine Tonsprache, seine künstlerische Rhetorik so weit als möglich einzufühlen, im Verlauf der Musikgeschichte dem eigentlichen Schöpfungs- und Erfindungsprozess sukzessive zumindest gleichrangig zur Seite gestellt: Ja, man gewinnt angesichts des absurden Personenkults im heutigen kommerzialisierten Konzertbetrieb sogar den Eindruck, nicht die Komposition sei primär wichtig, sondern deren möglichst originelle und spektakuläre Zurschaustellung. Auch die Suche nach Identitätsbildern und -entwürfen mit Blick auf die Verhältnisse um 1500 hat diese – seinerzeit freilich noch nicht so scharfe – Trennung von Komponist und Interpret als Denkfigur im Blick zu behalten; gleiches gilt für externe Parameter, die im weitesten Sinne der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte zugehören, mit ihren historischen, sozialen, institutionellen, auch immanent kompositionsgeschichtlichen Implikationen.1

1 Die sozialmusikgeschichtliche, ästhetische und philosophische Tragweite dieses Phänomens dokumentiert anschaulich, freilich mit Blick auf neuzeitliche Verhältnisse, der von Otto Kolleritsch herausgegebene Sammelband Musikalische Produktion und Interpretation. Zur historischen Unaufhebbarkeit einer ästhetischen Konstellation. Wien/Graz 2003 (Studien zur Wertungsforschung. Band 43).



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II Biographie Die biographischen Gerüstinformationen zu Leben und Wirken des Organisten und Komponisten Paul Hofhaimer sind rasch skizziert.2 Dass er 1459 in Radstadt im Salzburger Land in eine dort angesehene Organistenfamilie hineingeboren wurde, lässt sich archivalisch belegen, dass er seine organistische Grundausbildung am Hofe Kaiser Friedrichs III. erhalten habe, geht indes einzig auf ein Lobgedicht des Conrad Celtis zurück, wird zwar seither kolportiert, ist aber als hinterfragungsbedürftig anzusehen. Wie auch immer: 1478 taucht Hofhaimer am Hofe Erzherzog Sigismunds von Tirol auf, wo er im September 1480 „In sein Lebtag bestellt“ wurde, nach modernem Verständnis also eine entfristete Dauerstelle innehatte.3 Auf dem Reichstag in Nürnberg 1481 sodann dürfte es zu einer ersten Begegnung mit den Herzögen Ernst und Albrecht von Sachsen gekommen sein; Hofhaimer hat diese, ungeachtet seiner festen Tiroler Bestallung, für mehrere Wochen nach Dresden begleitet und auch in späteren Jahren den Kontakt zur musikgeschichtlichen Peripherie des Reiches aufrechterhalten, wie durch Reisen nach Torgau zumindest 1495/1496 und 1518 belegt ist.4 1486 reiste Hofhaimer, nun wiederum in Diensten Erzherzog Sigismunds, zur Königswahl des Habsburgers Maximilian nach Frankfurt, und die Reise sollte für seine weitere Karriere folgenreich werden: Denn kaum vier Jahre später versah er seinen Dienst im Gefolge des Königs, damit in einem Umfeld, das, gemessen an den sonstigen Bedingungen jedweder Musikpflege im deutschen Sprachgebiet, als elitär zu gelten hatte. Die bereits zu diesem Zeitpunkt europäische Strahlkraft der Kunst Hofhaimers ist etwa daran ablesbar, dass die Königin von Ungarn Beatrix von Aragón diverse Abwerbungsversuche unternahm. Hofhaimer, nun obrigster organist des späteren Kaisers Maximilian I.,5 wurde in dessen Gefolge eine erhebliche Mobilität abverlangt, denn er war zunächst permanent auf Reisen, die ihn nachweislich nach Linz, Wels, Wien, Augsburg, Ulm, Konstanz, Füssen und Freiburg führten. Wie ein Zigeuner habe er durchs Land ziehen müssen, beklagte er sich selbstbewusst rückblickend in einem Brief vom 14. Mai 1525.6 Gewisse Stationen der Ruhe lassen sich erst im frühen 16. Jahrhundert ausmachen: 1504 übersiedelte Hofhaimer zunächst nach Passau, 1507 dann nach Augsburg, 2 Noch immer maßgeblich im Blick auf die Biographie Hofhaimers sowie die Zusammenstellung einschlägiger Quellen ist trotz mitunter fragwürdiger Argumentation und Hypothesen: Hans Joachim Moser: Paul Hofhaimer. Ein Lied- und Orgelmeister des deutschen Humanismus. Stuttgart/Berlin 1929. 2. Aufl. Hildesheim 1966. Die nachfolgenden biographischen Gerüstinformationen sind sämtlich diesem Band entnommen. 3 Walter Senn: Musik und Theater am Hof zu Innsbruck. Innsbruck 1954, S. 12. 4 Matthias Herrmann: Der Torgauer „Orgelkongreß“ und Paul Hofhaimer. In: Heinrich Isaac und Paul Hofhaimer im Umfeld von Kaiser Maximilian I. Hg. von Walter Salmen. Innsbruck 1997 (Innsbrucker Beiträge zur Musikwissenschaft. Band 16), S. 169–178. 5 Moser: Hofhaimer (wie Anm. 2), S. 37. 6 Moser: Hofhaimer (wie Anm. 2), S. 60.

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wo er bemerkenswerterweise, wie der Kaiser verfügte, kainer handtierung dann allein der freyen kunsst und unsers diennsts betragen7 war, abgesehen von den dienstlichen Verpflichtungen demnach als freier Musiker lebte, was um 1500 ein beispielloses Privileg bedeutete und einer sozialmusikgeschichtlichen Sensation gleichkommt. Diese Informationen werfen bereits ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis zwischen Kaiser und Organist: Die unbedingte Verehrung des Musikers durch den Kaiser gipfelte schließlich im Ritterschlag samt der Verleihung eines eigenen Wappens zu Wien im Juli 1514. Nach dem Tode Maximilians 1519 werden die Informationen spärlicher: Offenbar gab Hofhaimer seine Augsburger Wohnung auf, denn 1522 ist er in Diensten des Kardinals Matthäus Lang in Salzburg belegt, zugleich nahm er dort das Amt des Domorganisten wahr, mit dem Zugewinn einer weiteren Lebensrente. Offenbar aufgrund der schwierigen politischen Situation als Folge der Bauernkriege geriet Hofhaimer dennoch in eine prekäre Situation, wie ein Bittbrief an Kaiser Ferdinand I. nahelegt; im Jahre 1537 starb der Organist in Salzburg. Die zeitgenössische Panegyrik ist kaum überschaubar: Paul Hofhaimer wurde aufgrund seines offenbar als ‚überirdisch‘ wahrgenommenen Orgelspiels mit Zeus und Homer verglichen, anderen erschien er im künstlerischen Range Albrecht Dürer als ebenbürtig, sogar als musicorum princeps schlechthin, der „in ganz Deutschland nicht seinesgleichen hat“, wurde er bezeichnet.8 Die Einschätzung auch der modernen Forschung, Paul Hofhaimer sei der bedeutendste Organist um 1500 gewesen, erscheint vor diesem Hintergrund konsequent.

III Identitätskonstruktion Auf dieser biographischen Folie lassen sich nun diverse Zugänge im Blick auf die Konstruktion künstlerischer Identität beschreiten: Ohne weiteres wird klar, dass vom Denkmodell einer polyvalenten Identitätsbildung im Falle Hofhaimers auszugehen ist, wobei einzelne, dabei unterschiedlich zu gewichtende Facetten seiner Wirkmacht in den Blick zu nehmen sind: Hofhaimer als Komponist und als Virtuose, Hofhaimer als Lehrer und – so sei er vorläufig betitelt – als Humanist; schließlich ist seine Vita im Kontext von höfischen Ritualen, symbolischer Kommunikation, kaiserlichem Repräsentationsbedürfnis und absichtsvoller Selbstinszenierung zu beleuchten.

7 Otto Zur Nedden: Zur Geschichte der Musik am Hofe Kaiser Maximilians I. Literatur und Quellenbericht. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft 15 (1932/1933) S. 24–32, S. 28. 8 So äußerte sich der Wiener Hofarzt Cuspinianus anlässlich einer Te Deum-Aufführung im Stephansdom zu Wien im Jahre 1515; zit. nach Moser: Hofhaimer (wie Anm. 2), S. 26.



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a Komponist Wenn auch verschiedene, ideengeschichtlich motivierte systematische Perspektiven das historiographische Methodengerüst mittlerweile bereichern, so wird dennoch Musikgeschichte – wie sollte es auch anders sein – insbesondere als Kompositionsgeschichte verstanden. Denn auch um 1500 gewinnen Musiker Profil vor allem als Komponisten; ihr Ansehen, ihre Position in einer oft hierarchisch strukturierten Wahrnehmung, ist gegründet auf ihr kompositorisches Œuvre, nicht so sehr auf ihren möglichen Erfolg auch als ausübende, reproduzierende Virtuosen. Dies ist umso bemerkenswerter, als die meisten Komponisten im Rahmen ihrer Bestallung auch als Ensemble-Sänger tätig waren, diesbezüglich also ebenfalls hätten hervortreten können. Zumindest zwei Argumente für diese Situation lassen sich beibringen: Einerseits bleibt die traditionelle mittelalterliche Hierarchisierung von musicus und cantor nach wie vor gültig.9 Der musicus ist der sozial angesehene verständige, musiktheoretisch im Rahmen der septem artes liberales geschulte Gelehrte; aufgrund der permanenten Durchdringung der zeitgenössischen Musiktheorie mit aktuellen Beispielkompositionen hat auch der Komponist als musicus zu gelten. Dem steht der cantor gegenüber, der als bloß ausübender Musiker tätig ist, dem jeglicher intellektueller Anspruch und Wissenshintergrund fehlt und der, nicht selten noch der sozial randständigen Schicht fahrender Spielleute und Gaukler zugehörig, unverständig sein Instrument traktiert. Isti dicunt, illi sciunt, quae componit musica. Nam qui facit, quod non sapit, diffinitur bestia,

heißt es unversöhnlich in den frühhochmittelalterlichen «Regulae rhythmicae».10 Der zweite Grund, warum Karrieremuster als bloße ausübende Musiker noch wenig ausgeprägt sind, liegt darin, dass um 1500 keine entsprechenden institutionalisierten Foren, etwa für einen reisenden Virtuosen, existieren, die Gelegenheit zur Präsentation eigener Fähigkeiten böten. Denn öffentliche, vom ‚Bürgertum‘ getragene Konzerthäuser oder Abonnementskonzerte gibt es noch nicht, ja, im Grunde gilt dies für das ‚Publikum‘ im emphatischen neuzeitlichen Sinne ebenfalls. Die Kirche kommt als Katalysator einer Solistenkarriere nicht in Betracht; es bliebe also lediglich der Adel, der freilich einem Virtuosen ein eher hermetisches denn öffentliches Wirkungsfeld bot. Die Formel ist einfach: Virtuosen werden gehört, Komponisten werden gelesen, d. h., deren Schöpfungen werden, als Notat, auch weit über ihren engeren Wirkungsradius hinaus rezipiert.

9 Instruktiv ist der diesbezügliche Artikel von Erich Reimer: Musicus – Cantor. In: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie. Hg. von Hans Heinrich Eggebrecht. Wiesbaden 1972–2005, hier: 6. Lieferung, Herbst 1978, S. 1–13. 10 Reimer: Musicus (wie Anm. 9).

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Überraschend schmal ist das erhaltene kompositorische Œuvre Hofhaimers. Es liegen vor: Gerade zwei geistliche, motettische Sätze, die in ihrer retrospektiven Dreistimmigkeit nicht mehr als ‚Durchschnittsware‘ sind. Zu verweisen ist sodann auf 20 gesicherte deutsche Lieder, die, kaum originell, mehrheitlich im stereotypen, damals populären Tenorliedsatz gehalten sind. Knapp die Hälfte dieser Stücke liegt zudem als Intabulierung, also als Instrumentalbearbeitung für Orgel, Laute oder Gesang vor. Ferner ist eine posthum in Nürnberg 1539 erschienene Odensammlung «Harmoniae poeticae Pauli Hofheimeri» zu nennen, auf die noch zurückzukommen sein wird. Und schließlich besitzen wir aus der Feder des bedeutendsten Orgelvirtuosen um 1500 genau vier (!) originale Orgelstücke, von denen zwei geistlich, zwei weltlich motiviert sind. Auffällig ist an diesem Werkbestand der völlige Verzicht auf die ‚großen‘, zugleich kompositorisch ambitionierten Gattungen Messe und Motette. Und noch auffälliger ist die eindeutige, geradezu hartnäckige Verortung des Hofhaimer’schen Œuvres in einer vielleicht so zu bezeichnenden ‚deutschen‘ Musiktradition – wodurch implizit eine gewisse Opposition zur seinerzeit tonangebenden, dabei in Europa allgegenwärtigen Musik franko-flämischer Provenienz angedeutet wird. Gemeint sind die auf dem sogenannten Fundamentum organisandi stehende spezifisch deutsche Tradition des liturgischen Orgelspiels, sodann das Tenorlied, das als genuin deutscher Beitrag im Kanon musikalischer Gattungen um 1500 gilt, schließlich auch die Humanistenode, die als didaktisches Instrument vor allem im deutschen Schulwesen praktisch während des gesamten 16. Jahrhunderts gepflegt wurde.

b Virtuose Damit steht insgesamt fest: Das quantitativ wie qualitativ sehr überschaubare kompositorische Œuvre kann keineswegs für den exorbitanten Ruf Hofhaimers verantwortlich gewesen sein. Selbst wenn gewisse Verluste musikalischer Quellen in Rechnung gestellt werden, deutet sich auf Grundlage dieses Befundes bereits an, dass im Falle Hofhaimers die Emanzipation des Interpreten gegenüber dem komponierenden Musiker Gestalt annimmt, damit ein sozialgeschichtlicher Gegenentwurf, wonach der insbesondere ausübende, in der Regel auch reisende Musiker als künstlerische Identität Profil gewinnt. Diese Perspektive bezeugen zahlreiche Dokumente: Tatsächlich beschwören die zeitgenössischen Stimmen das performative, nicht aber das kompositorische Potenzial Hofhaimers; ausschnitthaft sei aus dreien zitiert: Nach Othmar Luscinius (1536) habe Hofhaimer als Erneuerer der Musik schlechthin zu gelten, der mit seinem gottesdienstlichen Orgelspiel das Ohr des Kaisers immer wieder aufs Neue verzaubert habe, dies weder durch Weitläufigkeit, noch durch flüchtige Kürze:



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Alles floß in weitem Strome von ihm aus, wo er nur Hände und Sinn auf etwas richtete. Nichts erscheint nüchtern. Kalt ermattend in jener engelhaften Harmonie; vollblütig, in offenem Strome erglüht alles und ist voller Kraft. Wunderbar ist seine Fingerfertigkeit, doch ohne der Majestät seiner musikalischen Gestaltung zu schaden. Es genügt ihm nicht, wenn etwas gelehrt klingt. Es soll auch Anmut und Lieblichkeit dabei sein. […] Er ist so unendlich mannigfaltig, daß man ihn jahrelang spielen hören kann und sich nicht so sehr wundert, woher der Ozean alle Flüsse speist, als woher jener all seine Weisen nimmt.11

Die hier verwendete Wassermetapher könnte antike Wurzeln haben: Horaz etwa hatte Pindars Stofffülle in einer Ode (4,2) mit ähnlichen Worten besungen. Das Sprachhafte-Rhetorische des Hofhaimerschen Spiels betont dagegen Fantino Memmo (1515): Denn wer kann sorgfältiger die Orgel schlagen und sich durch sicheren, klaren Fingersatz gelehrter auf ihren Tasten bewegen? Sieht man von den Sprachlauten ab, so glaubt niemand, die Töne, die deine Hände hervorzaubern, unterschieden sich vom Gesang der Menschenstimme. Man sagt, du füllest alle Tonarten so aus, daß du die großen erhaben, die weichen süß, die gemäßigten sanft spielst, und mit wunderbarer Anmut den ganzen Liedertext mit dem Affekt zusammenschmelzen läßt.12

Und Joachim Vadian, dem wir die ausführlichste biographische Skizze verdanken, notierte 1517, indem er das liturgische Orgelspiel in den Fokus rückte: Außerdem weiß er einen Cantus planus, den man heute ‚Choral‘ zu nennen pflegt, in der Abwechslung und Lieblichkeit des musikalischen Satzes, schließlich auch im Unterschied der Takte und der Mensur so verschiedentlich zu gestalten, daß, wenn man von jemand sagen könnte, er tue dasselbe lieblicher und mit größerer Abwechslung, ich diesen nicht mehr zu den Menschen rechnen könnte, sondern ihn weit über die menschliche Natur stellen müßte.13

Alles in allem handelt es sich um die erwartete Ansammlung poetisierender Topoi: Permanent wird Hofhaimers Ruhm beschworen, sein organistisches Können gefeiert, sein Genie als exzeptionell beschrieben. Einerseits verwischt die topische Nivellierung einschlägige charakterliche Wesensmerkmale unseres Protagonisten, andererseits ist deren Dichte und weitgehend übereinstimmende Tendenz aussagekräftig. Von dem schmalen Bestand an Orgelmusik Hofhaimers war schon die Rede. Gerade weil um 1500 die Praxis, Orgelsätze zu kodifizieren, durchaus bereits üblich ist (spätestens seit dem Buxheimer Orgelbuch des späteren 15. Jahrhunderts existieren repräsentative Sammlungen), wirken die lediglich vier erhaltenen Stücke des weitgerühmten musicorum princeps in hohem Maße irritierend. Schlimmer noch: Das, was an Orgelstücken überliefert ist, erscheint – analog zur Vokalmusik – ebenfalls nicht geeignet, Hofhaimer überdurchschnittliche kompositorische Fähigkeiten zu 11 Zit. nach der Übersetzung von Moser: Hofhaimer (wie Anm. 2), S. 30. 12 Moser: Hofhaimer (wie Anm. 2), S. 41. 13 Moser: Hofhaimer (wie Anm. 2), S. 43.

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bescheinigen. Und noch verstörender ist ein anderer Umstand: Sie dokumentieren nicht einmal Hofhaimers exorbitantes virtuoses Potenzial, denn es handelt sich im Grunde um ‚Allerweltswerke‘, die, statisch-formelhaft angelegt, jene auf einem klar vorgegebenen Katalog von Kolorierungsvarianten aufbauende Technik des Umspielens einer vorgegebenen choralen Melodie vorführen, die nach der Mitte des 15. Jahrhundert in den sogenannten «Fundamenta organisandi», förmlichen Lehrwerken zur Erlernung des liturgischen Orgelspiels, entwickelt wurde.14 Die Frage lautet also: Was genau war es, das die Zeitgenossen in derartige Verzückung gesetzt hat und Hofhaimers Ruf eines Orgelmeisters begründete, der – laut Cuspinian – „in ganz Deutschland nicht seinesgleichen habe“? Die Antwort ist ebenso schlicht wie alternativlos: Hofhaimer dürfte an der Orgel ein begnadeter Improvisator gewesen sein, fähig, ad hoc brillante Orgelstücke geistlicher wie weltlicher Couleur zu extemporieren und eine – durchaus verständige – Zuhörerschar in ehrfürchtiges Staunen zu versetzen. Bis heute zählt ja die Kunst der Improvisation zu den vornehmsten Tugenden eines Organisten: Womöglich lässt sich aus dem Quellenbefund ex negativo herauslesen, dass Paul Hofhaimer ein früher exponierter Repräsentant dieser Kunst gewesen ist. Eben die Kunst, über einer vorgegebenen Choral- oder Liedstimme zu improvisieren, dürfte die eigentliche exzellente Fähigkeit Hofhaimers gewesen sein, indem er die Möglichkeiten eines im Grunde starren didaktischen Musizier- und formelhaften Werkverständnisses bis an die Grenzen ausgeschöpft hat. So hat vielleicht das zuvor zitierte Privileg Maximilians, wonach Hofhaimer allein der freyen kunsst zu leben zugebilligt wurde, im Sinne einer neuartigen musikalischen Identitätsbegründung noch eine subtile Nebenbedeutung: Es fügte sich jedenfalls schön ins Bild, wäre in der Formulierung auch Hofhaimers besondere künstlerische Freiheit angedeutet, infolge seiner außerordentlichen Begabung zu extemporieren und womöglich ‚ingeniös‘ anmutende Improvisationen aus der freyen Erfindung zu schöpfen, ohne sich dem ansonsten standardisierten Procedere unterwerfen zu müssen, ein Stück zunächst schulmäßig zu „komponieren“ respektive zu „notieren“.

c Humanist Wesentliche Beiträge zur Identitätsstiftung des ‚Musikers‘ Paul Hofhaimer lieferte – die zuvor vorgetragenen Ausschnitte deuteten es bereits an – die zeitgenössische humanistische Panegyrik. In der Tat ist es beinahe ausnahmslos das Schrifttum der Humanisten: Durch deren Widmungsvorreden, Dedikationsepistel, Gratulationsge14 Vgl. dazu einführend: Willi Apel: The History of Keyboard Music to 1700. Bloomington 2. Aufl. 1997, bes. S. 45‒71; Christoph Wolff: Conrad Paumanns Fundamentum organisandi und seine verschiedenen Fassungen. In: AfMw 25,3 (1968) S. 196–222; dort weitere Hinweise auf Literatur und Editionen.



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dichte, Wappensprüche, Epitaphien, Briefe, Bildinschriften etc. gewinnt Hofhaimers Identität Konturen. Es gibt praktisch keine literarische Gattung, die zum Zwecke von Hofhaimers Ruhmesverbreitung nicht bemüht worden wäre. Kaum nennenswert sind dagegen zeitgenössische Quellen abseits der topischen Humanistenpanegyrik, in der gleichwohl, wie zuvor schon veranschaulicht, musikalische oder biographische Aussagen wenig konkret erscheinen. Offenbar hat Hofhaimer sehr gezielt die Nähe gelehrter Literaten gesucht: Gern umgab er sich und korrespondierte mit Humanisten wie Johannes Stomius, Conrad Celtis, Joachim Vadian, mit dem er in einen Briefwechsel trat, Philipp Gundelius, Richard Sbrulius, Willibald Pirckheimer u. a.15 Ja, Hofhaimer hat seine Position unter den Humanisten regelrecht und absichtsvoll inszeniert: Er erteilte selbst Aufträge für entsprechende Texte, hielt die Autoren dort, wo ihm gewisse Formulierungen nicht angemessen zu sein schienen, nicht ohne anmaßliches Selbstbewusstsein zur Modifizierung an, lancierte unter seinen humanistischen Korrespondenzpartnern eitel Mitteilungen über den eigenen Ritterschlag oder sonstige persönlichen Erfolge.16 In der vorhin bereits erwähnten Odensammlung «Harmoniae Poeticae Pauli Hofheimeri», zwei Jahre nach dem Tode des Virtuosen publiziert, kulminiert das Bemühen um einen selbst gesteuerten und absichtsvoll inszenierten Memoria-Kult. Denn den eigentlichen 35 eigenen Odenvertonungen vorgeschaltet ist ein sogenannter «Libellus plenus doctissimorum virorum de eodem Domino Paulo testimoniis» mit insgesamt über 20, zum Teil jahrzehntealten Panegyriken, die nun in einer postumen Gesamtwürdigung, gleichsam als ein wirkmächtiger autoritativer Nachruf aus dem Munde der führenden Gelehrten, gebündelt publiziert werden: Fraglos ist der «Libellus» die Hauptquelle für die Betrachtung Hofhaimers durch die humanistische Brille.17 Werfen wir noch einen Blick auf die musikalische Gestalt der Humanistenode. Sie diente in der Schulausbildung als didaktisches Instrument, um die komplexen antiken Metren, mehrheitlich diejenigen des Horaz, mithilfe musikalischer Verläufe besser zu memorieren. Zugrunde liegt das Prinzip, metrische Längen durch eine – immer die gleiche – lange Note, metrische Kürze dagegen durch eine – wiederum immer gleiche – kurze Note darzustellen, d. h. die musikalischen Sätze kennen überhaupt nur zwei Notenwerte; diese schreiten gleichzeitig in allen Stimmen fort. Das Resultat ist ein satztechnisch recht anspruchsloser homorhythmisch-akkordischer Satz, der mit der gleichzeitigen hochentwickelten komplexen Kunst der Franko-Flamen kaum etwas zu tun hat. Ähnlich wie bei den sonstigen Kompositionen Hofhai15 Moser: Hofhaimer (wie Anm. 2), S. 36‒44 u. ö. 16 Vgl. etwa den Briefe an Vadian vom 6. November 1515: Abdruck bei Moser: Hofhaimer (wie Anm. 2), S. 37f.; siehe dazu auch: Die Vadianische Briefsammlung der Stadtbibliothek St. Gallen. Hg. von Ernst Arbenz Band 2. St. Gallen 1891 (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte. Band 25,2), S. 431, 435, 342. 17 Vgl. dazu: Jochen Reutter: Der Libellus plenus doctissimorum virorum de eodem D. Paulo testimoniis in den Harmoniae Poeticae Paul Hofhaimers als Zeugnis humanistischer Gelehrsamkeit. In: Heinrich Isaac (wie Anm. 4), S. 113–124.

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mers beobachten wir auch hier einen eher überschaubaren Einsatz kompositorischer Originalität: Freilich wird die von Hofhaimer unvollendet hinterlassene, von Ludwig Senfl komplettierte und posthum publizierte denkmalhafte Sammlung durch ihren humanistischen Kontext nobilitiert, ganz im Sinne eben einer humanistisch-memorialen Inszenierung.18 Mit dem Rekurs auf die didaktisch, nicht so sehr künstlerisch motivierte Humanistenode sei eine weitere Facette der Hofheimer’schen Identität wenigsten noch knapp angesprochen: nämlich sein Selbstverständnis als Lehrer. Bereits sehr frühe Dokumente belegen, dass sich Hofhaimer der Ausbildung von Orgelschülern offenbar in besonderer Weise widmete: Als Ergebnis der erwähnten Begegnung mit den sächsischen Herzögen auf dem Nürnberger Reichstag etwa kommt im Jahre 1516 ein Kontrakt zustande, wonach sich Hofhaimer verpflichtete, zwei Knaben In Vnderhaltung der Chost auch gepurlicher notturftiger Klayder sambt den Hemden und schuchen […] zway gantze Jar lang In der Chunst des Orgelschlagens getreulich vnd fleißiglich zu unterrichten.19 Die pädagogischen Bemühungen Hofhaimers werden jedenfalls auch in der humanistischen Panegyrik ausgiebig gewürdigt, wobei immerhin auffällig ist, dass eine Quelle demgegenüber in der Absicht elitärer Distanzierung betont, dass Hofhaimer als Autodidakt seine Fähigkeiten erlangt habe. Groß dürfte also im Ganzen die Schar derjenigen gewesen sein, die bei ihm zu lernen sich einstellten. Wenn sich auch das jeweilige Schüler-Lehrer-Verhältnis formal kaum präzisieren, noch weniger aber inhaltlich bestimmen lässt, so kennen wir heute doch eine ganze Reihe von Organisten, die sich explizit in die Tradition des Hofhaimer’schen Orgelspiels stellten. Der Humanist Othmar Luscinius bestätigt nicht nur, dass Hofhaimer „eine stattliche Zahl von Schülern ausgebildet“ habe, sondern er bezeichnet diese auch förmlich als „Paulomimen“, darunter sind etwa Hans Kotter, Wolfgang Grefinger oder auch Hans Buchner.20 Vor dem Hintergrund der beschriebenen Neigung Hofhaimers zur publikumswirksamen Selbstinszenierung, dürfte jedenfalls die Idee, durch konsequente (und kritische) Ausbildung etlicher Schüler die eigene Kunst gewissermaßen in die Zukunft zu transferieren, als vergleichbarer Akt prospektiver Identitätssicherung verstanden werden. Und dass Hofhaimer die ihm gewidmete Panegyrik letztlich in einem Odendruck unterbringen ließ, einem Schulbuch also, dem man eine verhältnismäßig starke und gesicherte Verbreitung im intellektuellen Milieu unterstellen konnte, ist überdies ein raffinierter medialer Schachzug.

18 Reutter: Libellus (wie Anm. 17), S. 113–124. 19 Moser: Hofhaimer (wie Anm. 2), S. 45. 20 Moser: Hofhaimer (wie Anm. 2), S. 30.



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d Der Kaiser und der Musiker Maximilians Repräsentationsbedürfnis ist evident, seine Bemühungen um die absichtsvolle Konstruktion einer spezifischen Herrscheridentität, die spätmittelalterliche wie renaissancehaft-frühneuzeitliche Züge gleichermaßen aufwies, ist bereits vielfach thematisiert worden.21 Mit Blick auf unsere Fragestellung ist hier lediglich daran zu erinnern, dass Maximilians Selbstinszenierung in einem künstlerisch-literarisch-musikalischen Milieu besondere Bedeutung zukommt. Paul Hofhaimer, so legen die Quellen nahe, hat sich diesbezüglich bereitwillig funktionalisieren und instrumentalisieren lassen. Seine Identität war konsequent eingebettet in einschlägige kaiserliche Ritual- und Repräsentationsmuster, im Sinne einer Überlagerung der personalen durch eine soziale Identität. Einerseits erscheinen Hofhaimers Karriereplanung und die Verortung seiner Wirkstationen in den politischen und geistigen Zentren der Zeit geradezu standardisiert, denn auch seine zeitgenössischen Komponistenkollegen suchten sich selbstverständlich in einem adligen Milieu zu positionieren, mit der Aussicht auf sozialen Aufstieg oder doch wenigstens auf Begründung eines Patronageverhältnisses. Andererseits erscheint die plakative Positionierung in kaiserlich-höfischen Repräsentationsmechanismen für Hofhaimers Identität geradezu konstitutiv. Das bestätigt ein Blick auf zeitgenössische ikonographische Quellen, in denen Hofhaimer präsent ist wie kaum ein zeitgenössischer Musiker; selbst von den berühmtesten Komponisten besitzen wir in der Regel keine Darstellung. Im Falle Hofhaimers erleben wir hingegen eine ausgeprägte Inszenierung respektive Selbstinszenierung in unterschiedlichen Bildkategorien. Zu verweisen ist auf eine berühmte Portrait-Zeichnung von Albrecht Dürer: Man hat mitunter geargwöhnt, ob die dargestellte Person tatsächlich Hofhaimer sei, doch im Verbund mit den anderen Bildquellen wirken solche Zweifel kaum schlüssig. Ein weiteres Portrait von Lucas Cranach, das in einem Gedicht erwähnt wird, ist heute offenbar verschollen.22 Wesentlich interessanter ist die bekannte Darstellung einer Maximilians-Messe von Hans Weiditz, die Hofhaimer beim gottesdienstlichen Orgelspiel, also im politisch-liturgischen Kontext zeigt. Es ist hier nicht der Ort, die komplexe Konstruktion kaiserlicher Rituale und die effektvoll inszenierten Bildelemente mit ihren symbolischen Kommunikationsabsichten in Breite abzuhandeln. Doch ist bemerkenswert, dass, im Gegensatz zum vermutlich ebenfalls anwesenden Hofkomponisten Heinrich Isaac, Hofhaimers individuelle Züge klar erkenn- und identifizierbar sind. 21 Vgl. dazu nur etwa: Thomas Schauerte: Die Ehrenpforte für Kaiser Maximilian I. Dürer und Altdorfer im Dienst des Herrschers. München/Berlin 2001 (Kunstwissenschaftliche Studien. Band 95), S. 33–41; sowie jüngst: Larry Silver: Marketing Maximilian. The Visual Ideology of a Holy Roman Emperor. Princeton/Oxford 2008. 22 Moser: Hofhaimer (wie Anm. 2), S. 46.

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Schließlich ist auf die Darstellung im sogenannten «Triumphzug» von Hans Burgkmair zu verweisen. Hofhaimer erscheint, exponiert und als einziger Musiker auf einem eigenen Wagen, eingebunden in das kaiserliche Bedürfnis nach höfischer Repräsentation und künstlerischer Nobilitierung, instrumentalisiert im Sinne eines exaltierten Herrscherlobs. Ein noch stärker differenziertes Charakterbild zu zeichnen, erscheint problematisch. Dass Hofhaimer, seinem Dienstherrn gleich, eine gewisse Neigung zu repräsentativem, vielleicht sogar luxuriösem Lebenswandel entwickelte, lässt sich aus den Quellen herauslesen: Er hatte mehrere Häuser und sukzessive vier Frauen, erkennbar war sein Bemühen, auch abseits der eigentlichen Profession seinen Wohlstand zu mehren, sein Auftritt in durchaus auffälligem Gewand dokumentiert Eitelkeit wie Selbstbewusstsein gleichermaßen. Ungeachtet seiner ständigen Sorge um angemessene Wirkung und Außendarstellung, scheint er bisweilen durchaus selbstgefällig, unbescheiden und anmaßend gewesen zu sein, was gewisse Wendungen in der Korrespondenz nahelegen. Ob in dem Namenszusatz unwirdiger Ritter einer Wiener Liederhandschrift unverhohlene Kritik anklingt, muss offen bleiben.23 Alles in allem ist eine mit Blick auf die Zeit perfekte und umfassende mediale Präsenz in Schrift, Bild und Klang zu konstatieren, wobei unterschiedliche Strategien der Selbstdarstellung eingesetzt werden. Diese Präsenz vermittelt uns eine ambivalente Künstleridentität, die sich einerseits unter streng hierarchisch strukturierten Abhängigkeits- und Oboedienzbedingungen entfaltete. Signifikant ist andererseits die neuartige und musikgeschichtlich folgenreiche Emanzipation als freyer Virtuose, mithin eine wirkmächtige Identität, in der die Relationen zwischen Ingenium, Improvisation, Komposition und Reproduktion neu vermessen werden.

23 Moser: Hofhaimer (wie Anm. 2), S. 29.

Personen- und Ortsregister von Marcel Bubert

Personen Acquaviva, Claudio 28 Aemilius, Petrus 19 Agricola (Gnaeus Iulius Agricola) 14 Alberti, Leon Battista 158, 165, 168–172, 179 Albrecht von Sachsen, Hzg. 321 Alexander der Große 62, 102, 121f., 127, 129, 193–219, 270f. Alfons V. von Aragón, Kg. 14 Althamer, Andreas 83 Ambrosius von Mailand 14 Amphicles 23 Andreae, Jakob 254 Annius von Viterbo 33 Apelles 164, 167, 175, 179 Apian, Philipp 88f. Aristoteles 21, 208, 210, 219, 279 Arminius 90, 94 Atanagi, Dionigio 16 Augustinus, Bf. von Hippo 58, 61, 121, 207, 230–232, 253, 259f., 287 Aventinus, Johannes 83, 85, 255 Banissis, Jacob de 101 Baronio, Cesare 27, 38 Bart, Zacharias 253 Beatrix von Aragón, Kg.in 321 Beatus Rhenanus 19, 81, 83, 85, 89, 101f., 112f., 228 Beccadelli, Antonio 14f. Beda Venerabilis 19 Bellarmin, Roberto 27 Bembo, Pietro 33 Benedikt XII., Papst 293, 304, 315 Bernhard von Clairvaux 303 Bernard, Claude Barthelemi 79 Berossos 15 Biel, Gabriel 317 Birgitta von Schweden 301, 306 La Bléterie, Jean-Philippe-René 47 Blount, Thomas Pope 45 Boccaccio, Giovanni 158, 163, 165–168, 172, 186, 228, 287, 302

Bock, Franz 189 Bodin, Jean 16–21, 26, 33f., 44f. Boethius (Anicius Manlius Severinus Boethius) 140, 231, 318 Bolduanus, Paulus 13, 35–37 Bolos von Mendes 23 Bonaventura 290 Bouchart, Alain 78, 80, 82, 85f., 89–92, 109–111, 113 Brant, Sebastian 93 Brosamer, Hans 94 Brunelleschi, Filippo 170 Bruno, Giordano 35 Bry, Theodor de 112 Burckhardt, Jacob 186, 238 Burgkmair, Hans 330 Butzbach, Johannes 260 Caesar (Gaius Julius Caesar) 81f., 89, 95, 97f., 103, 109, 121, 129f. Cagliari, Paolo siehe Veronese, Paolo Calvin, Johannes 34 Campanella, Tomaso (Tommaso) 35 Campano, Giannantonio 220–222, 227f., 232 Canisius, Petrus 259 Caravaggio (Michelangelo Merisi) 178 Carracci, Annibale 179, 184 Carleton, Dudley 35 Castelvetro, Giacomo 35 Celtis, Conrad 101, 227f., 321, 327 Cennino Cennini 163, 165f., 168, 171f. Cesari, Guiseppe 178 Cézanne, Paul 187 Chelidonius, Benedikt 99, 103 Chlodwig I., Kg. 111 Chrétien de Troyes 274 Chyträus, David 33, 44 Cicero (Marcus Tullius Cicero) 22, 24, 66, 82, 230f. Cimabue 158–160, 162, 164, 166, 169f., 172, 175, 177, 183 Ciotti, Giovanni Battista 35

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 Personen- und Ortsregister

Claude de France, Kg.in 86, 82, 109 Clemens VIII., Papst 28 Coccio, Marc Antonio siehe Sabellico Collin, Agatha 222 Collin, Rudolph 222 Columbus, Christoph 64 Convenevole da Prato 228f. Conversino, Giovanni 221, 229, 232 Cornelius von Berghen 81 Cranach, Lucas (der Ältere) 299, 329 Creuzer, Georg Friedrich 50f. Crotus Rubeanus, Joannes 228 Crusius, Martin 255 Curtius (Quintus Curtius Rufus) 102f. Cusanus, Nicolaus 12, 253 Cuspinian, Johannes 93f., 99, 101–104, 322, 326 Cyprian von Karthago 14 Dante Alighieri 166, 282 Dareios III., Kg. 121, 129, 197, 199, 201–203, 205–207, 209 del Rio, Martín Antonio 27 Diodor von Agyrion 18, 29 Dionysios von Halikarnass 18 Dionysius von Roermond 301f., 306f., 309f., 313 Donatello 170 Droysen, Johann Gustav 50 Dürer, Albrecht 93, 185, 189, 322, 329 Eck, Johannes 259 Egnazio (Giovanni Battista Cipelli) 14f. Eike von Repgow 114, 120, 123, 125 Einhard 11f., 85f., 95–99, 111 Eobanus Hessus 220, 222, 227–229, 261 Ephoros von Kyme 29 Erasmus von Rotterdam 42, 222–230, 246, 248f., 256f. Ernst von Sachsen, Hzg. 321 Eusebius von Caesarea 79 Eyck, Jan van 177 Fabricius, Joannes 220, 222f., 228, 232 Félibien, André 177–180, 182, 184 Ferdinand I., Kg. und Ks. 101f., 111, 322 Ferdinand I. von Aragón, Kg. 14 Ferdinand II. von Kastilien und Aragón, Kg. 93 Fichard, Johannes 253 Filippino da Lugo 229 Flacius, Matthias 72 Flavius Josephus 141

Franziskus von Assisi 299 Franz I. von Frankreich, Kg. 89 Franz II. (Bretagne) 79 Frell, Georg 259, 264 Freron, Élie 43 Fresnoy, Nicolas Lenglet du 38, 43–47 Friedrich I. Barbarossa, Kg. und Ks. 101f. Friedrich II., Kg. und Ks. 135f. Friedrich III., Kg. und Ks. 321 Friedrich II., Pfalzgf. 81 Friedrich, Caspar David 186 Froschauer, Johann 98 Gaguin, Robert 82, 86, 89, 108–110 Gallus, Jodocus 253 Gatterer, Johann Christoph 43, 47f. Geizkofler, Lukas 257 Geldenhauer, Gerhard 83, 84 Gellius (Aulus Gellius) 79 Gertrud die Große von Helfta 315 Gesner, Conrad 253, 259 Geuß, Johannes 309f., 314 Ghiberti, Lorenzo 165–170, 176 Giotto di Bondone 160–170, 172, 174, 183, 299 Giovio, Paolo 18, 42 Giuseppe d’Arpino siehe Cesari, Guiseppe Gloyesten, Hinricus 136 Goethe, Johann Wolfgang von 5f. Gottfried von Bouillon 93 Gottfried von Straßburg 273, 285 Götz von Berlichingen 237 Gratian 124 Gregor von Nyssa 101–103 Greiser, Daniel 261 Grien, Hans Baldung 189 Grotius, Hugo 39 Grünewald, Matthias siehe Nithart, Mathis Gothart Grüninger, Johannes 95, 97, 99 Guaguini, Alexander 19 Guicciardini, Francesco 18f. Guillaume de Deguileville 308 Gundelius, Philipp 327 Hadrian, Ks. 177 Harriot, Thomas 112 Hartlieb, Johannes 214–216, 218 Hartmann von Aue 274 Hausenstein, Wilhelm 189 Heinrich von Langenstein 313f. Heinrich von Neustadt 271

Personen 

Herberstein, Sigmund Freiherr von 222 Herodot 18, 29, 40, 50 Herolt, Johannes 313 Hieronymus (Sophronius Eusebius Hieronymus) 14, 61, 79 Hilarion von Gaza 14 Hoe von Hoenegg, Matthias 257 Hofhaimer, Paul 320–322, 324–330 Holbein, Hans (der Ältere) 309, 313, 318 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 168, 230f., 325, 327 Huartes, Juan de 31 Isaac, Heinrich 329 Isidor von Sevilla 78, 121, 167 Jacopo de San Nazaro 220, 227–229 Jean Lemaire de Belges 103 Joachim von Fiore 59 Johannes XXII., Papst 303 Johann von Lüneburg, Hzg. 137 Johann III. (Bretagne), Hzg. 92 Johann III. von Oldenburg, Gf. 134, 137, 142f. Johann von Buch 124, 130, 139 Johann von Montfort 91 Johannes von Paltz 300, 302, 309 Johannes Duns Scotus 299, 318 Jud, Leo siehe Keller, Leo Justinian I., Ks. 130 Kallimachos von Kyrene 23 Kallisthenes von Olynth 29 Karl der Große, Kg. und Ks. 11f., 41, 93, 98f., 111f., 115f., 119, 125f., 134–138, 187 Karl V., Kg. und Ks. 41, 90, 97f., 112 Karl VIII. von Frankreich, Kg. 89, 109 Karl von Blois, Gf. 91 Keckermann, Bartholomäus 45 Keller, Leo 222 Klesl, Melchior 253 Konrad von Würzburg 266–269, 274–276, 278, 280–286 Konstantin der Große,. Ks. 115f., 119f., 130, 134–137, 177, 187 Krafft, Peter 253 Krentzheim, Leonhard 67 Ktesias von Knidos 29 Kugler, Franz 158, 183–185 Kulmbach, Hans Süß von 288f., 312, 318 Kyros der Große, Kg. 121, 129 Lambrecht der Pfaffe siehe Pfaffe Lambrecht Lang, Matthäus 322

 333

La Popelinière, Lancelot Voisin de 16, 20–26, 30, 40, 45 Lebrun, Charles 179–181, 185 Lemnius, Simon 259 Leo Archipresbyter 198, 203 Leodius, Hubert Thomas 80–86, 88f., 103, 110, 113 Lipsius, Justus 33f., 39, 42, 45–47, 220, 222, 230 Livius (Titus Livius) 18, 41, 79, 97, 230f. Lothar II. (recte Lothar III. = Lothar von Supplinburg), Kg. und Ks. 90 Ludwig der Fromme, Kg. und Ks. 12 Ludwig XII. von Frankreich, Kg. 89 Ludwig XIV. von Frankreich, Kg. 179f., 182, 185 Luscinius, Othmar 324, 328 Luther, Martin 34, 54, 57, 60, 63f., 65, 67–69, 71f., 76f., 259 Macaulay, Thomas Babington 16 Macrobius 82 Mander, Karel van 176f. Marbod 90 Marguerite Porete 291 Marino, Giambattista 35 Martin von Leibitz 254, 258 Martin von Tours 14 Marules (Marullus), Michael 222, 224f., 232 Masaccio (Tommaso di Ser Cassai) 170, 184 Maximilian I., Kg. und Ks. 90, 95, 97, 99, 101–103, 111, 237, 321f., 326, 329 Melanchthon, Philipp 34, 66f., 72 Memmo, Fantino 325 Mencke, Johann Burckhardt 44 Mengs, Anton Raphael 185 Meyere, Jacques de 84–86, 88f., 110, 113 Michelangelo 175 Michelangelo Merisi siehe Caravaggio Montaigne, Michel Eyquem de 3 Morcillo, Sebastián Fox 15 Müntzer, Thomas 60, 69 Mycillus, Jacobus 228 Nas, Joseph 253 Naudé, Gabriele 45f. Neander, Michael 64 Neile, Richard 38 Neuenahr, Hermann von 97 Nietzsche, Friedrich 4 Nigrinus, Georg 63 Nikolaus von Dinkelsbühl 313

334 

 Personen- und Ortsregister

Nithart, Mathis Gothart 189 Noviomagus, Gerhard siehe Geldenhauer, Gerhard Olaus Magnus 84f., 87f., 108 Origenes 120, 132 Otto von Freising 85f., 95, 99, 101–103, 109, 111 Ovid (Publius Ovidius Naso) 232, 261 Pantaleon, Heinrich 90, 261 Parrhasios 167 Paula von Rom 14 Paulinus von Mailand 14 Pellikan, Konrad 246f., 249, 253, 257 Perna, Petrus 16 Perrault, Charles 179f. Petrarca, Francesco 40, 165, 220–222, 225–232 Petrus Comestor 123 Petrus Martyr von Anghiera 14f. Peucer, Caspar 85f., 107f. Peuntner, Thomas 309f., 314 Peutinger, Conrad 101, 111 Pfaffe Lambrecht 199f. Phidias 164, 184 Philipp II. von Makedonien, Kg. 201f., 204, 206 Philistos von Syrakus 29 Piccolomini, Enea Silvio 227–229 Pierre de Dreux Mauclerc 92 Pierre le Baud 79, 82 Piles, Roger de 182 Pin, Ellies du 43 Pirckheimer, Willibald 327 Pius II., Papst siehe Piccolomini, Enea Silvio Placentius, Johannes 89 Platina, Bartholomäus 228 Platon 30 Platter, Felix 245–248, 250f., 258 Platter, Thomas 245 Plinius der Ältere 166, 172f., 175 Plutarch 19, 40, 89, 95, 168 Polybios von Megalopolis 14, 18, 22 Polydor Vergil 19 Polyklet 175 Pontius von Karthago 14 Possevino, Antonio 27–37, 45 Postumo, Silvio 227f. Potthast, Franz August 52 Poussin, Nicolas 179 Praxiteles 164 Ptolemäus (Claudius Ptolemäus) 89 Putsch, Ulrich 253

Putten, Hendrick van den 39f. Raffael (Raffaello Sanzio da Urbino) 175, 177–180, 185f. Rahewin 101 Ranke, Leopold von 16, 52 Rapin, René 44 Ratzeberger, Matthäus 54 Rembrandt van Rijn 189 Riegel, Alois 158, 187f. Ringmann, Matthias (Philesius) 95, 103 Rio, Marín Antonio del, siehe del Rio, Marín Antonio Roderich, Kg. (Westgoten) 15 Rolevinck, Werner 12 Rubeanus siehe Crotus Rubeanus, Joannes Rumohr, Carl Friedrich von 186 Rupert von Deutz 59 Sabellico, Marc Antonio (Marc Antonio Coccio) 41 Saint-Réal, César Vichard de 44 Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 41, 79 Saur, Abraham 63 Saxo Grammaticus 19 Sbrulius, Richard 327 Scaliger, Joseph 220, 222 Scaliger, Julius Caesar 42 Schedel, Hartmann 65, 90 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 50 Schöfferlin, Bernhard 97 Schwarz, Ulrich 310 Scultetus, Abraham 246, 248, 254f. Seneca (Lucius Annaeus Seneca) 231f. Sigismund von Luxemburg, Kg. und Ks. 70, 90 Sigismund von Tirol, Erzhzg. 321 Simonides von Keos 168 Sluperes, Jacques de 220, 222 Spalatin, Georg 94, 102 Speroni, Sperone 16 Staiger, Clara 253 Statius (Publius Papinius Statius) 230, 268, 278 Stomius, Johannes (Johannes Mühling) 327 Strabon 89 Stubbs, William 16 Stumpf, Johannes 107 Stutz, Katharina 222 Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 93, 97 Sulpicius Severus 14 Sylvester I., Papst 120

Orte 

Tacitus (Publius Cornelius Tacitus) 14f., 83f., 89 Tertullian (Quintus Septimius Florens Tertullianus) 303, 306 Testelin, Henri 182 Theopompos von Chios 29 Thomas von Aquin 58, 290f., 293f., 304f., 309 Thou, Jaques-Auguste de 35 Thukydides 22, 29 Timaios von Tauromenion 29 Timpler, Clemens 45 Tizian (Tiziano Vecellio) 179 Trithemius, Johannes 11–13, 254 Tschudi, Aegidius 83f. Vadian, Joachim 85f., 105–107, 112, 325, 327 Valerius Maximus 230f. Valla, Lorenzo 14f. Valleriola, François 247 Vasari, Giorgio 158, 165, 172–175, 177–180, 182, 184 Vergil (Publius Vergilius Maro) 230f. Veronese, Paolo 179–181 Villani, Filippo 164–168, 172

Vives, Juan Luis 13–15, 42 Voltaire (François-Marie Arouet) 47 Vossius, Gerhard Johannes 38–43 Waagen, Gustav Friedrich 186 Wachler, Johann Friedrich Ludwig 51f. Walther von Châtillon 197 Watt, Joachim von siehe Vadian, Joachim Wegele, Franz Xaver von 52 Weiditz, Hans 329 Whear, Degory 46 Wilhelm von Ockham (William Ockam) 317 Winckeli, Johann Heinrich 222 Winckelmann, Johann Joachim 183, 185 Wimpfeling, Jakob 83, 85 Wolf, Hieronymus 252 Woltmann, Alfred 189 Xenophon 29 Zell, Katharina 256, 259, 264 Zell, Matthäus 256 Zeuxis 164, 167, 175, 179 Zink, Burkhard 254

Orte Antwerpen 90 Arezzo 229 Arles 247 Augsburg 40, 98, 254, 309, 321 Avignon 228 Babylon 121, 129 Basel 40, 246 Bautzen 107f. Beauvais 109 Berlin 186 Bologna 229 Bourgogne 109 Bretagne 78, 82, 89, 91f., 109 Cambridge 38 Canterbury 297 Carpentras 228 Chalon 109 Champagne 109 Comburg 300 Den Bosch siehe ’s-Hertogenbosch Deventer 229

 335

Dinkelsbühl 297, 299 Dresden 321 Durham 38 Erfurt 300 Erkelenz 297 Flandern 109, 113 Florenz 158, 160, 163 Frankenberg 229 Frankfurt a. M. 321 Freiburg 189, 321 Füssen 321 Göttingen 3 Guyenne 109 Halgenhausen 229 Heidelberg 80f. Isenheim 189 Konstantinopel 222 Konstanz 102, 321 Langres 109 Laon 109 Leiden 38, 41

336 

 Personen- und Ortsregister

Leipzig 50 Linz 321 Löwen 39 Lüneburg 137 Lüttich 81 Mainz 12, 97 Marseilles 247 Meißen 132 Montpellier 229, 247 Moskau 30 Münster 69, 77 Neapel 229 Normandie 109 Noyen 109 Nürnberg 113, 313, 321, 324, 328 Orkney-Inseln 87 Oxford 46 Padua 28 Paris 39f., 229 Passau 321 Poitou 25 Radstadt 321 Rastede 136 Reims 109 Rennes 92 La Rochelle 20

Rom 23f., 28, 62, 121f., 127f., 178 Rostock 34 Salzburg 322 Santo Mango 229 Schlettstadt 83 Seligenstadt 12 ’s-Hertogenbosch 229 Siena 229 St. Denis 108 St. Gallen 105f. Straßburg 81, 95, 97–99, 102, 256 Thule 86 Torgau 321 Toulouse 109 Tübingen 255 Ulm 321 Venedig 35 Vennes 92 Versailles 180 Vienne 304 Virginia 112 Wels 321 Wien 99, 103, 321f. Worms 65 York 38 Zürich 222, 247

Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Neue Folge Wer kauft Liebesgötter? Metastasen eines Motivs Dietrich Gerhardt, Berlin/New York 2008 ISBN 978-3-11-020291-5, AdW. Neue Folge 1 Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III Hrsg. von Jochen Johrendt und Harald Müller, Berlin/New York 2008 ISBN 978-3-11-020223-6, AdW. Neue Folge 2 Gesetzgebung, Menschenbild und Sozialmodell im Familien- und Sozialrecht Hrsg. von Okko Behrends und Eva Schumann, Berlin/New York 2008 ISBN 978-3-11-020777-4, AdW. Neue Folge 3 Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit I. Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden) Hrsg. von Ludger Grenzmann, Thomas Haye, Nikolaus Henkel u. Thomas Kaufmann, Berlin/New York 2009 ISBN 978-3-11-021352-2, AdW. Neue Folge 4 Das Papsttum und das vielgestaltige Italien. Hundert Jahre Italia Pontificia Hrsg. von Klaus Herbers und Jochen Johrendt, Berlin/New York 2009 ISBN 978-3-11-021467-3, AdW. Neue Folge 5 Die Grundlagen der slowenischen Kultur Hrsg. von France Bernik und Reinhard Lauer, Berlin/New York 2010 ISBN 978-3-11-022076-6, AdW. Neue Folge 6 Studien zur Philologie und zur Musikwissenschaft Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin/New York 2009. ISBN 978-3-11-021763-6, AdW. Neue Folge 7 Perspektiven der Modernisierung. Die Pariser Weltausstellung, die Arbeiterbewegung, das koloniale China in europäischen und amerikanischen Kulturzeitschriften um 1900 Hrsg. von Ulrich Mölk und Heinrich Detering, in Zusammenarb. mit Christoph Jürgensen, Berlin/New York 2010 ISBN 978-3-11-023425-1, AdW. Neue Folge 8 Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat. 15. Symposion der Kommission: „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“ Hrsg. von Eva Schumann, Berlin/New York 2010 ISBN 978-3-11-023477-0, AdW. Neue Folge 9

Studien zur Wissenschafts- und zur Religionsgeschichte Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin/New York 2011 ISBN 978-3-11-025175-3, AdW. Neue Folge 10 Erinnerung – Niederschrift – Nutzung. Das Papsttum und die Schriftlichkeit im mittelalterlichen Westeuropa Hrsg. von Klaus Herbers und Ingo Fleisch, Berlin/New York 2011 ISBN 978-3-11-025370-2, AdW. Neue Folge 11 Erinnerungskultur in Südosteuropa Hrsg. von Reinhard Lauer, Berlin/Boston 2011 ISBN 978-3-11-025304-7, AdW. Neue Folge 12 Old Avestan Syntax and Stylistics Martin West, Berlin/Boston 2011 ISBN 978-3-11-025308-5, AdW. Neue Folge 13 Edmund Husserl 1859-2009. Beiträge aus Anlass der 150. Wiederkehr des Geburtstages des Philosophen Hrsg. von Konrad Cramer und Christian Beyer, Berlin/Boston 2011 ISBN 978-3-11-026060-1, AdW. Neue Folge 14 Kleinüberlieferungen mehrstimmiger Musik vor 1550 in deutschem Sprachgebiet. Neue Quellen des Spätmittelalters aus Deutschland und der Schweiz Martin Staehelin, Berlin/Boston 2011 ISBN 978-3-11-026138-7, AdW. Neue Folge 15 Carl Friedrich Gauß und Russland. Sein Briefwechsel mit in Russland wirkenden Wissenschaftlern Karin Reich und Elena Roussanova, unter Mitwirkung von Werner Lehfeldt, Berlin/Boston 2011 ISBN 978-3-11-025306-1, AdW. Neue Folge 16 Der östliche Manichäismus – Gattungs- und Werksgeschichte. Vorträge des Göttinger Symposiums vom 4./5. März 2010 Hrsg. von Zekine Özertural und Jens Wilkens, Berlin/Boston 2011 ISBN 978-3-11-026137-0, AdW. Neue Folge 17 Studien zu Geschichte, Theologie und Wissenschaftsgeschichte Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin/Boston 2012 ISBN 978-3-11-028513-0, AdW. Neue Folge 18 Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. II. Kulturelle Konkretionen (Literatur, Mythographie, Wissenschaft und Kunst) Hrsg. von Ludger Grenzmann, Thomas Haye, Nikolaus Henkel u. Thomas Kaufmann, Berlin/Boston 2012 ISBN 978-3-11-028519-2, AdW. Neue Folge 4/2 Rom und die Regionen. Studien zur Homogenisierung der lateinischen Kirche im Hochmittelalter Hrsg. von Jochen Johrendt und Harald Müller, Berlin/Boston 2012 ISBN 978-3-11-028514-7, AdW. Neue Folge 19

Die orientalistische Gelehrtenrepublik am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Der Briefwechsel zwischen Willi Bang(-Kaup) und Friedrich Carl Andreas aus den Jahren 1889 bis 1914 Michael Knüppel und Aloϊs van Tongerloo, Berlin/Boston 2012 ISBN 978-3-11-028517-8, AdW. Neue Folge 20 Homer, gedeutet durch ein großes Lexikon Hrsg. von Michael Meier-Brügger, Berlin/Boston 2012 ISBN 978-3-11-028518-5, AdW. Neue Folge 21 Die Göttinger Septuaginta. Ein editorisches Jahrhundertprojekt Hrsg. von Reinhard G. Kratz und Bernhard Neuschäfer, Berlin/Boston 2013 ISBN 978-3-11-028330-3, AdW. Neue Folge 22 Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution Hrsg. von Wolfgang Sellert, Anja Amend-Traut und Albrecht Cordes, Berlin/Boston 2013 ISBN 978-3-11-026136-3, AdW. Neue Folge 23 Osmanen und Islam in Südosteuropa Hrsg. von Reinhard Lauer und Hans Georg Majer, Berlin/Boston 2013 ISBN 978-3-11-025133-3, AdW. Neue Folge 24 Das begrenzte Papsttum. Spielräume päpstlichen Handelns. Legaten – delegierte Richter – Grenzen. Hrsg. von Klaus Herbers, Fernando López Alsina und Frank Engel, Berlin/Boston 2013 ISBN 978-3-11-030463-3, AdW. Neue Folge 25 Von Outremer bis Flandern. Miscellanea zur Gallia Pontificia und zur Diplomatik. Hrsg. von Klaus Herbers und Waldemar Könighaus, Berlin/Boston 2013 ISBN 978-3-11-030466-4, AdW. Neue Folge 26 Ist die sogenannte Mozartsche Bläserkonzertante KV 297b/Anh. I,9 echt? Martin Staehelin, Berlin/Boston 2013 ISBN 978-3-11-030464-0, AdW. Neue Folge 27 Die Geschichte der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Teil 1 Hrsg. von Christian Starck und Kurt Schönhammer, Berlin/Boston 2013 ISBN 978-3-11-030467-1, AdW. Neue Folge 28 Vom Aramäischen zum Alttürkischen. Fragen zur Übersetzung von manichäischen Texten Hrsg. von Jens Peter Laut und Klaus Röhborn, Berlin/Boston 2014 ISBN 978-3-11-026399-2, AdW. Neue Folge 29 Das erziehende Gesetz. 16. Symposion der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“ Hrsg. von Eva Schumann, Berlin/Boston 2014 ISBN 978-3-11-027728-9, AdW. Neue Folge 30 Christian Gottlob Heyne. Werk und Leistung nach zweihundert Jahren Hrsg. von Balbina Bäbler und Heinz-Günther Nesselrath, Berlin/Boston 2014 ISBN 978-3-11-034469-1, AdW. Neue Folge 32

„ins undeudsche gebracht“. Sprachgebrauch und Übersetzungsverfahren im altpreußischen „Kleinen Katechismus“ Pietro U. Dini, Berlin/Boston 2014 ISBN 978-3-11-034789, AdW, Neue Folge 33 Albert von le Coq (1860-1930). Der Erwecker Manis im Spiegel seiner Briefe an Willi Bang Kaup aus den Jahren 1909-1914 Michael Knüppel und Aloϊs van Tongerloo, Berlin/Boston 2014 ISBN 978-3-11-034790-6, AdW, Neue Folge 34 Carl Friedrich Gauß und Christopher Hansteen. Der Briefwechsel beider Gelehrten im historischen Kontext Karin Reich und Elena Roussanova, Berlin/Boston 2015 ISBN 978-3-11-034791-3, AdW, Neue Folge 35 Alexander der Große und die „Freiheit der Hellenen“. Studien zu der antiken historiographischen Überlieferung und den Inschriften der Alexander-Ära Gustav Adolf Lehmann, Berlin/Boston 2015 ISBN 978-3-11-040552-1, AdW, Neue Folge 36 „Über die Alpen und über den Rhein …“ Beiträge zu den Anfängen und zum Verlauf der römischen Expansion nach Mitteleuropa Hrsg. von Gustav Adolf Lehmann und Rainer Wiegels, Berlin/Boston 2015 ISBN 978-3-11-035447-8, AdW, Neue Folge 37 Hierarchie, Kooperation und Integration im Europäischen Rechtsraum. 17. Symposion der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“ Hrsg. von Eva Schumann, Berlin/Boston 2015 ISBN 978-3-11-041000-6, AdW, Neue Folge 38 Gottfried Ernst Groddeck und seine Korrespondenten. Hans Rothe, Berlin/Boston 2015 ISBN 978-3-11-040658-0, ADW, Neue Folge 39