Deutschland – Image und Imaginäres: Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990 9783110314038, 9783110313444

This study examines the mechanisms and processes by which an image of Germany was constructed by examining literary text

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German Pages 294 [296] Year 2013

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Table of contents :
I Einleitung
1 Nullstunden
2 Material und Aufbau
II Das Imaginäre und das Image
1 Einleitung
2 Imagination und Einbildungskraft: Das Vermögen des Subjekts
3 Die imaginäre Tätigkeit
4 Subjektivierung als Handlung. Austragungsort: Spiegel-Stadion
4.1 Das Imaginäre, das Symbolische und das Reale
5 Das Reale des Imaginären
5.1 Die imaginäre Funktion des Phantasmas
5.2 Soziales Phantasma
5.3 Soziales Phantasma und das nationale Imaginäre
6 Zwischenstand: Das Imaginäre als Dynamik der Identifizierung und das Image
7 Image
7.1 Image, Stereotypie und Pseudo-Ideal
7.2 Die reflexive Struktur des Images
7.3 Strategien der Naturalisierung
8 Zusammenführung und Ausblick
III Wir sind wieder wer
1 Nationale Kinoereignisse
2 Dokumentarische Anliegen, fiktionale Erzählungen
3 Sönke Wortmann, Das Wunder von Bern
3.1 Schauplatz Deutschland? ‚Reale‘ Räume, Projektionsräume
3.2 Grenzüberschreitung: Ganz Deutschland
4 Sönke Wortmann, Deutschland. Ein Sommermärchen
4.1 Mittendrin: Kamerablick
4.2 Im Bett mit Torsten Frings
4.3 Schulterschluss: Gemeinschaft-Werden
4.4 Das Ganze repräsentieren
4.5 82 Millionen
5 Wirtschaftswunder
5.1 Nation Branding
6 Wirtschaftswundermärchen
IV Wende-Roman
1 Redewendungen
2 Ingo Schulze, Neue Leben
2.1 Wenderückblende
2.2 Herausgeberfiktion und Autobiografisches
2.3 Fußnoten, die Geschichte machen
2.4 Briefroman
2.5 Liebesbriefe und Briefroman im Briefroman
2.6 Briefedition, Briefbiografie
2.7 Von der ‚Wende‘ erzählen
2.8 Faustische Wendungen
3 Literaturwenden
V Nostalgie
1 Ostalgie. Und was Nostalgie mit Nationalismus zu tun hat
2 Wolfgang Becker, Good Bye, Lenin!
2.1 Geschichte wird gemacht – Die ‚DDR‘ auch
2.2 Du bist DDR
2.2.1 Konsumgemeinschaften
2.2.2 Sehgemeinschaften
2.3 Familienbilder
2.3.1 Nostalgischer Ödipus
2.3.2 Familienaufstellung
2.3.3 Raketen, Gurken, Vater Staat entmannt
3 Image Ostalgie und die Nostalgie des Imaginären
VI Deutschlandreisen
1 Konjunktur der Deutschlandreisen
2 Die Topik des Imaginären
3 Narrative Kartografie – Wolfgang Büscher, Deutschland, eine Reise
3.1 Grenzerfahrung
3.2 Deutschland ganz: Eintauchen, Eindringen
4 Mental mapping – Roger Willemsen, Deutschlandreise
4.1 Der Augenzeuge lügt
4.2 Deutschland gibt es nicht
5 In Deutschland nichts Neues
6 Die räumliche Dimension des Imaginären
VII Die Berliner Republik und Preußen
1 Neues Deutschland und preußisches Erbe
2 Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt
2.1 Rahmenerzählung Nationaldiskurs
2.2 Bildungsbürgerbilder
2.2.1 Erziehung zum Deutschsein
2.2.2 Bildung nach Goethes Bilde
2.2.3 Zucht und Ordnung, Kauzigkeit und Genialität
2.3 Raum und Nation: Weltvermessung und die Erfindung der Nation
3 Die Berliner Stadtschloss-Debatte
3.1 Stadt ohne Mitte
3.2 Mitte: Palast der Republik – Stadtschloss
3.3 Das leere Zentrum
3.4 Schloss-Simulationen: Leere Kulissen, Stadt-Bild
3.5 Innen
4 Preußische Selbstbilder
VIII Heimsuchung
1 Wir Vergangenheitsbewältiger
2 Jenny Erpenbeck, Heimsuchung
2.1 Kein Generationenroman
2.2 Ars memoriae: Gedächtnisfigur Haus
2.3 Erinnerungsbilder
2.3.1 Abschließen
2.4 Imagines agentes
2.4.1 Schwimmen
2.4.2 Bäume
2.5 Krypta
2.6 Kehren – Gedächtnispflege, Erinnerungsarbeit
2.7 Kultivieren – Literatur und Erinnerungskultur
3 Imaginäre Erinnerungsgemeinschaften
IX Schluss
Literatur- und Medienverzeichnis
Siglen
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Deutschland – Image und Imaginäres: Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990
 9783110314038, 9783110313444

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Katharina Grabbe Deutschland – Image und Imaginäres

Studien zur deutschen Literatur

Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf

Band 205

Katharina Grabbe

Deutschland – Image und Imaginäres Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990

DE GRUYTER

Die Entstehung dieser Arbeit wurde gefördert durch ein Promotionsstipendium des Studienförderwerks Klaus Murmann, Stiftung der Deutschen Wirtschaft. Der Druck dieses Buches wurde gefördert durch einen Zuschuss der Sybille-Hahne-Stiftung.

D6 ISBN 978-3-11-031344-4 e-ISBN 978-3-11-031403-8 ISSN 0081-7236 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt I 1 2

1 Einleitung Nullstunden 1 Material und Aufbau

II 1 2

Das Imaginäre und das Image 15 Einleitung 15 Imagination und Einbildungskraft: Das Vermögen des Subjekts 20 Die imaginäre Tätigkeit 22 Subjektivierung als Handlung. Austragungsort: Spiegel-Stadion 23 Das Imaginäre, das Symbolische und das Reale Das Reale des Imaginären 29 Die imaginäre Funktion des Phantasmas 33 Soziales Phantasma 35 Soziales Phantasma und das nationale Imaginäre Zwischenstand: Das Imaginäre als Dynamik der Identifizierung und das Image 41 Image 43 Image, Stereotypie und Pseudo-Ideal 44 Die reflexive Struktur des Images 47 Strategien der Naturalisierung 50 Zusammenführung und Ausblick 51

3 4 4.1 5 5.1 5.2 5.3 6 7 7.1 7.2 7.3 8 III 1 2 3 3.1 3.2 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

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Wir sind wieder wer 53 53 Nationale Kinoereignisse Dokumentarische Anliegen, fiktionale Erzählungen Sönke Wortmann, Das Wunder von Bern 60 Schauplatz Deutschland? ‚Reale‘ Räume, Projektionsräume 60 63 Grenzüberschreitung: Ganz Deutschland Sönke Wortmann, Deutschland. Ein Sommermärchen Mittendrin: Kamerablick 66 Im Bett mit Torsten Frings 69 Schulterschluss: Gemeinschaft-Werden 70 Das Ganze repräsentieren 73 82 Millionen 75

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VI 5 5.1 6

Inhalt

77 Wirtschaftswunder Nation Branding 84 Wirtschaftswundermärchen

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IV 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 3

Wende-Roman 89 Redewendungen 89 Ingo Schulze, Neue Leben 94 Wenderückblende 94 Herausgeberfiktion und Autobiografisches Fußnoten, die Geschichte machen 101 Briefroman 103 Liebesbriefe und Briefroman im Briefroman Briefedition, Briefbiografie 113 Von der ‚Wende‘ erzählen 115 Faustische Wendungen 120 Literaturwenden 124

V 1

Nostalgie 127 Ostalgie. Und was Nostalgie mit Nationalismus zu tun hat 127 Wolfgang Becker, Good Bye, Lenin! 133 Geschichte wird gemacht – Die ‚DDR‘ auch 133 Du bist DDR 135 Konsumgemeinschaften 137 Sehgemeinschaften 140 Familienbilder 143 Nostalgischer Ödipus 143 Familienaufstellung 145 Raketen, Gurken, Vater Staat entmannt 148 152 Image Ostalgie und die Nostalgie des Imaginären

2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 3 VI 1 2 3 3.1 3.2 4 4.1 4.2

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Deutschlandreisen 155 Konjunktur der Deutschlandreisen 155 Die Topik des Imaginären 160 Narrative Kartografie – Wolfgang Büscher, Deutschland, eine Reise 163 Grenzerfahrung 163 169 Deutschland ganz: Eintauchen, Eindringen Mental mapping – Roger Willemsen, Deutschlandreise Der Augenzeuge lügt 172 Deutschland gibt es nicht 174

172

Inhalt

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180 In Deutschland nichts Neues Die räumliche Dimension des Imaginären

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3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4

187 Die Berliner Republik und Preußen Neues Deutschland und preußisches Erbe 187 Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt 191 Rahmenerzählung Nationaldiskurs 193 Bildungsbürgerbilder 197 Erziehung zum Deutschsein 200 Bildung nach Goethes Bilde 202 Zucht und Ordnung, Kauzigkeit und Genialität 204 Raum und Nation: Weltvermessung und die Erfindung der Nation 205 Die Berliner Stadtschloss-Debatte 210 Stadt ohne Mitte 210 Mitte: Palast der Republik – Stadtschloss 212 Das leere Zentrum 216 Schloss-Simulationen: Leere Kulissen, Stadt-Bild 218 Innen 221 Preußische Selbstbilder 224

VIII 1 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.4 2.4.1 2.4.2 2.5 2.6 2.7 3

Heimsuchung 225 Wir Vergangenheitsbewältiger 225 Jenny Erpenbeck, Heimsuchung 229 Kein Generationenroman 229 Ars memoriae: Gedächtnisfigur Haus 232 Erinnerungsbilder 234 Abschließen 235 Imagines agentes 239 Schwimmen 242 Bäume 244 Krypta 246 Kehren – Gedächtnispflege, Erinnerungsarbeit Kultivieren – Literatur und Erinnerungskultur Imaginäre Erinnerungsgemeinschaften 259

IX

Schluss

VII 1 2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3

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Literatur- und Medienverzeichnis Siglen

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265

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VII

I Einleitung 1 Nullstunden Seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 gibt es Deutschland. Bis zu diesem Datum ließ sich der Begriff vier Jahrzehnte lang auf zwei deutsche Staaten beziehen. Seit 1990 meint die Bezeichnung ‚Deutschland‘ den Staat der Bundesrepublik Deutschland und die Ambivalenz, die ihr innewohnte, scheint verschwunden. Zugleich steht mit der neuen Zusammenfügung eines ‚neuen Deutschlands‘ zur Disposition, was Deutschland eigentlich ist. Woher kommt das ‚Wir‘ in ‚wir hier in Deutschland‘ oder ‚wir Deutschen‘, wie bildet es sich und was bezeichnet es? Mit der Frage nach dem ‚Wir‘ wird Deutschland als Name für eine Gemeinschaft oder ein Kollektivsubjekt angesprochen. Ein solches ‚Wir‘ entsteht nicht durch Staatsgründungen und Staatsbeitritte. Eine Gemeinschaft ist eine Sache des Gefühls und der performativen Setzung. Es lässt sich daher sagen, dass es Gemeinschaften gar nicht gibt.1 Sie sind keine gegebenen Größen, ihr verbindendes Moment, das Band, das sie zusammenhält, an ihm wird beständig geknüpft. Auf besondere Weise augenfällig wird dieses prozessuale Herstellen und die Notwendigkeit der kreativen Schaffung von Entwürfen, auf die sich das ‚Wir‘ beziehen kann, anhand der Situation in Deutschland 1989/90. Jedoch ist dies kein Moment historischer Einzigartigkeit. Auch 40 Jahre zuvor gab es schon einmal eine Situation, in der Deutschland vor einem Neuanfang stand. Im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Selbstentwürfen wurde die Aufmerksamkeit in den letzten Jahren in erster Linie auf den Aspekt des Umgangs mit der Vergangenheit gelenkt. So wurde sowohl für die Zeit nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands als auch für die Frage nach der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte der Begriff der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ geprägt. Mir geht es um einen anderen Blick: Darum, zu schauen, was Deutschland ‚ist‘. Deshalb untersucht diese Arbeit das Imaginäre als diejenige Dynamik, in der sich ein Ich oder Wir bildet. Dieser Leitbegriff der Arbeit, das Imaginäre, wird im nachfolgenden Kapitel profiliert. Von dem Imaginären als einer dynamischen Identifizierung auszugehen bedeutet eine Absage an jegliche Konzeption von Identität. Ein Subjekt ist nicht einfach da, sondern es gibt es nur insofern, als es ein Bild oder Bilder annimmt und sich dazu in Beziehung setzt.

 Vgl. Lars Gertenbach, Henning Laux, Hartmut Rosa, David Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, Hamburg 2010, S. 9.

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Einleitung

Dasselbe gilt für Deutschland. Ich frage nach der Beziehung zu den Bildern, die für die Zuschreibung ‚wir Deutsche‘ genutzt werden oder sich dafür anbieten. Diese Beziehung ist in Bewegung begriffen. Sie wird motiviert durch das Begehren nach einer Identität. Es ist verlockend, in Beziehung zu einem Bild zu treten, das einen stabilen Selbstentwurf zu versprechen scheint. Ein solcher kann Deutschland heißen. Diese identifizierende Bewegung des Imaginären kommt nie zum Stillstand im Sinne eines Abschlusses. Das Vorhaben kann also nicht sein, ein wie auch immer geartetes ‚Produkt‘ dieses Prozesses zu betrachten. Der Blick kann nur auf die Dynamik selbst gerichtet werden und auf die Bilder, auf die sie sich bezieht. Die ‚Bilder‘, die dieses Deutschland von sich selbst entwickelt und über die es sich mit sich identifiziert, müssen keine materiellen Bilder sein. Es kann sich auch um andere Medialisierungen handeln, die an die strukturelle Stelle des Bildes in der identifizierenden Dynamik treten. Auch kulturelle Medien wie Literatur und Film entwerfen solche Bilder. Zu Untersuchungsgegenständen dieser Arbeit werden sie jedoch nicht nur als produktive Bilderlieferanten, sondern insbesondere weil sie ihre Beteiligung am Imaginären zudem reflektieren. Wie in den Analysekapiteln gezeigt wird, thematisieren die Untersuchungsgegenstände das Imaginäre in ihren spezifischen literarischen und filmischen Verfahren. So werden die Begehrensstrukturen, die das Imaginäre im Gang halten, beobachtbar. Mit Deutschland fragt die Arbeit nach einem Wir, das unter anderem auch auf der politischen und der wirtschaftlichen Bühne agiert. Die These dieser Arbeit unterstreicht, dass insbesondere gerade Literatur und Film an diesem Wir mitwirken. Literatur und Film sind nicht ein der gesellschaftlichen oder politischen ‚Wirklichkeit‘ Gegenüberstehendes, in dem diese ‚Wirklichkeit‘ sich prüfen oder widerspiegeln kann. Mit der Verabschiedung der Annahme eines solchen Repräsentationsverhältnisses rückt die Beteiligung des Ästhetischen an der ‚Wirklichkeit‘ in den Fokus. Das Imaginäre als Dynamik der Identifizierung ist eine Bewegung, die nicht zum Abschluss kommt. Insofern kann es auch keine ‚Stunde Null‘ geben, in der eine neue Identität ‚geboren‘ wird. Oder anders gesagt: Wir befinden uns in gewisser Weise immer in einer ‚Stunde Null‘, in der beständig aufs Neue an den Selbstentwürfen gearbeitet wird und diese hervorgebracht und ins Bild gesetzt werden. Die Notwendigkeit, für ein ‚neues Deutschland‘ Bilder bereit zu stellen, ist auch die Herausforderung, vor der der erste deutsche Film nach dem Zweiten Weltkrieg stand. Die Mörder sind unter uns (D [Ost] 1946, Wolfgang Staudte) ist der erste deutsche Nachkriegsfilm. Zugleich ist er der erste Film der DEFA (Deutsche Film Aktiengesellschaft) und damit der erste DDR-Film – entstanden noch vor der Gründung von DEFA und DDR. Diesen Film ziehe ich im Folgen-

Nullstunden

3

den für eine kursorische Lektüre heran, um meine Fragestellung zu illustrieren und einen Ausblick auf die Aspekte zu geben, die in den Analysen dieser Arbeit im Fokus stehen. Die Suche nach neuen Bildentwürfen für das zu gestaltende Deutschland ist nicht nur Teil des kulturpolitischen Auftrags der Filmemacher und wird durch die Handlung des Films thematisiert, sondern ist insbesondere in seiner Bildsprache zu erkennen. Dieser Konnex wird im Folgenden skizziert als ein Beispiel für die mit Bildern arbeitenden filmischen, narrativen und rhetorischen Verfahren, um die und deren Beteiligung am Imaginären es mir in dieser Arbeit geht. Im ostdeutschen Besatzungsgebiet begannen die sowjetischen Besatzer sehr früh mit dem Aufbau der Kultur- und explizit der Filmarbeit. Noch vor dem offiziellen Kriegsende wurden die ersten Berliner Kinos für Vorstellungen mit sowjetischen Filmen wiedereröffnet und begannen erste Planungen, die Filmproduktion in der sowjetisch besetzten Zone neu zu etablieren.2 Die sowjetische Militäradministration sah in der Kulturpolitik ein Instrument der Entnazifizierung und im Film ein wirksames Hilfsmittel, ein ‚neues und besseres Deutschland‘ hervorzubringen.3 In dieser frühen und entschiedenen Initiative für die Produktion deutscher Filme unterscheidet sich die Kulturpolitik der sowjetischen Besatzer von den westlichen Alliierten, die diesem Schritt skeptisch gegenüberstanden und vielmehr auf die Wirkung ihrer eigenen (pop)kulturellen Exporte vertrauten.4 Die Bildsprache von Die Mörder sind unter uns bringt die Suche nach Bildentwürfen für das neue Deutschland eindrucksvoll zum Ausdruck. An verschie Vgl. Seán Allan, DEFA: An Historical Overview. In: Seán Allan, John Sandford (Hg.), DEFA. East German Cinema 1946–1992, New York, Oxford 2003, S. 1–21, S. 3. Sowie: Günter Schulz, Die DEFA (Deutsche Film Aktiengesellschaft) 1946–1990: Fakten und Daten. In: Der geteilte Himmel. Höhepunkte des DEFA-Kinos 1946–1992, hg. vom Filmarchiv Austria, Bd. 2: Essays und Filmografie, Wien 2001, S. 185–197.  In diesem Sinne formuliert ein kurzer Artikel in der Deutschen Volkszeitung vom 6. Dezember 1945 die Aufgaben der neuen Filmpolitik. Vgl. für eine Reproduktion: Albert Wilkening, Geschichte der DEFA von 1945–1950. Betriebsgeschichte des VEB DEFA Studio für Spielfilme, Potsdam 1981, S. 32 f.  Vgl. Christiane Mückenberger, The Anti-Fascist Past in DEFA Films. In: Allan, Sandford (Hg.), DEFA, S. 58–76, S. 60. Sowie: Christiane Mückenberger, Die zeitkritischen Filme der DEFA in ihren Anfangsjahren. In: Der geteilte Himmel, S. 13–23, S. 14. Dies lässt sich auch anhand des Films Die Mörder sind unter uns exemplifizieren. Wolfgang Staudte hatte den Stoff noch vor dem Ende des Krieges entwickelt und bot ihn zunächst den westlichen Alliierten an, die ihn jedoch ablehnten. Vgl. Die Mörder sind unter uns. In: Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme, hg. von Frank-Burkhard Habel, mit Inhaltsangaben von Renate Biehl, Berlin 1996, S. 414. Sowie: Peter Christian Lang, Die Mörder sind unter uns. In: Metzler Film Lexikon, hg. von Michael Töteberg, 2. aktualisierte u. erweiterte Aufl., Stuttgart, Weimar 2005, S. 433–435, S. 433 f.

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Einleitung

denen Stellen des Films werden gerahmte Bilder gezeigt. Der Film thematisiert das Herstellen von Bildern durch Zeichnung und Fotografie, setzt Rahmungen ins Bild, indem durch Fenster- oder Türrahmen gefilmt wird oder die Figuren in solche gefasst werden. Damit inszeniert der Film den Prozess der Suche nach einem fixierbaren Bild. Dass sich diese Suche letztlich um das Bild eines neuen Deutschlands dreht, darauf verweist bereits die Eingangssequenz: Der Film beginnt mit der Ankunft seiner beiden zentralen Figuren im zerstörten Berlin, der Fotografin und Grafikerin Susanne Wallner (Hildegard Knef) und des Arztes Hans Mertens (Ernst Wilhelm Borchert). Die Trümmerlandschaften der Stadt bilden eindrucksvoll die Kulissen dieser Sequenz, an deren Ende die Kamera ein an einer Trümmerwand hängendes Plakat in den Blick nimmt und heranzoomt. Kontrastierend mit der Trümmerstadt, in die die beiden Protagonisten aus Konzentrationslager und Krieg zurückkehren, zeigt dieses Plakat ein Foto des historischen Marktplatzes in Wernigerode mit Brunnen und dem für seine Fachwerkfassade berühmten Rathaus, untertitelt mit dem Schriftzug „Das schöne Deutschland“. Dieses ‚heile‘ Deutschlandbild des Plakats, das zeigt der Film sehr deutlich, ist überholt und scheint sich auch nur durch einen Zufall, schief hängend und an den Rändern angerissen, an dem Gebäuderest gehalten zu haben, um mit dem nächsten Windstoß endgültig abgelöst zu werden. Der Film, der in seiner Handlung die Herausforderung thematisiert, nach Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg zu einem sinnvollen, tätigen Neuanfang zu finden und dabei keine Beteiligung Schuldiggewordener zu dulden, verbindet dies mit einer beständigen Suche nach Bildern, die als Selbstbild für das ‚neue Deutschland‘ taugen. Diese Bildersuche setzt der Film mittels seiner filmischen Verfahren, seiner Bildsprache ins Werk. Das Bild, das das Plakat vermittelt, lese ich als Image, ein Begriff, den ich in seiner Beteiligung an der identifizierenden Dynamik des Imaginären in dieser Arbeit profilieren möchte. Das Plakat bietet ein konkretes Deutschlandbild, das mit stereotypen Mustern arbeitet – wie etwa der Vorstellung von Deutschland als dem Land der malerischen Altstädte mit ihrer langen Geschichte. Als Image kommuniziert es mittels paradigmatischer Vorstellungen, leitet die im Stereotyp verdichteten Aspekte nicht mehr her und setzt sie als bekannt voraus. Dass es sich bei dem Plakat um ein Tourismusposter zu Werbezwecken handelt, weist zudem auf die ökonomische Funktion des Images hin. Diese ökonomische Funktion bildet ein zentrales Merkmal des Images und unterscheidet es vom Stereotyp. Das Image ist ein konkretes Bild, das der Verhandlung dient, wobei Verhandlung im doppelten Sinne sowohl auf den Handel (das Image will verkaufen) als auch auf die Verhandlung im rhetorischen Sinne bezogen ist: Das Image stellt ein Bild, einen Entwurf zur Disposition. Genau diese Funktionen des Images bringt der Film mit dem „Das schöne Deutsch-

Nullstunden

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land“-Plakat ins Spiel. Deutlich wird, dass das Image nur ein temporäres Bild liefert, das seine Gültigkeit verlieren kann. Insofern ist der Prozess der imaginären Identifizierung, der Identifizierung über Bilder, stets in der Bewegung begriffen, als er sich immer wieder auf neue Bilder richten muss bzw. neue Bilder hervorbringen muss. Das Image ist in diesem Prozess eine temporäre Konkretisierung, der Versuch, ein solches Selbstbild festzuhalten und den Prozess festzustellen – auf ein Bild festzulegen. Die Bildsprache in Die Mörder sind unter uns bedient sich bei Mitteln des expressionistischen Films, geht jedoch nicht einfach in der Übernahme von stilistischen Traditionen auf.5 Der Einsatz von starken Hell-Dunkel-Kontrasten oder Schlagschatten etwa hat nicht nur eine symbolische Funktion, indem damit auf die Opposition gut-böse, unschuldig-schuldig verwiesen wird. Die Schatten, die den Figuren vorausgehen und sie begleiten, lassen sich auch als eine Spielart der vielfältigen Thematisierungen und Inszenierungen von Selbstbildern in diesem Film lesen. Über das Schattenwerfen werden immer wieder neue Schattenbilder hergestellt und den Figuren immer wieder aufs Neue Abbilder ihrer selbst hinzugefügt. Eine ähnliche und in diesem Sinne noch viel deutlichere Funktion haben die Spiegelbilder. Nicht nur über die Schatten eilen den Figuren ihre Abbilder, ihre Bilder-von voraus, sondern der Film setzt dafür auch Spiegelungen ein. So etwa in der Szene, in der Susanne Wallner das erste Mal zu dem Haus zurückkommt, in dem ihre Wohnung liegt. Hier erreicht zuerst ihr Spiegelbild das Haus: Die Kamera zeigt Susanne Wallner zunächst in den spiegelnden, zerbrochenen Scheiben, bevor die Figur selbst die Szene betritt. Das Ladenschild „Optik“ weist zum einen auf das Brillengeschäft unten im Haus hin, zum anderen lenkt es die Aufmerksamkeit auf die visuellen Effekte des Films. Spiegelbilder sind das Beispiel für ein Selbstbild par excellence. Nicht zufällig stellt Lacans Modellsituation für das Imaginäre, das Spiegelstadium, das Spiegelbild ins Zentrum. Susanne Wallners Versuch, tätig zu werden, zu „helfen“ und „endlich zu arbeiten“ besteht darin, Bilder zu zeichnen. Als Grafikerin und Fotografin entwickelt sie Plakatentwürfe, die wiederum dazu aufrufen, sich an dem Aufbau der Zukunft zu beteiligen („Rettet die Kinder!“). Sie beteiligt sich also an der Image-Bildung, an der Herstellung von Bildentwürfen für das neue Deutschland. Und auch anhand der zweiten Hauptfigur, Hans Mertens, wird der wieder gewonnene Wille, die Zukunft mit zugestalten, wortwörtlich ‚ins Bild gesetzt‘. Im Verlauf des Films kann Hans Mertens den Zustand der Desillusionierung und Lähmung sowie den Alkoholmissbrauch, in denen sich sein Kriegstrauma

 Vgl. Mückenberger, Die zeitkritischen Filme der DEFA, S. 14. Sowie: Lang, Die Mörder sind unter uns, S. 433.

6

Einleitung

ausdrückt, durch ein Erlebnis hinter sich lassen, bei dem er durch sein Können als Arzt das Leben eines Kindes rettet. Danach knüpft er an die positiven Bestände aus seinem Leben an, indem er sich auf seine aus der Vorkriegszeit erhalten gebliebene Röntgenbilder bezieht. Die Bilder von geröntgten Torsi werden ihm zum Medium, um auf sein Selbstbild aus der Vorkriegszeit zugreifen zu können. Die Bilder betrachtend erzählt er Susanne Wallner seine damit verbundenen Erinnerungen aus dem Studium und der Tätigkeit als Arzt. Hier geht es – und das ist entscheidend – nicht nur um die Rekonstruktion von individuellen Selbstbildern mittels des Erzählens von Erinnerungen. Die Röntgenbilder, die Hans und Susanne betrachten, sind als Ersatz für die durch Bomben zerstörten Fensterscheiben in die leeren Fensterrahmen geklebt. Da die Trümmer Berlins in dem Film ausdrücklich für das zerstörte Deutschland und die Notwendigkeit eines Neuanfangs stehen, ist auch das Reparieren dieser Zerstörung als Bezugnahme darauf zu verstehen. Das neue Selbstbild – des männlichen Protagonisten wie des neuen Deutschlands – wird über den Blick auf die Röntgenbilder gefunden. So wie Hans Mertens und Susanne Wallner in Die Mörder sind unter uns ihre Paarbeziehung vor dem Hintergrund der mit Röntgenbildern geflickten Fensterfront beginnen, hinter der ausschnitthaft das zerstörte Berlin zu sehen ist, lässt 57 Jahre später ein anderer Film in der Szene der Entstehung einer anderen junge Liebe die Röntgenbilder wieder auftauchen. Auch dieser Film nimmt dabei Bezug auf die Trümmer der Hauptstadt, durch die nun „der Wind der Veränderung weht“: In Good Bye, Lenin! (D 2003, Wolfgang Becker) besuchen der Protagonist Alex und die russische Schwesternschülerin Lara bei ihrem ersten Date ein Konzert in einem Club. Dieser Club befindet sich in einem Berliner Abrisshaus. Die Kamera begleitet die beiden bei ihrem Streifzug durch die Reste des Hauses mit seinen diversen Kunstinstallationen und so auch entlang einer Fensterfront, deren fehlende Scheiben durch Röntgenbilder ersetzt wurden. Diese Szene führt die Situation der Protagonisten der beiden so unterschiedlichen Filme in verschiedener Weise eng. Es ist nicht nur die beginnende Liebesgeschichte, die sie verbindet. Beide Filme erzählen über die Notwendigkeit, neue Bilder für ein – jeweils sehr anderes – ‚neues Deutschland‘ zu entwickeln und tun das in Rückbezug auf das jeweils vorhergehende ‚Deutschland‘. Good Bye, Lenin!, ein Film der nach dem Ende der DDR über die DDR erzählt, zitiert dabei Die Mörder sind unter uns, den ersten Film der DDR, der noch vor Gründung der DDR entstand. Die Mörder sind unter uns wird dadurch mittels des Bildzitats aufgerufen. Während die Trümmerstadt Berlin im ersten deutschen Nachkriegsfilm die Kulisse bildet und unmittelbar die zerstörerische Wirkung des vorherigen ‚Deutschlands‘ mahnend ins Bild setzt, ist die Ruine in

Nullstunden

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Good Bye, Lenin! ein Kunstraum, der zur spielerischen Gestaltung freigegeben ist. Die Erzählerstimme stellt eine Verbindung her zwischen der Ruine des Kunsthauses und der ruinösen Situation des abgelösten ‚Deutschlands‘ der DDR: Der Wind der Veränderung blies bis in die Ruinen unserer Republik. Der Sommer kam und Berlin war der schönste Platz auf Erden. Wir hatten das Gefühl, im Mittelpunkt der Welt zu stehen. Dort, wo sich endlich was bewegte. Und wir bewegten uns mit.

Hier wird ebenfalls die Situation eines Neuanfangs geschildert, nicht nur in Bezug auf die Liebesbeziehung, sondern insbesondere auf das ‚neue Deutschland‘, das in beiden Filmen an seinem Anfang steht. Das Zitat der Röntgenbilder als Fensterscheiben analogisiert die Situation des Deutschlands von 1989 mit der von 1946. Zugleich unterstreicht es die Funktion, die den Bildern in diesen Situationen zukommt. Die Entwicklung eines ‚neuen Deutschland‘ erfordert immer die Bezugnahme auf ein Selbstbild. Die Röntgenbilder thematisieren dieses Selbst, das sich ein Bild gibt, auf spezifische Weise: Zwar ermöglicht eine Röntgenaufnahme eine Innensicht und bildet den Körper eines einzelnen Individuums ab. Die Innenaufnahme eines Röntgenbildes verweist aber auf keine ‚Innerlichkeit‘, gibt keine Aufschlüsse über ein wie auch immer geartetes ‚wahres Selbst‘. Die Bilder können jedoch funktionalisiert werden. In den Filmerzählungen werden sie als Ersatz für Fensterscheiben, als lichtdurchlässiger Windschutz genutzt. Als solche färben und verändern sie zugleich den Blick, der durch sie auf die Stadt Berlin – als Hauptstadt zugleich ein Symbol für Deutschland – gerichtet wird. Good Bye, Lenin! zitiert und aktualisiert Bilder und die Bildersuche aus Die Mörder sind unter uns. Damit wird betont, dass auch dieser Film von einer Situation erzählt, in der es an der Tagesordnung ist, Deutschland neu zu thematisieren und neue Bildentwürfe zu entwickeln. Der Film spricht das selbstverständlich nicht einfach an, sondern ist selbst an dieser Generierung von Entwürfen beteiligt. Die ‚Stunde Null‘-Situationen, in denen neu zur Disposition steht, was Deutschland eigentlich ist, lassen sich nicht auf die markanten zeithistorischen Daten von 1945 bzw. 1989/90 beschränken, an denen tatsächlich eine politische Neugründung deutscher Staaten auf dem Programm stand. Good Bye, Lenin! lief 2003 in den Kinos an und wurde mit diesem Thema über ein Jahrzehnt nach der ‚Wende‘ ein großer Erfolg – Kapitel V geht darauf ausführlicher ein. Es können eine ganze Reihe von weiteren Beispielen genannt werden, die augenfällig machen, wie aktuell die mediale Beschäftigung mit der Frage, wer wir sind, ist und dass es sich dabei um einen fortwährenden Prozess handelt. Man denke nur an die so genannte Sozialkampagne Du bist Deutschland!, die

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Einleitung

2005 allgegenwärtig war und ihren identifikatorischen Auftrag bereits im Namen trug. Im Oktober 2008 startete im ZDF die als Dokumentarreihe bezeichnete Serie Die Deutschen, eine unter der Leitung von Guido Knopp und Peter Arens produzierte zwanzigteilige Sendereihe in zwei Staffeln, die anhand ausgewählter Persönlichkeiten und Epochen über deutsche Geschichte erzählt und, laut Eigenwerbung des ZDF und Vorspann der Serie, Antwort auf die Fragen „Wer sind wir? Woher kommen wir?“ geben will. „Wer sind die Deutschen?“ 6 fragt auch Alexander Demandt mit seinem 2007 erschienenen Band Über die Deutschen. Eine kleine Kulturgeschichte. Auf sehr unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Formen der Medialisierung wurden in den letzten Jahren immer wieder Versuche unternommen, auf den Begriff zu bringen, wer ‚wir‘ bzw. ‚die Deutschen‘ sind.7 Dieses ‚Wir‘, das dabei ergründet werden soll, generiert sich über eine identifikatorische Bezugnahme auf das Konzept Deutschland. Es scheint also durchaus nötig, zu sein, darüber zu sprechen, was ‚Deutschland‘ – als Kategorie der Identifikation – ist.

2 Material und Aufbau Den Analysen ist ein Kapitel vorangestellt, das die Begriffe dieser Arbeit, das Imaginäre und das Image, in ihrer kulturwissenschaftlichen Konzeption herleitet und profiliert. Hier wird das Imaginäre als Begriff für die Dynamik der Identifizierung entwickelt. Als temporäre Setzung eines Bildes innerhalb dieser identifikatorischen Dynamik ersetzt das Image Konzeptualisierungen von Identität. Mit dem Imaginären greife ich einen Begriff auf, der in vielfältigen Zusammenhängen und häufig ohne weitergehende Einordnung oder Herleitung Verwendung findet, um den Bereich der Vorstellungen, Einbildungen oder auch der Fantasie anzusprechen und der somit häufig als Gegenbegriff zur Wirklichkeit oder zum konkret Benennbaren benutzt wird und in dieser Stellvertreter-

 Alexander Demandt, Über die Deutschen. Eine kleine Kulturgeschichte, Berlin 2007, Klappentext.  So etwa auch Matthias Matussek, Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können, Frankfurt a.M. 2007 und Klaus-Uwe Adam, Die Psyche der Deutschen. Wie wir denken, fühlen und handeln, Düsseldorf 2007 sowie Hand-Dieter Gelfert, Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden, was sie sind, München 2005. Genannt werden kann in diesem Zusammenhang auch eine Merchandise-Aktion mit dem Titel „Unser Deutschland. Eine Liebeserklärung in 180 Stickern!“ der Handelskette Rewe, die im Frühjahr 2013 in ihren Supermärkten unter dem Motto „Schwarz. Rot. Toll!“ Sammelsticker verteilte, die in ein Sammelheft eingeklebt werden konnten. Repräsentiert wurde Deutschland in der Stickeraktion unter anderem durch Bilder von Goethe, Gartenzwergen und deutschen Schäferhunden.

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funktion selbst vage bleibt. Für meine Konzeptualisierung des Begriffs greife ich auf die Psychoanalyse Jacques Lacans zurück, da das Imaginäre hier als Register der Psyche angelegt ist und damit als der Bereich, in dem das Subjekt sich über die Bezugnahme auf Selbstbilder konstituiert. Das Imaginäre verstehe ich als Bewegung. Da diese nicht zum Stillstand und zu keinem Abschluss kommt, lässt sich auch kein ‚Produkt‘ denken. Identität ist somit keine greifbare Größe, sondern stets nur als Identifizierung, ein offener Prozess ohne Abschluss, zu denken. Der Prozess, die Bewegung des Imaginären jedoch richtet sich – so legt es bereits die Etymologie des Begriffs nahe – an Bildern aus und produziert Bilder als Entwürfe des Selbst, dem es auf der Spur ist. Mit der Entwicklung eines Image-Begriffs, der innerhalb dieser Dynamik des Imaginären situiert ist, möchte ich die Momente der temporären Bildgebung beschreibbar machen, die in Anspruch genommen werden, um über sich und andere zu sprechen, sich zu vermarkten etc. Damit entwickle ich das psychoanalytische Konzept des Imaginären als Begrifflichkeit für aktuelle kulturwissenschaftliche Analysen weiter, die mit dem Image-Begriff der medialen Verfasstheit der ‚Wirklichkeit‘ Rechnung trägt.8 In den sechs Analysekapiteln untersuche ich, wie und auf welche Weise das gegenwärtige Deutschland, also das Deutschland nach 1989/90 entworfen wird. Die Kapitel sind so aufgebaut, dass sie jeweils von einer kulturwissenschaftlichen Perspektivierung gerahmt bzw. eingeleitet werden. Hier nehme ich bestimmte Beobachtungen zum Ausgangspunkt, die die Leitfragen der Kapitel anregen und über die konkrete Materialanalyse hinausgehen. Im Mittelpunkt der Analysen stehen literarische Texte, Filme, eine Standortinitiative und eine Mediendebatte. Während in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Bezugnahme auf die Nation in Deutschland aufgrund des angespannten Verhältnisses zur eigenen Gegenwartsgeschichte häufig als problematisch bewertet wurde, erfuhr das Nationale in Form der Integration von Nationalsymbolen in die Alltagskultur oder der Inanspruchnahme der Nation etwa für Werbezwecke in der Mitte des letzten Jahrzehnts eine Popularisierung. Beschleuniger für diese Entwicklung, die häufig als lange geforderte ‚Normalisierung‘ oder längst überfällige ‚Entspannung‘ im Umgang mit dem eigenen Nation-Sein begrüßt oder als ‚neuer Patriotismus‘ beschrieben wurde, war die Fußballweltmeister Untersuchungen zum Imaginären anhand von Literatur und Kultur, ohne jedoch das Imaginäre explizit als identifizierende Dynamik zu verstehen, versammeln die folgenden zwei Sammelbände: Erich Kleinschmidt, Nicolas Pethes (Hg.), Lektüren des Imaginären. Bildfunktionen in Literatur und Kultur, Köln u. a. 1999; Rudolf Behrens, Jörn Steigerwald (Hg.), Die Macht und das Imaginäre. Eine kulturelle Verwandtschaft in der Literatur zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Würzburg 2005.

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schaft 2006, die in Deutschland ausgetragen wurde. Aufgrund dieser Verbindung, die die Aufmerksamkeit für das Event Fußballweltmeisterschaft und das Nationale in Deutschland hier eingingen, betrachte ich in dem ersten Analysekapitel, Wir sind wieder wer (Kapitel III), die Fußballweltmeisterschaftsfilme Das Wunder von Bern (2003) und Deutschland. Ein Sommermärchen (2006) von Sönke Wortmann. Die Filme werden als Fortschreibung eines Mythos gelesen, der eine Verknüpfung von erfolgreicher Fußball-Weltmeisterschaft und Wirtschaftswunder zeichnet und als eine Art bundesrepublikanischer Gründungslegende in beiden Filmen aufgerufen und wieder belebt wird. Solchermaßen öffnen die Filme den Blick auf weitere Phänomene, wie etwa die großen Imagekampagnen im Zuge der Fußball-WM, die diese Erfolgsgeschichte bedienen und behaupten, und lassen sich als Teil eines Nation Branding-Prozesses lesen. Die so genannte Wende, die Ereignisse, die 1989/90 zu Mauerfall und Vereinigung von Bundesrepublik und DDR führten, werden immer wieder als zentrale Ereignisse für die Bildung einer deutschen nationalen Identität in der Gegenwart gesehen. Die Beobachtung, dass die jüngere Geschichtsschreibung von der ‚Erfolgsgeschichte Bundesrepublik‘ ausgeht, in der die vereinigte deutsche Nation zu ihrer Einheit gefunden habe und die ‚Wende‘ somit als eine Art Happy End der nationalen Selbstfindung setzt, bildet einen Ausgangspunkt für das Kapitel IV, Wende-Roman. Das Kapitel untersucht am Beispiel des viel beachteten Wenderomans Neue Leben (2005) von Ingo Schulze, wie über die Ereignisse 1989/90 literarisch erzählt wird. Dabei zeigt sich, dass die ‚Wende‘ hier nicht nur als zeithistorisches Ereignis präsent ist, sondern sich in der Textstruktur wiederfindet und als Erzählverfahren beschreibbar wird. Nicht nur erleben und vollführen die Figuren regelrechte Identitätswenden, der Roman ist als ‚Wenderoman‘ im buchstäblichen Sinne von vielfältigen Wendebewegungen durchzogen. Der Roman als ‚große Erzählung‘ über ein zeithistorisches Ereignis unterläuft damit zum einen immer wieder die Vorstellung eines linearen Geschichtsmodells und präsentiert Geschichte als Ereignis der Narration. Zudem führt der Roman mit seinen immer neuen Wendungen die unabschließbare Bewegung des Imaginären als beständiges Herstellen von Selbstentwürfen vor und macht gerade diese explizite Thematisierung der Selbstbefragung auf vielfältige Weise, etwa durch die Verknüpfung mit dem Faust-Stoff, als ‚deutsches Thema‘ lesbar. Kapitel V, Nostalgie, greift mit dem Begriff der Ostalgie ein weiteres Stichwort auf, das in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Frage nach deutscher Identität häufig genannt wurde. Ostalgie beschreibt ein scheinbares Scheitern oder Fehlgehen von Identifizierung mit dem aktuellen Deutschland, insofern, als es die Kompensationsphänomene für die Erfahrung des Verlusts einer ‚Identität Ost‘ und die rückblickende Sehnsucht nach einer ‚Heimat DDR‘

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bezeichnet. Ich binde die Ostalgie zunächst an das Konzept der Nostalgie zurück und frage in historischer Perspektive nach dem Zusammenhang von Nostalgie und Nationalismus. Es lässt sich argumentieren, dass Nostalgie historisch insofern an der ‚Erfindung der Nation‘ beteiligt ist, als sie einen wissenschaftlichen Begründungszusammenhang herstellt, der den Einzelnen und seine Unversehrtheit an eine imaginierte Herkunft bzw. eine imaginierte Gemeinschaft bindet. Im Fokus des Kapitels steht die Analyse des Films Good Bye, Lenin! (Wolfgang Becker, D 2003), der ein großer internationaler Kinoerfolg war und durch die Aufmerksamkeit, die ihm insbesondere im Ausland zuteil wurde, auch an dem Deutschlandbild ‚von außen‘ mitgearbeitet hat. Good Bye, Lenin! zeigt das ostalgische Erinnern nicht als spezifisch ostdeutsche Befindlichkeit, sondern setzt auf vielfältige Weise nostalgische Strategien ins Werk und ins Bild. Das nostalgische Begehren nach einer Rückkehr in ein Zuhause, von dem der Film erzählt, lässt sich insofern mit dem Imaginären in Verbindung setzen, als der Sehnsuchtsort der Nostalgie letztlich immer genau der Ort der Ganzheit und damit die Identität ist, auf die sich auch das Imaginäre richtet. Das Kapitel Deutschlandreisen (VI) geht von der Beobachtung eines besonderen Phänomens des aktuellen deutschsprachigen Buchmarktes aus. In den letzten Jahren gab es geradezu einen Boom der Deutschlandreise-Texte. Anhand von Wolfgang Büschers Deutschland, eine Reise (2005) und Roger Willemsens Deutschlandreise (2002) verfolgt das Kapitel die These, dass das große Interesse an textuellen Reisen durch Deutschland mit einem Interesse an Deutschland, daran, Deutschland in Erfahrung zu bringen, einhergeht. Herausgearbeitet wird, wie die Texte dieses Deutschland in Form von Landkarten konkretisieren und visualisieren. Die kartografischen Verfahren der beiden Texte sind zwar durchaus unterschiedlich, das Erzählen als Kartenzeichnen lässt sich jedoch in beiden Fällen mit dem Imaginären als Dynamik der Identifizierung analogisieren, insofern als die Texte diese Bewegung eines In-Beziehung-Tretens zu einem Selbstbild im erzählerischen Kartenzeichnen nachvollziehen lassen. Beide Texte richten ihre Deutschlandkarten an bestimmten Deutschland-Topoi aus und sprechen damit Deutschland-Images an, die als konkrete Orientierungsmarker dienen. Kapitel VII, Die Berliner Republik und Preußen, hinterfragt den Begriff der Berliner Republik als Bezeichnung für die Bundesrepublik nach dem Regierungsumzug nach Berlin. Es wird untersucht, wie sich die Berliner Republik für ihr Selbstbild bestimmter preußischer Images bedient und wie Preußen und die Inanspruchnahme eines ‚preußischen Erbes‘ damit zum Bezugspunkt für Identitätsentwürfe im gegenwärtigen Deutschland wird. Für die Analyse wird in diesem Kapitel Daniel Kehlmanns Romanbestseller Die Vermessung der

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Welt (2005) herangezogen. Der Gegenwartsbezug des Romans, so die These, liegt gerade in der Thematisierung ‚des Deutschen‘, die Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß in der fiktionalen Doppelbiografie als ‚typische Deutsche‘ bzw. insbesondere als typisch deutsche Bildungsbürger einer preußischen Tradition präsentiert. Dafür nutzt der Text Verfahren, die immer wieder mit Bildern arbeiten und sich an Bildmedien anlehnen. Insofern lässt sich davon sprechen, dass der Text Images ‚des Deutschen‘ entwirft und zirkuliert. Im Weiteren geht das Kapitel auf die Berliner Stadtschloss-Debatte ein. Die Debatte um die Nutzung des Stadtschlossareals in Berlin und den Wiederaufbau des Schlosses wurde im Zusammenhang mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten angestoßen und ist bis heute nicht abgeschlossen. Sie ist einer der längsten und öffentlichkeitswirksamsten Meinungsbildungsprozesse der deutschen Zeitgeschichte und kann in einem engen Zusammenhang mit der Gestaltung von Selbstentwürfen in der heutigen Bundesrepublik gesehen werden. Die Analyse der rhetorischen Strategien, die diese Debatte prägen, zeigt, dass das Schlossareal von unterschiedlichen Akteuren der Debatte zur (noch) leeren Mitte erklärt wird und damit zu einem Ort, in dem sich Bedeutung und Identität konzentrieren. Der Streit um Nutzung und Bebauung des Schlossareals wird lesbar als eine grundsätzliche Debatte um das, was die ‚Fülle‘ der Gemeinschaft heute ausmacht. Mit der Rekonstruktion des Stadtschlosses soll die Leerstelle an diesem identitätsstiftenden zentralen Ort, der metonymisch als ‚Herz der Nation‘ erscheint, gefüllt und das Stadtbild geschlossen werden. Dafür wird explizit und in mehrfacher Hinsicht auf ein preußisches Erbe zurückgegriffen. Die Berliner Republik versucht sich selbst einen geschlossenen Selbstentwurf zu geben, indem es sich wirkmächtiger historischer Traditionslinien bedient und diese als Kontinuitäten behauptet. Die Bezugnahme auf die eigene Geschichte ist immer auch eine Form des Umgangs mit Selbstbildern. Insofern als in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des eigenen Landes oder der eigenen Nation Vorstellungen entwickelt werden, die sich für die Identifikation heranziehen lassen, kann Geschichte als Bezugpunkt der identifizierenden Dynamik des Imaginären dienen. Insbesondere für Deutschland wurde und wird von verschiedenen Seiten ein problematisches oder zu problematisierendes Verhältnis zur eigenen Geschichte und speziell zur jüngeren Zeitgeschichte diagnostiziert. Die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR wird dabei häufig als Zäsur betrachtet, die ein spätes Ende der Nachkriegszeit markiere, so dass nun ein neuer, positiver Bezug zur eigenen Nation und zur eigenen Geschichte möglich sei. Mit Jenny Erpenbecks Heimsuchung (2008) stellt das Kapitel VIII einen Roman in den Fokus, der das Erzählen über deutsche bzw. deutsch-deutsche Gegenwartsgeschichte als Suche nach dem Zuhause (Heimsuchung) gestaltet. Meine These

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ist, dass der Roman in seinen Verfahren dabei gerade diesen Suchprozess nachformt, in dem es nicht um ein Ankommen ‚bei sich‘ geht, sondern vielmehr in den Blick gerät, wie sich Erinnerung und Gedächtnis über das InBeziehung-Treten zu bestimmten Bildern vollziehen und wie Geschichte – als eine Lesart von Geschichte, auf die sich etwa eine Gemeinschaft bezieht – dadurch allererst entsteht.

II Das Imaginäre und das Image 1 Einleitung Der Begriff des Imaginären, den ich im Folgenden herleiten und konzeptualisieren möchte, fasst die Dynamik der Identifizierung. Mit dem Imaginären Deutschlands untersucht diese Arbeit diejenige Dynamik, über die sich ein ‚Wir‘ beständig selbst entwirft. ‚Deutschland‘ wird in diesem Zusammenhang nicht gedacht als das nationalstaatliche Gebilde der Bundesrepublik Deutschland oder als historisch unterschiedlich zu füllende Bezeichnung eines geographischen Raums, sondern als Kategorie der Identifikation, mit der sich ein ‚Wir‘ benennt. Dieses Deutschland kann unterschiedlich gedacht und kategorisiert werden – etwa als Nation (Verfassungsnation oder Kulturnation), als Gemeinschaft, als Vaterland etc.1 Das Imaginäre als unabschließbarer Prozess der Subjektkonstitution beschreibt die Dynamik jeglicher, sowohl individueller als auch kollektiver Identifizierung. Somit lässt sich mit dem Imaginären in den Blick nehmen, wie sich ein ‚Ich‘ oder ein ‚Wir‘ über die Beziehung zu Selbstbildern entwirft.2 In diesem Sinne verstanden ist das Imaginäre nicht ein  Da die Bundesrepublik Deutschland, auf die sich der aktuelle Deutschland-Begriff bezieht, ein nationalstaatliches Gebilde ist, liegt es nahe, dass sich das ‚Wir‘, das sich als Deutschland begreift, als eine nationale Gemeinschaft sieht und sich die Selbstentwürfe Deutschlands folglich des Konzepts der Nation bedienen. In diesem Sinn berührt die vorliegende Arbeit den Bereich der Forschung zu Nation, Nationenbildung und Nationalismus, jedoch ohne sich diesem Forschungsfeld selbst zugehörig zu fühlen, da es hier nicht um Nationen in ihrer historischen oder politischen Entwicklung geht. Wie Benedict Anderson mit den Imagined Communities [1983] zeigt, sind Nationen Vorstellungsgemeinschaften. Mit meiner Profilierung der Begriffe Image und Imaginäres möchte ich den Prozess der Aktualisierung einer solchen imaginierten Gemeinschaft – wie sich das ‚Wir‘ der Nation bildet – in den Blick nehmen. Vgl.: Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, revised Edition, London, New York 2006. Aktuelle einführende Überblicksdarstellungen zur Nationalismusforschung bieten die folgenden Titel: Rolf-Ulrich Kunze, Nation und Nationalismus, Darmstadt 2005; Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; Hans-Ulrich Wehler, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, 3. Aufl., München 2007. Zur imaginären Seite nationaler Selbstkonstruktion vgl. die Beiträge in Katharina Grabbe, Sigrid G. Köhler, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Das Imaginäre der Nation. Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film, Bielefeld 2012.  In diesem strukturalen Blick auf die Konstitutionsprozesse lassen sich weder das individuelle noch das kollektive Subjekt psychologisieren. Individuelles und kollektives Subjekt, das sich zum Beispiel als Nation entwirft, werden hier analogisiert, da sie sich – so sei es hier thesenhaft formuliert – über die gleichen Dynamiken konstituieren. „Eine Nation ist nicht dasselbe wie eine individuelle Psyche, beide können jedoch als ‚Subjekte‘ beschrieben werden, auch wenn sie verschiedenen Ordnungen angehören.“ (Judith Butler, Gewalt, Trauer, Politik.

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Das Imaginäre und das Image

von der Wirklichkeit geschiedener Bereich der Vorstellungen oder Illusionen. Es ist als prozessuale Identifikation maßgeblich an der Wirklichkeit beteiligt, indem es sie zum einen strukturiert und zum anderen das Subjekt, das dieser Wirklichkeit handelnd begegnet, bildet. Das Imaginäre ist ein Begriff, der häufig ohne ihn herzuleiten oder näher zu bestimmen im Sinne des Alltagsverständnisses in einer Art Stellvertreterfunktion benutzt wird, um einen diffusen Raum der Vorstellungen und ihrer Produkte zu bezeichnen oder um etwas als irreal zu markieren. Insofern wird das Imaginäre häufig mit dem Bereich der Fiktion, mit Literatur, Film und anderen künstlerischen Medien als Produzenten ‚imaginärer Welten‘ kurzgeschlossen und es wird als eine Art Gegenentwurf zur ‚Wirklichkeit‘ gedacht. Im Unterschied zu dieser alltagssprachlichen Begriffs-Verwendung hat das Imaginäre in der Psychoanalyse Jacques Lacans eine umfassende Konzeptionalisierung erfahren, die ich für die Profilierung meines Begriffs des Imaginären heranziehe. Mit dem Imaginären als Dynamik der Identifizierung lassen sich Ästhetisches und Politisches nicht im Sinne einer Gegenüberstellung von Kunst und Wirklichkeit als getrennt begreifen.3 So nimmt diese Arbeit insbesondere die Beteiligung von Literatur und Film an der Herstellung von Bildern In: Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, aus dem Englischen von Karin Wördemann, Frankfurt a.M. 2005, S. 36–68, S. 58.)  In diesem Punkt unterscheidet sich mein Ansatz von der Begriffsverwendung des Imaginären bei Wolfgang Iser. Iser greift in seiner Studie Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1991 den Begriff des Imaginären auf, um ihn für die Literaturwissenschaft nutzbar zu machen. Iser geht von einer „Fiktionsbedürftigkeit des Menschen“ (S. 16) als anthropologischer Konstante aus. Literatur, als Antwort auf dieses Bedürfnis, könne daher Aufschlüsse über die „anthropologische Ausstattung des auf Kosten seiner Phantasie lebenden Menschen“ (S. 11) geben. Iser setzt eine allgemein angenommene Opposition von Wirklichkeit und Fiktion voraus, die er durch eine „dreistellige Beziehung“ (S. 18), die „Triade“ (S. 19 f.) von Realem, Fiktivem und Imaginärem ablöst. Daraus folgt bei Iser eine Gegenüberstellung von lebensweltlich Realem und Literatur, die sich aus dem Zusammenspiel von Fiktivem und Imaginärem bildet. Den Akt des Fingierens sieht Iser als Spiel der Grenzüberschreitungen zwischen der „Irrealisierung von Realem und Realwerden von Imaginärem“ (S. 23). In dieser Konzeption wird das Imaginäre zu einer sich spontan bildenden, unbestimmten Bilderwelt, die durch das Fiktive intentional geformt bzw. medial umgesetzt und solchermaßen „vom Diffusen zum Bestimmten“ (S. 22) überführt werden muss. Das Imaginäre ist bei Iser also gemeinsam mit dem Fiktiven Konstituente des Literarischen und damit Beschreibungskategorie zur besseren Bestimmung der spezifischen Leistung und Funktion der Literatur für den Menschen. Diese liegt für ihn gerade in der Grenzüberschreitung, die das Spiel von Fiktivem und Imaginärem darstellt. Im Akt des Fingierens wird das lebensweltlich Reale nicht einfach wiederholt, sondern durch das Hereinholen des Imaginären überschritten. Das besondere Potential von Literatur bzw. des Fiktiven liegt für Iser darin, dass sie ermöglichen, über das Gegebene hinaus zu denken. Damit wird deutlich, dass Iser innerhalb der von ihm gesetzten Triade das Fiktive im Vergleich zum Realen und Imaginären hervorhebt und

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und Entwürfen in den Blick, über die das aktuelle Deutschland gesetzt wird. Bei dieser Beteiligung handelt es sich nicht um ein Abbildungsverhältnis. Das Imaginäre ist in meiner Begriffsverwendung nicht zu verwechseln mit einem politischen oder sozialen Imaginären, verstanden als Repräsentationen bzw. Figurationen, die das Politische bzw. das Soziale zum Ausdruck bringen oder veranschaulichen.4 Das Imaginäre als dynamische und unabschließbare Bewegung der Identifizierung ist nicht die Ausdrucksseite oder Repräsentation eines davon unabhängigen Politischen oder Sozialen. Es kann nicht mit medialen Repräsentationen oder Vorstellungsinhalten gleichgesetzt werden.5 In der Lacan’schen Psychoanalyse6 bildet das Imaginäre gemeinsam mit dem Symbolischen und dem Realen die Trias der drei Ordnungen, die das ihm einen besonderen Stellenwert einräumt, wohingegen das Imaginäre letztlich auf die Rolle des unbestimmten Gegenparts des lebensweltlichen Realen reduziert bleibt.  Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann und Ethel Matala de Mazza fassen in Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M. 2007, das soziale Imaginäre als „Schatz all jener strukturgebenden Bilder und Narrative, politischen Mythen und Verfahren der Identitätsrepräsentation […], durch die ein Gemeinwesen sich selbst inszeniert – und sich selbst als Eines inszeniert. Es handelt sich um den Fundus der sozialisierten und sozialisierenden Figurationen, durch die in literarischen und theoretischen Texten, in politischen, künstlerischen und theatralischen Formen der Repräsentation die Szene des Politischen anschaulich wird“ (S. 62).  In dieser Weise „provisorisch als Inhalt oder Produkt eines Vorstellungsvermögens“ definiert wird das Imaginäre im Ankündigungstext eines Workshops des Projekts Ästhetische Figurationen des Politischen an der Universität Luxemburg zur imaginären Dimension des Politischen, der am 26. und 27. Januar 2012 stattgefunden hat: http://figurationen.lu (abgerufen am 28. 07. 2011).  Bereits durch meine Herleitung des Begriffs des Imaginären aus Lacans Psychoanalyse unterscheidet sich meine Vorgehensweise von der prominenten Begriffsprägung des gesellschaftlichen Imaginären durch Cornelius Castoriadis. Castoriadis verwendet den Begriff des Imaginären in Gesellschaft als imaginäre Institution [1975] für die Beschreibung bestimmter Aspekte des Gesellschaftlichen. Die Begrifflichkeiten sind bei Castoriadis, darauf weist bereits seine explizite Abgrenzung im Vorwort hin, trotz aller terminologischen Übereinstimmung nicht im Sinne Lacans zu verstehen (vgl. S. 11 f.) Castoriadis’ Konzeption des Imaginären steht im Zusammenhang mit seiner umfassenden Marxkritik. Castoriadis grenzt sich von der ‚Identitäts- und Mengenlogik‘ ab, die er dem abendländischen Denken vorwirft und die vorgibt, alles Seiende erfassen, ordnen und benennen zu können. Insbesondere im zweiten Teil des Werks unternimmt er den Versuch, diesen traditionellen Modellen eine Ontologie der Unbestimmtheit gegenüberzustellen. Nach Castoriadis kann der Ursprung gesellschaftlicher Ordnung nicht auf ein der Gesellschaft ‚äußerliches‘ Prinzip von Göttlichkeit, Vernunft oder Natur zurückgeführt werden. Stattdessen macht Castoriadis die Herkunft des Gesellschaftlichen in dem von ihm so genannten radikalen Imaginären aus. Damit wird das Imaginäre als eine Art Grundstruktur geistiger oder kreativer Schöpfungsprozess entworfen, mit dem es Castoriadis um die „Selbstschöpfung der Gesellschaft“ (S. 15) geht. Für seine Abgrenzung von der traditionellen Denklogik führt Castoriadis die Metapher Magma ein. Verstanden sei darunter „nicht das Chaos

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Das Imaginäre und das Image

Subjekt strukturieren. Die imaginäre Ordnung ist diejenige der Identifikation: Jegliches Ich (oder Wir) bildet sich immer nur aufgrund der Bezugnahme auf ein Bild von sich selbst, also aufgrund der irrenden (denn das Bild bietet keine Identität) Annahme eines Bildes. Das Imaginäre lässt sich folglich definieren als eine Blickbeziehung oder eher Blickbewegung zu dem Bild. Da der Blick auf etwas stets bedeutet, dass es um eine Gegenüberstellung und nicht um Identität geht, fasst das Imaginäre als Bewegung begriffen zugleich den Moment, in dem der Blick auf die glatte Oberfläche des Bildes trifft und dieses annimmt, und den, in dem diese Oberfläche als Verkennung erkannt wird. Die Psychoanalyse Lacans reduziert das Subjekt nicht auf das Imaginäre, sondern sieht es zugleich strukturiert durch die symbolische und die reale Ordnung. Dies bedeutet, dass es sich bei dem Imaginären nicht um eine Phase oder Entwicklungsstation handelt, sondern um eine dynamische Struktur, die jegliche Identifikation in Gang hält. Mit dem Begriff des Images fokussiere ich einen bestimmten Aspekt dieser Bewegung. Der Psychoanalyse wird häufig vorgeworfen, dem Subjekt mit der Konzeption als Mangelwesen einen transzendentalen Status zu verleihen.7 Das gebarrte Subjekt Lacans (das durch seine […], sondern eine nicht-mengenförmige Organisationsweise einer Mannigfaltigkeit“ (S. 310). Die magmatische Seinsweise weist das radikale Imaginäre bei Castoriadis als wesentlich unbestimmt aus. Als solches sei es „eine Schöpfung ex nihilo“ (S. 12). In dieser Definition wird das radikale Imaginäre zu etwas Ursprünglichem, das jeglicher Bestimmung und Repräsentation, also dem Symbolischen, vorausgeht. Das Imaginäre realisiert sich demnach im Symbolischen und ist dabei zugleich dessen Grundlage. Diese Konzeption des radikalen Imaginären steht in engem Zusammenhang mit Castoriadis’ Projekt der Autonomie, das er als ein revolutionäres denkt und dessen Ziel, die Auflösung der Entfremdung, sich nicht nur auf konkrete Ausbeutungs- und Klassenverhältnisse richtet, sondern auf „Institutionen und verinnerlichte[ ] psychische[ ] Instanzen“ (S. 91). Das radikale Imaginäre als „offenes Strömen des anonymen Kollektivs“ und „Strom von Vorstellungen/Affekten/Strebungen“ (S. 603) spricht der Gesellschaft damit eine schöpferische Dimension zu. In dieser sieht Castoriadis das revolutionäre Potential des radikalen Imaginären, da sich die Gesellschaft die imaginären Bedeutungen so wiederaneignen könne. Für die Zitate vgl.: Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt a.M. 1990. Einen einführenden Überblick zu Castoriadis und seinem Werk bietet: Alice Pechriggl, Cornelius Castoriadis. In: Gisela Riescher (Hg.), Politische Theorie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Von Adorno bis Young, Stuttgart 2004, S. 89–92. Vgl. auch: Susanne Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München 2004; Bernhard Waldenfels, Der Primat der Einbildungskraft. Zur Rolle des gesellschaftlichen Imaginären bei Cornelius Castoriadis. In: Alice Pechriggl, Karl Reitter (Hg.), Die Institution des Imaginären. Zur Philosophie von Cornélius Castoriadis, Wien 1991, S. 55–80.  Diese Kritik findet sich insbesondere formuliert durch Judith Butler. Vgl. Judith Butler, Ernesto Laclau, Gleichheiten und Differenzen. Eine Diskussion via E-Mail. In: Oliver Marchart (Hg.), Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, Wien 1998, S. 238–253, S. 248. Sowie: Judith Butler, Restaging the Universal: Hegemony and the Limits of

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Unvollständigkeit konstituierte Subjekt) kann jedoch auch als ein offenes begriffen werden. Denn gerade seine konstitutive Unvollständigkeit ruft das Begehren nach der Schließung von Identität ins Leben und hält die beständige Suche nach Selbstentwürfen in Bewegung. Die Unabschließbarkeit der identifikatorischen Dynamik bietet einen produktiven Raum. Das Sich-auf-ein-Bildhin-Entwerfen lässt das Bild zum einen als täuschende Oberfläche erscheinen, erlaubt andererseits jedoch auch, es als Projektionsraum oder als Spielfläche und damit als Ort einer produktiven Aushandlung zu sehen. Der Image-Begriff, den ich herausarbeiten möchte, betont diesen produktiven Aspekt und schafft eine Kategorie, um diesen näher zu fassen und zu beschreiben. Das Imaginäre beschreibt nicht einfach die Nicht-Identität oder Gespaltenheit des Subjekts, sondern darüber hinaus gerade die Dynamik, die durch diese Gespaltenheit angestoßen wird und ermöglicht, zu untersuchen, über welche Bildentwürfe oder Images sich das imaginäre ‚Wir‘ aktualisiert. Das Image lässt sich nicht verbindlich innerhalb der Bewegung des Imaginären verorten (etwa als Spiegelbild). Es ist die Möglichkeit, eines Selbstbildes temporär habhaft zu werden und es dadurch vertretbar und verhandelbar zu machen. Es bringt die Bewegung des Imaginären nicht zum Stillstand – weist aber auf die Koordinaten hin, zwischen denen sie agiert. Betont wird mit dem Image-Begriff der produktive Aspekt des Imaginären und dass in der imaginären Blickbewegung beständig Bildentwürfe, Selbstbilder entstehen. Das Selbstbild verhandelbar zu machen heißt hier auch: es verkäuflich zu machen. Das Image bestimmt einen Wert. Dieser lässt sich nicht nur im Sinne eines mathematischen Werts verstehen, durch den das Image eine Verortung innerhalb der imaginären Funktion vornimmt, sondern zugleich als Tauschwert. Mit dem Image wird auch der ökonomische Aspekt der Subjektivierung beschreibbar, denn das Subjekt, das sich selbst entwirft, ist ein ökonomisches Subjekt. In diesem Kapitel möchte ich die Begriffe des Imaginären und des Images profilieren, indem ich die Konzepte, von denen sie sich herleiten, vorstelle und für den Untersuchungszusammenhang dieser Arbeit zuspitze. In einem kurzen Überblick über die Begriffsgeschichte von Imagination bzw. Einbildungskraft wird der Konnex der begriffsgeschichtlichen Tradition des Imaginären und dem modernen Subjektbegriff deutlich. Einflussreich nicht nur für die Begriffsprägung des Imaginären sondern insbesondere auch für Lacans Konzeption ist Jean-Paul Sartres Schrift L’Imaginaire von 1940. Mit Sartres phänomenologi-

Formalism. In: Judith Butler, Ernesto Laclau, Slavoj Žižek, Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London, New York 2000, S. 11–43. Sowie für einen Überblick: Lars Diestelhorst, Umkämpfte Differenz. Hegemonietheoretische Perspektiven der Geschlechterpolitik mit Butler und Laclau, Berlin 2007.

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Das Imaginäre und das Image

schen Begriff des Imaginären beschäftigt sich der zweite Abschnitt, wobei herauszustellen ist, dass das Imaginäre hier nicht mehr als anthropologisches Vermögen, sondern als Tätigkeit eines In-Beziehung-Tretens gefasst wird. Mit Jacques Lacan, auf dessen psychoanalytischen Begriff des Imaginären die dann folgenden Abschnitte eingehen, kann das Imaginäre innerhalb der Trias der Ordnungen aus Imaginärem, Symbolischem und Realem als Bereich der Identifikation beschrieben werden. Die Übertragung, die Lacans Thesen durch Slavoj Žižek auf populärkulturelle und gesellschaftspolitische Phänomene erfahren haben, lässt das Imaginäre als produktiven Begriff nicht mehr nur für die Beschreibung individueller Subjektbildung, sondern auch für kollektive Identifizierungen fassen. Um diesen produktiven Aspekt des Imaginären näher zu bestimmen, wird im letzten Teil des Kapitels der Begriff des Images eingeführt. Dazu werden zunächst Image-Definitionen aus Kommunikationswissenschaft und Marketing befragt. Roland Barthes’ Rhetorik des Bildes ziehe ich im Weiteren heran, um bestimmte Aspekte des Images als Funktion des Imaginären zu fokussieren. Barthes beschreibt für das Massenbild eine Strategie der ‚Naturalisierung‘. Das Image bedient sich ähnlicher Strategien, um sich mit dem Anschein von Identität auszustatten: Es macht seine eigene Bildhaftigkeit vergessen und verspricht das Stillstellen der imaginären Bewegung. Es setzt ein Selbstbild als scheinbare Identität.

2 Imagination und Einbildungskraft: Das Vermögen des Subjekts Das Imaginäre steht in einer begriffsgeschichtlichen Tradition mit der Imagination bzw. Einbildungskraft.8 Ein Blick auf diese etymologischen Verwandten hilft, den Begriff des Imaginären näher zu fassen. Die Einbildungskraft (hergeleitet vom griechischen phantasia bzw. lateinischen imaginatio oder phantasia) steht seit ihrer Auf- bzw. Umwertung im achtzehnten Jahrhundert in engem Zusammenhang mit der Herausbildung des modernen Subjektbegriffs. In der Antike und Frühmoderne wird die Einbildungskraft als Vorgang der Sinneswahrnehmung bestimmt und in die Nähe körperlicher Abläufe gerückt. Damit gilt sie als unzuverlässig bzw. trügerisch und der kontrollierenden Vernunft zu unterstellen. In der durch die Körper-Geist-Dichotomie bestimmten Rangliste der Vermögen rangiert die Einbildungskraft in den unteren Bereichen. Mit der

 Zur Begriffsgeschichte sowie für das Folgende vgl.: Jochen Schulte-Sasse, Einbildungskraft/ Imagination. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck, Bd. 2: Dekadent–Grotesk, Stuttgart, Weimar 2001, S. 88–120.

Imagination und Einbildungskraft: Das Vermögen des Subjekts

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Aufwertung der Sinnlichkeit im achtzehnten Jahrhundert erfährt auch die Einbildungskraft einen grundlegenden Bedeutungswandel und erhält einen wichtigen Stellenwert im Zusammenhang des neuen ästhetischen Diskurses. Die Imagination wird zu einem „genieästhetisch konnotierten, subjektiven und produktiven Vermögen“ 9. Um die begriffsgeschichtliche Wandlung der Einbildungskraft verständlich zu machen, schließt Jochen Schulte-Sasse an die These Erich Auerbachs an, „der menschliche Blick sei von der Antike zur Moderne von der Vertikalen in die Horizontale umgepolt worden“ 10. Statt der vertikalen Ausrichtung an einer übergeordneten transzendentalen Instanz (Gott) erfolgt eine innerweltliche Orientierung. Die Imagination als sinnliche Vorstellungskraft ist es, die dem Menschen diese kreative Bezugnahme auf Raum und Zeit ermöglicht und ihn als aus sich selbst heraus handlungsfähiges, schöpferisches Subjekt denkbar macht. Die begriffsgeschichtlichen Veränderungen des 18. Jh. weisen auf eine neue Bedeutung des Visuellen und der Perspektive hin, auf eine neues Verständnis von ‚Auge‘ und ‚Blick‘ und auf eine grundlegende Umorganisation der Art, wie Menschen sich als Subjekte begründen. […] Das autonome Individuum der Moderne, dem eine kreative Einbildungskraft zugeschrieben wird, stellt sich damit als ein sich auf imaginäre ‚Bilder‘ beziehendes heraus.11

Einbildungskraft bzw. Imagination bezeichnet hier also die menschliche Fähigkeit, sich über die Blickrelation in Beziehung zu seiner Umwelt zu setzen. Diese Bestimmung der Einbildungskraft ist für den Begriff des modernen Subjekts prägend. Die Imagination erlaubt die Konzeption des Subjekts als selbstreflexives, wie es für den Genie-Gedanken und den Entwurf von Subjektivität als Individualität grundlegend ist. Die Selbstreflexivität als Begründung des Subjekts beinhaltet jedoch zugleich die Spaltung des Subjekts: Das Subjekt vermag aufgrund seiner Einbildungskraft zu sich selbst in Distanz zu treten und auf sich selbst zu schauen. Dieses „Setzen seiner selbst als Objekt als Voraussetzung des Subjektseins“ 12 bedeutet, dass die Geschlossenheit und Autonomie dieser Subjektivität stets eine nachträgliche ist. Der Begriff Einbildungskraft, wie er sich insbesondere durch die Umwertung im achtzehnten Jahrhundert geistesgeschichtlich entwickelte, enthält also bereits einige der Aspekte, die sich auch für das Imaginäre, so wie ich es konzeptualisieren möchte, konstatie Nicolas Pethes, Über Bilder(n) sprechen. Einleitung in Lesarten einer Theorie des Imaginären. In: Erich Kleinschmidt Nicolas Pethes (Hg.), Lektüren des Imaginären. Bildfunktionen in Literatur und Kultur, Köln u. a. 1999, S. 1–14, S. 4.  Schulte-Sasse, Einbildungskraft/Imagination, S. 91.  Schulte-Sasse, Einbildungskraft/Imagination, S. 92 f.  Schulte-Sasse, Einbildungskraft/Imagination, S. 111.

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Das Imaginäre und das Image

ren lassen. Jedoch wird die Einbildungskraft als ‚Vermögen‘ gefasst und damit als eine ‚Fähigkeit‘, die in unterschiedlicher Ausprägung allgemein beim Menschen als vorhanden angenommen wird. Das ‚Imaginäre‘ hingegen beschreibt keine anthropologische Konstante und ihre Relevanz, sondern nimmt vielmehr diejenige Dynamik in den Blick, die Selbstentwürfe der Subjektivation motivieren.

3 Die imaginäre Tätigkeit Eine nachhaltige Prägung hat der Begriff des Imaginären durch Jean-Paul Sartre erfahren. Seine Schrift Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft von 1940 setzt sich zum Ziel, die Vorstellungskraft als „wichtige ‚irrealisierende‘ Funktion des Bewußtseins“ und damit zugleich das Imaginäre als „ihr noematisches Korrelat“ 13 zu beschreiben. Das Imaginäre bei Sartre als Tätigkeit des Bewusstseins, als Vorstellung im Sinne eines Akts, löst die Konzeptualisierung der Imagination als Vermögen ab. Es wird also nicht mehr als eine bestimmte menschliche Fähigkeit oder Ausstattung kategorisiert. Die Vorstellung bezeichnet Sartre als „Beziehung des Bewußtseins zum Objekt“ 14. Insofern ist das Imaginäre bei Sartre ein prozessualer Akt, mittels dessen sich das Bewusstsein in Beziehung zu seinen Objekten setzt. Sartre erläutert seine Phänomenologie der Vorstellung an einem Beispiel: „Peter“ wird zum Objekt des Bewusstseins, „wenn ich mir die Vorstellung von Peter hervorrufe“ 15. Das imaginäre Objekt der Vorstellung (Peter) ist dabei nicht mit der Vorstellung zu verwechseln. Im Bewusstsein entsteht ein Bild von Peter, die Vorstellung hingegen bezeichnet die Tätigkeit bzw. die Beziehung zwischen Bewusstsein und Peter. Sartre unterscheidet die Vorstellung von der Wahrnehmung. Die Vorstellung richtet sich, im Unterschied zur Wahrnehmung von vor-

 Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft [1940], aus dem Französischen von Hans Schöneberg, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 42. Vgl. zum Begriff des Imaginären bei Sartre auch: Herbert Mainusch, Rainer Warning, Imagination. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Bd. 4, Basel, Stuttgart 1976, S. 217–220. Vgl. auch das Kapitel Imaginäres als Vorstellungsakt (Sartre) bei Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 331–350. Sowie: Sigrid Leyssen, Sartres Bilderdenken. Ein alternativer Bildbegriff und seine Rolle in Sartres L’imaginaire. In: Simone Neuber, Roman Veressov (Hg.), Das Bild als Denkfigur. Funktionen des Bildbegriffs in der Geschichte der Philosophie, München 2010, S. 273–284.  Sartre, Das Imaginäre, S. 48. Zur Problematik der Übersetzung aus dem Französischen und zur spezifischen Begrifflichkeit bei Sartre vgl. Leyssen, Sartres Bilderdenken.  Sartre, Das Imaginäre, S. 43.

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handenen Objekten, auf Abwesendes (Peter in London) bzw. auf etwas nicht gegenständlich Gegebenes. Das imaginäre Objekt wird gesetzt „als nichtexistierend oder als abwesend oder als anderswo existierend oder aber nicht als existierend“ und enthält somit die „Kategorie der Negation“ 16. Nach Sartre ist das Setzen imaginärer Bilder damit zugleich das Setzen des Nichts. Denn die Vorstellung hebt die Abwesenheit nicht auf und schafft nicht das Nicht-Existierende, sondern stellt die Herausforderung dar, die Gleichzeitigkeit von NichtVorhandensein des Objekts und die vorgestellte Gegenwärtigkeit desselben zu denken. Wie daraus folgt, „ist der imaginative Akt zugleich konstituierend, isolierend und nichtend.“ 17 Die imaginäre Tätigkeit ermöglicht, die Welt als „synthetisches Gesamt“ 18 zu denken; dies jedoch nur aufgrund einer Distanzierung, die dieses Gesamt in die Abwesenheit rückt und somit nichtet: [Z]uallererst ist zu bedenken, daß die Welt als synthetische Totalität setzen und der Welt gegenüber ‚Abstand gewinnen‘ ein und derselbe Akt ist. So wird zum Beispiel der impressionistische Maler das Gesamt ‚Wald‘ oder ‚Seerosen‘ von der Vielzahl der kleinen Flecken, die er auf die Leinwand aufgetragen hat, lösen, gerade indem er einen hinreichenden Abstand zu seinem Gemälde einnimmt. […] Somit ist es ein und dasselbe, die Welt als Welt setzen oder sie ‚nichten‘.19

In der Phänomenologie Sartres ist das Imaginäre somit notwendige Voraussetzung, um überhaupt reflektierend auf etwas (die Objekte, die Welt, sich selbst) Bezug nehmen zu können, sich als Subjekt setzen zu können. Produktiv ist insbesondere das Denken des Imaginären als Tätigkeit des In-Beziehung-Tretens statt eines Vermögens. Dieser Aspekt wird von Jacques Lacan aufgegriffen und weiterentwickelt.

4 Subjektivierung als Handlung. Austragungsort: Spiegel-Stadion Das Imaginäre bezeichnet in der Psychoanalyse Jacques Lacans nicht einfach einen Bereich der Vorstellungen oder Einbildungen. Gemeinsam mit dem Symbolischen und dem Realen bildet es die Trias der Ordnungen und ist somit Bestandteil des zentralen Klassifikationssystems im Lacan’schen Denken. Trotz aller späteren Weiterentwicklungen und Fortschreibungen der Termini Lacans

   

Sartre, Sartre, Sartre, Sartre,

Das Das Das Das

Imaginäre, Imaginäre, Imaginäre, Imaginäre,

S. 284. S. 282. S. 287. S. 286 f.

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Das Imaginäre und das Image

bleibt der grundlegende Referenzpunkt für das Imaginäre das Spiegelstadium. Das Spiegelstadium, erstmals 1936 im Rahmen eines Vortrags vorgestellt, ist eines der frühen und bekanntesten Arbeitsthemen Lacans. Die 1949 veröffentlichte, überarbeitete Version des Spiegelstadium-Vortrags – die erste Fassung wurde nicht publiziert – veranschaulicht am Beispiel der frühkindlichen Entwicklung grundlegende Aspekte der Struktur von Subjektivität: das Paradigma des Imaginären. Lacan führt dazu das Spiegelexperiment 20 an, in dem ein Kleinkind zwischen sechs und 18 Monaten das Bild im Spiegel als sein eigenes erkennt und freudig annimmt. Wie Lacan in späteren Schriften und Seminaren immer wieder betont, geht es ihm statt um die bloße Beschreibung einer bestimmten menschlichen Entwicklungsphase vielmehr um die „exemplarische Funktion“ 21 des Spiegelstadiums. So ist im französischen Originaltitel, stade du miroir, und auch in der englischen Übersetzung, mirror stage, neben der Bedeutung von etwas zeitlich Abgeschlossenem zusätzlich die von etwas räumlich Begrenztem enthalten. Mit dem Stadium ist zugleich das Stadion angesprochen – als Austragungsort oder Bühnenraum eines sich beständig wiederholenden und unabschließbaren Akts der Identifikation, dem „Spiel des Imaginären“ 22. So verstanden ist das Spiegelstadium also keine Entwicklungsstation, sondern führt etwas vor – wie die Theaterbühne eine Handlung – und bringt es damit zur Anschauung. Demonstriert wird mit dem Spiegelstadium die ‚Handlung‘ der Subjektivierung, die identifizierende Dynamik, in der sich ein Subjekt bildet. Das heuristische Setting des Spiegelstadiums beschreibt das Kleinkind, das sich bisher „eingetaucht […] in motorische Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege“ 23 noch nicht differenziert und losgelöst von seiner Umwelt als eigen Zur Beschreibung des Spiegelexperiments – oder auch des Spiegeltests bzw. der -probe – vor Lacan macht Mikkel Borch-Jacobsen ausführliche Angaben: Mikkel Borch-Jacobsen, Lacan. Der absolute Herr und Meister, aus dem Französischen von Konrad Honsel, München 1999, S. 58–60. Siehe dazu auch den Eintrag „Spiegelstadium“ in: Dylan Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, aus dem Englischen von Gabriella Burkhart, Wien 2002, S. 277– 279.  Jacques Lacan, Die Topik des Imaginären, In: Jacques Lacan, Das Seminar von Jacques Lacan, Buch I (1953–1954): Freuds technische Schriften, aus dem Französischen von Werner Hamacher, hg. von Norbert Haas, Olten, Freiburg im Breisgau 1978, S. 95–184, S. 99: „Das Spiegelstadium, das habe ich oft unterstrichen, ist nicht einfach ein Moment in der Entwicklung. Es hat auch eine exemplarische Funktion, weil es bestimmte Beziehungen des Subjekts zu seinem Bild als dem Urbild des Ich enthüllt“.  Lacan, Topik des Imaginären, S. 109.  Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949. In: Jacques Lacan, Schriften I, ausgewählt und hg. von Norbert

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ständig wahrnimmt. Das Ich hat sich noch nicht gebildet. Der Spiegel wirft dem Kind ein Bild zurück, in dem es sich als Ganzes und Geschlossenes sieht. Erst durch das Erkennen des Spiegelbilds als das eigene Bild entwickelt – bildet – das Kind ein Ich. „[W]eit davon entfernt, seinem Bilde vorherzugehen, ist das Ich anfänglich außer sich, ek-statiert in sein(em) Bild. Der Doppelgänger ist also zuerst da.“ 24 Den aktiven, schöpferischen Aspekt dieses Vorgehens spricht Lacan an, wenn er das Bild im Spiegel als „Imago“ 25 bezeichnet und damit auf die imago dei verweist, das Bild Gottes, dem in der jüdischen und christlichen Vorstellung der Mensch nachgebildet ist. Das Kind, das vorher noch kein Subjekt ist, erschafft sich selbst nach seinem eigenen Bild: „Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen im vollen Sinne […]: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme des Bildes ausgelöste Verwandlung“ 26. Dieser solchermaßen als Metamorphose beschreibbare Ablauf ist jedoch damit nicht einfach abgeschlossen und beendet. Das Spiegelstadium als Paradigma, als Grundmuster des Imaginären strukturiert die menschliche Subjektivität, da das Ich, das hier gebildet wird, seinen prekären, prozessualen Status behält. Das Ich ist „auf einer fiktiven Linie situiert“ 27; das Erkennen des Bildes geht stets mit einem Verkennen der „Nichtigkeit des Bildes“ 28 einher, des illusorischen Charakters, der dem Kind entgegen seiner eigentlichen, hilflosen Situation ein Trugbild der Vollständigkeit vorspiegelt. Das Bild, das das Kind als das eigene erkennt, ist immer nur ein Ideal-Ich29, ein uneinlösbarer, „asymptotisch[er]“ 30 Entwurf der eigenen Ganzheit, nach dem stets gestrebt, der aber nie erreicht wird. Die „Gestalt“ 31 im Spiegel, das Bild des geschlossenen, stabilen Ichs ruft einen Widerspruch zur Erfahrung der eigenen körperlichen Unreife hervor, der zur Wahrnehmung des Körpers als einem „zerstückel-

Haas, aus dem Französischen von Rodolphe Gasché u. a., 3. korrigierte Aufl., Weinheim, Berlin 1991, S. 61–70, S. 64.  Borch-Jacobsen, Lacan, S. 58.  Lacan, Das Spiegelstadium, S. 64.  Lacan, Das Spiegelstadium, S. 64.  Lacan, Das Spiegelstadium, S. 64.  Lacan, Das Spiegelstadium, S. 63.  Lacan, Das Spiegelstadium, S. 64. Vgl. zum Begriff Ideal-Ich in Abgrenzung vom Ich-Ideal auch Jacques Lacan, Ich-Ideal und Ideal-Ich. In: Jacques Lacan, Das Seminar von Jacques Lacan, Buch I (1953–1954): Freuds technische Schriften, aus dem Französischen von Werner Hamacher, hg. von Norbert Haas, Olten, Freiburg im Breisgau 1978, S. 167–184. Sowie den Eintrag „Ich-Ideal“ in: Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, S. 139 f.  Lacan, Das Spiegelstadium, S 64.  Lacan, Das Spiegelstadium, S. 64.

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ten“ 32 führt. Dieses alptraumhafte Erleben des zerstückelten Körpers – Lacan nimmt hier illustrativ Bezug auf die Bilder von Hieronymus Bosch – führt wiederum zu einer verstärkten Bindung an das Bild im Spiegel. Das beruhigende, scheinbar stabile Ideal-Ich erfüllt damit die „orthopädische“ Funktion einer „wahnhaften Identität“ 33, indem sich das Kind mit dem Bild der eigenen Ganzheit identifiziert. Die Erfahrung des zerstückelten Körpers, der eigenen Unfertigkeit und Unzulänglichkeit, die unüberwindliche Nicht-Übereinstimmung mit dem Bild im Spiegel ist die Spaltung des Subjekts, der fundamentale Mangel, den das Kind in der Identifizierung mit seinem Bild beständig zu schließen versucht. Diese Spaltung bzw. dieser Mangel ist unüberwindlich, da sich das Ich immer nur durch die Identifizierung mit etwas ihm äußerlichen – einem anderen34 – bildet. Um zu einem Ich zu gelangen, muss das Kind in eine Beziehung treten.35 Identifizierung ist folglich immer schon dialogisch, intersubjektiv strukturiert. Die Ich-Bildung erfordert eine „Entfremdung“ 36. Die Dualität der Beziehung im Spiegelstadium als Subjektivierung weist darauf hin, dass Subjektivität niemals Identität ist. Die hier knapp skizzierten Abläufe des Spiegelstadiums lassen sich als die wesentlichen Merkmale des Imaginären beschreiben. Strukturell gelesen bildet das Spiegelstadium ein Modell für die imaginäre Ordnung. Das Imaginäre ist also genau die identifizierende Dynamik, die das Spiegelstadium illustriert. Dem Imaginären kommt in erster Linie der Aspekt der Identifikation zu. Wie anhand des Spiegelstadiums vorgeführt, ist Identifikation niemals abschließbar. Somit wird deutlich, dass ‚Identität‘ im Lacan’schen Denken keine erreichbare Kategorie ist. ‚Identität‘ ist eine Setzung bzw. etwas Vorgestelltes und damit stets prozessual aufzufassen. Dieser identifikatorische Prozess ist wesentlich durch Momente der Illusion, Verführung und Täuschung bestimmt: Wie die Modellsituation des Kindes vor dem Spiegel zeigt, ist Identifikation immer Identifikation mit einem anderen, einem Gegenüber, das als  Lacan, Das Spiegelstadium, S. 67.  Lacan, Das Spiegelstadium, S. 67.  Dieser andere (der kleine andere) ist hier das Spiegelbild als äußerliches Gegenüber. Im Unterschied dazu ist der große Andere der ‚ganz andere‘: Während der kleine andere als Projektion des Ichs und Instanz der Identifikation dem Imaginären angehört, ist der große Andere der symbolischen Ordnung eingeschrieben. Er ist sowohl das andere Subjekt als auch das Symbolische, das die intersubjektiven Beziehungen regelt. Vgl. dazu den Eintrag „andere/ Andere“ in: Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, S. 38–40.  Lacan, Das Spiegelstadium, S. 66: „Die Funktion des Spiegelstadiums erweist sich uns nun als ein Spezialfall der Funktion der Imago, die darin besteht, daß sie eine Beziehung herstellt zwischen dem Organismus und seiner Realität – oder, wie man zu sagen pflegt, zwischen der Innenwelt und der Umwelt.“  Lacan, Das Spiegelstadium, S. 68.

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vor-gestelltes37 Bild keinerlei Realitätsstatus hat. Die Bildung eines Ichs geht einher mit der grundlegenden Erfahrung, dass dieses Ich ein entfremdetes ist. Die Identifizierung mit dem stabilen Bild von Ich-Identität, das im Spiegel erscheint, ist untrennbar mit dem Zurückgeworfensein auf die eigene Unzulänglichkeit und damit dem Bewusstsein des eigenen Mangels verbunden: Das Subjekt ist nur als gespaltenes möglich. ‚Subjektivität‘ bezeichnet also genau dieses Paradox und ist damit immer schon geprägt durch das Begehren nach der unerreichbaren Ganzheit. Wenn dem Spiegelstadium die Funktion einer beispielhaften Illustration grundlegender psychischer Strukturen zukommt, folgt daraus, dass auch den darin angelegten Begehrensmustern eine über die Beispielsituation hinausgehende Gültigkeit zugesprochen werden kann. Das Begehren nach voller Identität, nach der Erfahrung eigener Einheit wird dann zur Grundstruktur jeglicher Identifikation.

4.1 Das Imaginäre, das Symbolische und das Reale Das Imaginäre, dessen Merkmale hier anhand des Spiegelstadiums skizziert wurden, ist in Lacans Psychoanalyse unlösbar verknotet mit den beiden anderen Registern des Psychischen, dem Symbolischen und dem Realen. Wie Lacan in seinen späteren Texten mit dem Schaubild des Borromäischen Knoten38 illustriert, durchdringen sich diese drei Ordnungen gegenseitig. Die Triade der Register ist nicht hierarchisch geordnet (– „es gibt keine Metasprache“ 39 –), sondern durch gegenseitige Abhängigkeit gekennzeichnet. Die drei Ordnungen können deshalb nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Was in der Rede von Registern, Ordnungen und topologischen Modellen wie dem Borromäischen Knoten zunächst sehr abstrakt und theoretisch anmutet, hat konkrete Folgen für das Verständnis und den Geltungsbereich des Imaginären. Die Funktionsweisen des Imaginären als Bereich der illusorischen Identifikation beschränken sich nicht auf individualpsychologische Aspekte, sondern sind

 Der Vor-Stellung kommt hier auch ein räumlicher Aspekt zu, vgl. Borch-Jacobsen, Lacan, S. 66–70. Auf diese räumliche Dimension des Imaginären geht Kapitel VI dieser Arbeit in der Auseinandersetzung mit Lacans Topik des Imaginären (VI.2) ausführlicher ein.  Vgl. Jacques Lacan, Fadenringe. In: Jacques Lacan, Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XX (1972–1973): Encore, hg. von Norbert Haas, Hans-Joachim Metzger, Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, aus dem Französischen von Norbert Haas u. a., Weinheim, Berlin 1986, S. 127–147. Vgl. dazu auch: Peter Widmer, Die Voraussetzung des Begehrens: Der Borromäische Knoten. In: Peter Widmer, Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Revolution der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1990, S. 145–157.  Lacan, Fadenringe, S. 127.

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immer auch überindividuell bzw. sozial zu verstehen. Denn die gegenseitige Durchdringung der drei Ordnungen bedeutet, dass das Imaginäre immer bereits durch das Symbolische strukturiert ist.40 Die symbolische Ordnung stellt bei Lacan, in Anlehnung an den Begriff der symbolischen Funktion von Claude Lévi-Strauss und das linguistische Modell von Ferdinand de Saussure, die soziale Matrix dar, deren überindividuellen Gesetzen und Regeln das Ich unterworfen ist. Subjektstatus ist nur innerhalb des Symbolischen in Abgrenzung und Kommunikation mit dem/der/den Anderen möglich. Dass das Symbolische in das Imaginäre ‚hineinragt‘, lässt sich wiederum an der Modellsituation Spiegelstadium zeigen. Die imaginäre Beziehung zwischen Kind und Bild ist dual. Diese Dualität ist zum einen durch Aufeinanderbezogenheit bestimmt, da das Kind sich im Bild zu erkennen sucht. Das Erkennen kippt jedoch unweigerlich ins Verkennen, denn trotz aller Ähnlichkeit bleibt das Bild ein Gegenüber, ein äußerliches Ideal-Ich, mit dem es keine Identität gibt. Die Bewegung des Imaginären zielt also immer darauf, die Differenz zu verdecken – gerade deshalb ist sie ihr jedoch unabänderlich eingeschrieben. Die Differenz, das Merkmal des Symbolischen, wirkt auch im Imaginären. So wird das Erkennen des Bildes körpersprachlich ausgehandelt, erfolgt also über die Kommunikation.41 Die sprachliche Differenzstruktur des Symbolischen durchzieht auch das Imaginäre. Das Bild für die Funktionsweise des Symbolischen ist die Signifikantenkette, deren unaufhörliche Bewegung eine Verschiebung verursacht, in der Bedeutung metonymisch organisiert ist. Solchermaßen ist das Subjekt einem ständigen Begehren nach der Präsenz von Bedeutung ausgesetzt, das jedoch nicht erfüllbar ist. Im Spiegelstadium und so auch im Imaginären korrespondiert damit die Bezogenheit des Ichs auf das Bild im Spiegel, die das Begehren nach der eigenen Ganzheit und im selben Moment dessen Unerreichbarkeit ins Leben ruft. Zugleich hat das Imaginäre beständigen Anteil am Symbolischen, wenn das Subjekt, das im Symbolischen ‚ich‘ sagt 42, diese Selbstbehauptung stets nur auf der Grundlage der imaginären Ichbildung, der Beziehungsnahme auf das Spiegel-Ich vollziehen kann. Diese Verschränkung von Imaginärem und Symbolischen verweist wiederum darauf, dass den imagi-

 Vgl. den Eintrag „imaginär/das Imaginäre“, in: Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, S. 146–148, S. 147.  Vgl. Lacan, Das Spiegelstadium, S. 63: „Dieser Akt erschöpft sich nicht, wie beim Affen, im ein für allemal erlernten Wissen von der Nichtigkeit des Bildes, sondern löst beim Kind sofort eine Reihe von Gesten aus, mit deren Hilfe es spielerisch die Beziehung der vom Bild aufgenommenen Bewegungen zur gespiegelten Umgebung und das Verhältnis dieses ganzen virtuellen Komplexes zur Realität untersucht, die es verdoppelt […].“  „Das ich ist nicht ein Sein, es ist ein Unterstelltes dem, das spricht.“ Lacan, Fadenringe, S. 129.

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nären Abläufen ein wesentlicher Anteil auch an sozialen Identifikationsprozessen zukommt und sich soziokulturelle Zusammenhänge nicht einfach auf das Symbolische beschränken lassen. Folgern lässt sich daraus, dass die mit dem Imaginären beschriebene Dynamik auch für überindividuelle Prozesse gilt, etwa für die Bildung von Gemeinschaften.

5 Das Reale des Imaginären Anschlussstellen, um den Begriff des Imaginären als Konzept für die Beschreibung von Gemeinschaftsbildungsprozessen weiterzuentwickeln, bieten die Arbeiten von Slavoj Žižek. Žižek unternimmt aktualisierende Lektüren von Lacans Texten, dessen psychoanalytische Theorie er nicht klinisch, sondern strukturell liest, mit Positionen der politischen Philosophie und poststrukturalistischen Theorie in einen Dialog führt, auf populärkulturelle wie gesellschaftlich-politische Phänomene überträgt und dadurch zugleich zu veranschaulichen sucht.43 Dabei legt Žižek keine ausdrückliche Profilierung eines Begriffs des Imaginären vor. Seine Lacan-Lektüren betonen den dezentrierten, prekären Status des Subjekts und öffnen diese identitätskritische Auffassung dabei für das Denken von Gemeinschaften.44 Deshalb bieten sie sich an, für die weitere Bestimmung des Begriffs des Imaginären den Blick auf Lacans Texte zu lenken.

 Zu Slavoj Žižek und seiner Arbeit siehe: Rex Butler, Slavoj Žižek zur Einführung, aus dem Englischen von Bettina Engels, Hamburg 2006; Jacob Torfing, New Theories of Discourse. Laclau, Mouffe, Žižek, Oxford 1999; Erik M. Vogt, Hugh Silverman (Hg.), Über Žižek. Perspektiven und Kritiken. Mit einem Beitrag von Slavoj Žižek, übersetzt u. mit einem Einleitungstext versehen von Erik M. Vogt, Wien 2004.  Nach einem kollektiven Imaginären, also nach der Funktion des Imaginären für Gemeinschaften fragt auch Christina von Braun in ihrer groß angelegten kulturwissenschaftlichen Studie Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich 2001. Auch ihr Begriff des Imaginären lehnt sich an die psychoanalytischen Konzepte an. Es geht von Braun um das gegenseitige Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft und die Rolle der medialen Bedingungen, die dieses Wechselverhältnis bestimmen. Die gleiche Struktur, die der Bildung des Ichs zugrunde liegt, lässt sich nach von Braun auch für die Bildung des Kollektivkörpers als imaginären Entwurf einer sich als Gemeinschaft imaginierenden Gruppe von Individuen annehmen. Das kollektive Imaginäre bei von Braun ist die eine Gemeinschaft stiftende Bilderwelt, die vorgibt, kein Bild/kein Entwurf zu sein, sondern sich selbst als Wirklichkeit behauptet. Die Abgrenzung zum Symbolischen wird dabei nicht ganz deutlich, da das kollektive Imaginäre aus der symbolischen Ordnung hervorgehe und auf ihr basiere (vgl. S. 551), sich aus konkreten Entwürfen und Leitbildern zusammensetze und wie eine Schrift entschlüsselt, gelesen und entziffert werden könne (vgl. S. 287). Die konkreten Bilder (Selbst- und Idealentwürfe), als welche von Braun das Imaginäre fasst, scheinen eher dem Symbolischen bzw. dem symbolischen Imaginären (im Lacan’schen Sinne) anzugehören. Der Begriff des kollektiven Imaginä-

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Während viele Vertreter der einschlägigen deutschsprachigen Sekundärliteratur zu Lacans Psychoanalyse den Schwerpunkt auf das Symbolische und das Imaginäre legen45, rückt Žižek ‚das Dritte im Bunde‘, die Ordnung des Realen, in den Fokus. In diesem Unterkapitel umreiße ich die Begriffe des Realen und des Objekt klein a, nicht nur, weil diese in Žižeks Lacan-Rezeption zentral sind, sondern insbesondere da sie für das Verständnis des Phantasmas notwendig sind. Das Phantasma wiederum, um das es in den folgenden zwei Abschnitten gehen wird, betont bestimmte Aspekte des Imaginären, die den Zusammenhang von Image und Imaginärem verdeutlichen. Mit seinem Begriff des Realen bezieht sich Žižek auf den ‚späten Lacan‘. Dabei macht er deutlich, dass das Reale in den späteren Texten Lacans mit Merkmalen charakterisiert wird, die in den 50er Jahren noch dem Imaginären zugeschrieben wurden.46 Auf diese Weise wird zum einen die Flexibilität der Lacan’schen Begriffe betont sowie ihre enge Verwandtschaft untereinander, die nicht nur in ihrer beständigen Weiterentwicklung begründet liegt, sondern sich notwendigerweise aus ihrer gegenseitigen Abhängigkeit ergibt. „Die gesamte Triade spiegelt sich selbst in jedem ihrer drei Elemente.“ 47 Insofern bedeutet Žižeks bevorzugte Beschäftigung mit dem Realen auch keine Abgrenzung oder Stellungnahme gegen die anderen beiden Ordnungen. Vielmehr führt sie dazu, dass bestimmte Aspekte der psychischen Struktur, also aller drei Ordnungen gemeinsam, in den Fokus rücken, die sonst in dieser Weise nicht in den Blick kommen. Das Reale ist trotz der begrifflichen Ähnlichkeit nicht mit ‚der Realität‘ zu verwechseln. Bei Lacan ist das Reale durch Unmöglichkeit gekennzeichnet; als ren als Bilderregister bei von Braun lässt gerade die Dynamik außer Acht, die das Imaginäre eines strenger an Lacan orientierten Begriffs zu fassen erlaubt.  Vgl. z. B. Hermann Lang, Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1986; Gerda Pagel, Jacques Lacan zur Einführung, 4. verbesserte Aufl., Hamburg 2002; Widmer, Subversion des Begehrens.  Slavoj Žižek, The Sublime Object of Ideology, London, New York 1989, S. 162: „[T]his is just one side of the Lacanian Real; it is the side which predominates in the fifties when we have the Real – the brute, presymbolic reality which always returns to its place – then the symbolic order which structures our perception of reality, and finally the Imaginary, the level of illusory entities whose consistency is the effect of a kind of mirror-play – that is, they have no real existence but are a mere structural effect. With the development of Lacanian teaching in the sixties and seventies, what he calls ‚the Real‘ approaches more and more what he called, in the fifties, the Imaginary.” Zur unterschiedlichen Verwendung des Begriffs des Realen bei Lacan im Laufe seiner Arbeit siehe auch: Slavoj Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker. Lacans Rückkehr zu Hegel, übersetzt von Isolde Charim, Wien, Berlin, 1991, S. 80 f. Sowie: Slavoj Žižek, Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider, Frankfurt a.M. 2005, S. 141 f.  Žižek, Körperlose Organe, S. 142.

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„das, was unmöglich imaginiert oder in die symbolische Ordnung integriert werden kann, und jedenfalls nicht zu erlangen ist“ 48. In dieser Eigenschaft ist es mit dem Trauma verwandt. Žižek erläutert das Reale als Abfall des Prozesses der Symbolisierung, der Überschuß, der Rest, der der Symbolisierung entgeht und der als solcher von ihr selbst produziert wird […]. Zugleich ist das Reale das Leere, das Loch im Herzen des Symbolischen, der zentrale Mangel, um welchen herum sich das Symbolische strukturiert. Als vorausgesetzter Ausgangspunkt ist das Reale die positive Fülle ohne Mangel; als Produkt ist es das vom Symbolischen umschlossene Leere.49

Wenn die ‚Wirklichkeit‘, in der das imaginär gebildete Ich mit dem In-Beziehung-Treten Subjektstatus erlangt, durch das Symbolische normativ und sprachlich geordnet ist, dann ist das Reale der Rest, der dem Netz von Bedeutungen und Relationen beständig entgeht. Damit geht von dem Realen eine traumatische Bedrohung aus. Indem Žižek das Reale betont, kommt in den Blick, dass es immer einen ‚Überschuss‘ gibt, der sich nicht einfügt, der sich nicht begreifen lässt und der das Subjekt umtreibt, antreibt und zugleich in Frage stellt. Als Leerstelle, der die positive Existenz fehlt, lässt sich das Reale nicht in den Griff bekommen: „[S]ie erträgt die ‚Realitätsprüfung‘ nicht, was sie aber nicht hindert, eine Vielzahl von Eigenschaften zu haben, welche an ihren Effekten im symbolischen Universum des Subjekts erkennbar sind“ 50. Da das Reale an den anderen Registern der Triade Anteil hat und alle drei gemeinsam die Struktur jeglicher Subjektivität ergeben, gibt es kein Entkommen. Die psychische Struktur, das Subjekt ist nicht nur bestimmt durch seine Relation zum imaginären anderen im Spiegel und dem Anderen der symbolischen Ordnung, sondern ebenso durch die irritierende Anwesenheit eines unerreichbaren Unmöglichen, eines Risses, „der nicht symbolisiert werden kann“ 51 und somit nicht zu benennen ist. Dieser Riss – das Reale – ist es, was die „volle Realisierung“ 52 des Subjekts, seine Identität, verhindert. Die gegenseitige Abhängigkeit und Durchdringung der drei Ordnungen der Psyche wird so wiederum deutlich. Das Reale hat immer schon Anteil am Imaginären, da dieses hier in der grundsätzlichen Lücke zwischen Subjekt und Bild, mit dem es sich identifiziert, anwesend ist. Im Symbolischen findet es sich als Erkenntnis des Mangels im Anderen, der das Subjekt wiederum auf den eigenen Mangel, die  Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, S. 251.  Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker, S. 73.  Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker, S. 75.  Slavoj Žižek, Jenseits der Diskursanalyse. In: Marchart, Das Undarstellbare der Politik, S. 123–131, S. 123.  Žižek, Jenseits der Diskursanalyse, S. 129.

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eigene Nicht-Identität, zurückverweist. Das Reale wird damit zu dem paradoxen Versprechen einer vollen Identität und ihrer gleichzeitigen Unmöglichkeit. Diese Nicht-Identiät mit dem anderen und die differenzielle Struktur des Symbolischen bedingen die Unmöglichkeit des Genießens, der jouissance. Das Genießen ist der Zustand der vollen Identität. In der jouissance wäre das Begehren erfüllt; die ewige Bewegung, die immer hinterher hinkt, zum Ziel gekommen. Dieses ‚Ziel‘ ist jedoch nicht existent und damit zwangsläufig nicht erreichbar. Grund, also Anstoß, des Begehrens ist das Ding bzw. das Objekt klein a.53 Objekt klein a ist das ‚verlorene Objekt‘. Das a als Zeichen für den kleinen anderen (bzw. autre), den anderen im Spiegel, markiert, dass das Objekt klein a dem Imaginären angehört, insofern als die Identifikation des Subjekts in Relation mit dem Bild des anderen (der kein anderer ist: der andere im Spiegel) dieser Ordnung zuzuzählen ist. Žižek folgt jedoch wiederum insbesondere dem ‚späteren Lacan‘, der das Objekt klein a vermehrt dem Register des Realen zurechnet. Žižeks Definitionen des Objekts klein a ähneln stellenweise verblüffend seinen Ausführungen zum Realen: Das Objekt a ist zugleich reiner Schein, ein schimäres Wesen ‚ohne Substanz‘, die zerbrechliche Positivierung eines Nichts und harter, realer Kern, der Fels, an dem die Symbolisierung scheitert.54

Das Objekt klein a ist das, was dem Subjekt fehlt; sein „‚pathologischer‘ Makel“ 55, der es daran hindert, ‚ganz‘ zu sein und jene Geschlossenheit und Idealität zu erreichen, die ihm das Bild im Spiegel zurückwirft. Dieses Fehlende ist also bedingt durch den Objektstatus des anderen, den Umstand, das der andere im Spiegel dem Kind vor dem Spiegel immer äußerlich bleiben muss, a (der andere) immer Objekt bleibt. Damit ist das Objekt klein a durch eine „Doppeldeutigkeit“ charakterisiert, ein „Flottieren zwischen einer imaginären Kontinuität und einer realen Trennung“ 56. Lacan bezeichnet es als „Schein von Sein“ und als solches als „die Stütze des Seins“ 57, insofern, als sich das Subjekt immer nur über ein trügerisches Bild konstituiert.

 In seinen früheren Arbeiten verwendet Lacan noch vermehrt den Begriff Ding, in den späteren Texten überwiegt der Ausdruck Objekt klein a (objet petit a). Vgl. dazu Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, S. 76–78, S. 205 f.  Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker, S. 25.  Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker, S. 176.  Borch-Jacobsen, Lacan, S. 255.  Jacques Lacan, Das Wissen und die Wahrheit. In: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XX (1972–1973): Encore, in deutscher Sprache hg. von Norbert Haas, Hans-Joachim Metzger, Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übersetzt von Norbert Haas u. a., Weinheim, Berlin 1986, S. 97–111, S. 102.

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„Das Begehren beim Menschen ist das Begehren des Anderen“ 58. – Wenn sich das Begehren also stets darauf richtet, zum Objekt des Begehrens des Anderen zu werden, dann ist das Fehlen von Objekt klein a das, was dieses Begehrt-Werden verhindert. Zugleich muss das Subjekt den Anderen ebenfalls als durch den Mangel gekennzeichnet erkennen. Die Spaltung des Anderen konfrontiert das Subjekt erneut mit dem eigenen Mangel, dem Fehlen von Objekt klein a, was wiederum dazu führt, dass die aufschiebende Bewegung des Begehrens nicht zum Halten kommt.

5.1 Die imaginäre Funktion des Phantasmas Das Phantasma, ein Begriff den Žižek wiederum von Lacan aufgreift, ist eine Art Schutz oder Abwehr gegen das bedrohliche Reale und lässt sich als eine spezifische Funktion des Imaginären beschreiben. Diese Rolle, die das Phantasma für die identifizierende Dynamik des Imaginären spielt, möchte ich im Folgenden betrachten und damit die Anschlussstelle zwischen dem Imaginärem und dem Image beschreiben. Die Kluft, die sich durch das nicht einholbare Begehren auftut; der Mangel, der das Reale als abgründige Bedrohung stets präsent hält, wird geblockt durch das Phantasma: Das Phantasma verdeckt die Tatsache, daß der Andere, die symbolische Ordnung, um eine traumatische Unmöglichkeit herum strukturiert ist, um etwas, das nicht symbolisiert, ‚gezähmt‘ werden kann, das heißt das Reale des Genießens. Durch das Phantasma wird das Genießen ‚domestiziert‘.59

Der Mangel im Anderen – also die Lücke im Symbolischen – wird mit dem Phantasma abgewehrt, in dem das Begehren einlösbar erscheint: „[I]m Phantasma imaginiert sich das Subjekt als das Objekt, welches das Begehren des Anderen erfüllen könnte“ 60. Das Phantasma bannt das Begehren und ist zugleich konstitutiv für das Begehren. Diese scheinbar paradoxe Struktur ordnet das Phantasma dem Imaginären zu. Das Phantasma als imaginäre Funktion hilft, das bedrohliche Aufscheinen des Realen im Symbolischen zu verdecken. In diesem Sinne erfüllt es die Aufgabe eines Schirms. Zugleich steckt das

 Jacques Lacan, Vom Subjekt das wissen soll, von der ersten Dyade, vom Guten. In: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI (1964): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, übersetzt von Norbert Haas, Olten u. Freiburg im Breisgau 1978, S. 242–256, S. 247.  Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker, S. 204.  Borch-Jacobsen, Lacan, S. 254.

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Phantasma (das fundamentale Phantasma) den Rahmen für unser Begehren ab: Objekt des Begehrens kann nur sein, wer oder was „den Rahmen des Phantasmas betritt“ 61. Solchermaßen geht es hier wiederum um eine Bildfunktion, die konstitutiv für die Subjektivität und Wahrnehmung von ‚Realität‘ ist. „Das Phantasma ist […] im wesentlichen räumlich und visuell […] Und das Sehen wiederum ist vorzugsweise der Bereich des Imaginären.“ 62 Als vorgestellte Szene ist das Phantasma Schauplatz des Begehrens.63 Diese Begrifflichkeit zeigt bereits, dass das Phantasma dem Imaginären angehört. Žižek bezeichnet das Phantasma auch als „imaginäres Szenario“ 64. Deutlicher wird dieser imaginäre Bezug, stellt man sich den Schirm des Phantasmas zugleich als Bildschirm, als Leinwand vor. Das Phantasma als Maske für das bedrohliche Begehren ist damit konstitutiv für die Wahrnehmung und bestimmt das Setting, in dem sich das Subjekt verortet: „[D]as Phantasma […] stellt den Rahmen dar, in welchem wir die Welt als beständige und sinnvolle wahrnehmen“ 65. Es ist ein Entwurf, eine Illusion, die die Möglichkeit zur Handlungsfähigkeit gibt. Dieser Entwurf bleibt jedoch immer bildhaft – in ihm kann man niemals dem ‚Eigentlichen‘, der ‚wahren Wirklichkeit‘ habhaft werden. Der Zugang zur ‚Wirklichkeit‘ ist somit immer ein imaginärer: Die Subjektivation erfolgt mittels des Bildes im Spiegel und die ständige Bedrohung der Subjektivität durch das Begehren und seinen ewigen Verweis auf den Mangel muss mittels eines phantasmatischen Bild-Schirms ausgeblendet werden. Als Schutz- oder Bild-Schirm überspannt das Phantasma die Kluft des Realen oder – um das Modell des Spiegelstadiums zu bemühen – es überdeckt die Differenz zwischen Ich und seinem Spiegelbild. Als starrer Schirm gibt es vor, die identifizierende Dynamik stillzustellen und zu schließen – selbstverständlich ohne dies tatsächlich leisten zu können. Das Phantasma ist dann eine der Bildfunktionen des Imaginären und ist mit der des Images, wie ich es herausarbeiten möchte, verwandt. Wenn das Phantasma der Bildschirm ist, der aufgespannt wird, um den Mangel zu verdecken und eine imaginäre Schließung vorzugeben, dann sind die Images die Bilder, die auf diesen Schirm projiziert werden.

 Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker, S. 199.  Borch-Jacobsen, Lacan, S. 258.  Vgl. Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, S. 228–231.  Žižek, Jenseits der Diskursanalyse, S. 129. Ebenso: Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker, S. 193.  Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker, S. 203.

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5.2 Soziales Phantasma Žižek greift vielfach Aspekte des Lacan’schen Denkens auf, die in dieser Weise an anderer Stelle in der Forschung zu Lacan kaum Beachtung gefunden haben. Er denkt diese weiter und führt sie in einen Dialog mit anderen philosophischen und politischen Theorien. Hierbei wird deutlich, dass sich Lacans Auffassung des Subjekts als gespaltenes, unabgeschlossenes auch für die Beschreibung überindividueller Subjekte eignet und dass hier die gleichen Mechanismen zu beobachten sind. Žižek schließt mit seinen ideologiekritischen Thesen insbesondere an die Postmarxisten Ernesto Laclau und Chantal Mouffe und ihre Arbeit Hegemonie und radikale Demokratie66 an und fordert zu einem Weiterdenken ihrer Positionen auf. Laclau und Mouffe unternehmen mit Hegemonie und radikale Demokratie eine Übertragung poststrukturalistischer bzw. dekonstruktivistischer Ansätze auf politische Zusammenhänge. Dabei geht es, stark verkürzt gesagt, um die Verabschiedung essentialistischer Sichtweisen von Gesellschaft. Laclau und Mouffe fordern einen Verzicht „auf die Konzeption der ‚Gesellschaft‘ als fundierende Totalität ihrer Teilprozesse“ 67. Der Begriff der Gesellschaft, von dem sie sich abgrenzen, impliziere eine nicht existierende und nicht zu verwirklichende Einheit, mit der vergeblich versucht würde, „das Feld der Differenzen zu zähmen“ 68. Dieser von einer Essentialität und Einheitlichkeit von Gesellschaft ausgehenden Denkweise stellen sie die „Offenheit des Sozialen“ 69 gegenüber. Laclau und Mouffe sehen das Soziale nicht als stabile Entität, sondern als relationales System von Differenzen, das sich durch Artikulation bzw. artikulatorische Praxis – hier schließen Laclau und Mouffe an Louis Althusser an – organisiert.70 Hegemonie und radikale Demokratie sagt aus, so lässt es sich pointieren, dass ‚es Gesellschaft nicht gibt‘, konstatiert also die „Unmöglichkeit des Objekts ‚Gesellschaft‘ als einer rational einheitlichen Totalität“ 71, und zielt darauf ab, dass kollektive Identität immer nur als momenthafte  Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus [1985], aus dem Englischen von Michael Hintz, Gerd Vorwallner, 3. Aufl., Wien 2006. Vgl. zur Einführung: Urs Stäheli, Die politische Theorie der Hegemonie: Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. In: André Brodocz, Gary S. Schaal (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart. Eine Einführung, Bd. 2, Opladen 2001, S. 193–223. Sowie: Philipp Sarasin, Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Konzept der ‚imagined communities‘. In: Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, S. 150–176.  Laclau, Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 130.  Laclau, Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 130.  Laclau, Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 130.  Vgl. Laclau, Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 127 f.  Laclau, Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 135.

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Selbstbeschreibung gedacht werden kann. Für die Konzeptionalisierung dieser temporären, relationalen und somit prekären Identitäten greifen Laclau und Mouffe auf einen Terminus von Lacan zurück. Die kurzfristigen Fixierungen bezeichnen sie als Knotenpunkte, als points de capiton.72 Laclau und Mouffe gehen davon aus, dass das Soziale als differenziell organisiertes Feld endgültige Bedeutungen und Identitäten verunmöglicht. Die Knotenpunkte stellen dann „jene Positionen [dar], die Aussagen möglich machen“ 73 und die jene Unterscheidungen markieren, die die Differenzstruktur hervorbringt. Mit diesen differenziellen Positionen, die ein – wenn auch immer nur vorübergehendes – Identifizieren möglich machen, korrespondiert eine Grenzziehung nach Außen, die ebenfalls dazu beiträgt, dass das Soziale gedacht, ‚erfahren‘74 werden kann. Da das Soziale diskursiv strukturiert ist und nicht im Sinne einer „endgültigen Naht“ 75 geschlossen werden kann, konstituiert es sich in der Abgrenzung von einem anderen; über den Antagonismus. Soziale Identität, die grundsätzlich instabil und durch Differenz gekennzeichnet ist, entsteht, indem eine ‚übergeordnete Differenz‘ gesetzt wird, mit der eine Grenze gezogen wird, die ein ‚Außen‘ markiert und damit ein ‚Innen‘ erfindet: die Beziehung zum Außen löscht die interne Differenz und lässt das ‚Innen‘ als ganz erscheinen.76 Žižek betont eine „Homologie zwischen dem Laclau-Mouffschen Konzept des Antagonismus und dem lacanianischen Konzept des Realen“ 77. Er kritisiert Laclaus und Mouffes auf der Idee der Knotenpunkte gründenden Subjektbegriff, da hier von der, wenn auch temporären, Annahme von ‚Subjektpositionen‘ ausgegangen werde.78 Stattdessen konstatiert Žižek ‚streng nach Lacan‘: „[D]as Subjekt ist der Punkt des Scheiterns von Subjektivierung“ 79. Insofern geht der Subjektbegriff von Laclau/Mouffe für Žižek noch nicht weit genug. Žižek stimmt ihnen darin zu, dass das soziale Feld „um eine bestimmte traumatische Unmöglichkeit herum strukturiert ist, um einen bestimmten Riß, der nicht symbolisiert werden kann“ 80. Er schlägt jedoch vor, Laclaus und Mouffes Antagonismus-Konzept zu erweitern bzw. zu radikalisieren, indem es stärker  Vgl. Laclau, Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 150.  Laclau, Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 150.  Vgl. Laclau, Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 166.  Laclau, Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 165.  Vgl. Sarasin, Die Wirklichkeit der Fiktion, S. 170.  Žižek, Jenseits der Diskursanalyse, S. 124.  Vgl. Žižek, Jenseits der Diskursanalyse, S. 124 f.  Žižek, Jenseits der Diskursanalyse, S. 129. Laclau reagiert auf diese Kritik und nimmt in späteren Texten expliziter Bezug auf den Lacan’schen Subjektbegriff. Vgl. etwa Ernesto Laclau, Lilian Zac, Minding the Gap: The Subject of Politics. In: Ernesto Laclau (Hg.), The Making of Political Identities, London, New York 1994, S. 11–39.  Žižek, Jenseits der Diskursanalyse, S. 123.

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mit Lacans Begriffen zusammen gedacht wird. Daraus folgt für Žižek, dass dem Antagonismus weniger ein gleichmachender Effekt zugesprochen werden kann, der soziale Identität über die Abgrenzung zu einem Außen bzw. Anderen konstituiert, sondern, dass diese Identität immer schon „in sich selbst blockiert“ 81 ist. Dann ist der Antagonismus nicht nur etwas, das Identität konstituiert, sondern auch dasjenige, was diese zugleich grundsätzlich bedroht bzw. ausstreicht: Der Antagonismus, die Nicht-Identität mit dem Außen verweist zurück auf die eigene Nicht-Identität, die grundsätzliche Gespaltenheit des Subjekts wie des Sozialen. In dieser Weise ist der Antagonismus strukturell vergleichbar mit dem Realen. Daraus, „daß jeder Identifizierungsprozeß, der uns eine fixierte sozio-symbolische Identität verleiht, letztlich zum Scheitern verurteilt ist“ 82, dass also Subjektivität auch nicht als momenthafte Subjektposition realisierbar ist, folgt für Žižek, dass wir Identität immer nur als Maskierung der Unbeständigkeit und Unmöglichkeit erfahren können. Diese Maskierung geschieht wiederum durch das „realitätskonstituierende Phantasma“ 83: Phantasma muß dann als ein imaginäres Szenario verstanden werden, dessen Funktion es ist, eine Art positive Stütze bereitzustellen, die die konstitutive Leere des Subjekts ausfüllt. Dasselbe gilt mutatis mutandis für das soziale Phantasma: es ist ein notwendiges Gegenstück zum Konzept des Antagonismus, ein Szenario, das die Leerstellen der sozialen Struktur ausfüllt, deren konstitutiven Antagonismus mit der Fülle des Genießens […] maskiert.84

Wie im Individualpsychischen ist es also die imaginäre Funktion des Phantasmas, die ein soziales bzw. kollektives Subjekt entwirft und den ‚Rahmen der Realität‘ bereitstellt, insofern als „das Phantasma die Konsistenz eines sozioideologischen Gebäudes garantiert“ 85. Žižek zeigt hier, dass sich das Soziale – folgt man dem Modell – als durch die gleichen Mechanismen und Begehrensmuster strukturiert denken lässt, wie es die Psychoanalyse für die Psyche beschreibt. Das, was im sozialen Phantasma entworfen und als imaginäre Identifikation angeboten wird, ist das gleiche Bild einer geschlossenen Ganzheit, eines Ideal-Ichs, mit dem bereits in Lacans Modellsituation das Kind vor dem Spiegel im Dialog steht: der „Gesellschaftskörper“ als „Phantasie-Bild der Gesellschaft als eines konsistenten, harmonischen Ganzen“ 86. Die psychoana Žižek, Jenseits der Diskursanalyse, S. 126.  Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker, S. 205.  Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker, S. 176.  Žižek, Jenseits der Diskursanalyse, S. 129.  Slavoj Žižek, Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, hg. u. mit einem Nachwort versehen von Michael Wetzel, aus dem Englischen von Isolde Charim u. a., Köln 1993, S. 98.  Žižek, Grimassen des Realen, S. 99.

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lytischen Konzeptionen bieten damit heuristische Modelle an, mit denen sich auch Kollektive als Subjekte im Hinblick auf die ihrer Bildung zugrunde liegenden Begehrensstrukturen analysieren lassen.

5.3 Soziales Phantasma und das nationale Imaginäre Mit Žižeks Begriff vom sozialen Phantasma lässt sich deutlich machen, dass auch politische, kollektive Identifizierungen – und nicht nur die individualpsychische Subjektbildung – durch das Imaginäre organisiert sind. ‚Identitäten‘ sind dann auch im Hinblick auf kollektive Subjekte nur als „phantasmatische Versprechen“ oder „phantasmatische Orte, unmögliche Orte“ 87 denkbar, die aufgrund ihrer imaginären Struktur die unvermeidbare Enttäuschung bereits in sich tragen. Die Behauptung des phantasmatischen Charakters von Identität ist dabei kein schlichtes Durchstreichen jeglicher Positivität, sondern birgt ein produktives politisches Potential, das Judith Butler in ihrer Diskussion der Thesen Žižeks als „offen haltende und performative Funktion“ 88 fasst: Politische Signifikanten, und speziell diejenigen, die Subjektpositionen bezeichnen, sind nicht deskriptiv; sie repräsentieren also keine vorgegebenen konstitutiven Personenkreise, sondern sie sind leere Zeichen, die dann phantasmatische Investitionen unterschiedlichster Art tragen. […] Paradoxerweise ist das Versagen solcher Signifikanten, denjenigen konstitutiven Personenkreis vollständig zu beschreiben, den sie benennen […], genau das, was diese Signifikanten zu Orten phantasmatischer Investition und diskursiver Neuartikulation macht. Dies hält die Signifikanten für neue Bedeutungen und neue Möglichkeiten politischer Resignifikation offen.89

Über die konkreten praktischen und politischen Implikationen hinaus erscheint es mir relevant, dass mit dem Verständnis der Verfasstheit sozialer Identität und ihrer Mechanismen deutlich wird, dass daran nicht nur die hergebrachten politischen Diskurse beteiligt sind, sondern mit der Betonung des imaginären Charakters zudem andere gesellschaftliche und ästhetische Felder in den Blick rücken und in ihrer Wirkmächtigkeit gesehen werden können. Genau diese Beteiligung etwa von Literatur und Film fokussiert diese Arbeit. Die imaginäre Dynamik der Identifizierung, die hier beschrieben wird, lässt sich also, das machen Butlers Anmerkungen zum politischen Potential

 Judith Butler, Sich mit dem Realen anlegen. In: Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann, Frankfurt a.M. 1997, S. 257–303, S. 260.  Butler, Sich mit dem Realen anlegen, S. 264.  Butler, Sich mit dem Realen anlegen, S. 264.

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ihrer performativen Funktion deutlich, nicht nur im Hinblick auf einzelne, sondern auch in Bezug auf kollektive Subjekte analysieren. Mit Žižeks Aufsatz Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ‚Dings‘90 liegt eine Übertragung seiner Überlegungen zur Subjektbildung auf die Nation bzw. Prozesse nationaler Identifikation vor. Da in diesem Aufsatz Žižeks das Subjekt, dessen identifizierende Dynamik untersucht wird, als Nation gefasst wird bzw. sich als Nation entwirft, möchte ich die Thesen dieses Textes im Folgenden kurz skizzieren. Anlass für diese Auseinandersetzung mit dem Nationalen bei Žižek ist die politische Situation der frühen 1990er Jahre, in denen nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Osteuropa nationalistische und rassistische Ausbrüche für Unruhe sorgten. Für die Erklärung dieser gesellschaftspolitischen Ereignisse schlägt Žižek ein Überdenken nationaler Identifizierung mittels der Psychoanalyse vor.91 Žižek betont, dass „[d]as Element, das ein gegebenes Gemeinwesen zusammenhält, […] nicht auf den Aspekt symbolischer Identifizierung reduziert werden“ 92 kann. Die Betrachtung kollektiver Identifizierung muss folglich alle drei Register, das Symbolische, das Imaginäre und das Reale, gleichermaßen berücksichtigen. Deutlich wird dies in der Definition nationaler Identifizierung als „eine Beziehung zur Nation als Ding“ 93. Dieses Ding scheint sich an jenes Lacan’sche Ding anzulehnen, das in Lacans späteren Schriften als Objekt klein a konzeptionalisiert wird 94 – das immer schon verlorene Objekt, das sich, aufgrund seines Verlustes, nicht klar benennen und umreißen lässt, das jedoch mit seinem Nicht-Dasein den Mangel im Subjekt auslöst und somit der Anstoß für das Begehren ist. Žižeks nationales Ding scheint eine Art Verwandter oder Wiedergänger dieses individual-subjektiven Dings zu sein. Charakterisiert ist es durch seine „semantische Leere“, die es unmöglich macht, es mehr als nur vage zu beschreiben; „alles, was wir darüber sagen können, ist, daß es ‚the real Thing‘ ist“ 95. Aufzählen lassen sich immer nur seine symbolischen Manifestationen (– etwa „wie unser Gemeinwesen seine Feste organisiert, seine

 Slavoj Žižek, Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ‚Dings‘. In: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 133–164.  Vgl., Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 134.  Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 134.  Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 135.  Žižek, Grimassen des Realen, S. 126: „[…] das ‚Ding‘ ist das, was Lacan das Objekt klein a nennt, ein sublimer, flüchtiger Körper, der ein ‚Ding aus Nichts‘ ist, ein reiner Schein ohne Substanz.“  Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 135.

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Paarungsrituale, seine Initiationsriten…“ 96). Damit wird deutlich, dass sich Žižek mit der Betrachtung von Mechanismen nationaler Identifizierung mehr vorgenommen hat als die Beschreibung ihrer Ausdrucksformen, die diese auf das Symbolische beschränken würde. Indem die Nation an die Stelle des Dings gesetzt wird, ist zunächst einmal ausgesagt, dass es sich auch dabei um einen ‚leeren‘ Begriff handelt, der sein Gewicht nur vermittels einer reflexiven Glaubens-Struktur97 erhält: Die Mitglieder der Gemeinschaft müssen an ihr Ding glauben und zugleich daran, dass die anderen diesen Glauben teilen. Somit wird das nationale Ding zum „Effekt eines Glaubens an es“ 98. Aufgrund seiner Beziehung zum Genießen – das Ding ist dasjenige, „indem sich das Genießen verkörpert“ – ist das Ding sinnstiftend: „[E]s erscheint als das, was unserem Leben Fülle und Lebendigkeit verleiht“ 99. Das Ding verspricht also die Erfüllung des Genießens. Das Genießen wiederum bedeutet die Aufhebung allen Mangels, das Stoppen der Verschiebungsbewegung des Begehrens, das Erreichen des – fiktiven – ‚Urzustands‘ der Geschlossenheit und Erfüllung. Insofern ist die Nation als Ding bzw. das nationale Ding das Angebot einer vollen Identität. Der konstitutive Mangel ist jedoch dem Subjekt eingeschrieben – somit ist er auch grundlegend für jegliche kollektive Subjekt-Position (wie die der Nation). Das Genießen ist folglich durchgestrichen, das Ding immer schon verloren. Da das Genießen also nicht erreichbar ist, wird es als bedroht erfahren. Darin liegt laut Žižek die Ursache für Nationalismus und Rassismus: Das Genießen legt die Grenze des Eigenen fest, dem Anderen wird unterstellt, durch sein fremdes Genießen das eigene Genießen zu bedrohen, es stehlen zu wollen.100 Damit wird der inhärente Mangel nach außen verlagert bzw. auf eine vermeintliche äußere Bedrohung projiziert und dadurch überhaupt erst ein Außen und Innen geschaffen: Was wir verschleiern, indem wir dem Anderen den Diebstahl des Genießens zur Last legen, ist der traumatische Umstand, daß wir das, was uns angeblich gestohlen wurde, niemals besessen haben: Der Mangel (Kastration) ist ursprünglich, das Genießen konstituiert sich als gestohlenes […].101

 Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 135.  Vgl. Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 136.  Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 136.  Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 135.  Vgl. auch: Philipp Sarasin, Zweierlei Rassismus? Die Selektion des Fremden als Problem in Michel Foucaults Verbindung von Biopolitik und Rassismus. In: Biopolitik und Rassismus, hg. von Martin Stingelin, Frankfurt a.M. 2003, S. 55–79.  Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 138.

Zwischenstand: Das Imaginäre als Dynamik der Identifizierung und das Image

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Dieser Mechanismus findet sich dann ebenfalls im Symbolischen manifestiert: „Jede Nationalität hat ihre eigene Mythologie errichtet, worin erzählt wird, wie andere Nationen sie des vitalen Teils ihres Genießens berauben.“ 102 Durch den Mechanismus der Grenzziehung nach außen – die Konstruktion eines Mythos, der die Bedrohung des Genießens ‚den Anderen‘ zuschreibt – wird die Nation beschreibbar als Strategie zur Überdeckung des konstitutiven Mangels, der Spaltung des Subjekts. Das faszinierende Bild des Anderen vergegenwärtigt unsere eigene innere Spaltung, d. h. das, was schon in uns selbst ‚mehr ist als wir selbst‘ und uns so daran hindert, zur vollen Identität mit uns zu gelangen.103

Die Wirkmächtigkeit des Nationalen gründet sich nach Žižek folglich nicht auf eine irgendwie ‚natürliche‘ Beziehung zur Nation, sondern lässt sich vielmehr als Reaktion auf die Struktur von Identifizierung verstehen, die unvermeidlich immer wieder mit dem Realen, mit der eigenen Unvollständigkeit konfrontiert.104 Die Beziehung zwischen Nation und Ding – in der die Nation an die leere Stelle des Dings tritt – definiert für Žižek die paradoxe Struktur der Nation. Als Erscheinung der Moderne konstituiert sich die Nation genuin als Gemeinschaft, die sich gerade nicht mehr über ‚natürliche‘ Beziehungen herleitet und von „traditionellen, ‚organischen‘ Bindungen befreit ist“ 105. Zugleich haftet ihr jedoch das an, was Žižek „eine Art ‚Überschuß des Realen‘“ nennt: „Die ‚nationale Identität‘ definiert sich unter Berufung auf die kontingente Materialität von ‚gemeinsamen Wurzeln‘“ 106. Das heißt, die Nation behauptet sich als moderne Gemeinschaft und konstituiert sich im gleichen Zug über die Etablierung ‚neuer‘ Bindemittel, die letztlich auf die gleiche Weise funktionieren, Einund Ausschluss wie ihre Vorgänger naturalisieren, die sie vermeintlich abgelöst und zurückgelassen haben will.

6 Zwischenstand: Das Imaginäre als Dynamik der Identifizierung und das Image Wie in den vorherigen Abschnitten gezeigt werden konnte, ist dem Begriff des Imaginären durch seine begriffsgeschichtlichen Vorfahren – Imagination und     

Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 138. Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 141. Vgl. Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 142 f. Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 154. Žižek, Genieße Deine Nation!, S. 154.

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Einbildungskraft – sowie insbesondere durch die Prägung durch Sartre und Lacan ein Konnex mit dem Subjekt bzw. der Subjektivierung inhärent. Auf diese Weise hergeleitet, kann das Imaginäre als ein In-Beziehung-Treten des Ichs zu seinen Selbstbildern begriffen werden, das diesem Ich zuallererst die Konstituierung seiner Subjektivität ermöglicht. Insofern verstehe ich das Imaginäre dynamisch; nicht als einen Bereich der Bilder oder Vorstellungen, sondern als die Blickbeziehung, das gleichzeitige Anerkennen eines Selbstbildes und Erkennen des Verkennens. Diese Dynamik muss als eine produktive begriffen werden, denn das unerfüllbare Begehren nach einer Stillstellung und Schließung dieses Prozesses motiviert zu immer neuen Bildentwürfen. Mit dieser Konzeption des Imaginären kann also in den Blick genommen werden, wie und auf welche Weise sich ein Subjekt bildet, sich als ‚Ich‘ oder ‚Wir‘ setzt und sich dabei als Individuum bzw. als Gemeinschaft oder Nation entwirft. Das Imaginäre als Dynamik der Identifizierung ist nicht der ‚Lebenswelt‘ enthoben oder ihr entgegengesetzt, sondern unmittelbar an ihr beteiligt. Denn die Bildentwürfe, die das Imaginäre beständig hervorbringt, verwirft und aktualisiert, sind nicht einfache Repräsentationen oder Abbilder, sondern haben ihre eigene Wirkmächtigkeit. Mit dem Begriff des Images107 möchte ich im Folgenden einen bestimmten Aspekt dieser imaginären Dynamik der Identifizierung besonders hervorheben, beschreibbar und für die Analyse von Phänomenen der Gegenwartskultur anschlussfähig machen. Das Image fokussiert ein spezifisches Moment in der Dynamik des Imaginären und kann insofern einen neuen Akzent setzen. Mit dem Image betone ich zum einen die untrennbare Verknotung, in der Imaginäres, Symbolisches und Reales gedacht werden müssen. Denn das Image als

 Image findet sich auch als Begriff der Imagologie. Auf diese Begriffsverwendung nehme ich hier nicht Bezug. Die Imagologie als Teilbereich der Komparatistik untersucht das Bild vom anderen Land in literarischen Texten. In Abgrenzung von frühen imagologischen Ansätzen, die von der Existenz von Nationalcharakteren ausgingen und deren Zielsetzung durchaus als völkerpsychologisch motiviert beschrieben werden kann, versteht eine zeitgemäße komparatistische Arbeitsweise unter der Imagologie Untersuchungen, die sich gerade auf die Konstruktionsmechanismen, Strukturierungen, Kodierungen und Funktionalisierungen von nationalen oder im weiteren Sinne gruppenspezifischen Bildern richten und sich dabei nicht auf das Literarische beschränken, sondern soziologische und psychologische Fragestellungen streifen. Vgl. Angelika Corbineau-Hoffmann, Einführung in die Komparatistik, 2., überarbeitete und erweiterte Aufl., Berlin 2004, insbesondere: S. 195–211; Manfred S. Fischer, Nationale Images als Gegenstand Vergleichender Literaturgeschichte. Untersuchungen zur Entstehung der komparatistischen Imagologie, Bonn 1981; Manfred Beller, Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie, hg. von Elena Agazzi in Zusammenarbeit mit Raul Calzoni, Göttingen 2006; Ruth Florack, Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen 2007, insbesondere: S. 7– 32.

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Analysekategorie insbesondere für die Untersuchung von Gegenwartskultur lässt genau diese Schnittstelle der drei Ordnungen denken. Die imaginäre Ordnung ist dem unmittelbaren, sprachlichen oder reflektierenden Zugriff nicht zugänglich. Beobachtungen lassen sich immer nur am Symbolischen anstellen und im Symbolischen versprachlichen. Die Trennung in die drei Ordnungen ist jedoch eine heuristische. Da sie die drei Seiten derselben Struktur (des Subjekts) darstellen, ist es insbesondere produktiv, zu untersuchen, wie sie sich untereinander bedingen. So ist es gerade die Dynamik des Imaginären, die die Produktion von Images anstößt und motiviert. Das Image als kurzfristiges Produkt des Imaginären ragt ins Symbolische hinein und präsentiert es dort als Bild des Subjekts. Insofern ist das Image strukturell vergleichbar bzw. verwandt mit dem Phantasma. Das Phantasma, wie es Lacan und Žižek beschreiben, lässt sich mit einem Schutzschirm oder Bildschirm vergleichen und ermöglicht es, die Spaltung, den Mangel auszublenden. In diesem Sinne macht das Phantasma das Subjekt lebensfähig. Mit dem Image möchte ich die temporären Bilder, die auf diesen phantasmatischen Schirm projiziert werden und auf ihm erscheinen, betrachten. Ähnlich wie die Knotenpunkte oder points de capiton ermöglichen sie kurzfristige Aussagen im Symbolischen. Ich fasse das Image jedoch nicht als Subjektposition, sondern möchte insbesondere in den Blick nehmen, dass es sich bei diesen Selbstbildern, mit denen das Subjekt im Symbolischen agiert, um Entwürfe handelt, die gestaltet und imaginiert werden müssen. Dies ist insbesondere deshalb relevant, weil damit in den Fokus rückt, wie diese Images medialisiert werden, welche bildtechnischen, narrativen oder rhetorischen Verfahren zu ihrer Gestaltung beitragen. Der ImageBegriff bietet sich also insbesondere für die Analyse von Gegenwartskultur an und macht ihren konstitutiven Beitrag an der Schaffung von etwa Gemeinschaften deutlich.

7 Image Der Image-Begriff, den ich im Folgenden entwickle, hebt einen bestimmten Aspekt des Imaginären hervor. Diesen Aspekt möchte ich mit dem Begriff Image neu fokussieren und fassen, um ihn als Kategorie zur Analyse von Gegenwartskultur nutzbar zu machen als einen Begriff, der die Medialisierung der Gegenwart zu reflektieren erlaubt. Damit wird zugleich auch der Begriff des Imaginären neu akzentuiert und für Überlegungen im Hinblick auf Prozesse der Gemeinschaftsbildung aktualisiert. Umgekehrt betont dieser Blick auf die Dynamik der Identifizierung die Beteiligung von Kultur und Medien an der ‚Wirklichkeit‘. Um meinen Begriff des Images als einen bestimmten Aspekt des

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Das Imaginäre und das Image

Imaginären zu profilieren, ziehe ich unterschiedliche Prägungen und Definitionen von Image aus anderen Kontexten (Medien- und Kommunikationswissenschaften, Public Relations und Marketing sowie Roland Barthes’ Rhetorik des Bildes) heran. In den Lektüren dieser Definitionen werden die Anschlussstellen zu der Dynamik des Imaginären überprüft, herausgestellt und damit umgekehrt diese Beobachtungen an das Imaginäre rückgekoppelt.

7.1 Image, Stereotypie und Pseudo-Ideal Image wurde als Begriff durch die Wirtschaftspsychologie in Bezug auf Produkte und Marken und durch die Soziologie und Sozialpsychologie in Bezug auf Individuen, Gruppen und Institutionen in den deutschen Sprachraum eingeführt. Eine allgemeine Definition fasst Image „als die Gesamtheit der an einen Gegenstand geknüpften Vorstellungen, Emotionen und Wertungen“ 108. Gegenwärtig ist der Begriff Image in erster Linie mit dem Bereich der kommerziellen Werbung und öffentlichen Meinungsbildung assoziiert. Folgt man der Geschichte des Begriffs, wird deutlich, dass er in Verbindung mit der medientechnischen Veränderung der Öffentlichkeit entstanden ist und damit unmittelbar im Zusammenhang damit zu sehen ist, wie Bilder und Medien die Wirklichkeit mit gestalten. So weist der Begriff Image eine Verwandtschaft mit dem des Stereotyps auf. Der Stereotyp-Begriff (griech. stereós – fest, haltbar und týpos – -artig) entstammt dem Bereich der Drucktechnik. Hier bezeichnet Stereotypie ein Verfahren des Massendrucks, in dem mittels Matrizen Druckplatten hergestellt werden. Im Vergleich zu der Verwendung vom aus einzelnen Lettern zusammengesetzten Schriftsatz hat die Stereotypie den Vorteil, dass jederzeit die Reproduktion ganzer Buchseiten möglich ist. Die Stereotypie arbeitet also statt mit veränderlichen mit fixierten Strukturen.109 Der US-amerikanische Journalist und Medientheoretiker Walter Lippmann überträgt den Begriff des Stereotyps aus der Drucktechnik in die Medienwissenschaften und verwendet ihn für die Bezeichnung öffentlicher Vorurteile. In seinem ‚Publizistik-Klassiker‘ Public Opinion [1922] stellt Lippmann fest, dass die Wahrnehmung jeglicher Vorgänge in der Welt bereits durch Stereotypisierung vorgeprägt ist:

 Otto Brachfeld, Image. In: Ritter, Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, S. 215–217, S. 215.  Hans J. Kleinsteuber, Stereotype, Images und Vorurteile – Die Bilder in den Köpfen der Menschen. In: Günter Trautmann (Hg.), Die häßlichen Deutschen. Deutschland im Spiegel der westlichen und östlichen Nachbarn, Darmstadt 1991, S. 60–68, S. 62.

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In dem großen blühenden, summenden Durcheinander der äußeren Welt wählen wir aus, was unsere Kultur bereits für uns definiert hat, und wir neigen dazu, nur das wahrzunehmen, was wir in der Gestalt ausgewählt haben, die unsere Kultur für uns stereotypisiert hat.110

Das Stereotyp nach Lippmann ist also ein Instrument der Komplexitätsbewältigung und als solches kulturspezifisch und kollektiv. Lippmanns StereotypBegriff beschreibt bereits einige Aspekte, die in späteren Definitionen des Images wieder begegnen. Für den Image-Begriff dieser Arbeit ist hier besonders die Hilfsfunktion hervorzuheben, die sowohl das Stereotyp als auch das Image, wie ich es definieren möchte, aufweisen. So wie das Stereotyp auf vorgeprägte Muster zurückgreift, um der Komplexität der medialisierten Welt reduzierend gegenübertreten zu können, bietet auch das Image Bildfunktionen an, die nicht mehr als temporäre Stellvertreter sind, jedoch kurzfristig etwas ‚auf ein Bild bringen‘, das ansonsten nicht fassbar ist. Wie dem Stereotyp die Funktion der Komplexitätsbewältigung zukommt, gibt das Image vor, etwas stillzustellen und zu schließen. Als ‚Erfinder‘ des Image-Begriffs gilt der US-amerikanische Historiker Daniel J. Boorstin. Ähnlich wie Lippmann, der mit seinem Stereotyp-Begriff auf bestimmte Bedingungen der zunehmend massenmedial geprägten Welt eingeht und dafür einen Begriff aus der Drucktechnik übernimmt, setzt Boorstin ebenfalls an, um bestimmte Implikationen der Medienentwicklungen zu beschreiben und greift dabei mit dem Image einen Begriff auf, der diese medialen Entwicklungen reflektiert. Für Boorstin ist es die „Graphische Revolution“ 111, die rasante Entwicklung insbesondere der Massenmedien wie „Schnellpressen, Fotografien, Illustrierte mit hohen Auflagen, Filme, Radio und Fernsehen“ 112 und damit die „Fähigkeit des Menschen, genaue Abbilder herzustellen, aufzubewahren, zu versenden und zu verbreiten“ 113, die zu der herausragenden Funktion von Images für die Gesellschaft führte. In seinem Buch The Image or What Happened to the American Dream von 1961 führt Boorstin das Konzept des Pseudo-Ereignisses ein. Damit beschreibt er die Einflussnahme der Massenmedien auf die Wirklichkeitswahrnehmung der Menschen, in der „syntheti-

 Walter Lippmann, Die öffentliche Meinung. Reprint des Publizistik-Klassikers, mit einem Beitrag von Elisabeth Noelle-Neumann, Bochum 1990, S. 63.  Daniel J. Boorstin, Das Image oder Was wurde aus dem Amerikanischen Traum?, aus dem Amerikanischen von Manfred Delling, Renate Voretzsch, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 172. Vgl. dazu auch den Abschnitt bei York Kautt, Image. Zur Genealogie eines Kommunikationscodes der Massenmedien, Bielefeld 2008, S. 21–23.  Boorstin, Das Image, S. 173.  Boorstin, Das Image, S. 18.

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sche[ ] Neuigkeit[en]“ die „Erlebnisse überflute[n]“ 114. Das Image denkt Boorstin analog zum Pseudo-Ereignis als Pseudo-Ideal, also als insbesondere durch die Werbewirtschaft vorangetriebene Ersetzung von Werten (Idealen) durch Leitbilder (Images). Er definiert das Image als „synthetisch, glaubhaft, passiv, lebensvoll, vereinfacht und zwiespältig“ 115. Pseudo-Ereignis und Image führen dazu, „daß sich unser Begriff von Wahrheit selbst gewandelt hat“ 116 und ermöglichen es, „Dinge ‚wahr‘ zu machen“ 117. Für diese Wirkmächtigkeit der Images spielt ihre offensichtliche Künstlichkeit keine negative Rolle. Ganz im Gegenteil verstärkt das Wissen um ihre Gemachtheit ihre Faszinationskraft: Offen gesagt gibt es keine Möglichkeit, einem Image die Maske abzunehmen. Ein Image wird, wie jedes andere Pseudo-Ereignis, immer interessanter, je mehr wir uns bemühen, es seines Nimbus zu berauben. Aus diesem Grunde bestehen heutzutage einige der wirksamsten Anzeigen aus umständlichen Beschreibungen der Mühen, die man sich gab, um ein Image zu schaffen: wie man die Tests anstellte, wie das Warenzeichen entworfen wurde und wie man das Image verschönerte. Diese zur Schau gestellte Maschinerie, der Einblick in den Entwurfs- und Fabrikationsprozeß des Image fasziniert uns. Wir sehen hingebungsvoll einer magischen Handlung zu. […] Paradoxerweise befriedigt uns ein Leitbild um so mehr, je mehr wir über die Tricks bei seiner Herstellung wissen, über die Berechnung, den Einfallsreichtum und die Anstrengung, die für seine Entwicklung aufgebracht wurde. Diese Kunstfertigkeit beweist uns, daß wir recht tun (und nicht etwa einfältig sind), wenn wir es akzeptieren.118

Folgt man Boorstins Konzeption des Images, kann es als performativ verstanden werden. Denn seine Funktionsstruktur setzt Boorstin analog zu der des Pseudo-Ereignisses. Pseudo-Ereignisse haben Wirkung in der ‚Realität‘, indem sie ein Ereignis vorgeben und damit Folgen provozieren, das Ereignis also behaupten und damit gleichzeitig hervorrufen. Ebenso funktioniert nach Boorstin das Image. Die Werte und Leitbilder, die durch das Image medial kommuniziert werden, schaffen zugleich erst die Bedürfnisse, auf die sie zu reagieren versprechen. Das Pseudo-Ereignis Boorstins weist große Übereinstimmungen mit den Konzepten der Simulation und der Hyperrealität auf, wie sie später von Jean Baudrillard entwickelt wurden. Die von Boorstin geprägten Begrifflichkeiten können an Baudrillards Thesen zur Hyperrealität angeschlossen werden, nach denen Realität nichts anderes als eine mittels Medien und Programmierung künstlich hergestellte Szenerie ist. Boorstins Pseudo-Ideal Image kommen     

Boorstin, Boorstin, Boorstin, Boorstin, Boorstin,

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Image, Image, Image, Image, Image,

S. 15. S. 161. S. 178. S. 187. S. 169.

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dann die Beschreibungskriterien des Simulakrums zu. Es lässt sich wie dieses als ‚Kopie ohne Original‘ verstehen, als eine Bildstruktur, deren Referenzbezug lediglich simuliert ist.119 Diese Referenzlosigkeit gilt auch für den ImageBegriff, um den es mir hier geht. Als temporärer Bildentwurf innerhalb der Dynamik des Imaginären verweist das Image niemals auf eine Substanz oder Identität. So wie die Struktur des Simulakrums jedoch hilft, zu beschreiben, wie die Wirklichkeit medial hergestellt wird, eignet sich das Image, um die Prozesse der Bildung von Subjekten (individuellen und insbesondere gemeinschaftlichen) in den Blick zu nehmen.

7.2 Die reflexive Struktur des Images Der Image-Begriff, wie er sich in aktuellen Einführungen in die Kommunikationswissenschaften und die Public Relations definiert findet, wird – wie schon das Stereotyp bei Lippmann und das Pseudo-Ideal bei Boorstin – in seiner Entstehung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Entwicklung der Mediengesellschaft gesehen.120 In Zeiten, in denen sich der Erlebnisradius und das Wissen weit hinaus über das entwickelt haben, was der unmittelbaren Wahrnehmung zur Verfügung steht, erfüllt das Image eine Funktion als „Stellvertreter“ 121. Das Image findet sich abgegrenzt von Meinung, da es „grundsätzlich an Öffentlichkeiten gebunden“ 122 ist, während die Meinung „eine subjektive, individuelle Perspektive“ 123 bezeichnet. Das Image als „kollektive Größe“ hat eine „konsensbasierte, aber fiktionale und mehrfach reflexive Struktur“ 124. Diese wird wie folgt aufgeschlüsselt: Jeder Rezipient unterstellt (meint), daß eine Aussage A, die er zu einem Objekt O aus den Medien rezipiert, auch von anderen Rezipienten rezipiert wird und daß diese anderen Rezipienten ebenfalls unterstellen, daß andere Rezipienten diese Aussage rezipieren und – mehr oder minder identisch – diese Aussage dem bereits als vorhanden unterstell-

 Vgl. Jean Baudrillard, Die Präzession der Simulakra. In: Jean Baudrillard, Agonie des Realen, Berlin 1978, S. 12–27.  Vgl. Klaus Merten, Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Bd. 1/1: Grundlagen der Kommunikationswissenschaft, Münster 1999; Klaus Merten, Image. In: Klaus Merten, Das Handwörterbuch der PR. Bd. 1: A–Q, Frankfurt a.M. 2000, S. 104–110; Marion G. Müller, Grundlagen der visuellen Kommunikation. Theorieansätze und Analysemethoden, Konstanz 2003, insbesondere S. 27 f.  Merten, Einführung in die Kommunikationswissenschaft, S. 244.; Merten, Image, S. 105.  Merten, Einführung in die Kommunikationswissenschaft, S. 250.  Merten, Einführung in die Kommunikationswissenschaft, S. 248.  Merten, Image, S. 104.

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ten Wissen hinzufügen. Analog unterstellt jeder Rezipient, daß nicht nur er ein ‚Image‘ wahrnimmt, sondern, daß andere Rezipienten ebenfalls unterstellen, daß andere Rezipienten die Wahrnehmung eines mehr oder minder ähnlichen Images unterstellen.125

In dieser Ausführung zur kommunikationswissenschaftlichen Definition des Image-Begriffs fällt insbesondere die Reflexivität des Images auf, die in der zitierten Textstelle als Glauben an eine übereinstimmende Rezeption beschrieben wird. Diesen Aspekt möchte ich aufgreifen und als Anschlussstelle zu meinen bisherigen Ausführungen zum Imaginären nutzen. Die reflexive Struktur des Images ermöglicht, es mit dem Ding Žižeks engzuführen. Das Image unterliegt der gleichen Struktur von Öffentlichkeit, die Žižek als reflexive Glaubensstruktur auch für das nationale Ding reklamiert: „‚Ich glaube an das (nationale) Ding‘, heißt soviel wie: ‚Ich glaube, daß andere (Angehörige des Gemeinwesens) an das Ding glauben.“ 126 Diese Engführung lässt das Potential des ImageBegriffs für gemeinschaftsbildende Prozesse deutlich werden. Denn das Image, solchermaßen aufgrund der Konsensabhängigkeit der wechselseitigen Glaubensstruktur stets an Kollektive gebunden, ermöglicht die Teilhabe an einer Gemeinschaft, der Gemeinschaft der Rezipientinnen und Rezipienten des Images. Das Image erkennen heißt immer, auch die Gemeinschaft derjenigen zu erkennen, die das Image ebenfalls erkennen und es nur so zu einem werden lassen, – und zugleich, und das ist entscheidend, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. In den Bereichen der Kommunikationspraxis wie Werbung und Public Relations sowie im Marketing hat der Image-Begriff in den letzten Jahrzehnten Karriere gemacht. Er gilt als Schlüsselbegriff für die strategische Unternehmenskommunikation. Diese Bedeutung des Image-Begriffs hängt mit der Beobachtung zusammen, „daß wirtschaftlich relevante Entscheidungen von Konsumenten (Akzeptanz oder Ablehnung eines Produktes) immer weniger von der objektiven Beschaffenheit des Produkts (Qualität, Verfügbarkeit etc.) und immer mehr von den subjektiven psychischen Zuschreibungen des Produkts abhängig sind – eben von dem ‚public image‘ des Produkts.“ 127 Im Marketing steht das Image daher im Mittelpunkt eines anwendungsorientierten Ansatzes,

 Merten, Image, S. 109.  Žižek, Genieße Deine Nation, S. 136.  Christine Rothe, Kultursponsoring und Image-Konstruktion: interdisziplinäre Analyse der rezeptionsspezifischen Faktoren des Kultursponsoring und Entwicklung eines kommunikationswissenschaftlichen Image-Approaches, Dissertation Ruhr-Universität Bochum 2001, Onlinepublikation, S. 180 f. http://www-brs.ub.ruhr-uni-bochum.de/netahtml/HSS/Diss/RotheChris tine/ (abgerufen am 01. 12. 2010).

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in dem Kommunikation als „Handlungstechnik“ begriffen wird, „deren Ziel in der Steuerung von Erwartungen, Einstellungen und Verhalten der Rezipienten“ 128 liegt. Das Interesse gilt den Möglichkeiten, das Image zu instrumentalisieren. Dabei bleibt jedoch eine nähere Definition des Image-Begriffs selbst aus, der solchermaßen als „Omnibusbegriff“ 129 eher vage bleibt, wie auch York Kautt ausführt: Der Diskurs setzt vielmehr das Vorhandensein des im Alltag etablierten Image-Begriffs in seiner diffusen Bedeutung voraus und bindet ihn in den Kontext strategischer Handlungsanweisungen und Ratschläge ein oder operiert mit Definitionen, die sich wiederum auf kognitive oder kommunikativ vermittelte Typisierungsprozesse sowie deren Voraussetzungen und Rahmenbedingungen stützen.130

Der gängige Image-Begriff in den Wirtschaftwissenschaften enthält im Allgemeinen, bei aller definitorischen Offenheit, die Aspekte „Abbildcharakter“ und der „Verhaltenssteuerungsfunktion“ 131. Darunter ist gefasst, dass das Image die Vorstellungen, Wertungen und Affekte gegenüber einem Gegenstand bzw. Produkt beinhalte und dass diese das Verhalten des Einzelnen in Bezug auf den Gegenstand bzw. das Produkt leite. Ziel der Instrumentalisierung des Images ist die Förderung des Produktabsatzes. Das Image soll verkaufen. Dabei wird ihm eine Wirkung insbesondere auf den Kaufentscheidungsprozess zugesprochen, die sich in vier Funktionen aufschlüsseln lasse. Die „Umweltbewältigungsfunktion“ beschreibt, dass Images den Konsumenten helfen, sich am Markt zu orientieren; da Konsumenten Produkte wählen, deren Images zu ihrem eigenen Selbstbild passen, kommt dem Image eine „Selbstbestätigungsfunktion“ zu; insofern eine Kaufentscheidung immer auch eine Form der Kommunikation ist, kann von einer „Mitteilungsfunktion“ des Images gesprochen werden; und weil der Konsum bestimmter Produkte Gruppenzugehörigkeiten vermittelt, hat das Image auch eine „Anpassungsfunktion“.132 Die skizzierten Beschreibungen der Wirkungsweisen des Images aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive helfen mir, bestimmte Aspekte meiner Begriffe genauer zu fassen. Gut funktionierende und folglich gut verkaufende Images ermöglichen es der Käuferin oder dem Käufer, so folgt aus der angesprochenen Selbstbestätigungs- der Mitteilungs- und der Anpassungsfunktion des Images, sich selbst zu positionieren. Das Produkt-Image lädt ein, Selbstentwürfe daran anzuschließen und diese über den Konsum zu kommunizieren,     

Rothe, Kultursponsoring und Image-Konstruktion, S. 181. Rothe, Kultursponsoring und Image-Konstruktion, S. 102. Kautt, Image, S. 16. Rothe, Kultursponsoring und Image-Konstruktion, S. 124. Vgl. Rothe, Kultursponsoring und Image-Konstruktion, S. 125 f.

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wodurch immer auch die Zugehörigkeit zu (Konsum-)Gemeinschaften mitgeteilt und bestätigt wird. Das Image als Schlüsselbegriff des Marketing macht sich also mit dem Versprechen von Selbstbildern und der Teilhabe an Gemeinschaft bestimmte Begehrensstrukturen zunutze, die mit dem Imaginären als Begehren nach einer Schließung der identifikatorischen Prozesse und der Aufhebung der Spaltung des Subjekts beschrieben werden können. Aus dieser konkreten Nutzbarmachung des Images für Unternehmenskommunikation, Produktmarketing und -absatz lassen sich bestimmte Rückschlüsse für das Potential des Images als Teilaspekt des Imaginären ziehen. Selbstbilder ermöglichen es dem Subjekt als handelndes und verhandelndes aufzutreten. Das beinhaltet zum einen das In-Bezug-Setzen zur Umwelt und anderen Subjekten und andererseits den Handel im Sinne des (Waren-)Tauschs. Der Tausch ist dem Symbolischen zugeordnet. Mit dem Image und seinen Wirkungen lässt sich jedoch betonen, dass an erfolgreichem Tausch/Handeln immer auch das Imaginäre beteiligt ist, dessen Begehrensstrukturen die Images und Selbstbilder motivieren.

7.3 Strategien der Naturalisierung Um die Wirkmächtigkeit der Image-Funktion als Aspekt des Imaginären näher fassen zu können, die ich insbesondere in der vermeintlichen ‚Unschuldigkeit‘ bzw. ‚Natürlichkeit‘ des Images begründet sehe, greife ich auf Roland Barthes’ Rhetorik des Bildes zurück. Darin setzt sich Barthes zwar nicht explizit mit dem Begriff Image auseinander, er analysiert jedoch am Beispiel einer Werbeanzeige bzw. eines Werbebildes die spezifische Semiotik des Bildes. Barthes untersucht mit der Rhetorik des Bildes, wie es zu der ‚magischen Wirkung‘ von Bildern kommt, dem Effekt, dass Bilder als unmittelbar und nicht als zeichenhaft wahrgenommen werden. Barthes unterscheidet im Werbe- bzw. Massenbild 133 zum einen die sprachliche Botschaft (die Textelemente oder Beschriftungen) von der bildlichen Botschaft. Die bildlichen Funktionen benennt Barthes als denotierte und konnotierte Botschaft. Während die Konnotationen all jene kulturellen Zeichen umfasst, die das Bild transportiert 134, geht es bei  Roland Barthes, Rhetorik des Bildes [1964]. In: Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M. 1990, S. 28–46, S. 32.  Barthes’ Beispiel ist eine Panzani-Anzeige: „Teigwarenpakete, eine Dose, ein Beutel, Tomaten, Zwiebel, Paprikaschoten, ein Pilz, all das quillt aus einem halbgeöffneten Einkaufsnetz“ (Barthes, Rhetorik des Bildes, S. 29). Die aufgrund des kulturellen Wissens der Rezipienten lesbaren Zeichen, mit denen das Bild konnotiert ist, verbinden das beworbene Produkt hier unter anderem mit Marktfrische sowie „Italianität“ und präsentieren es in der ästhetischen Tradition von Stilleben-Gemälden. (Vgl. Barthes, Rhetorik des Bildes, S. 29 f.)

Zusammenführung und Ausblick

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der Denotation um die spezifische Bildhaftigkeit. Das denotierte Bild ist eine heuristische Größe. Als das „buchstäbliche Bild“ bezeichnet es das, „was vom Bilde übrig bleibt“ 135, wenn man sich (entgegen aller Unmöglichkeit) das Bild ohne jegliche kulturellen Konnotationen vorstellt. Die Bildhaftigkeit bewirkt einen Naturalisierungseffekt, den das Massen- oder Werbebild strategisch einsetzt. Das Bild bzw. die Fotografie behauptet ein „So war es also“ und vermittelt ein „Bewusstsein des Dagewesenseins“ 136. Dieses Dagewesensein überlagert die symbolische Botschaft des Bildes und verbirgt seine Zeichenhaftigkeit: „Das denotierte Bild naturalisiert die symbolische Botschaft, es läßt den […] sehr differenzierten semantischen Trick der Konnotation unschuldig erscheinen“ 137. Das Image als Instrument der Werbewirtschaft und strategischen Kommunikation kann zum einen Teil eines solchen Werbebildes sein. Indem es als gewünschte Botschaft durch ein Werbebild transportiert wird, wäre es auf Seiten des konnotierten Bildes anzusiedeln als etwas, das mittels dieser Konnotationen kommuniziert werden soll: „Die Signifikate der Werbebotschaft werden a priori von gewissen Attributen des Produktes gebildet, und diese Signifikate gilt es so klar wie möglich zu vermitteln“ 138. Auf der anderen Seite lässt sich das Image, da es sich ja dabei ebenfalls um eine bildhafte Struktur handelt, nach den gleichen Kriterien aufschlüsseln wie Barthes’ Massenbild. Legt man also für das Image die Rhetorik des Bildes zugrunde, lässt sich daraus folgern, dass es ebenfalls naturalisierend verfährt, ebenfalls die Strategie des Unschuldig-Machens anwendet, um sich mit der ‚magischen‘ Funktion des Bildes auszustatten, die seine symbolische Botschaft verschwinden lässt und es als ‚natürlich‘ erscheinen lässt. Das Image, das daran arbeitet, vermeintliche Identitäten zu ‚verkaufen‘, kann dies insbesondere aufgrund seiner Bildhaftigkeit so gut, da es genau mittels dieser Bildhaftigkeit die Verkaufsabsicht verbergen kann und stattdessen Identität (als leeres Versprechen) ins Bild setzt.

8 Zusammenführung und Ausblick Das Imaginäre, das wurde im ersten Teil dieses Kapitels ausgeführt, begreife ich als Dynamik der Identifizierung, in der sich ein Subjekt in Bezug auf seine

   

Barthes, Barthes, Barthes, Barthes,

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S. 37. S. 39. S. 40. S. 28 f.

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Das Imaginäre und das Image

Selbstbilder entwirft. Das Image möchte ich als Entwurf eines Selbstbildes beschreiben, das die Unmöglichkeit der Stillstellung der imaginären Dynamik kurzfristig verdeckt. Als ein solches Selbstbild hat es Anteil an der imaginären Dynamik und kann als vermeintliche ‚Momentaufnahme‘ des Imaginären angesehen werden. Insbesondere aufgrund seiner reflexiven Struktur kommt ihm gemeinschaftsbildendes Potential zu. Wie sich mit Barthes’ Rhetorik des Bildes zeigen lässt, gibt sich das Image als Bild den Anschein von Natürlichkeit und verbirgt damit seine Abhängigkeit von den Prozessen des Imaginären, worin es immer nur eine zeitgebundene Funktion hat. Mit dem Image, einem Begriff, der sich in Verbindung mit der zunehmenden Medialisierung von Öffentlichkeit entwickelt hat, ist zudem eine Anschlussstelle aufgezeigt zwischen dem abstrakt anmutenden Begriff des Imaginären und der medialisierten Verfasstheit der Gegenwart. Damit lässt sich das Imaginäre als Kategorie für die Analyse von Gegenwartskultur erschließen, da das gegenseitige Verwobensein von Imaginärem, Symbolischem und Realem betont und mit dem Image eine Analysekategorie zur Verfügung gestellt wird, um das Wirken des Imaginären im Symbolischen beschreibbar zu machen. In den folgenden Analysekapiteln möchte ich diese Begriffe nutzbar machen, um zu untersuchen, wie Deutschland als eine Kategorie der Identifizierung, also als Bezeichnung für ein ‚Wir‘, gestaltet wird. Welche Entwürfe für ein aktuelles Deutschland lassen sich in den literarischen Texten, den Filmen und dem weiteren Material beobachten? Mit den Begriffen ‚Image‘ und ‚Imaginäres‘ wird es darum gehen, die Verfahren der Texte und Filme in den Blick zu nehmen, mit denen diese ‚Bilder‘ Deutschlands produzieren. Welche Images werden entworfen? Handelt es sich dabei um neue Bilder oder werden bekannte Traditionen und Muster beliehen? Ausgegangen wird von der These, dass dieser Bildung von Entwürfen das Imaginäre als identifizierende Dynamik zugrunde liegt, die durch das Begehren nach einer imaginären Schließung, einer Identität, strukturiert ist. Gefragt werden kann dann danach, wie dieses Begehren ausgestaltet wird und in welchen Formen und Figuren die Schließung vorgestellt wird. Zu fragen ist auch, ob die Texte und Filme von einer gelingenden Schließung erzählen, Deutschland als eine Einheit entwerfen, oder ob sich auch andere Bilder finden. In den Blick genommen werden soll zudem, wie die untersuchten Gegenstände sich selbst am Imaginären beteiligen und welche imaginären Wirkungen und identifizierenden Angebote sie ins Werk setzen.

III Wir sind wieder wer 1 Nationale Kinoereignisse Am Abend des 3. Oktobers 2006 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel einen wichtigen Termin am Potsdamer Platz mitten im ehemals geteilten Berlin. Dabei handelte es sich jedoch nicht, wie man aufgrund des Datums annehmen könnte, um einen Festakt zum Tag der Deutschen Einheit, sondern um die feierliche Premiere von Sönke Wortmanns Dokumentarfilm zur Fußballweltmeisterschaft 2006, Deutschland. Ein Sommermärchen. Die Medien ließen die Öffentlichkeit an dem Treffen von Fußballstars und Politikprominenz auf dem roten Teppich teilhaben. Solchermaßen mit dem Nationalfeiertag verschaltet, wurde der Film durch seine Vorstellung mit einem Mehr an Bedeutung aufgeladen. Die Inszenierung der Kinopremiere suggeriert: Hier feiert nicht einfach eine Sport-Dokumentation ihren Kinostart, sondern hier geht es um die Würdigung eines nationalen Ereignisses. Bereits drei Jahre zuvor konnte Wortmann seinen ersten Fußball-Film einem ähnlich prominent besetzten Premierenpublikum vorstellen. Zur Erstaufführung von Das Wunder von Bern kam 2003 auch der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder – und berichtete den interessierten Medienvertretern, der Spielfilm über den Weltmeisterschaftssieg von 1954 habe ihn zu Tränen gerührt 1. Das Überraschende an der Inszenierung der Kinopremiere als nationales Ereignis ist nicht die Verschränkung von Fußball und Politik. Die Analogisierung von Politik und Ballspiel ist längst beliebte Metapher wie Thema verschiedener wissenschaftlicher Auseinandersetzungen.2 Auch die Inanspruchnahme des Sports für die ‚nationale Sache‘ ist nicht verwunderlich, wurde doch das

 Stefan Domke, ‚Das Wunder von Bern‘: Der Kanzler hat geweint. Ungewöhnliche Gäste bei der Premierenfeier von Sönke Wortmanns Film, 16. 10. 2003, www.wdr.de (abgerufen am 11. 09. 2007). Vgl. auch Norbert Seitz, Was symbolisiert das ‚Wunder von Bern‘. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 26, 2004, S. 3–6, 3.  Im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2006 erschienen eine ganze Reihe von Veröffentlichungen zu dem Konnex Fußball und Politik. Genannt seien an dieser Stelle die folgenden Sammelbände: Christina Holtz-Bacha (Hg.), Fußball – Fernsehen – Politik, Wiesbaden 2006; Jürgen Schwier, Claus Leggewie (Hg.), Wettbewerbsspiele. Die Inszenierung von Sport und Politik in den Medien, Frankfurt a.M. 2006. Der umfangreiche Band von Jürgen Mittag und Jörg-Uwe Nieland weist auf die Vielseitigkeit und Aktualität des Themas hin: Jürgen Mittag, Jörg-Uwe Nieland (Hg.), Das Spiel mit dem Fußball. Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen, Essen 2007. Von Norbert Seitz sei stellvertretend für seine Publikationen zu diesem Themenkomplex genannt: Norbert Seitz, Maradona & Kohl. Politik und Fußball im Doppelpass, Frankfurt a.M. 1990.

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Wir sind wieder wer

gemeinschaftsbildende und identitätsstiftende Potential des Fußballs bereits häufig beschrieben. Verschiedentlich wird argumentiert, eine Gemeinschaft ‚zeige sich‘ im Fußball; in der Form einer nationalen Repräsentation durch Körperinszenierung3, als „Ort des (Selbst-)‚Bildes‘ der Gesellschaft“ und „rituelles Gesellschaftstheater“ 4. Die Herstellung von Gemeinschaften durch das Fußballspiel wird unter anderem erklärt durch die ritualhaften Eigenschaften5 des Sports oder seinen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis6. Der Fußball hat es längst aus der Sportnische heraus geschafft 7 – bei Klaus Theweleit wird er sogar zum „Realitätsmodell“ 8. Dass sich bei wichtigen Sportevents im ‚VIPBereich‘ der Tribüne versammelt, was durchaus auch politischen Rang und Namen hat, ist folglich nicht ungewöhnlich. Der entscheidende Unterschied zu den beiden genannten Ereignissen ist, dass es sich hier nicht um sportliche  Gunter Gebauer, Nationale Repräsentation durch Fußball. In: Ralf Adelmann, Rolf Parr, Thomas Schwarz (Hg.), Querpässe. Beiträge zur Literatur-, Kultur- und Mediengeschichte des Fußballs, Heidelberg 2003, S. 13–25; Thomas Alkemeyer, Verkörperungen. Über die Aufführung gesellschaftlicher Selbst- und Weltbilder im Sport. In: Bernd Wirkus (Hg.), Fiktion und Imaginäres in Kultur und Gesellschaft, Konstanz 2003, S. 189– 217.  Clemens Pornschlegel, Wie kommt die Nation an den Ball? Bemerkungen zur identifikatorischen Funktion des Fußballs. In: Matías Martínez (Hg.), Warum Fußball? Kulturwissenschaftliche Beschreibungen eines Sports, Bielefeld 2002, S. 103–111, S. 106.  Christian Bromberger, Fußball als Weltsicht und als Ritual. In: Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, 2. Aufl., Wiesbaden 2003, S. 285– 301.  Michael Groll, Wir sind Fußball. Über den Zusammenhang zwischen Fußball, nationaler Identität und Politik. In: Mittag, Nieland (Hg.), Das Spiel mit dem Fußball, S. 177–189. Siehe für einen aktuellen Forschungsüberblick zum Zusammenhang von Fußball und nationaler Identität: Jürgen Schwier, Die Welt zu Gast bei Freunden – Fußball, nationale Identität und der Standort Deutschland. In: Schwier, Leggewie, Wettbewerbsspiele, S. 79–104.  Die disziplinäre Breite der Auseinandersetzung mit dem Sport kann hier nur beispielhaft illustriert werden: Norbert Elias, Eric Dunning, Sport im Zivilisationsprozeß. Studien zur Figurationssoziologie, Münster 1970; Christiane Eisenberg (Hg.), Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt, München 1997; Holtz-Bacha (Hg.), Fußball – Fernsehen – Politik; Fabian Brändle, Christian Koller, Goal! Kultur- und Sozialgeschichte des modernen Fußballs, Zürich 2002; Schwier, Leggewie (Hgg.), Wettbewerbsspiele; Martínez (Hg.), Warum Fußball?; Adelmann, Parr, Schwarz (Hg.), Querpässe; Wolfram Pyta (Hg.), Der lange Weg zur Bundesliga. Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland, Münster 2004; Zentrum für Europa- und Nordamerikastudien (Hg.), Fußballwelten. Zum Verhältnis von Sport, Politik, Ökonomie und Gesellschaft, Opladen 2002; Angela Dallmann, Fußball und Nationalismus. Erscheinungsformen in Presse- und Fernsehberichten in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika am Beispiel der Fußball-Weltmeisterschaft 1994, Berlin 1999; Mittag, Nieland (Hg.), Das Spiel mit dem Fußball. Siehe für einen aktuellen Forschungsüberblick zum Zusammenhang von Fußball und nationaler Identität: Schwier, Die Welt zu Gast bei Freunden.  Klaus Theweleit, Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell, Köln 2004.

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Anlässe, sondern um die Präsentationen von Kinofilmen über zwei Fußballweltmeisterschaften handelt, die in den Genuss der prominenten Aufmerksamkeit kommen. Offensichtlich wird den beiden Ereignissen, die im Mittelpunkt der Filme stehen, eine besondere Bedeutsamkeit zugemessen – eine Bedeutsamkeit von national-politischem Interesse. In beiden Filmen Wortmanns geht es um den Beitrag der deutschen Nationalmannschaft zu einer Fußballweltmeisterschaft; in den Jahren 1954 und 2006. Der überraschende Titelsieg der deutschen Mannschaft bei der Weltmeisterschaft 1954 hat längst den mythischen Status einer Art Wiedergeburtsstunde des nachkriegsdeutschen Selbstbewusstseins erlangt.9 Allein der Umstand, dass sich Wortmanns zweiter Fußball-Film nach dem Erfolg mit der Filmerzählung über Das Wunder von Bern der Weltmeisterschaft 2006 widmet, baut einen Zusammenhang auf mit dem Erfolg von 1954, stellt beide Fußballereignisse in eine Tradition und produziert eine bestimmte Erwartungshaltung. Die Premierenfeier von Deutschland. Ein Sommermärchen, die als Festakt zum Tag der deutschen Einheit inszeniert wurde, reagiert zudem bereits auf die überraschenden Geschehnisse des Fußballsommers 2006. Die Fußballweltmeisterschaft der Männer wurde vom 9. Juni bis 9. Juli 2006 in Deutschland ausgetragen. Bei hochsommerlichem Wetter feierten die Zuschauer vier Wochen lang mit wachsender Begeisterung ein großes Fußballsommerfest. Flaggen, Kleidungsstücke und Accessoires in den Farben Schwarz-Rot-Gold waren allgegenwärtig und bald Gegenstand kritischer Diskussionen. Gefragt wurde, ob diese lediglich als Zeichen der Unterstützung für die deutsche Nationalmannschaft oder auch als Boten eines ‚neuen Patriotismus‘10 zu bewerten seien. Während die einen in der fahnenschwenkenden Fußballeuphorie einen neuen, unverkrampften Umgang mit den Nationalsymbolen begrüßten, blickten andere skeptisch auf die vermeintliche Demonstration von Nationalstolz.11 Dadurch, dass die Präsentation einer Dokumentation der Fußballweltmeisterschaft 2006 am Tag der Deutschen Einheit stattfindet und von höchster politischer Ebene besucht wird, erhält das Ereignis Fußballweltmeisterschaft eine Würdigung, die deutlich über die Anerkennung einer

 Vgl. beispielhaft zwei sozialhistorische Darstellungen: Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1999, S. 93; Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 176.  Als Beispiel für die Debatte um einen ‚neuen Patriotismus‘ siehe: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.), Patriotismus, Aus Politik und Zeitgeschichte 1–2, 2007.  In den Feuilletons der deutschsprachigen Presselandschaft wurden diese Fragen breit diskutiert. Beispielhaft sei hier genannt: Jürgen Krönig, Angst vor der Nation. In: Die Zeit online, 19. 06. 2006, verfügbar unter: http://www.zeit.de/online/2006/25/WM-Patriotismus-Kommentar (abgerufen am 22. 08. 2011).

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sportlichen Leistung hinausgeht. Vielmehr wird dadurch nachträglich die Wichtigkeit der Veranstaltung und ihrer Aufnahme durch die Öffentlichkeit für Deutschland unterstrichen. Bei den jeweiligen Premierenfeiern geht es also nicht wirklich um die Filme – in erster Linie handelt es sich um Feiern, die die Bedeutsamkeit der dargestellten Sportereignisse für die deutsche Gesellschaft und die deutsche Nation beschwören. Die Analyse von Deutschland. Ein Sommermärchen und Das Wunder von Bern folgt der Fährte der Premiereninszenierungen und fragt, wodurch diese Inanspruchnahme der Filme für die nationale Sache bzw. die Inszenierung nationaler Feierlichkeiten gerechtfertigt wird. Wenn die Beteiligungen der deutschen Nationalmannschaft an den Weltmeisterschaften 1954 und 2006 offensichtlich als wichtige Schlüsselereignisse für die deutsche Nation angesehen werden, dann ist zu untersuchen, wie diese von Wortmann inszeniert werden. Zu fragen ist also weniger, was die Fußball-Weltmeisterschaft mit Deutschland zu tun hat, sondern vielmehr, wie dieser Zusammenhang filmisch, medial und narrativ in den Wortmann-Filmen hergestellt wird. Zudem ist im Rahmen dieser Arbeit von Interesse, wie darin Deutschland gezeigt wird, welche Deutschland-Entwürfe sich beobachten lassen und welche Identifikationsangebote damit verbunden sind. Trotz des Genre-Unterschieds werden die Filme hier gemeinsam als ‚WM-Projekt‘ Wortmanns verstanden. Bei der Untersuchung geht es auch darum, die speziellen Erzählstrategien und Dramaturgien, die hier am Werk sind, herauszuarbeiten und die Filme auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin zu analysieren. Dem sei die These vorangestellt, dass Wortmann mit seinem WM-Projekt Bilder einer positiven deutschen Identität entwirft und sich damit in einen Diskurs einschreibt, der die Fußballweltmeisterschaften – und dabei in erster Linie die von 1954 und 2006 – als Beschleuniger eines Stimmungswechsels, Imagewandels und Wirtschaftsaufschwungs ansieht. Zu untersuchen ist auch, was damit impliziert ist, wenn die WM-Ereignisse 1954 und 2006 parallel gesetzt werden. Kann tatsächlich von einem ‚neuen‘ deutschen Gefühl bzw. Selbstbewusstsein gesprochen werden? Im Rahmen dieser Arbeit ist zu fragen, wie diese Entwürfe ein imaginäres Deutschland zeichnen, also inwiefern hier bestimmte Wunsch- und Begehrensstrukturen die Bilder prägen.

2 Dokumentarische Anliegen, fiktionale Erzählungen Wortmanns Filme Deutschland. Ein Sommermärchen und Das Wunder von Bern erzählen beide von einer Fußballweltmeisterschaft, sind jedoch in ihrem jeweiligen Ansatz der filmischen Vermittlung auf den ersten Blick sehr unterschied-

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lich. In dem Spielfilm Das Wunder von Bern bildet das sporthistorische Ereignis den Rahmen für drei mittels Parallelmontage verbundene Handlungsstränge. Den größten Raum nimmt die Handlung um die Familie Lubanski ein, die im Ruhrgebiet verortet ist und stellvertretend für ein durchschnittliches Leben im Nachkriegsdeutschland steht. Im Mittelpunkt steht der elfjährige Matthias, der mit seiner Mutter Christa und den älteren Geschwistern Ingrid und Bruno in einer Bergarbeitersiedlung in Essen wohnt. Lebensgrundlage und Stolz der Familie ist die kleine Gastwirtschaft, die die Mutter führt und in der alle drei Kinder mithelfen. Durch die Rückkehr von Vater Richard aus langjähriger russischer Kriegsgefangenschaft kommt Unruhe in die Familie Lubanski. Richard, durch Krieg und Gefangenschaft traumatisiert, findet keinen Zugang zu der veränderten Alltagsrealität. Zwischen ihm und den anderen Familienmitgliedern – besonders Matthias – kommt es immer wieder zu Missverständnissen und Konflikten. Diese Handlung um das ‚normale Durchschnittsdeutschland‘ erhält seine Verbindung mit den Weltmeisterschaftsgeschehnissen durch die Freundschaft von Matthias mit dem Rot-Weiß Essen-Stürmer Helmut Rahn. Diesem folgt der Film in einem zweiten Handlungsstrang ins Trainingslager und Turnierquartier der Nationalmannschaft, nachdem Taschenträger und ‚Maskottchen‘ Matthias ihn am Zug in die Schweiz verabschiedet hat. Der dritte Erzählstrang zeigt Sportreporter Paul Ackermann und seine reiche Gattin Annette, die im Auftrag von Pauls Arbeitgeber, der Süddeutschen Zeitung, aus München in die Schweiz fahren. Die heiteren Szenen um das junge Ehepaar in ihrem luxuriösen Umfeld bieten den sozialen und atmosphärischen Gegensatz zu der Lubanski-Handlung. Zusammengebracht werden die drei Handlungsstränge am Schluss des Films im Wankdorf-Stadion beim Weltmeisterschaftsendspiel der deutschen gegen die ungarische Mannschaft. Mit dem Überschneiden der Handlungsstränge wird das Happy End des Films eingeleitet, wenn Vater und Sohn Lubanski mit Ackermanns Presseausweis Zutritt zum Weltmeister-Zug erhalten und dort auf Helmut Rahn treffen. Mit dieser Erzählung über drei Figurengruppen bettet Wortmann das ‚Wunder von Bern‘, das Erreichen des Weltmeisterschaftstitels 1954, ein in einen episch angelegten Spielfilm und gestaltet es somit als klassisches Unterhaltungskino. Eine ganz andere Herangehensweise findet sich in Wortmanns zweitem Fußballfilm, Deutschland. Ein Sommermärchen. Dem Vorbild des französischen Films Les Yeux dans les Bleus12 (F 1998, Stéphane Meunier) folgend, begleitete Wortmann die Spieler, Trainer und Betreuer der deutschen Nationalmannschaft während der Vorbereitungszeit und während des Turniers der WM 2006

 Zur Vorbildfunktion dieses Films vgl.: Sönke Wortmann, Christoph Biermann, Deutschland. Ein Sommermärchen. Ein WM-Tagebuch, Köln 2006, S. 17 f.

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und nahm sie mit einer Handkamera auf.13 Solchermaßen präsentiert sich Deutschland. Ein Sommermärchen als Dokumentarfilm und suggeriert, die Perspektive des Dabeigewesenen unmittelbar wiederzugeben.14 Zu diesem Effekt der Unmittelbarkeit trägt bei, dass der Film vollständig auf gesprochene Kommentierung verzichtet. Die räumliche und zeitliche Verortung der Filmsequenzen erfolgt lediglich mittels kurzer Texteinblendung. Selbst bei offensichtlichen Interviewszenen wird dieses Prinzip der Unmittelbarkeit weitergeführt: Der ‚Vermittler‘ bleibt unsichtbar, gezeigt werden nur die Interviewten und nur ihre Antworten und Wortbeiträge sind zu hören. In diesem Modus der vermeintlichen Neutralität und Nähe folgt der Film dem Nationalteam ins Trainingslager, zu den Turnieraustragungsorten, ins Hotel und in die Umkleidekabinen. Unterbrochen wird dieser ‚Authentizitätsgestus‘ immer wieder durch die Montage von Spielszenen aus dem Verlauf des Turniers. Ausgewählt wurden jeweils besonders spannende, markante oder spielentscheidende Szenen, die der Film in Zeitlupe und mit Musik unterlegt zeigt und sie durch diese Ästhetisierung verfremdet. Damit stehen sich mit Deutschland. Ein Sommermärchen und Das Wunder von Bern zwei Filme gegenüber, die als Dokumentar- und Spielfilm in grundverschiedene Genres eingeordnet werden. Trotz dieses Genreunterschieds sind die Filme in ihrer Unternehmung durchaus vergleichbar. Beide erheben eine Fußballweltmeisterschaft zu einem bedeutsamen Ereignis. Beide Filme versuchen mit den Mitteln des jeweiligen Filmgenres, das zentral gesetzte Ereignis Fußballweltmeisterschaft erlebbar zu machen, es ganz nah an die Zuschauer heranzubringen. In diesem Sinne kann für den Spielfilm Das Wunder von Bern ebenfalls ein dokumentarisches Anliegen beschrieben werden. Auch dieser Film versucht, einen möglichst ‚echten‘ Zugang zu den ‚wahren‘ Ereignissen im Wankdorf-Stadion herzustellen. So wurden für die Rollen der Nationalspieler bewusst Darsteller mit Fußballerfahrung gesucht und der Verpflichtung von bekannten Schauspielern vorgezogen, um den Spielszenen entsprechenden Raum geben zu können. Das entscheidende Spiel im Wankdorf-Stadion wurde in ausgewählten Szenen nachgestellt. Die Kameraführung lehnt sich dabei an das zeitgenössische Verfahren an und zeigt von den Spielern häufig ausschnitt-

 Die Außen- und Spielaufnahmen filmte Kameramann Frank Griebe, der jedoch während der Weltmeisterschaft 2006 anders als Wortmann keinen Zugang zu den Aufenthaltsorten der DFB-Delegation ‚hinter den Kulissen‘ hatte.  Zu dieser Absicht des Films, eine Art teilnehmende Beobachtung durchzuführen und Wortmanns Selbstverständnis als „Tierfilmer“, der sich „ins Leben der beobachteten Tiere einschleichen“ will, damit „die Anwesenheit einer Kamera für selbstverständlich“ genommen wird, vgl.: Wortmann, Biermann, Deutschland. Ein Sommermärchen. Ein WM-Tagebuch, S. 29– 33.

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haft nur die Beine oder Oberkörper.15 Damit werden Szenen aus einem Fußballspiel auf die Leinwand gebracht, die, obwohl sie zu den in Deutschland auch heute noch bekanntesten Spielszenen überhaupt zu zählen sind, nur die wenigsten im Fernsehen gesehen haben. In den 1950er Jahren verfügten nur wenige Haushalte über Fernsehgeräte und so verfolgten die meisten Interessierten das Spiel vor dem Radio. Im kollektiven Gedächtnis ist das WM-Endspiel daher mit dem legendären Radiospielbericht von Herbert Zimmermann verknüpft. Bis in die Gegenwart kommt den Schlüsselpassagen aus Herbert Zimmermanns Kommentar zum Weltmeisterschaftsendspiel ein sehr hoher Bekanntheitsgrad zu. Wortmanns Wunder von Bern nutzt diese Bekanntheit als eine Art Klammer, die die nachgestellten Spielszenen mit dem Effekt des Vertrauten ausstattet. Während der Finalspielszenen wird immer wieder die Figur des Reporters Herbert Zimmermann (Andreas Obering) gezeigt, der direkt aus dem Wankdorf-Stadion berichtet und mit dessen Reportage die Spielszenen unterlegt sind. Die Verschaltung von Ton und Bild erhält hier die Funktion eines Authentizitätssignals.16 Der Spielfilm Das Wunder von Bern bedient sich also an Strategien des Dokumentarischen, um seine fiktive Welt möglichst dicht an das historische Vorbild anzugleichen. Umgekehrt verweist Wortmanns Dokumentarfilm zur Fußballweltmeisterschaft 2006 bereits im Titel auf seinen zugleich fiktionalen Charakter: Deutschland. Ein Sommermärchen ist eine Bezugnahme auf Heinrich Heines Deutschland. Ein Wintermärchen. Diese ironisch-verfremdende Anlehnung lässt sich als Kommentar auf den ‚märchenhaften‘ Sommer verstehen, den Deutschland als Gastgeberland der Weltmeisterschaft erlebte, und weist durch die Titelgebung zugleich auch auf den Status des Films als nachträgliche Erzählung über diesen Sommer hin. Beide Filme arbeiten also mit einem Authentizitätsgestus, mit dem sie ein ‚so ist es gewesen‘ behaupten. Bezogen auf den Mythos einer Geburtsstunde des deutschen Nationalgefühls bzw. seiner Aktualisierung bleibt zu untersuchen, von welchen Fantasien und Vorstellungen hier erzählt wird.

 Vgl. Philipp Bühler, Das Wunder von Bern. Filmheft, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2003, S. 11.  Zum Einsatz von ‚Authentizitätssignalen‘ im Spielfilm vgl.: Manfred Hattendorf, Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung, Konstanz 1994, S. 73, Fußnote 168.

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3 Sönke Wortmann, Das Wunder von Bern 3.1 Schauplatz Deutschland? ‚Reale‘ Räume, Projektionsräume Die eingangs formulierte These, dass Wortmanns WM-Filme die Fußballweltmeisterschaften als Ereignisse inszenieren, die für Deutschland identitätsstiftende Funktion erhalten, lässt an die Filme die Frage stellen, wie und auf welche Weise dieses Deutschland hier ins Bild gesetzt wird. Zudem können die Filme selbst, indem sie die Inszenierung der Weltmeisterschaft als nationales Ereignis vornehmen, als Beiträge zu diesen Prozessen betrachtet und insofern auf die Bilder hin befragt werden, die sie zum Einsatz bringen. Das Deutschland, in dem Das Wunder von Bern spielt, ist zunächst kein einheitliches, sondern es ist durch deutlich markierte Differenzen charakterisiert. Die parallelen Handlungsstränge des Films sind in kontrastierenden Handlungsräumen verortet. Die Räume in Das Wunder von Bern sind nicht nur topografisch voneinander unterschieden, insofern als die Handlungsstränge im Ruhrgebiet, in München und in der Schweiz angesetzt werden. Die grundverschiedene Gestaltung der Handlungsräume lässt diese als zwei einander gegenüberstehende Teilräume beschreibbar werden. Der Film beginnt mit dem Blick auf die rauchenden Schlote einer Industriekulisse im Ruhrgebiet, vor der Matthias und seine Freunde in einem Baum sitzend Ausschau halten. Eine Brieftaube fliegt heran und die Kinder laufen zwischen auf der Leine trocknender Wäsche durch die Hinterhöfe einer Bergarbeitersiedlung, vorbei an den Rückwänden leer stehender Häuser mit zerbrochenen oder fehlenden Fenstern, über Trümmerschutt und durch die schmale Backsteinhäuserstraße, an deren Ende man den Wasserdampf aus den Kühltürmen aufsteigen sieht. Damit ist Handlungsraum und Lebenswelt von Familie Lubanski abgesteckt. Die Ruhrgebietsszenen halten sich mit Farben stark zurück und sind durchgehend in blassen Tönen gestaltet, bei denen Blau-Grau und Braun dominieren. Die Sonne am Ruhrgebietshimmel wirkt stets verhangen. Es gibt kaum frisches Grün, Bäume oder Pflanzen. Der Trümmerschutt hält das noch nicht lang zurückliegende Kriegsende in Erinnerung. Die Ausstattung der Innenräume kommt ebenfalls ohne kräftige Farben aus und zeigt keine Abweichung von Einfachheit und Zweckmäßigkeit. Die Sequenzen in München und in der Schweiz hingegen strahlen in leuchtenden Farben. Beim ersten Sprung des Films in die Parallelhandlung in München wird dieser Übergang mit einem Establishing Shot auf das Münchener Panorama angezeigt. Bereits diese Einstellung mit dem satten Grün im Vordergrund und den Kirchtürmen im sanften Morgenlicht wirkt wie eine Anlehnung an ein Ansichtskartenmotiv. Die Villa der Ackermanns, die als nächstes ins Bild kommt, scheint

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eine Ansammlung sämtlicher Statussymbole der 1950er Jahre darzustellen, angefangen mit den Autos vor dem Haus, der mondänen Architektur des Eigenheims bis zu den kleinsten Details der noch nicht vollständig fertig gestellten Einrichtung des jungen Ehepaars; Nierentische, Minibar, Tütenlampen, grafisch gemusterte Vorhänge, Tapeten und Sofabezüge finden sich genauso wie exotische Zimmerpflanzen, Glasvitrinen mit geschwungenen Vasen und Cocktailsesselchen. Wenn bereits der Establishing Shot für den Handlungsraum der Ackermanns mit dem Münchener Stadtpanorama ‚unecht‘ wie eine Postkartenansicht wirkt, dann wird dies durch die Künstlichkeit der Bilder aus der Schweiz noch übertroffen. Die Szenen in der Schweiz sind als Gegenentwurf zu den Ruhrgebietsszenen gestaltet. Gezeigt werden sonnenüberflutete Berglandschaften, Seen mit weißen Segelbooten und kleine, saubere BilderbuchOrtschaften in satten Wiesen. Das Hotel der Fußballmannschaft, mit Blumenkästen vor jedem Fenster, ist umgeben von üppig blühenden Büschen und wird über einen Weg durch grüne Spaliere erreicht. Das Hotel ist luxuriös eingerichtet, mit Stuckdecken, Rosentapeten und -teppichen, Rüschenbettdecken, Samtsofas, Rokoko-Sesseln und reichlich Dekor. Es wird deutlich, dass der Film hier mit bekannten Bildern arbeitet. Die Ruhrgebietsszenen rufen Vorstellungen vom Alltag im Nachkriegsdeutschland auf. Der kurze Blick in die Villa des frisch vermählten Paares, in der noch die letzten Details gerichtet werden, steht für die Sehnsucht nach Glamour der 1950er Jahre nach dem ‚Wiederaufbau‘. Die Schweiz hingegen ist insbesondere über die luxuriösen Gegenstände, die materiellen Dinge, mit bekannten Schweiz-Klischees ausgestattet und wird darüber hinaus als wohlhabende ‚heile Welt‘ zum Versprechen des ‚Wirtschaftswunders‘, das der Film mit dem ‚Wunder von Bern‘ verbindet. Aufgrund der differenziellen Organisation räumlicher Merkmale bietet sich für die Untersuchung und Beschreibung der Semantisierung von Raum in Das Wunder von Bern der Rückgriff auf Jurij M. Lotmans Raummodell an.17 Nach Lotman erfolgt die Differenzierung räumlicher Relationen wesentlich über eine Grenze.18 Der Film markiert diese Grenze insbesondere durch die Farbgestaltung und unterscheidet die räumliche Struktur des Films in zwei Teilräume.

 Vgl. Jurij M. Lotman, Das Problem des künstlerischen Raums. In: Jurij M. Lotman., Die Struktur literarischer Texte, übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, 4. unveränderte Aufl., München 1993, S. 311–329. Vgl. dazu auch: Roger Lüdeke, Ästhetische Räume. Einleitung. In: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 449–469. Dass sich dieses Raummodell insbesondere auch für die Filmanalyse anbietet, darauf weisen u. a. Nils Bostnar, Eckhard Pabst und Hans Jürgen Wulff hin: Nils Bostnar, Eckhard Pabst, Hans Jürgen Wulff, Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, Konstanz 2002, S. 154–161, insbesondere S. 155.  Lotman, Das Problem des künstlerischen Raums, S. 327.

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Das Oppositionsprinzip zeichnet hier jedoch nicht nur unterschiedliche Lebensbereiche im Sinne eines Binarismus ‚bunt und reich‘ vs. ‚grau und arm‘. Die kontrastierende Gestaltung der Handlungsräume, die alternierend miteinander verschaltet werden, stattet die Orte mit einem unterschiedlichen ‚Realitätsstatus‘ aus. Das Alltagsgrau des Ruhrgebiets weist dieses als ‚Realität‘ des Nachkriegsdeutschlands aus. Durch die Farbgebung und Gestaltung erhalten die Bilder eine ‚Patina‘, die an zeitgenössische dokumentarische Filmaufnahmen erinnert. Im Gegensatz dazu lehnt sich die übersteigerte Farbigkeit der Szenen in München und in der Schweiz an die Ästhetik der Heimatfilme19 der 1950er Jahre an. Insbesondere die herausstechenden, kräftigen Rottöne rufen die Technicolor-Farben und damit den „typischen Farbklang eines Films aus den fünfziger Jahren“ 20 in Erinnerung. Die vielen Panoramaeinstellungen, die bei jedem Sprung zwischen den Handlungssträngen zur Markierung des Wechsels eingesetzt werden, zeigen immer wieder Naturbilder wie Berglandschaften oder Seen vor Gebirgskulisse, die in ihrer Perfektion und Buntheit überzogen und unwirklich erscheinen. Die Panoramaansichten erinnern an Postkartenmotive und sind dadurch als ‚Bilder‘ markiert. Die Gestaltung und die Häufung der Naturmotive stellen zudem ebenfalls einen Bezug zum Heimatfilm und damit dem Kinofilmgenre der 1950er Jahre dar. Damit wird die Schweiz als idyllischer Sehnsuchtsort der deutschen Nachkriegsgesellschaft in Szene gesetzt. Die sportlichen Ereignisse um die Fußballweltmeisterschaft werden also in einer Gegenwelt, in einem Bereich des Fiktionalen verortet. Wenn die Beliebtheit des Heimatfilms in den Fünfzigern sich auf ein „kollektiv vorhandenes Bedürfnis nach ‚heiler Welt‘“ 21 gründet, dann lagert Das Wunder von Bern die Fußballweltmeisterschaft 1954 in eben dieser Traumwelt an. Die strukturale Grenze zwischen den zwei semantischen Teilräumen des Films wird nicht nur durch die Gestaltung der Bilder markiert. Es erfolgt zudem eine ‚mediale Grenzziehung‘, die die Zuweisung der Opposition real vs. fiktional bzw. Alltags- vs. Traumwelt unterstützt. Die Szenen in München und in der  Zum Heimatfilm vgl. die umfangreiche Studie: Willi Höfig, Der deutsche Heimatfilm 1947– 1960, Stuttgart 1973. Sowie: Jürgen Trimborn, Der deutsche Heimatfilm der fünfziger Jahre. Motive, Symbole und Handlungsmuster, Köln 1998, S. 151. Zu der Funktion des Heimatfilms für die Re-Stabilisierung deutscher nationaler Identität in der Nachkriegszeit siehe Christian Schmitt, Deutsches Waidwerk. Jägermeister und Jagdgemeinschaft im Heimatfilm der 1950er Jahre. In: Katharina Grabbe, Sigrid G. Köhler, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Das Imaginäre der Nation. Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film, Bielefeld 2012, S. 131–162.  Bostnar, Pabst, Wulff, Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, S. 63. Zur Technik des Farbfilms der Firma Technicolor siehe Bostnar, Pabst, Wulff, Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, S. 114 f.  Trimborn, Der deutsche Heimatfilm der fünfziger Jahre, S. 151.

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Schweiz lehnen sich nicht nur gestalterisch und farbästhetisch an bekannte Bild- und Filmformate an. Paul und Annette Ackermann gehören bereits aufgrund von Pauls Beruf als Sportreporter der Medienwelt an. Vorgestellt wird das Umfeld der Nationalmannschaft zunächst auf einem Fernsehbildschirm: in einem schwarz-weißen Fernsehbericht aus dem Trainingslager, den die Lubanskis auf dem eigens für die Weltmeisterschaft aufgestellten Fernsehgerät in ihrer Gastwirtschaft verfolgen. Die Schweiz als der Handlungsraum der Nationalmannschaft wird also als Gegenstand der Bildmedien eingeführt. Die Räume des Films sind demnach differenziert in die ‚Lebenswelt‘ des Nachkriegsdeutschlands und einen ‚Projektionsraum‘ Schweiz. Dieser Projektionsraum ist, so wurde argumentiert, durch die Ausstattung mit materiellen Dingen, die auffällige Farbgestaltung, die Anlehnung an Postkartenmotive und Motive des Heimatfilms als ‚gemachte Bilderwelt‘ markiert. Auf diesen Projektionsraum richten sich, das zeigt die Einführung über die Fernsehszene, die Blicke Deutschlands.

3.2 Grenzüberschreitung: Ganz Deutschland Während der Schauplatz der Fußballweltmeisterschaft zunächst weit weg als lediglich medial vermittelte Traumwelt erscheint – als Bild, zu dem sich Deutschland in eine Blick-Beziehung setzt –, wird er im Verlauf des Films näher und näher gerückt, indem der Wechsel zwischen den Handlungslinien beschleunigt wird. Während der Film in der ersten Hälfte recht lange bei den jeweiligen Handlungssträngen verweilt, ändert sich mit Beginn des Endspiels das Tempo hin zu einem raschen Wechsel zwischen den drei Erzählsträngen. Der Film montiert immer kürzere Sequenzen. Gewechselt wird zwischen den Spielszenen und den Ackermanns als Zuschauer im Wankdorf-Stadion, den Fernsehzuschauern in Lubanskis Gaststätte sowie Richard und Matthias auf ihrer Fahrt durch die Schweizer Landschaften. Damit wird eine größere zeitliche Nähe hergestellt und der Effekt der Simultanität erhöht. Zugleich wird die räumliche Unerreichbarkeit des ‚Projektionsraums‘ Schweiz überwunden: Matthias und sein Vater brechen mit einem geliehenen Auto auf, verlassen ihre Bergarbeitersiedlung und fahren durch eine Alpenkulisse zum Weltmeisterschaftsendspiel in die Schweiz. Dass Matthias und Richard auf ihrer Fahrt von Essen nach Bern, beides nördlich der Alpen gelegen, ein Hochgebirge überqueren, kann als Fehler des Films gesehen werden. Zugleich lässt sich dadurch jedoch die These unterstützen, dass die Räume in dem Film in erster Linie eine semantische Funktion haben. Der Film, so kann dann argumentiert werden, ‚braucht‘ hier die Alpen als ein zu überwindendes Hindernis und zugleich als

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deutlich markierten Übergang in einen ‚anderen Raum‘. Mit der Fahrt vom Ruhrgebiet zum WM-Austragungsort in der Schweiz wird jene Grenze der Teilräume überschritten, deren „wichtigste Eigenschaft“ Lotman zufolge „ihre Unüberschreitbarkeit“ 22 ist. „[D]ie Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“ 23 ist jedoch die wesentliche Voraussetzung für Sujethaftigkeit – also dafür, dass ‚etwas passiert‘. Mit dem Überschreiten der Grenze durch Richard und Matthias verliert der Handlungsraum Schweiz seinen utopischen Status – und so kann sich auch auf der Handlungsebene ‚Unmögliches‘ ereignen und das utopische Ziel des Weltmeisterschaftstitel umgesetzt werden. Was in weite Ferne gerückt schien, ist plötzlich nah – was unwirklich und traumhaft war, wird plötzlich Wirklichkeit. Dieser Logik folgen die Geschehnisse im Film. Nachdem Matthias das Stadion erreicht und Rahn ihn am Spielfeldrand stehen sehen hat, ist der Punkt erreicht, in dem Traumwelt und Wirklichkeit zur Deckung kommen. Der Moment des Blickwechsels zwischen Matthias und Rahn wird über den Einsatz von Zeitlupe und dramatischer Musik als besonders bedeutungsvoll gekennzeichnet. Matthias hebt den Ball auf, der ihm zu Füßen gerollt ist, und wirft ihn Rahn zu. Dadurch scheint die mythische Verbindung der beiden Räume erreicht und als hätte Rahn damit den Auftrag angenommen, für das kindliche, unschuldige Nachkriegsdeutschland, das Matthias repräsentiert, alles zu geben, schießt er sein entscheidendes Tor zum 3 : 2 gegen ‚die Ungarn‘. In der Sequenz um das Endspiel werden die Handlungsstränge mittels der beschleunigten Montage eng geführt, ‚Ruhrgebietsrealität‘ und Bilder-Projektionsraum zusammengebracht. Damit wird der Weltmeisterschaftssieg als Ereignis inszeniert, das nicht nur der Nachkriegsgesellschaft ihre Träume nahe bringt, sondern dessen Selbstentwürfe Wirklichkeit werden. In der Überschreitung der räumlichen Grenze werden hier die zwei Bildentwürfe, die der Film von Deutschland liefert, zusammengeführt. Das ‚normale‘ Nachkriegsdeutschland der Ruhrgebietsfamilie blickt nicht mehr aus der Ferne bzw. vor dem Fernseher sitzend auf die entrückten Bilder. Der Film erzählt mit dem Aufheben der räumlichen Differenz zwischen den zwei Deutschland-Bilderwelten zugleich von dem Ende einer Blickbeziehung zwischen einem als ‚normal‘ gekennzeichneten Deutschland, das auf ein medial vermitteltes Wunschbild seiner selbst blickt. Zu diesem Ende der Bezugnahme über den Blick kommt es dadurch, dass die Protagonisten der ‚normalen‘ Welt in das Wunschbild eintreten und hier zu handelnden Figuren werden. Diese Blickbeziehung, die sich für das Alltagsdeutschland und den Projektionsraum Schweiz konstatieren

 Lotman, Das Problem des künstlerischen Raums, S. 327.  Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 332.

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lässt, kann mit der imaginären Blickbewegung zwischen Subjekt und seinem Bild analogisiert werden. Der Film erzählt demnach von einer Stillstellung der imaginären Dynamik und dem Erreichen einer in der Logik imaginärer Identifizierung unmöglichen Identität zwischen Subjekt und idealem Bildentwurf. Das Fußballweltmeisterschaftsspiel wird dabei zum Kulminationspunkt, in dem diese Identität erreicht wird. Dieser Effekt beschränkt sich nicht auf die Hauptfiguren und das individuelle Schicksal von Matthias und Familie Lubanski. Im Anschluss an die Torschussszene sieht man ‚ganz Deutschland‘ dem Abpfiff und damit dem Sieg entgegenfiebern. Nachdem die Handlungsstränge mit dem Blick- und Ballwechsel zwischen Rahn und Matthias zusammengebracht sind, werden – während der immer emotionaler und ekstatischer werdende Spielkommentar von Zimmermann weiterhin zu hören ist – Einstellungen montiert, die keinem der beiden vorher eingeführten Handlungsräume angehören. Gezeigt werden zunächst die menschenleeren Straßen und Plätze der Bergarbeitersiedlung. Danach sieht man Matthias’ Bruder Bruno, der aus politischer Überzeugung und aufgrund der familiären Konflikte heimlich in die DDR gegangen ist, inmitten einer Gruppe von FDJlern unter einem großen roten Lenin-Plakat gebannt das Spiel im Fernsehen verfolgen. Als nächstes ist der verwaiste Flur in der Münchener Redaktion von Paul Ackermann zu sehen. Im Anschluss werden eine Panoramaeinstellung des bayrischen Klosters Andechs und dann eine Gruppe von Mönchen gezeigt, die mit großer Aufmerksamkeit am Radio das Spiel anschauen. In der nächsten Szene drängt sich eine Menschenmenge vor dem Fernseher im Schaufenster eines Radiogeschäfts in einer nicht näher verorteten Straße. Nach dem Wechsel zurück ins Stadion erfolgt der Schlusspfiff und der bekannte euphorische Ruf von Zimmermann: „Aus, aus, aus, das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“. Mit dem Weltmeister-Werden bringt der Film also nicht nur die Handlungsstränge, Projektionsraum und Alltagswelt zusammen, sondern erweitert den Blick – als einzige Stelle im Film – über die klar abgegrenzten Handlungsräume hinaus auf ein ‚Gesamtdeutschland‘, das sogar die DDR einschließt. Hergestellt wird ein Effekt der Simultanität und Gleichzeitigkeit: ‚Ganz Deutschland‘ wird in dem Ereignis des Weltmeisterschaftssiegs zusammengeschlossen. Der Film setzt das Erreichen der Fußballweltmeisterschaft mit einem ‚Ganzwerden‘ Deutschlands gleich. Das gewonnene Finale des Turniers wird mit dem Gewinnen einer Identität des Nachkriegsdeutschlands mit seinem Idealbild verschaltet. Der Film operiert also mit dem Begehren nach einer vollen Identität, das die Dynamik des Imaginären stets in Bewegung setzt und hält, die jedoch in der Blickbeziehung zwischen Subjekt und Bild stets unerfüllbar bleibt. In der Erzählung des Films wird dieses Begehren jedoch erfüllt.

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4 Sönke Wortmann, Deutschland. Ein Sommermärchen 4.1 Mittendrin: Kamerablick In Deutschland. Ein Sommermärchen blicken die Zuschauer gemeinsam mit Wortmann ‚hinter die Kulissen‘ der Fußballweltmeisterschaft 2006. Indem der Fokus des Films konsequent der Mannschaft und ihren Betreuern folgt, ergibt sich der merkwürdige Effekt, dass der Film, der Deutschland im Titel trägt, Deutschland nicht zeigt. Zugleich ist das allgemeine ‚Sommermärchen‘ des WM-Sommers 2006 – die Feiern in den Straßen, das kollektive Spiele-Schauen (das public viewing), die internationalen Gästefans, die öffentliche Begeisterung, die Omnipräsenz von Schwarz-Rot-Gold etc. – im Film fast vollständig abwesend. Während in Das Wunder von Bern aus zwei fiktiven Handlungsräumen von der Weltmeisterschaft erzählt wird, dem unmittelbaren Umfeld der Nationalmannschaft und der Alltagswelt der durchschnittlichen Zuschauer aus ‚der Mitte der Gesellschaft‘, und somit zum einen das Ereignis und zum anderen seine Aufnahme in der Gesellschaft vor Augen geführt wird, lässt Deutschland. Ein Sommermärchen diese zweite Seite fast vollständig aus. Wortmanns dokumentarischer Kamerablick bleibt konsequent bei der Nationalmannschaft. Einen zweiten narrativen Strang, der etwa über die Ereignisse während des Turniers in den deutschen Städten berichtet, gibt es nicht. Die Orte, die auf der Leinwand gezeigt werden, sind die Aufenthaltsorte der Nationalmannschaft. Die Kamera folgt den Spielern ins Trainingslager, in die Hotels, im Bus zu den Austragungsorten des Turniers, in die Stadien und sogar in die Kabine. Der unmittelbare Effekt scheint zunächst der einer Be- bzw. Entfremdung zu sein: Die Zuschauer der WM finden ihr Erlebnis, ihren Fußballsommer, in Wortmanns Film nicht dokumentiert. Diese auf den ersten Blick distanzierende Verfahrensweise des Films hat jedoch eine weitere, gegenteilige Wirkung. Die Dokumentation bildet Deutschland und den deutschen Fußballsommer 2006 zwar im Film nicht ab, andererseits macht der Film gerade dadurch starke identifikatorische Angebote. Durch die konsequente Innen-Sicht distanziert sich der Film von der allgemeinen Perspektive der Zuschaueröffentlichkeit auf die Weltmeisterschaft 2006 und nimmt stattdessen den Blickwinkel der unmittelbar Beteiligten ein. Hergestellt wird dadurch eine Nähe zum Geschehen und zu dem Ereignis, das als ein Ereignis von nationaler Bedeutung inszeniert wird. Um genauer beschreibbar zu machen, wie diese Strategie der Nähe funktioniert und auf welche Weise gerade das Medium des Kinofilms diese unterstützt, ziehe ich Christian Metz’ Thesen zum Kino in Der imaginäre Signifikant heran. Nach Metz ergibt sich das hohe identifikatorische Potential des Kinos aufgrund

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eines besonderen Spiels von An- und Abwesenheit.24 Metz analogisiert das Kino mit der imaginären Identifikation im Lacan’schen Spiegelstadium. Er vergleicht das Medium Film bzw. das Dispositiv Kino aus dem Grund mit Lacans Spiegel und schreibt ihm die entsprechende identifikatorische Wirkmächtigkeit zu, weil sich das zuschauende Subjekt im Film anders als im Spiegel nicht sehen kann: Insofern gleicht der Film dem Spiegel. Doch in einem wesentlichen Punkt unterscheidet er sich vom ursprünglichen Spiegel: Obwohl sich wie in diesem alles spiegeln kann, gibt es etwas, das sich niemals darin widerspiegelt: der Körper des Zuschauenden.25

Nach Metz imitiert das Kino also nicht einfach die Spiegelsituation als ‚Urszene‘, funktioniert aber gleichwohl nach den Mechanismen des Imaginären, verstanden als unabschließbarer Prozess, der das Subjekt strukturiert. Die Enttäuschung mancher Zuschauer von Wortmanns Dokumentation lässt sich diesem Modell folgend also zunächst als Enttäuschung über das Fehlen des Spiegel-Ichs auf der Leinwand beschreiben: Die Stelle, an der das eigene Bild erwartet wurde, bleibt leer. Es ist zu fragen, welche identifikatorischen Angebote Deutschland. Ein Sommermärchen stattdessen entwickelt. Metz führt in seinen Anmerkungen zum Dispositiv Kino weiter aus, der Zuschauer identifiziere sich nicht mit einem eigenen Bild, das von der Bildfläche zurückblickt, sondern vielmehr mit dem Blick – also mit dem, was im Bild selbst abwesend ist, zugleich jedoch das Bild konstituiert: Im Kino ist immer der andere auf der Leinwand; und ich bin da, um ihn zu betrachten. Ich nehme in keiner Weise am Wahrgenommenen teil, ganz im Gegenteil, ich bin allwahrnehmend. All-wahrnehmend wie man allmächtig sagt (das ist die berühmte ‚Allgegenwart‘, die der Film dem Zuschauer verleiht); all-wahrnehmend auch, weil ich völlig auf seiten der wahrnehmenden Instanz bin: abwesend von der Leinwand, doch sehr wohl anwesend im Saal, ganz Auge und ganz Ohr, ohne die niemand das Wahrgenommene wahrnehmen würde, kurz, die konstituierende Instanz des kinematografischen Signifikanten (ich mache den Film).26

Das Bild auf der Leinwand, in dem das eigene Bild abwesend ist, weist den Zuschauer in die Rolle des Anderen, dem sich die Bilder darstellen. In Deutschland. Ein Sommermärchen ist dieser Blick, mit dem sich nach Metz die Zuschauer im Kino identifizieren, Wortmanns Kamerablick. Dieser ist maßgeblich durch die Technik der Handkamera charakterisiert, die den Film reichlich  Christian Metz, Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino [1977], aus dem Französischen von Dominique Bühler u. a., Münster 2000.  Metz, Der imaginäre Signifikant, S. 46.  Metz, Der imaginäre Signifikant, S. 48.

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mit Authentizitätssignalen27 ausstattet. Die wackelnde Kamera, die unruhigen, ausdrücklich nicht komponiert erscheinenden Bilder, die wechselnde Tonqualität, die Kommunikation der Protagonisten mit der Kamera (direkter Blick, direkte Ansprache) verdeutlichen stets die Anwesenheit des Aufnahmeapparats und verbürgen vermeintlich die ‚Echtheit‘ des Gezeigten. Zugleich fällt auf, dass Wortmann selbst trotz der Präsenz seiner Kamera im Film kaum auszumachen ist. Die authentifizierende Kamera ist nicht personalisiert. Auch in den Szenen, in denen die Kamera vor bzw. gegenüber von einem Spiegel arbeitet, wurde, so lässt sich schließen, sorgfältig darauf geachtet, die Kamera und den Kameramann dahinter nicht zu zeigen.28 Die zahlreichen Interviewszenen kommen vollständig ohne die Fragen des Interview- und Kameraführenden aus. Zu hören sind nur die Antworten. So macht der Film zwar deutlich, dass gefragt und gefilmt wird, die Position des Fragenden/Filmenden – die Position des Blicks – bleibt jedoch unbesetzt. Somit findet sich hier eine demonstrativ angezeigte Leerstelle, die einzunehmen dem Zuschauer angeboten wird. Genau dieses Wechselspiel zwischen Bewusstmachen des medialen Status und Genießen der Illusion beschreibt Metz als spezifische Funktionsweise des Kinos. Der Zuschauer erfahre gerade darüber eine Bestätigung; „der Zuschauer weiß, daß er im Kino ist“ – er „identifiziert sich mit sich selbst“ 29. Die Rezeption eines Kinofilms produziert also den Effekt des Changierens zwischen der Identifikation mit dem Blick auf die Leinwand bzw. Genießen der all-wahrnehmenden Kameraperspektive, der sich das Gezeigte als homogener Raum darstellt, und dem Bewusstsein der Bildertäuschung, die in der Abwesenheit auf der Leinwand zugleich die eigene Präsenz im Kinosaal versichert. Der Zuschauer kann sich so „als das letzthin gemeinte, als ein sich selbst präsentes, konsistentes Sein“ 30 erfahren. Damit konstituiert sich das Spezifische des Kinos nach Metz gerade aus dem Wechselverhältnis, das sich zwischen dem Bewusstsein von der Spaltung des Subjekts und dem Entwurf des Subjekts als ein geschlossenes Ganzes ergibt, und entspricht in dieser Strukturierung den Mechanismen

 Zum Begriff ‚Authentizitätssignal‘ bzw. zur Kategorie Authentizität im Dokumentarfilm siehe: Hattendorf, Dokumentarfilm und Authentizität, insbesondere S. 72–80; Bostnar, Pabst, Wulff, Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, S. 29–34; Frank Thomas Meyer, Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film, Bielefeld 2005, S. 45 f.  Eine Ausnahme bildet die kurze Interviewszene mit dem Zähne putzenden David Odonkor am Morgen nach dem Spiel gegen die polnische Mannschaft. Hier ist Wortmann, der die Handkamera auf Hüfthöhe hält, für einige Sekunden im Spiegel hinter Odonkor zu sehen.  Metz, Der imaginäre Signifikant, S. 49 (Hervorhebung im Original).  Hermann Kappelhoff, Kino und Psychoanalyse. In: Jürgen Felix (Hg.), Moderne Film Theorie, 2. Aufl., Mainz 2003, S. 130–159, S. 140.

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des Imaginären. Zum all-wahrnehmenden Subjekt wird der Zuschauer von Wortmanns Sommermärchen also durch Identifikation mit dem Blick der Kamera, dem er hinter die Kulissen der Weltmeisterschaft folgt und der ihm das eigene Erlebnis des Sommers entfremdet und gänzlich von der anderen Seite, der Innenseite, zeigt.

4.2 Im Bett mit Torsten Frings In der Dokumentation Deutschland. Ein Sommermärchen wird den Fans der Weltmeisterschaft 2006 das Spiegelbild ihres Sommererlebnisses vorenthalten, sie finden sich in dem Film nicht wieder. Stattdessen wird ihnen zur Identifikation der Kamerablick angeboten. Die Kamera verortet sie, ganz im Sinne des Metz’schen all-wahrnehmenden Subjekts, mitten ‚im Zentrum des Geschehens‘, ganz dicht an den Ereignissen der Fußballweltmeisterschaft. Dabei werden kaum konkrete, eindeutig identifizierbare Orte gezeigt. Stattdessen lassen sich die Schauplätze als anonym und austauschbar charakterisieren. Für die räumliche Orientierung im Film sorgen Texteinblendungen, die angeben, in welcher Stadt sich die gezeigten Trainings- oder Stadionplätze bzw. Hotelräumlichkeiten befinden. Deutschland, das im Titel des Films angekündigt wird, lässt sich also offensichtlich im Film nicht so einfach wiederfinden; zumindest nicht in Form von berühmten Plätzen, konkreten Landmarken oder charakteristischen Landschaften. Vielmehr scheinen die Schauplätze in ihrer Gesichtslosigkeit und mangelnden Wiedererkennbarkeit eine Repräsentationsfunktion zu erhalten: Die gezeigten Orte wirken beliebig als könnten sie überall (in Deutschland) sein. Zudem erscheinen sie in gewisser Weise irreal und künstlich. So wie die Künstlichkeit und Überzeichnung in Das Wunder von Bern die Schweizer Weltmeisterschaftsschauplätze einer Traumwelt, einem Bereich der Sehnsüchte und Wünsche zuordnen, so wirken auch die Orte und Räume in Deutschland. Ein Sommermärchen als seien sie ‚nicht von dieser Welt‘. Dieser Effekt entsteht insbesondere dadurch, dass Wortmanns Sommermärchen eine radikale Innensicht verfolgt. Das ‚Zentrum des Geschehens‘, das hier ins Bild gesetzt wird, ist konsequent als ‚Innen‘ gestaltet. Die Orte, die die Kamera zeigt – der Stadioninnenraum, die Kabinen und Katakomben der Stadien, der Bus, das Hotelgelände, das Trainingslager – all dies sind klar abgegrenzte, nach außen abgeschlossene Räume. Geboten wird hier also nicht nur die Suggestion eines homogenen Raums, wie es Metz für das Kino allgemein beschreibt, sondern zugleich die einer maximalen Präsenz im Inneren des Ereignisses. Die Innensicht des Films unterstützt die Botschaft der Authentizitätssignale der Kameraführung. Beides stützt die Illusion all-wahrnehmend zu

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sein und suggeriert den Filmzuschauern ‚ganz da‘ zu sein, die maximale Nähe zu dem Ereignis, von dem der Film erzählt, erreicht zu haben. Als beispielhaft für diesen Effekt können etwa die Interviews mit einzelnen Spielern der Nationalmannschaft angesehen werden. Um die Spieler zu Wort kommen zu lassen, wurden während der Filmarbeiten, also während des Turniers, Interviews mit einigen der Nationalspieler geführt. Diese Interviews sind schnitttechnisch in der Weise bearbeitet worden, dass im Film nur die Aussagen der Spieler unter Auslassung der Interviewerfragen gezeigt werden, die so mit anderen Szenen montiert werden, dass ein Zusammenhang entsteht und sie als Statements innerhalb bestimmter thematischer Kontexte erscheinen (thematischer Schnitt). Als Orte für die Interviews wurden die Hotelzimmer der Mannschaftsmitglieder gewählt, die Spieler sitzen in diesen Szenen in bzw. auf ihren Betten.31 Die Perspektive der Kamera bleibt während der Interviews unverändert. Dass sie jedoch nicht statisch etwa durch ein Stativ fixiert ist, wird durch die leichten Ruckelbewegungen und Schwankungen des Bilds deutlich. Die Kamera ist dabei so positioniert, dass sie die Spieler meist in Augenhöhe und leichter Schrägsicht aufnimmt. Der Interviewführende scheint während der Gespräche dicht neben der Kamera, nicht jedoch dahinter zu stehen, denn die Befragten sprechen nicht direkt in die Kamera aber doch unmittelbar in ihre Richtung. Die Spieler werden in naher oder halbnaher Einstellung gefilmt, so dass die Bettkante auf Seiten der Kamera in keiner der Szenen im Bild zu sehen ist. Damit entsteht der Eindruck, als säße die Kamera mit im Bett. Die Identifikation mit dem Kamerablick verortet die Zuschauer hier somit direkt ins Bett ihrer Stars. Damit setzt der Film den Anspruch, den Stars nahe zu kommen, in geradezu ‚märchenhafter‘ Weise um: Figuren, die sonst entrückte Helden sind, mit denen Begegnungen nur medial vermittelt möglich sind, kann hier an den intimsten Ort gefolgt werden. Die Kamera geht ins Bett mit Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Torsten Frings … und scheint damit die libidinöse Aufgeladenheit des Verhältnisses von Film und Zuschauern vorzuführen. Zudem rückt der Film damit noch weiter ins ‚Innen‘ vor und beweist, nicht nur dabei zu sein, sondern mittendrin.

4.3 Schulterschluss: Gemeinschaft-Werden An anderer Stelle inszeniert Deutschland. Ein Sommermärchen das NaheRücken als Zusammen-Rücken. Das Vorrundenspiel gegen die polnische Mann Solche Interviews gibt es mit Philipp Lahm, David Odonkor, Jens Lehmann, Oliver Kahn, Andreas Köpke, Miroslav Klose, Thomas Hitzelsperger, Sebastian Kehl und Christoph Metzelder (zu zweit), Torsten Frings, Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski (zu zweit).

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schaft wird als entscheidendes Schlüsselmoment des Turniers und damit des Films ins Bild gesetzt. Den Status eines Wendepunkts erhält es aufgrund der besonderen, Gemeinschaft bildenden Kraft, die hier dem späten Sieg in letzter Minute durch das Tor von Oliver Neuville unter Zuarbeit von Überraschungsund Geschwindigkeitsstar David Odonkor zugeschrieben wird. Der Film weist dem Spiel diese herausragende Bedeutung zu, indem die gesamte Sequenz darauf abgestimmt wird. Das ‚Motto‘ der Sequenz lässt der Film durch Trainer Jürgen Klinsmann auf den Punkt bringen. Während der Szene nach dem Sieg in der Kabine ist Klinsmanns Stimme als Voice-over aus dem Off zu hören. In seiner Bewertung des Spiels nennt Klinsmann es „den wichtigsten Moment des Turniers“ und den „Schulterschluss zwischen Fans und Mannschaft“. Die Einblendung des rückblickenden Kommentars von Trainer Klinsmann übernimmt hier eine interpretatorische, bedeutungszuweisende Funktion und fasst zusammen, was der Film mit dieser Sequenz ins Bild setzt: den Schulterschluss als Geburtsstunde einer Gemeinschaft. Dieser Schulterschluss wird zunächst vor der Spieleröffnung beim Abspielen der Nationalhymne vorgeführt. Die Spieler der deutschen Nationalmannschaft stehen Schulter an Schulter und Arm in Arm nebeneinander und singen gemeinsam mit den Tausenden auf den Zuschauerrängen den Hymnentext mit.32 Während eines Fußballweltmeisterschaftsturniers werden die Nationalhymnen der antretenden Mannschaften vor einem jeden Spiel gespielt. Dass Wortmanns Dokumentation dies nur ein Mal zeigt und zwar ausgerechnet beim Spiel vom 14. Juni gegen Polen, weist den Bildern eine besondere Aussagekraft zu. Fans und Mannschaft finden zu einer Stimme zusammen – einer nationalen Stimme. Dieses Thema der Geschlossenheit und Einheit prägt die gesamte Sequenz. Zwischen die Szenen vom Spielfeld mit Ausschnitten aus dem Spiel sind Bilder der Ersatzspieler auf der Bank am Spielfeldrand montiert, die von hinten als geschlossene Reihe, wiederum Schulter an Schulter, gezeigt werden. Die Mannschaft existiert nicht nur auf dem Platz, sondern schließt auch die Auswechselspieler mit ein. Insbesondere ein Auswechselspieler, David Odonkor, nimmt Einfluss auf den Spielverlauf – so suggeriert es die Filmnarration. Zu sehen ist Odonkors Einwechs-

 Dass die Nationalhymne von Spielern und Zuschauern mitgesungen wird, ist – zumindest für Deutschland – keine Selbstverständlichkeit. Auch das Arme-übereinander-Legen der Spieler während der Nationalhymne bei der Weltmeisterschaft 2006 war neu. Die Beteiligung am Gesang, die Textkenntnis und das Verhalten der Nationalspieler während des Abspielens unterlagen seit der ersten Fußballweltmeisterschaftsteilnahme der Bundesrepublik 1954 deutlichen Veränderungen. Erst seit Mitte der achtziger Jahre setzte sich das Singen der Nationalhymne durch die deutsche Nationalmannschaft bei internationalen Begegnungen durch. Vgl. Michael Jeismann, Die Nationalhymne. In: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 660–664, S. 664.

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lung, gefolgt von den Szenen seines überraschenden Einsatzes als Joker, der die entscheidende Vorarbeit zum Siegtor durch den ebenfalls eingewechselten Oliver Neuville leistet. Mannschaft und Betreuerteam liegen sich jubelnd in den Armen. Die Szenen nach dem Spiel zeigen das Team in der Kabine. Wie nach einer Schlacht klopfen sich die erleichterten Spieler auf die nackten Schultern und gratulieren sich gegenseitig zum Sieg. Xavier Naidoos Was wir alleine nicht schaffen unterlegt die männerbündlerische Szene emotional und verweist zugleich darauf, dass der gerade erreichte Sieg im Vorrundenspiel nur ein Etappenziel ist: „Wir müssen geduldig sein, dann dauert es nicht mehr lang“. Diese Sequenz unterscheidet sich von anderen Umkleidekabinenszenen in Deutschland. Ein Sommermärchen durch die Kameraperspektive. In den anderen Kabinenszenen finden die Aufsicht oder die Froschperspektive Verwendung. Im Unterschied dazu wird in der hier besprochenen Sequenz fast konsequent auf Augen- oder Schulterhöhe gefilmt. Während die Kamera sonst (dezent auf dem Boden abgestellt, in Hüfthöhe oder aus dem Hintergrund auf einer Bank stehend gehalten) die Rolle eines möglichst zurückhaltenden und unaufdringlichen Beobachters einnimmt, wodurch der Beobachterstatus stets ersichtlich bleibt, mischt sich die Kamera hier ins Getümmel. Die Normalsicht lässt die Anwesenheit der Kamera vergessen: Der sich mit dem Blick der Kamera identifizierende Zuschauer wird zum Teilnehmenden. Am Ende der Sequenz treten die Spieler zum Fernsehbildschirm in der Kabine, auf dem Ausschnitte des Spiels wiederholt werden. Diese Szene beobachtet die Spieler, wie sie sich selbst beobachten. Zugleich ergibt sich darin erneut ein ‚Schulterschluss‘ – jetzt zwischen Filmpublikum und Mannschaft. Die Kamera tritt zwischen die Spieler und übernimmt deren Blickrichtung. Durch die Kameraperspektive reiht der Zuschauerblick sich ein zwischen Neuville und Frings; man steht sozusagen Schulter an Schulter mit ihnen. Zugleich werden die Filmzuschauer in dem Moment von den Spielern insofern eingeholt, als sie die gleichen Spielszenen, die im Film zuvor gezeigt werden, zeitversetzt anschauen und damit ebenfalls zu Zuschauern werden. Das Erzählverfahren des Films lässt sich hier nicht nur als mise en abyme bezeichnen, das seine Medialität reflektiert, sondern vollzieht hier zudem einen weiteren ‚Schulterschluss‘, in den ‚wir‘ als Filmzuschauer hineingeholt und damit aufgenommen werden in die inszenierte Gemeinschaft. Wortmanns Dokumentation präsentiert das WM-Vorrundenspiel gegen die polnische Nationalmannschaft als die entscheidende Schlüsselszene des Turniers, durch die Mannschaft und Fans eins geworden seien und nimmt die Filmschauenden in diese Einswerdung mit auf. Die Gemeinschaft, deren Geburtsstunde hier vorgeführt wird, ist mit nationalen Symbolen ausgestattet. Dazu gehören die Trikots, die Flaggen im Stadion, der angriffslustig schauende

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Adler, der auf einem Banner während der Nationalhymne über die Zuschauerränge gespannt wird und nicht zuletzt die Hymne. Die Gemeinschaft, um deren Herstellung es hier geht, ist nicht einfach eine Sportgemeinschaft, sondern die Gemeinschaft der Nation.

4.4 Das Ganze repräsentieren Deutschland. Ein Sommermärchen folgt den Spielern der deutschen Nationalmannschaft bis zur Dusche und quasi unter die Bettdecke. Dennoch bleibt eine Distanz. Wie der Film überwiegend im anonymen Raum verbleibt, fehlt es auch den Figuren an ‚Persönlichkeit‘. Der Film enthält keine Charakterisierungen einzelner Spieler, keine Enthüllungs-‚ oder Skandalstorys, keine ‚Insider-Infos‘. Die Spieler werden nicht zu Protagonisten einer Erzählung gemacht, mit denen die Zuschauer sich identifizieren könnten. Identifikationsmoment bleibt auch hier der Blick der Kamera, der den Helden der WM dicht folgt, niemals jedoch ihre Perspektive übernimmt oder anbietet. Die Spieler sind keine Identifikationsfiguren – sie sind Repräsentanten. Die Kamera, die sie in den Fokus nimmt, rückt damit zugleich dicht an das, wofür sie stehen. Als Spieler der Nationalmannschaft repräsentieren sie den deutschen Fußball und darüber hinaus die Nation. Die Erzählform des Films, die die Spieler nicht charakterisiert, sie nicht als Persönlichkeiten zeichnet, bewirkt, dass die Spieler in erster Linie als Mannschaft, als ‚Team‘ wahrgenommen werden. Der Einzelne bleibt stets Teil des Ganzen. Betont wird diese Einheitlichkeit des Nationalteams etwa in der Sequenz vom Abend des 5. Junis, dem ersten Abend nach dem Einzug der Mannschaft in das Berliner Hotel und damit dem Beginn der intensiven letzten Vorbereitung auf den Turnierbeginn am 9. Juni. Die Vorbereitungen, die der Film hier zeigt, sind keine sportlich-praktischen. Urs Siegenthaler, Chefscout der Nationalmannschaft, stellt den versammelten Spielern den ersten Gegner des Turniers, die Nationalmannschaft aus Costa Rica, in einem Vortrag mit Videoanalyse vor. Dabei schlägt er einen Bogen über die Kolonial- und Wirtschaftsgeschichte Costa Ricas, um darüber eine Mentalität der Bewohner abzuleiten und somit Schlüsse und Beobachtungen zur Spielweise ihrer Vertreter, der Nationalmannschaft, weiterzugeben: Als die Spanier nach Südamerika kamen, hatte niemand Interesse an Costa Rica. Sie haben kein Öl, kein Gold, kein Silber. Sie haben ihre Natur und die pflegen sie. Und so sind sie auch im Spiel. Also sie genießen das Fußballspiel im Gegensatz zu anderen Gegnern, die auf Euch zukommen. Sie sind bereit, dieses Leben auch zu teilen und das würde man spüren, wenn man dort lebte. Es ist ganz, ganz fest ihre Mentalität, jedermann an der Freude des Lebens teilnehmen zu lassen. Und so verhalten sie sich auch auf dem Platz.

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Diese mehr als zweifelhafte Mentalitätsskizze präsentiert die Mannschaft aus Costa Rica als ‚Andere‘ und gibt Abgrenzungskriterien an die Hand, mittels derer eine Identität der deutschen Nationalspieler hergestellt wird. Es folgt die Ansprache von Manager Oliver Bierhoff an die Mannschaftsmitglieder: […] [W]as einfach in diesen Tagen jetzt wichtig sein wird, das ist nämlich meines Erachtens euer Kopf und euer Herz. Darauf habt ihr Einfluss. Am Ende des Turniers werdet ihr vor den Spiegel treten und euch überlegen, war das ein gutes Turnier? Und dann könnt ihr den Trainer anlügen, eure Frauen anlügen, die Medien anlügen, aber euch selber könnt ihr nicht anlügen. Und meine Erfahrung hat gezeigt; am Ende wird man sich überlegen, hab ich mein Bestes gegeben, bin ich zufrieden. Wenn’s nicht gereicht hat, Hut ab vor dem besseren Gegner.

Indem Bierhoffs Ansprache in der Dokumentation unmittelbar im Anschluss an den Mentalitätsvortrag über Costa Rica montiert ist,33 erscheinen Bierhoffs Worte hier wie ein Programm für die deutsche Nationalmannschaft, als Behauptung und Einforderung der Eigenschaften, durch die sich Deutschland (im Kontrast zu anderen, etwa Costa Rica) auszeichnet. Die programmatischen Aspekte sind hier mit dem Topos der Einheit von Kopf und Herz zusammengefasst. Metaphorisch stehen Kopf und Herz für Verstand und Gefühl, deren Einklang das Idealbild eines geschlossenen, aufgeklärten Subjekts garantieren. Solchermaßen wird hier auch für die Nationalspieler die Übereinstimmung von Kopf und Herz gefordert, um zur Wahrhaftigkeit und damit zu einer eigenen Ganzheit, die nicht durch Lügen oder falsche Vorspiegelungen getäuscht ist, zu finden. Während Bierhoffs Stimme als Voice-over weiterläuft, wechselt das Bild von dem Besprechungsraum in den Hotelgarten, wo die Spieler und Betreuer zu sehen sind. Hier wird die Mannschaft nun als harmonische Gruppe ins Bild gesetzt. Mit dem von Bierhoff angekündigten Fackelritual, währenddessen elf Fackeln in der Spielformation der Mannschaft entzündet werden, scheint sie ihre Einheitlichkeit und Geschlossenheit zeremoniell zu beschwören. Das Feuer, das die Spieler untereinander weiterreichen, wird dabei – in Anlehnung an das Olympische Feuer – zum Zeichen der Verbundenheit. Die extradiegetische Instrumentalmusik von Marcel Barsotti unterstreicht den Aspekt der Harmonie und des Stimmungsvoll-Feierlichen. Deutschland. Ein Sommermärchen fügt hier mittels der Montage Szenen zu einer Sequenz zusammen, die die deutsche Nationalmannschaft als geschlossene Einheit zeigt. Der Film setzt hier Abgrenzungsstrategien, zweifelhafte Mentalitätszuschreibungen, pathetische Formulierungen, archaische Bilder  Der Film hält sich hier nicht an die Chronologie des Geschehens, wie sie Wortmann in seinem WM-Tagebuch aufzeichnet. Dadurch erhält die Montage der Szenen eine besondere Aussagekraft.

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und emotionale Musik ein. Die Zusammenstellung dieser Elemente ergibt nicht nur eine kitschige Sequenz über den Zusammenhalt innerhalb der Nationalmannschaft, sondern verweist zugleich darüber hinaus auf ‚das große Ganze‘, das diese Mannschaft repräsentiert. Die deutsche Nationalmannschaft vertritt Deutschland. Die Identität der Nationalmannschaft, die hier zelebriert wird, ist also eine deutsche Identität. Diese inszeniert der Film ausgerechnet mit einem Fackelritual – Fackeln waren ein beliebte Requisite bei Großereignissen der Nationalsozialisten – und erzählt, wie sie sich in Abgrenzung von ‚naiven Naturvölkern‘ finden lässt. Deutschland. Ein Sommermärchen bedient sich hier überkommener und überholt geglaubter Bilder, die hier wiederauftauchen, um eine nationale Identität vor Augen zu führen.

4.5 82 Millionen Nach der Erzähllogik von Deutschland. Ein Sommermärchen realisiert die deutsche Nationalmannschaft stellvertretend für Deutschland dessen Projekt der Vereinigung. Die Mannschaft wird als gelungene deutsche Einheit ins Bild gesetzt und führt stellvertretend die Einheit der Nation vor. Dieser Auftrag, die Nation zu einen, wird in der Sequenz formuliert, die Jürgen Klinsmanns Motivationsansprache an die Mannschaft vor dem Halbfinalspiel gegen die italienische Mannschaft zeigt. Wesentlich ist hier wiederum die Montage. Die in der Kabine an die Spieler gerichteten Worte Klinsmanns werden zunächst als Voice-over mit Bildern verschaltet, die während der Fahrt aus dem Bus aufgenommen wurden und die im stimmungsvollen Abendlicht lange Reihen winkender Fans mit begeisterten, erwartungsvollen Gesichtern und zahlreichen Deutschlandflaggen zeigen. Klinsmann spricht (zunächst aus dem Off) von den 70.000 Stadionzuschauern, „die mit ihren Herzen“ auf die Spieler warteten. Diese 70.000 Zuschauerherzen zu erreichen, sei den Spielern möglich, wenn sie ihr eigenes Herz ins Spiel einbrächten. Dadurch könnten sie die Italiener „weg hauen“ und „Geschichte schreiben“. Und zudem den „80 Millionen“ – eine Zahl beinahe nationaler Größe – gerecht werden, die sie bisher „fasziniert“ haben. Der erste Teil der Sequenz ist mit Barsottis Instrumentalmusik unterlegt, die die Montage zusätzlich emotional auflädt und über den ‚Gänsehauteffekt‘ versucht, auch die Herzen der Filmzuschauer zu rühren und in den Kreis der vereinten Herzen aufzunehmen. Nach dem gefühligen Beginn wird die Stimmung im weiteren Verlauf der Sequenz ernsthafter, konzentrierter – jedoch nicht weniger pathetisch. Bild und Ton werden zusammengeführt und zu sehen sind Trainer und Spieler in der Kabine, die extradiegetische Musik verschwindet. Klinsmanns Ansprache endet mit dem gemeinsamen, dreimal

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wiederholten Motivationsruf „Wir sind ein Team!“. Dieser Ruf schwört hier zum einen die Spieler auf den Mannschaftsgeist ein. Im Zusammenhang der Erzählung des Films ist dem Motivationsmotto jedoch eine deutliche Referenz eingeschrieben. „Wir sind ein Team!“ stellt eine Parallele zu dem Ruf ‚Wir sind ein Volk‘ der Leipziger Montagsdemonstranten von 1989 dar. Diese Formel fasste die Forderung der Demonstranten nach der Vereinigung der geteilten deutschen Staaten zusammen.34 Der Film stellt diese Szene ans Ende einer sehr emotional inszenierten Sequenz, in der die Einschwörung der Mannschaft auf ihre Verpflichtung gegenüber der Fußballnation und die Bilder der Menschen, die ihren Hoffnungsträgern mit ihren Deutschlandflaggen zuwinken, zusammengebracht werden. Dadurch wird hier eine Bedeutsamkeit aufgebaut, die über die Dokumentation dessen, was während einer Weltmeisterschaft in der Kabine passiert, hinausgeht. Über die Montage inszeniert der Film die Ereignisse als national bedeutsamen Prozess. Der Film sagt: Klinsmann und die Nationalmannschaft schreiben Geschichte, sie einen unsere Nation. Dass dieses Einigungsprojekt gelingt, setzt der Film abschließend als eine Art Videoclip zu dem Schlager Marmor, Stein und Eisen bricht in Szene. Im Anschluss an das gewonnene Spiel um den dritten Platz feiern Spieler und Betreuer im Bus ausgelassen zu dem Schlager. Die Tonspur mit dem Song und den mitsingenden Prominenten setzt sich in der Montage fort, während im Bild der Bus mit den Mannschaftsmitgliedern – nun von außen zu sehen – vor dem Stuttgarter Hotel ankommt. Die Spieler und mit ihnen die Kamera treten an die Hotelfenster, vor denen sie ein Meer aus Schwarz-Rot-Gold und Tausende von Fans jubelnd erwarten. Die Musik, jetzt extradiegetisch, schwillt an dieser Stelle an zum emphatischen „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht. Alles, alles, alles geht vorbei, doch wir sind uns treu“ und die Kamera schwenkt zum Blick über die Fahnen und Fans. Es erfolgt ein Kamerawechsel, die Spieler am geöffneten Fenster sind nun von außen aufgenommen. Die Musik stoppt, zu hören ist nur noch die Menschenmasse. Die Spieler verbeugen sich im Rhythmus des Jubels. Die Kamera zoomt verzerrend schnell zur Totale. Die Menschenmenge, die hochgerissenen Arme und Flaggen füllen

 Zudem wird die Ablösung des Rufs ‚Wir sind das Volk‘ durch die Umformulierung in ‚Wir sind ein Volk‘ als Ausdruck eines entscheidenden Stimmungswandels im Herbst 1989 gesehen. Während die Demonstrationen zunächst in erster Linie Reformen für die DDR forderten, brachte der Ruf ‚Wir sind ein Volk‘ den sich durchsetzenden Einheitsgedanken zum Ausdruck und den Willen zum Abschied von einer eigenständigen DDR. Vgl. Hartmut Zwahr, ‚Wir sind das Volk!‘. In: François, Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, S. 253–265, insbesondere S. 260 f. Sowie: Vanessa Fischer, ‚Wir sind ein Volk‘. Die Geschichte eines deutschen Rufes, Deutschlandradio Länderreport, 29. 09. 2005, verfügbar unter: http://www.dradio.de/ dkultur/sendungen/laenderreport/421153/ (abgerufen am 29. 04. 2011).

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das Bild. Es erfolgt eine Abblende, danach setzt der Song wieder ein, zu dem die Spieler während der Busfahrt am nächsten Morgen klatschen und singen. Der Bus bringt sie durch eine Gasse zwischen Menschenmengen direkt zur Abschiedsfeier am Brandenburger Tor in Berlin. Der Anschluss vom Bus zur Bühne wird im Film wiederum über einen Liedtext gelöst. An Bierhoffs scherzhaftes „Wenn wir das noch schaffen, durchzuzählen. Männer, eins, zwei, drei“ wird die Liedzeile „und 54 – 74 – 90 – 2010“ aus dem WM-Sommerhit der Gruppe Sportfreunde Stiller so angeschlossen, dass sich der Effekt eines Durchzählens ergibt. In der Rückenansicht sind die Trainer und Spieler zu sehen, die auf der stegartig in die Menschenmengen ragenden Bühne winken. Die Aufschrift ihrer T-Shirts „Teamgeist 82 Mio.“ wird dabei zur abschließenden Formel für das durch die Nationalmannschaft und das Ereignis der Weltmeisterschaft hergestellte ‚eigentliche Nationalteam‘, die geeinte Nation. Wie gezeigt wurde, gestalten Wortmanns Filme Das Wunder von Bern und Deutschland. Ein Sommermärchen in ihren Erzählungen über die Fußballweltmeisterschaften von 1954 und 2006 Angebote und Entwürfe nationaler Identität. Die Filme verknüpfen die Erzählung über die Fußballweltmeisterschaften und die Bilder einer mit sich geeinten Nation auf eine Weise, dass ein Konnex entsteht: Die Identität der Nation scheint durch das Ereignis Fußballweltmeisterschaft erreichbar zu sein. Die Filme erzählen somit von einem Stillstellen der imaginären Bewegung, da das Erreichen der Identität ins Bild gesetzt wird. Während Das Wunder von Bern dieses Erreichen nationaler Ganzheit historisierend als nationalen Gründungsmythos gestaltet, beschwört Deutschland. Ein Sommermärchen die Einheit der Nation als aktuelle Identifkationsofferte, die sich durchaus auch vorbelasteter Bilder bedient. Im Folgenden geht es darum, in den Blick zu nehmen, was die Filme mit diesen Erzählungen von der nationalen Ganzwerdung Deutschlands verbinden. Wofür steht die Nation und was bedeutet die nationale Narration für die Entwürfe eines aktuellen Deutschlands? Die ‚Einheit der Nation‘ stellt nicht nur einen ideellen Wert ‚für sich‘ dar. Die Nation ist ein Handlungssubjekt; ein Subjekt, das auch wirtschaftlich handelt. Bei der Herstellung der Nation geht es immer auch um die Herstellung ihrer wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit. Der folgende Abschnitt untersucht, wie in Wortmanns WM-Filmen die Erzählung von deutschen Fußball-Märchen mit einer Wirtschaftswunder-Erzählung verschränkt wird.

5 Wirtschaftswunder Das Wunder von Bern stellt an den Schlusspunkt der filmischen Erzählung die Verbindung von nationaler Identität und wirtschaftlichem Erfolg. Die Wieder-

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geburtsstunde der Nation – als solche inszeniert der Film den Weltmeisterschaftssieg – wird als Initialzündung des so genannten Wirtschaftswunders der Bundesrepublik dargestellt. In der Schlussszene des Films fährt der Mannschaftszug auf die leuchtende Abendsonne zu und scheint damit den Aufbruch der erneuerten Nation in eine strahlende Zukunft zu repräsentieren.35 Diese Bilder werden ergänzt durch eine Texteinblendung, die den Zusammenhang von WM-Erfolg, Heilung der Nation und Wirtschaftswunder explizit herstellt: „Ein Jahr später kehrten die letzten Kriegsgefangenen nach Hause zurück. Zur gleichen Zeit begann das deutsche Wirtschaftswunder. Die Elf von Bern spielte nie wieder zusammen.“ Solchermaßen wird hier die Geburtsstunde einer neuen nationalen Identität mit dem Beginn des wirtschaftlichen Aufschwungs im westlichen Nachkriegsdeutschland verschaltet. Das Versprechen von heiler Welt und Wohlstand, für das der Projektionsraum Schweiz als Gegenüber des Nachkriegsdeutschlands steht, wird mit dem Überschreiten der räumlichen Grenzen eingelöst. ‚Das Wunder von Bern‘ und ‚das Wirtschaftswunder‘ hängen in dieser narrativen Logik unmittelbar zusammen. Die nationale Identität, die – so die Legendenbildung – der Weltmeistertitel von 1954 wieder ermöglicht, wird damit zur Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg. Wortmanns abendrotleuchtendes Happy End der Erzählung von Fußballweltmeisterschaft und nationaler Wiedergeburt, die unmittelbar in das Wirtschaftswunder führen, steht in direktem Kontrast zu einem anderen, sehr bekannten Beispiel bundesdeutscher Filmgeschichte, das die genannten Ereignisse ebenfalls verschaltet. Rainer Werner Fassbinders Die Ehe der Maria Braun (BRD 1979) soll an dieser Stelle vergleichend hinzugezogen werden, um anhand der Parallelen bzw. der Unterschiede einen bestimmten Aspekt deutlich zu machen. Die Ehe der Maria Braun ist Bestandteil von Fassbinders Trilogie zur Geschichte der Bundesrepublik und wurde wiederholt als exemplarische Erzählung über die Situation im Nachkriegsdeutschland gesehen.36 Der Film setzt wie Das Wunder von Bern die Erfolgsgeschichte der bundesrepublikanischen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in einen Zusammenhang mit dem Ausgang der Fußballweltmeisterschaft von 1954 – und ebenfalls geschieht dies in der Schlusssequenz des Films. Dieser Konnex erhält hier jedoch eine ganz andere Bedeutung. Während Das Wunder von Bern seine Erzählung um den WM-Erfolg entwickelt und am Ende im Wirtschaftswunder

 Vgl. auch Stefan Moitra, Neunzig Minuten Schaulust? Zur Darstellung von Fußball in Spielfilmen des 21. Jahrhunderts. In: Mittag, Nieland (Hg.), Das Spiel mit dem Fußball, S. 349–358, S. 354.  Vgl. Thomas Elsaesser, The BRD Trilogy, or: History, The Love Story. In: Thomas Elsaesser, Fassbinder’s Germany. History Idenity Subject, Amsterdam 1996, S. 97–128.

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münden lässt, stellt Die Ehe der Maria Braun das Wirtschaftswunder in den Handlungsmittelpunkt. Die zeithistorische Verortung erfolgt innerhalb des Films von Fassbinder über die Tonspur: So stellen in den Anfangsszenen die Suchmeldungen aus dem Radio den Kontext der unmittelbaren Nachkriegszeit her, wie der Baulärm in späteren Sequenzen für den Abbruch der Trümmer und den Neuaufbau steht. Die Schlusssequenz des Films ist begleitet von der Radioreportage des Finalspiels in Bern. Herbert Zimmermann kommentiert somit zugleich das Finale der Ehe der Maria Braun. Das berühmte „Aus, aus, aus! Deutschland ist Weltmeister!“ wird hier jedoch, anders als bei Wortmann, nicht zum Startsignal für einen Neubeginn, sondern ist wortwörtlich finaler Schlusspunkt. Marias Anzünden einer Zigarette löst eine Gasexplosion aus, die sie in den Tod reißt. Der Film ist aus. Die Kontrastierung dieser beiden so ganz anderen Erzählungen von Wirtschaftswunder und WM verstärkt den Eindruck von Geradlinigkeit, mit der Das Wunder von Bern Fußballsieg und ökonomischen Aufschwung verbindet. Im Gegensatz zu dem distanzierenden, destruktiven Schluss bei Fassbinder schließt Wortmann mit einer integrativen Geste, die ein „Identifikationsangebot für die Gegenwart“ 37 schaffen soll. Das ‚Wirtschaftswunder‘ resultiert bei Wortmann aus der neu gewonnenen Nationalidentität und bildet zugleich am Ende des Films die identifikatorische Klammer, die auf den wirtschaftlichen Aufschwung als die gemeinsame Grundlage einer bundesrepublikanischen Identität verweist und somit wiederum eine Bezugsgröße für eine Identifikation des (westdeutschen) Filmpublikums anbietet. Wirtschaftswunder und nationale Identität, so suggeriert Das Wunder von Bern, gehen eine enge Beziehung ein bzw. scheinen sogar voneinander abzuhängen. Auch Wortmanns zweiter Fußballweltmeisterschaftsfilm lässt sich in diesen Kontext einordnen. Als Kinofilm, der von der massiven Aufmerksamkeit, die der Weltmeisterschaft 2006 zuteil wurde, profitiert, hat Deutschland. Ein Sommermärchen Anteil an einem Diskursfeld, das in besonderer Weise die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland, die Frage nationaler Identität und konkrete wirtschaftliche Implikationen verband. Als Dokumentarfilm über die Nationalmannschaft während des Turniers thematisiert Deutschland. Ein Sommermärchen diese Aspekte nicht explizit inhaltlich, ist aber dennoch Bestandteil dieses Diskurses. Der Titel des Films Deutschland. Ein Sommermärchen ist eine deutliche Anlehnung an Heinrich Heines satirisches Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen von 1844. Durch diese Bezugnahme stellt sich der Film nicht nur in eine bestimmte Tradition des Deutschlandkommentars, sondern scheint durch  Moitra, Neunzig Minuten Schaulust?, S. 354.

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die Umwendung von Winter in Sommer zudem eine Art positiver Schlusspunktsetzung zu dem Deutschland-kritischen Diskurs zu versprechen. Heines Wintermärchen stellt einen kritischen, bissig-ironischen Kommentar zum Deutschland seiner Zeit und zugleich die Erklärung einer großen, schmerzhaften Liebe zu dem Heimatland, dem ‚eigentlichen‘ Deutschland, dar. Wortmanns Titelwortspiel, das Winter mit Sommer austauscht, wendet dies radikal ins Positive. Das negative Deutschlandbild, dem hier eine Absage erteilt wird, wird in Wortmanns WM-Dokumentation – wie auch in Heines Versepos – durch einen Exilanten aus der Distanz eines Ausgewanderten formuliert. Deutschland. Ein Sommermärchen zeigt Bundestrainer Jürgen Klinsmann in seiner Wohnung im kalifornischen Huntington Beach vor dem Terrassenfenster, hinter dem sich der Blick auf den Strand auftut. Klinsmann spricht über die deutsche Mentalität des ewigen Jammerns, Klagens, Beschwerens und Festhaltens, die zu einem „Stillstand“ führe: Ich denke halt, dass sich bei uns in Deutschland, und ich schau da ja ein bisschen anders drauf, weil ich in einem anderen Land leb’, einfach sich so ’ne Mentalität eingebürgert hat, wo man sich permanent beschwert, beklagt, jammert über egal was es auch ist. Und letztendlich orientieren wir uns alle an einem globalen Markt, ob das im Fußball ist, bei einer Fußballweltmeisterschaft ist das global, oder halt in allen anderen Arbeitsbereichen […] Wir haben in Deutschland vielleicht ein bisschen die Mentalität, dass wir uns, wir wollen festhalten, was erreicht wurde, nicht mehr loslassen. Aber nicht das gleiche noch mal an Aufwand zu opfern, um das nächste große Ziel zu erreichen. Und dann ist Stillstand.

Wie Heines Ich-Erzähler im ersten Caput des Wintermärchens scheint sich Klinsmann, immer wieder inszeniert als Visionär und Heilsbringer des deutschen Fußballs, gegen das ewig-gestrige, depressive „alte Entsagungslied“ 38 der Deutschen zu wenden. Der Gegenentwurf zu der Vertröstungshaltung im antiquierten Deutschland sieht bei Heine so aus: Ein neues Lied, ein besseres Lied, O Freunde, will ich Euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon Das Himmelreich errichten.39

Solch ein neuer Entwurf, so scheint es zumindest Wortmanns Sommermärchen zeigen zu wollen, ist Klinsmann mit dem deutschen Beitrag zur Weltmeisterschaft 2006 gelungen. Oder zumindest versucht Wortmann mit seinem Film  Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, hg. von Werner Bellmann, Stuttgart 1991, S. 9.  Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, S. 10.

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ein solches ‚neues und besseres Lied‘ von Deutschland ins Bild zu setzen. Wortmanns Sommermärchen behauptet somit einen neuen Entwurf von Deutschland. Dieser grenzt sich von einer angenommenen überholten, negativen Haltung ab und setzt ihr eine positive, bejahende Selbstidentität entgegen. Genau dieser Prozess der Ablösung von einer negativen Einstellung Deutschlands sich selbst gegenüber wird auch in anderen Zusammenhängen eingefordert und die Fußballweltmeisterschaft 2006 fand sich vielfach eingesetzt und instrumentalisiert, um dieses Vorhaben zu befördern. So erinnert Klinsmanns Aussage zur überholten Mentalität der Deutschen, die der Film inszeniert, stark an die häufig geäußerte Anklage, die negative Einstellung der Deutschen zu ‚sich selbst‘ habe eine bremsende Wirkung – etwa auf die Wirtschaft. Als Beispiel sei hier Henrik Müller aus seinem 2006 erschienenen populär-polemischen Buch Wirtschaftsfaktor Patriotismus zitiert: Irgendwann in den vergangenen Jahrzehnten haben die Bewohner der Bundesrepublik den Glauben an sich selbst verloren. Nicht unbedingt jeder an sich persönlich, sondern eher den Glauben an die Leistungsfähigkeit des Landes – das Vertrauen in die Kraft der eigenen Gesellschaft, der Wirtschaft. Die Nation, wenn man so will. Längst ist die Krise kein techno-ökonomisches Problem mehr, das sich mit eiligem Drehen an einigen Stellschrauben des volkswirtschaftlichen Apparats beheben ließe. Sie ist ein chronifiziertes mentales Leiden, und zwar ein kollektives.40 […] Aber die Bundesrepublik, das einstige Wirtschaftswunderland, verharrt – verängstigt, erstarrt, weinerlich, auf sich selbst bezogen. […] Weil Patriotismus im globalen Wettbewerb ein entscheidender Erfolgsfaktor ist. Und weil es den Bundesbürgern eben daran mangelt – an einem positiven kollektiven Selbstbild, das in einem Zusammengehörigkeitsgefühl untereinander und einer emotionalen Bindung an die Nation zum Ausdruck kommt.41

Das Problem, das Müller hier suggeriert, ist der mangelnde Glaube an die Nation. Daraus resultiere der selbstverschuldete wirtschaftliche Misserfolg, denn die ‚gemeinsame Sache‘, und somit auch die Wirtschaft, könne nur erfolgreich sein, wenn sich alle mit Überzeugung daran beteiligten – so das Muster, das hier bedient wird. Eine ähnliche Argumentationsweise lag auch der ‚Sozialkampagne‘ Du bist Deutschland zugrunde, die im Vorfeld des Weltmeisterschaftsjahres im Winter 2005/06 auf einen ‚Stimmungswandel‘ abzielte. Auch hier wurde der Einzelne zur Identifikation mit der ‚gemeinsamen Sache‘, Deutschland, aufgefordert mit dem zweifelhaften Ziel, über den Einsatz jedes Einzelnen das ‚große Ganze‘ vorwärts zu bringen. Auf der Kampagnenhome Henrik Müller, Wirtschaftsfaktor Patriotismus. Vaterlandsliebe in Zeiten der Globalisierung, Frankfurt a.M. 2006, S. 13.  Müller, Wirtschaftsfaktor Patriotismus, S. 15.

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page wird rückblickend bilanziert: „Die Kampagne Du bist Deutschland war 2005 der Beginn einer positiven Stimmungswelle im ganzen Land“.42 Auffällig in den genannten Beispielen, sowohl der Schrift Müllers als auch bei der Kampagne Du bist Deutschland, ist, dass sie in erster Linie auf ein emotionales Programm setzen. Gefordert wird eine ‚neue‘ bzw. positive Einstellung, Selbstbewusstsein, Glaube – mithin eine emotionale Bindung an Deutschland, eine Identifikation mit einer Kollektividentität. Wortmanns Sommermärchen und Das Wunder von Bern scheinen die Forderungen dieses Diskurses, der eine positive Selbst-Identität als Voraussetzung für gesellschaftliches und wirtschaftliches Wachstum annimmt, als erfüllt ins Bild zu setzen. Solchermaßen in einem weiteren Zusammenhang betrachtet, lassen sich Wortmanns WMFilme als Teil eines gesellschaftlich breit gespannten Bemühens verstehen, die Weltmeisterschaft 2006 für eine Veränderung und Verbesserung der Selbstund Fremdwahrnehmung Deutschlands zu instrumentalisieren. In diesem Kontext erscheint die Fußball-WM 2006 als Chance, ein neues Wirtschaftswunder zu generieren. Die beiden Fußballfilme Wortmanns bedienen ebenfalls dieses Muster und stellen den Zusammenhang Weltmeisterschaft – nationales WirGefühl – Wirtschaftswunder narrativ her und bereiten die ‚Erfolgsgeschichte‘ vor. Die Entscheidung, dass die 18. FIFA-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland ausgetragen würde, ist bereits im Jahr 2000 gefallen. Dies berücksichtigend, kann Wortmanns Wunder von Bern als Vorbereitung für das Event 2006 gesehen werden, für das mit der Erzählung vom bundesrepublikanischen Gründungsmythos des WM-Siegs von 1954 im Vorfeld Stimmung gemacht werden sollte. Die Aufmerksamkeit, die beide Filme durch die Politikprominenz erhalten haben, deutet darauf hin, dass die Geschichten, die sie erzählen, von ‚höchster Stelle‘ unterstützt wurden. Wenn Das Wunder von Bern also den Rahmen absteckt, den Zusammenhang von Fußballsieg, Einheit der Nation und wirtschaftlichem Wohlstand herstellt, dann bildet Deutschland. Ein Sommermärchen die Klammer, die diesen Zusammenhang für die Gegenwart feststellt und bestätigt. Deutschland. Ein Sommermärchen erzählt, wie das Projekt ‚nationale Einheit durch Fußballweltmeisterschaft‘ auch 2006 funktioniert – für die logische Folge, das Wirtschaftswunder, ist damit alles getan.  www.du-bist-deutschland.de (abgerufen am 15. 05. 2011). Die Kampagne wurde durchaus auch kritisch aufgenommen. Als Beispiele vgl. Jan-Hendrik Wulf, Offensive für Deutschland. In: taz. die tageszeitung, 26. 09. 2005, verfügbar unter: http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig= 2005/09/26/a0134 (abgerufen am 15. 05. 2011). Sowie: Harald Jähner, Mach hinne, Deutschland!. In: Berliner Zeitung, 30. 09. 2005, verfügbar unter: http://www.berlinonline.de/berlinerzeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2005/0930/feuilleton/0005/index.html (abgerufen am 15. 05. 2011).

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Das Wirtschaftswunder als Happy End der Erzählung von Weltmeisterschaft und Deutschland wurde nicht nur beschworen, sondern bald auch als ‚Realität‘ behauptet. So wurde die Rede von einer wirtschaftlichen Belebung durch die Fußball-WM rasch zum Gemeinplatz und zu ihrem wissenschaftlichen Beleg liegen inzwischen unterschiedliche Studien vor.43 Die Bundesregierung bilanziert in ihrem Abschlussbericht zur Fußballweltmeisterschaft 2006: „WM-Umsatz übertrifft Erwartung“ 44. Die Auswirkungen der Weltmeisterschaft 2006 auf die deutsche Wirtschaft seinen zwar „nicht eindeutig zu berechnen“, dennoch gäbe es „einige Indikatoren, die die positiven Wirkungen belegen“ 45. Insgesamt wird die Weltmeisterschaft als „Konjunkturstimulanz“ 46 bewertet, wodurch auch nachhaltige Effekte zu erwarten seien. Diese wirtschaftlichen Erfolge haben laut einer Presseerklärung der Bundesregierung vom Dezember 2006 maßgeblich einen Grund: „Fußballweltmeisterschaft verbessert Deutschlandbild“ 47. Noch im WM-Jahr 2006 stellt der Wirtschaftswissenschaftler und Marketingexperte Christoph Burmann fest: „Die FIFA-Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland hat, da sind sich alle Fachleute einig, das Image der ‚Marke Deutschland‘ signifikant positiv beeinflusst.“ 48 Der Weltmeisterschaft 2006 wird eine stimulierende Wirkung auf die Wirtschaft unterstellt, da sie das Bild Deutschlands bzw. Deutschlands Image gestärkt und verbessert habe.49 Auch in diesen rückblickenden Aussagen wird also ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und nationaler Identität (dem verbesserten Bild einer Nation) hergestellt.  Vgl.: Malte Heyne, Die ökonomischen Effekte von Fußballweltmeisterschaften. Das Beispiel ‚Fußball-WM 2006‘, Marburg 2006. Sowie: Jürgen Schwark, Der Weltmeister zu Gast in Meiderich – Ökonomische Effekte der Fußball-WM 2006 für die Stadt Duisburg. In: Dieter H. Jütting (Hg.), Die Welt ist wieder heimgekehrt. Studien zur Evaluation der FIFA-WM 2006, Münster 2007, S. 99–117.  Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.), Fußball-WM 2006. Abschlussbericht der Bundesregierung, www.fifawm2006.deutschland.de (abgerufen am 07. 11. 2007), S. 21.  Fußball-WM 2006. Abschlussbericht der Bundesregierung, S. 21.  Fußball-WM 2006. Abschlussbericht der Bundesregierung, S. 23.  Presseerklärung der Bundesregierung vom 12. 12. 2006 (www.bundesregierung.de, abgerufen am 23. 08. 2007). Siehe auch die Studie Dieter. H. Jütting, Daniel Schönert, Florian Reckels, Die FIFA-WM 2006 und Gästebilder. Eine Analyse. In: Jütting (Hg.), Die Welt ist wieder heimgekehrt, S. 119–146.  Christoph Burmann, Geleitwort. In: Axel Nitschke, Event-Marken-Fit und Kommunikationswirkung. Eine Längsschnittbetrachtung am Beispiel der Sponsoren der FIFA-Fußballweltmeisterschaft 2006TM, Wiesbaden 2006, S. V.  Zu der Veränderung des Deutschlandbilds im Ausland hat Franziska von Stetten eine empirische quantitative Studie vorgelegt: Franziska von Stetten, Imageänderung Deutschlands durch die FIFA WM 2006TM. Stereotypen, interkulturelle Kommunikation, Erwartungs- und Wahrnehmungsabgleich, Einflussfaktoren, Bochum 2009.

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5.1 Nation Branding Wortmann beteiligte sich nicht nur mit seinen beiden Fußballfilmen an diesem Diskurs um die Weltmeisterschaft. Er lieferte außerdem gemeinsam mit Mitarbeitern des Kanzleramts, des Innenministeriums und der Werbeagentur Zum goldenen Hirschen die Anregungen und Anstöße für die große Imagekampagne der Bundesregierung zur Fußballweltmeisterschaft.50 Zunächst entstand aus der Idee, die Aufmerksamkeit während der WM zu nutzen, um das Ansehen Deutschlands im Ausland sowie das Zusammengehörigkeitsgefühl in Deutschland zu verbessern, das Kampagnenkonzept FC Deutschland 06, das der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder unterstützte. Bundeskanzler und -regierung versuchten, für die Finanzierung den Bundesverband der Deutschen Industrie zu gewinnen, doch die Unternehmensvertreter, denen das Konzept vorgestellt wurde, fürchteten, als ‚Wahlhelfer‘ der rot-grünen Regierung dazustehen, und lehnten den Vorschlag in der vorgelegten Form ab.51 Aufgrund der Einwände der Industrie gab es einen Agenturwettbewerb, den schließlich die Agentur Scholz & Friends mit ihrem Konzept Deutschland. Land der Ideen gewann.52 Die mit 20 Millionen Euro aus Steuermitteln und Industriespenden ausgestattete Initiative unter Schirmherrschaft von Bundespräsident Horst Köhler zeigt das „wechselseitige Verwobensein von Kultur und Ökonomie im Zeitalter der Globalisierung“ 53 und stellt ein Paradebeispiel für das so genannte Nation Branding dar.

 Vgl. Klaus Kamps, Jörg-Uwe Nieland, Weltschaufenster Fußball. Kampagnen aus Anlass der WM 2006. In: Mittag, Nieland, Das Spiel mit dem Fußball, S. 573–586, S. 576. Sowie: Manuel Lianos, Fußballfieber im Land der Ideen. Erwartungen und Befürchtungen rund um die Kampagne zur Fußball-WM. In: Miriam Melanie Köhler, Christian H. Schuster (Hg.), Handbuch Regierungs-PR. Öffentlichkeitsarbeit von Bundesregierungen und deren Beratern, Wiesbaden 2006, S. 275–286. Einen Überblick über die breite Anzahl an Kampagnen, die anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland zu vielfältigen Themen und auf unterschiedlichste Weise durchgeführt wurden siehe: Schwier, Die Welt zu Gast bei Freunden; Kamps, Nieland, Weltschaufenster Fußball. Kampagnen aus Anlass der WM 2006.  Als problematisch wurde zum einen die Beteiligung der Agentur Zum goldenen Hirschen bewertet, die auch die Partei- und Wahlkampfwerbung von Bündnis 90/Die Grünen betreute, sowie der starke Bezug des Konzepts zum Thema Fußball, mit dem Ex-Kicker Gerhard ‚Acker‘ Schröder verbunden sei. Vgl. Rainer Hank, Deutschland – Land der Streithähne. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. 02. 2005, Nr. 7, S. 35.  Vgl. Ralf Nöcker, Werber für Deutschland. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 01. 2005, Nr. 17, S. 18.  Schwier, Die Welt zu Gast bei Freunden – Fußball, nationale Identität und der Standort Deutschland, S. 97.

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Nation Branding oder auch Place Branding bezeichnet den Ansatz, Orte, Länder oder Regionen als Marken zu kommunizieren: The rapid advance of globalization means that every country, every city and every region must compete with every other its share of the world’s consumers, tourists, investors, students, entrepreneurs, international sporting and cultural events, and for the attention and respect of the international media, of other governments, and the people of other countries.54

Meike Eitel und Marie Spiekermann führen aus, dass es beim Place Branding als einem „ganzheitlichen, strategischen und integrativen Prozess“ darum geht, eine „Ländermarke“ zu schaffen, mit der „ihre Identität, ihr Markenwesen, über ihr Handeln, über ihre Kultur, über Emotionen und Bilder, die […] das Land als Marke in den Köpfen der Menschen auslöst“ 55: Place Branding bezeichnet die speziell angepassten Methoden der Markenentwicklung und strategischen Markenführung für Orte, Regionen und Länder […] Eine übergeordnete Rolle spielen dabei die Identität und das Identifikationspotential des Ortes, der Region oder des Landes.56

Betont werden bei diesem Ansatz also die „Wechselseitigkeit von Image und Identität“ 57. In dieser Weise ist auch die Initiative um das Land der Ideen konzipiert. Die Zielsetzung war es, den Gästen während des WM-Jahres und der aufmerksamen Weltöffentlichkeit „unser Land von seiner besten Seite“ 58 zu zeigen. Es ging also darum, ein positives Deutschlandbild zu kommunizieren, um damit „die Stärke des Standortes Deutschland“ 59 anschaulich zu machen. Dieses Deutschlandbild sollte ganz nach dem Muster eines Nation Branding Prozesses durch die Initiative als Land der Ideen gestaltet werden. Seine Glaubwürdigkeit erhält das kommunizierte Bild dabei, indem es eine vermeintliche Identität vermittelt: Deutschland. Land der Ideen „spiegelt wesentliche Eigenschaften der Deutschen wider“ 60. Die Initiative zeigt, ‚wie wir sind‘ – und muss  Simon Anholt, Competitive Identity. The New Brand Management for Nations, Cities and Regions, London 2007, S. 1.  Meike Eitel, Marie Spiekermann, Die Marke als steuerbares Vehikel der Identität?, Discussion Paper der Association for Place Branding and Public Diplomacy, S. 3, verfügbar unter: www.place-branding.org (abgerufen am 07. 11. 2007).  Meike Eitel, Marie Spiekermann, Die Rolle der Identität im Place Branding Prozess, Discussion Paper der Association for Place Branding and Public Diplomacy, S. 1, verfügbar unter: www.place-branding.org (abgerufen am 07. 11. 2007).  Eitel, Spiekermann, Die Rolle der Identität im Place Branding Prozess, S. 1.  http://www.land-der-ideen.de/CDA/die_initiative,14,0,,de.html (abgerufen am 08. 11. 2007).  http://www.land-der-ideen.de/CDA/die_initiative,14,0,,de.html (abgerufen am 08. 11. 2007).  http://www.land-der-ideen.de/CDA/die_initiative,14,0,,de.html (abgerufen am 08. 11. 2007).

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diese Selbstbestimmung dabei zuallererst definieren. Als maßgebliche Eigenschaften ‚der Deutschen‘ werden „Einfallsreichtum, schöpferische Leidenschaft und visionäres Denken“ genannt, womit die „Zukunftsfähigkeit, Leistungs- und Innovationskraft des Landes“ 61 unterstrichen werden sollen. Gezeichnet wird also ein Deutschlandbild, das das Land als idealen Wirtschaftstandort zeigt. Dabei werden bekannte Vorstellungen aufgegriffen und betont: „Leistungen in Wissenschaft und Wirtschaft, Kunst und Kultur werden im In- und Ausland mit Bezeichnungen wie ‚Made in Germany‘ oder „Land der Dichter und Denker“ verbunden“ 62. Besonders die häufige und grundsätzliche Bezugnahme auf das Schlagwort Made in Germany ist auffällig. Sie verweist darauf, dass es sich bei der Kampagne tatsächlich in erster Linie um eine Standortinitiative handelt, die Deutschlands starkes wirtschaftliches Potential als verlässlicher Handelspartner und Herkunftsland von qualitativ hochwertigen Produkten und Technologien untermauern soll. So wird auch im Initiativen-Bilanzbericht für das Jahr 2006 als weitergehendes Ziel vermerkt, man wolle „die Botschaft vom Land der Ideen verstärken und verstetigen und sie neben dem im In- und Ausland akzeptierten Qualitätsmerkmal ‚Made in Germany‘ zu einem etablierten Markenkern weiter entwickeln.“ 63 Die Konzeption, Aktionen und Angebote der Kampagne zielten in erster Linie auf Medienberichterstattung; also darauf, das neu generierte Deutschlandbild zu kommunizieren und zur Weitergabe anzubieten – es als Marke mit einem ‚transportfähigen‘ Image auszuarbeiten. So stellte sich das Land der Ideen während der Weltmeisterschaft 2006 in Form eines Walk of Ideas vor. Weit überlebensgroße Skulpturen aus Styropor, stellvertretend für Erfindungen und Produkte aus Deutschland wie den Stollenschuh oder die Aspirintablette, waren mit „Blickfang-Strategie“ 64 im Stadtbild von Berlin platziert, um einen gewünschten Effekt zu produzieren: „Bilder dieser weltbewegenden Ideen aus Deutschland, dem Land der Ideen, gingen rund um den Globus: Auf TouristenFotos und in Berichten internationaler Journalisten“ 65. Das deutsche Image wird damit an konkrete Gegenstände gebunden, um Sichtbarkeit zu schaffen und wiederum mittels Bildern kommuniziert zu werden. Im Rahmen des Projekts 365 Orte im Land der Ideen konnten sich Firmen, Forschungszentren, Institutionen, Bildungseinrichtungen, Einrichtungen und Projekte bewerben, um an einem Tag mit einer Veranstaltung seine besondere Idee vorzustellen.  http://www.land-der-ideen.de/CDA/die_initiative,14,0,,de.html (abgerufen am 08. 11. 2007).  http://www.land-der-ideen.de/CDA/die_initiative,14,0,,de.html (abgerufen am 08. 11. 2007).  Deutschland. Land der Ideen (Hg.), Ideen Made in Germany. Bilanz 2006, Berlin 2006, S. 65, verfügbar unter: www.land-der-ideen.de (abgerufen am 07. 11. 2007).  Kamps, Nieland, Weltschaufenster Fußball. Kampagnen aus Anlass der WM 2006, S. 578.  http://www.land-der-ideen.de/CDA/projekte,10810,0,,de.html (abgerufen am 08. 11. 2007).

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Auch bei diesem Projekt geht es also in erster Linie um die Schaffung von Aufmerksamkeit und Kommunikation. Der Wettbewerb 365 Orte beschränkte sich nicht auf das WM-Jahr, sondern wird seit 2006 jährlich ausgeschrieben.66 Insbesondere der Medienservice der Initiative sorgt mit Informationen und Stoff für die Berichterstattung für die gewünschte Wirkung der Kampagne.67 Wie gezeigt werden konnte, wurde die Weltmeisterschaft 2006 in vielfacher Weise für eine Neugestaltung des Images Deutschlands genutzt. Dieser ‚ReBranding Prozess‘ im Sinne eines umfassend koordinierten Bemühens, Deutschland als starke Marke neu zu setzen und nach innen wie außen zu kommunizieren, war in dieser Form und diesem Umfang ein neues Unterfangen.68 Bei dieser ‚Marke Deutschland‘ geht es stets um das Sichtbarmachen einer vermeintlichen Identität, die jedoch zuallererst zu definieren ist. Diese Definitionsversuche sind zugleich Identifikationsangebote. In diesem Sinne kann konstatiert werden, dass die Aktivitäten des Nation Brandings versuchen, sich den Dynamiken des Imaginären anzugleichen und sich ihre Wirkmächtigkeit anzueignen. Wortmann brachte sich auf verschiedene Weise in diesen Akteurskreis ein. Als Regisseur der Filme Das Wunder von Bern und Deutschland. Ein Sommermärchen, in denen ein narrativer Zusammenhang von Fußballweltmeisterschaft, nationaler Identität und wirtschaftlichem Erfolg aufgebaut werden, und als Ideengeber zu einer deutschen Imagekampagne, die schließlich als Deutschland. Land der Ideen umgesetzt wurde.

6 Wirtschaftswundermärchen Dieses Kapitel nahm in der Einleitung die Frage zum Ausgangspunkt, warum den beiden Fußballfilmen von Sönke Wortmann, Das Wunder von Bern und Deutschland. Ein Sommermärchen, eine so starke Aufmerksamkeit von Seiten der politischen Prominenz zukam und wie es sich erklären lässt, dass die Filmpremiere von Deutschland. Ein Sommermärchen am 3. Oktober 2006 als Nationalfeiertag inszeniert wurde. Wie die Analyse zeigt, lassen sich die Filme als Teil einer ‚großen Erzählung‘ lesen, die einen Konnex zwischen Fußballweltmeisterschaft, dem Nationalen und ökonomischem Erfolg herstellt. Diese Erzählung, so scheint es, zielt auf ein ‚Wirtschaftswunder 2006‘. Die Filme  http://www.land-der-ideen.de/de/365-orte/365-orte-im-land-ideen (abgerufen am 23. 08. 2011).  http://www.land-der-ideen.de/de/presse/herzlich-willkommen-im-pressebereich-vom-landideen (abgerufen am 23. 08. 2011).  Vgl. auch: Henning Hoff, Süßes Deutschland. Nach der Fußball-WM: Imagewandel durch ‚Nation Branding‘. In: epd Medien, 64, 2006, S. 3–5.

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werden darin zu einer Art Mustervorgabe. Das Wunder von Bern setzt das Vorbild und führt vor, was erneut angestrebt wird. Deutschland. Ein Sommermärchen inszeniert die gelungene Umsetzung der Teilziele Weltmeisterschaftsteilnahme und nationale Einheit. Aufgrund des vorgegebenen Musters folgt aus diesen Etappenzielen logisch das ‚große Ziel‘ Wirtschaftswunder. Somit lassen sich die Filme als Teile eines gesellschaftlichen Diskurses um ökonomische Prozesse und die Wirksamkeit des Nationalen ansehen. In diesem Diskurs geht es auch um Formung von Images, denen wirtschaftliche Wirksamkeit und Nutzen unterstellt wird. Mit der deutschen Identität, die die ‚Marke Deutschland‘ behauptet, geht es nicht um die Identität eines Kollektivsubjekts und deren Befindlichkeit, sondern vielmehr um die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit, die mit einer starken Position (dem ‚Standort Deutschland‘, dessen Image hier gestärkt wird) verbunden ist.

IV Wende-Roman 1 Redewendungen Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei. Die Ereignisse von 1989/90, die in die Anwendung des ‚Beitrittsartikels‘, Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, mündeten, werden immer wieder als zentrale Ereignisse für die Bildung einer deutschen nationalen Identität in der Gegenwart betrachtet. Während sich die durchgesetzte politische Strategie durchaus nüchtern-skeptisch als „wirtschaftlich fundierte Eingliederung der ostdeutschen Bevölkerung und ihres Territoriums in die Bundesrepublik über eine politische Ausschaltung der DDR-Regierung“ 1 definiert findet und die Vereinigung der beiden Staaten, „formaljuristisch gesprochen, ein schlichter Beitrittsakt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ 2 war, verbindet sich damit für die meisten doch ‚Größeres‘. Die Größe und Bedeutsamkeit, die den zeithistorischen Ereignissen von 1989/90 beigemessen wird, drückt sich in der Emphase der öffentlichen Rede darüber aus. So stellt der Historiker Edgar Wolfrum 2006 in seiner Überblicksdarstellung zur Geschichte der Bundesrepublik fest: „Nach 1990 ging es um nichts Geringeres als um die Neubildung der deutschen Nation.“ 3 Hagen Schulze sieht die seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts währende deutsche Identitätssuche mit dem 3. Oktober 1990 als beendet an: „Die Frage Ernst Moritz Arndts ‚Was ist des Deutschen Vaterland?‘ ist endgültig beantwortet.“ 4 Die Frage des Nation-Seins und -Werdens im Deutschland nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik diskutierte bereits Anfang 1990 die überwiegend im westdeutschen Feuilleton geführte ‚Intellektuellendebatte‘5 ausgiebig. Das „Phantom der Nation“ 6 war in dem 40jährigen Diskurs um die ‚deutsche Frage‘ immer schon präsent und trat

 Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl., München 1996, S. 374.  Ralf Schnell, 1989 und die Folgen. In: Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, 2. überarbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart 2003, S. 515–605, S. 515.  Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 448–450.  Hagen Schulze, Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte?, Stuttgart 1998, S. 64.  Vgl. die Dokumentation der Debatte bei Frank Thomas Grub, ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Ein Handbuch, Band 1: Untersuchungen, Berlin 2003, S. 179–186.  Ulrich Greiner, Das Phantom der Nation. Warum wir keine Nation sind und warum wir keine werden müssen – ein vergeblicher Zwischenruf im Intellektuellen-Streit um die deutsche Einheit. In: Die Zeit, 16. 03. 1990, zitiert nach Grub, ‚Wende‘ und ‚Einheit‘, S. 180.

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folglich unmittelbar mit den Ereignissen von 1989/90 wieder in Erscheinung. Die politische Zusammenführung der beiden deutschen Staaten unter dem bundesrepublikanischen Grundgesetz ist so zugleich mit dem Anspruch der (Wieder-)Herstellung einer deutschen Nation verbunden, für die sich im kollektiven Gedächtnis das Diktum Willy Brandts findet: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ 7. Solchermaßen impliziert die Rede von der ‚Einheit‘ stets zugleich eine Einheit von Identität im Sinne einer deutschen Identität. Betrachtet man die öffentliche Rede über die Ereignisse von 1989/90, fällt auf, dass sich für deren Benennung ungenaue Begrifflichkeiten durchgesetzt haben, die inzwischen meist unhinterfragt benutzt werden. So ist etwa der Ausdruck ‚Wiedervereinigung Deutschlands‘ unpräzise, da es bis 1990 nie ein Deutschland in den nun aktuellen bundesrepublikanischen Grenzen gegeben hat.8 Die Begrifflichkeiten, mit denen Vergangenes erinnert wird, tragen dazu bei, wie und welche ‚Geschichte geschrieben‘ wird. In diesem Sinn weist die Begriffsprägung ‚Wiedervereinigung‘ auf eine bestimmte, damit verknüpfte Vorstellung hin, die in der Rede von der ‚Wiedervereinigung‘ transportiert und bestätigt wird.9 Diese Vorstellung beinhaltet, dass die Zusammenführung der beiden Staaten unter dem Grundgesetz der Bundesrepublik eine geschichtliche ‚Richtigkeit‘ hat und weist dem Prozess eine Logik zu, die die Vereinigung als historische Notwendigkeit erzählt und damit der Geschichte einen ‚roten Faden‘ gibt: In einer Wiedervereinigung findet etwas, das zusammengehört und widernatürlich getrennt wurde, seine ursprüngliche Einheit.  Der Satz, der rasch zum ‚geflügelten Wort‘ wurde, geht zurück auf Willy Brandts Rede vom 10. November 1989 in Berlin. Ob dieses historische Zitat tatsächlich in der überlieferten Form gesprochen wurde oder ob es nachträglich in den Redetext eingefügt wurde, ist umstritten. Vgl. Bernd Rother, ‚Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört‘ – Oder: Warum Historiker Rundfunkarchive nutzen sollten. In: Timothy Garton Ash, Wächst zusammen, was zusammengehört? Berlin 2001, S. 25–29. In jedem Fall kann das Zitat damit als weiteres Beispiel dafür dienen, dass das, was ‚unsere Geschichte‘, den allgemeinen Sprachgebrauch und die politische Rhetorik prägt und somit identitätsstiftend wirkt, nicht zwangsläufig mit dem deckungsgleich ist, was sich historisch ereignet hat, sondern zum Großteil von der Geschichtsüberlieferung abhängt.  Vgl. dazu auch Grub, ‚Wende‘ und ‚Einheit‘, S. 1, Fußnote 2.  Vgl. auch Rainer Eppelmann, Robert Grünbaum, Sind wir die Fans von Egon Krenz? Die Revolution war keine ‚Wende‘. In: Deutschland Archiv, 5, 2004, S. 864–869, S. 868. Und: Thomas Großbölting, Wende? Revolution? Was passierte 1989/90? Anmerkungen aus Sicht eines Historikers. In: Petra Josting, Clemens Kammler, Barbara Schubert-Felmy (Hg.), Literatur zur Wende. Grundlagen und Unterrichtsmodelle für den Deutschunterricht der Sekundarstufen I und II, Baltmannsweiler 2008, S. 10–27, S. 10. Für ein Beispiel vgl. Edgar Wolfrum, Der Weg zur Einheit der deutschen Nation. In: Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 434–450. Der Begriff ‚Wiedervereinigung‘, wie auch ‚Wende‘, wird hier ganz selbstverständlich benutzt, nicht kontextualisiert oder erläutert.

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In der Alltagssprache durchgesetzt hat sich „als Synonym für die Vorgänge der Jahre 1989 und 1990“ 10 vor allem der Begriff ‚Wende‘11. Gab es zu dieser Wortverwendung Anfang der 1990er noch heftige Diskussionen12 – wobei insbesondere darüber gestritten wurde, ob ‚Wende‘ oder ‚Revolution‘ treffender sei – ist der Begriff ‚Wende‘ mittlerweile längst Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs geworden. Die Gründe dafür, dass sich der Begriff ‚Wende‘ durchgesetzt hat, können in seiner „Kürze und Griffigkeit“ und ebenso in „seiner Neutralität oder, schärfer gesagt, der Unbestimmtheit“ 13 bzw. „gewissen Vagheit“ 14 gesehen werden. Scheint der Begriff zum einen relativ offen und weit, so dass er nicht nur die politischen Prozesse, sondern zugleich die gesellschaftlichen und individuellen Implikationen umfasst, so enthebt diese Offenheit und Unbestimmtheit andererseits die damit bezeichneten Vorgänge der historischen, politischen und gesellschaftlichen Kausalität. Während jede Revolution ihre Akteure, die Revolutionäre, hat, gibt es bei einer ‚Wende‘ keine ‚Wender‘. Ganz im Gegenteil, „‚Wende‘ erweckt den Eindruck, dass alles irgendwie einfach so gekommen ist“ 15. Somit lässt auch der Begriff ‚Wende‘ das historische Geschehen als Teil eines quasi-notwendigen Geschichtsverlaufes erscheinen, der über die Gesellschaft hereinbricht und sich seinen Weg sucht. Diese begriffliche Prägung des Einigungsprozesses hat auch Auswirkungen auf die Vorstellung von dem Ergebnis dieses Prozesses und damit von ‚Deutschland‘. Als Resultat eines solchermaßen schicksalhaft-unausweichlichen Ereignisses steht eine Vorstellung der Bundesrepublik als ‚geeintes Deutschland‘, die – es  Großbölting, Wende? Revolution?, S. 10.  Die Duden-Einträge ‚Wende‘ und ‚Wendeereignisse‘ enthalten mittlerweile einen Unterpunkt, der auf die jeweilige Begriffsbedeutung im Zusammenhang mit den politischen und gesellschaftlichen Prozessen um 1989/90 verweist. Vgl.: Duden online, http://www.duden.de/ zitieren/10055892/1.8 und http://www.duden.de/zitieren/10141201/1.6 (abgerufen am 17. 08. 2011).  Vgl. Frank Thomas Grub, ‚Wende‘ oder ‚Revolution‘. In: Frank Thomas Grub, ‚Wende‘ und ‚Einheit‘, S. 116–122. Grub verweist hier (S. 117) auch auf den Bedeutungswandel des Begriffs: Während ‚Wende‘ in der DDR 1953 einen neuen, liberaleren Kurs der SED anzeigen sollte, wurde er in der Bundesrepublik zunächst für den Regierungswechsel 1982 und Amtsantritt von Bundeskanzler Helmut Kohl verwendet. Im Kontext der Ereignisse 1989/90 selbst hatte der Begriff zuerst eine andere Bedeutung, bezeichnete doch Egon Krenz in seiner Antrittsrede als Staats- und Parteichef der DDR den angestrebten Kurswechsel der SED als ‚Wende‘ – also eine ‚Wende‘, die die später so genannte ‚Wende‘ hätte verhindern sollen. Vgl. dazu auch: Dieter Herberg, Doris Steffens, Elke Tellenbach, Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/90, Berlin 1997, S. 10–90; Sowie: Eppelmann, Grünbaum, Sind wir die Fans von Egon Krenz?.  Großbölting, Wende? Revolution?, S. 10.  Herberg, Steffens, Tellenbach, Schlüsselwörter der Wendezeit, S. 17.  Eppelmann, Grünbaum, Sind wir die Fans von Egon Krenz?, S. 868.

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‚wächst zusammen, was zusammengehört‘ – an organische Modelle16 der Nation erinnern. Deutschland scheint zu seiner ursprünglichen Einheit, seiner Identität gefunden zu haben. Zumindest erzählen Überblicksdarstellungen zur deutschen Geschichte der Bundesrepublik wie Wolfrums Geglückte Demokratie diese als „Erfolgsgeschichte“ 17, als „Weg zur Einheit der deutschen Nation“ 18. Wenn wir in dieser Geschichte „im Rückblick erkennen […], wie wir wurden, was wir sind“ 19, so setzt dieses ‚wir‘ voraus, dass die Einheit der Nation ‚uns‘ mit einschließt und zugleich eine Identität verleiht, eine Identität, die uns ohne die ‚Wende‘ nicht zur Verfügung stehen würde. Im Zusammenhang von Literatur und Literaturwissenschaft hat sich der Begriff ‚Wende‘ ebenfalls durchgesetzt und sogar neue Epochen- und Gattungsbezeichnungen geprägt.20 Wird im literarhistorischen Kontext die „Epochenzäsur 1989“ 21 gesetzt, impliziert dies eine Ausweitung der Wirkung dessen, was

 Vgl. zur Geschichte des ‚politischen Körpers‘: Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Ethel Matala de Mazza, Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M. 2007.  Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 13.  Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 434.  Wolfrum, Die geglückte Demokratie, Umschlagtext.  Vgl. stellvertretend für die Fülle an Forschungsbeiträgen zum Stichwort ‚Wendeliteratur‘ oder ‚Literatur nach der Wende‘: Volker Wehdeking, Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989. Stuttgart u.a. 1995; Volker Wehdeking (Hg.), Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1999–2000), Berlin 2000; Holger Helbig (Hg.), Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR, unter Mitarbeit von Kristin Felsner, Sebastian Horn, Therese Manz, Berlin 2007; Gerhard Fischer, David Roberts (Hg.), Schreiben nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur, 1989–1999, 2. Aufl., Tübingen 2007; Dirk Schröter, Deutschland einig Vaterland. Wende und Wiedervereinigung im Spiegel der zeitgenössischen deutschen Literatur, Leipzig, Berlin 2003; Friederike Eigler, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, Berlin 2005; Barbara Beßlich, Katharina Grätz, Olaf Hildebrand (Hg.), Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006; Mirjam Gebauer, Wendekrisen. Der Pikaro im deutschen Roman der 1990er Jahre, Trier 2006. Grub, ‚Wende‘ und ‚Einheit‘, schlägt einen weiten Wendeliteratur-Begriff vor, der „neben den drei ‚großen‘ Genres Lyrik, Epik und Dramatik auch die zahlreichen essayistischen und philosophischen Texte, Gespräche, Reden, Briefe, Tagebücher usw.“ (S. 71) einbezieht. In diesen Texten macht er „fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘“ (S. 71–84) aus, durch die sie sich kategorisieren lassen. Eine Festschreibung erfährt der Epochenbegriff ‚Literatur der Wende‘ neben der literaturwissenschaftlichen Forschung auch durch die Aufnahme in den Schulunterricht. Vgl. als Beispiel: Josting, Kammler, Schubert-Felmy (Hg.), Literatur zur Wende.  Gerhard Fischer, ‚Der fremde Blick‘. Notizen und Danksagung anlässlich des Sydney German Studies Symposium 1999. In: Gerhard Fischer, David Roberts (Hg.), Schreiben nach der Wende, S. vii–x, S. viii.

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als ‚Wende‘ gefasst wird, über den politischen, gesellschaftlichen und individuell-biografischen Bedeutungskreis hinaus. Als Charakteristika, die diese Veränderungen mit ‚epochalem Gewicht‘ ausstatten, wurden und werden in der Forschung immer wieder die literarische Auseinandersetzung mit der zeitgeschichtlichen Situation und der individuellen und gesellschaftlichen Lebensrealität sowie insbesondere mit der eigenen Nation festgestellt, so dass man die „zeitgenössische deutsche Literatur und die germanistische Fachkritik also [als] ein Beispiel nationaler Nabelschau“ 22 betrachten könne: „[D]ie Wende [hat] eine nicht wegzudenkende Zäsur gesetzt, der die Literaturgeschichtsschreibung Rechnung tragen muß, denn sie hat die alten Fragen nach dem Verhältnis zwischen Literatur und Geschichte, Literatur und Nation und Literatur und Gesellschaft erneut zur Diskussion gestellt.“ 23 Für die Texte, die unter ‚Wendeliteratur‘ gefasst werden, gilt als charakteristisch, dass hier die Thematisierung des Nationalen und des Individuellen häufig eine unmittelbare Verknüpfung eingehen, da beides in der ‚Wende‘ zu kulminieren scheine, so dass „Schreiben nach der Wende zur Identitäts- und Formsuche“ 24 werde. Die umfassende Bedeutsamkeit, die dem Ereigniskomplex ‚Wende‘ beigemessen wird, ist sicherlich auch der Grund für die Erwartungshaltung der Literatur gegenüber, die in den Jahren nach 1990 zu beobachten war. In der Rede über ‚Wende‘ und ‚Wiedervereinigung‘, insbesondere im Literaturkontext, lässt sich neben dem schon genannten ‚Phantom der Nation‘ noch eine weitere geisterhafte Gestalt ausmachen, die, obwohl im Feuilleton omnipräsent, von ungewisser Existenzform zu sein scheint und deren Erscheinung vielfach beschworen wurde und wird: „Seit 1989 geistert das Phantom des Wenderomans durch die Feuilletons. Allenthalben ist die Rede davon. Hier wird einem Buch das Prädikat aufgedrückt, da wird es einem anderen abgesprochen. Doch niemand weiss, was damit gemeint sein soll.“ 25 Der von der Literaturkritik so heftig erwartete, geforderte und gesuchte ‚Wenderoman‘26, soll den Geschehnissen

 Fischer, ‚Der fremde Blick‘, S. ix.  David Roberts, Einleitung – Schreiben nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur, 1989– 1999. In: Fischer, Roberts (Hg.), Schreiben nach der Wende, S. xi–xvi, S. xvi.  Roberts, Einleitung – Schreiben nach der Wende, S. xivf.  Roman Bucheli, Wende ohne Ende? Deutschland wartet noch immer auf den Roman zur Wiedervereinigung. In: Neue Zürcher Zeitung, 10. 12. 2005, zitiert nach: http://www.nzz.ch/ 2005/12/10/fe/articleDD5UR.html (abgerufen am 24. 04. 2008).  Vgl. dazu die Dokumentation bei Grub, ‚Wende‘ und ‚Einheit‘, insbesondere das Kapitel „Auf der Suche nach einem Phantom: der ‚große Wenderoman‘, S. 84–95. Vgl. auch: Holger Helbig, Wandel statt Wende. Wie man den Wenderoman liest/schreibt, während man auf ihn wartet. In: Helbig, Weiterschreiben, S. 75–88. Sowie: Elke Brüns, Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung, München 2006, S. 31 f.

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eine „literarische Verarbeitung“ 27 zukommen lassen und sie somit ins Ästhetische überführen. Dabei entsteht immer wieder der Eindruck, als würde an die Literatur der Anspruch gestellt, das Erlebte ‚verpacken‘ und auf eine Lesart bringen zu können, um die verunsichernde Erfahrung lesbar, handhabbar und interpretierbar zu machen. Das eigentliche Gespenst, das hier dingfest gemacht werden soll, scheint also vielmehr die Irritation der unmittelbaren Gegenwart im ‚Nachwende-Deutschland‘ zu sein. Dieses Kapitel greift das Stichwort ‚Wende‘ auf, das sich in seiner Unbestimmtheit als Chiffre für die Umbruchserfahrungen von 1989/90 durchsetzen konnte, und untersucht mit Ingo Schulzes Neue Leben ein Beispiel des so genannten ‚Wenderomans‘. Lässt sich mit der Analyse des ‚Wenderomans‘ der scheinbar gerade aufgrund seiner Vagheit so anschlussfähige Begriff ‚Wende‘ näher bestimmen? Dabei gilt es in den Blick zu nehmen, ob und inwiefern ‚Wende‘ auch hier eine Verknüpfung anbietet, die die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse der Jahre 1989/90 mit Fragen der individuellen wie kollektiven Identifizierung erzählerisch verbindet. Ausgehend von der Forschungsfrage dieser Arbeit lässt sich die These formulieren, dass der Roman Entwürfe des aktuellen Deutschlands entwickelt. Anhand dieser kann untersucht werden, ob der Roman von den Umbrüchen der Jahre 1989/90 ebenfalls als Wende zu einer Einheit erzählt oder ob der Roman andere Sichtweisen auf die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse zur Verfügung stellt.

2 Ingo Schulze, Neue Leben 2.1 Wenderückblende Der 2005 erschienene, fast 800 Seiten starke Roman Neue Leben von Ingo Schulze erhielt von verschiedenen Seiten das Label ‚Wenderoman‘. In der Zeitschrift Der Freitag begrüßte Ingo Arend den Roman als Schlusspunkt der scheinbar unendlichen ‚Wenderoman‘-Suche: Kollektive Erwartungen üben oft eine hypnotische Kraft aus. Und das stete Starren auf die Literatur hat nun offenbar doch jene kinetische Reaktion gezeitigt, die man in der Schule, im Bus oder im Theater ausprobieren kann: Man muss nur lange genug auf den Nacken des Vordermannes schauen. Irgendwann reagiert er schon. Und siehe: Das Ungeheuer aus dem literarischen Loch Ness ist wirklich aufgetaucht. Da haben wir ihn nun – den lautstark herbeigesehnten ‚Wenderoman‘.28

 Grub, ‚Wende‘ und ‚Einheit‘, S. 87.  Ingo Arend, Ein Männlein hockt im Walde. In: Freitag, 42, 2005, zitiert nach: http:// www.freitag.de/2005/42/05421301.php (abgerufen am 24. 04. 2008).

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Iris Radisch bezeichnete Schulzes Text in der Zeit sogar als den „bisher beste[n] Roman über die deutsche Wiedervereinigung“ 29. Dabei übernimmt Schulzes Roman keinesfalls die Aufgabe, die ‚Wende‘ ‚handlich zu verpacken‘. Worauf der Roman und seine Aufnahme in der Literaturkritik jedoch aufmerksam machen, ist, dass das Thema ‚Wende‘ auch 2005, also gute 15 Jahre nach der ‚Zäsur 1989/90‘ immer noch hochaktuell ist und weiterhin etwas ist, das ‚uns angeht‘. Bei Neue Leben handelt es sich nicht um ‚Wendeliteratur‘ im Sinne eines Textes aus der unmittelbaren ‚Wendezeit‘; der Text nimmt vielmehr eine Rückschau vor. Schulzes Neue Leben beschäftigt sich rückblickend, so formuliert es Radisch, mit „dem wichtigsten zeitgeschichtlichen Ereignis unserer Lebenszeit“ 30. Neue Leben erzählt über dieses ‚neue‘ Thema unter Verwendung ‚alter‘ Gestaltungsmittel: Mit der Gattung des Briefromans bedient sich Neue Leben einer Schreibpraxis der Empfindsamkeit, während das selbstreflexive Spiel mit dem fiktiven Herausgeber, der in die Briefe einführt und sie in Fußnoten kommentiert, als ein literarisches Verfahren der Romantik vertraut ist. Das Kompositionsprinzip des Romans ist komplex und der Inhalt lässt sich daher nur schwer skizzieren. Der Haupttext besteht aus den Briefen der zentralen Figur, Enrico Türmer, der sich auch Heinrich Türmer nennt. Die Briefe, alle in die erste Hälfte des Jahres 1990 datiert, sind chronologisch geordnet, unterscheiden sich aber bezüglich ihrer erzählten Zeit je nach Adressatin/ Adressat.31 Die Briefe an Türmers Schwester Vera sind in erster Linie von persönlichen und familiären Angelegenheiten bestimmt. An Johann Zühlke, einen Schulfreund, gerichtet, schildert Türmer seinen Alltag und seine Tätigkeit als Zeitungsredakteur, die von den rasanten Entwicklungen in der Übergangszeit zwischen Zusammenbruch der DDR und ihrem Beitritt zur Bundesrepublik geprägt sind. Der westdeutschen Fotografin und Zufallsbekanntschaft Nicoletta Hansen berichtet Türmer rückblickend über seine Jugend und Schulzeit in der DDR. Eröffnet wird Neue Leben durch ein Vorwort und eine editorische Notiz. Hier stellt der fiktive Herausgeber Ingo Schulze das ‚Editionsprojekt‘ vor. Ihm sei an dieser Stelle das Wort erteilt, um die Themen des Romans zu umreißen: Ich las von einem Theatermann, der zu einem Zeitungsredakteur, von einem gescheiterten Schriftsteller, der zu einem glücklichen Unternehmer wird, ich las von einem Schuljun-

 Iris Radisch, Die 2-Sterne-Revolution. In: Die Zeit, 42, 13. 10. 2005, zitiert nach: http:// www.zeit.de/2005/42/L-Schulze (abgerufen am 24. 04. 2008).  Radisch, Die 2-Sterne-Revolution.  Für eine schematische Darstellung des Erzählschemas vgl.: Christian Sieg, Briefe aus der Nach-Wende-Zeit. Zur Poetik der Erinnerung in Ingo Schulzes Neue Leben. In: Gerhard Jens Lüdeker, Dominik Orth (Hg.), Nach-Wende-Narrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film, Göttingen 2010, S. 163–174, S. 167.

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gen, dessen Wunsch nach Ruhm sich als Fluch erweist, von einem Soldaten, der dem Einmarsch nach Polen entgeht, nicht aber seinen Kameraden, von einem Studenten, der sich in eine Schauspielerin verliebt, von einem Zauderer, der zum Helden wider Willen wird, ich las von Demonstrationen und ersten Schritten in den Westen, ich las von einem Bruder, der nicht ohne seine Schwester leben kann, ich las von Krankheit und Teufelsbeschwörung […].32

Als wichtigsten Motivationsgrund, die Briefe der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, gibt der fiktive Herausgeber an, dass sich in ihnen „das Panorama jener Zeit [entfaltet], in der das Leben Türmers auf der Kippe gestanden hatte, und nicht nur seins“ (NL 9). ‚Jene Zeit‘ bezeichnet das Jahr 1990 und die Kippe, auf der die Leben Türmers und seiner Zeitgenossen standen, lässt sich auf das Stichwort ‚Wende‘ bringen. Der Roman erzählt nicht nur vom Leben in der Wendezeit oder den Ereignissen in Deutschland um 1990. ‚Wende‘ ist Thema und grundlegendes Textverfahren des Romans zugleich. So ist bereits die oben zitierte, kurze Zusammenfassung der Romanthemen von vielfältigen Wendungen gekennzeichnet: Vom Theatermann zum Zeitungsredakteur, vom Schriftsteller zum Unternehmer, vom Zauderer zum Helden etc. Neue Leben ist also nicht einfach ein Roman über Wende-Identitäten (Türmers Leben im Jahr 1990), sondern vielmehr ein Roman der Identitätswenden (Neue Leben). Neben Herausgebervorwort, editorischer Notiz und dem aus Briefen bestehenden Haupttext enthält Neue Leben noch einen ‚Anhang‘: Prosafragmente Türmers, zu denen der fiktive Herausgeber anmerkt, sie haben sich „auf der Rückseite von 20 der insgesamt 33 Briefe an Nicoletta Hansen“ (NL 660) befunden. Der Briefroman wird dadurch im buchstäblichen Sinn zum ‚Wenderoman‘, dessen Seiten gewendet werden können, um einen zweiten Roman lesbar zu machen. Über ‚die Wende‘ und die Wendungen seiner Figur(en) erzählt Neue Leben mittels Verwendung tradierter Erzählverfahren und offensichtlicher Bezugnahme auf prominente Beispiele der Literaturgeschichte. Das Kompositionsprinzip stellt eine Anleihe bei E. T. A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeister Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern dar.33 Eine erste Parallele bildet bereits der in seiner Vollständigkeit ebenso sperrige Titel, Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort

 Ingo Schulze, Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze, Berlin 2005, S. 9. Im Folgenden mit Seitenzahlen im Text zitiert als NL.  Vgl. Friedhelm Marx, E. T. A. Hoffmann in der Gegenwartsliteratur. Ein Streifzug durch das Werk Ingo Schulzes. In: E. T. A. Hoffmann Jahrbuch, 17, 2009, S. 166–173.

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versehen von Ingo Schulze.34 Einige der Briefe in Neue Leben sind, wie bereits erwähnt, auf die Rückseiten von Manuskripten geschrieben. Diese Montagetechnik, die eine als ‚Makulatur‘ gekennzeichnete, fragmentarische zweite Geschichte in die vermeintlich ‚eigentliche‘ Geschichte fügt, wurde von Hoffmann übernommen. Lässt sich mit Detlef Kremer über Kater Murr sagen, Hoffmann treibe damit „eine Verwirrung von Identität und eine intertextuelle Zitatund Formenmontage als Parodie von Autobiographie und Bildungsroman auf die Spitze“, indem „Seite für Seite […] ein Katalog der Literaturgeschichte abgerufen“ 35 werde, so schließt Schulzes Text an dieses Verwirrspiel mit den Identitäten an. Wie Kater Murr zitiert auch Neue Leben deutlich seine kanonischen Vorbilder36 und auch die Einflüsse und Vorbilder aus der Gegenwartsliteratur sind – wie bereits ausführlich nachgewiesen37 – augenfällig im Text ausgestellt. In der Literaturkritik zu Schulzes Roman findet sich wiederholt der skep Der Titel Neue Leben kann auch als Bezugnahme auf den Verlag Neues Leben gelesen werden. Der Verlag Neues Leben wurde 1946 in Berlin gegründet. Der parteieigene Verlag war einer der größten der DDR. Im Programm waren neben Abenteuer- und Jugendunterhaltungsliteratur auch Klassikerausgaben, etwa Karl May und Jules Verne, vertreten. Mittlerweile gehört Neues Leben der Eulenspiegel-Verlagsgruppe an. Siehe auch: http://www.eulenspiegel-ver lag.de (abgerufen am 20. 09. 2011).  Detlef Kremer, Romantik. Lehrbuch Germanistik, 3. aktualisierte Auflage, Stuttgart, Weimar 2007, S. 145.  Die Gattung ruft nicht nur den sicherlich bekanntesten Briefroman Die Leiden des jungen Werther auf; Goethe-Anlehnungen lassen sich auch darüber hinaus finden, etwa an den FaustStoff in der Stilisierung der Figur Clemens von Barrista als Mephisto und im Namen Türmer bzw. der Vornamensänderung der Hauptfigur Enrico/Heinrich Türmer sowie an Wilhelm Meister mit dem Künstler- und Theaterthema und dem formalen Muster des Entwicklungsromans. Zur Intertextualität des Romans vgl.: Andrea Geier, Engagierte Befragungen der Tradition. Intertextualität in literarischen Zeitdiagnosen des Transformationsprozesses. In: Andrea Geier, Jan Süselbeck (Hg.), Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990, Göttingen 2009, 117–134, 129–132. Zur Verbindung zwischen Ingo Schulzes Romanen Neue Leben und Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz (1998) vgl.: Christine Cosentino, Verw/Irrungen-Verwandlungen: Ingo Schulzes Erinnerungsarbeit in Simple Storys und Neue Leben. In: Arne De Winde, Anke Gilleir, Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989, Amsterdam, New York 2008, S. 181–198. Auf eine intertextuelle Beziehung zwischen Neue Leben und Christa Wolfs Essay Lesen und Schreiben (1968) weist hin: Christine Cosentino, Ingo Schulzes Roman Neue Leben: Autobiografie, ‚wahrheitstreue Erfindung‘, Fiktion? In: Germanic Notes and Reviews, 38, 2007, Heft 1, S. 11–18.  Siehe etwa: Nicole Henneberg, Drawing by Numbers – Ingo Schulzes genuin deutscher Held, In: Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik, 1/221, 2006, S. 168–172, S. 172: „Ingo Schulze läßt seinen Roman in einen umfangreichen Anhang münden, der die literarischen Stimmübungen seines Helden enthält: elegische Schülernovellen im Hermann-HesseTon; eine Armeegeschichte in der harschen Sprache Hemingways und wütende Fäkalgeschichten à la Vladimir Sorokin […]“. Zu Recht verweist Matthias Auer, Ingo Schulze. In: Kritisches

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tische Blick auf die gewählte Textform und die Frage, ob Briefroman und Herausgeberfiktion nicht „ein bißchen altbacken[ ]“ 38 seien. Erscheinen Textform und Anlehnung an Vorbilder vielleicht nach dem Urteil der Rezensenten als wenig originell 39, gilt es hier jedoch darüber hinaus zu untersuchen, welche Funktionen diesen Verfahren zukommen und warum der Text seine Inanspruchnahme des aufklärerisch-empfindsamen und romantischen Erbes so plakativ ausstellt. In welchem Zusammenhang stehen Erzählform und das, was erzählt wird? Bei der Analyse von Neue Leben geht es also darum, nicht beim Benennen von literarischen Vorbildern und dem Aufzeigen literaturgeschichtlicher Bezüge stehen zu bleiben. Vielmehr muss im Hinblick auf die Forschungsfrage dieser Arbeit untersucht werden, warum der Text auf diese Gestaltungsformen zugreift und was mit diesen Verfahren bewirkt wird bzw. wie über die Analogien Bedeutung hergestellt wird. Die These ist, dass der Roman tradierte Textstrategien der Subjektkonstitution, der Verhandlung von und des Spiels mit Identitäten aufgreift und diese einsetzt, um beständig Positionen aufzubauen, die er im nächsten Moment wendet und unmittelbar unterläuft und dekonstruiert. Der ‚Wenderoman‘ wird lesbar als Roman der Wendungen, die zwar Bilder der ‚Wende‘ liefern – des zeithistorischen Ereignisses und Erzählanlasses –, diese jedoch wie eine Kippfigur mit jeder neuen Drehung und jedem neuen Identitätswandel in ihrer Fiktionalität und Konstruiertheit ausstellen. In den folgenden Abschnitten bilden daher die Erzählverfahren den Ausgangspunkt für die Analyse und die Frage, wie Neue Leben erzählt ‚wie wir wurden, was wir sind‘.

2.2 Herausgeberfiktion und Autobiografisches Wie bereits kurz angesprochen, ist eines der literaturgeschichtlich tradierten Gestaltungsmittel, das Neue Leben für das Spiel mit den Grenzen von Fiktionalität bzw. als Spiel mit Identität(en) aufgreift, die fiktive Herausgeberfigur.40 Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 6/06, S. 83. Nlg. zudem auf Thomas Mann und Uwe Johnson, bei deren Schreibweisen sich der Roman ebenfalls bedient.  Richard Kämmerlings, Enrico Türmers unternehmerische Sendung. Krötensammeln will gelernt sein: Ingo Schulze und die weniger simplen Seiten der Wiedervereinigung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 243, 19. 10. 2005, S. L11.  Vgl. zur Aufnahme des Romans in der Literaturkritik auch: Auer, Ingo Schulze, S. 12.  Zur Herausgeberfiktion in der Literatur um 1800 und ihrem Verhältnis zur Autorschaft vgl.: Uwe Wirth, Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, München 2008. Zur Herausgeberfigur in Neue Leben vgl.: Yvonne Pietsch, Der ‚Hundeblick’ des Kommentators – Kommentierung und Herausgeberfiktion in Ingo Schulzes Neue Leben. In: Evi Zema-

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Über die Bezugnahme auf Bekanntes legt der Text Fährten aus, die die Leser zur Spurensuche und zur Identifizierung der Figur auffordern. Eine dieser Spuren führt von der Herausgeberfigur unmittelbar zum Autor. Der Herausgeber heißt wie der Autor Ingo Schulze. Nun ist es eine gängige und im Genre Briefroman häufig anzutreffende Strategie, dass der Autor eines Briefromans sich im Vorwort als Herausgeber vermeintlich ‚echter‘ Briefe vorstellt, um einen „identifikationssteigernden effet du réel“ 41 zu produzieren. Dieser literaturgeschichtliche Topos der Herausgeberfiktion als Realitätseffekt durch „Unsichtbarmachung des Künstlichen in der Kunst“ 42 wird in Neue Leben jedoch nur zum Schein bedient. Der Text verhindert von vornherein das Gelingen der vermeintlich gewünschten Strategie und stellt diese folglich als Spiel aus – ganz im Sinne der romantischen Poetologie, die hier zum Vorbild wird. Bereits das Titelblatt des Buches offenbart dieses Doppelungsspiel, indem dort Ingo Schulze als Autor des Romans genannt wird, in dessen Titel Erzählerfigur Enrico Türmer und Herausgeberfigur Ingo Schulze gemeinsam bereits als Stimmen des Romans – und damit als fiktive Figuren – eingeführt werden: Ingo Schulze, Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben und kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze. Herausgeber Schulze ist also eine Romanfigur und kann nur scheinbar mit ihrem Autor Schulze verwechselt werden. Potentiell verwechselt werden kann Autor Schulze jedoch zudem auch mit der Erzählerfigur, dem Briefschreiber Türmer. Die Parallelen, nicht durch Namensähnlichkeiten markiert, sind hier weniger offensichtlich und erfordern gewisse ‚Kontextinformationen‘43: Autor Schulze und Türmer teilen die wesentlichen biografischen Eckdaten. So war Schulze im ‚echten Leben‘ wie Türmer in Neue Leben „Schüler in Dresden, Soldat in Oranienburg, Student in Jena und Theatermann in Altenburg“ (NL 8) und gründete dort – ebenfalls wie Türmer – 1990 zunächst eine Zeitung und dann ein Anzeigenblatt.44 Solchermaßen ist die Türmer’sche Biografie die Biografie Schulzes und Türmers nek, Susanne Krones (Hg.), Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000, Bielefeld 2008, S. 331–342.  Anna Marx, Gefälschte Präsenz. Zur Dissimulation weiblicher und männlicher Wunschproduktion im Medium des Briefromans (Rousseau, La Roche, Laclos). In: Doerte Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, Freiburg im Breisgau 2003, S. 365–388, S. 369.  Marx, Gefälschte Präsenz, S. 369.  Diese Kontextinformation liefert jedoch bereits der Paratext. Die Kurzinformation zur Autor-Biografie auf dem Romanumschlag enthält alle nötigen Angaben, um die Parallelen zwischen Autor Schulze und Figur Türmer zu markieren.  Vgl. die biografischen Angaben in Auer, Ingo Schulze, S. 1. Siehe auch die Homepage des Autors: http://www.ingoschulze.com (abgerufen am 20. 09. 2011).

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‚Lebensbeichte‘ seiner Briefe in gewisser Weise eine Autobiografie.45 Jedoch treffen auf Neue Leben nur Teilaspekte der – etwa von Philippe Lejeune im autobiografischen Pakt 46 beschriebenen – Definitionsmerkmale einer Autobiografie zu. So haben Autor und Erzähler zwar eine gewisse Schnittmenge, eine Identität zwischen ihnen wird jedoch nicht behauptet. Auch lässt sich der Erzähler nicht ein für allemal festlegen, tritt er doch als multiples Stimmenbündel auf, das je nach Briefadressat(in) Tonfall und Erzählgestus ändert, dem durch einen Herausgeber in Fußnoten ins Wort geredet wird und das auf mehrfache Weise als fiktional gekennzeichnet ist. Schulzes Biografie ist dem Text eingeschrieben – aber eben gerade nicht in Form der Autobiografie, nicht mit dem Anspruch auf ein authentisches Erzählen. Das autobiografische Erzählen ist vielmehr wiederum und mehrfach in die Fiktion gewendet: Das Buch von Ingo Schulze ist ein Briefroman, den ein Herausgeber Ingo Schulze publiziert und kommentiert, in dem die Figur Enrico Türmer in Briefen Zeugnis von ihrem Leben gibt, das den Eckdaten von Schulzes Biografie folgt und zudem Prosafragmente enthält, die wiederum den Versuch einer literarischen Verarbeitung der Biografie Türmers darstellen. Diese Verschränkung von Autor, Herausgeber- und Erzählerfigur ruft der Text im Verlauf immer wieder in Erinnerung und bewahrt sein offensichtliches Spiel mit den Kategorien Fiktion und Authentizität sowie insbesondere Identität im Bewusstsein.47 Dieses Spiel, das  Zu Neue Leben als ein autobiografischer Wende-Roman vgl. Fabian Thomas, Neue Leben, neues Schreiben? Die ‚Wende‘ 1989/90 bei Jana Hensel, Ingo Schulze und Christoph Hein, München 2009.  Vgl. Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt. In: Günter Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2. um ein Nachwort zur Neuausgabe und einen bibliografischen Nachtrag ergänzte Aufl., Darmstadt 1998, S. 214–257.  Die Textstellen, an denen dies geschieht, sind – wie das folgende Beispiel – kaum handlungsrelevant und können so als deutlicher Hinweis darauf gelesen werden, dass der Text sein Spiel mit der Fiktion präsent halten möchte. Türmer erwähnt an einer Stelle im Brief an Nicoletta einen ehemaligen Verehrer Veras, in dem der Herausgeber sich – laut Fußnotenkommentar – wieder erkennt. Dieser Verehrer, der also wie der fiktive Herausgeber Ingo Schulze heißen muss, wird zwar eher lächerlich dargestellt, weist jedoch wiederum deutliche Schnittmengen mit Türmer sowie mit dem Autor Ingo Schulze auf: „Den Rest gab mir Vera, indem sie mir Arbeiten von einem ihrer Verehrer versprach, Texte über die Armee, die sie ‚nicht schlecht‘ fand. Gerade weil Vera ihn sonst nicht ernst nahm – sie machte sich über seine Eifersucht und seinen Hundeblick lustig, mit dem er sie überall verfolgte –, war ich alarmiert. Vor allem beunruhigte mich, daß jemand in meinem Territorium wilderte.“ (NL 315) Dieses Territorium, in dem Veras Verehrer Schulze Türmer Konkurrenz macht, ist zum einen das Werben um die Schwester. Zum anderen bezieht es sich auf die schriftstellerischen Ambitionen und insbesondere das Verfassen von Armee-Texten, mit dem sich Türmer abmüht und das ebenfalls als zentrales Thema der frühen Phase in der schriftstellerischen Entwicklung von Autor Schulze berichtet wird. (Vgl. Auer, Ingo Schulze, S. 2.) Damit wird wiederum der Herausgeber zur Figur im Text und mit der Ununterscheidbarkeit zwischen Autor, Herausgeber- und Erzählerfigur

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der Text präsent hält und in dem sich ‚Identität‘ gerade nicht fassen und festlegen lässt, wird damit als ein Verfahren beschreibbar, das einen identifikatorischen Prozess umkreist, ohne diesem einen erzählerischen Schlusspunkt zu setzen. Die Herausgeberfiktion dient in Neue Leben also nicht dazu, eine „[g]efälschte Präsenz“ 48 herzustellen und die Authentizität der Briefe zu simulieren. Vielmehr lässt sich mit Nicole Henneberg sagen, „der Autor [habe] mehrere ironische Riegel zwischen sich und seine Figur geschoben“ 49. Herausgeberfiktion und Briefroman-Form werden damit zum Mittel einer Distanzierung, durch das das Erzählte stets als Bestandteil der fiktionalen Welt erkennbar ist und (Auto-)Biografie immer als literarisches Produkt markiert wird. Was bedeutet das jedoch für das zentrale Thema des Romans – das „Panorama jener Zeit“ (NL 9), der ‚Wendezeit‘ –, das vom Text in seiner Bedeutung ausgestellt wird, da es die Herausgeberfigur Schulze immerhin erst zur Publikation der Texte veranlasst? Indem der Roman seine Konstruiertheit beständig vor Augen führt, erteilt er dem Wunsch nach einem Zeitpanorama eine Absage, das Geschichte abbildet und nachvollziehbar macht, ‚wie es war‘. In diesem Sinne entspricht Schulzes Roman nicht dem Wunschbild, das die Suche nach dem Wenderoman vorantreibt. Der Roman bietet keine Bilder für eine Stillstellung der identifizierenden Dynamik an, sondern führt vielmehr ihre Unabschließbarkeit vor.

2.3 Fußnoten, die Geschichte machen Die Fußnoten des fiktiven Herausgebers bilden einen Aspekt des Romans, an dem einige der Rezensentinnen und Rezensenten Anstoß nehmen: Der strukturelle Grundeinfall, das nicht mehr wirklich originelle Spiel mit der Herausgeberfiktion, das in zahlreichen teils überflüssigen, teils gar ärgerlichen, da allzu lehrmeisterlich wirkenden Erläuterungen und Kommentaren in Form von Fußnoten kulminiert, erweist sich im Fortgang der Lektüre zunehmend als unflexibel und umständlich.50

gespielt. Diese kurze Passage kann als ironisches Augenzwinkern verstanden werden, bemerkt der Herausgeber doch in der Fußnote: „Gern hätte ich T.s Urteil über meine Texte erfahren, auf die er im Weiteren nicht mehr zu sprechen kommt.“ (NL 315) Was mit „meine Texte“ bezeichnet ist bzw. wem die Texte gehören, wird in der Ineinanderwendung der Figuren gänzlich ununterscheidbar.  Vgl. Marx, Gefälschte Präsenz.  Henneberg, Drawing by Numbers, S. 169.  Auer, Ingo Schulze, S. 12.

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Wenn die Kritik die Fußnoten als störend bemängelt, weist dies darauf hin, dass die Fußnoten hier ihre übliche Funktion als sachlicher Paratext überschreiten. Sie drängen sich in auffälliger, ungebührlicher Weise in den Vordergrund und halten in dem Text eine sich immer wieder unüberhörbar zu Wort meldende Stimme, die Stimme des fiktiven Herausgebers, präsent. Es gilt danach zu fragen, welche Effekte und Funktionen diesen aufdringlichen Einschreibungen zukommen. Die Fußnoten stellen zum einen das Spiel mit den Identitäten, das der Roman vorführt, in den Vordergrund. So machen die Fußnoten auch im Verlauf des Textes deutlich, dass die Leser es hier mit mehreren Autoritäten zu tun haben, denn die Fußnoten der Herausgeberfigur greifen ‚von unten‘ in die Narration des Erzählers ein. Sie kommentieren, fügen Überlegungen hinzu, machen auf Unstimmigkeiten oder Widersprüche aufmerksam, interpretieren Aussagen oder Textpassagen und erläutern im Haupttext angesprochene Zusammenhänge.51 Ein weiterer Effekt, den die Fußnoten bewirken, betrifft unmittelbar das „Zeitpanorama“ und somit die Erzählung über die ‚Wende‘Ereignisse. Der Herausgeber erklärt einleitend: „Die Fußnoten sollen die Lektüre erleichtern. Was dem einen oder der anderen überflüssig erscheinen mag, werden gerade jüngere Leser dankbar zur Kenntnis nehmen“ (NL 11). Das Wissen, das der Kommentar hier zugänglich machen möchte und das – so der Herausgeber – insbesondere bei jüngeren Lesern nicht vorausgesetzt werden kann, bezieht sich vor allem auf die Situation der Vorwendezeit in Ostdeutschland. Der Leserblick, den der Text adressiert und der sich im Fußnotentext wieder findet, ist folglich als Nachwende- oder West-Blick vorausgesetzt. Solchermaßen sind die Fußnoten Instrument einer Distanzierung bezogen auf die Betonung – und somit zugleich performative Herstellung – einer zeitlichen Distanz. Indem der Text immer wieder mittels ergänzender Fußnoten suggeriert, dass Kenntnisse über die Zeit vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und insbesondere über die DDR nicht vorausgesetzt werden können, da er diese Information beständig ergänzt, wird die Teilung Deutschlands und die DDR zur Geschichte erklärt. Die DDR wird historisiert. Daten und politische Zusammenhänge werden erklärt, Abkürzungen aufgelöst (z. B. NL 67, 81, 91) und Ost-Begrifflichkeiten ‚übersetzt‘.52 Insgesamt rücken die Kommentare die DDR in eine ferne, überkommene Vergangenheit. So wird etwa eine Textpassage, in der Türmer im Gegensatz zu seinem Ziehsohn Robert Schwierigkeiten

 Pietsch weist für die Anmerkungen des Herausgebers sieben verschiedene Erläuterungskategorien nach. Vgl.: Pietsch, Der ‚Hundeblick‘ des Kommentators, S. 337 f.  Beispielsweise ergänzt die Fußnote auf Seite 77, dass der im Haupttext genannte „Westover“ ein „Pullunder“ sei.

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mit dem Öffnen einer CD-Hülle hat, kommentiert mit „CDs waren zu jener Zeit im Osten kaum verbreitet“ (NL 216, FN 2). Die Fahrt durch Dresden, bei der die inzwischen historischen Straßennamen in den Fußnoten durch die aktuellen bundesrepublikanischen Benennungen ergänzt werden (NL 452), erhält den Anschein einer Fahrt durch eine vergangene Welt, deren Sinnbezüge und Orientierungsmarker überschrieben und durch ein anderes System ersetzt wurden. Die Herausgeberstimme lässt aus dem Fußnotenkommentar heraus beständig wissen, dass das, was erzählt wird – anders als es das briefliche Gegenwartstempus erzählt – bereits überholt ist und der Geschichte angehört. Zugleich markieren die Fußnotenkommentare beständig eine Ost-West-Differenz und verschaffen der DDR und ihren vermeintlichen Besonderheiten damit im Roman eine erhöhte Sichtbarkeit, wodurch umgekehrt auch das spezifisch Westdeutsche, der nicht-reflektierte Leserblick, der den Westen als ‚normales Deutschland‘ setzt, sichtbar wird. Die Fußnotenkommentare machen damit deutlich: Es gibt nicht das eine Deutschland und nicht die eine deutsche Identität, sondern diese stehen weiterhin zur Disposition.

2.4 Briefroman Neue Leben erzählt die Ereignisse der Jahre 1989/90 im Medium des Briefromans. Im Brief bzw. Briefroman spricht „[v]ordergründig eine sich zu Wort meldende Ich-Figur, die ihre Empfindungen scheinbar so unmittelbar, direkt und spontan ausdrückt, daß sie die Illusion einer face to face Kommunikation erzeugen kann“ 53. Diese vermeintliche Unmittelbarkeit machte den Briefroman zu einer beliebten Gattung der Empfindsamkeit. Der von Jürgen Habermas einschlägig beschriebene Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) im achtzehnten Jahrhundert brachte mit dem Erstarken eines selbstbewussten Bürgertums als gesellschaftlich und ökonomisch relevante Gruppe vor allem eine Neuordnung der sozialen Kommunikation. Die bürgerliche Abgrenzung gegenüber der formelhaften höfischen Rhetorik vollzieht sich über eine Aufwertung der kleinfamiliären Intimität, die als Sphäre einer ungekünstelten und daher ‚wahren‘ Ausdrucksweise angesehen wird. Diese neue Kommunikation findet im Brief ihr privilegiertes Medium.54 Das achtzehnte Jahrhundert ist das Jahrhundert  Marx, Gefälschte Präsenz, S. 365.  Hierzu vgl. auch: Regina Nörtemann, Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert und ihre Genese. In: Angelika Ebrecht, Regina Nörtemann, Herta Schwarz (Hg.), Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays, unter Mitarbeit von Gudrun Kohn-Waechter und Ute Pott, Stuttgart 1990, S. 211–224; Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999; Nikolaus Wegmann, Selbst-Offenbarung und Geselligkeit: der Brief als Medium von Individualisierung und Interpersonalität. In: Nikolaus

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des Briefes und das Briefeschreiben zugleich die Kommunikationsform, in der sich das bürgerliche Subjekt Raum verschafft und das Konzept einer individuellen Subjektivität allererst ‚erschreibt‘ und entwickelt: „Briefe schreibend entfaltet sich das Individuum in seiner Subjektivität“ 55. Das neue sich auf ‚Natürlichkeit‘ richtende Stil-Ideal etablierte sich nicht ‚aus dem Nichts‘. Vielmehr kann von einer Verbreitung, Einübung und Institutionalisierung der neuen Standards gesprochen werden, an der der literarische Diskurs maßgeblichen Anteil hatte – in Form der Musterbriefsammlungen, der fiktiven Briefe in den moralischen Wochenschriften und besonders dem Briefroman.56 Brief und Briefroman im achtzehnten Jahrhundert haben eine gemeinsame bzw. sich wechselseitig bedingende Entwicklung: „Einerseits wirken sich als vorbildlich geschätzte Briefromane auf den Privatbrief und seine Stilisierung aus. Andererseits wird, je mehr das Interesse am Privatbrief wächst, auch das Interesse am Briefroman stärker.“ 57 Es bedarf also rhetorischer Schulung in der Anti-Rhetorik der Innerlichkeit und Subjektivität – der „antinormativen Norm“ 58. Der Briefroman, der statt eines auktorialen Erzählers die Figuren ohne die Vermittlerinstanz einer Erzählerstimme selbst zu Wort kommen lässt und ihre Innenund Gefühlswelt in den Vordergrund rückt, machte deshalb als Schreibverfahren der literarischen Empfindsamkeit Karriere. Neue Leben nimmt als Briefroman Anleihen bei diesem empfindsamen Schreibverfahren und bedient sich der Kommunikationsstrategie der simulierten Unmittelbarkeit. Anlass und Thema des als persönlich-private Kommunikation gestalteten Erzählens ist hier die gesellschaftspolitische Umbruchssituation in Deutschland um 1989/90. Die Briefform hebt die Differenz zwischen Politischem und Privatem auf. Der Text scheint damit auf den ersten Blick die Form eines Zeitzeugenberichts einzunehmen, der das zeithistorische Geschehen in die unmittelbare Gegenwart des Erzählens rückt und aus einer subjektiven Perspektive als individuelles Erleben zeigt – als „inszenierte[ ] live-Darstellung […] in Echtzeit“ 59. Wie bereits einleitend kurz angeführt, bilden Türmers Briefe je nach Adressat/in unterschiedliche Erzählstränge. Der Briefschreiber

Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, S. 73–80.  Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie in der bürgerlichen Gesellschaft, 7. Aufl., Neuwied, Berlin 1975, S. 66.  Vgl. Nörtemann, Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert, S. 218 f. Vgl. auch: Hermann Glaser, Briefroman. Exempla. In: Klaus Beyer, Hans-Christian Täubrich (Hg.), Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, Heidelberg 1997, S. 207–217.  Nörtemann, Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert, S. 220.  Ebrecht, Nörtemann, Schwarz, Brieftheorie des 18. Jahrhunderts, S. 57.  Marx, Gefälschte Präsenz, S. 365.

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Enrico Türmer berichtet seiner Schwester Vera und seinem Freund Johann von seinem Alltag in Altenburg in der ersten Hälfte des Jahres 1990. Insbesondere die an Johann gerichteten Briefe erzählen die politischen Entwicklungen in Altenburg, während die Briefe an Vera vor allem von Privatem handeln. Nach den ersten hundert Seiten kommen mit den Briefen an Nicoletta Hansen eine weitere Adressatin und zugleich ein weiterer Erzählstrang hinzu, in dem Türmer – beginnend mit der Schulzeit – sein bisheriges Leben nachzeichnet. Dieses Verfahren erlaubt dem Roman, Türmers Gegenwart 1990 und seine Vorgeschichte, seine Kindheit und Jugend in der DDR im Wechsel der Briefe ‚gleichzeitig‘ zu erzählen. Insbesondere dieser zweite Erzählstrang, die Briefe an Nicoletta, bringt den Briefroman als bevorzugte Gattung der Empfindsamkeit und den Brief als das Medium der Konstitution eines sich selbst empfindenden und schreibend erfindenden Subjekts in Erinnerung. Der ‚Wenderoman‘ Neue Leben fragt nach der Rolle der zeitgeschichtlichen Ereignisse für das Subjekt seines Erzählers und erzählt von der spezifischen Situation 1989/90 in der medialen Form Briefroman, die im achtzehnten Jahrhundert maßgeblich daran beteiligt ist, die diskursiven Bedingungen von Subjektivität zu modellieren. Der Text bindet Subjektkonstitution und die deutsch-deutsche Gegenwartsgeschichte unmittelbar aneinander, wenn in dem Schreibverfahren, das das eine (das Subjekt) hervorbringt, von dem anderen (den ‚Wende‘-Ereignissen) Zeugnis abgelegt wird. In diesem Sinne stehen die Strategien der Subjektkonstitution, die der Text thematisiert, in einem Zusammenhang mit der Konstitution des gegenwärtigen Deutschlands. Das Subjekt, das sich in diesem Briefroman zu Wort meldet und setzt, das Subjekt der Erzähler- und Autorfigur, konstituiert sich immer vor der Folie der ‚Wende‘ und wird damit als ‚deutsches Subjekt‘ lesbar. In den Briefen seiner ‚Lebensbeichte‘ – so bezeichnet es Türmer – stilisiert er den Verlauf seines Lebens zum Entwicklungsroman einer ‚empfindsamen Seele‘, mit dem Türmer der Adressatin Nicoletta sich und sein Innerstes ganz im Sinne des empfindsamen Unmittelbarkeits-Topos restlos mitteilen will: „ich will Ihnen alles, alles sagen und alles auf einmal“ (NL 128). Die Lebenserzählung wird im fünften Brief 60 an Nicoletta mit einer Ausgangsfrage eingeleitet, die als „zentrales Thema“ (NL 131, Fußnote 3) ausgestellt wird:

 Mit diesem Brief beginnt Türmer an Nicoletta auf den Rückseiten von Manuskripten und Prosafragmenten zu schreiben, so dass mit Brief fünf nicht nur die ‚Lebensbeichte‘, sondern zugleich der Anhang der Prosafragmente beginnt. Die Lebensbeichte, das Bekenntnis, in dem sich ein vermeintlich ‚wahres‘ Ich zeigt, hat hier immer buchstäblich eine literarische Rückseite. Fiktion und Autobiographie verhalten sich damit zueinander wie die sprichwörtlichen zwei Seiten einer Medaille.

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Seit ein paar Wochen trage ich eine Frage mit mir herum. Anfangs nahm ich sie nicht ernst; sie war mir zu profan. Aber mittlerweile glaube ich an ihre Berechtigung. Sie lautet: Auf welche Art und Weise kam der Westen in meinen Kopf? Und was hat er da angerichtet? Ich könnte natürlich auch fragen, wie der liebe Gott in meinen Kopf kam. Das liefe auf dasselbe hinaus, wäre allerdings weniger auf die Besonderheit meines Sündenfalls gerichtet. Eine genaue Antwort vermag ich selbstredend nicht zu liefern. Ich kann nur versuchen, mich heranzutasten. (NL 131 f.)

Dieses ‚Herantasten‘ in den zahlreichen, insgesamt mehrere hundert Seiten umfassenden folgenden Briefen an Nicoletta gilt also der Frage nach der Bedeutung und dem Einfluss ‚des Westens‘ für den Briefschreiber. Da ‚der Westen‘ als ‚dem Osten‘ Gegenübergestelltes – in Bezug auf Deutschland – nur vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Teilung zu verstehen ist, geht es also letztlich um die Rolle der Teilung Deutschlands bzw. deren Ende für das Leben des Erzählers und sein Selbstbild. Die Frage, die hier als Leitlinie für die ‚Lebensbeichte‘ gegenüber Nicoletta angegeben wird, ließe sich also auch folgendermaßen formulieren: Was hat die Geschichte der deutschen Teilung mit meiner Identität zu tun und was hat sie mit ihr angestellt? Türmer erzählt Nicoletta zunächst von seiner Kindheit. Diese Herkunftsbzw. Ursprungserzählung, mit der Türmer sein Schreib-Ich auf der Briefbühne erscheinen lässt, nimmt bezeichnenderweise wiederum auf den Umstand der Teilung Deutschlands Bezug und parallelisiert somit die Erzählung vom Ich mit der von Deutschland: Ich bekomme ein kleines rotes Auto geschenkt. Zwischen Vorderrad und Fahrertür ragt ein helles Stäbchen heraus. Damit wird gelenkt. Die Scheinwerfer sind Glassteinchen, „Brillanten“, sagt meine Mutter, „aus dem Westen.“ Aus den Koffern werden immer neue Geschenke zutage gefördert und meiner Mutter gezeigt. Mein Opa kitzelt mit einem elektrischen Rasierapparat meinen Handteller. Alles kommt aus dem goldenen Westen. (NL 132 f.)

Damit ist zugleich ein klischeebehafteter Topos des Erinnerns an ‚den Osten‘ aufgerufen: das Westpaket. Diese erste Kindheitserinnerung Türmers, deren Erzählung Türmers Brief-Ich hervorbringt, erfolgt also in der Auseinandersetzung mit dem ‚Westen‘. ‚Der Westen‘ wird dabei einerseits zum utopischen Ort, zu einer unerreichbaren „Welt aus Gold“ (NL 133), in der die „Westsachen […] wie Mondgestein“ (ebd.) sind. Die Differenz zur eigenen ‚real-existierenden‘ sozialistischen Welt ist damit klar abgesteckt, der Westen wird zum Differenzmodell, das Selbsterfahrung überhaupt erst ermöglicht. Der ‚Westen‘ ist das, was einem gegenübersteht, das man nicht ist und an dem man sich dennoch ausrichtet. Die Westwaren werden zu Differenzmarkern, die die eigene Identität aus der einheitlichen Masse herausheben damit allererst hervorbringen:

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Das rote Auto ist unersetzbar, das kann man nicht einfach kaufen. Bei uns haben nur wenige Kinder Matchbox-Autos und Legosteine und Kababüchsen. Ich hatte auch Hemden aus dem Westen und Hosen, und später würde ich genauso hübsch aussehen wie der Junge auf der Kinderschokolade. Eigentlich war auch ich ein Westkind. […] Von Jahr zu Jahr begriff ich besser: Wir besaßen Dinge, die andere Familien nicht hatten und nicht haben konnten, auch wenn sie diese noch so sehr begehrten und viel mehr verdienten als meine Mutter und mehr Geld auf dem Konto hatten als mein Opa. (NL 133)

In seiner Erinnerung erlebt Türmer diese Erfahrung als „Erwähltheit“ (NL 134), die ihn von den anderen abhebt und die er deswegen „herablassend“ bedauert „wie die Afrikaner“ (NL 134). Die Abgrenzung über den Besitz der Westwaren ermöglicht ihm die positive Erfahrung der eigenen Identität: „Wir waren unerkannte Königskinder und ich war glücklich niemand anders als ich zu sein“ (NL 134). ‚Der Westen‘ wird von dem kindlichen Ich als Bezugspunkt für die eigene Ich-Erfahrung gesetzt. Dabei erscheint er als Ort der Fülle: „Es gab keine Enttäuschungen, es konnte gar keine geben, denn jedes Geschenk aus dem Westen war an und für sich unschätzbar“ (NL 134). Damit wird ‚der Westen‘ nicht nur einfach zum paradiesischen Sehnsuchtsort, vielmehr wird er in diesen Schilderungen zum Ideal-Ich stilisiert. Das Ich spiegelt sich in der glänzenden Oberfläche des ‚goldenen Westen‘ und findet sich dort bestätigt. ‚Der Westen‘ als Gegenüber des deutschen Ostens ist wie das gespiegelte Bild in Lacans Spiegelstadium das Gegenüber, das Bild des Eigenen in Perfektion, vollkommen und zugleich unerreichbar61, und dabei nur sichtbar in der Differenz. Die Westwaren bzw. Westgeschenke, die die Existenz des Unerreichbaren verbürgen und zum Zeichen der eigenen Dazugehörigkeit werden, sind damit die perfekten Fetische: Pakete waren etwas, was grundsätzlich aus dem Westen kam. Der Inhalt wurde nicht gleich weggeräumt, sondern blieb zunächst auf dem Wohnzimmertisch liegen. Erst im neuen Jahr verschwanden Kaffee, Seife, Strumpfhosen in Schränken und Schubladen, doch nie verloren sie das Aroma ihrer Herkunft. Sie blieben gegen jede Vermischung resistent und bildeten eine eigene Kategorie von Dingen. Ihr Wert erschöpfte sich aber nicht in ihrem Gebrauch oder Verzehr. Nie wären wir auf die Idee gekommen, eine Kabaoder Carobüchse wegzuschmeißen. Unser ganzer Keller stand voller solcher Büchsen und Dosen. (NL 135 f.)

Diese Lesart, die den Westen als Gegenüber der Identifizierung setzt und die sich aus der Brieferzählung schließen lässt, wird im Nachsatz vom Briefschrei Vgl. auch: „Ich hatte keine Ahnung, wie ich fahren sollte. Wir wollten nach Westberlin, und jetzt waren wir in Westberlin. Verstehen Sie? Westberlin hieß ankommen, im Westen sein, nicht herumirren.“ (NL 580)

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ber selbst konterkariert. Die Kindheitserzählung der Figur wird damit als das erkennbar, was autobiografisches Erzählen immer schon ist; „ein sprachlicher, um nicht zu sagen literarischer Akt.“ 62 Dies wird an dieser Stelle strategisch eingesetzt, um die kindliche Erinnerung an die Westpakete und damit die Erzählung von Türmers Ich-Werdung mit der seiner Dichter-Werdung zu verbinden. Der Brief enthält folgenden Nachsatz, der deutlich macht, dass der Westen nicht nur an der Konstitution des Ich beteiligt ist, sondern ebenfalls den Selbstentwurf Türmers als Dichter anregt: PS: Von Tante Camilla habe ich zum ersten Mal gehört, ich sei ein Dichter, weil ich in meinem Dankesbrief geschildert hatte, wie es bei uns zu Weihnachten zugegangen war und wie wir es kaum hatten erwarte können, ihr Paket zu öffnen – was eine Lüge gewesen war. Denn Tante Camilla stopfte ausschließlich Süßigkeiten hinein (und Kaffee und blöderweise auch Kondensmilch, die bei uns nun wahrlich nicht rar war), hingegen konnte man im Paket von Onkel Peter Matchbox-Autos oder sogar Kassetten finden, weshalb seines das eigentliche Ereignis war. Tante Camilla schrieb zurück, mein Brief sei der schönste gewesen, den sie je bekommen habe, eine richtige kleine Geschichte, die sie schon oft vorgelesen habe. (NL 137)

Das Postskriptum fügt also der Geburt des Ichs noch die Geburt des Dichters hinzu. Dies lässt jedoch Rückschlüsse auf das zuvor Gelesene zu. Der vorhergehende Text wird dadurch als Produkt des Dichters lesbar. Damit weist das Postskriptum die Erzählung des Brieftextes ebenfalls als eine „richtige kleine Geschichte“, als Lügengeschichte, aus. Denn während die zunächst geschilderte Kindheitserinnerung die Westwaren als „unschätzbar“ und damit unangreifbar und perfekt darstellt, als sei „keine Enttäuschung[ ]“ (NL 134) möglich, widerspricht Türmer dieser eigenen Schilderung im Postskriptum entschieden. Der Ärger über die nutzlosen, überflüssigen Geschenke von Tante Camilla zeigt deutlich, dass für ihn durchaus nicht alle Westgeschenke Fetischcharakter hatten und weist die vorangegangene Erzählung über die naive Hochachtung den Dingen gegenüber unabhängig von ihrem Gebrauchswert in den Bereich der Topoi. Der Briefschreiber Schulze, der sich selbst als Autor setzt, bedient sich hier einer gängigen Vorstellung von den ‚armen Ostdeutschen‘, die sich dankbar und voller Demut auf alles Westliche stürzen. Dieser Topos wird hier aufgerufen, für die Kindheitserzählung eingesetzt und im nächsten Moment der Lächerlichkeit preisgegeben. Wenn die kindliche Identifikation mittels des West-Spiegels solchermaßen zwar als konstruierte Erzählung lesbar gemacht wird, behält die Struktur des Selbstentwurfs über die Spiegelung im westlichen Gegenüber dennoch Gültig Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 2. aktualisierte und erweiterte Aufl., Stuttgart 2005, S. 44.

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keit, erfolgt doch die autobiografische Ich-Erzählung Türmers im Brief an die West-Frau Nicoletta. Diese Lesart, zu der der Roman selbst bereits die Fährten legt (vgl. NL 140, FN 1), baut den Spiegel für die Selbstkonstitution des Ichs wiederum an der innerdeutschen Grenze auf. Diese Grenze, die hier als für das Ich notwendige Spiegelfläche mit einem dahinter liegenden, unerreichbaren imaginären Raum (dem ‚Westen‘) dargestellt ist, existiert jedoch zum Zeitpunkt des Erzählens (des Briefeschreibens) bereits nicht mehr. Den „Verlust des Westens“ (NL 592) durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten schließt Türmer folglich auch mit dem Verlust des Ichs kurz: Türmers Ich, so berichtet er Nicoletta, war „zerbrochen […]. Mich gab es nicht mehr“ (NL 587). Da Türmer seine Autorschaft in der Auseinandersetzung mit dem Westen bildet, bedeutet das Fehlen des Westens als Gegenüber dieser Subjektivierung zugleich den ‚Tod des Autors‘: „Ach, Nicoletta! Das vollkommene Verschwinden des Herrn Türmer ist schwer faßbar. Sie können es natürlich auch den Verlust des Schreibens nennen“ (NL 592). An diese Stelle tritt der ‚Wenderoman‘: Die Briefe – und damit der Romantext – werden zum notwendigen Ersatz für das verlorene Gegenüber der Subjektkonstitution und übernehmen damit wiederum eine Spiegelfunktion.

2.5 Liebesbriefe und Briefroman im Briefroman Alle Briefe des Romans lassen sich als ‚Liebesbriefe‘ lesen, hat doch Türmer zu allen drei Empfängern eine jeweils spezifische Art des Liebesverhältnisses.63 Mit der Textform des Liebesbriefs übernimmt Neue Leben ein weiteres Textverfahren der Subjektivierung. Im achtzehnten Jahrhundert, das bereits als Referenzpunkt für den Subjektivitätsdiskurs sowie die Gattung Briefroman genannt wurde, kommt dem Liebesbrief als privatem Kommunikationsmedium eine

 Die Beziehung zu Nicoletta erscheint in Türmers werbenden Briefen als schwärmerische Verliebtheit zu einer Unbekannten und damit als die perfekte Projektionsfläche: „Nicoletta ist die ideale Person – zumindest jene Nicoletta, an die ich beim Schreiben denke –, der ich von früher erzählen kann. Ihr Bild vor Augen begreife ich, was mit uns passiert ist.“ (NL 548) Die an Vera gerichteten Briefe Türmers zeichnen die Beziehung zu seiner Schwester als ein über liebevolle Herzlichkeit deutlich hinausgehendes Geschwisterverhältnis und schreiben diesem eine inzestuöse Sehnsucht ein (vgl. NL 343, 358, 600 f.). Über die – laut Herausgeberkommentar – „homoerotisch gefärbte Beziehung“ (NL 53, Fußnote 2, vgl. auch NL 364, Fußnote 1) zwischen Türmer und Johann ist den Briefen selbst kaum etwas zu entnehmen, die Hinweise darauf finden sich in den Fußnoten, in den ‚Prosafragmenten‘ sowie in Äußerungen gegenüber Vera (vgl. NL 53).

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besondere Bedeutung zu.64 Diese Bedeutung des Liebesbriefs für die sich herausbildende bürgerliche Gesellschaft steht in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung einer neuen Gefühlskultur. Die von Niklas Luhmann ausführlich beschriebenen Umakzentuierungen des Intimcodes zur Liebe als Passion (1982) etablieren im achtzehnten Jahrhundert die Forderung der Exklusivität als herausragendes Merkmal der Liebessemantik.65 Die Liebe als intimes Gefühl, das eine ausschließliche Verbindung zwischen zwei Menschen stiftet, wird zum Merkmal des neuen bürgerlichen Subjekts. Liebe entwickelt sich im achtzehnten Jahrhundert also zu einem Code, über den die neue individuelle Subjektivität versichert wird. Der Liebesbrief wird zum Medium dieses Diskurses. Neben dem Briefroman bedient sich der Erzähler von Neue Leben mit dem Liebesbrief also einer weiteren Schreibpraxis, deren Tradition eng mit der Konstitution von Subjektivität verknüpft ist. Der Liebescode und das Medium des Liebesbriefs stellen für Türmer wiederum eine Möglichkeit dar, sich schreibend seiner selbst zu vergewissern. Dabei verletzen seine Briefe jedoch grundlegende Regeln des Diskurses. Gerade das Gefühl, das im Diskurs der Empfindsamkeit als Garant für Authentizität gesetzt wird, ist im Falle von Türmers Liebesbriefen jedoch in Frage zu stellen. Dem „Anspruch auf voll individualisierte Einmaligkeit“ 66 des empfindsamen Diskurses, der die Liebe als singuläre, ausschließliche Beziehung zwischen zwei Menschen setzt, können Türmers Liebesbriefe nicht erfüllen.67 Er richtet seine Liebesbriefe gleich an drei unterschiedliche Geliebte. Von einem ‚wahrhaftigen Gefühl‘ im exklusiven Sinn der Empfindsamkeit kann also keine Rede sein. Ist es jedoch gerade das Gefühl, auf das das empfindsame Subjekt seine Selbsterfahrung stützt, wird in der Multiplikation der Liebe auch das Ich vervielfacht. Alle drei Beziehungen zu den Briefempfängern und -empfängerinnen sind literarischen Topoi nach Vgl. Doerte Bischoff, Herzensbühne und Schriftkörper. Transformationen des Briefromans in der Moderne am Beispiel von Else Lasker-Schülers Mein Herz. In: Dirk Jürgens (Hg.), Mutual Exchanges. Sheffield-Münster Colloquium II, Frankfurt a.M. u. a. 1999, S. 41–58, S. 42.  Vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 1994, insbesondere Kapitel 10: „Auf dem Weg zur Individualisierung: Gärungen im 18. Jahrhundert“, S. 123–136.  Luhmann, Liebe als Passion, S. 124.  Dabei beinhaltete die Briefkultur der Empfindsamkeit eine Praxis, die zumindest aus heutiger Sicht paradox anmutet. Briefe, auch die private Korrespondenz, waren Gegenstand der öffentlichen Lektüre. Briefe wurden in der bürgerlichen Gesellschaft der Salons und im häuslichen Kreis der Familie vorgelesen. Scheint dies dem Grundsatz der Exklusivität zu widersprechen, gilt jedoch zu bedenken, dass „Intimität und Öffentlichkeit […] bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein keine Gegensätze“ waren (Hannelore Schlaffer, Glück und Ende des privaten Briefes. In: Beyer, Täubrich (Hgg.), Der Brief, S. 34–45, S. 40).

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empfunden. Sowohl das verbotene Begehren zwischen Bruder und Schwester (Türmer und Vera) als auch das gleichgeschlechtliche Begehren als Oszillieren zwischen künstlerisch-intellektuellem Austausch und erotischer Anziehung, Freundschaft und Liebe (Türmer und Johann) und die unerfüllte, werbende Liebe zu einer unerreichbaren Fremden (Türmer und Nicoletta) gehören in den Motiv-Katalog der Literaturgeschichte. Die postalischen Liebesbeziehungen Türmers lassen sich somit als Teil einer Selbstinszenierungsstrategie lesen, mit der er sich selbst zu einer ‚literaturfähige‘ Existenz stilisiert. Zu dieser Strategie der Literarisierung des eigenen Lebens durch die Autorund Erzählerfigur Türmer gehört auch der Briefroman im Briefroman. Das Verfahren von Neue Leben, sich bekannten literarischen Textformen anzugleichen, die in einer Tradition mit dem Subjektdiskurs stehen, wird durch den Briefroman im Briefroman noch einmal potenziert. In der an Nicoletta adressierten Erzählung seiner Lebensgeschichte kommt Türmers Jugendliebe Nadja vor, zu der er während der Studienzeit eine wiederum in erster Linie postalisch geführte Beziehung unterhielt. Bereits die Einleitung dieser Liebesgeschichte apostrophiert die Erzählung als Lektüre-Anleihe: „Im nachhinein wirkt die Affäre mit Nadja durchschaubar […] Nadja hieß eigentlich Sabine, aber wegen Veras Begeisterung für Breton nannten sie bald alle Nadja“ (NL 325). Die Geliebte erscheint als literarische Figur, die Anleihe des Namens bei André Bretons surrealistischer Erzählung von 1928 wird deutlich herausgestellt und unterstreicht die Konstruiertheit der Episode, die als Versuch der Figur Türmer lesbar wird, sein eigenes Leben in der autobiografischen Erzählung zu literarisieren. Der Text stellt Türmer damit als Briefautor mit durchschaubaren Schreib- und Selbstinszenierungsstrategien dar. Nadja bietet Türmer mit ihrem Briefwechsel das Medium für sein literarisches Schreiben: Zurück in Jena, stellte sich bereits mit dem ersten Satz, den ich Nadja schrieb, ein Tonfall ein, in dem ich ohne Konzept, ja eigentlich ohne wirklich nachzudenken, loslegen konnte. Während ich die Blätter zusammenfalte, formulierte ich schon den Beginn für Brief Nummer 2. Täglich, nun auf der Maschine, schrieb ich an Nadja und war überrascht, daß mein Alltag keineswegs so unliterarisch war, wie ich gedacht hatte. (NL 337 f.)

Die Worte strömen, der Briefverkehr erweist sich als befriedigend und ersetzt die körperliche Beziehung, die zwischen Türmer und Nadja nie wirklich zustande kommt: „Nach außen ein ideales Paar, waren wir doch nie eins geworden“ (NL 343). Die Schrift wird hier darin ganz dem Vorbild des empfindsamen Diskurses folgend zum Substitut 68, allerdings insofern abweichend, als  Vgl. Albrecht Koschorke, Substitutionen 2. In: Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 169–262.

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die Zirkulation der Zeichen im Briefwechsel hier keinen Austausch zum Ziel hat. Vielmehr werden die Briefe an Nadja zum Medium von Türmers literarischer Produktion. Die Briefe sind zwar an Nadja adressiert, Türmer begreift sie jedoch als literarisches Projekt: Nach ihrer ersten Antwort – die hellblauen Kuverts trudelten alle vier, fünf Tage ein –, in der sie meinen Brief als ‚wundervolle Prosa‘ bezeichnet hatte, legte ich Blaupapier zwischen die Blätter. (NL 338)

Türmer kopiert seine Briefe und bewahrt sie auf. Dadurch verfehlt das Schreiben den Zweck der Kommunikation, dem Austausch mit der Geliebten, und wird zum Selbstzweck. Die Briefe sind nicht mehr Kommunikationsmittel sondern Selbstbespiegelungsfläche, in denen sich Türmer als Autor bestätigt sieht. Auch diese Episode von Neue Leben verschränkt die Erzählung über Türmers Strategien der schreibenden Selbstentwürfe mit dem Erzählen über Deutschland. Wiederum ist ‚der Westen‘ an den Selbstentwürfen Türmers beteiligt. Denn Nadja eignet sich insofern als Platzhalterin in der Adressatenrolle, da sie ‚im Westen‘ lebt. Damit wird wiederum ‚der Westen‘ zum gemeinten Gegenüber, zur eigentlichen Spiegelfläche, in der Türmer sich als Künstler-Ich gespiegelt findet. Der Roman, den Türmer vor seiner Liebesbrief-Beziehung zu Nadja projektierte, wird zum Thema in diesem neuen Brief-Roman bzw. komplett davon ersetzt: Für „Vivat Polska!“ blieb keine Zeit, wollte ich nicht mein Briefkontinuum zerstören – die Tage nachträglich zu referieren hätte den Ton verdorben. So bestand meine Arbeit am Roman allein darin, Nadja von meinen Fortschritten zu berichten. Regelmäßig meldete ich den Abschluß eines Kapitels. (NL 338)

Der Roman wird zur Fiktion im Brief, der Brief umgekehrt zum Roman: Ich weiß nicht mehr, welcher Brief es gewesen ist. Doch die Überzeugung, an einem Briefroman zu schreiben, besaß ich schon nach wenigen Tagen. Und sie war übermächtig! Gelängen die Briefe an Nadja, so mein Kalkül, entstünde das Werk von allein. (NL 338)

Das Schreiben von privaten Briefen und fiktionaler Prosa wird damit ununterscheidbar. Die Erzählung über den fiktiven Roman im Briefroman, der sich aus dem Briefwechsel mit Nadja ergibt, die bereits als Anlehnung an eine literarische Figur erkennbar ist, findet sich wiederum im Briefroman Neue Leben in einem Brief der Figur Türmer an Nicoletta. Der Ich-Erzähler der Nicoletta-Briefe erzählt, wie er zum Ich-Erzähler in einem Briefroman wird, in dem er zum Romanautor wird. Diese Text-Verschachtelung im Zwiebel- oder Matrjoschka-Prinzip ist das ‚Wende-Verfahren‘ des Textes. Durch dieses Verfahren lassen sich alle Aspekte

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des Textes immer auch von einer anderen Seite betrachten. Sie können nicht auf eine Lesart gebracht werden, sondern werden stets noch einmal anders erzählt und anders lesbar. Dieses Prinzip hat das Bemühen um eine Stillstellung von Identifizierung zum Motiv: Türmer entwirft sich als Autor und versucht diesen Entwurf als Identität zu setzen. Der Text lässt diese Identifikationsbewegung jedoch nicht zum Stillstand kommen, sondern hält sie in Bewegung und Offenheit. Der Text kann stets auch gewendet werden und verweist auf der Rückseite auf die Fiktion zurück. Er thematisiert dabei die spezifischen literarischen Strategien der Konstruktion von Subjektivität. Zudem wird deutlich gemacht, dass alle Selbstentwürfe Türmers immer an ein Medium gebunden sind. Dieses Medium, in dem Türmer sich spiegelnd selbst entwirft, ist zum einen seine Textproduktion als Briefschreiber, Autor und Erzähler von Neue Leben. Zum anderen richten sich seine schreibenden Selbstentwürfe stets an einem Deutschland aus. Türmer schreibt für ‚den Westen‘. Als es ‚den Westen‘ nicht mehr gibt, schreibt er an eine Westdeutsche und schildert ihr sein ostdeutsches Leben und seine ‚Wende‘-Erfahrungen. ‚Wende‘ ist Gegenstand und Anlass des Erzählens sowie Textverfahren und wird solchermaßen als ebenso unabschließbare Bewegung des Begehrens nach einer Identität lesbar.

2.6 Briefedition, Briefbiografie Neue Leben ist nicht nur Briefroman, sondern zugleich eine fiktive Briefedition und Briefbiografie. Mit der Herausgeberfiktion ist die Fiktion eines Briefkorpus‘ verbunden. Die Briefedition ist eine Textform, die im neunzehnten Jahrhundert ihre Blütezeit erreicht 69 und im Zusammenhang mit der Herausbildung des Personenkults steht. Während im aufklärerisch-empfindsamen Diskurs der Briefwechsel und das öffentliche Verlesen privater Briefe als eine Plattform für Geselligkeit und Bildung galt, ändert sich dies im neunzehnten Jahrhundert hin zu einer „stärker personenbezogenen Sichtweise“ 70, die den Briefnachlass zum „Denkmal einer Person“ 71 werden lässt. Die Briefsammlung oder Briefbiografie ist an der Herausbildung des Nationaldiskurses in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert beteiligt, wie Hannelore Schlaffer erläutert: Das neu begründete Deutsche Reich aber mußte sich erst im Geist seiner Bürger einen Platz erobern. Die für die Phantasie notwendige Verkörperung des Nationalbewusstseins

 Vgl. Rainer Baasner, Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis. In: Rainer Baasner (Hg.), Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 1–36, insbesondere den Abschnitt „Sammeln und Edieren“, S. 29–36.  Baasner, Briefkultur, S. 31.  Baasner, Briefkultur, S. 30.

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in großen Figuren entfachte ein heftiges biographisches Interesse. Fast immer aber ist die Biographie das Konzentrat aus dem Leben eines Briefeschreibers, denn im Unterschied zu den Memoiren schildert die Biographie außer der Faktizität des Werdegangs auch die innere Entwicklung eines Individuums und die Intimität seiner privaten Erlebnisse. Die Publikationen privater Briefe, die am Ende des 19. Jahrhunderts zunahmen, beförderten diesen neuen Stil der Biographik.72

In diesem Sinne werden Briefsammlungen zu einem ‚nationalen Kanon‘ zusammengefügt, und „[d]ie Auffassung vom nationalen Interesse der Öffentlichkeit wurde in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zum Topos“ 73, der zu einer verstärkten Sammeltätigkeit führte: Die Briefsammlungen des 19. Jahrhunderts sind die geschriebene Ahnengalerie eines Bürgertums, das keine leeren Gänge mehr hatte, um Gemälde aufzuhängen, jedoch Bücherregale, um ein imaginäres Leben, zusammengepreßt zwischen zwei Buchdeckel, aufzustellen.74

Neue Leben imitiert mit der Briefedition also eine Textsorte, deren Geschichte eng verknüpft ist mit jenem Nationenkonzept, das sich im neunzehnten Jahrhundert herausbildete und an dem die literarische Romantik mitschrieb. Mit dieser Textsorte lehnt sich der Wende-Roman Neue Leben an ein Verfahren an, das sich bei der Herausbildung der Vorstellungsgemeinschaft einer deutschen Nation bewährt hat. Bis in die Details kopiert der Roman die wissenschaftlichen Verfahren der Editionsphilologie. Die Wissenschaftlichkeit von Briefeditionen verbürgt im neunzehnten Jahrhundert noch die Wahrheit über eine historische Person, so dass die Briefe gleichsam zu wissenschaftlichen Quellen über ihr Leben, ihren Charakter werden. Im Gegensatz dazu zeigt die Imitation in Neue Leben auf, dass gerade diese ‚historische Wahrheit‘ nicht von ihrer Simulation zu trennen ist. Die detailgetreue Kopie der Regeln einer Briefedition in Neue Leben weist insbesondere auf die Abweichungen hin: Anders als der Historismus des neunzehnten Jahrhunderts, der eine Geschichte der ‚großen Männer‘ schrieb, rückt in Neue Leben mit Enrico Türmer ein mehr oder weniger durchschnittlicher ‚Normalbürger‘ in den Fokus. Zwar bemüht Türmer sich redlich, seiner Lebensbeichte den Verlauf einer Künstlerbiografie zu geben und sie als Entwicklungsroman zu gestalten, eine bedeutende Persönlichkeit, etwa von nationalem Rang, ist er jedoch nicht. Diese ‚nationale Relevanz‘ kommt vielmehr der Geschichte zu, die er zu erzählen hat, und die der Herausgeber im Vorwort als „Panorama jener Zeit“ (NL 9) charakterisiert. Lässt sich also

 Schlaffer, Glück und Ende des privaten Briefes, S. 44.  Baasner, Briefkultur, S. 32.  Schlaffer, Glück und Ende des privaten Briefes, S. 44.

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über Briefe im neunzehnten Jahrhundert sagen, dass sie „zu Dokumenten einer distanzierten, kollektiven Erinnerung“ werden, sie „rücken ein in das Korpus kultureller Zeugnisse und werden in dieser Funktion durch Veröffentlichung in Auswahl zugänglich gemacht“ 75, so scheint die ‚Briefedition‘ Neue Leben eine ähnliche Funktion für die zeitgeschichtlichen Ereignisse, von denen sie erzählt, zu übernehmen. Wies die Gestaltung des Romans als Briefroman auf Analogien zum empfindsamen Briefdiskurs hin, die Türmers Briefe als Praxis der Selbstbespiegelung und Selbstentwürfe immer in Ausrichtung auf ein westliches/west-deutsches Gegenüber lesbar macht, fügt der Vergleich mit den Briefeditionen des neunzehnten Jahrhunderts dieser Lesart eine weitere Wendung hinzu, insofern es die Subjektkonstitution um die Konstitution des kollektiven Subjekts einer Nation ergänzt, für das das im Brief bezeugte Einzelleben stellvertretend ist. Die imaginäre Konstitution des Subjekts und die der Nation finden sich somit parallelisiert.

2.7 Von der ‚Wende‘ erzählen Neue Leben nimmt nicht nur Schreibpraktiken des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts auf, sondern enthält ebenfalls Bezugnahmen auf die Literaturgeschichte der Gegenwart. Mit dem Gedächtnisprotokoll bzw. dem Zeitzeugenbericht greift der Roman eine Textform auf, die eine ausgewiesene Textform der ‚Wendeliteratur‘ ist.76 Der Wenderoman Neue Leben erzählt über die ‚Wende‘ und er erzählt, wie über die ‚Wende‘ erzählt wird. Gerade dort, wo er Erinnerung vermeintlich unmittelbar zu Wort kommen lässt und von den Ereignissen der ‚Wende‘-Monate im Modus des Zeitzeugenberichts erzählt, stellt der Roman die Unmöglichkeit eines unverfälschten Zugriffs auf erinnertes Erlebtes am deutlichsten aus. Der mit „25.5.90“ datierte Brief an Nicoletta handelt von den Demonstrationen um den 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, und damit dem „Höhepunkt in diesem stürmischen Herbst“ 77. Bereits am Anfang des Briefes parallelisiert Türmer die Stim Baasner, Briefkultur, S. 29.  Dass das Gedächtnisprotokoll eine zumindest quantitativ relevante Textform der ‚Wendeliteratur‘ darstellt, dokumentieren die 54 Einträge zu „Protokoll-Literatur und verwandte Formen“ in Grub, ‚Wende‘ und ‚Einheit‘, Bd. 2: Bibliographie, S. 127–133. Zur Protokoll-Literatur als Schreibform der Wende siehe auch: Kerstin E. Reimann, Protokoll-Literatur. In: Kerstin E. Reimann, Schreiben nach der Wende – Wende im Schreiben? Literarische Reflexionen nach 1989/90, Würzburg 2008, S. 98–117.  Michael Opitz, Carola Opitz-Wiemers, Die Zäsur des Jahres 1989 – Voraussetzungen und Folgen. In: Wolfgang Beutin u. a., Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 7., verbesserte und erweiterte Aufl., Stuttgart 2008, S. 663–671, S. 664.

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mung jener Oktobertage mit dem Verlauf der Proben im Altenburger Provinztheater und weist solchermaßen auf den inszenatorischen Charakter des Geschehens bzw. die Ununterscheidbarkeit von Ereignis und Inszenierung hin: Am Theater hatte ich kaum etwas zu tun und saß deshalb oft in den Nestroy-Proben. Michaela spielte wie gesagt den Eberhard Ultra. Im Grunde war es keine Rolle mehr. Sie spielte von Tag zu Tag mehr sich selbst. Allein die Beschreibung der Proben würde die damalige Zeit hinlänglich charakterisieren. Auch ohne Zutaten wie Demonstrationen und Polizeieinsatz entstünde eine Art Chronik: von den Vorgesprächen im Mai und Juni, als Norbert Maria Richter im Stück noch eine Persiflage auf die Funktionäre und ihre Revolutionspalaver gesehen hatte, zu der Aufregung Anfang September, als auf der Bühne gezeigt werden sollte, daß Revolution möglich sei, über den Oktober, als die Inszenierung von Tag zu Tag platter wurde, weil die Straße der Bühne mehr als zwei Schritte voraus war, bis hin – aber ich will nicht vorgreifen. (NL 449)

Vom Abend des 7. Oktobers 1989 berichtet Türmer Nicoletta von einer spontanen Fahrt nach Dresden, und damit in eine der Städte, auf die sich neben Berlin und Leipzig in jenen Tagen die Aufmerksamkeit richtete – also von Altenburg ins ‚Zentrum des Geschehens‘. Die zeithistorische Einordnung für Nicoletta (und die Leserin) sieht bei Türmer so aus: Erinnern Sie sich an die Züge mit Prager Botschaftsflüchtlingen? Aus den Nachrichten wußte ich von den Tumulten, die es am Dresdner Hauptbahnhof gegeben hatte. Wer rauswollte, versuchte, diese Züge zu erreichen. (NL 450)

Türmer schildert, wie er in Dresden, nachdem er seine Mutter in ihrer Wohnung nicht angetroffen hat, einen ungeplanten Besuch bei Johann macht. Bei Johann trifft er auf einen weiteren ehemaligen Mitschüler, Mario Gädtke, der am Tag zuvor im Umfeld der Demonstrationen am Dresdener Hauptbahnhof von der Polizei verhaftet worden war. Johann und Mario, der aufgrund seiner Verletzungen durch die Polizei einen Kopfverband trägt, sind damit beschäftigt, ein Gedächtnisprotokoll von Marios Erlebnissen anzufertigen. Dieser Bericht, so berichtet Türmer in seinem Brief, sei später in Johanns Buch erschienen. Die Fußnote ergänzt als bibliografische Angabe mit Johanns Buch einen fiktiven und einen tatsächlich erschienenen Titel: „Johann Ziehlke, Dresdner Demonstranten, Radebeul 1990, S. 9–23; vgl. dazu auch: Eckhard Bahr, Sieben Tage im Oktober, Leipzig 1990, S. 80–88“ (NL 453, Fußnote 1). In Johanns Buch lese sich das Protokoll jedoch „natürlich etwas anders, als ich ihn damals zu hören bekam“ (NL 453). Die Erzählung über die Demonstrationen am Dresdener Hauptbahnhof und die Verhaftungen von Demonstranten bzw. ihre Behandlung durch die Polizei erfährt in Neue Leben also eine mehrfache Brechung. Türmer schildert die Anfertigung des Gedächtnisprotokolls, bei

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der er anwesend gewesen sei, greift dabei auf den Text des (fiktiven) Buchs zurück und vermerkt die Abweichungen zwischen mündlichem und gedrucktem Bericht. Dabei wird das ‚Gedächtnisprotokoll‘ bereits im Vorfeld seiner Entstehung als Teil eines Projekts gezeigt, das vordergründig als dokumentarisches gekennzeichnet ist, dessen eigentliche Motivation jedoch als Begehren, ‚Geschichte zu schreiben‘, lesbar wird: Im Vorwort beschreibt Geronimo [d.i. Johann, KG], wie er Mario so zerschlagen, mit einem Verband um den Kopf, kaum wiedererkannt hatte. Mario habe ein Glas Wasser nach dem anderen getrunken, bevor er überhaupt fähig gewesen sei, ein Wort zu sagen. In diesem Moment, schreibt Geronimo, also bevor er von Mario irgend etwas erfahren habe, sei ihm zum ersten Mal der Gedanke gekommen, daß all das dokumentiert werden müsse. Danach ist viel die Rede vom Vergessen und Bewahren, von Schuld und Recht und Sühne und Vergebung. (NL 453 f.)

Türmer ergänzt im Folgenden den Bericht über das Einschreiten der Polizei bei der Demonstration und das Vorgehen gegen die Demonstranten an den Stellen, wo seine Erinnerung an Marios Bericht vom gedruckten Erinnerungsbericht abweicht und insbesondere dort, wo er eine „Lücke darin zu erkennen“ (NL 456) glaubt. Dabei wird nicht nur die Ununterscheidbarkeit zwischen Dokumentation und Fiktion ausgestellt, zudem lässt Türmers Erinnerungsbericht von der Entstehung eines Erinnerungsberichts die Grenzen zwischen Zeugenund Autorschaft verschwimmen: Etwa an dieser Stelle geschah etwas, was ich nicht im mindesten erwartet hatte. Mit einem Lächeln schob Mario die Blätter über den Tisch zu Geronimo. Nun sah ich, was mir längst hätte auffallen müssen: Es war Geronimos Schrift, nicht jene, um die ich Mario immer beneidet hatte wegen ihres gleichmäßigen Flusses, die wie eine Gravur die Seiten füllte. (NL 456)

Die Textseiten, von denen Mario bis dahin sein Gedächtnisprotokoll abgelesen hatte, wurden von Geronimo/Johann geschrieben. Beim Entstehen des zweiten Teils durch Marios Diktat und Johanns Mitschrift ist Türmer anwesend, doch auch hier hält er das gedruckte Ergebnis im Nachhinein für verfälscht: „Ich habe Marios Erzählung […] weit weniger ungelenk in Erinnerung, als sie jetzt nachzulesen sind“ (NL 459). Die authentische Wiedergabe des Erlebten scheint hier von vornherein durchgestrichen, und so ist es nur konsequent, dass sich auch Türmer der Erzählung einschreibt: „Ich bin, das will ich nicht verhehlen, gegen Ende etwas von der Vorlage abgewichen und meiner Erinnerung gefolgt“ (NL 461). Indem der Text hier mit dem Gedächtnisprotokoll eine viel genutzte Textform des Schreibens über die ‚Wende‘ aufgreift, die mit dokumentarischem Anspruch versucht, die Erinnerung authentisch zugänglich zu machen, wird

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hier erneut ausgestellt, dass dieses Bemühen um die Authentizität von Erinnerung scheitern muss. Verwiesen wird damit wiederum auf den fiktionalen Status des eigenen ‚Wenderomans‘. Auch hier zeigt sich wieder das ‚Zwiebelprinzip‘ des Romans. Die ‚Wende‘, über die der Roman vermeintlich erzählt, kommt hinter den Zwiebelschichten des Textes nicht zum Vorschein. Das Erzählen versucht sich anzunähern und verweist dabei immer wieder auf die Fiktionalität dieser Annäherung zurück. Dieses Bemühen um eine Annäherung lässt sich mit dem Bemühen um eine imaginäre Schließung, das die Dynamiken der Identifizierung motiviert, vergleichen. Diese Bewegung und die Unmöglichkeit ihrer Stillstellung führen die Textverfahren vor. Neben dem Gedächtnisprotokoll bietet Neue Leben als eine andere Möglichkeit, über die ‚Wende‘ zu erzählen, eine Fußball-Geschichte an. Türmers Briefe enthalten einen an verschiedenen Stellen eingeflochten Erzählstrang, der die Wende-Ereignisse mit einem Fußballspiel verglichen. Hierbei wird das Fußballspiel zur Metapher für die unerwarteten und wechselvollen gesellschaftspolitischen Geschichtsabläufe. Der überraschende Verlauf der Ereignisse, die zur Öffnung der deutsch-deutschen Grenze führte, wird mit einem historischen Fußballspiel verglichen, bei dem die zur Halbzeit bereits siegesgewisse Mannschaft am Ende haushoch verliert: Von da an fällt es mir schwer, die Tage zu unterscheiden. Ich beteiligte mich an nichts mehr, und Michaela war zu stolz, mich um etwas zu bitten. Wenn ich allein war, lag ich in meinem Zimmer, einen Unterarm über den Augen, und versuchte, meine Gedanken möglichst weit weg von mir und der Gegenwart zu halten. Meistens dachte ich an Fußball. Vielleicht haben Sie von dem legendären Viertelfinalspiel im Europapokal der Pokalsieger gehört, zwischen Dynamo Dresden (der Mannschaft meines Herzens) und Bayer 05 Uerdingen am 9. März 86, einen Tag nach dem Internationalen Frauentag. Ich weiß bis heute nicht, wo Uerdingen liegt. Dresden hatte zu Hause mit 2 : 0 gewonnen und spielte in Uerdingen groß auf, der ‚Dresdener Kreisel‘ lief. Ich erinnere mich noch an Klaus Sammer, unseren Trainer, wie es ihn von seiner Bank hochriß, als das 3 : 1, ein Eigentor der Uerdinger, fiel […] Dresden hätte sich in den verbleibenden fünfundvierzig Minuten vier Gegentore leisten können und wäre trotzdem im Halbfinale gewesen. In der 58. Minute fiel ein Tor für Uerdingen. In der Verfassung, in der ich mich befand, schien mir dieses Tor seine Entsprechung im Verbot des „Sputniks“ und der Verleihung des KarlMarx-Ordens an Ceauşescu zu haben. Das 3 : 3 wenig später setzte ich mit dem Wahlbetrug vom 7. Mai gleich. Das 4 : 3 für Uerdingen bedeutete soviel wie die ungarische Grenzöffnung, dem 5 : 3 entsprachen die Montagsdemonstrationen. Niemand zweifelte zu diesem Zeitpunkt noch am 6 : 3, das dann auch fiel und Dresden ausscheiden ließ. Was aber würde das 6 : 3 im Herbst 89 sein? Reisefreiheit für alle? Und das 7 : 3? Das 7 : 3 – so das Endresultat – interessierte mich schon nicht mehr. Sechs Gegentore in einer Halbzeit! Das war die unwahrscheinlichste und die schlimmste aller möglichen Wendungen. (NL 539 f.)

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Der Fall der Mauer – eines jener historischen Ereignisse, bei denen die Zeitzeugen sich lebenslang erinnern, wo sie zu dem Zeitpunkt, als sie davon erfahren haben, waren oder was sie machten, und dieses Erinnern auch abfragen78 – ist für Türmer eher mit einer banalen Erinnerung verbunden: Er hat den Fall der Mauer verschlafen.79 Parallelisiert wird das Ereignis Mauerfall hier mit dem Verlieren im Fußball: Am Mittwoch weckte uns Robert frühmorgens. Er stand im Zimmer und rief etwas. Ich sah als erstes Michaelas Waden. Michaela rannte! Und dann hörte ich – viel zu laut – das Radio. Roberts Stimme, das grelle Lampenlicht, der Wetterbericht – plötzlich schämte ich mich unendlich, der Versuchung zu schreien nachgegeben zu haben. Jetzt verstand ich, was Robert rief. Den Fall der Mauer empfand ich als harte, doch gerechte Strafe für meinen Rückfall. Ich zog mir die Decke über den Kopf. […] Das also war das 6 : 3, das unfaßbare fünfte Tor in der zweiten Halbzeit, das Aus, das K.o. (NL 568)

Der Mauerfall wird in dieser Analogisierung zum entscheidenden Gegentor. Die Fußballmetapher beschreibt die geschichtlichen Abläufe als Spiel. Ein Spiel jedoch kann immer auch anders ausgehen. Die Metaphorisierung über den Fußball betont die geschichtliche Kontingenz und verweigert sich der Narration der ‚Wende‘-Ereignisse im Sinne einer teleologischen, sinnstiftenden Erzählung, die die ‚Wiedervereinigung‘ als Zielpunkt setzt. Die Fußballmetapher ist offen genug, um nicht nur Türmers Skepsis gegenüber den Entwicklungen von 1989/90 auszudrücken, sondern wird ebenso zum Anhaltspunkt für seine Versöhnung mit den neuen Verhältnissen. 1990 wird die Fußballweltmeisterschaft ausgetragen und Deutschland ist zum ersten Mal mit einer ‚gesamtdeutschen‘ Mannschaft vertreten. Wie sich zeigt, hat der Fußball ein hohes identifikatorisches Potential, dem sich auch Türmer nicht entzieht:

 Als ein Beispiel vgl. die Anthologie: Renatus Deckert (Hg.), Die Nacht, in der die Mauer fiel. Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989, Frankfurt a.M. 2009.  Dieses buchstäbliche Verschlafen lässt sich wiederum als Bezugnahme auf den Vorwurf lesen, der zahlreiche Debatten der Zeit um 1990 prägte, die Intellektuellen bzw. die Schriftstellerinnen und Schriftsteller hätten die ‚Wende‘ ‚verschlafen‘; also keinen Beitrag geleistet bzw. sie nicht mitgestaltet. Vgl. dazu die Dokumentation in dem Kapitel „Der ‚Topos vom Schweigen‘ (Helmut Peitsch)“ in Grub, ‚Wende‘ und ‚Einheit‘, S. 141–147. Vgl. auch: Werner Mittenzwei, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945 bis 2000, Leipzig 2001, darin insbesondere Kapitel 6: Die Demütigungen und die neuen Möglichkeiten. Wende und Nachwende. Die neunziger Jahre, S. 388–461.

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Die Abende verbringe ich in der Schiedsrichterklause. Bei jedem deutschen Tor läßt Friedrich, der kahlköpfige Wirt, eine Rakete steigen und spendiert eine Runde Korn. Schade, daß wir heute nicht spielen. (NL 595)

Das Subjekt, das hier heute nicht spielt, ist ein ‚gesamtdeutsches Wir‘. Für Türmer wird die Identifikation mit dem deutschen Team zu einer Möglichkeit, an dem neuen, ‚gesamtdeutschen Wir‘ zu partizipieren und dieses in der Erzählung zu setzen. Die Feier der Nationalmannschaft wird damit zugleich zur Feier des gesamtdeutschen Projekts und zum Anstoßen auf dessen Erfolg – vom Erfolg der Nationalmannschaft zumindest zeigt sich Türmer nun überzeugt: „Hier glaubt jeder an den Sieg.“ (NL 620). Als dieser Erfolg mit dem Gewinn des Weltmeistertitels dann tatsächlich eintritt, ist dies für Türmer das Startsignal, mit der Vergangenheit abzuschließen und das ‚Neue Leben‘ zu beginnen: Liebe Nicoletta, ich habe mir mit dem Schreiben zuviel Zeit gelassen, ich will nicht länger meiner Vergangenheit nachhängen. Nicht, daß mir der Weltmeistertitel zu Kopf gestiegen wäre. Aber ist nicht die Freude über den Sieg nur der greifbare Ausdruck eines viel größeren Glücks? Nie war mein Wunsch stärker als heute, an Ihrer Seite ein neues Leben zu beginnen. (NL 633)

Auch dieses ‚Neue Leben‘, das Türmer als großes Glück vor sich sieht, ist wiederum eine deutsch-deutsche Vereinigung. Denn das Leben an Nicolettas Seite, von dem Türmer träumt, wäre als Verbindung eines Ost- mit einer West-Deutschen eine ‚gesamtdeutsche Ehe‘ und damit wiederum eine Metapher für das vereinigte Deutschland. Neue Leben bleibt dabei selbstverständlich nicht stehen. Die ‚Neuen Leben‘, die sich Türmer für seine Zukunft ausmalt, sind wiederum als Lebensentwürfe im Plural zu verstehen. So macht Türmer nicht nur Nicoletta Vorschläge für ein gemeinsames Leben, sondern breitet ähnliche Vorhaben eines Neustarts auch Vera gegenüber aus.

2.8 Faustische Wendungen Wie bereits einleitend skizziert, ist Neue Leben auch in dem Sinne als ‚Wenderoman‘ zu verstehen, als er von den Wendepunkten in der Biografie seiner Hauptfigur Türmer erzählt. Diese fasst der Herausgeber als Entwicklung „von einem Theatermann, der zu einem Zeitungsredakteur, von einen gescheiterten Schriftsteller, der zu einem glücklichen Unternehmer wird […]“ (NL 9) zusammen, in deren Verlauf Türmer sogar den Vornamen wechselt. Die ‚Wende‘ geht

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also mit einer Identitätswende einher. Das Kompositionsprinzip des Romans kombiniert jedoch genau genommen zwei Entwicklungserzählungen miteinander. Da die Briefe Türmers in der zeitlichen Reihenfolge ihrer Datierung angeordnet sind, wechseln sich die Briefe an die unterschiedlichen Adressaten ab. Die verschiedenen Erzählstränge verlaufen dadurch parallel, obwohl sie aus unterschiedlichen Phasen von Türmers Leben erzählen. Diese Parallelisierung lässt die Briefe und die darin geschilderten gegenläufigen Entwicklungen Türmers nebeneinander treten. Die Briefe an Johann widmen sich Türmers Alltag im Jahr 1990, seinem Engagement beim zunächst aus der Bürgerbewegung entstehenden Wochenzeitungsprojekt und seinen späteren unternehmerischen Bestrebungen zur Gründung eines Anzeigenblatts. Durch vielfältige Anleihen aus dem Fauststoff präsentiert sich der Erzähler hier als eine Art Faust der Wendezeit.80 Einen ersten Fingerzeig geben bereits die Namen. Der Nachname Türmer lässt an Lynkeus, den Türmer aus Goethes Faust II denken. Nachdem er seinen Vornamen „germanisiert“ (NL 7) hat, nennt Enrico Türmer sich Heinrich.81 Briefschreiber und -empfänger sind also über ihre Vornamen mit dem Fauststoff verbunden: Türmer gibt sich den Namen von Goethes Faustfigur und Johann heißt wie der Faust der Volkssage82. Johanns Rolle ist nicht auf die des Empfängers von Türmers Faust-Erzählung beschränkt, vielmehr scheint Johann diese erst anzuregen, als er Türmer eine Ausgabe von Hanns Eislers Johann Faustus (vgl. NL 55) schenkt. Türmer stilisiert seine Begegnung und anschließende Zusammenarbeit mit dem westlichen ‚Unternehmensberater‘ und Investor Clemens von Barrista83 als ‚Teufelspakt‘ (vgl. NL 179) und Verführung zum Kapitalismus. Die praktischen Lektionen im „Wolfsgesetz des Kapitalismus“ (NL 764) führen zu einem neuen Selbstentwurf Türmers, der seine Zukunft nicht mehr als Schrift-

 Vgl. auch Geier, Engagierte Befragungen der Tradition, S. 130.  Diese ‚Germanisierung‘ ist dabei nicht nur eine Eindeutschung des italienischen Vornamens, sondern zugleich der Wechsel von dem als typischer DDR-Vorname geltenden Enrico zu einer Form dieses Namens, der die ostdeutsche Herkunft seines Trägers weniger deutlich eingeschrieben ist. Die Germanisierung ist hier also auch eine ‚EntDDRisierung‘.  Die Historia von D. Johann Fausten (1587) greift verschiedene Überlieferungen der Sage auf, die seit dem Mittelalter Karriere machte. Vgl. Faust. In: Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 8., überarbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart 1992, S. 218–226.  So wird Barrista insbesondere während der ersten Begegnung als überaus mephistophelische Erscheinung gezeichnet. Das erste Zusammentreffen mit Barrista kündigt sich in den Tagen zuvor über den „Geruch von ‚nassem Hund‘“ (NL 81) an, einen penetranten Geruch, den Türmer – wie Faust den Pudel – nicht loszuwerden vermag, und wird als geheimnisvoll und fast schon übernatürlich beschrieben (vgl. NL 81–89).

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steller84 sondern als erfolgreicher Geschäftsmann in der freien Marktwirtschaft sieht.85 Seine Abkehr vom Schriftstellerdasein berichtet Türmer jedoch paradoxerweise, indem er sie verschriftlicht, reichlich mit literaturgeschichtlichen Topoi ausgestaltet und als Faust-Erzählung inszeniert. Die Wende vom Künstler zum Kapitalisten ist ins Künstlerische verkehrt. Die an Johann gerichtete Erzählung über das ‚Neue Leben‘ in der Wendezeit und nach der Abkehr von der Kunst und der Hinwendung zum Kapitalismus ist durch die Verschachtelung der Briefe zudem eng geführt mit der Erzählung, die Türmers Briefe an Nicoletta präsentieren. Dieser als ‚Lebensbeichte‘ apostrophierte Erzählstrang hat Türmers ‚künstlerische Sendung‘ zum Thema. Türmer erzählt, wie er als Siebtklässler in einem Bekehrungserlebnis erkennt: „Ich sollte Schriftsteller werden!“ (NL 145). Schon als Schüler, so beschreibt es Türmer in seinen Briefen, sieht er sich als politischen Schriftsteller, der die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR schildert bzw. anprangert und dafür Anerkennung insbesondere in Westdeutschland zu ernten hofft. Die Teilung Deutschlands bildet also den Rahmen für Türmers vermeintliche Künstlerexistenz. Seine Schreibversuche, die im Anhang als Rückseiten der Nicoletta-Briefe dokumentiert sind, thematisieren in erster Linie den DDR-Alltag als Schüler und während der Armee-Zeit. Indem die Komposition des Briefromans die Briefe an Johann und Nicoletta abwechselnd zur Sprache kommen lässt, erfahren die beiden Erzählstränge eine Engführung. Die Erzählung vom faustischen ‚Mann der Tat‘, dem erfolgreichen Geschäftsmann, der das Schreiben hinter sich lässt, findet sich konterkariert durch den an Nicoletta gerichteten ‚Bildungs-‘ bzw. ‚Künstlerroman‘, der Türmers Entwicklung zum Schriftsteller erzählt. Die Hinwendung zum und die Abkehr vom Schreiben sind somit miteinander verbunden. Türmer lässt sich also weder auf eine typische ‚WendeIdentität‘ noch auf eine bestimmte Identitätswende festlegen. Der Briefroman erzählt, ganz im Sinne von Faust, von mindestens ‚zwei Seelen in der Brust‘ bzw. zwischen den Buchdeckeln und entscheidet nicht zwischen den gegensätzlichen Lebensentwürfen, die er vorstellt. Er endet entsprechend offen und wiederum auf Goethe verweisend mit der Aussicht auf eine Italienreise.

 Eine parallele Entwicklung zu Türmers Abkehr von der Kunst lässt sich für Türmers Schwester Vera feststellen. Vera führte in der DDR „ein Boheme-Leben“ (NL 223) und erhielt als Muse und Modell auf zahlreichen Leinwänden eine vervielfältigte stoffliche Existenz (vgl. NL 223). Mit ihrem Umzug in den Westen wendet sich dieses Stoff-Leben ins konkret-materielle, verkauft sie doch dort im Geschäft ihres Mannes Stoffe.  Diese Entwicklung vom Schriftsteller mit künstlerischem Anspruch zum Geschäftsmann schlägt sich in einer Veränderung des Vokabulars nieder. Die Briefe an Johann enthalten immer wieder Formulierungen die sich wie Phrasen und Floskeln aus betriebswirtschaftlicher Einführungsliteratur lesen. Vgl. z. B. NL 487, 552.

Ingo Schulze, Neue Leben

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Die Erzählung gestaltet Türmers Identitätswenden während der Wendezeit wiederholt als Anspielungen auf verschiedene Figuren86 und Themen aus Goethes Werken und insbesondere den Faust. Dadurch wird das Erzählen über das zeithistorische Thema rückgebunden an die Größe der deutschen Literaturund Kulturgeschichte und zugleich eingeordnet in übergeordnete, vom konkreten Erzählanlass losgelöste ‚große‘ Themen. Mit den zahlreichen Anlehnungen und Verweisen auf den Fauststoff nimmt Neue Leben Bezug auf einen Stoff, der wie kein anderer mit ‚dem Deutschen‘ verbunden wird. So ordnet etwa Gert Mattenklott den Faust in Etienne François’ und Hagen Schulzes Projekt der Deutschen Erinnerungsorte als den „Inbegriff eines deutschen Mythos“ 87 ein und erläutert, wie die Popularität der Faustsage bereits im 18. und neunzehnten Jahrhundert in unmittelbarem Zusammenhang mit bestimmten nationalen Bedürfnissen stand: Im Zuge der Ablösung von der antiken Modellkultur entstand Bedarf nach einer neuen, einer modernen Mythologie, deren Vorbildfiguren es mit den Halbgöttern und Heroen der alten Welt aufnehmen können sollten. Über diesen Horizont der historischen ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘ noch hinausweisend, trugen Reformation, Säkularisierung und die Ausbildung der Nationalstaaten ein übriges dazu bei, um Faust sowohl zur Zentralfigur einer neuen, zugleich aber auch einer spezifisch deutschen Mythologie werden zu lassen: ein anderer Prometheus, Moses und Christus.88

Die ‚Erfindung der Nation‘ und die Erfindung von Faust gehen, so kann man Mattenklott hier verstehen, Hand in Hand. Auch für die Gegenwart kann der Fauststoff als Stoff angesehen werden, der in besonderer Weise Anknüpfungspunkte für Entwürfe einer nationalen Identität anbietet. So wurde etwa mit Eislers Johann Faustus (1952) das Projekt einer Nationaloper in der DDR betrieben, nicht zuletzt, um die Möglichkeit eines vereinten Deutschlands auf Grundlage der Idee von der deutschen Kulturnation anzuregen.89 Durch die Inszenierung als Faustfigur erscheint Türmer als „genuin deutscher Held“ 90, beinhaltet die Rezeptionsgeschichte des Fauststoffes doch auch die Stilisierung des ‚Faus Neben Faust ist insbesondere Wilhelm Meister zu nennen, denn Türmer „zweifelt, zögert und leidet; strebt nach tieferer Erkenntnis und wird wie Wilhelm Meister von der Frage umgetrieben, wo sein Platz in dieser Welt sei und wie er diesen finden könne“ (Henneberg, Drawing by Numbers, S. 171). Auch zu Dichtung und Wahrheit finden sich deutliche Parallelen.  Gert Mattenklott, Faust. In: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 603–619, S. 604.  Mattenklott, Faust, S. 604.  Vgl. Mattenklott, Faust, S. 615 f. Sowie: Jochen Schmidt, Goethes Faust als nationale Identifikationsfigur im 19. und 20. Jahrhundert. In: Jochen Schmidt, Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil: Grundlagen – Werk – Wirkung. München 1999, S. 305–319, S. 316 f.  Henneberg, Drawing by Numbers, S. 171.

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Wende-Roman

tischen‘ als vermeintlich deutschen Wesenszug91 wenn nicht gar die „Ineinssetzung Fausts mit Deutschland“.92 Türmers Wendeschicksal, die Umbrüche in seiner Biografie und sein Suchen und Ausprobieren von neuen Lebensentwürfen werden damit als ‚deutsche Themen‘ lesbar. ‚Die Wende‘ scheint dann nur eine (neue) Metapher, für etwas, – bzw. ein neuer Anlass zu sein, von etwas zu erzählen, das die deutsche Literatur schon lange kennt: ein Begehren, sich seiner selbst im Text zu vergewissern und das Scheitern dieses Bestrebens, die Schilderung einer unendlichen Suche nach der Erkenntnis, die eine gesicherte Identität zu versprechen scheint und das Leiden und Zweifeln, die die Unerfüllbarkeit dieses Ziels mit sich bringt. Dies gestaltet der Roman Neue Leben bereits, indem er sich mit dem Briefroman und der Herausgeberfiktion Textformen bzw. Erzählverfahren wählt, in denen die Thematisierung von Subjektivität und Identität immer schon enthalten ist. Solchermaßen kommen hier im ‚Wenderoman‘ inhaltlich, stoffgeschichtlich und verfahrenstechnisch die Fragen nach Identifizierung und ‚dem Deutschen‘ zusammen, für das ‚die Wende‘ zur Chiffre wird.

3 Literaturwenden Dieses Kapitel nahm die Beobachtung zum Ausgangspunkt, dass sich mit ‚Wende‘ als Bezeichnung für die gesellschaftspolitischen Umbrüche in der DDR 1989/90 sowie häufig zugleich auch für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik in der öffentlichen Rede ein Begriff durchgesetzt hat, der die damit bezeichneten Entwicklungen als eine Art teleologischen Geschichtsverlauf darstellt, in dem die Vereinigung der deutschen Staaten als ein Wiederherstellen deutscher Einheit und damit der Identität der deutschen Nation erscheint. Mit Ingo Schulzes Neue Leben stand ein Beispiel für die so genannte Wendeliteratur im Mittelpunkt der Analyse. Neue Leben erzählt sehr ausführlich und eingehend vom Leben im Deutschland der Jahre 1989/90. Die ‚Wende‘ ist dabei jedoch nicht nur Erzählanlass und -gegenstand, sondern ist dem Text strukturell eingeschrieben. Nicht nur handelt Neue Leben von einem Thema, das auf das engste mit der Frage nach einer nationalen Identität im gegenwärtigen  Vgl. Inge Stephan, Goethes Spätwerk als Bilanz der Epoche. In: Wolfgang Beutin u. a., Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 7., verbesserte und erweiterte Aufl., Stuttgart 2008, S. 227–230, S. 230; Schmidt, Goethes Faust als nationale Identifikationsfigur im 19. und 20. Jahrhundert; Hans Schwerte, Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie, Stuttgart 1962; Willi Jasper, Faust und die Deutschen, Berlin 1998.  Schmidt, Goethes Faust als nationale Identifikationsfigur im 19. und 20. Jahrhundert, S. 308.

Literaturwenden

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Deutschland verbunden ist, und stellt einen Protagonisten zentral, der beständig mit der Suche nach sich selbst beschäftigt ist. In der Analyse der Textverfahren konnte gezeigt werden, dass Neue Leben Anleihen bei unterschiedlichen Textformen macht, die auf besondere Weise Textformen der Subjektivierung sind. Der Roman erzählt davon, wie Subjektivierung immer an ein Medium gebunden ist und sich etwa über Narration hervorbringt und versichert und zeigt damit, wie diese literarischen Techniken der Subjektivierung an den Dynamiken des Imaginären beteiligt sind. Neue Leben erzählt von der ‚Wende‘ nicht als einzigartiges Ereignis oder gar Schlusspunkt in einer historischen Entwicklung. Die Wende-Geschichte, die der Roman zu lesen gibt, ist keine Erzählung, die in einer deutschen Einheit mündet und diese damit als abgeschlossen setzt. Der Roman zeigt die Deutungsgeschichte, die ‚die Wende‘ als Ziel einer deutschen Identitätssuche setzt, als eine unmögliche Schließung, die durch die gleichen Begehren und Dynamiken motiviert ist, wie auch die ‚imaginäre Geschichte‘ des Subjekts. Türmers Selbstbild des begabten Dichters oder erfolgreichen Geschäftsmanns ist genau so ein imaginärer Entwurf wie die ‚deutsche Einheit‘ als Produkt der ‚Wende‘.

V Nostalgie 1 Ostalgie. Und was Nostalgie mit Nationalismus zu tun hat Mit der Analyse des Films Good Bye, Lenin! (D 2003, Wolfgang Becker), die im Mittelpunkt dieses Kapitels steht, greife ich ein Beispiel für das Phänomen ‚Ostalgie‘ auf. Im Rahmen dieser Arbeit, die danach fragt, wie und über welche Bilder und Images sich das aktuelle Deutschland entwirft, rückt mit der Ostalgie ein Gegenwartsphänomen in den Blick, das, so scheint es zumindest, sich in erster Linie von diesem aktuellen Deutschland ab- und einem anderen, ‚verlorenen Deutschland‘ zuwendet. Die Ostalgie, die gemeinhin in Zusammenhang gebracht wird mit einem Verlust von oder der Suche nach Identität, bietet also vielfache Anschlussstellen für die Untersuchung der Dynamiken kollektiver Identifizierung und ihrer Image-Bildungen. Die Ostalgie beschreibt ein Gefühl bzw. einen Gemütszustand, der als solcher nicht untersucht werden kann, der jedoch als Schlagwort mit einer ganzen Reihe von überwiegend populärkulturellen Gegenständen, etwa Texten wie Autobiografien oder Romanen, Filmen, Fernseh-Shows und nicht zuletzt bestimmten Produkten, Marken von Alltagsgegenständen und speziellen Ostalgie-Waren, verknüpft ist, die er mit einer Bedeutung auszustatten scheint. Den Ostalgie-Begriff möchte ich in seiner Image-Funktion beschreiben und untersuchen, wie er an bestimmten Mechanismen der Gemeinschaftsbildung teilhat und in welcher Weise die ostalgischen Bildentwürfe etwas über Deutschland aussagen. Dazu soll im Folgenden einleitend der Begriff ‚Ostalgie‘ näher in den Blick genommen werden und auf seine Verwandtschaft mit der Nostalgie befragt werden. Wie noch näher ausgeführt werden wird entwickelte sich ‚Nostalgie‘ im neunzehnten Jahrhundert zu einem Begriff, der als Krankheitsbezeichnung einen naturalisierenden Begründungszusammenhang für die sich herausbildende Vorstellung von der Nation als Herkunftsgemeinschaft lieferte. An dieses spezifische imaginäre Potential der Nostalgie, das bei der ‚Erfindung der Nation‘ mitwirkte, knüpft die Ostalgie im Sinne einer ‚Erbschaft‘ an und bemüht sich, es mittels bestimmter Images aufzurufen. Anhand von Good Bye, Lenin! wird zunächst herausgearbeitet, wie dieser Film über das Image der Ostalgie bestimmte Sehund Konsumgemeinschaften herstellt. Wie die Lektüre insbesondere der Familienerzählung des Films zeigt, bleibt Good Bye, Lenin! nicht bei einer rückblickenden DDR-Wehmut stehen. Das ostalgische Erzählen über die Familie bedient sich des Ödipus-Mythos, den ich als nostalgisches Narrativ lese. So führt das Ende des Ostalgie-Films Good Bye, Lenin! eine gesamtdeutsche Familie zusammen und lässt sich in diesem Sinne als Lieferant von Bildentwürfen für das neue ‚ganze Deutschland‘ verstehen.

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Nostalgie

Das Kunstwort ‚Ostalgie‘ setzt sich zusammen aus den Begriffen ‚Osten‘ – bezogen auf die DDR – und ‚Nostalgie‘. Es bezeichnet in der allgemeinen Auffassung die positiven und rückblickend verklärenden Erinnerungen an die DDR. Ostalgie polarisiert. Auf der einen Seite wird sie verständnisvoll betrachtet als „Reaktion auf Gegenwartserfahrungen“ 1 bzw. als Folge einer Unfähigkeit, mit der Gegenwart und Zukunft der Nachwende-Situation umzugehen.2 Der Sozialwissenschaftler Thomas Ahbe beschreibt die Ostalgie als „Integrationsstrategie“ 3 und stellt fest: „Ostalgie ist […] selbstbezogen, sie ist Selbstvergewisserung und Selbsttherapie.“ 4 Der Ostalgie wird somit identitätsstiftendes oder -stabilisierendes Potential zugeschrieben und das durchaus in einem nationalen Sinn. Dass Ostalgie mit der ‚nationalen Sache‘ zu tun hat, führt jedoch andererseits auch zu sehr kritischen Einschätzungen. So befasste sich etwa ein wissenschaftliches Symposium an der Universität Würzburg im November 2003 mit der Ostalgie als Erinnerungskultur. In der Einleitung des daraus hervorgegangenen Tagungsbandes wird resümierend festgestellt: „Allein ein kritischer Umgang mit der Geschichte und Alltagskultur der DDR kann dazu beitragen, das ‚nation building‘ in Deutschland zu befördern.“ 5 Die Ostalgie wird nicht zu diesen nützlichen Strategien gezählt – ganz im Gegenteil wird sie als Hinderungsgrund und somit als Gefahr für den offensichtlich als nötig erachteten Nationenbildungsprozess gesehen. Thomas Leuerer befürchtet in seinem Beitrag sogar, dass die durch die Ostalgie betriebene „eklatante Verharmlosung der DDR […] langfristig zu Folgen für die politische Einheit führen“ 6 könne. Es scheint sowohl in den verständnisvollen als auch in den kritischen Positionierungen zur Ostalgie stets um Identität und nationale Einheit

 Klaus Christoph, ‚Ostalgie‘ – was ist das eigentlich? In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, 4, 2006, S. 681–689, S. 683. Vgl. ebenfalls für die umstrittene Urheberschaft an der Wortneuschöpfung.  David Clarke, Introduction. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies, 3, 2004, Special Theme Issue: Beyond Ostalgie: East and West German Identity in Contemporary German Culture, S. 187–190, S. 187.  Thomas Ahbe, Ostalgie. Zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit in den 1990er Jahren, hg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2005, S. 66. Vgl. auch Thomas Ahbe, Ostalgie als Selbstermächtigung. Zur produktiven Stabilisierung ostdeutscher Identität. In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, 1, 1997, S. 614–619.  Ahbe, Ostalgie, S. 44.  Thomas Goll, Einführung – Erinnerungskultur und Ostalgie. In: Thomas Goll, Thomas Leuerer (Hg.), Ostalgie als Erinnerungskultur? Symposium zu Lied und Politik in der DDR, BadenBaden 2004, S. 9–15, S. 13.  Thomas Leuerer, Die heile Welt der Ostalgie – Kollektive politische Erinnerung an die DDR durch mediale Verzerrung? In: Goll, Leuerer (Hg.), Ostalgie als Erinnerungskultur? S. 46–59, S. 49.

Ostalgie. Und was Nostalgie mit Nationalismus zu tun hat

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zu gehen und um die Frage, ob sich diese im Phänomen der Ostalgie als eine (neue/alte?) ostdeutsche Identität gestaltet, die sich einer gesamtdeutschen Identität widersetzt, entzieht oder von ihr ausgeschlossen ist.7 Es geht also ‚ums Ganze‘. Andere Publikationen zum Stichwort verweisen jedoch bereits darauf, dass dieses ‚Ganze‘ (einer deutschen oder ostdeutschen Identität) nicht einfach so zu haben ist. So schreibt etwa Christian Eger in seinem Essay Mein kurzer Sommer der Ostalgie (2004): „Ostalgie bezeichnet das Heimweh nach der DDR, wie sie hätte gewesen sein können, wenn sie nicht die DDR gewesen wäre.“ 8 Dieses Zitat macht deutlich: Es geht nicht um rückwärts gerichtete Identifikation mit einer verbürgten Erinnerung.9 Die Erinnerung ist mit einem Mehr ausgestattet, sie wurde einem gestalterischem Prozess unterzogen. Der Identifikationsprozess, um den es hier geht, unterliegt dem Imaginären. Um diesen imaginären Mechanismus der ostalgischen Identifikation näher in den Blick zu nehmen und zu schauen, wie dieses Mehr hinzugefügt wird und was es beinhaltet, ziehe ich im Folgenden den Begriff der Nostalgie hinzu, von dem sich Ostalgie herleitet. Der Begriff Nostalgie ist – wie Ostalgie – eine Wortschöpfung, in der ebenfalls zwei Begriffe kombiniert wurden. Der Mediziner Johannes Hofer führte den Begriff als Neubildung aus den griechischen Worten nóstos (Rückkehr) und álgos (Schmerz) mit der Vorlage seiner Dissertation 1688 ein.10 Die Arbeit beschäftigt sich mit dem Heimweh, dem Hofer mit seiner Studie und der Dokumentation von Beispielfällen – er beschreibt die Pathologie anhand zweier Schweizer Fälle von Delirium und Manie – Anerkennung als ernsthafte, lebensgefährliche Krankheit verschaffen wollte. Der Neologismus Nostalgie schreibt das Heimweh in den wissenschaftlichen Diskurs der Medizin ein. Hofers Dar-

 Vgl. auch den Abschnitt ‚Ostalgie‘ als ‚neue Ostidentität‘? In: Christoph, ‚Ostalgie‘ – was ist das eigentlich?, S. 685 f.  Christian Eger, Mein Kurzer Sommer der Ostalgie. Ein Abspann, Dößel 2004, S. 66.  Dies konstatiert auch Christian Neumann, der die Ostalgie mit dem Mythos nach Roland Barthes vergleicht, dabei jedoch zu dem Schluss kommt, die Ostalgie sei eine Art ‚Irrweg der Erinnerung‘ und müsse überwunden werden, da sie „den Weg zu einer authentischen, von Trauerarbeit begleiteten Aufarbeitung der eigenen Geschichte verstellt“ (S. 104). Christian Neumann, Ostalgie als Abwehr von Trauer. Zur Heimatsehnsucht in Jens Sparschuhs Nachwenderoman Der Zimmerspringbrunnen. In: literatur für leser, 2, 2004, S. 102–112.  Vgl. Karl-Heinz Gerschmann, Nostalgie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer Bd. 6, Basel, Stuttgart 1984, S. 934 f.; Alexandra Hausstein, Nostalgie. In: Nicolas Pethes, Jens Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, unter Mitarbeit von Martin Korte und Jürgen Straub, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 421 f.

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Nostalgie

stellung bleibt bis ins späte neunzehnte Jahrhundert diskursbestimmend.11 Der US-amerikanische Ethnologe Dominic Boyer hebt in einem Aufsatz von 2006 zur Ostalgie den diskursgeschichtlichen Zusammenhang von Nostalgie und Nation hervor.12 Boyer weist darauf hin, dass Hofers Dissertation nicht nur die Medizingeschichte um ein Krankheitsbild erweiterte, sondern dass die Nostalgie, so wie Hofer sie entwickelt, als „bedeutsames generatives und koordinierendes Moment“ 13 in der europäischen Erfolgsgeschichte des Nationalen bzw. des Nationalismus betrachtet werden kann: Mit seinem neologistischen Eingriff schuf Hofer einen treffenden und maßgebenden Ausdruck für die Wünsche und Sorgen der Nation, der darüber hinaus die Körperlichkeit und Gefahr des Kummers um die Rückkehr in die Heimat hervorhebt. Hofer trug somit dazu bei, eine Sprache zu erschaffen, welche die Gesundheit der Heimat und Nation den Leiden der Migration und Translokation gegenüberstellt. Dadurch naturalisierte Hofer den Nationalismus […].14

Nostalgie, ließe sich ergänzen, ist unmittelbar an der ‚Erfindung der Nation‘ beteiligt, indem sie einen wissenschaftlichen Begründungszusammenhang herstellt, der den Einzelnen und seine Unversehrtheit an eine imaginierte Herkunft und zugleich eine imaginierte Gemeinschaft bindet. Die Nostalgie macht die Herkunft/die Nation (lat. natio = Herkunft, Geburt) zur Angelegenheit von Leben und Tod. Bestätigung für die These, dass die Erfindung der Nostalgie die Entwicklung der neuen Vorstellung der Nation beeinflusst hat, lässt sich etwa in Jacob Grimms Göttinger Antrittsvorlesung von 1830 finden. Unter dem Titel De desiderio patriae – also Über die Heimatliebe bzw. Über das Heimweh – tritt Grimm auf Latein für eine deutsche Wissenschafts- und Nationalsprache ein.15 Heimweh ist hier ganz im Sinne der nostalgischen Pathologie als ernstzunehmende Krankheit genannt 16 und wird auf die Sehnsucht nach der ‚Mutter Vgl. Simon Bunke, Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit, Freiburg im Breisgau 2009; Simon Bunke, Heimweh. In: Bettina von Jagow, Florian Steger (Hg.), Literatur und Medizin. Ein Lexikon, Göttingen 2005, S. 333–338; Gerschmann, Nostalgie.  Vgl. Dominic Boyer, Ostalgie – oder die Politik der Zukunft in Ostdeutschland. In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, 4, 2006, S. 690–703.  Boyer, Ostalgie – oder die Politik der Zukunft in Ostdeutschland, S. 694.  Boyer, Ostalgie – oder die Politik der Zukunft in Ostdeutschland, S. 694.  Vgl. Jacob Grimm, Kleine Schriften 6, Hildesheim 1991, S. 411–417. Für eine Übersetzung vgl.: Jacob Grimm, De desiderio patriae. Antrittsrede an der Göttinger Universität, gehalten am 13. November 1830, Faksimile-Ausgabe mit einer Übersetzung und einem Nachwort, hg. von Wilhelm Ebel, Kassel 1967.  „Und nicht selten verwandelt sich diese selbe Sehnsucht in eine sehr schwere Krankheit, die dem Kranken so lange das Herz zerkocht, wie er vom Boden seiner Geburt getrennt und entfernt ist.“ Grimm, De desiderio patriae, Faksimile-Ausgabe mit einer Übersetzung, S. 10.

Ostalgie. Und was Nostalgie mit Nationalismus zu tun hat

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sprache‘ bezogen, der eine einende, identitätsstiftende Kraft zugesprochen wird. Nostalgie ist, obwohl eingeführt als wissenschaftlicher Begriff für individuelle Erkrankungen, an ein „Kollektivbewußtsein“ 17 geknüpft. Dieses Kollektivbewusstsein wiederum eignet sich für die Begründung verschiedener ‚vorgestellter Gemeinschaften‘ – etwa der Nation. Die Nostalgie als Krankheitsbild wird zum Symptom für das Leiden am Verlust des ‚nationalen Dings‘. Das ‚Ding‘, so lässt sich mit der Psychoanalyse argumentieren, ist immer schon verloren, da es gleichgesetzt werden kann mit dem verlorenen Objekt, das vom Ideal der Ganzheit trennt. Insofern ließe sich die Nostalgie als ‚normaler‘ Bestandteil des Identifikationsprozesses beschreiben – als Moment des Erkennens und Leidens an der eigenen Unvollkommenheit/des Getrenntseins vom (imaginären) Ursprungszustand der Geschlossenheit. In diesem Sinne erfüllt die Nostalgie im Prozess der Identifikation die Aufgabe, als Verlustfigur das vermeintlich Verlorene zu bezeugen. Um nostalgisch sein zu können, muss es einen Grund geben. Um an Heimweh leiden zu können, muss es die Heimat geben. Das Trauern verbürgt das trauernde Subjekt und seine verlorene Herkunft. Die Nostalgie verweist auf eine Leerstelle und indem sie das tut, verdeckt sie sie und lässt zugleich imaginär etwas an ihre Stelle treten. In ähnlicher Weise argumentiert auch Alexandra Hausstein in ihrer Definition von Nostalgie im Lexikon Gedächtnis und Erinnerung: Das nostalgische Paradigma basiert auf einem Verständnis von Geschichte als Niedergang und Erfahrungen des Verlustes von Ganzheit (Paradies); es bedarf verfügbarer Objekte (Souvenir), über die Bezüge zu einer imaginären Tradition möglich werden. N[ostalgie] bezieht sich weder auf eine genau definierte Vergangenheit, noch intendiert sie eine vollkommene Flucht aus der Gegenwart. Vielmehr verändert sie die Gegenwart, indem sie Objekte, Klänge, Bilder, Gerüche und Geschmäcker, die sie der Vergangenheit zurechnet, einfließen lässt. Die so evozierten Reminiszenzen konstruieren eine diffuse Atmosphäre vergangener heiler Welt als Ruheraum, aus der die fragmentierte Persönlichkeit ein Gefühl der Ich-Balance, Kontinuität und ungebrochener Identität bezieht.18

Hausstein betont hier ebenfalls den produktiven Faktor der Nostalgie, die eben nicht einfach rückwärts gerichtet und passiv verstanden werden kann, sondern der ein gestalterisches Potential zukommt. Sie wirkt aktiv auf die Bildung sowohl „einer imaginären Tradition“ 19 als auch zugleich der Gegenwart. Das tut sie, indem sie in der Gegenwart Identifikationspotential bereitstellt, indem

 Gerschmann, Nostalgie, S. 934.  Hausstein, Nostalgie, S. 421 f.  Hausstein, Nostalgie, S. 421.

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Nostalgie

sie Bilder einer vermeintlichen Vergangenheit produziert, in denen ein ‚Wir‘ sich finden kann. Die Ostalgie unterscheidet sich von anderen ‚Nostalgie-Wellen‘ dadurch, dass sie sich nicht auf eine Generation (‚die 70er‘, ‚die 80er‘, Generation Golf 20 etc.), auf eine bestimmte Mode oder ein spezifisches Design richtet. Sie scheint der Definition von Nostalgie als Heimweh insofern vielmehr gerecht zu werden, als die Ostalgie sich tatsächlich auf eine Herkunft bezieht: den ‚Osten‘. Dass damit nicht einfach ein geographisches Gebiet gemeint ist, sondern vielmehr die DDR, bringt wiederum den Nationaldiskurs ins Spiel. Michael Rutschky argumentierte 1995, dass „erst jetzt die DDR entsteht“ 21 – und zwar als „Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft“ 22 – und somit als vorgestellte Gemeinschaft. Auf diese imaginierte Gemeinschaft, die sie zugleich mit hervorbringt, bezieht sich die Ostalgie. Rutschky weist darauf hin, dass diese Mechanismen der Herstellung kultureller Identität sich nicht von denen unterscheiden, die die im konservativen Duktus so genannte „Schicksalsgemeinschaft“ als imaginierten „Kern einer Nation“ 23 bilden. Nur ist die Rede von der Nation in Bezug auf die DDR bzw. das geteilte Deutschland immer schon problematisch. Noch problematischer wird es, handelt es sich um ein nachträgliches Nation-Werden einer bereits historisch gewordenen, überholten DDR. Lässt sich diese ‚verspätete Nation‘ einer ostalgisch-imaginären DDR jedoch nur als Konkurrenz zur ‚deutschen Nation‘ der aktuellen Bundesrepublik sehen, wie es die bereits genannten Sammelband-Beiträge zum Symposium Ostalgie als Erinnerungskultur? tun? Mit dem Film Good Bye, Lenin! wird im Folgenden ein überaus prominentes Beispiel für Ostalgie aufgegriffen. In der Analyse zeigt sich, dass Ostalgie nicht nur rückwärtsgewandt als Sehnsucht nach einer imaginierten verlorenen Identität verstanden werden kann. Stattdessen wird ihre produktive Beteiligung an den Dynamiken des Imaginären und damit der Produktion von Bildentwürfen für das gegenwärtige Deutschland zu untersuchen sein. Nach einer kurzen inhaltlichen Einführung arbeite ich zunächst heraus, wie sich der Film  Vgl. Florian Illies, Generation Golf. Eine Inspektion, Berlin 2000; Florian Illies, Generation Golf zwei, München 2003. Jedoch gibt es selbstverständlich durchaus Überschneidungen zwischen der Generationen-Nostalgie und der Ostalgie-Nostalgie. So wurde etwa Jana Hensels Zonenkinder (Reinbek bei Hamburg 2002) häufig in der direkten Nachfolge von Illies Generation Golf – als ‚Generation Zone‘ (Michael Pilz) – gesehen. Vgl. dazu die Beiträge und Beispiele zur Rezeption der Zonenkinder in: Tom Kraushaar (Hg.), Die Zonenkinder und Wir. Die Geschichte eines Phänomens, mit einem Nachwort von Moritz Baßler, Reinbek bei Hamburg 2004.  Michael Rutschky, Wie erst jetzt die DDR entsteht. Vermischte Erzählungen. In: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken, 2, 1995, S. 851–864, Titel.  Rutschky, Wie erst jetzt die DDR entsteht, S. 856.  Rutschky, Wie erst jetzt die DDR entsteht, S. 859.

Wolfgang Becker, Good Bye, Lenin!

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des Images der Ostalgie bedient. Dabei wird zum einen deutlich, dass der Film das ostalgische Verfahren als solches ausstellt und ironisch kommentiert. Diese Selbstbezüglichkeit schmälert jedoch nicht das wirkmächtige Potential der ostalgischen Verfahren, mittels deren der Film – so möchte ich zeigen – bestimmte Konsum- und Sehgemeinschaften herstellt. Good Bye, Lenin! schließt in dieser Weise an die Image-Funktion der Ostalgie an und macht sie zugleich als solche beobachtbar. Mit der abschließenden Analyse der Familiengeschichte, die Good Bye, Lenin! erzählt, möchte ich auf eine weitere Dimension des Ostalgischen bzw. Nostalgischen hinweisen, die der Film lesbar macht. Die Familienerzählung des Films um Mutter und Sohn greift auf die Motive des Ödipus-Mythos zurück. Die psychoanalytische Konzeptualisierung des Ödipuskomplexes mitdenkend, lese ich die Ödipus-Erzählung als Narrativ, das von dem Begehren des Subjekts nach seiner Herkunft, der ursprünglichen Einheit mit der Mutter, und damit von einem Heimweh, der Nostalgie erzählt. Dieses nostalgische Narrativ nimmt Good Bye, Lenin! auf. Der Film arbeitet und spielt also nicht nur mit der Image-Funktion der Ostalgie, die auch seine Anschlussfähigkeit herstellt. In der Analyse soll zudem gezeigt werden, dass und auf welche Weise sich die Nostalgie aus der Dynamik des Imaginären speist.

2 Wolfgang Becker, Good Bye, Lenin! 2.1 Geschichte wird gemacht 24 – Die ‚DDR‘ auch Dafür, „[w]ie erst jetzt die DDR entsteht“ 25, kann Wolfgang Beckers Tragikkomödie Good Bye, Lenin! als Beispiel gelten. Der Film, der 2003 in die Kinos kam, erzählt das nachträgliche Entstehen der DDR und beteiligt sich zugleich selbst daran. Die Handlung des Films ist rasch zusammengefasst: Die Mutter (Katrin Sass26) des etwa zwanzigjährigen Alex Kerner (Daniel Brühl) liegt nach  Das Motto „Geschichte wird gemacht“, das sich auf der DVD-Hülle von Good Bye, Lenin! findet, stammt aus dem Song Ein Jahr (Es geht voran) der Band Fehlfarben.  Rutschky, Wie erst jetzt die DDR entsteht, Titel.  Katrin Sass wird selbst häufig als typisches ‚Wendeschicksal‘ gehandelt. Die Biografie der Schauspielerin spiegelt die bewegte Zeitgeschichte wider: Als junge Frau war sie eine erfolgreiche Schauspielerin in der DDR. 1982 erhielt sie den Silbernen Bären auf der Berlinale für ihre Rolle in dem Film Bürgschaft für ein Jahr (DDR 1981, Herrmann Zschoche) und besuchte für die Preisverleihung zum ersten Mal den Westteil Berlins. Nach dem Erfolg im Westen erhielt sie in der DDR zwei Jahre lang keine Filmangebote. In den ersten Jahren nach der Vereinigung von DDR und Bundesrepublik lebte sie zunächst von Arbeitslosengeld, da die Rollenangebote ausblieben. Als Polizeiruf-Kommissarin war sie ab 1993 im Fernsehen zu sehen, musste die Rolle jedoch 1998 wegen eines Alkoholproblems abgeben. Die Erfolge mit den Filmen Heidi M.

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einem Herzinfarkt acht Monate im Koma. Diese acht Monate umfassen ausgerechnet die Zeit von Herbst 1989 bis Frühsommer 1990 – Christiane Kerner hat die ‚Wende‘ verschlafen und weiß nichts von Mauerfall, Staatsvertrag oder DMark-Einführung. Da sie auch nach dem überwundenen Koma weiterhin sehr labil und ihr Herz gefährdet ist, soll jegliche Aufregung vermieden werden und sie von den Ereignissen nichts erfahren, denn das Engagement für den Sozialismus war Christiane Kerners Lebensinhalt. Zum Lebensinhalt ihres Sohnes Alex wird deshalb nun die Inszenierung eines ‚ganz normalen‘ DDR-Alltags – nach der Auflösung der ‚echten DDR‘.27 Wie in The Matrix (AU, USA 1999, Andy und Larry Wachowski) die Menschen mittels der Vorspiegelung einer simulierten Realität am Leben erhalten werden, wird das Überleben von Alex’ Mutter über die Vortäuschung ihrer vertrauten Welt gesichert, im wörtlichen Sinne eine Lebenslüge.28 Die ‚DDRMatrix‘ kann hier jedoch nicht einfach eingeschaltet werden. Im Mittelpunkt des Geschehens steht daher das aufwändige ‚Machen‘ des DDR-Alltags. Denn das Aufrechterhalten von Christiane Kerners Normalität erweist sich trotz ihres auf das Schlafzimmer beschränkten Radius als überaus schwierig angesichts der rasanten, umfassenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Wiederherstellung des Originalzustands im Schlafzimmer, in das zwischenzeitlich der Freund von Alex’ älterer Schwester Ariane (Maria Simon), der ‚Wessi‘ Rainer (Alexander Beyer), mitsamt seiner Sonnenbank eingezogen ist, kostet außer Muskelkraft nicht viel Mühe. Jedoch tauchen schnell andere ernsthafte Probleme auf, denen Alex nur mittels Täuschungstricks, Inszenierung und Simulation entgegen treten kann. Hier werden umfangreiche Techniken nötig – vom systematischen Umfüllen der Lebensmittel in die vertrauten OstVerpackungen und Inszenieren von sozialistisch anmutenden Geburtstagsfeiern, bis zum Produzieren von Nachrichtensendungen und dem Erzählen einer für die Mutter angepassten Version der historischen Ereignisse um Grenzöffnung, Mauerfall und deutsch-deutscher Vereinigung. (D 2001, Michael Klier) und Good Bye, Lenin! bedeuteten ihr berufliches ‚Comeback‘. Vgl. Silke Bartlick, Die Ost-West-Karrieren der Katrin Sass, Deutsche Welle, 06. 10. 2010, unter: http:// www.dw-world.de/dw/article/0,,6006464,00.html (abgerufen am 13. 01. 2011). Von Katrin Sass liegt zudem eine Autobiografie vor: Katrin Sass, Das Glück wird niemals alt, München 2003.  Wie die Zuschauer im Verlauf des Films erfahren, liegt hier eine wechselseitige Täuschung vor, denn bereits die Selbstinszenierung der Mutter als engagierte und überzeugte DDR-Bürgerin basiert auf einer Lüge.  Einen Verweis auf The Matrix enthält Good Bye, Lenin!: Denis, der neue West-Kollege von Alex und ambitionierte Hobbyfilmer, trägt in der Szene, in der er Alex am Schnittpult seiner Videowerkstatt seine Werke zeigt, ein T-Shirt mit einem Aufdruck, der stark an den aus den Matrix-Filmen bekannten grünen Buchstaben-Code erinnert. In einem Outtake erzählt Denis Alex außerdem von einer seiner Filmideen für einen Matrix-ähnlichen Sience-Fiction-Film.

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2.2 Du bist DDR Von einem Ostalgie-Begriff ausgehend, der mit Ostalgie das Heimweh nach einer positiv bzw. idealisiert erinnerten DDR meint, ist Good Bye, Lenin! im strengen Sinne nicht als Ostalgie-Film zu bezeichnen. Denn hier geht es nicht, wie in einigen Rezensionen dargestellt 29, um eine rückblickende Erzählung über die DDR oder ihre mehr oder weniger gelungene Wiederauferstehung, bei der die DDR als „bloßer Zitatenfundus, eine Schatzkammer an Klischees und Vorstellungen […] zur Plünderung freigegeben worden“ 30 ist. Eine Rezipientenhaltung mit historischem Authentizitätsanspruch – die zu Fragen verleitet wie „[w]ird so ein Film annähernd einer Realität in der DDR gerecht?“ 31 – geht daher an dem Film vorbei. Trotzdem funktioniert Good Bye, Lenin! offensichtlich über die (N)Ostalgie. Das (n)ostalgische Moment in dem Film entsteht weniger durch ein sentimentales Erinnern an die DDR als vielmehr gerade durch die Techniken der Simulation und Inszenierung, die stets den artifiziellen und nachträglichen Charakter der Film-DDR im Vordergrund halten. Wenn der Filmkritiker Hans Günther Pflaum Good Bye, Lenin! als „Geschichte einer in die Praxis umgesetzten DDR-Nostalgie“ 32 bezeichnet, dann ließe sich ergänzen, einer Nostalgie im produktiven Sinne, die gerade den Aspekt der Praxis, also der Nostalgie als Tätigkeit betont. Alex erhält die DDR nicht einfach am Leben oder lässt sie wieder auferstehen. Ins Bild gesetzt wird seine ganz persönliche Fiktion der DDR. Dabei thematisiert der Film zum einen die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit, zwischen Simulation und Realität, Lüge und Wahrheit, Bild und Abgebildetem, Fiktion und Fakt zu unterscheiden. Über den Entwurf einer ‚eigenen DDR‘ hinaus wirkt das Nostalgische zudem noch in einem anderen Sinn produktiv. Die Ostalgie/Nostalgie ist ein großer BilderSampler: So wie Alex in der Filmnarration vorhandenes Bildmaterial mit selbstgemachtem mischt, um eine Version der Geschichte zu schaffen, mit bzw. in der seine Mutter leben kann, greift auch der Film auf Vorhandenes zurück, bezieht dokumentarisches Bildmaterial in die Erzählung mit ein, wie ich ausführlicher in dem Unterkapitel Sehgemeinschaften zeigen werde. Auf diese

 Vgl. beispielsweise Andreas Thomas, Good Bye, Lenin! Die sogenannte ‚DDR‘, http:// www.filmzentrale.com/rezis/goodbyeleninat.htm (abgerufen am 05. 08. 2008).  Thomas Groh, Good Bye, Lenin!, http://www.f-lm.de/?p=165#more-165 (abgerufen am 06. 08. 2008).  Thomas, Good Bye, Lenin! Die sogenannte ‚DDR‘.  Hans Günther Pflaum, Der diskrete Charme der Ostalgie. Wolfgang Beckers Good Bye, Lenin! konkurriert noch um den Berlinale-Bären und kommt schon ins Kino. In: Süddeutsche Zeitung, 13. 02. 2003, verfügbar auch unter: http://www.filmportal.de (abgerufen am 05. 08. 2008).

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Weise werden Bilder geschaffen und zusammengestellt, die die Filmzuschauer, wie die Mutter, mit aufnehmen und eine Geschichte der DDR, der ‚Wende‘ und des neuen Deutschlands erzählen, die für viele anschlussfähig sind. Insofern hat auch die ostalgische Nostalgie mit dem Nationalen zu tun: Sie wirkt gemeinschaftsbildend. Die Nostalgie lässt sich einspannen, um das Begehren nach der imaginären Ganzheit zu bedienen, und stellt Bilder bereit, die diese Ganzheit in die nostalgisch betrauerte Vergangenheit rücken. Dass der Film zugleich auch mit Images arbeitet, wird allein deutlich, wenn man den nationalen und internationalen Erfolg des Films betrachtet. Good Bye, Lenin! prägt das Deutschland-Bild im Ausland mit. Was damit aber vor allem in den Mittelpunkt rückt, ist die Nostalgie an sich – das Heimweh nach der Herkunft, die Sehnsucht nach dem erinnerten ungebrochenen Glück der Kindheit und der gleichzeitigen bitteren Erfahrung, dass dieses unwiederbringlich verloren ist. Mit Alex, der gegen diese Vergeblichkeit ankämpft und seine Simulationstechniken der Zeit entgegensetzt, erzählt der Film eine Geschichte, die vermeintlich ‚alle‘ kennen, auch diejenigen Filmzuschauer, die die ‚große Geschichte‘ von der Auflösung der DDR auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs oder – später geboren – nicht selbst miterlebt haben. Dies erklärt, warum der Film für so viele Menschen anschlussfähig war und ist. Good Bye, Lenin! ist ein besonderer Publikumserfolg. Er galt in Deutschland fast unmittelbar nach seinem Kinostart als Kultfilm und stellte mit seinen sensationellen Zuschauerzahlen aufwändig produzierte, zeitgleich anlaufende Hollywoodfilme in den Schatten.33 Der Film fand direkt nach seiner Premiere auf der Berlinale 2003 Verleihe in verschiedenen Ländern des europäischen und außereuropäischen Auslands, wo er ebenfalls überaus erfolgreich anlief, und erhielt eine Reihe von renommierten nationalen wie internationalen Filmpreisen und Auszeichnungen34. Die Reaktionen auf den Film machten aus ihm ein Ereignis für sich – und zwar ein identitätsstiftendes. Die Presse berichtete nach dem Filmstart, im Publikum entstehe „ein neues Gemeinschaftsgefühl“ 35, wenn „[g]roße, feuchte Augen […] aufgewühlt das Dämmerlicht der DDR im Film“ 36 spiegeln und „gesamtdeutsches Geflüster“ 37 durch den Kinosaal gehe.  Vgl.: Fritz Göttler, Der Renner. Auferstanden aus Ruinen – Kinokult um Good Bye, Lenin! In: Süddeutsche Zeitung, 27. 02. 2003, verfügbar unter: http://www.filmportal.de (abgerufen am 05. 08. 2008).  Zu den Filmpreisen siehe die Homepage zum Film: http://www.79qmddr.de/ (abgerufen am 05. 08. 2008).  Göttler, Der Renner.  Elmar Krekeler, Nur im Falschen gibt es Wahres. Good bye, Lenin! ist mehr als ein Film über die untergegangene DDR. In: Die Welt, 26. 02. 2003, http://www.welt.de/print-welt/arti cle420435/Nur_im_Falschen_gibt_es_Wahres.html (abgerufen am 05. 08. 2008).  Krekeler, Nur im Falschen gibt es Wahres.

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Von der ‚DDR‘ als Do-it-yourself-Gemeinschaft ging offensichtlich eine Einladung zum Mitmachen aus: „besonders identifikationsfreudige Besucher kram[t]en ihre FDJ-Textilien raus“ 38 und beteiligten sich so verkleidet als DDRBürger/innen an dem Spektakel, das die Berichterstattung dokumentiert. Was für eine Gemeinschaft lässt der Film unter den Kinozuschauern entstehen? Die FDJ-Maskerade, deren Bestandteile wie das FDJ-Hemd oder das Pionierhalstuch auf Flohmärkten und in den Berliner Souvenirshops erhältlich sind und die sich somit jede/r überziehen kann, macht deutlich: Es geht nicht darum, ein ‚echter Ossi‘ zu sein oder um die Herstellung einer Erinnerungsgemeinschaft im Sinne eines Memorialritus. Die nostalgische Gemeinschaft, die der Film stiftet, beschränkt sich nicht auf ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger. Sie richtet sich viel stärker auf die Gegenwart, als es auf den ersten Blick anmuten mag. Die kollektiv gerührten Zuschauer im Kinosaal, wie sie die Presse darstellt, bilden eine gesamtdeutsche Seh-Gemeinschaft. Sie partizipieren gemeinsam an dem Ereignis, das der Kino-Besuch darstellt, und konsumieren die Bilder und Images, die den Film erst mit dieser Wirkmächtigkeit ausstatten. Elke Brüns hebt hervor, dass auch der deutsche Bundestag an dem Kino-Ereignis Good Bye, Lenin! teilhaben wollte und „fast geschlossen eine Vorführung des Films“ 39 besuchte, was ihn zu „einer Art nationalem Gründungsdokument“ 40 mache. Was genau das Verbindende dieser Seh-Gemeinschaft ist und wie der Film sie entstehen lässt, wird in den folgenden Abschnitten fokussiert.

2.2.1 Konsumgemeinschaften Der nostalgische Gestus des Films bleibt nicht bei der Ostalgie als etwas, das sich ‚nur‘ an Ostdeutsche richtet, stehen. Die nostalgische Gemeinschaft, die Good Bye, Lenin! anspricht, beschränkt sich nicht auf ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger und auch die (N)ostalgiker im Film selbst sind nicht nur ‚Ossis‘. Als ein prägnantes Kennzeichen und Charakteristikum der Ostalgie im Allgemeinen wird häufig das Phänomen der ‚Ost-Produkte‘ genannt. Bezeichnet Ostalgie als Herleitung von der Nostalgie eher einen Gemütszustand, so wird sie manifest anhand des ‚Kults‘ um scheinbar belanglose Alltagsgegenstände, die zu Stellvertretern der rasant verschwundenen DDR-Alltagskultur werden. Good Bye, Lenin! führt diese plötzliche Aufmerksamkeit, die bisher

 Göttler, Der Renner.  Elke Brüns, Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung, München 2006, S. 261.  Brüns, Nach dem Mauerfall, S. 261.

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eher unbeachtete ‚normale‘ Dinge erhalten, beispielhaft vor: Alex ist beständig auf der Suche nach originalen Produkten der DDR-Wirtschaft oder zumindest ihren Verpackungen, da sie als Requisiten für seine DDR-Simulation unverzichtbar sind. Das prominenteste Beispiel des Films sind die Spreewaldgurken, daneben finden auch andere DDR-Marken wie Tempo Linsen, Filinchen und Mokka Fix Gold Erwähnung. Tatsächlich verschwanden viele Alltagsprodukte der DDR nach dem Herbst 1989 zunächst aus den Läden, die von westlichen Supermarkt-Ketten übernommen worden waren. In vielen Fällen wurde die Produktion mit der Abwicklung der DDR-Wirtschaft eingestellt. Die gewohnten Waren waren nicht mehr erhältlich. Kurze Zeit später änderte sich dies jedoch, als auf Seiten der Industrie verstanden wurde, dass die Dinge, die bis dahin den Alltag begleitet hatten, vermisst wurden und entsprechend eine Nachfrage am Markt vorhanden war. Viele DDR-Produkte bzw. Produktnamen und -zeichen kehrten in den Handel zurück, wurden zum Teil von westdeutschen Firmen übernommen und jetzt auch als Marken eingetragen und markenrechtlich geschützt.41 ‚Ost-Produkt‘ entwickelte sich zum Label, das von den Marketingabteilungen gezielt eingesetzt wurde.42 Die gesteigerte Aufmerksamkeit für die ‚Ost-Produkte‘ bezeichnet also ein Paradox: Der Kapitalismus eignet sich die Produkte und Markennamen der ehemaligen staatseigenen Produktion an und vermarktet ausgerechnet die Alltagskultur und Atmosphäre des untergegangenen konsumkritischen Landes. Good Bye, Lenin! führt nicht nur vor, wie dabei ‚neuer Wein in alte Schläuche‘ gefüllt wird, wenn Alex seiner Mutter ein Abendbrot aus West-Waren in Ost-Verpackungen serviert. Der Ostalgie-Trend um die Ost-Produkte wird zudem in den größeren Rahmen einer allgemeineren Produkte-Nostalgie eingeordnet. Der Film enthält eine Szene, die gleichsam selbstreferentiell auf den (N)Ostalgiediskurs Bezug nimmt und damit das eigene Verfahren ironisiert. In dieser Szene schimpft Alex’ eher pragmatisch veranlagte Schwester Ariane, der die Mühen des vorgetäuschten DDR-Alltags zu viel werden, in der Küche über den „sozialistischen Veteranen-Club“, in den sich die Familienwohnung verwandelt habe. Damit meint sie nicht nur ihren Bruder Alex und seinen Ver-

 Vgl. Markus Kuhn, Die DDR im Kopf. Marken, Mentalitäten und mentale Welten in Narrationen über die unmittelbare Nach-Wende-Zeit: Die Erzählung Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern und der Film Good bye, Lenin!. In: Gerhard Jens Lüdeker, Dominik Orth (Hg.), Nach-Wende-Narrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film, Göttingen 2010, S. 21–42, S. 35.  In diesem Sinn bezeichnet Jennifer M. Kapczynski die Ostalgie als „a ‚canned‘ product of Western marketing“ (S. 86): Jennifer M. Kapczynski, Negotiating Nostalgia: The GDR Past in Berlin Is In Germany and Good Bye, Lenin! In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 82/1, 2007, S. 78–100.

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such, die ‚heile DDR-Welt‘ der Mutter aufrecht zu erhalten, sondern auch ihren West-Freund Rainer. Denn Rainer hat sich gerade einen ‚Trabi‘ gekauft. Der ‚Ostalgie-Film‘ Good Bye, Lenin! zeigt die Ostalgie in dieser Szene als Lifestyle, den man sich über den Konsum aneignen kann. Der Trabi-Kauf wird dabei für den ‚Wessi‘ Rainer ebenso wie der Kino-Besuch der Good Bye, Lenin!Zuschauer zu einer Möglichkeit, an der ostalgischen Gemeinschaft zu partizipieren. Diese Gemeinschaft mit dem Label ‚DDR‘ wird mittels der Ostalgie erst hergestellt und über Konsumprodukte verfügbar gemacht – und damit konsumierbar und verfügbar (da käuflich) für ‚Ossis‘ wie ‚Wessis‘. Dass sich der Film mit diesem ironischen Kommentar auf die (N)Ostalgie nicht auf die Ost-Produkte beschränkt, zeigt dieselbe Filmszene. Während Ariane sich über das Veteranentum von Bruder und Freund auslässt, geht sie zum Kühlschrank, auf dem zwei Blechdosen stehen, und nimmt eine Flasche heraus. Bei den Dosen handelt es sich um so genannte ‚Nostalgie-Dosen‘; Blechbüchsen der westdeutschen Marken Dr. Oetker und Milka im reproduzierten Design der Jahrhundertwende. Das Getränk, das Ariane dem Kühlschrank entnimmt, ist eine Cola. Jedoch zeigt der Film nicht irgendeine Limonadenflasche, sondern ausgerechnet die berühmte ‚Konturflasche‘ der Marke Coca-Cola. Mit Coca-Cola ist hier zum einen der „international bekannteste[ ] Markenartikel des 20. Jahrhunderts“ 43 angeführt. Die Coca-Cola-Glasflasche kann zudem als das Beispiel für Markendesign und Nostalgieverpackung44 gelten und hat vielfältigen Einfluss auf die Popkultur genommen – man denke nur an ihre Verwendung in der Kunst Andy Warhols. Dass es sich bei Coca-Cola zudem um diejenige Marke handelt, die wie keine andere als Stellvertreter des US-amerikanischen MarkenImperialismus gesehen wird, macht die Verwendung im Kontext des Films Good Bye, Lenin! zu einer umso deutlicheren Botschaft: Die Ostalgie um die ‚Ost-Produkte‘ ist nur eine Erscheinungsweise eines umfassenden NostalgieTrends, der als einer von vielen Strategien der Markenführung von Marketingexperten angeeignet, gelenkt oder überhaupt erst lanciert wird. In Good Bye, Lenin! jedenfalls erweist sich das Nostalgiedesign als wenig beständig. Die Glasflasche rutscht Ariane aus der Hand und zerbricht auf dem Küchenfußboden. Das ostalgische Erzählen in Good Bye, Lenin! verfährt nicht einfach archi-

 Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002, S. 161.  „Im Jahre 1916, als die meisten Getränke in generische, glatte Glasflaschen abgefüllt wurden, wollte die Coca-Cola Company eine Packung einführen, die man leicht als Coca-Cola Flasche erkennen konnte. Sie sollte in der Dunkelheit ertastet werden können und so geformt sein, dass sie selbst bei Bruch als solche erkennbar wird. […] Sie sorgt für eine einzigartige visuelle Identität der Marke […]“, so die Darstellung der Firma Coca-Cola zum Verpackungsdesign: http://www.coca-cola-gmbh.de/unternehmen/mythos/markendesign/pdf/1431_verpa ckungsdesign.pdf (abgerufen am 14. 01. 2011).

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varisch nach dem Prinzip der Popromane wie etwa Florian Illies’ Generation Golf (2000). Illies’ Text betreibt über das Nennen von Markennamen sowie Film-, TV- und Musiktiteln ein Katalogisieren von Erfahrungen und des way of life einer mittels dieses Verfahrens als Generation festgestellten Gemeinschaft.45 Im Unterschied dazu verweist Good Bye, Lenin! ironisierend auf diese Verfahren und ordnet damit die Ostalgie ein als ein Konsumverhalten, an dem prinzipiell jeder teilhaben kann. Der Film deckt die Spielregeln der Ostalgie auf, macht sie lesbar und damit zugleich verfügbar. Die Ostalgiker sind damit Teil einer großen Konsumgemeinschaft, der jede/r beitreten kann bzw. der sich gänzlich zu entziehen kaum möglich ist.

2.2.2 Sehgemeinschaften Die Ost- und anderen Nostalgie-Produkte sind nicht die einzigen Zeichen, die der Film ins Spiel bringt, um das nostalgische Erinnern ins Bild und in Bewegung zu setzen. Zur Simulation der DDR in der Kerner’schen Plattenbauwohnung zieht Alex neben den vertrauten Waren auch das Medium Fernsehen heran. Sein neuer, westdeutscher Kollege Denis unterstützt Alex mit seinem technischen Verständnis und Equipment. Gemeinsam schneiden sie gefälschte Nachrichtensendungen zusammen, wobei sie vorhandenes Original- mit selbst gedrehtem Material ergänzen und zu einer eigenen Version der Aktuellen Kamera zusammenfügen. Diese Fernsehcollagen, der Mutter mittels Video vorgespielt, sind zunächst nur für die Unterhaltung der Bettlägerigen gedacht, werden jedoch schließlich unverzichtbarer Bestandteil der Täuschung. Als die Zeichen der Veränderung trotz aller Vorsichtsmaßnahmen zu Christiane Kerner vordringen, werden sie in Alex’ Fiktion eingebunden und durch seine vorgeblichen Fernsehsendungen erklärt. In dieser Erzählung des Sohns für die Mutter ist nicht nur Coca-Cola ein sozialistisches Getränk; die DDR im Ganzen erhält ein anderes Gesicht und findet schließlich ein von der historischen Version erheblich abweichendes Ende. Der komische Effekt dieser Fiktion ergibt sich für das Filmpublikum gerade aus der Differenz zwischen Alex’ Erfindung und den historischen Abläufen. Neben der Komik ist dieser Erzählung jedoch wiederum zugleich ein nostalgisches Moment inhärent. Durch Alex’ und Denis’ Fernsehmontagen und das darin verwendete Originalmaterial von 1989/90 recycelt der Film vertraute Bilder. Die Fernsehaufnahmen von den Botschaftsflüchtlingen, von Menschen, die über die Berliner Mauer klettern oder am Brandenburger Tor feiern, gehören ins topische Bildrepertoire der ‚Wende‘. Diese hier für einen anderen Zusammenhang herangezogenen und wieder ver Vgl. Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 111–115.

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wendeten Bilder verweisen dabei zugleich zurück auf das kollektive Archiv, dem sie angehören. Die Medienbilder von der ‚Wende‘ sind insofern besonders wirkungsvoll, als sie für viele Menschen das Erleben der Ereignisse 1989/90 maßgeblich und vorrangig prägen. Viele Deutsche, insbesondere Westdeutsche, haben ‚die Wende‘ in erster Linie bzw. ausschließlich am Fernsehbildschirm erlebt. Darüber hinaus hatten die Medien selbst unmittelbaren Anteil an den Vorgängen, die zum ‚Mauerfall‘ führten. So wurde bereits der Anstoß zu der Kettenreaktion, die am 9. November 1989 zur Öffnung der Grenzen führte, die Verlesung eines Beschlusses zu den Ausreiseregelungen durch das SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski, auf einer Pressekonferenz und vor live übertragenden Fernsehkameras gegeben. Erst die sofortige Reaktion und Verbreitung durch die Medien machte daraus die sensationelle Meldung über die Öffnung der Grenzen, die die weiteren Ereignisse maßgeblich vorantreiben sollte: In Windeseile verbreiteten sich Gerüchte, die Grenzübergänge seien nicht mehr geschlossen. Westliche Medien berichteten, die DDR habe die Grenze geöffnet; eine Meldung jagte die nächste, die Medienspirale drehte sich immer schneller, bald waren Journalisten live an den Grenzübergängen. Der Deutsche Bundestag in Bonn unterbrach eine laufende Beratung über das Vereinsförderungsgesetz und stimmte die bundesdeutsche Nationalhymne an. Tausende von Ost-Berlinern machten sich zu den Grenzübergängen auf. Es folgte die Nacht der Nächte.46

Das Fernsehen beeinflusste das Geschehen und prägte das Erleben desselben. Brüns bezeichnet die Ereignisse im Herbst 1989 daher auch als „[d]ie TV-Revolution von 1989“, ein „Echtzeit-Ereignis via Fernsehen“, an dem „global alle zeitgleich teilhaben“ 47 konnten. Durch die Simultanität des Live-Erlebnisses bildet sich eine Gemeinschaft aus Handelnden und Zuschauern. Die Teilhabe an dem Medienereignis kommt also der Teilhabe an den ‚eigentlichen‘ Ereignissen gleich. Dieses Ununterscheidbarwerden von Bildern und Ereignis schildert etwa auch Jana Hensel anhand der Leipziger Montagsdemonstrationen vom Herbst 1989 in ihrem autobiographischen Generationentext Zonenkinder (2002): Dass man hier vereinzelt Transparente und Plakate ausmachen konnte und dass sich alle, als gäbe es einen unsichtbaren Regisseur, zu einem Zug formierten und den Ring entlangzogen und dass das der Anfang vom Ende war, das kennt man aus dem Fernsehen.

 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 440.  Brüns, Nach dem Mauerfall, S. 79.

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Ich weiß selbst auch nicht mehr genau, was ich mit eigenen Augen sah und was ich, an diesem Abend zum ersten und dann unzählige Male später, in den Tagesthemen sah.48

Hensel, deren Buch wie der Film Good Bye, Lenin! ebenfalls oft unter dem Stichwort Nostalgie bzw. Ostalgie gehandelt wird, beschreibt hier, wie die Medienbilder unmittelbar in die Erinnerung an die ‚Wende‘ integriert wurden und sich nicht mehr von dem ‚eigentlichen‘ Erleben trennen lassen. Die Fernseh-Erinnerungsbilder sind jedoch zudem kollektive Bilder. Die Erinnerung ist dann immer schon eine geteilte Erfahrung, die Zuschauer bzw. Erinnernden sind Teil eines Kollektivs. Die Gemeinschaft der Zuschauer im Kino ist also nicht die einzige Sehgemeinschaft, die der Film entstehen lässt. Die Medienbilder des kulturellen Gedächtnisses werden zum Teil einer Geschichtsfiktion. Dieser ‚Kniff‘ des Films, mittels ‚echter‘ Bilder eine ‚falsche‘ Geschichte zu erzählen, funktioniert jedoch nur, weil der Film sich auf die Bekanntheit der dokumentarischen Bilder verlassen kann. Wenn Filmsohn Alex seiner Mutter TV-Aufnahmen zeigt, in denen Menschen die Berliner Mauer überklettern, und er sie glauben lässt, dies seien Bürger der Bundesrepublik auf der Flucht vor den Folgen des Kapitalismus in die DDR, dann entsteht die komische Wirkung gerade aus dem Spannungsverhältnis zwischen der topischen Bedeutungsgeladenheit der Bilder und der fiktionalen Verkehrung der Sehgewohnheiten. Zugleich ist dieses Bilder-Recyclen wiederum jedoch zutiefst nostalgisch. Die meisten Menschen haben die Geschehnisse 1989/90 am Fernseher verfolgt. Good Bye, Lenin! lässt die Kinozuschauer wieder zu Fernsehzuschauern werden und die ‚Wende‘ auf vertraute Art noch einmal erleben. Der Film holt seine Zuschauer bei ihren Erinnerungsbildern ab und stiftet unter ihnen eine nostalgische Gemeinschaft. Die Sehgemeinschaft, an der die Zuschauer hier Anteil haben, entsteht also über die Beziehung zu bestimmten Bildern und verweist noch einmal auf die Funktion von Bildern für das Imaginäre als Dynamik der Identifizierung. Die Fernsehbilder, die der Film einsetzt, funktionieren entsprechend der reflexiven Struktur des Images. Das komische Moment – und damit das kollektive Lachen im Kinosaal – entsteht durch das Erkennen der Bilder und der Verkehrung ihrer Bedeutung durch den Film und das Wissen, dass dieses Erkennen geteilt wird. Diese Sehgemeinschaft, die sich als Zuschauer dieser Bilder erkennt, ist nicht auf die temporäre Kinozuschauergemeinschaft beschränkt. Die Zuschauer, die anders als Alex’ Mutter die Fernsehbilder einordnen können, werden durch sie ein weiteres Mal an ihre Teilhabe (die mediale oder tatsächliche) an der deutschen ‚Wiedervereinigung‘ erinnert. Angesprochen ist hier also zugleich die Einheit der Nation, von deren Herstellung die Bilder erzählen.  Jana Hensel, Zonenkinder, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 12.

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2.3 Familienbilder Good Bye, Lenin! macht, so wurde es in den vorangehenden Abschnitten erarbeitet, mit der erzählten Fiktion einer ‚DDR‘ Identifikationsangebote. Über die Nostalgie wird hier eine Gemeinschaft beschworen. Die Teilhabe an dieser Gemeinschaft, wenngleich sie mit Bildern von der ehemaligen DDR operiert, erfordert keinen Geburtstort im Staatsgebiet der DDR oder eine sozialistisch geprägte Jugend. Die Nostalgie arbeitet in Good Bye, Lenin! mit wirkungsvollen Bildern, die unmittelbar an aktuellen Prozessen eines kollektiven Imaginären Anteil haben. Über das Thema ‚Wende‘ und ‚deutsche Einheit‘ erhält die Gemeinschaft, die der Film anbietet, eine nationale Prägung. Nostalgisch ist Good Bye, Lenin! jedoch nicht nur in seiner Bezugnahme auf den OstalgieDiskurs, sondern insbesondere auch, indem er eine Familiengeschichte erzählt. Mit Familie und Kindheit sind dabei Themen angesprochen, die sich ebenfalls als Objekte eines nostalgischen Sehnens anbieten, insofern als sie mit der Aura der ‚Herkunft‘ umgeben sind. Die Erinnerung, die sich auf die Kindheit bezieht, ist in einem sehr viel allgemeinerem Sinn nostalgisch als die Ostalgie mit ihrem Bezug auf die spezifische ‚Heimat DDR‘ sein kann.

2.3.1 Nostalgischer Ödipus Good Bye, Lenin! ist ein Film über das Ende der DDR. Er erzählt darüber, indem er das Politische von der abstrakten Dimension löst und konkret am Beispiel der Familie Kerner festmacht. Der Film ist damit zugleich eine Familiengeschichte – und mehr noch: eine Geschichte über Mutter und Sohn. Die Beziehung zwischen Alex und seiner Mutter motiviert die Handlung. Geradezu paradigmatisch nimmt der Film dabei das Muster des in der Psychoanalyse vielfach beschriebenen Ödipuskomplexes auf und lässt es zur Grundstruktur der Handlung werden.49 Das psychoanalytische Konzept des Ödipuskomplexes ist ange Kerstin Cornils spricht in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Good Bye, Lenin! die Parallelen zum Ödipuskonflikt kurz an, wobei sie von Freuds Begriff ausgeht, führt diese jedoch nicht weiter aus. Siehe: Kerstin Cornils, Die Komödie von der verlorenen Zeit: Utopie und Patriotismus in Wolfgang Beckers Good Bye Lenin! In: Jörn Glasenapp, Claudia Lillge (Hg.), Die Filmkomödie der Gegenwart, Paderborn 2008, S. 253–272. Auch Jennifer Ruth Hosek nennt das ödipale Dreieck nur flüchtig, das sich in der Familiengeschichte des Films findet: Jennifer Ruth Hosek, Postcommunist Spectacle: Germany, Commodity, Comedy. In: Christian Moraru (Hg.), Postcommunism, Postmodernism, and the Global Imagination, New York 2009, S. 169–192, S. 176. Elizabeth Boa untersucht den Film im Hinblick auf Familienstrukturen, wobei die spezifisch ödipale Struktur der Mutter-Sohn-Beziehung in Good Bye, Lenin! nicht betrachtet wird: Elizabeth Boa, Telling It How It Wasn’t: Familial Allegories of Wish-Fulfillment in Postunification Germany. In: Anne Fuchs, Mary Cosgrove, Georg Grote (Hg.), German Memory Contests: The Quest for Identity in Literature, Film, and Discourse since 1990, Colum-

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lehnt an den griechischen Mythos um Ödipus, der ohne sein Wissen seinen Vater erschlägt und seine Mutter heiratet. Freud prägte den Begriff des Ödipuskomplexes im Kontext der Psychoanalyse und bezeichnete damit eine Phase der kindlichen Entwicklung, in der das Kind das andersgeschlechtliche Elternteil begehrt und mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil bis zum Tötungswunsch rivalisiert und die mit der Aufgabe des Inzestwunsches und Akzeptanz der jeweiligen Rolle im Geschlechterverhältnis endet. Lacan greift den Freud’schen Begriff auf, konzeptualisiert den Ödipuskomplex jedoch nicht als eine bestimmte Entwicklungsstufe, sondern als eine Struktur, die das Subjekt grundsätzlich mitbestimmt. Lacan zufolge ist die ödipale Struktur – wie das Spiegelstadium – als eine Möglichkeit zu verstehen, von der Verstrickung des Subjekts in die drei Ordnungen des Imaginären, des Symbolischen und des Realen zu erzählen. In den Blick kommt am Beispiel des Ödipuskonflikts insbesondere das Ineinanderspielen von imaginärer und symbolischer Funktion. Das Subjekt begehrt die imaginäre Dualität mit der Mutter, die das Genießen, den Zustand von Erfüllung und Ganzheit zu versprechen scheint, und wünscht sich, die Rolle des Vaters einzunehmen. Es möchte für die Mutter der Phallus sein. Der Vater, als Repräsentant des Symbolischen, der folglich den Phallus besitzt, verbietet das inzestuöse Begehren und fordert unter Androhung der Kastration die Einhaltung des Gesetzes. Der hier beschriebene Konflikt zwischen dem Wunsch nach der imaginären Ganzheit und der Notwendigkeit des Symbolischen lässt sich nicht überwinden, sondern strukturiert das menschliche Dasein. Der Phallus, das, was der Mutter fehlt, was das Kind gern für die Mutter wäre und dessen Besitz der Vater für sich behauptet, wird zu einem Schlüsselbegriff in dieser Modellsituation. Der Phallus markiert, dass etwas fehlt, und symbolisiert insofern den Mangel. Der Ödipuskomplex erzählt also von der menschlichen Sehnsucht nach einem Zustand der Vollkommenheit und davon, dass dieser als eine Rückkehr zum Einssein mit der Mutter, als eine Sehnsucht nach dem Ursprung, der Herkunft und folglich als eine Art von ‚Heimweh‘ imaginiert wird – und von dem Konflikt ihrer Unerfüllbarkeit, den diese Sehnsucht beständig produziert. In diesem Sinne lese ich den Ödipuskomplex der Lacan’schen Psychoanalyse als eine Erzählung über Nostalgie.

bia 2006, S. 67–83. Eberhard Th. Haas beschäftigt sich ebenfalls nicht mit den Bezügen des Films zum Ödipuskonflikt, macht jedoch darauf aufmerksam, dass die Filmfigur Alex mit einer anderen Figur der griechischen Mythologie verglichen werden kann. Vgl.: Eberhard Th. Haas, Good bye Lenin. Das Orpheusmotiv und das Ende der DDR. In: Jan Assmann, Franz Maciejewski, Axel Michaelis (Hg.), Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich, Göttingen 2005, S. 294–305.

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Good Bye, Lenin! greift dieses psychoanalytische Motiv in auffälliger Weise auf. Die psychoanalytische Ödipuserzählung wird dabei zum Bilder-Katalog, aus dem sich der Film bedient. Die Motive der Psychoanalyse erscheinen als Bilder, auf deren Anschlussfähigkeit sich der Film verlassen kann und die aufgrund ihrer topischen Bekanntheit nur aufgerufen werden müssen, um in einem anderen Kontext zu funktionieren. Der Film lehnt seine Familiengeschichte an den Ödipuskomplex an, den ich als Nostalgie-Erzählung lese. Diese nostalgische Familiengeschichte wird mit der ostalgischen Erzählung über das Ende der DDR und ihren selbstironischen Kommentaren auf das Phänomen der Ostalgie enggeführt. Im Ödipuskonflikt geht es um das Begehren, das auch das Imaginäre motiviert. Somit kann er als eine kulturelle Beschreibungsfigur für diesen Aspekt des Imaginären angesehen werden.

2.3.2 Familienaufstellung Die besondere Verschaltung von Familiengeschichte, Geschichte vom Ende der DDR und Nostalgie-Diskurs in Good Bye, Lenin! betont bereits der Filmvorspann. Die erste Szene des Vorspanns enthält die Einblendung „Unsere Datsche, Sommer ’78“. Gezeigt werden zwei Kinder, die durch einen Garten toben. Die Bilder erinnern durch das quadratische Bildformat, das die Leinwand oder den Bildschirm bei weitem nicht ausfüllt, und durch die flackernde Bildqualität an Heimkinoabende mit selbst gedrehten Super-8-Filmen. Die Musik von Filmmusik-Komponist Yann Tiersen taucht die Bilder in eine melancholischsentimentale Stimmung. In den nächsten Sekunden zoomt die Kamera heran, bis die Bilder in Super-8-Optik mit dem Blick der Film-Kamera zur Deckung kommen. Der distanzierende Rahmen, der im ersten Bild die Situierung in der Vergangenheit vornimmt, ist nun verschwunden. Die erste Stimme, die zu hören ist, ist die eines Mannes, der den Kindern zuruft: „Hier, hier! In die Kamera!“ und damit dem Kamerablick zugeordnet wird. „Alex, halt dich fest!“ sagt die Männerstimme und „Papa, hilf mir!“, ruft der Junge in die Kamera, als ihn die Schwester wild in der Hängematte schaukelt, und fügt damit eine weitere Information über die Situation im Garten hinzu. Wie daraus folgt, zeigt der Vorspann einen Vater und seine zwei Kinder, die im Sommer 1978 im Garten der Familien-Datsche spielen. Der Vater, nicht im Bild, ist anwesend in der Blickperspektive der Kamera. Die nächsten Bilder der Kinder – der Junge, Alex, mit einem Raketen-T-Shirt vor der Kulisse des Alexanderplatzes, beide Geschwister beim Ballspielen im Datschengarten – werden von Ausschnitten aus pixeligen Postkartenbildern zunächst teilweise überlagert und schließlich abgelöst, während die gleiche Musik weiterläuft und die Bilder verbindet. Die Postkartenbilder, die von der Kamera zunächst stets als Ausschnitt gezeigt und

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dann mit einer Kamerafahrt erkundet werden, während die Namen der Darsteller und Filmmacher eingeblendet werden, zeigen Stadtansichten aus dem Ostberlin der 1970er Jahre: den Palast der Republik, den Alexanderplatz, die Weltzeituhr, den Straußberger Platz mit der Stalinallee, das Café Moskau, das Kino International und das Haus des Lehrers. Die Bilder aus der Familienidylle verschaltet der Vorspann hier unmittelbar mit Vorzeigebildern der sozialistischen Stadt. Die historische Verortung durch die Einblendung „Sommer ’78“ machte bereits deutlich, dass die Bilder als Rückblick auf die Vergangenheit zu lesen sind. Familien- und Ostberlin-Idyll werden damit gemeinsam in die Vergangenheit eines ‚es war einmal‘ gerückt und als ‚vorbei‘ markiert. An beides kann man sich mittels – mittlerweile veraltet anmuteten – Bildern erinnern. Der Vorspann arbeitet also überdeutlich mit nostalgischen Bildern. Diese Bilder evozieren jedoch nicht nur eine sentimentale Stimmung der Rückschau, sondern stellen zudem bereits einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Themen Familie und DDR her. Indem der Film die Bilder aus den glücklichen Zeiten der Familie im Vorspann mit den DDR-Postkarten zu einer Montage zusammenführt, werden beide ‚Ursprungsorte‘, die Herkunft Familie und die Herkunft DDR, ebenfalls miteinander verknüpft. In der nostalgischen Sehnsucht nach dem Ort der Herkunft werden die Sehnsucht nach der heilen Familie und die Sehnsucht nach der DDR ununterscheidbar. Der Vorspann geht unmittelbar in eine Weiterführung des Rückblicks über. Die Verknüpfung von Familien- und DDR-Thematik wird darin wieder aufgenommen. Alex und Ariane50 verfolgen vor dem Fernseher im Wohnzimmer die Berichterstattung über den Start der sowjetischen Rakete Sojus 31, bei dem auch der ostdeutsche Raumfahrer Sigmund Jähn als Mitglied der Mannschaft dabei war. Die Voice-over-Erzählerstimme des Films, die über das Bild direkt dem Jungen zugeordnet wird, aber als Stimme eines jungen Mannes zugleich als rückblickender Kommentar erkennbar wird, setzt ein und klärt die Ausgangssituation: Am 26. August 1978 waren wir auf Weltniveau. Sigmund Jähn, Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, flog als erster Deutscher ins All. Mit unserer Familie aber ging es an diesem Tag so richtig den Bach runter. Während Sigmund Jähn in den Tiefen des Kosmos tapfer die Sache der DDR vertrat, ließ sich mein Erzeuger im kapitalistischen Ausland von einer Klassenfeindin das Hirn wegvögeln. Er kam nie mehr zurück.

Die Anfangssequenz informiert über die Westflucht des Vaters und das Ende der Einheit von Familie Kerner. Dies wird begleitet von dem Fernsehbericht  Der Vorname von Alex’ Schwester Ariane lässt sich als Hinweis auf die gleichnamige Serie europäischer Trägerraketen verstehen. Damit wäre auch Ariane und nicht nur Alex, wie im Folgenden zu zeigen ist, als ‚Rakete‘ markiert.

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über den Raketenstart. Der Abgang des Vaters wird solchermaßen parallelisiert mit dem Abflug der mächtigen, sich phallisch aufrichtenden Rakete. Nicht nur über das phallische Erscheinungsbild der ins All verschwindenden Rakete lässt sich der Raketenabflug als Metapher für das Verschwinden des Vaters lesen. Mit der Rakete fliegt auch Sigmund Jähn ins All, der, wie im späteren Verlauf des Films gezeigt wird, eine Art Vaterfigur für Alex ist. Die Fernsehbilder, die die DDR „auf Weltniveau“ zeigen, setzen mit der Rakete zugleich auch ein Symbol der staatlichen Macht und damit die ‚phallische Funktion‘ der DDR ins Bild. Die Position des Phallus wird sowohl dem Vater als auch der DDR zugewiesen. In der Weiterführung des Rückblicks, wiederum eine Montage mit Bildern in Super-8-Optik, erfahren die Zuschauer, wie es nach der Westflucht des Vaters weiterging mit der nun unvollständigen Familie Kerner. Die Mutter erleidet eine psychische Krise, während der sie nicht spricht und in einer Klinik behandelt werden muss. Nachdem sie sich erholt hat, findet sie Sinnstiftung und Lebensaufgabe in ihrem Engagement für den Sozialismus – Alex’ Erzählerstimme beschreibt dies so: Wir sprachen nie mehr von Vater. Meine Mutter hat sich von diesem Zeitpunkt an mit unserem sozialistischen Vaterland verheiratet. Da diese Beziehung naturgemäß keine sexuelle war, blieb viel Elan und Tatkraft für uns Kinder und den sozialistischen Alltag übrig.

‚Vater Staat‘, die DDR, ersetzt also den Vater und schließt die Leerstelle im Familiensystem. Vorspann und Rückblick bilden eine Rahmenerzählung, die das Filmpublikum über Vorgeschichte und Situation der Familie Kerner in Kenntnis setzt und insofern die eigentliche Erzählung, die 1989/90 situiert ist, vorbereitet. Das Deutschland dieses Rückblicks, die DDR, bekommt dabei eine tragende Rolle und wird buchstäblich zum Familienmitglied. Nachdem Vater Kerner westlich des Eisernen Vorhangs im anderen, unsichtbaren Deutschland verschwunden ist, tritt das Vaterland an seine Stelle und nimmt bei der Mutter und damit innerhalb der Familie seinen Platz ein. Der Vorspann setzt in der Parallelisierung von Kindheitsglück und sozialistischer Vorzeigestadt die DDR mit der Einheit der Familie gleich und zeigt die DDR damit als paradiesischen, aber verlorenen Ursprungsort vor dieser traumatischen Trennungserfahrung, als Ort, an dem kein Mangel herrscht. Die Vorstellung eines solchen paradiesischen Ortes erinnert an das Genießen, jenen Zustand der Geschlossenheit und Ganzheit, der in der Psychoanalyse als stets bereits verlorener und immer nur imaginierter Urzustand gesetzt wird und der das Begehren motiviert. Alle diese Formen eines ‚verlorenen Paradieses‘ – die hier analogisierten Kindheits- und

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DDR-Idyllen sowie das Genießen – sind stets nur in Form von Bildern verfügbar. Mittels der antiquierten Super-8- bzw. Postkarten-Optik apostrophiert Good Bye, Lenin! die Bilder des Vorspanns und einleitenden Rückblicks ausdrücklich als ‚Bilder‘.

2.3.3 Raketen, Gurken, Vater Staat entmannt Die für den Plot des Films entscheidende Figuren-Konstellation ist die Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Die Ausgangssituation – die Mutter ist allein mit ihren Kindern, der Vater ist weg – setzt die ödipale Wunschszenerie ins Bild. Alex hat seine Mutter ganz für sich. Entsprechend erscheint in dem von Alex erzählten Rückblick auf den Sommer 1978 auch nicht das Verschwinden des Vaters als die eigentlich bedrohliche Krise, sondern die Reaktion der Mutter, ihr Zusammenbruch und Aufenthalt in der Klinik. Der in der Psychoanalyse beschriebene Ödipuskomplex geht ebenfalls von der Beziehung zwischen Mutter und Kind aus und beschreibt, dass das Kind sich bemüht, die Symbiose mit der Mutter herzustellen, indem es sich dieser als Vaterersatz anbietet und versucht, für die Mutter der Phallus zu sein. Das Begehren der Mutter richtet sich auf den Phallus, über den sie nicht verfügt. Das Subjekt will sich an die Stelle dieses begehrten Objekts setzen, indem es versucht, für die Mutter der Phallus zu sein und damit ihren Mangel auszugleichen.51 Diese von Lacan als das ‚imaginäre Dreieck‘ beschriebene Konstellation zwischen Subjekt, Mutter und dem imaginären Phallus greift Good Bye, Lenin! auf und setzt sie ins Bild. Während seines Besuchs bei der Mutter im Krankenhaus zeichnet Alex mit Buntstiften eine große Rakete. „Rakete Alex DDR“ steht darauf. Diese drei Begriff werden hier in einen paradigmatischen Zusammenhang gestellt: Alex und die DDR sind die beiden Ersatzfunktionen, die über den Verlust des Vaters (des Phallus) hinwegtrösten. Als die Mutter sich von ihrer psychischen Krise erholt hat und aus dem Krankenhaus zurückkehrt, empfängt Alex sie zuhause in der Plattenbauwohnung verkleidet als Rakete. Er trägt zu ihrer Begrüßung ein selbst gebasteltes Raketenkostüm aus Pappe und überreicht der Mutter einen Blumenstrauß. Das kindliche Begehren, für die Mutter der Phallus zu sein, wird hier – fast schon parodistisch überspitzt – mit dem Phallussymbol Rakete aufgegriffen. Das ödipale Dreieck, das der Film in seiner Grundkonstellation zitiert, enthält in Good Bye, Lenin! die Komponenten Alex, Mutter und DDR. Diese Kon-

 Vgl. Dylan Evans, Ödipuskomplex. In: Dylan Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, aus dem Englischen von Gabriella Burkhart, Wien 2002, S. 206–211, S. 208.

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stellation ist nach dem Ende der DDR gefährdet.52 Um den Verlust der Mutter zu verhindern, täuscht Alex ihr den DDR-Alltag vor. Die Ostalgie des Films, die Fixierung auf das Bewahren des DDR-Alltags, ist also eigentlich gar keine Ostalgie, sondern Nostalgie. Denn Alex bewahrt die DDR nicht um ihrer selbst Willen, sondern nur für seine Mutter. Das nostalgische Begehren des Protagonisten richtet sich auf seine Mutter, nicht auf das ‚Mutterland‘. Good Bye, Lenin! erzählt mit dem Grundmuster des Ödipuskonflikts vielmehr eine ‚klassische‘ Nostalgieerzählung. Die DDR, die hier für den imaginären Phallus eintritt, ist dabei ein austauschbarer Stellvertreter. In der Handlung um Alex und seine Mutter geht es demnach nicht ‚eigentlich‘ um die DDR und die Trauer um ihr Ende, sondern sie wird als Erzählung über den ödipalen Konflikt lesbar. Der Ödipuskonflikt hingegen wird in der Psychoanalyse Lacans als Grundstruktur des Subjekts entworfen, die – so verstehe ich es – sich als Begründung des nostalgischen Begehrens beschreiben lässt. Die filmische Narration über das Ende der DDR nimmt dieses psychoanalytische Narrativ auf und verknüpft beide miteinander. Der Film inszeniert die Ostalgie also zugleich als ödipale Nostalgie; als Begehren nach der Mutter bzw. dem kindlichen Zustand der Ganzheit und macht sie damit nachvollziehbar und anschlussfähig. Wie sehr die Mutter und Sohn-Beziehung die Beziehung beider zur DDR beinhaltet bzw. dass die Konstellation Mutter, Sohn und DDR sich tatsächlich wie ein wechselseitig verbundenes Dreieck verhält, das zusammenstürzt, wenn ein Element nicht die gewohnte Position beibehält, macht der Film deutlich. Die Mutter erleidet ihren Herzinfarkt am 40. Jahrestag der DDR, dem 7. Oktober 1989. Die Filmbilder und der Voice-over-Kommentar durch Alex’ Erzählerstimme weisen dem Herzinfarkt einen unmittelbaren Auslöser zu. Alex schließt sich einer Demonstration für „grenzenloses Spazierengehen“ an. Seine Beteiligung scheint eher Langeweile und Zufall denn politischer Überzeugung geschuldet. Polizisten und Mitarbeiter der Staatssicherheit (für das Filmpublikum durch einheitliche Lederjacken kenntlich gemacht) gehen gegen die Demonstranten vor. Sie schreiten brutal ein, prügeln, treten und es gibt reihenweise Verhaftungen. Das Taxi, mit dem Alex’ Mutter auf dem Weg zum offiziellen Festakt zum 40. Jahrestag im Palast der Republik ist, bleibt im Getümmel

 Der Wegfall der Mauer gefährdet diese Konstellation noch aus einem anderen Grund, wie die Zuschauer im Verlauf der Handlung erfahren: Die Familiengeschichte, wie sie Alex’ Voiceover-Erzählerstimme vorstellt, basiert auf einer Lüge der Mutter, die mit dem Ende der DDR zusammenstürzen muss. Der Vater hat die Familie nicht heimlich verlassen. Die Flucht war gemeinsam von Vater und Mutter geplant, die Mutter ist jedoch mit den Kindern zurückgeblieben. Die Briefe mit den Kontaktversuchen des Vaters hat sie unterschlagen und die Kinder in dem Glauben gelassen, der Vater hätte sie ‚sitzengelassen‘. Der Film erzählt also von einer doppelten Täuschung.

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stecken. Christiane Kerner will zu Fuß weitergehen und steigt aus. Geschockt nimmt sie das brutale Verhalten der Polizisten wahr. Schließlich sieht sie ihren Sohn, der gerade verhaftet wird. Sie bricht zusammen und bleibt in ihrer feierlichen Abendgarderobe auf dem Pflaster liegen. Diese Sequenz baut einen Zusammenhang zwischen dem Herzinfarkt der Mutter und Alex’ Teilnahme an der Demonstration auf. Alex’ Mitlaufen bei der Demonstration wird dabei als Verrat an der Mutter und zugleich als Sündenfall lesbar. In dem Moment, in dem die Kamera ihn das erste Mal in der Mitte des Demonstrationszuges erfasst, beißt er herzhaft in einen Apfel. Der Apfel als Symbol für Verführung zur Sünde wird direkt durch die weibliche Verführerin ergänzt. Alex verschluckt sich und eine dunkellockige, junge Frau – Alex’ spätere Freundin Lara – taucht wie ein rettender Engel auf, klopft ihm den Rücken, bis Alex den Apfelbissen ausspuckt. Der Sündenfall, der hier mit dem Apfel angedeutet wird, ist Alex’ Auflehnung gegen den Staat, die in der Logik des Films auch als Verrat an der Beziehung zur Mutter gesehen werden muss. Das Aufbegehren ist üblicherweise Teil des Erwachsenwerdens – genauso wie die Abwendung von der Familie und die Hinwendung zu einer Frau, hier anwesend in der Figur Lara. Der Herzinfarkt der Mutter wird gleichzeitig durch zweierlei ausgelöst: Alex’ Verrat, der in seinem Aufbegehren gegen den Staat und seiner Hinwendung zu Lara liegt, genauso wie durch die desillusionierende Einsicht, dass der Staat durchaus nicht nur für freundlich-väterliche Autorität steht, sondern hart und brutal gegen seine ‚Kinder‘ vorgeht. Die Dreier-Konstellation AlexMutter-DDR fällt auseinander, der Mutter bricht es das Herz. Nachdem die Mutter aus dem Koma erwacht ist, tut Alex alles dafür, um das Geschehne ungeschehen zu machen und das Dreieck Alex-Mutter-DDR weiterhin stabil erscheinen zu lassen, obwohl die DDR mittlerweile abgelöst wurde, die Mauer offen ist und die offizielle ‚Wiedervereinigung‘ unmittelbar bevorsteht. Die DDR kann die Funktion des ‚imaginären Phallus‘ im Beziehungsdreieck mit Mutter und Sohn nicht mehr erfüllen. Stellvertretend für die DDR treten die ‚Ost-Produkte‘ in den Fokus, die jedoch nicht mehr als Lückenbüßer sein können. Dies macht sich signifikanterweise fest an den „Spreewaldgurken“, auf die die Mutter einen „Heißhunger“ verspürt und die einzukaufen sie Alex deshalb bittet. Spreewaldgurken, ein ostdeutscher Produktname für eingelegte Gurken im Glas, sind inzwischen jedoch aus den Regalen der Läden verschwunden und durch holländische Gurken in Gläsern westdeutscher Marken ersetzt worden. Zunächst kann Alex diese Lücke, die an der Stelle der DDR klafft, noch – quasi DDR-Systemkonform – mit „Lieferschwierigkeiten“ erklären und die Erfüllung des Begehrens hinausschieben. Die Spreewaldgurken bzw. das Gurken-Glas mit dem originalen Ost-Label werden damit zum begehrten Objekt, das Alex auf seiner ständigen Suche danach umkreist, aber

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nicht finden kann. Dabei funktioniert das Gurkenglas analog zum Ding, das fehlt, welches jedoch das Versprechen von Erfüllung enthält. So verspricht das Gurkenglas die Simulation der DDR perfekt zu machen. Dieses Versprechen erweist sich jedoch als leer. Einmal seiner habhaft geworden, kann Alex das Glas zwar mit Gurken füllen. Die Gurke ist jedoch nicht der Phallus, denn der imaginäre Phallus DDR ist verschwunden. Direkt nach dem Biss der Mutter in die Gurke, die Alex ihr in einem endlich gefundenen Spreewaldgurkenglas serviert hat, gelingt es Christiane Kerner das erste Mal seit ihrer Krankheit aus dem Bett aufzustehen. Sie verlässt die Wohnung und damit die Sphäre von Alex’ Inszenierung. Der fundamentale Mangel, das Fehlen des Phallus, wird der Mutter bei diesem Kurzausflug jenseits der DDR-Matrix drastisch vor Augen geführt: Am Himmel über der Straße schwebt ein überlebensgroßer Lenin ohne Unterleib. Ein Hubschrauber transportiert den oberen Teil einer Leninstatue ab. Der Film inszeniert dies als surrealistisch anmutende Szene, in der zu anschwellender Musik der unterleibslose Lenin unter dem Hubschrauber hängend meterhoch über dem Straßenverkehr die Stalinallee entlang fliegt, vor blauem Himmel mit im Abendlicht leuchtenden Wolken auf Christiane Kerner zuschwebt, sich ihr grüßend zuzuwenden scheint – im Schuss-Gegenschussverfahren wird ein Blickwechsel gezeigt –, an ihr vorbeifliegt und schließlich über dem Alexanderplatz zwischen Hochhaus und Fernsehturm verschwindet, bevor Ariane und Alex gleichzeitig auf ihre völlig verwirrte Mutter zulaufen und sie zurück in die Wohnung bringen. Die beispielhaft angeführten Filmszenen zeigen, wie eng Good Bye, Lenin! die ostalgische Erzählung über das Ende der DDR mit dem nostalgischen Narrativ des Ödipuskonflikts verknüpft. Aufgrund dieser Verknüpfung erzählt die Ostalgie des Films – das Heimweh nach der DDR – immer auch von einem vermeintlich grundlegenden menschlichen Begehren, dem Begehren nach der imaginären Einheit, dem Genießen, und wird dadurch über die Ostalgie-Sympathie hinaus anschlussfähig. Good Bye, Lenin! erzählt eine klassische Coming of Age-Geschichte. Alex überwindet seinen Ödipuskonflikt. Er entscheidet sich zur Auflösung des ödipalen Dreiecks und beendet seine DDR-Inszenierung pünktlich zur Feier der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, indem er der DDR ein fiktives Ende setzt.53 Mutter und DDR ‚sterben‘ fast gleichzeitig: Die Mutter erliegt wenige  Gerade die Szene, in der Alex seiner Mutter in einer letzten, gefälschten Aktuelle KameraSendung seine eigene Version von der ‚Wiedervereinigung‘ präsentiert, führt deutlich vor Augen, dass es hier nicht nur um die Narration über das Ende der DDR geht, sondern um die Mutter-Sohn-Beziehung bzw. um das Subjekt in seiner ödipalen Verstrickung. Inzwischen sind alle innerfamiliären Lügen aufgedeckt: Die Mutter hat ihren Verrat gebeichtet und Lara hat die Mutter ohne Alex’ Wissen über die politischen Ereignisse aufgeklärt. Die doppelte Inszenierung läuft dennoch weiter – nun quasi unter verkehrten Vorzeichen: Nun ist es Christiane, die

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Tage nach dem 3. Oktober den Folgen eines weiteren Herzinfarkts. Das Beerdigungsritual in der letzten Filmszene gilt also Mutter und ‚Mutterland‘. Alex und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter schicken die Asche der Mutter in einer selbst gebastelten Miniaturrakete in den Himmel. Alex verabschiedet also zugleich auch die Rakete, das ironisch überspitzte Phallussymbol, und damit den kindlichen, ödipalen Wunsch, der Mutter den Phallus bieten zu können. Das väterliche Gesetz, das die Symbiose mit der Mutter verbietet und den Eintritt in die symbolische Ordnung fordert, wird akzeptiert. Entsprechend steht auch Alex’ Vater, den er gesucht und in West-Berlin gefunden hat, im Kreis der Trauernden. Dieses – im Sinne der psychoanalytischen Narration – Happy End ist zugleich eines, das das vereinigte Deutschland als neue, zukunftsweisende und positiv besetzte Ordnung präsentiert und bestätigt. Die Familie, die die Schlussszene zeigt, ist eine gesamtdeutsche Familie. Das ‚Mutterland‘ DDR ist insofern integriert, als es in der nostalgischen Erinnerung konserviert wird. Die neu erweiterte Bundesrepublik erscheint jedoch, als Bereich des Symbolischen, als der erwachsene, ‚lebbare‘ Entwurf.

3 Image Ostalgie und die Nostalgie des Imaginären In der Analyse des Films Good Bye, Lenin! stellte sich heraus, dass die Ostalgie hier durchaus nicht nur als rückwärtsgewandte Sehnsucht nach der untergegangenen DDR und damit einem historisch gewordenen ‚anderen Deutschland‘ ist. Ganz im Gegenteil konnte gezeigt werden, wie Good Bye, Lenin! die Ostalgie in unterschiedlicher Weise zum Einsatz bringt und dabei gerade auch Entwürfe anbietet, die sich als Gemeinschaftsangebote nicht nur an ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR wendet, sondern die sich auf das aktuelle bundesrepublikanische Deutschland richten. Der Film macht die Ostalgie im Sinne einer Image-Funktion lesbar. Das Image der Ostalgie, das der Film einsetzt, als bekannt voraussetzt und in diesem Sinne als Verfahren ausstellt, vermittelt

Alex täuscht, indem sie das Spiel der Unwissenden fortsetzt. Diese Szene wird nicht durch Alex’ Erzählstimme eingeordnet. Stattdessen werden die Blicke leitend. Während des gemeinsamen Schauens der finalen ‚Nachrichtensendung‘ kommt es immer wieder zum Blickwechsel zwischen Mutter und Sohn, der ein gleichzeitiges Ver- und Erkennen beinhaltet. Jetzt über die eigentliche Situation informiert kann Christiane die Inszenierungsleistung ihres Sohnes und in der Geschichte, die er präsentiert, zugleich ihre ‚eigene‘ DDR erkennen. Das Erstaunen und die Rührung („Wahnsinn!“) im Blick seiner Mutter verkennend, glaubt Alex sich bestätigt zu sehen. Auch die Blicke der anderen anwesenden (und signifikanterweise weiblichen) Figuren, Schwester Ariane und Freundin Lara, richten sich während dieser Szene immer wieder statt auf den Fernsehbildschirm auf Alex, der im Zentrum der ödipal-nostalgischen Erzählung steht.

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nicht einfach ein vages gemeinschaftliches Gefühl, sondern ermöglicht über Kommunikation und Konsum konkret die Teilhabe an bestimmten Gemeinschaften. Diese Seh- und Konsumgemeinschaften sind dabei jedoch nicht nur als temporäre zu begreifen, deren Gemeinsamkeit sich etwa in der kollektiven Erfahrung des Kinobesuchs erschöpft. Vielmehr richten sich die Bilder, aus denen sich diese Gemeinschaftlichkeit generiert, gerade auf einen größeren Entwurf. Dies wurde beispielsweise an den im Film recycelten Fernsehbildern gezeigt, die mit dem Mauerfall und den ‚Wende‘-Ereignissen die Vorstellung von einer deutschen Einheit transportieren. Good Bye, Lenin! führt die Ostalgie zudem mit einer in einem allgemeineren Sinn nostalgischen Familiengeschichte eng. Die Handlung erzählt eine Geschichte von Mutter und Sohn, die in vielfacher Hinsicht den Mythos von Ödipus und insbesondere seine Fortschreibung durch die Psychoanalyse als zentralen Konflikt des Subjekts, den Ödipuskonflikt, aufruft. Die Analyse macht den Ödipuskonflikt als nostalgisches Narrativ lesbar. Die Nostalgie des Ödipus besteht in seinem Begehren nach der imaginären Einheit – der Einheit mit der Mutter, das als Heimweh nach dem Ursprung, der Herkunft gesehen werden kann. Der Ödipuskonflikt kreist also um eben das Begehren, das auch das Imaginäre motiviert und lässt sich solchermaßen als eine kulturelle Beschreibungsfigur für diesen Aspekt des Imaginären bezeichnen. Dieses nostalgische Narrativ, das das Begehren des Subjekts als Nostalgie formuliert, nimmt Good Bye, Lenin! in seiner Handlung auf. Der Film zeigt den Ödipuskonflikt jedoch nicht wie in Lacans Konzeptualisierung als Struktur des Subjekts, sondern lässt ihn zu einem Abschluss kommen. Die abschließende Szene zeigt das Trauerritual, mit dem die Mutter und damit auch der ödipale Wunsch verabschiedet werden, und zudem eine durch den Vater wieder vervollständigte Familie. Diese Familie ist eine gesamtdeutsche Familie. Der Schluss des Films setzt somit nicht nur die Überwindung des Ödipuskonflikts ins Bild, sondern zugleich die Stillstellung der imaginären Dynamik, denn gezeigt wird hier das wiedervereinigte Deutschland als gelungene Einheit der Nation.

VI Deutschlandreisen 1 Konjunktur der Deutschlandreisen Reisetexte haben auf dem gegenwärtigen Buchmarkt der Bundesrepublik Konjunktur. Beispielsweise war das in Deutschland meistverkaufte Buch des Jahres 2006 Hape Kerkelings Schilderung seiner Pilgerreise auf dem Jakobsweg, Ich bin dann mal weg!.1 Kerkelings Reisebericht einer Wallfahrt widmet sich weniger der religiösen Erfahrung, sondern thematisiert die Wanderung als ‚Reise zum selbst‘ und Suchbewegung nach der Antwort auf die Frage ‚wer bin ich?‘. Der aktuelle Reisetrend des Buchmarkts bringt viele Publikationen hervor, in denen das Reisen als Weg der Selbsterkundung oder Selbstfindung erscheint. Eine solche Reise ins Eigene stellt auch die Deutschlandreise dar. In beträchtlicher Zahl sind in den letzten Jahren Texte erschienen, die von einer Reise durch Deutschland erzählen.2 Viele von diesen Büchern verkaufen sich mit  Hape Kerkeling, Ich bin dann mal weg! Meine Reise auf dem Jakobsweg, München 2006. Zum Verkaufserfolg des Buchs siehe: Hape Kerkeling an der Spitze. In: online Focus, 11. 01. 2007, http://www.focus.de/kultur/buecher/bestseller_aid_122459.html (abgerufen am 09. 03. 2011).  Zu den in Bezug auf Verkaufszahlen erfolgreichsten Deutschlandreisen zählen die Texte von Roger Willemsens, Deutschlandreise (2002), und Wolfgang Büscher, Deutschland, eine Reise (2005), die in diesem Kapitel näher betrachtet werden. Als weitere Beispiele und zur Illustration der Quantität wie Vielfältigkeit der Deutschlandreise-Bücher seien genannt: Patrik Stäblers Speisende soll man nicht aufhalten. Eine Deutschlandreise über den Tellerrand hinaus (2013), Franka Frederiks Fucking Fulda. Eine erotische Deutschlandreise (2013), Christoph Wilkes’ und Johannes Wilkes’ Der Aldi-Äquator. 4 Jungs, 20 Filialen und 660 Kilometer (2012), Andreas Kielings Ein deutscher Wandersommer. 1400 Kilometer durch unsere wilde Heimat (2011), Wolfgang Lührs Vom Wispern der Wälder und vom Wesen des Wanderns. 1200 Kilometer zu Fuß durch Deutschland (2011), Torsten Körners Geschichten aus dem Speisewagen. Unterwegs in Deutschland (2010), Burkhard Müllers B – eine deutsche Reise (2010), Peter Schanz’ Mitten durchs Land. Eine deutsche Pilgerreise (2009), Fred Sellins Wenn der Vater mit dem Sohne. Unsere Wanderung durch Deutschlands unbekannte Mitte (2009), Dieter Kreutzkamps Mitten durch Deutschland. Auf dem ehemaligen Grenzweg von der Ostsee bis nach Bayern (2009), Thomas Baumanns Die spinnen, die Deutschen. Expeditionen durch den ganz normalen Wahnsinn (2007), Péter Esterházys Deutschlandreise im Strafraum (2006), Jan Weilers In meinem kleinen Land (2006), Axel Braigs Allein und zu Fuß durch Deutschland (2006), Lars Weisbrods Schnee, der auf Zidane fällt und andere wunderbare Erlebnisse in diesem Sommer. Eine Deutschlandreise (2006), Andreas Greves In achtzig Tagen rund um Deutschland (2005), Landolf Scherzers Der Grenzgänger (2005), Axel Hacke, Deutschlandalbum (2004), Benjamin von StuckradBarres Deutsches Theater (2001), Lorenz Schröters Mein Esel Bella oder Wie ich durch Deutschland zog (2000), Irina Liebmanns Letzten Sommer in Deutschland. Eine romantische Reise (1997) und Thomas Rosenlöchers Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise (1991). Das Deutschlandreise-Phänomen findet sich nicht nur in Buchform. So reiste Franz X. Gernstl

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bemerkenswertem Erfolg, einige rangierten lange auf oberen Plätzen der Bestseller-Listen und Verlage nehmen Deutschlandreisen offensichtlich gerne und sicherlich nicht zuletzt wegen des ökonomischen Erfolgsversprechens ins Programm.3 Angesichts der Vielzahl von unterschiedlichen Deutschlandreisen kann von einer regelrechten Reisewut gesprochen werden, die mit einer Leselust zu korrespondieren scheint: Es wird in Deutschland viel gereist, darüber viel geschrieben und dies wiederum wird augenscheinlich gern gelesen. Bei den meisten der hier angesprochenen Deutschlandreisen handelt es sind nicht um Reiseliteratur im Sinne des Reiseromans. Anders als etwa bei Christian Krachts Deutschlandreise-Roman Faserland (1995) fällt die Einordnung vieler der anderen Titel schon schwerer. Diese bewegen sich zwischen essayistischem Reisebericht und autobiografischem Reisetagebuch, subjektiv gefärbter Erlebnisprosa und kulturkritischer Gegenwartsanalyse. Nils Minkmar behauptet deshalb die „Reise als hybrides Genre“ und beschreibt das Phänomen als Entwicklung einer neuen Gattung: In Rückbesinnung auf Heinrich Heines „Harzreise“ und das „Wintermärchen“ hat sich mittlerweile eine neue Gattung von Deutschlandbüchern etabliert, die fröhlich an der

für das Bayrische Fernsehen quer durch die Republik. Die Sendung Gernstl unterwegs wurde zunächst 2008 ausgestrahlt und 2010/11 wiederholt. Vgl.: http://www.br-online.de/bayerischesfernsehen/gernstl-unterwegs/ (abgerufen am 10. 03. 2011). Der Satiriker und Journalist Martin Sonneborn wandert in seinem Kino-Film Heimatkunde (2008) einmal rund um die Hauptstadt und präsentiert seine Deutschlandreise als „Feldforschungen im Grenzgebiet“ und „Expedition in die Zone“. Vgl.: http://www.heimatkunde-der-film.de/ (abgerufen am 10. 03. 2011). Der Deutschlandreise als „Paradigma“ (S. 18) der deutschen Gegenwartsliteratur, in dem die Reiseliteratur eine „Renaissance“ (ebd.) erfährt, widmet sich die Dissertation von Stephanie Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Münster 2010. Verfügbar unter: http://miami.uni-muenster.de/servlets/ DerivateServlet/Derivate-5488/diss_schaefers_buchblock.pdf (abgerufen am 13. 05. 2013). Einem literarästhetischem Ansatz folgend fragt Schaefers danach, wie Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit den 1990er Jahren dargestellt werden. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem Phänomen ‚Heimat‘. Untersucht werden die folgenden Texte, die als repräsentativ angesehen werden: Christian Krachts Faserland, Michael Lentz’ Liebeserklärung, Roger Willemsens Deutschlandreise, Wolfgang Büschers Deutschland, eine Reise, Wladimir Kaminers Mein deutsches Dschungelbuch, Thomas Rosenlöchers Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Eine Harzreise und Sten Nadolnys Er oder Ich. Die Deutschlandreisen von Büscher und Willemsen, die auch in diesem Kapitel herangezogen werden, analysiert Schaefers vergleichend in einem gemeinsamen Kapitel (S. 140–173).  Thomas Medicus nennt dieses wirtschaftliche Erfolgsversprechen der „Wanderbücher“ für die Verlagsbranche den „Büscher-Kerkeling-Effekt“: Thomas Medicus, Auf ausgetretenem Pfad läuft es sich bekanntlich besser. In: Süddeutsche Zeitung, 53, 03. 03. 2008, 14.

Konjunktur der Deutschlandreisen

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Grenze zwischen Belletristik und Sachbuch entlangwandern, um die persönlichen, politischen und poetischen Zustände der deutschen Gegenwart zu ermessen.4

Ob es sich bei den Deutschlandreisen um eine neue Form der Reiseliteratur handelt oder nicht: In jedem Fall nehmen sie einen entscheidenden Aspekt aus der Tradition der Reiseliteratur auf. Die literarische Reise thematisiert häufig Identitätsfragen: „[I]m Reisen wird das Selbstverständnis eines Subjekts zum Thema“ 5. So gestaltet bereits der Bildungs- bzw. Entwicklungsroman die Metapher vom Lebensweg oder Werdegang aus, indem er Subjektentwicklung und Reiseroute korrespondieren lässt. Im Reiseroman der Romantik wird die Identitätsfindung entsprechend der romantischen Poetologie als unabschließbare Suchbewegung gestaltet. Der Reisebericht des Kolonialdiskurses nähert sich einem unbekannten Fremden an, dessen exotische Existenz in der Verschriftlichung verbürgt und zugleich gebannt wird. Damit bietet der Bericht über die  Nils Minkmar, Deutsche Grenzgänger. Reise als hybrides Genre. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21, 28. 05. 2006, S. 24. Ebenfalls verfügbar im Internet unter: http://www.faz. net/s/Rub79A33397BE834406A5D2BFA87FD13913/Doc~E4C028FBF40A647CB87471AEF50FFF 92E~ATpl~Ecommon~Scontent.html (abgerufen am 09. 03. 2011). Die Schwierigkeiten, die Deutschlandreise-Texte einer Gattung zuzuordnen entsprechen den Herausforderungen, vor die Reiseliteratur die Literaturwissenschaft von jeher stellt. In der Literaturwissenschaft lassen sich im Wesentlichen zwei Arten des Umgangs mit der Reiseliteratur ausmachen. In einem weniger streng gefassten Begriff der Reiseliteratur wird darunter jeglicher Text, ob fiktional oder faktual verortet, der von Reisen handelt, erzählt oder sie beschreibt; also sowohl Reisetagebücher, -führer, -handbücher, als auch wissenschaftliche Reisetexte, Abhandlungen und Berichte sowie Reiseromane und -erzählungen. Eine engere Definition unterteilt die Reiseliteratur in Reisebericht und Reiseroman, wobei Voraussetzung für das Label Reisebericht immer die Bezugnahme auf eine reale Reise ist. Die Forschungsdebatte dieser Definitions- und Abgrenzungsproblematiken soll hier nicht fortgesetzt werden. Der weite Textbegriff, der dieser Arbeit und ihrer Fragestellung zugrunde liegt, schließt auch einen weit gefassten Begriff der Reiseliteratur ein. Für einen Überblick über die Debatte siehe: Walter Fähnders, Nils Plath, Inka Zahn, Einleitung. In: Fähnders u. a. (Hg.), Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die Metropolen, Bielefeld 2005, S. 9–29, insbesondere S. 14–19. Für einen ausführlichen Forschungsüberblick zu Reiseliteratur und Reisen in der Literatur vgl.: Christophe Bourquin, Reisen als Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft. In: Christophe Bourquin, Schreiben über Reisen. Zur ars itineraria von Urs Widmer im Kontext der europäischen Reiseliteratur, Würzburg 2006, S. 18–26. Sowie: Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, Tübingen 1990. Zur Frage der Genre-Einordnung der Deutschlandreisetexte vgl. auch das Kapitel Exkurs 4: Reportage-Reisen in: Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde, S. 154–161. Sowie: Inez Müller, Reiseprosa zwischen erlebter und erfundener Erfahrung von Büscher, Kerkeling und den Damms. In: Michael Grote, Beatrice Sandberg (Hg.), Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Band 3: Entwicklungen, Kontexte, Grenzgänge, München 2009, S. 208–223.  Fähnders, Plath, Zahn, Einleitung, S. 16.

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Reise in die Fremde einen Spiegel für das Eigene, dessen man sich solchermaßen versichert: „Das symbolische Inventar der als eigen vorgestellten Gemeinschaft hängt immer in den Text hinein und hinterlässt dort seinen Schatten“ 6. Literarische, literarisierte oder vertextete Reisen schildern bei aller Heterogenität und Vielseitigkeit eine Suche nach Identität, zeichnen Bewegungen der Selbstvergewisserung nach und fixieren diese im Geschriebenen. Die Deutschlandreisetexte schreiben sich folglich in eine umfangreiche literarische Tradition ein und stilisieren sich nicht zuletzt als Nachfolger von Heinrich Heines Harzreise (1826), Reisebilder (1826–1830) und Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) oder Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862–1889).7 Gilt der Reisebericht traditionell als „mediale[ ] Auseinandersetzung mit dem als anders oder fremd Gedachten“, die mit der „Frage nach dem Ort des Eigenen und seiner Bestimmung einher“ 8 geht, so brechen die Deutschlandreise-Texte mit dieser Genre-Regel, indem sie vom Eigenen ins Eigene reisen, das hier zum ‚fremd Gedachten‘ werden soll.9 Deutschland ist das Reiseland und wird damit zugleich zum zentralen Gegenstand der Texte. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Deutschlandreisen als einem Phänomen der Gegenwartsliteratur, das sich offensichtlich auf eine spezifische Art und Weise mit Deutschland auseinandersetzt. Deutschland wird in diesen Texten ganz explizit zum Thema und Gegenstand. Die Beschäftigung mit Deutschland wird darin mit Fragen nach Identität – in der Thematisierung dessen, was deutsch ist – und Subjektivität – im autobiografischen Schreibgestus – verknüpft. Die Reise als Bewegung im Raum lenkt die Aufmerksamkeit auf die räumlichen Aspekte: Wie wird Deutschland als geografischer Raum entworfen? Inwiefern kommt die Thematisierung des Räumlichen mit der Frage nach Identität hier zusammen? ‚Raum‘ ist in den letzten Jahren zu einer lebhaft diskutierten Kategorie der Kultur- und Geisteswissenschaften avanciert.10 Ob und in  Thomas Mohnike, Imaginierte Geographien. Der schwedische Reisebericht der 1980er und 1990er Jahre und das Ende des Kalten Krieges, Würzburg 2007, S. 12.  Dies reflektieren die Texte durchaus. So heißt es bei Greve etwa: „Ich könnte ein Dutzend Bücher aufzählen, die mehr oder weniger mitverantwortlich dafür sind, dass diese Reise in achtzig Tagen um Deutschland führen sollte“ (S. 12). Die Vorbilder werden in der „Reisebibliothek“ (ebd.) mitgeführt. Andreas Greve, In achtzig Tagen rund um Deutschland. Grenzerfahrungen, München 2005.  Mohnike, Imaginierte Geographien, S. 12.  Vgl. zu dem Verhältnis von Eigenem und Fremdem in Bezug auf die Deutschlandreisen der Gegenwartsliteratur vor einem imagologischen Hintergrund: Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde, insbesondere S. 40–46.  Zur kultur- und geisteswissenschaftlichen Debatte um die Kategorien Raum und Räumlichkeit vgl. Sigrid Weigel, Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik, 2/2, 2002, S. 151–165; Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften,

Konjunktur der Deutschlandreisen

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welcher Weise mit der Frage nach dem Raum auch die nach der Identität gestellt wird, ist dabei jedoch ein weniger präsentes Thema,11 das ich im Folgenden in den Blick nehme. Dieses Kapitel untersucht mit den Texten von Wolfgang Büscher und Roger Willemsen zwei Beispiele für das aktuelle Phänomen der DeutschlandreiseTexte. Die Lektüren gehen von der Annahme aus, dass die Beschreibungen einer Reise durch Deutschland zugleich auch eine Beschreibung Deutschlands mit bereitstellen, dass die Reisen Deutschland also in Erfahrung bringen und im Text festzuhalten versuchen. Deutschland als Raum, den man bereisen, durchwandern und auf einer Karte einzeichnen kann, ist leichter zu handhaben, als ‚Deutschland‘ im Sinne einer abstrakten Idee, eines Bündels von Werten, einer problematischen Geschichte oder einer Großzahl von einander unbekannten Menschen. Raum bietet sich, so die These, als eine scheinbar verlässliche Bezugsgröße für die Projektionen kollektiver wie individueller Identifizierung an. Von diesen Überlegungen ausgehend frage ich nach den Verfahren, die Deutschland im Text als Raum erfahrbar und fassbar machen möchten. Den Lektüren der beiden Deutschlandreisen von Büscher und Willemsen ist ein Abschnitt zum Verhältnis der Kategorien des Raums und des Imaginären vorangestellt. Dieser Abschnitt arbeitet heraus, dass Identifizierung und Räumlichkeit miteinander zusammenhängen. Das Imaginäre, so möchte ich zeigen, hat selbst eine räumliche Dimension.

Bielefeld 2008; Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007; Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006; Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart 2005; Doris Bachmann-Medick, Spatial Turn. In: Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 284– 328. Dass Raum sich mittlerweile als Kategorie kulturwissenschaftlicher Analysen etabliert hat, zeigen aktuelle Forschungsarbeiten. Vgl. Oliver Simons, Raumgeschichten. Topographien der Moderne in Philosophie, Wissenschaft und Literatur, München 2007; Niels Werber, Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München 2007; Robert Stockhammer (Hg.), TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005; Jörg Dünne, Hermann Doetsch, Roger Lüdeke (Hg.), Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medien-historischer Perspektive, Würzburg 2004.  Vgl. aus sozialgeographischer Perspektive: Andreas Pott, Identität und Raum. Perspektiven nach dem Cultural Turn. In: Christian Berndt, Robert Pütz (Hg.), Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, Bielefeld 2007, S. 27–52.

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2 Die Topik des Imaginären Mit dem Imaginären untersucht diese Arbeit, wie das ‚Wir‘ einer Gemeinschaft zustande kommt: Nicht als abschließend erreichbares Ziel, sondern als beständig durch ein Begehren motivierte Dynamik, die sich auf Bilder ausrichtet. Die Subjekte dieser identifizierenden Bewegung des Imaginären, also beispielsweise das ‚Wir‘, das sich auf ‚Deutschland‘ bezieht, sind demnach stets durch ihre Relationalität gekennzeichnet. Aufgrund dieser Relationalität ist der Funktionsweise des Imaginären eine grundsätzlich räumliche Dimension inhärent. Dies möchte ich kurz anhand der Konzeption des Imaginären in den Texten Jacques Lacans ausführen und den Lektüren der Deutschlandreisen voranstellen, die sich mit Deutschland als Raum beschäftigen. Die wesentliche räumliche Dimension des Imaginären kann bereits anhand des Spiegelstadiums gezeigt werden, das sich als Modell für das Imaginäre lesen lässt. Das Kind testet in dieser modellhaften Situation die Beziehung der vom Bild aufgenommenen Bewegungen zur gespiegelten Umgebung und das Verhältnis dieses ganzen virtuellen Komplexes zur Realität […], die es verdoppelt, bestehe sie nun im eigenen Körper oder in den Personen oder sogar in Objekten, die sich neben ihm befinden.12

Lacan beschreibt hier die Aufnahme der Beziehung zwischen dem Kind und seinem Bild als eine relationale Verortung im Raum. Die Ich-Bildung gründet demnach auf einer „lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation“ 13, durch die sich das Kind der Übereinstimmung mit dem Spiegelbild versichert und sich als Bestandteil des abgebildeten homogenen Raums entwirft. Mit den Ausführungen zum Experiment mit dem umgekehrten Blumenstrauß bzw. zum Zwei Spiegel-Schema in Die Topik des Imaginären (1954), das er als „Vertreter des Spiegelstadiums“ 14 vorstellt, bietet Lacan ein weiteres (optisches) Modell,  Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949. In: Jacques Lacan, Schriften I, ausgewählt und hg. von Norbert Haas, aus dem Französischen von Rodolphe Gasché u. a. 3. korrigierte Aufl. Weinheim, Berlin 1991, S. 61–70, S. 63. Für eine Lektüre von Lacans Spiegelstadium in Hinblick auf Räumlichkeit siehe auch: Andreas Mahler, Semiosphäre und kognitive Matrix. Anthropologische Thesen. In: Dünne, Doetsch, Lüdeke (Hg.), Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten, S. 57–69.  Lacan, Das Spiegelstadium, S. 67.  Jacques Lacan, Die Topik des Imaginären. In: Jacques Lacan, Das Seminar von Jacques Lacan, Buch I (1953–1954): Freuds technische Schriften, aus dem Französischen von. Werner Hamacher, hg. von Norbert Haas, Olten, Freiburg im Breisgau 1978, S. 95–184, S. 98. Hermann Doetsch bezeichnet Lacans Topik des Imaginären als Beitrag zur Raumtheorie, der „nicht hoch genug zu bewerten“ sei und ordnet ihn ein als „mediologische Topologie“. Hermann Doetsch,

Die Topik des Imaginären

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das die Relationen und Konfigurationen der Subjektkonstitution als räumliche Verhältnisse vor Augen führt. Hiermit wird wiederum unterstrichen, dass das Spiegelstadium nicht als zu überwindende Schlüsselphase innerhalb der individualpsychischen Entwicklung zu verstehen ist, sondern ein heuristisches Modell unter anderen darstellt, um die Komplexität der Subjekt-Identifizierung zu veranschaulichen. Das Spiegelstadium, das als Modell dafür, wie das Ich entsteht, in erster Linie das Imaginäre vertritt, wird in Die Topik des Imaginären durch das Spiegel-Schema ergänzt. Dieses zweite Modell dient dazu, die komplexe Frage nach dem ‚Ort‘ bzw. der Verortung des Subjekts (Topik) im Verhältnis zu den drei Ordnungen des Imaginären, Realen und Symbolischen auszuloten und zu illustrieren. Solchermaßen handelt es sich bei beiden Spiegel-Experimenten um „Hilfskonstruktionen“ 15 bzw. „Verständnismodelle“ 16. Indem Lacan in seinen Ausführungen zum Experiment mit dem umgedrehten Blumenstrauß die Optik in einer mathematischen Theorie der Raumrelationen – also der Topologie – verortet, führt er das Modell selbst als topologisch ein. Der Titel, der es als ‚Topik‘ ausweist, nimmt auf Freuds ‚psychische Topik‘ aus Bewusstem, Vorbewusstem und Unbewusstem Bezug. Der wesentliche Unterschied zu Freud ist jedoch, dass „Lacans Modell entschieden nicht innerpsychisch angelegt“ 17 ist. Statt einer ‚Örterlehre‘ der psychischen Lokalität (Freud) beschreibt Lacan die Strukturen der Psyche als topologische Ordnungen, die kein Schichtenmodell mehr bemühen, sondern Anordnungen und Verhältnisse veranschaulichen.18 Der Aufbau des Experiments19 zeigt zwei Spiegel, einen konkaven und einen ebenen, die einander gegenübergestellt sind. Zwischen den Spiegeln befindet sich ein Kasten, dessen geöffnete Seite zum gewölbten Spiegel zeigt und auf dem ein Blumenstrauß steht. In dem Kasten ist eine Vase verkehrt herum so aufgehängt, dass sie unter dem Strauß hängt. Ein bestimmter Standpunkt ermöglicht es dem Betrachter nun, in dem ebenen Spiegel das Bild des Blumenstrauß’ in der Vase zu sehen. Dieses dient Lacan als „Metapher“ und Körperliche, technische und mediale Räume – Einleitung. In: Dünne, Günzel (Hg.), Raumtheorie, S. 195–211, S. 202.  Lacan, Die Topik des Imaginären, S. 100.  Lacan, Die Topik des Imaginären, S. 101.  Mai Wegener, Psychoanalyse und Topologie – in vier Anläufen. In: Günzel (Hg.), Topologie, S. 235– 249, S. 241.  Andere Beispiele dieser topologischen Modelle sind etwa der Borromäische Knoten oder das Möbiusband. Vgl. dazu auch Wegener, Psychoanalyse und Topologie. Sowie: Dylan Evans, Optisches Modell. In: Dylan Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, aus dem Englischen von Gabriella Burkhart, Wien 2002, S. 211–213.  Für eine Abbildung siehe: Lacan, Die Topik des Imaginären, S. 162. Ebenso: Evans, Optisches Modell, S. 212.

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„Denkapparat[ ]“ 20 für die „Beziehung zwischen dem Imaginären und dem Realen und die Konstitution der Welt, wie sie daraus resultiert“ 21. Der Strauß und die umgedrehte, verborgene Vase, die nur durch die zweifache Spiegelung sichtbar werden, stehen für das Reale und das Imaginäre. Das Symbolische wiederum ist der Platz des Betrachters. Die Konstitution von ‚Wirklichkeit‘ aus den Bildern des Realen und Imaginären hängt folglich wesentlich von dem Zusammenwirken mit der symbolischen Ordnung ab, denn nur, wenn der Betrachter einen bestimmten Platz einnimmt, ergibt sich ein kohärentes Bild, ist die ‚Wirklichkeit‘ kohärent wahrnehmbar. Die realen Objekte und die Bilder des Imaginären treten auseinander, werden sie nicht durch das Symbolische strukturiert: Damit sich die Illusion einstellt, damit sich vor dem betrachtenden Auge, eine Welt konstituiert, in der das Imaginäre das Reale einschließt und, gleichzeitig, formen kann, in der auch das Reale das Imaginäre einschließen und, gleichzeitig, situieren kann, muß eine Bedingung erfüllt sein – das Auge muß, wie ich Ihnen gesagt habe, in einer bestimmten Position sein, es muß im Inneren des Kegels sein. Wenn es außerhalb des Kegels ist, wird es nicht mehr das sehen, was imaginär ist, aus dem einfachen Grund, daß nichts vom Rückstrahlkegel auf es treffen wird. Es wird die Dinge in ihrem realen Zustand sehen, das heißt das Innere des Mechanismus, und einen armen leeren Topf oder vereinsamte Blumen, je nachdem.22

Diese Konstituierung des Subjekts und seine Positionierung zur ‚Wirklichkeit‘ ist aufgrund der Relationalität als Dynamik im Raum zu begreifen.23 Die Differenz zwischen Bild und Betrachter bildet einen Raum, in dem der Blick hin und her gehen kann. Zugleich produzieren diese Blicke das sich situierende Subjekt und einen Raum, der durch das Symbolische strukturiert eine Projektion der imaginären Bilder ermöglicht. Eine kohärente Raumerfahrung, die sinnvoll geordnete ‚Wirklichkeit‘, wird erst in diesem Zusammenwirken entworfen: Die Wirklichkeit, welche sich das Subjekt aufbaut, wenn sie denn eine strukturierte Wirklichkeit sein und nicht nur aus Fragmenten und Affekten bestehen soll, stellt folglich immer schon ein Konstrukt aus Körpern sowie medialen und semiotischen Vermittlungen dar. Und dieses Konstrukt ist homogener, strukturierter Raum.24

 Lacan, Die Topik des Imaginären, S. 105.  Lacan, Die Topik des Imaginären, S. 106.  Lacan, Die Topik des Imaginären, S. 106.  Auch für die Illustration des unlöslichen Zusammenspiels von Imaginärem, Realem und Symbolischem greift Lacan wiederum auf eine topologische Figur zurück; den Borromäischen Knoten.  Doetsch, Körperliche, technische und mediale Räume, S. 202.

Narrative Kartografie – Wolfgang Büscher, Deutschland, eine Reise

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Die Subjektbildung und die Positionierung dieses Subjekts innerhalb der Wirklichkeit – also das, was sich als ‚Identität‘ fassen ließe – wird bei Lacan als räumliche Relation entwickelt. Da das Zwei-Spiegel-Schema des Experiments mit dem umgedrehten Blumenstrauß explizit als Weiterdenken des Spiegelstadiums und somit als Modell des Imaginären vorgestellt wird, betont es noch einmal, wie sehr das Imaginäre, das Reale und das Symbolische interagieren und auf welche Weise somit das Imaginäre die Wirklichkeit, die häufig auf das Symbolische reduziert wird, mit prägt. Deutlich wird hieran, dass diese Wirklichkeit durch die imaginären Bilder entworfen wird, die sie als homogenen Raum einer sinnvollen Ordnung vor Augen führen, also als Welt, in der die Vase die Blumen hält und nicht verkehrt herum unter dem Strauß hängt. Diese Vorüberlegungen zum Verhältnis von Imaginärem und Räumlichkeit sollen die folgenden Textanalysen perspektivieren. Der imaginären Dynamik ist eine räumliche Dimension inhärent, insofern als es sich dabei stets um ein In-Beziehung-Setzen und eine Positionierung innerhalb räumlicher Relationen handelt. Diese ‚sinnvoll‘ zu ordnen und sie somit als kohärent erfahrbar zu machen, daran sind die Entwürfe des Imaginären beteiligt. Die Texte von Büscher und Willemsen sollen im Folgenden exemplarisch für das Phänomen Deutschlandreise der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur darauf hin befragt werden, wie die Thematisierung von Raum, also Deutschland als Reiseland, hier für die imaginären Dynamiken produktiv wird. Die These, die die Analysen leitet, ist, dass die Texte, indem sie Deutschland bereisen, nicht nur Aussagen über Deutschland als Raum machen, sondern zugleich zu diesem Raum in eine Beziehung treten. Die Reise mit ihrer Raumerfahrung ist dann immer auch eine identifizierende Bewegung. Zu untersuchen ist damit, welche Strategien der Ordnung und Sichtbarmachung hier am Werk sind und welche Bildentwürfe dabei entstehen oder verwendet werden.

3 Narrative Kartografie – Wolfgang Büscher, Deutschland, eine Reise 3.1 Grenzerfahrung Büschers Deutschland, eine Reise setzt sich ein klares Vorhaben und eine feste Reiseroute. Der Erzähler reist an den Grenzen entlang. Der Text schildert eine Umrundung Deutschlands, eine Reise entlang der Ränder, eine Grenzerfah-

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rung.25 Der Startpunkt ist am Rhein, an der holländischen Grenze. Von dort fährt Büschers Ich-Erzähler nordwärts und dann einmal um Deutschland herum. Gereist wird zu Fuß, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, oftmals dem Bus, per Anhalter, aber auch mit dem Flugzeug und dem Schiff. Es stellt sich die Frage, warum ausgerechnet diese Route für die Reise gewählt wird, denn Deutschland liegt doch eigentlich zwischen bzw. innerhalb der Grenzen. Wenn man von Deutschland erzählen will, muss man dann nicht nach Deutschland hineinfahren, statt am Rand entlang, an dem Deutschland aufhört und der sich überwiegend durch die Provinz zieht?26 Zu fragen ist also, was genau der Text unternimmt, wenn er eine Reise entlang von Deutschlands Grenzen erzählt. Der Blick in Büschers Text zeigt schnell, dass es mit den Grenzen Deutschlands nicht so einfach ist. Die Grenze ist nicht immer leicht zu finden, entzieht sich und lässt sich nur schwer festmachen: Ungeduld drängte mich nordwärts. Ich wollte mich an die Grenze halten, aber ich wollte auch vorankommen, und so nahm ich den Zug. Aber jeder Zug fuhr von der Grenze weg. Niemand reiste an ihr entlang. Sie folgte ja keiner berühmten Bergkette, keiner Küste, keinem Tal, nicht einmal einer Straße. Sie war ein unsichtbarer Strich durch die Felder. Irgendwo dahinten im flachen Land verlor sich Deutschland. Ich geriet auf einen wirren Zickzackkurs. Wie ein Käfer, der zur Kante will und den die Hand des spielenden Kindes immer wieder mitten auf den Tisch setzt, brachte mich irgendein Zug immer wieder von der Grenze weg und setzt mich tief im Landesinnern aus, an Orten wie Duisburg oder Münster. Bahnhofshallen. Stunden im Bordbistro bei lauwarmem Beuteltee. Auf dem Boden rollt eine leere Bierflasche hin und her, hin und her.27

 Eine Reise entlang der Grenzen liegt auch mit Andreas Greves In achtzig Tagen rund um Deutschland vor. Bei Greves Reisebericht geht es jedoch, anders als bei Büscher, explizit auch darum, diese Grenze zu übertreten und Deutschland und seine Nachbarn kennen zu lernen. Zugleich wird die Notwenigkeit einer Aktualisierung des Deutschlandbildes formuliert: „Mein Anliegen war, mir neue Erinnerungen zu beschaffen. Ich hatte den Eindruck, dass das Bild, das ich mir von Deutschland machte, aus einer Zeit stammte, die lange zurücklag.“ Greve, In achtzig Tagen rund um Deutschland. Grenzerfahrungen, S. 12.  Dieses Charakteristikum, die Reise durch die Provinz, ist vielen der aktuellen Deutschlandreise-Texten gemeinsam und kann auch schon für Heines Reisetexte festgestellt werden. Während Heines Reisetexte jedoch eine „Satire deutscher Provinzialität“ (Walter Hinck, ‚Land der Rätsel und der Schmerzen‘. Heinrich Heines Deutschlandbild. In: Wilhelm Gössmann, KlausHinrich Roth (Hg.), Poetisierung – Politisierung. Deutschlandbilder in der Literatur bis 1848, Paderborn u.a. 1994, S. 199–216, S. 203) vorlegen, findet sich diese Wendung ins Satirische bei Büscher nicht wieder.  Wolfgang Büscher, Deutschland, eine Reise, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 16. Im Folgenden mit Seitenzahlen im Text zitiert als WB.

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Die Reise entlang der Grenze wird hier als schwieriges Unterfangen beschrieben. Sie folgt keinen ausgetretenen Wegen. Die Grenze richtet sich nicht an geografischen Gegebenheiten aus, ist deshalb in der Landschaft unmarkiert und lässt sich nicht leicht nachvollziehen. Folglich kann sie auch verpasst oder verfehlt werden – wie es dem Erzähler etwa beim Strandspaziergang auf der Ostseeinsel Usedom passiert: Der Nebel wurde dichter. Ich sah fast nichts mehr und orientierte mich am Geräusch der Wellen. Nach einer Stunde vielleicht hörte ich polnische Stimmen und kehrte um. Ich war längst in Polen. Zehn Minuten später lief ich der Grenze ins Netz, in einen aufgespannten Zaun, den ich vorhin nicht bemerkt hatte. Ich war wohl zu nahe am Wasser gegangen, und das Grenznetz reichte nicht bis ans Meer. (WB 57)

Die Grenze, die Deutschland absteckt und definiert, wird hier als durchlässig und fast unsichtbar beschrieben, so dass man genau hinschauen muss. Das Reisen entlang der Grenzen bedeutet Anstrengung, denn die Grenzen als Reisewege müssen – zum Teil richtiggehend körperlich – erarbeitet werden: Ich ging bis in den Abend, übernachtete in einem Dorfgasthof und fand die Welt am anderen Morgen weiß vor. Es war viel Schnee gefallen, und es war kälter geworden, aber ich mochte die Wege durch den Wald, hin und her über die Grenze, ich ging weiter. Der Boden war jetzt gefroren, und im Schnee konnte man leicht die Orientierung verlieren. Zunächst folgte ich einem breiten Waldweg. Bald musste ich abbiegen, nur wo genau? Es gab viele Wege, und unterm Schnee waren sie von Pfaden, die nach hundert Metern endeten, nicht mehr zu unterscheiden. […] Ich geriet vom Weg in tiefen Schnee, stapfte zurück, zog weiter durch den verschneiten Wald, dann über offenes Ackerland bergan, der kalte Wind blies mir ins Gesicht, halb ging ich um einen Berg herum, der Eulenberg hieß, machte wieder kehrt, weil ich dachte, es sei vielleicht doch besser, über den Berg zu gehen, stieg hinauf, auf der andern Seite wieder hinab und kam nach kurzer Strecke in den Weiler an der Grenze, den ich gesucht hatte. (WB 137)

Erst die Tätigkeit des Reisens an den Grenzen entlang bringt sie in Erfahrung und die Erzählung von der Grenz-Reise bezeugt sie. Indem Büschers Reisetext die Grenzen abschreitet und in der Reiseerzählung nachvollzieht, zeichnet er ein klares Bild von Deutschlands Umrissen. Dieses Bild von Deutschland, das dabei entsteht, ist in Form einer Umrisskarte mit eingezeichneter Reiseroute dem Text als graphische Darstellung vorangestellt.28 Der reisende Erzähler schreitet die Grenzen ab und lässt damit im Text der Deutschlandreise zugleich Deutschlands Gestalt in Form seiner Umrisse entstehen. Die erzählte Grenzer Die Karte im Paratext des Buchs ist häufiges Merkmal dieses Gegenwartsliteratur-Phänomen. Viele der Deutschlandreise-Texte enthalten ebenfalls graphische Darstellungen, auf denen man die jeweilige Reiseroute nachvollziehen kann, Deutschlandkarten oder Kartenausschnitte.

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fahrung führt Deutschland vor Augen und visualisiert es als klar definiert in den aktuellen politischen Grenzen. Das Verfahren des Textes, durch das die Grenze festgestellt, abgeschritten und vermessen wird und mit dem der Text eine Umriss-Landkarte zeichnet, lässt sich als ein kartografisches beschreiben. Das Erzählverfahren der ‚narrativen Kartografie‘ übernimmt Strategien der „Kartenproduktion als Weltbildgenerierung“ 29. Die Visualisierung der Kartografie kann nicht auf eine illustrative Funktion beschränkt werden, vielmehr tragen diese Verbildlichungen dazu bei, Wissen zu formen und zu ordnen.30 Auch als Textelement kann die Karte verstanden werden als „Instrument[ ] für die Herstellung von Konsens und Einheit“, das „gegen die Subjektivität der Interpretation die vermeintliche Unabhängigkeit und Objektivität einer visuellen Darstellung setzt und postuliert“ 31. Karten sind Werkzeuge der Komplexitätsreduktion und in diesem Sinne zugleich „machtvolle Instrumente von Sinnbildungsprozessen“ 32. Die narrative Kartografie, die mittels der Erzählung von der Grenzreise eine Deutschlandkarte entstehen lässt und somit ein Deutschlandbild in Form einer übersichtlichen Landkarte entwirft, ist – so verstanden – ein Verfahren, das auf Komplexität reagiert und diese handhabbar zu machen versucht. Der Text stellt, indem er die Grenzen umschreibt und damit eine Karte zeichnet, ein materielles Bild von Deutschland her. Deutschland ist also offensichtlich eine zuvor unbestimmte oder nur vage bestimmte Größe. Diese Unbestimmtheit wird in der Visualisierung durch die Karte eingeschränkt. Diese Grenzziehung, wie sie der Text vornimmt, definiert Deutschland, indem es von anderem getrennt und herausgelöst wird und indem sie versucht, ihm eine Identität zu geben. Zudem ermöglicht sie, diesem Deutschland als markiertem Raum zu begegnen, sich zu diesem in Beziehung zu setzen und ihn damit als Projektionsraum von Selbstbildern zu nutzen. Doch wie kommt es zu dieser Unbestimmtheit, der der Text entgegentritt? Die Frage, warum Deutschland in Büschers Reisetext etwas ist, das erst neu in Erfahrung gebracht werden muss, lenkt den Fokus auf eine weitere Grenze im Text. Die Außengrenzen Deutschlands sind nicht die einzigen Grenzen, von denen Deutschland, eine Reise erzählt. Eine zweite Demarkationslinie, die der Text umkreist, ist die ehemalige Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik. Während die Außengrenzen Deutschlands als dessen Definitionslinien festgestellt werden, geht es bei der zweiten, der vormaligen deutsch-deutschen  Bruno Schelhaas, Ute Wardenga, ‚Die Hauptresultate der Reisen vor die Augen zu bringen‘ – oder: Wie man Welt mittels Karten sichtbar macht. In: Berndt, Pütz (Hg.), Kulturelle Geographien, S. 143–166, S. 143.  Vgl. Schelhaas, Wardenga, Wie man Welt mittels Karten sichtbar macht, S. 146.  Schelhaas, Wardenga, Wie man Welt mittels Karten sichtbar macht, S. 146.  Schelhaas, Wardenga, Wie man Welt mittels Karten sichtbar macht, S. 148.

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Grenze um die Vergewisserung ihrer Nicht-Existenz. Büschers Reisebuch ist auch die Erfahrung des vereinigten Deutschlands. Beim Erscheinen des Buches 2005 ist das Deutschlandbild, das die Karte zeigt, erst 15 Jahre alt und sozusagen noch mitten in der Pubertät, der Zeit der Identitätsfragen und Selbstfindung. Der Ich-Erzähler reflektiert während der Reise, dass die gegenwärtige Gestalt Deutschlands so nicht selbstverständlich ist und vergleicht sie mit dem Deutschland seiner Kindheit, das sich als zweigeteiltes Deutschland bzw. als Westdeutschland erkennen lässt: „Es ist nicht uninteressant, in einem Land aufzuwachsen, das große geisterhafte Teile hat. Verbotene Flügel eines weitläufigen Hauses, die nicht betreten werden dürfen.“ (WB 65) Dass es die Trennung in einen „hellen, frisch renovierten Westflügel“ (WB 65) und düsteren „Ostflügel“, der „langsam verfällt“ (ebd.), nicht mehr gibt, setzt den Erzähler in Erstaunen und wird ebenfalls erst in Erfahrung gebracht. Die Feststellung des Ich-Erzählers: „Ueckermünde lag in der Herbstsonne […] und tat so, als sei es völlig normal, dass hier immer noch Deutschland war“ zeigt, dass es für ihn, als West-Deutschen, offensichtlich nicht normal ist, dass das im Osten gelegene Ueckermünde zu ‚seinem‘ Deutschland gehört.33 Der reisende Erzähler, dessen Vorstellung von den Orten und Landschaften der ehemaligen DDR in erster Linie durch ein Deutschlandalbum zum Einkleben von Sammelbildern (vgl. WB 65), das er als Kind besaß, geprägt ist, scheint von dem Realitätsstatus der ostdeutschen Orte erstaunt: „Mit den Bildern in meinem Album hatte das nichts zu tun. Ueckermünde war nicht dunkel und fremd.“ (WB 67) Das Bildersammelalbum aus der Kindheit ist veraltet und das Land, das auf den Bildern gezeigt wurde, gibt es nicht mehr. Wiederholt werden im Text Beobachtungen geschildert, die zeigen, dass der Erzähler weiterhin eine klare Ost-West-Grenze im Kopf mit sich herumträgt, weiterhin in deutlichen Ost-West-Differenzen denkt, die mit den Gegebenheiten, die er vor Ort antrifft, nicht übereinstimmen: Wir fuhren in den Wald und kamen bald durch ein Dorf, das aussah, als habe es den armen Osten nie gegeben. Seinen properen westdeutschen Wohlstand konnte ich mir nicht erklären. Modernisierte Einfamilienhäuser in gepflegten Gärten mit Grillkamin. (WB 68)

 Zu der eher als Zuschauerrolle beschreibbaren Haltung der ‚Westdeutschen‘ im Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten siehe: Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770– 1990, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl. München 1996, S. 379: „Die Westdeutschen waren seit der Öffnung der Grenzen mit einem Land und einer Bevölkerung konfrontiert, die ihnen weitgehend unbekannt waren, deren Geschichte sie nicht kannten. Seit den 1950er Jahren war man gewohnt, daß der Osten in den Westen kommt; man sah sich nicht veranlaßt in den Osten zu gehen.“

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Die Reise ist für Büschers Erzähler tatsächlich eine Entdeckungsreise. Er lernt ein Deutschland kennen, das ihm so nicht vertraut ist. Als solches un-heimliches Heimatland erscheint Deutschland wie ein mythisches Land. Die Orte, die vom Erzähler neu entdeckt werden, erhalten einen fast traumhaften, irrealen Status, hinter dem ein früheres, als verloren gekennzeichnetes Deutschland aufscheint. Dies zeigt sich etwa am Beispiel der Stadt Görlitz, die, anders als viele andere deutsche Städte, im Zweiten Weltkrieg nicht von Bomben zerstört wurde: Unmerklich war es November geworden. Ein feiner Regen fiel, als ich nach Görlitz kam. Und wie mir Guben gezeigt hatte, was die Phrase heißt: ‚finis Germaniae‘, so zeigte mir Görlitz die Schönheit, und es war wie ein Schlag auf die Augen. Wie schön das Land gewesen sein muss. Was wir verloren haben. Ich lief durch eine unfassbar heile Stadt. […] Die ersten Westler, die nach dem magischen November 1989 hier auftauchten, wussten nicht, worüber sie mehr staunen sollten – über die Entdeckung eines vernachlässigten, aber wunderbar intakten Stückes Renaissance, diesen unglaublichen Tagtraum, von dem sie nichts geahnt hatten und durch den sie nun liefen. Oder darüber, wie günstig dieser Traum zu haben war: All die Häuser aus der Kolumbuszeit standen leer, man konnte sie kaufen für den Gegenwert eines sehr, sehr billigen Gebrauchtwagens. Die Westler entbrannten für Görlitz, sie zogen der Stadt die graue Kittelschürze aus und schenkten ihr wieder Schmuck und Farben, wie sie sie früher getragen hatte. Es war spät, ich flanierte durch die Altstadt. Oberitalienisch, hätte ich gedacht, wäre ich hier ausgesetzt worden, ohne zu wissen wo ich bin. […] Nachts durch diese Gassen zu gehen weckte, ohne süßlich oder sentimental zu sein, einen Schmerz, der lange taub war und den man mit einem Mal spürt. (WB 85 f.)

Wie hier in Görlitz ist Büschers Erzähler auf seiner Reise insbesondere in den Orten und Gebieten, die ehemals zur DDR gehörten, als Entdecker unterwegs: Er nimmt ein ihm bisher unbekanntes Land kartografisch auf, aktualisiert eine Landkarte und sammelt Bilder, um diese neue Landkarte damit zu füllen. Dabei wird der Blick des Westlers auf den Osten auch als kolonialistischer Blick lesbar, der sich dem Unbekannten annähert und sich dieses einverleiben möchte. Die Orte und Häuser werden zur Ware, die man kaufen und sich aneignen kann, genauso wie man der Schönheit und des besonderen Charmes im kartografischen Verfahren habhaft werden kann. Görlitz wird als „unglaubliche[r] Tagtraum“ (WB 86) beschrieben und damit den Bereichen Deutschlands zugezählt, denen erst im kartografischen Verfahren zu einem verlässlichen Wirklichkeitsstatus verholfen werden muss. Der Reisetext bringt diese unbekannten Orte in Erfahrung und macht sie sichtbar, indem er sie auf seiner Karte einzeichnet. Damit werden sie zugleich verfügbar und können mit bestimmten Bildern ausgestattet werden. Der Text zeigt in der Passage über Görlitz, dass diese Projektion von Images immer auch

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eine konkrete ökonomische Seite hat. So werden die Altstadt-Häuser gerade deshalb zu attraktiven Kaufgegenständen, weil sie als Teil der „unfassbar heile[n] Stadt“ (WB 85) zugleich ein verlorenes und damit ein ursprüngliches, ‚wahres‘ Deutschland repräsentieren. Das Begehren nach diesem ‚heilen‘ Deutschland wird als „Schmerz, der lange taub war“ (WB 86) durch den Anblick der Stadt und damit ihres Images aktiviert und kann, so zeigt es der Textausschnitt, instrumentalisiert werden, um Kaufentscheidungen herbei zu führen.

3.2 Deutschland ganz: Eintauchen, Eindringen Anders als die ostdeutschen Orte, denen der Erzähler als Entdecker begegnet, sind die westdeutschen Orte scheinbar von vornherein fest auf der Landkarte und damit in der Wirklichkeit des Erzählers verankert: Ich kam nach Lindau am Bodensee, und alles war wieder da, alles war noch an seinem Ort. Westdeutschland war noch da. Kein Wunder, es war nie fort gewesen. Ich war fort gewesen, und nun lief ich durch dieses Lindau und stand vor lauter Dingen deren schieres Nochdasein mich rührte wie die unverdiente Treue einer vergessenen Geliebten. Ich war nicht von hier, ich war sogar zum ersten Mal in Lindau, trotzdem war es eine Art Heimkehr. Lindau war so real. (WB 191)

Wie auch in dem zitierten Textausschnitt erhält Lindau in diesem Kapitel von Deutschland, eine Reise wiederholt eine Stellvertreterfunktion für ‚den Westen‘.34 Der Erzähler in Büschers Deutschland, eine Reise vergleicht die sentimentalen Gefühle, die sich bei seinem Besuch in Lindau einstellen, mit der Rührung durch „die unverdiente Treue einer vergessenen Geliebten“ (WB 191). Das Lindau-Kapitel ist zum großen Teil der Schilderung einer Begegnung und dem daraus folgenden kurzen Flirt im Café mit einer Frau gewidmet, die den Erzähler an eine frühere Freundin erinnert. Die Frau wird dabei wie Lindau selbst als Repräsentantin Westdeutschlands lesbar, eines bürgerlichen Westdeutschlands, das der Vergangenheit – des Erzählers wie Deutschlands – angehört. Die Fremde im Café wird analogisiert mit der Stadt Lindau, die der Vergleich mit einer ehemaligen Geliebten ebenfalls als Frau personifiziert. Durch beides erhält die Reiseerzählung eine erotische Färbung, die auf eine Begehrensstruktur aufmerksam macht. Mit der Stadt als Frau bzw. als Geliebte zitiert

 Beispielsweise: „Selbst der Unernst des Westens, seine ewigen Kinderspiele, es rührte mich plötzlich an wie eine liebe Marotte.“ (WB 191 f.) Oder: „Passivhausen musste ein Spiel sein, das sich der Westen nach meinem Fortgang ausgedacht hatte.“ (WB 192)

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der Text eine bekannte Allegorie35 und lässt dadurch ein metaphorisches Liebesverhältnis entstehen, das dem reisenden Erzähler die Rolle des Liebhabers zuweist. Da Stadt und Frau hier zugleich für das westliche Deutschland stehen, erzählt die Deutschlandreise mit dem Begehrensverhältnis zwischen Reisendem und Stadt zugleich von einem Begehren zwischen Reisendem und Land. ‚Der Westen‘, von dessen „Nochdasein“ (WB 191) sich der Text überzeugt, wird damit zu einem Deutschlandentwurf, auf den sich das Selbstbild des Erzählers bezieht. In der Allegorisierung als Geliebte setzt der Text diese Beziehung als ein narratives Bild, eine erweiterte Metapher, um. Die Allegorie bringt einen abstrakten Zusammenhang, hier Westdeutschland, auf den Begriff, indem sie ihn in ein konkretes Bild kleidet. Als weibliche Allegorie wird Westdeutschland hier jedoch nicht nur konkretisiert und visualisiert. Die Allegorisierung enthält zugleich den Aspekt des verfügbar Machens oder Unterwerfens, denn der Erzähler macht diese weibliche Figur zum Gegenstand seiner Fantasie, zu seiner Geliebten. Die Beziehung zwischen Reisendem und Reiseland wird auch an anderen Stellen im Text als Begehrensverhältnis gestaltet. Bereits der Prolog, der dem ersten Kapitel vorangestellt ist und somit eine hervorgehobene Funktion hat, konnotiert die Deutschlandreise als erotisches Unterfangen. Der Beginn der Deutschland-Umrundung wird als Akt des Eindringens lesbar. Die Reise wird mit einem ganzkörperlichen Eintauchen eröffnet. Der Erzähler beschreibt, wie er den Rhein durchschwimmt. Der Rhein wird dabei als symbolisch aufgeladener Ort angesprochen36: „Man sagt, über dem Niederrhein liege ein mystisches Licht.“ (WB 9) Mit dem Rhein als Ausgangspunkt für die Deutschlandreise ist hier nicht irgendein Fluss angesprochen. Der Rhein ist wie kein anderer deutscher Fluss immer wieder Gegenstand literarischer, politischer und patriotischer Vereinnahmung geworden.37 Eine Deutschlandreise hier beginnen zu las Die Analogisierung von Stadt und weiblichem Körper in literarischen Städtebildern, in Gründungsmythen und Städteallegorien als eine topographische Geschlechterkonstellation hat Sigrid Weigel ausführlich nachgewiesen in: Sigrid Weigel, Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei Hamburg 1990, insbesondere S. 149–229.  Schaefers und Müller heben am Beispiel dieser Textstelle hervor, dass hier stilistische und motivische Anleihen bei der romantischen Literatur gemacht werden. Vgl. Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde, S. 143; Müller, Reiseprosa zwischen erlebter und erfundener Erfahrung, S. 220.  Vgl. Susanne Kiewitz, Poetische Rheinlandschaften. Die Geschichte des Rheins in der Lyrik des 19. Jahrhunderts, Köln 2004; Herfried Münkler, Weinseligkeit und Kriegsgeschrei. Rheinmythen und Mythen am Rhein. In: Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 389–410; Nikolaus Gussone, ‚Deutscher Bildersaal‘. Ein Versuch über Bildprägungen im kulturellen Gedächtnis der Deutschen. In: Gössmann, Roth, Poetisierung – Politisierung, S. 243–269.

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sen, ruft ihn als „Symbollandschaft[ ] der Deutschen“ 38 in Erinnerung. Das Durchschwimmen des Rheins am Anfang von Büschers Deutschland, eine Reise lässt sich zum einen als ‚Sprung ins kalte Wasser‘ verstehen, mit dem der Erzähler sich der Auseinandersetzung mit ‚dem Deutschen‘ stellt. Zugleich wird das Schwimmen im Rheinstrom als sexueller Akt lesbar: Ich zog mich hastig aus, Hemd, Hose, Schuhe […] Es nahm mir den Atem. Noch nie war ich in solcher Eiseskälte geschwommen, in einem so großen Fluss. Ich spürte seine Gewalt. Nicht die Maschinengewalt des Meeres, das Welle um Welle auswirft mit der Sturheit einer Fabrik – es war ein gurgelndes Ziehen, leise, aber unerbittlich. […] Ich suchte mir einen Punkt am Ufer, auf den ich zuhalten konnte, der mich zog. Einen der drei Türme der kleinen Stadt: den achteckigen Kirchturm rechts, den stumpfen vor mir oder den hohen, dünnen Schlot ganz links. „Oelwerke Germania“ stand darauf. Bei jedem Zug merkte ich’s in den Armen, wie schwer sie mir wurden: wie wenn im Traum ein unheimlicher Magnet die Glieder lähmt. Die Zeit läuft ab, schoss es mir durch den Kopf, die Lücke schließt sich wieder, die Strömung wird dich unter den nächsten Frachter schieben. Ende. […] Auf einmal wurde mir warm. Nein, heiß. Der furchtbare Magnet ließ von mir ab. Die Kälte war noch da, aber sie war nicht mehr in mir. Geschmeidig war jetzt der Rhein, fast ölig, er griff sich gut. Zug um Zug tauchte ich ein, glitt nach, drang wieder ein – ich schwamm. Die Türme am Ufer waren ein gutes Stück nach rechts gerückt, stromaufwärts. Nur die Germania konnte ich noch ansteuern. Sie erglühte in diesem Moment von der Spitze her. Das Licht kam wieder, es entzündete sie, bald brannte der ganze Schlot. Der Himmel brannte. […] Jetzt brannten auch die anderen Türme, die ganze Stadt brannte. Jetzt glühte der Fluss. Ich trieb in purem Gold. (WB 9–11)

Bereits durch die motivische Bezugnahme auf Richard Wagners Rheingold erhält der Textausschnitt einen erotisch gefärbten Subtext; ist das Wasser des Rheins doch der Bereich der verführerischen Rheintöchter. Die anziehende und zugleich tödliche Gefahr des Stroms, die der Erzähler hier als Erfahrung am eigenen Leib beschreibt, lässt zudem an den Mythos von Loreley denken. Mit Loreley, der schönen Verführerin, die die Schiffer den Tod im Rhein finden lässt, ist der sicherlich bekannteste Rhein-Mythos angesprochen und zudem ein prominentes Beispiel für die politische Indienstnahme für deutschnationale Interessen.39 Deutschland, eine Reise beginnt also mit dem Eintauchen des reisenden Erzählers in einen Fluss, der mit weiblicher Verführung konnotiert und zugleich deutsch-nationaler Symbolkraft aufgeladen ist. Verstärkt wird dies durch die Bezugnahme auf Germania und damit der Frauenfigur, die  Gussone, Deutscher Bildersaal, S. 260.  Vgl. Katja Czarnowski, Die Loreley. In: Etienne Francois, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 488–502.

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im neunzehnten Jahrhundert als Personifikation der deutschen Nation Karriere machte.40 Germania wird hier – in Form des Schriftzuges am Schlot eines Ölwerks – zum Zielpunkt, zu dem, das der Erzähler mit vollem Körpereinsatz zu erreichen sucht. Der Rhein, mehrfach weiblich konnotiert und mit Mythen des Deutschen in Verbindung gesetzt, wird überwunden, das andere Ufer und damit Germania erreicht und eingenommen. Mit dieser als gelingender Liebesakt gezeichneten Eroberung Deutschlands beginnt Deutschland, eine Reise. An anderer Stelle wird „das Land“ geradezu als bereitwillige Geliebte figuriert: Beim Anflug auf Bremerhaven sah ich das Land, wie ich es noch nie gesehen hatte. Wie es sich öffnete und die Weser die Ufer spreizte. Ich wäre gern weitergeflogen. Aber wir sanken, und dann landeten wir. (WB 39)

Solchermaßen wird Deutschland hier zu einem mit märchen- bzw. sagenhaften Elementen ausgestatteten Raum, der personifiziert und sexualisiert wird als begehrte Frau. Als eine solche Geliebte wird Deutschland auf der Reise entlang der Grenzen nicht nur umkreist und umworben, sondern von einem Entdecker in Besitz genommen. Deutschland, eine Reise gestaltet ein Begehren nach einem Deutschland, das sich ‚als Ganzes‘ festlegen lässt. Ein solches Ganzes entwirft der Text, wenn er Deutschland mittels der Kartenzeichnung definiert und nicht nur zugänglich, sondern verfügbar macht. Dieses verfügbar zu machende Deutschland wird zudem als Frau allegorisiert, zu der der Erzähler sich in eine Beziehung setzen kann. In dieser Relation des Reisenden zum bereisten Land entwirft sich der Erzähler als männliches, überlegenes Subjekt.

4 Mental mapping – Roger Willemsen, Deutschlandreise 4.1 Der Augenzeuge lügt Roger Willemsens Deutschlandreise ist auf der ersten Textseite ein Motto vorangestellt: „Er lügt wie ein Augenzeuge. (Russisches Sprichwort)“ 41. Damit gibt der Text bereits eingangs zwei Hinweise auf sein scheinbar paradoxes Verfah-

 Vgl. Bettina Brandt, Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne, Göttingen 2010.  Roger Willemsen, Deutschlandreise, Frankfurt a.M. 2002, S. 5. Im Folgenden mit Seitenzahlen im Text zitiert als RW.

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ren. Die Augenzeugenschaft 42 bürgt üblicherweise für Authentizität. Diese bezeugte Wahrhaftigkeit wird durch die Lüge jedoch durchgestrichen oder zumindest in Frage gestellt. Das Motto präsentiert den Text als Bericht eines Beobachters, eines Dabeigewesenen und stellt ihn zugleich als Fiktion aus. Dem Bericht des Augenzeugen ist gerade aufgrund seiner Subjektivität stets zu misstrauen. Der Augenschein ist nicht unbedingt ‚die Wahrheit‘. Der Gestus der Subjektivität prägt die Erzählweise des Textes. So wird die Reiseroute nicht explizit gemacht. Zum Teil ist es schwer oder unmöglich, die Namen der Orte, von denen erzählt wird, auszumachen. Der Text enthält wenige ‚Orientierungsmarker‘, verzichtet zum Beispiel auf eine Kapiteleinteilung oder Überschriften und nähert sich dadurch einem stream of consciousness-Verfahren an. Der Text bietet dieser Erzähltechnik zufolge keinen ‚roten Faden‘ im Sinne einer Reiseschilderung mit Aufbruch, Aufsuchen ausgewiesener Ziele und Ankunft. Stattdessen präsentiert sich die Reise als Reihung von Beobachtungen an scheinbar willkürlich aufgesuchten und nicht immer benannten Orten, der Wiedergabe von möglicherweise geführten, belauschten oder ausgedachten Gesprächen und der assoziativen Einfügung von Anekdoten und Geschichten. Diesem Erzählverfahren folgend wird über Deutschland konsequent aus dem Augenzeugen-Blick erzählt: Beschrieben wird nur, was in den Fokus dieses Blicks gerät. Deutschland wird auf diese Weise nicht als vorab objektiv existierender Raum entworfen, der durchschritten oder – wie bei Büscher durch seine Grenzen – abgesteckt werden kann. Deutschland als Zielland der Reise erhält vielmehr einen unsicheren, vom Standpunkt des Erzählers abhängenden Status, wie bereits der Anfang von Willemsens Deutschlandreise zeigt: Ich sitze im Zug und fahre weit weg. Nach Deutschland. Oder besser zu den so genannten „Menschen draußen im Lande“. Aber wo ist das? Deutschland ist irgendwo oder nirgendwo oder überall: Dieselben Glasbausteine in der Fassade, dieselben gestuft angebrachten Hausnummern, dieselben Garagen […] Lauter Andere und Gleiche, alles anders und gleich, die Sorge, die Liebe, die Einzelhaft. In Deutschland nach Deutschland zu reisen, das ist die Exkursion zu einer Fata Morgana. Am schönsten ist das Land als Versprechen, weit weg. Ein Weiler unter der Hügellinie, drei rote Dächer und eine Birke, ein Windstoß in den Sträuchern und eine Frau, die zum Wäscheaufhängen unter die Bäume tritt. Gute Menschen, die Milch aus zottigen Viechern melken und vor dem Essen beten. Das unausrottbare Schöne, doch, das gibt es, aber man darf ihm nicht zu nahe kommen. Vergessen seien die Vorstellungen und Einbildungen, vergessen die böse und spießige, die sentimentale und gründliche, die brütende und metaphysische Nation! Deutschland

 Zur Zeugenschaft in der Literatur siehe: Cornelia Blasberg, Zeugenschaft. Metamorphosen eines Diskurses und literarischen Dispositivs. In: Barbara Beßlich, Katharina Grätz, Olaf Hildebrand (Hg.), Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006, S. 21–33.

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ist alles, was zwischen neun Landesgrenzen die Netzhaut belichtet. Wer braucht mehr? (RW 5 f.)

Die Deutschlandreise „in Deutschland nach Deutschland“ ist hier als unmögliches Unterfangen benannt, als „Exkursion zu einer Fata Morgana“ (RW 5). Deutschland wird dabei zu einer Illusion mit unbekanntem Ort, das sich nicht in einer äußeren Wirklichkeit lokalisieren lässt. Der einzige Zugang ist der des Augenzeugens: „Deutschland ist alles, was zwischen neun Landesgrenzen die Netzhaut belichtet“ (RW 5). Mit dem Bezug auf die Belichtung der Netzhaut bezeichnet Willemsens Reiseeröffnung den Raum, in dem Deutschland verortet wird, als den Innenraum der optischen Wahrnehmung. Deutschland liegt ‚im Auge des Betrachters‘. Die Begegnung mit Deutschland geschieht dort und ist nur dort ablesbar – zugleich ist sie damit vermeintlich nicht objektivierbar.

4.2 Deutschland gibt es nicht Die Reiseroute, die Willemsens Reisetext vorlegt, erhält damit den Status einer mental map, einer ‚Karte im Kopf‘. Als Begriff aus der Wahrnehmungsgeographie und Kognitionspsychologie konzeptionalisiert die mental map oder auch kognitive Karte die mentale Repräsentation geographischer Zusammenhänge.43 Vielversprechend für den Kontext dieses Kapitels sind insbesondere diejenigen Konzeptionen von mental mapping, die nicht nach dem Verhältnis der kognitiven Karten zu den konventionellen Kartografien fragen, sondern die die mental map als Möglichkeit der Infragestellung eines vermeintlich objektiven Status von Raum und räumlicher Ordnung begreifen.44 Das Konzept der mental map betont, dass Raum als maßgeblich durch seine Repräsentation konstituiert

 Vgl. dazu: Kevin Lynch, Das Bild der Stadt, Gütersloh u. a. 1968; Roger M. Downs, David Stea (Hg.), Image & Environment. Cognitive Maps and Spatial Behavior, New Brunswick u. a. 2006 [1973]. Als Überblick und für die Möglichkeit sozial- bzw. kulturwissenschaftlicher Anschlüsse vgl.: Andreas Langenohl, Mental maps, Raum und Erinnerung. Zur kultursoziologischen Erschließung eines transdisziplinären Konzepts. In: Sabine Damir-Geilsdorf, Angelika Hartmann, Béatrice Hendrich (Hg.), Mental Maps – Raum – Erinnerung. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung, Münster 2005, S. 51–69; Mohnike, Imaginierte Geographien, S. 16–22. Ein anschauliches Beispiel für eine mental map liegt etwa mit Saul Steinbergs berühmter Zeichnung View of the World from 9th Avenue von 1976 vor. Hier vergrößert die Weltsicht eines typischen New Yorkers die Dinge des unmittelbaren alltäglichen Umfelds und der persönlichen Erfahrung. Somit wird eine Geographie repräsentiert, deren Realitätsgehalt sich nur an einem subjektiven Standpunkt ausrichtet.  Vgl. Langenohl, Mental maps, Raum und Erinnerung, S. 52.

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betrachtet werden kann. Die Möglichkeit einer objektiven Repräsentation geographischer Zusammenhänge wird damit grundsätzlich in Zweifel gezogen und in ihrer Abhängigkeit stets auch von hegemonialen Verhältnissen begreifbar.45 Die mental map als heuristisches Modell verstanden zielt also auf das wirklichkeitskonstitutive Potential imaginärer Räume ab. Mit der mental map liegt ein Instrument vor, mit dem – vermeintlich – der Zugriff auf individuelle Raumwahrnehmung gelingt; ein Instrument also, das Aufschluss darüber verspricht, wie sich ein Subjekt im Raum verortet. Insofern ist das mental mapping eng verbunden mit einem Subjektbegriff, der in dieser Arbeit gerade in Frage steht, insofern, als es darum geht, mit dem Imaginären die Dynamiken der Identifizierung beschreibbar zu machen. Das Imaginäre operiert stets über Bilder. Wenn das Textverfahren mit der mental map verglichen und beschrieben wird, geht es hier auch um die Produktion von Bildern, da die mental map als bildliche Darstellung der Raumwahrnehmung zu verstehen ist. Wie kommt die radikal subjektive Erfahrung von Deutschland, die sich als solche ja der Vermittlung entzieht, im Text als mental map zur Repräsentation? Welches Verhältnis von einzelnem Subjekt und Kollektivsubjekt entsteht dabei? Wie lässt sich also die Beziehung zwischen dem Reisenden, dessen mental map nachvollzogen wird, und Deutschland beschreiben, das im Text entworfen wird als etwas, an das ein ‚Wir‘ anschließen kann? Der strikt subjektive Erzählgestus von Willemsens Deutschlandreise lässt sich mit dem Konzept der mental map näher beschreiben, da auch hier Raum – ausgestellt als lediglich subjektive Wahrnehmung – verfügbar gemacht wird. Die Reiseschilderung besteht aus vielen Einzelbeobachtungen und lässt keinen Gesamtentwurf eines Ganzen zu – schon allein, weil nicht alle Orte nachvollziehbar kenntlich gemacht sind. In der Zusammensetzung der Einzelbilder ergibt sich ein fiktionaler Raum ‚Deutschland‘, in dem einzelne Aspekte plastisch hervortreten, andere Stellen leer bleiben und der sich somit nicht mit einer üblichen Landkarte Deutschlands abgleichen lässt. Im Weiteren sollen anhand ausgewählter Textstellen aus Willemsens Deutschlandreise die Entwürfe von Deutschland, die mittels der als mental mapping beschreibbaren Erzählweise eine Subjektivität, Individualität und damit auch Ausschließlichkeit für sich beanspruchen, genauer untersucht werden. Welche Orte werden auf der mental map eingetragen? Halten die Bilder, die dabei genutzt werden, tatsächlich dem Anspruch der Subjektivität stand oder sind sie vielmehr

 Vgl. Sabine Damir-Geilsdorf, Béatrice Hendrich, Orientierungsleistungen räumlicher Strukturen und Erinnerung. Heuristische Potentiale einer Verknüpfung der Konzepte Raum, Mental Maps und Erinnerung. In: Damir-Geilsdorf, Hartmann, Hendrich (Hg.), Mental Maps – Raum – Erinnerung, S. 25–48, insbesondere S. 38–40.

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gerade deshalb anschlussfähig, da sie ebenso in die mental map vieler anderer passen könnten und in diesem Sinne also die mental map eines ‚Kollektivsubjekts‘ zeichnen? Wie eine mental map die Orte in einer subjektiven Relation zueinander verzeichnet und keine ‚realen‘ Gegebenheiten wiedergibt, nimmt auch Willemsens Deutschlandreise zum Teil sehr subjektive Verortungen vor. So führt die Fahrt zu den Rügener Kreidefelsen ins Kinderzimmer des Erzählers. Der Besuch des berühmten Ausflugsorts auf der Insel Rügen schildert nicht das Erlebnis der Landschaft, sondern bezieht sich unmittelbar auf bestimmte vorgeprägte Bilder: Wir reisen in mein Kinderzimmer. Warum eine Reproduktion vom „Kreidefelsen auf Rügen“ dort hing, weiß ich auch nicht und mehr als die Schlucht, der dichte Wald, das irisierende Meer beschäftigte mich damals der Greis auf den Knien, der in die Tiefe zu straucheln schien. „Übersteigen verboten. Rutschgefahr“, ist die Antwort. Sie schützt heute das Geländer. (RW 32)

Die Kreidefelsen werden hier also in einen Raum der Kindheit und damit in einen Raum des subjektiven Erlebens und der individuellen Biografie verlegt. Zugleich jedoch begegnet der Text den Kreidefelsen mittels der Bezugnahme auf das bekannte Gemälde von Caspar David Friedrich. Der Ort, der für den Erzähler in seinem eigenen Kinderzimmer liegt und dadurch mit seiner Biografie verbunden ist, ist ebenso für viele andere Menschen mit persönlicher Bedeutung aufgeladen: „Busladungen kommen und gehen, keine ohne den Satz: ‚Das muß man mal gesehen haben.‘“ (RW 32) Die Kreidefelsen bilden einen der Reiseorte in Deutschland schlechthin und als solcher wird er immer wieder neu für Bilder in Anspruch genommen: „Mal fotografieren sie von dieser, mal von jener Ecke.“ (RW 33) Die Kreidefelsen sind somit offensichtlich auf einer Vielzahl von mental maps als scheinbar privater Ort verzeichnet. Die Bilder, die sich damit verbinden, sind nicht individuell. Ganz im Gegenteil verknüpft der Text die Kreidefelsen mit verschiedenen Attributen, die mit bestimmten Deutschlandbildern46 zusammenhängen: Es steht ein Wald da wie bei Böcklin oder Wagner, aber viel Kreide sieht man nicht. Man steht auf ihr. Auch liegt kein Segelschiff im Meer, nur ein Tanker passiert, und das Meer ist nicht blau, bloß in Atemnot. Romantisch wirkt einzig der vom Blitz getroffene, abgebrochene Baum in der Wand. Die Stimmung ist trotzdem erhaben. (RW 32)

 Gussone, Deutscher Bildersaal führt Bildbeispiele auf, die den ‚Bildersaal‘ eines deutschen kollektiven Gedächtnisses ausstatten. Auch wenn Caspar David Friedrichs Kreidefelsen auf Rügen hier nicht angeführt werden, lässt sich das Bild doch in diesem Sinne verstehen.

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Die Aussicht auf die Landschaft wird mit dem Gemälde von Friedrich abgeglichen, sein Bild ist jedoch nicht der einzige Referenzpunkt. Weitere Namen und Schlagworte verweisen auf die Vorstellung von Deutschland als Land der Romantik und des Romantischen. Dass es ausreicht, bestimmte Schlagworte zu nennen, um die damit verbundenen paradigmatischen Deutschlandbilder aufzurufen, betont noch einmal, dass es sich dabei um tradierte kollektive Vorstellungen handelt. Die Chiffre ‚Wald‘ beispielsweise transportiert bereits ihre Konnotation als Gegenstand der romantischen Natursehnsucht wie Heimstatt der deutschen Seele, Ort der ‚deutschen Eiche‘ als Nationalsymbol sowie als Bezugspunkt für Zivilisationskritik und ökologische Bewegung (Stichwort ‚Waldsterben‘).47 Die Reise in Deutschland wirft den Reisenden also auf genau solche allgemeinen „Vorstellungen und Einbildungen“ über die „böse und spießige, die sentimentale und gründliche, die brütende und metaphysische Nation“ (RW 6) zurück, von denen er sich am Beginn der Reise losgesagt hatte. Dabei gilt es zu betonen, dass der Referenzpunkt für diese Vorstellungen nicht die eigentliche Landschaft darstellt, sondern die Bilder – Gemälde ebenso wie Vorstellungsbilder –, die von diesen Orten zirkulieren. Erst diese Bilder statten den Ort mit einer nationalen Bedeutung aus. Die genauere Betrachtung des Ortes, an den sich diese Zuschreibungen knüpfen, zeigt, dass ein Abgleichen der Bilder aus Vorstellung und Augenschein nicht möglich ist. Das Bild aus der Kindheit, das bekannte Gemälde und Referenzpunkt für die Rügenreisenden, findet sich in der Realität nicht wieder: Nur den Blick, den Caspar David Friedrich malte, gibt es nicht. Was er festhielt, ist aus drei Perspektiven synthetisiert, montiert, dann wurde noch ein Felsen hineinkopiert. Keine Abbildung also, eine Erfindung! (RW 33)

Verwiesen wird damit auf den fiktiven Status bzw. Konstruktionscharakter derjenigen Bilder und Bilderorte, die sich im Bestand des kulturellen Archivs befinden und auf die sich die kollektive Identifizierung bezieht. Die Kreidefelsen auf Rügen erweisen sich als unauffindbar, als künstlerisches Konstrukt und somit wiederum als Repräsentation einer mental map. Als paradigmatisches Deutschlandbild ist es also Teil des Imaginären und damit derjenigen Dynamik, die beständig Bildentwürfe entwickelt und der Identifizierung anbietet. Dieses Deutschland, das Willemsens Deutschlandreise entwirft, ist als durchreiste Landschaft nicht einfach ‚naturgegeben‘ da, sondern erscheint als

 Vgl. Albrecht Lehmann, Der deutsche Wald. In: François, Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, S. 187–200. Vgl. auch den Abschnitt „Deutscher Wald und deutsche Freiheit“ in: Gussone, Deutscher Bildersaal, S. 258–260.

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Produkt künstlerischer Techniken und zugleich als ‚künstlich‘, als Zitat bereits bestehender Vor-Bilder: Der sagenhafte Ort, an dem die Ausläufer des Bayerischen auf die des Oberpfälzer Waldes treffen: Hier hat der Pinsel die Natur mit breitem Strich aufgetragen, die geschwungenen Waldeslinien vor den pastos abgesetzten Äckern, dem lasierten Grün der frischen Wiesen, mit Höfen, wie sie ein Miniaturmaler mit erhabenen Pünktchen auftragen würde. Inbegriff der Landschaft, und doch wirkt die Natur kaum naturgetreu, und ihre Farbe ist eigentlich nur Dekoration. Diese Landschaft ist eine Form, Struktur oder Wellenschlag, sie besitzt den Rhythmus eines Faltenwurfs in alten flämischen Gemälden. Auch haben die Farben eine andere Rezeptur, das Sepia der trockenen, das Umbra der frisch gepflügten Äcker unter dem Strahlenglanz des blauesten, des Fujichromat-Himmels. Kaum verändert sich die Beleuchtungssituation, das Firmament wird trüb, so reist man in das Negativ einer Landschaft hinein, die bald im Nebel so feinkörnig wird, als zerfiele sie in lauter Rasterpunkte. Nein, wirklichkeitsgetreu wirkt sie hier nicht, die Wirklichkeit. (RW 149 f.)

Die Landschaft, die den Erzähler an bekannte Gemälde erinnert, wird als Kopie wahrgenommen, als bildtechnische Illusion. Eine Deutschlandreise als Entdeckungsreise, auf der originelle Erfahrungen gemacht werden, scheint hier nicht möglich. Die Orte und Landschaften geben sich als Bilder zu erkennen, sind stets schon in bestehende mental maps eingezeichnet und so bleiben keine ‚weißen Flecken‘ auf der Landkarte zu entdecken. So wie der Augenschein keine authentische Erfahrung ermöglicht, ist auch die persönliche Erfahrung, die mit der beschriebenen Landschaft verbunden ist, nicht individuell, sondern als Erfahrung einer Generation, eines kollektiven ‚Wir‘ gekennzeichnet: „Wackersdorf hat einer ganzen Generation geholfen, erwachsen zu werden“ (RW 150). Der Erzähler sucht einen weiteren Schauplatz seiner Biografie auf. Mitte der 1980er Jahre hat er sich an den Protesten gegen die geplante Wiederaufbereitungsanlage für Brennstäbe aus Atomkraftwerken in Wackersdorf beteiligt. Das Aufsuchen des vermeintlich ganz persönlichen Erinnerungsorts zeigt, dass diese individuelle Erinnerung stets schon in der kollektiven Erinnerung vorgeformt ist. Roger Willemsens Deutschlandreise behauptet mit der mental map einen subjektiven Zugriff auf Deutschland und den Versuch, ein individuelles Bild von Deutschland in eine persönliche Karte zu zeichnen. Es zeigt sich jedoch, dass diese Karte stets bereits vorgezeichnet ist, dass bereits vorgeprägte Bilder die Bildentwürfe strukturieren. Ein objektivierbares Deutschland im Sinne eines ‚neutralen‘ geografischen Raums wird in Willemsens Deutschlandreise negiert. Das Verfahren des Textes zeigt den Raum, der bereist wird, als Raum, der erst durch bestimmte kulturelle Techniken entsteht und von bildlichen Vorstellungen überlagert ist. So ist auch die Fahrt Richtung Dresden „der Versuch, jene Kulisse wieder zu finden, in der ich damals den zweiten Schub der

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Vereinigung erlebte, eine Kulisse, die noch existiert und trotzdem verschwunden ist“ (RW 44). Auch der hier durchreiste Raum ist also in erster Linie Erinnerungsraum. Wo diese Anknüpfungen von persönlichen und zugleich kollektiven Erinnerungen oder Assoziationen nicht gelingen, lassen sich die Orte nicht richtig fassen. Magdeburg beispielsweise kann der Erzähler in der Ansammlung von „Shopping Mall“, „Einkaufszeile“, „Ladenpassage“ und „Einkaufszentrum“ (RW 57) nicht finden: „Die Wahrheit ist, es gibt nur Einkaufsmeilen. Die Stadt ist eine Luftspiegelung, auf die ich ewig zugehen könnte, ohne sie je zu berühren.“ (RW 57) Magdeburg, das für den Erzähler gesichtslos bleibt, existiert also auf der mental map des Textes als ein Eintrag, der sich nicht mit bestimmten Bildern füllen lässt. Magdeburg, von dem der Erzähler nur einen Aspekt sieht, bleibt anonym und bietet sich nicht an für die paradigmatischen Deutschlandbilder. Auf ähnliche Weise misslingt es Willemsens Deutschlandreise, Moers „zu Papier“ zu bringen: Ich sitze in einer Gaststätte in Moers und suche nach Sätzen über Moers. Das dauert. Immer wenn ich den Kopf hebe, sehe ich in die Augen von Wladimir Putin oder Bahnchef Mehdorn, dann Medikamente, Zwieback, Autoreifen. Ich streiche. Wenn ich den Kopf nicht mehr hebe, bis ich den Satz habe, dann kriege ich Moers zu Papier, bevor ich hier rausgehe. Die Kellnerhose berührt fast die Tischkante. „Nein, danke.“ Die Kellnerhose zieht sich zurück. […] Kein Satz über Moers. (RW 79 f.)

Willemsens Text lässt einzelne Orte punktuell plastisch hervortreten und liefert statt eines Gesamtbildes eine fragmentarische Repräsentation Deutschlands. Dieses Bild behauptet keine objektive Landkarte zu sein, sondern präsentiert die Reise als einen subjektiven Zugang. Ein homogener Raum, der Entwurf eines großen Ganzen, der in der Lage ist, Deutschland zu fassen und abzubilden, wird damit scheinbar gar nicht erst angestrebt. An die punktuell hervortretenden Orte der mental map werden jedoch allgemein bekannte, tradierte Deutschlandbilder geknüpft. Über den punktuellen Zugang werden also durchaus homogene Bilder entfaltet. Willemsens Reise stellt seinen vermeintlich subjektiven Gestus aus; das Deutschland, das dabei gezeichnet wird, ist deshalb jedoch nicht weniger ‚real‘ und allgemeingültig als etwa eine Karte im Straßenatlas – die Repräsentationsform richtet sich hier nur an einem anderen Maßstab aus. Der Text arbeitet mit paradigmatischen Deutschlandbildern, behauptet diese jedoch als subjektive Bilder einer individuellen Erfahrung. Das Subjekt, das hier reist und das diese Bilder als seine ganz eigenen präsentiert, lässt sich damit als ein ‚deutsches Subjekt‘ lesen. An der Dynamik der imaginären Identifizierung dieses Subjekts, so zeigt sich, ist eine Vielzahl von unterschiedlichen Deutschlandbildern beteiligt.

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5 In Deutschland nichts Neues Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels festgestellt, halten sich die Deutschlandreise-Texte nicht an die übliche Gattungskonvention des Reiseberichts: Sie ziehen nicht in die Fremde. Stattdessen gilt die Reise der Erkundung des eigenen Landes, der „Unheimlichkeit des scheinbar Vertrauten“ 48. Damit scheint zugleich impliziert, dass es im Zielland etwas zu erkunden gibt, ein nichtvertrautes Terrain, das Unbekanntes oder Unsicheres bietet, dem sich reisend angenähert und dessen sich zugleich versichert wird. Insofern kann die Deutschlandreise als eine Erfahrung im zweifachen Sinne angesehen werden – als Bewegung, mit der eine Strecke zurückgelegt bzw. ein bestimmtes Gebiet bereist wird und zugleich als Erwerb von Wissen und Ausbildung von Erkenntnis.49 In Bezug auf Büschers Deutschland, eine Reise lassen sich diese Annahmen bestätigen. Büschers Deutschlandreise ‚entdeckt‘ das vereinigte Deutschland und bringt seine Grenzen – und damit zugleich die Nicht-Existenz der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze – in Erfahrung. Indem die Grenzen nachvollzogen werden, wird das Bild von Deutschland stabilisiert. Auch Willemsens Deutschlandreise produziert eine Karte. Als mental map scheint diese Karte auf den ersten Blick in besonderer Weise einen subjektiven Blick auf Deutschland zu versprechen. Wie sich gezeigt hat, ist dieser subjektive Zugriff jedoch bereits überlagert von tradierten kollektiven Bildern. Abschließend wird nun, nachdem die Textverfahren der zwei KartografieTechniken untersucht wurden, ein kurzer Blick darauf geworfen, was die Texte auf ihren Deutschlandkarten einzeichnen. Die beiden Deutschlandreisen füllen ihre jeweiligen Landkarten trotz deren Unterschiedlichkeit auf vergleichbare Weise, nämlich zunächst mit allerhand Banalem und Alltäglichem. Über das bereiste Deutschland wird nichts Neues erzählt. Die Texte widmen sich der kleinteiligen Beschreibung des Gewöhnlichen. Erzählt wird, was es auf der Reise zu sehen gibt – und das ist oftmals das Durchschnittliche, das Provinzielle, der Alltag. Dinge, die es ansonsten selten in den ästhetischen Diskurs schaffen, werden hier zum Gegenstand der Erzählung50, indem sie als ‚typisch‘ erklärt werden. Dazu ein Beispiel aus Willemsens Deutschlandreise:  Alexander Honold, Gute Reise oder: Von der unendlichen Sehnsucht nach Selbstfindung. Reisen als Erzählstoff und Kulturtechnik. In: Literaturen, 7/8, 2004, S. 8–12, S. 10.  Vgl. Arnd Bauerkämper, Hans Erich Bödeker, Bernhard Struck, Die Aneignung der Welt: Reise als Erfahrung. In: Arnd Bauerkämper, Hans Erich Bödeker, Bernhard Struck (Hg.), Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt a.M. 2004, S. 14– 18.  „In der Vitrine des Bäckers von Twist lag ein letztes Käsebrötchen, in der Kühlvitrine stand ein rosa Getränk mit Erdbeergeschmack, das sicher sehr süß war. Der Laden war still wie das Dorf. Diese Stille hatte ich einmal gekannt, diese nachmittägliche Verlorenheit. […] Ich trat

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Über die Hügel und in die Wälder, über die Dörfer und in die Kleinstadt. Jeder Ort hat noch seine ‚gemütliche Altstadtkneipe‘ namens ‚Funzel‘ oder ‚Peters Klause‘, der Ramschladen heißt noch ‚Knüllers Kiste‘, der Trödelladen ‚Sammelsurium‘, die Änderungsschneiderei ‚Nähkorb‘. Die Denkmäler unter den Läden sind eine Generation älter und haben schon mal Mieder in der Auslage oder einen Styropor-Torso mit Feinripp-Exponaten. Wenn man Glück hat, heißen sie ‚Chevy – Für Sie und Ihn‘, oder ‚Robin Sport – Frech und zeitgemäß‘. Doch gleich daneben schlägt schon die Neuzeit zu mit dem ‚City Fit Studio‘ samt Kardiotraining, Ernährungsseminaren und dem angeschlossenen ‚Beauty-Nails‘-Laden. (RW 8 f.)

Die Reisebeobachtungen der beiden Deutschlandreisen ähneln sich auf zum Teil verblüffende Weise. Auch bei Büscher finden sich Aufzählungen von gewöhnlichen und dabei zum Teil absurden Geschäftsnamen wie „‚Kramkiste‘. ‚Fundgrube‘. ‚Discount‘. ‚Billigmarkt‘. ‚Resterampe‘. ‚Vietnamesischer Kleidungsmarkt‘.“ (WB 53) Auch Büschers Erzähler erwähnt, wie die Pensionen heißen, an denen er vorbeikommt – etwa „‚Waldesruh‘, ‚Waldfrieden‘ und ‚AltHeidelberg‘“ (WB 91) –, in beiden Büchern werden die Einrichtungen von Bistros, Steh-Cafés oder Restaurants detailliert geschildert und insbesondere Shopping-Center und Malls mit ihrer Anonymität faszinieren die reisenden Erzähler. Die bereisten Orte wirken aufgrund dieser Beschreibungen oft austauschbar – all dies könnte überall in Deutschland sein. Ins Bild rücken Szenen und Ansichten, die scheinbar ‚typisch‘ sind und eine ‚Normalität‘ abbilden. Indem sie als ‚typisch deutsch‘ konnotiert werden, kommt den detaillierten Schilderungen von Alltagsszenen und provinzieller Durchschnittlichkeit eine ähnliche Funktion zu wie den Orten, die durch wirkmächtige Traditionen mit ‚dem Deutschen‘ verbunden sind und welche die Erzähler auf ihrer Reise besuchen und in der Schilderung mit paradigmatischen Deutschlandbildern verknüpfen. Deutschland, das in diesen Texten als Raum angesprochen wird und offensichtlich allererst erfahren, definiert und festgelegt werden muss, wird mit vertrauten Bildern gefüllt. Dazu gehören konkrete Orte wie etwa die Kreidefelsen auf Rügen, der Rhein, der deutsche Wald im Allgemeinen oder der Schwarzwald im Besonderen, die Dresdener Frauenkirche, der Kölner Dom, Schloss Neuschwanstein, Bayern und die Alpen. Dazu kommen zudem auch eher abstrakte ‚Erinnerungsorte‘, die mittels der Reiseschilderung ebenso auf der deutschen Landkarte lokalisiert werden, wie z. B. die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust oder den Bombenterror des Luftkriegs. Auch die 68er-Protestkultur, der Mauerfall und die Ereignisse um 1989/90, aus dem Bäckerladen, aß mein Käsebrötchen auf einem Findling und trank den Rest Rosa.“ (WB 24)

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ebenso der Faust-Stoff und die Gemälde Caspar David Friedrichs erhalten einen ähnlichen Stellenwert. Auf eine vergleichbare Weise über die Wiedererkennung funktionieren auch die vielen detaillierten Alltagsbeschreibungen in den Deutschlandreisen. Für die Reisetexte, die diese Alltagsgegenstände und -szenarien aufnehmen, kann eine Sammeltätigkeit 51 festgestellt werden. Dinge des normalen Lebens werden aufgesucht, beschrieben und mit dokumentarischem Anspruch zu Paradigmen zusammengefügt. Dieses Text-Verfahren lässt sich analogisieren mit dem von Moritz Baßler als „Archivierungsarbeit“ 52 definierten Verfahren des Pop-Romans, für das Christian Krachts Deutschlandreise-Roman Faserland als „Gründungsdokument“ 53 gelten kann.54 Mit Krachts pop-fiktionaler Reise von Sylt südwärts durch Deutschland bis in die Schweiz kommt also etwas zur Welt, das nicht nur stilbildend für die nachfolgende Generation von Pop-Autoren sein sollte, sondern das ebenfalls in den aktuellen Deutschlandreisen wieder gefunden werden kann. Bezeichnen lässt sich dies als „erzählerischer Trick, der die Gegenwart, die man sonst bloß lebt, beobachtbar und reflektierbar macht“, als „enzyklopädische Archivierungsmaschine“ 55. „Das Inventar, durch das die Reise von Krachts Protagonisten führt, ist das der unmittelbaren

 Explizit als Sammelvorhaben stellt Axel Hacke im Vorwort sein Deutschland-Buchprojekt vor: „Also, die Idee war, ein Album über Deutschland anzulegen, mit Fotos, kleinen und größeren Geschichten, manchmal vielleicht nur einem Satz oder einem Bild, dann wieder etwas Längerem – so etwa. Man tut das ja mit der Familie auch, fotografiert die Kinder und die Alten, schreibt ein bisschen was dazu … Später schaut man alles an, lacht und staunt und ist gerührt und sagt: So war das. Hatte ich schon ganz vergessen. Das fängt ganz harmlos an, und doch dient es der Antwort auf die Fragen: Was macht uns eigentlich aus? Wie sind wir so geworden? Und was verbindet uns? Was ist trennend? Vielleicht ist es mal ganz nützlich, das eigene Land wie eine Familie zu betrachten […] Die man verstehen möchte, um sich selbst zu verstehen.“ (Axel Hacke, Deutschlandalbum, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 7.) Hacke legt seinen Text als Miniaturen-Album an. Die kurzen Texte mit Titeln wie Die zwei, Abfall, Ein Fensterputzer, Der Pfarrer, Das tote Schwein oder Der dicke Mann erzählen – eingeleitet durch Sätze wie „Das ist nun so ein deutsches Leben.“ (S. 23) oder „Immer im Sommer kommt die Zeit, da deutsche Männer Luftmatratzen in die Brandungen von Norderney oder Sylt bugsieren“ (S. 45) – scheinbar Exemplarisches und sind mit Fotos versehen, die ebenfalls Alltagsszenen abbilden (und, ja, auch ein totes Schwein).  Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002, S. 105.  Baßler, Pop-Roman, S. 111.  Zur Wirkung von Krachts Faserland vgl. auch: Stefan Beuse, ‚154 schöne weiße leere Blätter‘. Christian Krachts ‚Faserland‘ (1995). In: Wieland Freund (Hg.), Der deutsche Roman der Gegenwart, München 2001, S. 150–155. Sowie: Thomas Ernst, Kracht, Stuckrad-Barre und das popkulturelle Quintett. In: Thomas Ernst, Popliteratur, Hamburg 2001, S. 72–76.  Baßler, Pop-Roman, S. 103.

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Jetztzeit“ 56 – auch wenn dieses Inventar in Faserland bestehend aus Markennamen, Party-Events und Clubs, sicherlich ein anderes ist, als in Büschers oder Willemsens Deutschlandreisen, so ähnelt sich doch das Verfahren der Sammeltätigkeit und Serienbildung. Wenn es bei der Archivierungsbewegung der PopLiteraten also darum geht, Aspekte der Gegenwartskultur dem kulturellen Archiv zuzufügen,57 dann kann für die Deutschland-Texte gesagt werden, dass sie den Archiv-Eintrag ‚Deutschland‘ um ihre gesammelten Alltags-Bilder und Beobachtungen ergänzen. So wie auch „[d]ie befreiende Wirkung, die Mitte der 90er Jahre inhaltlich und stilistisch von der bloßen Repräsentation einer Lebens- und Denkweise wie der in Faserland vorgeführten ausgegangen ist, […] auf einer selektiven Lektüre“ 58 beruht, bedarf es auch für die Deutschlandreise-Texte einer bestimmten Lesehaltung, damit das Prinzip aufgeht und sich aus den Reihungen von Einzelbeobachtungen „das Allgemeine. Das ganze Land“ 59 erschließt. In Krachts Roman wird deutlich, dass die archivierten Gegenwartsphänomene immer auch mit bestimmten Images spielen, diese aufrufen und mit ihnen Bedeutung transportieren. Die inflationär gebrauchten Markennamen etwa sind selbstverständlich stets mit dem Image der jeweiligen Marke, des jeweiligen Produkts, Clubs oder Ortes verbunden und der Text funktioniert nur, insofern die Leserin in der Lage ist, diese Images zu ‚lesen‘. So vollzieht sich die Figurencharakterisierung beispielsweise über die Kleiderhersteller der Figuren60: Sergio, das ist so einer, der immer rosa Ralph-Lauren-Hemden tragen muß und dazu eine alte Rolex, und wenn er nicht barfuß wäre, mit hochgekrempelten Hosenbeinen, dann würde er Slipper tragen von Alden, das sehe ich sofort.61

Die Images der Marken von Kleidung und Accessoires lassen auf die Figur rückschließen, die sie trägt. Diese Funktionsweise der Images lässt sich auch für die Alltagsdinge in den Deutschlandreise-Texten konstatieren. So wie die Images, mit denen die Figuren bei Kracht ausgestattet sind, diese beschreiben, haben auch die Images, mit denen Deutschland in den Reisetexten ausgestattet  Martin Hielscher, Pop im Umerziehungslager. Der Weg des Christian Kracht. Ein Versuch. In: Johannes G. Pankau (Hg.), Pop – Pop – Populär. Popliteratur und Jugendkultur, Bremen/ Oldenburg 2004, S. 102–109, S. 106.  Vgl. Baßler, Pop-Roman, S. 96.  Baßler, Pop-Roman, S. 115.  Hacke, Deutschlandalbum, S. 8.  Ein Prinzip für das Bret Easton Ellis’ Less than zero (1985) als Vorbild angesehen werden kann.  Christian Kracht, Faserland, Köln 1995, S. 20.

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wird, eine definitorische Funktion. Dabei geht es weniger darum, unmittelbare Rückschlüsse von den einzelnen Gegenständen oder Beobachtungen auf Deutschland zu übertragen. Deutschland wird hier definiert als Gemeinschaft derjenigen, die sich in diesen Alltagsbeobachtungen wiederfinden. Insofern zeigt sich das Image hier in seiner gemeinschaftsbildenden Funktionsweise. Die reflexive Struktur des Images stattet es mit einem Potential für die Schaffung von Gemeinschaften aus. Dies insofern, als diejenigen, die es anblicken und als etwas bestimmtes ansehen, stets davon ausgehen, dass auch andere es in dieser Weise auffassen. Die Konsumenten von Images wissen sich solchermaßen stets als Teil einer Konsumentengemeinschaft und diese Teilhabe lässt sich wiederum über den Konsum kommunizieren. Die alltäglichen Gegenstände und Dinge, die die Texte als ‚typisch‘ aufgreifen und vermerken, eigenen sich also in diesem Sinne als Images, die auf ein gegenwärtiges Deutschland verweisen. Dieses Deutschland der Gegenwart entwerfen sie insofern mit, als sie mit der Beobachtung und Beschreibung von Alltagsaspekten Angebote an die Leser der Texte richten, sich als Teil der vorgestellten Gemeinschaft – derjenigen, die die Dinge und ihre Images erkennen und damit ‚der Deutschen‘ – zu setzen und zu erleben. Der große Erfolg der DeutschlandreiseBücher weist darauf hin, dass diese Angebote sehr gerne angenommen werden.

6 Die räumliche Dimension des Imaginären Büschers und Willemsens Reisetexte entwickeln bestimmte kartografische Modelle von Deutschland – und in diesem Sinne konkrete Deutschlandbilder. Auch wenn dabei sehr unterschiedlich verfahren wird, verzeichnen beide TextKarten doch ähnliche Orte, die sich als Bezugspunkte für die Dynamiken kollektiver Identifizierung beschreiben lassen, so dass die Deutschlandreisen mit ihren Deutschlandbildern imaginäre Entwürfe dieses aktuellen Deutschlands anbieten. Mit Bezug zur Topik des Imaginären bei Lacan wurde erarbeitet, dass das Imaginäre auf zweifache Weise mit einer räumlichen Dimension versehen ist. Zum einen kann das Imaginäre als eine Bewegung im Raum beschrieben werden, in der ein Ich in eine Blickbeziehung zum Spiegel tritt bzw. der Betrachter sich zu dem Spiegelmodell positioniert. Dieser Blick zwischen Spiegel und Betrachter spannt in beiden Modellen Lacans einen Raum auf, in dem die imaginäre Bewegung sich vollzieht. Zudem entwerfen die imaginären Bilder die Welt überhaupt erst als geordnete, indem sie die Gegenstände in einen sinnvollen Zusammenhang zueinander setzen (die Blumen als in der Vase stehend erscheinen lassen) und damit einen kohärenten (Text-)Raum entstehen

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lassen. Auf diese Perspektivierung können die Lektüreergebnisse zugespitzt werden. In den untersuchten Deutschlandreise-Texten lässt sich diese zweifache räumliche Dimension des Imaginären feststellen. Zunächst zeigen sie eine Identifizierung mittels des Blicks auf das Eigene. Die Deutschlandreisen können als identifikatorische Bewegungen im Raum gelesen werden, als ein InRelation-Setzen des Erzähler-Ichs zum Eigenen, hier dem eigenen Land. Des Weiteren konnte beschrieben werden, wie die Deutschlandreisen dieses Eigene, Deutschland, allererst als – mehr (Büscher) oder weniger (Willemsen) – kohärenten Raum in Erfahrung bringen und entwerfen, indem sie in der narrativen Bewegung des Textes Kartenmodelle zeichnen. Beide Kartenentwürfe sind anschlussfähig für die Projektion wirkmächtiger Deutschland-Bilder und ihrer Images.

VII Die Berliner Republik und Preußen 1 Neues Deutschland und preußisches Erbe Der Begriff ‚Berliner Republik‘ etablierte sich Mitte der 1990er Jahre in der öffentlichen Rede.1 Als Begriffsprägung angelehnt an die ‚Weimarer Republik‘ und ‚Bonner Republik‘ bezeichnet ‚Berliner Republik‘ das Deutschland nach der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR und vermittelt, dass damit zugleich eine neue historische Periode begonnen habe. So hat es der Begriff mittlerweile als Epochenbezeichnung in aktuelle Geschichtsbücher geschafft.2 Die Namensschöpfung ‚Berliner Republik‘ dient also als „Kürzel für den Neubeginn“ 3 und bezeichnet als solches das vereinigte, ‚ganze‘ Deutschland. Dies spiegelte sich etwa in der ‚Hauptstadtdebatte‘, die der Entscheidung des Bundestages für den Regierungsumzug von Bonn nach Berlin im Jahr 1991 vorausging und in der Berlin als Stadt der ehemaligen Teilung und Ort des Mauerfalls als Repräsentantin der ‚ganzen Nation‘ installiert wurde. Der neue Name ‚Berliner Republik‘ zielt offenbar auf ein ‚neues Deutschland‘ bzw. lädt dazu ein, den solchermaßen bezeichneten Staat als einen neuen zu denken. So stellte sich etwa der Merkur 2006 in einem Sonderheft unter dem Titel Ein neues Deutschland? die Aufgabe, die „Physiognomie der Berliner Republik“ zu beschreiben.4 Diese Formulierung verweist darauf, dass die Formel ‚Berliner Republik‘ dem ‚neuen Deutschland‘ zu einer Anschaulichkeit, einem ‚Gesicht‘ verhelfen soll und lehnt sich nicht zufällig an die Metapher des Kollektivkörpers an. Die Berliner Republik ist, da sie ein Neubeginn

 Als ‚Namensgeber‘, also als diejenige, die den Begriff ‚Berliner Republik‘ eingeführt haben, werden unterschiedliche Personen genannt, deren gesellschafts- und geschichtspolitischen Einschätzungen durchaus stark voneinander abweichen. So werden als einflussreich für die Durchsetzung des Begriffs im öffentlichen Diskurs u. a. sowohl Jürgen Habermas’ Rede am 7. Mai 1995 in der Frankfurter Paulskirche anlässlich des 50. Jahrestags der Beendigung des Zweiten Weltkrieges als auch Johannes Gross’ Schrift Die Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts (ebenfalls 1995) angesehen. Vgl. Phil C. Langer, Kein Ort. Überall. Die Einschreibung von ‚Berlin‘ in die deutsche Literatur der neunziger Jahre, Berlin 2002, S. 11 f.  Vgl. als ein Beispiel etwa das letzte Kapitel in Reclams Übersichtswerk Kleine deutsche Geschichte: Konrad H. Jarausch, Anfänge der Berliner Republik (1990–2005). In: Ulf Dirlmeier, Andreas Gestrich u. a., Kleine deutsche Geschichte, aktualisierte und ergänzte Ausgabe, Stuttgart 2006, S. 477–510.  Jarausch, Anfänge der Berliner Republik, S. 479.  Ein neues Deutschland? Zur Physiognomie der Berliner Republik. Sonderheft Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 9/10, 2006.

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Die Berliner Republik und Preußen

sein will, von Anfang an mit der Suche nach einer aktuellen Selbstdefinition verbunden. Die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR stellte in einer Zeit der Globalisierung und Orientierung hin zu postnationalen Modellen Deutschland als Nationalstaat wieder her. Mit dem Setzen eines Neubeginns sind die Fragen nach dem Selbstverständnis der Deutschen verbunden, die der in dieser Weise neu geformte Staat vertritt. Ihre innenpolitischen Ziele, ihre weltpolitische Rolle und ihre Selbstrepräsentation stehen zur Debatte.5 Die Berliner Republik verspricht eine Antwort auf diese „Suche nach einem neuen sozialen Band“ 6 zu sein. Aufgabe der Berliner Republik ist es also, sich selbst (neu bzw. unter dem neuem Namen) zu entwerfen. Die Thesen dieser Arbeit gründen auf der Annahme, dass Identifizierung stets als eine Dynamik zu begreifen ist, die mit dem Imaginären als Bewegung zwischen Entwurf und Annahme eines begehrten Bilds von Identität und dem Erkennen der Illusion dieses Bildes beschreibbar wird. Das Imaginäre – strukturiert durch ein Identitätsbegehren, das nie zum Stillstand kommt – produziert und zirkuliert Bildentwürfe und arbeitet mit Images. Diese dabei geschaffenen Bilder werden zur temporären Grundlage der Selbstrepräsentation. Die Berliner Republik ist offensichtlich zur Formel für die Identifizierungsbestrebungen und -bedürfnisse im Deutschland nach der Vereinigung der zwei deutschen Staaten geworden. Deshalb liegt der Fokus dieses Kapitels auf den Fragen, welche Bilder und Vorbilder für diese Entwürfe eines ‚neuen Deutschlands‘ verwendet werden und ob die Namensschöpfung ‚Berliner Republik‘ tatsächlich mit neuen Inhalten gefüllt wird. Immer wieder findet sich der Anspruch formuliert, die Berliner Republik solle die Folgen der deutschen Teilung überwinden: „[I]hre Hauptaufgabe ist die Vollendung der inneren Einheit“ 7. Wie wird dieser Anspruch in den neuen Selbstentwurf integriert? Welche Bilder bieten sich an, das neue ‚ganze Deutschland‘ zu repräsentieren? Ich gehe von der Hypothese aus, dass die Berliner Republik kaum neue Selbstbilder entwickelt, sondern sich über Tradiertes entwirft und die integrative Kraft historischer Kontinuitäten bemüht. Dafür gab bereits der Regierungsumzug von Bonn in die alte preußisch-deutsche Metropole Berlin die Richtung vor: Berlin als Hauptstadt des ‚neuen Deutschlands‘ ist nicht nur namensgebend, sondern bietet der Berliner Republik mit seiner preußischen Geschichte auch bereits bestimmte Traditionen an, die für den Neuentwurf wirkmächtig wurden.

 Vgl. Jarausch, Anfänge der Berliner Republik, S. 490.  Langer, Kein Ort, S. 13.  Ulrich Herrmann, Was ist ‚deutsche Geschichte‘? In: Dirlmeier, Gestrich u. a., Kleine deutsche Geschichte, S. 9–17, S. 15.

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Die „Preußen-Renaissance“ 8, ein Trend zu einer neuen positiven Bezugnahme auf die preußische Geschichte, beginnt nicht erst nach der Vereinigung 1990. Bereits in den 1980er Jahren (1981 wurde etwa das ‚Preußenjahr‘ begangen) fand in beiden deutschen Staaten ein erneutes Bemühen um das ‚preußische Erbe‘ statt.9 Diese Versuche der Wiederaneignung in Ost und West können zum einen als Konkurrenz darum gesehen werden, welches Deutschland Preußen würdiger beerbe, zum anderen jedoch eignete sich die Bezugnahme auf Preußen offensichtlich schon damals, um ‚gesamtdeutschen‘ Sehnsüchten Raum zu geben: „Die Geschichte umfasste plötzlich das gesamte Deutschland, ließ sich nicht mehr in Ost und West sortieren“ 10. Dieses Potential, als Schirm für deutsch-deutsche bzw. gesamtdeutsche Projektionen sogar über Mauer und Eisernen Vorhang hinweg gespannt werden zu können, bezieht Preußen aus seiner besonderen Rolle für die Entwicklung des deutschen Nationalstaats, die an dieser Stelle nur kurz ins Gedächtnis gerufen werden soll.11 Der erste deutsche Nationalstaat, der mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 gebildet wurde, entstand als ‚kleindeutsche Lösung‘ unter der Regie Preußens. Die alternativen Möglichkeiten, einen deutschen Nationalstaat zu definieren, umfassten die so genannte ‚großdeutsche Lösung‘ unter Einbeziehung der deutschsprachigen Gebiete der Habsburger Monarchie und die ‚großösterreichische Lösung‘, die das ganze österreichische Kaiserreich eingeschlossen hätte. Diese drei Entwürfe von einem Staat der deutschen Nation unterschieden sich also in erster Linie in der Gewichtung, die den beiden bisherigen Führungsmächten, Preußen und Österreich, darin jeweils zukam. Als entscheidende Punkte in den politischen und gesellschaftlichen Prozessen der Nationenbildung seit dem Revolutionsjahr 1848 gelten die militärische Niederlage Österreichs gegen Preußen 1866 und die Gründung des Norddeutschen Bunds unter Preußens Führung, der die Grundlage für die Reichsgründung bildete. Preußen konnte seinen Führungsanspruch für den deutschen Nationalstaat mit der Reichsgründung 1871 konsolidieren. Für die Zeit danach lässt sich eine  Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 396. Vgl. zu dem Trend der symbolischen Bezugnahme auf Preußen auch: Aleida Assmann, Preußen als nationales Symbol. In: Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007, S. 121– 123.  Die Bewertung der preußischen Geschichte hat insbesondere in der DDR eine deutliche Wandlung durchlaufen. So kann nicht zuletzt die Sprengung des Berliner Stadtschlosses im Jahr 1950 unter Walter Ulbricht als ausdrückliche Absage an einen preußischen Militarismus verstanden werden.  Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 397.  Vgl. dazu auch: Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000.

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„Borussifizierung des deutschen Geschichtsbildes“ 12 feststellen und damit die Etablierung eines Geschichtsbilds, das den preußisch-deutschen Nationalstaat als Zielpunkt einer teleologisch darauf zulaufenden deutschen Geschichte setzt. Dieses Geschichtsbild, das Schulbücher und Geschichtsunterricht wie Historiographie oder Literaturgeschichtsschreibung prägte, ließ ‚dem Preußischen‘ eine Synonymfunktion für ‚das Deutsche‘ zukommen, die bis heute ihre Wirkungen zeigt.13 Zwar schien es nach der Vereinahmung Preußens durch die Nationalsozialisten unter Hitler, als hätte Preußen als positive Folie für deutsche Selbstentwürfe ausgedient, jedoch kam auch nach dem Zweiten Weltkrieg der Diskurs über Preußen nicht zum Stillstand, sondern blieb Thema und Gegenstand der Auseinandersetzungen um das deutsche Selbstverständnis. So bietet sich das Stichwort Preußen offensichtlich an, um wiederkehrende Schlüsselaspekte der deutschen Selbstpositionierung zu diskutieren. In Wertediskussionen tauchen Bezugnahmen auf die ‚preußischen Sekundärtugenden‘ auf, die Geschichte des preußischen Militarismus wird immer wieder herbeizitiert, wenn es um das Verhältnis der Deutschen zu militärischen Konflikten geht, und Preußenkönig Friedrich II. bzw. ‚Friedrich der Große‘ kann als Gewährsmann sowohl für einen neuen Konservatismus als auch als Vertreter eines aufgeklärten Liberalismus herhalten. Die Bezugnahme auf Preußen stellte also bereits in den 1980er Jahren eine Möglichkeit dar, eine gesamtdeutsche Geschichte zu betonen. Für die neu zusammengesetzte Bundesrepublik der 1990er Jahre, den wiederbelebten Nationalstaat, bekam Preußen als Folie des Selbstbezugs eine neue Attraktivität.14 Das vorliegende Kapitel fokussiert die These, dass sich die Berliner Republik wieder verstärkt der preußischen Geschichte zuwendet, sie positiv wertet und als ein ‚Erbe‘ auffasst und damit als Chance, den eigenen ‚Neubeginn‘ über wirkmächtige Traditionslinien zu stabilisieren und den Selbstentwurf zu  Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 204.  Vgl. dazu auch: Herfried Münkler, Preußenmythos und preußische Mythen. In: Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 211–294.  In diesem Sinn argumentiert auch Claudia Breger in ihrer Habilitationsschrift: Szenarien kopfloser Herrschaft – Performanzen gespenstischer Macht. Königsfiguren in der deutschsprachigen Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts, Freiburg im Breisgau 2004. Breger stellt bezogen auf die Entwicklung der Berliner Republik in den 1990er Jahren fest: „Der Diskurs über Preußen […] hat sich im Zuge der Identitätssuche der neuen Republik deutlich in Richtung Aneignung verschoben“ (S. 19). Von dieser neuen Attraktivität zeugen eine Reihe öffentlicher Veranstaltungen und Ereignisse, wie etwa die Überführung der sterblichen Überreste von Friedrich II. 1991 nach Potsdam und die damit verbundenen Feierlichkeiten, die öffentlich diskutierte Option einer Zusammenlegung von Brandenburg und Berlin zu einem Bundesland Preußen oder das mit großem Aufwand betriebene ‚Preußenjahr 2001‘. Vgl. für diese und weitere Beispiele: Breger, Szenarien kopfloser Herrschaft, S. 451 f.

Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt

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gestalten. In den Blick nehme ich zwei sehr heterogene Untersuchungsgegenstände, an denen sich gerade aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit zeigen lässt, wie weit verbreitet der Rückgriff auf ‚das Preußische‘ bei der Gestaltung ‚des Deutschen‘ bzw. des gegenwärtigen Deutschlands ist. Zunächst soll mit Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) ein Prosatext, dem in den letzten Jahren eine phänomenale Aufmerksamkeit zuteil wurde, auf seinen Beitrag hin untersucht werden, insbesondere preußisch-deutsche Traditionslinien fortzuschreiben und für eine Wiederaneignung für heutige kollektive Selbstentwürfe aufzubereiten. Im zweiten Teil des Kapitels wird die Berliner Stadtschlossdebatte und die darin zu beobachtende ‚Rhetorik der Mitte‘ analysiert. Ich argumentiere, dass die Aufmerksamkeit, die hier ausgerechnet einer Architekturdebatte zukommt, und die Aufgeladenheit dieser Debatte gerade auch damit zusammenhängen, dass die Architektur als Anschauungsobjekt sich speziell dazu eignet, Images zu transportieren. Die Architektur veranschaulicht das ‚preußische Erbe‘ und überführt es zugleich – wie es die Grundstruktur des Images möglich macht – von seiner Komplexität in eine bildhafte Vagheit und Oberflächlichkeit, die es leichter konsumierbar und solchermaßen geeigneter für identifikatorische Vereinahmungen macht.

2 Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt Daniel Kehlmanns Erfolgsroman15 Die Vermessung der Welt (2005) ist ein Roman über ‚das Deutsche‘.16 Die fiktionale Doppelbiografie über Carl Fried Bezogen auf den Verkauf gehört Die Vermessung der Welt gemeinsam mit Günter Grass’ Blechtrommel (1985), Patrick Süskinds Das Parfum (1985) und Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995) zu „den erfolgreichsten Romanen seit Gründung der Bundesrepublik“ (Marius Meller, Die Krawatte im Geiste. In: Gunther Nickel (Hg.), Daniel Kehlmanns ‚Die Vermessung der Welt‘. Materialien, Dokumente, Interpretationen, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 127–135, S. 127). Kehlmanns Roman hatte 35 Wochen lang den ersten Platz der Spiegel-Bestsellerliste inne, die deutschsprachigen Ausgaben haben inzwischen längst die Millionenmarke der Verkäufe gesprengt und der Text wurde in über 40 Sprachen übersetzt. (Vgl. Gunther Nickel, Vorwort. In: Nickel (Hg.), Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen, S. 7–9, S. 7.). Dass Kehlmann mit der Vermessung der Welt nicht nur einen enormen Verkaufserfolg landete, sondern ebenfalls auf Anerkennung im Literaturbetrieb stieß, belegen zum einen die Preise, mit denen er für den Roman ausgezeichnet wurde, und lässt sich zudem in der breiten Rezeption des Textes durch die Literaturkritik zeigen. (Vgl. Klaus Zeyringer, Vermessen. Zur deutschsprachigen Rezeption der Vermessung der Welt. In: Nickel (Hg.), Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen, S. 78–94. Und: Julia Stein, ‚Germans and humor in the same book‘. Die internationale Rezeption der Vermessung der Welt. In: Nickel (Hg.), Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen, S. 136–150.) Vgl. zum Bestsellerstatus der Vermessung der Welt zudem:

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rich Gauß und Alexander von Humboldt präsentiert die beiden Wissenschaftler als in ihrer Gegensätzlichkeit aufeinander bezogene ‚Abziehbilder‘ stereotyper Vorstellungen des ‚Deutschen‘. Die Vorstellung vom deutschen Bildungsbürger

Heinz-Peter Preußer, Zur Typologie der Zivilisationskritik. Was aus Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt einen Bestseller werden ließ. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, 1, 2008, Heft 177: Daniel Kehlmann, S. 73–85.  Die Lesart, die als eines der Hauptthemen des Textes die Beschäftigung mit Deutschland sieht und die die Grundlage meiner weiteren Beschäftigung mit dem Roman bildet, findet sich in den zahlreichen Rezensionen des Roman nur selten wieder. Die meisten deutschsprachigen Rezensionen lesen Die Vermessung der Welt als historischen Roman, als Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rolle der Naturwissenschaften, der Aufklärung und des Fortschritts. Klaus Zeyringer erklärt das Desinteresse der Literaturkritik und des Feuilletons an der Deutschlandthematik von Kehlmanns Roman in seiner Zusammenfassung der deutschsprachigen Rezeption mit der Stimmung im Land zum Zeitpunkt des Erscheinens im Herbst 2005: „In jenen Monaten der Bundestagswahl und der schwierigen Koalitionsbildung, ein knappes Jahr vor der Nationaleuphorie bei der Fußball-WM 2006, hatte man offenbar vom Deutschen genug. Dieser wesentliche Aspekt des Romans wurde meist völlig übersehen“ (Zeyringer, Vermessen. Zur deutschsprachigen Rezeption, S. 87). Mehr Zugang zu dem Thema hatten offenbar manche nicht-deutsche Leser. So ordnet Mark M. Anderson Kehlmanns Roman ein in eine deutsche Traditionslinie der literarischen Auseinandersetzung mit den aus dem Zweiten Weltkrieg folgenden Schuldfragen und Tabus: „In any case, Kehlmann’s Measuring the World is no less concerned with ‚the German question‘; it simply provides a different means of exorcising the ghosts in the national closet. One might compare its satire of die Klassik to Christo and JeanneClaude’s wrapping of the Reichstag in 1995, when this most somber historical site suddenly became something playful and light – for a moment. For that giant birthday gift to the nation was only a brief interlude […] Kehlmann’s sendup of the overly serious German academic with his craven attitude toward political power provides an insouciant variation on the typically tormented appraisals of the national psyche.” (Mark M. Anderson, Humboldt’s Gift. In: The Nation, 30. 04. 2007, http://www.thenation.com/doc/20070430/anderson (abgerufen am 21. 11. 2008). Vgl. auch: Stein, ‚Germans and humor in the same book‘, 139 f.) Der Gegenwartsbezug des Textes scheint also gerade in der Thematisierung ‚des Deutschen‘ und den – wie Anderson behauptet: neuen – Verfahren der Komik und Satire zu liegen. In der Forschungsliteratur zu Die Vermessung der Welt findet sich das Deutsche als Thema des Romans ebenfalls vorallem in Beiträgen der ‚Auslandsgermanistik‘ behandelt. So etwa in den Beitrag von Joshua Kavaloski, der den Roman als eine Auseinandersetzung mit den Debatten um die Kategorie einer deutschen Leitkultur liest. Vgl. Joshua Kavaloski, Periodicity and National Identity in Daniel Kehlmann’s Die Vermessung der Welt. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch, 9, 2010, S. 263–287. Marek Jakubów sieht in dem Roman den Versuch umgesetzt, „ein alternatives Bild der nationalen kulturellen Tradition zu liefern“. Vgl.: Marek Jakubów, Abschied von der Kulturnation. In: Studia Niemcoznawcze/Studien zur Deutschkunde, 47, 2011, S. 59–70, S. 64. Stuart Taberner argumentiert, die Zeit, in der Die Vermessung der Welt spielt, weise Parallelen zum Deutschland nach 1990 auf und nimmt in den Blick, inwiefern der Roman auch von der deutsch-deutschen Vereinigung erzähle. Vgl. Stuart Taberner, Literature and Unification. Günter Grass’ Im Krebsgang, Feridun Zaimoglu’s German Amok, and Daniel Kehlmann’s Die Vermessung der Welt. In: literatur für leser, 2, 2010, 67–77. Vgl. auch: Stuart Taber-

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wird in ihren extremen Polen zwischen disziplinierter Leistung und kauziger Genialität gezeigt und vor einer Folie der europäischen Geistesgeschichte, des Kolonialismus und der Nationenbildung in der Handlung entwickelt. So thematisiert der Text Images des Deutschen bzw. Deutschseins. Für die Gestaltung dieser Bilder des Deutschen bedient sich der Text wiederum stereotyper ‚preußischer Tugenden‘, so dass ‚das Preußische‘ und ‚das Deutsche‘ austauschbar werden. Das Image wird im Kontext dieser Arbeit als ein temporäres, phantasmatisches Selbstbild verstanden, das die Unabschließbarkeit der imaginären Bewegung kurzfristig verdeckt. Aufgrund seiner reflexiven Struktur der vorausgesetzten Bekanntheit kommt ihm eine Gemeinschaft konstituierende Funktion zu. Die Beobachtung, dass der Roman Die Vermessung der Welt mit Stereotypen und Images arbeitet, fordert dazu heraus, diese auf ihre Funktion für die identifizierenden Dynamiken eines aktuellen Deutschlands hin zu untersuchen.

2.1 Rahmenerzählung Nationaldiskurs Die neun, abwechselnd vom Leben und Forschen Gauß’ und Humboldts erzählenden, episodenhaften Kapitel sind gerahmt durch die Erzählung über ein Treffen der beiden mittlerweile gealterten17 Figuren anlässlich des Deutschen Naturforscherkongresses 1828 in Berlin. Insbesondere diese Rahmenerzählung, die immerhin knapp ein Drittel des Textumfangs ausmacht, rückt die Doppelbiografie in auffälliger Weise in den Kontext eines Diskurses über das zeitgenössische Deutschland und die nationalen Bewegungen der Zeit. Die Hinweise auf den Nationaldiskurs der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sind so vielfältig und dicht gesetzt, dass sie als ‚eigentliches Thema‘ der Erzählung über das späte Treffen der Forscher lesbar werden. Gauß reist gemeinsam mit seinem ungeliebten Sohn Eugen nach Berlin. Bereits auf Seite zwei des Romantextes wird Eugen als Vertreter gleich zweier der wichtigsten Gruppierungen im gesellschaftlichen Nationenbildungsprozess des neunzehnten Jahrhunderts ausgewiesen: Er ist Student und erkennbar an seiner Aufmachung mit „Knotenstock“, „langen Haaren“ und „rote[r] Mütze“ 18

ner, Daniel Kehlmann’s Die Vermessung der Welt (Measuring the World). In: Stuart Taberner (Hg.), The Novel in German Since 1990, Cambridge u. a. 2011, S. 255–269.  Einige Beiträge lesen Die Vermessung der Welt auch, wie etwa Ulrich Fröschle, als „Buch über das Altern“. Ulrich Fröschle, ‚Wurst und Sterne‘. Das Altern der Hochbegabten in Die Vermessung der Welt. In: Nickel (Hg.), Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen, 186–197, S. 186.  Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 8. Im Folgenden mit Seitenzahlen im Text zitiert als VdW.

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den burschenschaftlichen Bewegungen zugeordnet. Zudem erlaubt es eines „seiner Lieblingsbücher“ (VdW 8), er trägt Friedrich Ludwig Jahns Deutsche Turnkunst bei sich, Eugen als Anhänger der Turner auszumachen. Die Turnbewegung, zu deren Initiatoren und frühen Leitfiguren Jahn zählt, und die studentischen Burschenschaften gehörten zu den nationalen Bewegungen im neunzehnten Jahrhundert.19 Die hohe nationalpolitische Bedeutung dieser Bewegungen ergab sich insbesondere aus ihrer Funktion, politisches Agieren außerhalb von staatlichen Institutionen zu organisieren und damit überhaupt eine Form politischer Öffentlichkeit zu schaffen. Diese nationalen Massenbewegungen waren dabei zugleich auch preußische Bewegungen: Der Nationalismus insbesondere der frühen Turnbewegung und der Anfänge der Studentenbewegungen speiste sich aus der Erfahrung der preußischen Kriege gegen Napoleon. So waren die Turner insbesondere innerhalb der preußischen Bevöl-

 Die Turnbewegung stellte ein Programm der Nationalerziehung dar, das insbesondere im Kontext der ‚Befreiungskriege‘ auf die Stärkung des ‚Volkskörpers‘ abzielte und zugleich für die Überwindung der feudalen Ordnung und Kleinstaaterei wirken wollte. Vgl. das Kapitel „‚für Volk und Vaterland kräftig zu würken …‘. Zur politischen und gesellschaftlichen Rolle der Turner zwischen 1811 und 1871“. In: Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 103–131. Sowie Gertrud Pfister, Frisch, fromm, fröhlich, frei. In: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001, S. 202–219. Zu der Verbindung zwischen Turner- und Studentenbewegung siehe die Einleitung in: Hans-Joachim Bartmuß, Eberhard Kunze, Josef Ulfkotte (Hg.), ‚Turnvater‘ Jahn und sein patriotisches Umfeld. Briefe und Dokumente 1806–1812, Köln 2008, S. 13–24, S. 23. Sowie Helmut Asmus, Das Wartburgfest 1817, die deutsche Nationalfestbewegung und die urburschenschaftliche Reform der Lebensund Verbindungsweise. In: Giselher Spitzer (Hg.), Die Entwicklung der Leibesübungen in Deutschland. Von den Philanthropisten bis zu den Burschenschaftsturnern, Sankt Augustin 1993, S. 59–76. Ein großer Teil des neuen Bürgertums hatte sich viel von der nationalen Aufbruchsstimmung der ‚Befreiungskriege‘ gegen Napoleon versprochen. Die Ergebnisse des Wiener Kongresses 1814/15 enttäuschten jedoch die Hoffnungen auf eine freiheitlicher strukturierte Politik und nationale Einheit. Während die rigide agierenden Restaurationskräfte die bürgerliche Kritik weitgehend gering hielten, traten die Studenten öffentlich für ihre politischen Forderungen und ihr Ziel der nationalen Einigung ein und sorgten etwa mit dem Wartburgfest der Deutschen Burschenschaft in Eisenach am 18. Oktober 1817 für Aufmerksamkeit, Aufregung und Empörung. Das Wartburgfest und weitere Ereignisse wie die Ermordung August von Kotzebues durch den Studenten Karl Sand riefen repressive Maßnahmen (Karlsbader Beschlüsse, 1819) gegen gegebene Machtverhältnisse in Frage stellende nationale Einigungsbewegung hervor. Vgl. Jürgen Reulecke, Aufbrüche, Reaktionen und Reformen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Dirlmeier, Gestrich u. a., Kleine deutsche Geschichte, S. 268–285. Vgl. auch: Lützow’sche Jäger und Jenaer Burschen. In: Hans Hattenhauer, Deutsche Nationalsymbole. Geschichte und Bedeutung, 4. vollständig überarbeitete Aufl., München 2006, S. 30–36. Sowie: Hans-Ulrich Wehler, Der deutsche Nationalismus. In: Hans-Ulrich Wehler, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, 3. Aufl., München 2007, S. 62–89.

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kerung stark vertreten.20 Der Verweis auf den zeitgenössischen Kontext der jungen Nationalbewegung erfolgt in Die Vermessung der Welt nicht über explizite Nennung oder Erläuterung im Text, sondern wird zunächst über ein ‚optisches Register‘ evoziert. Dies geschieht, indem etwa die modischen Details der ‚altdeutschen Tracht‘21, die Eugen trägt, die historischen Zusammenhänge vor Augen führen und die Leserin somit ohne nähere Erläuterungen ins Bild setzen. Der Text setzt damit nicht nur gewisse Kontextinformationen bei der Leserschaft voraus, sondern führt einen Modus der Kommunikation fort, der bereits bei den zitierten Nationalbewegungen zu beobachten ist. Die ‚altdeutsche Tracht‘ etwa war sichtbares, am Körper getragenes Zeichen des Nationalbewusstseins. Ebenso setzte das Turnen als „nationales Kommunikationssystem“ 22 am Körper an und ließ seine nationalpolitische Botschaft über Bewegung, Haltung und inszenatorische Rituale sichtbar werden. Indem der Roman diese Sichtbarkeitsstrategien für die Kontextualisierung übernimmt, überträgt er sie zugleich in sein literarisches Verfahren. Das Nationalbewusstsein wird am Körper sichtbar, die Identifizierung körperlich ausgestellt. Der literarische Text bedient sich hier visueller Signale, die seine Figuren mit einer Image-Funktion ausstatten. Die Reise von Vater und Sohn Gauß wird von einem Zwischenfall unterbrochen, der ebenfalls den historischen Kontext aufruft und die Konfliktlinie innerhalb der restaurativen Verhältnisse verdeutlicht. In der Gastwirtschaft an einer Grenzstation verlangt ein Gendarm die Pässe. Eugen verfügt über einen „Passierschein: ein Zertifikat des Hofes, in dem stand, daß er, wiewohl Student, unbedenklich sei und in Begleitung des Vaters preußischen Boden betreten dürfe“ (VdW 10 f.). Gauß jedoch kann keinen Pass vorweisen und die Verblüffung des Gendarmen („Gar keinen Paß, fragte der Gendarm überrascht, keinen Zettel, keinen Stempel, nichts?“ VdW 11) macht deutlich, wie sehr die Obrigkeit auf die lückenlose bürokratische Überwachung ihrer Bürger baut. Gauß’ Hinweis „Napoleon habe seinetwegen auf den Beschuß Göttingens verzichtet“ (VdW 11), führt zu einer weiteren Zuspitzung der Situation. Ein anderer Gast lenkt jedoch die Aufmerksamkeit des Gendarmen auf sich. „Das alles

 Vgl. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 104 f.  Mit der ‚altdeutschen Tracht‘, einem Modetrend, der im Zuge der ‚Befreiungskriege‘ aufkam, wollte man sich insbesondere von der ‚französischen Mode‘ abgrenzen und sein Nationalbewusstsein zum Ausdruck bringen. Dieser Stil der Kleidung wurde auch von den studentischen Burschenschaften übernommen. Vgl. dazu: Eva Maria Schneider, Herkunft und Verbreitungsformen der ‚Deutschen Nationaltracht der Befreiungskriege‘ als Ausdruck politischer Gesinnung, Bonn, Univ., Diss. 2002, URN: urn:nbn:de:hbz:5-00838. Verfügbar unter: http://hss.ulb.uni-bonn.de:90/2002/0083/0083.htm (abgerufen am 28. 02. 2011).  Pfister, ‚Frisch, fromm, fröhlich, frei’, S. 202.

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werde enden! Deutschland werde frei sein, und gute Bürger würden unbehelligt leben und reisen, gesund an Körper und Geist, und kein Papierzeug mehr brauchen“ (VdW 12), ruft der Mann vom Nachbartisch. Innerhalb des Romans erfüllt dieser aufrührerische Ausruf zweierlei Funktionen: Zum einen ermöglicht er Gauß und Sohn die Weiterreise und damit das Fortschreiten der Handlung, da die Grenzbeamten mit der Verfolgung des Manns beschäftigt sind. Zum anderen gibt er die Position der Restaurationskritiker wieder und ordnet die Szene damit wiederum in den Kontext der Nationalbewegungen ein. Die politische Situation im Deutschen Bund und die misstrauische Kontrolle der Obrigkeit ihren Bürgern gegenüber illustriert auch die Episode der ersten Begegnung zwischen Humboldt und Gauß nach dessen Ankunft in Berlin. In der Begrüßungsszene und dem Empfangskomitee vermutet ein patrouillierender Polizist „eine Zusammenrottung“ (VdW 16), die gegen das allgemein geltende Versammlungsverbot verstoße: „Entweder man gehe sofort auseinander, oder er werde amtshandeln“ (VdW 16). Diese und andere in dem kurzen Eingangskapitel gegebenen, dicht gestreuten Hinweise auf die zeitgenössische politische Situation im Deutschen Bund – Restauration und polizeistaatliche Kontrolle – und auf die Nationalbewegung – Studenten- und Turnbewegung – werden im zweiten Teil der Rahmenerzählung, den abschließenden sechs Kapiteln des Romans, wieder aufgenommen und weitergeführt. Insbesondere die nationalen Bewegungen der Studenten und Turner werden im abschließenden Teil der Rahmenerzählung noch einmal ausführlicher geschildert, als Eugen in Berlin zufällig in eine geheime Versammlung gerät. Bei diesem Geheimtreffen taucht auch der rebellische und später flüchtige Mann aus der Gastwirtschaft wieder auf, der vor den Studenten als Redner auftritt. Sein Erscheinungsbild 23 und die Motive seiner Ansprache24, mit der er die Zuhörer in seinen Bann zieht und in der es um die Stärkung der Nation mittels der Stärkung des Volkskörpers geht, lassen in dem Redner ‚Turnvater‘ Jahn erkennbar werden. Ob es sich um den Auftritt eines Doppelgängers handelt oder ob, wie die Studenten vorher munkeln, tatsächlich „er selbst“ (VdW 229) „leibhaftig“ (VdW 230) die Kelleransprache hält, klärt der Text nicht endgültig. Mit der studentischen Burschenschaftsbewegung und der Turnerbewegung führt die Rahmenerzählung in Die Vermessung der Welt zwei wichtige Gruppierungen an, die den Nationalismus gesellschaftlich organisierten und dadurch vorantrieben und deshalb wichtige Beschleunigungsfaktoren im sozialge-

 „Er war schlank und sehr groß, hatte eine Glatze und einen langen grauen Bart“ (VdW 230).  „Wie dieses Bein sei, so müsse Deutschland werden!“ (VdW 231).

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schichtlichen Prozess der Nationenbildung darstellten. Die Erzählung über das Leben und Forschen Humboldts und Gauß’ präsentiert der Roman solchermaßen gerahmt durch eine Erzählung, die – insbesondere mittels der Nebenfigur Eugen – die nationalen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts prominent setzt. Die Aufmerksamkeit wird dadurch auf die Frage nach dem Verhältnis der fiktionalen Doppelbiografie über die beiden berühmten Männer und ‚das Deutsche‘ gelenkt. Der Diskurs der deutsch-nationalen Bewegung bildet also einen Rahmen für die narrative Zeichnung der beiden Forscher-Porträts, die damit als zwei Bilder exemplarischer Deutscher lesbar werden.

2.2 Bildungsbürgerbilder Das Verfahren des Textes, das mittels der Funktion der Rahmung die Biografien zu ‚Bildern des Deutschen‘ werden lässt, bestätigt bzw. verstärkt sich in der letzten Episode des einleitenden ersten Kapitels. Hier wird die Begrüßung und damit die erste Begegnung zwischen Humboldt und Gauß nach Gauß’ Ankunft in Berlin erzählt. Die Begrüßungsszene wird jedoch durch ein technisches Erfordernis in die Länge gezogen: Alexander von Humboldt war ein kleiner alter Herr mit schlohweißen Haaren. Hinter ihm kamen ein Sekretär mit aufgeschlagenem Schreibblock, ein Bote in Livree und ein backenbärtiger junger Mann, der ein Gestell mit einem Holzkasten trug. Als hätten sie es geprobt, stellten sie sich in Positur. Humboldt streckte die Arme nach der Kutschentür aus. […] Endlich klappte die Tür auf, und Gauß stieg vorsichtig auf die Straße hinab. Er zuckte zurück, als Humboldt ihn an den Schultern fasste und rief, welche Ehre es sei, was für ein großer Moment für Deutschland, die Wissenschaft, ihn selbst. Der Sekretär notierte, der Mann hinter dem Holzkasten zischte: Jetzt! Humboldt erstarrte. Das sei Herr Daguerre, flüsterte er, ohne die Lippen zu bewegen. Ein Schützling von ihm, der an einem Gerät arbeite, welches den Augenblick auf eine lichtempfindliche Silberjodidschicht bannen und der fliehenden Zeit entreißen werde. Bitte auf keinen Fall bewegen! Gauß sagte, er wolle nach Hause. Nur einen Augenblick, flüsterte Humboldt, fünfzehn Minuten etwa, man sei schon recht weit fortgeschritten. (VdW 14 f.)

Kehlmanns Die Vermessung der Welt datiert hier die Entwicklung der Fotografie vor. Zwar war im Jahr 1828 das grundlegende Prinzip der Fotografie bereits erfunden, man war jedoch noch weit entfernt von einer praxistauglichen Technik. Für die als weltweit erstes Foto geltende Aufnahme, die Joseph Nicéphore Nièpce im Jahr 1826 aus dem Fenster seines Arbeitszimmers aufnahm, war

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eine achtstündige Belichtungszeit notwendig.25 Mit den fünfzehn Minuten, die Humboldt im Roman als Belichtungszeit angibt, erweist sich der Text seiner erzählten Zeit voraus.26 Dieser Anachronismus ist leicht aufzuspüren. Warum leistet sich Die Vermessung der Welt als historischer Roman diesen erkennbaren Kunstgriff?27 Für Friedhelm Marx, der sich unter anderem am Beispiel der Daguerre-Episode mit dem Zusammenhang zwischen geschichtlicher Fiktion und dem Genre des historischen Romans beschäftigt, gehört der offensichtliche Anachronismus zur „spielerischen Gattungsreflexion des Romans“ 28. Marx sieht die „Pointe dieser (fiktiven) Episode […] darin, daß der Moment eben nicht für immer verloren [– obwohl die Fotografie misslingt –, KG], sondern im Medium der Literatur, im Medium des Romans aufgehoben“ 29 sei. Die Funktion der Episode und ihrer historischen Inkorrektheit lässt sich jedoch noch weiterdenken. Die unzeitgemäße Einbindung der Fotografie betont, da ist Marx zuzustimmen, den fiktionalen Status der Erzählung über zwei historische Figuren. Zum anderen wird damit in auffälliger Weise ein

 Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Nicéphore_Niépce (abgerufen am 03. 12. 2008).  So stellte Wolfgang Griep fest, „dass der berühmte Pariser Lichtbildner Louis Jacques Daguerre weder in Berlin war noch Humboldt und Gauß fotografieren konnte: dazu hätte die Geschichte gut zehn Jahre später spielen müssen.“ Wolfgang Griep, Der Kehlmann-Kanal, http://www.zeit.de/online/2007/16/L-Kehlmann (abgerufen am 03. 12. 2008).  Zeyringer weist nach, dass „die geschichtliche Exaktheit der Fiktion“ in Kehlmanns Roman das Thema einer Vielzahl der Besprechungen darstellt Vgl. Zeyringer, Vermessen. Zur deutschsprachigen Rezeption, S. 88. Um das Verhältnis zwischen Fiktion und Faktentreue geht es auch Burkhard Stenzel, Goethe bei Kehlmann. Faktisches und Fiktives im Roman Die Vermessung der Welt. In: Holger Dainat, Burkhard Stenzel (Hg.), Goethe, Grabbe und die Pflege der Literatur. Festschrift zum 65. Geburtstag von Lothar Ehrlich, Bielefeld 2008, S. 87–108. Der Roman selbst gibt einen augenzwinkernden Kommentar zu dem zwangsläufig spannungsreichen Verhältnis zwischen Fiktion und Fakten im Genre des historischen Romans: „Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsaltern oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne“ (VdW 9). Zugleich deutet der Roman immer wieder an, dass eine Skepsis auch gegenüber vermeintlich historisch authentischen Zeugnissen angebracht sei, etwa wenn davon erzählt wird, wie Humboldt seine Erlebnisse für die Aufzeichnungen selektiert und anpasst: „Pulex penetrans, der gewöhnliche Sandfloh. Er werde ihn beschreiben, aber nicht einmal im Tagebuch werde er andeuten, daß er selbst befallen worden sei. Daran sei doch nichts Schlimmes, sagte Bonpland. Er habe, sagte Humboldt, viel über die Regeln des Ruhmes nachgedacht. Einen Mann, von dem bekannt sei, daß unter seinen Zehennägeln Flöhe gelebt hätten, nehme keiner mehr ernst. Ganz gleich, was er sonst geleistet habe“ (VdW 112).  Friedhelm Marx, Die Vermessung der Welt als historischer Roman. In: Nickel (Hg.), Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen, S. 169–185, S. 176.  Marx, Die Vermessung der Welt als historischer Roman, S. 177.

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mediales Verfahren der Bildproduktion in den Text eingeführt. Dies kann als Verweis gelesen werden, dass es dem Text gerade um ein solches Verfahren zu tun ist: Es geht darum, ein Bild zu entwerfen. Dass das Ergebnis von Humboldts und Daguerres fotografischem Versuch scheitert, muss dem nicht widersprechen. Als Humboldt die Kupferplatte betrachtet, erkannte er darauf gar nichts. Und erst nach einer Weile schien ihm ein Gewirr gespenstischer Umrisse darin aufzutauchen, die verschwommene Zeichnung von etwas, das aussah wie eine Landschaft unter Wasser. Mitten darin eine Hand, drei Schuhe, eine Schulter, der Ärmelaufschlag einer Uniform und der untere Teil eines Ohres. Oder doch nichts?“ (VdW 16 f.).

Mit der Betrachtung des misslungenen Fotos schließt der erste Teil der Rahmenhandlung und leitet über in den Binnentext, der sich den Forscherbiografien widmet. Mit der unzeitgemäßen Einbindung des Mediums Fotografie an dieser als Einleitungspassage erkennbaren Textstelle legt der Text, so meine These, gleichsam seine poetologische Strategie offen. Der Blick, der fotografisch-technische wie der erzählerische, kommt aus einer anderen Zeit, um ein Bild zu machen, das im Ergebnis jedoch unscharf bleiben muss. Wie das Ergebnis von Daguerres Begrüßungsfotografie sind auch Kehlmanns narrative Forscherporträts ‚unscharf‘: Es geht ihnen nicht um historisch korrekte Abbildung von faktisch Verbürgtem. So wie Humboldt auf der Kupferplatte nur fragmentiertes Stückwerk erkennen kann, ist auch das biografische Erzählen in Die Vermessung der Welt episodenhaft angelegt und ergibt kein Bild vom Ganzen. Dem Roman geht es nicht um die Darstellung historisch korrekter Forscherbiografien. Kehlmanns Porträts von Gauß und Humboldt bleiben fragmentarisch und skizzenhaft, als Images, so meine These, funktionieren sie deshalb umso besser. Der Roman hält eine Distanz zwischen seinen Protagonisten und den historischen Individuen Gauß und Humboldt. Statt sie mit Individualität auszustatten bleiben sie reduziert auf bestimmte stereotype Zuschreibungen, die sie jedoch als Images ‚deutscher Forscher‘ bzw. ‚des Deutschen‘ lesbar machen. Durch die Erzählung über die gesellschaftspolitische Situation und die beginnende Nationalbewegung gerahmt und eingeleitet mittels der FotografieEpisode präsentiert Die Vermessung der Welt die biografische Erzählung über Gauß und Humboldt als ‚Bilder‘. Diese Bilder sind keine Abbilder. Stattdessen reflektieren sie die zeitliche Distanz ihrer medialen Verfasstheit und damit die Ungenauigkeit ihres Ergebnisses mit – darauf weist die Episode von der verfrühten Fotografie und ihrem verschwommenen Ergebnis hin. Die Rahmenhandlung stellt dabei mit dem Bemühen der Nationalbewegung um staatliche Einheit einen Bezugsrahmen, in den die beiden Forscherbilder eingefasst wer-

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den. Inwiefern dieser Bezug zwischen den zwei Forschern und ‚dem Deutschen‘ auch in der Binnenerzählung über die Forscherbiografien auffindbar ist, wird im Folgenden untersucht.

2.2.1 Erziehung zum Deutschsein Die zwei Bilder, die der Roman von den Forschern Humboldt und Gauß entwirft, fallen sehr unterschiedlich bzw. gegensätzlich aus. In dieser Gegensätzlichkeit erfüllen sie jedoch beide klischeehafte Zuschreibungen des ‚deutschen Bildungsbürgers‘. Die konträre stereotype Gestaltung30 lässt die Figuren nicht als Individuen, sondern als Vertreter von zwei möglichen Modellen des ‚typisch Deutschen‘ erscheinen. Humboldt und Gauß werden entsprechend bestimmter deutscher Images gestaltet. Images sind in ihrer Oberflächlichkeit und Offenheit als Projektionen zu beschreiben, die Identifizierungswünsche und -sehnsüchte sichtbar machen können und eine phantasmatische Identität vorgeben. Sie wirken, trotz und aufgrund ihrer Vagheit, anschlussfähig. In der Erzählstrategie des Textes liegt daher zugleich sein Gegenwartsbezug. Der Roman setzt zumindest ein Stückwerk an Wissen voraus, um die impliziten Kontextualisierungen verstehen zu können. Er lädt dadurch zur Identifizierung – nicht mit den Figuren, sondern mit der Position der gebildeten Leserin/des gebildeten Lesers – ein.31 Der Roman, der sich an ein breites Lesepublikum richtet, belebt das Modell des Bildungsbürgertums als durchaus positives Modell wieder und suggeriert über seine Identifikationsangebote zugleich eine Teilhabe an diesem ansonsten eher exklusiven Entwurf. In dieser Weise ist der Text beteiligt an der imaginären Produktion eines aktuellen Deutschlands. Der lesende ‚Bildungsbürger‘ findet sich analogisiert mit den Bildungsbürgern des Textes, den Forscherfiguren. Das Image vom aufgeklärten Bildungsbürger ist wiederum ein preußisch-deutsches Image, war doch insbesondere Preußen ein Zentrum der  Dass der Text trotz seiner Stereotypie nicht langweilt, sondern ganz im Gegenteil unterhält, ist der Sprache des Romans geschuldet, die in ihrer Knappheit und Nüchternheit die Überspitzungen ausgleicht und für die komischen Effekte sorgt. Vgl. auch: Manfred Schneider, Vermessene Messlust. Weshalb eine literarische Doppelbiografie über Humboldt und Gauß den Wissenschaftshistorikern wie Freunden phantastischer Geschichtsromane ein unmäßiges Vergnügen bereitet. In: Literaturen, 10, 2005, S. 53–55.  Marius Meller erklärt den großen Erfolg und die Anschlussfähigkeit des Romans für eine so weite Leserschaft, die es zum „Kultbuch“ (S. 131) werden ließ, dadurch, „daß es wieder oder noch immer eine breite Bildungsschicht in Deutschland gibt, die man mit einer vorsichtigen Modifizierung des Begriffs als bürgerlich bezeichnen könnte“ (S. 131 f.) und „für die der altbürgerliche Bildungskanon wieder, oder immer noch, von Interesse ist“ (S. 133). Dabei geht Meller von einer „Neudefinition der Bürgerlichkeit“ (S. 133) aus, für die der Erfolg der Vermessung der Welt zum „Symptom“ (S. 134) wird. Meller, Die Krawatte im Geiste.

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deutschen Aufklärung, dessen aufwändiger Staatsapparat einer geschulten und gebildeten Schicht bedurfte. Nicht zuletzt verbunden damit ist die Figur des Preußenkönigs Friedrich II. als aufgeklärter Herrscher und Beförderer der Aufklärung, auf den sich Immanuel Kant in seiner als die Definition von Aufklärung berühmt gewordenen Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783) bezog. Die Vorstellungen vom aufgeklärten Bildungsbürger und Preußisch-Deutschen sind also eng miteinander verknüpft. Diese Verknüpfung zeigt sich im Roman auch in den Ausbildungswegen der Figuren Humboldt und Gauß. Humboldt erhält gemeinsam mit seinem Bruder ein aufwändiges Erziehungsprogramm, dessen Ziel die Vorbereitung für eine Karriere als Staatsbeamter Preußens ist. Um dies zu erreichen, umfasst das Bildungsprogramm, das die beiden Humboldtbrüder durchlaufen, nicht nur im Sinne der Ideale der Aufklärung ein interdisziplinäres Studium sowie die „Herzensbildung“ (VdW 23), sondern zugleich die ‚preußische Disziplin‘: Fünfzehn hochbezahlte Experten hielten ihnen Vorlesungen auf Universitätsniveau. Für den jüngeren Bruder Chemie, Physik, Mathematik, für den älteren Sprachen und Literatur, für beide Griechisch, Latein und Philosophie. Zwölf Stunden am Tag, jeden Tag der Woche, ohne Pause oder Ferien (VdW 20).

Aufklärerisches Vernunftdenken und preußische Zucht greifen dabei eng ineinander und wirken auf ein gemeinsames Ziel hin: „ein deutscher Mann“ (VdW 21) zu werden. Auch Gauß’ Ausbildung und Forscherkarriere steht unter den Leitprinzipien des aufklärerischen Bildungsideals und der preußischen Strenge. Gauß profitiert von den Errungenschaften der Aufklärung und erhält seine Ausbildung trotz der einfachen Herkunft aufgrund seiner Begabung. Die preußische Strenge lernt er jedoch bereits im ansonsten bildungsfernen Elternhaus kennen. Die erzieherischen Bemühungen des Vaters, eines Gärtners, konzentrieren sich auf die Anweisung, „sich immer, was auch geschehe, aufrecht zu halten“ (VdW 59 f.). Dieser Aufruf zur soldatischen Haltung scheint trotz der ansonsten großen Unterschiede nicht so weit von den Erziehungsleitsätzen Kunths, des Humboldt’schen Hauslehrers, entfernt zu sein, wird hier doch ebenfalls das Ziel der Erziehung zum „deutsche[n] Mann“ (VdW 21) formuliert: Sein Vater war Gärtner, hatte meist dreckige Hände, verdiente wenig, und wann immer er sprach, beklagte er sich oder gab Befehle. Ein Deutscher, sagte er immer wieder, während er müde die abendliche Kartoffelsuppe aß, sei jemand, der nie krumm sitze. Einmal fragte Gauß: Nur das? Reiche das denn schon, um ein Deutscher zu sein? Sein Vater überlegte so lange, daß man es kaum mehr glauben konnte. Dann nickte er. (VdW 53 f.)

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Das Deutschsein scheint in erster Linie eine Frage der Haltung32 zu sein und diese Haltung wiederum eine Frage der preußisch-deutschen Disziplin.

2.2.2 Bildung nach Goethes Bilde Im Fall von Humboldt wird die kindliche Erziehung zudem, so stellt es der Text dar, eine Art Bildungsexperiment, das ganz die Zeichen seiner Zeit und Herkunft trägt: „Er war der jüngere von zwei Brüdern. Ihr Vater, ein wohlhabender Mann von niederem Adel, war früh gestorben. Seine Mutter hatte sich bei niemand anderem als Goethe erkundigt, wie sie ihre Söhne ausbilden solle“ (VdW 19). Der Name Goethe steht also bereits von Anfang an wie ein Markenzeichen über Humboldts Karriere.33 Dabei geht es auch hierbei offensichtlich mehr um die Wirkung des ‚Image Goethe‘ als um Inhalte, denn die Bedeutung des Ratschlags des Geheimen Rates, so der humoristische Clou des Romans, „verstand keiner“ (VdW 19) und bleibt somit im Vagen: Er meine zu begreifen, sagte Kunth schließlich, es handle sich um ein Experiment. Der eine solle zum Mann der Kultur ausgebildet werden, der andere zum Wissenschaftler. Und welcher wozu? Kunth überlegte. Dann zuckte er die Schultern und schlug vor, eine Münze zu werfen. (VdW 20)

Das Erziehungsprogramm, das auf diese prominente, aber unbestimmte Empfehlung hin entworfen wird, ist überaus ehrgeizig. Das Produkt, das als Ergebnis dieses Experiments angesehen werden kann und für das das ‚Label Goethe‘ zu stehen scheint, ist eine Bildung nach den Idealen der Aufklärung und Klassik mit dem Ziel einer Beamtenkarriere im Dienste des preußischen Staates. Goethe als Name und Programm prägt nicht nur Humboldts Erziehung, sondern steht ebenso über seinen späteren Reisen. Vor seiner ersten Expedition nimmt Humboldts Bruder ihn mit nach Weimar. Die Begegnung mit Goethe zeigt diesen nicht als eigenständige Figur, sondern verweist vielmehr auf bestimmte feststehende Vorstellungen bzw. scheint sich an bekannten Bildern – Bildern im materiellen Sinne – anzulehnen:  In diesem Sinne argumentiert auch Joshua Kavaloski in Bezug auf diese Textstelle, in der er bei Gauß’ Vater ein Verständnis von nationaler Identität als „fixed posture and an immutable essence“ erkennt. Vgl. Joshua Kavaloski, Periodicity and National Identity in Daniel Kehlmann’s Die Vermessung der Welt. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch, 9, 2010, S. 263–287, S. 281.  Inwiefern die Goethe-Figur in Kehlmanns Die Vermessung der Welt als fiktiv anzusehen ist bzw. entsprechend der Biografie Goethes gestaltet wurde und welche Effekte sich aus diesem spezifischen Verhältnis von Fakten und Fiktion in dem Roman ergibt, legt Stenzel dar. Vgl. Stenzel, Goethe bei Kehlmann.

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Goethe nahm ihn beiseite und führte ihn durch eine Flucht in unterschiedlichen Farben gestrichener Zimmer zu einem hohen Fenster. […] Goethe verschränkte die Arme auf dem Rücken. Und nie solle er vergessen, von wem er komme. Humboldt verstand nicht. Er solle bedenken, wer ihn geschickt habe. Goethe machte eine Handbewegung in Richtung der bunten Zimmer, der Gipsabdrücke römischer Statuen, der Männer, die sich im Salon mit gedämpften Stimmen unterhielten. Humboldts älterer Bruder sprach über die Vorzüge des Blankverses, Wieland nickte aufmerksam, auf dem Sofa saß Schiller und gähnte verstohlen. Von uns kommen Sie, sagte Goethe, von hier. Unser Botschafter bleiben Sie auch überm Meer. (VdW 36 f.)

Kehlmanns Roman eignet sich Goethe nicht als eigenständige Romanfigur an, sondern implementiert hier ein vielfach tradiertes Goethebild: Goethe, die Arme hinter dem Rücken verschränkt in gedankenvoller Pose, ist eine der berühmtesten Goethedarstellungen und etwa von dem Gemälde Goethe, in seinem Arbeitszimmer, dem Schreiber John diktierend (1831) des Goethe’schen ‚Hausmalers‘ Johann Joseph Schmeller bekannt.34 Auch die Flucht der farbigen Zimmer mit den Gipsfiguren in der Wohnung am Weimarer Frauenplan, die die zitierte Textstelle anspricht, gehört ins Bilderarchiv des deutschen Bildungsbürgertums und wird vom Text deshalb als vertraut vorausgesetzt. Goethes Aussagen hingegen bleiben formelhaft und inhaltsleer – „Humboldt verstand nicht“ (VdW 37). Statt expliziter zu werden, führt Goethe nur eine unbestimmte Geste aus und verweist auf das, was ihn umgibt und für das er bzw. sein Name gleichsam stellvertretend – zumindest in Kehlmanns Roman – steht: die Weimarer Klassik, ihre aufgeklärten Ideen, Werte und Bildungsansprüche.35 Statt dies zu benennen oder formulierend zu erläutern, wird es mit einer „Handbewegung“ (VdW 37) vor Augen geführt. Um solchermaßen verlässlich zu funktionieren, muss sich Kehlmanns Erzähler sicher sein können, dass die Bilder und Vorstellungsbilder, die er aufruft, allgemein verständlich sind. Dafür müssen die Bilder in ihrer Vagheit so offen sein, dass sie verschiedene Vorstellungen aufnehmen können. Offensichtlich trifft das zu. Der internationale Erfolg des Romans spricht dafür, dass auch das nichtdeutschsprachige Lesepublikum in der Lage ist, die Bilder zu lesen. Insbesondere Goethe steht international für das Image Deutschlands als Land der Dichter und Denker,  Vgl. etwa den Ausstellungskatalog: Johann Joseph Schmeller, Ein Porträtist im Dienste Goethes. Katalog zur Ausstellung, hg. von der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, Weimar 2003.  Kavaloski bezeichnet die Figuren deutscher Hochkultur wie Humboldt, Gauß, Goethe und Kant in Kehlmanns Roman als „cultural icons“, denen die Funktion von „anchors of modern Germany’s positive self-definition“ zukomme. Vgl. Kavaloski, Periodicity and National Identity, S. 281.

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der Bildung und der klassischen Ideale, mehr noch, der Name funktioniert sogar als „Synonym“ 36 für die deutsche Kultur.

2.2.3 Zucht und Ordnung, Kauzigkeit und Genialität Gauß und Humboldt stehen für sehr gegensätzliche und dennoch jeweils nicht weniger ‚typisch deutsche‘ Bildungsbürgertypen. Kehlmanns Humboldt ist der Gelehrte, der sein ganzes Leben der Forschung widmet und dessen disziplinierte Vorgehensweise nach Vernunft und Verstand ebenso den aufklärerischen Idealen wie den preußischen Prinzipien entspricht. Die Figur Gauß hingegen, die der Roman als ‚Wunderkind‘ aufwachsen lässt, gibt die Vorstellung vom ‚zerstreuten Professor‘ wieder, dessen Ausnahmebegabung ihn zum kauzigen Original macht. Damit entsprechen beide Forscherporträts, die der Text zeichnet, bestimmten Ausprägungen des Images von Deutschland als Land der Dichter und Denker.37 Die Vermessung der Welt stattet Humboldt mit ausgeprägten ‚preußischen Tugenden‘ aus. Er ist überaus pflichtbewusst, diszipliniert und korrekt. Durch die Engführung, die ‚das Preußische‘ mit ‚dem Deutschen‘ erhält, kennzeichnen seine preußischen Eigenschaften Humboldt als ‚deutsch‘. Humboldts Sidekick, sein Reisebegleiter Bonpland, bietet als Franzose eine ideale Kontrastfigur, um dieses Deutschsein immer wieder zum Thema zu machen. So verpasst etwa Humboldt das unwiederbringliche Erlebnis einer Sonnenfinsternis, weil er seine „Arbeit eben ernster als andere“ (VdW 80) nimmt, worauf Bonpland

 Dieter Borchmeyer, Goethe. In: François, Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, S. 187–206, S. 187.  Dass diese Vorstellungen des ‚Deutschseins’ wirkmächtige Images der Gegenwart sind, darauf weist unter anderem auch die ausländische Rezeption von Kehlmanns Roman insbesondere nach der Übersetzung ins Englische und dem Erscheinen des Titels auf dem amerikanischen Markt hin. So feiert Tom LeClair in der New York Times nicht nur Kehlmanns Roman, sondern gleich ganz Deutschland, da hier ein Roman über die Wissenschaft die Bestsellerlisten anführt. Den Autor Kehlmann reiht er unmittelbar neben Humboldt und Gauß ein in die Reihe der „Geniuses“, wenn er Kehlmann wie diese als „prodigy“ – Wunderkind – bezeichnet. Dieses Beispiel der US-amerikanischen Rezeption verdeutlicht, dass die Vorstellungsbilder, die Deutschland als Land der Kultur und Bildung entwerfen, weiterhin wirkmächtig sind und die Außenwahrnehmung Deutschlands prägen. Tom LeClair, Geniuses at Work. In: The New York Times, 05. 11. 2006, http://www.nytimes.com/2006/11/05/books/review/LeClair.t.html?ref= review (abgerufen am 15. 01. 2009): „What a wonderful country Germany must be. Measuring the World, which resembles nothing more American than a pint-size novel by Thomas Pynchon, displaced J. K. Rowling and Dan Brown from the top of the German best-seller lists. Like the young Pynchon and the novel’s subjects – the early 19th-century German scientists Alexander von Humboldt and Carl Gauss – Daniel Kehlmann is something of a prodigy.”

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nur mit einer Frage antworten kann: „Müsse man immer so deutsch sein?“ (VdW 80, siehe auch VdW 111). Humboldts Deutschsein ist auch eine Sache seiner äußerlichen Erscheinung. Die Uniform, die er stets trägt, ist Zeichen für den nach außen getragenen Stolz auf die Zugehörigkeit zum preußischen Staat wie für die eigene Körperdisziplinierung. Gauß hingegen wird durch Launen, Eigenbrötlerei und die Tendenz zum „schwachen Moment“ (VdW 7) gekennzeichnet. Im Gegensatz zu Humboldt wird Gauß den Lesern als Kauz vorgestellt. Die Figur Gauß, weltfremd und zugleich genial, erinnert an die Sonderlinge auf den biedermeierlichen Gemälden Carl Spitzwegs. Damit scheint der Roman sich wiederum aus einem bestimmten und insbesondere sehr bekannten materiellen wie immateriellen Bilderarchiv zu bedienen, das in symptomatischer Weise illustrierend für ‚das Deutsche‘ steht. Nicht zuletzt ist Gauß selbst auf besondere materiell-bildliche Weise Teil dieses deutschen Bilderarchivs, ist doch die bekannteste Gaußdarstellung sicherlich diejenige, an einem um 1850 von Christian Albrecht Jensen gemalten Porträt orientierte, die von 199138 bis zur Einführung des Euros auf der 10-DM-Banknote39 zu sehen war. Als ‚Gesicht‘ einer Deutsche Mark-Banknote begleitete Gauß das alltägliche Leben der Deutschen. Zudem ist die Deutsche Mark, als stabile und zuverlässige Währung, Teil des Images der Bonner Republik, also eines mittlerweile überholten Deutschlands. Wie auf der Darstellung, die sich auf dem 10-DM-Schein befand, trägt auch Kehlmanns Gauß eine „Samtkappe“, die er sich „in den Nacken“ schiebt (VdW 282).

2.3 Raum und Nation: Weltvermessung und die Erfindung der Nation Neben dieser Gemeinsamkeit, dass der Text Humboldt und Gauß entsprechend bekannter Bilder als ‚Deutsche‘ zeigt, gibt es eine weitere wesentliche Überschneidung zwischen den beiden Figuren und diese ist zugleich titelgebendes Leitmotiv des Romans: Humboldt und Gauß widmen sich beide der Vermessung der Welt. In diesem abschließenden Abschnitt der Analyse von Kehlmanns Roman wird der These nachgegangen, dass das Titelmotiv der Vermessung mit dem Erzählen über ‚das Deutsche‘ zusammenhängt, das die bisherige Analyse  Das Datum der Erstausgabe war der 16. April 1991. Vgl.: http://www.bundesbank.de/ Redaktion/DE/Standardartikel/Kerngeschaeftsfelder/Bargeld/dm_banknoten.html#doc18118 bodyText2 (abgerufen am 09. 04. 2013).  Die Währung eines Staates kann mit Harold James als Symbol der nationalen Einheit gelten. Indem Gauß zu einem der „vielen Gesichtern“ (S. 436) der D-Mark gehört, prägt er dieses Nationalsymbol mit. Vgl.: Harold James, Die D-Mark. In: François, Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, S. 434–449.

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als ein Leitthema herausstellen konnte. Da die Vermessung die Kategorie des Raums mit sich führt, ist zu untersuchen, wie die Thematisierung von Räumlichkeit und ‚des Deutschen‘ hier verbunden sind. Gauß beginnt seine Tätigkeit in der Geodäsie widerwillig als „Gelegenheitsauftrag“ (VdW 88). Die Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, zwingt ihn zu der Arbeit als staatlicher Landvermesser.40 Im Unterschied dazu wird Humboldt, freiwillig und eher im Nebeneffekt, aus ganz anderen Gründen zum Landvermesser: Auf dem Weg nach Spanien vermaß Humboldt jeden Hügel. […] Ein Hügel, von dem man nicht wisse, wie hoch er sei, beleidige die Vernunft und mache ihn unruhig. Ohne stetig die eigene Position zu bestimmen, könne ein Mensch sich nicht fortbewegen. Ein Rätsel, wie klein auch immer, lasse man nicht am Wegesrand. (VdW 41 f.)

Damit folgt Humboldt dem Leitbild seiner aufgeklärten Erzieher, die ihn lehrten, „[w]ann immer einen die Dinge erschreckten, sei es eine gute Idee, sie zu messen“ (VdW 22) und folgert daraus, „[m]an müsse selbst so genau sein, daß einem die Unordnung nichts anhaben könne“ (VdW 129). Während Humboldt also auf Schritt und Tritt die von ihm bereisten, unbekannten Landstriche vermisst, erschließt und erobert er damit nicht nur die ‚neue Welt‘, sondern unterwirft sie einem aufgeklärten Weltbild, in dem sich alles über die Vernunft erfassen lässt und somit alles einer höheren Ordnung unterliegt. Humboldt vertritt den Standpunkt, „[d]ie Natur sei ein Ganzes“ (VdW 117), weshalb sie sich auch in einem „Katalog von Pflanzen- und Naturmerkmalen“ (VdW 221) erfassen ließe, woraufhin der „Kosmos […] ein begriffener sein [werde], alle Schwierigkeiten menschlichen Anfangs, wie Angst, Krieg und Ausbeutung, würden in die Vergangenheit sinken“ (VdW 238). Gauß hingegen stellt das vorherrschende Weltbild in Frage: Während die praktische Landvermessung für ihn nur lästiger Broterwerb ist, beschäftigt er sich seit seiner frühen Kindheit mit Fragen des Raums und kommt dabei zu Erkenntnissen, die den euklidischen Raum als allein mögliches Modell verabschieden. Als Junge beobachtet er von einem

 Der Beruf des Landvermessers ist hier nicht der einzige Bezug zu Franz Kafkas Roman Das Schloss (1922/1926). Wie Gunther Nickel ausführt, ist das Kapitel Der Garten aus Die Vermessung der Welt sehr eng an den Beginn von Kafkas Roman angelehnt. Vgl. Gunther Nickel, Von Beerholms Vorstellung zur Vermessung der Welt. Die Wiedergeburt des magischen Realismus aus dem Geist der modernen Mathematik. In: Nickel (Hg.), Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen, S. 151–168, S. 161 f. Zu den Bezügen zwischen Kehlmanns Roman und Kafkas Werken vgl. auch: Kavaloski, Periodicity and National Identity. Die Bezugnahme auf Kafkas Romanfragment kann wiederum als Referenz auf den Kanon deutscher Kultur gelesen werden und ordnet somit Die Vermessung der Welt in den Rahmen der deutschen Bildungsthematik.

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Fesselballon aus – also aus einem distanzierten, Abstraktion erlaubenden Blickwinkel – „[d]as in der Ferne gekrümmte Land“ (VdW 66) und folgert, „[d]aß alle parallelen Linien einander berühren“ (VdW 67). Anders als Humboldt, der für seine Reisen und damit für die empirischen Wissenschaften und induktiven Verfahren lebt, geht Gauß in den deduktiven und imaginativen Verfahren auf, für die er sein Zuhause nicht verlassen muss. Gauß beschreitet so den „Weg zu einer nicht-euklidischen Geometrie, der Vorstellung einer Welt, die nicht mehr erfahrbare Alltagswelt ist“ 41. Trotz der Beschränktheit seines Radius’ kommt Gauß damit zu den weiter reichenden Folgerungen in Bezug auf den Raum. Dem historischen Gauß ist ein Nachweis der Nicht-Euklidizität des Raums nicht gelungen.42 Dennoch präsentiert der Roman seine Figur (bereits als Kind) von der Überzeugung durchdrungen, dass sich für die Vermessung der Welt eine andere als die euklidische Geometrie anwenden lassen müsse43 und betont damit die Gegensätzlichkeit der Raumauffassung seiner beiden Hauptfiguren.44 Der Roman steht solchermaßen ganz im Zeichen der Vermessung: Während die beiden Hauptfiguren beim Ausmessen der Welt gezeigt werden, ist der Text selbst in einer beständigen Vermessungstätigkeit, verstanden als definitori Peter Bornschlegell, Als der Raum sich krümmte: die Entstehung topologischer Vorstellung in der Geometrie. In: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kulturund Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 153–169, S. 154.  Vgl. Bornschlegell, Als der Raum sich krümmte, S. 162 f.  „Er habe Ideen, die er noch keinem habe mitteilen können. Ihm scheine nämlich, daß der euklidische Raum eben nicht, wie es die Kritik der reinen Vernunft behaupte, die Form unserer Anschauung selbst und deshalb aller möglichen Erfahrung vorgeschrieben sei, sondern vielmehr eine Fiktion, ein schöner Traum. Die Wahrheit sei sehr unheimlich: Der Satz, daß zwei gegebene Parallelen einander niemals berührten, sei nie beweisbar gewesen, nicht durch Euklid, nicht durch jemand anderen. Aber er sei keineswegs, wie man immer gemeint habe, offensichtlich! Er, Gauß, vermute nun, daß der Satz nicht stimme. Vielleicht gebe es gar keine Parallelen. Vielleicht lasse der Raum auch zu, daß man, habe man eine Linie und einen Punkt neben ihr, unendlich viele verschiedene Parallelen durch diesen einen Punkt ziehen könne. Nur eines sei sicher: Der Raum sei faltig, gekrümmt und sehr seltsam.“ (VdW 96). Vgl. auch VdW 220.  Die gegensätzlichen Raumkonzepte der beiden Hauptfiguren des Romans setzt Katharina Gerstenberger in Beziehung zu den Veränderungen in der deutschsprachigen literarischen Kultur am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts und insbesondere zur Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Kunst. Vgl. Katharina Gerstenberger, Historical Space: Daniel Kehlmann’s Die Vermessung der Welt [Measuring the World, 2005]. In: Jaimey Fisher, Barbara Mennel, Spatial Turns. Space, Place, and Mobility in German Literary and Visual Culture, Amsterdam, New York 2010, S. 103–120. Zur gegensätzlichen Gestaltung der beiden Hauptfiguren und ihr damit korrespondierendes Wissenschaftsverständnis vgl. Gerhard Kaiser, Erzählen im Zeitalter der Naturwissenschaft. Zu Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt. In: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur, 1, 2010, S. 122–134.

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sche, beschreibende Unternehmung, begriffen. Indem der Text Humboldt und Gauß als ‚Deutsche‘ zeichnet und dabei unaufhörlich Deutschland-Images aufruft und zur Charakterisierung verwendet, die den historischen Roman zugleich in der Gegenwart verankern, unternimmt der Text den Versuch einer Beschreibung ‚des Deutschen‘ bzw. des Deutschlands heute. Diese Verbindung zwischen der Tätigkeit der Raumvermesser und der Thematisierung des Deutschen bzw. des Nationalen in dem Roman lässt sich noch weiterdenken. Ich möchte die These aufstellen, dass sich die konträren Raumauffassungen der beiden Forscherfiguren als Denkmodelle mit historisch unterschiedlichen Vorstellungen von Gemeinschaft bzw. Nation analogisieren lassen und die Vermessung der Welt solchermaßen einen Konnex mit der Erfindung der Nation aufweist. Der Umgang des Textes mit seinen zwei zentralen Themenfeldern, dem Deutschlanddiskurs und der Raumvermessung, ist jeweils durch ein wesentliches Umbruchmoment gekennzeichnet. Humboldts Vermessungstätigkeit liegt ein Denken von Räumlichkeit zugrunde, bei dem Raum als erfahrbare Größe, als Erfahrungsraum gesetzt wird. Die Welt, die Humboldt vermisst, ist ein beschreibbarer Naturraum, in dem sich die Dinge wie die Raumverhältnisse anschaulich und vorstellbar präsentieren, und der im Durchschreiten erschlossen wird. Ganz anders ist es bei Gauß. Gauß erschließt sich die Welt nicht über die Anschauung, sondern über die abstrakten Verfahren der Mathematik und der Logik. Raum ist daher eine abstrakte Struktur, die sich über Relationen bzw. logische Kohärenzen denken lässt. Gauß’ relationales Raumdenken folgt einem topologischen Modell, das nicht mehr mit der Beobachtung, der einfachen Anschauung übereinstimmt und sich der Vorstellung verweigert. Während Humboldt die Welt, in der er sich bewegt, vermisst und damit das Unheimliche bannt, fordert Gauß dieses Unheimliche heraus, wenn ihn der Text als Vordenker der nichteuklidischen Geometrie zeigt, für den Raum nichts mehr ist, das sich in der Anschauung wieder finden lässt. Humboldt vertritt mit seinem Denken von Raum als Erfahrungsraum ein Weltbild, das dem der Aufklärung entspricht. Gemäß der euklidischen Geometrie ist in diesem Denkmodell Raum eine vorstellbare Größe. Gauß wird in Kehlmanns Roman als Vordenker eines wesentlich fortschrittlicheren Raumkonzepts gezeigt, mit dem er seiner Zeit voraus ist. Der Raum nicht-euklidischer Geometrie ist ein relationaler, der sich folglich nicht mehr aufgrund der Anschauung ableiten lässt. Der Roman erzählt, wie die Vermessung der Welt einen Paradigmenwechsel erfährt von einem konkreten Anschauungsraum hin zu einem abstrakten Raummodell. Der zweite Paradigmenwechsel, den der Roman thematisiert und der sich hier anschließen lässt, ist die Erfindung der Nation. Insbesondere durch die

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zeithistorische Einordnung in der Rahmenerzählung und die Bezugnahme auf die nationalpolitischen Bewegungen und Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts ruft der Roman die Entwicklungen des beginnenden Nationalismus auf und verortet seine Handlung in einer Zeit der Herausbildung des Nationalen in Deutschland. Diese beiden Paradigmenwechsel, vom euklidischen zum nicht-euklidischen Raum, von der vornationalen Ordnung zur Vorstellung nationaler Gemeinschaft, lassen sich analogisieren. Beide können als Entwicklung zu einem abstrakten Denkmodell beschrieben werden. So wie Gauß’ Raumkonzept stellen auch die Ideen der Nationalbewegung eine Hinwendung zu einem abstrakten Modell dar. Die Nation, für die in Kehlmanns Roman Gauß’ Sohn Eugen, die Studenten, die Burschenschaften und die Turnerbewegung eintreten, stellt eine imaginierte Gemeinschaft, eine imagined community, dar. Die imaginierte Gemeinschaft der Nation, das hat Benedict Anderson ausführlich beschrieben, unterscheidet sich von face-to-face-communities, Gemeinschaften, deren Mitglieder sich kennen, und muss eine andere Grundlage für die Gemeinschaftsstiftung finden. Wie das Raumkonzept Gauß’, in dem Raum nicht mehr mittels der Anschauung in Erfahrung gebracht werden kann, ist auch die nationale Gemeinschaft nicht durch den Kontakt, die ‚Anschauung‘ seiner Mitglieder erfahrbar, sondern basiert auf der Vorstellung. Aus Gauß’ Raumdenken folgt auch eine bestimmte Sicht auf die Welt, die sich ebenfalls auf die nationale Gemeinschaft beziehen lässt. Die Welt scheint für Gauß etwas zu sein, dessen man sich nicht nur nicht, wie für Humboldt, in der Vermessung versichern kann, sondern etwas, das mittels der Vermessung erst Wirklichkeit wird: Manchmal war ihm, als hätte er den Landstrich nicht bloß vermessen, sondern erfunden, als wäre er erst durch ihn Wirklichkeit geworden. Wo nur Bäume, Moos, Steine und Graskuppen gewesen waren, spannte sich jetzt ein Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen. Nichts, was einmal jemand vermessen hatte, war noch oder konnte je sein wie zuvor. (VdW 268)

Gauß ‚erfindet’ die Welt, indem er sie vermisst. Ebenso muss auch die Gemeinschaft der Nation erfunden werden. Sie lässt sich nicht ‚auffinden‘, wie der Raum, den Humboldt mittels seiner Reisen in Erfahrung bringt, sondern muss mittels bestimmter Verfahren, vergleichbar mit der Vermessungstätigkeit Gauß’, die den Raum konstruiert, hergestellt werden. Diese Vorstellungsverfahren, die die Nation konstituieren, thematisiert der Roman und beteiligt sich zugleich daran. Wie in dem ersten Teil dieses Kapitels gezeigt werden konnte, stellt Kehlmanns Doppelbiografie über die Forscher Humboldt und Gauß Anschlussstellen für aktuelle Fragen der nationalen Identifikation bereit. Der Text ist nicht

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einfach eine historische Erzählung, sondern erzählt gerade auch über die Gegenwart seiner Entstehungszeit, indem er mit Bildern und Images arbeitet, die bis heute oder erst heute aktuell sind. So funktioniert ‚das Preußische‘ mit den damit verknüpften Eigenschaften, ‚Tugenden‘ und Werten heute als Synonym für bestimmte Deutschlandvorstellungen. In der historischen Zeit, über die der Roman erzählt, wurde diese Engführung jedoch erst hergestellt. Der Roman evoziert immer wieder das Visuelle und Bildhafte und bedient sich damit einer Erzählstrategie, mittels derer bestimmte Zusammenhänge nicht direkt benannt, sondern scheinbar unmittelbar vor Augen geführt werden, wie sich etwa an den spezifischen Kleidercodes der Nationalbewegung, der körperlichen Disziplinierung und Identifizierung der Turner oder auch in der Kindeserziehung (Haltung) und der Bezugnahme auf Gemälde und konkrete Bilder im Text zeigen ließ. Die Gestaltung der beiden Protagonisten entsprechend bestimmter Vorstellungen vom Deutschen stattet sie mit einer Image-Funktion aus. Gerade in diesem Verfahren, über Images zu erzählen, liegt auch die Anschlussfähigkeit des Romans begründet. Die Images und visuellen Signale des Textes appellieren an das Wissen der Leserinnen und Leser, das der Text voraussetzt. Insofern sind die Images immer auch Kommunikationssignale. Auf diese Weise, dies sei abschließend angeführt, funktionieren auch manche humoristischen Elemente des Romans nur über die Fortschreibung, die bestimmte historische Aspekte seit dem neunzehnten Jahrhundert bis heute erhalten haben, und über die Parallelisierung des als preußisch-deutsch geschilderten Verhaltens mit bestimmten aktuellen Klischees, in denen diese Muster fortleben. Als Beispiel lässt sich etwa das überkorrekte Auftreten Humboldts, ausgestattet mit steifer Uniform und Lupe vor dem Auge, in Übersee nennen, das seine Pointe daraus bezieht, dass hierin verbreitete Klischees der Gegenwart vom spießig-peinlichen Auftreten deutscher Touristen im Ausland mit unpassender Kleidung und überheblichem Verhalten aufgerufen werden. Humboldt, als ‚erster Reisender‘ fungiert hier als preußischer Vorläufer für diese Klischees.

3 Die Berliner Stadtschloss-Debatte 3.1 Stadt ohne Mitte Kehlmanns Die Vermessung der Welt enthält neben den im letzten Abschnitt beschriebenen Elementen ein weiteres Moment des Wiedererkennens, das sich aufgrund seines Bezugs auf Berlin als Überleitung zwischen der Romananalyse und der Beschäftigung mit der Berliner Stadtschloss-Debatte anbietet. Als

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Gauß und sein Sohn Eugen in Berlin ankommen, präsentiert der Text eine Schilderung der historischen Stadt, die sich in mehreren Aspekten im heutigen Kontext vertraut liest: Sie erreichten Berlin am Spätnachmittag des nächsten Tages. Tausende kleiner Häuser ohne Mittelpunkt und Anordnung, eine ausufernde Siedlung an Europas sumpfigster Stelle. Eben erst hatte man angefangen, prunkvolle Gebäude zu errichten: einen Dom, einige Paläste, ein Museum für die Funde von Humboldts großer Expedition. In ein paar Jahren, sagte Eugen, werde das hier eine Metropole sein wie Rom, Paris oder Sankt Petersburg. Niemals, sagte Gauß. Widerliche Stadt! (VdW 13 f.)

Nicht nur die Zuschreibung für das gegenwärtige Berlin, eher provinziell denn Metropole zu sein, und die häufige Erscheinung, dass sich an Berlin die Meinungen zwischen Berlinliebhabern und -hassern spalten, werden in dieser Episode aufgerufen. Berlin 1828 ist – wie das Berlin der Gegenwart – eine Baustelle, ein unabgeschlossenes Hauptstadtprojekt. Das Berlin der 1990er Jahre mit den gigantischen Bauvorhaben etwa am Potsdamer Platz, im Regierungsviertel oder des Hauptbahnhofs galt als ‚größte Baustelle Europas‘ und bis heute bestimmen die Bauprojekte der Stadt – so etwa der Neubau der USamerikanischen Botschaft oder die Diskussionen über die Neugestaltung des Alexanderplatzes – den öffentlichen Berlindiskurs. Während der Roman schildert, wie Berlin als Stadt der preußischen Reformen, als Repräsentantin Preußens entsteht und als gestaltete, geordnete Stadt hergestellt und damit fassbar wird, geht es gegenwärtig wiederum um die Gestaltung Berlins als Hauptstadt der Berliner Republik und damit als nationale Repräsentanz: „Hauptstädte sind zweifelsohne die zentralen Bühnen für die Inszenierung des Nationalen.“ 45 Die kurze Berlin-Passage in Die Vermessung der Welt verweist darauf, die Stadt sei „ohne Mittelpunkt“ (VdW 13). Auch die am längsten anhaltende und immer noch aktuelle Auseinandersetzung um die Neugestaltung des aktuellen Berlins – die so genannte Stadtschlossdebatte – zentriert sich um die Forderung nach einem Mittelpunkt. So benennt beispielsweise Claudia Breger in ihrer Analyse der publizistischen Rhetorik zur Stadtschlossdebatte und den darin verhandelten Königsphantasien „[d]ie ortlose Mitte der künftigen Berliner Republik“ als „zweifellos ein[en] zentrale[n] Topos der Debatte“ 46. Diese promi Beate Binder, 50. Wiederkehr des Kriegsendes: Zur Konstruktion der Gedächtnislandschaft Berlin. In: Beate Binder, Wolfgang Kaschuba, Peter Niedermüller (Hg.), Inszenierung des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts, Köln 2001, S. 285–308, S. 285.  Breger, Szenarien kopfloser Herrschaft, S. 459.

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nente Debatte soll im Folgenden kurz in Erinnerung gerufen werden und dabei insbesondere im Hinblick auf die rhetorische Zirkulation und Metaphorisierung der Rede von der Mitte in den Blick genommen werden. Die Stadtschlossdebatte markiert den besonders lebhaften und öffentlichkeitswirksamen Fall einer ‚Vermessung des Nationalen‘, die hier ebenso zur Diskussion steht wie in Kehlmanns Roman. Gestritten wurde und wird in dieser Debatte nicht nur über Formen der nationalen Repräsentation, die Untersuchung der Debatte ist insbesondere vielversprechend für eine Analyse der Dynamiken des Imaginären, da hier mit der Gestaltung Berlins zugleich Selbstbilder zur Diskussion gestellt werden, über die sich das Deutschland der Berliner Republik entwirft. In der Analyse stellt sich heraus, dass auch hier – wie in Kehlmanns Roman – weniger neue Bildentwürfe entstehen, sondern vielmehr tradierte Images und Bilder fortgeschrieben oder aktiviert werden.

3.2 Mitte: Palast der Republik – Stadtschloss Die so genannte Berliner Stadtschlossdebatte kann als eine der längsten Gestaltungsdebatten und als einer der am intensivsten geführten Meinungsbildungsprozesse der deutschen Zeitgeschichte gelten.47 Angestoßen wurde die Debatte 1990, als die Vereinigung der beiden deutschen Staaten zur gegenwärtigen Bundesrepublik zu einer Neugestaltung deutscher Öffentlichkeit herausforderte, durch einen Essay des Publizisten Joachim Fest in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Bereits der Titel dieses Beitrags, der zum ‚Stein des Anstoßes‘ eines jahrzehntelangen Streits werden sollte, trug die zentrale Metapher von der ‚verlorenen Mitte‘ im Titel: Denkmal der Baugeschichte und verlorenen Mitte Berlins. Das Neue Berlin, Schloss oder Parkplatz? Plädoyer für den Wiederaufbau des Schlüterschen Stadtschlosses48. Das Schloss war Residenz der Hohenzollern als Kurfürsten und Markgrafen von Brandenburg, Sitz der Könige in Preußen und Repräsentation des preußischen Staates sowie ab 1871 Rahmen für die Staatszeremonien der deutschen

 Für den Überblick über die Debatte vgl.: Anna-Inés Hennet, Die Berliner Stadtschlossdebatte. Im Spiegel der Presse, Berlin 2005; sowie Anna-Inés Hennet, Die Berliner Schlossplatzdebatte – Die Geschichte einer Identitätssuche. In: Alexander Schug (Hg.), Palast der Republik. Politischer Diskurs und private Erinnerung, Berlin 2007, S. 54–66.  Der Essay von Joachim Fest erschien in der Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. November 1990, vgl.: Hennet, Stadtschlossdebatte – Geschichte einer Identitätssuche, S. 65, Fußnote 16.

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Kaiser.49 In der Folge des Zweiten Weltkrieges wurden die Innenräume des Schlosses weitgehend zerstört, während wesentliche Teile der Außenwände, Fassaden und Höfe erhalten blieben. Im Rahmen der Planungen für eine Neugestaltung Ost-Berlins als sozialistische Hauptstadt fiel mit maßgeblicher Unterstützung von SED-Generalsekretär Walter Ulbricht die Entscheidung für den Abriss des Stadtschlosses, der in der zweiten Jahreshälfte 1950 erfolgte. 1976 wurde auf dem ehemaligen Schlossgrundstück der Palast der Republik eingeweiht – als Mehrzweckgebäude, in dem sowohl die Volkskammer und Räume für politische Veranstaltungen als auch verschiedene Kultur-, Freizeitund Gastronomieeinrichtungen untergebracht waren. Obwohl – bzw. gerade weil – die Nutzung des Palastes der Republik zu über 90 Prozent nicht-politischer, sondern kultureller oder freizeitgestalterischer Art war, hatte das Gebäude, als „gesellschaftlicher Mittelpunkt der DDR“ 50 einen hohen, nicht zu unterschätzenden symbolischen Stellenwert innerhalb der politischen Selbstinszenierung der DDR.51 Im September 1990 wurde der Palast der Republik, noch auf Beschluss des Ministerrats der DDR, aufgrund seiner Kontamination mit Asbest geschlossen. Zwei Monate später erschien Fests Plädoyer für den Wiederaufbau des Schlüterschen Stadtschlosses. Die darauf folgende Debatte, an der sich weite Teile der deutschen Öffentlichkeit beteiligten und die in den

 Die Geschichte des Schlosses geht zurück auf die Grundsteinlegung einer neuen Residenz durch Kurfürst Friedrich II. aus dem Geschlecht der Hohenzollern, genannt ‚Eisenzahn‘, im Jahr 1443. Kurfürst Friedrich III. ließ die Residenz ab 1698 von Andreas Schlüter zum repräsentativen Schloss ausbauen und verdeutlichte damit seinen Herrschaftsanspruch, den er 1701 mit der Krönung zum König in Preußen, Friedrich I., umsetzte. Ab 1706 setzte Eosander von Göthe als Schlüters Nachfolger den Ausbau fort. Unter Friedrichs I. Sohn Friedrich Wilhelm I., dem ‚Soldatenkönig‘, erfolgte die Ergänzung der Baumaßnahmen durch Martin Heinrich Böhme. Unter Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV. nahm Karl Friedrich Schinkel Einfluss auf die weiteren Ausbauten und Umgestaltungen des Schlosses und seiner Umgebung. So geht etwa auch die Schlosskapelle mit Kuppel, die 1845 von Friedrich August Stüler in Bau genommen wurde, auf einen Entwurf Schinkels zurück. Mit der Kaiserkrönung Wilhelms I. 1871 wurde das Schloss zum Kaiserschloss – auch wenn Wilhelm I. hier nicht wohnte, nutzte er es doch für Staatszeremonien. Mit der Regierungsübernahme von Wilhelm II. begann die umfangreichste Umgestaltungsphase seit Schlüter und Eosander. Vgl. für diese sowie die in diesem Abschnitt des Haupttextes genannten historischen Daten: Hennet, Berliner Stadtschlossdebatte. Im Spiegel der Presse, S. 17–29; Katrin Jordan, Vom Hohenzollernschloss zum Volkspalast. Ein kurzer Abriss zur Geschichte des Schlossplatzes. In: Schug (Hg.), Palast der Republik, S. 20–29.  Jordan, Vom Hohenzollernschloss zum Volkspalast, S. 26.  Vgl. auch: Björn Skor, Der Palast der Republik als politischer Ort. In: Schug (Hg.), Palast der Republik, S. 30–39; Lara Kneisler, Die ‚erträumte DDR‘ – Der Palast der Republik als Kulturstandort. In: Schug (Hg.), Palast der Republik, S. 40–53. Sowie: Moritz Holfelder, Palast der Republik. Aufstieg und Fall eines symbolischen Gebäudes, Berlin 2008.

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Feuilletons, über die Medien, in Podiumsdiskussionen, in politischen Ausschüssen wie Denkmalschutz-Gremien geführt wurde, kann und soll hier nicht in allen Einzelheiten nachgezeichnet werden.52 Die 2001 von Bundesregierung und Berliner Senat eingesetzte Expertenkommission Historische Mitte Berlin sprach sich für den Wiederaufbau des Schlosses aus.53 Der Bundestag entschied am 4. Juli 2002 unter Aufhebung des Fraktionszwangs über die Fassadengestaltung und gab vor, dass diese an (mindestens) den drei Hauptseiten des Schlossneubaus als Rekonstruktion der barocken Fassade zu erfolgen habe. Damit waren die Rahmenbedingungen für den Architektenwettbewerb gesteckt, der im Dezember 2007 ausgeschrieben und dessen Gewinner, der Entwurf des italienischen Architekten Francesco Stella, am 28. November 2008 präsentiert wurde.54 Der Aufwand und die Leidenschaft, mit der die Debatte geführt wurde und wird, machen deutlich, dass es hier nicht einfach um eine städtebauliche oder ästhetische Streitfrage geht. Die Debatte kann vielmehr als Symptom einer Identitätssuche der deutschen Gesellschaft gesehen werden. Für die Befürworter des Wiederaufbaus scheint in der Rekonstruktion des historischen Gebäudes das Versprechen dieser Identität zu liegen. Der Schlossplatz, so scheint es, wird deshalb zum Zankapfel, weil er als die ‚Mitte Berlins‘ imaginiert wird. Diese Metaphorik zielt nicht einfach darauf, dass sich das Schlossareal im Berliner Bezirk Mitte befindet. Immer wieder wird der Schlossplatz selbst als Mitte, Mittelpunkt, Zentrum oder zentraler Bezugspunkt bezeichnet. Die Rhetorik von der Mitte findet sich bei allen Akteuren und zieht sich durch die Beiträge sowohl der Schloss-Freunde als auch der Schloss-Kritiker und PalastVerteidiger, ist jedoch mit sehr unterschiedlichen Implikationen verbunden.55 Während in dem Sammelband Volkspalast, der die kulturelle Zwischennutzung des Palasts der Republik in den Jahren 2004 und 2005 dokumentiert, die „leere Mitte“ als eine kreativ und produktiv zu nutzende Offenheit und damit als  Vgl. für einen detaillierten Überblick über die Debatte in den Printmedien: Hennet, Berliner Stadtschlossdebatte. Im Spiegel der Presse. Sowie aus stadtethnologischer Perspektive: Beate Binder, Streitfall Stadtmitte: Der Berliner Schlossplatz, Köln u. a. 2009.  Vgl. dazu das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: http:// www.bmvbs.de/dokumente/-,302.933347/Artikel/dokument.htm (abgerufen am 13. 02. 2009).  Vgl. die Presseerklärung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, http://www.bmvbs.de/-,302.1059499/doc.htm (abgerufen am 13. 02. 2009).  Auch in der DDR schloss man an die barocke bzw. preußische zentralistisch ausgerichtete Stadtplanung an und konzeptionalisierte das Schlossareal als ‚Mitte‘. Der Palast der Republik war Ergebnis jahrzehntelanger Planungen für ein ‚Zentrales Gebäude‘, das die Neugestaltung der ‚historischen Mitte‘ im Sinne einer sozialistischen Stadt abrunden sollte. Vgl. etwa: Moritz Holfelder, Berliner Zentrumsplanungen. In: Moritz Holfelder, Palast der Republik. Aufstieg und Fall eines symbolischen Gebäudes, Berlin 2008, S. 21–26.

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„DENKRAUM für die Zukunft“ 56 betrachtet wird, vertreten andere Akteursgruppen jedoch gerade eine Schließung dieses offenen Raums. Die Forderung nach der Schließung wird dabei von denjenigen Akteuren vorgebracht, die sich mit der Entscheidung für den Wiederaufbau des Schlosses als Sieger der Debatte sehen. Die Leerstelle, die mit dem abgeschlossenen ‚Rückbau‘ des Palasts der Republik Ende 2008 tatsächlich als Baulücke entstanden ist und die bereits in den Jahren zuvor metaphorisch für die ideologische Leerstelle stand, die der ungenutzte Palast der Republik nach dem Ende der DDR zu verkörpern schien, soll durch die detailgetreue Rekonstruktion der Schlossfassaden gefüllt werden. „Eine Wunde wird geschlossen“ 57, so titelte die Frankfurter Allgemeine im April 2007. Damit wird deutlich, dass die ‚leere Mitte‘ in dieser Debatte tatsächlich nicht als einfache Baulücke und architektonisches oder stadtplanerisches Problem begriffen wird, sondern mit einem Mehr verbunden ist, mit einer ‚Ganzheit‘, für die das Stadtschloss als „[d]as letzte fehlende Stück“ 58 fungiert. Der Förderverein Berliner Schloss e. V., der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die 80 Millionen Euro, die voraussichtlich für die Errichtung der barocken Fassade nötig sein werden, durch private Spenden aufzubringen, erläutert in der Erklärung seiner Anliegen: Es wird das vertraute Bild Berlins wieder herstellen, die historische Mitte vervollständigen, das Stadtbild heilen. […] Das Schloss wird die Bürger mit dem Wiederaufbau der Stadt versöhnen, findet doch jeder nun seine bauliche Heimat im alt-neuen Berlin.59

Auch hier taucht die Rede von der Heilung auf. Etwas soll in einen scheinbaren Urzustand zurückversetzt werden, wodurch Vollständigkeit, Versöhnung und Heimat erreicht würden. Worauf bezieht sich diese Vorstellung von Ganzheit, die herzustellen das Schloss verspricht? Die ‚Mitte Berlins‘ bestimmt als tragende Metapher auch Wolf Jobst Siedlers Essay Das Schloss lag nicht in Berlin – Berlin war das Schloss.60 Das Stadtschloss und seine Umgebung werden bei

 Amelie Deuflhard u. a. (Hg.), Volkspalast. Zwischen Aktivismus und Kunst, Berlin 2006, S. 10.  Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. April 2007, http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64 960822FA5429A182360/Doc~E25F81D7F04FC46BE8476012A21B0BE34~ATpl~Ecommon~ Scontent.html (abgerufen am 16. 02. 2009).  Jörg Häntzschel, Das letzte fehlende Stück. Reiche Amerikaner spenden für das Berliner Stadtschloss, In: Süddeutsche Zeitung, 08. 09. 2008, S. 13.  http://www.berliner-schloss.de/start.php?navID=31&typ=main (abgerufen am 16. 02. 2009).  Wolf Jobst Siedler, Das Schloss lag nicht in Berlin – Berlin war das Schloss, http:// www.berliner-schloss.de/start.php?navID=249 (abgerufen am 13. 02. 2009). Dagegen wendet Moritz Holfelder ein: „Es [das Schloss, KG] besaß bis zum Schluss keine wirkliche Anbindung an die Stadt“ (Holfelder, Palast der Republik, S. 85).

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Siedler als „ein Ort der Fülle“ bezeichnet, der sich „im Herzen Berlins“ 61 befinde. Dabei geht es jedoch nicht nur um die städtebauliche Ausrichtung des historischen Berlins, als dessen zentraler Punkt das Schlossareal fungierte. Berlin als Hauptstadt der neuen Berliner Republik macht hier eine metonymische Verschiebung lesbar, die die ‚Mitte‘ und das ‚Herz‘ Berlins zugleich als ‚Mitte‘ und ‚Herz‘ der Nation erscheinen lässt.62 Diese Setzung als ‚Herz der Nation‘ ist jedoch durchaus nicht bei allen Streitenden nur metaphorisch gemeint. Wie auf Seiten der Schlossbefürworter häufig argumentiert wird, habe der Schlossplatz historisch über lange Zeiträume stets die geografische Staatsmitte bezeichnet. Spätestens für die heutige Bundesrepublik können BerlinMitte und Schlossplatz jedoch keine geographische Zentralposition mehr behaupten. Die Zuschreibung scheint dadurch jedoch nicht an Wirkmächtigkeit einzubüßen – ganz im Gegenteil.

3.3 Das leere Zentrum Um die Funktion der beschriebenen Fokussierung auf ‚die Mitte‘ in der Stadtschlossdebatte präziser fassen zu können, soll im Folgenden Roland Barthes’ Das Reich der Zeichen (original: L’empire des signes, 1970) herangezogen werden. Darin beschreibt Barthes „eine kinästhetische Empfindung der Stadt“, die grundlegend im westlichen Menschen verankert sei, wonach jeder urbane Raum ein Zentrum besitzen muß, in das man gehen und aus dem man zurückkehren kann, einen vollkommenen Ort, von dem man träumt und in bezug auf den man sich hinwenden und abwenden, mit einem Wort: sich finden kann.63

Diese Stadtraumordnung bezeichnet Barthes als eine Art ‚Gesetz des Westens‘. Die westlichen, konzentrisch angelegten Städte spiegelten dabei die „Grundströmung westlicher Metaphysik“ 64 wider. Das Zentrum wird zum „Ort der Wahrheit“ 65. Darüber hinaus sei das Zentrum „durch Fülle gekennzeichnet“ 66, da hier Gebäude wie Kirchen, Büros oder Kaufhäuser die Werte westlicher

 http://www.berliner-schloss.de/start.php?navID=249 (abgerufen am 13. 02. 2009).  Vgl. auch: Breger, Szenarien kopfloser Herrschaft, S. 460.  Roland Barthes, Stadtzentrum, leeres Zentrum. In: Roland Barthes, Das Reich der Zeichen, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 1981 [Original 1970], S. 47–50, S. 47.  Barthes, Stadtzentrum, leeres Zentrum, S. 47.  Barthes, Stadtzentrum, leeres Zentrum, S. 47.  Barthes, Stadtzentrum, leeres Zentrum, S. 47, (Hervorhebung im Original).

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Gesellschaften repräsentieren: „Ins Zentrum gehen heißt die soziale ‚Wahrheit‘ treffen, heißt an der großartigen Fülle der ‚Realität‘ teilhaben.“ 67 Barthes’ Überlegungen berücksichtigend, lässt sich die Stadtschlossdebatte und ihr rhetorisches Kreisen um die Metaphorik der Mitte als symptomatisch für das Bedürfnis nach eben diesem vollkommenen, privilegierten Ort verstehen, an dem eine Gesellschaft ‚sich findet‘. Der Streit um Nutzung und Bebauung des Schlossareals verweist auf eine grundsätzliche Debatte um das, was die ‚Fülle‘ unserer Gesellschaft heute ausmacht, womit die Mitte, in der sich Bedeutung und Identität konzentrieren, gefüllt sein kann. Barthes’ Semiotik der Stadt folgend, geht es in der Berliner Stadtschlossdebatte also um die Setzung – Er- und Durchsetzung – eines privilegierten Signifikanten. Die Debatte behauptet das Schlossareal (zwischenzeitlich Marx-Engels-Platz, heute wieder Schlossplatz) als ‚Mitte‘ und damit als ebenjenes Zentrum, das Barthes als identitätstiftenden Ort innerhalb westlicher Gesellschaften beschreibt. Da es sich bei Berlin um die Hauptstadt der Bundesrepublik handelt, wird die Berliner Mitte zur Mitte der Nation. Der Streit um das Stadtschloss kann also als Streit über die grundsätzlichen Werte der Nation bzw. über die Identität der Nation verstanden werden. Barthes zeigt jedoch auch, dass sich eine Stadt durchaus ohne eine solche Mitte der Fülle denken lässt. Am Beispiel von Tokio führt Barthes aus, welchen Effekt es hat, entzieht sich eine Stadt dieser westlichen, auf das Zentrum fixierten Logik. Die japanische Stadt „offenbart ein kostbares Paradox: sie besitzt durchaus ein Zentrum, aber dieses Zentrum ist leer. Die ganze Stadt kreist um einen verbotenen und zugleich indifferenten Ort“ 68. Das Zentrum ist dann nicht greifbar, ist „nicht mehr als eine flüchtige Idee“ 69. Dennoch geht gerade von dieser Unbestimmtheit eine besondere Energie aus. Sie erfüllt „den Zweck, einer ganzen städtischen Bewegung den Halt ihrer zentralen Leere zu geben“ 70. „Auf diese Weise […] entfaltet sich das Imaginäre zirkulär über Umwege und Rückwege um ein leeres Subjekt.“ 71 Bleibt die Mitte leer – also nicht durch die Repräsentanz eindeutiger gesellschaftlicher Werte definiert – führt dies laut Barthes nicht zu einer Auflösung von Identität, sondern scheint vielmehr jene Bewegungen sichtbar zu machen, die jeglicher Identitätssetzung stets inhärent sind. Das ‚Kreisen um die Leere‘ wird so verständlich als die Bewegung identifikatorischer Prozesse. In Barthes’ Lesart – und diese lässt sich an die Thesen

    

Barthes, Barthes, Barthes, Barthes, Barthes,

Stadtzentrum, Stadtzentrum, Stadtzentrum, Stadtzentrum, Stadtzentrum,

leeres leeres leeres leeres leeres

Zentrum, Zentrum, Zentrum, Zentrum, Zentrum,

S. 47. S. 47 f. S. 50. S. 50. S. 50.

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dieser Arbeit zur Funktionsweise des Imaginären anschließen – wird diese Bewegung ausgerechnet dann produktiv, wenn die leere Mitte nicht von vornherein eindeutig besetzt ist. Vergleicht man diese Bewegung mit der Dynamik des Imaginären, kann ihre Produktivität gerade darin gesehen werden, dass sie um die Leere kreisend dazu aufgefordert ist, dieser Leere Bildentwürfe entgegenzusetzen, um sie – vermeintlich – zu füllen bzw. auf phantasmatische Weise zu ‚überspannen‘. Gerade diese Bewegung, die sich auch in der Berliner Debatte erkennen lässt, soll durch die Bebauung der ‚leeren Mitte‘ zum Stillstand gebracht werden. An die Stelle der Leere soll eine Fülle gesetzt werden, die ihre „soziale ‚Wahrheit‘“ 72 aus der historischen Tradition bezieht, an die hier angeknüpft und mit der eine geschichtliche Kontinuität behauptet wird. Jedoch ist es fraglich, ob dieses Vorhaben gelingen kann. Übersehen wird dabei, dass auch das Zentrum als der privilegierte Ort der Fülle zwar als Bezugspunkt fungieren kann, die identifikatorische Bewegung jedoch durch ihn nicht gestoppt wird. Die identifikationsstiftende Funktion des Zentrums setzt voraus, dass man sich zu ihm in Beziehung setzt – in Barthes’ Worten ist es ein Ort, „von dem man träumt und in bezug auf den man sich hinwenden und abwenden kann“ 73. Das ‚sich-Finden‘74 ist solchermaßen auch immer schon prozessual. Die Stabilität, die der zentrale Ort als Ort repräsentativer, eindeutig symbolischer Gebäude jedoch vermittelt, täuscht über diesen labilen Status der durch ihn versuchten Identifikationen hinweg.

3.4 Schloss-Simulationen: Leere Kulissen, Stadt-Bild Der angesprochene Aspekt der Täuschung und das Problem von Fülle und Leere oder Leere der Fülle bleiben auch nach der Entscheidung für das Stadtschloss bestehen bzw. prägen den Diskurs um das neue Schloss von Anfang an. So wurde der Entscheidungsprozess pro Schloss maßgeblich durch eine Simulation, eine leere Hülle vorangetrieben.75 Auf Initiative des Fördervereins Berliner Schloss e.V. und mittels Aufbringung erheblicher privater Spenden wurde 1993 eine Attrappe des Stadtschlosses im Maßstab 1 : 1 auf dem Schlossplatz, der zu diesem Zeitpunkt noch Marx-Engels-Platz hieß, errichtet. Auf eine

 Barthes, Stadtzentrum, leeres Zentrum, S. 47.  Barthes, Stadtzentrum, leeres Zentrum, S. 47.  Vgl. Barthes, Stadtzentrum, leeres Zentrum, S. 47.  Vgl. Hennet, Berliner Stadtschlossdebatte. Im Spiegel der Presse, S. 59–68, insbesondere S. 67 f. Vgl. ebenfalls Moritz Holfelder, Palast der Republik, S. 85 f.

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Gerüstkonstruktion wurden Kunststoffleinwände montiert, auf die von der französischen Großbildkünstlerin Catherine Feff die Schlossfassade gemalt worden war. Die Installation war 15 Monate auf dem Schlossplatz zu sehen und wurde von einer Ausstellung begleitet, die sich der Baugeschichte des Schlosses widmete. Beobachter der Stadtschlossdebatte wie Anna-Inés Hennet und Moritz Holfelder stimmen darin überein, dass die Schlossinstallation als entscheidender Aspekt zu bewerten sei, der die Meinungsbildung und die öffentliche Stimmung in Richtung Befürwortung des Wiederaufbaus bewegt habe.76 Bemerkenswert daran ist, dass damit der reinen Anschauung eine Überzeugungskraft zugesprochen wird, die die gesamte Debatte zu dominieren in der Lage ist. Holfelder spricht sogar von der „manipulative[n] Kraft des großen Abbildes vom Schloss“, gegen die „auf Dauer nicht anzukommen“ 77 gewesen sei. Die Fassadeninstallation ist lediglich und offensichtlich eine Simulation des Schlosses und dabei nicht mehr als eine Kulisse – dennoch scheint sie etwas vor Augen zu führen, das bis dahin zu abstrakt oder sogar unmöglich erschien und das es schafft, Sehnsüchte anzuregen. Hennet fasst zusammen: „Es geht hier einzig um die Wiederherstellung eines verlorenen Bildes.“ 78 Die Attrappe, das ‚Fake-Schloss‘, gab vor, das Stadtbild schließen und zu einem ‚Ganzen‘ fügen zu können. Die Rekonstruktion des Schlosses, die nun angestrebt ist und für die die Anschaulichkeit der Fassadeninstallation eine Mehrheit gewinnen konnte, unterscheidet sich strukturell betrachtet gar nicht so sehr von seinem temporären Abbild. Auch dieses Schlossgebäude wird stets Kulisse bleiben: nur äußerlich und nur auf drei Seiten ist die barocke Rekonstruktion vorgesehen, die Innenräume werden nicht wieder aufgebaut.79 Auch dieses neue, massive Schloss wird man also nicht betreten können – es bleibt eine ebensolche optische Simulation wie das Vorbild des Leinwandschlosses. Das Stadtschloss, wenn es denn einmal wieder aufgebaut ist, wird also eine eher gespenstige Existenzform haben – eine bloße Erscheinung äußerer Form sein – und bezieht

 Vgl. Hennet, Berliner Stadtschlossdebatte. Im Spiegel der Presse, S. 59–68, insbesondere S. 67 f. Vgl. ebenfalls Holfelder, Palast der Republik, S. 85 f.  Holfelder, Palast der Republik, S. 85.  Hennet, Berliner Schlossplatzdebatte. Geschichte einer Identitätssuche, S. 57.  Es gibt jedoch auch Stimmen, die sich für die vollständige Wiedererrichtung des Schlosses, einschließlich der Innenräume einsetzen, etwa die Gesellschaft Berliner Schloss e. V. Vgl. die Homepage des Vereins: www.berliner-stadtschloss.de (abgerufen am 01. 03. 2011) oder den von der Gesellschaft herausgegebenen Sammelband: Guido Hinterkeuser (Hg.), Wege für das Berliner Schloss/Humboldt-Forum. Wiederaufbau und Rekonstruktion zerstörter Residenzschlösser in Deutschland und Europa (1945–2007), im Auftrag der Gesellschaft Berliner Schloss, Regensburg 2008.

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seine Existenzberechtigung dennoch aus dem Versprechen reiner Präsenz, die es transportiert. Diese Präsenz bezieht sich jedoch in erster Linie nicht auf das Schloss selbst. Vielmehr geht es um das Schließen der vermeintlichen Lücke bzw. Leere. Dies kann offensichtlich auch eine Kulisse bzw. äußerliche Schlossfassadenrekonstruktion erreichen. Denn – so zeigt sich – es geht nicht wirklich um das Füllen der Lücke, sondern tatsächlich um den Anschein. So bemerkt auch der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt in einem kritischen Vortrag zum Berliner Schloss: „Was hier zählt, ist die Vedute, der sofort einleuchtende Augeneindruck, nicht der im Durchschreiten zu erlebende Bauorganismus.“ 80 Diese Beobachtungen lassen sich an meine These anschließen, dass sich die Dynamiken imaginärer Identifizierung stets an Bildentwürfen ausrichten und diesen Bildentwürfen trotz ihrer Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit eine nicht hoch genug zu bewertende Wirkmächtigkeit zukommt. Es wird deutlich, dass bei der Debatte um den Wiederaufbau des Stadtschlosses um viel mehr gestritten wird als ‚nur‘ um das Schloss selbst. Vielmehr präsentiert sich die Debatte mit ihrem Kreisen um eine Rhetorik der Mitte und der Ganzheit als Diskurs um nationale Identität und Identifikation. Dabei wird das Stadtbild zum Bild für diese Ganzheit, die dadurch erreicht werden soll, dass die leere Mitte durch den Schlossbau geschlossen wird. Der Stadtraum der Hauptstadt wird nicht einfach nur nationalsymbolisch aufgeladen, sondern ihm selbst kommt eine imaginäre Funktion zu, in dem er zum „Identifikationsraum“ 81 wird, der in erster Linie über das Visuelle erfahrbar ist. Das geschlossene Stadtbild verspricht dann ein Erfahrungs- bzw. Anschauungsraum für diese Ganzheit zu sein, die zugleich die Ganzheit der durch die Hauptstadt repräsentierten Nation zu garantieren scheint. In diesem Sinne ist das Bauvorhaben des rekonstruierten Stadtschlosses das Projekt zur Schaffung eines „Wahrzeichen[s] des wiedervereinigten Deutschlands“ 82.  Wolfgang Pehnt, Die Stunde der Wiedergänger. Zum Streit um Luftschlösser, Lindenoper, Museumsinsel und ‚New Urbanism‘. In: Süddeutsche Zeitung, 14. 07. 2008, S. 10.  Beate Binder, ‚Städtebau ist Erinnerung‘. Zur kulturellen Logik historischer Rekonstruktion. In: Schug (Hg.), Palast der Republik, S. 179–191, S. 188. Die Stadtethnologin Beate Binder schließt mit ihren Überlegungen zu Berlin als Erinnerungsraum an die Thesen von Zoltán Fejös an, der darauf hinweist, dass in der Spätmoderne Dazugehörigkeit nicht mehr primär über das soziale Leben der Städte erfahren wird. Das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, sei „vielmehr in öffentlich repräsentierten und verfügbaren Symbolen des kollektiven städtischen Gedächtnisses verankert“ (S. 188). Binder betont mit Fejös die Bedeutung, die dem Visuellen für Identifizierung und die Produktion von Dazugehörigkeitsgefühlen zukommt. Im Fall des Berliner Schlossplatzes bedeutet dies in erster Linie, über das mittels des Stadtbildes herzustellende ‚Dazugehörigkeitsgefühl‘ die Gemeinschaft der Nation zu bestätigen. Vgl. auch Binder, Zur Konstruktion der Gedächtnislandschaft Berlin.  Andreas Kilb, Ein Schloss für Humboldt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 03. 2008, S. 1. Auch verfügbar unter: http://www.faz.net/s/Rub5A6DAB001EA2420BAC082C25414D2760/

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3.5 Innen Im Verlauf der Schlossdebatte spielte die Frage nach einem möglichen Innenleben des wieder aufzubauenden Schlosses lange Zeit eine untergeordnete Rolle. Die Nutzung des Gebäudes sollte – function follows form? – dem Bau angepasst werden können und daher möglichst lange offen gehalten werden.83 In der Debatte pro oder contra Wiederaufbau ging es um den äußeren Bau, mit Nutzungsentwürfen wurde kaum argumentiert. Hennet spricht sogar davon, dass dem wieder aufzubauenden Schloss dadurch „der Charakter einer Skulptur“ 84 zukäme, da es gänzlich auf eine repräsentative Funktion des äußerlichen Augenscheins reduziert sei. Mit den Empfehlungen der Expertenkommission Historische Mitte Berlin lagen im April 2002 schließlich auch erstmals verbindliche Vorgaben für die Funktion des zu errichtenden Gebäudes vor. Die Kommission schlug mit der Gründung des so genannten Humboldt-Forums eine überwiegend öffentliche Nutzung vor. Die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die wissenschafts-geschichtlichen Sammlungen der Humboldt-Universität und die Bestände der Zentral- und Landesbibliothek sollen hier zusammenkommen. Ergänzt wird das Konzept durch die ‚Agora‘, einen kommerziell genutzten Bereich für Veranstaltungen und Gastronomie.85 Das Humboldt-Forum will, so die Darstellung auf der Internetseite des Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin, ein „Ort der Information, der Begegnung und des Vergnügens“ 86 sein und versteht sich als Ergänzung zur gegenüberliegenden Museumsinsel. Während auf der Museumsinsel die Präsentation von Kunst und Kultur Europas im Mittelpunkt steht, soll das Humboldt-Forum Bildungs- und Wissenseinrichtung sein und in seinen Ausstellungen vor allem außereuropäische Perspektiven bieten. Das Konzept des neu entstehenden HumboldtForums sieht sich so ganz in der Tradition der namensgebenden Brüder: „Auf diese Weise verbindet sich das humanistische Bildungsideal Wilhelm von

Doc~E57AFB17F94C04E5EA4B04624288EA8F9~ATpl~Ecommon~Scontent.html (abgerufen am 27. 02. 2009).  Vgl. Hennet, Berliner Stadtschlossdebatte. Im Spiegel der Presse, S. 73.  Hennet, Berliner Stadtschlossdebatte. Im Spiegel der Presse, S. 73.  Vgl. dazu das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: http:// www.bmvbs.de/dokumente/-,302.933347/Artikel/dokument.htm (abgerufen am 13. 02. 2009). Vgl. ebenfalls den unter oben genanntem Link verfügbaren Abschlussbericht der Expertenkommission Historische Mitte Berlin. Sowie den Sammelband Thomas Flierl u. Hermann Parzinger (Hg.), Humboldt-Forum Berlin. Das Projekt/The Project, Berlin 2009.  http://www.humboldt-forum.de/main/ (abgerufen am 25. 02. 2009).

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Humboldts mit dem weltumspannenden Wissensideal Alexander von Humboldts.“ 87 Das Nutzungskonzept Humboldt-Forum soll dem Schloss über den Bau hinaus eine Aufgabe geben und die Innenräume füllen. Bereits die Beiträge der Expertenkommission Historische Mitte Berlin, die die Idee des HumboldtForums entwickeln und vorstellen, machen deutlich, dass auch das Nutzungskonzept in erster Linie auf die repräsentative Außenwirkung angelegt ist: Ein kulturpolitisches Konzept für Berlins Mitte, auf dem Ideenansatz von Wilhelm und Alexander von Humboldt fußend, ist nicht nur ein in sich logischer Ansatz, einprägsam als Markenzeichen, sondern auch ein neuartiger, in die Zukunft weisender Entwurf. Er ist prägend für das Verhältnis Deutschlands zu den Kulturen der Welt und wird damit zu einer nationalen Aufgabe.88

Der Name Humboldt soll zum „Markenzeichen“ werden, das Auskunft gibt über ein bestimmtes Selbstverständnis, das die Berliner Republik kommunizieren möchte. So äußert sich auch Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, über das geplante Humboldt-Forum, als wäre es als große Imagekampagne für Deutschland konzipiert. Wichtig scheinen dabei nicht so sehr die tatsächlichen Inhalte des Schlossneubaus zu sein, sondern vielmehr, dass es sich in seiner Funktion als Anschauungsobjekt dafür eignet, die Blicke der Anderen auf sich zu ziehen: „Die Welt blickt auf das, was wir hier in der Mitte unserer Hauptstadt tun.“ 89 Indem es in diese Blickbeziehung mit ‚der Welt‘ tritt, so liest sich Parzingers Ausführung, „besinnt sich Deutschland auf seine Tradition als Kulturnation und baut darauf das Fundament für seine Zukunft.“ 90 Der Bau von Schloss und Humboldt-Forum wird dabei zur „großartige[n] Geste Deutschlands, die ihre Wirkung in der Welt nicht verfehlen wird.“ 91 Auffällig in Parzingers Sicht auf das Bauprojekt ist, dass nicht die Inhalte, die wissenschaftlichen Vorhaben oder die Ausstellungsobjekte selbst zu dem werden, was im Mittelpunkt dieser deutschen Selbstfindung und Selbstbestimmung steht. Die Identitätsstiftung erfolgt über den Eingriff, den

 http://www.humboldt-forum.de/main/ (abgerufen am 25. 02. 2009).  Klaus-Dieter Lehmann, Kunst und Kulturen der Welt in der Mitte Berlins. In: Internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin, Materialien zum Abschlussbericht, Berlin 2002, S. 16–19, zugänglich unter: http://www.bmvbs.de/Anlage/original_933559/AbschlussberichtInternationale-Expertenkommission-Materialien.pdf (abgerufen am 25. 02. 2009).  Hermann Parzinger, Ein museales Jahrhundertprojekt. Das Humboldt-Forum nimmt Form an. Es soll das historische Zentrum Berlins in einen Ort der Weltkulturen verwandeln. In: Süddeutsche Zeitung, 28. 07. 2008, S. 12.  Parzinger, Ein museales Jahrhundertprojekt, S. 12.  Parzinger, Ein museales Jahrhundertprojekt, S. 12.

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Schloss und Forum in die Blickbeziehung zwischen Deutschland und der Welt, uns und den Anderen, vornimmt: „Dieser Ort hat das Potential, den Blick der Welt auf unser Land und auch unser Land selbst zu verändern.“ 92 Das Schloss und sein Nutzungskonzept haben demnach vor allem eine Imagefunktion. Das Schloss, das selbst in erster Linie Bildfunktion hat, indem es das Stadtbild Berlins schließen und damit die Nation heilen soll, wird mit einem Innenleben ausgestattet, das wiederum maßgeblich durch Images bestimmt ist. Dabei wird – sowohl in der Gestaltung des Gebäudes als auch in der Nutzung – auf historisch tradierte Bilder zurückgegriffen: das Stadtschloss mitsamt seinem Inhalt, dem Weltkulturenmuseum im Zeichen der Brüder Humboldt, ist mehr als alles andere ein Symbolprojekt der Berliner Republik. Der Bundestag hat diesen Bau mit großer fraktionsübergreifender Mehrheit beschlossen, weil er am deutlichsten ausdrückt, an welche Tradition das wiedervereinigte Deutschland in seiner Hauptstadt anknüpfen will: an das liberale, tolerante, reformerische und vornationale Preußen der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.93

Das Stadtschloss wird zum Symbol für die Einheit Deutschlands, die zu repräsentieren Anspruch der Berliner Republik ist. Die ‚Einheit‘ wird dabei zunächst über das ‚Füllen‘ der ‚leeren Mitte‘, die als ‚Herz der Nation‘ lesbar wird, hergestellt. Vor Augen geführt wird sie zunächst in der Schließung des Stadtbildes. Die Rekonstruktion des Schlosses stellt ein vermeintliches Ganzes (wieder) her und macht die Stadt dabei zum Anschauungsraum, zur Projektionsfläche für Phantasmen der Identifikation. Das Anknüpfen an die historischen Traditionen verdeutlicht zum einen, dass sich diese Identifikation aus dem ‚sicheren Reservoir‘ bekannter Bilder speist. Zum anderen wird damit wiederum eine Einheit, diesmal eine geschichtliche, beschworen, die es der Berliner Republik erlaubt, sich in eine lange Kontinuität einzuschreiben. Stefanie Flamm, die sich mit dem Palast der Republik und dem Stadtschloss als einem der deutschen Erinnerungsorte beschäftigt, bezeichnet dieses Herstellen historischer Kontinuität, das in dem „staatsbürgerliche[n] Bekenntnis zur preußisch-deutschen Tradition“ 94 liegt, als ein Angebot des Heimkehrens in die deutsche Geschichte.95 Die Traditionslinien, die die Berliner Republik mit dem Preußischen für sich

 Parzinger, Ein museales Jahrhundertprojekt, S. 12.  Andreas Kilb, Ein Leuchtturm würde hier den Blick verstellen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. 11. 2008, http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~ ED9F4DB0ADED44F4286A95C6D20D8EA67~ATpl~Ecommon~Scontent.html (abgerufen am 27. 02. 2009).  Stefanie Flamm, Der Palast der Republik. In: François, Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, S. 667–682, S. 679.  Vgl. Flamm, Der Palast der Republik, S. 682.

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beansprucht, lassen die Geschichte zu einem Zuhause werden, auf das sich die Gemeinschaft beziehen kann.

4 Preußische Selbstbilder Dies Kapitel konnte anhand der Analyse von Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt und der Berliner Stadtschlossdebatte zeigen, dass Preußen und die Inanspruchnahme eines ‚preußischen Erbes‘ als Bezugspunkte für Entwürfe von Selbstbildern im gegenwärtigen Deutschland genutzt werden. Die Berliner Republik entwickelt ihr Selbstbild, indem sie sich bestimmter preußischer Images bedient, die die Stabilität der historischen Kontinuität zu versprechen scheinen. In beiden Analysen wurde herausgearbeitet, dass sich diese Bezugnahme auf das Preußische insbesondere über visuelle Strategien vollzieht. So gestaltet Kehlmanns Roman seine Protagonisten als Image-Figuren, in deren stereotyper Zeichnung ‚das Deutsche‘ und ‚das Preußische‘ synonym gesetzt werden. Insbesondere die Einordnung der Romanhandlung in den zeitgenössischen, beginnenden Nationalismus erfolgt über visuelle Signale. Humboldt, der als Figur in Kehlmanns Roman Träger bestimmter Images des Deutschen ist, wird als Namensgeber für das Nutzungskonzept des neu geplanten Berliner Stadtschlosses zum Markenzeichen. Auch das Humboldt-Forum verwendet damit bestimmte Images, um dem Stadtschloss ein Nutzungskonzept zu geben. Die mögliche Nutzung der Gebäudeinnenräume stand lange Zeit im Hintergrund, während für und gegen den Wiederaufbau des Stadtschlosses gestritten wurde. In der Stadtschlossdebatte, so konnte gezeigt werden, kam dem preußischen Schloss in erster Linie die Funktion eines Anschauungsobjekts zu. Das wieder aufzubauende Schloss, das als reine Fassadenrekonstruktion eine Simulation der Hülle bleiben wird, verspricht jedoch trotz dieses täuschenden Außen-Innen-Verhältnisses, die ‚leere Mitte‘ der Stadt zu schließen, dem Stadtbild eine Ganzheit zu verleihen und die Identität Berlins und damit der Nation, die die Hauptstadt vertritt, herzustellen. Diese Verfahren der Visualisierung, die sich sowohl für den literarischen Text als auch für die Architekturdebatte herausstellen ließen, weisen auf die Funktionsweisen des Imaginären hin und zeigen die Untersuchungsgegenstände zugleich in ihrer Beteiligung an diesen identifikatorischen Dynamiken.

VIII Heimsuchung 1 Wir Vergangenheitsbewältiger Die Deutschen, so eine Péter Esterházy zugeschriebene Äußerung, sind die „Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung“ 1. Ein anderer Beobachter der deutschen Gesellschaft, der britische Historiker und Schriftsteller Timothy Garton Ash, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn er ironisch-anerkennend den Deutschen bescheinigt, „weltweit führend“ in Sachen „past-beating“ zu sein: „Als einziges Land hat es sich mit der Hinterlassenschaft nicht nur einer, sondern zweier Diktaturen auseinander gesetzt – nach 1945 mit der des Nationalsozialismus und nach 1989 mit der des Kommunismus.“ 2 Diese Außenperspektiven bringen, wenn auch mit einem Augenzwinkern, deutliche Anerkennung zum Ausdruck: Der bundesrepublikanischen Vergangenheitspolitik, die, so wird es offensichtlich wahrgenommen, nach ‚deutscher Gründlichkeit‘ operiert, wird Vorbildcharakter für andere europäische Länder zugesprochen. Sie gilt als so etwas wie die „DIN-Standards“ 3 der Geschichtsaufarbeitung. Die Deutschen werden von außen als „Spezialisten“ 4 für die Vergangenheit gesehen. ‚Vergangenheitsbewältigung‘ scheint ein positiv besetzter Teil des Deutschland-Fremdbildes bzw. des deutschen Images zu sein. Dass sich Nationen und andere Gemeinschaften über den Bezug auf eine gemeinsame Geschichte konstituieren, ist ein Allgemeinplatz.5 Aufgrund der ‚Weltmeister Vgl. Katrin Hammerstein, Julie Trappe, Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung. Einleitung. In: Katrin Hammerstein, Ulrich Mählert, Julie Trappe, Edgar Wolfrum (Hg.), Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 9–18, S. 9.  Timothy Garton Ash, Mesomnesie. In: Transit. Europäische Revue, 22, 2001/02, S. 32–48, S. 32.  Garton Ash, Mesomnesie, S. 33. Vgl. dazu auch: Hammerstein, Trappe, Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung, S. 10, Fußnote 3. Zum Ruf der Deutschen, „Erfinder und Weltmeister der ‚Vergangenheitsbewältigung‘“ zu sein, siehe auch Norbert Frei, 1945 und wir. Die Gegenwart der Vergangenheit. In: Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, S. 7–22, S. 7.  Garton Ash, Mesomnesie, S. 32.  Bereits Ernest Renan hebt in seinem Vortrag zu der Frage Qu’est-ce qu’une nation? von 1882 die grundlegende Rolle der Geschichte für die Nation hervor, indem er die Nation als eine Erinnerungsgemeinschaft bestimmt: „Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten […].“ Diese gemeinsame Erinnerung, über die sich die Gemeinschaft konstituiert, ist dabei auf den Akt des Erinnerns

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schaft‘, die den Deutschen für ihre Bemühungen um die eigene Vergangenheit zugesprochen wird, ließe sich schließen, dass sich also auch eine besonders stabile Gemeinschaft auf diesen Bezug zur Geschichte gründet. Diese Gleichung geht jedoch nicht ohne Weiteres auf. Für das Selbstverständnis der gegenwärtigen Bundesrepublik wie für die beiden deutschen Staaten der Jahre von 1949 bis 1990 ist und war die Bezugnahme auf die jüngste Geschichte Deutschlands und insbesondere die Geschichte des deutschen Nationalsozialismus grundlegend. Die DDR berief sich auf den antifaschistischen Gründungsmythos, während das Gedenken an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen das Fundament für die Bundesrepublik und ihre erfolgreiche Einbindung in die Westmächte bildete.6 Mit diesem Gedenken und dessen Rolle für die Bildung einer Gemeinschaftsidentität ist es jedoch so eine Sache. Wenn der Historiker Edgar Wolfrum in seiner Darstellung zur Geschichte der Bundesrepublik von einem „Erinnerungsimperativ an den Nationalsozialismus“ schreibt, der das „Zentrum des bundesdeutschen Selbstverständnisses“ 7 bilde, dann deutet sich darin bereits eine Konfliktlage an. Dieser Imperativ ist eine Verpflichtung, die immer wieder in der Diskussion stand und insbesondere mit dem Vorwurf belegt wurde, der Bildung einer ‚normalen‘ nationalen Identität im Wege zu stehen.8 Nach wie vor herrscht keine Einstimmigkeit, wie das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte zu bewerten sei. So wird argumentiert, dass „[a]us der Aufarbeitung der NS-Verbrechen und der deutschen Schmach […] Ansehen und Lauterkeit der Bundesbürger“ 9 entstanden und die (den Willen, das Erbe hochzuhalten) angewiesen. Renan betont zudem insbesondere die Rolle des Vergessens für die Erinnerungsgemeinschaft Nation, mittels dessen bestimmte gewaltsame Ereignisse der Vergangenheit aus der Erinnerung und damit der gemeinsamen Ursprungsgeschichte ausgeschlossen werden. Die Nation ist folglich ebenso eine Gemeinschaft des Vergessens. Die aus dieser Übereinkunft hervorgehende Geschichte der Nation wird zum affektiv geladenen Bindemittel der Gemeinschaft: „Man liebt das Haus, das man gebaut hat und das man vererbt.“ Für die Zitate vgl.: Ernest Renan, Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne, aus dem Französischen von Henning Ritter, Hamburg 1996, S. 34.  Vgl. Katrin Hammerstein, Schuldige Opfer? Der Nationalsozialismus in den Gründungsmythen der DDR, Österreichs und der Bundesrepublik Deutschland. In: Regina Fritz, Carola Sachse, Edgar Wolfrum (Hg.), Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008, S. 39–61.  Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 400.  Als Beispiel für diese Debatten, in denen immer wieder die Identität der Bundesrepublik problematisiert und diskutiert wurde, sei an dieser Stelle nur der ‚Historikerstreit‘ (1986/87) genannt, in dem die Kontroversen der vorherigen Jahre zusammenliefen. Vgl. dazu beispielsweise: Edgar Wolfrum, Deutsche Identitätskrise und die NS-Vergangenheit. In: Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 391–400.  Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 400.

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Erinnerungskultur also gerade als identitätsbildend zu bewerten sei. Auf der anderen Seite findet sich jedoch auch die Rede von einem „Nichtverhältnis zwischen Nation und Geschichte“ 10 im Falle der Deutschen. Einig ist man sich jedoch darüber, dass mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zur gegenwärtigen Bundesrepublik eine Veränderung einherging. Aleida Assmann spricht von einer „Wiedererfindung der Nation“ 11: „Die Epoche der nationalen Entsagung sowie der Geschichts- und Identitätsaskese ist mit dem Mauersturz und der Wiedervereinigung abrupt zu Ende gegangen.“ 12 Wolfrums Befund liest sich ganz ähnlich: „Seit der Wiedervereinigung befinden sich die Deutschen in einem Prozeß der Wieder- oder gar Neubildung der Nation, in dem die Geschichte und die Erinnerung eine tragende Rolle einnehmen.“ 13 Als vereinigte Bundesrepublik kann Deutschland sich, so lässt sich aus den Aussagen schließen, über die gemeinsame Erinnerung und das gemeinsame Geschichtsgedenken als Nation wieder (er)finden. Mit „Geschichte und Erinnerung“ sind in erster Linie weiterhin die Geschichte des deutschen Nationalsozialismus und die erinnerungskulturellen Bemühungen darum gemeint, die somit Bezugspunkt für die „Wieder- oder Neubildungsprozesse der Nation“ 14 werden bzw. – je nach Sichtweise – bleiben. Die ‚zweite deutsche Vergangenheitsbewältigung‘ etwa, die geschichtspolitische Auseinandersetzung mit der DDRGeschichte, eignet sich offensichtlich nicht in gleicher Weise, zum Bezugspunkt für die nationale Erinnerungsgemeinschaft zu werden.15 Der Wandel in der Erinnerungskultur wird verschiedentlich auch von der Literaturwissenschaft festgestellt: „Die deutsche Wiedervereinigung hat eine Wende des Erinnerns eingeleitet: Die Perspektiven auf die jüngste deutsche Vergangenheit ändern sich, gerade auch in der Literatur.“ 16 Die in der zitierten Publikation konstatierte und mit 1989/90 datierte „Wende des Erinnerns“

 Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007, S. 187.  Aleida Assmann, Ausblick: Die Wiedererfindung der Nation. In: Assmann, Geschichte im Gedächtnis, S. 180–194.  Assmann, Geschichte im Gedächtnis, S. 187.  Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 496.  Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 499.  Vgl. dazu Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 485 f. Vgl. auch: Friso Wielenga, Schatten deutscher Geschichte. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und der DDR-Vergangenheit in der Bundesrepublik, aus dem Niederländischen übersetzt von Christoph Strupp, Vierow bei Greifswald 1995.  Barbara Beßlich, Katharina Grätz, Olaf Hildebrand, Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. In: Barbara Beßlich, Katharina Grätz, Olaf Hildebrand (Hg.), Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006, S. 7–17, S. 7.

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bezieht sich insbesondere auf die literarische Interpretation des Nationalsozialismus, der Shoah, des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen. Der Sammelband beschreibt „Schwerpunktverlagerungen in der literarischen Auseinandersetzung mit der deutschen Zeitgeschichte“ 17. Während die literarische Behandlung der jüngeren deutschen Geschichte vor 1990 von „der moralisch selbstsicheren, anklagenden Perspektive der nachgeborenen Söhne und Töchter“ und einer „entlastenden Identifikation mit den Opfern“ 18 geprägt gewesen sei, könne nun eine Neubetrachtung von Tätern und Opfern, die Behandlung von vormaligen Tabuthemen wie Flucht, Vertreibung und Luftkrieg und eine kritische oder auch verklärende Bilanzierung der DDR-Geschichte beobachtet werden.19 Es ist ein sowohl in Geschichts- wie auch in Kultur- und Literaturwissenschaft zu beobachtender Topos, dass sich der Umgang mit der deutschen Vergangenheit (gemeint sind Nationalsozialismus, Shoah und Zweiter Weltkrieg) seit 1990 maßgeblich verändert habe und ihm seitdem eine positive Funktion für die Identität der Erinnernden als Gemeinschaft (bzw. Nation) zukomme. Wenn das Verhältnis ‚der Deutschen‘ zu ‚ihrer‘ Geschichte bis dahin ein problematisches war, ist dann nun ‚alles gut‘? Bietet die deutsche Geschichte nun ein gemeinsames ‚Zuhause‘? Da Geschichte als fundamentaler Bezugspunkt für eine deutsche kollektive Identität gesetzt wird, untersucht dieses Kapitel mit Jenny Erpenbecks Roman Heimsuchung von 2008 ein Beispiel für aktuelles Erzählen über deutsche Geschichte. Erpenbecks Roman entwickelt ein ‚Panorama‘ des letzten Jahrhunderts. Der Erzählbogen, der nicht strikt linear verläuft, spannt sich von der Kaiserzeit, über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, über die Nachkriegszeit, die DDR bis zur Wende- und Nachwendezeit. Anders als viele andere aktuelle Geschichtsromane erzählt Erpenbecks Text die ‚große Geschichte‘ nicht über eine zentrale Hauptfigur oder die Generationenfolge einer Familie, sondern bindet sie an den konkreten Ort und privilegiert solchermaßen das räumliche Moment vor dem chronologischen oder genealogischen. Dieser konkrete Ort ist ein Haus, dessen ‚Biografie‘ der Roman erzählt. Auf einem Ufergrundstück an einem See unweit von Berlin wird in den 1920er oder 1930er Jahren eine kleine Villa, ein Sommerhaus gebaut. In elf fast gleich langen und streng komponierten Kapiteln lässt der Roman die Menschen, die das Seegrundstück und das Haus im Laufe der Jahre

 Beßlich, Grätz, Hildebrand, Wende des Erinnerns?, S. 7.  Barbara Beßlich, Unzuverlässiges Erzählen im Dienst der Erinnerung. Perspektiven auf den Nationalsozialismus bei Maxim Biller, Marcel Beyer und Martin Walser. In: Beßlich, Grätz, Hildebrand, Wende des Erinnerns?, S. 35–52, S. 35.  Vgl. Beßlich, Grätz, Hildebrand, „Wende des Erinnerns?“, 7.

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bewohnen oder besuchen, auftreten und erzählt über sie schlaglichthaft Episoden der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Erpenbecks Roman Heimsuchung kann also als ein aktuelles Beispiel für das literarische Erzählen über die deutsche Gegenwartsgeschichte herangezogen werden, der darüber hinaus schon in seinem Titel andeutet, dass es ihm mit der Wahl seines Erzählgegenstands zugleich um die Frage nach der Möglichkeit eines Zuhauseseins in dieser Geschichte zu tun ist. Ein weiterer Grund, den Text im Rahmen dieser Arbeit zu analysieren, liegt in den spezifischen Erzählverfahren von Heimsuchung. Das historische Erzählen des Romans situiert nicht nur seine Handlung und Figuren in unterschiedlichen zeitlichen Zusammenhängen, sondern thematisiert mittels seiner Verfahren die Möglichkeitsbedingungen von Erinnerung und Gedächtnis. Dabei wird die mediale und kulturelle Gebundenheit von Erinnerung nicht einfach angesprochen, sondern der literarische Text lotet diese aus und führt sie vor. Der Text arbeitet mit den bildlichen Möglichkeiten von Sprache und topischen Erinnerungsbildern, die der Text anspricht und evoziert, ohne sie im eigentlichen Sinne auszugestalten. Auf diese Weise aktiviert der Roman die reflexive Struktur dieser Erinnerungstopoi, die zu erkennen und zu entfalten er den Lesern überlässt. Der Text bedient sich damit des gemeinschaftsbildenden Potentials von Erinnerung, wenn er nicht nur die Funktion von Geschichte für die Bildung von Gemeinschaften aufzeigt, sondern unmittelbar seine Leser zur Teilhabe an dieser Erinnerungsgemeinschaft auffordert. Dabei wird deutlich, dass Erinnerung als Bezugspunkt von Gemeinschaften eng an den Dynamiken des Imaginären beteiligt ist.

2 Jenny Erpenbeck, Heimsuchung 2.1 Kein Generationenroman Heimsuchung, der Titel des 2008 erschienenen Romans von Jenny Erpenbeck, ist mehrdeutig. Als Substantivierung von heimsuchen ist die Heimsuchung unheilvoll konnotiert: Das Unglück, Katastrophen, Krankheiten, Plagen und Gespenster suchen heim. Die Heimsuchung hat zudem eine juristische Implikation. Bis in die 1930er Jahre gab es den juristischen Straftatbestand der Heimsuchung, der einen Hausfriedensbruch durch eine Menschenmenge bezeichnete. Dieser wurde in den Reformen des Strafgesetzbuches umbenannt in schweren Hausfriedensbruch.20 Die angesprochenen Beispiele zeigen, dass  Vgl. Christina Rampf, Hausfriedensbruch (§ 123 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870, Berlin 2006.

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derjenige, der heimgesucht wird, der Heimsuchung meist unvorbereitet und passiv gegenübersteht. Die Heimsuchung überkommt einen unwillkürlich, kann jedoch auch Positives bringen. So erinnert das Fest Mariä Heimsuchung, das einige christliche Kirchen begehen, an eine bestimmte biblischen Begebenheit (Lukas 1, 39–45). Im Anschluss an die Verkündigungsszene, in der ihr der Engel mitteilt, dass sie den Sohn Gottes gebären werde, besucht Maria ihre Verwandte Elisabeth in ihrem Haus. Letztere ist selbst schwanger und beim Gruß Marias hüpft das Kind in ihrem Bauch vor Freude. In diesem Kontext ist die Heimsuchung also ein Freude bringender Besuch, in dem sich das Göttliche ankündigt. Heimsuchung kann zudem wortwörtlich verstanden werden als Suche nach dem Heim, der Heimat oder dem Zuhause. Diese Möglichkeit legt der Roman nahe, der den Versuch einer bzw. die Sehnsucht nach der Verortung eines Zuhausegefühls thematisiert. Im Zusammenhang von Erpenbecks Roman ist Heimsuchung beides: Das unwillkürliche Hereinbrechen von etwas ganz Anderem, dem Unheimlichen und zugleich die Suche nach dem ganz Eigenen, der Heimat. Die Suche nach dem Zuhause verschaltet der Roman mit einem weiteren Leitthema: dem Erzählen über deutsche Geschichte. Daraus ergibt sich eine Suche nach dem Zuhause in der deutschen Geschichte, eine Sehnsucht nach einem Heimischsein. Indem Erpenbecks Roman Geschichte, jedoch keine Familiengeschichte erzählt, hebt er sich von einem Trend der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ab. In den letzten beiden Jahrzehnten haben Familienbzw. Generationenromane eine Konjunktur erlebt.21 In der Forschungsliteratur  Auf diese Konjunktur verweisen u. a. zwei Studien zum Generationenroman: Friederike Eigler, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, Berlin 2005 sowie Ariane Eichenberg, Familie – Ich – Nation. Narrative Analysen zeitgenössischer Generationenromane, Göttingen 2009. Vgl. dazu auch die folgenden Beiträge: Cornelia Blasberg, Erinnern? Tradieren? Erfinden? Zur Konstruktion von Vergangenheit in der aktuellen Literatur über die dritte Generation. In: Jens Birkmeyer, Cornelia Blasberg (Hg.), Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten, Bielefeld 2007, S. 165–186; Heide Lutosch, Ende der Familie – Ende der Geschichte. Zum Familienroman bei Thomas Mann, Gabriel García Márquez und Michel Houellebecq, Bielefeld 2007; Elke Brüns, Family Values – Der nationale Familienroman. In: Elke Brüns, Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung, München 2006, S. 174–188; Michael Ostheimer, Die Sprachlosigkeit der Kriegskinder. Zur Symptomatik der traumatischen Geschichtserfahrung in der zeitgenössischen Erinnerungsliteratur. In: Björn Bohnenkamp, Till Manning, Eva-Maria Silies (Hg.), Generation als Erzählung. Neue Perspektiven auf ein kulturelles Deutungsmuster, Göttingen 2009, S. 203–225. Für eine systematische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Generation, seiner Bedeutung und Geschichte vgl. die Publikationen des durch die DFG geförderten ZfL-Projekts Das Konzept der Generation: Zur narrativen, zeitlichen und biologischen Konstruktion von Genealogie: Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2008; Sigrid Weigel, Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwi-

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zu diesen Texten findet sich die These, der Familienroman sei das Paradigma des gegenwärtigen historischen Erzählens.22 Aleida Assmann bestimmt die aktuellen Generationenromane über die „Fokussierung auf ein fiktives oder autobiographisches Ich, das sich seiner/ihrer Identität gegenüber der eigenen Familie und der deutschen Geschichte vergewissert“ 23 und grenzt sie von der so genannten Väterliteratur24 über das Moment der Kontinuität ab. Die Erzähler und Erzählerinnen der neuen Generationenromane versuchten die „Integration des eigenen Ichs in einen größeren Familien- und Geschichtszusammenhang“ 25. Dem Familienroman sei somit „die Anerkennung einer existentiellen Verschränkung von Individuum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte“ 26 als Strukturmerkmal inhärent. Die Generationenromane erzählen über Geschichte, indem sie eine ‚Maßstabsverkleinerung‘ vornehmen. Es wird ‚das Große im Kleinen‘ erzählt. Die zentrale Figur, häufig ein Ich-Erzähler/eine Ich-Erzählerin, und die Generationenfolge, in der sie ihren Platz hat, werden zu „Repräsentanten kollektiver Erfahrungen und Werthaltungen, Mentalitäten und Vorurteilsstrukturen“ 27. Anders funktioniert das Erzählen über Geschichte in Erpenbecks Roman.28 Es schen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006; Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Sigrid Weigel, Stefan Willer (Hg.), Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, München 2005.  Vgl. z. B. Eigler, Gedächtnis und Geschichte, und Eichenberg, Familie – Ich – Nation.  Assmann, Geschichte im Gedächtnis, S. 73.  Zur ‚Väterliteratur‘ vgl.: Cornelia Blasberg, Hitlers ‚willige Vollstrecker‘ und ihre unwilligen Biographen. Vaterbücher der 1970er Jahre. In: Markus Heilmann, Thomas Wägenbaur (Hg.), Im Bann der Zeichen. Die Angst vor Verantwortung in Literatur und Literaturwissenschaft, Würzburg 1998, S. 15–34.  Assmann, Geschichte im Gedächtnis, S. 73.  Assmann, Geschichte im Gedächtnis, S. 74.  Assmann, Geschichte im Gedächtnis, S. 74.  Eine explizite Abgrenzung zum Familienroman nimmt ebenso wie diese Arbeit Inga Probst in ihrem Beitrag zu Erpenbecks Heimsuchung vor, in dem sie herausgestellt, dass es dem Roman „um ein Aufbrechen genealogisch gebundener Lebensgeschichten“ (S. 68) gehe. Vgl. Inga Probst, Auf märkischen Sand gebaut. Jenny Erpenbecks Heimsuchung zwischen verorteter und verkörperter Erinnerung. In: Ilse Nagelschmidt, Inga Probst, Torsten Erdbrügger (Hg.), Geschlechtergedächtnisse. Gender-Konstellationen und Erinnerungsmuster in Literatur und Film der Gegenwart, Berlin 2010, S. 67–88. Wenn auch nicht als Generationenroman, so doch als literarische Äußerung einer ganz bestimmten Generation liest Halina Ludorowska Erpenbecks Heimsuchung. Sie betrachtet den Roman als „typisch für die Prosa der ostdeutschen Enkelgeneration“ (S. 257) und stellt die These auf, Erpenbeck böte mit ihrem Roman „im Gegensatz zur eigenen DDR-Sozialisierung im utopischen Sozialismus […] eine ostdeutsche AntiUtopie“ (S. 260) an. Vgl. Halina Ludorowska, Deutsche Geschichte in den Augen der Enkelkinder (Jenny Erpenbeck: Heimsuchung). In: Janusz Golec, Irmela von der Lühe (Hg.), Geschichte und Gedächtnis in der Literatur vom 18. bis 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2011, S. 253–262.

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gibt keinen Ich-Erzähler und keine Hauptfigur im eigentlichen Sinn. In jedem Kapitel steht eine andere Figur im Vordergrund, aus deren Perspektive erzählt wird. Jede Episode deutscher Geschichte, die der Roman erzählt, ist mit dem Schicksal einer anderen Figur verbunden. Die Erzählstimme nimmt in jedem Kapitel einen neuen Blickwinkel ein. Obwohl der Text die Perspektive seiner Figuren übernimmt, bleibt er in einer deutlichen Distanz zu ihnen. Es werden nur in Ausnahmefällen Namen genannt. Stattdessen sind die Figuren mit den Bezeichnungen ihrer Berufe, z. B. ‚der Architekt‘ und ‚die Schriftstellerin‘, oder sozialen Rollen, wie ‚die Besucherin‘ und ‚der Kinderfreund‘, benannt. Ebenso wenig wie persönliche Namen werden nähere Angaben zu Charakter oder Aussehen übermittelt. Durch diese schematische Gestaltung werden die Figuren nicht als Identifikationsfiguren angeboten, sondern erhalten eine repräsentative Funktion. Die Figuren untereinander haben wenig Verbindendes. Es treten Männer wie Frauen, Kinder wie Alte auf. Sie kommen aus unterschiedlichen sozialen Hintergründen und Regionen. Gerade diese Unterschiedlichkeit ist wichtig, da die Figuren dadurch zu Repräsentanten verschiedener ‚Trägerschichten‘ der Geschichte werden können. Anders als in den Generationenromanen ist die Verwandtschaft bzw. Zugehörigkeit zu einer Familie nicht das Kriterium, das sie zu Handelnden des Romans macht. Das Gemeinsame der Figuren, durch das sie überhaupt in den Fokus der Erzählung treten, ist, dass sie in einer Beziehung zu dem Haus am See stehen, es zu irgendeinem Zeitpunkt besitzen, bewohnen, besuchen oder verlassen.

2.2 Ars memoriae: Gedächtnisfigur Haus Jedes Kapitel des Romans erzählt über eine andere Figur und dabei jeweils von einer anderen Episode deutscher Geschichte. In den Vordergrund tritt dadurch das Haus auf dem Seegrundstück, an das alle Episoden erzählerisch rückgebunden sind und das als konstantes Element in allen Kapiteln präsent ist. Mit dem Haus ruft der Roman eine der ältesten Metaphern für das Gedächtnis auf. Im Fünferschema der antiken Rhetoriklehren ist die Gedächtniskunst im vierten Arbeitsschritt (memoria) verortet, der sich nach der Findung (invenMit dem Zusammenhang von Generation und Gender beschäftigt sich Katharina Gerstenberger in einem Aufsatz, in dem sie Erpenbecks Heimsuchung gemeinsam mit drei anderen ebenfalls um das Jahr 1970 geborenen deutschsprachigen Autorinnen liest und auf ihren Umgang mit der Geschichte des deutschen Nationalsozialismus hin befragt. Vgl. Katharina Gerstenberger, Fictionalizations: Holocaust Memory and the Generational Construct in the Works of Contemporary Women Writers. In: Laurel Cohen-Pfister, Susanne Vees-Gulani (Hg.), Generational Shifts in Contemporary German Culture, Rochester 2010, S. 95–114.

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tio), Gliederung (dispositio) und Gestaltung (elocutio) des sprachlichen Stoffes dem Auswendiglernen der Rede widmet. Die Rhetorica ad Herennium, Cicero und Quintilian beschreiben die ars memoriae, die für das Erinnern die Metapher des Hauses einführt. Diese Erinnerungstechnik sieht vor, dass sich der Redner29 ein Haus, ein strukturiertes Gebäude vorstellt, in dem für die einzelnen Redeteile bestimmte Orte (loci) gedacht werden. An diesen Orten werden die Redeinhalte in Form von möglichst konkreten und einprägsamen Vorstellungsbildern (imagines) abgelegt. Beim gedanklichen Abschreiten des Hauses und seiner Räume begegnet der Redner dann den abgelegten Redeinhalten und kann sie so in der richtigen Reihenfolge auffinden.30 Zu der genaueren Beschaffenheit dieser Gedächtnisorte schreibt Quintilian: So wählen sie denn Örtlichkeiten aus, die möglichst geräumig und recht abwechslungsreich und einprägsam ausgestattet sind, etwa ein Haus, das in viele Räume zerfällt. Alles, was hierin bemerkenswert ist, nehmen sie sorgfältig und fest in ihr Bewußtsein auf, so daß das Überdenken ohne Zaudern und Stocken alle seine Teile durchlaufen kann.31

Das Haus in Erpenbecks Heimsuchung scheint diese Anforderungen zu erfüllen, gibt der Roman doch das beschriebene Verfahren des Aufnehmens und Einprägens der bemerkenswerten Einzelheiten und das wiederholte Durchschreiten des Hauses immer wieder zu lesen. Es ist auffällig, dass an verschiedenen Stellen erzählt wird, wie die einzelnen Figuren durch das Haus gehen und dabei die Details und Eigenheiten des Gebäudes und der Einrichtung betrachten. Dadurch werden der Aufbau des Hauses, die Gegenstände, die sich darin befinden, und bestimmte haptische, olfaktorische oder akustische Eindrücke wiederholt geschildert. Der Roman gibt diesen Details wie dem Knarren der Treppenstufen, den Schnitzereien am Treppengeländer, den farbigen Fensterscheiben oder dem Geruch nach Pfefferminz und Kampfer im Schlafzimmer viel Raum und sorgt dafür, dass man ihnen lesend wiederholt begegnet.32  Das Subjekt der Rede wird in der antiken Rhetorik als männlicher Redner entworfen. Vgl. dazu Lily Tonger-Erk, Actio. Körper und Geschlecht in der Rhetoriklehre, Berlin 2012.  Vgl. einführend Nicolas Pethes, Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien zur Einführung, Hamburg 2008, S. 25 ff., S. 94 ff. Sowie Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel, Frankfurt a.M. 1995. Vgl. zur Überlieferungsgeschichte einschlägig: Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare (im Original: The Art of Memory, 1966), 2. Aufl., Weinheim 1991.  Quintilian, Institutionis Oratoriae XI 2, 18. Zitiert nach der Ausgabe Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. und übersetzt von Helmut Rahn, 2. Teil, Buch VII–XII, Darmstadt 1975, S. 593.  Probst bezeichnet diese im Roman wiederholt genannten Details als „leitmotivische Kette von Erinnerungsmanifestationen“. Vgl. Probst, Auf märkischem Sand gebaut, S. 73. In ihrem Beitrag zu den Interdependenzen von Gender und Gedächtnis im Roman Heimsuchung untersucht Probst Haus und See ebenfalls als „Erinnerungsorte“ (S. 72), wobei das Haus jedoch nicht

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Geschildert werden die im Verlauf der Jahre unterschiedlichen Nutzungen und Veränderungen von Grundstück und Haus ebenso wie das Älterwerden des Hauses, die Verfallsspuren und schließlich im Epilog der Abriss des Hauses. Im Gegensatz zu den menschlichen Figuren, die kaum beschrieben werden, über deren Äußeres fast nichts ausgesagt wird und die überwiegend namenlos bleiben, wird das Haus in seinen Einzelheiten eingehend gezeichnet. Indem die gleichen Aspekte des Hauses im Verlauf des Textes immer wieder aufs Neue genannt und beschrieben werden, wird das Haus sehr plastisch und vertraut, wohingegen die Figuren eher vage, flüchtige Erscheinungen bleiben. Der Text hält eine Distanz zu seinen Figuren, rückt hingegen an das Haus sehr nahe heran. Damit wird das Haus zum eigentlichen Protagonisten des Romans. Heimsuchung erzählt anhand der Lebensgeschichte eines Hauses über die deutsche Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Hier wird in einem Roman, der explizit Geschichte thematisiert, ein Haus als zentrale ‚Figur‘ eingeführt und mit der Gedächtnismetapher ‚Haus‘ zugleich die antike Tradition der Gedächtniskunst aufgerufen. Damit kann festgestellt werden, dass der Roman nicht nur über Geschichte erzählt, sondern die Möglichkeitsbedingungen dieses historischen Erzählens, das Erinnern selbst in den Fokus rückt. Wenn demnach nicht Geschichte das Hauptthema des Romans ist, sondern vielmehr das Erinnern, dann geht es nicht so sehr darum, was die einzelnen Figuren erleben, sondern darum was und wie erinnert wird – also welche Episoden auf welche Weise im Gedächtnishaus aufgefunden werden. Die ars memoriae, an die sich der Roman anlehnt, kann zudem als Verfahren beschrieben werden. Das Haus ist dann nicht einfach eine Figur des Textes, sondern führt vor, wie Erinnerung über die Verbildlichung und bestimmte Techniken funktioniert. Geschichte als wichtiger Bezugspunkt für ein Kollektiv wie die Nation wird, das hält der Roman präsent, über bestimmte Erinnerungstechniken hergestellt. Im Modell des Gedächtnishauses wird Erinnerung zu einem In-Beziehung-Setzen zu bestimmten Orten und Vorstellungsbildern. Insofern als sich in dem In-Beziehung-Treten zu den Gedächtnisbildern das ‚Wir‘ einer Erinnerungsgemeinschaft konstituiert, lassen sich die Verfahren dieser Erinnerungsproduktion mit dem Imaginären als Dynamik der Identifizierung, in der ein Ich oder Wir sich über ein Bild entwirft, analogisieren.

2.3 Erinnerungsbilder An dieser Stelle möchte ich die Verfahren des Romans, mit denen er die Erinnerungsbilder evoziert, anhand eines konkreten Textbeispiels näher beschreiben. auf die antike Memorialehre zurückgeführt wird, sondern in seiner motivischen Bedeutung untersucht wird. In den Blick nimmt Probst insbesondere die Parallele zwischen Haus- und

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Diese Erinnerungsbilder sind nicht als subjektive Erinnerungen der Romanfiguren gestaltet, die in ihrer schematischen Zeichnung nicht mit Individualität ausgestattet sind. Sie rufen vielmehr bestimmte Topoi auf, die mit der deutschen Geschichte verbunden sind und richten sich damit an ein kollektives Gedächtnis. Die Erinnernden dieses Romans sind also nicht die Figuren, sondern die Leser. Die Kapitel erzählen jeweils über eine andere Episode deutscher Gegenwartsgeschichte und perspektivieren die Erzählung über die Figurensicht. Es tritt keine übergeordnete Erzählinstanz auf, die mittels ihrer Allwissenheit Orientierung schaffen könnte. Das heißt, es werden keine einordnenden Hinweise, keine allgemeinen oder einführenden Informationen zur Zeit und den näheren Umständen der erzählten Situation gegeben.

2.3.1 Abschließen Auf diese Weise unvermittelt beginnt auch das zweite Kapitel 33, das mit Der Architekt betitelt ist. Dieses Kapitel begleitet den Erbauer und ersten Besitzer des Hauses auf seinem letzten Gang durch das Gebäude und über das Grundstück. Der Architekt hat für ein staatliches Bauprojekt in Ost-Berlin Schrauben aus der Bundesrepublik besorgt. Dieses Geschäft wird ihm von der Staatsführung angelastet. Nun setzt er sich vor der drohenden Verhaftung nach WestBerlin ab. Das Kapitel steht ganz im Zeichen des Abschließens. Die Worte ‚schließen‘, ‚abschließen‘ und ‚Schlüssel‘ finden sich wiederholt und in auffälliger Häufung in dem Kapitel. Abschließen. In seiner Hosentasche klimpert der Schlüssel, mit dem sich alle Türen des Hauses, auch das Bienenhaus und der Holzschuppen öffnen und schließen lassen, Zeiß Ikon, Sicherheitsschlüssel, deutsche Wertarbeit bis auf den heutigen Tag. Abschließen.34

Der Architekt schließt die Fensterläden am Haus, verschließt den Werkzeugschuppen, das Haus und das Gartentor. Mit im Raum steht dabei die mögliche

Körpermetapher, so dass sie das Haus auch als Verkörperung von Erinnerung betrachtet. Vgl. Probst, Auf märkischem Sand gebaut, S. 74.  Der Roman enthält kein Inhaltsverzeichnis und keine Kapitelzählung. Als Kapitel bezeichne ich die elf den Figuren zugeordneten Textabschnitte. Die mit Der Gärtner betitelten, alternierend mit den Figurenkapiteln abwechselnden Abschnitte lassen sich nicht im eigentlichen Sinn als für sich stehende, abgeschlossene Kapitel ansehen. Sie haben vielmehr eine strukturierende und verbindende Funktion innerhalb des Romans, auf die am Ende dieses Kapitels eingegangen wird. Aufgrund dieser Sonderstellung nehme ich die Gärtner-Passagen nicht in die Kapitelzählung auf, ebenso wenig den Pro- und den Epilog.  Jenny Erpenbeck, Heimsuchung, Frankfurt a.M. 2008, S. 37 f. Im Folgenden mit Seitenzahl im Text zitiert als H.

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zweite Bedeutung von ‚Abschließen‘. Der Architekt schließt sein Haus ab und zugleich macht die Benennung dieses Vorgangs deutlich, worum es dabei eigentlich geht: Um die Schwierigkeit, mit dem Haus, dem Zuhause abzuschließen und damit zu einem Abschluss zu kommen. Heimat planen, das ist sein Beruf. Vier Wände um ein Stück Luft, ein Stück Luft sich mit steinerner Kralle aus dem, was wächst und wabert, herausreißen, und dingfest machen. Heimat. Ein Haus ist eine dritte Haut, nach der Haut aus Fleisch und der Kleidung. Heimstatt. Ein Haus maßschneidern nach den Bedürfnissen seines Herrn. […] Und das hier war sein Haus. (H 39)

Dass mit dem abschließenden Gang des Architekten durch das Haus noch etwas anderes erzählt wird als das Sichern von Türen und Fenstern, wird daran deutlich, dass der Architekt die Schlüssel zurücklässt. Den Werkzeugschuppenschlüssel hängt er im Haus an seinen Platz am Schlüsselbrett, der Schlüssel zur Eingangstür bleibt im Schloss stecken: Abschließen. Abschließen und den Schlüssel steckenlassen. Sie sollen ihm keinen Knochen zerbrechen. Die Tür nicht zerbrechen, die Gitter, mit denen das Glas der Eingangstür geschützt ist, bloß nicht aufbiegen oder zersägen, rot und schwarz sind diese Gitter gestrichen, genauso wie die Gitter an der von ihm ausgestatteten Reichssegelflugschule, die kurz nach dem Ende des Krieges noch gesprengt wurde, keiner weiß warum. Abschließen. (H 38)

Die zitierte Textstelle führt noch einmal die Überpräsenz des Begriffs ‚Abschließen‘ in diesem Kapitel vor. Zudem lässt sich daran zeigen, auf welche Weise der Text die historischen Verortungen vornimmt. Der Text folgt den Assoziationen des Architekten, der beim Anblick der Türgitter an ein früheres Bauprojekt denkt. Wichtig sind hier jedoch nicht die Erinnerungen des Architekten, die im Roman auch nicht weiter als individuelle Erinnerungen ausgestaltet sind. Stattdessen erfolgt mittels indirekter und impliziter Hinweise – wie den Assoziationen des Architekten – die zeitliche Einordnung der Textpassagen. Für den Leser ist mit dem Stichwort „Reichssegelflugschule“ die Information verbunden, dass der Architekt auch in der nationalsozialistischen Diktatur im staatlichen Auftrag gearbeitet hat. So ergibt sich im Lesevorgang über die Kombination der beiläufigen und reduzierten Informationen für das Kapitel Der Architekt das Bild einer Zeit, in der die beiden Weltkriege (immer wieder in Erinnerung gerufen durch die wiederholt genannten „Mannesmann Luftschutz“-Gitter vor den Kellerfenstern) und die Umstände der letzten Diktatur noch ganz präsent sind, während bereits ein anderes System die Wirklichkeit bestimmt. Es fällt damit leicht, die Episode in die erste Nachkriegszeit einzuordnen, in die Zeit vor dem August 1961, denn danach wäre die Flucht des Architekten nach West-Berlin wegen der Mauer nicht mehr möglich gewesen.

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Ohne auf die Datierung oder die näheren historischen Umstände explizit einzugehen, ruft der Roman ein bestimmtes historisches Setting auf. Die Einordnung auf der Zeitleiste funktioniert auch ohne direkte Nennung des Jahres oder des zeitgeschichtlichen Rahmens, weil die erzählten Episoden jeweils einer markanten Phase deutscher bzw. deutsch-deutscher Geschichte zugeordnet sind, die bereits so oft und so genau beschrieben wurde, dass die knappen Andeutungen und beiläufigen Informationen ausreichen. Auf diese Weise greift der Roman auf bestimmte Erinnerungsmuster bzw. Topoi zurück. Dieses Verfahren lässt sich wiederum an die Gedächtnismetapher Haus bzw. die antike Memoria-Technik anschließen. Die Memorialehre sieht vor, dass die Teile der auswendig zu lernenden Rede jeweils zu einem Bild verdichtet werden. Die Merktechnik kann entweder im Sinne eines ‚Sachgedächtnisses‘ (memoria rerum) angewandt werden, bei dem komplexere Gedächtnisinhalte, Vorstellungen oder ‚Dinge‘ in einem Bild bewahrt werden, oder im Sinne eines ‚Wortgedächtnisses‘ (memoria verborum), wobei für jedes zu erinnernde Wort Bilder gefunden werden müssen. Die antiken Autoren kritisieren das Wortgedächtnis als unökonomisch. Das Vorgehen im Sinne des Sachgedächtnisses nennt Cicero „die Verkörperung eines gesamten Sinnzusammenhangs im Bilde eines Wortes“ 35. Quintilians Anleitung dazu liest sich so: Dann fassen sie das, was sie geschrieben haben oder in Gedanken ausarbeiten, in einen Begriff zusammen und kennzeichnen diesen mit einem Merkmal, das zur Anregung des Gedächtnisses dienen soll, sei es ein Bild aus dem ganzen Begriffsbereich, z. B. der Seefahrt oder dem Kriegswesen oder sei es irgend ein Stichwort des Textes; denn entfällt uns ein Gedanke, so läßt er sich schon durch den Anstoß, den ein einziges Wort bietet, wieder ins Gedächtnis bringen.36

Diese Bilder werden dann in der räumlichen Struktur des gedachten Gebäudes verteilt. Die Rhetoriklehren von Cicero und Quintilian (Quintilian zitiert an dieser Stelle Cicero wörtlich) formulieren es folgendermaßen: Die Stellen, an denen wir die Bilder anbringen, sollen zahlreich, hervorstechend und deutlich ausgeprägt sein und in mäßigem Abstand einander folgen, die Bilder aber lebhaft, einprägsam und auffallend, so daß sie uns entgegenkommen und schnell in uns eindringen können.37

 Cicero, De oratore II, 358. Zitiert nach der Ausgabe Marcus Tullius Cicero, De oratore. Über den Redner, Lateinisch und Deutsch, übersetzt, kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Harald Merklin, Stuttgart 1976, S. 437.  Quintilian, Institutionis Oratoriae XI 2, 19.  „locis est utendum multis, inlustribus, explicatis, modicis intervallis, imaginibus autem agentibus, acribus, insignitis, quae occurrere celeriterque percutere animum possint.“ Quintilian, Institutionis Oratoriae XI 2, 22.

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Auf eine ähnliche Weise verdichtend verfährt auch der Roman. Wie der Redner ganze Redeabschnitte mittels eines einzelnen Bilds speichert, transportieren auch die kurzen Episoden des Romans ein ‚Mehr‘ an Information. Wie die Räume des Hauses im rhetorischen Modell bestimmte Inhalte aufbewahren, die kondensiert in einem Bild darauf warten, aufgesucht und damit zugleich wieder ‚entpackt‘ zu werden, enthalten die Kapitel des Romans ebenfalls bestimmte Bilder, die komplexere Gedächtnisinhalte, hier eines kollektiven Gedächtnisses, bewahren. Der Roman reduziert die historischen Konstellationen, in denen die Kapitel jeweils situiert sind, auf wenige Andeutungen. In den knappen Umrissen, die der Text liefert, sind jedoch bestimmte Gedächtnisinhalte geborgen, die einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis haben. Sie sind gewissermaßen bereits tradierte Erinnerungsbilder, die in den reduzierten Andeutungen wieder zu finden sehr leicht fällt. Die knapp skizzierten Bilder, die der Roman liefert, reichen aus, um die komplexen Erinnerungsbilder zu transportieren. In dem bereits angesprochenen Kapitel Der Architekt liefern die auffällig vielen Nennungen aus dem Begriffsfeld Schließen/Abschließen den Verweis auf das Abschließen im Sinne eines Abschiednehmens. Dieses Abschließen evoziert hier die Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik und situiert die Szene in einer ganz bestimmten historischen Konstellation. Auch in den anderen Kapiteln des Romans lässt sich dieses Verfahren feststellen. Bestimmte Begriffe tauchen gehäuft auf und bilden bei näherer Betrachtung eine Art Motto für die jeweils erinnerte Episode. Die Erinnerungsbilder werden so gewissermaßen ‚auf den Begriff‘ gebracht oder, wie es Cicero nennt, im „Bilde eines Wortes“ 38 verkörpert. Dies passiert etwa im angeführten Kapitel durch das bildliche Sprechen. ‚Abschließen‘ wird hier auf den ersten Blick nur in einem ganz konkreten Sinn gebraucht. Der Architekt verschließt mit den jeweiligen Schlüsseln die Türen und Schlösser. Das Abschließen der Lebensphase ist damit zugleich gemeint, ohne jedoch in explizit angesprochen zu werden. So wird das Abschließen im konkreten Sinn zu einem Bild für die zweite, hier nur implizite Bedeutung. Das Schließen mit dem Schlüssel wird damit zu einer Metapher. Es kann also konstatiert werden, dass der Roman das Haus der ars memoriae nicht nur als Metapher für das Gedächtnis verwendet, sondern sich mit seinen Verfahren eng an den Techniken dieses Modells ausrichtet, in denen Erinnerung über die Bezugnahme auf Bilder funktioniert, die hier in der Verwendung bildlicher Sprache gestaltet wird. Diese wiederholt und zugleich metaphorisch gebrauchten Begriffe wie das Abschließen verknüpfen zudem die jeweiligen Handlungsfäden bzw. Textepisoden mit dem Haus. Um in der  Cicero, De oratore II, 358.

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Metaphorik der Memorialehre zu bleiben, werden dadurch die Erinnerungsinhalte in der Gebäudestruktur verortet. „Erinnerung ist dann ein Wiedererkennen der imaginierten Bilder beim geistigen Abgehen der ebenso imaginierten Räume.“ 39 Auf diese Weise wird der Roman bzw. seine Struktur mit dem Haus parallel gesetzt. Beide dienen als Gedächtnismodell und Erinnerungshilfe.

2.4 Imagines agentes Während Cicero und Quintilian sich in Bezug auf die Bilder, an die die Gedächtnisinhalte geknüpft werden, mit relativ kurzen Hinweisen begnügen – Frances A. Yates geht davon aus, dass die Autoren die Gedächtniskunst als bekannt voraussetzten – liefert die Rhetorik Ad Herennium eine vollständige Abhandlung dazu und ist insbesondere im Bezug auf die Funktionsweise der Bilder explizit. Yates, die in The Art of Memory (1966) die Geschichte der Mnemotechnik von der Antike bis ins siebzehnte Jahrhundert nachzeichnet, bezeichnet die Rhetorica ad Herennium als „die Hauptquelle, ja sogar die einzige vollständige Quelle für die klassische Gedächtniskunst der griechischen wie der lateinischen Welt“ 40. Der anonyme Autor der Rhetorica ad Herennium gibt detaillierte Regeln für die Wahl und Ausstattung der mnemonischen Bilder an. Yates bezeichnet diese Abhandlung als einen „höchst seltsamen und überraschenden Abschnitt dieser Schrift“ 41. In der Rhetorik Ad Herennium wird nicht einfach von Bildern, sondern von imagines agentes gesprochen: Wir sollten also solche Bilder aufstellen, die möglichst lange im Gedächtnis haften. Dies wird geschehen, wenn wir möglichst auffällige Gleichnisse wählen; wenn wir Bilder herstellen, die nicht nichtssagend und undeutlich, sondern aktiv sind (imagines agentes); wenn wir ihnen außerordentliche Schönheit oder außerordentliche Hässlichkeit beilegen; wenn wir manche von ihnen besonders ausschmücken etwa mit Kronen oder Purpurmänteln, so daß das Gleichnis für uns auffälliger ist; oder wenn wir sie irgendwie entstellen, etwa indem wir ein blutbeflecktes oder mit Lehm beschmiertes oder mit roter Farbe bestrichenes Gleichnis einführen, damit die Gestalt mehr hervorgehoben wird, weil auch das gewährleisten wird, daß sie unserer Erinnerung besser zur Verfügung stehen. Denn an Dinge, an die wir uns, wenn sie wirklich sind, leicht erinnern, erinnern wir uns auch mühelos, wenn sie Produkte der Phantasie sind.42

 Nicolas Pethes, Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin, Tübingen 1999, S. 48.  Yates, Gedächtnis und Erinnern, S. 14.  Yates, Gedächtnis und Erinnern, S. 17.  Rhetorica ad Herennium, III xxii, zitiert nach Yates, Gedächtnis und Erinnern, S. 18.

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Die imagines agentes werden also zu ‚aktiven‘ Bildern, indem sie „etwas in Bewegung bringen“, so die Übersetzung des Ausdrucks in einer anderen Ausgabe43. In Bewegung, in Gefühlsbewegung gebracht wird mittels der in besonderer Weise ‚ansprechenden‘ Bilder der Betrachter, also derjenige, der sie zu Erinnerungszwecken einsetzt. Die Bilder wirken über ihre spezifischen psychologischen Effekte, werden doch bei dem Betrachter „leidenschaftliche Gefühle erregt“ 44. Die Gedächtnisbilder als imagines agentes funktionieren also nicht losgelöst von demjenigen, der sich mittels ihrer erinnert. Yates führt anhand eines Beispiels der Rhetorica ad Herennium aus, wie ein Gedächtnisbild aussieht: Es ist „bestehend aus menschlichen Gestalten, aktiv, dramatisch, auffallend, in Begleitumständen, die an das ganze ‚Ding‘ erinnern, das im Gedächtnis aufgezeichnet ist“ 45. Auch in Heimsuchung werden zur Gestaltung der Gedächtnisbilder menschliche Figuren eingesetzt. Wie sieht es jedoch mit den affizierenden Effekten aus? Lassen sich auch in Bezug auf die psychologischen Wirkungsweisen der Erinnerungsbilder Analogien feststellen? Die Formulierung „das ganze ‚Ding‘“ geht auf die Differenzierung des künstlichen Gedächtnisses in memoria rerum und memoria verborum zurück. Diese in der Rhetoriklehre konventionalisierte Differenzierung unterscheidet die ‚Dinge‘, als Gegenstände der Rede, von den ‚Wörtern‘, als die Sprache, in der die rhetorischen Gegenstände ausgedrückt werden.46 Das ganze ‚Ding‘ bezeichnet hier also den gesamten Vorstellungszusammenhang, der in dem Gedächtnisbild verdichtet und memoriert wird. Zugleich ruft der Begriff im Kontext der Fragestellung dieser Arbeit auch ein anderes ‚Ding‘ auf. In Slavoj Žižeks Überlegungen zu den Mechanismen und Dynamiken von Gemeinschaftskonstitution kommt dem ‚Ding‘ eine Schlüsselrolle zu: „Nationale Identifizierung ist ihrer Definition nach aufgebaut auf eine Beziehung zur Nation als Ding“ 47. Dieses ‚Ding‘ ist etwas, das sich nicht wirklich bestimmen bzw. auf den Begriff bringen und über das sich kaum etwas genaues sagen lässt, außer „daß das Ding ‚the real Thing‘ ist, ‚das, worum es wirklich geht‘ etc.“ 48 Es ist also ebenfalls

 Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-Deutsch, hg. und übersetzt von Theodor Nüßlein, Zürich 1994, S. 177.  Yates, Gedächtnis und Erinnern, S. 18.  Yates, Gedächtnis und Erinnern, S. 19. Yates bezieht sich hier auf die Originalstelle „in primo loco rei totius imaginem conformabimus“, Rhetorica ad Herennium, III xx.  Vgl. Yates, Gedächtnis und Erinnern, S. 17. Zu Res und Verba als „differentielle Einheit“ und „Ur-Differenz aller Rhetoriklehre“ vgl.: Groddeck, Reden über Rhetorik, S. 97.  Slavoj Žižek, Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ‚Dings‘. In: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 133–164, S. 135.  Žižek, Genieße Deine Nation, S. 135.

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ein verdichteter Vorstellungszusammenhang. Auch bei Žižeks Ding geht es um ein ‚ganzes Ding‘, figuriert es doch das Verbindende eines Gemeinwesens, „[d]as Band, das seine Glieder zusammenhält“ 49. Möglicherweise kann die begriffliche Parallele hier einen Hinweis darauf geben, was es ist, was die Erinnerungsbilder in Erpenbecks Roman zu aktiven Bildern (imagines agentes) macht. So wie die Dinge (Vorstellungen bzw. Gegenstände der Rede) im rhetorischen Modell in den imagines agentes abgespeichert werden und sie mit ihrer affizierenden Dynamik, dem Potential etwas oder jemand in Bewegung zu versetzen, ausstatten, scheinen die Erinnerungsbilder in Heimsuchung etwas vom ‚Ding‘ als der ‚gemeinsamen Sache‘ der Nation zu transportieren. Der Roman erzählt mit den in der Reduziertheit verdichteten Erinnerungsbildern über die deutsche Geschichte. Indem der Roman im Erzählen indirekt und implizit vorgeht und die Geschichtserzählung nicht ausbreitet, sondern nur in Form von Topoi andeutet, aktiviert er das Wissen seiner Leser. Dieses Wissen spricht der Text als Teil einer kollektiven Erinnerung an. Das Verstehen des Textes und seiner Geschichtserzählung ist dann die Teilhabe an dem Erinnerungskollektiv und erhält somit eine identifizierende Funktion. Die imagines agentes, die ja bereits in der antiken Rhetoriklehre ihre Wirkungsweise aus der Imagination beziehen, lassen sich solchermaßen mit dem Imaginären der Nation zusammen denken, einer Nation, die sich als Erinnerungsgemeinschaft über das kollektive Gedächtnis konstituiert. Dieses kollektive Gedächtnis und sein Zusammenwirken mit dem Imaginären setzt der Roman für die jüngste deutsche Geschichte ins Werk. Wie sich bisher zeigen ließ, verwendet Erpenbecks Roman nicht einfach nur das Haus als Metapher für das Gedächtnis in einem Text, der über Geschichte erzählt. Auch das Erzählverfahren in Heimsuchung nimmt Anleihen bei der Memoriatechnik. Die Gedächtnisinhalte, die so thematisiert werden, sind jedoch nicht an ein individuelles Erinnern gebunden, sondern scheinen auf ein kollektives Gedächtnis zu verweisen. Indem das Erinnern in dieser Weise thematisiert wird, wird dieses Kollektiv, an welches das im Text angesprochene Gedächtnis gebunden zu sein scheint, überhaupt erst behauptet. Der Roman erzählt Episoden der deutschen Gegenwartsgeschichte, jedoch nicht irgendwelche beliebigen, sondern solche, die bereits Teil der offiziellen deutschen Erinnerungskultur geworden sind. Über ihren Umgang mit der Vergangenheit entwirft sich eine Gemeinschaft stets auch selbst. Insofern erzählt der Roman, der von Geschichte und dem Erinnern handelt, immer auch über die Gemeinschaft, die diese Geschichte tradiert. Die Erinnerungsbilder sind Teil eines Selbstbildes und haben damit Anteil am Imaginären.  Žižek, Genieße Deine Nation, S. 134.

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2.4.1 Schwimmen Im Kapitel Die Besucherin ist es das ‚Schwimmen‘, das die Verbindung herstellt und die Erinnerungsbilder mit dem Haus am See verknüpft. Das Schwimmen spannt einen Bogen von der Gegenwart der alten Frau, die ihre Enkelin in die Sommerfrische an den See begleitet, zu ihrer Kindheit und Jugend: Schwimmen kann sie hier wie zu Hause, und das Schwimmen ist leicht geblieben, anders als das Gehen, zu dem ihre Knochen schon lang nicht mehr taugen. Abends, wenn sie ihren grauen Haarknoten auflöst, bevor sie zu Bett geht, sind die Haare noch feucht. Als sie jung war, hat sie die masurischen Seen im Sommer durchschwommen und durchtaucht […] (H 133 f.).

Die knappen biografischen Hinweise, die hier über die Besucherin gegeben werden, rufen wiederum ein bestimmtes Erinnerungsbild und damit einen bestimmten Topos der deutschen Gegenwartsgeschichte auf, der sich auf das Stichwort-Doppel ‚Flucht und Vertreibung‘ bringen lässt. Wie schon das ‚Abschließen‘ hat auch das ‚Schwimmen‘ eine bildliche Dimension, insofern als sich der Begriff metaphorisch lesen lässt. Das Schwimmen ist nicht nur eine sportliche Betätigung und als solche eine persönliche Leidenschaft der Figur, sondern lässt sich zudem ebenfalls in einem übertragenen Sinn verstehen. Die Benennung ‚die Besucherin‘ sagt bereits aus, dass es sich um eine Figur handelt, die in der Fremde zu Gast ist – und dies ist in einem generalisierenden Sinn aufzufassen. Das Lebensgefühl, das mit dem unwiederbringlichen Verlust der Heimat verbunden ist, ist mit dem Schwimmen auf den Begriff gebracht: Die Hauptsache ist, daß sie hier wieder schwimmen kann. Auch, wenn sie beim ersten Besuch nicht weiß, daß die Porzellanstücke auf dem Tisch zum Ablegen des Bestecks zwischen den Gängen bestimmt sind. Ebensowenig glückt ihr der Versuch, das Frühstücksbrötchen mit Gabel und Messer zu schneiden, der das Versehen vom Mittag davor ausgleichen soll. Beide Missverständnisse führen zum gleichen stillen Lächeln der Gastgeberin, begleitet von der gleichen, leichten Berührung ihres Unterarms durch deren kühle Hand. (H 128)

Die Besucherin schwimmt. Nicht nur im Wasser des Sees, sondern auch im übertragenen Sinn in Bezug auf ihre Umgebung mit ihren Gewohnheiten, Umgangsformen und Bräuchen, die ihr fremd bleiben und mit denen sie sich nicht zuhause fühlen kann. Mit den Stichwörtern Flucht und Vertreibung ist ein weiteres Kapitel der deutschen Gegenwartsgeschichte aufgerufen, das (mittlerweile) einen festen Platz in den öffentlichen und offiziellen Erinnerungsdiskursen hat. Dabei geht es, etwa bei den Debatten um das Zentrum gegen Vertreibungen und die Besetzung des Stiftungsrats der Stiftung Flucht, Vertreibung,

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Versöhnung50, immer auch um die Positionierung der Erfahrungen deutscher Vertriebener im größeren Rahmen europäischer Vertreibungsgeschichte. Der Roman schließt hier insofern an, als er die Erzählung über Flucht und Vertreibung nicht auf die Erzählung eines individuellen Einzelschicksals, das der Besucherin, beschränkt, sondern darüber in Form eines generalisierenden Erinnerungsbildes erzählt. Die Erfahrung der Flucht und der Heimatlosigkeit betrifft nicht nur die Besucherin, sondern wird im Text in einen größeren, europäischen Zusammenhang und zugleich als eine Erfahrung eingeordnet, die in der Sprache transportiert wird: Der Löwenzahn ist der gleiche wie zu Hause, und auch die Lerchen. Jetzt, als alte Frau, ist sie in den Satz hineingewachsen, den ihr Mann vierzig Jahre zuvor immer gesagt hat. Der Löwenzahn in ihrem Dorf sei der gleiche wie der Löwenzahn bei ihm zu Hause, in der Ukraine, von wo er dahergelaufen gekommen war, und auch die Lerchen, hatte er immer gesagt. Und in Bayern, von wo seine Urgroßeltern nach Rußland eingewandert waren, und wohin er ursprünglich hatte zurückwandern wollen, ohne von dieser Heimat mehr als den Namen zu kennen, gab es sicher auch solchen Löwenzahn, solche Lerchen. Sicher haben auch die Urgroßeltern ihres Mannes irgendwann diesen Satz gesagt, weitere siebzig oder achtzig Jahre zuvor. […] Wahrscheinlich, denkt sie, werden die Sätze einfach irgendwann alle erreicht und mal von dem mal von jenem gesprochen, da oder dort, wie eben auf einer Flucht allen alles gehört, denn der Gang der Dinge und Menschen war wohl, umgerechnet aufs Leben, im Grunde genommen immer der gleiche wie auf der Flucht. Im Frieden war es die Armut, und im Krieg war es die Front, die die Menschen vor sich herschob wie eine lange Reihe von Dominosteinen […]. (H 130 f.)

Die Erfahrung des Schwimmens, nirgendwo sicheren Boden unter den Füßen zu erreichen, ist also eine kollektive und zugleich Generationen überspannende. Die Erfahrungen deutscher Vertriebener sind damit eingeordnet in einen größeren Erinnerungszusammenhang und werden parallelisiert mit den Erfahrungen Angehöriger anderer Nationen oder Gruppen. Damit erfolgt eine Gleichsetzung aller zivilen Opfer des Krieges und ihrer Leiden, eine Haltung, die auch in den aktuellen Debatten zum Erinnerungsdiskurs Flucht und Vertreibung zu finden ist und die lange vorherrschende Position ablöste, in der Leiden deutscher Vertriebener als Strafe für oder zumindest gerechte Folge der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg angesehen wurden.51  Vgl. für einen einführenden Überblick: Wolfgang Benz, Zur Debatte: Flucht, Vertreibung, Versöhnung. In: Dossier Geschichte und Erinnerung der Bundeszentrale für politische Bildung, 12. 11. 2008, http://www.bpb.de/themen/XMHIB5.html (abgerufen am 30. 08. 2011). Zu Flucht und Vertreibung als Bestandteil des bundesrepublikanischen Gründungsmythos vgl.: Caren Heuer, Die Flucht oder was die Nation mit Ostpreußen zu tun hat. In: Katharina Grabbe, Sigrid G. Köhler, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Das Imaginäre der Nation. Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film, Bielefeld 2012, 265–291.  Vgl. zu der literarischen Auseinandersetzung mit der deutschen Opferrolle auch: Beßlich, Grätz, Hildebrand, Wende des Erinnerns?

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2.4.2 Bäume Demnach sind es überindividuelle Erfahrungen, die der Roman mit den Schicksalen seiner Figuren und dabei mit dem Haus am See verknüpft. Es handelt sich um markante Episoden der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und in vielen Fällen zugleich um geschichtliche Aspekte, die Gegenstand öffentlicher Debatten um Erinnerung und Gedächtnis geworden sind. Im Roman vertreten sind auch die Verfolgung der und der Völkermord an den Juden durch die Deutschen im Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg. Davon erzählt der Text ebenfalls zwar vermittelt über einzelne Figuren, jedoch zugleich auf eine Weise, die die Erfahrungen einzelner einordnet in ein Kollektivschicksal. In dem Kapitel Der Tuchfabrikant erfolgt die Verortung in der räumlichen Gedächtnisstruktur des Hauses über das Motiv der Bäume. Das Kapitel springt hin und her in Raum und Zeit und erzählt abwechselnd von einem Nachmittag am See, an dem der Tuchfabrikant mit seinen Eltern, seiner zukünftigen Frau, mit Schwester, Schwager und Nichte eine Weide am Seeufer pflanzt, und von einem Besuch, den die Eltern des Tuchfabrikanten einige Jahre später bei ihm, seiner inzwischen angetrauten Frau und seinen mittlerweile geborenen Kindern in Kapstadt machen. Das Bild, über das die Erinnerungsinhalte an das Haus am See angebunden sind, ist das Motiv des Baums, das in diesem Kapitel bestimmend ist. Symbolträchtig wird ein Baum auf das neu erworbene Stück Seeufer gepflanzt. In Südafrika sind es blühende Gartenbäume, ein Feigenbaum, Ananaspalmen, Eukalyptusbäume und ein Weihnachtsbaum, die immer wieder genannt werden. Erzählt wird von der Flucht einer wohlhabenden jüdischen Familie vor der Judenverfolgung durch die deutschen Nazis ins Exil. Diese Flucht gelingt für den Tuchfabrikanten und seine Frau. Seine Eltern und die Schwester mit ihrer Familie hingegen können nicht mehr rechtzeitig ausreisen und werden ermordet. Auch diese Erzählung schließt sich an Bekanntes an – etwa die Textilindustrie als ‚jüdisches Gewerbe‘52 oder das Klischee des ‚reichen Juden‘ – und ist trotz der verschachtelten und reduzierten Erzählweise leicht verständlich. Auch hier wird ein bekanntes Erinnerungsbild aufgerufen: Der Text erzählt nicht nur von dem einen einzelnen Tuchfabrikanten, sondern zugleich von den europäischen Juden, die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung wurden. Doch noch mehr wird transportiert. Das  Siehe dazu etwa das Programm der Tagung ‚Juden in der Textilindustrie‘ des Gedenkstättenverbundes Gäu-Neckar-Alb, veranstaltet vom Verein Alte Synagoge Hechingen e. V., 10. 10. 2010, http://www.initiative-loewensteinverein.de/downloads/Programm%20Textiltagung%20 Oktober%202010.pdf (abgerufen am 23. 09. 2011). Sowie: Werner E. Mosse, Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft. In: Werner E. Mosse (Hg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland: 1890–1914, unter Mitwirkung von Arnold Paucker, 2. Aufl., Tübingen 1998, S. 57–113.

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Schicksal des jüdischen Tuchfabrikanten steht nicht nur stellvertretend für das der Holocaust-Opfer, sondern verweist zugleich auf die jüdische Diaspora. Das Kapitel Der Tuchfabrikant ist durch das Motiv des Baumes dominiert. Das Pflanzen der Weide am Seeufer, auf das der Vater des Tuchfabrikanten besteht, wird als Versuch lesbar, ‚Wurzeln zu schlagen‘. Das Kapitel lässt mehrfach den Vater zu Wort kommen, der das Grundstück am See als „Erbe“ bezeichnet: „Sein Vater blickt auf das leise plätschernde, märkische Meer. Heim. Es ist dein Erbe, sagt der Vater zu ihm“ (H 53). Das ‚Wurzelnschlagen‘ bzw. der Wunsch danach wird noch durch einen anderen Baum symbolisiert: den Stammbaum. Das Kapitel enthält wiederholt die Aufzählung der Familienmitglieder und ihrer Verwandtschaftsverhältnisse: Hermine und Arthur, seine Eltern. Er selbst, Ludwig, der Erstgeborene. Seine Schwester Elisabeth, verheiratet mit Ernst. Die Tochter der beiden, seine Nichte, die Doris. Dann seine Frau Anna. Und nun die Kinder: Elliot und die kleine Elisabeth, genannt nach seiner Schwester. (H 49)

Den Reihungen kommt eine besondere Funktion zu. Dies wird nicht nur durch die Wiederholung unterstrichen, sondern auch durch die Ausnahme von der Regel des streng komponierten Romans, da hier die Figuren mit konkreten Namen benannt werden. Der Versuch, eine Heimat zu finden, schlägt fehl und war – so kann es hier verstanden werden – immer schon zum Scheitern verurteilt. Der Text verdeutlicht dies durch die abwechselnde Erzählweise, die das spätere Geschehen bereits voraussetzt. Die wiederum wiederholte Parallelisierung der Begriffe ‚Heim‘ und ‚Heil‘ verstärkt den Eindruck der Vorausdeutung und Vorausbestimmung zudem und schreibt dem Versuch, heimisch zu werden, eine unheilvolle Konnotation ein: Heim. Auf dem Nachbargrundstück ist viel Betrieb, die Vermesser sind da, ein paar Handwerker und der Bauherr, ein Architekt aus Berlin. Der steht in Knickerbockern da und grüßt herüber. Heil. (H 50)

Die abwechselnde Erzählweise setzt den Versuch der Beheimatung auf dem Seegrundstück und das Exil in Südafrika parallel. Auch hier werden Bäume gepflanzt: „Für seine Kinder […] hat er den Feigenbaum und auch die Ananas im hinteren Teil des Gartens gepflanzt“ (H 52). Diese exotischen Gewächse verweisen nicht nur auf die Fremde. Insbesondere die Feige ruft den Paradiesgarten auf: „Ludwig ruft: Was spielt ihr da? Die kleine Elisabeth flüstert ihm hinter vorgehaltenem Feigenblatt zu: Die Vertreibung ins Paradies“ (H 56).

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Auch wenn der Exilort Kapstadt als „[p]aradiesisch“ (H 50) bezeichnet und mit den Pflanzen des Paradiesgartens ausgestattet ist – zum eigentlichen Paradies wird in diesem Kapitel die Heimat, aus der die Vertriebenen fliehen mussten und die gemeinsam mit den Angehörigen des Stammbaums ausgelöscht wurde. Das Schicksal des Tuchfabrikanten findet sich so in den Zusammenhang einer größeren Erzählung eingeordnet, etwas, das bereits ‚seit Adam und Eva‘ vermeintlich so gewesen ist. Der Sündenfall stellt sich als Katastrophe ‚biblischen Ausmaßes‘ dar. Die Frage der Schuld wird damit ausgelassen. Auch die Auflistung der Familienmitglieder im Stammbaumverfahren erhält eine Parallelisierung und damit eine Umdeutung. Ebenfalls aufgelistet werden einzelne Gegenstände aus dem Besitz der Familie, einschließlich der Angaben zu Kaufdatum und -preis: „1 Teeservice (Firma Rosenthal), gekauft 1932, Mk. 37, Pf. 80“ (H 53). Durch die Parallelisierung der menschlichen Schicksale mit denen der Dinge erfolgt auch eine Gleichsetzung der Menschen mit Waren: „Beide treten die Erde um den Stamm herum fest. Mit einem Paar großer Schuhe, gekauft 1932, Mk. 35,-, und einem Paar kleiner bloßer Füße“ (H 55). Neben der Paradiesgeschichte enthält das Kapitel noch weitere Verweise auf eine andere biblische Erzählung. Das Exil ist im Alten Testament die göttliche Strafe für das sündhafte Volk Israel. Gott verweist die Israeliten ihres Landes, damit sie im Exil Buße tun. Wenn die Sünde verziehen ist, führt Gott die Israeliten zurück. Die jüdische Diaspora wird auf dieses ‚babylonische Exil‘ zurückgeführt. Durch die deutliche biblische Konnotation des Kapitels erscheint auch das Exil des Tuchfabrikanten in Kapstadt eingeordnet in diese Geschichte der Diaspora, in der es eine Art zeitloses Schicksal der Juden ist, keine Wurzeln schlagen zu können und heimatlos zu bleiben.

2.5 Krypta Das Haus, in dem Heimsuchung die Gedächtnisinhalte ablegt und das als Modell des Erinnerns gelesen werden kann, wird am Ende des Romans abgerissen. Die Zerstörung des Hauses lässt an die Ursprungsgeschichte der ars memoriae denken, wie sie in den antiken Rhetoriken53 berichtet wird. Am Anfang der Gedächtnismetapher Haus steht ein zusammengestürztes Haus. Der Dichter Simonides von Keos trägt bei einem Festmahl im Auftrag des Gastgebers ein Gedicht zu dessen Ehren vor, die vereinbarte Bezahlung wird jedoch nicht eingehalten, da der Auftraggeber unzufrieden damit ist, dass neben seinem Namen auch die der Götter Castor und Pollux geehrt werden. Die Götter  Vgl. Quintilian, XI 2, 11 f.; Cicero, De oratore II, 351 f.

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greifen dann auch unmittelbar in das weitere Geschehen ein: Simonides wird nach draußen gerufen und in dem Moment, in dem er vor die Tür tritt, bricht das Gebäude zusammen. Gäste und Gastgeber sind unter den Trümmern begraben. Nur Simonides kann die zur Unkenntlichkeit verstümmelten Toten identifizieren, da er die Sitzordnung erinnert. Damit ermöglicht er das Begräbnis der Erschlagenen sowie das Totengedenken und erfindet zugleich die Mnemotechnik.54 Das Haus dieser Ursprungslegende, das zum Vorgänger für alle späteren mnemotechnisch imaginierten Häuser wurde, stürzt aufgrund eines Unglücks bzw. durch das Eingreifen der Götter zusammen. Das Haus in Heimsuchung wird planvoll abgetragen. Die Parallele bleibt, dass beide Häuser zerstört sind. Der Abriss des Hauses verweist damit zurück auf den Ursprung der Gedächtnislehre, an dem Zerstörung, Katastrophe und Tod stehen. Das Bedürfnis nach dem und die Notwendigkeit des ordnenden Gedächtnisses, wie es die Memorialehre erlaubt, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Katastrophe: „Der Tod, Symbol für die Bedrohung der Kontinuität von Überlieferungszusammenhängen, gibt allererst den Anstoß zu einer Restitution von Kontinuität“ 55. Die ‚Geschichtsbesessenheit‘ der Deutschen, die für den Erfolg von Gedächtnistexten wie Erpenbecks Heimsuchung verantwortlich gemacht wird, wird ebenfalls auf eine ‚Katastrophe‘ zurückgeführt – die nationalsozialistischen Verbrechen der Deutschen und den Zweiten Weltkrieg. Insbesondere um von dieser ‚deutschen Katastrophe‘56 und ihren Folgen zu erzählen, bedient sich der Roman neben dem Haus einer weiteren aus der Architektur entliehenen Gedächtnismetapher. In auffälliger Häufung thematisiert der Text Verstecke und Geheimnisse. Gerade Episoden, die von traumatischen Geschehnissen handeln, verlegt der Roman in verborgene Räume. Diese Verstecke des Textes können mit dem Begriff der ‚Krypta‘ als Metapher für das Trauma näher beschrieben werden. In der Psychotraumatologie wird das Trauma als „seelische Verletzung“ 57 (Trauma von gr. τραύμα: Wunde) gefasst,

 Vgl. Stefan Goldmann, Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos. In: Poetica 21, 1989, S. 43–66.  Pethes, Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, S. 95.  Die Formel ‚die deutsche Katastrophe‘ als Umschreibung für den deutschen Nationalsozialismus enthält in ihrer Vagheit eine Ambivalenz. Denn es ist nicht deutlich, ob sich der Katastrophenbegriff auf die Machtergreifung 1933, die Verbrechen des Regimes und den Zweiten Weltkrieg oder die Zerschlagung des Reiches durch die Alliierten bezieht. In dieser Bedeutungsoffenheit ist sie als umschreibende Formulierung für unterschiedliche Zusammenhänge anschlussfähig. Geprägt wurde die Formulierung durch einen Essay des Ideengeschichtlers Friedrich Meinecke. Vgl.: Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946.  Gottfried Fischer, Peter Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, München 1998, S. 19.

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die auf extreme Erfahrungen zurückgeht. Traumatische Erfahrungen überschreiten die Bewältigungsmöglichkeiten des Einzelnen und bewirken daher „eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis“ 58. Traumatische Erlebnisse stehen der Erinnerung deshalb nicht einfach zur Verfügung, sondern stellen als „unüberwindbare Gegenwart eines vergangen Geschehens“ 59 die Unterscheidung zwischen Jetzt und Damals in Frage. Die Krypta, abgeleitet vom griechischen krýptos: verborgen, geheim, bezeichnet in der Architektur das unter dem Altarraum von christlichen Kirchen gelegene Gewölbe, in dem sich Grabstätten oder Reliquien befanden.60 In der psychoanalytischen Theoriebildung nach Nicolas Abraham und Maria Torok ist die Krypta „‚Aufbewahrungsort‘ eines unverfügbaren Restes“ 61 im Innern des Subjekts. „Die Krypta bewahrt einen unauffindbaren Ort als Grund, mit Grund“ 62, schreibt Jacques Derrida und bezeichnet die Krypta als einen „Hof“ (for), „ein im Inneren des Innen ausgeschlossenes Außen“ 63. Obwohl im Innen lokalisiert, können die Inhalte der Krypta nicht verinnerlicht im Sinne von nicht integriert werden. Als „psychischer Fremdkörper“ 64 hat die Krypta und damit die traumatische Erinnerung eine „unantastbare Präsenz“ 65. Eine der Episoden in Heimsuchung, die in einem Versteck stattfinden, wird aus der Perspektive von zwei Figuren, der Frau des Architekten und des Rotarmisten, erzählt und taucht so in dem Roman in zwei verschiedenen Kapiteln auf. Für Die Frau des Architekten (so die Kapitelüberschrift), eine Frau, die „wirklich gern“ (H 64) lacht, wird durch die Geschehnisse „im begehbaren Schrank hinter der doppelten Tür“ (H 73), in dem sie sich am Ende des Krieges vor „den slawischen Horden“ (H 73) versteckt, das Lachen zu einem Lachen, das etwas verbirgt: „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“ (z. B. H 71). Die

 Fischer, Riedesser, Psychotraumatologie, S. 79. Zur Konjunktur des Trauma-Begriffs in den Geistes- und Kulturwissenschaften siehe: Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle, Sigrid Weigel (Hg.), Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln u.a. 1999. Zum Trauma im Kontext von Gedächtnis und Erinnerung vgl. auch: Michael Eggers, Trauma. In: Nicolas Pethes, Jens Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 602–604.  Aleida Assmann, Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften. In: Lutz Musner, Gotthart Wunberg (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien 2002, S. 27–45, S. 36.  Vgl. Eva Horn, Krypta. In: Pethes, Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung, S. 326–328.  Horn, Krypta, S. 327.  Jacques Derrida, FORS. In: Nicolas Abraham, Maria Torok, Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns, Frankfurt a.M. u. a. 1979, S. 5–58, S. 7.  Derrida, FORS, S. 10.  Horn, Krypta, S. 327.  Horn, Krypta, S. 327.

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Begegnung zwischen der Frau des Architekten und dem jungen russischen Soldaten in dem „verborgenen tiefen Schrank“ (H 98) wird in dem Kapitel Der Rotarmist ausführlicher geschildert und dabei als gegenseitige Vergewaltigung und gleichzeitig Metapher für den Krieg lesbar. Angesprochen wird damit ein Aspekt der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, der lange tabuisiert und – sicherlich auch wegen der traumatischen Folgen für die Betroffenen – lange nicht Teil der offiziellen Erinnerung war: das Unrecht an der Zivilbevölkerung. Während es Teil der öffentlichen Auseinandersetzung wurde, wie die Leiden der deutschen Zivilbevölkerung zu bewerten seien, ob sie als ‚Opfer‘ zu behandeln seien, obwohl sie ja zu den ‚Tätern‘ gehörten, fügt der Roman dieser Debatte um die Täter-Opfer-Relationen einen weiteren Aspekt hinzu, wenn in der Figur des jungen Soldaten Vergewaltiger und Vergewaltigungsopfer in eins fallen. Zum ‚eigentlichen Täter‘ wird in dieser Lesart der Krieg – und damit ‚die Umstände‘, die die Verantwortung des Einzelnen relativieren und Täterund Opferschaft ununterscheidbar werden lassen. Das eigentlich Traumatische, das wegen seiner Bedrohlichkeit in die Krypta verbannt ist, ist demnach genau dieser Umstand der Ununterscheidbarkeit, in dem sich niemand von Schuld frei sprechen kann und in dem die Opfer immer auch Täter sind und umgekehrt. Ebenfalls in einem Versteck situiert ist das fünfte und damit zentral gestellte Kapitel Das Mädchen. Die zwölfjährige Doris66 verbirgt sich in einer

 Da der Text seine Figuren ansonsten nicht mit Namen bezeichnet, fällt diese Ausnahme auf. Doris’ Name wurde bereits zuvor in dem Kapitel Der Tuchfabrikant eingeführt, in dem die Familienmitglieder des Tuchfabrikanten, dessen Nichte Doris ist, wiederholt nach dem Vorbild eines Stammbaums aufgezählt werden. Die Familienmitglieder des jüdischen Tuchfabrikanten sind damit im Roman die einzigen Figuren, die Namen erhalten. Der Roman gibt explizit und exklusiv einer Figurengruppe konkrete Namen, die ansonsten häufig namenlos bleiben: den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung, die das Vernichtungssystem auf Nummern reduzierte. Damit verfährt der Roman ähnlich wie etwa das viel beachtete Kunstprojekt der so genannten ‚Stolpersteine‘: Mit dem Ziel, den Opfern ihren Namen ‚zurückzugeben‘, werden kleine Gedenktafeln ins Straßenpflaster eingelassen. Diese ‚Stolpersteine‘ verzeichnen die Namen derjenigen Opfer des Nationalsozialismus, die in den Häusern wohnten, vor denen sich die Steine befinden. Vgl. http://www.stolpersteine.com/ (abgerufen am 20. 10. 2010). Im Paratext des Romans findet sich ein weiterer Hinweis auf Doris: Der Roman ist Doris Kaplan gewidmet. Doris Kaplan wurde als Elfjährige im März 1942 von Berlin ins Warschauer Ghetto deportiert. Alles, was seitdem über ihr Schicksal gewiss ist, ist, dass sie nicht überlebt hat. Die Ausstellung Wir waren Nachbarn, seit 2005 im Rathaus Schöneberg lokalisiert, erzählt die Biografien jüdischer Berliner und Berlinerinnen, Zeitzeugen des deutschen Nationalsozialismus. Doris Kaplans Schicksal wurde darüber Teil institutionalisierter Erinnerungskultur. Vgl.: Daniela Krebs, Mit neuen Jahren nach Berlin, mit elf ins Warschauer Ghetto. In: Berliner Zeitung, 25. 01. 2010, http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2010/ 0125/berlin/0049/index.html (abgerufen am 01. 10. 2010).

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Kammer in einer verlassenen Wohnung im bereits geräumten Warschauer Ghetto67 vor dem Abtransport ins Konzentrationslager. Als das einzige Kapitel, das nicht im Haus oder auf dem Seegrundstück lokalisiert ist, nimmt es eine Ausnahmestellung im Roman ein. Die Rückbindung an Haus und Ufergrundstück ist jedoch auch hier gegeben, imaginiert sich Doris doch immer wieder an den See bzw. hält sie sich das Seegrundstück beständig vor ihrem ‚inneren Auge‘ als Fixpunkt fest: Der einzige Ort, der seit damals sich ähnlich geblieben sein wird, und über den das Mädchen sogar von hier aus, von ihrer dunklen Kammer aus, noch immer sagen könnte, wie er zur Stunde aussieht, ist das Grundstück von Onkel Ludwig. Vielleicht erinnert sie sich deshalb genauer als an alles andere an die paar Wochenenden und die zwei Sommer, die sie dort verbracht hat. Auf Onkel Ludwigs Grundstück kann sie noch immer von Baum zu Baum gehen und sich hinter den Büschen verstecken, auf den See blicken kann sie und wissen, daß der See noch immer dort ist. Und so lange sie noch irgend etwas auf dieser Welt kennt, ist sie noch nicht in der Fremde. (H 87)

Das Kapitel endet mit der Erschießung des Mädchens im Konzentrationslager. Das Versteck rettet sie nicht. Die Funktion der Kammer ist also eher eine narrative oder verfahrenstechnische. Doris, deren Name am Ende des Kapitels „zurückgenommen“ (H 92) wird ebenso wie alle anderen Details, die ihre Individualität ausmachten68, wird innerhalb des Romans zu einer Repräsentationsfigur für den Völkermord an den europäischen Juden durch die Deutschen im Nationalsozialismus. Das Trauma, von dem erzählt wird, ist kein individuelles. Indem das Haus am See in diesem Kapitel zudem auch innerhalb des Erzähltextes als imaginiertes Haus vorkommt, wird es noch einmal stärker an das Haus der ars memoriae angeglichen, das ja ebenfalls ein rein vorgestelltes Gebäude ist. Der Verweis auf die Verfahrensweisen und die Gemachtheit des Gedächtnisses ist an dieser Stelle noch einmal verstärkt. Das Gedächtnishaus, also die Kunst des Erinnerns und das Trauma, als die Unmöglichkeit des Erinnerns, sind hier miteinander verschränkt und verweisen auf die Verantwor-

 Zwar wird Warschau nicht als Ort genannt, über die Aufzählung von Straßennamen kann das Ghetto des Romans dennoch als Warschauer Ghetto ausgemacht werden.  „Drei Jahre lang hat das Mädchen Klavierspielen gelernt, aber jetzt, während sein toter Körper in die Grube hinunterrutscht, wird das Wort Klavier von den Menschen zurückgenommen, jetzt wird der Rückwärtsüberschlag am Reck, den das Mädchen besser beherrschte als seine Schulkameradinnen, zurückgenommen und auch alle Bewegungen, die ein Schwimmender macht, das Greifen nach Krebsen wird zurückgenommen, ebenso wie die kleine Knotenkunde beim Segeln, all das wird ins Unerfundene zurückgenommen, und schließlich, ganz zuletzt, auch der Name des Mädchens selbst, bei dem niemals mehr jemand es rufen wird: Doris.“ (H92)

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tung, die institutionalisiertem Erinnern gerade angesichts der Auslöschung des Individuums und damit des individuellen Gedächtnisses zukommt. Die Erinnerungsinhalte sind in dieser Episode ebenfalls solcherart, dass sie für die Leserin leicht zu erkennen und nicht gegebene Informationen leicht hinzuzufügen sind. Dadurch erhalten auch die Erinnerungsbilder, die innerhalb des Romans an den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus und die damit verbundenen Verbrechen erinnern, den Status von Topoi. Damit werden sie jedoch nicht auf simple Gemeinplätze reduziert, betonen doch gerade diese Kapitel die Notwendigkeit von wiederholender Erinnerungstätigkeit und einer Erinnerungskultur, die keine ‚dunklen Kammern‘ zulässt. Heimsuchung erzählt mittels der Trauma-Metapher Krypta von Krieg und Shoah. Angesichts der bereits seit den 1990ern zu beobachtenden Konjunktur des Trauma-Begriffs69, insbesondere im Zusammenhang der Beschäftigung mit der Shoah und dem Zweiten Weltkrieg, erscheint es auffällig, dass der Roman ausgerechnet diese Episoden dem Bereich des Traumas zuordnet. Im Umgang mit dem „in sich widersprüchlichen Auftrag […], ein undarstellbares Ereignis im kulturellen Gedächtnis dauerhaft zu verankern“, scheint sich das Trauma „als paradoxale Figur der Stabilisierung“ 70 anzubieten. Während sich manche Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Aneignung des Trauma-Begriffs den Vorwurf machen lassen mussten, das Trauma einfach als kulturelles Deutungsmuster zu universalisieren71, bleibt der Roman nicht bei dieser vereinfachenden Verwendungsweise des Trauma-Begriffs stehen. Vielmehr bietet gerade die Krypta eine Möglichkeit an, wie mit den traumatischen Erinnerungen produktiv umgegangen werden kann. Denn die Krypta als architektonischer Begriff verweist auf einen Raum, der einen Überrest aus der Vergangenheit nicht einfach nur bewahrt (sterbliche Überreste im Grab, Reliquien), sondern durch die räumliche Verbindung mit dem darüber liegenden Altarraum im Kultraum der Kirche präsent hält. „Die Krypta ist so der architektonische Ausdruck eines reliquiengestützten Totenkults, der im Zentrum vor  Vgl. Bronfen, Erdle, Weigel, (Hg.) Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Sowie: Eggers, Trauma.  Assmann, Gedächtnis, S. 39.  Vgl. etwa die Reaktionen auf Aleida Assmanns Verwendung des Traumabegriffs z. B. in ihrem Essay Ein Deutsches Trauma? Die Kollektivschuldthese zwischen Erinnern und Vergessen. In: Merkur, 9, 1999, S. 1142–1154. Dazu: Ole Frahm, Fluchtpunkt Auschwitz. Strategien der Aneignung des Holocaust. In: Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus (Hg.), Das Unbehagen in der ‚dritten Generation‘. Reflexionen Holocaust, Antisemitismus und Nationalsozialismus, Münster 2004, S. 57–66; Michael Heinlein, Rezension zu Aleida Assmann, ‚Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik‘, München 2006. In: H-Soz-u-Kult, 19. 01. 2007, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ rezensionen/2007-1-045 (abgerufen am 21. 10. 2010).

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allem der mittelalterlichen Liturgie stand.“ 72 Die Verwendung der Krypta als Trauma-Metapher verweist auf diese kultische Funktion und lässt das Trauma bzw. die traumatische Erinnerung damit denkbar werden als Grundlage eines ritualisierten Gedenkens, das wiederum – wie die Reliquie für die Gemeinde – konstitutiv werden kann für Gemeinschaft. Das Trauma ist dann beides: Unintegrierbarer Fremdkörper, der zurückverweist auf den Tod und als solcher zugleich Anlass und Gegenstand des Gedenkens, einer Praxis, die Gemeinschaft konstituiert. An dieser Erinnerungspraxis beteiligt sich der Roman und verweist damit auf die Funktion von Literatur für die Erinnerung und für die Gemeinschaft, die sich mittels der Erinnerung konstituiert. Der Roman behauptet so zugleich das Gelingen eines Paradoxes. Das in der Krypta verschlossene Trauma als Unverfügbares, das „nicht symbolisch zu kodieren“ 73 ist, wird in dem literarischen Text erzählbar. Der Roman integriert das Trauma in die Erzählung. Die traumatische Erinnerung, für deren Einschluss die Krypta eine Visualisierung anbietet, wird üblicherweise als bedrohlich für die Identität betrachtet, da sie „die Koordinationsleistungen der Identitätsbildung immer wieder untergräbt“ 74. Somit verweist die Erzählung über das Trauma in Heimsuchung zum einen auf den prekären Status von Identifizierung, hat aber zum anderen auch eine identitätsstabilisierende Funktion. Heimsuchung verwendet das Trauma nicht als Bezeichnung für eine individuelle Wunde. Das traumatisierte Subjekt, von dem der Text erzählt, ist die deutsche Erinnerungsgemeinschaft. Shoah und Krieg werden hier als historische Geschehen dargestellt, die eine psychische Verletzung verursachten. Diese ‚Wunde‘ ist auch für die nachfolgenden Generationen noch folgenreich. Dadurch erfolgt zugleich eine Psychologisierung des an diesen Erinnerungen leidenden Kollektivs. Denn es lässt sich folgern, dass gerade auch das Leiden die Gemeinschaft stiftet. Das traumatisierte Kollektivsubjekt, die ‚verwundeten Deutschen‘, bietet sich offensichtlich als wirkmächtiges Bild für die identifizierenden Dynamiken des Imaginären an. Diese Vorstellung der Deutschen als ‚traumatisierte Nation‘ prägt das in der Einleitung zu diesem Kapitel bereits angesprochene Image der Deutschen als ‚Vergangenheitsbewältiger‘ mit.

2.6 Kehren – Gedächtnispflege, Erinnerungsarbeit Das Haus, das in Erpenbecks Heimsuchung zu einem ‚Haus der deutschen Geschichte‘ wird, bleibt nicht bestehen. Der Text erzählt auch vom Verfall der  Horn, Krypta, S. 326 f.  Assmann, Gedächtnis, S. 38.  Assmann, Gedächtnis, S. 38.

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Villa und ihrer Nebengebäude. Das letzte Kapitel ist dem Abschiednehmen von dem Haus vor seinem Abriss gewidmet und verschaltet den veralteten Ausdruck des ‚Kehraus‘ (der letzte Tanz als Abschluss einer Festivität bzw. das Ende des Faschings) mit dem juristischen Begriff der ‚Auskehr‘ (Auszahlung eines Erbes, (Rück-)Übertragung eines Vermögensvorteils). Die unberechtigte Eigenbesitzerin (so auch der Titel des Kapitels) fegt, wischt und putzt das ganze Haus, obwohl sie keinen Anspruch mehr darauf hat und es dem Abbruch überlassen muss. Durch das hingebungsvolle Fegen wird zudem die umgangssprachliche Bedeutung von Kehren – sich um etwas kehren/kümmern – aufgerufen. Das letzte Fegen kommt damit der Pflege und Herrichtung des Körpers eines Verstorbenen für seine Beerdigung nahe, eine Parallelisierung, die der Text explizit macht: Niemals ist der Hausfrieden größer gewesen als an dem Tag, an dem sie ein letztes Mal abstaubt, fegt, wischt und bohnert […] Noch während ihre Großmutter im Sterben lag, hatte sie deren schönstes Nachthemd herausgesucht, es gewaschen und gebügelt, um es dann, wenn es soweit sein würde, der Toten mit auf den Weg zu geben. […] Das Fegen galt den Azteken als eine heilige Handlung. (H 184 f.)

Das ‚Leben‘ und ‚Sterben‘ des Hauses wird an dieser Stelle ebenso mit dem Leben und Sterben Verwandter parallel gesetzt wie hier auch individuelle Beziehungen und Emotionen mit dem rechtlichen Diskurs und gesellschaftlichen Ritualen in Zusammenhang gebracht werden. Das Haus in Erpenbecks Roman ist jedoch nicht nur ein Gebäude und die Behausung der Figuren, sondern immer auch als Metapher für das Gedächtnis und speziell ein deutsches kollektives Gedächtnis zu verstehen. Die besondere Beziehung und Verantwortung, die in dem Kehren des letzten Kapitels zum Ausdruck kommt und sowohl dem Einzelnen, der Gesellschaft wie der Justiz zugeordnet ist, bezieht sich also auch auf das Gedenken und wird als eine Anleitung für eine verantwortungsbewusste Erinnerungskultur lesbar. Kehraus ist zudem als Gegenbegriff zu Heimkehr zu verstehen. Damit enthält das Kapitel wiederum eine Aussage in Bezug auf die Heimsuchung als Suche nach der Heimat: Auch im letzten Kapitel ist Heimat nur als temporäres Zuhause möglich. Dies kann zum einen auf das konkrete Haus bezogen werden. Hier kann die unberechtigte Eigenbesitzerin nicht mehr beheimatet sein, weil es abgerissen wird. Zum anderen lassen sich daraus Rückschlüsse auf die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen einer Beheimatung, einem Zuhausesein in der deutschen Geschichte ziehen. Der Epilog berichtet minutiös von dem Abriss des Hauses. So genau wie der Prolog das erdgeschichtliche Entstehen der Landschaft und des Sees und damit auch des Ufergrundstücks schildert, schlüsselt der Epilog den Abbruch

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des Gebäudes in einzelne Arbeitsschritte auf, gibt an, wie viel Zeit- und Arbeitsaufwand damit verbunden ist, und verzeichnet mit genauen Mengen-, Volumen- oder Gewichtsangaben die abgetragenen Materialien. Das Haus, das am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut wird, findet gemeinsam mit diesem Jahrhundert auch sein Ende. Auf- und Rückbau des Hauses bilden also den zeitlichen Rahmen für das Erzählte in dem Roman, der damit zu einem Roman über die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wird. Prolog und Epilog geben eine feste zeitliche Rahmung, ordnen das Erzählte zudem jedoch auch in einen weiteren Rahmen, einen Zyklus weitaus größerer Dimension ein. Dieser wird durch „die Landschaft“ repräsentiert. Der Prolog erzählt, wie das Eis mit den „Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten“ (H 9) die Landschaft formt und den See zurücklässt. Dieser ursprünglichen Gestalt gleicht sich der leere Garten nach dem Abriss des Hauses wieder an: Als sie mit dem Abbruch des Hauses fertig sind, und nur noch eine Grube an den Platz erinnert, auf dem vorher das Haus stand, sieht das Grundstück auf einmal viel kleiner aus. Bevor auf demselben Platz ein anderes Haus gebaut werden wird, gleicht die Landschaft für einen kurzen Moment wieder sich selbst. (H 189)

Dieses Sichselbstgleichen ist jedoch keine Rückkehr zu einem Ursprung oder das (kurzzeitige) Erreichen einer originalen Identität. Der Prolog zeichnet auch die Landschaft eindeutig als etwas Zeitliches. Zwar werden hier mit den erdgeschichtlichen Prozessen große Entwicklungslinien (– „vor ungefähr vierundzwanzigtausend Jahren“ (H 9) –) geschildert, diese sind jedoch ebenfalls geprägt vom ewigen Werden und Vergehen. Nichts ist zeitlos oder letztgültig: Eine Zeitlang würde der See jetzt inmitten der märkischen Hügel seinen Spiegel dem Himmel hinhalten, würde glatt daliegen zwischen Eichen, Erlen und Kiefern, die jetzt wieder wuchsen, viel später würde er, wenn es irgendwann Menschen gab, von diesen Menschen sogar einen Namen bekommen: Märkisches Meer, aber eines Tages würde er auch wieder vergehen, denn, wie jeder See, war auch dieser nur etwas Zeitweiliges […] (H 10)

Das Haus wird damit in einen unabgeschlossenen erdgeschichtlichen Kreislauf eingeordnet. Wie die Eiszeit aus den Sedimenten die Landschaft formt, so wird das Haus am Ende des Romans Schicht für Schicht wieder abgetragen. Wenn das Haus, das als Gedächtnismodell für das Erinnern an die deutsche Geschichte lesbar wurde, am Ende des Textes auseinander genommen wird, dann scheint dieses auch auf die Geschichte, für die es steht, zu gelten. Am Ende des Jahrhunderts wird Bilanz gezogen, die Bestände gesichtet, das Vorhandene seziert, vermessen, sortiert und eingeordnet. Dieses Haus mit einer Länge von etwa 14, einer Breite von etwa 8 und einer Höhe von eineinhalb Stockwerken plus Keller, das heißt von ebenfalls etwa 8 Metern, besitzt also

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einen umbauten Raum von circa 900 Kubikmetern, multipliziert mit 0,25 sind das 225 Kubikmeter feste Masse. Um die Anzahl der Lkw-Ladungen zu berechnen, muß man jedoch die aufgelockerte Masse in Betracht ziehen, hierbei gilt der Umrechnungsfaktor 1,3. Bei diesem Haus käme man folglich auf eine aufgelockerte Masse von rund 290 Kubik. […] Wasser hat eine Dichte von 1, Holz von 0,25, Ziegelschutt setzt man mit 2,2 an. Das ist jeweils der Umrechnungsfaktor für die Tonnage. Das Gewicht leitet sich grundsätzlich ab von der festen Masse. Das Gewicht des nicht unterkellerten Badehauses […] beträgt also nur knapp 4 Tonnen, das Gewicht des Haupthauses dagegen rund 500 Tonnen. (H 188 f.)

Zugleich geht es hier auch um ein Recycling: Das Haus verschwindet, die Materialen, aus denen es zusammengesetzt war, können – zumindest zum Teil – anderen Nutzungen zugeführt werden. Damit wird deutlich, dass das Gedächtnishaus immer ein Modell, ein Schema ist. Als solches ist es keine organische Einheit. Aus demselben Material könnte auch ein ganz anderes Haus gebaut werden, mit anderen Räumen, anderen loci für andere Bilder. Würde man das Haus anders bauen, mit der Erinnerung anders verfahren, ergäbe sich auch eine andere Geschichte. Das konkrete Gedächtnishaus mit seinen gestalteten Räumen ist dann eine Reaktion auf die Kontingenz der Geschichte. Die Geschichte bietet nicht aus sich heraus ein ‚natürliches‘ Zuhause als Bezugspunkt für eine sich darüber konstituierende Gemeinschaft. Dieses Haus der Geschichte muss gebaut und gepflegt werde und bedarf des ‚Kehrens‘ der Erinnerungsgemeinschaft.

2.7 Kultivieren – Literatur und Erinnerungskultur Es fällt auf, dass das Haus in Erpenbecks Heimsuchung eng an den Ort und die Landschaft gebunden ist, an dem es steht bzw. in der es situiert ist. Die Betonung der örtlichen Gebundenheit des Gedächtnishauses macht diese mit Walter Benjamin als mediale Gebundenheit der Erinnerung lesbar. In Erpenbecks Roman wird das Haus, das schichtweise abgetragen wieder zu „Schutt“ (H 189) und als solcher an anderer Stelle aufgeschüttet wird, im Epilog wieder der Landschaft angeglichen, deren Entstehung aus vielfältigen Sedimentierungen und Ablagerungen der Prolog aufwändig schildert. Das Gedächtnishaus entsteht für den zeitlichen Rahmen des Romans aus dieser Landschaft heraus: „Feldsteine, Stroh, Reibeputz, alles Materialien aus dieser Gegend. […] Das Haus sollte aussehen, als sei es hier gewachsen, wie etwas Lebendiges.“ (H 43 f.) Am Ende verschwindet es wieder darin. Benjamin beschreibt Erinnerung in seinem ‚Denkbild‘ Ausgraben und Erinnern als etwas, das niemals ‚einfach so‘ da ist, sondern das stets an ein Medium gebunden ist. Dieses Medium wird

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dabei mit den Erdschichten verglichen, aus denen Archäologen ihre Funde graben: Die Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument für die Erkundung des Vergangenen ist, vielmehr das Medium. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt.75

Auch herausgelöst aus ihrer Verschüttung, den Erdschichten, bleiben die Erinnerungen an ihren Auffindungsort gebunden, der damit ebenso aufmerksam betrachtet werden muss: Und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt. So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene anderen vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren.76

Erinnerung lässt sich nicht vom Akt des Erinnerns lösen, der stets mit reflektiert werden will. Das Verfahren von Erpenbecks Roman, das mit dem Gedächtnishaus die abendländische Tradition der ars memoriae und damit den Umstand, dass Erinnerung an bestimmte Kulturtechniken gebunden ist, stets im Bewusstsein hält bzw. den Text mit dieser Technik parallelisiert, scheint genau dieser Forderung von Benjamins ‚Denkbild‘ an „wahrhafte Erinnerungen“ Rechnung zu tragen. Als eine solche soll Erinnerung „weniger berichtend“ als „[i]m strengsten Sinne episch und rhapsodisch“ 77 vorgehen. Mit diesem Anspruch scheint Erinnerung ihr Medium in erster Linie in der Literatur finden zu können. Heimsuchung ist beides, rhapsodisch und episch. Als Roman gehört Heimsuchung zu den epischen Textformen. Der Text hat keine übergreifende Handlung, sondern besteht aus einzelnen Kapiteln, so dass er durchaus auch als rhapsodisch bezeichnet werden kann. Die Kapitel des Romans sind durch keinen durchgehenden narrativen roten Faden miteinander verbunden, sondern scheinen zunächst vielmehr lediglich durch den gemeinsamen Ort der Hand-

 Walter Benjamin, Ausgraben und Erinnern. In: Walter Benjamin, Denkbilder, Frankfurt a.M. 1994, S. 100–101, S. 100.  Benjamin, Ausgraben und Erinnern, S. 100 f.  Benjamin, Ausgraben und Erinnern, S. 100 f.

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lung, das Haus auf dem Seegrundstück, zusammenzuhängen. Die einzelnen Kapitel und damit die einzelnen Erinnerungsbilder, über die Episoden der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt werden, sind jedoch nicht einfach lose aneinander gereiht. Verbunden sind sie durch kurze78 Textabschnitte, die jeweils mit Der Gärtner überschrieben sind. Der Gärtner ist damit nicht eine Romanfigur unter anderen, wie etwa der Architekt oder die Besucherin, über die die einzelnen Geschichtsepisoden erzählt werden. Vielmehr kommt ihm, in Anlehnung an die Wandersänger im antiken Griechenland, deren spezifische Vortragskunst im improvisierenden Aneinanderreihen von Gesängen bestand, die Funktion des Rhapsoden (gr. rháptein: zusammen nähen, oidé: Gesang) zu, der die einzelnen Kapitel zu einem Roman zusammenwachsen lässt. Der Gärtner, der das Grundstück betreut und den Garten pflegt und erhält, gehört in besonderer Weise zu dem Haus. Mit ihm gemeinsam wird er alt und hinfällig und mit dem Verschwinden des Hauses verschwindet auch der Gärtner (vgl. H 170 f.). Wohin er verschwindet, bleibt genauso unbekannt und geheimnisvoll wie seine Herkunft: „Woher er gekommen ist, weiß im Dorf niemand. Vielleicht war er immer schon da“ (H 13). Namenlos, ohne Familie und Besitz hat der Gärtner nicht wirklich Anteil an der dörflichen Gemeinschaft und steht in gewisser Weise außerhalb der Gesellschaft: Ihm selbst gehört kein Grund- und auch kein Waldstück, allein wohnt er in einer verlassenen Jagdhütte am Rande des Waldes, wohnt da schon immer, jeder im Dorf kennt ihn und dennoch wird er von den Leuten, jungen und alten, nur Der Gärtner genannt, als hätte er sonst keinen Namen. (H 13)

Der Gärtner hat nicht nur keinen Namen, er enthält sich weitgehend auch der Sprache: Manchen im Dorf ist der Gärtner wegen dieses Schweigens nicht ganz geheuer, sie nennen ihn kalt, nennen seinen Blick fischig, vermuten Anflüge von Wahnsinn hinter der hohen Stirn. Andere wieder halten dagegen, er spreche zwar mit den Menschen nur das Notwendigste, wenn er sich aber in einem Garten oder auf einem Feld allein wähne, hätten sie deutlich gesehen, wie er fortwährend die Lippen bewegte, während er harkte, grub, jätete oder Pflanzen beschnitt und begoß – er plaudere nun einmal lieber mit dem Grünzeug. In seine Hütte läßt er niemanden ein […] Auch das Haus schweigt also, wie sein Besitzer, und wie bei allem Schweigen kann das zwar heißen, daß es ein Geheimnis verbirgt, aber ebenso, daß es einfach leer ist. (H 29)

In seiner ‚Außen-Stellung‘ ist der Gärtner derjenige, der ‚alles zusammen hält‘, den Garten wie die Erzählung. Die kurzen Gärtner-Abschnitte sind dominiert  Die Gärtner-Abschnitte haben meist eine Länge von ein bis zwei Seiten, der längste umfasst sieben Seiten.

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von Verben, die die einzelnen pflegenden und hegenden Arbeitsschritte bezeichnen. So wie seine gartenbaulichen Arbeiten ganz im Wechsel der Jahreszeiten (vgl. beispielsweise H 33 f.) stehen, scheint der Gärtner das zyklische Prinzip von Werden und Vergehen zu garantieren. Er ist es, der die Bäume pflanzt, beschneidet, gießt, sie wachsen lässt und entscheidet, wann es Zeit ist, sie zu fällen. Der Gärtner okuliert Wildlinge um Johannis auf treibende, oder im zweiten Safttrieb auf schlafende Augen, kopuliert die Äste der zu veredelnden Bäume oder schäftet sie an, je nach Dicke, bereitet die notwendige Mischung aus Harz, Wachs und Terpentin und verbindet die Wunde dann mit Papier oder Bast, jeder im Dorf weiß, daß die Bäume, die von ihm umgepropft werden, beim weiteren Wachsen die regelmäßigsten Kronen zeigen. (H 13)

Durch die zahlreichen Schilderungen dieser Tätigkeiten, den damit zusammenhängenden Abläufen und des spezifischen Wissens des Gärtners wird der Gärtner zu einer Figur der Kultivierung. Durch ihn und seine Kenntnis der notwendigen Techniken, kann der Boden und das Grundstück überhaupt erst nutzbar gemacht und kultiviert werden (vgl. H 13). Erst dadurch ist es möglich, den Garten anzulegen und das Haus auf dem Grundstück zu errichten. Die Nutzbarmachung und Kultivierung ist nicht nur Gestaltung, sondern immer auch ein Eingriff, wie beispielsweise anhand des Aushebens von Pflanzlöchern deutlich wird: [B]eim Graben stößt er nach einer dünnen Schicht aus Humus auf die Ortsteinschicht, die muß mit dem Spaten durchschlagen werden, denn erst darunter verläuft die grundwasserführende Sandschicht, und unter dieser Sandschicht schließlich liegt blauer Ton, wie er hier überall in der Gegend vorkommt. (H 32)

Der Gärtner gestaltet, ordnet, pflegt den Garten und macht ihn dadurch allererst zu einem solchen. Das gleiche lässt sich auch für den Roman als ganzen sagen. Erst die Gärtner-Abschnitte fügen die ansonsten kaum miteinander verbundenen Episoden zusammen zu einer Erzählung. Als Figur der Kultivierung macht der Gärtner deutlich, dass Erinnerung nicht einfach so verfügbar ist, sondern bestimmter Kulturtechniken, wie des Erzählens bzw. der Literatur, bedarf, um ‚nutzbar‘ gemacht zu werden. Erinnerung braucht jemanden, der sich erinnert und damit einer bestimmten Erinnerungskultur, der die Literatur angehört. Dass sich diese Erinnerungskultur immer schon in einem Zusammenhang mit bestimmten Erinnerungstraditionen befindet, zeigt die Verwendung der Gedächtnismetapher Haus mehr als deutlich.

Imaginäre Erinnerungsgemeinschaften

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3 Imaginäre Erinnerungsgemeinschaften Dieses Kapitel nahm seinen Ausgangspunkt bei der Beobachtung, dass in verschiedenen Kontexten seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik von einem neuen Umgang mit der deutschen Geschichte gesprochen wird. Dabei wird Geschichte als ein neuer positiver Bezugspunkt für Deutschland angesehen: Die seit der ‚Wende‘ wieder vollständige Nation könne sich über den Bezug zu der Geschichte selbst erfahren. Mit Erpenbecks Roman Heimsuchung wurde ein Beispiel der Gegenwartsliteratur für aktuelles Erzählen über deutsche Geschichte analysiert und gefragt, ob sich diese Funktion der Geschichte für eine deutsche Identität auch in der Literatur bestätigt findet. In der Analyse ließ sich zeigen, dass Heimsuchung nicht nur Geschichte erzählt, sondern zugleich die Möglichkeitsbedingungen und Funktionsweisen von Erinnerung und Gedächtnis thematisiert. Das Haus, das als eigentlicher Protagonist des Romans bezeichnet werden kann, verweist auf die antiken Gedächtnislehren der ars memoriae, in denen ein imaginiertes Gebäude als Hilfsstruktur und Aufbewahrungsort der auswendig zu lernenden Inhalte fungiert. Die Biografie des Hauses, über die der Roman das historische Erzählen entwickelt, wird damit zur exemplarischen Geschichte Deutschlands und das Haus zur Allegorie auf die Nation – eine Nation, die sich über die gemeinsame Erinnerung konstituiert und definiert. Die Erinnerung, darauf weist der Roman hin, ist nicht unabhängig von ihrer Medialisierung, die der Roman mit der literarischen Erzählung beispielhaft vorführt. Dabei verfährt er auf eine spezifische Weise, so dass Erinnern als ein In-Beziehung-Treten zu unterschiedlichen Bildern beobachtbar wird. Die Erinnerung, aus der sich ‚die Geschichte‘ als Bezugspunkt einer Gemeinschaft zusammensetzt, erhält damit eine imaginäre Funktion. Solche Bezugspunkte sind die im Gedächtnishaus gespeicherten Bilder, auf die zurückgreifend sich eine Erinnerungsgemeinschaft gründen und bestätigen kann. Sie gestalten die Entwürfe für ein Deutschland der Gegenwart mit.

IX Schluss Diese Arbeit ging von der Annahme aus, dass gerade nach 1989/90 neu zur Disposition stand und steht, was Deutschland ist. Deutschland wurde dabei als eine Kategorie der Identifizierung betrachtet, also als eine Bezeichnung, mit der sich ein ‚Wir‘ selbst benennt. Mit den Begriffen des Images und des Imaginären rückte die beständige und unabschließbare Tätigkeit in den Fokus, in der sich ein solches Wir, Deutschland, herstellt. Das Imaginäre lässt sich, so ein Ergebnis der Arbeit, als Dynamik der Identifizierung beschreiben – als die Beziehung zu einem Selbstbild, in der ein Subjekt, ein Ich oder ein Wir, sich bildet. Diese Beziehung ist eine Blickbewegung. In der Hinwendung zum Bild, die zugleich ein Oszillieren zwischen Erund Verkennen ist, konstituiert sich das Ich oder Wir. Der Blick wird in Bewegung gehalten von dem Begehren nach einer Identität, die jedoch als unmögliche Stillstellung der Dynamik nur ein Versprechen bleiben kann. Dem Image kommt innerhalb dieser nie endenden Bewegung die Funktion zu, das unerfüllbare Identitätsbegehren kurzfristig in Bilder zu fassen. Vergleichbar ist es sowohl mit einem Schutzschild, der die bedrohliche Kontingenz verdeckt, als auch mit einem Bildschirm, der den Mangel überspannt und stattdessen Bildprojektionen zur Anschauung bringt. In dieser Oberflächlichkeit ist das Image verführerisch, anschlussfähig und gemeinschaftsstiftend. Denn in seiner Anschaulichkeit eignet dem Image eine reflexive Struktur: Das Image zu rezipieren heißt, überzeugt zu sein, dass andere es auf die gleiche Weise rezipieren. Deutschland nach 1990 ist das ‚wiedervereinigte‘, das ‚geeinte‘ Deutschland, das Deutschland nach der ‚deutschen Einheit‘. Dieses Deutschland, das nun wieder ‚ganz‘ ist, scheint sich in besonderer Weise anzubieten, um das Begehren des Imaginären nach einer stabilen Identität zu bedienen. Zugleich ist es jedoch offensichtlich gerade bei diesem Deutschland, dessen Teilung noch so präsent ist, notwendig, das Ganzsein zu besprechen und ins Bild zu setzen. Die Analysen dieser Arbeit fragten danach, wie diese Beziehung gestaltet wird, auf welche Bilder sie sich richtet und welche Images dabei projiziert werden. Untersucht wurden literarische Texte, Filme, eine Standortinitiative und eine Mediendebatte. Die Nähe zwischen Film und dem Bildhaften ist unmittelbar einleuchtend und auch dass eine Standortinitiative etwas mit Images zu tun hat, versteht sich. In den Analysen stellte sich zudem heraus, dass auch die anderen Gegenstände und insbesondere die literarischen Texte stark mit bildhaften Strukturen arbeiten und das Imaginäre als eine Blickbeziehung zu einem Bild zu lesen geben.

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Kapitel III dieser Arbeit untersuchte die Fußballweltmeisterschaftsfilme von Sönke Wortmann, Das Wunder von Bern und Deutschland. Ein Sommermärchen. In meiner Lektüre ließen sich die beiden Filme nicht nur als Fußballsondern zudem als Wirtschaftswundermärchen lesen. Die Filme erzählen von Deutschland, indem sie die erfolgreiche Teilnahme an den Fußballweltmeisterschaften mit dem Erreichen einer – in den beiden Filmen jeweils etwas anders gefassten – nationalen Einheit verbinden. Mit dieser nationalen Einheit ist zugleich das Versprechen von wirtschaftlichem Erfolg verschränkt. Die begehrte Identität scheint hier erreichbar und insofern behaupten die Filme eine Stillstellung des Imaginären. Mit dieser imaginären Schließung wird jedoch nicht einfach ein Wir-Gefühl hergestellt, sondern entworfen wird Deutschland als ein starkes Wirtschaftssubjekt. Indem das Kapitel die Standortinitiative Deutschland. Land der Ideen hinzuzog, konnte gezeigt werden, dass die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland auf unterschiedliche Weise genutzt wurde, um an dem Image Deutschlands zu arbeiten. Dieser Nation Branding-Prozess, an dem auch die Filme Anteil nehmen, bedient sich mit dem Begehren nach einer Identität der imaginären Dynamik und nutzt sie für seine ökonomischen Ziele. Ganz anders verfährt Ingo Schulzes Roman Neue Leben, der im vierten Kapitel untersucht wurde. Dieser Roman erzählt gerade von der Unmöglichkeit einer imaginären Schließung. Das Imaginäre wird hier in den literarischen Textverfahren reflektiert. Als Beispiel für ‚Wendeliteratur‘ kann Neue Leben als Roman gelesen werden, der Deutschland thematisiert. Mit den Wende-Ereignissen in den Jahren 1989/90 erzählt Neue Leben jedoch nicht von dem Erreichen einer deutschen Einheit. Vielmehr wird ‚Wende‘ zur Chiffre, die gerade die unabschließbare Bewegung auf der Suche nach einer nicht erreichbaren Identität bezeichnet. Die Wende-Bewegungen des Textes sind somit mit der Dynamik der imaginären Identifizierung analogisiert. Die Identitätssuche stellt der Roman als ‚deutsches‘ Thema aus. Dieses wird, etwa mit dem Faust-Stoff, aus der deutschen Literatur hergeleitet. Das Imaginäre, als unabschließbare Bewegung der Text-Wenden, wird somit als Motor des Literarischen lesbar. Die Literatur wird von der imaginären Dynamik bewegt und kann zugleich von ihr erzählen und sie in ihren literarischen Verfahren reflektieren. Die Analyse des Films Good Bye, Lenin! lieferte Aufschlüsse über das Zusammenwirken von Image und Imaginärem. Anhand der Imagefunktion der Ostalgie konnte das gemeinschaftsbildende Potential des Images betrachtet werden. Images stellen mittels ihrer reflexiven Struktur Gemeinschaftlichkeit her. Herausgearbeitet wurde anhand des Films zudem, dass sich das Begehren nach der Identität, das das Imaginäre in Bewegung hält, mit dem nostalgischen Begehren nach der Herkunft bzw. dem Ursprung vergleichen lässt. Das

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nostalgische Narrativ, das Good Bye, Lenin! aufruft, bezieht seine Anschlussfähigkeit also aus seiner Partizipation an dem Imaginären. In den Deutschlandreise-Texten, die Kapitel VI untersuchte, geht es um Deutschland als zu bereisendes Land und somit als geografischen Raum. Lacans Topik des Imaginären hinzuziehend nahm das Kapitel den Zusammenhang zwischen dem Imaginären und Räumlichkeit in den Blick. Die identifizierende Dynamik des Imaginären kann als eine Bewegung im Raum beschrieben werden, denn sie bezeichnet ein In-Beziehung-Treten zu einem Bild. Die Blickbeziehung bewegt sich also über eine Differenz, die räumlich zu denken ist. Der Blick, der zu dem Selbstbild in Beziehung tritt, stellt zugleich räumliche Relationen her und ordnet die ‚Wirklichkeit’ als kohärent erfahrbaren Raum. In der Lektüre ließ sich zeigen, wie die Deutschlandreise-Texte diese Ordnung von Wirklichkeit mittels ihrer Text-Karten als stabile Deutschland-Bilder präsentieren. Die Texte arbeiten zudem mit Images, durch deren reflexive Struktur das Deutschland der Texte als ein gemeinschaftliches erschlossen wird. Mit der Bezugnahme der Berliner Republik auf Preußen bzw. ein ‚preußisches Erbe‘ untersuchte das siebte Kapitel ein Beispiel für die Gestaltung eines Selbstbildes, über das sich das aktuelle Deutschland entwirft. Sowohl in der Lektüre von Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt als auch in der Untersuchung der Debatte um das Berliner Stadtschloss konnte die Inanspruchnahme Preußens für das deutsche Selbstbild beobachtet werden. Deutlich wurde in den Analysen der beiden so unterschiedlichen Gegenstände zudem, dass diese Selbstbilder als Anschauungsobjekte gestaltet werden. So arbeitet der Roman nicht nur mit Images des Deutschen, sondern evoziert auf unterschiedliche Weise das Visuelle und Bildhafte. Auch in der Stadtschloss-Debatte geht es, so konnte gezeigt werden, in erster Linie um den Augenschein. Mit der Fassadenrekonstruktion soll die ‚leere Mitte‘ der Nation geschlossen werden. Das Preußische wird hier also als Angebot für das imaginäre Begehren nach einer Identität lesbar. In der Lektüre von Jenny Erpenbecks Heimsuchung wurde analysiert, welche Funktion die Geschichte für das Imaginäre haben kann. Geschichte ist ein wichtiger Bezugspunkt für Gemeinschaften, insbesondere für nationale Gemeinschaften. Erpenbecks Roman verbindet das historische Erzählen mit der Thematisierung von Gedächtnis und Erinnerung und macht deutlich, dass Geschichte – und damit auch die Erinnerungsgemeinschaft – abhängig von konkreten Erinnerungstechniken ist. Das Erinnern zeigt der Roman als Tätigkeit eines In-Bezug-Setzens zu Erinnerungsbildern. Da über die erinnernde Tätigkeit zugleich eine Erinnerungsgemeinschaft konstituiert wird, lassen sich die Gedächtnisbilder in ihrer Funktion für das Imaginäre beschreiben. Die Leitbegriffe dieser Arbeit, Image und Imaginäres, erwiesen sich als eine gewinnbringende Perspektivierung für die Frage nach dem aktuellen

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Deutschland. So ließ sich in den Analysen zeigen, inwiefern die Texte und Untersuchungsgegenstände das Herstellen von Deutschlandbildern thematisieren und sich gerade mittels ihrer unterschiedlichen Verfahren an eben dieser Bilderproduktion beteiligen. Das Deutschland dieser ‚Texte‘ gibt es nicht – es bildet sich beständig. Und diese Bildung unterliegt der imaginären Dynamik. In einer germanistischen Studie über Deutschland zu schreiben, bedeutet den eigenen Standpunkt, die eigene Sprecherposition zu hinterfragen. Die Germanistik hat sich historisch als Nationalphilologie gebildet und ihre Entstehung als akademische Disziplin ist eng verknüpft mit der Entstehung einer deutschen Nation bzw. der Idee von der Kulturnation sowie des Nationalstaates, also der vorgestellten deutschen Gemeinschaft(en). Die Neuere deutsche Literaturwissenschaft versteht sich selbstverständlich nicht mehr im engeren Sinn als Nationalphilologie und bezieht sich auf die deutschsprachige Literatur als ihren Untersuchungsgegenstand. Dennoch gebraucht sie allein schon deshalb, weil sie sich in Deutschland mit der ‚deutschen‘ Literatur beschäftigt und ihre Identität als Fach darauf gründet, diese Begriffe als Kategorien der Identifizierung. In diesem Sinn ist auch diese Arbeit ein Beitrag, der Entwürfe dessen zur Diskussion stellt, was deutsch oder Deutschland ist, sein will oder sein könnte.

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Siglen H NL

RW VdW WB

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