BAND 19 Fichtes >Reden an die deutsche Nation< oder: Vom Ich zum Wir 9783050085937, 9783050042589

Fichtes >Reden an die deutsche Nation< wurden bislang entweder unter Ideologieverdacht gestellt oder als missglück

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German Pages 239 [240] Year 2006

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
I. Fichtes erste Rede vom 13. Dezember 1807 und die Vorgeschichte der Reden an die deutsche Nation
1. Die Geschichtsphilosophie der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters
2. Die erste Rede vom 13. Dezember 1807
2.1. Die Schwäche der Regierungen
3. „Preuße nur aus Noth“ - Fichte als Kriegsbeobachter
3.1. „Wir kamen eben vorbei, und gewannen die Erscheinung lieb“ - der Machiavelli-Aufsatz
3.2. „Wer hinter dem Vorhange stand, sieht manches anders“
4. Fichtes Rückkehr nach Berlin: Die Vorbereitung der Reden an die deutsche Nation
4.1. Fichtes Selbstanklage
II. Das politische Denken Fichtes vor den Reden an die deutsche Nation
1. Fichtes Schriften zur Französischen Revolution
1.1. Autonomie und Willensfreiheit: Die Moralphilosophie Kants
1.2. Destruktiver Gehalt der Revolutionsschriften
2. Der Staat als „Zwangs-Anstalt“
2.1. Die Grundlage des Naturrechts von 1796/97
2.2. Reelles Philosophieren
3. Von der Grundlage zu den Grundzügen: Das politische Denken Fichtes bis 1806
III. Die deutsche Nation Fichtes
1. Nation und Staat
1.1. Der Philosoph der Napoleon-Feindschaft
1.2. Ein neues Bindungsmittel
1.3. Volk und Nation
2. Die deutsche Ursprache
2.1. Der frühromantische Volks- und Nationsbegriff
2.2. Die inneren Grenzen
2.3. Urvolk und Ursprache
2.4. Feindschaft
IV. Die Geschichte der Deutschen
1. Germanen und Protestanten
1.1. Die deutsche Nation als „Wiedergebärerin und Wiederherstellerin“ der Welt
1.2. Die Lehrmeisterthese und das Reich als Ideal
2. Partikularismus und Universalismus: Ambivalenzen nationalen Denkens
V. „Die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen“
1. Erziehung um 1800: Mensch oder Bürger
1.1. Nationalerziehung
2. Fichtes Vorschlag einer deutschen Nationalerziehung
2.1. Fichte als Pädagoge
2.2. Der Nationalerziehungsplan der Reden an die deutsche Nation
2.3. Sittlichkeit und Zwang
3. Vom Ich zum Wir
Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
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BAND 19 Fichtes >Reden an die deutsche Nation< oder: Vom Ich zum Wir
 9783050085937, 9783050042589

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Stefan Reiß Fichtes »Reden an die deutsche Nation* oder: Vom Ich zum Wir

POLITISCHE IDEEN

Band 19

Herausgegeben von Herfried Münkler

Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.

Stefan Reiß

Fichtes >Reden an die deutsche Nation< oder: Vom Ich zum Wir

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Akademie Verlag

ISBN-10: 3-05-004258-3 ISBN-13: 978-3-05-004258-9

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Satz: Stefan Reiß, Frankfurt/M. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Einleitung

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I. Fichtes erste Rede vom 13. Dezember 1807 und die Vorgeschichte der Reden an die deutsche Nation 1. Die Geschichtsphilosophie der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 2. Die erste Rede vom 13. Dezember 1807 2.1. Die Schwäche der Regierungen 3. „Preuße nur aus Noth" - Fichte als Kriegsbeobachter 3.1. „Wir kamen eben vorbei, und gewannen die Erscheinung lieb" der Machiavelli-Aufsatz 3.2. „Wer hinter dem Vorhange stand, sieht manches anders" 4. Fichtes Rückkehr nach Berlin: Die Vorbereitung der Reden an die deutsche Nation 4.1. Fichtes Selbstanklage II. Das politische Denken Fichtes vor den Reden an die deutsche Nation . . . 1. Fichtes Schriften zur Französischen Revolution 1.1. Autonomie und Willensfreiheit: Die Moralphilosophie Kants . . . . 1.2. Destruktiver Gehalt der Revolutionsschriften 2. Der Staat als „Zwangs-Anstalt" 2.1. Die Grundlage des Naturrechts von 1796/97 2.2. Reelles Philosophieren 3. Von der Grundlage zu den Grundzügen: Das politische Denken Fichtes bis 1806 III. Die deutsche Nation Fichtes 1. Nation und Staat 1.1. Der Philosoph der Napoleon-Feindschaft 1.2. Ein neues Bindungsmittel 1.3. Volk und Nation

23 24 27 34 38 42 48 52 59 65 66 73 81 84 88 92 97 103 103 107 111 114

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Inhaltsverzeichnis 2. Die deutsche Ursprache 2.1. Der frühromantische Volks-und Nationsbegriff 2.2. Die inneren Grenzen 2.3. Urvolk und Ursprache 2.4. Feindschaft

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IV. Die Geschichte der Deutschen 1. Germanen und Protestanten 1.1. Die deutsche Nation als „Wiedergebärerin und Wiederherstellerin" der Welt 1.2. Die Lehrmeisterthese und das Reich als Ideal 2. Partikularismus und Universalismus: Ambivalenzen nationalen Denkens V. „Die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen" 1. Erziehung um 1800: Mensch oder Bürger 1.1. Nationalerziehung 2. Fichtes Vorschlag einer deutschen Nationalerziehung 2.1. Fichte als Pädagoge 2.2. Der Nationalerziehungsplan der Reden an die deutsche Nation 2.3. Sittlichkeit und Zwang 3. Vom Ich zum Wir

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Schlußbetrachtung

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Literaturverzeichnis

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Personenverzeichnis

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2004 von der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Den Anstoß für meine lange Beschäftigung mit Johann Gottlieb Fichte und den Reden an die deutsche Nation hat Herfried Münkler gegeben. Seit den ersten Anfängen noch als Student hat er meine Arbeit mit großem Interesse und viel Geduld begleitet und war mir stets ein inspirierender und aufmerksamer Gesprächspartner, dessen Hinweisen ich sehr viel verdanke. Ihm bin ich zu ganz besonderem Dank verpflichtet, auch dafür, daß er die Arbeit in die Reihe Politische Ideen aufgenommen hat. Harald Bluhm möchte ich für mehrere sehr aufschlußreiche und anregende Gespräche und für die Übernahme des Zweitgutachtens danken. Dank geht auch an Klaus Eder und Marcus Llanque, die der Prüfungskommission angehörten, und an Mischka Dammaschke vom Akademie Verlag, der die Drucklegung kompetent und umsichtig betreute. Isabel Kupski, Wolfgang Meseth und Oliver Ramonat haben das Manuskript gelesen und wertvolle Hinweise und kritische und aufmunternde Anregungen gegeben, für die ich ihnen sehr dankbar bin. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern, deren Vertrauen und Unterstützung ein unverzichtbarer Begleiter waren. Frankfurt am Main, Juni 2006

I. Einleitung

Gleich mit dem ersten Satz seiner Reden an die deutsche Nation führt Fichte die Zuhörer mitten hinein in den Gang seiner Überlegungen: Sein Vortrag sei als unmittelbare Fortsetzung der geschichtsphilosophischen Betrachtungen zu verstehen, die er drei Jahre zuvor unter dem Titel Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters an gleicher Stelle entwickelt und in denen er gezeigt habe, „dass unsere Zeit in dem dritten Hauptabschnitte der gesammten Weltzeit stehe"1. Die Hast, mit der Fichte ohne hinführende Worte in sein Thema springt, wird von diesem selbst vorgegeben, denn die drei Jahre, die zwischen den beiden Vortragsreihen liegen, haben die Welt von Grund auf verändert: „Mit uns gehet, mehr als mit irgend einem Zeitalter, seitdem es eine Weltgeschichte gab, die Zeit Riesenschritte."2 Nicht weniger als ein Hauptabschnitt der „gesammten Weltzeit" sei in dieser kurzen Spanne an sein Ende gekommen, und das damals noch gegenwärtige Zeitalter, der „Stand der vollendeten Sündhaftigkeit", sei heute schon Vergangenheit. Ohne Innezuhalten fährt Fichte nach diesem Paukenschlag mit seinen Ausführungen fort und erklärt seinen Zuhörern, daß dieses Zeitalter an seiner eigenen Dynamik zugrunde gegangen sei. Es ist der Sündhaftigkeit und dem Eigennutz als den Kennzeichen 1

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Reden, SW VII, S. 264. Zur Zitierweise: Die Schriften Fichtes werden mit Kurztiteln (z. B. „Grundzüge" für Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters) und nach der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zitiert. Die Sigle „GA" steht dabei für Gesamtausgabe, die römische Ziffer fur die Reihe und die arabische für den Band. Die Gesamtausgabe ist in vier Reihen unterteilt: Schriften (I), Nachlaß (II), Briefe (III) und Kollegnachschriften (IV). Schriften, die noch nicht in der GA erschienen sind, werden nach den Sämmtlichen Werken, hg. von Immanuel Hermann Fichte (Reprint 1971), ebenfalls mit Kurztitel zitiert und mit der Sigle „SW" und der Bandangabe versehen. Die Angabe „Fichte im Gespräch" bezieht sich auf die von Erich Fuchs herausgegebenen Bände mit Dokumenten zu Fichte. Forschungsliteratur wird mit Verfassername/n und ebenfalls Kurztiteln zitiert. Der üppige Gebrauch von Hervorhebungen durch Kursivierung oder Sperrdruck in den Schriften Fichtes wird hier in aller Regel nicht wiedergegeben. Hervorhebungen in den Zitaten werden daher immer durch den Zusatz „Hervorh. im Orig." oder „Hervorh. d. Verf." eindeutig zugewiesen; Anmerkungen oder Auslassungen in eckigen Klammern stammen immer vom Verfasser dieser Arbeit. Reden, SW VII, S. 264.

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Einleitung

des vergangenen Zeitalters nämlich inhärent, daß ihre vollständige Entwicklung zum Verlust aller Selbständigkeit und Einheit, ja zur völligen Vernichtung des „Selbst" fuhren muß. Und genau dies sei der weltgeschichtliche Punkt, an dem man sich gerade befinde: Das alte Selbst ist vernichtet und lebt nur noch fremdbestimmt weiter, es wird „abgewickelt durch die fremde Gewalt, die über sein Schicksal gebietet; [...] und zählt seine Jahre nach den Begebenheiten und Abschnitten fremder Völkerschaften und Reiche"3. Doch muß dieser Zustand der Abhängigkeit und Fremdbestimmung nicht von Dauer sein, denn das alte Selbst könnte sich retten durch die Erschaffung einer neuen Welt und den Übergang zu einem neuen Zeitalter. Fichte ist fest von dieser Möglichkeit der Rettung überzeugt und begreift die Erschaffung einer neuen Welt als seine eigentliche Aufgabe: „Nun halte ich meines Orts dafür, dass es eine solche Welt gebe; und es ist der Zweck dieser Reden, Ihnen das Daseyn und den wahren Eigenthümer derselben nachzuweisen, ein lebendiges Bild derselben vor Ihre Augen zu bringen, und die Mittel ihrer Erzeugung anzugeben."4

Der, weltgeschichtlich gesehen, geradezu mikroskopisch kleine Fokus der Reden an die deutsche Nation auf die Ereignisse der unmittelbaren Gegenwart, auf die Schnittstelle zwischen zwei Zeitaltern, von denen das eine schon vergangen ist und das andere sich gerade erst ankündigt, erlaubt Fichte zwar den Anschluß an seine Geschichtsphilosophie, bedingt aber auch eine Konkretisierung der Betrachtungen weg vom Prozeßhaften und Universalgeschichtlichen der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters und hin auf das ausschnitthafte Ereignis der Zeitenwende selbst und auf das konkrete Objekt, an dem sie sich vollzieht: „Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus bei Seite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben."5

Fichte erkennt in den Deutschen das Volk, an dem der Übergang vom dritten ins vierte Zeitalter der Weltgeschichte exemplarisch stattfindet oder, genauer, stattfinden könnte, denn dieser Übergang ist ein fragiler und vollzieht sich keineswegs selbstläufig im Sinne eines blinden Determinismus. Aber Fichte verspricht seinem Publikum nicht nur, die neue Welt zu enthüllen, sondern auch „die Mittel ihrer Erzeugung anzugeben". Die Besinnung auf den gemeinsamen „Grundzug der Deutschheit"6 und eine „gänzliche Veränderung des bisherigen Erziehungswesens"7 sind es, von denen sich die Reden an die deutsche Nation eine neue Welt erwarten und das lebendige „Gemälde einer sittlichen Weltordnung", „vor welchem die Selbstsucht abfällt wie welkes Laub"8. Ein-

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Reden, Reden, Reden, Reden, Reden, Reden,

SW SW SW SW SW SW

VII, VII, VII, VII, VII, VII,

S. S. S. S. S. S.

265. 265. 266. 266. 274. 275.

Einleitung

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dringlich und mit prophetischer Rhetorik beschwört Fichte am Ende der ersten Rede seine Zuhörer, diese Chance auf Rettung und Neuanfang mit beiden Händen zu ergreifen, und fordert sie auf, ihm in die neue Zeit zu folgen. Fichtes „ Reden an die deutsche Nation " Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) hat seine erste von insgesamt 14 Reden an die deutsche Nation, die er zwischen dem 13. Dezember 1807 und dem 20. März 1808 sonntags im runden Saal der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, hielt, unter die Überschrift „Vorerinnerungen und Uebersicht des Ganzen" gestellt. Doch wahrscheinlich dürfte er mit dieser ersten Rede seinen Zuhörern weniger eine „Uebersicht des Ganzen" gegeben, als vielmehr eine Vielzahl von Fragen und Irritationen bei ihnen ausgelöst haben: Welche geschichtsphilosophischen Betrachtungen, so wird man sich damals gewundert haben, hatte Fichte in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters denn eigentlich angestellt und was meint er damit, wenn er von dem „Stand der vollendeten Sündhaftigkeit" und den „Riesenschritten" der Zeit spricht? Was genau versteht er, so mag man sich fragen, unter der „deutschen Nation", deren Einheit und Rettung unmittelbar bevorsteht, und unter dem gemeinsamen „Grundzug der Deutschheit"? Und was unter dem ganz neuen Erziehungswesen und dem „Gemälde einer sittlichen Weltordnung", das es erschaffen soll? Die vorliegende Arbeit möchte es sich zur Aufgabe machen, diese Fragen und Irritationen, die sich für den Zuhörer Fichtes genauso ergeben haben mögen wie für den heutigen Leser, aufzugreifen und in fünf Kapiteln zu diskutieren. Dazu möchte sie Fichte beim Wort nehmen und die Reden als unmittelbare Fortsetzung seiner Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters begreifen. Das bedeutet aber über die Rekonstruktion seiner Geschichtsphilosophie hinaus vor allem, das Motiv zu entwickeln, das es notwendig werden ließ, die damaligen Betrachtungen wiederaufzunehmen und zu ergänzen. Wenn es nämlich eine Frage gibt, die sich dem Berliner Publikum Fichtes bestimmt nicht gestellt haben wird, dann ist es die nach der Zerstörung des „Selbst" und seiner Abwicklung durch „fremde Gewalt". Berlin steht im Dezember 1807 seit mehr als einem Jahr unter französischer Besatzung, und für alle im Auditorium ist es selbstverständlich, daß Fichte hier nur die Ereignisse meinen kann, die zwischen dem Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (6. August 1806) und dem Friedensvertrag von Tilsit (Juli 1807) liegen. Es wird eine zentrale These der Arbeit sein, daß Fichte den Untergang des preußischen Staats im Krieg gegen das napoleonische Frankreich, den er aus nächster Nähe erlebt, auch als das Scheitern seines eigenen Staatsgedankens erfahrt. Das dramatische Szenario von Untergang und Vernichtung des Bisherigen, mit dem Fichte seinen Vortragszyklus eröffnet, ist dann nicht nur Ausdruck der allgemeinen Krisenstimmung nach dem Tilsiter Frieden, sondern auch einer tiefen Zäsur seines politischen Denkens. Entgegen dem eigenen Selbstverständnis wären die Reden an die deutsche Nation so

Einleitung

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gesehen nicht nur Fortsetzung der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, sondern vielmehr eine folgenreiche Korrektur der früheren Annahmen und Überzeugungen. Die These einer Zäsur im politischen Denken Fichtes macht es aber auch zur Auflage, im zweiten Kapitel seine politischen und rechtsphilosophischen Arbeiten vor den Reden an die deutsche Nation genau in den Blick zu nehmen, um dieser These die nötige Tiefe und den anschaulichen Kontrast zu geben. Wie dieses Kapitel zeigen wird, nahm das politische Denken Fichtes seinen Ausgang bei der praktischen Philosophie Kants, die sie zunächst in den beiden Schriften zur Französischen Revolution von 1793 rechtsphilosophisch wendet. Dabei setzt Fichte Moral und Recht in eins und überträgt den Kantischen Autonomiegedanken so konsequent vom Feld des Moralischen auf das Feld des Politischen, daß der Staat fast völlig aus seinem Blickfeld verschwindet. Schon bald erkannte Fichte diesen Mangel seiner Theorie an einem hinreichenden Begriff staatlicher Souveränität, an Vergemeinschaftung und an allen Formen politischer Rechtserzeugung und versuchte wenig später in seinem rechtsphilosophischen Hauptwerk, der Grundlage des Naturrechts, die Eigenständigkeit des Rechts gegenüber der Moral erst transzendentalphilosophisch zu erweisen und dann politisch zu wenden. Infolge dieser kategorialen Trennung von Recht und Moral aber kann die Grundlage des Naturrechts den Staat nur als eine juridische Zwangsanstalt konzipieren, die alle integrativen und identifikatorischen Aspekte politischer Gemeinschaft vollständig ausklammern muß. Unvermittelt und antithetisch stehen sich Legalität und Moralität, Recht und Sittlichkeit, Staat und Gesellschaft in Fichtes politischem Denken vor den Reden an die deutsche Nation gegenüber und können auch durch den Versuch der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, die fehlende positive Vergemeinschaftung durch erzwungene Opferbereitschaft abzugleichen, keiner Versöhnung zugeführt werden. Erst vor diesem Hintergrund wird plausibel, was das erste Kapitel schon vermutet hatte: Fichte mußte den Zusammenbruch der preußischen „Staatsmaschine" im Krieg gegen das napoleonische Frankreich auch als das Scheitern seiner eigenen Rechtsphilosophie erleben, war es doch vor allem das Fehlen aller ideellen Momente politischer Gemeinschaft - Solidarität, Begeisterung und Opferbereitschaft - , das er für das Scheitern Preußens verantwortlich machte. Das erste Kapitel zeichnet diesen Erkenntnisprozeß Fichtes in dem Kriegswinter von 1806/07 nach und legt besonderen Wert auf seine damalige Machiavelli-Lektüre, die ihm so nachhaltig den Sinn für die Eigengesetzlichkeiten des Politisch-Geschichtlichen entwickelte, daß er zu Beginn der Reden an die deutsche Nation seinem Publikum eröffnen wird, die folgenden Betrachtungen werden „aus dem Gebiete der Sittenlehre in das der Geschichte"9 fallen. Die Kapitel drei, vier und fünf führen die Konsequenzen vor, die Fichte aus dieser Krise zieht: die Umstellung seines politischen Denkens von einer rechtlich-individualistischen auf eine nationale Grundlage - und damit vom Ich zum Wir. Zunächst wird das dritte Kapitel zeigen, daß er eine natürliche Einheit aller Deutschen behauptet, die er mit der Gemeinsamkeit von Sprache, Geschichte und, als Folge daraus, von metaphysi9

Reden, SW VII, S. 269.

Einleitung

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schem Denken begründet. Weit über die Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts hinausgehend, betrachtet Fichte die Verschiedenheit von Volkssprachen unter qualitativen Gesichtspunkten und stellt die sprachlich-kulturellen Charakteristika in den Dienst nationaler Selbstdefinition. Er sieht einen ontologischen Zusammenhang zwischen Ursprünglichkeit der deutschen Sprache und der Anlage, philosophisch denken zu können, und folgert aus diesem Zusammenhang auf einen geistig-moralischen Hegemonieanspruch der Deutschen. Diese Hegemonie versteht sich aber nicht machtstaatlich oder imperial - das ist ja gerade der Vorwurf, den Fichte gegen Napoleon erhebt - , sondern rein ideell. Vorbild ist das mittelalterlich-frühneuzeitliche deutsche Reich, das den Frieden in Europa garantierte und mit der Reformation das Christentum erneuerte. Der ideelle und kulturelle Charakter von Fichtes deutscher Nation ist auch Grundlage seines Vorschlags einer deutschen Nationalerziehung, den schon die erste Rede den Zuhörern als Ausweg aus der Krise vorgestellt hatte. Das fünfte und letzte Kapitel diskutiert das Erziehungskonzept Fichtes und bindet es ein in die angeregte pädagogische Diskussion seiner Zeit: Aufgeklärte und neuhumanistische Positionen vereinigen sich in der Nationalerziehung der Reden an die deutsche Nation mit jakobinisch-revolutionären zu einem pädagogischen Konzept, das die Nation als eine sittliche Gemeinschaft möglich machen soll. Drei heuristische Prämissen Die skizzierte Neuorientierung des politischen Denkens Fichtes vom Ich zum Wir soll von drei heuristischen Hintergrundannahmen getragen werden: im Unterschied zu eher fachphilosophischen Ansätzen soll der Zugang zu den Reden an die deutsche Nation nicht über die Wissenschaftslehre versucht werden, sondern über eine ideengeschichtliche Diskussion des intellektuellen Umfelds und der politischen Situation der Vorträge Fichtes (I); in den meisten Studien ist bislang nicht hinreichend berücksichtig worden, daß es sich bei den Reden an die deutsche Nation nicht um eine systematische Abhandlung, wie etwa die Grundlage des Naturrechts, handelt, sondern um öffentliche Vorlesungen, also um politische Rhetorik (II); und schließlich wird in den modernen Theorien über Nationalismus ein Instrument gesehen, mit dem sich das hier vorgelegte Verständnis der Reden an die deutsche Nation, auch auf einer metatheoretischen Ebene, fruchtbar machen läßt (III). (I) „Fichte philosophirt immer nur aus Gelegenheit - auf jedes Incitament; hat eine unendlich große φσ [philosophische] Erregbarkeit"10, hatte Friedrich Schlegel schon 1799 im Zusammenhang mit dem Atheismusstreit über seinen Lehrer und Freund Fichte festgestellt. Einen ersten Eindruck von dieser philosophischen Erregbarkeit Fichtes und seinem politischen Tatendrang konnten auch die eingangs geschilderte Hast und Unmittelbarkeit vermitteln, mit denen er seine Reden an die deutsche Nation eröffnete. 10

F. Schlegel, Philosophische Fragmente, Werke, Bd. 18, S. 251 (Fragment 682).

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Einleitung

Immer wieder hat Fichte sich zu seinem Temperament, zu seinem Tatendrang und Gstaltungswillen bekannt, am offensten in privaten Briefen, etwa in dem Brief vom 2. März 1790 an seine Braut Marie Johanne Rahn: „[...] der HauptEntzwek meines Lebens ist der, mir jede Art von (nicht wißenschaftlicher - ich merke darinn viel eitles) sondern von Charakter Bildung zu geben, die mir das Schiksal nur irgend erlaubt. [...] Den Stand des Gelehrten kenne ich; ich habe da wenig neue Entdekungen zu machen. Ich selbst habe zu einem Gelehrten von métier so wenig Geschik, als möglich. Ich will nicht blos denken-, ich will handeln: ich mag am wenigsten über des Kaisers Bart denken. [...] Ich habe nur eine Leidenschaft, nur ein Bedürfnis, nur ein Volles Gefühl meiner Selbst, das: außer mir zu würken. Je mehr ich thue, je glüklicher scheine ich mir. Ist das auch Täuschung? Es kann sein: aber es liegt doch Wahrheit zum Grunde."11

Es gehört zu den glücklichen Fügungen der Philosophiegeschichte, daß Fichte nur kurz nach dieser Selbstbeschreibung die Philosophie Kants für sich entdecken konnte: Er zeigt sich von Anfang an von ihren praktischen Qualitäten mehr als begeistert und hofft darauf, sie eines Tages „im populärem Vortrage, mit Kraft und Feuer dem Publikum an s Herz" 12 legen zu können. Dabei unterscheiden aber Fichtes Drang nach Wirkung und Öffentlichkeit, nach Handeln und Praxis, ihn zugleich auch auf ganz charakteristische Weise von dem Philosophen aus Königsberg: „Kant war ein distanzierter Denker, Fichte ein engagierter Kämpfer." 13 Doch nicht nur in Briefen und persönlichen Aufzeichnungen, auch in seinen Vorlesungen und Schriften hat Fichte immer wieder seine Überzeugung vom tätigen Wissen und der gesellschaftlich-politischen Verantwortung des Intellektuellen vertreten und das Handeln sogar zur eigentlichen „Bestimmung des Menschen" erklärt.14 Vor allem in seinen Berliner Jahren und besonders während des preußisch-französischen Kriegs hat er, wie das erste Kapitel ausführen wird, dann auch den direkten Kontakt zur politischen Klasse gesucht, um seinen Ideen Gehör zu verschaffen und um als Philosoph Einfluß auf die Ereignisse nehmen zu können. Aus diesem Verständnis von Fichte als einem, so Xavier Léon, „charactère [...] essentiellement pratique et essentiellement polémique" 15 , als einem durch und durch politischen Denker, der wirken, eingreifen und verändern will, folgt für die Betrachtung der Reden an die deutsche Nation notwendig ihre Kontextualisierung. Das heißt, das geistige Umfeld Fichtes, den realgeschichtlichen Rahmen seiner Vorträge und die

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Brief an Marie Johanne Rahn vom 2. März 1790, GA III, 1, S. 71 ff. (Hervorh. im Orig.), vgl. auch den Brief an Jung vom September 1798: „Ich möchte wirken, so lange ich es vermag, durch Wort und Schrift: dieß ist der Zweck meines Lebens", GA III, 3, S. 138. Briefentwurf an Achelis, November 1790, GA III, 1, S. 195. Voigts, Wir sollen alle kleine Fichtes werden, S. 40. „Nicht bloßes Wissen, sondern nach deinem Wissen Thun ist deine Bestimmung [...]. Nicht zum müßigen Beschauen und Betrachten deiner selbst, oder zum Brüten über andächtigen Empfindungen, - nein, zum Handeln bist du da; dein Handeln und allein dein Handeln bestimmt deinen Werth", Bestimmung des Menschen, GA I, 6, S. 253. Léon, Fichte et son temps, Bd. 1, S. 6, vgl. dazu auch Widmann, Fichte, S. 169, und Kiss, Anmerkungen zu Fichtes Begriff der Nation, S. 190.

Einleitung

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ideengeschichtlichen Traditionen, in denen sie sich bewegen, in die Analyse miteinzubeziehen - kurzum: den Schritt über die vorherrschende systemimmanente Lesart hinaus zu wagen, die die Reden, wie alle politisch-populärwissenschaftlichen Arbeiten Fichtes, in erster Linie als eine Ableitung aus seiner Transzendentalphilosophie verstanden wissen will. Apodiktisch hat dieses Verständnis Hansjürgen Verweyen formuliert: „Wie jede Wissenschaft, so hat auch die Gesellschaftslehre und Politik auf Prinzipien a priori zu gründen. Die Kritik an Fichtes Sozialphilosophie muß also von einem Eindringen in seine Transzendentalphilosophie ausgehen."16

Schon für die Grundlage des Naturrechts wird dieses Vorgehen fragwürdig, verläßt doch Fichte selbst im zweiten Teil seiner Rechtsphilosophie sein transzendentalphilosophisches Fundament und begibt sich auf die Ebene eines „reellen Philosophierens"17, auf der er Rechtssicherheit ganz voluntaristisch mit einem Kontraktualismus nach Hobbesschen Vorbild zu begründen sucht. Ohne jeden Zweifel gehört die Studie von Verweyen zu den wichtigsten über den politischen Denker Fichte, doch kommt seine methodische Prämisse vor allem in der Diskussion der Reden an die deutsche Nation als eine Begrenzung zum Ausdruck: Verweyen bekommt die genuin politischen und nationalen Aspekte der Reden nicht zu fassen und konzentriert sich daher ganz auf ihre Sprachphilosophie und Pädagogik, die er vor dem Hintergrund der Wissenschaftslehre 18

erörtert. Im Unterschied zu Verweyen, aber auch zu Ulrich Bielefeld, der zuletzt den Wandel Fichtes vom Ich zum Wir im Rahmen eines soziologisch-systemtheoretischen Ansatzes beschrieben hat19, soll hier die große Nähe der Reden an die deutsche Nation zu den Debatten und Diskussionen ihrer Gegenwart aufgezeigt werden: so werden das dritte und vierte Kapitel Fichtes Nationsbegriff im Zusammenhang mit der frühromantischen Sprach- und Geschichtsphilosophie und dem patriotischen Denken des 18. Jahrhunderts diskutieren, und das fünfte Kapitel wird die enge Einbindung seines Vorschlags einer deutschen Nationalerziehung in den breiten zeitgenössischen Diskurs über Erziehung und Pädagogik und in die gerade einsetzende preußische Bildungsreform vorführen. Erheblich gefordert wird dieses ideengeschichtliche Vorhaben durch die verdienstvolle Arbeit der Fichte-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Im 16 17 18

19

Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 9. Vgl. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 317. Trotz dieses eher unbefriedigenden Ertrags hat auch Wolfgang H. Schräder in dem Nationalismus-Band der Fichte-Studien erneut versucht, den Begriff der Nation „im Rahmen der systematischen Philosophie Fichtes zu begründen und zu rechtfertigen" - um dann aber nur wenige Seiten später zugeben zu müssen, „daß ein Vorrang der deutschen vor anderen Nationen vom Boden der systematischen Philosophie Fichtes, von der WL [Wissenschaftslehre] aus, nicht zu rechtfertigen ist", Schräder, Nation, Weltbürgertum und Synthesis der Geisterwelt, S. 33 f. und S. 35. In seiner Untersuchung Nation und Gesellschaft begreift Bielefeld mit Bezug auf Luhmann nationales Denken als „Selbstthematisierung" eines politischen Kollektivs und beschäftigt sich auf dieser Grundlage auch mit Fichtes Reden an die deutsche Nation, vgl. die methodischen Ausführungen auf S. 10 ff.

16

Einleitung

Rahmen der Gesamtausgabe hat sie nicht nur den Briefwechsel und die nachgelassenen Schriften und Fragmente des Philosophen zugänglich gemacht, sondern mit der Reihe Fichte im Gespräch auch alle zeitgenössischen Äußerungen und Dokumente über und zu Fichte in sieben Bänden zusammengetragen, die ergänzt werden durch die Reihe J. G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen. Der Forschung sind damit Hilfsmittel an die Hand gegeben, die es ihr erlauben, stärker als bisher den eminent praktischen und polemischen Geist Fichtes in den Blick zu nehmen, der unmittelbar Anteil nimmt an seiner politischen und intellektuellen Umgebung und immer danach bestrebt ist, gestaltend und verändernd auf sie einzuwirken. (II) Seit der Antike galt es als Gemeinplatz, daß „die politische Praxis das ureigenste Feld der Rhetorik darstellte"20 - ein Verständnis von Rhetorik, das zu Zeiten Fichtes durch die Französische Revolution und die leidenschaftlichen Debatten der Nationalversammlung eine neue Bestätigung erfuhr. Auch in Deutschland veränderte die Rezeption der Revolution die politische Sprache nachhaltig und schuf ein neues Bewußtsein für die Möglichkeiten öffentlicher Rede und „die Interdependenz von Rhetorik, Macht und Meinung"21. Um 1800 konnte sich die Rhetorik, die politische wie die ästhetische, so einer großen Aufmerksamkeit erfreuen und erlebte durch die Romantik eine Transformation im Sinne einer „Literarisierung des Mündlichen"22. Da aber in Deutschland, anders als in Frankreich oder England, ein Parlament als dem klassischen Ort politischer Rede, fehlte, blieben als öffentliche Foren nur Kanzel, Theater und, vor allem, Katheder. Es war die Zeit der großen öffentlichen Vorlesungen, etwa von Friedrich Schleiermacher, von Friedrich und von August Wilhelm Schlegel oder auch von Adam Müller - der „eifrigste öffentliche Kathederredner dieser Jahre aber war zweifellos Fichte"23. Schon immer hatte sich Fichte eher als Redner oder gar als Prediger gesehen denn als reinen Fachphilosophen24, und er war seit seinen philosophischen Anfangen von der 20 21

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Riedl, Öffentliche Rede in der Zeitenwende, S. 32. Riedl, Öffentliche Rede in der Zeitenwende, S. 13, vgl. auch Rohling, Aspekte des Rednerideals in der Zeit um 1800, S. 10 ff. Allgemein zur Rezeption der Rhetorik in der Romantik siehe den Beitrag von Helmut Schanze in dem von ihm herausgegebenen Romantik-Handbuch, S. 337-351, hier S. 348. Schanze sieht in der romantischen Rhetorik den „Ausgangspunkt moderner Reflexion der sprachlichen Kunstmittel" (ebd., S. 337) und wendet sich damit offen gegen die verbreitete These vom Sieg der Philosophie über die Rhetorik infolge von Kants Rhetorikverdikt. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Franz-Hubert Robling „Aspekte des Rednerideals in der Zeit um 1800". Riedl, Öffentliche Rede in der Zeitenwende, S. 214. Eine Übersicht zeitgenössischer Reaktionen auf den Redner Fichte, die von „schwärmerischer Verehrung bis zu Verachtung und Spott" reichen, hat Adelheid Ehrlich zusammengestellt, vgl. Ehrlich, Fichte als Redner, S. 11 ff. (Zitat S. 11). So gab er schon der Zuriickforderung der Denkfreiheit von 1793, seine erste politische Schrift überhaupt, den Untertitel „Eine Rede" und stellte sich damit in die Tradition der deutschen Jakobinerklubs. Schon als Schüler in Schulpforta hat sich Fichte mit den antiken Rednerschulen beschäftigt und auch danach lange Zeit den Wunsch gehabt, Prediger zu werden, vgl. zu Fichtes

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gesellschaftlich-politischen Dimension seiner Wissenschaftslehre überzeugt. Daß er aber zum eifrigsten öffentlichen Redner des frühen 19. Jahrhunderts avancieren konnte, folgte unmittelbar aus der philosophischen Krise, in die die ungünstige Aufnahme seiner Schriften und der Bruch mit den namhaftesten Philosophen seiner Zeit - Kant, Jacobi, Reinhold und Schelling - ihn nach der Jahrhundertwende stürzten. Fichte verbrachte die Jahre 1802 und 1803 in völliger Zurückgezogenheit und unterzog sein philosophisches System einer gründlichen Revision.25 Selbstbewußt und voller Elan kehrte er dann zu Beginn des Jahres 1804 in die Öffentlichkeit zurück und stellte „seiner Zeit und der Nachwelt eine Serie von Vorlesungen dar, die", so der Doyen der Fichte-Forschung, Reinhard Lauth, „zu den größten Leistungen der Menschheitsgeschichte zählen"26. In schneller Folge trug Fichte in mehreren Zyklen die revidierte Wissenschaftslehre, seine Geschichts- und seine Religionsphilosophie, die Principien der Gottes- Sitten- u. Rechtslehre, eine weitere Folge der Vorlesungen über den Gelehrten und schließlich die Reden an die deutsche Nation einem hochrangigen und gelehrten Publikum vor. Auf weitere monographische Abhandlungen wie den Geschloßnen Handelsstaat oder Die Bestimmung des Menschen verzichtete er dagegen von nun an ganz und ließ nur noch seine populärwissenschaftlichen Vorlesungen im Druck erscheinen. Voraussetzung dieser Entwicklung war die Einsicht in das Darstellungs- und Vermittlungsproblem seiner Lehre, die Fichte in den Jahren des Rückzugs genommen hatte, und der daraus folgende Schluß auf die Möglichkeiten, die die öffentliche Rede ihm in zweifacher Hinsicht bot. Zunehmend hatte sich ihm nämlich die Erkenntnis aufgedrängt, daß die Idee seiner Philosophie durch das Korsett einer Verschriftlichung gerade das verliere, was ihr eigentliches Wesen ausmacht: Spontaneität, Tatkraft und 1Ί

Lebendigkeit. Reflektiert hat er diese Einsicht dann in den Vorlesungen zur Wissenschaftslehre von 1804, wo er das Bild des idealen Zuhörers malt, der das Vorgetragene nicht bloß repetiert und memoriert, sondern aktiv reproduziert, d. h. autonom nachvollzieht. Daß Erkenntnis sich nur performativ, als schöpferische Neuerfindung der eigentlichen Idee im Prozeß des Vortragens und des nachvollziehenden Verstehens einstellt, versuchte Fichte vor allem für seine systematischen Vorlesungen zur Wissenschaftslehre fruchtbar zu machen, während eine weitere Chance, die der öffentliche Vortrag bot, vor allem seinen populären Vorlesungen galt. In zwei Richtungen grenzt er diese Selbstverständnis als Redner und Prediger und seiner Entwicklung Ehrlich, Fichte als Redner, S. 40 ff. und S. 59 ff. Dazu vor allem die beiden Aufsätze von Reinhard Lauth „Über Fichtes Lehrtätigkeit in Berlin von Mitte 1799 bis Anfang 1805 und seine Zuhörerschaft" und „Fichte in den Jahren 1802 und 1803". Lauth, Fichte in den Jahren 1802 und 1803, S. 512. „Die W.L. [...] ist ein lebendiger, ewig neu, u. frisch zu producirender Gedanke, der unter jeder andern Bedingung der Zeit, u. der Mittheilung, sich anders ausspricht", so charakterisiert Fichte in der Wissenschaftslehre von 1805 seine Philosophie, Wissenschaftslehre von 1805, G A II, 9, S. 181.

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nämlich von den streng philosophischen ab: zum einen gesteht er diesen Vorträgen zu, ihre Prämissen nicht herleiten zu müssen - hier reicht der Verweis auf die intuitive Plausibilität der Voraussetzungen und den gesunden Menschenverstand.28 Zum anderen und vor allem aber verfolgen diese Vorlesungen die Absicht, Selbstverständnis, Bewußtsein und nach Möglichkeit auch das Handeln der Hörer zu verändern. Es geht Fichte nicht nur um philosophische Wahrheit, sondern darum, persuasiv auf die Öffentlichkeit einzuwirken und sittlichen und politischen Wandel herbeizufuhren. So hat die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters nur richtig verstanden, wer ein „Wachsthum an innerem Frieden und Seligkeit" in sich verspürt, und in den Reden an die deutsche Nation hofft Fichte sogar ausdrücklich darauf, daß sein Vortrag „an allen Orten deutsche Gemüther zu Entschluss und That entzünde"29. Mit diesem Anspruch fallen die Reden an die deutsche Nation in das Gebiet der Fundamentalrhetorik, mit dem Peter L. Oesterreich die politische Rede von der Kunstrhetorik abgrenzt. Fundamentalrhetorik definiert Oesterreich als „eine regionale Anthropologie", die sich nur auf die öffentliche Seite der menschlichen Existenz bezieht und „das allgemein menschliche Phänomen des vernünftigen und überzeugenden Redenkönnens"30 zum Gegenstand hat. Das öffentliche Interesse und die persuasive Absicht unterscheiden die politische Rede kategorial von der Kunstrhetorik und der akademischen Rede: „In der politischen Beratungsrede (genus deliberativum), die sich mit dem auf die Zukunft gerichteten menschlichen Handeln beschäftigt, kann es nämlich grundsätzlich keine apodiktische Wahrheit geben. Die unaufhebbare Kontingenz des vom menschlichen Handeln bestimmten zukünftig Seienden läßt ein sicheres Wissen schlicht nicht zu. [...] Dieser Kategorienwechsel von der Wahrheit epistemischer Vernunft zum Geist der Glaubwürdigkeit bestimmt Problem und Aufgabe der Philosophie in der politischen Öffentlichkeit. [...] Die entscheidende Frage für die Akzeptanz einer Position im politischen Sinne ist nicht, ob sie im wissenschaftlichen Sinne wahr ist, sondern ob sie im lebensweltlichen Sinne glaubwürdig und überzeugend vertreten wird."31

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So stellt Fichte in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters es seinem Hörer „als Anmuthung" anheim, den Begriff einer Einheit des menschlichen Erdenlebens „an seinem eignen Wahrheitsgefühle zu erproben, und ihn richtig zu finden, falls er es vermag", Grundzüge, GA I, 8, S. 198, dazu Schottky, Bemerkungen zu Fichtes Rhetorik, S. 418 f. Fichte schließt damit an das antike Rhetorik-Verständnis an, denn seit Aristoteles hat der Wahrheitsanspruch einer öffentlichen Rede auf öffentlicher Zustimmung zu beruhen, also auf „der Überzeugungskraft einer Argumentation aufgrund eines internen Konsenses", Wiegmann, Redekunst und Politik, S. 151. Grundzüge, GA I, 8, S. 396, und Reden, SW VII, S. 266. Beide Zitate Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 3. „Das Rhetorische ist die persuasive Rede in der lebensweltlichen Öffentlichkeit", so hatte Peter L. Oesterreich an anderer Stelle die Fundamentalrhetorik definiert, Oesterreich, Fundamentalrhetorik, S. 46. Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 40 f. Ähnlich auch Hermann Wiegmann, der ebenfalls zu bedenken gibt, daß Rhetorik „ihre Prämissen nicht aus dem Gebiet des Apodiktischen, des wahren Wissens, sondern aus endoxa (Meinungen)" bezieht, Wiegmann, Redekunst und Politik, S. 150.

Einleitung

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Für die Analyse der Reden an die deutschen Nation als einem „Dokument flamboyanter Rhetorik"32 ist es unabdingbar, diesen Kategorienwechsel einer Fundamentalrhetorik von der Wahrheit epistemischer Vernunft zum Geist der Glaubwürdigkeit und ihren Bezug auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit in Rechnung zu stellen.33 Nicht nur, weil er die Absicht, den Zugang zu den Reden jenseits der Wissenschaftslehre zu suchen, unterstützt, sondern vor allem auch, weil mit einem fundamentalrhetorischen Verständnis der Vorträge Fichtes viele ihrer immanenten Widersprüche, Unschärfen und Extreme aufgelöst werden können. Die kategoriale Unterscheidung von Wahrheit und Überzeugung verweist auf die drei Elemente Logos, Ethos und Pathos, die seit der Antike als Fundament der Rhetorik gelten und deren Mischungsverhältnis den jeweiligen Charakter einer Rede bestimmt. Daß eine akademische Rede vor allem auf den Logos zielen und sich um eine stringente sachliche Argumentation bemühen würde ist dabei ebenso naheliegend wie der Versuch einer politischen Rede, das Pathos, also die Meinungsbildung unter dem Einfluß von Affekten, in das Zentrum ihrer rhetorischen Strategie zu stellen.34 Damit begibt sich die politische Rede aber auf ein dünnes Eis, denn der Grat zwischen Überzeugung und Überredung ist schmal, und der politischen Rede droht leicht ein Übergleiten in die demagogische oder ideologische Rede.35 Einen gelungenen Wechsel zwischen Pathos und Logos bietet, wie das erste Kapitel zeigen wird, insbesondere die Eröffnungsrede Fichtes, während das dritte Kapitel mit seiner Bestimmung des deutschen und französischen Nationalcharakters ein Beispiel diskutieren wird, in dem eine überzogen pathetische Rhetorik in die Demagogie abgleitet. (III) Die Überleitung von der fundamentalrhetorischen auf die nationalismustheoretische Prämisse dieser Arbeit fällt nicht schwer: Das Bild vom Philosophen auf dem Katheder und den Professoren, Schriftstellern und hohen Beamten in seinem Publikum und die Absicht einer persuasiven Rede, vor allem auf Gefühl und Gemüt dieser Hörer zu wirken und ihr Selbstbild zu verändern, geben erste Hinweise auf Wesen und Entstehung von nationalem Denken. Insbesondere das dritte Kapitel wird die Theorien über Nation und Nationalismus im Hinblick auf die Reden an die deutsche Nation diskutieren36 und für ein konstruktivistisches Verständnis von Nation plädieren. Bezzola, Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel, S. 105. Fragen der rhetorischen Stilistik, von elocutio und ornatus, spielen für diese Arbeit dagegen nur eine untergeordnete Rolle, vgl. dazu aber die Untersuchung von Adelheid Ehrlich Fichte als Redner, Vgl. Riedl, Öffentliche Rede in der Zeitenwende, S. 155 f. Nach Ciceros De oratore ist das Pathos das einzige, worauf es dem Redner ankommen sollte, vgl. ebd. Vgl. Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 2. Auch Adelheid Ehrlich erkennt den demagogischen Charakter einer Rede zum einen in dem „bewußt eingesetzten Mittel einer psychologischen Beeinflussung des Hörers in Richtung auf die einzig als wahr angesehene Auffassung des Redners" und zum anderen in der „Verabsolutierung bzw. Ideologisierung dieser Auffassung", Ehrlich, Fichte als Redner, S. 261. Einen instruktiven Überblick über Stand und Tendenzen der Forschung gibt Dieter Langewiesche mit seinem Aufsatz „Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsper-

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„Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt"37, so die griffige Formulierung, mit der Ernest Gellner allen substantialistischen Annahmen der älteren Forschung ein Verständnis von Nation und Nationalismus entgegensetzte, das diese als kollektive Konstruktionen versteht. Während Gellner diese kollektiven Konstruktionen aber weitgehend als eine Zweck-Mittel-Funktion der Moderne begreift mit dem Ziel, kulturelle Homogenität zu erzeugen, betont Benedict Anderson in Die Erfindung der Nation stärker den diskursiven und imaginären Charakter nationalen Denkens. Anderson rückt die Nation als eine „vorgestellte politische Gemeinschaft" 38 ganz in die Nähe von kulturellen und religiösen Systemen und versteht die nationale Idee als eine ebenso erfolgreiche wie folgenreiche Antwort auf die allzu menschliche Frage nach Identität und Sinn: „Es ist das ,Wunder' des Nationalismus, den Zufall in Schicksal zu verwandeln."39 Dieses Verständnis von Nation schärft die Wahrnehmung sowohl fur die analytische Differenz von Staat und Nation als auch für die sozialen Träger und für die Ideengeschichte des nationalen Denkens. Ganz im Sinne der Andersonschen Verwandlung von Kontingenz in Sinn durch den Nationalismus versteht Bernhard Giesen in seinen soziologisch-sozialpsychologischen Studien Patriotismus und Nationalismus als intellektuelle Codes der Vereinfachung und Orientierung. Nicht mehr die politische Klasse, sondern Intellektuelle - Literaten, Publizisten und Philosophen - haben als Konstrukteure, Träger und Multiplikatoren der nationalen Idee zu gelten, ist der ideative und kulturelle Charakter der Nation erst einmal analytisch von dem instrumenteilen des Staats geschieden, wie Herfried Münkler einsichtig gemacht hat. Das wirft die Frage auf nach den Diskursen und Narrationen, den Symbolen und Ritualen, kurz: nach den ideengeschichtlichen Traditionen, aus denen die intellektuellen Konstrukteure die Idee der Nation zusammensetzen. Wenn man Nation und Nationalismus als Produkte „einer komplexen .Kreuzung' verschiedener historischer Kräfte" 40 versteht, dann kann die Aufgabe dieser Arbeit nur in einer Entflechtung dieser Kräfte bestehen: die Kreuzung aus der konkreten politischen Situation der Vorträge Fichtes (erstes Kapitel), aus den offenen Fragen und Defiziten seiner politischen Theorie (zweites Kapitel) und aus den kulturellen Prozessen, ideengeschichtlichen Traditionen und zeitgenössischen Diskursen, mit denen seine Reden an die deutsche Nation diesseits und jenseits der bewußten Gestaltung operieren (drittes, viertes und fünftes Kapitel), wird es im folgenden also zu untersuchen gelten. Mit einem konstruktivistischen Verständnis der nationalen Idee erscheint diese auch wesentlich komplexer und älter zu sein als der Gemeinplatz einer eher geschichtswis-

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spektiven"; ersten Überblick und zuverlässige Orientierung bietet auch der Band von Hans-Ulrich Wehler. Gellner, Nationalismus und Moderne, S. 87. Anderson, Erfindung der Nation, S. 15. Anderson, Erfindung der Nation, S. 20. Anderson, Erfindung der Nation, S. 14.

Nationalismus

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senschaftlichen Forschung, die den Nationalismus auf die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert datiert hatte41, nahelegt. Jüngere Studien wie die von Hans-Martin Blitz oder von Jörg Echternkamp stellen daher die Annahme einer „Geburtsstunde" des Nationalismus mit dem Jahr 1789 offen in Frage und konzentrieren sich statt dessen auf das 18. Jahrhundert (Blitz) bzw. auf die Spanne zwischen 1770 und 1840 (Echternkamp).42 Freilich wird auch hier konstatiert, daß das nationale Denken infolge von Französischer Revolution, Napoleon und Freiheitskriegen eine Politisierung und Intensivierung erfuhr, die zu strukturellen Bedingungen seiner Ausweitung zum Massenphänomen wurden, doch fußt diese Beobachtung nicht mehr auf dem eher holzschnitthaften Gegensatz zwischen einem aufgeklärten und humanistischen Patriotismus des 18. Jahrhunderts und einem militanten und ideologischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Anstelle einer Entwicklung „vom linken zum rechten Nationalismus"43 geht die neuere Forschung insgesamt verstärkt von der „Janusköpfigkeit"44 nationalen Denkens aus, konstatiert seine „verblüffende Flexibilität"45 und begreift „Partizipationsverheißung und Gewaltbereitschaft als die zwei Gesichter der modernen Nation"46. Jörg Echternkamp kommt so zu dem Ergebnis, „[...] daß der Nationalismus von vornherein ein hochgradig polyvalentes, verfassungspolitisch prinzipiell indifferentes und zur Eigendynamik tendierendes Phänomen von großer politischer Plastizität darstellt, das sich jeder monokausalen Erklärung und einseitigen Bewertung entzieht"47.

Diese strukturelle Polyvalenz des Prinzips Nation steht auch am Ende des vierten Kapitels, das die inneren Ambivalenzen der Reden an die deutsche Nation herausarbeitet und vor dem Hintergrund ihrer disparaten Rezeptionsgeschichte weiter diskutiert. Gelten die Vorträge Fichtes heute als eines der zentralen Dokumente des deutschen Nationalismus48, so konnten sie ihre Zeitgenossen nur wenig beeindrucken und

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Vgl. u. a. die Arbeiten von Alter, Nationalismus, Dann, Nation und Nationalismus, Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, oder von Schieder, Nationalismus und Nationalstaat. Hans-Martin Blitz, Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert, und Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770-1840). So der Titel des einschlägigen Aufsatzes von Heinrich August Winkler. Auch Otto Dann und, wenn auch eher implizit, Bernhard Giesen halten an dieser Zäsur fest, vgl. Dann, Nation und Nationalismus, S. 12 und S. 17, und Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, S. 154. Kritisch dazu der Aufsatz von Barbara Vogel „Vom linken zum rechten Nationalismus. Bemerkungen zu einer Forschungskontroverse". Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur, S. 12. Wehler, Nationalismus, S. 11. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, S. 192. Echternkamp, Aufstieg des Nationalismus, S. 34, vgl. auch S. 165. Zuletzt wurde Fichte von Heinrich August Winkler als der „Begründer des deutschen Nationalismus" bezeichnet, auch für Ulrich Bieleld steht Fichte „für die Gründung des deutschen, protestantischen Nationalismus", und für Anthony La Vopa sind die Reden an die deutsche Nation „one of the icons of modern German nationalism", Winkler, Der lange Weg nach Westen, S. 57,

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hatten auch auf die Freiheitskriege von 1813 wohl nur geringen Einfluß.49 Erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dem sie mit der Idee einer deutschen Nation ihr Leitmotiv gegeben haben, wurden die Reden an die deutsche Nation zunehmend zum „Meilenstein für die Konstituierung eines nationalstaatlichen Bewußtseins"50 erklärt und Fichte in die Ahnengalerie des deutschen Nationalismus aufgenommen. Mit Höhen um 1871, im und um den Ersten Weltkrieg, in der sich anschließenden deutschnationalen und in der nationalsozialistischen Bewegung sahen sich die Reden von Anfang an so vielfaltig interpretiert und uminterpretiert und von solch unterschiedlichen politischen Strömungen vereinnahmt, daß man mit Manfred Voigts von einem „Streit um Fichte"51 sprechen kann - einem Streit, den auch diese Arbeit nicht beenden wird, sondern, ganz im Gegenteil, mit Verweis auf Fichte als den polemischen Geist und engagierten Kämpfer, auf Fichte als den politischen Redner und auf Fichte als den nationalen Denker als einen strukturellen und damit notorischen begreifen wird.

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Bielefeld, Nation und Gesellschaft, S. 121, und La Vopa, Fichte. The Self and the Calling of Philosophy, S . U . Für Reinhard Lauth griffen die Reden sogar so nachhaltig in den Verlauf der Geschichte ein, „daß das Selbstverständnis der Deutschen und die aus diesem ausfließende Tat bis hin zur Erhebung vom November 1989 - [...] nicht mehr zureichend zu verstehen sind, wenn man nicht auf Fichtes Bestimmung der Nation zurückgreift", Lauth, Der letzte Grund von Fichtes Reden, S. 197. Auch für Manfred Voigts gibt es „wohl nur wenige philosophische Werke, die eine vergleichbare Wirkung hatten wie Fichtes ,Reden an die deutsche Nation'", während Doris Fouquet-Plümacher sie fur ein „fast vergessenes Werk" hält, Voigts, Wir sollen alle kleine Fichtes werden, S. 55, und Fouquet-Plümacher, Reimer und die Zensur von Fichtes Reden, S. 250. Vgl. dazu den Aufsatz von Rudolf Körner „Die Wirkung der Reden Fichtes", zur Rezeptionsgeschichte siehe auch Riedl, Öffentliche Rede in der Zeitenwende, S. 274 ff., Pesch, Die politische Philosophie Fichtes und ihre Rezeption im Nationalsozialismus, S. 89 ff., und Voigts, Wir sollen alle kleine Fichtes werden, S. 55 ff. Riedl, Öffentliche Rede in der Zeitenwende, S. 276. Voigts, Wir sollen alle kleine Fichtes werden, S. 8.

I. Fichtes erste Rede vom 13. Dezember 1807 und die Vorgeschichte der Reden an die deutsche Nation

Am 28. November des Jahres 1807 erschien in der Haude-Spenerschen und in der Vossischen Zeitung in Berlin die folgende Anzeige des Philosophen Johann Gottlieb Fichte: „Meine gewöhnlichen Vorlesungen in den Winter-HalbJahren, für ein gemischtes Publikum aus beiden Geschlechtern, werde ich auch diesen Winter, in der gewöhnlichen Stunde, Sonntags von 12 bis 1 Uhr, halten: und zwar werde ich in denselben die vor 3 Jahren angehobne Betrachtung, die unter dem Titel: Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, auch gedruckt ist, bis auf unsere Tage fortfuhren."1

Zwei Hinweise gibt diese Anzeige, die für das Verständnis der Reden an die deutsche Nation von Bedeutung sind: Fichte hat seine Vorlesungen nicht für ein homogenes akademisches, sondern für ein „gemischtes Publikum aus beiden Geschlechtern" konzipiert, und er will, zweitens, die Vorlesungen als eine Fortführung seiner Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters „bis auf unsere Tage" verstanden wissen. Mußte die rhetorische Strategie Fichtes für seine früheren populärwissenschaftlichen Vorlesungen wie etwa Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters oder Die Anweisung zum seeligen Leben die Anwesenheit eines fachfremden nicht-akademischen Publikums noch dahingehend in Rechnung stellen, daß es eine gewisse Scheu vor seiner als schwierig und unverständlich bekannten Philosophie zu überwinden gelte2, so kommt ihm dieser Umstand in den Reden an die deutsche Nation eher entgegen: schließlich adressiert er seine Vorträge an die „deutsche Nation" und kann bei dem gemischten und bürgerlichen Charakter seines Auditoriums3 die Hörer mit einer gewissen Berechtigung als die „unmittelbaren Stellvertreter, welche die geliebten Nationalzüge mir vergegenwärtigen"4, ansprechen und von ihnen, pars pro toto, auf die gesamte Nation schließen. Darüber hinaus erlaubte ihm die Form einer öffentlichen politischen Rede aber auch, den Umgang mit Diktion, Gestik und Mimik wesentlich offener und 1 2 3

4

Zitiert nach GA I, 9, S. 289. Dazu die Analyse von Schottky, Bemerkungen zu Fichtes Rhetorik, S. 416 ff. Anders als für frühere Vorlesungen sind für die Reden an die deutsche Nation keine Einladungsoder Teilnehmerlisten erhalten geblieben, vgl. dazu den Aufsatz von Reinhard Lauth „Ober Fichtes Lehrtätigkeit in Berlin von Mitte 1799 bis Anfang 1805 und seine Zuhörerschaft". Reden, SW VII, S. 266.

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I. Erste Rede und

Vorgeschichte

ungebundener gestalten zu können als es einer rein akademischen Rede angemessen wäre. 5 D o c h zunächst zu den Grundzügen

des gegenwärtigen

Zeitalters,

deren Fortsetzung

und Aktualisierung Fichte mit seiner Anzeige in Aussicht gestellt hatte. 6

1. Die Geschichtsphilosophie der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters Die Grundzüge

des gegenwärtigen

Zeitalters

haben als das Hauptwerk v o n Fichtes

Geschichtsphilosophie zu gelten und sind ebenfalls ein Zyklus v o n Vorlesungen, den er an gleicher Stelle im Winter 1804/1805 gehalten hatte. In diesen 17 Vorlesungen, die 1806 im Druck veröffentlicht wurden, hatte er den Versuch unternommen, „ein philosophisches Gemälde des gegenwärtigen Zeitalters" zu malen, das die Vielfalt der empirischen Erfahrung auf ein gemeinschaftliches Prinzip zurückfuhrt und „aus dieser Einheit jenes Mannigfaltige erschöpfend erklärt, und ableitet" 7 . A l s Philosoph hat Fichte Einsicht genommen in den „Weltplan" und „die gesammte Zeit, und alle ihre möglichen Aber „ist es nicht paradox", fragt Richard Schottky mit Recht, Fichtes rhetorische Kunst „vom gedruckten Text her erschließen zu wollen" (Schottky, Bemerkungen zu Fichtes Rhetorik, S. 415), also auf alle atmosphärischen, akustischen, mimischen und gestischen Aspekte zu verzichten? Etwas minimiert wird dieser Verlust durch die zeitgenössischen Berichte über Fichtes Vortrags- und Redestil, wie Adelheid Ehrlich sie zusammengestellt hat. Durchgehend wird der „dynamische Akzent" von Fichtes Stil hervorgehoben, und zur Beschreibung seiner Stimme wird immer wieder eine „Gewittermetaphorik" herangezogen. Ehrlich kommt insgesamt zu der - eher vorsichtigen - Einschätzung, daß „Fichtes Vortragsweise unter Überbetonung gelitten haben" dürfte, Ehrlich, Fichte als Redner, S. 26 ff., hier S. 35. Einen Eindruck von Fichtes Tendenz zur Überbetonung gibt der Bericht von Wilhelm Dorow über die Königsberger Vorlesungen zur Wissenschaftslehre, die Fichte im Winter 1806/07 öffentlich hielt: „Die erste Vorlesung begann in der Abendstunde; Fichte erschien und imponirte uns Allen durch sein markirtes, tüchtiges, geistiges Gesicht mit dem festen muthvollen Blick; vor sich hatte er einen Tisch stehen, darauf zwei Lichter. Todtenstille herrschte, man konnte jeden Athemzug hören. Fichte putzte das erste Licht aus, steckte es wieder an, dann machte er es mit dem zweiten eben so, lehnte sich mit beiden Händen auf den Tisch und schaute sich, gleich wie ein Magier stumm und still, wohl zehn Minuten in der Gesellschaft um, als wolle er die geheimsten Gedanken derselben erforschen. Dann begann er ungefähr Folgendes zu sagen: ,Meine Herren! Wollen Sie das, was ich sagen werde, verstehen, wollen Sie mit Nutzen meine Vorträge anhören, so müssen Sie die Ueberzeugung haben, daß Sie noch gar nichts wissen; von Erschaffung der Welt bis auf Plato war die Erde und deren Bewohner im Dunkeln; von Plato bis Kant desgleichen; von Kant bis jetzt eben so, daher — . ' [Im Saal entstand etwas Lärm], als sich derselbe gelegt, machte er dasselbe Manöver mit dem Ausputzen und Anstecken der Lichter und begann mit einer bewunderungswürdigen Ruhe und mit Ernst [...]", zit. nach Fichte im Gespräch, Bd. 4, S. 10 f. 6

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Auch in der kurzen Vorrede, die dem Druck der Reden an die deutsche Nation vorangestellt wurde, stellt Fichte sie als eine Fortsetzung der Grundzüge vor, vgl. Reden, SW VII, S. 259. Grundzüge, GAI, 8, S. 196.

Die Geschichtsphilosophie der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters

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Epochen schlechthin a priori verstanden, und innigst durchdrungen" 8 , meint also, wenn er von Geschichte spricht, nicht Historiographie im Sinne einer Chronologie von Ereignissen, sondern eine philosophische Betrachtung, die die Menschheitsgeschichte auf ein apriorisches Prinzip zurückfuhrt: „[...] ich sage; der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte." 9 Für den Philosophen der Wissenschaftslehre tritt alles, was ist, in logischen Strukturen auf, und auch die Geschichte folgt einer Entwicklungslogik, die Fichte als die bewußte Vermittlung von Freiheit und Vernunft umschreibt - ein Telos, dessen Realisierung als dramatischer Konflikt in fünf Akten ausgetragen wird.10 In genauso viele Epochen hat Fichte nämlich den Lauf der Weltgeschichte unterteilt und zum Maßstab den jeweiligen Realisierungsgrad der Einheit von Freiheit und Vernunft gewählt: Herrscht im paradieshaften Urzustand der Menschheit die Vernunft als Trieb oder Instinkt (1. Zeitalter: „der Stand der Unschuld des Menschengeschlechts"), so bedienen sich in der folgenden Epoche die „kräftigem Individuen der Gattung" des Vernunftinstinkts und verwandeln ihn in eine „äußerlich gebietende Autorität", die „mit Zwangsmitteln aufrecht" erhalten wird. Die Vernunft bleibt hier noch immer instinkthaft und fordert bloß „blinden Glauben, und unbedingten Gehorsam" (2. Zeitalter: „der Stand der anhebenden Sünde"). Durch dieses Mißverhältnis wird nun der Freiheitstrieb der übrigen Gattungsmitglieder geweckt, der das Zwangssystem des Vernunftinstinkts allmählich zum Einstürzen bringt und so ein völliges Vakuum bewirkt, ein „Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit" (3. Zeitalter: „der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit"). In dieser Leere kann sich dann die Kunst der Vernunftwissenschaft langsam entfalten, die „die gesammten Verhältnisse der Menschheit nach der vorher wissenschaftlich aufgefaßten Vernunft einzurichten" vermag (4. Zeitalter: „der Stand der anhebenden Rechtfertigung") und damit zum End- und Höhepunkt der Menschheitsgeschichte überleitet, der Epoche der Vernunftkunst, in der die Menschheit sich „zum getroffenen Abdrucke der Vernunft aufbauet" 11 (5. Zeitalter: „der Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung"). Bei aller Dunkelheit seiner einleitenden Ausführungen deuten die Namen der fünf Epochen doch schon an, daß Fichtes Geschichtsdenken nicht einer stetig aufsteigenden Linie folgt, sondern von Niedergang und Aufstieg der Menschheit berichtet und in dem mittleren Zeitalter einen dramatischen Höhe- und Wendepunkt hat. 12 Und genau in 8 9

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11 12

Grundzüge, GA I, 8, S. 197. Grundzüge, GA I, 8, S. 198 (im Original durch Sperrung hervorgehoben), ähnlich auch S. 206. Eine Analyse der Begriffe „Freiheit" und „Vernunft" in den Grundzügen gibt Traub, Fichtes Populärphilosophie, S. 40 ff. und S. 92 ff. Vgl. dazu Lauth, Fichtes Geschichtskonzeption, S. 349, und Oesterreich, Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, S. 133. Alle Zitate Grundzüge, GA I, 8, S. 200 f. Vgl. Grundzüge, GA I, 8, S. 198 f., vgl. dazu Metz, Weltgeschichte beim späten Fichte, S. 125 ff., und, allgemein zu diesem Muster der Geschichtsdeutung, Widmer, Niedergangskonzeptionen.

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I. Erste Rede und Vorgeschichte

dieser mittleren Epoche, dem Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, in dem das erwachende Freiheitsbewußtsein das Zwangssystem des Vernunftinstinkts zum Einstürzen bringt, siedelt er seine eigene Gegenwart an. Es fällt nicht schwer, Fichtes Geschichtsphilosophie hier realgeschichtlich zu übersetzen und hinter der gebietenden Autorität der wenigen, die sich den Anschein der Vernünftigkeit gibt, den aufgeklärten Absolutismus und hinter dem Freiheitsdrang der vielen die Französische Revolution zu erkennen. Wenn nun aber Fichte trotz Aufklärung und Französischer Revolution seine Gegenwart als Tiefpunkt der menschlichen Entwicklung zeichnet, dann deswegen, weil sich im Zug der allgemeinen Emanzipation zwar individuelle Freiheit eingestellt hat, die Vernunft aber in diesem Ansturm der Freiheit viel zu kurz gekommen ist, und so das Telos der Geschichte, die Einheit von Freiheit und Vernunft, in denkbar weite Feme gerückt ist. Die Gegenwart hat sich von der dogmatischen und autoritären Herrschaft der Vernunft befreien, eine systematische aber noch nicht entwickeln können und ist deshalb ein Zeitalter „der leeren Freiheit" und der „Gleichgültigkeit für alle Wahrheit"13. Auf dem Weg zur Bewußtwerdung der Vernunft ist diese Epoche eine Art Nullpunkt, ein Vakuum, in dem das Alte untergegangen, das Neue aber noch nicht aufgegangen ist. Als Konsequenz dieser „Stunde Null" offenbaren sich dem Blick Fichtes nur Verfall und Degeneration, die vollendete Sündhaftigkeit: Egoismus, Oberflächlichkeit und Habgier beherrschen die Menschen, Staatsverfassungen sind nur mehr „luftige und gehaltleere Abstraktionen", und die Religion hat sich in eine „bloße Glückseligkeitslehre" 14 verwandelt. Ähnlich wie Jean-Jacques Rousseau, der in seinen beiden Diskursen von 1750 und 1755 eine scharfe Zeit- und Kulturkritik formuliert hatte, sieht auch Fichte die Ursachen des Verfalls in der zeitgenössischen Kunst, Wissenschaft und Literatur, deren Aufstieg schon für Rousseau proportional zur Depravation der menschlichen Seelen und Tugenden gestanden hatte.15 Im Zentrum der Fichteschen Kulturkritik steht dabei vor allem die Gegenwartsphilosophie, die in ihrem Formalismus, Rationalismus und Skeptizismus Vernunft und (individuelle) Freiheit getrennt und so die „große Leere" und die „wiederkehrende Langeweile"16 zu verantworten habe, die dem allgemeinen Egoismus und Sittenverfall den Weg ebneten. Anders als Rousseau aber sieht Fichte die Möglichkeiten der Menschheit nicht darauf beschränkt, nur Schlimmeres zu verhindern, sondern begreift seine Zeit auch als möglichen Wendepunkt zu einer besseren Zukunft. Fichtes „Dialektik der Aufklärung" kennt nicht nur die Schattenseiten der Gegenwartskultur, sondern steht in ihrem Ausblick auf die kommenden Zeitalter auch fest auf dem Boden der europäischen Aufklärung, die von der Perfektibilität des Menschen überzeugt ist und an den Fortschritt 13 14 15 16

Grundzüge, GA I, 8, S. 209 und S. 215. Grundzüge, GA I, 8, S. 215 f. Vgl. Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft, in: Ders., Schriften zur Kulturkritik, S. 14. Grundzüge, GA 1,8, S. 250; dazu Oesterreich, Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, S. 134 f.

Die erste Rede vom 13. Dezember 1807

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durch Verbreitung von Bildung und Wissen glaubt. Fichte kann hier an seine frühen geschichtsphilosophischen Reflexionen aus den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794) anknüpfen, wo er die Menschheitsgeschichte als zunehmende „Vervollkommnung der Gattung"17 beschrieben hatte. Damals hatte er, ganz unter dem Eindruck der antagonistischen Geschichtsphilosophie Kants, Geschichte als Arena eines andauernden Kampfs zwischen Vernunft und Natur gesehen, der „uns zur Thätigkeit reizen"18 soll. Nun, in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters, teilt er mit Kant zwar immer noch das grundsätzliche Verständnis von Geschichte als Abstraktion von den Ereignissen, von Freiheit als Einsicht in die Vernunft und den Glauben an die Vervollkommnung der Gattung, gibt allerdings das mechanistische Fortschrittsverständnis auf: Es ist nun nicht mehr Kants „große Künstlerin Natur [...], aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet, durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen"19, sondern, ganz im Gegenteil, die bewußte und reflektierte Vermittlung von Vernunft und Freiheit durch den Menschen selbst, die die Gattung ihrem Telos, einer Epoche der Vernunftkunst, näherbringen soll. Diesen Weg aber muß die Menschheit „auf ihren eignen Füßen gehen: mit eigner Kraft soll sie sich wieder zu dem machen, was sie ohne alles ihr Zuthun gewesen"20 - auf die „tiefliegende Weisheit"21 der Natur, die mechanistisch und gegebenenfalls auch „wider ihren Willen" wirkt, können und dürfen sich die Menschen für Fichte dabei nicht verlassen. Es geht darum, den paradieshaften Zustand des ersten Zeitalters, wo die Vernunft instinkt- und triebhaft herrschte, bewußt wieder herzustellen, also eine Herrschaft der Vernunft zu etablieren, die sich als Kunst und als Wissenschaft versteht.

2. Die erste Rede vom 13. Dezember 1807 Wenn nun Fichte in den Reden an die deutsche Nation seine Betrachtungen aus den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters wieder aufnimmt, dann deshalb, weil die drei Jahre, die zwischen den beiden Vortragsreihen liegen, einschneidende Veränderungen mit sich gebracht haben: Das „Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit", in dem er die eigene Gegenwart angesiedelt hatte, ist mittlerweile „vollkommen abgelaufen und beschlossen"22. Es ist an seiner eigenen Dynamik zugrunde gegangen, denn „irgendwo hat die Selbstsucht durch ihre vollständige Entwicklung sich selbst vernichtet"23. Fichte

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Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 38. Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 66. Kant, Zum ewigen Frieden, Werke, Bd. 11, S. 217. Grundzüge, GA I, 8, S. 201, vgl. auch S. 198. Kant, Zum ewigen Frieden, Werke, Bd. 11, S. 217. Reden, SW VII, S. 264. Reden, SW VII, S. 264.

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schildert seinen Zuhörern die Situation der Reden an die deutsche Nation als die einer Zeitenwende und teilt damit die allgemeine Stimmung von Krise und Übergang, von einer umfassenden, nicht nur politisch konnotierten Revolution, die unter deutschen Intellektuellen zu Beginn des 19. Jahrhunderts weit verbreitet war. So war es für Hegel „nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist"24, und Novalis sprach von „dem politischen Schauspiel unsrer Zeit" als einem Kampf zwischen alter und neuer Welt25 und davon, daß man in Deutschland „schon mit voller Gewißheit die Spuren einer neuen Welt aufzeigen" 26 könne, einer neuen Geschichte und einer neuen Menschheit. Auch Fichte verspricht seinen Zuhörern, vor ihren Augen ein neues Zeitalter zu enthüllen, „das der Zerstörung des Reichs der Selbstsucht durch fremde Gewalt unmittelbar folgen kann und soll"27, und stellt seine Rede damit auf den Scheitelpunkt einer Zeitenwende, der den Blick zurück auf die alte untergegangene, aber auch den Blick nach vorne auf die neue kommende Welt erlaubt. Schon in den Grundzügen hatte Fichte ja eigentlich mit zwei Modellen von Geschichte operiert und der äußeren funfgliedrigen Epocheneinteilung die innere Struktur von Niedergang und Aufstieg gegeben. Die latente Spannung der eigenen Gegenwart als einer Zeit des allgemeinen Verfalls und der möglichen Wende zum Besseren, die in den Grundzügen eine ganze Epoche charakterisiert hatte, spitzt sich nun, in den Reden an die deutsche Nation, auf die Dramatik von Zerstörung des Alten und unmittelbar bevorstehender Enthüllung des Neuen zu und konzentriert sich damit auf den geschichtlichen Ort und Augenblick des Vortrags. Mit dem Moment des Untergangs tritt deutlich die in dem inneren Dualismus der Grundzüge und ihrer christlichen Rhetorik von Sündhaftigkeit und Heiligung schon angelegte „typische Struktur des apokalyptischen Geschichtsdenkens bei Fichte in Erscheinung"28. Über den scharfen Dualismus von apokalyptischen Texten führt Klaus Vondung aus: „Beherrschend unter den strukturellen und inhaltlichen Merkmalen der Apokalypse ist der scharfe Dualismus, der das Szenarium, die Personen, die Wertungen, die Bilder und Symbole prägt. Der Dualismus, der zwischen der alten und der neuen Welt besteht, ist qualitativ: Die alte Welt ist defizient, voller Elend, Schmerz und Tod, die neue ist vollkommen, eine Welt des Glücks, der Freude und des Lebens. Der Dualismus ist moralisch: Die alte Welt ist verdorben und böse, die neue rein und gut. Der Dualismus bestimmt das Gefüge der Handlung und wirkt sich zeitlich aus: Er konstituiert ein .Vorher' und ein ,Nachher', zwischen dem es keine Ver-

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Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, S. 18. Novalis, Die Christenheit oder Europa, Werke, S. 542. Novalis, Die Christenheit oder Europa, Werke, S. 538. Daß es sich bei diesem Krisenbewußtsein nicht nur um ein deutsches, sondern um ein europaweites Phänomen handelt, zeigen S. u. P. Zimdars-Swartz, Apocalypticism in Modern Western Europe, S. 265 ff. Reden, SW VII, S. 265. Vondung, Apokalypse in Deutschland, S. 99.

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mittlung, sondern nur den radikalen Umschlag der ,Wandlung' gibt, die umfassende Erneuerung durch Vernichtung des Alten."29

Der scharfe apokalyptische Dualismus von alter und neuer Welt spiegelt die Dramatik der Ereignisse und ermöglicht in dieser Ausnahmesituation des gesellschaftlichen und politischen Zusammenbruchs Orientierungen - Orientierungen, die nicht nur moralischnormative Richtlinien bieten, sondern im allgemeinen Durcheinander auch konkrete Gruppen und Parteien im Sinne einer Freund-Feind-Unterscheidung benennen: deutsche Nation und „fremde Gewalt", die mit der neuen verheißungsvollen bzw. der alten verdorbenen Welt assoziiert werden.30 Fichte gibt also die Rolle des neutralen Geschichtsdeuters aus den Grundzügen, an die er anzuschließen vorgibt31, auf und nimmt statt dessen die eines Charismatikers im Weberschen Sinne ein, wie José L. Villacañas sie für Fichte und sein Selbstverständnis als Gelehrter diskutiert hat: Elementar für den Charakter des Charismatikers ist demnach „die persönliche Auserwähltheit" als Folge einer „göttlichen Gnadenwahl", die ihrerseits legitimiert ist durch die „Diagnose der Gegenwart als eines kritischen Moments, von dem das Heil der von Gott geliebten Gemeinde abhängt"32. Auch in den Reden glaubt sich der Charismatiker Fichte im Besitz der absoluten, mithin göttlichen Wahrheit und verkündet seinen Hörern die neue Zeit und die kommende Einheit der Deutschen: „Ich erblicke in dem Geiste, dessen Ausfluss diese Reden sind [...], diese Einheit schon als entstanden, vollendet und gegenwärtig dastehend."33 Ist die nationale Einheit für Fichtes Geist schon real, ist es nur folgerichtig, seine Zuhörer auch pathetisch als Deutsche anzusprechen: „Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus bei Seite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben."34

Der apokalyptische Ton der ersten Rede stimmt sich endgültig zur Prophetie hoch, wenn Fichte die Rolle eines Heilsbringers einnimmt, der „Muth und Hoffnung" 35 bringen will, und den Zuhörern zum Beschluß seiner Rede, die nicht von ungefähr sonntags zur Gottesdienstzeit gehalten wurde, mit verheißungsvollem Pathos offenbart, „die belebenden Düfte der anderen Welt" schon spüren, „freudig heimliche Stimmen der Schwestern" schon hören und „die Morgenröthe der neuen Welt" 36 schon sehen zu

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Vondung, Apokalypse in Deutschland, S. 22, vgl. auch Raguse, Apokalyptische Reinheit, S. 77. Vgl. Stegemann, Sehnsucht nach Reinheit, S. 72 f. Vgl. Reden, SW VII, S. 264, wo Fichte sich als redlichen Geschichtsdeuter vorstellt, der aufgrund der historischen Veränderungen seine Betrachtungen pflichtbewußt wieder aufnimmt. Dazu Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 155 f. Villacañas, Fichte und die charismatische Verklärung der Vernunft, S. 119. Reden, SW VII, S. 267, zu Fichtes Rolle als Prophet vgl. Riedl, Öffentliche Rede in der Zeitenwende, S. 269 f. Reden, SW VII, S. 266. Reden, SW VII, S. 279. Reden, SW VII, S. 279.

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können. Allerdings darf, trotz weiterer apokalyptischer Elemente der ersten Rede37, nicht übersehen werden, daß Fichte der Logik einer apokalyptischen Erzählung nicht bis ans Ende folgt: Statt wie die reinen Apokalyptiker eine transzendente Wirklichkeit zu offenbaren, die sich allein durch göttlichen Eingriff realisiert38, ruft er seine Zuhörer zur Selbsthilfe auf: „Es läßt sich der strenge Beweis führen [...], dass kein Mensch und kein Gott, und keines von allen im Gebiete der Möglichkeit liegenden Ereignissen uns helfen kann, sondern dass allein wir selber uns helfen müssen, falls uns geholfen werden soll."39

Warum nun Fichte mit der Logik seiner apokalyptischen Erzählung bricht, erklärt sich notwendig aus den unterschiedlichen Intentionen, die er in seiner ersten Rede verfolgt. Eine rhetorische Analyse zeigt, wie er die deutsche Einheit erst im „symbolischen Vorstellungsraum der Rede"40 pathetisch vollzieht, bevor er seine Ausführungen dann wieder auf einen sachlicheren Ton herunterstimmen muß, um zur nationalen Selbstbestimmung als politischem Akt auffordern zu können: Im Unterschied zu seinen früheren Vorlesungsreihen spricht Fichte hier nicht über spekulative Dinge, etwa eine apriorische Betrachtung der Weltgeschichte, sondern fokussiert seine Ausführungen zeitlich und räumlich auf die unmittelbare Gegenwart und damit auf einen Gegenstand, der alle Zuhörer direkt betrifft: der Verlust der politischen Selbständigkeit infolge der militärischen Niederlage. Der konkrete Augenblick wird dann mit apokalyptisch-prophetischem Pathos zum Moment einer Zeitenwende und eines radikalen Neuanfangs stilisiert, wodurch die Ereignisse eine grundsätzliche Dramatik bekommen. Ist Fichte von daher die Aufmerksamkeit seines Publikums sicher, kann er dazu übergehen, alle „individuellen Differenzen der Hörer untereinander und des Redners zu den Hörern" durch die explizite Anrede als Deutsche aufzuheben: „Das individuelle Ich-Selbst sieht sich zum nationalen Wir-Selbst erweitert."41 Indem Fichte vorgibt, das Ziel der Geschichte zu kennen, und die mögliche Einheit der Deutschen als eine schon reale vorstellt, nimmt er dem historischen Augenblick seine Offenheit und Vieldeutigkeit. Die scharfen apokalyptischen Dualismen von Vorher und Nachher, Alt und Neu, Gut und Böse bieten Halt und Orientierung, die durch das charismatische Auftreten des Redners als Prophet und göttliches Medium eine zusätzliche Weihe erfahren. Fichte vollzieht so die deutsche Einheit symbolisch-rhetorisch und strebt von da aus dem Höhepunkt seiner na-

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Etwa der Glaube an einen Sinn der Geschichte oder die Entstehung in einer Situation der Verfolgung und Unterdrückung, vgl. zu diesen Elementen der Apokalyptik Eco, Apokalyptiker und Integrierte, S. 16, Stegemann, Sehnsucht nach Reinheit, S. 72, und Vondung, Apokalypse in Deutschland, S. 25 und S. 85. Vgl. dazu Stegemann, Sehnsucht nach Reinheit, S. 67 ff. Reden, SW VII, S. 268. Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 156. Das Folgende stützt sich auf die rhetorische Analyse der ersten Rede von Peter L. Oesterreich, erweitert sie aber um die apokalyptischprophetischen Motive, denen sich Oesterreich nur im Zusammenhang mit den demagogischen Zügen Fichtes widmet. Beide Zitate Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 156.

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tionalen Identitätsstiftung entgegen, wenn er das Publikum „in der Form einer personalen Synekdoche (pars pro toto) zum Repräsentanten der gesamten Nation" 42 macht: „Sie, E. V. [ehrwürdige Versammlung], sind zwar meinem leiblichen Auge die ersten und unmittelbaren Stellvertreter, welche die geliebten Nationalzüge mir vergegenwärtigen [...]; aber mein Geist versammelt den gebildeten Theil der ganzen deutschen Nation, aus allen Ländern, über welche er verbreitet ist, um sich her [...]."43

Nach dieser „völligen Umgestaltung des Selbstbilds und der Grundbefindlichkeit seiner Zuhörer" muß Fichtes Rhetorik aber „eine Umstimmung vom heftigen und besinnungslosen Pathos zum gemäßigten und rationalverträglichen Ethos"44 vornehmen, um der „apokalyptischen Falle" einer bloßen Verheißung und einer Rettung allein durch göttlichen Eingriff zu entgehen. Nur wenn die Reden an die deutsche Nation nach dem pathetischen, aber identitätsstiftenden Vollzug der deutschen Einheit im SymbolischRhetorischen wieder vom Himmel der prophetischen Verheißung auf den Boden des geschichtlichen Augenblicks zurückkehren, können sie die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung auch politisch stellen. An diesem Punkt senkt Fichte den Ton seiner Rede auf jenes rationalverträgliche Ethos und kann von da aus wieder an den Fortschrittsoptimismus des 18. Jahrhunderts und der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters anschließen. Klare Analyse des Untergangs und schonungslose Selbstkritik müssen, wie Fichte weiter ausführt, die ersten Schritte auf dem Weg in das neue Zeitalter sein, denn „das Uebel" ist nur durch Einsicht heilbar.45 Noch in der ersten Rede beginnt er mit diesem Prozeß der Läuterung und stellt den Zuhörern, von denen er jetzt, nach dem apokalyptischen Schauder, Besonnenheit und ruhige Betrachtung erwartet46, seine Analyse des gerade vergangenen Zeitalters vor, die im wesentlichen drei Faktoren für dessen Untergang benennt: „Man wird in Erforschung jenes Grundes [für den Untergang] finden, dass in allen bisherigen Verfassungen die Theilnahme am Ganzen geknüpft war an die Theilnahme des Einzelnen an sich selbst, vermittelst solcher Bande, die irgendwo gänzlich zerrissen, dass es gar keine Theilnahme für das Ganze mehr gab, - durch die Bande der Furcht und Hoffnung für die Angelegenheit des Einzelnen aus dem Schicksale des Ganzen, in einem künftigen und in dem gegenwärtigen Leben. Aufklärung des nur sinnlich berechnenden Verstandes war die Kraft, welche die Verbindung eines zukünftigen Lebens mit dem gegenwärtigen durch Religion aufhob, zugleich auch andere Ergänzungs- und stellvertretende Mittel der sittlichen Denkart, als da sind Liebe zu Ruhm und Nationalehre, als täuschende Trugbilder begriff; die Schwäche der

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Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 157, zur Synekdoche als rhetorischem Mittel zur Erzeugung nationaler Identität vgl. allgemein Wodak et al., Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, S. 95 ff. Reden, SW VII, S. 266. Beide Zitate Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 156 f. Vgl. Reden, SW VII, S. 269, ähnlich auch auf S. 393 und auf S. 447. Vgl. Reden, SW VII, S. 267.

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I. Erste Rede und Vorgeschichte Regierungen war es, welche die Furcht für die Angelegenheiten des Einzelnen aus seinem Betragen gegen das Ganze, selbst für das gegenwärtige Leben, durch häufige Straflosigkeit der Pflichtvergessenheit aufhob, und ebenso auch die Hoffnung unwirksam machte, indem sie dieselbe gar oft, ohne alle Rücksicht auf Verdienste um das Ganze, noch ganz anderen Regeln und Bewegungsgründen befriedigte. Bande solcher Art waren es, die irgendwo gänzlich zerrissen, und durch deren Zerreissung das gemeine Wesen sich auflöste."47

„Keine Theilnahme für das Ganze", „Aufklärung des nur sinnlich berechnenden Verstandes" und „die Schwäche der Regierungen" sind die drei Faktoren, die Fichte für den Untergang der alten Welt verantwortlich macht und die „das gemeine Wesen" auflösten. Vor allem der letzte Punkt, die Schwäche der Regierungen, erweist sich als ein neues Element, während die beiden anderen Punkte die Zeit- und Kulturkritik der Grundzüge aufzugreifen scheinen. Die Einbeziehung der Regierungen ist dabei von entscheidender Bedeutung, ist sie doch für die Wiederaufnahme der Geschichtsbetrachtung verantwortlich. Der Punkt nämlich, an dem das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit seinen Höhepunkt erreicht und damit gleichzeitig sich selbst vernichtet, ist der, an dem es auf die politische Führung übergreift, der Punkt also, an dem „das Uebel" auch Herz und Kopf des Gemeinwesens befällt: „Bis zu ihrem höchsten Grade entwickelt ist die Selbstsucht, wenn, nachdem sie erst mit unbedeutender Ausnahme die Gesammtheit der Regierten ergriffen, sie von diesen aus sich auch der Regierenden bemächtigt und deren alleiniger Lebenstrieb wird."48

Mit der Unterscheidung von Regierten und Regierenden führt Fichte eine Differenzierung ein, die es in den Grundzügen, wo ja nur nach Zeitaltern und repräsentativen Kulturen unterschieden wurde, so nicht gegeben hatte - und auch gar nicht geben konnte, da alles Realgeschichtliche und Empirische außerhalb seiner Betrachtungen lag, die immer „der Sphäre des idealisirten Gemäldes" 49 verhaftet blieben. Seine Einteilung der Weltgeschichte in fünf Zeitalter war ganz dem Bedürfnis geschuldet, Geschichte unter einem apriorischen Einheitsbegriff zu fassen, und verriet damit, wie alles schematologische Denken, ein nur oberflächliches Interesse an den Geschehnissen und deren Akteuren selbst. Konkrete geschichtliche Ereignisse „gehen aus dem Begriffe jenes Welt=Planes keinesweges hervor; sie sind das in ihm unbegriffene" hatte Fichte in den Grundzügen erklärt und in diesem Unbegriffenen „die reine Empirie der Ge-

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Reden, SW VII, S. 272 f. Vor allem diese Stelle war es übrigens, die Fichte Probleme mit der preußischen Zensurbehörde bereitete und die ihn zwang, seinen vorgetragenen Text für den Druck etwas zu glätten. Folgt man Max Lehmann, so stand für „die Regierungen" ursprünglich „die Regierung", und der letzte zitierte Satz lautete im Vortrag: „Diese Bande also waren es, durch deren Zerreißung der Staat zu Grunde ging", vgl. Lehmann, Fichtes Reden vor der preußischen Zensur, S. 503 f. Auf die Zensur der Reden an die deutsche Nation wird weiter unten ausführlicher eingegangen, siehe unten S. 57 f. Reden, SW VII, S. 270. Grundzüge, GA I, 8, S. 203; zum rein empirischen Charakter der Geschichte vgl. ebd., S. 301: „die Geschichte ist bloße Empirie: nur Fakta hat sie zu liefern, und alle ihre Beweise können nur faktisch geführt werden."

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schichte, ihr a posteriori; die eigentliche Geschichte in ihrer Form"50 erkannt. Über diese Arbeitsteilung zwischen der apriorischen Geschichtsbetrachtung des Philosophen und der empirischen Erkenntnis des Historikers hatte er sich schon in seinen früheren geschichtsphilosophischen Versuchen Gedanken gemacht und in einer längeren Passage aus den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten von 1794 dazu ausgeführt: „[...] es ist demnach nicht bloß darum zu thun, überhaupt zu wissen, welche Anlagen der Mensch an sich habe, und durch welche Mittel überhaupt man dieselben entwickeln könne; eine solche Kenntniß würde noch immer gänzlich unfruchtbar bleiben. Sie muß noch einen Schritt weiter gehen, um den erwünschten Nutzen wirklich zu gewähren. Man muß wissen, auf welcher bestimmten Stufe der Kultur diejenige Gesellschaft, deren Mitglied man ist, in einem bestimmten Zeitpunkte stehe, - welche bestimmte Stufe sie von dieser aus zu ersteigen und welcher Mittel sie sich dafür zu bedienen habe. Nun kann man allerdings aus Vernunftgründen, unter Voraussetzung einer Erfahrung überhaupt, vor aller bestimmten Erfahrung vorher, den Gang des Menschengeschlechts berechnen; man kann die einzelnen Stufen ohngetahr angeben, über welche es schreiten muß, um bei einem bestimmten Grade der Bildung anzulangen; aber die Stufe angeben, auf welcher es in einem bestimmten Zeitpunkte wirklich stehe, das kann man schlechterdings nicht aus bloßen Vernunftgründen; darüber muß man die Erfahrung befragen; man muß die Begebenheiten der Vorwelt - aber mit einem durch Philosophie geläuterten Blicke - erforschen; man muß seine Augen rund um sich herum richten, und seine Zeitgenossen beobachten. Dieser lezte Theil der für die Gesellschaft nothwendigen Kenntniß ist demnach blos historisch."51

Auch hier wurde schon das Geschäft des Historikers mit dem Begriff der „Erfahrung" charakterisiert und das des Philosophen mit den „Vernunftgründen", und es wurde betont, man müsse wissen, „auf welcher bestimmten Stufe der Kultur diejenige Gesellschaft, deren Mitglied man ist, in einem bestimmten Zeitpunkte stehe, - welche bestimmte Stufe sie von dieser aus zu ersteigen und welcher Mittel sie sich dafür zu bedienen habe". Eine genauere Beschreibung seines Vorhabens in den Reden hätte Fichte dort auch nicht geben können: zunächst muß er als Historiker die Kulturstufe der eigenen Gegenwart mit empirischen Mitteln - „seine Augen rund um sich herum richten, und seine Zeitgenossen beobachten" - bestimmen und sonach als Philosoph, der ja „den Gang des Menschengeschlechts berechnen" kann, die Mittel angeben, um die nächste Entwicklungsstufe zu erreichen. Tatsächlich rühmt sich Fichte ganz zu Beginn der ersten Rede auch damit, die neue Welt schon zu kennen und über „die Mittel ihrer Erzeugung"52 zu verfügen, stellt aber vor die Enthüllung des neuen Zeitalters die Aufarbeitung des untergegangenen. Schon die erste Rede macht deutlich: Der Anschluß an die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters ist alles andere als glatt und nahtlos. Die politischen Veränderungen, die zwischen den beiden Vortragsreihen liegen, haben weitreichende

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Grundzüge, GAI, 8, S. 304, vgl. auch S. 196 f. Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 53. Reden, SW VII, S. 265.

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Folgen auf Gegenstand und Methode der wiederaufgenommenen Geschichtsbetrachtung: Fichte konzentriert seine Ausführungen nun auf den unmittelbaren Augenblick seines Vortrage und damit auf die Deutschen als denjenigen, an denen sich der geschichtliche Wandel vollzieht. Mit der Verengung seines Blicks auf die Deutschen und ihre politische Gegenwart ist die Veränderung seines analytischen Instrumentariums verbunden. Zur geforderten klaren Analyse des Untergangs und zur schonungslosen Selbstkritik muß Fichte sich nämlich der Mittel des Historikers, Erfahrung und Beobachtung, bedienen und dazu mit dem apriorischen und vernunfttheoretischen Geschichtsverständnis der Grundzüge brechen, wie er selbst klarstellt: „[...] und die Betrachtung fällt sodann aus dem Gebiete der Sittenlehre in das der Geschichte, für welche die Freiheit vorüber ist und die das Geschehene als nothwendigen Erfolg aus dem Vorhergegangenen ansieht. Es bleibt für unsere Reden keine andere Ansicht der Gegenwart übrig, als diese letzte, und wir werden darum niemals eine andere nehmen."53

Die Reden an die deutsche Nation fallen also in das Gebiet der Geschichte, die sie als Kausalität von empirischen Ereignissen verstehen. Wenn das Geschehene notwendig aus dem Vorhergehenden erfolgt, tut es not, diese Ereigniskette, die bis in die Gegenwart von Fichtes Vortrag reicht, in ihre Einzelteile zu zerlegen und die „Riesenschritte"54, die die Zeit in den letzten drei Jahren gegangen ist, nochmals im Gänsemarsch abzugehen, um die Veränderungen und Korrekturen in Fichtes bisherigem Weltbild und die politischen Konsequenzen, die er daraus zieht, erfassen zu können.

2.1. Die Schwäche der Regierungen Die Dramatik der Ereignisse, die Fichte apokalyptisch zum Moment des Übergangs zweier Weltzeitalter zuspitzt, macht es also notwendig, das dem philosophischen Auge Unbestimmbare in den Blick zu nehmen und die genaue Analyse der eigenen Gegenwart mit den Mitteln des Historikers zu versuchen. Bislang hatte Fichte die politischen Ereignisse dadurch beschrieben, daß die Selbstsucht, als Charakteristikum des dritten Zeitalters, ihren Höhe- und zugleich auch Endpunkt mit dem Übergreifen auf die Regierungen erreicht hat. Was das aber heißen soll, erläutert er nun so: „Es entsteht einer solchen Regierung zuvörderst nach aussen die Vernachlässigimg aller Bande, durch welche ihre eigene Sicherheit an die Sicherheit anderer Staaten geknüpft ist, das Aufgeben des Ganzen, dessen Glied sie ist, lediglich darum, damit sie nicht aus ihrer trägen Ruhe aufgestört werde, und die traurige Täuschung der Selbstsucht, dass sie Frieden habe, so lange nur die eigenen Grenzen nicht angegriffen sind f...]."55

Was Fichte hier - die Schere der preußischen Zensur im Hinterkopf - in unscharfen Sätzen unternimmt, ist nicht weniger als eine Erklärung des politischen Niedergangs 53 54 55

Reden, SW VII, S. 269. Reden, SW VII, S. 264. Reden, SW VII, S. 270.

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der deutschen Staaten, besonders des preußischen, in den Kriegen mit Frankreich.56 Die Vernachlässigung der „Sicherheitsbanden" mit anderen Staaten zielt gegen den politischen Partikularismus, der seit dem Basler Friedensvertrag vom April 1795 die Politik der deutschen Groß- und Mittelmächte bestimmt hatte. Preußen schloß damals einen Sonderfrieden mit Frankreich und schied aus der ersten Koalition gegen Napoleon aus, um bei den zu erwartenden Teilungen Polens freie Hand zu haben.57 Schon Kant hatte sich in seiner Schrift Zum ewigen Frieden ablehnend mit dieser Politik auseinandergesetzt, an deren Aufrichtigkeit er zweifelte: „Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden." 58 Fichtes Kritik richtet sich nun weniger gegen den geheimen Vorbehalt eines künftigen Kriegs im Osten, als vielmehr gegen den preußischen Alleingang, die Verletzung der Reichseinheit, die Aufgabe der linksrheinischen Gebiete und den Abschluß eines Sonderfriedens, während Österreich, die andere deutsche Führungsmacht, im Krieg verblieb.59 In der Tat hat die preußische Politik in Basel das Verhältnis zu den anderen deutschen Staaten schwer belastet, und „die in dieser scharfen Form bisher nicht hervorgetretene Spaltung des Reiches verstärkte die deutsche Zwietracht"60. Diese „deutsche Zwietracht" sollte sich im weiteren Verlauf der napoleonischen Kriege noch weiter verschärfen, etwa als Preußen auch der dritten Koalition gegen Frankreich fernblieb, weil es auf den Erwerb Hannovers als Gegenleistung für sein Stillhalten hoffte, oder als die 16 Rheinbundstaaten im Juli 1806 ihren Austritt aus dem Reichsverband erklärten und sich dem Protektorat Napoleons unterstellten und schließlich als Franz II. am 6. August 1806 in Wien die Kaiserkrone niederlegte. Genau dieses eigensinnige, vom Standpunkt der Reichsverfassung aus gesehen, unentschuldbare Verhalten Preußens, Österreichs und der Rheinbundstaaten61 hat Fichte im Auge, wenn er in den

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Vgl. Lauth, Der letzte Grund von Fichtes Reden, S. 203 ff. Vgl. Braubach, Von der Französischen Revolution zum Wiener Kongreß, S. 34. Kant, Zum ewigen Frieden, Werke, Bd. 11, S. 196. Zwei Jahre später, im Frieden von Campo Formio, Schloß dann Österreich einen Seperatfrieden mit Frankreich und hatte damit seinerseits „das Prinzip der Integrität des Reiches preisgegeben und moralisch mit Preußen mehr oder minder gleichgezogen", Winkler, Der lange Weg nach Westen, S. 48 f., vgl. auch Press, Altes Reich und Deutscher Bund, S. 12. Braubach, Von der Französischen Revolution zum Wiener Kongreß, S. 38. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 66, und Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 330 f. Insgesamt wird die preußische Politik jener Jahre, auch wenn sie eine kulturelle Blüte sondergleichen ermöglichte, von der Forschung durchgehend negativ gesehen. Thomas Nipperdey urteilt: „Preußen hatte in der 10jährigen Neutralität von 1795 bis 1805 zwar territoriale Gewinne gemacht, aber an Macht und Handlungsfähigkeit entscheidend verloren. [...] aus einem potentiellen Gegner war es zum kleinlauten Bundesgenossen, ja Komplizen des Imperators geworden [...]", Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 14 f.; Elisabeth Fehrenbach schreibt: „Die Schaukelpolitik Friedrich Wilhelms III. [...] trug allerdings ihrerseits dazu bei, das Ansehen Preußens zu kompromittieren", Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, S. 49,

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Reden an die deutsche Nation von „Selbstsucht" und dem „Aufgeben des Ganzen" spricht. Von seinem Sohn ist die Anekdote überliefert, daß er auf einer Berliner Abendgesellschaft, in deren Verlauf man die Gläser auf die österreichische Niederlage bei Austerlitz klingen ließ, „empört mit gehobener Stimme" in diese Schadenfreude fuhr und ausrief: „Es wird kein Jahr vergehen, so wird man diese Niederlage höchlich bedauern!"62 In den Reden an die deutsche Nation wird Fichte auf dieses Verhalten Bezug nehmen, wenn er über die „traurige Täuschung der Selbstsucht, dass sie Frieden habe, so lange nur die eigenen Grenzen nicht angegriffen sind", spricht. Dokument von Fichtes früher Partikularismuskritik sind die beiden Gespräche über den Patriotismus von 1806 und 1807, die unter dem Titel Der Patriotismus, und sein Gegentheil aus dem Nachlaß veröffentlicht wurden. Die beiden Dialoge, „qui sont la vraie préface des Discours à la nation allemande"63, sind als fiktive Gespräche zwischen einem Philosophen, der deutlich Fichtes Züge trägt, und einem preußischen Patrioten gestaltet. Im ersten Gespräch vom Juli 1806, also noch vor dem preußisch-französischen Krieg, bezieht sich Fichte auf eine Reihe von Artikeln, die in dem Journal Berlin oder der Preußische Hausfreund. Eine patriotische Zeitschrift für gebildete Leser jedes Standes erschienen waren - einem Blatt, das als durchaus prototypisch für den preußischen Patriotismus gelten darf.64 Der Partikularismus, gegen den Fichte hier anschreibt, hatte sich im 18. Jahrhundert als Haltung des entstehenden Bildungsbürgertums vor allem in den norddeutschen protestantischen Staaten und am deutlichsten in Preußen gebildet.65 Die neue Modernisierungselite der Juristen, Professoren, Pastoren und Verwaltungsbeamten nahm schon aufgrund ihrer Genese eine staatsnahe Position ein und orientierte sich politisch am Ideal des aufgeklärten Absolutismus, sprengte aber gleichzeitig in ihrer Modernität das traditionelle ständisch-korporative Gesellschafitsgefüge. Bildung und Wissen, nicht Geburt und Herkunft, hatten die Bürger für ihre Ämter qualifiziert. Diese Lösung von ständischen Rücksichten ließ zusammen mit der lokalen Entwurzelung infolge der häufigen Versetzungen von Beamten und dem hohen Anteil von Immigranten, in Preußen vor allem Hugenotten, den Wunsch nach einer kollektiven bürgerlichen Identität entstehen. Mit der Gründung von Vereinen, Lesegesellschaften und Zeitschriften, wie dem Preußischen Hausfreund, schuf sich das Bildungsbürgertum Organe, in denen mit dem Patriotismus ein spezifischer Integrationscode formuliert wurde: Kosmopolitis-

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und Karl Otmar von Aretin spricht gar von einem „Satyrspiel politischer Torheiten", Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund, S. 103. Zit. nach Fichte im Gespräch, Bd. 6/2, S. 663. Philonenko, Le problème de la guerre et le machiavélisme chez Fichte, S. 51. Zur zeitgenössischen Landschaft der Berliner Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren vgl. Geiger, Berlin, S. 215 ff., zum Hausfreund besonders S. 221 ff. Vgl. zum folgenden: Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, Vierhaus, Patriotismus, Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 51 ff., Giesen u. Junge, Vom Patriotismus zum Nationalismus, Giesen, Junge u. Kritschgau, Vom Patriotismus zum völkischen Denken, Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit, und Sheehan, Der Ausklang des alten Reiches, S. 130 ff.

Die erste Rede vom 13. Dezember 1807

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mus und Humanismus als die aufgeklärten, Leistungsbereitschaft und Zweckrationalität als die beruflichen Ideale des Bürgers wurden mit seinem Verlangen nach kollektiver Identität in der „Vaterlandsliebe" und der Vorstellung vom Dienst am Staat sublimiert.66 Zusammen mit der protestantisch-pietistischen Begeisterung erhielt der Patriotismus dann jene moralische, fast schon missionarische Emphase 67 , gegen die Fichte in seinem Gespräch über den Patriotismus so heftig polemisiert. „Ein guter Patriot muß nur loben, und immer loben, und alles ausschließend also, wie es bei ihm ist, loben" 68 läßt er sein Gegenüber sagen und erkennt in dieser Haltung, die er als Lobhudelei und Buhlen um die Gunst des preußischen Hofs brandmarkt, den „höchstverderblichen Effekt" 69 des Patriotismus. Als „Ausgeburt der Lüge, und der ungeschikten Schmeichelei"70 verurteilt Fichte den Patriotismus zum einen, weil er die Gefahr in sich birgt, daß die Regierung sich infolge des unkritischen Beifalls „zur Ruhe sezte, und das Streben nach dem Vollkommneren aufgäbe" 71 , und zum anderen, weil die enge Bindung der Bürger an ihren jeweiligen Staat eine Differenz zwischen Staat und Nation behauptet, die es aufgrund der Gemeinsamkeit von Sprache und Nationalcharakter aller Deutschen gar nicht geben könne: „Die Absonderung des Preußen von den übrigen Deutschen ist künstlich, gegründet auf willkührliche, und durch das Ohngefahr zu Stande gebrachte Einrichtungen; die Absonderung des Deutschen von den übrigen Europäischen Nationen ist begründet durch die Natur. Durch gemeinschaftliche Sprache, und gemeinsamen NationalCharakter, welche die Deutschen gegenseitig vereinigen, sind diese von jenen getrennt."72

Tatsächlich bildet der Patriotismus, wie er im 18. Jahrhundert entstand, in seiner Nähe zum Rationalismus und Universalismus der Aufklärung, in seiner Staatszentrierung, Friedfertigkeit und Nachbarschaft zum bürgerlichen Liberalismus trotz vieler Gemeinsamkeiten doch eher einen Gegenentwurf als eine Frühform des Nationalismus, wie er sich im 19. Jahrhundert entwickeln sollte.73 Ohne sich systematisch mit diesen Unterschieden von „Spartanismus" und „Atticismus", wie Fichte an anderer Stelle den „dumpfen" staatlichen und den „klaren" nationalen Patriotismus bezeichnete 74 , zu be66 67

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Vgl. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, S. 123. Vgl. dazu Vierhaus, Patriotismus, S. 97, und Giesen u. Junge, Vom Patriotismus zum Nationalismus, S. 273. Patriotismus, GA II, 9, S. 397. Patriotismus, GA II, 9, S. 398, vgl. auch S. 393. Patriotismus, GA II, 9, S. 404. Patriotismus, GA II, 9, S. 398. Patriotismus, GA II, 9, S. 403. Vgl. Vierhaus, Patriotismus, S. 108, Alter, Nationalismus, S. 12, Kohn, Idee des Nationalismus, S. 610, Winkler, Der lange Weg nach Westen, S. 46 f., Hoffmann, Das deutsche Volk, S. 84, Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 302 ff., und Echtemkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 50 ff. In seinem Reformplan für die Universität Erlangen von 1805/06 beschäftigt sich Fichte auch mit dem „kräftigen Zusammenleben von Jünglingen aus allen besondern Staaten des deutschen Vaterlandes" und führt dazu aus: „so tritt an die Stelle des dumpfen und unbeholfenen Patriotismus

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I. Erste Rede und Vorgeschichte

schäftigen, verurteilt er die Träger des preußischen Patriotismus, die Beamten und Bürger, deswegen so scharf, weil er in dem politischen und publizistischen Einfluß, über den sie verfügen, einen der Punkte erkennt, an dem Eigensinn und Selbstsucht von den Regierenden auf die Regierungen überzugreifen beginnen. Wie richtig er mit seiner Verurteilung dieses Übergriffs der Selbstsucht auf die Regierenden lag - darin sollte sich Fichte mit den Ereignissen des kommenden preußisch-französischen Kriegs, an dem er regen Anteil nahm, bestätigt fühlen.

3. „Preuße nur aus Noth" - Fichte als Kriegsbeobachter Im August 1806 gab die preußische Regierung ihre langjährige Neutralitätspolitik auf und ordnete die Mobilmachung an, der am 1. Oktober ein Ultimatum an die französische Führung folgte, ihre Truppen hinter den Rhein zurückzuziehen - was nicht geschah, so daß am 9. Oktober 1806 der Krieg zwischen Preußen und Frankreich ausbrach. Fichte erlebte den Kriegsausbruch in Berlin. Er war von seinen Verpflichtungen an der Universität Erlangen, wo er seit 1805 eine Professur für Philosophie innehatte, freigestellt worden, um Pläne für eine Reform dieser Universität auszuarbeiten.75 Mit Kriegsausbruch war an eine Rückkehr nach Erlangen nicht mehr zu denken, und Fichte bot schon kurz nach Bekanntwerden der Mobilmachung dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. an, als Feldprediger mit in den Krieg zu ziehen, um die Moral der Truppen zu stärken.76 Auch wenn dieses Angebot vom Kabinettsrat Beyme im

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(Spartanismus könnte man es nennen) der sich selbst klare Patriotismus, welcher mit Weltbürgersinn, und deutschem NationalSinne sich sehr wohl vereinigen läßt, und in jedem kräftigen Menschen sich nothwendig damit vereiniget, (Atticismus könnte man ihn nennen) [...]", Ideen für die Universität Erlangen, GA II, 9, S. 366. Fichte hatte im Sommer 1805 interimistisch eine Lehrstelle für Philosophie an der Universität Erlangen, das damals zu Preußen gehörte, erhalten mit der Erlaubnis, im Winter nach Berlin zurückzukehren. Ab 1806 bekam er dann eine bleibende Anstellung in Erlangen, von der er aber zur Ausarbeitung von Plänen zur Reform dieser Universität im Sommersemester freigestellt wurde. Die Reformpläne Fichtes finden sich unter dem Titel Ideen fiir die innere Organisation der Universität Erlangen in seinem Nachlaß, abgedruckt in GA II, 9, S. 359-380. Der Brief Fichtes an Friedrich Wilhelm III. blieb nicht erhalten; Johanne Fichte berichtet aber in ihrer Lebensbeschreibung Fichtes über sein Angebot: „Eh die preußische Armee ausmarschirte, both er sich an als Feldprediger mitzugehn, es wurde ihm aber höhren Ort's auf eine sehr freundliche Weise abgeschlagen, mit der Anmerkung, daß man seinen guten Willen anerkenne", zit. nach Fichte im Gespräch, Bd. 3, S. 439, vgl. zu Fichtes Feldpredigerplan auch Münkler, Fichte als Philosoph des Krieges, S. 246 f. In diesen Zusammenhang gehört auch der Brief, den Frau Fichte an den Historiker Johannes von Müller, der wie sie aus der Schweiz stammte, im Auftrag ihres Mannes schickte, um dessen Bereitschaft zu gemeinsamen Projekten „in gedachter Sache", also eventueller publizistischer Agitation, zu erkunden, vgl. den Brief vom 27. August 1806, GA III, 5, S. 363.

Preuße nur aus Noth " - Fichte als Kriegsbeobachter

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Namen des Königs dankend abgelehnt wurde77 und Fichte in Berlin bleiben mußte, vermittelt doch die kleine nachgelassene Schrift Anwendung der Beredsamkeit jur den gegenwärtigen Krieg einen ersten Eindruck von Fichtes Vertrauen auf die Kraft einer politischen Rede, von der er erwartet, daß sie „im Kriege die Heere zum Siege begeistert"78. Er sah sich als einen weltlichen Staatsredner, „um welchen herum, gewiße Tage, etwa des Sonntags, die Besten zu ernstlicher, und feyerlicher Betrachtung über ihre nächste große Bestimmung sich versammelten", und bot der Regierung darüber hinaus auch an, „ein Manifest zu liefern [...], was laut, und unzweideutig den Zwek des Krieges ausspreche"79. Im Rahmen dieser Bemühungen Fichtes um Einbindung in das Kriegsgeschehen steht auch ein Brief an den preußischen Etats-, Kriegs- und Kabinettsminister Hardenberg, in dem er den Minister an seine Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters erinnert. Er möchte Hardenberg über das Vorurteil, „daß die Gelehrten, u. vollends die Philosophen von Welthändeln nichts verstehen"80, aufklären und legt ihm besonders die vierzehnte Vorlesung seiner Grundzüge ans Herz. Vermutlich spielt Fichte hier auf jene Passage an, wo er sich mit dem Gleichgewicht der Kräfte in Europa beschäftigt und dem Staat zur „Vergrößerung seiner innern Kraft" empfohlen hatte, „den gesammten Ueberschuß aller Kräfte seiner Staatsbürger ohne Ausnahme für seine Zwecke zu verwenden" 81 . Ganz in diesem Sinn bietet Fichte in einem weiteren Brief an Hardenberg vom 18. Oktober 1806 abermals seine Dienste an und bittet - erneut vergeblich darum, „im Kampfe mit den Waffen, die ich zu führen gelernt habe"82, seinen Mut unter Beweis stellen zu dürfen. Spätestens hier drängt sich die Frage auf, ob Fichte mit seinen Eingaben an die preußische Regierung nicht genau das Verhalten praktiziert, das er zuvor an den Patrioten so heftig kritisiert hatte. Sind denn seine Angebote und Hinweise nicht auch ein Buhlen um die Gunst des Hofs und ein versuchtes Einmischen in die Staatsgeschäfte? In dem zweiten Gespräch über den Patriotismus, und sein Gegentheil vom Juni 1807 gibt Fichte gleich zu Beginn eine Antwort auf diese Fragen, wenn er auf das frühere Gespräch Bezug nimmt und erklärt, daß seine damaligen Ausführungen „allerdings den Staat in tiefem Frieden"83 voraussetzten. Ganz anders aber stelle sich die Situation dar, wenn der Krieg „alle Fortentwiklung des bürgerlichen Lebens" 84 gefährdet: 77 78 79

Vgl. den Brief Beymes an Fichte vom 20. September 1806, GA III, 5, S. 367. Anwendung der Beredsamkeit, GA II, 10, S. 71. Anwendung der Beredsamkeit, GA II, 10, S. 73, vgl. auch den Entwurf Der wißenschaftliche deutsche Bürger - , Reden an die deutschen Krieger zu Anfange des Feldzugs 1806, ebd., S. 7981.

80 81 82 83 84

Briefentwurf an Hardenberg, August/September 1806, GA III, 5, S. 365. Grundzüge, GA I, 8, S. 361. Brief an Hardenberg, 18. Oktober 1806, GA III, 5, S. 371. Patriotismus, GAU, 9, S. 419. Patriotismus, GA II, 9, S. 420.

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I. Erste Rede und Vorgeschichte „Dann kommt der ganze Staat in eine revolutionäre Spannung, und der Bürger muß mehr thun, als von ihm gefordert ist, und als von ihm innerhalb der bloßen Sphäre des Rechtbegriffes gefordert werden kann. Jezt tritt tätiger Patriotismus, freie Aufopferung, und Heldensinn an die Stelle des vorher allein erlaubten ordnungsgemäßen Gehorsams. [...] das Leben, das vorher für alle bürgerlichen Zweke, so lang es seyn könnte, erhalten werden sollte, werde jezt der Gefahr entgegengestellt, denn der Staat ist nicht in seiner natürlichen Lage, sondern er ist in Noth [,..]."85

Mit dieser Unterscheidung von Friedens- und Kriegszustand, von denen der erste nur „ordnungsgemäßen Gehorsam" verlangt, der zweite dagegen „Aufopferung und Heldensinn", legitimiert Fichte nicht nur sein eigenes Verhalten, sondern verlangt zugleich von allen Bürgern eine gesteigerte Opferbereitschaft. Doch sein Gesprächspartner, der preußische Patriot, läßt nicht locker und möchte spitzfindig, fast schon triumphierend wissen, wie es denn nun mit Fichtes Verhältnis zum preußischen Staat aussehe: „Heute sind Sie doch gewiß nur Preuße, und wünschen gewiß nur diesem Staate, und seinen Alliirten Glük, und Sieg?" Worauf ihm Fichte offen antwortet: „Auch dies lediglich aus Noth, weil die übrigen deutschen Stämme gezwungen scheinen ihrer Deutschheit zu vergeßen, und die Vertheidigung der deutschen Unabhängigkeit aufzugeben." 86 Sein notgedrungenes Preußentum und das von allen eingeforderte Pflichtbewußtsein demonstrierte Fichte auch, als nur wenige Tage nach Kriegsbeginn die preußische Armee bei Jena und Auerstedt geschlagen war und der Einmarsch der napoleonischen Truppen in Berlin unmittelbar bevorstand. Während schon die Vorbereitungen getroffen wurden, den Regierungssitz nach Königsberg zu verlegen, schrieb Fichte den erwähnten Brief an Hardenberg, um seine Dienste als Feldprediger anzubieten. Er möchte den Minister darüber hinaus auch „zum Zeugen meiner Bewegungsgründe" machen und ihm die Motive für seine Entscheidung, der Regierung nach Königsberg zu folgen, mitteilen: „Unter diesen Umständen hielt ich es nicht nur für erlaubt, sondern sogar für Pflicht, mich in das Innere der Monarchie, wo ich für meinen ersten litterarischen Zwek Stille, und für den zweiten Sicherheit fände, zurükzuziehen."87

Fichte verbindet also sein persönliches Schicksal mit dem des Staats und flieht aus Pflichtbewußtsein in das „Innere der Monarchie", wo er Stille für seine philosophischen und Sicherheit für seine politischen Arbeiten zu finden hofft. Ein Leben im französisch besetzten Berlin hätte für ihn, der „über diese politischen Angelegenheiten"88 zu schreiben plant, nicht nur unter den zu erwartenden Zensurbedingungen eine erhebliche Einschränkung seiner Arbeit bedeutet, sondern wäre auch gefahrlich gewesen (der Fall des Nürnberger Buchhändlers Palm, der wegen Verbreitung der Schrift Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung von einem französischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt 85 86 87 88

Patriotismus, GA II, 9, S. 420. Patriotismus, GA II, 9, S. 421. Brief an Hardenberg, 18. Oktober 1806, GA III, 5, S. 371. Wiederholte ernstl. Deliberation über meine Lage, GA II, 10, S. 91.

Preuße nur aus Noth " - Fichte als Kriegsbeobachter

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und erschossen wurde, lag erst wenige Wochen zurück). Die auf der Flucht in Stargard entstandene Aufzeichnung Wiederholte ernstl. Deliberation über meine Lage läßt nachvollziehen, wie schwer Fichte, der seine Familie in Berlin zurücklassen mußte, diese Entscheidung gefallen ist, dokumentiert aber auch, daß letztendlich seine Hoffnung auf eine Professur in Königsberg, vor allem aber sein Verlangen nach „litterarischer Wirksamkeit"89 und der vita activa ihn die strapaziöse Reise auf sich nehmen ließen: „Ich habe meine Entschiedenheit für das Leben, die in meinem Innern nie zweideutig war, nun auch äußerlich realisirt."90 In Königsberg angekommen, wird Fichte auch gleich aktiv in das politische Leben eingebunden und mit der Zensur der eingesessenen Zeitung beauftragt, damit die Nachrichten „nicht in einem verführerischen den Patriotismus niederschlagenden Tone erzählt"91 würden. Im Winter hält er dann Vorlesungen über seine Wissenschaftslehre, die jedoch auf eher geringes Interesse stoßen.92 Zunehmend rückt aber in jenen Monaten sein Wunsch, literarische Wirkung zu erzielen, in den Mittelpunkt seiner Bemühungen, und er verfaßt einige kleinere politische Arbeiten wie das zweite Gespräch über den Patriotismus. Fichte sieht nun endlich die Gelegenheit gekommen, den Krieg mit den Waffen aufzunehmen, die er zu führen gelernt hat, und erkennt in der neu gegründeten Zeitschrift Vesta. Für Freunde der Wissenschaft und Kunst eine willkommene Gelegenheit hierfür. Die Vesta, die schon nach kurzer Zeit wieder verboten wurde, wurde von Ferdinand Freiherr von Schrötter und Max von Schenkendorf in Königsberg herausgegeben und von Fichte mit einigen Beiträgen unterstützt. In seinem Entwurf zu einem Prolog für die neue Zeitschrift, der wahrscheinlich im April 1807 entstand, spricht Fichte von der Absicht, gewaltig ins Rad der Zeit einzugreifen93, und umreißt seine Vorstellung vom Programm der Vesta mit den Versen: „Wer für den Staat auch nicht die Waffen trägt / Der ist durch seine Bürgerpflicht bewegt / Daß er ableite des Volkes Aufmerksamkeit / Von dem die Kriege begleitenden Leid."94

89 90 91

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94

Vgl. Wiederholte ernstl. Deliberation über meine Lage, GA II, 10, S. 92. Brief an seine Frau vom Dezember 1806, GA III, 6, S. 19. Friedrich Wilhelm III. an Karl Wilhelm v. Schrötter am 19. Dezember 1806, Fichte im Gespräch, Bd. 4, S. 6. Fichte gab das Amt des Zensors Ende Februar 1807 wieder ab; dazu sein Brief an Altenstein vom 6. Juni 1807, GA III, 6, S. 127 ff. „Für meine Philosophie ist man an den Küsten der Ostsee nicht reif', schrieb Fichte an seine Frau in Berlin, Brief vom 20.-28. Mai 1807, GA III, 6, S. 96. „Wir wollen für hohen Zwek entbrennen / Eingreifen gewaltig ins Rad der Zeit", Prolog zur Vesta, GA II, 10, S. 284; Fichtes Prolog blieb übrigens unveröffentlicht. Prolog zur Vesta, GA II, 10, S. 284.

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I. Erste Rede und

Vorgeschichte

3.1. „Wir kamen eben vorbei, und gewannen die Erscheinung lieb" - der Machiavelli-Aufsatz In der ersten Ausgabe der Vesta v o m Juni 1807 erschien auch Fichtes Aufsatz Machiavell,

als Schriftsteller,

und Stellen

aus seinen

Schriften,

Ueber

der aus seinen Ita-

lienisch-Übungen hervorging, die er wahrscheinlich schon im Sommer 1806 in Berlin aufgenommen hatte. „Wir kamen eben vorbei, und gewannen die Erscheinung lieb" 95 so beschreibt Fichte selbst seine zunächst w o h l eher beiläufige Beschäftigung mit Machiavelli, die sich dann aber vor dem Hintergrund des preußisch-französischen Kriegs sehr schnell zu einer tiefgehenden politischen R e f l e x i o n entwickeln sollte. 9 6 A n diesem Aufsatz, der ausgewählte Passagen aus Machiavellis II Principe und

kommentiert,

läßt

sich

nicht

nur

verfolgen,

„comment

Fichte

vorstellt renonçait

définitivement à la philosophie politique de l'Aufklärung et s'écartait de Kant" 97 , es läßt sich auch verfolgen, w i e er sich hier v o n der apriorischen Geschichtsphilosophie der eigenen Grundzüge

entfernt und der Fall der Reden an die deutsche Nation aus „dem

Gebiete der Sittenlehre in das der Geschichte" vorbereitet wird. „Machiavell ruht ganz auf dem wirklichen Leben" 98 schreibt Fichte zu Beginn seines Aufsatzes und meint

Machiavelli, GA I, 9, S. 224; im Rahmen dieser Studien, die Fichte bei Johann August Zeune aufgenommen hatte, beschäftigte er sich auch gründlich mit Machiavelli und benutzte dazu die achtbändige Ausgabe der Opere di Niccolò Machiavelli von 1796-1799; die nachgelassenen RealBemerkungen bei Machiavell (GA II, 10, S. 305-369) dokumentieren die umfangreichen Notizen und Exzerpte Fichtes, aus dessen Italienisch-Studien übrigens auch eine Dante-Übersetzung hervorging, die unter dem Titel Dantes irdisches Paradies ebenfalls in der Vesta erschienen ist (abgedruckt in GA I, 9, S. 281-286). Dem Machiavelli-Aufsatz wurde vor allem von der älteren Forschung große Beachtung geschenkt, so erkannte Hans Freyer den „umwandelnden und aufschließenden Wert" Machiavellis für Fichte und für Friedrich Meinecke war die Machiavelli-Lektüre Fichtes gar „einer der denkwürdigsten und seelisch bewegendsten Vorgänge aus der Geschichte der Idee der Staatsräson", vgl. Freyer, Über Fichtes Machiavelli-Aufsatz, S. 136 f., und Meinecke, Idee der Staatsräson, S. 436. In der neueren Forschung dagegen wird der Aufsatz kaum beachtet: Bernard Willms lobt zwar die Direktheit des Aufsatzes, kann aber kaum neuen „Zuwachs an Theorie" erkennen, vgl. Willms, Die totale Freiheit, S. 142, und auch die Studien von Verweyen und Batscha übergehen weitgehend den Machiavelli-Aufsatz Fichtes. Philonenko, Le problème de la guerre et le machiavélisme chez Fichte, S. 43, dem steht die Lesart von Douglas Moggach gegenüber, der die Kontinuität zur früheren Philosophie betont, vgl. Moggach, Fichte's Engagement with Machiavelli, S. 574. Moggach sieht diese Kontinuität in der erneuten Beschäftigung mit „the relation between morality and law" (S. 576) und faßt seine These damit so allgemein und unscharf, daß sie nicht zu überzeugen vermag. Machiavelli, GA I, 9, S. 224; zur Unvereinbarkeit von Machiavellis „Pathos des Tatsächlichen" mit der Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus vgl. Münkler, Machiavelli, S. 41 ff. Fichtes Machiavelli-Aufsatz entwickelt, wie gezeigt werden wird, ein rein funktionalistisches und machtpolitisches und damit für Fichte neues Verständnis von Geschichte und Politik und ist von daher gerade keine „Nutzanwendung" seiner Geschichtsphilosophie und ist auch nicht „aus der Gedankenwelt der ,Grundzüge' heraus" entstanden, wie Peter Baumanns vermutet, vgl. Baumanns, Fichte, S. 293 und S. 295.

„Preuße nur aus Noth " - Fichte als Kriegsbeobachter

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damit, daß die Theorie Machiavellis das Staatliche und das Politische als autonome Bereiche faßt, die keiner rationalen Legitimierung bedürfen. In Machiavellis Verzicht auf alle ethischen Werte politischen Handelns, auf jegliche Form von Teleologie und Jenseitigkeit begegnet Fichte einem für ihn neuen Politikverständnis, in dem die idealistische Bestimmung des Staats und seine Instrumentalisierung in einem übergeordneten ethisch-theologischen System wegfallen: „Ganz aber ausserhalb seines Gesichtskreises liegen die höhern Ansichten des menschlichen Lebens und des Staates, aus dem Standpunkte der Vernunft [...]."" Dem Zweck des Staats korrespondiert kein höherer Zweck der Natur oder der Vernunft, deswegen kann es für Machiavelli keine verbindliche Moral geben, deswegen hat er „Tugenden zu Dutzenden"100, und die richtige ist immer diejenige, die den Interessen des Staats am besten dient. Hatte Fichte noch kurz zuvor den idealen Regenten als „die unmittelbarste Erscheinung Gottes in der Welt"101 bezeichnet, so lernt er nun den Fürsten Machiavellis kennen, der in „ächt heidnischer Ausgelassenheit, und genialischer Gottlosigkeit"102 die Selbsterhaltung des Staats zur ersten Pflicht des Fürsten erklärt: „Salus et decus populi suprema lex esto."103 Wie Fichte weiter ausführt, sind Machiavellis Überlegungen zur staatlichen Selbsterhaltung vor allem aber auf den inneren Frieden gerichtet - ein Zustand, der unter den Deutschen „schon seit Jahrhunderten eingetreten" sei, so daß dieser Teil seiner politischen Theorie „für unser Zeitalter erledigt" ist. „Keineswegs aber ist erledigt der zweite Theil, betreffend das Verhältniß zu andern Staaten."104 Im folgenden verschiebt Fichte nun den Akzent der Lehren Machiavellis von der Innen- auf die Außenpolitik, die er als rechts- und gesetzesfreien Raum begreift, in dem nur das Recht des Stärkeren gilt.105 Mit diesem agonalen Verständnis von zwischenstaatlicher Politik rückt ein Element in den Blickpunkt, das für Fichte bislang kein Objekt ernsthafter Reflexion war: die Kriegführung. Er zeigt sich von den Ausführungen Machiavellis über den Nahkampf so beeindruckt, daß er schließlich die vor dem Hintergrund seiner Geschichtsphilosophie überraschende Aussage trifft, „daß von jeher alle Veränderungen in den Verhältnissen der Völker sich auf die Veränderung der Führung des Krieges, und die der Waffen, gegründet haben [,..]"106. Diese plötzliche Wertschätzung Fichtes für das Bellizistische hat nur einen Grund: die Ausführungen Machiavellis lassen ihn die Siege Napoleons und die Niederlagen 99 100 101 102 103 104 105

106

Machiavelli, GA I, 9, S. 224. Machiavelli, GA I, 9, S. 225. Wesen des Gelehrten, GA I, 8, S. 123. Machiavelli, GA I, 9, S. 232. Machiavelli, GA I, 9, S. 245, ähnlich auch auf S. 226. Alle Zitate Machiavelli, GA I, 9, S. 240. „[...] in seinem [des Fürsten] Verhältnisse aber zu andern Staaten giebt es weder Gesetz noch Recht, ausser dem Rechte des Stärkern [...]", Machiavelli, GA I, 9, S. 244 - worin Richard Schottky mit guten Gründen „das eigentlich Sensationelle am Machiavelli-Aufsatz" erkennt, Schottky, Internationale Beziehungen als Problem bei Fichte, S. 257. Machiavelli, GA I, 9, S. 236.

I. Erste Rede und Vorgeschichte

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Preußens verstehen. Er erkennt die analytische Qualität der Kriegstheorie Machiavellis fur „die letzten Schlachten, welche Europa in die gegenwärtige traurige Lage gebracht haben"107, und empfiehlt allen, die „nicht die Knechtschaft Europens wollen"108, die Beschäftigung mit ihr. Dabei ist es weniger Machiavellis Plädoyer für die Infanterie, das er in den Mittelpunkt der eigenen kriegstheoretischen Überlegungen rückt, als vielmehr die scharfe Verurteilung der Neutralität. Fichte übersetzt aus dem Prinicipe: „Aber Fürsten von keinem Entschluß schlagen gewöhnlich, um nur die gegenwärtige Gefahr zu vermeiden, den Weg der Neutralität ein, und gehen denn auch gewöhnlich darüber zu Grunde."109

Und erläutert: „Zuförderst, wenn dein natürlicher Verbündeter gegen eine andere euch beiden furchtbare Macht, angegriffen wäre, so ist die Beibehaltung der Neutralität durchaus verderblich; denn die Kräfte deines Verbündeten sind die deinigen, und seine Schwäche ist die deinige, und er kann nicht angegriffen werden, daß du es nicht zugleich mit seiest."110

Die Stellen über die selbstzerstörerische Konsequenz einer Politik der Unentschlossenheit, der Neutralität und des Vernachlässigens von natürlichen Verbündeten machen es überdeutlich: Fichtes Aufsatz ist mehr als nur die Erörterung der Frage, „in wie fern Machiavells Politik auch noch auf unsere Zeiten Anwendung habe"111 - er ist auch eine Analyse der preußischen Politik und Kriegführung. Während sich Fichte im „Innern der Monarchie" aufhält, die meist unerfreulichen Nachrichten von den Kriegsschauplätzen redigiert und engen Kontakt zu hohen preußischen Beamten unterhält112, reflektiert er seine Einblicke und Beobachtungen vor dem Hintergrund der Machiavelli-Lektüre und den Lehren des politischen Handelns, die dort aufgestellt werden. Setzt man den Machiavelli-Aufsatz in Beziehung zu seinen zahlreichen Bemühungen, Einfluß auf die preußische Politik und Kriegführung zu nehmen, dann läßt der Aufsatz sich auch als das Angebot einer Politikberatung verstehen, ja stärker noch: Fichte fordert den König dazu auf, den Krieg nach den Regeln Machiavellis zu führen. 113 107 108 109 110 111 112

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Machiavelli, GA I, 9, S. 235. Machiavelli, GA I, 9, S. 236. Machiavelli, GA I, 9, S. 257. Machiavelli, GA I, 9, S. 258 f. Machiavelli, GA I, 9, S. 239. Fichte unterhält in Königsberg gute Beziehungen zu dem Minister Schrötter, dem königlichen Leibarzt Hufeland, dem Erzieher der Prinzen Delbrück und den hohen Beamten Beyme, Altenstein, Nagler und Stägemann, „die bekannten Räthe, die immer meine Freunde gewesen, die ich gröstentheils meine Schüler nennen könnte, und mit denen das gemeinschaftl. Exilium mich noch bekannter gemacht" hat, Brief an seine Frau vom 31. Juli/1. August 1807, GA III, 6, S. 156. Schon der Sohn Fichtes und erste Herausgeber seiner Werke, Immanuel Hermann Fichte, schrieb über diese Intention der Machiavelli-Studie: „Sie war bestimmt, unter des Königs Augen gebracht zu werden", Einleitung zu SW VII, S. XIII, ähnlich u. a. auch Freyer, Über Fichtes MachiavelliAufsatz, S. 137, Medicus, Fichtes Leben, S. 219, Schottky, Internationale Beziehungen als Problem bei Fichte, S. 266, und Spranger, Altensteins Denkschrift von 1807, S. 494. Die Ein-

Preuße nur aus Noth " - Fichte als

Kriegsbeobachter

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Geht man nun davon aus, daß Fichte mit seinem Aufsatz gewaltig ins Rad der Zeit eingreifen möchte und „das Du dieser Anrede der König von Preußen"114 ist, dann heißt das im Umkehrschluß auch, daß die preußische Führung einen äußerst hilflosen Eindruck hinterlassen haben muß. Dem Historiker Johannes von Müller schrieb Fichte später, in Königsberg habe er damals den „lezten Triebfedern des possenhaften Trauerspiels, das sich nun vollständig entwikelt hat, in der Nähe zugesehen" 115 . Wie viele andere Beobachter scheint auch Fichte vor allem an der Führungsschwäche Friedrich Wilhelms III. - dem „Melancholiker auf dem Thron"116 - Anstoß zu nehmen, dem all das, was Machiavelli am „uomo virtuoso", dem Tatmenschen und politischen Erneuerer, beschrieben hatte, restlos abging. Erwartete der Florentiner Skrupellosigkeit, Konsequenz, Entscheidungsfreudigkeit, Hartnäckigkeit und Tatkraft von einem „uomo virtuoso" zur Überwindung politischer Krisen 117 , so erlebt Fichte einen zaghaften, ängstlichen und leicht beeinflußbaren König, über den sein Biograph Thomas Stamm-Kuhlmann urteilt: „Friedrich Wilhelm war ein Mann, der sich nur schwer in Bewegung setzen ließ. Das entsprang seiner Neigung zur Schwarzseherei und einer prinzipiellen Skepsis dem Getriebe der Welt gegenüber." 118 Anstatt das Gesetz des Handelns immer fest in der Hand zu halten, wie Machiavelli vom Fürsten gefordert hatte, legte der preußische König „eine fast pathologische Untätigkeit an den Tag" 119 und umgab sich mit einer Kamarilla von Beratern und Ratgebern, der sogenannten Kabinettsregierung. In diesem von Beyme entwickelten „System der gefilterten Information und einseitigen Beratung des Monarchen"120 besprach der König unter Umgehung seiner Minister die

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Schätzung, daß Fichte mit seinem Aufsatz die Aufmerksamkeit der Regierungskreise zu finden hoffte, wird auch von der Wahl des Publikationsorts, die Zeitschrift Vesta, gestützt. Erscheint das Journal doch in Königsberg, dem damaligen Sitz der preußischen Regierung, zählt den Hof auch zu seinen Abonnenten und nennt Ferdinand Freiherr von Schrötter, den Sohn des Kanzlers von Schrötter, als einen ihrer beiden Herausgeber, vgl. dazu Freyer, Über Fichtes MachiavelliAufsatz, S. 131 und S. 143. Freyer, Über Fichtes Machiavelli-Aufsatz, S. 138. Brief an Johannes von Müller vom 18. Juli 1807, GA III, 6, S. 142. An seine Frau schrieb er schon im Dezember 1806: „Wie tief, tief, tief die höchsten Angelegenheiten der Menschheit zerrüttet, welchen unwürdigen Händen sie anheimgefallen sind, weiß ich jetzt", Brief vom Dezember 1806, GA III, 6, S. 19. So der Untertitel der Biographie von Thomas Stamm-Kuhlmann, bei dem es heißt: „Von der Halbherzigkeit, ,demi-mesures', ,HalbmaßregeP als der Schwäche der preußischen Politik sprachen damals alle: Hardenberg in seinem Gutachten vom 24. Februar 1806; Lombard in seiner anonym veröffentlichten Rechtfertigungsschrift, den .Materialien', und sogar der König selbst", Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit, S. 206. Vgl. Münkler, Machiavelli, S. 366 ff., und Kersting, Machiavelli, S. 76 ff. Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit, S. 199, vgl. auch Sheehan, Der Ausklang des alten Reiches, S. 268 f., und Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg, S. 34. Sheehan, Der Ausklang des alten Reiches, S. 270. Hubatsch, Die Stein-Hardenbergschen Reformen, S. 136; das System der Kabinettsregierung war dann auch einer der ersten Mißstände, den die schon im Frühjahr 1807 einsetzende Reformtätigkeit in Preußen beendete.

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Regierungsgeschäfte mit einem persönlichen Stab von Vertrauten und Adjutanten und setzte sich damit dem Kompetenzgerangel und den Sonderinteressen seiner Räte aus. Die königliche Unentschlossenheit verdankte sich aber in mindestens genauso starkem Ausmaß auch „der übergroßen Geschmeidigkeit seiner Außenminister"121 Haugwitz und Hardenberg, von denen letzterer nach der außenpolitischen Grundmaxime „Überleben durch Anpassen und Abwarten"122 verfuhr. Insgesamt stellt sich die politische Konstellation an der Spitze des preußischen Staats dar als ein vielstimmiger Chor aus Vertretern der Neutralitätspolitik, vor allem Hardenberg, aus Napoleonfreunden, wie den Ministern Haugwitz, Lombard, Zastrow und VossBuch, und aus den erklärten Feinden des französischen Kaisers, also der Gruppe um Prinz Louis Ferdinand und General von Rüchel - wobei ein Wechsel des politischen Lagers keine Seltenheit war.123 So lassen sich die „haarsträubenden Verstrickungen der preußischen Diplomatie zwischen 1790 und 1806"124 zum einen auf die Persönlichkeit des Königs zurückführen und zum anderen, und in Wechselwirkung damit, auf jenen Chor der Räte, Minister und Militärs, die Friedrich Wilhelm auch während des Kriegs mal zu einem Sonderfrieden mit Frankreich rieten, dann zu einem Bündnis mit Österreich oder gar zu einem Volkskrieg aufrufen wollten. Fichtes Ausflug in das „Innere der Monarchie" bestätigte nicht nur Machiavellis Warnung vor den staatszersetzenden Folgen von Partikularinteressen und Parteikämpfen125, sondern demonstrierte in negativo die durchgängige Angemessenheit seiner politischen Regeln. Eindrucksvoll zeigte sich, wie ein Blick in die Geschichte die so verhängnisvollen Wirkungen der Neutralitätspolitik hätte verhindern können und wie sehr es der preußischen Führung an Entschlossenheit, Kompetenz und Dynamik, kurz an all dem mangelte, was Machiavelli unter dem Begriff der virtù als unverzichtbar für eine erfolgreiche Politik subsumiert hatte.126 Dennoch ist es nicht Fichtes Absicht, mit seinem Aufsatz Friedrich Wilhelm und seiner Regierung die Leviten zu lesen - vielmehr fühlt er sich um so mehr dazu berufen, dem König Rat und Hilfe anzubieten, als sich vor seinen Augen die Machiavellischen Lehren mit der Konsequenz von Naturgesetzen erfüllen: 121 122

123

124

125 126

Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit, S. 206. Zit. nach Mieck, Preußen von 1807 bis 1850. Trotz der gegenteiligen Beteuerungen in seinen Memoiren trägt auch Hardenberg einen Teil der Verantwortung für den Kurs der preußischen Politik jener Jahre, vor allem in der Hannover-Frage, vgl. Stamm-Kuhlmann in seiner Einleitung zu den Tagebüchern Hardenbergs, S. 41. Dazu Sagave, Berlin und Frankreich, S. 126 ff., und Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg, S. 54. Das Verhalten Karl August von Hardenbergs, der im Lauf jener Jahre sowohl profranzösische, prorussische als auch neutralitätspolitische Positionen einnahm, ist ein gutes Beispiel für die preußische Schaukelpolitik unter Friedrich Wilhelm III. Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit, S. 211, ähnlich auch das Urteil von Thomas Nipperdey, der von einer unentschlossenen und törichten Politik Preußens spricht, vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 15. Vgl. dazu Münkler, Machiavelli, S. 330 ff. Zur virtù bei Machiavelli vgl. Münkler, Machiavelli, S. 313 ff.

Preuße nur aus Noth " - Fichte als Kriegsbeobachter

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„Die Entdeckung der Gesetzmäßigkeit der Geschichte bei Machiavelli mündet nicht in Resignation vor deren unerbittlichem fatum, sondern wird zur Voraussetzung für den kontrollierterfolgversprechenden Eingriff des Menschen in die Geschichte."127

Weil die Geschichte über eine autonome Kausalität und im Imperativ der Selbsterhaltung auch über ein immanentes Telos verfügt, lassen sich ihre Abläufe verstehen und erklären. Ihre innere Struktur und Gesetzmäßigkeit machen sie vorhersehbar und erlauben es Machiavelli, politische Regeln und Handlungsanweisungen aus ihr abzuleiten. Für Fichte enthüllen sich „diese Erfordernisse der Staatskunst" allein durch ein „gründliches Studium der Wissenschaften" 128 , und so hofft er in der gleichen Absicht, mit der einst auch Machiavelli seinen Principe Lorenzo de' Medici zueignete, darauf, seinen Plänen Gehör bei der preußischen Führung zu verschaffen. Fichte zeigt sich fest davon überzeugt, daß man, wie Machiavelli lehrte, sein Glück erzwingen kann und ,jede Gefahr durch feste Fassung, und durch den Muth, der nichts, und wenn es gilt, auch das eigne Leben nicht schont, besiegt werde" 129 . Und so ruft er zu einem Zeitpunkt, wo zwar schon wichtige Schlachten verloren waren, aber noch keineswegs der ganze Krieg, den König dazu auf, „kein anderes Augenmerk, noch einen andern Gedanken [...] ausser dem Kriegswesen" 130 zu haben. Er verlangt das Ende der halbherzigen Politik des Taktierens und der Geheimdiplomatie: Es muß endlich an der Zeit sein, „die Entwürfe einer kleinlich berechnenden Cabinetspolitik fernzuhalten von diesem heiligen Kampfe" 131 . Fichte hofft auf eine Allianz der deutschen Staaten 132 , klagt Mut und Entschlossenheit ein, Begeisterung und Siegeswillen und verlangt von den deutschen Kriegern, in der Schlacht, im Getümmel, „selber im Tode Sieg, Vaterland, ewiges zu denken" 133 . Dabei erinnert er den König aber auch mahnend daran, daß Konsequenz seine höchste Tugend und die Selbsterhaltung des Staats seine erste Pflicht ist, und fordert ihn auf, den Krieg bis zum Äußersten zu führen: „Muthige Vertheidigung kann jeden Schaden wieder gut machen, und wenn du fällst, so fällst du wenigstens mit Ehre. Jenes feige Nachgeben aber rettet dich nicht vom Untergange, 127 128 129

130 131 132

133

Münkler, Machiavelli, S. 45, vgl. auch Kersting, Machiavelli, S. 57. Machiavelli, GA I, 9, S. 249. Machiavelli, GA I, 9, S. 266 f., so Fichtes Kommentar zu der berühmten Stelle aus dem 25. Kapitel des Principe, wo Machiavelli das Draufgängertum empfiehlt, „denn Fortuna ist ein Weib, und es ist notwendig, wenn man sie niederhalten will, sie zu schlagen und zu stoßen", Machiavelli, II Principe, S. 199. Machiavelli, GA I, 9, S. 252. Anwendung der Beredsamkeit, GA II, 10, S. 74. In einem Brief an den Geheimen Oberfinanzrat Altenstein vom April 1807 beschwört Fichte diesen: „Es ist zu hoffen, daß nun werde geltend gemacht werden, die mir unumstößlich scheinende Wahrheit, daß an keinen Frieden in Europa zu denken ist, ehe nicht Germanien, - unter Einem Haupte vereinigt wenigstens seine Streitkraft - in einer festen, und Respektgebietenden Faßung da steht", Brief an Altenstein vom 18. April 1807, GA III, 6, S. 77. Zugleich auch ein weiterer Beleg dafür, wie Fichte seine persönlichen Kontakte zu hohen Beamten und Regierungsmitgliedern dafür nutzt, seinen politischen Ideen Gehör zu verschaffen. Reden an die deutschen Krieger, GA II, 10, S. 81.

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I. Erste Rede und Vorgeschichte sondern es giebt dir nur eine kurze Frist schmählicher und ehrloser Existenz, bis du von selbst abfällst, wie eine überreife Frucht."134

Die Rolle, die die Philosophie dabei spielen kann, ist eine doppelte: Sie kann zum einen den Fürsten aufgrund ihrer Kenntnis der geschichtlichen Notwendigkeiten beraten und ihm die Regeln der Politik, wie Machiavelli sie aufgestellt hat, näher bringen. Zum andern kann sie, und hier schließt Fichte wieder an seinen alten Feldprediger-Plan an, infolge ihrer Einsicht in höhere Ideale und ihrer Begeisterungsfähigkeit Mut, Willen und Entschlossenheit bei den Truppen bewirken und den Soldaten so zum unbesiegbaren „Helden der Idee"135 machen. Nimmt der Fürst seinen Auftrag, den Staat um jeden Preis und mit allen Mitteln zu erhalten, ernst, dann tut er gut daran, auf diese Hilfe der Philosophie nicht zu verzichten, denn oft schon hat, wie Fichte unter Hinweis auf Napoleon anmerkt, „Ein Wort Armeen geschlagen"136.

3.2. „Wer hinter dem Vorhange stand, sieht manches anders" Doch aus Friedrich Wilhelm III. wurde kein uomo virtuoso mehr und Fichtes Ratschläge wurden nicht befolgt: weder kam es zu einem Bündnis zwischen Politik und Philosophie noch wurde der Krieg bis zum Äußersten geführt noch gab es eine Koalition der deutschen Staaten gegen Napoleon. Und so begann Fichte schon vor Kriegsende zu resignieren und alle Hoffnung auf eine Wendung des Kriegsglücks fahren zu lassen.137 Seiner Enttäuschung und Verbitterung über die preußische Niederlage und seinen Ausflug in das „Innere der Monarchie" hat er dann Ausdruck verliehen in der kleinen nachgelassenen Schrift Die Republik der Deutschen zu Anfange des zwei u. zwanzigsten Jahrhunderts unter ihrem fünften Reichsvogte, die im Frühjahr 1807 in Königsberg entstand.138 Obgleich eine Utopie, betont Fichte doch ausdrücklich den nicht-fiktiven Charakter seiner Ausführungen - „ich habe es in hohem Wachen eingesehen"139 - , die im Rückblick eines Historikers des 22. Jahrhunderts auf das frühe 19. Jahrhundert noch einmal seine scharfe Kritik am Partikularismus der deutschen Staaten und der Inkompetenz der preußischen Führung wiederholen und insgesamt ein Bild von den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen zeichnen, das die apokalyptische Untergangsstimmung der ersten Rede an die deutsche Nation anschaulich illustriert: Egoismus und Resignation bei den Alten, Unverstand und Vermessenheit bei den Jungen, Gutsbesitzer als würdige „Führer des Stoks", der Landpfarrer „ein roher 134 135 136 137 138

139

Machiavelli, GAI, 9, S. 243. Vgl. das Fragment Heroismus der Idee vom April 1807, GA II, 10, S. 291 f. Anwendung der Beredsamkeit, GA II, 10, S. 71. Vgl. den Brief an seine Frau vom 28. Mai 1807, GA III, 6, S. 98. Die Republik der Deutschen besteht aus zwei kleineren Arbeiten und einigen Entwürfen und Studien zu diesen und wird von den Herausgebern der Gesamtausgabe „aller Wahrscheinlichkeit nach" auf das Frühjahr 1807 datiert, vgl. Einleitung, GA II, 10, S. 375. Republik der Deutschen, GA II, 10, S. 392.

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Pächter, wild, wie seine Pferde, u. Stiere", die Juristen „allem neuen höchst feind", Händler, denen es als „unerklärlicher Blödsinn"140 galt, nicht den allerhöchsten Gewinn aus der Not ihrer Mitbürger zu ziehen, und Schriftsteller, die „durch feiges Stillschweigen, oder durch schwachköpfige Bewunderung der rohen Kraft" 141 Napoleons sich von der Nation losgesagt hatten - der Geschichtsschreiber Fichtes, der aus dem 22. Jahrhundert auf das frühe 19. Jahrhundert blickt, bringt die damalige Gesellschaft auf die Formel:, j e höher der Stand, desto schlechter."142 So erweist sich der Adel nur dadurch als der erste Stand der Nation, „daß er der erste war, der da flöhe, wo es Gefahr gab"143, die deutschen Fürsten, umgeben von Schmeichlern und Höflingen, führten ein „Leben voll Feigheit, u. Niederträchtigkeit", „sie krochen vor dem Auslande, sie eröfneten demselben den Schooß des Vaterlandes" und hätten in ihrer „wilden Gier" nach Ämtern und Titeln auch dem „Dey von Algier" den Staub von den Füßen geküßt144, ihre Prinzen verbrachten, „wenn sie einige Phantasie hatten, solange ihr Leben in den Freuden des Beischlafs, oder, wenn sie keine hatten, im dumpfen Hinbrüten"145, ihre Militärs „lieferten aus Feigheit die Festungen aus, kapitulirten"146, und die Kunst ihrer Minister „bestand bloß in der Wißenschaft, soviel baares Geld, als irgend möglich, herbeizuschaffen" 147 . Auch die Briefe Fichtes an seine Frau in Berlin liefern zahlreiche Belege von dem desaströsen Eindruck, den die inkompetente preußische Führung und die materialistische Gesellschaft insgesamt bei ihm hinterlassen haben, und sprechen von „viehischer Dummheit" und „in der Geschichte beispiellose^] Hülflosigkeit" der Regierenden und der „Sorglosigkeit" der Menschen „mitten im Schiffbruche", die „aus dem Brande soviel zu rauben suchen, als irgend möglich"148. Ernüchtert zieht Fichte, der vor dem Krieg noch Heldensinn und Opferbereitschaft von allen eingeklagt hatte, dann nach dem Tilsiter Friedensvertrag in einem weiteren Brief an seine Frau den Schlußstrich unter seine Beobachtungen aus dem preußisch-französischen Krieg: „Wer hinter dem Vorhange stand, sieht manches anders; tröstlicher nicht gerade, aber er sieht die eiserne Nothwendigkeit mehr ein."149 Daß Fichte hier von einer neuen Sichtweise und von eisernen Notwendigkeiten im Sinne der Gesetzmäßigkeiten und Kausalitäten politischen Handelns spricht, zeigt ein140 141 142 143 144 145 146 147 148

149

Alle Zitate Republik der Deutschen, GA II, 10, S. 378. Republik der Deutschen, GA II, 10, S. 409. Republik der Deutschen, GA II, 10, S. 378. Republik der Deutschen, GA II, 10, S. 409. Republik der Deutschen, GA II, 10, S. 377 und S. 407. Republik der Deutschen, GA II, 10, S. 403. Republik der Deutschen, GA II, 10, S. 378. Republik der Deutschen, GA II, 10, S. 404. Briefe an seine Frau vom 29. Juli 1807, GA III, 6, S. 153, und vom 20.-28. Mai 1807, ebd., S. 99, vgl. auch die Briefe vom 18.-21. Dezember 1806, ebd., S. 24 ff., und vom 7./8. August 1807, ebd., S. 167 ff. Brief an seine Frau, 31. Juli/1. August 1807, GA III, 6, S. 157.

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mal mehr, welch umfassende Wirkung das Kriegserlebnis und die es begleitende Machiavelli-Lektiire auf sein politisches Denken gehabt hatten: „Die Erschütterungen der Jahre von 1806 an öffneten ihm die Augen für die wesentliche Rolle der Geschichtsbestimmung. War Fichte bis dahin der Ansicht, als das zentrale Ereignis der Geschichte müsse die Vollendung des Systems der Wissenschaftslehre angesehen werden, und die Tat, die die Geschichtsstunde verlange, sei die Umgestaltung des Lebens (allein) durch die vollendete Wissenschaft, so mußte er nunmehr erkennen, daß dies nur die formale Seite der Sache ist, neben die die materiale Seite der konkreten Geschichtsbestimmung zu ihrem Recht kommen muß."150

Hatte Fichte bislang eine scharfe Trennlinie zwischen apriorischem Weltplan und konkretem Ereignis gezogen und alles Empirische als das im Weltplan „Unbegriffene" abgetan, konnte er im Vorfeld der Reden an die deutsche Nation die imponierende Erfahrung machen, wie sich Empirie und Theorie wechselseitig bestätigen. Seine geschichtsphilosophische Diagnose des eigenen Zeitalters als selbstsüchtig und egoistisch hatte sich realgeschichtlich so eindrucksvoll erfüllt, daß er den deutschen Partikularismus und die unglückselige preußische Politik und Kriegführung als menschheitsgeschichtliche Katastrophe von apokalyptischen Ausmaßen wahrnahm. Das Kriegserlebnis ließ daher aus seiner Kritik an Zeitgeist und Aufklärung auch eine Kritik der politischen Klasse und des bestehenden Staats - „die Schwäche der Regierungen" - werden und aus seinem Vorhaben, Geschichte zu deuten und zu erklären, die Absicht, Geschichte zu bestimmen und zu gestalten. Politischer Denker durch und durch hatte sich Fichte in seinen bisherigen politischen Arbeiten doch nie systematisch mit konkreten Ereignissen auseinandergesetzt, selbst seine beiden Schriften über die Französische Revolution waren eher dem Versuch geschuldet, Kantische Moralphilosophie auf das Naturrechtsdenken anzuwenden, als der Revolution selbst - Bezüge auf die Ereignisse in Paris und ihre Akteure wird man in diesen Schriften jedenfalls vergeblich suchen. Erst im Vorfeld der Reden an die deutsche Nation tut sich dann im politischen Denken Fichtes unterhalb der universalgeschichtlichen Ebene von bewußter Vermittlung von Freiheit und Vernunft die bislang ignorierte Ebene von Realpolitik und konkreter Geschichte auf. Dadurch wird die strenge Arbeitsteilung zwischen der apriorischen Geschichtsbetrachtung des Philosophen und der empirischen Erkenntnis des Historikers, wie sie die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters behauptet hatten, aufgegeben zugunsten einer Haltung, die Geschichte und Politik auch mit den Mitteln der Erfahrung und der Beobachtung zu begreifen versucht. Am Beispiel der Frage nach der deutschen Vaterlandsliebe wird Fichte in den Reden an die deutsche Nation dieses neue Verständnis von Geschichte und Politik selbst klar aussprechen: „Uebringens ist hierbei anzumerken, dass die Entscheidung über diese Frage keinesweges auf einer Beweisführung durch Begriffe beruht, welche hierin zwar klarmachen, keinesweges aber über wirkliches Daseyn oder Werth Auskunft zu geben vermögen, sondern dass die letzteren 150

Lauth, Fichtes Leistung in der Geschichte der Philosophie, S. 343.

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lediglich durch eines jeglichen unmittelbare Erfahrung an ihm selber bewährt werden können."151

Entscheidend auf dem Weg zu den Reden an die deutsche Nation und ihrem Aufruf zur nationalen Selbstbestimmung wurde, daß der entlarvende Blick, den Fichte hinter dem Königsberger Vorhang auf die Ereignisse werfen konnte, nicht zu Fatalismus und Resignation führte, sondern zu der Beobachtung, daß die Niederlage selbstverschuldet war, und in Konsequenz daraus zur Einsicht in die Gestaltbarkeit und Steuerbarkeit geschichtlicher Prozesse. In den Jahren zwischen den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters und den Reden an die deutsche Nation hat sich Fichtes ethischer Idealismus so „im prägnanten Sinn des Worts zum politischen Idealismus"152 gewandelt, der sich Fortschritt und Veränderung nicht mehr allein von der allmählichen Verbreitung der Vernunftwissenschaft erwartet, sondern auch von der politischen Tat. Wie Reinhard Lauth plädiert auch Friedrich Meinecke dafür, diese Einsicht in die konkrete Gestaltbarkeit von Politik und Geschichte als umfassenden Wandel in Fichtes politischem Denken zu begreifen, und weist ebenfalls auf die ,,ungeheure[n] Zeiterlebnisse und Zeiterfordernisse" hin, die Fichte „mit Gewalt vorübergehend umgestimmt hätten" und sein Denken dem Machiavellismus öffneten, der seinem Idealismus eigentlich hätte „unverdaulich bleiben müssen"153. Und so erreichte, wie Meinecke seinen Gedanken veranschaulicht, „[...] damals Fichtes Geist auf seiner Bahn den Punkt der größten Erdennähe, der ihm möglich war. Wer nach diesem Aufsatz über Machiavell die .Reden an die deutsche Nation' liest, spürt sich wohl in manchem noch in derselben Richtung weitergeführt, um schließlich doch mit einem Male in einer ganz anderen Welt sich wiederzufinden." 154

Die Tür zu dieser ganz anderen Welt, die die Reden an die deutsche Nation betreten werden, wurde aber auch von Machiavelli mitaufgestoßen, denn neben dem Gedanken der Geschichtsbestimmung spielt noch eine weitere Lehre, die Fichte aus dem Kriegserlebnis und seiner Machiavelli-Lektüre zog, eine wichtige Rolle. In einem weiteren Brief an seine Frau vom Mai 1807, also dem Zeitpunkt seiner einsetzenden Resignation über die Kompetenz der preußischen Führung und die Möglichkeiten, den Krieg noch gewinnen zu können, läßt er sie wissen: „Ich bin inzwischen der Sache ergeben, nicht den Menschen, und habe, selbst für den Fall des Untergangs d. Pr. M. [der preußischen Monarchie] meinen festen Plan."155

151

152 153 154 155

Fichte, Reden, S. 399. Völlig zu Recht merkt Reinhard Lauth zu dieser Passage an: „Nicht Fichte der Wissenschaftslehrer, Fichte der Prophet (im weiteren Sinne dieses Worts), spricht in den Reden zum deutschen Volk und bewirkt durch sie Geschichte", Lauth, Der letzte Grund von Fichtes Reden, S. 200. Freyer, Über Fichtes Machiavelli-Aufsatz, S. 149. Meinecke, Idee der Staatsräson, S. 437. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 95. Brief an seine Frau, zwischen dem 20. und 28. Mai 1807, GA III, 6, S. 98.

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Wenn Fichte hier schreibt, er sei nicht mehr dem Menschen, d. h. dem König, ergeben, sondern der Sache, also dem Vaterland, der Nation, dann nimmt er nicht nur den allgemeinen Autoritätsverlust des preußischen Königshauses nach dem verlorenen Krieg vorweg 156 , sondern beendet seinen Ausflug in das „Innere der Monarchie" überaus drastisch: mit dem Wandel der Legitimitätsbeziehungen. In dieser kurzen Passage zieht der Philosoph die politische Konsequenz aus dem „possenhaften Trauerspiel", das er in Königsberg verfolgt hatte, indem er dem Fürsten, der seinen Staat nicht erhalten konnte und selbst die elementarsten Grundregeln der Politik mißachtete, die Legitimität abspricht. Auch wenn sich, um Meineckes Bild aufzugreifen, der Realismus Fichtes nach dem tiefstmöglichen Punkt der Erdennähe abschwächen und die Bahn seiner Gedanken von der „eisenhaltigen Atmosphäre des Machiavelli-Aufsatzes" 157 wieder abheben sollte, läßt sich seine Infragestellung der königlichen Legitimität doch als konsequente Anwendung des Machiavellischen Imperativs der staatlichen Selbsterhaltung und von da aus als substantielle Voraussetzung der Reden an die deutsche Nation verstehen.

4. Fichtes Rückkehr nach Berlin: Die Vorbereitung der Reden an die deutsche Nation In den letzten Monaten des Kriegs brach der preußische Staat regelrecht in sich zusammen: Widerstand wurde so gut wie nicht mehr geleistet, kampffähige Truppen kapitulierten in offenem Feld und bedeutende Festungen wurden ohne Not übergeben. Die allgemeine „Mutlosigkeit, Resignation und Apathie innerhalb der Armee" 158 und vor allem bei ihren Offizieren, von denen sich nicht wenige als „unfähig, pflichtvergessen, ehrlos oder feige" 159 erwiesen hatten, ließen den Rückzug zu einer kopflosen Flucht werden und zerstreuten die einst ruhmreiche Armee in alle Winde. Der Sieg Napoleons war so vollständig, daß der französische Kaiser seine Friedensbedingungen frei diktieren konnte und Friedrich Wilhelm III. keine Möglichkeit gewähren mußte, den Friedensvertrag, der im Juli 1807 in Tilsit geschlossen wurde, zu verhandeln: So verlor Preußen etwa die Hälfte seiner Gebiete und wurde damit auf die Größe eines 156 157 158

159

Vgl. dazu Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 114. Schottky, Fichtes Nationalstaatsgedanke, S. 118. Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg, S. 38. Vgl. zur Situation Preußens im Sommer 1807 auch Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 15 f., und Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 226 ff. Wohlfeil, Vom stehenden Heer zur allgemeinen Wehrpflicht, S. 138. Die kampflose Niederlage der preußischen Armee wurde von der im November 1807 berufenen „Kommission zur Untersuchung der Kapitulationen und sonstigen Ereignisse des letzten Krieges" aufgearbeitet: 208 Offiziere mußten daraufhin aus dem Dienst scheiden und sieben Todesurteile wurden ausgesprochen, von denen der König aber nur eins bestätigte, vgl. ebd., S. 138 f.

Fichtes Rückkehr nach Berlin: Die Vorbereitung der Reden an die deutsche Nation

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deutschen Mittelstaats zurechtgestutzt.160 Mit der Ausnahme von Memel - bis auf weiteres Regierungssitz - mußte es auf seinem Staatsgebiet eine französische Besatzung von beliebiger Stärke dulden und wurde in dem folgenden Pariser Vertrag zu Tributzahlungen von damals unvorstellbaren 140 Millionen Francs verpflichtet. Auch wenn diese Summe nach Vermittlung des Zaren auf 120 Millionen Francs reduziert wurde, überstieg sie doch die Möglichkeiten des besiegten Staats bei weitem und lastete schwer auf der preußischen Wirtschaft, die, durch Rüstung, Krieg und die Folgen der Kontinentalsperre ohnehin geschwächt, in eine tiefe Krise stürzte. Nicht nur in den vom Krieg unmittelbar verwüsteten Regionen, in ganz Preußen waren Not und Elend so groß, daß die Behörden in Breslau schon eine Anleitung herausgaben, die der hungernden Bevölkerung den Verzehr von Eicheln, Brennesseln und ähnlichem empfahl. Plünderungen und Einquartierungen schürten den Unmut gegen die französischen, Geldentwertung und rapide Verteuerung der Grundnahrungsmittel den gegen die preußischen Autoritäten und schufen eine brisante Stimmung, die sich in einer Flut von politischen Flugschriften und schließlich auch in Tumulten vor Berliner Bäckereien entlud.161 Verlorener Krieg, Wirtschaftskrise und Besatzung lösten eine „Fundamentalkrise Preußens [aus], in der seine politische Zukunft schlechthin auf dem Spiel zu stehen schien"162. Nicht nur das machtrationale Kalkül Napoleons, der Krise freien Lauf zu lassen, auch die Plötzlichkeit, mit der das volle Ausmaß der Niederlage bekannt wurde, traumatisierten eine Öffentlichkeit, die über den tatsächlichen Kriegsverlauf nur schlecht informiert worden war. Dieser Öffentlichkeit, für die es im Oktober 1806 keine Veranlassung gegeben hatte, an Preußens Glorie und der Stärke seiner Truppen zu zweifeln, mußte es vorkommen, als sei gleichsam über Nacht das friderizianische Preußen - eben noch europäische Großmacht und Modellstaat des aufgeklärten Absolutismus - im Dunkel der Geschichte verschwunden. Anders als der berühmte Anschlag des Berliner Stadtkommandanten noch nach der Niederlage bei Jena und Auerstedt „Der König hat eine Bataille verlohren. Jezt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht"163 - glauben machen wollte, lag im Sommer 1807 für die meisten Zeitgenossen auf der Hand, daß mehr als nur „eine Bataille" verloren worden war. Carl von Clausewitz erinnert sich: „Alle vorurtheilslosen Männer, welche Preußen vor und im Jahre 1806 beobachtet, haben von ihm das Urtheil gefällt, es sei in seinen Formen untergegangen. Ein unmäßiges, mit Eitelkeit vermischtes Vertrauen auf diese Formen ließ es ganz übersehen, daß der Geist daraus entwichen war. Man hörte die Maschine noch klappern, und so fragte Niemand, ob sie auch ihre Dienste noch leiste."164

160 161 162 163 164

Vgl. dazu Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 112 ff. Vgl. Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg, S. 56 ff. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 398. Abgedruckt bei Kleßmann, Deutschland unter Napoleon, S. 160. Clausewitz, Nachrichten über Preußen in seiner großen Katastrophe, S. 420.

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Große Unsicherheit über die politische Zukunft charakterisierte die Situation nach dem Tilsiter Frieden und kann sowohl die Begeisterung, mit der Napoleon von Teilen der Bevölkerung empfangen wurde, als auch die einsetzende Verklärung des alten Preußens und die ungebrochene Popularität Friedrich Wilhelms III. erklären. Doch bei aller Verunsicherung und Orientierungslosigkeit war den Zeitgenossen klar, daß eine tiefe Zäsur erfolgt war und Preußen vor die Entscheidung gestellt wurde, sich zu erneuern oder ganz unterzugehen.165 Auch in höchsten Regierungskreisen hatte man erkannt, daß die Zukunft Preußens auf des Messers Schneide stand, und schon vor dem Tilsiter Friedensvertrag die ersten Reformbestrebungen eingeleitet. „Der Preußische Staat ist untergegangen, und es entsteht jetzt bei dem erfolgten Frieden ein neuer Staat"166 - so eröffnet Karl von Altenstein seinen Plan für die Neuordnung Preußens, der zur unmittelbaren Vorlage der berühmten Rigaer Denkschrift Hardenbergs vom 12. September 1807 wurde. Ausdrücklich warnt Altenstein davor, auch nur an Teilen des alten Systems festhalten zu wollen, und wird darin von Hardenberg bestätigt, der seinerseits davon spricht, „daß nur eine Radikalkur unserer Verfassung dem Staat wieder neues Leben geben"167 könne. Wie Clausewitz stellt auch Altenstein einen inneren Zusammenhang her zwischen militärischer Niederlage und politischem System und rechnet offen mit dem alten Stände- und Militärstaat ab.168 Vor dem Hintergrund von machtpolitischem Abstieg, Besatzung und Wirtschaftskrise fordert Altenstein die Neuschöpfung Preußens aus einer höheren Idee heraus und beruft sich dabei direkt auf die Lehren Fichtes, mit dem er in Königsberg regen Kontakt hatte und aus dessen Machiavelli-Aufsatz er in seiner Denkschrift ausgiebig zitiert.169 Fichte selbst war im Juni 1807 vor den anrückenden französischen Truppen von Königsberg nach Memel geflohen, um von da aus weiter nach Kopenhagen überzusetzen, wo er bis zu seiner Rückkehr nach Berlin Unterschlupf fand.170 Trotz aller Vorbehalte gegen ein Leben in der besetzten Stadt gab er schließlich den Bitten seiner Frau nach und trat im August die Heimreise an, auch wenn er die eventuellen Versuche der Besatzungsmacht, „mich auszuforschen, zu verfuhren" 171 , sehr ernst nahm. Mit Verführung durch die Franzosen spielt Fichte auf das Verhalten seiner beiden Berliner Nachbarn Alexander von Humboldt und, vor allem, Johannes von Müller an, die wie er in 165 166 167 168 169

170 171

Vgl. Ziolkowski, Berlin, S. 18. Altenstein, Denkschrift, S. 369. Hardenberg, Denkschrift, S. 320. Vgl. z. B. Altenstein, Denkschrift, S. 392 und S. 397. Altenstein hatte auch alle Vorlesungen, die Fichte vor dem Krieg in Berlin gehalten hatte, gehört und kann als „Fichtejünger" gelten, vgl. Wagner, Die preußischen Reformer und die zeitgenössische Philosophie, S. 31. Zu Altenstein und Fichte siehe auch Spranger, Altensteins Denkschrift, Hammacher, Die Philosophie des deutschen Idealismus - Humboldt und die preußische Reform, Hammacher, Fichte in Berlin, S. 42 ff., und Lauth, Über Fichtes Lehrtätigkeit in Berlin. Die Flucht Fichtes schildert Léon, Fichte et son temps, Bd. 2, 2, S. 39 ff. Zum Tagebuche über Koppenhagen, GA II, 11, S. 16.

Fichtes Rückkehr nach Berlin: Die Vorbereitung der Reden an die deutsche Nation

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einem Gartenhaus des Branntweinbrenners George in der Friedrichstraße wohnten. Müller, mit dem die Familie Fichte eng befreundet war, hatte sich während des Kriegs vom Gegner zum Anhänger Napoleons gewandelt, war sogar in Audienz von ihm empfangen worden und hatte im Januar 1807 eine Gedenkrede auf Friedrich den Großen gehalten, die von vielen Zeitgenossen als Kniefall vor dem französischen Kaiser gelesen wurde.172 Die Aufregung, die das Verhalten Müllers auslöste, und die ihr zugrundeliegende Ambivalenz von Unterdrückung oder Befreiung, mit der die Franzosen in Preußen aufgenommen wurden, sind durchaus charakteristisch für die dominierende Stimmung aus Verunsicherung und Orientierungslosigkeit in der besetzten Stadt, wie Fichte sie damals einfing: „Übrigens ist das hiesige Publikum der Verzweiflung nahe, und es läßt sich nicht absehen, was den bevorstehenden Winter aus uns werden soll, wenn diese Gäste uns nicht verlassen. Ich, in einem einsamen Gartenhause verschlossen, und dadurch von der Einquartierung befreit, verwahre mich so gut ich kann daß kein Ton jener Verzweiflung, oder der Insolenz, durch die sie verursacht wird, über meine Schwelle komme, damit ich die Freiheit des Geistes behalte, den Prinzipien einer besseren Ordnung der Dinge nachzudenken."173

Daß Fichte über die „Prinzipien einer besseren Ordnung der Dinge nachzudenken" sucht, ist nicht nur Ausdruck der allgemeinen Flucht ins Geistige, von der Varnhagen von Ense in seinen Erinnerungen berichtet174, sondern folgt unmittelbar aus der Aufforderung des Kabinettsrats Beyme an den Philosophen, einen Plan für eine in Berlin zu gründende Universität auszuarbeiten175, und mittelbar aus seinem Kriegserlebnis. Im Unterschied zur breiten Öffentlichkeit kamen für Fichte die militärische Niederlage und die sich anschließende Fundamentalkrise Preußens ja alles andere als überraschend, und so hatte er bereits vor dem eigentlichen Kriegsende damit begonnen, in Arbeiten wie der Republik der Deutschen oder dem zweiten Gespräch über den Patriotismus, und sein Gegentheil das Erlebte zu reflektieren und sich weiter gehende Gedanken über die politische Zukunft zu machen. Im zweiten Gespräch über den Patriotismus vom Juni 1807 ist Fichtes Zorn über die Niederlage, der ja noch die Republik der Deutschen ge172

173 174

175

Vgl. Pape, Johannes von Müller, S. 219 ff. und S. 250 ff., Léon, Fichte et son temps, Bd. 2, 2, S. 93 ff., und Stählin, Napoleons Glanz und Fall, S. 33 f. Das Verhalten Müllers mußte Fichte besonders irritieren, war er doch mit dem Schweizer Historiker persönlich bekannt und hatte bei Kriegsbeginn sogar an gemeinsame publizistische Aktionen gedacht (vgl. oben, S. 30, Fußnote 76). Daß Fichte sich nach dem Krieg bei Beyme, Altenstein, Hufeland und Schrötter stark für den Historiker, der 1807 aus preußischen Diensten schied, einsetzte, galt schon Xavier Léon vor dem Hintergrund der gegensätzlichen politischen Haltungen als eine „contradiction que nous ne nous dissimulons pas et qui demeure assez mystérieuse" und hat auch bei den Herausgebern der Gesamtausgabe Verwunderung ausgelöst, vgl. Léon, Fichte et son temps, Bd. 2, 2, S. 103, und Einleitung zu GA III, 6, S. VI. Brief an Beyme vom 29. September 1807, GA III, 6, S. 180. „In dieser Zeit des Jammers fühlte man sich gewaltsam auf das geistige Leben hingeworfen, man vereinte und ergötzte sich in Ideen und Empfindungen, welche das Gegenteil dieser Wirklichkeit sein wollten", Varnhagen, Denkwürdigkeiten, S. 462. Zu Fichtes Hochschulplan siehe unten, S. 174 ff.

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I. Erste Rede und Vorgeschichte

tragen hatte, auch schon weitgehend zur Idee einer geistigen Erneuerung der deutschen Nation sublimiert. Erstmals taucht hier der Gedanke auf, diese Idee mit einer Nationalerziehung auf der Grundlage der Pädagogik Pestalozzis erreichen zu wollen, mit dessen Schriften er sich im Frühjahr 1807 eingehend beschäftigt hatte. 176 In Berlin hatte Fichte dann engen Umgang mit Varnhagen von Ense, den Romantikern August Ferdinand Bernhardi und Wilhelm von Schütz und, trotz allem, Johannes von Müller 177 , denen er ausführlich von seinem Ausflug in das „Innere der Monarchie" berichtete: „Fichte hatte viel von dem Königsberger Aufenthalte zu erzählen, unsre Ansichten und Urteile über Ereignisse und Personen empfingen neues Licht. Unter andern brachte er die Zeitschrift Vesta mit, welche von ihm selbst anziehende Aufsätze über den Macchiavelli enthielt [...]. Auch die Anfange des nachher so berühmten Tugendbundes, oder sittlich-wissenschaftlichen Vereins, wie er eigentlich hieß, lagen hier schon verknüpft, wurden aber in vorsichtiger Heimlichkeit nur dunkel angedeutet."178

Der Bericht Varnhagens macht deutlich: im Vorfeld der Reden an die deutsche Nation steht Fichte noch immer unter dem Eindruck seines Kriegserlebnisses, er berichtet von seinen Beobachtungen aus Königsberg, präsentiert seinen Machiavelli-Aufsatz, und gleichzeitig weisen die Gründung des Tugendbunds, sein Plan zur Errichtung einer Berliner Universität und die einsetzende Beschäftigung mit Pestalozzi schon über den Krieg hinaus, auf die Idee einer geistigen Erneuerung. Vollständig wird dieses Stimmungsbild Fichtes im Herbst 1807 aber erst durch ein weiteres, entscheidendes Element: seine unbedingte Feindschaft gegen Napoleon. Den französischen Kaiser, wie so viele Berliner Bürger, jubelnd zu empfangen 179 , ihn als Erneuerer und Friedensbringer zu begrüßen wie Müller oder gar als Verkörperung des Weltgeists zu feiern wie etwa Hegel lag Fichte völlig fern - er kann in Napoleon immer nur den Unterdrücker und Imperialisten sehen. 180 Schon im Mai 1807, als sich der Zusammenbruch Preußens deutlich abzeichnete, stand fiir Fichte fest, daß er - anders als Müller, Humboldt und die übrigen deutschen Bewunderer Napoleons - niemals seinen Nacken „unter das Joch des Treibers"181 biegen werde, und in Berlin erbaute er sich dann, wie Varnhagen weiter mitteilt, an den napoleonfeindlichen Gedichten Friedrich August von Stägemanns, die er

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177

178 179

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Vgl. Patriotismus, GA II, S. 436 ff., und den Brief an seine Frau vom 3. Juni 1807, GA III, 6, S. 121. Vgl. Fichtes Brief an Willemer vom 12. Februar 1810, GA III, 6, S. 325, und I. H. Fichte, Fichte's Leben und litterarischer Briefwechsel, S. 515 ff. Varnhagen, Denkwürdigkeiten, S. 462. Vgl. zum Empfang Napoleons in Berlin den Bericht von Canvas George in: Kleßmann, Deutschland unter Napoleon, S. 174 ff., vgl. auch Flemming, „Held der Weltgeschichte" und „Geißel Gottes", S. 62 ff. Vgl. Fichtes kleine Schrift In Beziehung auf den Namenlosen aus dem Kriegswinter, GA II, 10, S. 75 ff. Brief an seine Frau vom 4. Mai 1807, GA III, 6, S. 89, ähnlich auch an Altenstein, 2. Juni 1807, ebd., S. 118.

Fichtes Rückkehr nach Berlin: Die Vorbereitung der Reden an die deutsche Nation

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seinen Freunden „mit gewaltige[m] Nachdruck bedeutend vorlas"182: „Was frevelnd anhub, end' es denn frevelnd! Auf, / Nachkommen Hermanns! auf zu den Waffen! dumpf, / Sturmglocken braust einher, und absagt / Jedem Segest und dem falschen Marbot!"183 So wie der preußische Oberrat Stägemann, mit dem Fichte in Königsberg guten Umgang hatte, die Niederlage gegen Napoleon mit dem Kampf der alten Germanen gegen Rom in Verbindung bringt und dem „Freiheitskämpfer" Hermann die beiden „Verräter" Segest und Marbod gegenüberstellt, fand auch Fichte im Herbst 1807 einen Ausdruck für sein Gefühl der Feindschaft in der Germania des Tacitus. Sein Sohn Immanuel Hermann berichtet: „So war denn Tacitus, dem er überhaupt unter allen römischen Prosaikern neben Seneca den Vorzug gab, besonders in den Episoden seiner Annalen über Deutschland fast seine einzige Lectüre, während er die Reden an die Deutschen schrieb. Er recitierte oft laut eine der kräftigsten Stellen, die der edle Geschichtsschreiber Herrmann zu seinen Völkern reden läßt, und wie neu begeistert wandte er sich dann der eigenen Arbeit zu."184

In der Vorstellung vom Redner, der im Moment der größten Bedrohung „zu seinen Völkern" spricht, findet Fichtes neu gewonnene Einsicht in die Gestaltbarkeit geschichtlicher Prozesse ihr Ideal und Vorbild. „Die grossen National- und Weltangelegenheiten sind bisher durch freiwillig auftretende Redner an das Volk gebracht worden"185 wird es später in den Reden an die deutsche Nation heißen, und es scheint naheliegend, daß Fichte sich mit seinen eigenen Vorträgen in diese Tradition einreihen möchte, die mit Hermann ihren Anfang nahm. In der politischen Rede erkennt auch er das geeignete Medium für seine Absicht, Einfluß auf die Ereignisse zu nehmen und korrigierend einzugreifen. Fichte zieht sich im Herbst 1807 weitgehend aus der Gesellschaft zurück, arbeitet an seinen Vorträgen und „lebt die meiste Zeit bey seinem Pulte"186, bis er schließlich im November seine Reden an die deutsche Nation in den Berliner Tageszeitungen ankündigen kann. Er ist wie begeistert von der Idee, mit seinen Reden Einfluß auf das politische Geschehen zu nehmen, und verfolgt deswegen auch den Plan, sie unmittelbar nach dem Vortrag einzeln drucken und verbreiten zu lassen, um ja „keine Zeit[,] deutsche Denkweise zu erneuern und zu bilden, zu verlieren"187. Allerdings machen ihm hier nicht wie befürchtet - die französischen, sondern „die unsrigen, die kindischen Censoren"188 einen Strich durch die Rechnung. Noch immer gelten in Preußen die scharfen ZensurEdikte Wöllners, und auch Fichte muß vor der Drucklegung erst das Imprimatur des 182 183 184 185 186 187 188

Varnhagen, Denkwürdigkeiten, S. 463. Stägemann, „Nach dem Frieden von Tilsit", in: Ders., Historische Erinnerungen, S. 37. I. H. Fichte, Fichte's Leben und litterarischer Briefwechsel, Bd. 1, S. 538. Reden, SW VII, S. 349. Marie Johanne Fichte an Müller, 8. November 1807, GA III, 6, S. 196. Brief an Beyme, 2. Januar 1808, GA III, 6, S. 213. Brief an Müller vom 31. Dezember 1807, GA III, 6, S. 206.

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I. Erste Rede und

Vorgeschichte

zuständigen Königlichen Kurmärkischen Oberkonsistoriums einholen. 1 8 9 D o c h obwohl er sich in einem Akt der Selbstzensur schon große Mühe gegeben hatte, allzu konkrete Anspielungen zu vermeiden und etwa v o m „Ausland" statt v o n Frankreich zu sprechen, war auch der Zensurbehörde nicht entgangen, daß „die Beziehungen auf die Preuß: Regierung sowohl, als auch die Hindeutungen auf das Französische Gouvernement, beides so verständlich und so grell sind" 190 , daß der eingesetzte Zensor N o l t e das Imprimatur für die erste Rede verweigern mußte. 1 9 1 Für Fichte, der sich seit seinen frühesten Schriften unermüdlich für Meinungs- und Pressefreiheit eingesetzt hatte, war diese Weigerung der Zensurbehörde ein großes Ärgernis, dem er nicht nur mit Briefen an Altenstein und B e y m e begegnete 1 9 2 , sondern auch dadurch, daß er der Veröffentlichung seiner Reden

an die deutsche

Nation

als

Buch Auszüge aus dem Machiavelli-Aufsatz und dem ersten Patriotismus-Gespräch voranstellte, die diese Mißstände anprangern. 193 189

190

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193

Mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II. hatte 1786 in Preußen die Gegenaufklärung eingesetzt, die vor allem mit dem Namen des Justizministers Johann Christoph Wöllner verbunden wird. Wöllner hatte 1788 ein Zensuredikt erlassen, unter das in erster Linie geistliche, aber auch philosophische Schriften fielen. Die Zensur der Reden an die deutschen Nation behandeln Max Lehmann, Fichtes Reden vor der preußischen Zensur, und, vor allem für die zweite Auflage von 1824, Doris Fouquet-Plümacher, Reimer und die Zensur von Fichtes Reden, siehe auch Becker, Fichtes Idee der Nation, S. 144 ff.; die Dokumente finden sich in GA III, 6, S. 199 ff. und im vierten Band von J.G. Fichte im Gespräch. So das Gutachten vom 13. Dezember 1807 des zuständigen Zensors Nolte, der dem Vortrag Fichtes auch beigewohnt hatte, zitiert nach Fichte im Gespräch, Bd. 4, S. 80 f. Die erste Rede konnte daher nicht als Einzeldruck erscheinen und mußte später für die Veröffentlichung als Buch geglättet werden, vgl. oben S. 32, Fußnote 47. Wahrscheinlich sind nur die Reden zwei bis fünf als Einzeldrucke erschienen, leider ist davon kein Exemplar erhalten geblieben, vgl. Fouquet-Plümacher, Reimer und die Zensur von Fichtes Reden, S. 251. Neben der ersten bereitete Fichte auch die 14. Rede Probleme mit der Zensur, vgl. dazu den Briefwechsel mit dem Oberkonsistorium, GA III, 6, S. 236 ff. In dem Zensurverfahren ging übrigens auch die Handschrift der 13. Rede verloren und konnte nicht wiedergefunden werden, so daß Fichte sich für den Druck zähneknirschend mit einer „Inhaltsangabe" dieser Rede behelfen mußte, vgl. zu diesem Vorfall den Briefwechsel, GA III, 6, S. 242 ff. Vgl. die Briefe an Altenstein vom 19. Dezember 1807, GA III, 6, S. 204 ff., und an Beyme vom 2. Januar 1808, ebd., S. 211 ff. Fichtes lebenslanger und mutiger Kampf für Meinungs- und Pressefreiheit ist sicherlich auch ein starkes Argument gegen alle vorschnellen Versuche, ihn als autoritären und despotischen politischen Denker hinzustellen. Für diesen Zusammenhang sehr aufschlußreich ist auch der Brief des vermeintlichen „Franzosenfressers" Fichte an Johannes von Müller, der sich mittlerweile in Diensten des Königreichs Westfalen befindet: Müller solle sich doch, so Fichte, bei Jérôme Bonaparte, dem von Napoleon eingesetzten König von Westfalen, einsetzen für ein „unverlezliches Gesez, das durchaus alle Censur aufhöbe, und unbedingte Preßfreiheit in allen Westphälischen Staaten einführte", wodurch Westfalen zu einem Vorbild für alle anderen deutsche Staaten werden und eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Schriftsteller und Wissenschaftler entwickeln könne, Brief an Müller vom 31. Dezember 1807, ebd., S. 207. Aufgrund der Zensur-Schwierigkeiten der ersten Rede hatte Fichtes Verleger Reimer die Drucklegung mit der zweiten Rede begonnen, sich aber bei dem zu erwartenden Umfang der später ein-

Fichtes Rückkehr nach Berlin: Die Vorbereitung der Reden an die deutsche Nation

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4.1. Fichtes Selbstanklage Die am Beispiel Preußens und Berlins beschriebene allgemeine Verunsicherung und Orientierungslosigkeit ging weit über die Hohenzollern-Monarchie hinaus und betraf, wie Fichte mit gutem Grund ausfuhrt, „alle Deutschen": nur noch 40 Prozent von ihnen „lebten nach 1807 unter denselben politischen Verhältnissen wie vor Beginn der Revolutionskriege"194. Doch nicht nur politisch war mit der Auflösung des Alten Reichs, der Gründung der Rheinbundstaaten und dem Niedergang Preußens ihre vertraute Welt ins Wanken geraten, zuvor schon hatte der alte Ständestaat sozial und legitimatorisch durch den Aufstieg des Bürgertums und die Französische Revolution erheblich an Geltung verloren und auch geistesgeschichtlich hatten die Säkularisierungserfolge von Aufklärung und kritischer Philosophie die Kirche als traditionelle Instanz der Sinngebung immer stärker ausgehöhlt.195 „Deutschland ist kein Staat mehr"196 hatte Hegel schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts beobachtet und damit einer Diskussion Ausdruck verliehen, die nach dem Siegeszug Napoleons, dem Reichsdeputationshauptschluß und dem juristischen Ende des Reichs an Brisanz gewann. Dieses Ineinander von langfristigen Modernisierungsprozessen und politischer Krise kulminierte nach 1806 und machte eine Öffentlichkeit ratlos, der „die Frage, ob nach dem Zersplittern des reichsrechtlichen Rahmens überhaupt noch von einem deutschen Volk oder einer deutschen Nation gesprochen werden könne, [...] unter den Nägeln" 197 brannte. Überall war man sich darüber im Klaren, daß eine neue Zeit begonnen habe und grundlegende Veränderungen notwendig seien. Während Hegel seine Hoffnungen damals noch auf „die Gewalt eines Eroberers" setzte, der die Deutschen zwingen würde, „sich zu Deutschland gehörig zu betrachten"198, die preußischen Reformer versuchten, die Reste ihres Staats behutsam zu modernisieren, und die patriotische Lyrik von Arndt, Körner, Kleist oder auch Stägemann den Krieg als Mittel nationaler

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198

gefügten ersten Rede etwas verschätzt. Fichte entschloß sich, den so entstandenen Freiraum mit den beiden Passagen aus seinen früheren Arbeiten zu füllen; bedenkenswert dazu die Ausführungen von Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 203 ff. Aretin, Das Reich, S. 445. Nicht nur die Deutschen waren von einschneidenden Veränderungen betroffen, denn der Untergang des Alten Reichs bedeutete auch einen „tiefen Einschnitt in die geistige und politische Kultur in ganz Europa", Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat, S. 20. Hans-Ulrich Wehler kommt zu dem Fazit: „Aufs Ganze gesehen führten die Revolution, Napoleon und die von beiden ausgelöste defensive Modernisierungspolitik zweifellos eine neue Gesamtkonstellation in Deutschland herbei, für welche der Begriff der Strukturveränderung einmal voll angemessen ist", Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 345 f., vgl. auch S. 332 ff., ähnlich auch Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 226 ff., und Nipperdey, Auf der Suche nach der Identität: Romantischer Nationalismus, S. 144 f. Hegel, Über die Reichsverfassung, S. 11. Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 178, vgl. auch den Artikel „Volk, Nation, Nationalismus, Masse", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S. 326 f. Hegel, Über die Reichsverfassung, S. 145.

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I. Erste Rede und Vorgeschichte

Erneuerung feierte, ist Fichte zwar auch von der Notwendigkeit „einer ganz neuen Ordnung der Dinge" 199 überzeugt, gibt aber mit seinen Reden an die deutsche Nation eine andere Antwort auf die allgemeine Suche nach einer neuen Identität: „Wo die gesammte Nationalangelegenheit der Deutschen bisher ihren Sitz hatte und dargestellt wurde am Ruder des Staates, da wäre sie verwiesen. Soll sie nun hiermit nicht ganz ausgetilgt seyn von der Erde, so muss ihr ein anderer Zufluchtsort bereitet werden, und zwar in dem, was allein übrigbleibt, bei den Regierten, in den Bürgern." 200

Offen und in zweifacher Hinsicht zieht Fichte die Konsequenzen aus seinem Kriegserlebnis: im Legitimitätsverlust der bisherigen Regierung infolge des Königsberger Trauerspiels und in seiner neuer Einsicht in die Möglichkeiten, Geschichte beeinflussen und steuern zu können, die ihm seine Machiavelli-Lektüre eröffnet hatten. Wie Herder und Hegel hatte auch Fichte die Schriften des Florentiners vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Deutschlands gelesen201 und von daher dem „Aufruf, sich Italiens zu bemächtigen und es von den Barbaren zu befreien", also dem 26. und letzten Kapitel des Principe, besondere Beachtung geschenkt. Entgegen der ursprünglichen Reihenfolge eröffnete er mit diesem Kapitel seine Übersetzungen aus dem Principe und kommentierte es mit großer Zustimmung.202 Natürlich hatte Fichte schon vor dem Krieg und vor seiner Beschäftigung mit Machiavelli von der nationalen Gemeinschaft der Deutschen, zumindest der kulturellen und militärischen, gesprochen und auch für einen gemeinsamen Kampf der deutschen Staaten gegen Napoleon optiert - aber erst nun sieht er die Gelegenheit gekommen, zur nationalen Selbstbestimmung auch als einem politischem Akt aufzurufen. Italien mußte für Machiavelli erst „unterdrückter als die Juden werden, geknechteter als die Perser, zerrissener als die Athener; ohne Führer, ohne gesetzliche Ordnung, geschlagen, geplündert, zerfleischt und von Feinden überrannt"203 mußte es dastehen, bevor Machiavelli zur nationalen Einheit aufrufen wollte. Und auch Fichte, das hat die Analyse seiner ersten Rede gezeigt, erkennt gerade in der Zerstörung der alten Welt, von der er in der Republik der Deutschen ein drastisches Bild gezeichnet hatte, die Möglichkeit eines radikalen Neuanfangs und formuliert erst dann die nationale Einheit auch als politische Forderung. Anders aber als Machiavelli, 199 200 201

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Reden, SW VII, S. 272. Reden, SW VII, S. 398, vgl. auch S. 278. Während Herder besonderen Nachdruck auf das 26. Kapitel legte, radikalisierte sich dieser Zugang zu Machiavelli bei Hegel, der einzig und allein vom letzten Kapitel des Principe ausging. Vgl. Elkan, Die Entdeckung Machiavellis, S. 432 ff., siehe auch Jamme, Hegel als Advokat Machiavellis, S. 633 ff. Zu dem, sehr charakteristischen, Unterschied zwischen Hegel und Fichte in ihrer Rezeption Machiavellis führt Albert Elkan aus: „Gegenüber Hegels schwermütiger Resignation drängt bei Fichte alles nach unmittelbarer Betätigung, nach Umsetzung der Theorie in die Wirklichkeit", Elkan, Die Entdeckung Machiavellis, S. 440. „Welches Thor würde sich ihm verschließen? Welches Volk ihm den Gehorsam verweigern? Wessen Eifersucht sich ihm in den Weg stellen?", Machiavelli, GAI, 9, S. 248. Machiavelli, II Principe, S. 199 f., vgl. dazu Münkler, Machiavelli, S. 357 ff., und Kersting, Machiavelli, S. 74 ff.

Fichtes Rückkehr nach Berlin: Die Vorbereitung der Reden an die deutsche Nation

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der seinen Aufruf noch an das Fürstenhaus der Medici bzw. einen kommenden uomo virtuoso adressiert hatte, trägt Fichte in den Reden an die deutsche Nation die „Nationalangelegenheit" den Bürgern an. Seine Adressierung an das Volk läßt aus Untertanen Bürger, aus Regierten Regierende werden und schafft damit erst das politische Bewußtsein, das wesentliche Voraussetzung nationalen Denkens ist. Mit diesem Akt der Erzeugung eines politischen Selbstbewußtseins brechen die Reden an die deutsche Nation mit der jahrhundertealten Tradition, aufgrund der überstaatlichen, in vielem irrealen Struktur des Alten Reichs „Deutschheit" gerade nicht politisch, sondern rein literarisch und kulturell zu fassen bzw. gleich ins Metaphysische eines himmlischen Vaterlands zu transzendieren.204 Fichte dagegen hofft darauf, sein Vortrag werde „an allen Orten deutsche Gemüther zu Entschluss und That entzünde[n]"205, und bricht offen mit der Tradition, denn zum „erstenmal in der deutschen Geschichte überhaupt" wurde mit den Reden an die deutsche Nation und dem nationalen Denken nach 1806/07 insgesamt „versucht [...], eine große Zahl Deutscher politisch-patriotisch zu aktivieren, und zwar nicht nur ihre Gesinnungen, sondern letztlich auch ihr Handeln"206. So folgerichtig Fichtes Aufforderung an die Regierten, an die Bürger auch sein mag, so sehr muß sie doch irritieren. Zwar mag sie konsequent aus Kriegserlebnis und der Krise Preußens folgen, vor dem Hintergrund der Kultur- und Gesellschaftskritik seiner Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters aber kommt sie eher überraschend. Hatte Fichte dort seine Gegenwart nicht als eine Epoche der „allgemeinen Oberflächlichkeit und Wandelbarkeit" beschrieben, als „ein Zeitalter, das der Ideen entbehrt" und deswegen „nothwendig eine große Leere" und „immer wiederkehrende Langeweile"207 empfinden muß? War nicht die so verhängnisvolle Saat der Selbstsucht erst bei den Regierten aufgegangen und von dort auf die Regierenden übergesprungen? Und hatte Fichte nicht sogar noch im Juni 1807 bitter über „die intellektuelle, und moralische Verdorbenheit der Generation"208 geklagt? Daß er nun trotzdem seine Reden an die Bürger richten und ihnen den Zufluchtsort der „Nationalangelegenheit" antragen kann, erklärt Fichte mit der Selbstaufhebung der Selbstsucht in dem vergangenen Krieg und der folgenden Zerstörung des Zeitalters der vollendeten Sündhaftigkeit, die die Wiederaufnahme der Betrachtungen ja erst erforderlich macht: „Diese nunmehr erfolgte Vernichtung der Selbstsucht war der von mir angegebene Fortgang der Zeit [,..]."209 Schon in den Grundzügen hatte Fichte auf die selbstzerstörerische Tendenz einer entfesselten Aufklärungsphilosophie verwiesen,

204 205 206 207 208 209

Vgl. Schulz, Von der Verfassung der Deutschen, S. 57 ff. Reden, SW VII, S. 266, vgl. auch S. 267, wo Fichte von der „Aufforderung zur That" spricht. Schulz, Von der Verfassung der Deutschen, S. 60. Grundzüge, GAI, 8, S. 249 f. Patriotismus, GA II, 9, S. 425. Reden, SW VII, S. 270.

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I. Erste Rede und Vorgeschichte

deren „Separation der subjektiven Freiheit von der allgemeinen Vernunft" 210 nur Egoismus und Materialismus zur Folge haben kann und die mit dieser Verabsolutierung individueller Freiheit in letzter Konsequenz die „Vernunft selber zerstört"211. Dieser apriorische Prozeß der Selbstaufhebung ist für Fichte nun auch realiter an sein Ende gekommen und bildet den geschichtsphilosophischen Ausgangspunkt für seine Reden an die deutsche Nation. Eindrucksvoll beschreibt er dann in seiner ersten Rede den konkreten Ort und Augenblick des Vortrags als Moment einer Zeitenwende, als Brennpunkt, der die Erfahrungen des untergegangenen und den Ausblick auf das kommende Zeitalter spiegelt. Die Selbstzerstörung von Egoismus und Unvernunft erlaubt es den Reden an die deutsche Nation daher, den nunmehr ernüchterten Bürgern die „Nationalangelegenheit" im Sinne eines Ausblicks auf die Zukunft anzutragen, bedeutet aber nicht, daß sie sich die geistige Erneuerung auch schon von ihren Zeitgenossen erwarten bzw. erwarten dürfen. Diese Verbindung von apriorischer Geschichtsphilosophie und politischer Analyse, die am Anfang der Reden an die deutsche Nation steht, heißt für Fichte aber auch, daß er in seiner Aufarbeitung des Untergangs der alten Welt nicht bei den realgeschichtlichen Vorgängen stehen bleiben darf, denn schließlich war die Schwäche der Regierungen - neben der Aufklärung des nur sinnlich berechnenden Verstands und der fehlenden Teilnahme für das Ganze - nur einer von drei Faktoren, die er in der ersten Rede für diesen Untergang verantwortlich gemacht hatte: „[...] die letzten Ereignisse sind nicht die Folgen irgend eines besonderen Fehltrittes eines einzelnen Stammes oder seiner Regierung, sie haben sich lange genug vorbereitet, und hätten, wenn es bloss auf die in uns selbst liegenden Gründen angekommen wäre, schon vor langem uns ebensowohl treffen können. [...] Nicht sowohl die einzelnen Personen, die von ohngefahr auf den höchsten Plätzen sich befunden haben, sondern die Verbindung und Verwickelung des Ganzen: der ganze Geist der Zeit, die Irrthümer, die Unwissenheit, Seichtigkeit, Verzagtheit, und der von diesen unabtrennliche sichere Schritt, die gesammten Sitten der Zeit sind es, die unsere Uebel herbeigeführt haben [,..]."212

Demnach bezieht sich die geschichtlich-politische Seite der Reden an die deutsche Nation - die Einbeziehung der Regierungen, der Fall der Betrachtungen in das Gebiet der Geschichte, die Konzentration auf Ort und Augenblick des Vortrags und der Aufruf zur nationalen Selbstbestimmung - nicht auf konkrete und singuläre Ereignisse wie etwa die Führungsschwäche Friedrich Wilhelms III. oder die Kette von politischen Fehlentscheidungen vor und während des Kriegs, sondern auf den geistigen, kulturellen und institutionellen Rahmen dieser Ereignisse, der ihnen Kontur und Tiefe gibt und der sie erst ermöglicht hat. Wenn Fichte aber die eigentlichen Ursachen des Untergangs beim „ganzen Geist der Zeit" sucht und von Irrtümern und Unwissenheit spricht, dann

210

211 212

Oesterreich, Das gelehrte Absolute, S. 99, vgl. auch ders., Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, S. 134 ff. Grundzüge, GAI, 8, S. 206. Reden, SW VII, S. 474 f.

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relativiert er damit nicht nur das Versagen der Regierenden als eine bloße Folge dieser tieferen Ursachen, sondern verweist auch auf ein verborgenes Motiv seiner Vorträge: das Eingeständnis einer gewissen Verantwortung für den Untergang. Schon in Machiavellis Principe, den er im Kriegswinter ins Deutsche übertragen hatte, dürfte Fichte vielleicht über die folgende Stelle aus dem 15. Kapitel gestolpert sein: „[...] es liegt eine so große Entfernung zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, daß derjenige, welcher das, was geschieht, unbeachtet läßt zugunsten dessen, was geschehen sollte, dadurch eher seinen Untergang als seine Erhaltung betreibt [...]."213

Möglicherweise sind Fichte hier erstmals ernste Zweifel an dem Programm seiner Grundzüge gekommen, dem Ungeist seiner Zeit mit der „Vernunftkunst philosophischer Rhetorik"214 begegnen zu wollen. Schon dort hatte er ja erkannt, daß der Ausweg aus einem Zeitalter des Egoismus und der Unvernunft nur in einer Opferbereitschaft der Bürger fiir höhere Ideen liegen könne, für die er damals allerdings noch eine gewisse Bereitschaft seiner Umgebung vorausgesetzt hatte. Ganz einem geschichtsphilosophischen Idealismus befangen, hoffte Fichte, mit seinen Vorträgen den „Funken des höhern Lebens wenigstens zu reizen, und, inwiefern es möglich ist, ihm Stoff zu geben"215. Dieser Glaube an eine innere Bereitschaft seiner Zeitgenossen zu einer moralischen Erneuerung, einem Sinn für „das Phänomen der Aufopferung" 216 , muß ihm zwischen den beiden Vorlesungszyklen abhanden gekommen sein - jedenfalls äußert sich Fichte in den Reden an die deutsche Nation weitaus skeptischer über die Möglichkeiten einer Erneuerung infolge gelehrter Vorträge: „[...] dass hier abermals die Sätze und Ansichten ausgesprochen werden, welche die neuere deutsche Philosophie seit ihrer Entstehung geprediget hat, und wiederum geprediget, weil sie eben nichts weiter vermochte, denn zu predigen. Dass diese Predigten fruchtlos verhallet sind in der leeren Luft, ist nun hinlänglich klar, auch ist der Grund klar, warum sie so verhallen mussten. Nur auf Lebendiges wirkt Lebendiges; in dem wirklichen Leben der Zeit aber ist gar keine Verwandtschaft zu dieser Philosophie [...] Sie ist gar nicht zu Hause in diesem Zeitalter, sondern sie ist ein Vorgriff der Zeit, und ein schon im voraus fertiges Lebenselement eines Geschlechtes, das in demselben erst zum Lichte erwachen soll."217

Erst jetzt, im Herbst 1807, hat Fichte erkannt, daß seine Philosophie „gar nicht zu Hause ist in diesem Zeitalter" und Lebendiges nur auf Lebendiges wirken kann - eine Einsicht, die zur notwendigen Voraussetzung seines Plans einer Nationalerziehung 213 214 215 216 217

Machiavelli, II Principe, S. 119. Oesterreich, Das gelehrte Absolute, S. 109. Grundzüge, GA I, 8, S. 218. Grundzüge, GA I, 8, S. 235. Reden, SW VII, S. 309, vgl. auch S. 282. Peter L. Oesterreich interpretiert diese Stelle als „die von Fichte ausdrücklich eingestandene Niederlage seiner bisherigen Philosophie", Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 161. Auch in den Grundzügen gibt es vereinzelt schon Belege dafür, daß Fichte „die extreme Differenz zwischen der spekulativen Wahrheit seiner Geschichtsmetaphysik und den dominierenden Glaubwürdigkeitsstandards des Zeitgeists allerdings selbst bemerkt" hat, Oesterreich, Das gelehrte Absolute, S. 111.

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I. Erste Rede und Vorgeschichte

wird. Fichte glaubt zwar, daß die reinigende Wirkung des Untergangs auf sein Publikum ausreicht, um seinen Plan einer geistigen Erneuerung auf den Weg zu bringen, weiß aber auch, daß er für die Verwirklichung seiner Idee „auf das gegenwärtige Geschlecht [...] Verzicht thun"218 muß. Doch das verborgene Motiv der Reden an die deutsche Nation, das Eingeständnis einer Mitverantwortung, geht über die Frage nach dem Weg zur geistigen Erneuerung innere Einsicht oder Erziehung - hinaus. Schon der Schriftsteller Fouqué de la Motte, der im Publikum der Reden saß, sprach in seinem Bericht von „Fichte's Selbst-Anklage über die Versunkenheit der Gegenwart": ,¿Selbst-Anklage nenne ich es, und, wie ich zuversichtlich meine, würde mein verklärter väterlicher Freund [...] nichts gegen diese Bezeichnung einer Hauptrichtung seiner Reden an die deutsche Nation zu erinnern haben. Gleich dem großen deutschen Dichter des siebzehnten Jahrhunderts, Paul Flemming, ließ der große deutsche Denker des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, Fichte, bei seinem Tadel der Gegenwart nimmermehr jenen streng-milden Spruch aus den Augen. ,Ich sag's auch mir zum Hohne. *"219

Um einiges boshafter, aber nicht minder scharfsinnig hat auch der mit Fichte überworfene Schelling das verborgene Motiv der Reden an die deutsche Nation erkannt und auch gesehen, worauf sich Fichtes Selbstanklage richtet: „Sonderbar ist, daß unter dem Ruin des preußisch-juridischen Staats, dessen Ideal zur letzten Verherrlichung sich eben in Fichte reproducirt hatte, er auf Machiavelli fiel und ganz von ihm ergriffen auch gleich eine Abhandlung über ihn ad modum des Goetheschen Winkelmanns (in der nämlichen Zeitschrift) schrieb, welche (Abhandlung) von verständigen Leuten sehr gerühmt wird. Ein solcher schrieb aus Königsberg recht gut über ihn hierher, ,seine alte Wahrheit sei ihm genommen worden; das wollt' er sich nicht gestehen, nun sei er ein Betrüger seiner selbst und der Welt, ein Deutler und Wortklauber etc."220

Die Annahme, daß Fichte in den Reden an die deutsche Nation implizit auch den Verlust seiner alten Wahrheit - das Ideal des preußischen-juridischen Staats - eingestehen muß, kann nicht nur sein apokalyptisches Pathos erklären, denn meist versteckt sich hinter apokalyptischer Kultur- und Zeitkritik „eine mühsam verhüllte Leidenschaft", „eine verratene Liebe"221, sondern auch seine Hinwendung zu einer neuen Form politischer Gemeinschaft, der Nation. Die Überprüfung dieser Annahme lenkt den Blick zunächst zurück auf die Entwicklung des politischen Denkens vor den Reden und stellt die Frage, ob und inwieweit der preußisch-juridische Staat tatsächlich das politische Ideal Fichtes gewesen sein könnte.

218 219 220

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Reden, SW VII, S. 309, ähnlich auch auf S. 366. Zitiert nach Fichte im Gespräch, Bd. 4, S. 79, Hervorhebung im Original durch Sperrdruck. Schelling an Windischmann, 31. Dezember 1807, zitiert nach Fichte im Gespräch, Bd. 4, S. 100. Der Bericht aus Königsberg, auf den Schelling sich bezieht, stammte von Nicolovius, vgl. ebd., Anm. 5. Eco, Apokalyptiker und Integrierte, S. 26.

II. Das politische Denken Fichtes vor den Reden an die deutsche Nation

Fichtes „Kant-Erlebnis" ist in der Literatur oft beschrieben worden, doch von keinem so anschaulich wie von ihm selbst.1 Als im August 1790 ein Student an seine Tür in Leipzig klopft und um private Stunden über die Philosophie Kants bittet, befindet sich Fichte in großer Not: sein Theologiestudium hatte er aus finanziellen Gründen abbrechen müssen, seitdem lebt er von Bettelbriefen und schlägt sich mehr schlecht als recht als Hauslehrer durch. Er ist auf jede Einnahme dringend angewiesen und sagt dem Studenten sofort zu - ohne Kant bislang gelesen zu haben. Schnell besorgt er sich die Schriften des Philosophen und arbeitet sich ein. Schon nach kurzer Zeit berichtet er dann seinem Freund Friedrich August Weißhuhn euphorisch über seine Lektüre: „Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Sätze, von denen ich glaubte, sie seyen unumstößlich, sind mir umgestoßen; Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, ζ. B. der Begriff einer absoluten Freiheit, der Pflicht u.s.w. sind mir bewiesen, und ich fühle mich darüber nur um so froher. Es ist unbegreiflich, welche Achtung für die Menschheit, welche Kraft uns dieses System giebt! [...] Welch ein Segen für ein Zeitalter, in welchem die Moral von ihren Grundfesten aus zerstört, und der Begriff Pflicht in allen Wörterbüchern durchstrichen war f...]."2

Auch die weitere intensivierte Beschäftigung Fichtes mit den Schriften Kants wird um die zentralen Begriffe der Freiheit, der Pflicht und der Moral kreisen und von Anfang an die praktischen, ja revolutionären Qualitäten der kritischen Philosophie hervorheben. Ein weiterer Brief vom November 1790 an Henrich Nikolaus Achelis, der wie Fichte Hauslehrer in Zürich war, bringt dies deutlich zum Ausdruck: „Der Einfluß den diese Philosophie, besonders der Moralische Theil derselben, der aber ohne das Studium der Kr. d. r. Vft. nicht verständlich ist, auf das ganze Denksystem eines Menschen hat, die Revolution, die durch sie besonders in meiner ganzen Denkungsart entstanden ist, ist unbegreiflich. Ihnen besonders bin ich das Geständnis schuldig, daß ich jezt von ganzem Herzen an die Freiheit des Menschen glaube, u. wohl einsehe, daß nur unter dieser

2

Die jüngste Darstellung findet sich in der Biographie von Anthony La Vopa, Fichte. The Self and the Calling of Philosophy, S. 45 ff., vgl. aber auch die älteren Schilderungen von Léon, Fichte et son temps, Bd. 1, S. 80 ff., Jacobs, Fichte, S. 20 ff., und Medicus, Fichtes Leben, S. 30 ff. Brief an Weißhuhn vom August/September 1790, GA III, 1, S. 167, vgl. zu diesem Brief den Aufsatz von Philonenko, „Traduction et commentaire de la lettre à F. A. Weisshuhn".

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II. Das politische Denken vor den Reden an die deutsche Nation Voraussezung Pflicht, Tugend, u. überhaupt eine Moral möglich ist [...]. Wenn ich Zeit und Ruhe finde, so werde ich vor der Hand sie ganz der Kantischen Philosophie widmen. Seine MoralGrundsätze, im populärem Vortrage, mit Kraft und Feuer dem Publikum an's Herz gelegt, wären vielleicht eine Wohlthat für die Welt. Ich hätte Lust mir dies Verdienst zu erwerben [...]. Ueberdies ist seine Moral eines popularen Vertrags fähig; aber das Geschäft erfordert Muße und Unabhängigkeit, und werde ich die haben?"3

Fichte nahm sich die „Zeit und Ruhe", um sich ganz der Kantischen Philosophie zu widmen, die ihn zunächst auf so produktive Weise von den religionsphilosophischen Aponen, in die ihn seine früheren deterministischen Versuche geführt hatten4, befreite, daß er 1792 seine erste Publikation überhaupt vorlegen konnte: den Versuch einer Critik aller Offenbarung. Die Schrift machte ihn mit einem Schlag in ganz Deutschland bekannt und wurde, begünstigt durch ihre anonyme Veröffentlichung, von vielen für die langerwartete Religionsphilosophie Kants selbst gehalten. Erst danach konnte Fichte sich der angestrebten Popularisierung der kritischen Philosophie widmen, die er zunächst auf die zeitgenössischen Diskussionen über die Französische Revolution anwendet. Die unmittelbare Beschäftigung Fichtes mit der Französischen Revolution fand im wesentlichen in der Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrücktden und, vor allem, in den Beiträgen zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution statt, die beide im Abstand von nur wenigen Wochen 1793 anonym veröffentlicht wurden.

1. Fichtes Schriften zur Französischen Revolution Am 2. April 1793 schreibt der dreißigjährige Fichte an Immanuel Kant, den er im Sommer 1791 in Königsberg besucht hatte, um ihm von seinen Plänen und Projekten zu berichten. Dabei erwähnt er auch die folgende Aufgabe: „Dann glüht meine Seele von einem großen Gedanken: die Aufgabe, S. 372-374. der Critik d. r. Vft. (dritte Auflage) zu lösen."5 Die Stelle aus Kants Hauptwerk, auf die Fichte sich hier bezieht, ist die folgende: „Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann (nicht von der größesten Glückseligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen), ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß im ersten Entwürfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muß, und wobei man anfänglich von den gegenwärtigen Hindernissen abstrahieren muß, die vielleicht nicht sowohl aus der menschlichen Natur unvermeidlich ent-

3 4

5

Briefentwurf an Achelis, November 1790, GA III, 1, S. 193 ff. Zur intellektuellen Entwicklung Fichtes in der vorkantischen Periode vgl. vor allem die Studie Reflexion und Gefühl von Reiner Preul, zu den Aporien seiner frühen theologischen Versuche vgl. ebd., S. 121. Brief an Kant vom 2. April 1793, GA III, 1, S. 389.

Fichtes Schriften zur Französischen Revolution

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springen mögen, als vielmehr aus der Vernachlässigung der echten Ideen bei der Gesetzgebung."6

Es ist kein Zufall, daß gerade diese Stelle aus der Kritik der reinen Vernunft die Seele des jungen Fichte erglühen ließ, werden hier doch die grundsätzlichen Aufgaben des politischen Denkens formuliert: das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit, Recht und Gesetz, Einheit und Vielheit. Fichte selbst, der sich im April 1793 mitten in der Ausarbeitung des zweiten Hefts seines Beitrags befand, hatte schon im ersten Heft seine Beschäftigung mit der Französischen Revolution auf diese Ebene eines prinzipiellen Denkens gehoben, wie gleich der erste Satz der Vorrede signalisierte: „Die französische Revolution scheint mir wichtig für die gesammte Menschheit. Ich rede nicht von den politischen Folgen, die sie sowohl für jenes Land, als auch für benachbarte Staaten gehabt, und welche sie, ohne das ungebetene Einmischen, und das unbesonnene Selbstvertrauen dieser Staaten wohl nicht gehabt haben würde. Das alles ist an sich viel, aber es ist gegen das ungleich Wichtigere immer wenig." 7

Zwei Absätze später löst Fichte dann auf, was er für das „ungleich Wichtigere" bei der Beurteilung der Französischen Revolution hält: „[...] und so scheint mir die französische Revolution ein reiches Gemälde über den großen Text: Menschenrecht und Menschenwerth."8 „Menschenrecht" und nicht „politische Folgen" stehen für Fichte im Mittelpunkt seines Interesses an der Französischen Revolution. Er folgt damit ganz der Vorgabe Kants, der ja ebenfalls davon sprach, von den „gegenwärtigen Hindernissen" zu abstrahieren und sich statt dessen mit den „echten Ideen", also mit Vernunftzwecken, auseinanderzusetzen. Wer von Fichtes Schriften etwa eine Auseinandersetzung mit den konkreten Ereignissen und Figuren der Revolution erwartet hatte, der wird schon auf der ersten Seite enttäuscht und auf den abstrakten und rechtsphilosophischen Gehalt eingestimmt. Natürlich macht Fichte mit dem Begriff „Menschenrecht" eine der zentralen Vorstellungen der Französischen Revolution zum Thema seines Beitrags, doch gibt die Revolution selbst nur Anlaß und Anregung - „die Farben zur Erleuchtung des Gemäldes für blöde Augen" 9 - ab für eine umfangreiche rechtsphilosophische Diskussion. Diese Diskussion gedenkt Fichte in zwei Teilen zu führen, denn „bei Beurtheilung einer Revolution [...] können nur zwei Fragen, die eine über die Rechtmäßigkeit, die zweite über die Weisheit derselben, aufgeworfen werden"10. Die Frage nach der Weisheit einer Revolution, d. h. ob „die zur Erreichung des beabsichtigen Zwecks gewählten Mittel die angemessensten"11 sind, hatte sich Fichte für einen zweiten Teil des Beitrags aufgehoben, der aber nie erschienen ist und für den der Nachlaß auch keine Skizzen oder Vorstudien aufweist. Bleibt also der vorliegende Teil des Beitrags über 6 7 8 9 10 11

Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke, Bd. 3, S. 323 f. Beitrag, G A I , 1,S. 203. Beitrag, GA I, 1,S. 203. Beitrag, GAI, 1,S. 204. Beitrag, GA I, 1,S. 210. Beitrag, GA I, 1,S. 210.

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II. Das politische Denken vor den Reden an die deutsche Nation

die Rechtmäßigkeit einer Revolution, in dem er die Frage erörtern möchte, „aus welchen Grundsätzen man Staatsveränderungen zu beurtheilen habe" - so die Überschrift, unter die er seine Einleitung stellt. Mit diesem Programm, die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Französischen Revolution grundsätzlich zu diskutieren, führt Fichtes Beitrag den Leser mitten hinein in eine kontroverse und leidenschaftliche Debatte jener Jahre, die durch Edmund Burkes Schrift Betrachtungen über die Französische Revolution von 1790 ausgelöst wurde. In dieser Schrift, die zu den meist gelesenen politischen Abhandlungen des späten 18. Jahrhunderts gehört12, hatte der britische Politiker und Publizist in so scharfen Worten gegen die Französische Revolution polemisiert, daß Novalis von einem ,/evolutionäre [n] Buch gegen die Revolution"13 sprach. Burkes Position ist eine konsequent konservative, in der „der Grundsatz der Achtung für das Alte"14, den er in der liberalen englischen Verfassung vorbildlich bewahrt sieht, über den abstrakten und rationalistischen Idealen der französischen Revolutionäre steht, die er für gefährliche Prinzipienreiterei und verantwortungslose Neuerungssucht hält. Demgegenüber betont Burke die Bedeutung der Geschichte als Lehrmeisterin und notwendigem Orientierungsrahmen politischen Handelns15: Allein sie kann dem Staatsmann ein Gefühl für das komplexe und sensible Geflecht eines sozialen Gemeinwesens, das sich über Jahrhunderte entwickelt hat, vermitteln, und nur die Geschichte erlaubt es ihm, an dem Erfahrungsreichtum und der Weisheit seiner Vorväter teilzuhaben. Dabei behauptet Burke gar nicht, daß die Ideen der Revolutionäre an sich falsch seien, er behauptet nur, daß Theorie und Praxis zweierlei sind und gerade deswegen der Ideentransfer zwischen diesen beiden Bereichen so fatal sein kann: „Die eingebildeten Rechte dieser Theoretiker sind lauter Extreme: und je mehr sie im metaphysischen Sinne wahr sind, desto mehr sind sie im moralischen und politischen falsch."16

Diese fundamentale These Burkes, daß Theorie und Praxis zweierlei sind und im politischen Sinne falsch sein kann, was im metaphysischen wahr ist, löste eine große Debatte unter deutschen Intellektuellen aus, die vor dem Hintergrund der jakobinischen terreur an unmittelbarer Brisanz gewann, ging es doch um die grundlegende Frage, ob ein direkter Weg von der philosophischen Einsicht zur politischen Aktion führt, und damit um eine Überprüfung des revolutionär-jakobinischen Selbstverständnisses.17 Zahl12

13 14 15

16 17

Vgl. Alter, Burke, S. 70, und Vogel, Konservative Kritik, S. 98 ff.; für Dieter Henrich ist Burkes Schrift „zu einem der wirkungsmächtigsten Bücher geworden, die je geschrieben worden sind", Henrich, Einleitung zu Burke, S. 8. Zit. nach Vogel, Konservative Kritik, S. 98. Burke, Betrachtungen, S. 82. Vgl. Burke, Betrachtungen, S. 134: „Die Wissenschaft, einen Staat zu bauen oder wiederherzustellen oder zu verbessern, kann wie jede andere Erfahrungswissenschaft a priori nicht gelehrt werden; und die Erfahrung, die uns in dieser bloß praktischen Wissenschaft unterrichten soll, darf keine kurze Erfahrung sein." Burke, Betrachtungen, S. 136. Vgl. dazu Vogel, Konservative Kritik, S. 73 ff.

Fichtes Schriften zur Französischen

69

Revolution

reiche Aufsätze erschienen zu dem sogenannten Theorie-Praxis-Problem, v o n denen die vergleichsweise unpolitische Arbeit Kants Über den Gemeinspruch: Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Heft v o n Fichtes Beitrag

Das mag in der

die etwa zeitgleich mit d e m ersten

im Herbst 1793 erschien, die einflußreichste wurde.

A u c h Fichte konnte sich der Brisanz dieser Frage nicht entziehen: Mit seinem Beitrag

zur Berichtigung

der Urteile

des Publikums

über die französische

Revolution

hat er es vor allem auf den deutschen Burke-Schüler und hannoverschen Regierungssekretär August Wilhelm Rehberg abgesehen und tritt in eine offene Diskussion mit Rehbergs Untersuchungen

über die Französische

Revolution

ein, polemisiert g e g e n

ihren Autoren als einen der ersten „Sophisten Deutschlands" 1 8 und greift ihn mit starken Worten auch persönlich an. 19 Rehberg, der heute - nicht zuletzt infolge der Desavouierung durch Fichte - nahezu vergessen ist 20 , war ein einflußreicher Publizist und hatte in seinen Arbeiten im Anschluß an Burke eine Art Zwei-Welten-Lehre vorgetragen, die eine Vermittlung zwischen Theorie und Praxis nicht nur apodiktisch ausschließt 2 1 , sondern sogar für höchst verhängnisvoll hält: „Die Ausbildung positiver Bestimmungen der Grundgesetze der bürgerlichen Gesellschaft ist allein von der Beobachtung und Erfahrung über die Bedürfnisse und das Betragen des Menschen in bürgerlichen Verhältnissen zu erwarten [...]. Wird hingegen ein System von a priori erweislichen positiven Bestimmungen des Naturrechts auf die Welt der Menschen angewandt, so kann daraus nichts entspringen als eine gänzliche Auflösung der gegenwärtigen bürgerlichen Verfassungen." 22 D i e Auflösung der gegenwärtigen Verfassungen ist für Rehberg eine zwingende Folge aller apriorischen und naturrechtlichen Systeme, denn philosophische Abstraktionen 18 19

20

21

22

Beitrag, GA I, 1, S. 208, ähnlich auch auf S. 258. „Es ist weder Vergnügen noch Ehre gegen einen Schriftsteller zu Felde zu ziehen, dem die Natur die Talente versagt hat, zu seyn, was er gern wäre, ein blendender Sophist; und der in Gedanken und Ausdnik zur lezten Klasse der Autoren gehört, welche gerade vor den Skriblern hergeht [...]", Beitrag, GA I, 1, S. 351. Daß Fichte sich in Form und Wortwahl seiner Auseinandersetzung mit Rehberg durchaus von persönlichen Ressentiments hat leiten lassen, zeigt nicht nur sein ob der heftigen Kritik an Rehberg paradox anmutendes Lob für die Schrift von Brandes (vgl. Beitrag, GA I, 1, S. 215, Anm. **), der inhaltlich mit Rehberg absolut konform geht (zur Übereinstimmung von Rehberg und Brandes vgl. Epstein, Ursprünge des Konservativismus, S. 635), sondern auch sein schlechtes Gewissen, von dem er sich im November 1793 in einem Brief an Reinhold zu entlasten versucht (Brief vom 13. November 1793, GA III, 2, S. 12 f.). Zu Unrecht, wie Klaus Epstein meint, der ihn zu den „fähigsten literarischen Gegner[n] der Französischen Revolution in Deutschland" zählt, Epstein, Ursprünge des Konservativismus, S. 636; ähnlich auch Alexis Philonenko, Théorie et praxis, S. 14: „L'ouvrage de Rehberg est un des meilleurs pamphlets écrits contre la Révolution française [...]." „So ist also das ganze System einer bürgerlichen Gesellschaft, welches auf Prinzipien a priori beruhet, eine Idee, die nur in einer Welt angewendet werden könnte, deren Mitglieder vollkommen (metaphysisch) freie Wesen und deren jedes der Schöpfer seines eigenen Wirkungskreises wären", Rehberg, Verhältnis der Theorie zur Praxis, S. 127, vgl. auch seine Untersuchungen über die Französische Revolution, Bd. 1, S. 49 f. Rehberg, Verhältnis der Theorie zur Praxis, S. 127 f.

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II. Das politische Denken vor den Reden an die deutsche Nation

wie Freiheit und Gleichheit sind mit der politischen Wirklichkeit nicht zu vereinbaren und widersprechen aller historischen Erfahrung, schaffen aber gleichzeitig Begehrlichkeiten und Erwartungen beim Volk, die niemals befriedigt werden können.23 „Diese Metaphysik hat die französische Monarchie zertrümmert"24 erkennt Rehberg in auffallender Blindheit für die realgeschichtlichen Ursachen der Französischen Revolution und leitet daraus seine Verurteilung „dieser Metaphysik" ab.25 Damit meint er die Ideen des neueren Naturrechts im allgemeinen und die politische Philosophie Jean-Jacques Rousseaus im besonderen, mit der er sich in der Einleitung zu seinen Untersuchungen über die Französische Revolution beschäftigt. Das Dilemma der Rousseauschen wie aller metaphysischen Begriffe liegt fur Rehberg in ihrer impliziten Voraussetzung, daß „die Vernunft die den einzelnen beherrschen, und das Ganze regieren soll, [...] nie im Widerspruche mit sich selbst"26 steht. Rehberg dagegen bestreitet mit Verweis auf die Vielzahl einander ζ. T. widersprechender philosophischer Lehren, daß die Vernunft immer mit einer Stimme spricht, und stellt die grundsätzliche Frage: „wem komt es zu, die Volonté generale, das ist, den Willen der Vernunft, zu erklären, vorzutragen, und dessen Befolgung zu gebieten?"27 Vieldeutigkeit und oft auch Verschwommenheit charakterisieren fiir ihn die philosophischen Prinzipien, führen zu Streit über die richtige Auslegung und machen sie fur das politische Leben unbrauchbar. Unter Verkennung aller reformerischen Bestrebungen Rehbergs28 begegnet Fichte ihm mit scharfen Worten und wirft ihm, fast schon drohend, vor, alles wieder zu verwirren, „was Roußeau und seine Nachfolger aus einander gesetzt haben, und ich hier aus einander setze"29, und meint mit Nachfolger natürlich Kant, auf den er sich bezieht, wenn er über die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Staatsveränderungen apodiktisch festsetzt: Die Untersuchung „muß aus Principien a priori, und zwar aus praktischen, und darf schlechterdings nicht aus empirischen geführt werden"30. Entscheidend ist hier, daß Fichte Praxis auf Seiten der apriorischen Prinzipien verortet und damit zusammenführt, was Rehberg im Anschluß an Burke kategorisch getrennt und als höchst verhängnisvolle Verbindung verurteilt hatte. Das apriorisch-praktische Prinzip, mit dem Fichte das empirische konfrontiert, steht in engem Zusammenhang mit der eingangs zitierten Passage aus der Kritik der reinen Vernunft, die Fichtes Seele

24 25 26 27 28

29 30

Vgl. Rehberg, Untersuchungen, Bd. 1, S. 51 und S. 121 ff., dazu auch Epstein, Ursprünge des Konservativismus, S. 666 f., und Philonenko, Théorie et praxis, S. 17. Rehberg, Untersuchungen, Bd. 1, S. 5. Vgl. Vogel, Konservative Kritik, S. 90. Rehberg, Untersuchungen, Bd. 1, S. 15. Rehberg, Untersuchungen, Bd. 1, S. 10. Rehberg war ein scharfer Kritiker des Absolutismus und entwickelte in seinen Schriften ein Reformprogramm, in dem mächtige Stände und eine aufgeklärte öffentliche Meinung die Macht der absolutistischen Monarchen wieder beschränken sollten, vgl. dazu Epstein, Ursprünge des Konservativismus, S. 633 ff. und S. 661 Beitrag, GA I, 1,S. 240. Beitrag, GAI, 1,S. 220.

Fichtes Schriften zur Französischen Revolution

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erglühen ließ. Unter Bezugnahme auf die Ideenlehre Piatons hatte Kant dort am Beispiel der Tugend gezeigt, daß Begriffe, die aus Erfahrung resultieren, immer unvollkommen, zweideutig und kontextuell gebunden sein müssen. Einen zuverlässigen Maßstab des moralischen Urteilens erhält dagegen nur, wer die Idee „als Muster zum Erkenntnisquell" macht, weil nur hier, und nicht in der Empirie, Vollkommenheit möglich ist, wobei es keine Rolle spielt, daß das Ideal selbst nie erreicht werden kann.31 „Fichte can be said to have discovered a Kantian power to unmask ideology"32, schreibt Anthony La Vopa und meint damit die enthusiastische Anwendung dieser Gedanken Kants auf seine Auseinandersetzung mit Rehberg. Jener hatte ja gerade die Unerreichbarkeit des Ideals für die notwendige Trennung von Theorie und Praxis verantwortlich gemacht und in die Lücke zwischen Ideal und Wirklichkeit den gesunden Menschenverstand und die Erfahrung des Staatsmannes eingesetzt. Mit „Kantian power" stellt Fichte dieses Argument Rehbergs unter Ideologieverdacht und tut es als ein reines Nicht-Wollen ab, als eine, wie es in der Kritik der reinen Vernunft heißt, „pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden"33. Der Hinweis auf eine Lücke zwischen Theorie und Praxis darf für Fichte nicht dazu berechtigen, einen kategorialen Unterschied zwischen beiden Sphären zu behaupten und sie vollständig voneinander zu trennen, wie Rehberg und Burks dies getan haben. Vielmehr handelt es sich um einen rein graduellen Unterschied, um ein bloßes Annäherungsverhältnis, in dem das Ideal aus Gründen der Vernunft den notwendigen Orientierungspunkt allen Handelns bilden muß. Sind für den Empiriker August Wilhelm Rehberg Bürger und Gesellschaft bloße Objekte der Geschichte, so ist für Fichte, der der Vernunftkritik Rehbergs eine Erkenntniskritik entgegensetzt, die Geschichte lediglich „ein Kasten voll unter einander geworfener Buchstaben", ein „Chaos", in das nur der menschliche Geist einen Sinn bringen kann.34 Fehlen die apriorischen Prinzipien und damit der zuverlässige Maßstab allen Urteilens, muß jedes Erkennen, das sich nur auf geschichtliche Betrachtungen stützt, notwendig subjektiv und willkürlich sein: „wir werden in der ganzen Weltgeschichte nie Etwas finden, was wir nicht selbst erst hineinlegten."35 Natürlich können Revolutionen gelingen und ein Volk „weiter vorwärts" bringen, aber ebensogut können sie auch scheitern und es „in die Barberei des vorigen Jahrtausends" zurückwerfen „die Weltgeschichte liefert Belege zu beiden"36, und so muß die historische Betrachtungsweise in ihrer Beliebigkeit, Oberflächlichkeit und damit auch Instrumenta31 32 33 34 35

36

Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke, Bd. 3, S. 323. La Vopa, The relevatory moment, S. 136. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke, Bd. 3, S. 324. Beitrag, GA I, 1, S. 227, dazu Philonenko, Théorie et praxis, S. 90 ff. Beitrag, GA I, 1, S. 203; vgl. auch ebd., S. 213 f.: „Willkührlich und mit Bewußtseyn untersucht man die aufgegebne Frage aus Erfahrungsgrundsätzen, wenn man sie aus Thatsachen der Geschichte beantworten will." Zurückforderung, GA I, 1, S. 169.

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II. Das politische

Denken vor den Reden an die deutsche Nation

lisierbarkeit die grundsätzliche Frage nach der Rechtmäßigkeit v o n Revolutionen unbeantwortet lassen. Geschichte ist für Fichte nichts als das beschriebene Durcheinander und bestenfalls dazu geeignet, wahre Genialität etwas besser einordnen zu können. 3 7 Entgegen der These v o n A l e x i s Philonenko teilt Fichte in keiner seiner beiden R e v o lutionsschriften den Glauben Kants an „die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur" 38 in der Geschichte, sondern erkennt in ihr durchgängig nur das Chaos und den „Weg des blinden Probirens" 39 .

„Begünstigte Seelen unter Umständen, die ihr ganzes Vermögen entwickeln und darstellen, werden nicht alle Jahrhunderte gebohren. Um diese, um die Menschheit in ihrem Feierkleide kennen zu lernen, bedarf es der Belehrung der Geschichte", Beitrag, GA I, 1, S. 226. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Werke, Bd. 11, S. 45. Beitrag, GA I, 1, S. 226. In seiner Studie Théorie et praxis dans la pensée morale et politique des Kant et de Fichte en 1793 hat Alexis Philonenko die These aufgestellt, daß Fichte in der Zurückforderung noch mit einem kantianischen Geschichtsverständnis operiere, das er im Beitrag wieder aufgebe: „Dans son écrit de 1792 [Zurückforderung] Fichte adhère encore à la conception kantienne de l'histoire [...] Comme Kant, Fichte parle d'un plan grandiose auquel on peut aveuglément concourir et en lequel les contradictions entre le désir et le devenir de l'homme s'effacent" (S. 96). Die einzige Belegstelle, die Philonenko für seine These anführt, meint aber nicht einen „plan grandiose" im Sinne Kants, sondern, so die Worte Fichtes, „den Fortgang des menschlichen Geistes" (Zurückforderung, GA I, 1, S. 169), was sich im unmittelbaren Zusammenhang auf Fichtes Glauben an die Aufklärung bezieht und darüber hinaus völlig mit dem Geschichtsverständnis des Beitrags übereinstimmt, das Philonenko zutreffend wie folgt charakterisiert: „En cet univers, seul l'homme est créateur de valeur; seul l'homme donne un sens à cette histoire. [...] en 1793 [Beitrag], Fichte s'oriente vers un humanisme radical. S'il repousse la conception kantienne, c'est parce qu'elle implique, même hypothétiquement seulement, une limitation de la liberté" (S. 98). Im übrigen will die These Philonenkos von einem Bruch zwischen Zurückforderung und Beitrag nicht so recht passen zu seiner Charakterisierung der Zurückforderung als einem „préface" (S. 96) zum Beitrag. Aufschlußreich für Fichtes Verhältnis zur Geschichtsphilosophie Kants ist eine Fußnote im Beitrag, in der es heißt: „Da wir hier nicht einen Tractat gegen die Geschichte schreiben, so stehe folgendes in der Note! - ,Wir brauchen die Geschichte unter andern auch, um die Weisheit der Vorsehung in Ausführung ihres großen Plans zu bewundern.' - Aber das ist nicht wahr. [...] Man könnte mit ungleich größerer Wahrscheinlichkeit in dem bisherigen Gange der Schicksale der Menschheit den Plan eines bösen menschenfeindlichen Wesens zeigen, das alles auf das höchstmögliche sittliche Verderben und Elend derselben angelegt hätte. Aber das wäre auch nicht wahr. Das einig Wahre ist wohl Folgendes: daß ein unendliches Mannigfaltige gegeben ist, welches an sich weder gut noch böse ist, sondern erst durch die freie Anwendung vernünftiger Wesen eins von beiden wird, und daß es in der That nicht eher besser werden wird, als bis wir besser geworden sind", Beitrag, GA I, 1, S. 225 f., Anm.*.

Fichtes Schriften zur Französischen Revolution

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1.1. Autonomie und Willensfreiheit: Die Moralphilosophie Kants Fichtes Versuch, der Rehbergschen Revolutionskritik mit den Mitteln der kritischen Philosophie Kants zu begegnen, ist typisch für das politische Denken am Ende des 18. Jahrhunderts. Nicht nur Burke und Rehberg, den meisten Zeitgenossen der Französischen Revolution galt es nämlich als Gemeinplatz, „daß die Revolution die Philosophie aus den Büchern in die Wirklichkeit übertragen habe", wobei Philosophie hier gleichzusetzen ist mit den Grundsätzen des rationalen Naturrechts.40 Die Bezeichnung rationales Naturrecht markiert dabei den Bruch mit dem klassischen Naturrecht, der sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der politischen Philosophie vollzogen hatte, als die natürlichen Rechte des Menschen nicht mehr im Hinblick auf eine schon bestehende Staatsordnung interpretiert, sondern zunehmend als Freiheitsrechte verstanden wurden, die dem Menschen schon vor aller staatlichen Organisation zukommen. Aus Bedürfhissen wurden Rechte, und der Mensch wurde zu seinem eigenen Zweck und damit zur Quelle allen Rechts. Natürliche Rechte wurden nun als „unveräußerlich" begriffen eine adjektive Bestimmung von revolutionärem Gehalt, kommt hier doch sichtbar das neue Rechtsverständnis zum Ausdruck, das es nicht mehr gestattete, Freiheitsrechte einzuschränken, sondern unbegrenzte und dauerhafte Geltung verlangte.41 Zum politischen Programm wurden die Theorien des rationalen Naturrechts mit der Formulierung von Menschenrechtskatalogen, die positivrechtlich erstmals in der amerikanischen Bill of Rights und später dann in der Déclaration der Französischen Revolution umgesetzt wurden. Für die kopernikanische Wende vom älteren zum neueren deutschen Naturrecht42 können zwei Faktoren geltend gemacht werden: die Philosophie Kants und die Französische Revolution.43 Während die eine „das methodische Fundament zur Neubegründung des Naturrechts" lieferte, verlieh die andere „dem Naturrecht Aktualität und inhaltliche Impulse"44. Vor allem die Rezeption der Schriften Kants fiel so stark aus, daß sie nicht nur das Ende der älteren Schule des Naturrechts einleitete, sondern zu einer unüberschaubaren Anzahl von naturrechtlichen Abhandlungen führte. Mit der kritischen Philosophie lag ein Instrument bereit, das geradezu danach verlangte, politisch gewendet und gegen jeden Konservativismus in Stellung gebracht zu werden - eine 40 41 42 43

44

Habermas, Naturrecht und Revolution, S. 89. Vgl. Rückelt, Natürliche Freiheit, S. 315, und Bielefelds Menschenrechte, S. 37. Vgl. Maus, Aufklärung der Demokratietheorie, S. 158 f. So schreibt beispielsweise Theodor von Schmalz, den Fichte stark rezipiert hat, in den Vorerinnerungen zu seinem Reinen Naturrecht: „Die großen Begebenheiten unserer Tage geben jeder Untersuchung über die Rechte der Menschheit ein vorzügliches Interesse. [...] Uns Teutschen muß die große Revolution im Reich der Wissenschaften, die unter uns sich erhob, eine solche Untersuchung noch von anderer Seite wichtig machen. Die critische Philosophie hat angefangen über alle Theile des menschlichen Wissens ihr erhabenes Licht zu verbreiten", Schmalz, Das reine Naturrecht, S. 13 f. Klippel, Politische Freiheit, S. 180; vgl. auch Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 151 ff., und La Vopa, The revelatory moment, S. 135.

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II. Das politische Denken vor den Reden an die deutsche Nation

Attraktivität, der sich auch der junge Fichte nicht entziehen konnte, wie er im Herbst 1793 nach Königsberg berichtet: „Mein Plan in Absicht des Naturrechts, des Staatsrechts, der Staatsweisheitslehre geht ins weitere, und ich kann leicht ein halbes Leben zur Ausführung deßelben bedürfen. Ich habe also immer die frohe Aussicht Ihr Werk für diesselbe zu benutzen."45

Diese Äußerung besitzt nicht nur im Hinblick auf Fichtes Pläne und seine immer frohe Aussicht, das Werk Kants hierfür zu benutzen, allgemeinen Charakter, sondern auch für die Situation, vor die sich die Autoren des neueren deutschen Naturrechts insgesamt gestellt sahen. Fichte bezieht sich nämlich in seinen Brief auf die von Kant schon angekündigte Metaphysik der Sitten, deren Erscheinen sich aber noch vier Jahre hinziehen sollte, so daß Fichte sich wie so viele andere Autoren auch vor das Problem gestellt sah, die Anwendung der Lehre Kants auf die politische Theorie zu versuchen, obwohl eine Rechtslehre aus Königsberg noch ausstand. Die Kantische Philosophie beeinflußte daher die zahlreichen Naturrechtssysteme in ihrer Folge weniger hinsichtlich der politischen Aussagen, die in der Tat vom Jakobinismus bis zum Konservativismus reichen konnten, als vielmehr in bezug auf Methode und Axiomatik. Da zur Zeit der Fichteschen Revolutionsschriften die politische Theorie Kants nur in einigen kleineren Arbeiten zur Geschichtsphilosophie vorlag und dem etwa zeitgleich publizierten Gemeinspruch-Aufsatz, fußten die zeitgenössischen Naturrechtsschriften vor allem auf der Ethik Kants46, also auf der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft, in der sie das methodische Fundament erkannten, von dem aus sich eine politische Rechtslehre entwickeln ließ. In seinen Schriften zur Moralphilosophie ging es Kant, nachdem er den theoretischen Gebrauch der Vernunft bereits in der Kritik der reinen Vernunft abgehandelt hatte, um das Problem, „ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich alleine zulange oder ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund derselben sein könne"47, d. h. ob es erste Grundsätze der Moral geben kann, die frei von allem Empirischen sind. Um die objektive Realität praktischer Vernunftgebote begründen zu können, mußte Kant allerdings seine Argumentationsstrategie erheblich modifizieren: Anders als in der theoretischen Philosophie konnte er hier nicht nach dem Verfahren der transzendentalen Deduktion, die einen Impuls der Vernunft zur Realisierung ihrer selbst notwendig ausschließt, argumentieren, sondern mußte einen vernunftfaktischen Weg wählen48, denn 45 46 47 48

Brief an Kant vom 20. September 1793, GA III, 1, S. 431. Vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 152. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werke, Bd. 7, S. 120. „Diese Analytik tut dar, daß reine Vernunft praktisch sein, d.i. für sich, unabhängig von allem Empirischen, den Willen bestimmen könne - und dieses zwar durch ein Faktum, worin sich reine Vernunft bei uns in der Tat praktisch beweiset, nämlich die Autonomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit [...]. Sie zeigt zugleich, daß dieses Faktum mit dem Bewußtsein der Freiheit des Willens unzertrennlich verbunden, ja mit ihm einerlei sei [...]", Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werke, Bd. 3, S. 155 (Hervorh. d. Verf.), ähnlich auch S. 171. Über den Unterschied zum Vorgehen in der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant: „Wenn wir nun damit den analyti-

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daß reine, also sinnenfreie Moralphilosophie möglich ist, schien ihm schon durch die bloße Idee der Pflicht und des sittlichen Gesetzes indiziert zu sein.49 In seiner Moralphilosophie schließt Kant also gewissermaßen von der Faktizität des praktischen Gebrauchs auf die Realität der Ideen: „Dem Sittengesetz eignet selbstlegitimierende Evidenz. [In ihm] offenbart sich dem Menschen das von aller Kontingenz freie, notwendige und selbstgesetzliche Sein der Vernunft." 50 Ähnlich wie er zuvor in seinem Hauptwerk die Gesetze und Beschränkungen der theoretischen Vernunft deduziert hat, stellt er sich nun vor die Aufgabe, „das absolut oberste Prinzip der Moralität"51 aufzusuchen. Am Beispiel des Gebots „Du sollst nicht lügen" zeigt Kant auf, daß moralische Gebote nur dann Gesetzescharakter für sich beanspruchen können, wenn sie über absolute Notwendigkeit und unbeschränkte Allgemeinheit verfügen 52 - würden sie nämlich nur zu bestimmten Zeiten und Orten oder nur für bestimmte Menschen gelten, für andere aber nicht, hätten sie mit diesen Einschränkungen jegliche Berechtigung verloren und die Idee der Moralität ad absurdum geführt. Entscheidend für die Moralität einer Handlung ist allerdings nicht die bloße und blinde Befolgung eines sittlichen Gebots, sondern die innere Einsicht in dessen Notwendigkeit, so daß für Kant „nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich [ist], was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille"53. In Abgrenzung zu traditionellen moralphilosophischen Vorstellungen ist das Gute für Kant nicht durch ein konkretes, benennbares Gut, etwa der eudaimonia aus der Aristotelischen Ethik, bestimmt, sondern durch das Prinzip des freien Willens selbst. Weil Kant Willensfreiheit und Sittengesetz miteinander identifiziert - „also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei"54 - , kann Freiheit auch nicht als Willkür oder Beliebigkeit mißverstanden werden, denn Pointe seiner Überlegungen ist, daß ein vernünftiges Wesen unter den Bedingungen eines reinen Willens, d. h. losgelöst von

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sehen Teil der Kritik der reinen spekulativen Vernunft vergleichen, so zeigt sich ein merkwürdiger Kontrast beider gegen einander. Nicht Grundsätze, sondern reine sinnliche Anschauung (Raum und Zeit) war daselbst das erste Datum, welches Erkenntnis a priori und zwar nur für Gegenstände der Sinne möglich machte", ebd., S. 155 f. Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, S. 13. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 123, vgl. dazu auch Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 248 f. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, S. 16. Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, S. 13. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, S. 18, hier knüpft sich die Unterscheidung zwischen hypothetischem und kategorischem Imperativ an, von denen der erste „die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel, zu etwas anderem zu gelangen", vorstellt, während der letztere „eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck als objektiv-notwendige" vorstellt (ebd., S. 43). Dieser Unterscheidung korrespondiert der Unterschied zwischen Legalität und Moralität einer Handlung aus der Kritik der praktischen Vernunft, vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werke, Bd. 7, S. 191. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, S. 82.

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allen empirischen und psychologischen Zusammenhängen, sich immer für die Sittlichkeit entscheiden werde, so daß Kant schließlich definiert: „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetzgebung."55 Autonomie wird so zu dem zentralen Begriff der Kantischen Moralphilosophie und besagt, daß der Wille nur den Gesetzen unterliegt, die er sich selbst gegeben hat. Inhaltlich bestimmt wird die moralische Gesetzgebung durch den Begriff der Pflicht, mit dem die Moralphilosophie Kants die Sphäre des reinen Willens verläßt und sich der Welt der Erscheinungen zuwendet. Im Gegensatz zu dem reinen Willen der philosophischen Abstraktion konkurrieren im menschlichen Willen Vernunft und Neigung miteinander - ein Antagonismus, der die Vernunft nötigt, „in der Philosophie Hülfe zu suchen"56, die die Dialektik aus Neigung und Vernunft mittels des Pflichtbegriffs aufzulösen vermag. Die Pflicht gibt dem Menschen orientierende Gebote und Aufforderungen, handlungsleitende Maximen und Imperative vor, „ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz"57. Am prägnantesten ist die Pflicht im berühmten kategorischen Imperativ zum Ausdruck gebracht, der wie alle Imperative ein Sollen formuliert und den höchsten Maßstab allen sittlichen Handelns abgibt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde."58 Wie Kant erkennt auch Fichte in der Autonomie den Schlüsselgedanken moralischer Freiheit, und wie Kant leitet er in seinen Revolutionsschriften die Normen der praktischen Philosophie streng aus dem vernünftigen Sittengesetz ab, für dessen Gebote er absolute Notwendigkeit beansprucht. Anders als Kant aber, für den „die alleinigen Objekte einer praktischen Vernunft [...] die vom Guten und Bösen"59 sind, überträgt Fichte in einem zweiten Schritt den Rigorismus Kants vom Feld des Moralischen auf das Feld des Politischen: „Die Frage: welches ist der beste Endzweck der Staatsverbindung? hängt von der Beantwortung folgender ab: welches ist der Endzweck jedes Einzelnen? Die Antwort auf diese Frage ist rein moralisch, und muß sich auf das Sittengesez gründen, welches allein den Menschen als Menschen beherrscht, und ihm einen Endzweck aufstellt. Die daraus zunächst folgende, ausschließende Bedingung jeder moralisch möglichen Staatsverbindung ist die: daß ihr Endzweck dem durch das Sittengesez vorgeschriebnen Endzwecke jedes Einzelnen nicht widerspreche; seine Erreichung nicht hindere oder störe."60

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Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werke, Bd. 7, S. 144; ähnlich auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur", Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, S. 69. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, S. 33. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, S. 26. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, S. 51. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werke, Bd. 7, S. 174. Beitrag, GA I, 1, S. 221, ähnlich auch auf S. 223 im Zusammenhang mit der Erfahrungsseelenkunde: „Nach den Regeln dieser Seelenkunde nun, welche durch fortgesezte weise Beobachtung

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Indem Fichte den Zweck der Staatsverbindung vom Endzweck des einzelnen abhängig macht, setzt er Moral und Recht, individuelle Autonomie und politische Herrschaft in eins und beruft sich dazu namentlich auf den Königsberger Juristen Theodor von Schmalz - für ihn der „scharfsinnigste und consequenteste Lehrer des Naturrechts, den wir bis jetzt haben"61 - , der in seiner Schrift Das reine Naturrecht von 1792 die Lehre vom Recht direkt aus dem Sittengesetz Kants abgeleitet hatte: Naturrecht „setzt nemlich die Metaphysik der Sitten voraus, aus welcher, als der gemeinschaftlichen Wurzel, dann zwey Stämme hervorgehen, Naturrecht und Moral"62. Im Anschluß an Schmalz nun leitet auch Fichte Recht aus der moralischen Pflichtenlehre ab63 und stellt alle politischen Entscheidungen unter den Primat der individuellen sittlichen Autonomie - unterlegt seinen Betrachtungen also ein Verständnis von Staat und Politik, das den Gesetzescharakter der Kantischen Sittenlehre wörtlich nimmt und ihn einen Grundsatz formulieren läßt, der mit der Strenge des kategorischen Imperativs auch für den politischen Bereich uneingeschränkte Geltung beansprucht: „das Freiheitsgesez; der Grundsaz: hemme niemandes Freiheit, insofern sie die deinige nicht hemmt."64 Mit diesem Freiheitsgesetz hat Fichte eine allgemeine Regel gefunden, mit der sich Recht und Unrecht unterscheiden lassen, und von ihm ausgehend entwickelt er einen Rechtsbegriff, der diesem nur einen Geltungsbereich jenseits der sittlichen Gebote und Verbote überlassen kann: Unterhalb des moralischen Bereichs der Sollensgesetze - seinem Freiheitsgesetz - siedelt Fichte einen rechtlichen Bereich des Dürfens an65, der lediglich das moralisch Mögliche umfaßt und zwischen erlaubten und unerlaubten Handlungen, veräußerlichen und unveräußerlichen Rechten differenziert: „Das Sittengesez der Vernunft geht der bürgerlichen Gesetzgebung gar nichts an, es ist ohne sie völlig vollendet, und die leztere thut etwas Ueberflüßiges und Schädliches, wenn sie ihm eine neue Sanction geben will. Das Gebiet der bürgerlichen Gesetzgebung ist das durch die

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sich dem Range der Gesetze nähern werden, sind die in einer Staatsverfassung zur Erreichung ihres Endzwecks gewählten Mittel zu prüfen [...]." Beitrag, GA I, 1, S. 261. Fichte versteht seine eigene Arbeit als „Commentar" (ebd.) zu Schmalz. Das etwas einschränkende „bis jetzt" mag allerdings darauf verweisen, daß Kants Rechtslehre noch nicht vorlag. Fichtes Wertschätzung für Schmalz kommt etwas überraschend, war doch das mit am meisten diskutierte Naturrecht jener Zeit das von Gottfried Hufeland (Versuch über den Grundsatz des Naturrechts von 1785 und Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften zu Vorlesungen von 1790). Schmalz, Das reine Naturrecht, S. 24. „Die Pflicht ist der Grund des Rechts, und das Princip des Naturrechts nicht erlaubend, sondern verbietend. Es geht also von Pflichten sogar aus", Schmalz, Das reine Naturrecht, S. 23 f. Beitrag, GA I, 1, S. 276 f. Schmalz unterscheidet Permissiv- und Obligativ-Gesetze, vgl. Schmalz, Das reine Naturrecht, S. 36. Bei Fichte heißt es: „Was uns nemlich das Sittengesez bloß erlaubt, das zu thun haben wir ein Recht; wir haben aber auch das ihm entgegengesezte Recht, es nicht zu thun. Das Sittengesez schweigt, und wir stehen bloß unter unsrer Willkühr. - Unsere Pflicht zu thun haben wir auch ein Recht; aber wir haben nicht das ihm entgegengesezte Recht, sie nicht zu thun", Beitrag, GA I, 1, S. 220.

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II. Das politische Denken vor den Reden an die deutsche Nation Vernunft Freigelassene; der Gegenstand ihrer Verfügungen sind die veräußerlichen Rechte des Menschen."66

Das durch die Vernunft freigelassene Gebiet, in dem die bürgerliche Gesetzgebung stattfindet, umfaßt lediglich die veräußerlichen Rechte des Menschen, die Fichte an anderer Stelle auch als die „Rechte der veränderlichen Sinnlichkeit" bezeichnet und von den Rechten „der unveränderlichen Geistigkeit" abgrenzt.67 Für Fichte bestehen nun diese veräußerlichen Rechte im wesentlichen aus den Kräften des Körpers, also der Arbeit, und den Rechten auf Sachen, also dem Eigentum; die unveräußerlichen Rechte dagegen aus dem Recht des Menschen „zu den Bedingungen, unter denen allein er pflichtmäßig handeln kann, und zu den Handlungen, die seine Pflicht erfordert"68. Mit den Qualitäten veräußerlich und unveräußerlich ist schon angedeutet, daß Fichtes politische Theorie die freie Verfügbarkeit der veräußerlichen Rechte gestattet und damit in letzter Konsequenz auf einen Gesellschaftsvertrag abzielt, da ja auch das Gebiet der bürgerlichen Gesetzgebung unter die veräußerlichen Rechte fallt69 und allein die Figur des Gesellschaftsvertrags ein Verfahren zu ermöglichen vermag, mit dem sich sittliche Autonomie des einzelnen und politische Herrschaft verbinden lassen: „Wer legt mir nun in diesem Vertrage das Gesez auf? Offenbar Ich selbst."70 Der Vertragsgedanke wird damit für Fichte zur Garantie der „politischen Freiheit"71 und der Gesellschaftsvertrag zur einzig möglichen Form politischer Organisation, die den Bedingungen des Sittengesetzes genügt.72 Fichtes Verständnis von sittlicher Autonomie als einem natürlichen Recht läßt ihn zwar auf das Theorem eines Gesellschaftsvertrags zurückgreifen, zwingt ihn aber gleichzeitig auch, mit den Beschreibungen der naturzustandlichen Problem- und Mangellagen des traditionellen Kontraktualismus zu brechen: im Unterschied zu Thomas 66

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Beitrag, GA I, 1, S. 238; an anderer Stelle heißt es: „Das Feld der Verträge ist die Welt der Erscheinungen, insofern sie durch das Sittengesez nicht völlig bestimmt ist", ebd., S. 278. Beitrag, GA I, 1, S. 310, vgl. dazu auch Willms, Totale Freiheit, S. 35, Wallner, Fichte als politischer Denker, S. 50 f., und Riedel, Fichtes zweideutige Umkehr, S. 9. Beitrag, GA I, 1, S. 314, und Zurückforderung, GA I, 1, S. 174. „Darf ich meine veräußerlichen Rechte ohne alle Bedingung aufgeben, darf ich sie andern schenken; so darf ich sie auch mit Bedingung aufgeben, ich darf sie gegen Veräußerungen des Andern vertauschen. Aus einem solchen Tausche veräußerlicher Rechte gegen veräußerlicher Rechte entsteht der Vertrag (der Contract.)", Zurückforderung, GA I, 1, S. 174. Beitrag, GA I, 1, S. 237, ähnlich auch auf S. 238. Damit hat Fichte eine grundsätzliche Absicht allen kontraktualistischen Denkens prägnant zum Ausdruck gebracht, vgl. Kersting, Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 31: „Die legitimationstheoretische Strategie des Kontraktualismus zielt auf die Zurückfiihrung aller politischen Heteronomie auf Autonomie"; vgl. zum Vertragsschluß bei Fichte auch Schottky, Geschichte der Vertragstheorie, S. 164 f., und Gueroult, Fichte et la Révolution française, S. 185 ff. In Unterscheidung zur transzendentalen und zur kosmologischen Freiheit definiert Fichte politische Freiheit als „das Recht, kein Gesez anzuerkennen, als welches man sich selbst gab", Beitrag, GAI, 1,S. 252, Anm.*. Vgl. Beitrag, GA I, 1, S. 236, und Zurückforderung, GA I, 1, S. 174.

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Hobbes glaubt er nicht an „eine ursprüngliche Bösartigkeit der Menschen" und lehnt , jene alte falsche Vorstellung vom Naturzustande des Menschen", diesen „Krieg Aller gegen Alle"73 als Verleumdungen der menschlichen Natur ab. Fichte dagegen zeigt sich davon überzeugt, daß jeder Grundzug derselben gut ist74 und daß Rationalität und sittliche Autonomie zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehören: „[...] um den Grund der Verbindlichkeit aller Verträge zu entdecken, muß man sich den Menschen noch von keinen äußern Verträgen gebunden, bloß unter dem Gesetze seiner Natur, d. i. unter dem Sittengesetze stehend, denken; und das ist der Naturzustand."75

Diese Annahme, daß schon der Naturzustand unter der Herrschaft des Sittengesetzes steht, wird zum Fundament der frühen politischen Philosophie Fichtes. In der Konsequenz jener normativen Identität von Naturzustand und Sittengesetz liegen dann auch der „Grund der Verbindlichkeit aller Verträge" und das Szenario des Vertragsabschlusses selbst begründet: Die Paktizierenden treten hier nicht als die Mängelwesen des klassischen Kontraktualismus auf, sondern als autonome und vernünftige Individuen, deren Zusammenleben bereits durch das Freiheitsgesetz organisiert ist und denen alle natürlichen Rechte schon zukommen. Das Sittengesetz der Vernunft ist fur Fichte auch ohne die bürgerliche Gesetzgebung völlig vollendet76, und auch im Naturzustand sind die Menschen „nicht ohne gegenseitige Rechte und Pflichten"77. Aus diesen Bedingungen folgt als weiteres Kennzeichen, daß es sich bei dem Vertrag, der freiwillig und mit Zustimmung eines jeden einzelnen geschlossen werden muß, nur um einen reinen Gesellschaftsvertrag handeln kann und darf und nicht um einen Herrschafts- oder Entäußerungsvertrag nach Rousseauschem Vorbild, d. h. die Paktizierenden dürfen nicht mehr beschließen, als in Gemeinschaft mit anderen zu treten und ihre veräußerlichen Rechte zu tauschen.78 Fichtes Individuen ist es nicht gestattet, auch nur auf Teile ihrer Autonomie zugunsten der staatlichen Ordnung zu verzichten, selbst freiwillig nicht - es sei denn, sie möchten sich zu Tieren degradieren. So bleibt auch nach dem Abschluß des Gesellschaftsvertrages das Naturrecht voll und ganz gültig und „läuft ununterbrochen mit durch den Staat hindurch"79. Die Staatsform, auf die sich die freien und gleichen Individuen einigen, wird infolge dieser staatlichen Bindung an das Freiheitsgesetz zur austauschbaren Variablen, und die 73 74 75

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Alle Zitate Beitrag, GA I, 1, S. 276 f. Vgl. Beitrag, GAI, 1, S. 287. Beitrag, GA I, 1, S. 237. Der gleiche Gedanke wird einige Zeilen später erneut vorgetragen: „Keinen unter uns hat der Staat um seine Einwilligung gefragt; aber er hätte es thun sollen, und bis zu dieser Anfrage wären wir im Naturzustände gewesen, d. h. wir hätten, durch keinen Vertrag eingeschränkt, bloß unter dem Sittengesetze gestanden", ebd., vgl. auch S. 276. Vgl. Beitrag, GA I, 1, S. 238. Beitrag, GA I, 1,S. 276. Vgl. Beitrag, GA I, 1, S. 280 ff. „Es ist also ein großer Irrthum, wenn man glaubt, der Naturzustand des Menschen werde durch den bürgerlichen Vertrag aufgehoben; der darf nie aufgehoben werden; er läuft ununterbrochen mit durch den Staat hindurch", Beitrag, GA I, 1, S. 277 f.

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Aufgaben des wie auch immer verfaßten Staates müssen sich von vornherein auf jenen Bereich beschränken, den Fichte unterhalb des Sittengesetzes angesiedelt hatte: auf die Rechte der veränderlichen Sinnlichkeit, also die Aufsicht über Arbeitsmarkt und Handel. Öffentliches Recht reduziert sich damit auf privates Recht und die Notwendigkeit eines Staats auf seine Schutz- und Servicefunktionen: Indem die Bürger dem Staat und seinen Organen Respekt und eine natürliche „Scheu" entgegenbringen, wird die Einhaltung der privatrechtlichen Verpflichtungen, beispielsweise in Eigentums- und Schadenersatzfragen, im Staat besser gewährleistet als im reinen Naturzustand.80 Dem Staat bleibt so gesehen nicht viel mehr übrig, als „die Realisierung des schon ohne ihn vollgültigen Naturrechtes etwas zu erleichtern"81. Infolge der souveränitätstheoretischen Minimierung des Staates entbehrt die bürgerliche Gesetzgebung jeder Verbindlichkeit. Die vom autonomen Individuum im Gesellschaftsvertrag geleistete Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann wird in Fichtes Modell politischer Herrschaft allein durch die innere Bereitschaft zum Gesellschaftsvertrag aufrechterhalten. Erlischt diese Bereitschaft, kann der einzelne jederzeit einseitig den Gesellschaftsvertrag wieder auflösen, sogar sein Eigentum behalten und aus dem Staatsverband ausscheiden, wie Fichte in Anlehnung an Schmalz82 und in Korrektur einer älteren Position aus der Zurückforderung83 ausführt - kein staatlicher Zwang darf ihn daran hindern, da dies eine unautorisierte Einschränkung seiner Willensfreiheit bedeuten würde. Der Gesellschaftsvertrag hat für Fichte keinen höheren Status als ein Mietvertrag und kann wie jener einseitig gekündigt werden. Revolutionen hat man sich demnach als nichts anderes vorzustellen als die Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags und den Abschluß eines neuen: „Zu jeder Revolution gehört die Lossagung vom ehemaligen Vertrage, und die Vereinigung durch einen neuen. Beides ist rechtmäßig, mithin auch jede Revolution, in der beides auf die gesetzmäßige Art, d.i. aus freiem Willen, geschieht."84

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„Hielte der Andere sein Wort nicht, so hättest du freilich nach dem Naturrechte die Befiigniß ihn zu Rückgabe der Leistung und Schadenersaz zu zwingen; aber du würdest nicht immer der Stärkere seyn. Dieses nun ist an deine Stelle der Staat. Er verhilft dir zu deinem Rechte, das du doch immer ein Menschenrecht nennen magst - wenn es jemand verletzt; die Scheu vor ihm ist der Grund, daß es seltner verletzt wird [...]", Beitrag, GAI, 1, S. 281. Schottky, Geschichte der Vertragstheorie, S. 166; vgl. auch Wallner, Fichte als politischer Denker, S. 65. „Eine Gesellschaft aber, deren Zweck gegen äusseres vollkommnes Recht streitet, hat gar kein Recht weder in sich, noch gegen die, die sich ausser ihr befinden", Schmalz, Das reine Naturrecht, S. 103. Dort hatte es noch geheißen: „Wenn ein Mitglied seinen Vertrag nicht hält, und seine veräußerten Rechte zurücknimmt, so bekommt dadurch die Gesellschaft ein Recht, ihn zur Haltung desselben durch Verletzung seiner ihm durch die Gesellschaft zugesicherten Rechte, zu zwingen. Dieser Verletzung hat er sich durch den Vertrag freiwillig unterworfen", Zurückforderung, GA I, 1, S. 175. Beitrag, GA I, 1, S. 291, vgl. auch S. 254: „Keine Staatsverfassung ist unabänderlich, es ist in ihrer Natur, daß sie sich alle ändern. [...] Die Clausel im gesellschaftlichen Vertrage: daß er

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1.2. Destruktiver Gehalt der Revolutionsschriften Eine Revolution ist rechtmäßig, sobald sie aus freiem Willen geschieht - dieser Kerngedanke Fichtes ließ Interpreten seiner Revolutionsschriften von einer „Auffassung von Freiheit [...], die sich von Egoismus in nichts unterscheidet"85, sprechen, denn mit der Marginalisierung des Staats, dem völligen Verzicht auf staatlichen Zwang und alle Formen der politischen Rechtserzeugung verliert natürlich auch der Revolutionsbegriff an Relevanz. Revolutionen sind dann prinzipiell rechtmäßig, so rechtmäßig und alltäglich eben wie etwa der Wechsel der Arbeitsstelle. Aber auch wenn Fichtes Individuen ihren Staat streng genommen mehrmals die Woche wechseln könnten, darf doch nicht übersehen werden, daß sie nur so lange Verträge frei schließen und kündigen können, wie sie nicht die Freiheit eines anderen verletzen oder gegen das Sittengesetz verstoßen.86 Wenn auch in Fichtes Theorie kein staatlicher Zwang herrscht, so herrscht dafür um so unnachgiebiger der Zwang des Sittengesetzes. Von Willkürfreiheit, Egoismus oder Anarchie im Sinne eines Zustands der Gesetzlosigkeit kann also nur fiir den unmittelbaren Bereich des Dürfens gesprochen werden und auch dort nur unter der notwendigen Bedingung einer Konformität mit dem Sittengesetz. Damit hat Fichte zwar seine ursprüngliche Fragestellung nach der Rechtmäßigkeit von Revolutionen beantwortet, mit dieser eindeutigen Antwort seine Leser und Interpreten aber weitgehend ratlos gelassen. Denn trotz aller Anerkennimg fur seinen konsequent zu Ende gedachten Individualismus, wurden seine Vertragstheorie und sein Verständnis von Revolution meist polemisch aufgefaßt. So findet sich schon in der zeitgenössischen Rezeption die Einschätzung, der Beitrag sei „für ein Eiland geschrieben, worauf sich der freye, alles wollende, und alles könnende Mensch isolirt befindet" 87 , und auch in der Forschungsliteratur können die Adjektive radikal und extrem oft nur noch im Superlativ einer Beschreibung der Vertragslehre Fichtes genügen.88 Vor allem die Möglichkeit der einseitigen Vertragsauflösung gab immer wieder Anlaß, Fichte

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unabänderlich seyn sollte; wäre mithin der härteste Widerspruch gegen den Geist der Menschheit. Ich verspreche: an dieser Staatsverfassung nie etwas zu ändern, oder ändern zu lassen; heißt: ich verspreche kein Mensch zu seyn [...]. Ich begnüge mich mit dem Range eines geschickten Thiers", ähnlich auch auf S. 259 f. und auf S. 300. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 67. Womit sich Fichte indirekt auf Theodor von Schmalz bezieht, bei dem es heißt: „Nur wenn durch Abgehen des einen vom Vertrage der andre einen Schaden an seinem Urrecht leidet: so ist der erste zum Ersatz desselben verbunden", Schmalz, Das reine Naturrecht, S. 89. Besprechung des Beitrags eines unbekannten Rezensenten aus der Oberdeutschen Allgemeinen Litteraturzeitung vom 16. April 1794, in: J. G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen, Bd. 1, S. 160. Vgl. Schottky, Geschichte der Vertragstheorie, S. 158, La Vopa, The revelatory moment, S. 158, Buhr, Die Philosophie Fichtes und die Französische Revolution, S. 25, und Paul, Fichte et l'idée de révolution, S. 17.

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Anarchismus89 und Utopismus90 vorzuwerfen, wenn nicht gleich vom gründlich zu Tode gehetzten Vertragsgedanken gesprochen wurde91. Eine Ursache für diese Polemiken und Irritationen könnte in einer mißverständlichen Beurteilung der eigentlichen Intentionen Fichtes zu suchen sein, die aus der Figur des Gesellschaftsvertrags resultiert, mit der er in seinen Revolutionsschriften operiert. Konstitutiv für kontraktualistisches Denken ist die erklärte Absicht der Staatsbegründung und der Herrschaftslegitimation durch das kontraktualistische Beweisprogramm, wie Wolfgang Kersting hervorhebt: „In der politischen Philosophie des Gesellschaftsvertrages geht es [...] um Probleme der Legitimation staatlicher Herrschaft, der Begründung politischer Obligation und der Rechtfertigung sozialer Normen und politischer Organisationsformen."92

Verwirklicht werden soll dieses Ziel des Kontraktualismus durch „die Idee der Autoritäts- und Herrschaftslegitimation durch freiwillige Selbstbeschränkung aus eigenem Interesse unter der Rationalitätsbedingung einer strikten Wechselseitigkeit"93. Legt man dieses Programm der Zurückforderung und dem Beitrag zugrunde, dann wird es bei Fichte, der die Bedingung der Selbstbeschränkung weitgehend marginalisiert und eine strikte Wechselseitigkeit nicht kennt, in der Tat so weit ausgehöhlt, daß vom kontraktualistischen Gedanken nur eine leere Hülle zurückbleibt. Dann drängt sich allerdings die Frage auf, was für einen Staat Fichte eigentlich hat begründen wollen, und die Polemiken von der „Versicherungsgesellschaft"94 und der „blutleeren Naturrechtelei"95 gewinnen an Evidenz. Nimmt man aber Fichtes erklärte Absicht, in seinen Schriften die Rechtmäßigkeit von Revolutionen und die Grundsätze von Staatsveränderungen diskutieren zu wollen, in ihrem zersetzenden Gehalt ernst, muß man ihm weitaus mehr konstatieren als nur eine ,„metaphorische' Auffassung vom staatsbegründenden Vertrage"96. Treffender wäre es dann, von einem „paradoxen Kontraktualismus" zu sprechen, denn Fichte kann es in der Untersuchung seiner Ausgangsfrage gerade nicht darum gehen, staatliche Herrschaft zu legitimieren und politische Obligation zu begründen, sondern ganz im Gegenteil nur darum, wie sich staatliche Herrschaft delegitimieren lasse, um von da aus die Rechtmäßigkeit von Revolutionen begründen zu können. Hierzu bedient er sich nun

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Vgl. u. a. Schottky, Geschichte der Vertragstheorie, S. 168, Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 65, Hahn, Staat, Erziehung und Wissenschaft, S. 58, und La Vopa, The revelatory moment, S. 133. Vor allem Willms, Totale Freiheit, S. 48 und öfter, der dabei aber verkennt, daß utopische Elemente dem Naturrechtsgedanken strukturell innewohnen, weil er immer einem So-Sein ein So-Sollen entgegensetzt. So Wallner, Fichte als politischer Denker, S. 60. Kersting, Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 41. Kersting, Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 15. Schottky, Einleitung, S. XXXI. Wallner, Fichte als politischer Denker, S. 58. Schottky, Geschichte der Vertragstheorie, S. 174.

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des Kontraktualismus als der klassischen Figur der Herrschaftslegitimation und verkehrt diese Figur seiner delegitimierenden Intention folgend einfach in ihr Gegenteil: aus dem Vertragsgedanken soll das Recht auf Revolution erwachsen. Und so wie in der klassischen Vertragstheorie der defizitäre Naturzustand das kontraktualistische Begründungsprogramm schon enthält und Naturzustand und Staat gewissermaßen im Verhältnis von Negativ und Ideal zueinanderstehen, so dreht Fichte die Laufrichtung dieses normativen Gefalles einfach um: das Ideal ist bei ihm nicht der Staat, der mit umgekehrten Vorzeichen aus dem Naturzustand abgeleitet, sondern der Naturzustand, der aus den Defiziten der real existierenden Staaten begründet wird. Dieser Naturzustand ist dann folgerichtig durch die normativ sehr voraussetzungsreiche Vorstellung des in seinen moralischen Anlagen hoch entwickelten Menschen charakterisiert. In der Logik eines paradoxen Kontraktualismus liegt es weiterhin, daß die bestehenden Staaten das kontraktualistische Dekonstruktionsprogramm in nuce schon enthalten. Während die staatsbegründende Vertragslehre in den Defiziten des Naturzustandes ihren logischen Ausgangspunkt findet, setzt Fichte bei den staatlichen Menschenrechtsverletzungen an, über die er sich mehrfach empört und die er gleich zu Beginn des Beitrags als das große Thema der Französischen Revolution vorgestellt hatte. „Allen Staatsverfassungen, die die bisherige Geschichte kennt", ist nämlich gemeinsam, daß sie sich auf gewaltsame Unterdrückung und „das Recht des Stärkeren" gründen.97 Die Staaten folgen „einer halbbarbarischen Politik"98, und Fichte hält ihre Verfassungen für „höchst fehlerhaft" und „höchst ungerecht", weil „unveräußerliche Menschenrechte in ihnen gekränkt werden"99. Von diesem Skandalon aus entfaltet sich die beschriebene Argumentation, die den Autonomie- und Rechtsgedanken aus der Moralphilosophie Kants aufgreift, im Modell des Gesellschaftsvertrags naturrechtlich wendet und daraus ein unbeschränktes Recht auf Revolution schlußfolgert: „Es ist ein unveräußerliches Recht des Menschen, auch einseitig, so bald er will, jeden seiner Verträge aufzuheben; Unabänderlichkeit und ewige Gültigkeit irgend eines Vertrags ist der härteste Verstoß gegen das Recht der Menschheit an sich."100

Fichte führt diesen Nachweis der Rechtmäßigkeit von Revolutionen „auf streng naturrechtlicher Ebene"101 und wählt die Menschenrechte zu seinem Schlüsselbegriff, in deren Verletzung er ein legitimes Motiv erkennt, den Gesellschaftsvertrag zu kündigen. Pointe seines Beweises ist dabei, daß er die sittliche Autonomie des einzelnen zu dem Menschenrecht schlechthin macht und damit in jeder Willenseinschränkung eines einzelnen einen hinreichenden Grund zur Revolution gegeben sieht - ein Konzept, an dem sich die zahlreichen Kritiken entzündet hatten, die Fichte Anarchismus und Utopismus 97 98 99 100 101

Beitrag, GA I, 1,S. 236. Beitrag, GA I, 1,S. 299. Beitrag, GA 1 , 1 , S . 207. Beitrag, GA I, 1, S. 300. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 65.

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vorwerfen. Dabei ging es Fichte, wie gezeigt, ausschließlich darum, politische Herrschaft mittels weit gefaßter Autonomie zu beschneiden, indem er das kontraktualistische Programm, politische Herrschaft qua freiwilliger Selbstbeschränkung zu legitimieren, in sein Gegenteil verkehrte. Fichte selbst gibt diese rein kritische Intention seiner beiden Revolutionsschriften in einem weiteren Brief an Kant zu, in dem er gesteht, nicht über die Mittel zu verfugen, den mit Eifer kritisierten Ungerechtigkeiten ohne Unordnung abhelfen zu können: „Vielleicht lege ich, doch anonym, in verschiednen Einkleidungen meine der Entwiklung entgegenstrebende Ideen dem Publikum zur Beurtheilung vor. Ich gestehe, daß schon etwas dieser Art von mir im Publikum ist, wovon ich aber vor der Hand nicht wünschte, daß man es für meine Arbeit hielte, weil ich viele Ungerechtigkeiten mit voller Freimüthigkeit, und Eifer gerügt habe, ohne vor der Hand, weil ich noch nicht soweit bin, Mittel vorgeschlagen zu haben, wie ihnen ohne Unordnung abzuhelfen sey."102

2. Der Staat als „Zwangs-Anstalt" In seinen Schriften zur Französischen Revolution hatte Fichte die Begründung eines natürlichen und unbegrenzten Rechts auf Revolution so stringent aus der Identifizierung von Recht und Moral abgeleitet, daß der Staat fast vollständig aus seiner politischen Theorie verschwand. Gleichzeitig ließen sein normatives Menschenbild und sein konsequenter politischer Liberalismus keinerlei Notwendigkeit für die politische Erzeugung von Recht, für staatlichen Zwang oder für irgendeine Form von organisierter Gemeinschaft erkennen, denn der einzelne war in seiner natürlichen Autonomie so vollständig entwickelt, daß ihm auch der Abschluß eines Gesellschaftsvertrags frei gestellt war. Auch wenn Fichte mit seinem delegitimatorischen Verfahren, das im wesentlichen auf der philosophischen Notwendigkeit basierte, daß sich aus Moralität im Sinne des kategorischen Imperativs kein äußerer Zwang ableiten läßt, der Nachweis eines unbegrenzten Rechts auf Revolution gelungen war, so ließ ihn doch der Mangel seiner frühen politischen Theorie an einem hinreichenden Begriff von staatlicher Souveränität und politischer Gemeinschaft eher unbefriedigt. Vor allem seinen monadischen Individualismus mußte Fichte im Rückblick als philosophisch ungenügend empfinden, denn sowohl der kategorische Imperativ als auch der Begriff des Rechts setzen notwendig eine Vorstellung vom Anderen voraus, die in seinen Revolutionsschriften aber völlig fehlt. 102

Brief an Kant vom 20. September 1793, GA III, 1, S. 431 f. Auch später sprach Fichte von seinem Beitrag als einem .jugendlichen und unvollendeten Versuch des Jünglings", in dem er „ein wenig übertrieben hätte", Verantwortungsschrift, GA I, 6, S. 75 und S. 74. Die jugendliche Ungestümheit betonen auch La Vopa und Paul, wenn sie von „writings of an angry young man" und einem „cri du cœur" sprechen, La Vopa, The revelatory moment, S. 132, und Paul, Fichte et l'idée de révolution, S. 14.

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Einen ersten Schritt zur Korrektur dieser Defizite tat Fichte in seinen Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, mit denen er 1794 seine Lehrtätigkeit an der Universität Jena aufnahm. Hier bemühte er sich erstmals, einen Begriff von Gesellschaft zu entwickeln, und definiert diese als „die Beziehung der vernünftigen Wesen aufeinander"103. Fichte läßt in diesen Vorlesungen die Vorstellung einer vollständigen Autonomie des einzelnen hinter sich und spricht statt dessen von einem gesellschaftlichen Trieb des Menschen, den er zu den Grundtrieben zählt: „Der Mensch ist bestimmt, in der Gesellschaft zu leben; er soll in der Gesellschaft leben; er ist kein ganz vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isolirt lebt."104 Fichte erkennt zwar nun die Bestimmung des Menschen zur Sozialität, muß die eigentliche Frage nach dem „Wie" der Gesellschaftsbildung aber unbeantwortet lassen: „[...] wie kömmt der Mensch dazu, vernünftige Wesen seines Gleichen ausser sich anzunehmen, und anzuerkennen, da doch dergleichen Wesen in seinem reinen Selbstbewußtseyn unmittelbar gar nicht gegeben sind?"105

In den weiteren Vorlesungen versucht Fichte - unter starker Bezugnahme auf das antagonistische Geschichtsdenken Kants106 - , diese Frage nach der Begründung dauerhafter politischer Gemeinschaft zu umgehen und geschichtsphilosophisch dahingehend aufzulösen, daß der kulturelle Fortschritt den Staat zunehmend zum Verschwinden bringen werde107. Eine Aussicht, die den Mangel seiner politischen Theorie an einem hinreichenden Begriff von staatlicher Souveränität und von politischer Gemeinschaft nicht ausgleichen konnte, so daß Fichte im September 1795 Theodor von Schön im Rückblick auf seine politischen Schriften enttäuscht schreibt: „Ich bin allerdings mit dem meisten nicht mehr zufrieden, was ich darin gesagt: aber nicht, weil ich zu weit, sondern darum, weil ich nicht weit genug gegangen. Das Natur= und Staats=Recht muß, so wie die ganze Philosophie, noch eine ganz andere Umkehrung erfahren."108

Das Natur- und Staatsrecht einer völligen Umkehr zu unterziehen und über das bisherige hinauszugehen, kann nur bedeuten, die Unzulänglichkeiten seiner frühen Schriften zu korrigieren und seinen bisherigen Vorstellungen von Recht und gesellschaftlichem Trieb eine transzendentalphilosophische Wendung zu geben. Wie sehr Fichtes Denken

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Bestimmung des Gelehrten, GAI, 3, S. 34. Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 37. Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 34. Vgl. dazu Düsing, Das Problem der Individualität, S. 32 ff.; zur Bestimmung des Gelehrten allgemein: Vieweg, Fichtes Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, und Dann, Fichtes Bestimmung des Gelehrten. So spricht Fichte etwa von „einem stets daurenden Kampfe" zwischen Vernunft und Natur, dem Schmerzhaften, das „uns zur Thätigkeit reizen" soll oder einem „Ringen der Geister mit Geistern", aus dem die „Vervollkommnung der Gattung" entstehen soll, Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 45, S. 66 und S. 38. Vgl. Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 37. Brief an Heinrich Theodor von Schön, vermutlich vom September 1795, GA III, 2, S. 404.

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jener Zeit mit rechtsphilosophischen Fragen beschäftigt war, dokumentieren seine unvollendeten Pläne zu einer umfassenden Rezension zeitgenössischer naturrechtlicher Schriften, die er im Sommer 1795, möglicherweise für das Philosophische Journal Niethammers, beabsichtigt hatte.109 In diesen nachgelassenen Skizzen beschäftigt sich Fichte zentral mit dem Verhältnis von Moral und Recht, die er in den Revolutionsschriften noch in eins gesetzt hatte und dafür die Konsequenz ziehen mußte, keinen legalen Zwang und keine stabile Gemeinschaft begründen zu können. Daß aber gerade die Begründung von legalem Zwang zu den vornehmlichsten Aufgaben einer Rechtsphilosophie gehört, formuliert Fichte erstmals hier: „Recht ist die Bedingung der Anwendung der Gewalt - so ist es auch."110 Fichtes Angewohnheit, seinen Gedanken mit der Feder in der Hand freien Lauf zu lassen, ermöglicht es nachzuvollziehen, wie er entlang des Gewaltbegriffs die Trennung von moralischer Pflicht und Recht vornimmt: „Pflicht ist keine Gewalt; sie giebt keine: ihr Verhältniß zur Gewalt ist bloß einschränkend.-. Rechte u. Pflichten sind allerdings entgegengesezt."111 Fichte entwickelt hier die Unterscheidung von Recht als äußerer und von Moral als innerer Pflicht112, die er auch als den Unterschied von Dürfen und Müssen beschreibt. Sind Recht und Pflicht erst mal als entgegengesetzte und unvereinbare Begriffe erkannt, versteht es Fichte folgerichtig als „inconsequent" und „willkührliche Abstraction", sie „von dem gleichen Princip"113, nämlich dem Sittengesetz, abzuleiten. Mit dieser Einsicht ist nun nicht nur der Bruch mit der früheren Position aus den Revolutionsschriften vollzogen, sondern auch die Aufgabe gestellt, aus der Trennung von Recht und Moral eine systematische Rechtsphilosophie zu entwickeln. Seinem Kollegen und Vorgänger in Jena Karl Leonhard Reinhold berichtet Fichte Ende August 1795 von seinen naturrechtlichen Reflexionen: „Ich habe diesen Sommer [...] über das NaturRecht Untersuchungen angestellt, und gefunden, daß es allenthalben an einer Deduktion der Realität des Rechtsbegriffes mangelt, daß alle Erklärungen deßelben nur formale, nur Wort=Erklärungen sind, die das Vorhandenseyn eines solchen Begriffs in uns, als ein Faktum, und was dieser Begriff bedeute, schon voraussetzen ihn nicht einmal aus dem Faktum des Sittengesetzes, welches ich eben sowenig ohne Deduktion gelten laße, gründlich deducieren. Ich habe bei dieser Gelegenheit K. Grundlegung z. M. d. S. [Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten] revidirt, und gefunden, daß, wenn irgendwo, hier die Unzulänglichkeit der Kantischen Principien, und die von ihm selbst unvermerkt gemachte Voraussetzung höherer, sich handgreiflich darthun läßt."114

In diesem Brief ist der Weg vorgezeichnet, auf dem Fichte seine Rechtsphilosophie entwickeln möchte: in Kritik an den Kantischen Faktizitäten soll ein realer Rechtsbegriff 109

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Vgl. zu diesen Skizzen Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 85 ff., und Renaut, Le droit sans la morale?, S. 229 f. Rezension der Naturrechte, GA II, 3, S. 401. Rezension der Naturrechte, GA II, 3, S. 399 f. Vgl. Rezension der Naturrechte, GA II, 3, S. 398, Anm.* und S. 399. Rezension der Naturrechte, GA II, 3, S. 405. Brief an Karl Leonhard Reinhold, 29. August 1795, GA III, 2, S. 385.

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deduziert werden, der sich nicht aus dem Sittengesetz herleitet. Fichte möchte die transzendentalphilosophischen Faktizitäten, die Kant in seinen Kritiken vorausgesetzt, aber nicht weiter analysiert, sondern nur hinsichtlich ihrer Geltungsmöglichkeiten diskutiert hatte, einem Reflexionsprozeß unterziehen und dadurch aufheben.115 Diese Absicht verweist auf das Programm seiner Wissenschaftslehre, die praktische Vernunft aus dem Prinzip des Selbstbewußtseins abzuleiten, wie auf das Rechtsdenken des Deutschen Idealismus insgesamt, der Recht immer aus der apriorischen Struktur der Subjektivität zu begründen versuchte. 1794 hatte Fichte erstmals seine, hier nur verkürzt darzustellende, Wissenschafitslehre vorgestellt, zunächst in der programmatischen Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie und dann in der systematischen Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Mit der Wissenschaftslehre verfolgt Fichte die Absicht, „eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes"116 zu schreiben, d. h. es geht ihm im Kern darum, die Überzeugung Kants von der Existenz der Dinge an sich, die das Ich in seiner Selbsterfahrung bestimmen, aufzuheben und alles Selbstbewußtsein auf die freie Tätigkeit des Ichs zurückzuführen.117 Da fur Kant Erkenntnis nur von Phänomenen besessen werden kann, die sich als Dinge an sich außerhalb des Ichs befinden, gilt im Umkehrschluß, daß von dem Subjekt-Ich selbst keine Kenntnis möglich ist.118 Von daher widmete sich die Philosophie Kants ganz den Bedingungen der Erkenntnis und stellte ein System der Kategorien auf, das alle möglichen Erkenntnisse des Ichs präfiguriert. Diese Präfiguration aber empfanden Fichte und die ihm nachfolgenden Idealisten als „Zwangszusammenhang" und „Dogmatismus großen Stils"119, den es zu überwinden galt, so daß Fichte den Akzent der Philosophie weg von den Bedingungen der Erkenntnis, den Kategorien und Urteilsformen, ganz auf die von Kant vernachlässigte innere Struktur des Selbstbewußtseins verschob. Der Wissenschaftslehre geht es also um eine Phänomenologie des Bewußtseins, sie möchte „eine genetische Ableitung dessen, was in unserm Bewußtseyn vorkommt"120, leisten. Der Forderung Reinholds, die am Anfang des Idealismus steht, alle Philosophie aus der Einheit des Wissens zu entfalten und so die klassischen Gegensätze von Geist und

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Vgl. dazu Hösle, Intersubjektivität und Willensfreiheit, S. 31, und Gamm, Deutscher Idealismus, S. 21 ff. Grundlage der Wissenschaftslehre, GA I, 2, S. 365. Vgl. den Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 30. August 1795, GA III, 2, S. 391: „Sie sind ja bekanntermaßen Realist, und ich bin ja wohl transcendentaler Idealist, härter als Kant es war: denn bei ihm ist doch noch ein Mannigfaltiges der Erfahrung, zwar mag Gott wissen, wie und woher, gegeben, ich aber behaupte mit dürren Worten, daß selbst dieses von uns durch ein schöpferisches Vermögen produciert werde." Vgl. Frank, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie, S. 447, Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 191 f., und Lauth, Fichtes Leistung in der Geschichte der Philosophie, S. 332 ff. Gamm, Deutscher Idealismus, S. 21. Begriff der Wissenschaftslehre, GA I, 2, S. 159.

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Materie, Sein und Selbst, die sich ja auch in der dualistischen Struktur der Kantischen Philosophie noch nachweisen lassen, aufzuheben, kommt Fichte nach, indem er das Ich zum alleinigen Ausgangspunkt der Philosophie und damit jede Realität zu einem rein geistigen Ereignis macht. Die Rückführung aller Erkenntnis auf das Ich wird so zum Charakteristikum der Wissenschaftslehre Fichtes: „Darin besteht nun das Wesen der kritischen Philosophie, daß ein absolutes Ich als schlechthin unbedingt und durch nichts höheres bestimmbar aufgestellt werde und wenn diese Philosophie aus diesem Grundsatze konsequent folgert, so wird sie Wissenschaftslehre."121

Dieses absolute Ich darf aber nicht, wie Fichte weiter ausfuhrt, mit Individualität oder dem empirischen Ich verwechselt werden, denn im absoluten Ich als erstem Prinzip der Philosophie ist noch nicht zwischen Subjekt und Objekt, Handelndem und Produkt der Handlung unterschieden.122 Und weil im absoluten Ich Handelnder und Behandeltes noch miteinander identifiziert sind, herrscht in ihm ein apriorischer Zustand der reinen Vernunft. 123 Die Welt der Gegenstände ist für die Wissenschaftslehre erst eine mittelbare Folge der produktiven Einbildungskraft des absoluten Ichs, das im Prozeß des Setzens aus sich selbst heraus Realität, ein Entgegensein, ein Nicht-Ich, erschafft, an dessen Widerstand es praktisch wird.124 Das „Individuum muß aus dem absoluten Ich deducirt werden" erklärt Fichte in einem Brief an Jacobi und fahrt fort: „Dazu wird die Wissenschaftslehre im Naturrecht ungesäumt schreiten."125 Fichte hatte von Anfang an seine Wissenschaftslehre als Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie verstanden und das Programm aufgestellt, aus seinem ersten Prinzip, dem absoluten Ich, „das System des menschlichen Wissens"126 überhaupt abzuleiten. 2.1. Die Grundlage

des Naturrechts

von 1796/97

Daß nun der erste Versuch Fichtes, die Wissenschaftslehre praktisch zu wenden, auf dem Gebiet des Naturrechts stattfinden sollte, steht natürlich in engem Zusammenhang mit der beschriebenen Unzufriedenheit über seine frühe politische Theorie, die ja in der Einsicht gipfelte, „daß es allenthalben an einer Deduktion der Realität des Rechtsbegriffes mangelt", wie er Reinhold geschrieben hatte. Schon der Titel seines rechtsphilosophischen Hauptwerks, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissen121 122

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Grundlage der Wissenschaftslehre, GAI, 2, S. 279. Vgl. den ersten Grundsatz der Wissenschaftslehre, Grundlage der Wissenschaftslehre, GA I, 2, S. 255 ff. Vgl. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 313. Vgl. dazu Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 198 ff. Die Differenz zwischen Ich und Nicht-Ich läßt sich auf theoretischer Ebene auch als die Differenz zwischen Subjekt und Objekt und auf praktischer als die zwischen Freiheit und Natur umschreiben, vgl. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 177. Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 30. August 1795, GA III, 2, S. 392. Begriff der Wissenschaftslehre, GA I, 2, S. 140.

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schaftslehre, betont die Bemühungen Fichtes um eine systematische Herleitung des Rechtsbegriffs. In dieser Schrift, die 1796 und 1797 in zwei Teilen erschien und die für Vittorio Hösle „ohne jeden Zweifel zu den großartigsten Werken der Rechtsphilosophie" gehört und „den Höhepunkt des rechtsphilosophischen Denkens der Aufklärung" 127 bildet, möchte Fichte die in den Rezensionsskizzen schon problematisierte Trennung von Recht und Moral durch den Versuch vollziehen, den Begriff des Rechts „a priori, d. i. aus der reinen Form der Vernunft, aus dem Ich"128, zu deduzieren. Würde ihm nämlich der Nachweis gelingen, daß Recht zu den notwendigen Bedingungen des Selbstbewußtseins gehört und der Vernunftnatur des Menschen elementar ist, dann wäre damit auch die Eigenständigkeit des Rechts gegenüber der Moral erwiesen. In der Grundlage der Wissenschaftslehre hatte Fichte die praktische Philosophie als den Teil der Wissenschaftslehre bestimmt, in dem das Ich das Nicht-Ich als beschränkt durch das Ich setzt129, d. h. die praktische Wissenschaftslehre hat die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen Erfahrung möglich wird. Folglich sucht Fichte auch in der Grundlage des Naturrechts die Wurzel allen Rechts in diesem Übergang vom absoluten und rein selbstbezüglichen Ich zum empirischen Ich:,Alles Seyn [...] ist eine bestimmte Modifikation des Bewußtseyns"130 schreibt er in seiner Einleitung und verweist damit auf die Idee der Tathandlung aus der Wissenschaftslehre, nach der das ursprüngliche Bewußtsein die Bewußtheit von sich und damit alle Objektbeziehungen erschafft, indem es in einem schöpferischen Akt aus sich selbst heraus eine Außenwelt setzt. „Ich bin" ist demnach Ausdruck und Folge dieser einzig möglichen Tathandlung.131 Hinter diesem Konzept steckt die Erkenntnis Fichtes, daß reales Selbstbewußtsein sich nur in einem reflexiven Prozeß des Unterscheidens, Konfrontierens und Abhebens von einer Umgebung entwickeln kann, die Objektcharakter für das Ich hat: „Um mich als mich zu identifizieren [...], muß ich mich also gegen anderes distinguieren."132 Zentral für Fichtes Begründung von Interpersonalität ist nun der Gedanke der Aufforderung, den er im zweiten Lehrsatz der Grundlage vorstellt und nach dem jedes Vernunftwesen von einem anderen Vernunftwesen zur Realisierung seiner freien Wirksamkeit aufgefordert werden muß.133 „Der Mensch [···] wird nur unter Menschen ein Mensch"134 - so umschreibt Fichte lapidar dieses Verhältnis und meint damit, daß Individualität und Vernünftigkeit nicht isoliert erlangt werden können, sondern nur 127

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Hösle, Intersubjektivität und Willensfreiheit, S. 29. Auch Wolfgang Kersting würdigt die Leistung Fichtes, der „als erster deutscher Naturrechtsphilosoph eine moralunabhängige Rechtsbegründung vorgetragen" habe, Kersting, Die Unabhängigkeit des Rechts von der Moral, in: Merle (Hg.): Grundlage des Naturrechts, S. 21 f. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 358, ähnlich auch auf S. 319. Vgl. Grundlage der Wissenschaftslehre, GA I, 2, S. 285. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 314, vgl. auch S. 335. Vgl. Grundlage der Wissenschaftslehre, GA I, 2, S. 259. Frank, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie, S. 452. Vgl. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 343. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 347, vgl. dazu Manz, Fairneß und Vemunftrecht, S. 97 ff.

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dann, wenn der Prozeß des Identifizierens und Distinguierens auf ein anderes Vernunftwesen stößt, das in einer Art Frage-Antwort-Schema das fragende Subjekt zu eigener Freiheit und Vernünftigkeit auffordert: Das Subjekt „erfahrt sich als freies Wesen, weil es eine ihm freigestellte Antwort geben muß; es erfährt das Gegenüber als freies Wesen, weil es zwar zum Antwort-Geben nötigt, aber die Antwort offen läßt."135

Dabei versteht Fichte, dessen Ausführungen nicht immer ganz klar sind, Aufforderung wohl vor allem als einen Akt der Erziehung, der durch freies „Geben und Empfangen von Erkenntnissen"136 den Menschen erst zum Individuum macht. Im viel diskutierten Übergang vom dritten zum vierten Paragraphen seiner Grundlage des Naturrechts137 zeigt Fichte dann, wie aus dem jeweils einseitigen Erkennen der freien Handlungssphären ein wechselseitiges Anerkennen wird: Nach erfolgreicher Aufforderung beginnt das vernünftige Subjekt damit, seiner freien Wirksamkeit gewisse Grenzen oder Sphären einzuräumen, deren Einhaltung es von den anderen Vernunftwesen erwartet, genau so wie es umgekehrt dazu bereit ist, deren Grenzen zu respektieren. Die vernünftigen Subjekte erkennen, daß ihre Individualität die Anerkennung und die Freiheitsgewährung der anderen bedarf und richten sich in „einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit"138 in diesem Verhältnis ein: „Der Begriff der Individualität ist aufgezeigter Maßen ein Wechselbegriff, d. i. ein solcher, der nur in Beziehung auf ein anderes Denken gedacht werden kann, und durch dasselbe, und zwar durch das gleiche Denken, der Form nach, bedingt ist. Er ist in jedem Vernunftwesen nur insofern möglich, inwiefern er als durch ein anderes vollendet, gesezt wird. Er ist demnach nie mein; sondern meinem eignen Geständniß, und dem Geständniß des andern nach, mein und sein; sein und mein; ein gemeinschaftlicher Begriff, in welchem zwei Bewußtseyn vereinigt werden in Eins."139

Entscheidend ist hier, daß Fichte Individualität infolge des wechselseitigen Aufforderns und Anerkennens als einen gemeinschaftlichen Begriff versteht, d. h. „er deduziert das Mit-Sein, indem er es als eine Bedingung des Ich-Seins, des Selbstbewußtseins erweist"140. Dieses Verhältnis der wechselseitigen Freiheitsbeschränkung nennt Fichte das „Rechtsverhältniß"141 und stellt damit einen ontologischen Zusammenhang her zwischen Menschwerdung und der Begründung rechtlicher Verpflichtung - einen Zu135 136

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Manz, Fairneß und Vernunftrecht, S. 99, vgl. auch Baumanns, Fichte, S. 119. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 348; zur Aufforderung als Erziehung, vgl. ebd., S. 347, dazu auch Siep, Naturrecht und Wissenschaftslehre, S. 32, und Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 275. Vgl. dazu u. a. die Arbeiten in dem von M. Kahlo, E. A. Wolff und R. Zaczyk herausgegebenen Band Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis. Die Deduktion der §§1—4 der Grundlage des Naturrechts und ihre Stellung in der Rechtsphilosophie. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 351. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 354. Baumanns, Fichte, S. 116; ähnlich auch Siep, Naturrecht und Wissenschaftslehre, S. 34. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 358.

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sammenhang, den er in einem Brief an Jacobi prägnant zum Ausdruck bringt: „Die Bedingungen der Individualität heißen Rechte."142 Wie Hansjürgen Verweyen erklärt, darf dieses Rechtsverhältnis der wechselseitigen Freiheitsbeschränkung aber nicht mit ethischen Maximen wie der Goldenen Regel oder auch dem kategorischen Imperativ Kants verwechselt werden, denn Pointe des Fichteschen Rechtsverhältnisses ist, daß das Interpersonalverhältnis „dem legalen wie sittlichen Handeln des Individuums als konstitutive Bedingung vorawsliegt"143. Objekt des Rechtsbegriffs ist also nicht, wie noch in Fichtes Revolutionsschriften, das Individualrecht des herkömmlichen Naturrechts, sondern immer schon eine Gemeinschaft von Menschen.144 Fichtes transzendentale Deduktion des Rechts schlägt damit nicht nur einen völlig anderen Weg der Rechtsbegründung ein als die anthropologisch-naturphilosophischen Herleitungen von Hobbes oder Spinoza, sondern „trennt am Ende die Legalität in der Wurzel von aller Moralität"145. Ist nämlich das Rechtsverhältnis aus dem Begriff des Individuums erwiesen, der seinerseits als eine Bedingung des Selbstbewußtseins abgeleitet wurde, dann ist damit auch die direkte Herkunft des Rechts aus dem apriorischen Selbstbewußtsein, aus der reinen Vernunft, erwiesen.146 Diese Eigenständigkeit des Rechts gegenüber der Moral hatte Fichte ja schon in seinen naturrechtlichen Rezensionsskizzen mit der Unterscheidung von Recht als äußerer und von Moral als innerer Pflicht postuliert und nun, in der Grundlage des Naturrechts, systematisch entfaltet: Der „Begriff des Rechts bezieht sich sonach nur auf das, was in der Sinnenwelt sich äussert: was in ihr keine Kausalität hat, sondern im Innern des Gemüths verbleibt, gehört vor einen andern Richterstuhl, den der Moral. Es ist daher nichtig von einem Rechte auf Denkfreiheit, Gewissensfreiheit, u.s.f. zu reden. Es giebt zu diesen innern Handlungen ein Vermögen, und über sie Pflichten, aber keine Rechte."147

Das transzendentale Rechtsverhältnis ist für Fichte also an die „Sinnenwelt", an eine Gemeinschaft von Individuen gebunden, die sich wechselseitig anerkennen und einschränken, wohingegen die wechselseitige Einschränkung aus moralischen Motiven nicht von äußeren Bezügen abhängt, sondern dem einzelnen durch das rein formale und inhaltlich leere Sittengesetz vermittelt wird: „Vor dem Anruf des Sittengesetzes steht die persona moralis mit ihrem Gewissen allein."148 Pointiert könnte man also die Fichtesche Trennung von Recht und Moral auch so beschreiben, daß das Recht den Bereich des Nicht-Ich umfaßt und die Moral den des Ichs.149 Allerdings darf die Bindung des Rechtsbegriffs an die „Sinnenwelt" nicht über den Umstand hinwegtäuschen, daß dieses 142 143 144 145 146 147 148 149

Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 30. August 1795, GA III, 2, S. 392. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 91 (Hervorh. d. Verf.). Vgl. Schottky, Geschichte der Vertragstheorie, S. 179. Janke, Anerkennung, S. 107. Vgl. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 358. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 360. Janke, Anerkennung, S. 105; vgl. dazu Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 320 f. Vgl. Gueroult, La doctrine fichtéene du droit, S. 61.

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Rechtsverhältnis dem legalen und sittlichen Verhalten der Individuen konstitutiv vorausliegt und von daher nicht mit der Begründung einer realen Gesellschaft als der Arena legalen und sittlichen Verhaltens verwechselt werden darf: „Es läßt sich gar kein absoluter Grund aufzeigen, warum jemand sich die Rechtsformel: beschränke deine Freiheit so, daß der andere neben dir auch frei seyn könne, zum Gesetze seines Willens, und seiner Handlungen machen sollte. [...] Wenn eine Gemeinschaft freier Wesen, als solcher, möglich seyn soll, so muß das Rechtsgesez gelten."150

Fichte muß hier einräumen, daß sich aus der ontologischen Notwendigkeit eines Rechtsverhältnisses noch lange keine Pflicht ableiten läßt, auch realiter in einer Gemeinschaft zu leben. Auch wenn die Bedingungen der Individualität Rechte heißen, ist damit ja noch lange nicht gesagt, daß es keine Rechtsverletzungen geben könne. Kein Individuum kann sicher sein, daß der Aufforderung zur wechselseitigen Anerkennung dauerhaft und zuverlässig nachgekommen wird - schließlich besteht zwischen dem notwendigen Gedanken einer Gemeinschaft und der Realisierung derselben ein bloß willkürliches Verhältnis.151 Es läßt sich eben jenseits der Moral „kein absoluter Grund" aufzeigen, warum jemand die freiwillige Freiheitseinschränkung zur durchgängigen Maxime seines Handelns machen sollte. Auch eine Kantische Pflicht zum Staat152 kennt das Naturrecht Fichtes nicht, gleichzeitig aber versteht es als den Kern aller Rechtswissenschaft die Frage: „wie ist eine Gemeinschaft freier Wesen, als solcher, möglich?"153 Wie läßt sich aber nun aus dem ursprünglichen „Rechtsverhältniß" das angestrebte „Rechtsgesez" begründen, wie aus der theoretischen Notwendigkeit des Rechts eine praktische?

2.2. Reelles Philosophieren Die Antwort der Grundlage des Naturrechts auf diese Frage liegt in der Konstituierung einer staatlichen Gemeinschaft, die allein ein dauerhaftes Rechtsverhältnis zu gewährleisten vermag. Um diese Gemeinschaft aber begründen zu können, wird das Rechtsdenken Fichtes die Methode der transzendentalen Deduktion aufgeben müssen, denn so hoch es sich in seiner Herleitung von Intersubjektivität über die Tradition des Naturrechts auch erhoben hatte, „staatsphilosophisch bleibt es auf hobbesianischen Ni-

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Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 387, ähnlich auch auf S. 321 f.; vgl. dazu Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 274 ff. „Es ist nothwendig, daß jedes freie Wesen andere seiner Art ausser sich annehme; aber es ist nicht nothwendig, daß sie alle, als freie Wesen, neben einander fortbestehen; der Gedanke einer solchen Gemeinschaft, und die Realisation desselben ist sonach etwas willkiihrliches", Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 320. Vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, Werke, Bd. 11, S. 241 f. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 383.

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veau"154. Fichte gelingt es nicht, mit den Mitteln der Wissenschaftslehre einen „absoluten Grund" aufzuzeigen, dauerhaft in einer politischen Gemeinschaft zu leben und fügt deswegen in die Leerstelle zwischen dem transzendentalphilosophischen Rechtsverhältnis und dem politischen Rechtsgesetz den Vertragsgedanken des klassischen Kontraktualismus ein. Auf der Ebene eines „reellen Philosophierens"155 hat das Recht für Fichte nämlich nur noch technisch-praktische Qualität, ist „das bloße Mittel, eine Gemeinschaft einzurichten, wenn man sie will"156. Und daß man sie will, begründet er ganz voluntaristisch mit einem Hobbesschen Kontraktualismus, der den natürlichen Zustand als einen latenten Kriegszustand beschreibt und in dem Risikovergleich zwischen natürlichem und staatlichem Zustand über ein Motiv verfugt, den Menschen ganz zweckrational und nur aus „Eigenliebe" dazu zu bringen, die „gegenseitige Sicherheit" zum Objekt eines gemeinsamen Willens zu machen.157 Dieser gemeinsame Wille findet dann Ausdruck in einem Vereinigungsvertrag, der die angestrebte Rechtssicherheit herstellen soll: Jeder leistet nach dem Prinzip der wechselseitigen Freiheitseinschränkung so weit Verzicht auf seine ursprüngliche Freiheit, daß die Möglichkeit der Freiheit des anderen nicht verletzt wird.158 Dieses Prinzip der wechselseitigen Freiheitseinschränkung begreift Fichte als Recht und die Anwendung des Rechts als positives Gesetz159, das nach seiner freiwilligen Annahme kategorisch gebietet160. Der höchste Souverän bleibt so immer das Volk161, das seinen gemeinsamen Willen - die gegenseitige Sicherheitsgarantie - im Gesetzgebungsverfahren festschreibt. Danach werden staatliche Repräsentanten eingesetzt, die zwar mit einer umfassenden exekutiven Gewalt ausgestattet sind, dem Verfahren der Gesetzgebung aber streng verpflichtet bleiben, so daß das Gesetz immer die „Obergewalt"162 behält. Die staatliche Gewalt, über deren institutionelle Ausgestaltung der gemeinsame Volkswille

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Kersting, Die Unabhängigkeit des Rechts von der Moral, in: Merle (Hg.): Grundlage des Naturrechts, S. 35, ähnlich auch Hahn, Fichtes Politikbegriff, S. 204. Dieses Verhältnis ließ Hansjürgen Verweyen von einer „ungelösten Aporie" der Grundlage des Naturrechts sprechen: „Zwei verschiedene Ansätze liefen dort zusammen: Die Ableitung des RechtsbegrifFs aus Prinzipien der WL [= Wissenschaftslehre] und der Versuch einer mechanistischen Konstruktion des Rechtsverhältnisses", Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 181. Vgl. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 317, dazu Schottky, Geschichte der Vertragstheorie, S. 295, Baumanns, Fichte, S. 124, und Siep, Naturrecht und Wissenschaftslehre, S. 24. Bartuschat, Zur Deduktion des Rechts aus der Vernunft bei Kant und Fichte, S. 184; vgl. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 320. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 432 f., vgl. auch ebd., GA I, 4, S. 69. Vgl. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 410 f. Vgl. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 399 ff. Vgl. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 390. „[...] das Volk ist in der That, und nach dem Rechte, die höchste Gewalt, über welche keine geht, die die Quelle aller andern Gewalt, und die Gott allein verantwortlich ist", Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 457. Vgl. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 399.

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Denken vor den Reden an die deutsche Nation

entscheidet, hat die Überwachung der wechselseitigen Freiheitseinschränkung zur A u f gabe und darf zu deren Einhaltung auch Zwang anwenden: „Das Zwangsgesez soll so wirken, daß aus jeder Verletzung des Rechts, für den Verletzenden unausbleiblich, und mit mechanischer Notwendigkeit, so daß er es ganz sicher voraussehen könne, die gleiche Verletzung seines eignen Rechts erfolge." 163 Ähnlich w i e Kant, auf dessen Schrift Zum ewigen

Frieden

er sich beruft 1 6 4 , begreift

auch Fichte die Staatsgründung ganz funktionalistisch als ein Problem, das auch „für ein Volk von Teufeln" lösbar ist, weil ein „Mechanism der Natur" 165 ihre selbstsüchtigen Neigungen gegeneinander ausspielt und so in einen Zustand der Rechtssicherheit überführt. In der Grundlage

des Naturrechts

nun wird dieses mechanistisch-funktionali-

stische Staatsverständnis durch die transzendentalphilosophisch hergeleitete Trennung v o n Recht und Moral zusätzlich radikalisiert, denn gerade weil das Recht sich nicht auf einen guten Willen oder innere Gesinnungen, sondern allein auf äußere Handlungen bezieht, sind seiner Erzwingbarkeit keine Grenzen gesetzt: „Das Recht muß sich erzwingen lassen, wenn auch kein Mensch einen guten Willen hätte; und darauf geht eben die Wissenschaft des Rechts aus, eine solche Ordnung der Dinge zu entwerfen. Physische Gewalt, und sie allein, giebt ihm auf diesem Gebiete die Sanktion."166 Ganz hobbesianisch fordert Fichte v o n seinen Bürgern nichts als äußere Rechtskonformität, die allein durch den Zwang der Gesetze und die Gewalt des Staats motiviert wird. Während er alle äußeren Handlungen damit unter die Aufsicht eines autoritären Polizei- und Überwachungsstaats stellt 167 , bleibt der moralische Innenraum seiner Bürger davon gänzlich unberührt und vor staatlichen Zugriffen geschützt 1 6 8 - eine Rous163

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Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 430 (Hervorh. d. Verf.); ähnlich auch auf S. 427: „Wenn demnach eine mit mechanischer Nothwendigkeit wirkende Veranstaltung getroffen werden könnte, durch welche aus jeder rechtswidrigen Handlung das Gegentheil ihres Zwecks erfolgte, so würde, durch eine solche Veranstaltung, der Wille genöthigt, nur das rechtmäßige zu wollen [...]." Vgl. Grundlage, GA I, 3, S. 323 ff. Fichte hatte die Friedensschrift Kants auch für das Philosophische Journal Niethammers rezensiert, abgedruckt in GA I, 3, S. 217 ff. Kant, Zum ewigen Frieden, Werke, Bd. 11, S. 224. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 359, vgl. Wallner, Fichte als politischer Denker, S. 86, Janke, Anerkennung, S. 105, Gueroult, Fichte et la Révolution française, S. 219, und Willms, Totale Freiheit, S. 87. Fichtes Haltung ist aber in diesem Punkt nicht immer eindeutig; so verweist er an anderer Stelle darauf, daß die Rechtsregel auch durch das Sittengesetz sanktioniert werde, vgl. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 320 f., dazu Schottky, Geschichte der Vertragstheorie, S. 182 ff. „In einem Staate von der hier aufgestellten Konstitution hat jeder seinen bestimmten Stand, die Policei weiß so ziemlich, wo jeder Bürger zu jeder Stunde des Tages sey, und was er treibe. leder muß arbeiten, und jeder hat, wenn er arbeitet, zu leben [...]", Grundlage des Naturrechts, GA I, 4, S. 92. Mit Recht weist Ingeborg Maus darauf hin, daß Strafverfolgung das „Zentrum von Fichtes Staatskonzeption abgibt", Maus, Die Verfassung und ihre Garantie, in: Merle (Hg.): Grundlage des Naturrechts, S. 144. Vgl. Maus, Die Verfassung und ihre Garantie, in: Merle (Hg.): Grundlage des Naturrechts, S. 156.

Der Staat als „Zwangs-Anstalt"

95

seausche aliénation totale findet in der Grundlage des Naturrechts nicht statt: „Was der Einzelne nicht zum Staatszweck beigetragen, in Absicht dessen ist er völlig frei; ist in dieser Rücksicht nicht in das Ganze des Staatskörpers verwebt, sondern bleibt Individuum [..,]."169 Hatte Fichte in seinen beiden Revolutionsschriften die liberalen Schutzrechte des Individuums noch aus der souveränitätstheoretischen Minimierung des Staats generiert, so erreicht er in der Grundlage des Naturrechts dieses Ziel durch die penible Trennung von staatlichem Recht und privater Moral, von legalem Verhalten und innerer Gesinnung. Und war 1793 das hoch normative Bild vom natürlichen Menschen Voraussetzung für die weitestgehende Identität von privatem und öffentlichem Recht, so müssen in der Rechtslehre von 1796/97 unter den Bedingungen einer kriegerischen und egoistischen Natur des Menschen - ohne die auf der Ebene eines „reellen Philosophierens" für Fichte keine dauerhafte Gemeinschaft zu motivieren war - staatliches Recht und private Moral voneinander geschieden werden. Eine folgenreiche Trennung, denn weil der Staat der Grundlage des Naturrechts allein unter dem Aspekt der Rechtssicherheit als eine juridische Zwangsanstalt geboren wurde, mußte Fichte „die Existenz der Gesellschaft selbst an die Wirksamkeit des Gesetzes"170 binden und damit auch die Beziehungen der Bürger untereinander ganz der Logik einer kalten Rechtsmechanik ausliefern: „leder hat nur auf die Legalität des andern, keineswegs auf seine Moralität Anspruch."171 Der Ausgang von Fichtes Staatsentwurf bei der Prämisse eines „Volks von Teufeln", das allein aus „Sorge für die eigene Sicherheit"172 zusammenkommt, prägt in der Folge auch die sozialen Beziehungen der Staatsbürger untereinander: „Der Staat hat weder das Recht, noch die Macht, zu befehlen, daß die Bürger unter einander sich trauen sollen; denn er selbst ist auf das allgemeine Mistrauen aufgebaut, auch wird ihm selbst nicht getraut, und ist ihm nicht zu trauen, wie wir durch die ganz Constitution erwiesen haben."173

169 170 171

172

173

Grundlage des Naturrechts, GA I, 4, S. 17. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 402. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 425, vgl. dazu Willms, der zwei Folgen unterscheidet: „Dieses Fehlen einer wirklichen Vermittlung zwischen Moralität und Recht hat folgende Konsequenzen: Erstens, der Bereich des Rechtes, der Legalität wird zum Bereich hypothetischer Imperative. [...] Zweitens wird die Herausnahme der Sittlichkeit, also auch der Freiheit aus dem Bereich der Legalität diesen der bloß zweckrationalen Rechtstechnik ausliefern", Willms, Totale Freiheit, S. 87: Grundlage des Naturrechts, GA I, 4, S. 69. Verweyen bezeichnet die Grundlage daher „als die konsequenteste rechtsphilosophische Darstellung eines Liberalismus, der lieber auf die .Vorsehung der Natur' im Antagonismus der Privatinteressen als auf das Potential menschlicher Moralität setzt", Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 341. Grundlage des Naturrechts, GA I, 4, S. 47, vgl. auch Fichtes „Grundgesez": „liebe dich selbst über alles, und deine Mitbürger um dein selbst willen", ebd., S. 69.

96

II. Das politische

Denken vor den Reden an die deutsche Nation

Für die angestrebte dauerhafte Rechtssicherheit und die Begründung v o n legalem Zwang muß die Rechtslehre Fichtes einen hohen Preis bezahlen: während die staatlichlegale Ebene Gemeinschaft nur mechanisch und negativ - über Zwang und Gewalt herstellen kann und daher nicht frei v o n totalitaristischen Tendenzen bleibt 1 7 4 , setzt sich auf gesellschaftlich-sozialer Ebene der uneingeschränkte Individualismus der Revolutionsschriften fort. Anders als der Contrat

social

verlangt die Grundlage

des

Natur-

rechts keine Veräußerung v o n moralischer Autonomie an den Staat und muß vollständig auf jede Form sozialer Integration verzichten: ihr geht es allein u m rechtskonformes Verhalten und nicht u m innere Einstellungen. Sie kennt daher auch „keine Gemeine mehr", das V o l k ist für sie „gar kein Volk, kein Ganzes, sondern ein blosses Aggregat v o n Unterthanen" 175 - eine Vorstellung, an der sich Hegels scharfe Kritik an Fichtes „System der Atomistik der praktischen Philosophie" entzündet hatte: „Aber jener Verstandesstaat ist nicht eine Organisation, sondern eine Maschine, das Volk nicht der organische Körper eines gemeinsamen und reichen Lebens, sondern eine atomistische lebensarme Vielheit, deren Elemente absolut entgegengesetzte Substanzen [...] sind [...]. Diese absolute Substantiality der Punkte gründet ein System der Atomistik der praktischen Philosophie, worin, wie in der Atomistik der Natur, ein den Atomen fremder Verstand Gesetz wird, das sich im Praktischen Recht nennt, ein Begriff der Totalität, der sich jeder Handlung [...] entgegensetzen, sie bestimmen, also das Lebendige in ihr, die wahre Identität, töten soll."176

174

175 176

Mit Betonung auf „Tendenzen" im Sinne eines Polizeistaats, denn der Etablierung eines umfassenden staatlichen Totalitarismus, wie Willms ihn in der Grundlage erkennt (vgl. Willms, Totale Freiheit, S. 117 ff.), oder einer Willkürherrschaft des Zwangs (so Geismann, Fichtes Aufhebung des Rechtsstaates, S. 90 und S. 117, der sogar eine Nähe Fichtes zum Nationalsozialismus erkennen kann, vgl. ebd., S. 105) stehen die machtgeschützte Innerlichkeit der Individuen, ihr Widerstandsrecht (vgl. Grundlage, GA I, 3, S. 456 f.), die ausdrückliche Koppelung des Zwangsrechts an ein „Recht des Gerichts" (ebd., S. 391 f., vgl. auch S. 430 ff.) und die geforderte „höchste Publicität" aller staatlichen Entscheidungen (ebd., S. 446) entgegen. In Überwindung der streng individualistischen Revolutionsschriften übrigens verfügt nun nicht mehr jedes einzelne Individuum, sondern nur das Volk als Ganzes über das Recht auf Widerstand, dazu Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat, S. 180 f. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 452. Hegel, Differenz des Fichteschen und des Schellingschen Systems der Philosophie, Werke, Bd. 2, S. 87.

Von der Grundlage zu den Grundzügen: Das politische Denken Fichtes bis 1806

97

3. Von der Grundlage zu den Grundzügen: Das politische Denken Fichtes bis 1806 Ähnlich wie die Schriften zur Französischen Revolution bietet auch die Grundlage des Naturrechts das Bild eines politischen Denkens, das sich konsequent und systematisch aus ersten Problemstellungen entfaltet - und gerade ob dieser logischen Strenge zu Ergebnissen führt, die an einer politischen Umsetzbarkeit zweifeln lassen. Ergab sich dort aus der Frage nach den Grundsätzen von Staatsveränderungen ein übersteigerter politischer Liberalismus, der weitestgehend auf den Staat verzichten konnte, so resultierte hier aus den Fragen nach der Eigenständigkeit des Rechts gegenüber der Moral und nach der Begründung von dauerhafter Rechtssicherheit eine juridische Zwangsanstalt, die alle integrativen und identifikatorischen Aspekte staatlicher Gemeinschaft vollständig ausklammert. Weil es Fichte nicht gelungen ist, seine transzendentalphilosophische Begründung von Gemeinschaft als Objekt des Rechtsbegriffs aus dem ersten Hauptstück der Grundlage politisch zu wenden, konnte er in der Folge seinen Staatsentwurf um so ungezügelter nach der moralischen Unabhängigkeit einer individualistisch verkürzten Rechtsidee gestalten: Legalität und Moralität, Recht und Sittlichkeit, Individuum und Gemeinschaft stehen sich daher unvermittelt und antithetisch gegenüber, und ein ,,uneingestandene[r] Zwiespalt"177 zwischen liberalen Reservatrechten und totaler Staatssouveränität tut sich in seiner Rechtsphilosophie auf. Infolge der kategorialen Unterscheidung von Recht und Moral ist letztere fur Fichte im Umkehrschluß nur außerhalb des staatlich-legalen Raums möglich. Schon in den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, mit denen er 1794 seine Lehrtätigkeit an der Universität Jena aufnahm, hatte er den Gedanken vorgetragen, daß die moralische Bestimmung der Menschheit - die Verwirklichung einer Vernunftherrschaft sich als gesellschaftlich-kulturelles Prinzip auf höherer Stufe vollzieht. In diesen Vorlesungen hatte Fichte, wie schon erwähnt, dem Menschen einen „gesellschaftlichen Trieb" zugeschrieben und Gesellschaft als „die Beziehung der vernünftigen Wesen aufeinander"178 definiert. Ihrem Gegenstand angemessen galten die Überlegungen der Bestimmung des Gelehrten weniger dem staatlichen als vielmehr dem gesellschaftlichkulturellen Raum, den sie, ganz unter dem Eindruck des Kantischen Geschichtsoptimismus179, allein unter dem Aspekt der Vernunft und dem Begriff des Sollens, also katego177 178

179

Schottky, Geschichte der Vertragstheorie, S. 223. Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 34, zum gesellschaftlichen Trieb, den Fichte mit der Grundlage und ihrer transzendentalen Begründung von Intersubjektivität hinter sich lassen sollte, vgl. ebd., S. 37. Siehe zu diesen Vorlesungen den Aufsatz von Klaus Vieweg, Fichtes Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, und Ziolkowski, Das Wundeijahr in Jena, S. 48 ff. Unter deutlicher Bezugnahme auf die antagonistische Geschichtsphilosophie Kants spricht Fichte von „einem stets daurenden Kampfe" zwischen Vernunft und Natur, dem Schmerzhaften, das „uns zur Thätigkeit reizen" soll und einem „Ringen der Geister mit Geistern", aus dem die „Vervollkommnung der Gattung" entsteht, Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 45, S. 66 und S. 38.

98

II. Das politische Denken vor den Reden an die deutsche Nation

lisch faßten. Erst mit der Grundlage des Naturrechts konkretisierte Fichte dann den staatlich-rechtlichen Raum, den er, wie beschrieben, ganz zweckrational ausgestaltete und damit einem hypothetischen Imperativ unterstellte.180 Anders aber als diese kategoriale Unterscheidung erwarten ließe, sind aus der überlegenen Perspektive der Moral die beiden Sphären nicht völlig gegeneinander abgeschüttet, sondern verhalten sich semipermeabel in dem Sinn, daß dem Staat eine unterstützende und befördernde Funktion für den gesellschaftlich-kulturellen Prozeß zukommt. Die pointierte Aussage der Bestimmung des Gelehrten, es sei „der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüßig zu machen"181, taucht auch in der Grundlage des Naturrechts wieder auf, wo Fichte über das Verhältnis des Legalen zum Moralischen ausführt: „Die Menschheit sondert sich ab vom Bürgerthume, um mit absoluter Freiheit sich zur Moralität zu erheben; dies aber nur, inwiefern der Mensch durch den Staat hindurch geht. Inwiefern aber doch der Einzelne durch das Gesez beschränkt wird, ist er Unterthan, unterworfen der schützenden oder Staatsgewalt, auf dem ihm übrig bleibenden Gebiethe."182

Zusammen mit dem kontraktualistisch-individualistischen Staatsgedanken wird die transzendental begründete und geschichtsphilosophisch aufgeladene Trennung von Recht und Moral, von Staat und Gesellschaft mit ihren charakteristischen Konsequenzen - dem Werkzeugcharakter des Staats, der mechanisch-juridischen Begründung von politischer Gemeinschaft und dem Recht als Ausgleich egoistischer Interessen - weitgehend das weitere politische Denken Fichtes bis zu den Reden an die deutsche Nation bestimmen, wie Hansjürgen Verweyen es beschrieben hat. Daß Fichte durchaus das Kernproblem seiner Rechtsphilosophie - „wie ist ein Übergang von der erzwungenen Ordnung egoistischer ,Freiheits'äußerungen zu einer wirklich sittlich bestimmten Gemeinschaft möglich?"183 - wahrgenommen hat, zeigt sein System der Sittenlehre von 1798, das ähnlich der Grundlage des Naturrechts den Zusatz führt nach den Principien der Wissenschaftslehre. Zwar sind auch hier Moral und Recht kategorial voneinander geschieden, doch stellt die Sittenlehre mit der Kirche und der Gelehrtenrepublik dem Staat immerhin zwei fundamentale Institutionen der Gesellschaft zur Seite und versucht so, ihn mit der Sphäre des Gemeinwohls zu vermitteln.184 Falls Fichte vorgehabt haben sollte, sein politisches Denken in diese Richtung einer gesellschafitlich-kulturellen Anbindung des Staats zu entwickeln, sind seine Pläne Opfer des Atheismusstreits geworden, der kurz nach Veröffentlichung der Sittenlehre über ihn 180 181

182

183 184

Vgl. Willms, Totale Freiheit, S. 80 ff. Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 37, dazu Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, S. 227 ff. Grundlage des Naturrechts, GA I, 4, S. 17. Zwi Batscha resümiert seine Interpretation der Grundlage daher so: „Die Gesellschaft ist es also, welche die vollkommene Priorität über ihren Staat hat. Der Staat ist kein vergesellschafteter Staat'; die Gesellschaft behält sich auch nach der Errichtung des Staates ihre Rechte gegenüber diesem vor", Batscha, Gesellschaft und Staat, S. 172. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 179. Vgl. Sittenlehre, GA I, 5, S. 209-227, ausfuhrlich dazu Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 151 ff.

Von der Grundlage zu den Grundzügen; Das politische Denken Fichtes bis 1806

99

hereinbrach und in jeder Hinsicht - biographisch wie philosophisch - ein ganz einschneidendes Ereignis für ihn war.185 Seitdem beherrschten verständlicherweise religionsphilosophische Fragen sein Denken, und Fichtes Bemühungen galten ganz dem Versuch, die Wissenschaftslehre auf höherer Stufe neu zu begründen. Während Fichte die Fundamente der Moralität durch Rückführung auf Gott und auf das Absolute als Urgrund des Ichs und allen Sollens immer tiefer legte und dadurch sein philosophisches System erheblich modifizierte, orientierten sich seine politischen und populärwissenschaftlichen Arbeiten auch nach dem Atheismusstreit weiterhin an den Eckpfeilern seiner Rechtslehre von 1796/97: Sowohl Der geschloßne Handelsstaat (1800)186 als Versuch, Einfluß auf das preußische Wirtschaftssystem am Ende des Merkantilismus zu nehmen, als auch die Bestimmung des Menschen (1800), mit der Fichte seiner Wissenschaftslehre eine populäre Form geben wollte, halten an der prinzipiellen Trennung von Staat und Gesellschaft und an der Vorstellung vom Recht als Organisation egoistischer Interessen fest. Im Handelsstaat „muß der Staat als Instrument der Gesellschaft in die ökonomischen Prozesse eingreifen"187 und aus der juridischen Zwangsanstalt wird so eine planwirtschaftliche188, die Bestimmung des Menschen fällt noch weiter hinter die Dialektik von Staat und gesellschaftlichen Institutionen aus der Sittenlehre zurück, indem sie das Rechtliche endgültig vom Sittlichen abtrennt und den Staat zu jenen „sonderbaren Verbindungen" zählt, die nur durch „das vernunftlose Ohngefáhr zusammengebracht"189 werden und in denen „durch die bloße Selbstliebe [...] die Ausschweifung der Selbstliebe in ungerechte Handlungen unterdrückt"190 wird. Insgesamt erscheint das politische Denken Fichtes, das den Reden an die deutsche Nation vorausgeht, so „mehr und mehr als erratischer Block in einer veränderten philo-

185

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Den Atheismusstreit und seine Rezeption dokumentieren die beiden Bände „Appellation an das Publikum... Dokumente zum Atheismusstreit" und „Die Schriften zu J.G. Fichtes Atheismusstreit". Einen guten Überblick über den Forschungsstand gibt der von Klaus-M. Kodalle u. Martin Ohst besorgte Sammelband „Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren". Die jüngste Gesamtdarstellung findet sich bei Anthony La Vopa, Fichte. The Self and the Calling of Philosophy, S. 368-424, vgl. außerdem die einschlägigen Kapitel bei Jacobs, Fichte, S. 65-81, Léon, Fichte et son temps, Bd. 1, S. 518-629, und Medicus, Fichtes Leben, S. 111-144. Die Schrift führt den für unseren Zusammenhang bezeichnenden Untertitel Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre, und Probe einer künftig zu liefernden Politik. Batscha, Gesellschaft und Staat, S. 205. Der geschloßne Handelsstaat, ein Hauptwerk des politischen Denkens Fichtes, kann und soll im Rahmen dieser Arbeit weitgehend vernachlässigt werden, weil Fragen der Volkswirtschaft und des Eigentums in den Reden an die deutsche Nation keine Rolle spielen und der Handelsstaat aus ihrer Perspektive nur wegen der aufrechterhaltenen Trennung von Staat und Gesellschaft von Interesse ist. „Der Staat, so können seine Funktionen zusammengefaßt werden, setzt die einzelnen nicht nur in ihr Privateigentum ein; er schreibt ihnen auch bis ins Detail vor, wie es zu verwerten ist", Saage, Zur Konvergenz von kontraktualistischem und utopischem Denken in Fichtes Handelsstaat, S. 48. Bestimmung des Menschen, GA I, 6, S. 272. Bestimmung des Menschen, GA I, 6, S. 275.

100

II. Das politische Denken vor den Reden an die deutsche Nation

sophischen Umgebung" 191 . Die Differenz zwischen einer zunehmend ins Religiöse sublimierten gesellschaftlich-kulturellen Sphäre und dem unverändert auf Egoismus und Zwang basierenden staatlich-rechtlichen Raum wurde immer größer und vermittelt „den Anschein, als liefe eine von ihrer höheren Berufung ergriffene Freiheit den Basisproblemen gesellschaftlicher Ordnung davon"192. Wie sehr sich in der Periode von 1800 bis 1806 der Fichtesche Dualismus von Staat und Gesellschaft zu einem tiefen Graben geweitet hatte, zeigen auch die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, die Geschichte ja allein unter dem apriorischen Einheitsbegriff einer bewußten Vermittlung von Freiheit und Vernunft zu fassen suchen und alles Realgeschichtlich-Konkrete vernachlässigen. Nach wie vor hat der Staat hier nur „die Aufsicht über die äußerlichen Handlungen seiner Bürger, und fügt diese Handlungen unter zwingende Gesetze"193, und nach wie vor ist er klar von der moralisch-religiösen Sphäre unterschieden - „die Religion ist Liebe, der Staat aber zwingt"194 - , weswegen auch die „hohem Zweige der Vernunftkultur, Religion, Wissenschaft, Tugend [...] nie Zwecke des Staats werden"195 können. Diese höheren Zweige der Vernunftkultur sind allein in der überstaatlichen Welt der Ideen zuhause, die in der Vernunft ihr Grundgesetz hat, ihre umfassende Form in Gott findet und wo sich der Weltplan mit dem Ziel vollzieht, „daß die Gattung in diesem Leben mit Freiheit sich zum reinen Abdruck der Vernunft ausbilde"196. Stärker als zuvor postuliert Fichte in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters den rein instrumentellen und transitorischen Charakter des Staats, wenn er selbst die konstitutionellen Fragen staatlicher Organisation weitestgehend der Beförderung des Gattungszwecks unterstellt.197 Als Dienstleister der „Vernunftkultur" hat der Staat allein die Aufgabe, sich durch zunehmende Effizienz so weit überflüssig zu machen, „bis das ganze Geschlecht, das unsre Kugel bewohnt, zu einer einzigen Völker=Republick der Cultur zusammengeschmolzen sey"198.

191

192 193 194 195

196 197

198

Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 176, ähnlich auch Hahn in seiner Arbeit über „Fichtes Politikbegriff'. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 178 f. Grundzüge, G A I , 8, S. 258. Grundzüge, GA I, 8, S. 344. Grundzüge, GA I, 8, S. 325, erst im finalen Zeitalter der Vernunftkunst werden, wie Fichte erläutert, der Staatszweck und der Zweck der Gattung zusammenfallen können, vgl. ebd., S. 321. Grundzüge, GA I, 8, S. 206, vgl. auch ebd., S. 198. „Wird nur der Staatszweck, so klar, als es jedem Zeitalter möglich ist, eingesehen, und auf die Realisirung dieser besten Einsicht alle vorhandene Kraft aufgewendet; so ist die Regierung recht und gut, ob sie nun in den Händen Aller, oder in den Händen einzelner mehrerer, oder endlich, in der eines Einzigen ruhe [...]." Allerdings ist damit keineswegs einer Diktatur die Tür geöffnet, wie Fichte konkretisiert: „Es soll schlechthin bürgerliche Freiheit, und zwar Gleichheit derselben seyn; der politischen Freiheit aber bedarf es höchstens nur für Einen", Grundzüge, GA I, 8, S. 316. Grundzüge, GA I, 8, S. 323.

Von der Grundlage zu den Grundzügen: Das politische Denken Fichtes bis 1806

101

Dabei hatte Fichte in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters durchaus den Widerspruch zwischen einem durch Vernunft, Freiheit, Sittlichkeit und wahrer Religion charakterisierten Telos der Geschichte und seiner Beförderung durch einen strafenden und befehlenden Zwangsstaat bemerkt: so hat er nicht nur auf die kontraktualistischindividualistische Staatsherleitung verzichtet199 und sich offen von einem rein juridischen Staatsbegriff distanziert200, sondern sich mit der Vorstellung einer staatlich angeordneten Verschmelzung der Individuen mit den Gattungszwecken auch stark um einen Brückenschlag bemüht: „Der absolute Staat in seiner Form ist, nach uns, eine künstliche Anstalt, alle individuellen Kräfte auf das Leben der Gattung zu richten, und in demselben alle zu verschmelzen [...]; da vielmehr die Anstalt von außenher wirkt auf Individuen, die gar keine Lust, sondern vielmehr ein Widerstreben empfinden, ihr individuelles Leben der Gattung aufzuopfern, so versteht es sich, daß diese Anstalt eine Zwangs=Anstalt seyn werde."201

Mit dieser Figur des „absoluten Staats" findet Fichtes Versuch, Sittlichkeit und Kultur durch Strafe und Zwang herstellen zu wollen, in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters ihren höchsten Ausdruck. Die Absicht, die kategoriale Trennung zwischen Recht und Moral durch den Gedanken erzwungener Opferbereitschaft zu überbrücken und so „die innige Durchdringung des Bürgers vom Staate"202 zu erreichen, ist von keinem Erfolg gekrönt und läßt ganz im Gegenteil die Widersprüche und Antinomien im politischen Denken Fichtes nur um so greller aufscheinen. Gerade indem der Staat versucht, der sittlichen Forderung an den einzelnen, sich den Gattungszwecken hinzugeben, durch Zwang als dem einzigen Mittel, das ihm zur Verfügung steht, Nachdruck zu verleihen, führt er die Idee der Sittlichkeit ad absurdum. Fichte scheint hier weder zu erkennen, daß durch äußeren Zwang keine inneren Überzeugungen im Sinne seiner „Vernunftkultur" hergestellt werden können, noch, daß sich auch im absoluten Staat als einer „künstlichen Anstalt" die einzelnen nach wie vor als Fremde begegnen, noch, daß erzwungene Opfer keine positive Vermittlung des einzelnen mit dem Staat leisten können. Der einzige Ausweg, den die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters anzubieten haben, ist der der geschichtsphilosophischen Aufhebung aller Widersprüche: „im vollendeten Staat", so Fichtes Utopie, beruht die Anerkennung des Gebotenen „in der Liebe zum Guten, ohne alle Rücksicht darauf, daß es geboten ist, und in dem Widerwillen gegen das Böse, ohne alle Rücksicht darauf, daß es verboten ist; sie genüget sich selbst, 199

200 201 202

Statt einem Gesellschaftsvertrag stehen nun mythische Gründerväter und Helden am Anfang des Staats: „Wer hat die rohen Stämme vereinigt, und die widerstrebenden in das Joch der Gesetze, und des friedlichen Lebens gezwungen, wer hat sie darin erhalten, und die stehenden Staaten gegen Auflösung durch innere Unordnung, und gegen Zerstörung durch äußere Gewalt geschützt? - Welches auch ihre Namen seyn mögen, Heroen waren es, große Strecken ihrem Zeitalter zuvor geeilt, Riesen unter den Umgebenden an körperlicher und geistiger Kraft", Grundzüge, GA I, 8, S. 228. Vgl. Grundzüge, GA I, 8, S. 307. Grundzüge, GA I, 8, S. 307. Grundzüge, GA I, 8, S. 362.

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II. Das politische Denken vor den Reden an die deutsche Nation

und ist im eignen Bewußtseyn seelig"203. Und so trifft noch immer Hegels Vorwurf einer „Atomistik der praktischen Philosophie" den blinden Fleck in Fichtes politischer Theorie, wie sie sich vor den Reden an die deutschen Nation darstellt: die fehlende positive Vergemeinschaftung.

203

Grundzüge, GA I, 8, S. 328.

III. Die deutsche Nation Fichtes

Nach dieser Darstellung des politischen Denkens Fichtes bis hin zu den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters sei kurz an die Ausgangssituation der Reden an die deutsche Nation und ihre unmittelbare Vorgeschichte erinnert: an den ernüchternden Aufenthalt Fichtes im „Innern der Monarchie" und seine Kritik am Partikularismus der deutschen Staaten, an seine Machiavelli-Lektüre und den Aufruf zu Mut, Entschlossenheit und Begeisterung im Kampf, an Fichtes tiefe Enttäuschung über den tatsächlichen Verlauf der Dinge, wie sie sich in der Republik der Deutschen artikulierte, an die Besetzung Berlins durch französische Truppen, die allgemeine Unsicherheit und Orientierungslosigkeit in Preußen und in weiten Teilen der deutschen Staatenwelt, an Fichtes sich steigernde Napoleon-Feindschaft - und natürlich an die Veränderungen in seinem politischen Denken in direkter Folge dieser Ereignisse: also an den Fall seiner Betrachtungen aus dem Gebiet der Sittenlehre in das der Geschichte und die Einsicht in die Gestaltbarkeit und Steuerbarkeit geschichtlicher Prozesse, an den Wandel der Legitimitätsbeziehungen, das Verständnis von politischen Krisen als Innovationschance und an die Idee einer geistigen Erneuerung der Deutschen.

1. Nation und Staat Die Reden an die deutsche Nation sind zum einen Fichtes Antwort auf die Fundamentalkrise Preußens und die Neuordnung der deutschen Staaten durch Napoleon, die natürlich im Hintergrund seiner einleitenden Bemerkungen über die „fremde Gewalt", die über das Schicksal gebietet, den Verlust der „Selbstständigkeit" und den „Ruhm des Gehorchens"1 stehen. Seine Ausführungen über den Untergang der alten Welt und die Absicht, seinen Zuhörern „Muth und Hoffnung" 2 zu bringen, sind daher nicht nur apokalyptischem Pathos geschuldet, sondern auch Ausdruck der allgemeinen Stimmung im Herbst 1807, als - Berlin von der französischen Armee besetzt und König

1 2

Alle Zitate Reden, SW VII, S. 264 f. Reden, SW VII, S. 279.

104

III. Die deutsche Nation Fichtes

und Regierung nach Memel geflohen - „Preußen für einen Augenblick zu bestehen aufgehört"3 hatte. Die Reden an die deutsche Nation sind zugleich aber auch, so die These, eine Zäsur im politischen Denken Fichtes, eine Form der, wie Fouqué beobachtet hatte, „SelbstAnklage". Vor dem Hintergrund der Problemlagen von Fichtes Rechts- und Staatsphilosophie, wie sie im vorherigen Kapitel beschrieben wurden, gewinnt diese Beobachtung Fouqués erheblich an Evidenz: Vergegenwärtigt man sich die prinzipielle Trennung von Staat und Gesellschaft, von Recht und Moral, von Individuum und Gemeinschaft aus der politischen Ideenwelt Fichtes und seine Konzeption eines befehlenden und strafenden Zwangsstaats, der Recht und Gemeinschaft allein als den formalen Ausgleich egoistischer Interessen versteht, dann lassen Aussagen wie die folgende tatsächlich nur den Schluß zu, den Fouqué und Schelling aus den Reden an die deutsche Nation gezogen hatten: „Der Staat scheint bisher, je aufgeklärter er zu seyn meinte, desto fester geglaubt zu haben, dass er, auch ohne alle Religion und Sittlichkeit seiner Bürger, durch die blosse Zwangsanstalt, seinen eigentlichen Zweck erreichen könne, und dass in Absicht jener diese es halten möchten, wie sie könnten. Möchte er aus den neuen Erfahrungen wenigstens dies gelernt haben, dass er das nicht vermag, und dass er gerade durch den Mangel der Religion und der Sittlichkeit dahingekommen ist, wo er sich dermalen befindet." 4

Dem Staat ein Defizit an Religion und Sittlichkeit vorzuwerfen wäre auf dem Boden seiner Rechtsphilosophie für Fichte nicht möglich gewesen, stand damals doch genau die strikte Trennung dieser Sphären im Zentrum seiner Überlegungen. Entgegen seinem eigenen Anspruch, mit den Reden die Betrachtungen der Grundzüge fortzusetzen, ist es ganz offensichtlich, daß zumindest das politische Denken Fichtes zwischen den beiden Vortragszyklen eine tiefe Zäsur erfahren hat. Sein Kriegserlebnis, also die Beobachtung der halbherzigen preußischen Politik und Kriegführung, des eigensinnigen Partikularismus der deutschen Staaten insgesamt und der fehlenden Opferbereitschaft der Bevölkerung, ließ ihn ein solches Maß an Egoismus, Gleichgültigkeit und Selbstzufriedenheit erkennen, daß er das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit kurzerhand auf seinem Höhepunkt und damit an seinem selbstzerstörerischen Ende angekommen sah. In den Reden nun sieht Fichte diesen Mangel an ideellen Werten, an Religion und Sittlichkeit, auch in Zusammenhang mit seiner eigenen Staatstheorie: „Die bisherige Staatskunst [...] setzte als sichere und ohne Ausnahme geltende Regel voraus, dass jederman sein eigenes sinnliches Wohlseyn liebe und wolle, und sie knüpfte an diese natürliche Liebe durch Furcht und Hoffnung künstlich den guten Willen, den sie wollte, das Interesse für das gemeine Wesen. Abgerechnet, dass bei dieser Erziehungsweise der äusserlich zum unschädlichen oder brauchbaren Bürger gewordene dennoch innerlich ein schlechter Mensch bleibt [...], haben wir schon oben ersehen, dass diese Maassregel fìir uns nicht mehr

4

Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg, S. 411. Reden, SW VII, S. 430 f.

Nation und Staat

105

anwendbar ist, indem Furcht und Hoffnung nicht mehr für uns, sondern gegen uns dienen, und die sinnliche Selbstliebe auf keine Weise in unseren Vortheil gezogen werden kann."5

Wenn Fichte selbst von „Schuld" spricht, „von der keiner ohne tiefe Selbstprüfung sich ganz lossprechen sollte", und „eine gänzliche Umschaffung" und „das Beginnen eines ganz neuen Geistes" 6 fordert, dann verweist er damit auf die neu gewonnene Einsicht in die so folgenreiche sittliche Insuffizienz des absoluten Rechtsstaats und auf seine frühere Vorstellung, die moralisch-religiöse Vervollkommnung des Menschengeschlechts vollziehe sich quasi selbstläufig außerhalb des staatlich-politischen Raums und bedürfe lediglich gelehrter Vorlesungen zur ihrer Beförderung. Die drei Faktoren, die er in seiner ersten Rede für den Untergang der alten Welt verantwortlich gemacht hatte - die Schwäche der Regierungen, die Aufklärung des nur sinnlich berechnenden Verstands und die fehlende Teilnahme für das Ganze - lassen sich damit alle ursächlich auf die Idee eines Zwangsstaats zurückfuhren, der von seinen Bürgern, wie Fichte in Königsberg eingesehen hatte, eben keine echte Begeisterung und Hingabe verlangen kann. Vor allem in seiner siebten Rede vollzieht er den offenen Bruch mit der Idee des absoluten Rechts- und Wohlfahrtsstaats, jenem „Rechenexempel", das darauf beruhe, „alles Leben in der Gesellschaft zu einem grossen und künstlichen Druck- und Räderwerke zusammenzufügen". Dieser „gesellschaftlichen Maschinenkunst", die nur eine „feste und todte Ordnung der Dinge" 7 erzeugen könne, stellt er dann in einem zweiten Schritt das Ideal einer deutschen Nation kontrastiv gegenüber: „In der Erhaltung der hergebrachten Verfassung, der Gesetze, des bürgerlichen Wohlstandes, ist gar kein rechtes eigentliches Leben und kein ursprünglicher Entschluss [...]. Wenn aber dieser gleichmässige Fortgang in Gefahr geräth, und es nun gilt, über neue, nie dagewesene Fälle zu entscheiden: dann bedarf es eines Lebens, das aus sich selber lebe."

Und diese ursprüngliche Lebendigkeit kann für Fichte nur entfacht werden durch „[...] die verzehrende Flamme der höheren Vaterlandsliebe, die die Nation als Hülle des Ewigen umfasst, für welche der Edle mit Freuden sich opfert, und der Unedle, der nur um des ersten willen da ist, sich eben opfern soll. Nicht jene bürgerliche Liebe zur Verfassung ist es; diese vermag dies gar nicht, wenn sie bei Verstände bleibt."8

Ohne der Diskussion von Fichtes Volks- und Nationsbegriff vorgreifen zu wollen ist auch an dieser Stelle schon deutlich geworden, daß Begeisterung, Lebendigkeit, Glaube, Entschluß und Hingabe zu den Attributen gehören, die er der deutschen Nation zuschreibt, und auch bei der Ausformulierung seines Nationalerziehungsplans wird Fichte betont von der „Liebe" sprechen, die „den Menschen an den Menschen bindet, und alle Einzelne zu einer einigen Vernunftgemeine der gleichen Gesinnung verbindet" 9 . Der verheißungsvolle, sakrale Charakter dieser Ausführungen ist beabsichtigt 5 6 7 8 9

Reden, SW Reden, SW Alle Zitate, Reden, SW Reden, SW

VII, S. 283 (Hervorh. d. Verf.). VII, S. 476. Reden, SW VII, S. 363. VII, S. 386 und S. 387. VII, S. 413.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

und folgt der Logik apokalyptischer Dualismen der ersten Rede, denn Fichte versteht die Nation ausdrücklich als ein Versprechen künftiger Größe und wundersamer Heilung: „Mit unserer Genesung für Nation und Vaterland hat die geistige Natur unsere vollkommene Heilung von allen Uebeln, die uns trennen, unzertrennlich verknüpft." 10 Die Prophezeiung einer goldenen Zukunft verfolgt aber auch die Absicht, die deutsche Nation als Leitidee und Erwartung zu motivieren und dadurch als politische Handlungseinheit schon jetzt zu konstituieren. Den orientierenden Dualismen und Kontrastierungen der Reden wohnt ein starker Voluntarismus inne, der da zum Ausdruck kommt, wo Fichte mit dem reinen Verheißungs- und Vertröstungscharakter einer apokalyptischer Erzählung bricht und sein Publikum offen zu „Entschluss und That"11 auffordert. Die Reden an die deutsche Nation verkünden also nicht nur das Ende des Zeitalters der vollendeten Sündhaftigkeit, sie halten auch den Abgesang auf die rein juridische Staatskonzeption, auf die Staatsmaschine ab, die viele Beobachter ganz konkret mit dem preußischen Staat assoziierten.12 Dabei hat diese Staatsmaschine aber durchaus, wie Fichte apologetisch hinzufügt, „bis auf einen gewissen Punct gute Dienste" geleistet hatte - ist dieser Punkt aber erreicht, „springt ihre Ohnmacht in die Augen"13. Für die Frage, wann denn genau dieser „Punct", an dem der Mangel an Sittlichkeit, Gemeinsinn und Religion des absoluten Staats offenkundig wurde, gekommen sei, ist die oben zitierte Passage sehr aufschlußreich, weil Fichte hier feststellt, der alte Staatsgedanke habe an dem Punkt seine Gültigkeit verloren, wo „Furcht und Hoffnung nicht mehr für uns, sondern gegen uns dienen, und die sinnliche Selbstliebe auf keine Weise in unseren Vortheil gezogen werden kann". An dieser Stelle verbinden sich erneut geschichtsphilosophische Reflexion - der Abgesang auf den absoluten Rechtsstaat - und politische Analyse miteinander, denn Fichte spielt hier nicht nur auf seine Königsberger Erfahrung an, daß „Furcht" und „Selbstliebe" sich politisch als Partikularismus und gesellschaftlich als „Schlaffheit, Feigheit, Unfähigkeit Opfer zu bringen"14 geäußert 10 11 12

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Reden, SW VII, S. 401. Reden, SW VII, S. 266. So zum Beispiel von Novalis: „Kein Staat ist mehr als Fabrik verwaltet worden, als Preußen, seit Friedrich Wilhelm des Ersten Tode. So nöthig vielleicht eine solche maschinistische Administration zur physischen Gesundheit, Stärkung und Gewandheit des Staats seyn mag, so geht doch der Staat, wenn er bloß auf diese Art behandelt wird, im Wesentlichen darüber zu Grunde. Das Prinzip des alten berühmten Systems ist, jeden durch Eigennutz an den Staat zu binden. Die klugen Politiker hatten das Ideal eines Staats vor sich, wo das Interesse des Staats, eigennützig, wie das Interesse der Unterthanen, so künstlich jedoch mit demselben verknüpft wäre, daß beide einander wechselseitig beförderten", Glauben und Liebe, Werke, S. 498 (Nr. 36), vgl. dazu Mähl, Poetischer Staat, S. 284 f. Auch Hegel bezeichnete das Leben im preußischen Verwaltungsstaat, „worin alles von oben herunter geregelt ist" als „ein ledernes, geistloses Leben", Hegel, Über die Reichsverfassung, S. 24. Allgemein dazu die Arbeit von Barbara Stollberg-Rilinger Der Staat als Maschine. Reden, SW VII, S. 364. In den Reden an die deutschen Krieger, die Fichte im Kriegswinter geschrieben hatte, hieß es: „Schlaffheit, Feigheit, Unfähigkeit, Opfer zu bringen, zu wagen, - Gut und Leben an die Ehre zu

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hatten, sondern auch auf die Situation im Herbst 1807: unter den Bedingungen von Besatzung und Friedensvertrag nämlich hatte sich das alte System von Zwang und Gehorsam selbst ad absurdum geführt, weil Furcht und Selbstliebe nicht mehr dem eigenen Staat, sondern dem Gegner in die Hände spielen würden. 15

1.1. Der Philosoph der Napoleon-Feindschaft Dieser Gegner aber war Napoleon, der das politische Denken Fichtes so sehr in seinen Bann schlug, daß Carl Schmitt ihn nicht nur als den „eigentlichen Philosophen der Napoleon-Feindschaft" bezeichnen, sondern dieser Beobachtung auch noch hinzufügen konnte: „man darf sagen: er ist es in seiner eigenen Existenz als Philosoph." 16 In der Tat hat sich Fichte immer wieder mit der Figur Napoleon beschäftigt, wobei auffällt, daß diese Auseinandersetzung ausnahmslos in die Zeit nach 1806/07 fallt, während sie vor dem preußisch-französischen Krieg keine Rolle in seinem politischen Denken gespielt zu haben scheint - sicherlich ein weiterer Beleg für den umwandelnden Wert des Kriegserlebnisses. Wie erwähnt, reagierte die deutsche Öffentlichkeit ausgesprochen ambivalent auf Napoleon und war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Verteufelung des französischen Kaisers, in dem die einen den Antichristen, die anderen einen Halbgott zu erkennen glaubten. Fichte selbst nahm, das wurde schon in seiner Auseinandersetzung mit Johannes von Müller deutlich, Napoleon vor allem unter dem Aspekt des Eroberers und Gewaltherrschers wahr, der, einem beutesuchenden Geier gleich17, ganz Europa seiner imperialistischen Politik zu unterwerfen strebt. Dabei ist aber auch die NapoleonFeindschaft Fichtes keineswegs so eindeutig, wie der erste Blick nahelegt, denn auch sein Bild ist von einer gewissen Ambivalenz geprägt: der scharfen Verurteilung der imperialistischen und dynastischen Außenpolitik steht die aufrichtige Bewunderung für die Entschlossenheit und die Willens- und Tatkraft des französischen Kaisers gegenüber, für die Fichte als „Philosoph der Tathandlung" einen besonderen Sinn hatte. Noch in einer seiner letzten politischen Aufzeichnungen, der sogenannten Staatslehre von 1813, schreibt er über Napoleon:

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setzen; lieber zu dulden und langsam in immer tiefere Schmach sich stürzen zu lassen, dies war der bisherige Charakter der Zeit und ihrer Politik", Reden an die deutschen Krieger, GA II, 10, S. 80. Bekanntlich ist der Stimmungsumschwung, auf den Fichte damals noch hoffte, ausgeblieben, und so führt die damalige Gegenwartskritik direkt zu den Reden an die deutsche Nation und ihrer Idee einer deutschen Nation als einer sittlichen Gemeinschaft. Vgl. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 199. Schmitt, Clausewitz als politischer Denker, S. 494. Vgl. Staatslehre, SW IV, S. 427: „Wie der Geier schwebt über den niederen Lüften, und umherschaut nach Beute, so schwebt er über dem betäubten Europa, lauschend auf alle falschen Maassregeln und Schwächen, um flugschnell herabzustürzen, und sie sich zu Nutze zu machen."

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„Mit diesen Bestandtheilen der Menschengrösse, der ruhigen Klarheit, dem festen Willen ausgerüstet, wäre er der Wohlthäter und Befreier der Menschheit geworden, wenn auch nur eine leise Ahnung der sittlichen Bestimmung des Menschengeschlechts in seinen Geist gefallen wäre." 18

Daß Napoleon nur von „negative greatness"19 sei, weil ihm jeder Sinn für die sittliche Bestimmung der Menschheit fehle, hatte Fichte erstmals in der kleinen Schrift In Beziehung auf den Namenlosen, die im Umfeld der Reden an die deutschen Nation entstand, zum Ausdruck gebracht20: schon der Titel weist darauf hin, daß der französische General für ihn nichts als ein machtgieriger skrupelloser Usurpator ist, ein Namenloser, der den Kaisertitel nicht rechtmäßig erworben, sondern einfach geraubt habe.21 Die despotische Natur Napoleons fuhrt Fichte in seinen späteren Aufzeichnungen zurück auf die Herkunft aus dem rohen und notorisch aufsässigen Volk der Korsen, „das schon unter den Alten wegen seiner Wildheit berüchtigt war"22. In Frankreich erhielt der junge Korse dann die Gelegenheit, das Schauspiel der Revolution zu einem Zeitpunkt zu studieren, wo die französische Nation „im Ringen nach dem Reiche der Freiheit und des Rechts [...] schon ihr edelstes Blut verspritzt"23 hatte. Napoleon bot sich damals nur noch das Bild eines selbstzerstörerischen Parteienkampfs, und schon bald mußte er mit „innigster Klarheit dieses Volk begreifen lernen, als eine höchst regsame Masse, die da fähig wäre, durchaus jedwede Richtung anzunehmen [...]"24. Unberührt von jedem Sinn für die sittliche Bestimmung des Menschen gelang es Napoleons archaischer Willenskraft und Machtgier, den Parteienstreit in Paris zu überwinden und mit seinem Griff nach dem Kaisertitel die Ideen der Französischen Revolution endgültig zu verraten: „Daß ihr aber aus einer Republik euch in die allerärgste Despotie begebt, ist Ver-

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Staatslehre, SW IV, S. 425. Eine geistige Verwandtschaft zwischen Fichte und Napoleon ist als erstem Goethe aufgefallen, der sich am 8. August 1806 notierte: „Unterwegs politisirt und neue Titel Napoleons ersonnen. Spaß vom subjectiven Prinzen. Ferner Fichtes Lehre in Napoleons Thaten und Verfahren wiedergefunden - " , zit. nach Fichte im Gespräch, Bd. 3, S. 432; dieser Beobachtung Goethes schließt sich u. a. Bernard Willms an, wenn er von Fichte als dem „philosophischen Napoleon" spricht, vgl. Willms, Totale Freiheit, S. 159. So Hans Kohn treffend über Fichtes ambivalentes Napoleon-Bild, Kohn, The paradox of Fichte's nationalism, S. 327. So taucht dieser Gedanke auch schon in den Reden an die deutsche Nation auf, wo Fichte sich gegen die Napoleon-Freunde wendet: „Ueberlassen wir es dem Auslande, bei jeder neuen Erscheinung mit Erstaunen aufzujauchzen; in jedem Jahrzehende sich einen neuen Maasstab der Grösse zu erschaffen; und Gotteslästerungen zu reden, um Menschen zu preisen. Unser Maasstab der Grösse bleibe der alte: dass gross sey nur dasjenige, was der Ideen, die immer nur Heil über die Völker bringen, fähig sey, und von ihnen begeistert [...]", Reden, SW VII, S. 480. Vgl. In Beziehung auf den Namenlosen, GA II, 10, S. 83, zur zeitgenössischen Rezeption Napoleons als Despoten und Tyrannen sowie als Teufel und Dämonen vgl. M. Jeismann, Vaterland der Feinde, S. 76 ff. Staatslehre, SW IV, S. 424. Staatslehre, SW IV, S. 429. Staatslehre, SW IV, S. 424.

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brechen eurer Feigheit an der Menschheit."25 Daß dieser Staatsstreich überhaupt möglich war, impliziert für Fichte aber auch ein Versagen der französischen Nation, die sich als „der Freiheit unfähig" erwiesen hatte, weil es ihr nicht gelingen wollte, „Einstimmigkeit über das Recht", eine „freie Verfassung" und die „Ausbildung der freien Persönlichkeit"26 zu gewährleisten. Napoleon jedenfalls mußte so zu der Überzeugung kommen, daß die gesamte Menschheit wie die Franzosen „eine blinde [...] und verwirrt durcheinander und miteinander streitend sich regende Masse von Kraft sey"27, die nur auf einen überlegenen Willen zu ihrer Mobilisierung zu warten schien. Fichte kann in Napoleon also nur den Despoten und Imperialisten erkennen, der deswegen von so vielen als Erneuerer und Modernisierer mißverstanden wird, weil seine archaische Gier im Gewand des Atheismus und Materialismus der Gegenwartskultur auftreten kann. Fichtes Feindschaft geht weit über die Kriminalisierungen und Tötungsphantasien der patriotischen Lyrik hinaus28 und reicht, wie Carl Schmitt beobachtet hatte, ins Philosophische, ins Grundsätzliche und Exemplarische. Auch in seinem Napoleon-Bild erweist sich Fichte als Transzendentalphilosoph, der alles Geschichtliche auf apriorische Prinzipien, logische Strukturen und erste Ursachen hin untersucht und auch den Aufstieg Napoleons bzw. den Verfall der Französischen Revolution zur „allerärgsten Despotie" einer Prinzipienreflexion unterzieht. Napoleon erscheint ihm als Signatur einer ganzen Epoche, als Manifestation und Inbegriff des Zeitalters der vollendeten Sündhaftigkeit. Das Prinzip dieser Epoche hatten die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters im Individualismus und im philosophischen Empirismus erkannt, der allein die sinnliche Erfahrung als Erkenntnisquelle gelten läßt und deswegen alle Ideen und „alles von der Erfahrung unabhängige a priori [...] abzuläugnen, und zu verlachen" hat. Auf dieser Grundlage muß dem Zeitalter aber jedes Verständnis für die sittliche Bestimmung der Gattung, auf die doch „die Vernunft in jeglicher Gestalt" sich zu richten habe, fehlen, es kann sich nur auf „die bloße nackte Individualität" beziehen und ist so sehr „bestimmt durch den Trieb der Selbsterhaltung, und des Wohlseyns", daß der einzelne zur Überzeugung gelangen muß, „die ganze Welt [sei] eigentlich nur darum da, damit Ich daseyn, und wohlseyn könne" 29 . Kein Zweifel, das Zeitalter des Egoismus hat „sich mit der tatsächlichen Alleinherrschaft eines Selbst ad absurdum geführt"30, und es verwundert nicht, daß die alte Staatenwelt Europas dem Ansturm dieser ungezügelten Sündhaftigkeit nicht standhalten konnte. Gier und Sittenlosigkeit lassen Napoleon nämlich, wie die Reden an die deut-

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ln Beziehung auf den Namenlosen, GA II, 10, S. 84. Staatslehre, SW IV, S. 429. Staatslehre, SW IV, S. 425. Am bekanntesten wohl der Vers Kleists aus Germania an ihre Kinder. „Schlagt ihn tot! Das Weltgericht / Fragt Euch nach den Gründen nicht". Ganz ähnlich auch Arndt, Körner oder Riickert, wie Michael Jeismann belegt, vgl. Vaterland der Feinde, S. 90 ff. Alle Zitate Grundzüge, GA I, 8, S. 214, S. 210, S. 212 und S. 213, dazu Traub, Fichtes Populärphilosophie, S. 58 ff. Baumanns, Fichte, S. 289.

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sehe Nation weiter ausführen, als Feldherrn zum Abenteurer, zum Hasardeur werden, der den Krieg als bloßes Glücksspiel begreift und sich gerade deswegen den alten Staaten Europas,, jenen beschränkten Glücksspielern", aber als überlegen erweist, „denn er setzt alles gegen sie, die nicht alles setzen"31. Das Bild vom Glücksspieler, der alles auf eine Karte setzt und damit seine zerstrittenen und zaudernden Kontrahenten aussticht, ist nicht nur eine anschauliche Umschreibung für Napoleons existentielle Auffassung vom Krieg, sondern auch erneuter Ausdruck der Wendung ins Exemplarische, die Fichte den Ereignissen gibt: in der Figur des Glücksspielers, der aus reiner Gier und Abenteuerlust den Kontinent mit Krieg überzieht, haben die Sitten- und Prinzipienlosigkeit, der Hedonismus und Materialismus des Zeitalters ihre Verfallsform gefunden und eilen ihrem selbstzerstörerischen Höhepunkt entgegen. Daß Fichte in seiner ersten Rede vom 13. Dezember 1807 dieses Zeitalter für beendet erklärt, mag angesichts der Machtfülle seines Protagonisten Napoleon überraschen, wird aber verständlich durch die geschichtsphilosophische Wendung, die er den Ereignissen gibt: entscheidend ist dann nicht der Siegeszug der französischen Armee, sondern, so paradox das klingen mag, der Untergang der deutschen Nation, also die Niederlage Preußens, das Ende des Alten Reichs und die Eingliederung der Rheinbundstaaten in das französische Imperium. Vor dem Hintergrund der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters nämlich begreift Fichte das Aufeinandertreffen der preußischen Dekadenz und der deutschen Zwietracht mit dem ungezügelten Imperialismus Napoleons als Fanal des dritten Zeitalters, und es überrascht nicht, wie er nun erkennt, daß die deutsche Nation dem Ansturm der materialisierten Sündhaftigkeit des Zeitalters, des „Weltgeistes zu Pferde", nicht gewachsen war. Weil Napoleon sich im Einklang mit dem Ungeist seiner Zeit wußte, den er wie kein zweiter verkörperte, war er nicht zu besiegen: Napoleon wurde gewissermaßen zum Subjekt der Geschichte, für das die übrigen Nationen und Völker Europas reinen Objektcharakter hatten. Fichte begreift nun aber - das hatte schon die Analyse seiner ersten Rede vor Augen geführt - diese Niederlage gegen Napoleon und die aus ihr folgende „Fundamentalkrise" als Untergang der alten Welt und damit zugleich auch als Möglichkeit einer geistigen Erneuerung auf nationaler Grundlage. Sein geschichtsphilosopisches Credo, „daß nur aus dem vollkommenen Ersterben das neue Leben hervorgeht"32, kann sich nun realgeschichtlich an den Deutschen bestätigen: „[...] wir sollen unsere Niederlagen als das heilsamste Ereigniss für uns selbst, und sie [die Franzosen] als unsere grössten Wohlthäter segnen."33

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33

Reden, SW VII, S. 391. Am 31. März 1804 hatte Fichte an Jacobi geschrieben: „[...] ich glaube, unser Zeitalter, als der Zeitalter der absoluten Verwesung aller Ideen, sattsam begriffen zu haben. Dennoch bin ich fröhlichen Muths; denn ich weiß, daß nur aus dem vollkommenen Ersterben das neue Leben hervorgeht", GA III, 5, S. 236, ähnlich auch im Brief an einen unbekannten Adressaten vom 26. April 1805, ebd., S. 297, und an Mosham, Juni 1804, ebd., S. 239. Reden, SW VII, S. 473.

Nation und Staat

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1.2. Ein neues Bindungsmittel Die Geschichte des politischen Denkens ist immer auch die Geschichte der Beschreibung von Krisen und der Versuche, diese theoretisch zu fassen und politisch zu überwinden. Von Piaton über Machiavelli bis zu Hobbes, Locke oder Rousseau, deren Kontraktualismus einem krisenhaften Naturzustand entspringt, resultieren politische Ideen aus der Analyse von geschichtlichen Krisen. Auch die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert läßt sich als eine Modernitätskrise beschreiben, die von der Frage bestimmt wurde, ob die seit der Aufklärung auseinanderlaufenden Fäden fortschreitender Rationalisierung, Differenzierung und Säkularisierung in einer neuen Lebensform wieder zusammenfinden können. Wenn auch eine Revolution ausblieb, so wurde doch auch im deutschen Raum durch diese „strukturellen Veränderungen und die dramatische Beschleunigung der historischen Veränderungsprozesse eine vergleichbare Rezeptionsbereitschaft geschaffen [...], die anderswo mit Revolutionen verknüpft ist"34. Dieses Gefühl radikalen Wandels und dramatischer historischer Beschleunigung wurde durch die napoleonischen Kriege und die politischen Veränderungen in ihrer Folge erheblich gesteigert und von Fichte ganz zu Beginn seiner Reden prägnant eingefangen: „Mit uns gehet, mehr als mit irgend einem Zeitalter, seitdem es eine Weltgeschichte gab, die Zeit Riesenschritte."35 Fichte hat in den Reden an die deutsche Nation die Krisenhaftigkeit seiner Gegenwart deutlich wahrgenommen und in anschaulichen Bildern zu beschwören gesucht. Mit den Mitteln der apokalyptischen Rede spitzte er Ort und Augenblick seines Vortrags auf den Moment einer Zeitenwende zu und gab damit nicht nur seiner Hoffnung, „daß die Noth uns zum Aufmerken und zum ernsten Nachdenken geneigter gemacht habe"36, Nahrung, sondern seinen Worten auch die Möglichkeit, sich an alle Deutsche zu richten. Indem er die politische Krise Preußens auf „den ganzen Geist der Zeit" zurückführt und einen Zusammenhang herstellt zwischen militärischer Niederlage und individualistischer Gegenwartskultur und Staatstheorie, gibt er den Ereignissen eine geschichtsphilosophische Wendung ins Grundsätzliche und Allgemeine, die es ihm erst erlaubt, die preußische Krise als eine nationale zu begreifen. Zum Wesen einer Krise gehören die allgemeine Unsicherheit und Orientierungslosigkeit ebenso wie die drückende Gewißheit, daß eine Entscheidung unmittelbar bevorsteht, wenn auch offen bleiben muß, wie sie ausfallen wird. „Die Krise beschwört die Frage an die geschichtliche Zukunft"37 und kann daher leicht mit prognostischen Erwartungen aller Art gefüllt werden. Auch die Reden an die deutsche Nation ziehen per34

35 36 37

Wehler, Nationalismus und Nation, S. 165, vgl. auch ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 345 f., Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 167 ff. und S. 226 ff., sowie den Artikel „Volk, Nation, Nationalismus, Masse", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S. 326 f. Reden, SW VII, S. 264. Reden, SW VII, S. 433. Koselleck, Kritik und Krise, S. 105.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

suasiven Gewinn aus der Offenheit der Krisensituation, deren Spannung sie mit einem eigenen Zukunftsentwurf Abhilfe schaffen wollen. Selbstbewußt verkünden sie die Enthüllung des neuen Zeitalters, „das der Zerstörung des Reichs der Selbstsucht durch fremde Gewalt unmittelbar folgen kann und soll" 38 , und verweisen auf ihr Programm einer neuen politischen Ordnung der Deutschen: „Für eine so verfallene Nation ist von nun an Furcht und Hoffnung völlig aufgehoben, indem deren Leitung ihrer Hand entfallen ist, [...] und es bleibt ihr nichts übrig, als ein ganz anderes und neues, über Furcht und Hoffnung erhabenes Bindungsmittel zu finden, um die Angelegenheit ihrer Gesammtheit an die Theilnahme eines jeden aus ihr für sich selber anzuknüpfen."39

Das „ganz andere und neue Bindungsmittel" ist für Fichte die Wiedergeburt als Nation, die den alten, auf „Furcht und Hoffnung" basierenden Staat ablöst. Diese Stelle aus der ersten Rede ist nicht nur deswegen aufschlußreich, weil sie die Dialektik von Diagnose und Prognose, mit der Fichte der Krise ihre Offenheit und Kontingenz nimmt, einfangt, sondern auch, weil sie implizit die Differenz zwischen Staat und Nation als unterschiedlichen Prinzipien politischer Ordnung und sozialer Integration zum Ausdruck bringt. Anders als das Kompositum „National-Staat" nahelegt, besteht nämlich, wie Herfried Münkler gezeigt hat, zwischen Staat und Nation ein begrifflich-analytischer und ein entwicklungsgeschichtlicher Unterschied 40 : während die staatliche Seite „eine klar stärkere Bedeutung für die ,instrumenteile' Dimension" hat, kommt der Nationalität im National-Staat „eine ausgeprägtere Bedeutung hinsichtlich der ,ideativen' Dimension zu" 41 . Vereinfacht können dem Staat die Aspekte von Herrschaft, Verfassung, Recht und Konstitution zugeschrieben werden, die zu Gesetzen und Institutionen fuhren, und der Nation die Aspekte von Identifikation, Wir-Gefühl und Selbstbild, die sich symbolischrituell artikulieren. Freilich verfügt auch der Staat, wenngleich in geringerem Umfang, über ideative Momente, die aber - und das unterscheidet ihn substantiell von der Nation - seiner Implementierung wacAfolgen können. Mit anderen Worten: zur Realisierung eines Staats gehört nicht unbedingt eine Idee, eine Nation hingegen bedarf notwendig des ideellen Entwurfs, bevor sie zu einem Faktor der politischen Ordnung werden kann. 42 Dieter Langewiesche spricht daher von der Nationsbildung als einem „dreistufigen Integrationsprozeß", der sich erst sozialkulturell, dann wirtschaftlich und schließlich politisch vollzieht 43 , und auch für Miroslav Hroch stehen kulturelle Entwürfe von Intellektuellen am Anfang von erfolgreichen Nationalbewegungen, die erst nach einer weiteren Phase einsetzender Organisation und Agitation den politischen 38 39 40

41 42 43

Reden, SW VII, S. 265. Reden, SW VII, S. 273. Vgl. Münkler, Nation als Modell politischer Ordnung, S. 372 ff., vgl. auch ders., Einleitung zu Münkler, Grünberger u. Mayer, Nationenbildung, S. 16 f., und Münkler u. Grünberger, Nationale Identität im Diskurs der Deutschen Humanisten, S. 219 f., vgl. auch Gellner, Nationalismus und Moderne, S. 16. Münkler, Nation als Modell politischer Ordnung, S. 376. Vgl. Münkler, Nation als Modell politischer Ordnung, S. 373. Vgl. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, S. 207.

Nation und Staat

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Kampf für einen Nationalstaat aufnehmen.44 Die Beobachtung, „daß nationales und nationalstaatliches Denken nicht von vornherein miteinander gleichgesetzt bzw. verwechselt werden dürfen"45, ist aber nicht nur modellhafte Abstraktion, sondern durch die quellenfundierte Untersuchung Heinz Angermeiers empirisch abgesichert und für die deutsche Geschichte darüber hinaus auch sprachgeschichtlich bestätigt, wo der Begriff „Nationalstaat" erst ab 1841 belegt ist46. Fichte hat diese Differenz von Staat und Nation, von instrumenteilen und ideativen Dimensionen politischer Ordnung, in seinen Vorträgen erkannt und da formuliert, wo er dem „Rechenexempel" des absoluten Rechts- und Wohlfahrtsstaats „die verzehrende Flamme der höheren Vaterlandsliebe" gegenüberstellt. Sein Vorwurf, dem alten Staat habe es an Sittlichkeit und Religion, an Begeisterung und Opferbereitschaft gemangelt, und die Absicht, mit der Nation als „ganz anderem und neuem Bindungsmittel" einen Ausweg aus der Krise zu weisen, ließen eine Neuorientierung seines politischen Denkens sichtbar werden, die der analytischen und entwicklungsgeschichtlichen Differenz von Staat und Nation Rechnung trägt. Bislang war die politische Theorie Fichtes auf den Staat fixiert, den sie ganz vom Recht her dachte und streng von Moral und Sittlichkeit schied - soll nun aber die politische Ordnung vom Volk, von der Nation her gedacht werden, müssen die Reden an die deutsche Nation die „Sphäre des völlig geschichtslosen Rationalismus"47 aus der Grundlage des Naturrechts notwendig hinter sich lassen: „Die Ausgangsthese der Naturrechtsschrift von 1796, daß Rechte als Bedingungen von Selbstbewußtsein zu denken seien, erlaubte zwar die Explikation von Begriff und Form des Staates, schloß aber gerade den Gedanken der geschichtlich entstandenen Individualität eines Volkes, die sich in der Gemeinsamkeit von Abstammung, Sprache, Denkart und Gesinnung darstellt, aus."48

Es liegt also in der Logik nationalen Denkens, daß sich in Fichtes Reden keine rechtsphilosophischen und geltungstheoretischen Überlegungen mehr finden, daß nicht die Probleme von Verfassung und Konstitution eines Nationalstaats erörtert werden, der ja als Objekt theoretischer Reflexion und als politische Forderung einer späteren Entwicklungsstufe der deutschen Nationalbewegung vorbehalten war. Die Umstellung seines 44

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Vgl. Hroch, Das Bürgertum in den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, S. 199 f., dazu auch Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 23 f. Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat, S. 26, ähnlich auch auf S. 72. Vgl. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, S. 57, S. 83 undS. 195. Wallner, Fichte als politischer Denker, S. 117. Schräder, Nation, Weltbürgertum und Synthesis der Geisterwelt, S. 29. Auch auf einer grundsätzlichen Ebene lassen sich nationales und kontraktualistisches Denken nicht miteinander vereinen: „Das nationalstaatliche Paradigma ist als politisches Ordnungsprinzip, als pluralitätsermöglichendes Partikularisierungsprinzip analytisch aus der Naturzustandsbeschreibung nicht zu gewinnen", Kersting, Rousseaus Gesellschaftsvertrag, S. 57.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

politischen Denkens von einer rechtlichen auf eine nationale Grundlage verlangt von Fichte vielmehr die Hinwendung zu ideativen und identifikatorischen Aspekten und damit zum Volksbegriff, aus dem er ein deutsches Nationalbewußtsein zu generieren beabsichtigt. Im Hintergrund steht auch hier das Kriegserlebnis Fichtes als dessen Konsequenz er ja das Scheitern des juridischen Staats verkündet hatte, den er schon in seinem Aufsatz Ueber Macchiavelli ganz dem Erbe der Französischen Revolution zugeschlagen hatte: „So wird der reine Geist, der etwa die Französische Nation anführte, behaupten, daß alles darauf ankomme, daß die leicht ordnende Form seiner Nation sich über das Menschengeschlecht verbreite, daß daher vor seinem Einflüsse jeder andre zurücktreten müsse; der die Deutschen anführende reine Geist aber wird dagegen sagen, daß diese Form leer sey, und daß vielmehr alles darauf ankomme, daß der deutsche Gehalt, und die ruhige wenn auch langsame Tiefe seines Charakters sich allgemein verbreite, und hieraus dieselbe Folgerung, wie jener, für sich ziehen [...]·"49

Es ist hier zu betonen, daß Fichte ausdrücklich nicht hinter die Errungenschaften seiner früheren politischen Schriften zurückfallt und nach wie vor an den Ideen von Menschenrechten, Freiheit und Gleichheit als „ewigen und unerschütterlichen Grundfesten aller gesellschaftlichen Ordnung"50 festhält. Ein Zurückgehen hinter den Zustand, der mit der Französischen Revolution erreicht wurde, ist für Fichte ausgeschlossen. Der umwandelnde Wert des Kriegserlebnisses liegt vielmehr darin, daß er nun die ideellen und emotionalen Werte politischer Ordnung viel stärker akzentuiert, wenn er, ganz im Sinne der nationalismustheoretischen Unterscheidung zwischen den instrumenteilen und den ideativen Dimensionen, weiter ausführt, daß gegen die genannten Grundsätze zwar kein Staat verstoßen darf, „mit deren alleiniger Erfassung aber man einen Staat weder errichten, noch verwalten kann"51. 1.3. V o l k und Nation „Eine Nation ist ein geistiges Prinzip, das aus tiefen Verwicklungen der Geschichte resultiert, eine spirituelle Familie, nicht eine von Gestaltungen des Bodens bestimmte Gruppe"52 - schon 1882 wies Ernest Renan in seinem berühmt gewordenen Vortrag Qu'est-ce qu'une nation? auf den ideellen und voluntaristischen Charakter nationaler Identität hin und distanzierte sich von den meist rassischen Vorstellungen seiner Zeit. Noch immer wirken Renans Argumente modern, wenn er seinen Nationsbegriff nicht 49

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Machiavelli, GA I, 9, S. 241. Es sei daraufhingewiesen, daß diese Passage in den Sämmtlichen Werken von ihrem Herausgeber, Immanuel Hermann Fichte, nicht übernommen wurde. Machiavelli, GA I, 9, S. 245. Machiavelli, GA I, 9, S. 245. Renan, Was ist eine Nation?, S. 307, vgl. zu Renan, seinem nationalen Denken, aber auch den, nicht nur wirkungsgeschichtlichen, Gemeinsamkeiten mit den Reden an die deutsche Nation die Ausführungen von Bieleleld, Nation und Gesellschaft, S. 148 ff.

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nur gegen die ethnischen und geographischen Auffassungen des 19. Jahrhunderts verteidigt, sondern auch gegen ideologische und fiinktionalistische, die im 20. Jahrhundert an Einfluß gewinnen sollten: „Die Gemeinschaft der Interessen schließt die Handelsverträge. Die Nationalität jedoch hat eine Gefühlsseite, sie ist Seele und Körper zugleich. Ein ,Zollverein' ist kein Vaterland." 53 Renans Verweis auf die voluntaristischen, sinnlichen und emotionalen Qualitäten nationaler Identität kann ebenso als Referenz moderner Nationalismusforschung gelten wie die idealtypische Unterscheidung von Staatsnation und Kulturnation, mit der Friedrich Meinecke 1908 den Gedanken einer kulturzentrierten Nationswerdung theoriefähig machte. Allerdings gehen sowohl Renan als auch Meinecke unkritisch von einem ,,gemeinsame[n] Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen" 54 bzw. einem „gemeinsam erlebten Kulturbesitz" 55 als Kern von Nationalität aus und übersehen dabei, „daß das gemeinsame Erleben wie gemeinsame Haben von Kultur und Geschichte nichts ist, was unmittelbar und ohne Vermittlung Bestand hat" 56 . Erst die neuere Nationalismusforschung, die in den 80er Jahren mit den wegweisenden Arbeiten von Benedict Anderson, Ernest Gellner und Eric Hobsbawm einen bemerkenswerten Aufschwung nahm, brach vollständig mit allen substantialistischen und essentialistischen Annahmen, die Renan, Meinecke und der älteren Forschung insgesamt noch zu eigen waren 57 , und konzentrierte sich auf die Prozesse der „invention of tradition" (Hobsbawm), also der narrativen Vermittlung und symbolisch-rituellen Inszenierung des „Kulturbesitzes", der erst durch die Arbeit am kollektiven Gedächtnis zu einem „gemeinsamen" werden konnte. Das konstruktivistische Verständnis von Nation als „vorgestellte politische Gemeinschaft" 58 , als „Artefakt" 59 , „abstrakte Gemeinschaft" 60 , „gedachte Ordnung" und

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58 59 60

Renan, Was ist eine Nation?, S. 306. Renan, Was ist eine Nation?, S. 308. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 10. Münkler, Nation als Modell politischer Ordnung, S. 374 f., auch Michael Jeismann wendet gegen Meinecke ein, daß ein gemeinsamer Staat oder Kulturbesitz „nicht Ursache, kaum auch Grundlage, sondern allenfalls Folge eines nationalen Selbstverständnisses" sind, M. Jeismann, Vaterland der Feinde, S. 47, Anm. 49; kritisch zu Meinecke auch Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat, S. 25 f. Vgl. Wehler, Nationalismus, S. 8 ff. Wehler weist zwar auf die Überlegenheit der älteren Nationalismusforschung in der Analyse der „fordernden und restriktiven Bedingungen" und der „sozialen Basis" des Nationalismus hin, erkennt den Vorzug der neueren Forschung aber vor allem darin, daß sie „den Anschein der Natürlichkeit des Nationalismus und der Nation, damit aber die essentialistische Sozialordnung der älteren Schule" auflöst, indem sie „den Konstruktcharakter, damit auch die verblüffende Flexibilität, die innere Vielfalt des Nationalismus" herausarbeitet, ebd., S. 9 f. Anderson, Erfindung der Nation, S. 15. M. Jeismann, Alter und nationaler Nationalismus, S. 14. Bielefeld, Nation und Gesellschaft, S. 46.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

„kulturell definierte Vorstellung"61 oder als „Erzeugnis aus der Retorte"62 richtete den Blick ganz auf Schriftsteller und Intellektuelle als den Konstrukteuren nationalen Denkens und auf die kulturellen Traditionen, Diskurse und Praktiken, in denen sie sich bewegten. Am einflußreichsten wurde dabei die Studie Die Erfindung der Nation von Benedict Anderson, der seinen Zugang zum nationalen Denken weit weg von den Prozessen der Staatswerdung und den Ideologien in ihrem Umfeld suchte und bei den großen kulturellen Systemen, wie etwa der Religion, fand. Nationalität und Nationalismus gelten Anderson als „kulturelle Produkte einer besonderen Art" 63 und haben mit Verwandtschaft oder Religion mehr gemeinsam als mit Liberalismus, Faschismus oder anderen Weltanschauungen aus der Geschichte des politischen Denkens64. Es besteht nicht nur, so Anderson, ein auffallender zeitlicher Zusammenhang zwischen der „Morgenröte des Zeitalters des Nationalismus" und der „Abenddämmerung religiöser Denkweisen"65, sondern auch ein innerer, weil beide den ganzen Menschen zu erfassen suchen und ähnlich ewig und unhinterfragbar scheinen. Die konstruktivistische Prämisse, Nationen als Erfindungen zu begreifen, darf aber nicht, wie Ernst Schulin anmerkt, zu dem Mißverständnis Anlaß geben, daß die Nation „[...] etwas Fiktives, Unwirkliches sei. Nationen sind Produkte der Geschichte, werden also geund erfunden, indem die Völker ihre nationalen Bindungen entdecken und schaffen, wobei sie allerdings oft für Entdeckung ausgeben, was tatsächlich Konstruktion ist. Sie konstruieren etwas als nationale Vergangenheit oder nationalen Ursprung, was sie als Gegenwart oder Zukunft wünschen."66

Mag das Nationalbewußtsein auch „eine spezifisch moderne Erscheinung der kulturellen Integration"67 sein, so sind doch die Diskurse, aus denen die kollektive nationale Identität zusammengesetzt wird, weitaus älter, und das Bedürfnis nach Integration, also nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft, auf das der Nationalismus so nachhaltig reagiert, kann geradezu als anthropologische Konstante gelten68. Mit der Aussage,

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Lepsius, Nation und Nationalismus, S. 233, vgl. auch Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 15 f., Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur, S. 35, und Habermas, Faktizität und Geltung, S. 635. Vgl. Alter, Nationalismus, S. 27. Anderson, Erfindung der Nation, S. 14. Vgl. Anderson, Erfindung der Nation, S. 15, ähnlich auch auf S. 20. Anderson, Erfindung der Nation, S. 20, Anderson sieht dieses Verhältnis aber nicht als ein kausales. Schulin, Weltbürgertum und deutscher Volksgeist, S. 109 f. Auch Ulrich Bielefeld spricht von einer „Notwendigkeit" moderner Gesellschaften, „ein Selbstbild zu entwickeln", und erkennt darin „die faktische, empirische Relevanz" der vorgestellten Gemeinschaft Nation, Bielefeld, Nation und Gesellschaft, S. 10, vgl. dazu auch Gellner, Nationalismus und Moderne, S. 87, Kocka, Das lange 19. Jahrhundert, S. 83, Wehler, Nationalismus, S. 37 f., und Haupt u. Tacke, Die Kultur des Nationalen, S. 265. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 634. So gilt für Shmuel Noah Eisenstadt, „daß sich in allen menschlichen Gesellschaften die Tendenz findet, kollektive Identitäten mit Hilfe bestimmter Symbolsysteme zu konstruieren", Eisenstadt,

Nation und Staat

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daß „die Völker ihre nationalen Bindungen entdecken und schaffen", weist Schulin zugleich auch auf eine Differenzierung hin, die in der Nationalismusliteratur eine große Rolle spielt: der Unterschied zwischen Volk und Nation. Dieser Unterschied wird allgemein als gradueller und qualitativer beschrieben - graduell, weil das Volk als eine Vorstufe, als eine Art Rohstoff nationaler Gemeinschaft verstanden werden kann, und qualitativ, weil die Nation, anders als das Volk, sich ihrer politischen Interessen und ihrer kulturellen Identität bewußt sei. Das Volk wird dabei meist durch Verweis auf primordiale Faktoren, etwa territoriale oder sprachliche, als un- oder vorpolitische Abstammungsgemeinschaft verstanden und bildet als solche die Ausgangsbasis fur die Konstruktion nationaler Identität. 69 Von Nationalismus kann also erst da die Rede sein, wo der Volksbegriff mit politischem Bewußtsein und metaphysischen Anteilen aufgeladen wurde, so daß Jörg Echternkamp definieren kann: „Als Nationalist wird derjenige bezeichnet, fiir den das ,Volk' mehr ist als die Summe seiner Teile, nämlich ein handelndes und leidendes Subjekt der Geschichte." 70 Für die deutschen Verhältnisse konnten die begriffsgeschichtlichen Arbeiten Bernd Schönemanns und die ideengeschichtliche Studie von Hans-Martin Blitz zeigen, daß dieser Prozeß der politischen und ideellen Aufladung des Volksbegriffs vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stattfand. Bis dahin bezeichnete „Volk" die in „einem bestimmten geographischen Raum lebende Bevölkerung oder die soziale Schicht der Besitzlosen und Nichtgebildeten" 71 , während „Nation" vor allem kulturell und reichisch konnotiert war. In einem verwirrenden und oft auch ambivalenten Nebenund Ineinander von Landes- und Reichspatriotismus wurde unter deutschen Intellektuellen ein überaus anregender Diskurs um Nationalstolz, Nationalgeist und Nationaltheater gefuhrt, der im „Vaterland" seinen Zentralbegriff fand und keineswegs zögerte, auch schon „Nationalhaß und Gewalt als Mittel vaterländischer Selbstbehauptung" 72 in Erwägung zu ziehen. Unter dem Eindruck des bürgerlichen Patriotismus und der Arbeiten Herders wurde der Volksbegriff immer weiter nobilitiert, so daß gegen Ende des 18. Jahrhunderts seine semantische Neuausrichtung abgeschlossen war: der Volksbegriff hatte sich seiner ständischen Konnotierung entledigt und durfte „auch sozial -

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Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive, S. 37, ähnlich auch Gellner, Nationalismus und Moderne, S. 87 und S. 200. Eisenstadt, Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive, S. 21. Zum Volksbegriff als Vorstufe der Nation vgl. auch Lepsius, Nation und Nationalismus, S. 236, Dann, Nation und Nationalismus, S. 13, und Alter, Nationalismus, S. 23. Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 16, M. Rainer Lepsius spricht vom Volksbegriff als einer „dem Individuum gegenüber höherrangige vorpolitische Wesenheit", Lepsius, Nation und Nationalismus, S. 236. Schönemann, Volk und Nation, S. 278, ähnlich auch in seinem Beitrag zu dem Artikel „Volk, Nation, Nationalismus, Masse", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S. 314 ff. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 337, vgl. dazu auch Fink, Das Bild des Nachbarvolkes, S. 460 ff.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

nicht nur politisch - einen generellen Anspruch erheben"73. Für die Wende zum 19. Jahrhundert läßt sich dann eine semantische Synonomie von Volk und Nation konstatieren, deren Bedeutung „in den weitaus meisten Fällen verallgemeinernd mit ,kulturelle, sprachliche und/oder politische Gemeinschaft' angegeben werden"74 kann. Vor diesem Hintergrund erscheint die verbreitete Datierung der „Geburtsstunde" des modernen Nationalismus auf die Jahre nach 1789 als eher fragwürdig, vielmehr sollte mit Hans-Martin Blitz davon ausgegangen werden, daß schon vor dieser Epochenschwelle alle Funktionszusammenhänge des modernen Nationsbegriffs bereitlagen, der im 19. Jahrhundert dann aber eine Ausarbeitung im Sinne von „Vereinheitlichung, Politisierung und Popularisierung"75 erfuhr. Damit zurück zu den Bemühungen Fichtes, sein politisches Denken von einer rechtlichen auf eine nationale Grundlage zu stellen, und zu den Reden an die deutsche Nation, die sich mühelos in die skizzierte Genese des nationalen Denkens einreihen lassen und sich am zuletzt genannten Punkt befinden, also der Aufgabe, den nationalen Diskurs zu vereinheitlichen, zu politisieren und zu popularisieren. Daß Fichte sich überhaupt auf die Suche nach einem neuen Bindungsmittel machte, kann unmittelbar auf die Krise zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurückgeführt werden, dennoch aber wäre es vor dem Hintergrund eines konstruktivistisch-diskursanalytischen Nationalismusbegriffs zu kurz geschlossen, sein neues Bindungsmittel, die deutsche Nation, als reines Produkt dieser Krise zu begreifen. Die Attraktivität des nationalen Gedankens in dieser Zeit der Verunsicherung und Orientierungslosigkeit lag gerade darin, daß er mit Blick auf die Zukunft Glanz und Größe, vor allem aber auch soziale Reform und politische Partizipation versprach, gleichzeitig aber dem irritierenden Gefühl von Beschleunigung, Wandel und Desintegration durch Verweis auf das vermeintlich Altvertraute und Selbstverständliche - Sprache, Tradition und Herkommen - seinen bedrohlichen Charakter nahm.76 Die neue Welt, die Fichte seinen gebildeten Zuhörern versprach, war ihnen in Wahrheit also aus den frühnationalen Diskursen längst bekannt, die seit dem Humanismus unter deutschen Intellektuellen geführt wurden und schon im 18. Jahrhundert die bürgerliche Öffentlichkeit erreicht hatten.

Artikel „Volk, Nation, Nationalismus, Masse", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S. 381. Bär, Nation und Sprache, S. 204. Zur Synonymie von Volk und Nation siehe auch den Artikel „Volk, Nation, Nationalismus, Masse", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S. 315 und S. 382, Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 16, und Kemiläinen, Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes, S. 23. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 408. Vgl. Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 302 und S. 163, und Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 509.

Die deutsche Ursprache

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2. Die deutsche Ursprache Fichte weiß um die Vertrautheit seines Publikums mit diesen Diskursen und gibt offen zu, daß er bei seiner Bestimmung des Deutschen ,glicht eben ganz neue und bisher unerhörte Sätze aus[sprechen]"77 werde. Charakteristisch für den deutschen Nationalismus am Anfang des 19. Jahrhunderts ist, daß Sprache und Kultur noch ganz in seinem Zentrum stehen, die erst nach den 1820er Jahren von der Geschichte verdrängt wurden was vor allem damit zu tun hatte, daß Sprache und Kultur sich als viel dauerhafter und beständiger erwiesen hatten als die deutsche Geschichte, die sich mit ihren trennenden und partikularisierenden Tendenzen nur schwer in den Entwurf eines nationalen Selbstbilds integrieren ließ.78 Im Hintergrund dieses sprachlichen Nationalismus stehen aber nicht nur die spezifischen deutschen Verhältnisse, die sich in der Tat gegen einen Volksbegriff auf der Grundlage von äußeren, also politisch-staatlichen Grenzen sperrten, sondern auch die breite sprachphilosophische Diskussion des 18. Jahrhunderts79, in deren Verlauf es, vor allem unter dem Einfluß Condillacs und Herders, üblich geworden war, Sprachen als besondere, von Geschichte, Politik und Geographie geprägte Nationalsprachen zu sehen. Es ist dieser frühnationale und sprachphilosophische Diskussionszusammenhang, in den Fichte sich mit seinen Reden an die deutsche Nation begibt, wenn er von „unsichtbaren Banden" sprechen wird und davon, daß die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft „ein unzertrennliches Ganzes" bildeten80. In den Reden vier und fünf entwickelt er dann seine eigene Sprachtheorie und distanziert sich zunächst von der auf Montesquieu zurückgehenden Klimatheorie zur Erklärung der Volkscharaktere ebenso ausdrücklich81, wie er auch alle ethnischen und biologischen Annahmen mit Verweis auf die Vermischung der Deutschen mit den Slawen zurückweist, die in „wohl nicht geringerer Ausdehnung"82 geschah als die Vermischungen zwischen anderen Völker. Zunächst stellt Fichte die Sprache unter ein natürliches „Grundgesetz, nach welchem jedweder Begriff in den menschlichen Sprachwerkzeugen zu diesem, und keinem anderen Laute wird"83. Zwischen den Gegenständen und ihrer Benennung erkennt er ein not77 78

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Reden, SW VII, S. 312. Vgl. M. Jeismann, Vaterland der Feinde, S. 65, Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 91, und Bär, Nation und Sprache, S. 205. Vgl. zu den Hintergründen und Zusammenhängen dieser Diskussion Gipper u. Schmitter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, S. 63 ff. Vgl. Reden, SW VII, S. 460. Fichte hält „die Veränderung der Heimath" für „ganz unbedeutend" und führt weiter aus: „Der Mensch wird leicht unter jedem Himmelsstriche einheimisch, und die Volkseigenthümlichkeit, weit entfernt durch den Wohnort sehr verändert zu werden, beherrscht vielmehr diesen und verändert ihn nach sich", Reden, SW VII, S. 313. Reden, SW VII, S. 314. Reden, SW VII, S. 314, vgl. zum folgenden Hennigfeld, Fichte und Humboldt - Zur Frage der Nationalsprache, S. 40 ff.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

wendiges Abbildungsverhältnis, so daß alle Menschen die gleiche Sprache haben müßten, wenn sich nicht unter der Einwirkung von „äusseren Einflüssen" unterschiedliche Volkssprachen ausgebildet hätten, die sich jedoch nur auf der lautsprachlichen Ebene voneinander unterscheiden. Diese Sprachen bezeichnet Fichte als Ursprachen, weil sie alle, selbst „nach Jahrtausenden" noch, „die ausbrechenmüssende lebendige Sprachkraft der Natur"84 in sich tragen. Die „gemeinsame Naturkraft" fungiert als „ewiger Vermittler und Dollmetscher"85 zwischen den Generationen und begründet auf diese Weise die Einheit der Sprachgemeinschaft als Volk. Entscheidend für Fichtes Sprachtheorie ist nun der Zusammenhang von Sprechen und Denken, den er am Beispiel des aus dem Griechischen abgeleiteten Worts „Idee" bzw. seiner lutherischen Übersetzung als „Gesicht" erläutert: Auf der rein sinnlichen Ebene bezeichnet Gesicht eine bloß optische Wahrnehmung, etwa eine Landschaft oder einen Regenbogen, während es sich auf der übersinnlichen Ebene auf etwas bezieht, „das gar nicht durch den Leib, sondern nur durch den Geist erfasst"86 werden kann. Fichte erkennt in dieser Symbolisierungsfahigkeit ein schöpferisches Vermögen der Sprache, die nicht nur sinnliche Gegenstände lautsprachlich abbildet, sondern auch in der Lage ist, das Geistige zu symbolisieren und abstrakte Vorstellungen indirekt darzustellen. Übersinnliche Inhalte werden also durch sinnliche Begriffe vermittelt, und daher „richtet alle Bezeichnung des Uebersinnlichen sich nach dem Umfange und der Klarheit der sinnlichen Erkenntniss desjenigen, der da bezeichnet"87. Da Völker aber aufgrund von Geographie und Geschichte über unterschiedliche sinnliche Sprachwerkzeuge verfugen, müssen sie daher auch, wie Fichte weiter folgert, das Übersinnliche unterschiedlich symbolisieren und darstellen. Diejenigen unter Fichtes Zuhörern, die seine früheren sprachtheoretischen Überlegungen kannten, waren sicherlich überrascht, den Philosophen hier von einem direkten Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken, von einem natürlichen Abbildungsverhältnis als Ursprung der Sprache und von individuellen Volkssprachen reden zu hören. Es war vor allem Xavier Léon, der in seiner dreibändigen Fichte-Biographie darauf aufmerksam gemacht hatte, daß die sprachtheoretischen Überlegungen der vierten und fünften Rede den transzendentalphilosophischen Boden der Wissenschaftslehre verlassen und sich ganz in der Nähe des frühromantischen Sprachdiskurses bewegen.88 Für den Zusammenhang der Reden an die deutschen Nation sind beim Blick auf die frühromantische Sprachphilosophie vor allem die Gedanken der Individualität, der Geschichtlichkeit und der schöpferischen und gemeinschaftsbildenden Kraft von Sprache ausschlaggebend, die sich in der Tat nur schwer mit den Mitteln einer vernunfttheoretischen und apriorischen Philosophie begründen ließen. Zwar war Fichte in sei84 85 86 87 88

Alle Zitate Reden, SW VII, S. 315. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 316. Reden, SW VII, S. 317. Reden, SW VII, S. 318. Vgl. Léon, Fichte et son temps, Bd. 2, 2, S. 61 ff.

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nem Aufsatz Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprünge der Sprache (1795) 89 sprachtheoretischen Fragen nachgegangen, hatte diese aber damals ganz unter dem Systemgedanken der Wissenschaftslehre betrachtet und damit als eine bloße Bedingung von Selbstbewußtsein begriffen. Seine früheren Bemühungen richteten sich allem zuvor auf die Begründung von Intersubjektivität und weisen als solche voraus auf das Aufforderungs- und Anerkennungsverhältnis, mit dem er in der Grundlage des Naturrechts wenig später diese ersten Versuche systematisch ausarbeitete. Sprache galt Fichte dabei als ein bloßes Mittel zum Zweck bei dem Bestreben des Ichs, „Vernunftmäßigkeit außer sich zu finden"90, so daß er festsetzen konnte: „Sprache, im weitesten Sinne des Worts, ist der Ausdruck unserer Gedanken durch willkürliche Zeichen."91 Diese Vorstellung von Sprache als einem willkürlichen Hilfsmittel der Vernunft, die ohne es genau so gut zurechtgekommen wäre92, und der ihr zugrundeliegende Gedanke, „that the rapport between man and nature is characterised by man's impulse to subject nature"93, verkehren sich in den Reden an die deutsche Nation in ihr Gegenteil94, wo Fichte Sprache in den Rang einer anthropologischen Notwendigkeit hebt, die den Menschen mehr formt als umgekehrt: „Nicht eigentlich redet der Mensch, sondern in ihm redet die menschliche Natur [...]"95. Das Charakteristikum der sprachtheoretischen Überlegungen der Reden an die deutsche Nation - der gemeinschaftsbildende Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken - war also aus der systematischen Philosophie Fichtes nicht zu gewinnen, weist dagegen aber eine so große Nähe zu dem sprachphilosophischen Diskurs der Jenaer und Berliner Frühromantik und den Überlegungen August Wilhelm

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Anders als der Titel nahelegt, steht diese Arbeit Fichtes, die in Niethammers Philosophischem Journal erschien, nicht in direktem Zusammenhang mit den zahlreichen Arbeiten zum Ursprung der Sprache jener Jahre, sondern geht auf Fichtes Beschäftigung mit Ernst Platners Philosophischen Aphorismen zurück, vgl. die Einleitung der Herausgeber in GA I, 3, S. 93 ff. Anders dagegen Damir Barbaric, für den die Schrift Fichtes „ohne Zweifel durch die berühmte Akademieabhandlung Herders über dasselbe Thema veranlaßt und angeregt" wurde, Barbaric, Fichtes Gedanken vom Wesen der Sprache, S. 213. Ursprung der Sprache, GA I, 3, S. 103. Ursprung der Sprache, GA I, 3, S. 97. „Die Sprache ist meiner Ueberzeugung nach für viel zu wichtig gehalten worden, wenn man geglaubt hat, daß ohne sie überhaupt kein Vernunftgebrauch Statt gefunden haben würde", Ursprung der Sprache, GA I, 3, S. 103, Anm.*. Denken war für Fichte dem Menschen auch ohne Sprache möglich „vermittelst der Bilder, die er durch die Phantasie sich entwirft", ebd. Perconti, Fichte's „Essay on the origin of language", S. 227. Vgl. Barbaric, Fichtes Gedanken vom Wesen der Sprache, S. 218 f., ähnlich auch Hennigfeld, Fichte und Humboldt - Zur Frage der Nationalsprache, S. 44 f., und Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 213. Auch Manfred Petri erinnert die Sprachtheorie der Reden eher an die „Ursprachendebatte des 16. und 17. Jahrhunderts" als an die früheren Überlegungen Fichtes, weswegen er die Reden in seinem Fichte-Kapitel „nicht weiter berücksichtigt", Petri, Urvolkhypothese, S. 204; anders dagegen Wolfgang Janke, der eine Kontinuität in Fichtes Sprachreflexionen von der Ursprungsschrift bis zu den Reden an die deutsche Nation erkennt, vgl. Janke, Die Wörter ,Sein' und ,Ding' - Überlegungen zu Fichtes Philosophie der Sprache, S. 53 und S. 59. Reden, SW VII, S. 314 f.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

Schlegels im besonderen auf, daß es tatsächlich „impossible" ist, „de ne pas être frappé des analogies qu'il [Schlegel] présente encore avec certaines parties des ,Discours' de Fichte [,..]" 96 .

2.1. Der frühromantische Volks- und Nationsbegriff Auch wenn Fichte nicht Hörer von Schlegels Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801-1804) war, so kann doch bei den zahlreichen Begegnungen zwischen den beiden Denkern und der Überschaubarkeit und der engen Verflechtung der Berliner intellektuellen Gemeinde von einer Vertrautheit Fichtes mit den ästhetischen und sprachphilosophischen Überlegungen Schlegels ausgegangen werden. Eine wichtige Rolle dürfte dabei der Sprachwissenschaftler und damalige Direktor des Friedrichswerderschen Gymnasiums August Ferdinand Bernhardi gespielt haben, der nicht nur Schlegel während seiner ästhetischen Vorlesungen bei sich beherbergte97, sondern auch eng mit Fichte befreundet war und, wie Immanuel Hermann Fichte berichtet, über „lange Jahre hindurch sein fast täglicher Gesellschafter"98 war. Schlegel seinerseits war seit Jena mit Fichte bekannt, hatte dort mit ihm und seinem Bruder Friedrich ein gemeinsames Zeitschriftenprojekt verfolgt und in Berlin 1804 Fichtes erste Vorlesung über die Wissenschaftslehre gehört, gleichzeitig war er auch Rezensent der sprachwissenschaftlichen Arbeiten Bernhardis99, die dieser wiederum in langen „Unterhaltungen auf Abendspaziergängen und in anderen geselligen Stunden"100 mit Fichte vordiskutiert hatte - kurzum: es gab einen regen und kontinuierlichen Gedankenaustausch zwischen Fichte, Schlegel und Bernhardi. Während sich letzterer wohl am deutlichsten um eine transzendentalphilosophische Grundlegung aller Sprachbetrachtung bemühte101 - und

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Léon, Fichte et son temps, Bd. 2, 2, S. 62, zu Fichte und A. W. Schlegel siehe auch Becker, Fichtes Idee der Nation, S. 149 f. Vgl. dazu Jolies, Schlegel und Berlin, S. 153, und Bär, Sprachreflexion der deutschen Frühromantik, S. 64 f. I. H. Fichte, Fichte's Leben und litterarischer Briefwechsel, Bd. 1, S. 443, auch Varnhagen berichtet von dem engen Kontakt zwischen Bernhardi und Fichte, vgl. Varnhagen, Denkwürdigkeiten, S. 462. Schlegel war Fichte auch behilflich, als dieser kein Imprimatur von der preußischen Zensur für seine Schmähschrift Friedrich Nicolai's Leben und sonderbare Meinungen (1800) erhielt. Da Schlegel als Professor in Jena zensurfrei war, bot er Fichte an, als Herausgeber zu fungieren, so daß die Schrift auf diese Weise dann doch noch erscheinen konnte. Schlegel rezensierte 1803 die Sprachlehre Bernhardis in der Zeitschrift Europa. I. H. Fichte, Fichte's Leben und litterarischer Briefwechsel, Bd. 1, S. 444, vgl. auch Léon, Fichte et son temps, Bd. 2, 2, S. 70. Von den Werken Bernhardis sind hier vor allem zu nennen die zweibändige Sprachlehre von 1801 und 1803 und die Anfangsgründe der Sprachwissenschaft von 1805. Bernhardi versucht in seinen Arbeiten primär, die Kategorien der Grammatik auf die Kategorien der Logik zu beziehen, wodurch „aber auch der Boden der geschichtlichen Wirklichkeit verlassen wird", für den Fichte

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deswegen nur in einem weiteren Sinne der Frühromantik zuzurechnen ist - , waren es vor allem die Überlegungen August Wilhelm Schlegels, dem es mehr um „eine Verbindung von transzendentalem Idealismus und Kunsttheorie"102 ging, die in ihrer Annahme einer schöpferischen und gemeinschaftsbildenden Kraft der Sprache in den Ideenhaushalt Fichtes gelangten. Mit Fichtes intensiver Rezeption frühromantischer Sprachreflexion vor und während der Reden an die deutschen Nation schließt sich gewissermaßen ein ideengeschichtlicher Kreis, der in Fichtes Wirkung auf die Frühromantik seinen Ausgang genommen hatte. Es ist oft beschrieben worden, wie sehr das romantische Denken von Fichtes Philosophie angeregt wurde, die durch den kommunikativen Gehalt des Aufforderungsund Anerkennungsverhältnisses, ihre Betonung des Genetischen und der freien Selbsttätigkeit des Geistigen und nicht zuletzt mit ihrer Theorie der Einbildungskraft großen Eindruck auf die Brüder Schlegel, Novalis und Hölderlin, aber auch auf Schiller und Humboldt machte.103 Bekanntlich hatte Friedrich Schlegel im vielzitierten 216. Athenäums-Fragment die Wissenschaftslehre zusammen mit der Französischen Revolution und Goethes Wilhelm Meister zu den drei „größten Tendenzen des Zeitalters"104 erklärt und vor allem den Gedanken Fichtes, „daß wir in der Kunst in objektiver Gestalt denjenigen Operationen des Geistes begegnen, durch welche uns unbewußterweise die Welt der Erfahrung und des Wissens jeweils entsteht"105, fur die romantische Idee einer Identifizierung von Kunst und Leben fruchtbar gemacht. Im Unterschied zur idealistischen geht die frühromantische Philosophie nicht vom Ich aus, das sie als universales Prinzip

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sich in seinen Reden ja vor allem interessiert, vgl. Gipper u. Schmitter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, S. 132. Bär, Sprachreflexion der deutschen Frühromantik, S. 101. So gilt das Erscheinen von Fichtes früher Wissenschaftslehre geradezu als terminus a quo romantischer Philosophie, vgl. Romantik-Handbuch, S. 435, vgl. außerdem Müller-Vollmer, Fichte und die romantische Sprachtheorie, Hennigfeld, Fichte und Humboldt - Zur Frage der Nationalsprache, Summerer, Wirkliche Sittlichkeit, S. 44 ff., Schulz, Deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, S. 242 ff., Pikulik, Frühromantik, S. 36 ff., Hammacher, Fichte in Berlin, S. 38 f., und Link, Zur Fichte-Rezeption in der Frühromantik. Im übrigen zeigt die Sprachtheorie der Reden an die deutsche Nation eine klare Verwandtschaft zu den späteren Überlegungen Humboldts auf, vgl. Gipper u. Schmitter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, S. 140, und den Aufsatz von Hennigfeld, „Fichte und Humboldt Zur Frage der Nationalsprache". F.Schlegel, Kritische Schriften, S. 48, dazu Pikulik, Frühromantik, S. 130-134. Eine Einschätzung, die er Fichte auch persönlich bestätigte: „Ihre Sache, werther Freund, scheint mir von allgemeiner Wichtigkeit. Es ist, glaube ich die Sache der Philosophie selbst, die Sache des Zeitalters u der Nazion", Brief an Fichte vom Mai 1799, GA III, 3, S. 377. Auch Fichte zeigt sich von Schlegel sehr beeindruckt und hält dessen Lucinde, die er dreimal liest, für „eins der grösten Genie Producte, die ich kenne", Brief an seine Frau vom 8.-10. September 1799, GA III, 4, S. 67; vgl. zum Einfluß Fichtes auf Friedrich Schlegel den Aufsatz von Radrizzani, Zur Geschichte der romantischen Ästhetik. Müller-Vollmer, Fichte und die romantische Sprachtheorie, S. 453, vgl. auch Link, Zur FichteRezeption in der Frühromantik, S. 360 f.

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in einem Selbstwiderspruch befangen sieht, sondern von einem ursprünglichen Sein, das aller Reflexion vorausliegt und sich rein sinnlich, in Wahrnehmungen, Anschauungen und Gefühlen und nicht in Gedanken erfahrt. Zu einem historisch-genetischen Universalprinzip wird für die Romantiker die Poesie, weil allein sie mit den Mitteln der Allegorie, der Metapher und der Symbolisierung fähig ist, diese ursprünglichen unbewußten Gefühle und Sinneseindrücke darzustellen und damit erst in einem zweiten Schritt aller Reflexion zugänglich zu machen. Sprache ist deswegen für August Willhelm Schlegel „ein ursprüngliches und nothwendiges"106 Werk der menschlichen Natur, das zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen, zwischen Anschauung und Verstand vermittelt: „Es baut sich nun also in der Sprache über der ersten Darstellung der Sinnenwelt eine zweyte unsrer unsinnlichen Anschauungen, und das Band zwischen beyden ist die Metapher. Die Bildlichkeit, das Bezeichnen durch Vergleichung, trat zwar schon in jener ersten Sphäre ein, aber hier thut sich erst das volle Bewußtseyn des symbolisierenden Vermögens in uns hervor, durch dessen willkührlichen absichtlichen Gebrauch alsdann aus den poetischen Elementen der Ursprache eigentliche Poesie gebildet wird."107

Gleichzeitig unterliegt die Sprache in dieser Funktion aber auch, wie Schlegel weiter ausführt, ihrerseits einem Rationalisierungsprozeß - „vom sinnlichen Eindrucke geht sie aus, und strebt zum Gedanken hin"108 - , den er auch als zunehmenden Verlust der ursprünglichen poetischen Qualität, als Entwicklung von der Poesie zur Prosa beschreibt. Wichtig für den Zusammenhang der Reden an die deutsche Nation und ihre Suche nach einem neuen Bindungsmittel ist nun, daß Schlegel aus dieser Vermittlerrolle der Sprache zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen auf unterschiedliche Volkssprachen, die sich unter dem Einfluß der „Klimate und Landesarten"109 bilden, folgert und von da aus dann weiter auf den Geist oder den Charakter eines Volks schließt, den er durch die Sprache determiniert sieht: „Mit der Muttersprache zugleich saugen wir die Vorstellungen und Ansichten der Dinge; sie ist gleichsam die Form in welche die Thätigkeiten unsers Geistes sich fügen müssen: und wie wir in der Sprache die reiche Hinterlassenschaft vergangner Geschlechter überkommen, so wird uns dabey auch die Verpflichtung mancher Gewöhnung mit auferlegt."110

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A. W. Schlegel, Vorlesungen, S. 184. A. W. Schlegel, Vorlesungen, S. 402, dazu Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 293 ff. A. W. Schlegel, Vorlesungen, S. 400. A. W. Schlegel, Vorlesungen, S. 402, dazu Bär, Sprachreflexion der deutschen Frühromantik, S. 245 ff. A. W. Schlegel, Vorlesungen, S. 417.

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2.2. Die inneren Grenzen Seit den Arbeiten Hamanns und vor allem Herders, der schon 1772 von der Sprache als „Merkwort des Geschlechts, Band der Familie, Werkzeug des Unterrichts, Heldengesang von den Taten der Väter, und die Stimme derselben aus ihren Gräbern"111 gesprochen hatte, hatte sich das Interesse an Sprache immer weiter weg von den empirischen Unterschieden hin zu den inneren und geistigen Besonderheiten der National- oder Volkssprachen verschoben. Die Wechselwirkung von Denken und Sprechen und in direkter Folge davon der Zusammenhang von „Sprachgeist" und „Volksgeist" standen nun im Zentrum sprachphilosophischer Spekulation. Herder nahm die Vielzahl der Völker, Sprachen und Kulturen hinsichtlich ihrer Verschiedenheit und Vielfalt wahr, die er als natürliche Garanten eines universalen Fortschritts begriff 412 , suchte nach Besonderheiten und Eigenheiten der Völker, sammelte Lieder, Sagen, Märchen und Dialekte, verglich, unterschied und grenzte voneinander ab und beschleunigte damit den Prozeß der zunehmenden ideellen Aufladung des Volksbegriffs, der zur wesentlichen Voraussetzung nationalen Denkens wurde. Seine Überzeugung, daß ,jede menschliche Vollkommenheit National, Säkular und am genauesten betrachtet, Individuell"113 sei, wirkte stark auf die junge Generation der Romantiker, deren Begeisterung für das Besondere, Originale und Ursprünglich-Naturhafte aus dem alten Volksbegriff schnell die Nation als „ein kollektives Subjekt mit einer unnachahmlichen Individualität und Identität"114 entstehen ließ. Wie Herder führt auch Fichte nationale Identität auf ihren sprachlich-kulturellen Kontext zurück und stellt wie Schlegel einen erkenntnistheoretischen Zusammenhang her zwischen sinnlicher und übersinnlicher Sprachebene. Seinem Publikum entwickelte er am Beispiel der Begriffe Idee und Gesicht diesen Zusammenhang und folgerte auf unterschiedliche Weisen der Völker und Nationen, infolge ihrer lautsprachlichen Verschiedenheit das Geistige zu symbolisieren. Ist das Denken aber sprachlich präfiguriert, dann besteht zwischen den Angehörigen einer Sprachgemeinschaft auch eine geistige Verbundenheit, dann faßt die übersinnliche Sprachebene „bei jedem Schritte das Ganze 111 112

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Herder, Über den Ursprung der Sprache, Werke, Bd. 1, S. 797. „Menschheit" galt Herder geradezu als Essenz, als Quersumme aller Völker und aller Individuen: „Das Urbild, der Prototyp der Menschheit liegt also nicht in Einer Nation Eines Erdstriches; er ist der abgezogene Begriff von allen Exemplaren der Menschennatur in beiden Hemisphären", Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, Werke, Bd. 7, S. 699, dazu Barnard, Zwischen Aufklärung und Romantik, S. 70 f. Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Werke, Bd. 4, S. 35, die vielfältige Bedeutung Herders für das nationale Denken kann hier nicht umfassend dargestellt werden, vgl. dazu aber Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 98 ff., Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 349 ff., und Kohn, Idee des Nationalismus, S. 573 ff. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, S. 145, dazu auch Nipperdey, Auf der Suche nach der Identität: Romantischer Nationalismus, S. 133 ff., und Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 59 ff.; auch für Louis Dumont steht Herder „am Ursprung einer Hauptströmung der Romantik", Dumont, Individualismus, S. 134.

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des sinnlichen und geistigen, in der Sprache niedergelegten Lebens der Nation in vollendeter Einheit"115 zusammen. Stellt Sprache an sich schon eine „Grundkategorie realer intersubjektiver Vermittlung"116 dar, so reicherten die Herdersche und die frühromantische Sprachauffassungen die Vorstellung vom Volk als Sprach- und Traditionsgemeinschaft darüber hinaus mit jenen sinnlichen, emotionalen und - in Abgrenzung vom Vernunftdenken der Aufklärung - auch irrationalen und unbewußten Anteilen an, die der nationalen Idee erst ihre metaphysische Qualität verliehen. Auch für Fichtes Reden an die deutsche Nation ist das Volk mehr als die Summe seiner Teile: „Zuvörderst und vor allen Dingen: - die ersten, ursprünglichen und wahrhaft natürlichen Grenzen der Staaten sind ohne Zweifel ihre inneren Grenzen. Was dieselbe Sprache redet, das ist schon vor aller menschlichen Kunst vorher durch die bloße Natur mit einer Menge von unsichtbaren Banden aneinander geknüpft; es versteht sich untereinander, und ist fähig, sich immerfort klarer zu verständigen, es gehört zusammen, und ist natürlich Eins und ein unzertrennliches Ganzes."117

Die „inneren Grenzen", von denen Fichte hier als den „wahrhaft natürlichen" spricht, sind zum einen gegen die französische Forderung nach den natürlichen geographischen Grenzen Frankreichs gerichtet, zum anderen aber bedeuten die „unsichtbaren Banden", die ein Volk erst konstituieren, und die Annahme, daß die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft „ein unzertrennliches Ganzes" bildeten und „natürlich Eins" seien, in ihrem Irrationalismus und Holismus den Bruch mit allen staatsrechtlichen Vorstellungen vom Volk oder der staatlichen Gemeinschaft als einer „künstlichen Anstalt"118. Mit der Sprache als Kategorie natürlicher geistiger Vergemeinschaftung hat Fichte das gesuchte neue Bindungsmittel gefunden, das es ihm erlaubt, sein politisches Denken von einer rechtlichen auf eine nationale Grundlage zu stellen. In Abkehr von seiner früheren funktionalistischen Sprachauffassung und in Wendung gegen die Konventionsthese Rousseaus glaubt Fichte nun nicht mehr, daß Sprache „von willkürlichen Beschlüssen und Verabredungen" abhänge, sondern sieht vielmehr ein „Grundgesetz" am wirken, „nach welchem jedweder Begriff in den menschlichen Sprachwerkzeugen zu diesem, und keinem anderen Laute wird"119. Schon vor den Reden an die deutsche Nation, etwa in den beiden Gesprächen über den Patriotismus, und sein Gegentheil, hatte Fichte von der kulturellen Einheit der deutschen Nation gesprochen und die „ A b s o n d e r u n g des Deutschen von den übrigen Europäischen Nationen" durch „gemeinschaftliche Sprache, und gemeinsamen NationalCharakter"120 begründet. Im Unterschied zu dieser früheren Position, die ja primär in Abwehr eines preußischen Partikularismus formuliert wurde und im Geist des aufgeklärten

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Reden, SW VII, S. 325. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 123. Reden, SW VII, S. 460. Vgl. Grundzüge, GAI, 8, S. 307, dazu Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 218 f. Reden, SW VII, S. 314. Patriotismus, GA II, 9, S. 403.

Die deutsche Ursprache

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Kosmopolitismus Nationalität noch als eine „Beschränkung"121 erfuhr, stellt Fichte nun die Entwicklung der Sprache und damit der Nationalcharaktere unter ein „Grundgesetz" und verleiht auf diese Weise der Nationszugehörigkeit eine existentiell-naturhafte Qualität: der einzelne wird in seine Nationalität hineingeboren, der er sich ebensowenig entziehen kann wie seinem Geschlecht oder dem Jahrhundert, in dem er lebt. Er verbindet die organologisch-vitalistischen Vorstellungen Herders, der eine Analogie zwischen Naturvielfalt und der Pluralität individueller Volkscharaktere hergestellt und vom Volk auch als „Pflanze der Natur"122 oder von der Nation als einem großen ungejäteten Garten voll Kraut und Unkraut123 gesprochen hatte, und die Überlegungen August Wilhelm Schlegels, für den Sprache „zu höherer Ausbildung und Vollendung fortschreiten muß"124, mit dem geschichtsphilosophischen Optimismus seiner eigenen Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, so daß er schließlich definieren kann: „Dies nun ist in höherer, vom Standpuncte der Ansicht einer geistigen Welt überhaupt genommener Bedeutung des Wortes, ein Volk: das Ganze der in Gesellschaft mit einander fortlebenden und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesammt unter einem gewissen besonderen Gesetze der Entwickelung des Göttlichen aus ihm steht. [...] Es ist dieses Gesetz ein Mehr der Bildlichkeit, das mit dem Mehr der unbildlichen Ursprünglichkeit in der Erscheinung unmittelbar verschmilzt; und so sind denn, in der Erscheinung eben, beide nicht wieder zu trennen. Jenes Gesetz bestimmt durchaus und vollendet das, was man den Nationalcharakter eines Volks genannt hat; jenes Gesetz der Entwickelung des Ursprünglichen und Göttlichen."125

Deutlich wird in dieser Definition die ideelle Überhöhung des Volksbegriffs, der sich hier nicht nur schon auf Augenhöhe mit dem ursprünglich vornehmeren Nationsbegriff - Fichtes Formulierung vom „Nationalcharakter eines Volks" bringt die erreichte Synonymität der beiden Begriffe anschaulich zum Ausdruck - befindet, sondern sogar zum Objekt eines göttlichen Entwicklungsgesetzes geworden ist. Fichtes Definition vom Volk bzw. der Nation bezieht sich also auf „das Ganze", das er als eine natürliche

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In dem ersten Gespräch über den Patriotismus, und sein Gegentheil, das noch vor dem preußischfranzösischen Krieg entstand, hatte Fichte den Patriotismus als Vorstufe und notwendiges Hilfsmittel des Kosmopolitismus verstanden. Der kosmopolitische „Wille, daß der Zwek des Daseyns des Menschengeschlechts im Menschengeschlechte erreicht werde", müsse sich zuerst im Kleinen realisieren, und so wird dann für Fichte ,jedweder Kosmopolit ganz nothwendig, vermittelst seiner Beschränkung durch die Nation, Patriot", Patriotismus, GA II, 9, S. 399 f. (Hervorh. d. Verf.). „Die Natur erzieht Familien; der natürlichste Staat ist also auch Ein Volk, mit Einem Nationalcharakter. Jahrtausende lang erhält sich dieser in ihm und kann, wenn seinem mitgebornen Fürsten daran liegt, am natürlichsten ausgebildet werden: denn ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur, als eine Familie; nur jenes mit mehreren Zweigen", Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Werke, Bd. 6, S. 369. Vgl. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, Werke, Bd. 7, S. 225, zum organologischen Denken Herders siehe auch Zaremba, Herders Nations- und Volksverständnis, S. 130 ff. A. W. Schlegel, Vorlesungen, S. 417. Reden, SW VII, S. 381 f.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

Gemeinschaft versteht, die sich im Medium des Geistigen vollzieht und unter einem höheren Entwicklungsgesetz steht. In einer weiteren Passage wiederholt Fichte noch einmal diese Vorstellung vom individuellen und unsichtbaren Nationalcharakter und führt zugleich einen weiteren, für die Reden an die deutsche Nation entscheidenden Gedanken ein: „Die geistige Natur vermochte das Wesen der Menschheit nur in höchst mannigfaltigen Abstufungen an Einzelnen, und an der Einzelnheit im Grossen und Ganzen, an Völkern, darzustellen. Nur wie jedes dieser letzten, sich selbst überlassen, seiner Eigenheit gemäss, und in jedem derselben jeder Einzelne jener gemeinsamen, so wie seiner besonderen Eigenheit gemäss, sich entwickelt und gestaltet, tritt die Erscheinung der Gottheit in ihrem eigentlichen Spiegel heraus, so wie sie sein soll [...] Nur in den unsichtbaren und den eigenen Augen verborgenen Eigenthümlichkeiten der Nationen, als demjenigen, wodurch sie mit der Quelle ursprünglichen Lebens zusammenhängen, liegt die Bürgschaft ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Würde, Tugend, Verdienstes; werden diese durch Vermischung und Verreibung abgestumpft, so entsteht Abtrennung von der geistigen Natur aus dieser Flachheit, aus dieser die Verschmelzung aller zu dem gleichmässigen und aneinanderhängenden Verderben."126

Die göttliche Ordnung hat Unabhängigkeit und Freiheit zur Bedingung und verlangt, daß die Völker und Nationen „sich selbst überlassen" bleiben und sich ihrer „Eigenheit gemäss" entwickeln können. Es ist bemerkenswert, daß Fichte hier nicht rechtlich argumentiert und weder auf den Autonomiegedanken der Kantischen Moralphilosophie verweist, den er selbst in seinen Revolutionsschriften politisch gewendet hatte, noch auf den Menschenrechtskatalog der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Statt dessen folgt er der „Logik" des nationalen Denkens und begründet seine Forderung nach Unabhängigkeit mit der „geistigen Natur" und den „unsichtbaren" und „verborgenen Eigenthümlichkeiten" der Völker. Aus der romantischen Faszination für das Individuelle und Besondere wird in den Reden an die deutsche Nation die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung, die im besetzten Berlin eine eminent politische ist. Fichte scheut die Brisanz dieser Forderung keineswegs und findet, freilich ohne den „Feind der göttlichen Ordnung" beim Namen nennen zu können, noch viel schärfere Formulierungen für seine Kritik an einer napoleonischen Hegemonie: „Wage man es endlich auch noch das Traumbild einer Universalmonarchie, das an die Stelle des seit einiger Zeit immer unglaublicher werdenden Gleichgewichtes der öffentlichen Verehrung dargeboten zu werden anfängt, in seiner Hassenswürdigkeit und Vernunftlosigkeit zu erblicken!"127

Fichte schlägt hier den Bogen zu seiner ersten Rede vom 13. Dezember 1807, die ihr Pathos ja aus der Fokussierung auf Ort und Augenblick des Vortrags und aus der Be126

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Reden, SW VII, S. 467. Hansjürgen Verweyen erkennt in diesem Gedanken „einen Höhepunkt in der gesamten Philosophie Fichtes", weil „hier eine aus dem nominalistischen Erbe stammende Selbstverständlichkeit der Moderne durchbrochen wird". Dieses Erbe begreift Verweyen als „die Zerstörung oder wenigstens das Außerachtlassen aller primär gegebenen Formen in Natur und Gesellschaft", Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 220. Reden, SW VII, S. 467.

Die deutsche Ursprache

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Schreibung eines apokalyptischen Untergangsszenarios gezogen hatte, dem sie mit dem Versprechen einer neuen besseren Welt und mit scharfen Dualismen begegnete, die moralisch-normative Richtlinien und eine orientierende Freund-Feind-Unterscheidung boten: deutsche Nation und „fremde Gewalt". Die Warnung vor einer lebensfeindlichen „Vermischung und Verreibung" der Völker und die „Hassenswürdigkeit" des Hegemon beschwören noch einmal diese apokalyptische Stimmung herauf und lenken den Blick wieder auf die unmittelbare Gegenwart des Winters von 1807 auf 1808. Diese Gegenwart hatte die erste Rede geschichtsphilosophisch auf den Moment einer Zeitenwende zugespitzt und damit die Deutschen in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt, weil an ihnen sich der Untergang des Zeitalters der vollendeten Sündhaftigkeit vollzogen hatte. Auch die weiteren Betrachtungen Fichtes konzentrieren sich, nachdem sie das Volk allgemein als eine natürliche Traditions- und Kulturgemeinschaft, die sich sprachlich vermittelt, aus dem frühnationalen und -romantischen Diskurs entwickelt haben, ganz auf den Dualismus von deutscher Nation und fremder Gewalt, indem sie die „Hauptverschiedenheit zwischen den Deutschen und den übrigen Völkern germanischer Abkunft" 128 in ihr argumentatives Zentrum stellen.

2.3. Urvolk und Ursprache Fichtes eigentümliche Formulierung von „den übrigen Völkern germanischer Abkunft" im Zusammenhang mit einer napoleonischen Hegemonie verweist auf eine Tradition nationalen Denkens, die mit der Entdeckung der Germania im 15. Jahrhundert und ihrer intensiven Rezeption durch den deutschen Humanismus ihren Beginn nahm. 129 So sehr der Bericht des römischen Geschichtsschreibers Publius Cornelius Tacitus zunächst das gängige Bild von den unzivilisierten und rückständigen Germanen zu bestätigen schien, so leicht ließ sich dieses Bild in der humanistischen Rezeption auch umdeuten: aus den wilden Rauf- und Trunkenbolden des Tacitus wurden bei Celtis, Wimpfeling, Bebel, Hutten und vielen anderen schnell freiheitsliebende, unverdorbene, tugendhafte und ursprüngliche Vorfahren der heutigen Deutschen. Tacitus hatte die Herkunft der Germanen auf den gottähnlichen Stammvater Tuisco zurückgeführt 130 und den humani128 129

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So die Überschrift, unter die Fichte seine vierte Rede stellt, Reden, SW VII, S. 311. Zur Tacitus-Rezeption im Hinblick auf die Konstruktion einer nationalen Identität der Deutschen vgl. Münkler, Nation als politische Idee im frühneuzeitlichen Europa, Münkler u. Grünberger, Nationale Identität im Diskurs der Deutschen Humanisten, Münkler, Grünberger u. Mayer, Nationenbildung, Garber, Vom universalen zum endogenen Nationalismus, Muhlack, Die Germania im deutschen Nationalbewußtsein, Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 91 ff., und Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 42 ff. Vgl. Tacitus, Germania, 2. Kapitel. Dieser Tuisco wurde dann vor allem durch die Geschichtsfalschungen des Annius von Viterbo in die biblische Genealogie integriert und dem Stammbaum Noahs angesippt, vgl. dazu vor allem Münkler, Grünberger u. Mayer, Nationenbildung, S. 242 ff., siehe auch Münkler u. Grünberger, Nationale Identität im Diskurs der Deutschen Humanisten, S. 232 ff., und Muhlack, Die Germania im deutschen Nationalbewußtsein, S. 138 und S. 143.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

stischen Bemühungen um eine nationale Identität damit eine Genealogie an die Hand gegeben, die es erlaubte, die Deutschen sogar über die Franzosen, Engländer oder Italiener zu stellen. Während diese sich nämlich auf das Geschlecht der Trojaner zurückführten - eine Abstammung, die die Deutschen lange Zeit als minderwertig erscheinen ließ - , konnten die Deutschen sich nun als Ureinwohner verstehen, als ursprüngliches Volk, das seit seinen göttlichen Anfangen das angestammte Siedlungsgebiet niemals verlassen oder sich mit anderen Völkern vermischt habe. Natürlichkeit, Reinheit und Unverdorbenheit wurden zu wesentlichen Elementen eines nationalen Selbstbilds, das sich in der Folge zur Germania-Magna-Theorie weitete. Nach diesen kühnen Vorstellungen erstreckten sich die Grenzen des vorrömischen Germaniens über weite Teile Europas und umfaßten auch Engländer und Franzosen, die demnach als Germanen gelten müssen - die einen als Nachfahren der Kelten, die anderen als Abkömmlinge der Franken.131 Auch bei Fichte, der sich, wie sein Sohn berichtet, im Vorfeld der Reden an die deutsche Nation ja fast ausschließlich mit Tacitus beschäftigt hatte132, steht im Hintergrund seiner weiteren Überlegungen die Annahme, daß die Franzosen wie die Deutschen ursprünglich ein germanischer Stamm gewesen seien, bevor beide nach dem Ende des frühmittelalterlichen Reichs Karls des Großen als Ost- und Westfranken getrennte Wege gingen und zu eigenständigen Völkern avancierten. Anders aber als Tacitus mißt Fichte der ethnischen Reinheit der Deutschen wenig Bedeutung bei, er interessiert sich auch nicht weiter für die geographischen, historischen oder die politischen Unterschiede zwischen den beiden Nationen, sondern konzentriert sich ganz auf die Sprache und ihre Veränderungen, in der er das entscheidende Differenzkriterium zwischen Deutschen und Franzosen erkennt: „Bedeutender aber, und wie ich dafürhalte, einen vollkommenen Gegensatz zwischen den Deutschen und den übrigen Völkern germanischer Abkunft begründend, ist die zweite Veränderung, die der Sprache; und kommt es dabei, welches ich gleich zu Anfange bestimmt aussprechen will, weder auf die besondere Beschaffenheit deijenigen Sprache an, welche von diesem Stamme beibehalten, noch auf die der anderen, welche von jenem anderen Stamme angenommen wird, sondern allein darauf, dass dort eigenes behalten, hier fremdes angenommen wird; noch kommt es an auf die vorige Abstammung derer, die eine ursprüngliche Sprache fortsprechen, sondern nur darauf, dass diese Sprache ohne Unterbrechung fortgesprochen werde, indem weit mehr die Menschen von der Sprache gebildet werden, denn die Sprache von den Menschen."133

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Dazu Münkler u. Grünberger, Nationale Identität im Diskurs der Deutschen Humanisten, S. 225 f., und Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 95 und S. 146. Die Germania-Magna-Theorie findet sich, wenn auch mit anderen Implikationen, schon im Hochmittelalter bei dem Kölner Kanonikus Alexander von Roes, dazu vor allem Garber, Vom universalen zum endogenen Nationalismus, S. 18 ff. Vgl. oben, S. 57. Reden, SW VII, S. 314 (Hervorh. d. Verf.).

Die deutsche Ursprache

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Während also die einen, wie die Deutschen oder auch die skandinavischen Völker134, ihre natürliche germanische Sprache behalten haben, nahmen die anderen, die Franzosen, eine fremde Sprache an, entfernten sich damit von ihren Ursprüngen und wurden zu „Neurömern"135. Vor dem Hintergrund seiner Sprachtheorie begreift Fichte dieses Verhältnis als einen „vollkommenen Gegensatz" zwischen Deutschen und Franzosen: da für ihn Sprache immer auch Erkenntnis ist, müssen Veränderungen in der Sprache oder gar die Annahme einer fremden Sprache weitreichende Folgen haben. Diese Folgen betreffen weniger die sinnliche Sprachebene, die sich als rein lautsprachliches Abbildungsverhältnis leicht reproduzieren läßt, als vielmehr die übersinnlichen erkenntnistheoretischen Sprachanteile. Denn hier handelt es sich, wie Fichte am Beispiel von Idee bzw. Gesicht ja erläutert hatte, um einen schöpferischen Akt der Sprache, die das Abstrakte und Geistige symbolisch darzustellen vermag. Gerade in dieser Symbolisierungsfáhigkeit hatte Fichte aber den Geist, die Individualität eines Volks verortet, weil sie aus der transgenerationellen Kommunikation, aus den kollektiven Erfahrungen und Bedürfhissen einer Sprachgemeinschaft resultiert, die erst in Wechselwirkung mit spezifischen Umweltbedingungen den einzigartigen Charakter eines Volks ausmachen.136 Das Übersinnliche ist ein „stätiger Fluss"137, eine Art lebender Organismus und kein bloßes Zeichensystem, das willkürlich austauschbar wäre. Will eine Sprache also schöpferisch sein, dann muß sie „von dem ersten Laute an, der in derselben ausbrach, ununterbrochen aus dem wirklichen gemeinsamen Leben eines Volkes sich entwikkelt"138 haben. „Ganz das Gegentheil aber von allem bisher Gesagten erfolgt alsdann, wenn ein Volk, mit Aufgebung seiner eigenen Sprache eine fremde, für übersinnliche Bezeichnung schon sehr gebildete annimmt [...]. Obwohl eine solche Sprache auf der Oberfläche durch den Wind des Lebens bewegt werden, und so den Schein eines Lebens von sich geben mag, so hat sie doch tiefer einen todten Bestandtheil, und ist, durch den Eintritt des neuen Anschauungskreises und die Abbrechung des alten, abgeschnitten von der lebendigen Wurzel."139

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Es liegt in der Konsequenz seiner Differenzbestimmung, daß Fichte die skandinavischen Völker, die ja ihre germanische Sprache behielten, kurzerhand zu Deutschen erklärt, wenn er festsetzt, daß „andere aber von der gleichen germanischen Abstammung, von denen der sogleich anzuführende Hauptunterscheidungsgrund nicht gilt, wie die Scandinavier, hier unbezweifelt für Deutsche genommen werden, und unter allen den allgemeinen Folgen unserer Betrachtung mit begriffen sind", Reden, SW VII, S. 312. Reden, SW VII, S. 346, an einer anderen Stelle spricht Fichte auch von „den neulateinischen Völkern", ebd., S. 322. Es sei daran erinnert, daß Fichte aufgrund der Zensurbedingungen, unter denen er seine Reden hält, nicht von Frankreich oder den Franzosen sprechen kann und sich auch von daher Formulierungen wie den genannten bedienen muß. Vgl. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 214 ff., Hennigfeld, Fichte und Humboldt - Zur Frage der Nationalsprache, S. 42, und Bielefeld, Nation und Gesellschaft, S. 122 f. Reden, SW VII, S. 318. Reden, SW VII, S. 319. Reden, SW VII, S. 320 f., ähnlich auch auf S. 325.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

Indem Fichte den Umkehrschluß aus seiner Sprachtheorie zieht und darauf folgert, daß diejenigen Völker, die wie die Franzosen ihre Muttersprache aufgeben, den stetigen Fluß des Übersinnlichen und Geistigen kappen und damit den Kontakt zur „unmittelbaren Naturkraft" 140 verlieren, nimmt er eine folgenreiche Differenzierung vor: er unterscheidet nicht nur zwischen „Ursprachen", zu denen er neben dem Deutschen noch das Griechische zählt141, und toten Sprachen, sondern auch - da der Weg zu dem Geist eines Volks über die Sprache führt - zwischen „Urvölkern" und Völkern, die damit vorlieb nehmen müssen, „ein Zweites zu seyn und Abgestammtes, [...] ein Anhang zum Leben"142. Der hohe Wert, den Fichte dem Ursprünglichen und Authentischen beimißt, läßt sich zum einen als ein Reflex auf die Geschichtsphilosophie der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters deuten und ihre Annahme einer instinkthaften Vernünftigkeit am Anfang der Geschichte143, bewegt sich zum anderen aber auch in einem ideengeschichtlichen Zusammenhang, der nicht nur den nationalen Diskurs des deutschen Humanismus umfaßt, sondern auch die frühromantische Sprachphilosophie. Mit den Überlegungen August Wilhelm Schlegels teilen die Reden an die deutsche Nation nämlich nicht nur die Vermutung eines ursprünglichen präreflexiven Seins, in dem Schlegel die Poesie verortet hatte, sondern insgesamt fallt an dessen ästhetischen Vorlesungen auch auf, „wie sehr es bei all diesen Gedanken um Kontinuität geht"144: „Die Sprache wird unter anderen Händen oft eine andere Gestalt annehmen"145 hatte Schlegel postuliert und stärker noch als Fichte „schon in der sinnlichen Region eine ununterbrochne Kette von Vergleichungen"146 gefordert. Wird diese Kette unterbrochen, dann sind auch für Schlegel die Folgen die von Fichte beschriebenen: der Zugang zu den Quellen des Lebendigen und Natürlichen ist versperrt, alle Originalität geht verloren und das geistige Leben bleibt an der Oberfläche. Der Bericht des Tacitus, der humanistische Diskurs um Nationenbildung und die ihm entsprungene Germania-Magna-Theorie erlauben es Fichte dann, diese zunächst allgemeinen sprachtheoretischen Annahmen auf die Deutschen als einem, wie Tacitus bestätigt, ursprünglichen Volk und auf die Franzosen als einem Volk, das seine Muttersprache aufgegeben hat, paradigmatisch zu fokussieren.

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Vgl. Reden, SW VII, S. 318. Vgl. Reden, SW VII, S. 325, mit Johannes Heinrichs darf man annehmen, daß Fichte auch das Lateinische als eine „Ursprache" ansah, vgl. Heinrichs, Nationalsprache und Sprachnation, S. 54. Die slawischen Sprachen klammert Fichte übrigens von seinen Erörterungen aus, weil sie sich „noch nicht so klar entwickelt zu haben scheinen, dass eine bestimmte Zeichnung von ihnen möglich sey", Reden, SW VII, S. 312. Reden, SW VII, S. 374. Vgl. Grundzüge, GA I, 8, S. 199. Bär, Sprachreflexion der deutschen Frühromantik, S. 124. A. W. Schlegel, Vorlesungen, S. 16. A.W. Schlegel, Vorlesungen, S. 401.

Die deutsche Ursprache

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Wiederum greift der Idealist Fichte in den Reden an die deutsche Nation zu einem empirischen Beispiel, um seinen Zuhörern diesen Gedankengang zu veranschaulichen: anhand dreier Lehnwörter im Deutschen möchte er im Kleinen zeigen, was mit „den neulateinischen Völkern"147 durch die Annahme einer fremden Sprache im Großen passiert sei. Die „drei berüchtigten Worte: Humanität, Popularität, Liberalität" seien dem gewöhnlichen Deutschen zunächst unverständlich, „ein völlig leerer Schall", der ihn „aus dem Kreise seiner Anschauung [...] vollkommen herausreisst". Er ist gezwungen, sich die Bedeutung der Begriffe erklären zu lassen, kann diesen Erklärungen aber „nur blind glauben" und wird so daran gewöhnt, „etwas für wirklich daseyend und würdig anzuerkennen", das er ansonsten „niemals des Erwähnens werthgefunden hätte". Die fremden Worte sind ihm etymologisch nicht einsichtig, darüber hinaus fehlt ihm auch der soziokulturelle Hintergrund, um etwa einen Zusammenhang zwischen „Liberalität" und der römischen Sklavenhaltergesellschaft herstellen zu können, so daß jedem Verständnis letztendlich die notwendige Tiefe und das innere Begreifen fehlen müssen. Man glaube ja nicht, wie Fichte weiter ausfuhrt, daß es sich „mit den neulateinischen Völkern" nach Aufgabe ihrer Muttersprache anders verhalten habe: „Ohne gelehrte Ergründung des Alterthums und seiner wirklichen Sprache verstehen sie die Wurzeln dieser Wörter ebensowenig, als der Deutsche." Ja schlimmer noch, denn während dem Deutschen mit Übersetzungen immerhin ein „stets fertiges Hülfsmittel" zur Verfügung steht und er sich die Bedeutung der genannten Begriffe mit „Menschenfreundlichkeit, Leutseligkeit, Edelmuth" wenigstens ansatzweise erschließen kann, steht den neulateinischen Sprachen diese Möglichkeit nicht offen und die „Unverständlichkeit" muß ihnen „natürlich und ursprünglich" bleiben. Im Kern des „vollkommenen Gegensatzes" zwischen Deutschen und Franzosen, wie Fichte ihn aus seiner Sprachtheorie herausschält, steht die Behauptung, Urvölkern sei das Lebendige und Schöpferische natürlich und Völkern zweiter Ordnung das Erstorbene und Künstlich-Oberflächliche. Die Worte einer Ursprache „in allen ihren Theilen sind Leben und schaffen Leben"148, während im inneren „Wesen des Auslandes, oder der Nichtursprünglichkeit" der Glaube an den Tod steht: „Es glaubt nothwendig an den Tod, als das Ursprüngliche und Letzte, den Grundquell aller Dinge, und mit ihnen des Lebens."149 Aus diesem Antagonismus heraus entfaltet er vor allem in der fünften, sechsten und siebten Rede ein ganzes Kaleidoskop von Gegensatzpärchen, die Deutsche und Franzosen wechselseitig charakterisieren: „Treue, Biederkeit, Ehre, Einfalt"150 sind 147

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Alle folgenden Zitate Reden, SW VII, S. 321-324, siehe dazu auch Bär, Sprachreflexion der deutschen Frühromantik, S. 254. Fichte griff damit ein populäres Thema seiner unmittelbaren Gegenwart auf, denn „zwischen 1806 und 1815 erschien eine ganze Reihe von vergleichenden Schriften über die deutsche und französische Sprache, die alle mehr oder weniger als ,Sprachgerichtshof - so der Titel einer dieser Schriften - angelegt waren", M. Jeismann, Vaterland der Feinde, S. 66. Reden, SW VII, S. 319. Reden, SW VII, S. 373 und S. 360 f. Reden, SW VII, S. 355.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

die genuinen Tugenden der Deutschen, ihnen offenbart sich der Geist „wie ein Mann dem Manne" 151 , hier wird gedacht, entschieden und gehandelt, dort nur geschwärmt und unentschieden hin- und hergeschwankt 152 . Der deutschen „Naturgemässheit" steht die „Willkürlichkeit und Künstelei" der Franzosen gegenüber, ihrem „Fleiss und Ernst" deren Neigung, alles für „ein genialisches Spiel"153 zu halten. Aufgrund seiner sprachlich-metaphysischen Wurzellosigkeit müsse alles Französische an der Oberfläche bleiben und trage nicht nur den Charakter des Verspielten und Wechselhaften, sondern lasse sich auch, so Fichte, der seiner Polemik zunehmend demagogische Züge verleiht, „sehr leicht verdrehen und zu allen Beschönigungen des menschlichen Verderbens misbrauchen" 154 . Kein Wunder, daß bei diesen Charakter- und Wesensunterschieden der beiden Völker auch die weiteren „Folgen aus der aufgestellten Verschiedenheit" 155 , die Fichte aus den jeweiligen kulturellen Systemen ableiten wird, gegensätzlicher kaum sein könnten. Dem Ausland fehlen jegliche Vitalität und Kreativität, und so gehorche etwa das französische Geschichtsverständnis „dem verborgenen und wunderlichen Gesetze eines Kreistanzes", der „nichts Neues unter der Sonne" geschehen, sondern „nur den immer wiederkehrenden Tod sich wiederholen" 156 lasse. Sein mechanistischer Staatsgedanke produziere zwar „Kunstwerke jener gesellschaftlichen Maschinenkunst", sei aber doch ein bloßes „Rechenexempel", das nur eine „feste und todte Ordnung der Dinge" 157 erzeuge. Oder könne ihm jemand, will Fichte von seinen Zuhörern wissen, einen ausländischen „Dichter, Gesetzgeber" nennen, der mehr „als nur nicht Ungleichheit, inneren Frieden, äusseren Nationalruhm und, wo es aufs Höchste getrieben wurde, häusliche Glückseligkeit vom Staate gefordert" habe? Wohl kaum, antwortet er selbst, denn sie kennen „keine höheren Bedürfhisse und keine höheren Forderungen an das Leben" als „Glück und Wohlseyn" 158 . Dieser französische Materialismus und Utilitarismus führte zwangsläufig zu Napoleon und hat damit „eine todte Natur an das Ruder der Weltregierung" 159 gesetzt. „Anders die ächt deutsche Staatskunst", die ebenfalls „Festigkeit, Sicherheit und Unabhängigkeit von der blinden und schwankenden Natur" suche, aber 151 152 153 154

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Reden, SW VII, S. 332. Vgl. Reden, SW VII, S. 332 und S. 369. Reden, SW VII, S. 337, vgl. auch ebd., S. 446. Reden, SW VII, S. 321, vgl. dazu auch Bär, Nation und Sprache, S. 218. Auch Peter Oesterreich sieht in den „Passagen gegen die französische Kultur [...] die Grenze zur Demagogie" überschritten, Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 159, ähnlich auch Ehrlich, Fichte als Redner, S. 263 f. Für Ives Radrizzani dagegen ist Fichtes „Gegensatz zwischen dem Deutschen und dem Fremden" Folge von dessen durchgängigem Denken in Dichotomien; dieser Gegensatz hat für ihn daher keinen demagogischen und auch „keinen nationalen, sondern einen philosophischen Charakter", Radrizzani, Ist Fichtes Modell des Kosmopolitismus pluralistisch?, S. 18. So die Überschrift der fünften Rede, Reden, SW VII, S. 328. Reden, SW VII, S. 367 f. Reden, SW VII, S. 363. Reden, SW VII, S. 394. Reden, SW VII, S. 375.

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keinen toten Mechanismus, kein „Ding"160, an ihren Anfang setze, sondern wisse, daß in „der Erhaltung der hergebrachten Verfassung, der Gesetze, des bürgerlichen Wohlstandes [...] gar kein rechtes eigentliches Leben und kein ursprünglicher Entschluss"161 sein könne. Statt dessen setzt sie „einen festen und gewissen Geist" an ihren Anfang, den sie aber nicht durch „Strafreden" erzeugen könne, „sondern nur durch Erziehung des noch unverdorbenen Jugendalters"162. Kurzum, ihre natürlich-ursprüngliche Lebendigkeit und Kreativität unterscheidet die Deutschen auf allen Ebenen von den Franzosen und ist dafür verantwortlich, „dass nur der Deutsche [...] wahrhaft ein Volk hat, und auf eins zu rechnen befugt ist, und dass nur er der eigentlichen und vernunftgemässen Liebe zu seiner Nation fähig ist"163. Wie nur die Griechen vor ihnen sind für Fichte, der hier ein Lieblingsthema seines Zeitalters aufgreift, die Deutschen durch ihre geistigen und philosophischen Qualitäten ausgezeichnet. Überall da, wo das Denken der „ausländischen und todtgläubigen Philosophie" nur „Stillstand, Rückgang und Cirkeltanz" erkennen kann, erblickt die deutsche Philosophie „Zeit und Ewigkeit und Unendlichkeit", „erhebt sich wirklich und durch die That ihres Denkens [...], erhebt sich zu dem unwandelbaren ,Mehr denn alle Unendlichkeit,' und findet allein in diesem das wahrhafte Seyn"164. Die Deutschen besitzen eine Ursprache, mit ihnen „spricht unmittelbar der Geist" und greift gestaltend in ihr Leben ein, die Franzosen mit ihrer „todten Sprache" dagegen müssen „historisch erlernte Kenntnisse aus einer abgestorbenen Welt sich wiederholen, und sich in eine fremde Denkart hineinversetzen"165 und bleiben doch nur, da sie ihre übersinnliche Sprachebene verloren haben, dem Sinnlichen verhaftet. Fichte gibt zu, den „ausländischen Namen" Philosophie nur ungern zu verwenden, und bevorzugt es, „da die Deutschen sich den vorlängst vorgeschlagenen deutschen Namen nicht haben gefallen lassen"166, von Geistesbildung zu sprechen, meint damit aber doch nur seine eigene, verkannte Wissenschaftslehre. Wenn er seinen Zuhörern erklärt, daß alle „Thätigkeit" ihr „Musterbild von der Wissenschaft" erhalte, und weiter ausführt, daß Gedanke und Tätigkeit, also Theorie und Praxis, jenseits der Erscheinung „dasselbe Eine absolute Leben" 167 seien, dann legt er unverhohlen die Grundgedanken seiner Wissenschaftslehre dar, die er für den Inbegriff allen geistigen Lebens hält. Schon in seiner eigentlichen Wissenschaftslehre hatte Fichte die Überlegung angestellt, daß die Nation, die über die Wissenschaftslehre verfügt, „dadurch ein entschiedenes Uebergewicht über alle andere Sprachen und Nationen erhalten" könne. Zwar gelte Philosophie „ihrem Inhalte nach für alle Vernunft", doch werde sie, so der damalige Gedanke, durch ihre 160 161 162 163 164 165 166 167

Reden, Reden, Reden, Reden, Reden, Reden, Reden, Reden,

SW SW SW SW SW SW SW SW

VII, VII, VII, VII, VII, VII, VII, VII,

S. S. S. S. S. S. S. S.

365 f. 386. 366. 377 f. 375. 332. 329. 330.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

jeweilige sprachliche Gestalt „ganz national"168. In den Reden an die deutsche Nation rückt Fichte diese Überlegung, die er damals eher beiläufig in einer Anmerkung angestellt hatte, in sein argumentatives Zentrum und läßt aus dem Zusammenhang zwischen Sprache und philosophischem System einen ontologischen Determinismus werden: dem Deutschen wird das Philosophieren geradezu „nothwendig gemacht durch Denken und Bezeichnen in einer lebendigen Sprache"169. Philosophische Ideen bekommen damit eine exkludierende Funktion, etwa da, wo in den Reden aus der „produktiven Einbildungskraft" der Wissenschaftslehre eine „Nationaleinbildungskraft"170 wird oder aus dem früheren Diktum: „was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist"171, eine Frage von Nationalität wird: „[...] so jemand nur ein wahrer Deutscher würde, so würde er nicht anders denn also philosophiren können" 172 .

2.4. Feindschaft Fichtes Ausführungen über den „vollkommenen Gegensatz" zwischen Deutschen und Franzosen folgen einer Traditionslinie von Selbst- und Fremdzuschreibungen, die mit der humanistischen Rezeption der Germania ihren Anfang nahm. Erfolgte die humanistische Umwertung des Vorwurfs zivilisatorischer Rückständigkeit zum Vorzug natürlicher Tugendhaftigkeit noch vor allem mit Blick auf Italien und Rom, so wurde im 17./18. Jahrhundert zunehmend Frankreich zum Bezugspunkt aller deutschen Bemühungen um eine nationale Identität. Nach dem Dreißigjährigen Krieg und vor dem Hintergrund einer sprachlichen und kulturellen Dominanz des Französischen im deutschen Geistes- und Kulturleben „konnte das Bild des frivolen, hinterlistigen und ungläubigen Welschen um so leichter auf die Franzosen übertragen werden, als manche Züge des französischen Selbstbildes dieser Übertragung Vorschub leisteten"173. Besonders die Kulturkritik Rousseaus gab dem deutschen Gefühl einer moralischen Überlegenheit gegenüber der höfischen Gesellschaft Frankreichs eine neue Legitimation. Spätestens ab 1760 wurde dann das deutsche Ressentiment gegenüber Frankreich immer stärker und entzündete sich vor allem an der Frage der Sprache, die zum Kristal168 169 170 171

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Begriff der Wissenschaftslehre, GA I, 2, S. 118, Anm.*. Reden, SW VII, S. 332. Reden, SW VII, S. 322. Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I, 4, S. 195, das vollständige Zitat lautet: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein todter Hausrath, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat." Reden, SW VII, S. 362, ähnlich auch, und nicht minder „berühmt", in der zwölften Rede: „[...] Charakter haben und deutsch seyn, ist ohne Zweifel gleichbedeutend [...]", ebd., S. 446. Fink, Das Bild des Nachbarvolkes, S. 488. Dem Ressentiment der Deutschen korrespondierte „noch nach 1750 in Frankreich das Bild des halbbarbarischen, grobschlächtigen Deutschen", ebd., S. 457, vgl. dazu auch Reinhardt, Primat der Innerlichkeit, S. 90 ff.

Die deutsche Ursprache

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lisationspunkt des deutschen Frühnationalismus wurde.174 Sowohl als Sprache des Adels und damit als Symbol von Feudalismus und Absolutismus als auch aufgrund seiner literarisch-philosophischen Dominanz rückte das Französische ins Visier einer breiten und öffentlichkeitswirksamen Debatte über Vaterland, Nationaltheater, Nationalliteratur und Reinhaltung der deutschen Sprache, die das aufgeklärte und patriotische Bildungsbürgertum lebhaft führte. Durch die Erfolge deutscher Literatur und Philosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ermutigt, setzten vor allem Herder und Klopstock „die vorhandenen Tendenzen des frühen Vaterlandsdiskurses fort, kollektive Identität über Differenz zu konstruieren"175, und forderten das Ende der kulturellen Hegemonie des Französischen: „Wenn Sprache das Organ unsrer Seelenkräfte, das Mittel unsrer innersten Bildung und Erziehung ist: so können wir nicht anders als in der Sprache unsres Volks und Landes gut erzogen werden; eine sogenannte Französische Erziehung, (wie man sie auch wirklich nannte) in Deutschland muß Deutsche Gemüter notwendig mißbilden und irre führen."176

Auch Fichte hatte am Beispiel der drei Begriffe „Humanität, Popularität, Liberalität" auf den gefahrlichen Einfluß von Fremdwörtern im Deutschen hingewiesen - um dann selbst aber zur „Nation" zu sprechen! - , wie er es insgesamt für „eine Grundseuche des ganzen germanischen Stammes"177 hält, alles Fremde von vornherein für vornehm und kultiviert zu halten und alles Deutsche geringzuschätzen. Und auch mit seiner Idee vom Volk als einer natürlichen Traditions- und Kulturgemeinschaft, die sich sprachlich vermittelt, bewegte er sich noch ganz auf den Bahnen, die der patriotische und frühnationale Diskurs des 18. Jahrhunderts gezogen hatte. Bis hierhin hatte er seinem Publikum tatsächlich „nicht eben ganz neue und bisher unerhörte Sätze" mitgeteilt - neu und unerhört war dann aber seine Ableitung eines „vollkommenen Gegensatzes" zwischen Deutschen und Franzosen und seine Folgerung, daß nur die Deutschen ein Volk seien und der Vaterlandsliebe fähig. An diesem Punkt lassen die Reden an die deutsche Nation Herder und das 18. Jahrhundert hinter sich und betreten eine neue Stufe nationalen Denkens, die sich durch Politisierung und Intensivierung auszeichnet. Bei allen aggressiven und fremdenfeindlichen Tönen, vor allem seiner Frühschriften, ging es Herder im wesentlichen doch um die Pluralität der Völker, die er mit dem großen Gar174

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Vgl. dazu Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 109 ff., Plessner, Die verspätete Nation, S. 96 f., und Kemiläinen, Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes, S. 106 ff. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 352. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, Werke, Bd. 7, S. 597, vgl. auch ebd., S. 687: „Die Verschiedenheit der Sprachen, Sitten, Neigungen und Lebensweisen sollte ein Riegel gegen die anmaßende Verkettung der Völker, ein Damm gegen fremde Überschwemmungen werden: denn dem Haushalter der Welt war daran gelegen, daß zur Sicherheit des Ganzen, jedes Volk und Geschlecht sein Gepräge, seinen Charakter erhielt, Völker sollten neben einander, nicht durch und über einander drückend wohnen." Vgl. zur Abwertung des Französischen durch Herder auch Fink, Das Bild des Nachbarvolkes, S. 478. Reden, SW VII, S. 336.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

ten der Natur verglich und die nur in ihrer Summe und Vielfalt die Menschheit als Ganzes ausmacht. „Der entscheidende Faktor bei dem im achtzehnten Jahrhundert wachsenden Nationalbewußtsein war die Betonung nationaler Unterschiede und der Originalität jedes einzelnen Nationalgeistes."178 Fichte dagegen interessiert sich in diesem Teil der Reden an die deutsche Nation nicht mehr, wie noch in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters, für die „Menschheit als Gattung genommen"179, es geht ihm nicht wie noch Herder um Pluralität und Vielfalt, um Unterschiede, Eigentümlichkeiten und Besonderheiten, sondern um Gegensatz, Negation und Ausschluß: Nur die Deutschen sind lebendig, nur sie verdienen die Bezeichnung „Volk", und nur der Deutsche hat Charakter und kann wahrhaft philosophieren - alle anderen Völker sind ein bloßer „Anhang zum Leben". In den Reden an die deutsche Nation kommt es zu einer Radikalisierung, „einer Steigerung und Aktualisierung des Bekannten im Lichte der neuen politischen Situation", die, wie Jörg Echternkamp weiter ausführt, alle „Sprachkritik auf den Kopf' 1 8 0 stellt und zu so absonderlichen Resultaten kommt, wie daß der Deutsche den Ausländer besser verstehen könne als dieser sich selbst181. So wichtig der Verweis auf die politische Situation, in der Fichte seine Vorträge hält, zur Erklärung seiner Radikalisierung auch ist - er allein reicht nicht aus, um diese Erklärung leisten zu können. Mindestens ebenso wichtig ist es, an den Umstand zu erinnern, daß es sich bei den Reden an die deutsche Nation nicht um eine systematische, etwa sprachkritische, Studie handelt, sondern um politische Rhetorik, und auch daran, daß das Ziel dieser Rhetorik die Erzeugung von nationaler Identität und Wir-Gefühl ist. Beiden, politischer Rhetorik im allgemeinen und nationalem Denken im besonderen, geht es nicht um Wahrheit in einem vernunftkritischen Sinn, sondern darum, zu überzeugen, zu emotionalisieren und zu begeistern.182 In den Reden an die deutsche Nation wird dies da deutlich, wo Fichte die Frage nach der deutschen Vaterlandsliebe stellt und die „Entscheidung über diese Frage 178

Kohn, Idee des Nationalismus, S. 561. Ähnlich auch Michael Jeismann über das nationale Denken Böhmes, Hamanns, Herders und Klopstocks: „Die Verschiedenheit der Volkssprachen wurde jedoch noch nicht unter qualitativen Gesichtspunkten betrachtet. Sie galten als individuelle Erscheinungen, die gerade in ihrer Vielzahl und unterschiedlichen Ausprägung das Ganze und die Einheit der Menschheit bildeten", M. Jeismann, Vaterland der Feinde, S. 65, ähnlich auch Kamenka, Herde u. Avineri, Nationalismus, S. 598. Zu den durchaus schon vorhandenen aggressiven Elementen des Vaterlandsdiskurses des 18. Jahrhunderts siehe die Studie von Hans-Martin Blitz Aus Liebe zum Vaterland.

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Grundzüge, GA I, 8, S. 198. In der neunten Vorlesung der Grundzüge hatte Fichte sogar noch ausdrücklich und wiederholt davor gewarnt, „die Entstehung der Kultur überhaupt, noch die Bevölkerung der verschiedenen Erdstriche, erklären" zu wollen, ebd., S. 299. Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 293. Bernard Willms spricht von einer „abstrusen Sprachtheorie Fichtes", Willms, Totale Freiheit, S. 149, Anm. 678, vgl. auch Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 216. Vgl. Reden SW VII, S. 326. Vgl. hier für das nationale Denken den Aufsatz von Andreas Dörner „Die symbolische Politik der Ehre".

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Die deutsche Ursprache

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keinesweges auf einer Beweisführung durch Begriffe" 183 beruhen sieht, sondern nur den inneren Beweis - Gefühl, Glaube und Überzeugung - gelten lassen will. Seinen Hörern versichert er, „[...] dass er aus unmittelbarer Erfahrung an sich selbst wisse, dass es so etwas, wie deutsche Vaterlandsliebe gebe [...]. Wer dasselbe in sich fühlt, der wird überzeugt werden; wer es nicht fühlt, kann nicht überzeugt werden, denn allein auf jene Voraussetzung stützt sich mein Beweis f...]."184

Das vereinigende Band der Nation ist ein inneres und emotionales, mit Liebe sollte der einzelne, wie Fichte ausführt, seinem Volk begegnen, mit Achtung, Vertrauen und Freude, denn erst Volk und Nation verleihen seinem Leben Sinn und Ewigkeit, „lassen Göttliches in ihm" erscheinen. Deswegen müsse er auch, „um diese zu retten [...] sogar sterben wollen, damit diese lebe, und er in ihr lebe"185. Fichte will mit seinen Vorträgen „eine einzige fortfliessende und zusammenhängende Flamme vaterländischer Denkart"186 entzünden und appelliert „durch eine Rede in der Form des kategorischen Appellativs, die gleichzeitig fasziniert, evoziert, motiviert, provoziert und mobilisiert"187, an Gefühl und Herz seiner Zuhörer. Dieser Zugriff auf den ganzen Menschen, der Versuch, das Selbstbild seiner Zuhörer im Sinne einer nationalen Identifikation umzugestalten, resultierte aus der tiefen Zäsur, die Beobachtung und Analyse des preußischfranzösischen Kriegs in seinem politischen Denken gesetzt hatten. Der Appell an Gefühl und Herz seiner Zuhörer läßt sich sowohl auf die Wahrnehmung des absoluten Rechtsund Wohlfahrtsstaats als moralisch, emotional und identifikatorisch defizitär zurückführen als auch auf das selbstkritische Eingeständnis eines lebensweltlichen Versagens der eigenen Philosophie. Als Konsequenz aus dieser Zäsur wenden sich die Reden an die deutsche Nation vom Ich des naturrechtlichen Kontraktualismus ab und dem Wir des nationalen Denkens zu, sie suchen ein neues Bindungsmittel und finden dies in der Vorstellung eines deutschen Volks, das sie als eine sprachliche und geistige, als eine innere Gemeinschaft bestimmen. Im Wesen von Bestimmungen - und damit zurück zu Fichtes Radikalisierungen - liegt es nun aber, daß sie eingrenzen und damit zugleich auch ausgrenzen, definieren heißt bekanntlich nichts anderes als Grenzen ziehen. „Von Inklusion kann man also sinnvoll nur sprechen, wenn es Exklusion gibt"188 - ein Zusammenhang, der konstitutiv ist für alle Formen nationalen Denkens: „Eine Nation konstituiert sich über Selbst- und Gegenbilder. Im Bild von dem Fremden gewinnt man ein Bild von sich selbst. Und umgekehrt: Am Selbstbild formt sich das Bild des

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Reden, SW VII, S. 399. Reden, SW VII, S. 399. Alle Zitate, Reden, SW VII, S. 383. Reden, SW VII, S. 481. Sloterdijk, Der starke Grund, zusammen zu sein, S. 40, vgl. auch Schräder, Nation, Weltbürgertum und Synthesis der Geisterwelt, S. 35, Bielefeld, Nation und Gesellschaft, S. 130, und die Arbeiten von Peter L. Oesterreich. Luhmann, Inklusion und Exklusion, S. 20.

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III. Die deutsche Nation Fichtes

Fremden. Insofern ist jedem Nationalismus immer die Abgrenzung vom Nationsfremden eigen. Das ist in der Forschung weitgehend unstrittig, ganz gleich, welchem Ansatz sie folgt." 189

Nation ist notwendig ein Differenzbegriff, sie bezieht sich, wie Ulrich Bielefeld betont, immer auf andere Nationen und „ist an diesen Plural gebunden"190. Alle Formen nationalen Denkens besitzen diese doppelte Codierung von Inklusion und Exklusion, alle wollen sie Homogenität im Inneren und klare Abgrenzung nach Außen.191 Von Anfang an entwickelten sie dazu Selbst- und Gegenbilder: „Der Schattenriß des Feindes, des anderen, des nicht Dazugehörigen machte die eigene Kultur erst sichtbar."192 Die Konstruktion eines „Wir" erfordert die Vorstellung eines „Sie", denn die Behauptung nationaler Besonderheit verlangt nach Anschaulichkeit, nach Bezugspunkten und Kontrasten. So gewann etwa Fichtes Vorstellung deutscher Natürlichkeit und Schöpferkraft ihre identifikatorische Attraktivität erst mit dem negativen Gegenbild einer künstlichen und erstorbenen französischen Kultur, das eigentlich nur abgelehnt werden kann. Schon seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten diese Mechanismen nationalen Denkens eine zunehmende Popularisierung erfahren, bevor dann Französische Revolution und napoleonische Kriege als die „strukturellen Voraussetzungen für die Ausweitung zur Massenbewegung"193 den nationalen Diskurs weiter politisierten und radikalisierten. Als Kontrast zur politisch-revolutionären Identität Frankreichs sucht Fichte - wie der deutsche Nationalismus des beginnenden 19. Jahrhunderts insgesamt194 die Identität der Deutschen ganz im Geistigen, Kulturellen und Moralischen und gibt ihnen damit „die Möglichkeit zu einer positiven Identifikation, in der ihre militärische Niederlage durch eine sprachkulturelle Überlegenheit kompensiert werden kann"195. Dazu treibt er den Zusammenhang von Eingrenzung und Ausgrenzung, von Idealisierung und Entwertung so weit, daß dem Selbstbild als Urvolk und Träger eines göttlichen Entwicklungsgesetzes die Negation und Dämonisierung Frankreichs gegenüberstehen. Infolge dieser Radikalisierung wird - und auch das ist charakteristisch fur den politischer werdenden deutschen Nationalismus - aus Abgrenzung Feindschaft, aus

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Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, S. 49, ähnlich auch auf S. 40 f., vgl. auch Lemberg, Nationalismus, Bd. 2, S. 65 ff., Reinhardt, Primat der Innerlichkeit, S. 88, und Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 522. Bielefeld, Nation und Gesellschaft, S. 19, ähnlich auch auf S. 92. Vgl. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, S. 29, und Wodak et al., Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, S. 102. M. Jeismann, Vaterland der Feinde, S. 65. Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur, S. 48, vgl. auch Dann, Nation und Nationalismus, S. 52 f., und Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 303. Vgl. Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat, S. 72, M. Jeismann, Vaterland der Feinde, S. 74, und Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 136. Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 160, vgl. auch Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, S. 198 f.

Die deutsche Ursprache

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kulturellen Differenzen werden „innere Grenzen", die ein qualitatives Gefalle von hoher Suggestivkraft markieren und den Anderen bis hin zur Demagogie entwerten. Es besteht ein systematischer Zusammenhang zwischen Selbstdefinition und der Form und Schärfe der Abgrenzung nach Außen, die Selbstzuschreibungen bedingen die Fremdzuschreibungen.196 Das entscheidende Differenzkriterium, das Fichte in den Reden an die deutsche Nation in Anschlag brachte, war die Sprache, genauer: ihre kontinuierliche Entwicklung, und den „vollkommenen Gegensatz" zwischen Deutschen und Franzosen sah er dementsprechend allein im Kulturellen und Moralischen. Die Anlage zu philosophischem Denken, Kreativität und natürliche Tugendhaftigkeit waren die wesentlichen Nationaleigenschaften, die Fichte den Deutschen zuschrieb, und es ist von daher nur folgerichtig, daß er ihre Feindschaft auch als eine abstrakte und metaphysisch-geistige versteht. Ähnlich wie sich seine Napoleon-Feindschaft ins Exemplarische und Grundsätzliche sublimiert und sich dadurch von den konkreten Tötungsphantasien der patriotischen Lyrik unterscheidet, geht es ihm auch in den Reden nicht um Blut, Boden oder Rasse und auch nicht um einen bewaffneten Aufstand: „Besiegt sind wir; ob wir nun zugleich auch verachtet und mit Recht verachtet seyn wollen, ob wir zu allem anderen Verluste auch noch die Ehre verlieren wollen: das wird noch immer von uns abhängen. Der Kampf mit den Waffen ist beschlossen; es erhebt sich, so wir es wollen, der neue Kampf der Grundsätze, der Sitten, des Charakters."197

Was hier vergleichsweise friedlich klingt, ist in Wahrheit doch eine ganz neue Stufe nationalen Denkens, die mit den Reden an die deutsche Nation erreicht wurde. Nation ist für Fichte, das ist deutlich geworden, keine Frage empirischer, etwa geographischer Unterschiede, und auch keine Frage politisch-staatlicher Verfassung, sondern eine der inneren Verfassung des Menschen. Seine Reden zielen auf das Bewußtsein ihrer Zuhörer, greifen nach dem ganzen Menschen, der Sinn und Wert nur durch das nationale Kollektiv bekommen kann. Nationale Identität ist für Fichte eine Gesinnung und durchdringt die ganze menschliche Existenz. Aus persönlichen Eigenschaften wie Grundsätzen, Sitten oder Charakter werden in den Reden an die deutsche Nation Nationaleigenschaften und damit politische Qualitäten und Kampfbegriffe. Dem politischenrevolutionären Nationsgedanken stellen Fichte wie weite Teile des damaligen deutschen Nationalismus die Nation als eine geistig-moralische Kategorie gegenüber198, die sich durch ihren Appell an Herz und Gefühl aber jeder Rationalität entzieht. Nationale Identität erhält dann eine existentielle Qualität, sie wird, wie Fichte immer wieder betont, zu 196

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Vgl. dazu die grundsätzlichen Überlegungen, die Reinhart Koselleck in seinem Aufsatz „Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe" anstellt, siehe auch M. Jeismann, Vaterland der Feinde, S. 16 f., und Bielefeld, Nation und Gesellschaft, S. 20 ff. Reden, SW VII, S. 470, ähnlich auch in der achten Rede: „Nicht die Gewalt der Arme, noch die Tüchtigkeit der Waffen, sondern die Kraft des Gemüthes ist es, welche Siege erkämpft", ebd., S. 390. Vgl. M. Jeismann, Vaterland der Feinde, S. 74, Dörner, Symbolische Politik der Ehre, S. 79, Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 136, und Kemiläinen, Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes, S. 208.

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III. Die deutsche Nation

Fichtes

einer Frage von Leben und Tod und nähert sich damit einem religiösen oder auch ideologischen Denken, das Glauben, blinde Gefolgschaft, ja sogar die Bereitschaft zum Tod fürs Vaterland verlangt. Die verbreitete Konstruktion des deutschen Volks als einer geistigen Gemeinschaft, die, wie bei Fichte, von inneren unsichtbaren Banden zusammengehalten wird und die rechtliche Problematik gänzlich mißachtet, konnte in der Folge dann „sehr leicht in Irrationalismus, Mystik, Irredentismus und Rassismus abgleiten, die ihre Rechtfertigung nicht in rationalen politischen Konstruktionen, sondern in ursprünglichen mystischen Banden suchten"199.

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Kamenka, Herde u. Avineri, Nationalismus, S. 610, in der Mißachtung der Rechtsproblematik erkennt Hansjürgen Verweyen den „prinzipiellen Fehler" von Fichtes Reden, vgl. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 243, siehe dazu auch Kiss, Anmerkungen zu Fichtes Begriff der Nation, S. 195.

IV. Die Geschichte der Deutschen

Wie erklärt sich, daß der geistig-moralische Superioritätsanspruch, den Fichte für die Deutschen erhebt, nicht eingelöst wird? Wie, daß die so hoch veranlagte deutsche Nation der erstorbenen französischen nichts entgegenzusetzen hatte und nun sogar „abgewickelt [wird] durch die fremde Gewalt, [und] seine Jahre nach den Begebenheiten und Abschnitten fremder Völkerschaften und Reiche"1 zählen muß? Fichte greift diese Fragen in seiner siebten Rede auf und möchte sich offen auf „den möglichen Einwurf einlassen, dass, wenn dies deutsche Eigenthümlichkeit sey, man werde bekennen müssen, dass dermalen unter den Deutschen selber wenig Deutsches mehr übrig sey"2. Bislang habe er, wie er seinen Zuhörern gesteht, gezeigt, „was der Deutsche an und für sich, unabhängig von dem Schicksale, das ihn dermalen betroffen hat, in seinem Grundzuge sey"3, muß aber nun einräumen, daß es in der deutschen Geschichte immer wieder auch Phasen gegeben habe, in denen „das Urvolk fast ganz mit dem Auslande verflossen" sei, und daß „gerade jetzt Deutschland" sich in einem solchen „Zustande des blossen Angeregtseyns"4 befinde. Fichte unterscheidet also zwischen Zeiten der Latenz und Zeiten der Aktivität, zwischen Potential und Potenz und sieht die deutsche Nation gegenwärtig in einem Wellental ihrer schöpferischen Möglichkeiten angelangt, in dem sie ganz unter dem Einfluß französischen Denkens als der Leitkultur des dritten Weltzeitalters steht. Gerade der Umstand aber, daß die Deutschen dem Glauben „an die grössere Vornehmigkeit des romanisirten Auslandes, nebst der Sucht, ebenso vornehm zu thun", verfallen sind, gibt Fichte zugleich auch die Möglichkeit, ihr Unglück auf genau diesen verhängnisvollen Einfluß zurückzuführen: „Alle die Uebel, an denen wir jetzt zu Grunde gegangen, [sind] ausländischen Ursprungs"5. Er führt damit den absoluten Staat und den Egoismus, der an seinem Anfang stand, ganz auf die Dominanz der materialistischen und atheistischen Philosophie Frankreichs zurück und kann dann den Untergang der deutschen Nation dadurch erklären, daß sie auf politischen Grundlagen -

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Reden, SW VII, S. 265. Reden, SW VII, S. 359. Reden, SW VII, S. 311. Reden, SW VII, S. 359 f. Alle Zitate Reden, SW VII, S. 337.

IV. Die Geschichte der Deutschen

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einem System des Zwangs und der Selbstsucht - stand, die ihrem eigentlichen Wesen völlig unangemessen seien: „Es ist jedoch hierbei zur Ehre deutschen Geblütes und Gemüthes anzumerken, dass so gute Künstler wir auch in der blossen Lehre dieser Zwangsberechnungen seyn mochten, wir dennoch, wenn es zur Ausübung kam, durch das dunkle Gefühl, es müsse nicht also seyn, gar sehr gehemmt wurden, und in diesem Stücke gegen das Ausland zurückblieben."6

In diesem Sinn hofft Fichte nun, nachdem „die Täuschungen, die Blendwerke, der falsche Trost" zusammengestürzt sind, auf eine heilsame Wirkung der Niederlage und läßt noch einmal die beschwörende Kairos-Rhetorik seiner ersten Rede anklingen: „Jetzt stehen wir da, rein, leer, ausgezogen von allen fremden Hüllen und Umhängen, bloss als das, was wir selbst sind. Jetzt muss es sich zeigen, was dieses Selbst ist, oder nicht ist."7 Was dieses wahre Selbst der Deutschen sei, möchte Fichte seinem Publikum durch einen Exkurs in die deutsche Geschichte vor Augen fuhren und wählt dazu zwei Epochen aus, die die Deutschen im Zustand der Aktivität und der Potenz zeigen: zum einen der Kampf der alten Germanen gegen Rom und zum anderen die Kirchenreformation Martin Luthers.

1. Germanen und Protestanten Wie schon ausgeführt wurde, gehörte es seit dem deutschen Humanismus zu den Traditionsbeständen nationalen Denkens, die Suche nach einer Identität der Deutschen bei den alten Germanen einsetzen zu lassen, wie Tacitus sie beschrieben hatte. Kennzeichnend für diese Tradition ist zum einen die Umwertung der rohen und wilden Germanen zu unverdorbenen und tugendhaften Vorfahren der heutigen Deutschen und zum anderen der notwendige Kontrast zur dekadenten Kultur Roms, später dann Italiens und Frankreichs. Insgesamt fallt auf, „[...] daß die Beschäftigung mit den Germanen von allem Anfang beherrscht ist von einem bestimmten Vorstellungsschema. Es ist ein Denken in Antithesen, ein Denken, das den Germanen nicht ohne den Gegentyp des Römers erfassen kann [...]. Die Besonderheit in der Ausbildung des Germanenbildes liegt nun darin, daß die historischen Konstellationen der folgenden Jahrhunderte dieses antithetische Vorstellungsschema auf die verschiedenste Weise immer wieder von neuem zu aktualisieren vermochten."8

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Reden, SW VII, S. 365. Allerdings widerspricht Fichte sich hier selbst, denn nur kurz zuvor hatte er noch behauptet: „Das Ausland hat vielfältig diesen Grundsatz ausgesprochen, und Kunstwerke jener gesellschaftlichen Maschinenkunst geliefert; das Mutterland hat die Lehre angenommen, und die Anwendung derselben zu Hervorbringung gesellschaftlicher Maschinen weiter bearbeitet, auch hier, wie immer, umfassender, tiefer, wahrer, seine Muster bei weitem übertreffend", ebd., S. 363. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 484. See, Deutsche Germanen-Ideologie, S. 9 f., vgl. auch Reinhardt, Primat der Innerlichkeit, S. 92.

Germanen und Protestanten

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Auch die politische Konstellation, aus der heraus Johann Gottlieb Fichte seine Reden an die deutsche Nation hielt, bot in vielerlei Hinsicht Gelegenheit, den antiken germanischrömischen Konflikt als einen deutsch-französischen zu aktualisieren, wie die zahlreichen Hermann-Dramen der patriotischen Literatur von Klopstock bis Kleist belegen.9 Bei Fichte wird diese Aktualisierung da am deutlichsten, wo er sich gegen das französisch-revolutionäre Sendungsbewußtsein und den napoleonischen Hegemonieanspruch wendet und, unter Umgehung der preußischen und der französischen Zensur, germanische Vergangenheit und deutsche Gegenwart in eins setzt: „Doch was spreche ich länger aus, was beinahe vor zweitausend Jahren mit vieler Genauigkeit ζ. B. in den Geschichtsbüchern des Tacitus ausgesprochen worden ist? Jene Ansicht der Römer von dem Verhältnisse der bekriegten Barbaren gegen sie, [...] dass es verbrecherische Rebellion und Auflehnung gegen göttliche und menschliche Gesetze sey, ihnen Widerstand zu leisten, und dass ihre Waffen den Völkern nichts Anderes zu bringen vermöchten, denn Segen, und ihre Ketten nichts Anderes, denn Ehre - diese Ansicht ist es, die man in diesen Tagen von uns gewonnen [...] hat."10

Ausschlaggebend für die Umdeutung der Germania durch den deutschen Humanismus war der selbstbewußte Vorwurf italienischer Humanisten gewesen, die germanischen Barbaren seien durch Rom erst kultiviert und missioniert worden. Gegen diesen zivilisatorischen Superioritätsanspruch verwiesen die deutschen Humanisten auf die Ursprünglichkeit und natürliche Sittlichkeit der alten Germanen, die sie für die Segnungen der christlichen Religion erst empfänglich und bereit gemacht hätten, und verkehrten damit die Schilderungen des Tacitus in ihr Gegenteil, die ja vor allem die kriegerischen und kämpferischen Tugenden der Germanen gelobt hatten.11 Auch Fichte weist jeden westlichen Superioritätsanspruch - damals wie heute - zurück und entlarvt ihn als Imperialismus, der viel von „Segen" und „Ehre", von göttlichem und menschlichem Gesetz rede, aber doch nur „Waffen" und „Ketten" bringe. Während es den Römern in Wahrheit also um „Herrschsucht [und die] Unterjochung selbstständiger Völker"12 ging, kämpften die alten Germanen fur Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, denn für sie verstand es sich noch von selbst, „[...] dass ein wahrhafter Deutscher nur könne leben wollen, um eben Deutscher zu seyn und zu bleiben, und die Seinigen zu eben solchen zu bilden"13. Dieser Freiheitsdrang ließ die

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Die Hermannsschlacht wurde zu dem mit Abstand beliebtesten historischen Zitat in der nationalen Dichtung der Zeit der Befreiungskriege, vgl. M. Jeismann, Vaterland der Feinde, S. 60, zu den Germanen und zu Tacitus in der philosophischen Literatur siehe Losurdo, Hegel und das deutsche Erbe, S. 41 ff. Reden, SW VII, S. 473. Dazu Münkler, Grünberger u. Mayer, Nationenbildung, S. 217. Reden, SW VII, S. 391. Reden, SW VII, S. 389. Im vollen Zusammenhang lautet das Zitat: „Freiheit war ihnen, dass sie eben Deutsche blieben, dass sie fortfuhren, ihre Angelegenheiten selbstständig und ursprünglich, ihrem eigenen Geiste gemäss, zu entscheiden, und diesem gleichfalls gemäss auch in ihrer Fortbildung vorwärts zu rücken, und dass sie diese Selbstständigkeit auch auf ihre Nachkommen-

IV. Die Geschichte der Deutschen

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damaligen Deutschen, im Unterschied zu den späteren Franzosen, den Verheißungen und Verlockungen der römischen Kultur widerstehen, deren Wert sie ja durchaus erkannten, deren Preis sie aber nicht bezahlen wollten: „Sklaverei hiessen ihnen alle jene Segnungen, die ihnen die Römer antrugen, weil sie dabei etwas Anderes, denn Deutsche, weil sie halbe Römer werden müssten."14 Es ist deutlich geworden, wie viel Nachdruck Fichte auf die Feststellung legt, schon die Germanen seien Deutsche gewesen, hätten sich als solche gefühlt und allein für ihre nationale Unabhängigkeit gekämpft. Fichte erreicht damit zweierlei: zum einen erhält die Nation gerade durch ihre Verlängerung in die geschichtliche Vorzeit eine ahistorische, überzeitliche, gleichsam ewige Qualität und zum anderen soll die Erinnerung an den erfolgreichen Kampf der Germanen gegen Rom den gegenwärtigen Deutschen Mut und Hoffnung in ihrer vermeintlich trostlosen Situation geben. Bei aller zivilisatorischen und militärischen Rückständigkeit nämlich hätten die Germanen das übermächtige Rom schließlich besiegen können, weil sie für höhere Werte, für Freiheit und Vaterland, kämpften und „das Ewige sie begeisterte" - denn in der „Weltgeschichte", erklärt Fichte seinem Publikum, „siegt immer und nothwendig diese Begeisterung über den, der nicht begeistert ist"15. Dabei geht es Fichte nicht um das Kriegserlebnis als solches, er versteht die germanische Begeisterung nicht wie Tacitus als rohe Kampfeslust, sondern als Ausdruck von Idealismus und Freiheitsliebe. All das, was er als Nationaleigenschaften der Deutschen beschrieben hatte - Geistigkeit, Kreativität und Tugendhaftigkeit - , in seiner Gegenwart aber nur keimhaft und als Wechsel auf die Zukunft erkennen konnte, findet er in voller Ursprünglichkeit und Tatkraft bei den alten Germanen, die ihm als Vorbild und als „Stammvolk der neuen Bildung"16 gelten. Mit ihrem Deutschsein haben die Germanen auch all die schöpferischen und geistig-metaphysischen Qualitäten verteidigt, die ihnen als einem Urvolk zukommen, so daß Fichte ihrem Kampf gegen Rom eine menschheitsgeschichtliche Bedeutung beimessen kann: „Wäre es den Römern gelungen, auch sie zu unteijochen, und [...] als Nation auszurotten, so hätte die ganze Fortentwicklung der Menschheit eine andere, und man kann nicht glauben erfreulichere Richtung genomm

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men. Das Ereignis, auf das die Menschheit bei einer Niederlage der Germanen hätte verzichten müssen, ist die Reformation, auf die Fichte so eindringlich als Sternstunde der deutschen Geschichte verweist, daß nach seinen Reden an die deutsche Nation „die Rückdatierung der Geburt der deutschen nationalen Bewegung auf die Luthersche

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schaft fortpflanzten. [...] Es verstehe sich von selbst, setzten sie voraus, [...] dass ein wahrhafter Deutscher nur könne leben wollen, um eben Deutscher zu seyn und zu bleiben, und die Seinigen zu eben solchen zu bilden." Reden, SW VII, S. 389. Reden, SW VII, S. 390. Reden, SW VII, S. 388. Reden, SW VII, S. 390.

Germanen und

Protestanten

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Reformation charakteristisch werden"18 sollte. Wiederum ist es das Element der Begeisterung fur höhere Werte, für den „Himmel [...] und die ewige Seligkeit"19, das die Deutschen trägt und sie erneut einen übermächtigen Gegner allein durch ihre Glaubenskraft besiegen läßt: „Wo da wirklich regiert worden ist, wo bestanden worden sind ernsthafte Kämpfe, wo der Sieg errungen worden ist gegen gewaltigen Widerstand, da ist es jene Verheissung ewigen Lebens gewesen, die da regierte und kämpfte und siegte. Im Glauben an diese Verheissung kämpften die [...] deutschen Protestanten."20

Obwohl die Kirchenreformation, die ja durchaus als eine Volksbewegung begann, durch die konfessionelle Spaltung und die vielen Konflikte und Vertreibungen in ihrer Folge eine deutsche Nationsbildung aber eher hemmte als forderte21, rückt Fichte sie in das Zentrum seiner Bemühungen um eine nationale Identität und löste damit schon bei seinem Rezensenten Jean Paul einige Verwunderung aus: „Unserer fortlebendigen Stammsprache schreibt Fichte den Religionsernst und Eifer des Protestantismus zu; wem aber alsdann den Catholicismus und die Religionskriege des SüdDeutschlands? Und wem auf der andern Seite beydes in Frankreich samt den Hugenotten?"22

Fichte übergeht Einwände wie diesen mit leichter Hand und feiert die Reformation als eine „Weltthat des deutschen Volkes"23 und gibt damit zu verstehen, daß er sie keineswegs für ein partikularisierendes und separierendes Ereignis hält. Ein kurzer Exkurs in die Weltgeschichte soll diesen Zusammenhang veranschaulichen: Fichte zeigt, wie das aus der Antike überlieferte Christentum zum „Mittelpunct neurömischer Bildung" wurde, dort aber von dem neurömischen Charakter, dem ja Tiefe und Lebendigkeit fehlen, „nur zu einer Verstandeseinsicht ausgebildet [wurde], ohne das Leben zu ergreifen und anders zu gestalten". Dieser degenerierte Zustand erregte schließlich den Mißmut von Martin Luther, der sich, getrieben von der „Angst um das ewige Heil", daran machte, das Christentum von den Irrwegen der kanonischen Streitigkeiten und des Papismus auf seinen eigentlichen Kern zurückzuführen, der „Frage: was sollen wir thun, damit wir selig werden?" 24 Der sittlich-religiöse Geist der Deutschen und ihr Sinn für die wahren Dinge des Lebens bedurfte nur eines geeigneten Führers wie Luther, um sich schnell zu jener Begeisterungsfähigkeit und zu jenem Freiheitsdrang zu erheben, mit denen schon die alten Germanen Rom besiegt hatten und mit denen nun die christliche Religion erneuert wurde.

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23 24

Kallscheuer u. Leggewie, Deutsche Kulturnation versus französische Staatsnation?, S. 119. Reden, SW VII, S. 388. Reden, SW VII, S. 387. Vgl. Dann, Nation und Nationalismus, S. 32 ff. Jean Paul, Rezension der Reden an die deutsche Nation für die Heidelbergischen Jahrbücher der Literatur, in: J. G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen, Bd. 4, S. 372. Reden, SW VII, S. 344. Alle Zitate Reden, SW VII, S. 346 f.

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IV. Die Geschichte der

Deutschen

Mit seinem Bild von Luther als dem Befreier von mittelalterlichem Dogmatismus, von Orthodoxie und Tradition und als dem Vorkämpfer für Freiheit, Toleranz und Geistigkeit folgt Fichte der Luther-Rezeption der deutschen Aufklärung, die den Reformator in diesem Sinne in ihr optimistisches Geschichtsverständnis integriert hatte.25 Er interessiert sich für Martin Luther, dessen eigentliche Theologie er in seinen religionsphilosophischen Arbeiten gar nicht zur Kenntnis nimmt, allein unter diesem Aspekt der geistigen Befreiung, der zum zentralen Motiv seiner Geschichte der deutschen Nation wird: so wie die Germanen ihre natürliche Freiheit gegen die römische Sklavenhaltergesellschaft behauptet hatten, errangen die deutschen Protestanten unter Luthers Führung ihre innere Freiheit gegenüber der päpstlich-kanonischen Autorität. Pointe von Fichtes geschichtlichen Ausführungen ist es, die Reformation unter diesem Aspekt der geistigen Befreiung als ein Geschenk der deutschen Protestanten an die ganze Nation und von da aus an die gesamte Menschheit zu verstehen und damit alle Hinweise auf die Kirchenspaltung und die zahlreichen Unruhen infolge der Reformation beiseitezuschieben26. In zweierlei Hinsicht nämlich konnten selbst die Gegner der Reformation Nutzen aus dieser „Weltthat" ziehen: zum einen unterwarf die Reformation auch den Katholizismus einem Erneuerungsprozeß, weil es ihn „zu neuer Prüfung, Umdeutung, Befestigung der alten Lehre"27 veranlaßte, und zum andern, und vor allem, setzte sie das philosophische Denken wieder frei. Diese Saat der deutschen Reformation fiel vor allem im Ausland, wo der Umgang mit dem Denken ja ein eher spielerischer ist und die Philosophie sich „ohne die Fessel eines Glaubens an Uebersinnliches" schnell in luftige Höhen erhebt, auf fruchtbaren Boden und regte so entscheidend die französische Aufklärung an - ein durchaus ambivalenter Vorgang: „[...] so kam es denn, dass, sowie dieses Alles vollkommen ins Reine gebracht wurde, im Auslande die Benennung des Philosophen und die des Irreligiösen und Gottesläugners gleichbedeutend wurden, und zu gleicher ehrenvoller Auszeichnung gereichten."28

In Übereinstimmimg mit den Berliner Vorlesungen von August Wilhelm Schlegel, für den die Reformation „schon die Aufklärung im Keime selbst war"29, interessiert sich

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Zur Rezeption Luthers in der Aufklärung siehe Lohse, Luther, S. 220 ff., Becker, Reformation und Revolution, S. 11 ff., und Nipperdey, Luther und die moderne Welt, S. 36 ff. In einer kurzen Passage geht Fichte auf die Kirchenspaltung ein, führt sie aber nicht auf die Reformation selbst, sondern auf die geschickte Machtpolitik des Auslands zurück: „Das Ausland war es, welches zuerst der über Religionsstreitigkeiten entstandenen Entzweiung der Gemüther in Deutschland sich bediente, um diesen Inbegriff des gesammten christlichen Europa im Kleinen aus der innig verwachsenen Einheit ebenso in abgesonderte und für sich bestehende Teile künstlich zu zertrennen [...]", Reden, SW VII, S. 463. Reden, SW VII, S. 351, vgl. auch S. 388. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 352. A. W. Schlegel, Vorlesungen, S. 532. Schlegel würdigt zwar auch die Reformation wegen „ihrer heroischen Wahrheitsliebe", zeichnet aber insgesamt ein weitaus differenzierteres und, durchaus typisch für das romantische Geschichtsverständnis, kritischeres Bild ihrer Wirkungsgeschichte als

Germanen und Protestanten

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Fichte nur für die emanzipatorischen Impulse, die von der Reformation ausgingen, und sieht darin bestätigt, was er zuvor abstrakt über den deutschen und den französischen Nationalcharakter ausgeführt hatte. Während die Deutschen nämlich diese freiheitlichen Impulse zu einer Wiederbelebung philosophischen Denkens nutzten, indem sie das Übersinnliche in der Vernunft selbst suchten und „das freie Denken zur Quelle unabhängiger Wahrheit" 30 machten, verkamen sie ohne das Element „deutscher Andacht und Tiefe des Gemüths" 31 im Ausland schnell zu Atheismus, Materialismus, Egoismus und Formalismus, die Fichte ja wiederholt als Leitkultur des dritten Weltzeitalters beschrieben hatte. Und so führte der deutsche Weg zu einer Philosophie der Freiheit und der Vernunft, die mit Leibniz und Kant erste Höhepunkte und mit der Transzendentalphilosophie der Wissenschaftslehre ihre Vollendung fand 32 , wohingegen die französische Entwicklung zunächst zur Aufklärung, dann aber zur Revolution und von da schließlich zum napoleonischen Imperialismus geführt hatte, mit dem sie ihren Tiefpunkt erreichte: unter französischer Regie standen wieder Zwang und Unterdrückung am Ende einer Entwicklung, die doch als eine freiheitliche begonnen hatte. Die gelungene Reformation als Zeugnis deutscher Reife im Kontrast zur entgleisten Revolution der Franzosen war eine populäre Denkfigur der Jahrhundertwende und diente als Beleg für die unter deutschen Intellektuellen, etwa bei Schiller, Novalis oder Hegel, verbreitete Überzeugung, daß alle Veränderungen, auch staatlich-politische, bei den moralisch-sittlichen Überzeugungen der Menschen und nicht bei Fragen der Konstitution oder der Gesetzgebung einzusetzen haben. 33 Das Diktum Schillers, daß „der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden" 34 , oder die Beobachtung von

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Fichte: „Die protestantisch gewordnen Länder erlitten durch sie anfangs einen großen Rückschritt in eine barbarische Controverszeit; die nachherigen Fortschritte in den Wissenschaften waren mehr indirecte Wirkung. In den katholisch gebliebnen Ländern erfolgte ebenfalls eine Hemmung und Stillstand der schon so blühenden Bildung, indem die um ihre Existenz kämpfende Kirche illiberal und argwöhnisch ward", ebd., S. 532 f. Reden, SW VII, S. 353, vgl. auch ebd., S. 354. Reden, SW VII, S. 352. Vgl. Reden, SW VII, S. 353, am deutlichsten hat Fichte sein Selbstverständnis als Vollender der Kantischen Philosophie wohl im zweiten Gespräch über den Patriotismus, und sein Gegentheil formuliert: Kants „Princip aber zu durchdringen, und daßelbe zum Mittel reiner Wahrheit und Klarheit zu machen, ist, unter allen Lebenden, einzig dem Verfaßer der Wißenschaftslehre verliehen worden", Patriotismus, GA II, 9, S. 422. So hieß es etwa in Hegels Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften : „Es ist nur für eine Torheit neuerer Zeit zu achten, ein System verdorbener Sittlichkeit, deren Staatsverfassung und Gesetzgebung, ohne Veränderung der Religion umzuändern, eine Revolution ohne Reformation gemacht zu haben [...]", Hegel, Werke, Bd. 10, S. 360. Vgl. zu dieser Denkfigur Kurzke, Romantik und Konservatismus, S. 234 ff., Losurdo, Hegel und das deutsche Erbe, S. 46, und Winkler, Der lange Weg nach Westen, S. 43. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 280 (8. Brief). Konkret ging es Schiller bekanntlich um die Schönheit, über die er ausführt, „daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert", ebd., S. 260 (2. Brief).

IV. Die Geschichte der Deutschen

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Novalis, daß man die wahre Republik nicht an „Primair- und Wahlversammlungen, Direktorium und Räthe[n], Munizipalitäten und Freiheitsbäumefn]"35, sondern an Geist und Herz erkenne, spielten auch für die Reden an die deutsche Nation eine große Rolle, die ja bei der moralischen und identifikatorischen Mängelliste des aufgeklärten Rechtsund Wohlfahrtsstaats ihren Ausgang genommen hatten und an Gefühl und Herz ihrer Zuhörer appellierten. Allerdings nimmt Fichte seinen Streifzug durch die deutsche Geschichte, der auch bei ihm zur Kontrastierung von Reformation und Revolution geführt hatte, nicht, wie man erwarten könnte, zum Anlaß für eine weitere Dämonisierung Frankreichs, sondern stellt das Moment der „Weltthat" in den Mittelpunkt seiner weiteren Ausführungen, also das Geschenk der geistigen Befreiung, das die Deutschen der Menschheit gemacht haben. Diese deutsche Revolution des Geistes benötigt aber, und das ist seine eigentliche Lehre aus der Geschichte, eine Allianz von Deutschen und Franzosen, um erfolgreich und dauerhaft sein zu können.

1.1. Die deutsche Nation als „Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt" Im Kampf für Freiheit, für äußere und für geistige, erkennt Fichte also das „wahre Selbst" der deutschen Nation und einen „Beleg von der Weise, wie Deutschland auf das übrige Europa immer zurückgewirkt hat"36. Vor dem Hintergrund seines Volksbegriffs und seiner Bestimmung der Deutschen als einer inneren und geistigen Gemeinschaft kam es zunächst nicht überraschend, daß Fichte auch die Geschichte der deutschen Nation unter den ideellen Aspekten von Freiheit und Geist betrachtet hat - überraschen aber muß dagegen, daß er, anders als bei den sprachlich vermittelten Nationalcharakteren, im Geschichtlichen keinen Gegensatz, sondern ein fast schon symbiotisches Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen postuliert. Die Frage, warum die so hoch veranlagte deutsche Nation ihren Möglichkeiten derzeit nicht gerecht werde, hatte Fichte mit der Unterscheidung von Latenz und Aktivität, von Potential und Potenz beantwortet und den gegenwärtigen Zustand als den eines „blossen Angeregtseyns" beschrieben. Es ist nun dieses Moment der Anregung, das im Kern von Fichtes deutschfranzösischer Symbiose steht und unter dem er seine Darstellung der nationalen Geschichte subsumiert: „Das war im Ganzen das Verhältniss des Urvolkes der neuen Welt zum Fortgange der Bildung dieser Welt, dass das erstere durch unvollständige und auf der Oberfläche verbleibende Bestrebungen des Auslandes erst angeregt werde zu tieferen, aus seiner eigenen Mitte herauszuentwickelnden Schöpfungen."37

35 36 37

Novalis, Glauben und Liebe, Werke, S. 494 (Nr. 23). Reden, SW VII, S. 351. Reden, SW VII, S. 359.

Germanen und Protestanten

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Was auf den ersten Blick nur den aus den Nationalcharakteren abgeleiteten Gegensatz von deutscher Tiefe und Schöpferkraft und französischer Oberflächlichkeit zu wiederholen scheint, erweist sich doch als ein neuer Gedanke, den Fichte in seinen Vergleich der beiden Nationen einführt. Da nämlich Anregung notwendig ein wechselseitiges Verhältnis ist, bedarf die deutsche Nation, wie vor allem die fünfte Rede hervorhebt, der französischen, um überhaupt erst schöpferisch werden zu können. Am Beispiel des kulturellen Erbes der Antike, das über die „neulateinischen Völker" zu den Deutschen kam, erläutert Fichte den Gang seiner Überlegungen: „In dieser neuen Ordnung der Dinge wird das Mutterland nicht eigentlich erfinden, sondern im kleinsten, wie im grössten, wird es immer bekennen müssen, dass es durch irgend einen Wink des Auslandes angeregt worden, welches Ausland selbst wieder angeregt wurde durch die Alten; aber das Mutterland wird ernsthaft nehmen und ins Leben einführen, was dort nur ohnehin und flüchtig entworfen wurde."38

Die alten Germanen entfesselten ihren Freiheitsdrang und griffen über ihre angestammten Grenzen erst hinaus, als das römische Imperium ihre Unabhängigkeit und ihre Besonderheit als Urvolk bedrohte, erst als Papsttum und Katholizismus so weit degeneriert waren, daß um den Fortbestand des Christentums gefürchtet werden mußte, erhoben sich die deutschen Protestanten, um Glauben und Religion zu erneuern, und nun, wo die Irrwege der Aufklärung und das Scheitern der Französischen Revolution zu einem neuen freiheitsfeindlichen Imperialismus - in den Ambivalenzen von Fichtes Napoleon-Bild, der „negative greatness", hatte sich dieses Geschichtsverständnis der Reden schon angekündigt - geführt haben, ist es für Fichte erneut an der Zeit, die deutsche Nation zum Wohle der gesamten Menschheit wieder zurückzubringen „von der falschen Richtung, die sie ergriffen" 39 hat. Die Deutschen werden also erst aktiv, wenn sie durch äußere Mißstände dazu angeregt werden, und sind infolge dieser Dialektik von Ursache und Wirkung, von, wenn man so will, Krankheit und Heilung, notwendig auf das Ausland, d. h. auf Frankreich, als äußerem Impuls angewiesen: „In dieser Verwandlung, die das Ausland selbst ihm zu geben niemals vermocht hätte, erhält nun dieses es von ihnen zurück, und vermittelst dieses Durchganges allein wird eine Fortbildung des Menschengeschlechts auf der Bahn des Alterthums, eine Vereinigung der beiden Haupthälften, und ein regelmässiger Fortfluss der menschlichen Entwickelung möglich."

Das bedeutet aber: „Beide Theile der gemeinsamen Nation blieben auf diese Weise Eins, und nur in dieser Trennung und Einheit zugleich sind sie Pfropfreis auf dem Stamme der alterthümlichen Bildung [,..]."40

Hatte die Betrachtung der beiden Volkscharaktere einen „vollkommenen Gegensatz" zwischen Deutschen und Franzosen diagnostiziert, der sich im Verlauf der Reden an die 38 39 40

Reden, SW VII, S. 341. Reden, SW VII, S. 358. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 341 (Hervorh. d. Verf.).

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IV. Die Geschichte der Deutschen

deutsche Nation zur Dämonisierung Frankreichs und zu einem „Kampf der Grundsätze, der Sitten, des Charakters" steigerte, spricht die geschichtliche Reflexion nun nicht mehr von Kampf und Gegensatz, sondern von einer „Vereinigung der beiden Haupthälften" und gar von einer „gemeinsamen Nation" der Deutschen und Franzosen, die trotz ihrer so unterschiedlichen Sprachentwicklung „auf diese Weise Eins" geblieben seien. Die anderen Völker sind hier nicht mehr bloßer „Anhang zum Leben", sondern gleichberechtigt und notwendige Voraussetzung deutscher Inspiration und Schöpferkraft. Denn nur wenn „beide Theile, jeder sich selbst und den anderen, erkennen, und denselben gemäss einander benutzen", kann das Ziel „allseitiger und vollständiger Bildung des Ganzen einen guten Fortgang haben" 41 . Hier artikuliert sich nicht mehr ein exkludierender Nationenbegriff, der mit Fremd- und Feindbildern arbeitet, mit Negationen und Dämonisierungen, sondern ein integrativer Nationalismus, der von Frieden, Toleranz und Vielfalt spricht. Zwei Denkfiguren des zeitgenössischen Diskurses fließen hier in die Reden an die deutsche Nation ein und bestimmen ihr Verständnis von Geschichte und der Rolle der Deutschen in Europa: zum einen die sogenannte „Lehrmeisterthese" (I) und zum anderen das Ideal eines geistigen Reichs der Deutschen als Garant einer europäischen Friedensordnung (II).

1.2. Die Lehrmeisterthese und das Reich als Ideal I. Wie oben beschrieben, entwickelte sich infolge der europäischen Bedeutung, die deutsche Literatur und Philosophie im 18. Jahrhundert erlangten, ein patriotisches Selbstbewußtsein des aufgeklärten Bürgertums, das das tiefe Unterlegenheitsgefiihl gegenüber französischer Kultur und Sprache allmählich zu kompensieren begann, sich dann aber zunehmend und nach der militärischen Niederlage gegen das napoleonische Frankreich immer schneller in einen geistig-moralischen Superioritätsanspruch verwandelte. Die Betonung nationaler Eigenart schlug um in die Hervorhebung geistiger Überlegenheit: „Bezeichnend fur die Periode des kulturellen Aufschwungs war die Lehrmeisterthese, d. h. man wollte die Deutschen als Lehrmeister im Bereich der Kunst und Wissenschaft bezeichnen." 42 Vor allem für Schiller und Humboldt, aber auch für die Frühromantik, spielte, wie Aira Kemiläinen zeigen konnte, die Vorstellung einer geistig-künstlerischen Sendung der Deutschen eine große Rolle, die meist mit der Vortrefflichkeit der deutschen Sprache begründet wurde:

41 42

Reden, SW VII, S. 341. Kemiläinen, Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes, S. 221, vgl. auch Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, S. 161.

Germanen und Protestanten

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„Das köstliche Gut der deutschen Sprache / die alles ausdrückt, das tiefste und / das flüchtigste, den Geist, die Seele, / die voll Sinn ist. / Unsre Sprache wird die Welt / beherrschen"43

hieß es in Schillers berühmten Gedichtfragment Deutsche Größe, das um 1800 entstand und eine weitverbreitete Stimmung mit wenigen Worten einfing44. Schiller unterschied zwischen einem inneren geistigen Deutschland, dessen Schicksal unabhängig ist von dem äußeren politischen Deutschland, und gründete mit dieser Unterscheidung, in deren Hintergrund die oft postulierte Wesensverwandtschaft der Deutschen zu den antiken Griechen aufscheint, die nationale Identität der Deutschen ganz auf das innere geistige Vaterland. „Nur bei den Deutschen ist es eine Nationaleigenheit, die Kunst und die Wissenschaft bloß um der Kunst und der Wissenschaft willen göttlich zu verehren", stellte auch Friedrich Schlegel fest, um dann auszurufen: „Nicht Hermann und Wodan sind die Nationalgötter der Deutschen, sondern die Kunst und die Wissenschaft." 45 Der ideengeschichtliche Hintergrund der zeitgenössischen Griechenbegeisterung ist für diese rein ideelle Form eines nationalen Selbstbildes insofern von Bedeutung, als daß hier erstmals versucht wurde, „das Ganze einer Kultur in ihrem inneren Zusammenhang zu erfassen, Kultur als Ausdruck eines Kernes von zusammenstimmenden Ideen zu verstehen"46, und mit diesem kulturellen Verständnis der Griechen dann ein Modell bereit stand für die deutschen Bemühungen um eine eigene nationale Identität. Als zweite Wurzel der Lehrmeisterthese läßt sich der Fortschrittsoptimismus aufgeklärter Geschichtsphilosophie ausmachen, die ja auf ein Zeitalter der Idealität, der Vernünftigkeit und Sittlichkeit als Telos der Menschheitsgeschichte zielt. Da die „Gleichstellung eines Volkes mit einer Entwicklungsstufe der ganzen Menschheit"47 typisch war für das Geschichtsverständnis der deutschen Aufklärung 48 , konnten die Deutschen, war ihr Nationalcharakter erst einmal gefunden, leicht in dieses Denken integriert werden. Vor allem Herder hatte immer wieder gezeigt, wie einzelne Völker und Hochkulturen einander ablösten, wie die griechische Kultur auf der ägyptischen und die

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Schiller, Deutsche Größe, S. 432. Das Fragment wurde 1902 erstmals veröffentlicht. Vgl. dazu Kemiläinen, Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes, S. 130 ff. Allerdings dürfte das Fragment, wie Kemiläinen mit Recht einräumt, „wohl charakteristischer für die zeitgenössischen Ansichten über die Bedeutung des deutschen Volkes als für Schiller selbst sein", Kemiläinen, Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes, S. 144. F. Schlegel, Kritische Schriften, S. 103 und S. 105. Nicht nur fur Schiller und Schlegel, für „alle großen Denker dieser Jahre" ist die deutsche Nation, wie Friedrich Meinecke anmerkt, „ausschließlich Kulturnation", Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 65. Nipperdey, Auf der Suche nach der Identität: Romantischer Nationalismus, S. 140, vgl. auch Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, S. 148. Dumont, Individualismus, S. 134, vgl. auch Kemiläinen, Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes, S. 245. So auch die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, wo Fichte erklärt hatte, daß sich ein „Zeitalter nur an denjenigen Nationen beurtheilen, und erkennen [läßt], die auf der Spitze der Cultur ihrer Zeiten stehen", Grundzüge, GA I, 8, S. 208.

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IV. Die Geschichte der Deutschen

römische auf der griechischen aufbaute, wie die Völker „Stufen der Leiter"49 bilden und so die Menschheit ihrer humanitären Bestimmung Stück für Stück näherbringen. Das verbreitete Selbstbild der Deutschen als einer Nation der Kunst und der Wissenschaft legte es dann, beispielsweise für Schiller, nahe, sie als Vollender des geschichtlichen Fortschritts zu begreifen: „Jedes Volk / hat seinen Tag in der Geschichte, doch / der Tag des Deutschen ist die Aernte der / ganzen Zeit."50 Auch die „Frühromantiker weissagten Deutschland die Führerschaft auf dem Wege zum ,goldenen' Zeitalter"51 - das sie anders als die Klassiker aber nicht in der Antike suchten - und sprachen ihrerseits von einer kulturellen Dominanz über die Völker Europas: „Deutschland geht einen langsamen aber sichern Gang vor den übrigen europäischen Ländern voraus. Während diese durch Krieg, Spekulation und Parthey-Geist beschäftigt sind, bildet sich der Deutsche mit allem Fleiß zum Genossen einer höhern Epoche der Cultur, und dieser Vorschritt muß ihm ein großes Uebergewicht über die Andere(n) im Lauf der Zeit geben."52

Die populäre Denkfigur von der Stunde oder dem Beruf eines jedes Volkes in der Weltgeschichte spielt auch in den Reden an die deutsche Nation eine große Rolle, die ja ebenfalls den Nationalcharakter der Deutschen als einen geistigen bestimmt und ihren „Beruf in der Befreiung von geistiger Unterdrückung erkannt hatten. Schon den Freiheitskampf der alten Germanen gegen Rom hatte Fichte in eine menschheitsgeschichtliche Perspektive gerückt und dann vor allem die Reformation Luthers als „Weltthat" gefeiert. Mit dem Schicksal der deutschen Nation entscheidet sich daher gegenwärtig für ihn nicht nur die Zukunft der Deutschen, sondern der gesamten Menschheit: sollte das Ausland nämlich „sein Mutterland der Selbstständigkeit zu berauben" suchen, würde es sich selbst die letzte lebensspendende Ader zerschneiden und „die Barbarei müsste wieder beginnen [...], bis wir insgesammt wieder in Höhlen lebten"53. Sollten sich die Deutschen dagegen wieder auf ihr ureigenstes Wesen besinnen und sich dem dominierenden Einfluß ausländischen Denkens entziehen könnten, dann wird auch für Fichte - so seine eher plastische Version der Lehrmeisterthese - „der deutsche Geist neue Schachten eröffnen, und Licht und Tag einfuhren in ihre Abgründe, und Felsmassen von Gedanken schleudern, aus denen die künftigen Zeitalter sich Wohnungen bauen"54. II. Die Reden an die deutschen Nation teilen das antike Ideal, das Schillers Analogie zwischen Deutschen und Griechen zugrundeliegt, wenn sie ihrerseits von der Trennung zwischen Staat und Nation in der deutschen wie in der griechischen Geschichte 49 50 51 52 53

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Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Werke, Bd. 4, S. 21. Schiller, Deutsche Größe, S. 433. Kemiläinen, Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes, S. 155. Novalis, Die Christenheit oder Europa, Werke, S. 538. Reden, SW VII, S. 342, vgl. auch ebd., S. 499: „Es ist daher kein Ausweg: wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung." Reden, SW VII, S. 339.

Germanen und Protestanten

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sprechen und davon, daß auch die deutsche Nation „unsichtbar, nicht zufolge eines niedergeschriebenen, aber eines in allen Gemüther lebenden Rechtes [und] in einer Menge von Gewohnheiten und Einrichtungen"55 dargestellt gewesen sei. Zugleich greifen sie aber auch die romantische Idee eines goldenen Zeitalters der Deutschen im Mittelalter auf, die eigentlich „in schärfstem Gegensatze zur bisherigen Auffassung der Aufklärung wie des Klassizismus"56 steht, und erkennen das Ideal einer deutschen Nation im Vorbild „der deutschen Reichsstädte des Mittelalters" - für Fichte nämlich „ist dieser Zeitpunct der einzige in der deutschen Geschichte, in der diese Nation glänzend und ruhmvoll, und mit dem Range, der ihr als Stammvolk gebührt, dasteht"57. „Jene Zeit war der jugendliche Traum der Nation in beschränkten Kreisen von künftigen Thaten, Kämpfen und Siegen: und die Weissagung, was sie einst bei vollendeter Kraft seyn würde."58

Was nun das in vielem disparate Geschichtsverständnis von Klassik und Romantik mit dem der Reden an die deutsche Nation verbindet ist der Reichspatriotismus, der um die Jahrhundertwende und dann verstärkt nach dem juristischen Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation bei Dichtern und Publizisten, aber auch bei vielen Juristen verbreitet war. Allerdings ist dieser Reichspatriotismus kein spezifisches Phänomen des frühen 19. Jahrhunderts, sondern läßt sich, wie Michael Stolleis beobachtet hat, in der deutschen Geschichte als ein allgemeiner Indikator für politische Krisen verzeichnen.59 Dabei versteht man unter Reichspatriotismus weniger die politische Loyalität der kleinen Territorien, deren Überleben vom Fortbestand des Reichs abhing, als vielmehr die eher irrationale und emotionale Begeisterung für das Reich, eine Art „Liebe in Zeiten der Agonie" oder auch „an Krisen- und Kriegssituationen entzündete Strohfeuer"60. Besonders hell leuchtete das Strohfeuer des Reichspatriotismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts und brachte die geläufige Trennung eines geistigen und eines politischen Deutschlands zum Ausdruck, denn so altertümlich und überholt die alte Reichsverfassung auf das aufgeklärte Zeitalter auch wirken mußte, knüpften „die politischen Sehnsüchte sich immer wieder an sich jenes halbimaginäre ,Reich', dem es bis 1806 nicht gelang, moderner Staat zu werden und das gerade deshalb seine sakrale

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Reden, SW VII, S. 392. Mähl, Idee des goldenen Zeitalters, S. 373. Klassik und Aufklärung hatten die Antike an den Anfang der menschlichen Bildungsgeschichte gestellt und das Mittelalter vor diesem Hintergrund als Epoche des kulturellen Verlusts und Niedergangs gesehen. Reden, SW VII, S. 356. Reden, SW VII, S. 358. Vgl. Stolleis, Reichspublizistik und Reichspatriotismus, S. 8, ebenfalls Konjunktur hatte nach Stolleis der Reichspatriotismus am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert und im Dreißigjährigen Krieg. Beide Zitate Stolleis, Reichspublizistik und Reichspatriotismus, S. 8 f., vgl. auch Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 83, und Münkler, Das Reich als politische Vision, S. 350 ff.

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IV. Die Geschichte der Deutschen

Aura bewahrte und zum Identifikationspunkt werden konnte" 61 . Wiederum ist es Schiller, der diese neuerliche Verklärung als Folge des politischen Niedergangs treffend ausdrückte: „[...] und indem / das politische Reich wankt hat sich / das Geistige immer fester und vollkommener / gebildet" 62 . Daß das Reich zur Projektionsfläche der Lehrmeisterthese sowohl für die Klassiker als auch für die Romantiker werden konnte, läßt sich nicht nur als eine Folge oder als eine Art von Trotzreaktion auf das politische Ende des Reichs begreifen, sondern liegt auch an den mythischen bzw. den sakralen und verheißungsvollen Anklängen, die der Reichsidee anders als dem Staatsbegriff immanent sind: „Ein Staat legitimiert sich vor den Bürgern durch seine Funktionstüchtigkeit; die Legitimation des Reichs hingegen ist sein Alter, seine Stiftung durch Gott, seine wunderbare Geschichte mitsamt der ihm noch verheißenen Zukunft. Ein Staat rechtfertigt sich durch Verweis auf harte Fakten, die Rechtfertigung des Reichs hingegen ist die Erzählung einer Geschichte, der Bericht von Träumen und Visionen, der Verweis auf drohende Schrecken und die Hoffnung auf Rettung in höchster Not. Von Anbeginn an hat das Reich in der deutschen Geschichte die Qualität einer mythischen Verheißung besessen [...]."63

In vielem erinnert dieser Unterschied zwischen Staat und Reich an den zwischen Staat und Nation, die sich ja ebenfalls durch ihren emotionalen und identifikatorischen Überschuß vom Staat als rechtlicher Ordnung absetzt. Deutlicher aber noch als bei der Differenzierung zwischen der instrumentellen Dimension des Staats und der ideativen der Nation kommt bei dem Begriff des Reichs ein religiöser und mythischer Gehalt zum Ausdruck, der so attraktiv ist, daß auch der politische Instinkt eines Napoleon sich ihm nicht entziehen konnte: offen stellte er sich mit seiner Kaiserproklamation von 1804 in die Tradition Karls des Großen („notre prédécesseur") und beschwor mit anschließenden Besuchen in Aachen und Mainz demonstrativ den Geist des Alten Reichs. 64 Die mythischen, sinnlichen und universalen Aspekte des Reichs, einem der kompliziertesten und aspektreichsten Begriffsfelder älterer Staatssprache überhaupt 65 , hat für die deutsche Tradition am anschaulichsten wohl Novalis in seinem Aufsatz Die Christenheit oder Europa beschrieben. Das Bild der mittelalterlichen Ordnung, das er in seiner „transzendentalphilosophischen Utopie" 66 zeichnete, war getragen von den Farben der Geistigkeit, der Einheit und des Friedens, die charakteristisch sind für das romantische Geschichts- und Politikverständnis insgesamt:

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Stolleis, Reichspublizistik und Reichspatriotismus, S. 22. Schiller, Deutsche Größe, S. 431. Münkler, Das Reich als politische Vision, S. 339, vgl. auch Kettenacker, Der Mythos vom Reich, S. 261. Vgl. Press, Altes Reich und deutscher Bund, S. 13, und Lützler, Einleitung, S. 11. Vgl. den Artikel „Reich", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, S. 423. Kurzke, Romantik und Konservatismus, S. 230.

Germanen und Protestanten

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„Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs."67

Im mittelalterlichen Reich und in der vorkonfessionellen Einheitskirche findet nicht nur das romantische Unitätsdenken seinen höchsten Ausdruck und sein goldenes Zeitalter, sondern auch die Lehrmeisterthese ihre geschichtliche Form. Vor allem Friedrich Schlegel zeigte sich „von der ästhetischen Überlegenheit der deutschen Literatur im Mittelalter"68 überzeugt, und auch Novalis sah, wie erwähnt, den Deutschen in jener Zeit „mit allem Fleiß zum Genossen einer höhern Epoche der Kultur" 69 sich bilden. Daß die politische Romantik von allen herrschaftlichen und konstitutionellen Aspekten des Reichs, unter denen etwa Goethe es vor allem wahrnahm und deswegen als Inbegriff von Absolutismus und Ständeordnung ablehnte, abstrahieren und ganz auf Geistigkeit und Innerlichkeit als den Merkmalen von Reich und Mittelalter abheben konnte, verdankt sich nicht nur ihrem poetisch-ästhetischen Selbstverständnis, sondern auch der normativen Unterscheidung, die Immanuel Kant zwischen republikanischer und despotischer Regierungsform getroffen hatte: „Die Regierungsform aber als die das Gesetz ausübende Gewalt kann nur in zwei Arten eingeteilt werden: sie ist nämlich entweder republikanisch, d.i. der Freiheit und Gleichheit angemessen oder despotisch ein sich an diese Bedingung nicht bindender Wille."70

Die Romantiker interessierten sich weniger für die Kriterien der Gewaltenteilung und der Repräsentation, die Kant zur weiteren Identifizierung von Republikanismus und Despotismus angeführt hatte, sondern vor allem für sein Verständnis von Republikanismus als einer regulativen Idee: „Es ist aber an der Regierungsart dem Volk ohne alle Vergleichung mehr gelegen, als an der Staatsform [...]."71 Republikanismus war so gesehen keine Frage der Regierungsform oder der Verfassung, sondern der Regierungsart, also des Geists oder auch des Stils. In diesem normativen Sinn konnten Mittelalter und Reich von der Romantik unter dem politischen Begriff des Republikanismus verbucht werden und - durchaus mit gegenwartskritischen Absichten72 - zu einer politischen Utopie verklärt werden, zumal Kant selbst in seiner Schrift Zum ewigen Frieden dem Republikanismus utopische Züge verliehen hatte: „Nun hat aber die republikanische Verfassung, außer der Lauterkeit ihres Ursprungs, aus dem reinen Quell des Rechtsbegriffs entsprungen zu sein, noch die Aussicht in die gewünschte Folge,

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Novalis, Die Christenheit oder Europa, Werke, S. 526. Höltenschmidt, Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel, S. 58. Novalis, Die Christenheit oder Europa, Werke, S. 538. Kant, Vorarbeiten zum ewigen Frieden, zit. nach Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 418, vgl. zu dieser Unterscheidung ebd., S. 418 ff., und zu ihrer romantischen Rezeption Kurzke, Romantik und Konservatismus, S. 182 ff. Kant, Zum ewigen Frieden, Werke, Bd. 11, S. 208. Vgl. Höltenschmidt, Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel, S. 77, und Mähl, Idee des goldenen Zeitalters, S. 380.

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nämlich den ewigen Frieden [...]."73 Im ersten Definitivartikel hatte Kant für jeden Staat die republikanische Verfassung gefordert und damit der allgemeinen Friedenseuphorie seiner Zeit ein rechtsphilosophisches Fundament gegeben, das vor dem Hintergrund der Revolutions- und der napoleonischen Kriege eine breite Rezeption erfuhr. So sehr sich das Geschichtsverständnis der Reden an die deutsche Nation von dem der politischen Romantik im einzelnen auch unterscheiden mag - eine Restauration des Katholizismus lag Fichte ebenso fern wie die Schlegelsche Begeisterung für Papst, Kaiser und Rittertum - , so teilen doch beide das republikanische Politikideal. Fichte zeigt sich mit Blick auf die deutschen Reichsstädte der Frühen Neuzeit davon überzeugt, „dass gerade diese republikanische Verfassung bisher die vorzüglichste Quelle deutscher Bildung" gewesen war, und hält die deutsche Nation für die „einzige unter den neueuropäischen Nationen, die es an ihrem Bürgerstande schon seit Jahrhunderten durch die That gezeigt hat, dass sie die republikanische Verfassung zu ertragen vermöge"74. Der Verweis auf die freien Städte Italiens in jener Zeit genügt Fichte, um seine Darstellung zu untermauern: dort nur Unruhen, Kriege und ständige Wechsel der Herrscher, hier dagegen friedliche Ruhe und Eintracht.75 Schon Machiavelli hatte in seinen Discorsi den Vergleich zu den deutschen Städten bemüht, um den italienischen einen Spiegel der „Rechtschaffenheit und Frömmigkeit"76 vorzuhalten, und auch Fichte begreift diese Zeit als ein Ideal, das er mit den Stichworten Ruhe, Eintracht und Bildung zu fassen sucht. Wie die Romantik abstrahiert auch er von allen Fragen politischer Herrschaft und sieht statt dessen die geistige Befreiung, unter der er ja die deutsche Geschichte subsumiert hatte, ihren Ausgang nehmen im Kunterbunt der deutschen Städte und Länder, die in so produktiver Konkurrenz zu einander standen, daß sich „schnell jeder Zweig des gebildeten Lebens zur schönsten Blüthe"77 entwickeln konnte. Wenn Fichte weiter ausführt, daß im alten Reichsverband deqenige, der „durch die Richtung, die seine Bildung nahm, mit seiner nächsten Umgebung entzweit wurde", schnell „anderwärts willige Aufnahme" 78 fand, dann lassen sich hinter diesem Lob für den Pluralismus des Reichs nur unschwer seine persönlichen Erfahrungen des Atheismusstreits und der Übersiedlung von Jena nach Berlin erkennen. Die föderalistische und dezentrale Struktur des Reichs spielte über die Reden an die deutsche Nation hinaus auch in den politischen Debatten des frühen 19. Jahrhunderts eine große Rolle: Sowohl für die Frage nach einer künftigen europäischen Friedensordnung als auch für die nach der deutschen Zukunft wurden föderalistische Antworten intensiv erörtert. Staatenbund, Fürstenbund und Völkerbund wurden zu Schlüsselbegriffen dieser Diskussion und vermischten sich so stark mit dem verheißungsvollen Gehalt 73 74 75 76 77 78

Kant, Zum ewigen Frieden, Werke, Bd. 11, S. 205. Reden, SW VII, S. 397 und S. 357. Vgl. Reden, SW VII, S. 357. Machiavelli, Discorsi, S. 141. Reden, SW VII, S. 355. Reden, SW VII, S. 392.

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des Reichs und seiner sakralen Aura, „daß die Idee von einer deutschen Föderation eine Faszination ausübte, der von 1801-1815 kaum jemand widerstehen konnte"79. Die Vorstellung von der deutschen Nation als einer Nation der Kunst und der Wissenschaft korrespondierte mit der historischen Wahrnehmung des Reichs als Friedensordnung und als Schutzmacht des christlichen Abendlands. Um diese Schutzfunktion des Reichs zu veranschaulichen, verweist Fichte in seiner dreizehnten Rede auf den Kolonialismus der europäischen Staaten, den er schon im Geschloßnen Handelsstaat scharf attackiert hatte. Anders als die Romantik führt er nämlich das Ende des einheitlichen christlichen Europas nicht auf die Reformation, sondern auf den etwa zeitgleich einsetzenden Kolonialismus zurück, mit dem „ein Grund vorhanden [war] zu geheimer Feindschaft und Kriegslust aller gegen aller". „Seit dieser Begebenheit erst zertheilte sich das christliche Europa", und lediglich die deutsche Nation beteiligte sich nicht „am Raube der anderen Welten"80 und bewies damit ihre sittlich-moralische Vortrefflichkeit: „War nicht im Mittelpuncte von Europa die übermächtige deutsche Nation rein geblieben von dieser Beute, und von der Ansteckung mit der Lust darnach, und fast ohne Vermögen, Anspruch auf dieselbe zu machen? Wäre nur diese zu Einem gemeinschaftlichen Willen und Einer gemeinschaftlichen Kraft vereinigt geblieben; hätten doch dann die übrigen Europäer sich morden mögen in allen Meeren und auf allen Inseln und Küsten: in der Mitte von Europa hätte der feste Wall der Deutschen sie verhindert aneinanderzukommen, - hier wäre Friede geblieben, und die Deutschen hätten sich, und mit sich zugleich einen Theil der übrigen europäischen Völker in Ruhe und Wohlstand erhalten."81

Prägnant verdichtet sich im Bild vom friedenssichernden „Wall der Deutschen" im „Mittelpuncte von Europa" Fichtes Verständnis der deutschen Geschichte als eines Kampfs für Freiheit, Vernunft und Frieden und der internationalen Implikationen dieser Sendung. In der Vorstellung vom Reich als Reich des Geistes und des Friedens, nicht der Macht, verbinden sich romantisches Einheitsdenken, Lehrmeisterthese und Sakralität des Reichsbegriffs zu einer politischen Idee von universalen Dimensionen, für die zumeist Naturmetaphern gefunden wurden. Mit Blick auf die machtpolitischen Gräben, die der Kolonialismus durch das einst einheitliche Europa zog, heißt es in den Reden an die deutsche Nation: „Zu diesem unrechtlich gewordenen und zertheilten Europa gehörte Deutschland nicht. Wäre nur wenigstens dieses Eins geblieben, so hätte es auf sich selbst geruht im Mittelpuncte der gebildeten Erde, so wie die Sonne im Mittelpuncte der Welt f...]."82

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Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat, S. 44, vgl. auch Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, S. 193 ff.; zur Bedeutung des Reichs in den zeitgenössischen verfassungspolitischen Diskussionen vgl. auch ebd., S. 47 und S. 68, und Echtemkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 284, der allerdings Preußen von dieser „Hochkonjunktur" föderalistischer Modelle ausnimmt. Alle Zitate Reden, SW VII, S. 461. Reden, SW VII, S. 463. Reden, SW VII, S. 464.

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IV. Die Geschichte der Deutschen

Die Naturmetaphern evozieren zum einen die Assoziation einer gottgewollten Ordnung - eine Assoziation, der in Verbindung mit dem Reichsgedanken eine besondere Evidenz zukommt - und sind zum andern so deutlich mit der Vorstellung von harmonischer Vielfalt, Universalität und Friedlichkeit verbunden, daß der Widerspruch zu dem früheren „vollkommenen Gegensatz" zwischen Deutschen und Franzosen grell aufleuchtet. Während sich der Vergleich der Nationalcharaktere einer exkludierenden Semantik von Leben und Tod bediente, nationale Identität über Differenz und Ausschluß herstellte und den Zusammenhang von Eingrenzung und Ausgrenzung bis zur Entwertung, Negation und Dämonisierung des anderen steigerte, kleidet Fichte nun das symbiotische Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen, das am Ende seines geschichtlichen Exkurses stand, in naturhafte Metaphern und spricht vom Ausland als fruchtbarer Erde und dem deutschen Mutterland als ewigem Himmel83. Der erkenntnistheoretische Zusammenhang von Sprechen und Denken, aus dem mit Hilfe des Ursprachentheorems ein ontologischer Determinismus wurde, wird in seiner nationalen Verengung zurückgenommen, und das Diktum der siebten Rede: „[...] so jemand nur ein wahrer Deutscher würde, so würde er nicht anders denn also philosophiren können" 84 , verkehrt sich wieder in seinen universalistischen Vorläufer aus der Wissenschaftslehre („was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist"85). Die deutsche Nation wird in diesem Teil der Reden zu einer grundsätzlich offenen Gemeinschaft: „[...] was an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt, und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren sey und in welcher Sprache es rede, ist unsers Geschlechts, es gehört uns an und es wird sich zu uns thun. Was an Stillstand, Rückgang und Cirkeltanz glaubt, oder gar eine todte Natur an das Ruder der Weltregierung setzt, dieses, wo auch es geboren sey und welche Sprache es rede, ist undeutsch und fremd für uns, und es ist zu wünschen, dass es je eher je lieber sich gänzlich von uns abtrenne."86

Die Akzentverschiebung ist klar und folgenreich: noch immer begreift Fichte das deutsche Volk als eine innere, als eine geistig-ideelle Gemeinschaft, und kann sich in

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„Das Ausland ist die Erde, aus welcher fruchtbare Dünste sich absondern und sich emporheben zu den Wolken [...]. Das Mutterland ist der jene umgebende ewige Himmel, an welchem die leichten Dünste sich verdichten zu Wolken, die [...] herabfallen als befruchtender Regen, der Himmel und Erde vereinigt, und die im ersten einheimischen Gaben auch dem Schoose der letzteren entkeimen lässt", Reden, SW VII, S. 342. Reden, SW VII, S. 362. Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I, 4, S. 195, vgl. oben, S. 126. Selbst im zweiten Gespräch über den Patriotismus, und sein Gegentheil vom Frühjahr 1807 war von einer nationalen Exklusivität philosophischen Denkens noch nicht die Rede: „[...] indem ich vielmehr dafür halte, daß Kant und die Wißenschaftslehre von den alten Griechen, vielleicht auch von den Römern, daß sie im MittelAlter in jedem Lande, wo nur die religiöse Superstition nicht gar zu drükend gewesen wäre, ja daß sie noch zu Leibnitzens Zeiten, und ehe Locke, die Encyclopädisten, und unsere Eklektiker und PopularPhilosophen das Zeitalter in die Schule genommen hatten, würden gefaßt worden seyn", Patriotismus, GA II, 9, S. 431. Reden, SW VII, S. 375.

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diesem Verständnis von der deutschen Geschichte als einer Geschichte der geistigen Befreiung und der europäischen Friedensgarantie bestätigt sehen. Erst im Geschichtsbild aber kommt vollständig zum Tragen, was in seiner Bestimmung der Nationalcharaktere als struktureller Widersinn schon implizit angelegt war: Entwertung, Exklusion oder gar Negation des oder der Anderen im Namen von Vernunft und Freiheit sind ein logisches Unding. Folgerichtig stellt Fichte in den Passagen seiner Reden, die vom Reich der Deutschen handeln, nicht mehr das deutsche Urvolk den übrigen Völkern als einem bloßen Anhang zum Leben kontrastiv gegenüber, schließt den „germanischen Ausländer"87 nicht mehr von seinen Überlegungen aus - und hält doch den geistigmoralischen Superioritätsanspruch der deutschen Nation aufrecht. Allerdings verliert dieser Anspruch seine national-ursprachliche Exklusivität und steht unter dem Zeichen der Offenheit, der Homogenität und des Gleichgewichts und nicht mehr unter dem von Ausschluß, Heterogenität und Übergewicht: was an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt, gehört, unabhängig von Sprache und Rasse, der deutschen Nation an. Die politische Form, die Fichte für das universalistische offene Bild der deutschen Nation findet ist das Reich, das vor diesem Hintergrund mehr ist als nur Nostalgie oder politische Phantasie. Zu groß war die Rolle, die das Reich bzw. föderalistische und bündische Modelle in den zeitgenössischen verfassungspolitischen Diskussionen spielten, und zu stark die lebensweltliche Nähe, die das Alte Reich im Winter von 1807 auf 1808 für Fichte wie für alle Deutschen noch hatte: „Bis 1806 gab es nur das Heilige Römische Reich, und von diesem hat Fichte eine sehr bestimmte, positive Auffassung." 88 Und nicht nur Fichte hatte ein positives Reichsbild, denn es waren ja keineswegs mangelnde Identifikation und Anteilnahme der Deutschen für den Untergang des Alten Reichs verantwortlich, sondern „das von den Umständen erzwungene Verharren in altertümlichen Verfassungsverhältnissen"89, so daß Heinz Angermeier mit guten Gründen anmerken kann, daß neben dem oft beschriebenen Einfluß der Französischen Revolution auf das nationale Denken der Deutschen die „Bildung eines deutschen Nationalbewußtseins auch als eine Fortentwicklung des alten Reichsbewußtseins verstanden werden"90 sollte. Die These von einem signifikanten Anteil des alten Reichsbewußtseins in der Ideengeschichte des deutschen Nationalismus bestätigt sich für die Reden an die deutsche Nation gleich doppelt: Fichte nämlich bringt die normative Idee des Reichs als Modell einer künftigen nationalen Ordnung sowohl gegen einen deutschen Einheitsstaat als auch gegen den napoleonischen Machtstaat in Anschlag. Entgegen dem gängigen Urteil „Was aber den germanischen Ausländer betrifft, so werde ich nichts dagegen haben, wenn einer unter ihnen wirklich versteht, wovon eigentlich hier die Rede sey, und wenn diesem hernach auch der Beweis gelingt, dass seine Landsleute eben auch dasselbe gewesen seyen, was die Deutschen, und wenn er sie von den entgegengesetzten Zügen völlig loszusprechen vermag", Reden, SW VII, S. 328 f. Lauth, Der letzte Grund von Fichtes Reden, S. 200. Krüger, Auf der Suche nach Deutschland, S. 51. Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat, S. 27.

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Deutschen

der älteren Forschung, in Fichte den Vordenker eines deutschen Nationalstaats zu sehen, der es für erstrebenswert hielt, „daß dem kulturellen Gebiet der Nation ein kongruentes Staatsgebiet zukomme, damit kurz gesagt, jeder Deutscher auch in einem deutschen territorialen Gesamtstaatsverbande eingeschlossen sei" 91 , oder gar den Theoretiker eines „Großdeutschland", w i e jüngst v o n Richard Schottky behauptet wurde 9 2 , geht es Fichte gerade nicht u m Staatlichkeit oder u m einen deutschen Nationalstaat. D i e eingangs skizzierte analytische und entwicklungsgeschichtliche Differenz v o n Staat und Nation bestätigt sich sowohl für das nationale Denken des frühen 19. Jahrhunderts, in dem „der moderne Nationalstaat nicht einmal embryonal" 93 angelegt ist, im allgemeinen als auch für die Reden an die deutsche

Nation im besonderen: Fichtes Geschichtsbild ist

geradezu grundiert v o n einer Opposition zwischen Monarchie und Republik und optiert eindeutig für die Republik im Sinne einer Föderation oder eines Bundes als Modell der deutschen Nation. Seit ihren Anfangen haben sich die Deutschen, wie Fichte betont, nach „germanischer Ursitte" als „Staatenbund unter einem beschränkten Oberhaupte" organisiert - während bei den Franzosen die „Verfassung in Monarchien" 94 überzugehen pflegte - , und zu allen Zeiten wäre es daher „ein grosses Misgeschick für die A n gelegenheit deutscher Vaterlandsliebe gewesen", w e n n ein deutscher Einzelstaat „die ganze Nation unter seiner Regierung zu vereinigen" gesucht hätte, und , j e d e r Edle über 91

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Wallner, Fichte als politischer Denker, S. 206. Die Arbeit von Nico Wallner sei hier nur stellvertretend für diesen Allgemeinplatz der älteren Fichte-Literatur zitiert, vgl. u. a. Windelband, Fichtes Idee des deutschen Staates, S. 8, Gehlen, Deutschtum und Christentum, S. 234, und Wundt, Fichte, S. 184 ff. Im zweiten Band der Fichte-Studien von 1990 hatte Richard Schottky bis dahin unveröffentlichte Aufzeichnungen Fichtes, die im Mai und im Juni 1807 im Umfeld der Republik der Deutschen entstanden sind (und mittlerweile im Band II, 10 der Fichte Gesamtausgabe veröffentlicht wurden), einer eingehenden Lektüre unterzogen. Schottky erkennt „das Neue" dieser Aufzeichnungen in Fichtes Konzipierung eines deutschen Nationalstaats: „Fichte hat den einheitlichen Staat, der alle Deutschen und ausschließlich Deutsche umfassen sollte, er hat einen mächtigen deutschen Einheitsstaat 1807 wesentlich konkreter gedacht und ersehnt, als es bisher bekannt war" (Schottky, Fichtes Nationalstaatsgedanke, S. 113 f.). Zwar muß Schottky einräumen, daß Fichtes Ausführungen im Rahmen einer politischen Utopie stehen und von Fichte selbst als „Vision" und „Traum" bezeichnet werden, doch kann er in der Tat Belege anführen, die einen deutschen Einheitsstaat als Ziel von Fichtes politischem Wollen plausibel machen. Problematisch ist allerdings, daß Schottky diese Aufzeichnungen in unmittelbare Nähe zu den Reden an die deutsche Nation rückt (vgl. ebd., S. 112) und dann weiter folgert, „daß die vorsichtigen Wendungen in den ,Reden', in denen er Vielstaaterei zu akzeptieren scheint, nur der Rücksicht auf die Empfindlichkeit der bestehenden partikularen Gewalten und Loyalitäten entspringen" (ebd., S. 114). Anstatt nun diese wenigen, in sich ζ. T. widersprüchlichen Fragmente mit einigem interpretatorischen Aufwand in den Kontext der Reden an die deutsche Nation zu stellen, sollten sie besser auf ihren ursprünglichen Entstehungszusammenhang bezogen werden - also auf die Republik der Deutschen, auf Fichtes leidenschaftliche Anteilnahme am Krieg gegen Napoleon, auf seine weitgehende Identifizierung mit dem preußischen Staat und auf die machtpolitische Reflexion des Aufsatzes Ueber Machiavell - , wo sie dann gar nicht mehr so „neu" erscheinen. Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat, S. 79. Reden, SW VII, S. 313.

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die ganze Oberfläche des gemeinsamen Bodens hinweg hätte dagegen sich stemmen müssen". In seinem Pluralismus und durch die produktive kulturelle Konkurrenz, die er zwischen den deutschen Staaten und Ländern zu entfachen vermag, ist der Republikanismus für Fichte immer die „vorzüglichste Quelle deutscher Bildung" gewesen und daher natürliche Organisationsform der Deutschen und „das erste Sicherungsmittel ihrer Eigenthümlichkeit"95. Schon Friedrich Meinecke hat mit Nachdruck auf Fichtes Republikanismus verwiesen und darauf, daß ihm „der monarchische Einheitsstaat für Deutschland doch ganz und gar nicht" dünke, wie er insgesamt „auf die Form des Einheitsstaates überhaupt keinen entscheidenden Wert" 96 gelegt habe. So wie Fichte die deutsche Geschichte ganz unter dem ideellen Aspekt der geistigen Befreiung als einem Geschenk der Deutschen an die Menschheit betrachtet hatte, versteht er auch die deutsche Nation rein normativ als ein Sollen, als ein beständiges Streben nach höheren Werten und nach kulturellem Fortschritt. Gegen Ende seiner Vortragsreihe, in der zwölften Rede, faßt Fichte diese geistig-moralische, universale und friedfertige Absicht nochmals zusammen: „Es wird hier nicht angeregt zu ruhestörenden Auftritten; es wird vielmehr vor diesen, als sicher zum Verderben führend gewarnt, es wird eine feste unwandelbare Grundlage angegeben, worauf endlich in einem Volke der Welt die höchste, reinste und noch niemals also unter den Menschen gewesene Sittlichkeit aufgebaut, für alle folgende Zeiten gesichert, und von da aus über andere Völker verbreitet werde; es wird eine Umschaffüng des Menschengeschlechtes angegeben, aus irdischen und sinnlichen Geschöpfen zu reinen und edlen Geistern."97

2. Partikularismus und Universalismus - Ambivalenzen nationalen Denkens Sowohl für das zeitgenössische nationale Denken, vor allem also für das romantische, als auch fur den Nationalismus insgesamt gilt, was für die Reden an die deutsche Nation im besonderen vorgeführt werden konnte: ihre Ambivalenz und Heterogenität. Die charakteristische Spannung des romantischen Nationalismus „zwischen ursprünglichem Internationalismus und der Betonung der eigenen Sendung"98 findet sich sogar,

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Alle Zitate Reden, SW VII, S. 397. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 99 f. Mit Verweis auf Meinecke hält auch Hansjürgen Verweyen die Annahme, „Fichte wolle prinzipiell einen .Nationalstaat'", für „nicht haltbar", Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 218, Fn. 46. Reden, SW VII, S. 456 f. Nipperdey, Auf der Suche nach der Identität: Romantischer Nationalismus, S. 147, vgl. dazu den Aufsatz von Lützler „Die Romantik zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus".

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wie Hans-Ulrich Wehler beobachtet hat, „am ausgeprägtesten"99 in den Vorlesungen Fichtes: so steht sein Plädoyer für die Offenheit der deutschen Nation, der - losgelöst von Sprache und Geburt - angehört, was an Geistigkeit und Freiheit glaubt, und die die „Umschaffiing des Menschengeschlechts" zu „reinen und edlen Geistern" zu ihrem Ziel erklärt, in derselben Rede wie der „vollkommene Gegensatz" zwischen Deutschen und Franzosen mit seiner exkludierenden bis dämonisierenden Semantik von Leben und Tod und folgt nur wenige Seiten auf die Forderung nach einem Alleinanspruch des deutschen Urvolks auf philosophisches Denken. Für Peter L. Oesterreich erscheinen die Reden an die deutsche Nation daher „im zweideutigen Hell-Dunkel genialer Philosophie und unheilvoller Demagogie"100. Schon einer der ersten Rezensenten von Fichtes Vorträgen, der Historiker Heinrich Luden, der die Reden an die deutsche Nation für die Jenaische Allgemeine LiteraturZeitung im November 1808 besprach, konstatierte ihre verblüffende Heterogenität und Widersprüchlichkeit: „Die Reden nämlich sind auf eine eigene Art gemischt aus Wahrheit und Irrthum, Einseitigkeit und Übersicht, Gründlichkeit und Unkunde, philosophischer Grübeley und praktischem Sinn, Consequenz und Widerspruch; die Kraft, mit welcher sie ausgesprochen werden, entartet hin und wieder in leere Declamation; der hohe Ernst, der ihnen eigenthümlich ist, geht nicht selten über in bittere Satyre [,..]."101

Sicher kann das Übergleiten von hohem Ernst in bittere Satire auf das Wechselspiel einer öffentlichen Rede zwischen Pathos und Logos zurückgeführt werden, und ohne Zweifel lassen sich viele kleinere Widersprüche der Reden an die deutsche Nation auch mit ihrem Ad-hoc-Charakter erklären - nicht aber die Verbindung von Nationalismus und Kosmopolitismus, von Partikularismus und Universalismus, die Fichte auf so eigentümliche Weise gezogen hatte, daß sie von seinen Interpreten immer wieder herausgestellt wurde: So sprach Wilhelm Windelband 1890 in seiner „Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers" vom Patriotismus und Kosmopolitismus der Reden als Zwillingsbrüdern102, und auch bei Friedrich Meinecke hieß es 1907: „Schroff und unvermittelt erscheinen hier nebeneinander die beiden Prinzipien, von denen wir ihn bei der Würdigung des Nationalen geleitet sahen, die Neigung, im Allgemeinen das Höhere zu sehen, und das erwachende Verständnis für den Eigenwert des Besonderen."103 Doch nicht nur die ältere, auch die neuere Forschung zeigt sich von dieser schroffen und unvermittelten Verbindung so irritiert, daß jüngst noch Manfred

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Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 519, ähnlich auch Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, S. 197. Oesterreich, Philosophen als Lehrer, S. 169. Heinrich Luden, Rezension der Reden an die deutsche Nation, in: J. G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen, Bd. 4, S. 279. Vgl. Windelband, Fichtes Idee des deutschen Staates, S. 11. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 103.

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Voigts nicht umhinkam, sie als „höchst problematisch und explosiv" einer Wertung unterziehen zu müssen.104 Voigts' Wertung bezieht sich dabei weniger auf die Reden selbst als vielmehr auf ihre disparate Rezeptionsgeschichte, zu der ihre strukturelle Heterogenität insofern beigetragen hat, als daß der Akzent leicht von ihrer eher integrativen universalistischen Seite auf die mehr exkludierende und partikularistische verschoben werden konnte. Für das doch überraschende Phänomen einer affirmativen Rezeption der Reden an die deutsche Nation durch das deutsche Judentum, mit der sich Hans-Joachim Becker und Manfred Voigts zuletzt ausführlich beschäftigt haben105, war für allem der Kosmopolitismus Fichtes ausschlaggebend, der in seiner Abstraktheit und Ungebundenheit attraktiv für Juden war, die sich selbst oft als wurzellos empfanden. Wie Voigts ausführt, waren besonders für den Kultur-Zionismus die „metaphysische Atmosphäre" der Reden und ihre „Einheit von Philosophie und Politik", ihre diesseitige Heilserwartung, aber auch ihre Absonderung des deutschen von den übrigen Völkern so anschlußfähig, daß die Reden geradezu „als Vorstufe eines ausgebildeten zionistischen Programms gelesen werden" 106 müssen. Im Sinne dieser Identifikation mit Fichte konnte Hugo Bergmann 1915 an Martin Buber schreiben: „Nur weil wir Fichte hatten, fanden wir die entsprechenden Strömungen der jüdischen Kultur, verstanden wir erst das Judentum. Dort wurden wir erzogen, hier haben wir entdeckt."107 Auch Ernst Bloch hatte 1943 im amerikanischen Exil in den Reden an die deutsche Nation „das Bild vom sonnenverwandten Geist, der hin sich wendet, wo Licht ist und Recht"108 erkennen und die Vorträge Fichtes mit Verweis auf ihren Humanismus und Kosmopolitismus offen gegen den Nationalsozialismus wenden können109, während nur

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Voigts führt diese Verbindung auf einen „Kurzschluß" der „Extreme Herder und Kant" zurück, der zu der „höchst problematischen und explosiven Mischung aus abstraktester und radikalster Metaphysik mit konkretestem und aktuell politischem Patriotismus" führte, Voigts, Wir sollen alle kleine Fichtes werden, S. 71. Hans-Joachim Becker, Fichtes Idee der Nation und das Judentum. Den vergessenen Generationen der jüdischen Fichte-Rezeption, und Manfred Voigts, Wir sollen alle kleine Fichtes werden! Johann Gottlieb Fichte als Prophet der Kultur-Zionisten. Voigts, Wir sollen alle kleine Fichtes werden, S. 121 ff., hier S. 137. Die zionistische Aneignung Fichtes endete Mitte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, als, wie Voigts ausführt, zum einen die Beschäftigung mit dem Sozialismus an den Zionismus herantrat und zum anderen die politische Situation in Palästina - die Idee eines Zwei-Völker-Staats - ein Abrücken von der nationalen Idee Fichtes unabdingbar machte, vgl. ebd., S. 199 und S. 207. Zit. nach Voigts, Wir sollen alle kleine Fichtes werden, S. 26. Auch bei Martin Buber kann für Voigts „kein Zweifel" bestehen, daß er „einen erheblichen Teil seiner Ideen aus der Lektüre Fichtes entnommen hat oder daß sie durch diese Lektüre geformt und präzisiert wurden", ebd., S. 143, ähnlich auch Becker, Fichtes Idee der Nation, S. 337 ff. Bloch, Fichtes Reden, S. 307. „Die ,Reden an die deutsche Nation' treffen heute den Hitlerismus in der Maske Bonapartes, in jener, die der Spießerdämon sich selber, von Zeit zu Zeit vorgebunden hat", Bloch, Fichtes Reden, S. 305.

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wenige Jahre zuvor Arnold Gehlen 1935 im nationalsozialistischen Deutschland Fichte eine Richtung unterstellte, „die ihn dem Standpunkt näherte, auf dem wir heute stehen", und von da aus die „Schaffung eines ganz neuen Typus Menschen" und den „Gedanken der allgemeinen Volksbewaffnung" 110 als die eigentlichen Ziele des Philosophen nennen konnte. Der Nationalsozialismus legte den Akzent ganz auf die exkludierende und kämpferische Seite von Fichtes nationalem Denken und steigerte sie ins Extreme. Für Alfred Rosenberg konnte Fichte so zum „Inbegriff heroischer Geisteskämpfe um die Freiheit des deutschen Denkens und fiir die Kraft einer bewußten deutschen Tat"111 werden. Denken und Handeln werden im Nationalsozialismus wieder zu genuin deutschen Tugenden und zu Kampfbegriffen, die aber im Unterschied zu den entsprechenden Tendenzen der Reden durch „rassenkundliche und erbgesundheitliche"112 Einsichten aufgeladen und weiter verhärtet werden. Dadurch erhalten diese Qualitäten aber eine notwendig ausgrenzende Funktion und verlieren ihren latent universalistischen Kern, der Fichtes „Kampf der Grundsätze, der Sitten und des Charakters" noch innewohnte. Die disparate und facettenreiche Rezeptionsgeschichte der Reden an die deutsche Nation ließe sich weiter fortschreiben über ihre Aneignung durch die DDR, in der Fichte zu seinem 200. Geburtstag 1962 von Alexander Abusch, dem damaligen Kulturminister und stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats, „als Vorkämpfer unserer Nation" gefeiert wurde. Während man sich im Osten Deutschlands mit Abusch auf die Reden und ihre Mahnung an jeden einzelnen, „sich als Stellvertreter der ganzen Nation zu fühlen und so zu handeln"113, affirmativ berief, wurden zur gleichen Zeit im Westen Deutschlands die Vorträge Fichtes in die Ideengeschichte des Nationalsozialismus eingereiht. War Fichte für Hermann Lübbe noch der Begründer der „Deutschtumsphilosophie"114, schlug Bernard Willms in seiner Untersuchung über die politische Philo110 111

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Gehlen, Deutschtum und Christentum, S. 219, S. 234 und S. 246. Rosenberg, Tradition und Gegenwart, zit. nach Pesch, Die politische Philosophie Fichtes und ihre Rezeption im Nationalsozialismus, S. 131. Zur Aneignung Fichtes durch den Nationalsozialismus vgl. insgesamt die Studie von Pesch, siehe auch Voigts, Wir sollen alle kleine Fichtes werden, S. 102 ff. Vgl. Günther, Johann Gottlieb Fichte und die deutsche Nation, zit. nach Pesch, Die politische Philosophie Fichtes und ihre Rezeption im Nationalsozialismus, S. 202. „Wir feiern heute Johann Gottlieb Fichte als den Vorkämpfer unserer Nation, gerade weil wir im gegenwärtigen Kampf unserer Deutschen Demokratischen Republik für die Zukunft Deutschlands besonders eindringlich die Mahnung empfinden, die er in jenem Winter von 1807 zu 1808 an die Nation richtete, indem er jeden einzelnen Deutschen aufforderte, sich als Stellvertreter der ganzen Nation zu fühlen und so zu handeln, als ob er allein die Nation vertrete", Alexander Abusch, Johann Gottlieb Fichte und die Zukunft der Nation, zit. nach Voigts, Wir sollen alle kleine Fichtes werden, S. 57. Zum 200. Geburtstag Fichtes erschien in der DDR auch der Band Wissen und Gewissen, der vor allem die jakobinischen, demokratischen und frühsozialistischen Seiten Fichtes akzentuiert. Die Fichte-Rezeption in der DDR fand vor allem in den 50er und 60er Jahren statt, danach verlor Fichte zunehmend an Aufmerksamkeit. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, S. 196.

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sophie Fichtes einen schärferen Ton an und warf ihm eine „immanent terroristische Struktur" seines Denkens vor und bezeichnete „die totale Gesellschaft" als den eigentlichen „Ausdruck Fichtescher politischer' Theorie"115. Diese Traditionslinie ist im wesentlichen charakteristisch für die frühe bundesrepublikanische Fichte-Forschung, wenn auch nicht ausschließlich: so beschrieb jüngst noch Micha Brumlik den Philosophen als den „Begründer eines ^evolutionären Antisemitismus' [...] und einer kalten Dissimilationspolitik. Seine Haltung kommt dem vom jungen Adolf Hitler geforderten Antisemitismus der Vernunft' sehr nahe."116 Dieser schlaglichtartige Streifzug durch die Rezeptionsgeschichte der Reden an die deutsche Nation sollte deutlich machen, daß ihre strukturelle Heterogenität sie für Interpretationen und Aneignungen aller Art geeignet erschienen ließ. Dabei ist der zionistische Fichte ebensowenig wie der nationalsozialistische, der frühsozialistische oder der liberale Fichte „der eigentliche, der wahre Fichte"117. Vielmehr sollte mit Voigts davon ausgegangen werden, daß in den Reden an die deutsche Nation „Kosmopolitismus und Nationalismus untrennbar verbunden waren und das eine ohne das andere nicht verstanden werden konnte"118. Diese Ambivalenz von Fichtes Vorträgen, ihr „universalistisch begründete^] Partikularismus der Überlegenheit"119, ihr Nebeneinander des Gegeneinander, charakterisiert über Fichte hinaus nationales Denken insgesamt und kann für beide nicht aufgelöst werden - weder in die eine noch in die andere Richtung und auch nicht chronologisch, wie das für den Nationalismus oft versucht wurde. Die verbreitete Annahme eines Nacheinander von aufgeklärtem universalistischen und militantem ideologischen Nationalismus mit der Französischen Revolution und den Kriegen in ihrer Folge als Wendepunkt120 ist daher von der neueren Forschung weitgehend revidiert worden zugunsten einer, so die drastische Formulierung von Michael Jeismann, Verbindung von „humanitären Ansprüchen, nationalen Bestrebungen und bestialischen' Phantasmen, Begriffen und Taten"121 in der nationalen Idee. Das eher stereotype Denken in Links-rechts-Bildern, das analytisch wie empirisch immer fragwürdiger 115 116

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Willms, Totale Freiheit, S. 158 und S. 122. Brumlik, Geheimer Staat und Menschenrecht, S. 76, in den Reden vermag Brumlik eine Entwicklung vom „philosophischen Antijudaismus" zum „Antisemitismus" zu erkennen, vgl. ebd., S. 122. Auch Georg Geismann unterstellte in seinem Aufsatz von 1991 Fichte eine „Nähe zum Nationalsozialismus", vgl. Geismann, Fichtes ,Aufhebung' des Rechtsstaates, S. 105. So jüngst noch Hans-Joachim Becker, der sich überzeugt zeigt, mit dem fortschrittlich-liberalen Fichte „den eigentlichen, den wahren Fichte" zu diskutieren, Becker, Fichtes Idee der Nation, S. 10, kritisch dazu Voigts, Wir sollen alle kleine Fichtes werden, S. 10 f. Voigts, Wir sollen alle kleine Fichtes werden, S. 26, ähnlich auch auf S. 70. Bielefeld, Nation und Gesellschaft, S. 145, ähnlich auch Schulin, Weltbürgertum und deutscher Volksgeist, S. 116. Die prominentesten Vertreter dieser Annahme sind Heinrich-August Winkler und Otto Dann, vgl. Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus, und Dann, Nation und Nationalismus, kritisch dazu die Arbeit von Barbara Vogel „Vom linken zum rechten Nationalismus. Bemerkungen zu einer Forschungskontroverse". Jeismann, Vaterland der Feinde, S. 374.

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IV. Die Geschichte der Deutschen

wurde, haben neuere Arbeiten durch ein entschiedenes „Sowohl-als-auch" ersetzt. Statt weiter von einer „grundsätzlichen Scheidelinie zwischen der nationalen Tag- und der nationalistischen Nachtseite der Vergangenheit"122 zu sprechen, betonen sie „die innere Vielfalt des Nationalismus, der immer wieder neu definiert und mit neuem Inhalt aufgeladen werden kann"123, und die „Polyvalenz" als strukturelle Eigenschaft nationalen Denkens, das sich so ,jeder monokausalen Erklärung und einseitigen Bewertung entzieht"124. Daß „Partizipationsverheißung und Gewaltbereitschaft [...] die zwei Gesichter der modernen Nation"125 sind, kann selten so klar an einem Text studiert werden wie an den Reden an die deutsche Nation, wo Fichte den Opfertod für das Vaterland verklärt126 und zugleich vor den Gefahren eines übersteigerten Nationalismus warnt, wie er ihn mit der Politik Napoleons gegeben sieht: „Das Band der Furcht und der Hoffiiung abgerechnet, beruht der Zusammenhang desjenigen Theils des Auslandes, mit dem wir dermalen in Berührung gekommen, auf den Antrieben der Ehre und des Nationalruhms; aber die deutsche Klarheit hat vorlängst bis zur unerschütterlichen Ueberzeugung eingesehen, dass dieses leere Trugbilder sind, und dass keine Wunde und keine Verstümmelung des Einzelnen durch den Ruhm der ganzen Nation geheilt wird; und wir dürften wohl, so nicht eine höhere Ansicht des Lebens an uns gebracht wird, gefahrliche Prediger dieser sehr begreiflichen und manchen Reiz bei sich führenden Lehre werden." 127

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So Dieter Langewiesche in Wendung gegen Otto Dann, vgl. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, S. 195. Wehler, Nationalismus, S. 10. Echtemkamp, Aufstieg des Nationalismus, S. 34, vgl. auch S. 165. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, S. 192. Vgl. Reden, SW VII, S. 383 und S. 387. Reden, SW VII, S. 277 f.

V. „Die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen"

Wie die vorhergehenden Kapitel gezeigt haben, versucht Fichte mit den Reden an die deutsche Nation vor allem, seinen Zuhörern einen Sinn dafür zu entwickeln, daß sie als Deutsche aufgrund ihrer Sprache eine natürliche Einheit bilden, weil mit ihrer Sprache eine gemeinsame Denk- und, wie der Exkurs in die Geschichte vorfuhren sollte, auch eine gemeinsame Handlungsweise verbunden sind. In diesem Sinn konnte Fichte die deutsche Nation als einen natürlichen, sprachlich vermittelten Traditionszusammenhang definieren, der die einzelnen ein „unzertrennliches Ganzes"1 bilden läßt und insgesamt unter dem Gesetz steht, das Ursprüngliche und Göttliche aus sich heraus zu entwickeln. Dieses „unzertrennliche Ganze" sieht Fichte aber in der gegenwärtigen Situation in seiner Existenz bedroht, denn es bedarf, wie die dreizehnte Rede hervorgehoben hatte, zu seiner weiteren Entwicklung notwendig der Freiheit und der Unabhängigkeit. Keineswegs vermag Fichte also wie etwa Schillers Deutsche Größe in der sprachlich-kulturellen Identität der deutschen Nation eine Autonomie von politischen Situationen erkennen, und er wendet sich offen gegen die verbreitete Vorstellung, „dass, wenn auch unsere politische Selbstständigkeit verloren sey, wir dennoch unsere Sprache behielten und unsere Literatur, und in diesen immer eine Nation blieben". Er gibt dagegen zu bedenken: „[...] aber was wird das nächstkünftige Geschlecht thun, und was erst das dritte?"2 In Verbindung mit dem Gedanken der geistigen Befreiung, aus dem die Reden die universale Dimension der deutschen Geschichte und einen moralischen Superioritätsanspruch über die Völker Europas abgeleitet hatten, ließ diese Bedrohtheit der deutschen Nation Fichte in seiner ersten Rede von einem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte sprechen und den gegenwärtigen Augenblick als Kairos begreifen, der die Wende zu einer besseren Zukunft bringen könnte. Auf die Frage, wie diese Wende zu schaffen sei, gibt Fichte eine „einzige, alles in sich fassende Antwort [...]: wir müssen eben zur Stelle werden, was wir ohnedies seyn sollten, Deutsche."3 Von Anfang an hatte Fichte dem Auditorium versprochen, in seinen Vorträgen eine neue Welt zu ent-

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Reden, SW VII, S. 460. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 451 f. Reden, SW VII, S. 446.

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V. „Die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen "

hüllen und auch „die Mittel ihrer Erzeugung anzugeben"4, und schon in der ersten Rede vom 13. Dezember 1807 auf seinen Vorschlag einer deutschen Nationalerziehung verwiesen: „[...] mit Einem Worte, eine gänzliche Veränderung des bisherigen Erziehungswesens ist es, was ich, als das einzige Mittel die deutsche Nation im Daseyn zu erhalten, in Vorschlag bringe."5 Zwei Gründe führt Fichte im weiteren Verlauf der Vorträge für seinen Vorschlag einer deutschen Nationalerziehung an, von der er sich die „Deutschwerdung" erwartet. Der erste folgt unmittelbar aus der politischen Situation der Reden an die deutsche Nation, also dem Untergang des Alten Reichs, der Eingliederung der Rheinbundstaaten in das napoleonische Herrschaftssystem und der militärischen Besetzung Preußens durch die französischen Truppen: „Unsere Verfassungen wird man uns machen, unsere Bündnisse und die Anwendung unserer Streitkräfte wird man uns anzeigen, ein Gesetzbuch wird man uns leihen, selbst Gericht und Urtheilsspruch, und die Ausübung derselben, wird man uns zuweilen abnehmen; mit diesen Sorgen werden wir auf die nächste Zukunft verschont bleiben. Bloss an die Erziehung hat man nicht gedacht; suchen wir ein Geschäft, so lasst uns dieses ergreifen!"6

Daß für Fichte die Franzosen das Militärische, Institutionelle und Juridische unter ihre Gewalt zu bringen suchen, das Feld des Geistigen aber ignorieren, fügt sich nahtlos in das Bild, das er zuvor von dem Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit und seiner Verkörperung durch Napoleon gezeichnet hatte7, und leitet über zu dem zweiten, systematischen Grund für seinen Vorschlag einer Nationalerziehung. Am Anfang der Reden an die deutsche Nation stand die Einsicht in die sittliche und identifikatorische Mangelhaftigkeit des absoluten Rechts- und Wohlfahrtsstaats, die Fichte aus der Beobachtung des preußisch-französischen Kriegs gewonnen hatte. Seine Suche nach einem neuen Bindungsmittel und die Umstellung seines politischen Denkens von einer rechtlichen auf eine nationale Grundlage - der Wandel vom Ich zum Wir - folgten unmittelbar aus dieser Wahrnehmung und sind auch verantwortlich für die Bedeutung, die er nun der Erziehung zuschreibt: „[...] der vernunftgemässe Staat lässt sich nicht durch künstliche Vorkehrungen aus jedem vorhandenen Stoffe ausbauen, sondern die Nation muss zu demselben erst gebildet und herauferzogen werden. Nur diejenige Nation, welche zuvörderst die Aufgabe der Erziehung zum vollkommenen Menschen durch die wirkliche Ausübung gelöst haben wird, wird sodann auch jene des vollkommenen Staates lösen."8

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Reden, SW VII, S. 265. Reden, SW VII, S. 274. Reden, SW VII, S. 433, vgl. auch ebd., S. 446. Tatsächlich hatte Napoleon sehr wohl die politische Bedeutung von Erziehung, Bildung und Unterricht erkannt und schon 1806 die „Université Impériale" gegründet, die „zur vollkommensten Staatsmonopolisierung des Unterrichts in der abendländischen Geschichte" werden sollte, Flitner, Politische Erziehung, S. 41. Reden, SW VII, S. 353 f.

Erziehung um 1800: Mensch oder Bürger

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Stand der Staat der Grundlage des Naturrechts noch ganz auf einem individualistischen und kontraktualistischen Fundament, das den Staat als eine Rechtsgemeinschaft und das Recht als den vernünftigen Ausgleich egoistischer Interessen begriff, hebt Fichte nun die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung für den politisch-staatlichen Raum hervor. Er formuliert damit auch, so die These, eine implizite Kritik seiner früheren Position einer vollständigen Trennung von Staat und Gesellschaft, von Recht und Moral, die eine positive Vergemeinschaftung nicht kannte und das Volk als „ein blosses Aggregat von Unterthanen"9 begriff. In den Reden an die deutsche Nation spricht Fichte nun betont von den Deutschen als „einer Gesammtheit" und erkennt die „Wurzel aller Sittlichkeit" in der „Unterordnung aller selbstsüchtigen Triebe unter den Begriff des Ganzen"10, auf den die neue Erziehung zu zielen habe.

1. Erziehung um 1800: Mensch oder Bürger Mit dem Vorschlag einer deutschen Nationalerziehung bewegt sich Fichte auf einem Gebiet, das sich um 1800 zu einem „Spannungsfeld von revolutionären Grundideen, reformpolitischen Ordnungsvorstellungen und neuhumanistischem Bildungsbegriff' 11 entwickelt hatte und verstärkt mit nationalistischen Deutungsmustern aufgeladen wurde. Die prominente Rolle, die der Pädagogik als „Inbegriff praxisorientierter Aufklärung" 12 im 18. Jahrhundert zugefallen war, hatte weiter an Bedeutung gewonnen, gegen Ende des Jahrhunderts aber eine Uminterpretation erfahren: Zunehmend verloren die aufgeklärt-rationalistischen Zweck-Mittel-Überlegungen an Einfluß zugunsten des Neuhumanismus und seinem Ideal persönlicher Vervollkommnung durch Bildung und Erziehung.13 Der hohe Wert, der der Pädagogik im fortschrittsoptimistischen und säkularisierten Denken der Aufklärung ganz allgemein zukam, hatte es im 18. Jahrhundert auch dem Staat zur Pflicht gemacht, Sorge für das Unterrichtswesen zu tragen und es aus der Aufsicht der Kirchen zu lösen. Schule, Unterricht und Erziehung entwickelten sich so immer mehr zu einer innerweltlichen Angelegenheit, die sich nach den praktischen Anforderungen ihrer Umwelt richten sollte. Nützlichkeit und Wohlfahrt standen im Mittelpunkt der Aufklärungspädagogik und wurden durch den Staat des aufgeklärten Absolutismus ganz auf die traditionelle Ständeordnung bezogen: , jeder Staatsbürger sollte die Bildung erhalten, die ihn in seinem Stande dazu befähigte, optimale Leistungen für das 9 10 11

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Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 452. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 276 und S. 417 (Hervorh. d. Verf.). Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 236 f., ähnlich auch auf S. 233. Vgl. zum Folgenden Flitner, Politische Erziehung, S. 15 ff., und den Artikel „Bildung", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. 508 ff. Herrmann, Erziehung und Unterricht als Politicum, S. 56. Vgl. dazu Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 148 ff.

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V. „Die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen "

Wirtschafts- und Wohlfahrtssystem des Staates zu erbringen."14 Dieses utilitaristische Verständnis von Pädagogik, das in die Bewegung des Philanthropismus mündete, sah sich aber seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vor allem seit dem Erscheinen von Rousseaus Emile ou de l'éducation (1762), einer immer stärker werdenden Kritik ausgesetzt. Jean-Jacques Rousseau hatte mit dem Emile ein Modell von Erziehung vorgestellt, das die Entwicklung der natürlichen und sittlichen Qualitäten des Menschen über seine politische Angepaßtheit und wirtschaftliche Effizienz stellt und von einem Antagonismus zwischen Natur und Kultur, zwischen Mensch und Bürger spricht: „Man bekämpft dann entweder die Natur oder die sozialen Einrichtungen und muß wählen, ob man einen Menschen oder einen Bürger erziehen will: beides zugleich ist unmöglich."15

Die enorme Wirkung, die Rousseaus Emile auf das 18. Jahrhundert im allgemeinen und die deutsche Diskussion im besonderen hatte, war eine doppelte: zum einen führte seine Erziehungslehre, die Selbstdenken und Selbsttätigkeit in ihren Mittelpunkt stellte, „eine prinzipielle und tiefgreifende Änderung pädagogischen Denkens und Argumentierens" herbei und zum anderen wurden durch die Unterscheidung zwischen Mensch und Bürger, die Rousseau vorgenommen hatte, Erziehung und Unterricht zu einem „Politicum ersten Ranges"16. Ulrich Herrmann begreift den Rousseauschen Konflikt zwischen Mensch und Bürger daher auch als „die Geburtsstunde der modernen Pädagogik und Bildungspolitik [...], denn seither wird darüber gestritten, ob und wie die gleichzeitige Verwirklichung beider Ziele möglich ist"17. Dieser Diskussion wurde in der deutschen Rousseau-Rezeption ihre politische Spitze zunächst dadurch genommen, daß die beiden pädagogischen Ziele - Mensch und Bürger - als sich wechselseitig ausschließende aufgefaßt wurden18 und in der Folge der Mensch immer weiter vom Bürger getrennt wurde - eine Entwicklung, die sich auch sprachgeschichtlich in der semantischen Trennung von Erziehung und Bildung nachzeichnen läßt19. Den Grundstein für diese Entwicklung hatte die Philosophie Kants gelegt, mit der sich sowohl Rousseaus Plädoyer für das Selbstdenken als auch seine Unterscheidung von Mensch und Bürger theoretisch weiter fundieren ließen: Auch Kant hatte Mündigkeit zum Zentralbegriff der Aufklärung gemacht und als Vermögen,

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17 18 19

Artikel „Bildung", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. 513, vgl. auch Herrmann, Von der Staatserziehung zur Nationalbildung, S. 208 f., und K.-E. Jeismann, Nationalerziehung, S. 93. Rousseau, Emil, S. 12, ähnlich noch einmal auf S. 13. Beide Zitate Herrmann, Erziehung und Unterricht als Politicum, S. 54, vgl. auch Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 116 ff. Herrmann, Erziehung und Unterricht als Politicum, S. 55 (Hervorh. im Orig.). Vgl. Herrmann, Erziehung und Unterricht als Politicum, S. 55. Allgemein gesprochen, wird Erziehung eher konkret, zweckgerichtet und aktivistisch verstanden, während Bildung mehr als Selbstzweck und als allgemeine Entwicklung der Persönlichkeit gesehen wird; vgl. den Artikel „Bildung", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. 511, Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis, S. 28 f., Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 214 ff. und, am ausführlichsten, die Studie Bildung und Kultur von Georg Bollenbeck.

Erziehung um 1800: Mensch oder Bürger

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„sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen"20, bestimmt, anders als Rousseau aber die Menschheitsgeschichte nicht als einen Verfallsprozeß begriffen und daher, wie Herder vor ihm und die deutsche Spätaufklärung insgesamt, die Rousseausche Verurteilung der Künste und Wissenschaften abgelehnt. Statt dessen verstand Kant Geschichte als „die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur" und gründete seinen Optimismus auf den Gedanken der menschlichen Vernünftigkeit: „Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat."21

Kants Überzeugung, daß menschliche Vollkommenheit möglich sei und gerade die von Rousseau kritisierte Rationalität den Fortschritt garantiere, wirkte ungemein anregend auf den Neuhumanismus des späten 18. Jahrhunderts. Am deutlichsten hat Fichte in seinen Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, die er 1794 in Jena hielt, diesen Optimismus formuliert: „Vor uns also liegt, was Rousseau unter dem Namen des Naturstandes, und jene Dichter unter der Benennung des goldenen Zeitalters, hinter uns setzen." Zwar teilt Fichte die Kultur- und Zeitkritik Rousseaus, macht aber als „Quelle aller Laster" nicht die sinnlichen Bedürfhisse, sondern die Trägheit und Faulheit des Menschen aus. Im Anschluß an das antagonistische Geschichtsverständnis Kants steht auch für Fichte am Anfang allen Fortschritts „der harte Kampf zwischen Bedürfhiß und Trägheit", den der Mensch mutig aufnehmen müsse, damit „aus einem blosen Naturprodukte ein freies vernünftiges Wesen" werden könne. Rousseau aber war für Fichte viel zu sehr „der Mann der leidenden Empfindlichkeit", um die natürlich-sinnlichen Bedürfnisse des Menschen als Aufgabe, als „Antrieb zur Thätigkeit und zur Tugend", begreifen zu können: „Er berechnete das Leiden; aber er berechnete nicht die Kraft, welche das Menschengeschlecht in sich hat, sich zu helfen." Fichte warnt daher seine Zuhörer, unter ihnen Schiller und Humboldt, vor „Rousseaus Fehlschlüsse", sich in die Vorstellung eines zwar bedürfnisfreien, aber auch geistlosen Naturzustands zu flüchten, und wirft dem Franzosen vor, „die Vernunft in der Ruhe, aber nicht im Kampfe" 22 geschildert zu haben. Die Vorstellung von der „Vernunft im Kampfe" ist ebenso charakteristisch für das Denken Fichtes wie in ihrem antagonistischen Kern auch für das zeitgenössische Philosophieren insgesamt, das in der Folge Kants vor allem bei Schiller und Humboldt zu einer Gestalt ausgebildet wurde, „in der das Verhältnis von Mensch und Welt, von ge20 21

22

Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Werke, Bd. 11, S. 53. Beide Zitate Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Werke, Bd. 11, S. 45 und S. 37. Alle Zitate Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 65 ff. (Hervorh. im Orig.). Wie viele Interpreten stößt auch Fichte sich daran, daß Rousseau mit wissenschaftlichen Mitteln den kulturellen Fortschritt kritisiert, und wirft ihm daher vor: „Er thut demnach gerade das, was er selbst so bitter tadelt; seine Handlungen stehen mit seinen Grundsätzen in Widerspruch", ebd., S. 61.

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seilschaftlicher Funktion und humaner Bestimmung zum Widerspruch gerät"23. Wie die neueren Arbeiten von Theodore Ziolkowski und Anthony La Vopa zeigen konnten, standen Fichte, Schiller und Humboldt in Jena 1794/95 in einem so regen geistigen Austausch, daß schließlich die „intellectual chemistry" zwischen ihnen den Neuhumanismus formte.24 Für den Zusammenhang der Rousseauschen Unterscheidung zwischen Mensch und Bürger und ihrer deutsche Rezeption entscheidend ist hier, daß alle drei Denker - bei allen Unterschieden im einzelnen - von jenem Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Funktion und humaner Bestimmung des Menschen ausgingen und wie Rousseau ihre Gegenwart als eine Welt der Entfremdung und Vereinzelung empfanden. Gegen den Pessimismus Rousseaus aber setzten sie die Sollens-Dynamik des kategorischen Imperativs und den emphatischen Bildungs- und Individualitätsgedanken Herders. In Übereinstimmung mit Fichtes Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten begriffen sie die gegenwärtige Fragmentierung des Individuums als Herausforderung und bemühten sich um Modelle der Überwindung und der Versöhnung. Sowohl die allgemeine Entfremdung infolge einer utilitaristischen Aufklärungsphilosophie als auch das Scheitern der Französischen Revolution bestärkten den Neuhumanismus darin, Fortschritt nicht von einer Veränderung der äußeren Verhältnisse, sondern allein von der inneren Bildung des Menschen zu erwarten. Als letzten Zweck dieser Bildung formulierten die Neuhumanisten Idealbilder des Menschen und nannten „Veredelung des Charakters" (Schiller), „die vollkommene Uebereinstimmung eines vernünftigen Wesens mit sich selbst" (Fichte) oder den Menschen, „der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will" (Humboldt) als Ziele25. Paradigma einer gelungenen Versöhnung zwischen Natur und Vernunft war vor allem fiir Schiller und Humboldt der Mensch des antiken Griechenlands, dessen individuelle Vollkommenheit sie für die Zukunft anstrebten und mit einer Bildung durch Kunst, Philosophie und die Sprachen der Antike erreichen wollten. Die ursprüngliche Frage Rousseaus, ob der Mensch zum Menschen oder zum Bürger zu erziehen sei, beantwortete der Neuhumanismus ganz eindeutig mit einer Erziehung zum Menschen. Auf das konflikthafte Verhältnis von Mensch und Natur reagierte er mit einer Überhöhung alles Geistigen, Künstlerischen und Sittlichen, auf die die Abwertung des Politischen notwendig folgte: So sprach Schiller vom Staat nur als dem „Zwang der Bedürfnisse" und als „Notstaat", mit dem der Mensch als „moralische Person nicht zufrieden sein"26 könne, und auch Humboldt suchte damals noch nach

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Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 132. Vgl. Ziolkowski, Das Wundeijahr in Jena, und La Vopa, Fichte. The Self and the Calling of Philosophy, S. 183 ff., hier S. 215; auch für Georg Bollenbeck sind die meisten Neuhumanisten „Schüler Fichtes", Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 157. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 280 (9. Brief), Fichte, Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 32, und Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, Werke, Bd. 1, S. 235. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 261 (3. Brief).

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„Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" - so der Titel seiner Schrift von 1793 - und vertrat die Auffassung, „daß sich nicht das Individuum dem Staat anzupassen, sondern dieser sich vom humanistisch gebildeten Individuum prüfen lassen müßte"27. Am Ende des Neuhumanismus steht damit die weitestgehende Trennung von Staat und Gesellschaft, Recht und Moral, Bürger und Mensch, die am Beispiel des politischen Denkens Fichtes im zweiten Kapitel schon ausfuhrlich dargestellt wurde und die seit dem späten 18. Jahrhundert ihre Wirkung entfaltete: „Die Vorstellung, erst die Menschen und dann die Verhältnisse zu ändern, gehört von nun an zur Grundausstattung im geistigen Erfahrungskapital der deutschen Intelligenz."28 Führte die Rousseau-Rezeption des deutschen Neuhumanismus „zu einer Abstinenz gegenüber dem Politischen"29 und kann geradezu als „gedankliche Vorwegnahme des Grundrechts auf Freiheit der Bildung"30 verstanden werden, so verlief sie konträr dazu in der Französischen Revolution: vor allem die Jakobiner lasen den Emile ganz unter dem Aspekt der Veränderung und des Bruchs mit allen Konventionen, wodurch die Bewunderung Rousseaus fur Piatons Staat - „die schönste Abhandlung über die Erziehung, die jemals geschrieben wurde"31 - eine ganz andere Konnotation erfuhr als in der neuhumanistischen Aneignung des Hellenismus. Auch wenn Rousseau selbst seine Theorie nicht als Aufruf zum Umsturz verstanden wissen wollte, befand er sich mit seinen Arbeiten doch in einer „radikalen Frontstellung gegen die zeitgenössische Gesellschaft und ihren Staat"32 und entfaltete von da aus seine revolutionäre Wirkung. Diese Wirkung ging auch vom Emile aus, in dem es Rousseau ja nicht nur um eine Revision des pädagogischen Utilitarismus ging, sondern auch „um die Überwindung einer falschen, auf den Willen und die angemaßte Herrschaft einzelner gegründeten Gesellschaftlichkeit"33. Von vornherein beinhaltete daher „für die Männer der Revolution jede Pädagogik auch immer schon die Vorstellung eines politischen Gemeinwesens"34, und Fragen der Erziehung regten eine enorme literarische Publizität im revolutionären Frankreich an.35 Während die neuhumanistische Lesart die Rousseausche Spannung zwischen Mensch und Bürger einseitig zugunsten einer zweckfreien Bildung des Menschen auflöste, setzten die Revolutionäre in Paris den Akzent ganz auf seiten des

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Krause, Staatserziehung und Einheitsschule, S. 231. Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 143. Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 142. K.-E. Jeismann, Nationalerziehung, S. 94. Rousseau, Emil, S. 13. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 254. Ruhloff, Rousseau, in: Fischer u. Löwisch, Philosophen als Pädagogen, S. 103, vgl. auch Flitner, Politische Erziehung, S. 31. Julia, Die Erziehung des Staatsbürgers, S. 63. Zwischen 1789 und 1799 wurden 1367 Texte über Erziehung und Unterricht verfaßt, vgl. Harten, Pädagogische Eschatologie, S. 121; zu einer der ersten Handlungen der Revolutionsregierung gehörte daher auch ein Erlaß über die Säkularisierung des Bildungswesens, vgl. Flitner, Politische Erziehung, S. 34.

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Bürgers im Sinne einer öffentlich-staatlichen Erziehung. Am konsequentesten hatte der frühere Pariser Parlamentspräsident Michel Lepelletier36 die jakobinischen Erziehungsvorstellungen in seinem Nationalen Erziehungsplan formuliert, den Robespierre kurz nach der Ermordung Lepelletiers dem Konvent am 13. Juli 1793 verlas. Auch Lepelletiers Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei einer defizitären Gegenwartsdiagnose, ziehen aus ihr aber ganz andere Schlüsse als der deutsche Neuhumanismus: „[...] und da ich gesehen habe, wie sehr das Menschengeschlecht durch die Mängel unseres alten Gesellschaftssystems entwürdigt war, bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß es notwendig ist, eine völlige Neugestaltung vorzunehmen und, wenn ich so sagen darf, ein neues Volk zu schaffen."37

Lepelletier geht es um „eine völlige Neugestaltung" der Verhältnisse und die Schaffung eines neuen Volks, d. h. die revolutionären Veränderungen dürfen nicht, so die zentrale Einsicht seines Nationalen Erziehungsplans, bei dem Gesellschaftssystem stehen bleiben: „Die bürgerliche Gleichheit ist wieder hergestellt worden, aber ihnen fehlen Unterricht und Erziehung [...]."38 Als oberstes Ziel dieses Unterrichts für die französischen Bürger nennt Michel Lepelletier den Gemeinschaftssinn39 und macht damit die sittlichmoralischen Überzeugungen des einzelnen zum Gegenstand staatlichen Handelns. „Auf diese Weise kann man die Revolution als pädagogisches Projekt begreifen; denn sie muß, soll sie auf Dauer gestellt werden, in innere Dispositionen überführt, also im mentalen System verankert werden."40

Dieser Griff nach den inneren Dispositionen des Menschen steht im Zentrum aller politischen Erziehung, die Eduard Spranger daher als die „Disziplin des ganzen Menschen"41 definiert hat, und findet seinen Ausdruck im Begriff der politischen Tugend. Kennzeichen des politischen Tugendbegriffs ist der Primat des Gemeinwohls, das weit über den Interessen der Einzelnen steht. Tugend als die „Subsumtion der eigenen Interessen unter das Wohl und die Funktionsimperative des Gemeinwesens"42 erlaubt keine Trennung von öffentlicher und politischer Sphäre, sondern setzt Staat und Gesellschaft, Mensch und Bürger in eins. Nach dem Vorbild Spartas galten daher die Absichten Lepelletiers weniger „positiven Wissensinhalten, die eine Staatsideologie propagieren würden, sondern sehr viel mehr dem Erlernen von Verhaltensweisen, der Prägung des republikanischen Habitus"43. Die Gemeinwohlorientierung des Nationalen Erziehungsplans forderte die Erziehung aller Kinder ab dem fünften Lebensjahr „unter dem heiligen Gesetz der Gleichheit" und die Unterbringung in abgesonderten Internaten, wo sie

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Auch die Schreibweisen „Lepeletier" und „Le Peletier" sind gebräuchlich. Lepelletier, Nationaler Erziehungsplan, S. 437, ähnlich auch auf S. 479. Lepelletier, Nationaler Erziehungsplan, S. 480. Vgl. Lepelletier, Nationaler Erziehungsplan, S. 458. Herrmann u. Oelkers, Pädagogisierung der Politik, S. 17. Spranger, Probleme der politischen Volkserziehung, S. 171. Münkler, Politische Tugend, S. 25. Julia, Die Erziehung des Staatsbürgers, S. 81.

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in eine „republikanische Gießform geworfen" 44 werden. Wird dieser Plan konsequent umgesetzt, dann verspricht Lepelletier dem jakobinischen Wohlfahrtsausschuß und dem Pariser Konvent nicht weniger als „ein neues, starkes, arbeitsames, ordentliches und diszipliniertes Geschlecht [...], das eine unüberwindliche Barriere von jedem unreinen Kontakt mit den Vorurteilen unserer veralteten Generation trennen wird"45. Die Vorstellung einer politischen Erziehung zur Tugend gewann ihre Wirkkraft in Verbindung mit den Machbarkeitsvorstellungen, die aus einem veränderten Geschichtsverständnis infolge der Französischen Revolution resultierten.46 Vor 1789 war der Revolutionsbegriff noch weitgehend durch das antike Modell eines Kreislaufs der Verfassungsformen geprägt, nach dem Veränderungen quasi-naturhaften festgeschriebenen Ablaufgesetzen unterliegen. Seitdem der Mensch mit der Französischen Revolution aber in das Rad der Geschichte eingegriffen hatte, wandelte sich auch die Semantik des Revolutionsbegriffs grundlegend: Verfügbarkeit und Steuerbarkeit, aber auch Plötzlichkeit und Gewaltsamkeit wurden nun zu Attributen von Geschichte, und die Idee menschlicher Selbstermächtigung, die durch die Aufklärung theoretisch vorbereitet wurde, prägte das weitere Verständnis. Dieses neue Könnensbewußtsein steht auch im Hintergrund des pädagogischen Selbstverständnisses der Revolutionäre und ihrer Überzeugung, durch Erziehung ein „neues Volk" oder ein „neues Geschlecht" schaffen zu können. Die politische Dimension, die allen pädagogischen Entwürfen immer schon immanent ist47, erfahrt durch die Erziehungspläne der Französischen Revolution eine folgenreiche Ausdehnung, weil in und mit ihnen der neue Verfügbarkeits- und Gestaltungsanspruch in vollem Umfang von der unmittelbaren Gegenwart auf die Zukunft ausgedehnt wird. Den pädagogischen Verheißungen der Zukunft muß sich die Menschheit nun nicht mehr, wie noch in der neuhumanistischen Bildungsphilosophie, evolutionär, in einem langsamen, doch kontinuierlichen Prozeß annähern. Vielmehr wurden die 44 45

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Beide Zitate Lepelletier, Nationaler Erziehungsplan, S. 443 und S. 479. Lepelletier, Nationaler Erziehungsplan, S. 479. Wie Jürgen Oelkers am Beispiel von Robespierre diskutiert, besteht ein innerer Zusammenhang zwischen der sentimentalen „Idee der menschlichen Perfektion" und der späteren „Gleichung von ,'Tugend und Terror'", vgl. Oelkers, Vollendung, S. 25 ff., hier S. 26. Vgl. zum folgenden vor allem die beiden Aufsätze „Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs" und „Der neuzeitliche Revolutionsbegriff als geschichtliche Kategorie" von Reinhart Koselleck und den Artikel „Revolution", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5. Dazu Ulrich Herrmann: „Hier zeigt sich eine weitere Dimension des Politischen im Begriff des Pädagogischen: der Vorgriff auf den künftigen Zustand von Mensch und Gesellschaft im Prozeß der Bildung und Ausbildung der menschlichen Kräfte und Fähigkeiten. Die Sorge fur die Zukunft und um die Zukunft ist ein entscheidendes Motiv und ein bis heute wirksamer Antrieb für die Politisierung des Pädagogischen. Dabei spielt es zunächst einmal keine Rolle, welche Zukunftswirkungen Familienerziehung, Schulunterricht und Berufsausbildung tatsächlich haben, welche nur behauptet werden oder welche ihnen zugeschrieben werden. Eben weil dies nicht klar und abschließend feststellbar ist, haben wir es mit einem politischen Problem zu tun. Und die politischen Kontroversen sind um so heftiger, je größer die Gegenwartsprobleme und die Zukunftsängste sind", Herrmann, Erziehung und Unterricht als Politicum, S. 56 f.

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öffentlich-staatlichen Erziehungsprogramme so stark mit dem neugewonnenen Machbarkeitsglauben aufgeladen, daß es nach der Französischen Revolution unmöglich wurde, „ohne Bezug auf die Revolution von Politik und von Pädagogik zu sprechen"48.

1.1. Nationalerziehung Obwohl der preußische Staat schon seit dem frühen 18. Jahrhundert eine aktive Schulpolitik betrieben und mit dem Allgemeinen Landrecht von 1794 das Unterrichtswesen endgültig unter seine Hoheit gebracht hatte, geschah dies nicht, wie im revolutionären Frankreich, um Untertanen in Staatsbürger zu verwandeln, sondern, ganz im Gegenteil, um die alte Gesellschaftsordnung zu befestigen und eine rein berufs- und standesbezogene Ausbildung zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund wird es für Karl-Ernst Jeismann verständlich, daß die deutschen Intellektuellen am Ende des 18. Jahrhunderts dazu neigten, „sich vom Staat abzuwenden und ihre Bildung in einer staatsfreien Sphäre zu suchen"49. Die Trennung zwischen Mensch und Bürger, die der Neuhumanismus vorgenommen hatte, und das Ideal allseitiger und freier Geistesbildung lassen sich daher auch als ein direkter Reflex auf die Wirklichkeit des absolutistischen Obrigkeitsstaats und seinen utilitaristischen Erziehungsbegriff verstehen. Dieses Verhältnis von Politik und Pädagogik sollte sich erst ändern, als nach dem Zusammenbruch Preußens in den Kriegen gegen Frankreich der Weg frei war „für die Begegnung zwischen Bildung und Staat"50: Schon seit der Französischen Revolution war der Begriff einer politischen Erziehung auch Gegenstand einer kontroversen deutschen Diskussion geworden, wie insgesamt das Reden und Schreiben über Erziehung und Bildung im frühen 19. Jahrhundert noch erheblich zugenommen hatte - „alles dies aber blieb noch papieren"51. Erst als sich, wie im dritten Kapitel beschrieben, das allgemeine Gefühl von Wandel und Beschleunigung infolge der politischen Veränderungen zur Krise steigerte, entstand in Preußen und den Rheinbundstaaten ein Klima, das günstig für Reformen und für die „Begegnung zwischen Bildung und Staat" war. Die intellektuelle Entwicklung Wilhelm von Humboldts vom Neuhumanisten zum preußischen Reformer vermag dieses Klima ebenso zu illustrieren wie der einsetzende Optimismus, mit dem sich das Bildungsbürgertum nun, nach der Überwindung des Absolutismus, aktiv der politischen Erziehung zuwandte: „[...] suchte der alte Staat die Erziehung als Instrument seiner spezifischen Zwecke - der Erhaltung des ständisch gegliederten, arbeitenden und gehorchenden Untertanenverbandes 48

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Herrmann u. Oelkers, Pädagogisierung der Politik, S. 24, zu der anti-evolutionären Geschichtsidee des politischen Tugenddiskurses vgl. Münkler, Politische Tugend, S. 38 f. K.-E. Jeismann, Nationalerziehung, S. 94. K.-E. Jeismann, Nationalerziehung, S. 96, vgl. auch Krause, Staatserziehung und Einheitsschule, S. 228. Flitner, Politische Erziehung, S. 65, vgl. auch den Artikel „Bildung", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. 523 ff., und Herrmann, Erziehung und Unterricht als Politicum, S. 65 f.

Erziehung um 1800: Mensch oder Bürger

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einzusetzen, so ergreifen jetzt die ,Gebildeten', die sich von solchem Staat zunächst emanzipierten, das neuzuordnende Gemeinwesen und versuchen, ihm ihre Vorstellungen aufzuprägen, ihn so umzuformen, daß er der Gegenstand sein konnte, in dessen Dienst sie die tätige Erfüllung ihrer Bildung verstanden. Zugespitzt: nicht mehr der Staat treibt Erziehungspolitik, sondern die Politik wird selbst ein Instrument der Erziehung zum freien, mündigen Staatsbürger und zur Bildung eines Staates selbst, dem ein solcher Bürger dienen kann."52

In dem Ziel des mündigen Staatsbürgers verband sich die bildungsbürgerliche Bewegung von unten mit der einsetzenden Reformtätigkeit von oben, die schon vor dem Tilsiter Friedensvertrag mit der Abschaffung der Kabinettsregierung im Frühjahr 1807 und der Wiederberufung des Freiherrn vom Stein erste Erfolge verbuchen konnte. Allgemein empfand man die gegenwärtige Krise als eine strukturelle des alten Stände- und Militärstaats und verspürte einen enormen Reform- und Erneuerungsbedarf, in dessen Hintergrund sowohl die sozialen Veränderungen des 18. Jahrhunderts als auch das Vorbild Frankreichs standen. Das Ziel des mündigen Staatsbürgers, das allen Reformprojekten zugrunde lag, läßt sich als die Idee einer sittlich-moralischen Erneuerung begreifen, die eine stärkere Teilnahme des einzelnen am Staat bewirken sollte. Programmatisch hat Karl von Altenstein in seiner schon erwähnten Rigaer Denkschrift vom Spätsommer 1807 die Notwendigkeit einer sittlich-moralischen Erneuerung, einer „Revolution im Innern"53, formuliert: „Es fehlte dem Staate an der energischen Vereinigung aller Kräfte der einzelnen zu einem gemeinschaftlichen Zweck. [...] Die Verfassung hatte nichts, was eine allgemeine Teilnahme der Nation an der Beförderung eines ihr noch dazu nicht einmal klar dargestellten Zwecks hätte veranlassen können. [...] Es war daraus eine gänzliche Gleichgültigkeit gegen die Staatsverwaltung entsprungen."54

Altensteins Forderung nach einer „energischen Vereinigung aller Kräfte zu einem gemeinschaftlichen Zwecke" ist die Forderung nach einem neuen Verhältnis von Mensch und Bürger, mit der der Pädagogik eine zentrale Funktion im allgemeinen Reformprozeß zukam: „Nicht,Mensch oder Bürger' kann die Frage länger lauten, sondern die Devise heißt: ,Mensch als Bürger'" 55 . Zum Koinzidenzpunkt dieser neuen pädagogischen Devise wurden die zahlreichen Entwürfe einer deutschen „Nationalerziehung", in denen sich die schon erwähnte „semantische Gemengelage"56 aus revolutionären Grundideen, reformpolitischen Ordnungsvorstellungen und neuhumanistischem Bildungsbegriff nach 1807 verdichtete. So wie Altenstein aus der konstatierten „Gleichgültigkeit" gegenüber dem Staat und seinen Angelegenheiten auf die Notwendigkeit einer höheren Idee Schloß57, steht ein gemeinsamer Wert auch im pädagogischen Zentrum der zahlrei-

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K.-E. Jeismann, Nationalerziehung, S. 96. Altenstein, Denkschrift, S. 396. Altenstein, Denkschrift, S. 393. Herrmann, Erziehung und Unterricht als Politicum, S. 65 (Hervorh. im Orig.). Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 233, ähnlich auch Flitner, Politische Erziehung, S. 66 f. Vgl. Altenstein, Denkschrift, S. 369.

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V. „Die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen "

chen Entwürfe einer deutschen Nationalerziehung: „Gemeinsinn wird zur Erziehungsaufgabe." 58 Bei allen Unterschieden im einzelnen kommt dem Gemeinsinn nämlich deswegen eine besondere Rolle zu, weil er sich sowohl als individuelle als auch als politisch-soziale Tugend verstehen läßt und so den Menschen mit dem Bürger zu verbinden vermag. Gemeinsam sind den unterschiedlichen Plänen zur Nationalerziehung aber auch die großen Erwartungen, die insgesamt auf Schule und Unterricht als Faktoren und Medien der angestrebten sittlich-moralischen Erneuerung gerichtet werden: „Durchgehend aber zeigt sich diese Auffassung: die Schule ist nicht nur Sache der Nation, sie ist auch Bildungsstätte, in der und durch die sich die Nation entwickelt. [...] Die Nationalschule [...] ist also Werkzeug eines gesellschaftlichen Emanzipationsprozesses wie eines nationalen Einigungsprozesses."59

Schule und Unterricht, Erziehung und Bildung wurden als Schnittstelle zwischen Mensch und Bürger begriffen und sollten die Versöhnung der beiden pädagogischen Ziele leisten. Entscheidend war, daß das bislang als antagonistisch empfundene Verhältnis zwischen dem Staat und seiner utilitaristischen Erziehung auf der einen und der Menschheit in ihrer neuhumanistischen Überhöhung auf der anderen Seite durch die Idee der Nation aufgelöst werden konnte. Im Unterschied zu dem Erziehungsziel Staat ermöglichte das Erziehungsziel Nation nämlich eine „emotionale Mobilisierung"60 und konnte so weit idealisiert werden, daß es anschlußfahig wurde für den neuhumanistischen Bildungsbegriff. Von der Nation, nicht vom Staat wurde deswegen Gemeinsinn und die angestrebte innere Bindung des einzelnen an die Gemeinschaft erwartet. Die alte Überzeugung, erst den Menschen und dann die politisch-sozialen Verhältnisse zu verändern, lag auch den Plänen einer Nationalerziehung zugrunde und verband sich mit den Machbarkeitsvorstellungen und der Tugendorientierung der Französischen Revolution und ihrer Pädagogik, die den ganzen Menschen zu erfassen suchte. Die doppelte Zielsetzung von gesellschaftlichem Emanzipationsprozeß und nationalem Einigungsprozeß, von der Jeismann spricht, die Verquickung von neuhumanistischen Bildungszielen mit der Idee einer politischen Erziehung nach französischem Vorbild, brachte aber auch eine systematische Schwierigkeit mit sich: „Aber das französische Modell ist gleichsam umgekehrt: die Nationalerziehung folgt nicht, sie geht dem nationalen Staat voraus."61 So sehr dieses Verhältnis dem begrifflich-analytischen und entwicklungsgeschichtlichen Unterschied zwischen Staat und Nation Rechnung trägt, so sehr stellt es für Jeismann doch auch „eine gewaltige Überschätzung pädagogischer Möglichkeiten"62 dar, die sich auch durch den Vorschlag einer deutschen Nationalerziehung von Fichtes Reden an die deutsche Nation zieht.

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Krause, Staatserziehung und Einheitsschule, S. 232. K.-E. Jeismann, Nationalerziehung, S. 100. Herrmann, Erziehung und Unterricht als Politicum, S. 65 f., vgl. auch Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 241 ff. K.-E. Jeismann, Nationalerziehung, S. 101. K.-E. Jeismann, Nationalerziehung, S. 101.

Fichtes Vorschlag einer deutschen Nationalerziehung

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2. Fichtes Vorschlag einer deutschen Nationalerziehung 2.1. Fichte als Pädagoge Vom Anfang an seiner intellektuellen Entwicklung hatte Fichte sich mit Erziehungsfragen beschäftigt und schon seine frühen Hofmeister- und Hauslehrertätigkeiten methodischen und didaktischen Reflexionen unterzogen.63 Er selbst hatte nur durch einen glücklichen Zufall überhaupt die Gelegenheit erhalten, den armen Verhältnissen seiner Herkunft zu entkommen, und verdankte einem Stipendium die Aufnahme an der sächsischen Fürstenschule Schulpforta und das spätere Theologiestudium in Jena und Leipzig. 64 Als dann 1784 die Zuwendungen seines adligen Förderers ausblieben, war Fichte gezwungen, sein Studium abzubrechen und sich die kommenden zehn Jahre als Hauslehrer durchzuschlagen65, bis er schließlich 1794 nach dem Erfolg seines Versuchs einer Critik aller Offenbarung auf den Lehrstuhl Reinholds in Jena berufen wurde. Auch als Professor räumte Fichte, der seine drei Professuren in Jena, Erlangen und Berlin jeweils mit Vorlesungen über das Wesen und die Bestimmung des Gelehrten eröffnete, den didaktischen Aspekten seiner Tätigkeit einen hohen Stellenwert ein: Ungewöhnlich für den damaligen Universitätsbetrieb trug er seine Vorlesungen nicht nach festgelegten Lehrbüchern vor, sondern entwickelte seine Gedanken frei und unterbrach die Vorlesungen immer wieder für Diskussionsstunden, in denen die Hörer nachfragen konnten und Fichte sich so vergewisserte, wie weit sein Vortrag begriffen worden war.66

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Vgl. die Tagebücher zur Erziehung der Ottschen Kinder, GA II, 1, S. 147 ff., zum pädagogischen Denken des jungen Fichte vgl. Schuffenhauer, Die Pädagogik Fichtes, S. 13 f f , und Ehrlich, Fichte als Redner, S. 73 f f , allgemein zur Entwicklung des vorkantischen Fichte die Studie von Preul Reflexion und Gefühl. Als Fichte etwa acht, neun Jahre alt war, besuchte Ernst Hauboldt von Miltitz, ein Adeliger aus der Umgebung, das Dorf Rammenau, wo die Fichtes lebten. Da Miltitz zu spät für den sonntäglichen Gottesdienst kam, die Predigt aber gerne gehört hätte, berichtete man ihm von den Fähigkeiten des Gänsejungen Johann Gottlieb Fichte, die Predigten des Pfarrers recht genau wiederholen zu können. Fichte trug Miltitz die Predigt daraufhin vor, gefiel „durch sein Talent ebenso wie durch seinen Freimut", und der Adelige beschloß daraufhin, für die Erziehung des Jungen zu sorgen, vgl. Jacobs, Fichte, S. 10. Bei aller materiellen Not und Unzufriedenheit über seine Lage verdankt Fichte seiner Hauslehrertätigkeit nicht nur, wie Heinz Schuffenhauer zusammenfaßt, „gründliche Erfahrungen in der praktischen erzieherischen Arbeit", sondern auch „einen beachtlichen Einblick in die pädagogische Literatur seiner Zeit", Schuffenhauer, Die Pädagogik Fichtes, S. 28. Die Briefe und Aufzeichnungen Fichtes aus jener Zeit nennen u. a. Salzmann, Pestalozzi, Campe und Bahrdt. Vgl. Jacobs, Fichte, S. 47 und S. 95. Schon als Hauslehrer hatte Fichte großen Wert darauf gelegt, daß nicht mechanisch auswendig gelernt, sondern begriffen wird, vgl. ebd., S. 17.

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Schon früh war Fichte also sowohl für die emanzipatorische Wirkung von Bildung und für die Karrierechancen, die sie bot, sensibilisiert worden als auch für die soziale Ungerechtigkeit der feudal-ständischen Bildungsprivilegien.67 Frühes Dokument dieser Prägung Fichtes sind die Zufälligen Gedanken in einer schlaflosen Nacht, einem Fragment von 1788, in dem er zu einer umfassenden Kultur- und Gesellschaftskritik ausholt und sich Veränderung von Erziehung und Aufklärung erwartet. Schon damals verwies er auf Pestalozzis Roman Lienhard und Gertrud, der die moralische Verdorbenheit der Zeit „am besten" von allen Kritikern eingefangen habe, auch wenn er für Fichtes Geschmack ruhig „noch weiter gehen [und] auch die höhern Stände ein bischen beleuchten"68 könnte. Sein damaliger Schluß, daß daher „noch immer ein Buch zu schreiben [wäre], welches das ganze Verderben unsrer Regierungen, u. unsrer Sitten [...] unübertrieben darstellte"69, verweist schon voraus auf seine kommenden politischen Arbeiten und ihren sozialkritischen und aufklärerischen Gehalt: Die emanzipatorische Funktion von Erziehung und Bildung liegt dann auch seinen beiden Revolutionsschriften von 1793 zugrunde, mit denen er es sich zur Aufgabe machte, „das Volk gründlich über seine Rechte und Pflichten zu unterrichten"70, und reicht weiter über die schon diskutierten Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten von 1794, die die höchste Aufgabe von Philosophie in der Frage nach der Bestimmung des Menschen sahen71. Wenig später beschrieb Fichte dann in der Grundlage des Naturrechts das transzendentale Aufforderungs- und Anerkennungsverhältnis vor allem als ein pädagogisches - „die Aufforderung zur freien Selbstthätigkeit ist das, was man Erziehung nennt"72 - , und noch 1804 verfaßte er Aphorismen über Erziehung, in denen er sich scharf gegen eine standesbezogene und zweckgerichtete Erziehung wendet, der er seinen umfassenden neuhumanistischen Bildungsbegriff entgegensetzt: „Einen Menschen erziehen heisst: ihm Gelegenheit geben, sich zum vollkommenen Meister und Selbstbeherrscher seiner gesammten Kraft zu machen. [...] den Zögling fur seinen Stand erziehen, wie man dies wohl genannt hat, würde nur überflüssig seyn, wenn es nicht verderb-

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Vgl. Schuffenhauer, Die Pädagogik Fichtes, S. 28, und Ballauff u. Schaller, Pädagogik, S. 446. Zufällige Gedanken, GA II, 1, S. 104, dazu Hinz, Pestalozzi und Preußen, S. 345. Zufällige Gedanken, GA II, 1, S. 104, zu den Zufälligen Gedanken vgl. La Vopa, Fichte. The Seif and the Calling of Philosophy, S. 27 ff., Preul, Reflexion und Gefühl, S. 81 ff., und Willms, Totale Freiheit, S. 15 ff. Beitrag, GA I, 1, S. 204. In der ersten Vorlesung erklärte Fichte seinen Hörern, „daß die ganze Philosophie [...] auf nichts anders abzwecken kann, als auf die Beantwortung der aufgeworfenen Frage, und ganz besonders der lezten höchsten: Welches ist die Bestimmung des Menschen überhaupt, und durch welche Mittel kann er sie am sichersten erreichen?", Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, S. 27. Grundlage des Naturrechts, GA I, 3, S. 347, vgl. dazu oben, S. 81 f. Zu Erziehungsfragen in der Wissenschaftslehre vgl. den Aufsatz von Schurr, Zur Konzeption einer transzendentalen Bildungstheorie, siehe auch Soller, Nationale Erziehung, S. 89 ff., und Ballauff u. Schaller, Pädagogik, S. 446 ff.

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lieh wäre. Es verengt die Kraft und macht sie zum Sklaven des angebildeten Standes, da sie doch sein Herrscher seyn sollte."73

Vor diesem Hintergrund kommt es nicht unerwartet, daß Fichte auch seine Beobachtung des preußisch-französischen Kriegs und die anschließende Kritik an der sittlichmoralischen Mangelhaftigkeit des aufgeklärten Rechts- und Wohlfahrtsstaates und an der materialistischen Gesellschaft insgesamt sehr schnell auch mit pädagogischen Reflexionen verband. Schon in der Republik der Deutschen, die im Frühjahr 1807 entstand und Fichtes Verärgerung und Enttäuschung freien Ausdruck gibt, findet sich die Notiz: „Das erste Kapitel müssen die allgemeinen Grundsätze seyn. Außerdem glaube ich, kann ich fortarbeiten. - Aber nein ich kann ja nicht. Ich muß ja Pestalozzi lesen."74 Wie nachhaltig und mit welch zunehmender Begeisterung sich Fichte in diesen Monaten mit dem Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi beschäftigte, dokumentieren nicht nur seine umfangreichen Exzerpte zu Pestalozzis Wie Gertrud ihre Kinder lehrt15, sondern auch ein Brief an seine Frau vom Juni 1807: „Kannst Du Pestalozzi's ,Wie Gertrud ihre Kinder lehrt', und sein neuestes 1807 bei Gräff in Leipzig erschienenes Buch bekommen, so lies es ja. Ich studire jetzt das Erziehungs-System dieses Mannes, und finde das wahre Heilmittel für die kranke Menschheit; so wie auch das einige Mittel, dieselbe zum Verstehen der Wissenschaftslehre tauglich zu machen."76

Die Verbindung zwischen Erziehung, Heilmittel für die kranke Menschheit und Verständnis der Wissenschaftslehre, die Fichte hier erstmals herstellt und die auch den Nationalerziehungsplan der Reden an die deutsche Nation charakterisieren wird, hatte er in zweiten Gespräch über den Patriotismus, und sein Gegentheil weiter systematisiert. Pestalozzi ist für Fichte mehr als nur der Volkserzieher und Anwalt der Armen, er hat mit seiner Erziehungslehre auch „das einzige Heilmittel für die gesammte Menschheit" gefunden und „zugleich das einzige Mittel [...], eine Generation zu bilden, die fähig sey, Kant, und die Wißenschaftslehre zu verstehen"77. Allerdings sei der Pädagoge viel zu sehr ein Mann der Praxis, als daß er das volle Ausmaß seiner Lehre wirklich fassen könne - „er versteht nicht, was er einsieht"78 - , weswegen Fichte im Frühjahr 1807 allmählich den Vorsatz zu fassen beginnt, Pestalozzi gewissermaßen von den Füßen auf den Kopf zu stellen: Fichte hält es mit Blick auf die Erziehungslehre Pestalozzis für notwendig, „daß man den Grundgedanken selber bis in seine Wurzel verfolge, und so der Praxis das Fundament gebe, deßen sie gegenwärtig ermangelt"79. So gewendet und

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Aphorismen über Erziehung, GA II, 7, S. 17. Republik der Deutschen, GA II, 10, S. 390. Die Exzerpte finden sich unter dem Titel Bei Lektüre von Pestalozzis Buch „ Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" in GA II, 10, S. 427-457, vgl. dazu Schuftenhauer, Die Pädagogik Fichtes, S. 96 ff. Brief an seine Frau vom 3. Juni 1807, GA III, 6, S. 121, mit dem neuesten Buch Pestalozzis war gemeint: H. Pestalozzi's Ansichten, Erfahrungen und Mittel zur Beförderung einer der Menschennatur angemessenen Erziehungsweise, deren erster Band kurz zuvor erschienen war. Patriotismus, GA II, 9, S. 438 f. Patriotismus, GA II, 9, S. 440, ähnlich auch auf S. 438. Patriotismus, GA II, 9, S. 439.

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ins Grundsätzliche vertieft, könnte die Lehre Pestalozzis nicht mehr nur zur Erziehung „des armen gedrükten Volkes" dienen, sondern hätte als „die absolut unerlaßliche ElementarErziehung der ganzen künftigen Generation und aller Generationen von nun an" zu gelten. Fichte kritisiert mit vorsichtigen Worten die sozial „beschränkte Ansicht" und den politischen Pessimismus Pestalozzis80, die ihm den Blick auf die emanzipatorische Kraft seiner Lehre verstellten, die doch wie keine zweite zur „NationalErziehung" geeignet sei: „gebt sie den Bürgern, und ihr werdet zugleich eine Nation erhalten"81. Der intensiven Beschäftigung Fichtes mit Fragen der Erziehung und der Pädagogik und seiner Begeisterung für Pestalozzi kam es wie gerufen, daß die preußische Regierung im Rahmen der einsetzenden Reformtätigkeit auch den Plan zur Gründung einer Berliner Universität verfolgte. Dieser Plan oblag zunächst noch seinem alten Freund und Förderer, dem Kabinettsrat Beyme82, der sich hierbei auch auf Fichte zu stützen beabsichtigte und ihn im September 1807 um die Ausarbeitung eines Konzepts bat83. Fichte mußte dazu nicht lange überredet werden und ergriff mit Eifer die Gelegenheit, seinen Ideen politische Geltung zu verschaffen: „Schon steht ein organisches Ganzes vor meiner Seele, und es bedarf nur noch der Feder, um es aufzufassen" 84 , antwortete er umgehend auf Beymes Aufforderung. Noch im September 1807 begann Fichte seinen Deducirten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt auszuarbeiten, der schon das spätere Konzept einer rein formalen, die geistige Selbsttätigkeit stimulierenden Ausbildung enthält85, mit seiner Absicht, „eine wahrhafte Akademie, im Sinne der Sokratischen Schule"86 zu errichten, aber auch recht abenteuerliche und repressive Züge bekommt: nur Philosophie und Philologie als die einzig universalen Wissenschaften 80

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Fichte wirft Pestalozzi eine „beschränkte Ansicht" von Erziehung vor, die er sich damit erklärt, daß dieser „stillschweigend voraus zu setzen scheint, daß diese Bedrükung und diese Armseeligkeit der größern Menge immer bleiben werde, und nicht wagt, einzusehen, daß, wo irgend seine Erziehung NationalErziehung würde, jene Bedrükung gar bald und nothwendig wegfallen würde", Patriotismus, GA II, 9, S. 439. Patriotismus, GA II, 9, S. 444. Der ebenso einflußreiche wie gefürchtete Geheime Kabinettsrat Beyme hatte sich sehr dafür eingesetzt, daß Fichte nach dem Atheismusstreit seinen Aufenthalt in Berlin nehmen konnte, und war auch regelmäßiger Hörer der Berliner Vorlesungen Fichtes gewesen, an die er sich voll des Lobs erinnerte, vgl. Lauth, Über Fichtes Lehrtätigkeit in Berlin, S. 46; auch im Königsberger Exil kam es zu zahlreichen Begegnungen zwischen dem Politiker und dem Philosophen, so daß Fichte ihn zu seinen Freunden zählte, vgl. den Brief an seine Frau vom 31. Juli/1. August 1807, GA III, 6, S. 156, und den Brief Beymes an Fichte vom Februar 1808, GA III, 6, S. 232 f., in dem Beyme die Reden sehr lobt. Zu Beymes Hochschulplan vgl. Muhlack, Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und Idealismus, S. 305 ff., Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 50 ff., und, am ausfuhrlichsten, Lenz, Geschichte der Universität Berlin, S. 71 ff. Vgl. den Brief Beymes an Fichte vom 5. September 1807, GA III, 6, S. 173; weitere wichtige Ratgeber Beymes waren der Altphilologe Wolf und der Theologe Schleiermacher, die ebenfalls von ihm zu Gutachten über die neue Lehranstalt aufgefordert wurden. Fichte an Beyme, 19. September 1807, GA III, 6, S. 177. Vgl. Deduzierter Plan, GA II, 11, S. 85 ff. Deduzierter Plan, GA II, 11, S. 89.

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möchte Fichte an seiner Lehranstalt gelten lassen, alle anderen verbannt er an die „niedere Gelehrtenschule", vom Rest der Welt trennen „vollkommne Isolirung", eine „Uniform" und eine „metallene Nummer" 87 seine Studenten und ihre Lehrer, die den rechtlichen Status eines „Familien=Ganzen" erhalten sollen 88 . Dabei korrespondierte Fichtes esoterisch anmutende „Pflanzschule wissenschaftlicher Künstler" 89 durchaus den Vorstellungen Beymes, der ebenfalls eine enge Anlehnung der zu gründenden Universität an die Akademie der Wissenschaften favorisierte und dabei an eine „allgemeine wissenschaftliche Bildungsanstalt" dachte, „die unter Absehung von unmittelbaren praktischen Zwecken sich allein der Pflege der Wissenschaften im ganzen Umfang ihrer modernen Entwicklung widmet" 90 . Natürlich stießen diese Ideen auf den Widerstand des etablierten Wissenschafts- und Hochschulbetriebs, hatten mit der schwierigen politischen Situation zu ringen und scheiterten endgültig, als es zu unüberbrückbaren Spannungen zwischen dem Freiherrn vom Stein und Beyme kam und dieser, zu sehr Vertreter des berüchtigten Kabinettssystems, von Friedrich Wilhelm III. nicht mehr zu halten war. So blieb der Universitätsplan Fichtes nur Episode und konnte nicht unmittelbar in die Gründung der Berliner Universität einfließen 91 , und doch dürfte er über die inhaltlichen Gemeinsamkeiten hinaus entscheidend auf die Reden an die deutsche Nation gewirkt haben: zum einen wird Fichtes Gestaltungs- und Veränderungswillen durch seine direkte Einbindung in die einsetzende Reformtätigkeit weiter gesteigert worden sein, und zum anderen sind seine Ausführungen so sehr von dem Geist der Reformzeit - der Begegnung zwischen Bildung und Staat - getragen, daß schon der Universitätsplan die frühere neuhumanistische Trennung zwischen Mensch und Bürger aufgibt: „Unsere Akademie an und für sich betrachtet, giebt in der von uns angegebenen Ausführung das Bild eines vollkommnen Staats; redliches Ineinandergreifen der verschiedensten Kräfte, die zu organischer Einheit und Vollständigkeit verschmolzen sind, zur Beförderung eines gemeinsamen Zweckes." 92

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Deduzierter Plan, GA II, 11, S. 94, S. 122 und S. 152. Vgl. Deduzierter Plan, GA II, 11, S. 127. Von diesen Vorstellungen aus seinem Deducirten Plan, die man je nach Blickwinkel als „Wissenschaftskaserne" oder „Wissenschaftskloster" (Schelsky) auffassen kann, hat Fichte sich in seinen Fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten von 1811 wieder um einiges entfernt, vgl. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 99 ff. Deduzierter Plan, GA II, 11, S. 98. Muhlack, Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und Idealismus, S. 305. Wobei es im Allgemeinen und Grundsätzlichen durchaus Übereinstimmungen zwischen den Ideen Fichtes und denen Humboldts, der als Leiter des Kultus- und Unterrichtswesens im preußischen Innenministerium die Gründung der Berliner Universität realisierte, gab: Schelsky nennt die geistige Partnerschaft von Student und Professor und das gemeinsame Ideal vom an prinzipiellen Einsichten geschulten Wollen, von sittlicher Verantwortung und Liebe zur Sache, die für die Jünger der Wissenschaft auch im späteren Berufsleben von großem Wert sein werden, vgl. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 108 ff. Deduzierter Plan, GA II, 11, S. 169.

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Das „Ineinandergreifen der verschiedensten Kräfte" und die „Beförderung eines gemeinsamen Zweckes" sprechen die Sprache der Reformzeit und teilen die neue Devise vom Menschen als Bürger. Für Fichte sollte die zu gründende Universität „sehr deutlich als ein Nationalinstitut dastehen"93 und als solches den Ausgangspunkt bilden zur „Organisation einer Erziehung der Nation [...] zu Klarheit, und Geistesfreiheit, und so die Erneuerung aller menschlichen Verhältnisse vorbereiten, und möglich machen"94. Bildung wird hier also nicht mehr in einer staatsfreien Sphäre angesiedelt, sondern, ganz im Gegenteil, eng auf das Erziehungsziel Nation bezogen, das für Fichte wie für den allgemeinen Reformdiskurs eher mit den sittlich-moralischen Erneuerungsidealen assoziiert werden konnte als das Erziehungsziel Staat. Erneut zeigt sich hier die starke Kontextbezogenheit von Fichtes Reden an die deutsche Nation, deren Vorschlag einer Nationalerziehung sich unmittelbar auf ihre politische Situation und auf die zeitgenössischen Diskussionen über Reform und Erziehung zurückführen läßt. Aus transzendentalphilosophischer Perspektive mag dieses Moment der „Erfahrung" die Reden zwar disqualifizieren95, für das Verständnis ihrer Idee einer deutschen Nation ist es dafür aber um so wertvoller: nicht nur trägt die Differenzierung zwischen den Erziehungszielen Staat und Nation auf der pädagogischen Ebene den generellen begrifflich-analytischen und entwicklungsgeschichtlichen Unterschieden von Staat und Nation Rechnung, auch die spezifische Trägerschicht nationalen Denkens gewinnt damit an Kontur. Gleich mit seiner ersten Rede wendet sich Fichte in dem vollen Bewußtsein an die Bürger, „dass es somit jetzt zum erstenmale geschieht, dass den gebildeten Ständen die ursprüngliche Fortbildung der Nation angetragen wird"96. Der Unterscheidung zwischen einer eher instrumenteilen staatlichen und einer eher ideativen nationalen Dimension in dem politischen Fernziel „National-Staat" korrespondiert die Differenzierung nach spezifischen Trägerschichten, denn „diejenigen, die den Staat hervorbringen, tun dies in der Regel aus den Zentren der Macht heraus, wohingegen diejenigen, die die Nation formen, dies eher aus Positionen einer - im engen Sinn verstanden - politischen Ohnmacht heraus tun"97. Für die deutschen Verhältnisse wurde die nationale Idee um 1800 vor allem „getragen vom Bildungsbürgertum und ausformuliert von bestimmten Intellektuellengruppen" 98 : Seit der Frühen Neuzeit hat eine kleine Elite von Intellektuellen und Gebildeten - also Dichter, Publizisten und Philosophen - als Konstrukteur und Träger nationalen 93 94 95

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Deduzierter Plan, GA II, 11, S. 140. Deduzierter Plan, GA II, 11, S. 170. So können für Johannes Schurr die Reden an die deutsche Nation „nicht von Ferne dem Anspruch genügen, den man an eine transzendentale Theorie der Bildung zu stellen hätte", denn: „zuviel ist aus der Erfahrung genommen", Schurr, Zur Konzeption einer transzendentalen Bildungstheorie, S. 510. Reden, SW VII, S. 278, vgl. auch oben S. 51 ff. Münkler, Nation als Modell politischer Ordnung, S. 374. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, S. 25, vgl. auch Garber, Vom universalen zum endogenen Nationalismus, S. 17.

Fichtes Vorschlag einer deutschen

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Denkens im Sinne der vorgestellten politischen Gemeinschaft von Benedict Anderson zu gelten. Ihre politische Ohnmacht kompensierten sie, wie Münkler weiter ausführt, mit ihrer „Macht der Symbole und Narrationen", d. h. sie verfügten mittels der nationalen Idee zunehmend „über den narrativ vermittelten Sinn einer Gemeinschaft, der diese aus der Kontingenz des historischen Geschehens heraushob"99 und ihr Besonderheit und Einzigartigkeit verlieh. Die Genese des nationalen Denkens vollzog sich also im kulturellen Bereich, von wo aus es im 18. Jahrhundert in die entstehenden bildungsbürgerlichen Schichten drang, deren Diskussionen über Sprache, Literatur, Theater und Vaterland eine Richtung gab und so den frühnationalen Diskurs formte.100 An der Nobilitierung des Volksbegriffs, der allmählich mit politischem Bewußtsein und metaphysischen Elementen angereichert wurde, wurde schon im dritten Kapitel beschrieben, wie am Ende dieser Entwicklung - um die Wende zum 19. Jahrhundert - jene „Vereinheitlichung, Politisierung und Popularisierung" nationalen Denkens standen, „die Historiker wiederholt als modernen, säkularen und massenwirksamen Nationalismus kategorisiert haben"101. Beschleunigt wurde dieser Prozeß dann durch die umwandelnden politischen Veränderungen des beginnenden 19. Jahrhunderts, den „Riesenschritten der Zeit", mit denen Fichte die Neuordnung der deutschen Staatenwelt beschrieben hatte: die Idee der Nation brach „aus dem intellektuellen Treibhaus aus und wurde zum mobilisierenden Code weiter Teile des Bürgertums"102. Der Optimismus, mit dem sich das Bildungsbürgertum Erziehungsfragen zuwandte und die neuhumanistische Trennung zwischen Mensch und Bürger aufhob, war getragen von dem Ideal des mündigen Staatsbürgers, das auf das Erziehungsziel Nation projiziert wurde. Beide, der mündige Staatsbürger und die Nation, besaßen aber eine politisch-emanzipatorische Tiefendimension, die auf der einen Seite den Reformprozeß schon nach kurzer Zeit wieder erlahmen ließ und auf der anderen Nationalismus und Frühliberalismus miteinander verband: „Wer sich zur modernen Idee der Nation bekannte, richtete eine Kampfansage an die überlieferte Ständegesellschaft mit ihrem dichten Geflecht an Privilegien und Ausgrenzungen."103

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Beide Zitate, Münkler, Nation als Modell politischer Ordnung, S. 374. Jörg Echternkamp nennt „zwei notwendige Bedingungen für die Genese des Nationalismus im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts": die Herausbildung einer sozialen Trägerschicht, also die bildungsbürgerliche Funktionselite, und, zweitens, ein „Fundus an Vorstellungen über die Germanen, ihr Reich und ihre Sprache, die spätestens seit dem 16. Jahrhundert als literarische Topoi präsent waren", Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 378. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 408. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, S. 159. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, S. 192, vgl. auch Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 237.

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2.2. Der Nationalerziehungsplan der Reden an die deutsche Nation Diese Verbindung von Erziehung und politischer Emanzipation, von Bürgertum und Nation haben die Reden an die deutsche Nation mit ihrer Ansprache an die gebildeten Stände konkret vollzogen: wenn Fichte den Bildungsbürgern seinen Plan einer deutschen Nationalerziehung anträgt, dann tritt er nicht mehr nur als der politisch ohnmächtige Intellektuelle auf, in dessen Verfügungsgewalt die Idee der Nation als eine kulturelle und ideelle steht, sondern auch als der politische Redner, der in den geschichtlichen Prozeß eingreifen möchte und nach Veränderungen strebt. Allerdings beschränkt sich in der Sphäre des Politischen eine mögliche Einflußnahme durch die Philosophie in der Regel auf rein persuasive Mittel. In seiner Untersuchung Philosophen als politische Lehrer hat Peter L. Oesterreich diese Möglichkeit einer politischen Einflußnahme durch die Philosophie weiter differenziert: „Um mit ihrer Überzeugungsrede politischen Einfluß zu gewinnen, stehen der Philosophie unter günstigen historischen Bedingungen generell zwei Wege offen. Der erste ist der der indirekten Einflußnahme durch die Beratung der Mächtigen."104

Diesen Weg hatte Fichte im Kriegswinter 1806/07 vergeblich zu beschreiten versucht, als er mit dem preußischen Hof nach Königsberg floh und dort aus dem „Innern der Monarchie" heraus seinen Ideen und Plänen politische Geltung verschaffen wollte - sei es mit dem wiederholten Angebot, als Feldprediger die Truppen zu begleiten, sei es in den Begegnungen mit hohen Regierungsmitgliedern oder sei es mit politischen Schriften wie dem Aufsatz lieber Machiavell und seinem indirekten Angebot einer Politikberatung. Dieser Versuch endete, wie im ersten Kapitel eingehend beschrieben, in einer völligen Ernüchterung Fichtes und einer scharfen Kritik an der politischen Klasse „die Schwäche der Regierungen" - , mit der er dann die Reden an die deutsche Nation eröffnete. Bleibt der zweite Weg: die öffentliche Rede, mit der sich „in bürgerlichen Gesellschaften [...] der politische Streit von der Ebene des Militärischen und Ökonomischen auf die rhetorische verlagert"105. Jürgen Habermas hat den Strukturwandel von der repräsentativen Öffentlichkeit nach höfischem Vorbild zu einer bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit im Verlauf des 18. Jahrhunderts beschrieben: charakteristisch für die bürgerliche Öffentlichkeit am Ende dieses Jahrhunderts ist für Habermas das „öffentliche Räsonnement" als Medium politischer Auseinandersetzung.106 Aus der literarischen Öffentlichkeit - den aufgeklärten Lesegesellschaften, Vereinen und Salons - hatte sich eine politische gebildet, die „durch öffentliche Meinung den Staat mit Bedürfnissen der Gesellschaft"107 vermittelt und damit gleichzeitig auch einen Anspruch auf Mitwirkung 104 105 106 107

Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 38. Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 39. Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 86. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 90, vgl. dazu Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 326 ff.

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artikuliert. Vor dem Hintergrund der Französischen Revolution war um 1800 auch in Deutschland dieser Anspruch weiter gewachsen und hatte sich nicht zuletzt in einer Veränderung der politischen Sprache und einem neuen Bewußtsein für die Möglichkeiten der öffentlichen Rede niedergeschlagen.108 Da im deutschen Raum aber, anders als im revolutionären Frankreich oder im konstitutionellen England, eine Nationalversammlung bzw. ein Parlament als dem klassischen Ort politischer Rede fehlten, blieben als öffentliche Foren nur Kanzel, Theater und, vor allem, Katheder. Johann Gottlieb Fichte auf dem Katheder der Preußischen Akademie der Wissenschaften bringt, so gesehen, das gestiegene politische Selbstbewußtsein des Bürgertums gleich doppelt zum Ausdruck: er vollzieht nämlich selbst, was er zugleich auch fordert: nationale Selbstbestimmung. Vor allem in bezug auf den Erziehungsgedanken wird diese Selbstbezüglichkeit der Reden an die deutsche Nation - „daß sie bieten wollen, was sie fordern: ideale Erziehung"109 - deutlich. Indem Fichte sich um politische Einflußnahme bemüht und sich dazu an die Öffentlichkeit wendet, tritt er als Philosoph „aus seiner wirklichkeitsfremden Isolation heraus und wird zur Avantgarde seiner kulturellen Lebenswelt"110. Konsequenz dieses Heraustretens aus der akademischen Isolation in die politisch-gesellschaftliche Öffentlichkeit ist aber, wie Oesterreich zu bedenken gibt, ein Kategorienwechsel des Argumentierens: „Damit treten wissenschaftliche Wahrheit und lebensweltliche Glaubwürdigkeit auseinander. Die entscheidende Frage für die Akzeptanz einer Position im politischen Sinne ist nicht, ob sie im wissenschaftlichen Sinne wahr ist, sondern ob sie im lebensweltlichen Sinne glaubwürdig und überzeugend vertreten wird."111

Politische Redner wollen im Unterschied zu akademischen nicht nur rational, sondern auch emotional überzeugen und zielen auf Gestaltung und Veränderung ihrer jeweiligen Lebenswelt.112 Bei Fichte ist diese Intention so deutlich ausgeprägt, daß Adelheid Ehrlich in ihrer Untersuchung über Fichte als Redner zu dem Ergebnis kommt, „daß Fichte vor allem in dem Sinne Redner war, als er durch sein gesprochenes Wort Veränderungen herbeiführen, seine Zuhörer zu wirkungsvollen Handlungen anregen wollte"113. Schon die Betrachtung der ersten Rede hatte gezeigt, wie Fichte seine rhetorische Strategie auf Gemüt und Gefühl, auf das Selbstbild seiner Zuhörer abstellt und erst dann zur nationalen Selbstbestimmung als einem politischem Akt aufruft. Die „Aufforderung zur That"114, die er an die Deutschen richtet, besteht nun in der Umsetzung 108

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Vgl. Riedl, Öffentliche Rede in der Zeitenwende, S. 32, und Robling, Aspekte des Rednerideals in der Zeit um 1800, S. 10 ff. Bezzola, Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel, S. 105, vgl. auch Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 155, und Bielefeld, Nation und Gesellschaft, S. 130. Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 162. Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 41. Vgl. Riedl, Öffentliche Rede in der Zeitenwende, S. 17, Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 42, und Ehrlich, Fichte als Redner, S. 6. Ehrlich, Fichte als Redner, S. 370. Reden, SW VII, S. 267.

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seines Plans einer Nationalerziehung. Um für diesen Aufmerksamkeit und Neugier zu erzeugen, changiert Fichte auch hier erst wieder zwischen den Polen Ethos und Pathos als zwei der drei klassischen rhetorischen Elemente, bevor er sich dem Logos zuwenden und den sachlichen Kern seines Vorschlags erläutern wird. Mit großem Pathos werden den Zuhörern der Reden an die deutsche Nation zunächst die Segnungen der neuen Nationalerziehung vorgestellt: ihre Zöglinge sollen „von der heissen Liebe und Sehnsucht, [...] von dem glühenden Affecte, der zur Darstellung im Leben treibt", ergriffen werden und ein neues Geschlecht bilden, „vor welchem die Selbstsucht abfällt wie welkes Laub"115. Der Nationalerziehungsplan ist nicht weniger als das „Rettungsmittel" in der gegenwärtigen Krise und wird „die Deutschen zu einer Gesammtheit bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern getrieben und belebt sey durch dieselbe Eine Angelegenheit"116. Stärker noch als in dem apokalyptisch getönten Exordium seiner Vorlesungen zeigen sich das charismatische Selbstverständnis Fichtes und die heilsgeschichtliche Konnotierung des Nationalerziehungsplans am Ende seiner dritte Rede. Fichte nimmt hier Sprache und Habitus eines biblischen Propheten an und bezieht sich auf den „alten Seher" und „Tröster der Gefangenen" Hesekiel und das 37. Kapitel seiner Prophetie, dessen Zwischenüberschriften Martin Luther mit „Israels Auferstehung" und „Israels Wiedervereinigung" übersetzt hatte. Mit dem einzigen wörtlichen Zitat der gesamten Reden an die deutschen Nation parallelisiert Fichte nun „Israels Auferstehung" mit der unmittelbaren Gegenwart der Deutschen: mögen „auch die Bande unserer Nationaleinheit ebenso zerrissen" sein, so wird doch, wie Fichte seine Zuhörer zu beruhigen vermag, der Odem der Geisterwelt „auch unseres Nationalkörpers erstorbene Gebeine ergreifen und sie aneinanderfügen, dass sie herrlich dastehen in neuem und verklärtem Leben"117.

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Beide Zitate Reden, SW VII, S. 275. Reden, SW VII, S. 276. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 311, die alttestamentarische Parallelstelle ist Ezechiel 37:1-10. Nicht ohne Grund dürfte der Theologe Fichte sich auf Ezechiel (bei Luther: Hesekiel) bezogen haben, berichtet dessen Prophetie doch von dem Zusammenbruch des Staates Juda, der Zerstörung Jerusalems und den Heilsweissagungen für Israel.

Fichtes Vorschlag einer deutschen Nationalerziehung

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2.3. Sittlichkeit und Zwang Damit nun zur systematischen Diskussion des Vorschlags einer deutschen Nationalerziehung und somit von der emotionalen zur eher rationalen Überzeugungsarbeit Fichtes. Wie beschrieben, spielten Erziehungsfragen im allgemeinen und die Arbeiten Pestalozzis im besonderen fur die intellektuelle Entwicklung Fichtes keine geringe Rolle. Im Winter 1793/94 lernten sich Fichte und Pestalozzi in Zürich auch persönlich kennen118, und die philosophischen Umarbeitungen, die Pestalozzi danach an seiner Erziehungslehre vornahm, können nicht zuletzt auf den Einfluß Fichtes zurückgeführt werden.119 Umgekehrt bezieht sich Fichte dann in den Reden an die deutsche Nation direkt auf Pestalozzi und erwähnt in der neunten bzw. zehnten Rede dessen Schriften Buch der Mütter und Ansichten, Erfahrungen und Mittel zur Beförderung einer der Menschennatur angemessenen Erziehungsweise und forderte damit die Rezeption Pestalozzis in der preußischen Schulreform120. In zwei Blöcken, den Reden zwei und drei und den Reden neun bis elf, erläutert Fichte das pädagogische Konzept seiner Nationalerziehung, das im folgenden in seinen beiden wesentlichen Grundzügen diskutiert werden soll: 1. die systematische Erziehung zur Selbsttätigkeit, zur Sittlichkeit und zur Religion und 2. der Zwang zur Erziehung. 1. die systematische Erziehung zur Selbsttätigkeit, zur Sittlichkeit und zur Religion: Erziehungsprogramme basieren, implizit oder explizit, immer auf Annahmen über die Natur des Menschen. Über Jahrhunderte hinweg war das anthropologische Verständnis des Menschen von den kirchlichen Dogmen der Erbsünde und der Gnadenlehre bestimmt, die erst mit dem sensualistischen Subjektmodell Lockes und dem Perfektibilitätsgedanken Rousseaus überwunden und durch die Vorstellung einer erzieherischen Bildbarkeit des Menschen durch den Menschen abgelöst wurden.121 , Alles ist gut, wie es aus den 118

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Am ausführlichsten informieren über diese Begegnungen Léon, Fichte et son temps, Bd. 1, S. 21 Iff., Stadler, Pestalozzi, Bd. 1, S. 335 ff., und Schuffenhauer, Die Pädagogik Fichtes, S. 93 ff., die Dokumente finden sich im ersten Band von Fichte im Gespräch. Ausschlaggebend für die Revision seiner Lehre war zum einen die Wende der Französischen Revolution zur jakobinischen terreur und zum andern die Begegnung Pestalozzis mit der Moralphilosophie und dem Autonomiegedanken Kants, mit denen Fichte ihn bekannt gemacht hatte, dazu Stadler: „Der winterliche Umgang mit Fichte brachte einen neuen Aufschwung, der im Hinblick auf das werdende Hauptwerk [die Nachforschungen] kaum zu überschätzen ist", Stadler, Pestalozzi, Bd. 1, S. 414, ähnlich auch Spranger, Pestalozzis Denkformen, S. 108. Am 10. März 1809 schrieb Pestalozzi an Johanne Fichte, die wie er aus der Schweiz stammte, über die Verdienste ihres Mannes: „Sein Wort hat für mich und mein Thun und meine Zwecke Folgen, wie noch keines Menschen Wort gehabt hat. [...] Es ist mir angenehm, Ihnen noch sagen zu können, daß das jetzige preußische Ministerium sich mit großer Thätigkeit für meine Methode interessili", GA III, 6, S. 291, vgl. dazu Schuffenhauer, Die Pädagogik Fichtes, S. 102, allgemein zur Rezeption Pestalozzis in Preußen siehe die Arbeit von Renate Hinz Pestalozzi und Preußen. Gemeinsam ist dem Sensualismus Lockes und der perfectibilité Rousseaus als den beiden einflußreichsten pädagogischen Strömungen des 18. Jahrhunderts die Vorstellung, durch Erziehung

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Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen"122, so der berühmte erste Satz des Emile, mit dem Rousseau das pädagogische Denken des 18. Jahrhunderts auf eine neue Grundlage stellte. Mit diesem Bild vom Menschen - seiner natürlichen Reinheit und seiner sozialen Depravation - war der Bruch mit der Lehre von der Erbsünde vollzogen, und die Pädagogik konnte auf dieser Grundlage im Verlauf des 18. Jahrhunderts schnell „den Charakter eines neuen ,Heilwissens'" 123 bekommen. In der anthropologischen Fundierung seines Nationalerziehungsplans steht Fichte nun dem Menschenbild Rousseaus um einiges näher als der ambivalenten Anthropologie Pestalozzis, dem Sensualismus Lockes oder gar dem Pessimismus Kants: „Es ist eine abgeschmackte Verleumdung der menschlichen Natur, dass der Mensch als Sünder geboren werde [...]. Er lebt sich zum Sünder; und das bisherige menschliche Leben war in der Regel eine im steigenden Fortschritte begriffene Entwickelung der Sündhaftigkeit" 124

Der Einfluß Pestalozzis auf die Reden an die deutsche Nation kommt allerdings an dem Punkt zum Tragen, wo die anthropologische Prämisse in eine pädagogische Fragestellung umschlägt: wie kann der Mensch zum Menschen im Sinne seiner natürlichen Unschuld gebildet werden? Zwei Gedanken Pestalozzis sind hier entscheidend: die Sittlichkeit als eine natürliche Kraft und die Vorstellung einer systematischen Erziehbarkeit des Menschen. Die Umarbeitung seiner Erziehungslehre, die Pestalozzi mit Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwiklung des Menschengeschlechts von 1797 abgeschlossen hatte, läßt sich auch, so die Formulierung Sprangers, als ein „Sieg der Pädagogik der Selbstkraft, Selbsttätigkeit, Selbstsorge über die der Milieugestaltung"125 begreifen, wie Pestalozzi sie etwa in seinem Roman Lienhard und Gertrud noch vertreten hatte, mit dem sich ja auch der junge Fichte durchaus kritisch beschäftigt hatte. In den Nachforschungen relativiert Pestalozzi nun die Annahme einer Milieugestaltung und sieht den Menschen nicht mehr nur als ein Produkt seiner Umgebung:

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die menschlichen Dispositionen verändern und steuern zu können. Während Locke aber Seele und Bewußtsein des Menschen als eine tabula rasa begreift, die von außen beschrieben werden kann und muß, geht es Rousseau gerade darum, allen äußeren Einfluß von der einmaligen Innenwelt des Menschen fernzuhalten. Gelingt dies, kann der Mensch sich für Rousseau zu seiner eigenen Vervollkommnung selbst verhelfen, vgl. dazu die beiden Aufsätze von Jürgen Oelkers „.Vollendung' : Theologische Spuren im pädagogischen Denken" und „Seele und Demiurg: Zur historischen Genesis pädagogischer Wirkungsannahmen". Rousseau, Emil, S. 9. Herrmann, Erziehung und Unterricht als Politicum, S. 56. Reden, SW VII, S. 421, ähnlich auch auf S. 414. Pestalozzis Anthropologie und sein Bild vom Naturzustand sind dagegen weitaus ambivalenter: „einerseits unverdorben und kraftvoll im Sinne Rousseaus, sinnlich und natürlich, anderseits brutal, ja bestialisch, dazu voller Mühsal und Existenzsorge", Stadler, Pestalozzi, Bd. 1, S. 420, vgl. auch Hinz, Pestalozzi und Preußen, S. 43. Spranger, Pestalozzis Denkformen, S. 116, vgl. auch Osterwalder, Die Methode, S. 168.

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„Ich besizze eine Kraft in mir selbst, alle Dinge dieser Welt mir selbst, unabhängig von meiner thierischen Begierlichkeit und von meinen gesellschaftlichen Verhältnissen, gänzlich nur im Gesichtspunkt, was sie zu meiner innern Veredelung beitragen, vorzustellen, und dieselbe nur in diesem Gesichtspunkte zu verlangen oder zu verwerfen. Diese Kraft ist im Innersten meiner Natur selbstständig, ihr Wesen ist auf keine Weise eine Folge irgend einer andern Kraft meiner Natur."126

Diese Kraft versteht Pestalozzi als die Sittlichkeit, die ihre natürliche Wurzel im Innern des Individuums hat und es in die Lage versetzt, die äußeren Umstände „vielfältig nach seinem Willen zu lenken"127. Es war vor allem dieser Kerngedanke vom Menschen als Werk seiner selbst, der Fichtes Aufmerksamkeit erregte und der vor dem Hintergrund seines wesentlich optimistischeren Menschenbilds den Erziehungsplänen der Reden eine größere Eindeutigkeit gab: für Pestalozzi nämlich steht die natürliche Sittlichkeit des Menschen in Konkurrenz zu seiner natürlichen Selbstsucht, und Aufgabe von Erziehung muß es daher sein, die beiden Triebe zu harmonisieren im Sinne einer Domestizierung des Sinnlichen durch das Sittliche. Für Fichte dagegen steht im Anschluß an das transzendentalphilosophische Aufforderungs- und Anerkennungsverhältnis aus der Wissenschaftslehre apriori fest, daß der Mensch nur einen Grundtrieb, den „Trieb nach Achtung", habe und daß das Objekt dieses Triebs nur „das Sittliche, als einzig möglicher Gegenstand der Achtung, das Rechte und Gute, die Wahrhaftigkeit, die Kraft der Selbstbeherrschung"128 sein könne. Bei diesen Prämissen kann Erziehung für Fichte, der die Selbstsucht ganz auf soziale Einflüsse reduziert, nicht mehr heißen, als die natürliche „Liebe für das Gute schlechtweg als solches"129 zu entwickeln. Dazu muß die Nationalerziehung, wie er in der zweiten Rede ausfuhrt, den Menschen frei von allen äußeren sinnlichen Einflüssen halten, d. h. sie muß ihm die Willensfreiheit nehmen, um so eine „strenge Nothwendigkeit der Entschliessungen und die Unmöglichkeit des entgegengesetzen"130 zu garantieren. Am Ende der Nationalerziehung steht dann der natürliche, sozial nicht deformierte Trieb nach Achtung als „festes und unwandelbares Seyn" so unverfälscht da, daß der Zögling „dadurch getrieben werde, es in seinem Leben darzustellen"131. Die Begeisterung, mit der Fichte im Juni 1807 seiner Frau von Pestalozzis Wie Gertrud ihre Kinder lehrt berichtete, rührt daher, daß Pestalozzi sich in dieser Schrift von der Möglichkeit einer systematischen Erziehbarkeit des Menschen überzeugt zeigt. Pestalozzis Methode ist zwar „praktisch von geringem Einfluß gewesen, aber sie stimu-

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Pestalozzi, Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwiklung des Menschengeschlechts, Werke, Bd. 12, S. 105. Pestalozzi, Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwiklung des Menschengeschlechts, Werke, Bd. 12, S. 57. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 414. Reden, SW VII, S. 284. Reden, SW VII, S. 281. Alle Zitate Reden, SW VII, S. 284.

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lierte einen Erwartungsschub an die Wirksamkeit der Erziehung"132, auf den sich auch die Reden an die deutsche Nation zustimmend beziehen: Pestalozzi „will eine feste und sicher berechnete Kunst der Erziehung, wie auch wir es wollen, und wie die deutsche Gründlichkeit es nothwendig wollen muss"133. In Wie Gertrud ihre Kinder lehrt sprach Pestalozzi in Ablehnung der negativen Pädagogik Rousseaus von „den ewigen Gesetzen" des Unterrichts, „nach welchen der menschliche Geist sich von sinnlichen Anschauungen zu deutlichen Begriffen erhebt"134, und entwickelte eine Unterrichtsmethode auf der Grundlage eines entwicklungsphysiologischen Reifiingskonzepts. In einer nicht immer widerspruchsfreien Pädagogik von Subjektbezogenheit des Lernens einerseits und objektiv-systematischer Anordnung des Unterrichts andrerseits135 ging es ihm vor allem darum, die inneren und äußeren Anschauungen des Kindes in eine altersspezifische Reihenfolge von feststehenden Denkkategorien, den sogenannten „Elementarpunkten", einzuordnen und von da aus systematisch zu entwickeln. Dieses Verfahren basierte auf der Grundannahme, „[...] daß dadurch, daß die äußere Welt der sinnlichen Konstitution des Individuums als abgeschlossen, einheitlich und unabänderlich .anerzogen' wird, das sittliche Ich selbst sich ebenso als unwandelbares über dieser festen Welt der Erfahrung konstituieren und das sinnliche Ich dominieren kann"136.

Dieses Konzept Pestalozzis wurde deswegen für die Reden an die deutsche Nation so interessant, weil Fichte im Innersten der menschlichen Anlagen ja die Liebe zum Guten und den Trieb nach Achtung erkannt hatte. Da diese Anlagen aber ganz offensichtlich im Widerspruch zu ihrer gesellschaftlichen Umgebung stehen, können die Objekte des Triebs nach Achtung keine Nachbilder der Realität sein, sondern müssen als Vorbilder aus sich selbst heraus gebildet werden.137 Dieses geistige Entwerfen von Vorbildern enthält ein Moment der Selbständigkeit und der Sittlichkeit und ist für Fichte „ohne Zweifel eine Thätigkeit nach Regeln" - Regeln, die dank der Methode Pestalozzis nun einer Didaktik und Systematik zugeführt werden können. Auch für Fichte müssen daher das Kind und seine natürlichen Erkenntnisweisen im Mittelpunkt des Unterrichts stehen und nicht, wie für die utilitaristische Aufklärungspädagogik, vorgegebene Lerninhalte oder politisch-ökonomische Zwecke: Der Unterricht hat also nur darauf zu zielen, daß der Zögling „rein um des Lernens selbst willen, und aus keinem anderen Grunde, mit Lust und Liebe lerne"138.

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Oelkers, Seele und Demiurg, S. 43. Reden, SW VII, S. 403, ähnlich auch auf S. 281. Pestalozzi, Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, Werke, Bd. 13, S. 242. Vgl. Spranger, Pestalozzis Denkformen, S. 133, und Osterwalder, Die Methode, S. 198 ff. Osterwalder, Die Methode, S. 196 f. Vgl. Reden, SW VII, S. 284 ff. Reden, SW VII, S. 286, vgl. Hinz, Pestalozzi und Preußen, S. 99.

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Der eigentliche Unterricht, wie Fichte ihn seinen Zuhörern nur grob skizziert - „in das Einzelne zu gehen, erlaubt mir nicht der Plan dieser Reden"139 - , basiert auf einem dreistufigen Entwicklungsmodell, das Fichte fur seine Nationalerziehung von Pestalozzi übernimmt. Pestalozzi unterschied in den Nachforschungen drei psychosoziale Schichten in der menschlichen Natur, denen drei pädagogische Entwicklungsschritte korrespondieren: auf den tierisch-natürlichen folgt der gesellschaftlich-politische Zustand und auf diesen der sittlich-religiöse als der höchste Zustand.140 Zu Beginn seiner zehnten Rede erläutert Fichte den Hörern, daß die Ausbildung der Empfindungen und Anschauungen als „der erste Haupttheil der neuen deutschen Nationalerziehung" nur „Mittel und Vorübung zu dem zweiten wesentlichen Theile der selben, der bürgerlichen und religiösen Erziehung"141 sei. Tatsächlich erweist sich aber die systematische Ausbildung der natürlichen Empfindungen und Anschauungen viel eher als Fundament oder als Kern denn als bloße Vorübung der bürgerlichen und der religiösen Erziehung, die sich im weiteren Verlauf der Ausführungen als pädagogische „Selbstläufer" entpuppen. Für Fichte nämlich gilt: „Das Wohlgefallen am Rechten und Guten um sein selbst willen soll durch die neue Erziehung an die Stelle der bisher gebrauchten sinnlichen Hoffnung oder Furcht gesetzt werden, und dieses Wohlgefallen soll, als einzig vorhandene Triebfeder, alles künftige Leben in Bewegung setzen: dies ist die Hauptsache unseres Vorschlages."142

Die „Hauptsache" von Fichtes Vorschlag einer Nationalerziehung besteht also darin, die natürlich guten Anlagen des Menschen systematisch so weit zu entwickeln, bis sie mit Notwendigkeit zur einzigen „Triebfeder" allen Handelns werden. Spätestens mit der inhaltlichen Konkretisierung des Sittlichen als „Selbstbeherrschung", als „Selbstüberwindung" und, vor allem, als „die Unterordnung seiner selbstsüchtigen Triebe unter den Begriff des Ganzen"143 wird dann deutlich, daß Fichte die „Hauptsache" seiner Nationalerziehung auch auf „das Ganze", also den politisch-gesellschaftlichen Raum, ausdehnt. Damit basiert die bürgerliche Erziehung im wesentlichen auf der Annahme, daß aus dem guten Menschen der gute Staatsbürger von selbst folgt und sich auch der 139

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Reden, SW VII, S. 406, zur „Methode" Pestalozzis vgl. Stadler, Pestalozzi, Bd. 2, S. 99 ff., Oelkers, Seele und Demiurg, S. 43 ff., und den Aufsatz von Osterwalder „Die Methode - Ordnung, Wahrnehmung und moralische Subjektivität". Fichte eignet sich die Methode Pestalozzis eher unsystematisch an und äußert sich an einigen Stellen auch recht kritisch über sie, am deutlichsten da, wo er die Körperlehre aus dem Buch der Mütter scharf ablehnt - für ihn „ein vollkommener Misgriff ' Pestalozzis, Reden, SW VII, S. 407. „Der Grundsaz, Menschenwohl und Menschenrecht ruhet ganz auf der Unterordnung meiner thierischen und meiner gesellschaftlichen Ansprüche, unter meinem sittlichen Willen [...]", Pestalozzi, Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwiklung des Menschengeschlechts, Werke, Bd. 12, S. 161, vgl. dazu Stadler, Pestalozzi, Bd. 1, S. 417 f f , und Spranger, Pestalozzis Denkformen, S. 109 f. Beide Zitate, Reden, SW VII, S. 411. Reden, SW VII, S. 419. Reden, SW VII, S. 417.

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zweite Teil der Nationalerziehung daher ganz auf die sittliche Erziehung des Menschen zu konzentrieren habe. Fichtes Charakterisierung des sittlichen Menschen als des „vollständigen Menschen", den Klarheit des Verstandes und Reinheit des Willens auszeichnen144, leitet über auf „das letzte Geschäft der neuen Erziehung": die „ E r z i e h u n g zur wahren Religion"145. Auch hier kommt nicht überraschend, daß das allgemeine Ziel der Nationalerziehung, „im Grunde gute Menschen bilden zu wollen"146, einer religiösen Erziehung das Feld schon weitgehend bereitet hat. Fichte gibt auch offen zu, daß „in einer wohlgeordneten Gesellschaft [...] es der Religion durchaus nicht" bedarf, und begreift sie als eine Art charakterliche Veredelung, die dem Menschen „vollkommne Einigkeit mit sich selbst und durchgeführte Klarheit in seinen Verstand"147 bringe. Damit läßt sich die Stufenfolge der Nationalerziehung von der natürlichen über die sittliche zur religiösen Bildung nicht nur als ein Reflex auf die Eckpunkte von Fichtes Geschichtsphilosophie der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters verstehen148, sondern als Ausdruck einer Konstante in seinem Denken insgesamt, denn seit 1794, also seit der Ausarbeitung seiner systematischen Philosophie, hat es „überhaupt keine Periode im Denken Fichtes gegeben, wo nicht als das letzte Ziel der Praxis die Auflösung aller Praxis oder die Verschmelzung des Individuums mit der Gottheit gegolten hätte"149. 2. der Zwang zur Erziehung: Wie hat man sich nun die Umsetzung dieser neuen Erziehung zur Sittlichkeit vorzustellen, wie sieht Fichtes Plan im einzelnen aus? Schließlich hatte er seinen Hörern ja schon ganz zu Beginn seiner Vorträge versprochen, nicht nur die neue Welt vor ihren Augen zu enthüllen, sondern auch „die Mittel ihrer Erzeugung anzugeben"150. Auf dieser praktischen Ebene werden die Reden an die deutsche Nation die Pädagogik Pestalozzis verlassen, sie teilen sein Modell einer häuslichen Erziehung ebensowenig wie sie dem Vorschlag einer isolierten Individualerziehung aus dem Emile folgen, sondern sprechen von einem „Zwang zur öffentlichen Nationalerziehung"151. 144 145 146

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Vgl. Reden, SW VII, S. 301. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 298. Reden, SW VII, S. 283. Auch Pestalozzi hatte Sittlichkeit und Religion miteinander identifiziert: „Das Christenthum ist ganz Sittlichkeit", Pestalozzi, Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwiklung des Menschengeschlechts, Werke, Bd. 12, S. 157. Beide Zitate, Reden, SW VII, S. 299. So schreibt Soller mit Blick auf den Nationalerziehungsplan: „Es scheint aber, daß Fichtes problematische Stufenlehre in den ,Grundzügen', obwohl er dort hervorhebt, daß er ,nur vom Fortschreiten des Lebens der Gattung, keineswegs dem der Individuen' rede, eine gewisse Entsprechung auf sehen der sittlichen Ontogenese des Individuums aufweist", Soller, Nationale Erziehung, S. 100. Auch diese Analogie von Phylogenese und Ontogenese findet ihre Entsprechung in der Pädagogik Pestalozzis, der seinerseits die dreistufige Individualgeschichte mit der Menschheitsgeschichte identifiziert hatte, vgl. dazu Hinz, Pestalozzi und Preußen, S. 45 ff. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 237. Reden, SW VII, S. 265. Reden, SW VII, S. 437.

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Die neue Erziehung Fichtes ist also national, sie ist öffentlich - und sie soll erzwungen werden. Schon in der ersten Rede wirft Fichte der bisherigen Erziehung vor, sie habe „die grosse Mehrzahl [...], das Volk, [...] fast ganz vernachlässigt und dem blinden Ohngefáhr übergeben". Dagegen setzt er nun den Vorschlag einer Erziehung auf nationaler Grundlage: „Wir wollen durch die neue Erziehung die Deutschen zu ihrer Gesammtheit bilden"152 und bringt damit das politische Selbstbewußtsein des Bürgertums, dem er seinen Vorschlag ja anträgt, zum Ausdruck. Wie stark in dieser frühen Phase der allgemeinen Reformtätigkeit das Erziehungsziel Nation mit dem Wunsch nach sozialer Emanzipation und politischer Partizipation verbunden war, machen die darauffolgenden Ausführungen Fichtes deutlich: So fordert er weiter, daß die neue Erziehung „an alles ohne Ausnahme, was deutsch ist", gebracht werden solle und daß sie nicht die „Bildung eines besonderen Standes, sondern dass sie Bildung der Nation" sein solle. In Fichtes Nationalerziehung ist das frühliberale Ziel einer egalitaristischen Gesellschaft insofern schon vorweggenommen, als daß in und mit ihr „aller Unterschied der Stände [...] völlig aufgehoben sey und verschwinde"153. In der Konsequenz von Fichtes nationalem Egalitarismus liegen aber nicht nur die Aufhebung von Feudalismus und Ständeordnung, sondern auch die weitgehende Gleichstellung der Geschlechter - für die Reden an die deutsche Nation fast schon eine Selbstverständlichkeit: „Es versteht sich ohne unser besonderes Bemerken, dass beiden Geschlechtern diese Erziehung auf dieselbe Weise zu Theil werden müsse."154 Daß die neue Erziehung öffentlich sein soll, steht in engem Zusammenhang mit ihrer nationalen Ausrichtung und heißt für Fichte vor allem, das Schulwesen aus den Händen der Kirchen in die von Gesellschaft und Staat zu legen: Die neue Erziehung soll keine „Pflanzschule für den Himmel" mehr sein, sondern „der Bildung für das Leben auf der Erde"155 dienen. Auch wenn sich Fichtes Äußerungen nicht immer darüber einig sind, ob die Nationalerziehung nun in staatlicher oder in gesellschaftlicher Trägerschaft erfolgen soll156, ist der weltliche Charakter seines Plans doch ganz eindeutig. Die National152 153 154

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Reden, SW VII, S. 276. Alle Zitate Reden, SW VII, S. 277. Reden, SW VII, S. 422, allerdings schreibt auch Fichte das gängige Rollenverständnis seiner Zeit weiter fort: „Auch muss das Verhältniss der beiden Geschlechter zu einander im Ganzen, starkmüthiger Schutz von der einen, liebevoller Beistand von der anderen Seite, in der Erziehungsanstalt dargestellt, und in den Zöglingen gebildet werden", ebd. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, daß die Erziehung zum Gelehrten nur den Knaben vorbehalten ist, vgl. unten Fußnote 161. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 430. Den zahlreichen Aufforderungen an die Bürger, sich der Nationalerziehung anzunehmen, wird z. B. in der elften Rede widersprochen, wo Fichte seine Hoffhungen auf den Staat setzt: „Der Staat also wäre es, auf welchen wir zuerst unsere erwartenden Blicke zu richten hätten", Reden, SW VII, S. 428. Erneut findet sich hier auch ein Plädoyer für den Pluralismus des deutschen Republikanismus, denn Fichte hofft auf eine produktive Konkurrenz zwischen den deutschen Staaten und ihren Bemühungen, die Nationalerziehung umzusetzen: „Wohl uns hierbei, dass es

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erziehung soll alle deutschen Kinder erfassen und in Internaten, den sogenannten Nationalschulen, unterrichten. Wie Rousseau folgert Fichte von seinem positiven Menschenbild auf einen schädlichen Einfluß der Gesellschaft - „nicht die Natur ist es, die uns verdirbt, diese erzeugt uns in Unschuld, die Gesellschaft ists"157 - und hält es von daher unter den gegenwärtigen sozialen und ökonomischen Bedingungen für ausgeschlossen, daß die neue Erziehung im „Hause der Eltern [...] weder angefangen, noch fortgesetzt oder vollendet werden" 158 kann. Seit Piatons Politela gehört die Trennung der Kinder von ihren Eltern zu den festen Bestandteilen von politischer Erziehung, stellen die Familien doch das entscheidende Bindeglied zwischen der alten, verdorbenen Gesellschaft und der neuen Generation als dem Versprechen einer besseren Zukunft dar. Während Piaton für die oberen Stände sogar eine Frauen- und Kindergemeinschaft ins Auge faßt, um jede familiäre Sozialisation auszuschließen, und Rousseau den Knaben Emile deswegen für seine Methode als besonders geeignet hält, weil er als Waise frei von jeder familiären Prägung sei, gehen Fichtes Pläne nicht ganz so weit und fordern nur eine Erziehung „in gänzlicher Absonderung von den Erwachsenen" 159 . Die Nationalschulen befinden sich also als geschlossene Internate auf dem Land, und da Fichte es für wenig wahrscheinlich hält, „dass die Eltern allgemein willig seyn werden, sich von ihren Kindern zu trennen", überträgt er dem Staat als dem „Vormund der Unmündigen, [...] das vollkommene Recht, die letzteren zu ihrem Heile auch zu zwingen" 160 - schließlich habe der Staat bislang ja auch zum Kriegsdienst gezwungen. Im

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noch verschiedene und von einander abgetrennte deutsche Staaten giebt! [...] Vielleicht kann Nacheiferung der mehreren und die Begierde, einander zuvorzukommen, bewirken, was die ruhige Selbstgenügsamkeit des nicht einzelnen nicht hervorgebracht hätte [...]", ebd., S. 437 f. Reden, SW VII, S. 490. Reden, SW VII, S. 406. Fichte verweist auf die ökonomische Lage der meisten Familien, den „Druck, die Angst um das tägliche Auskommen, [die] die Kinder nothwendig anstecken, herabziehen und sie verhindern, einen freien Aufflug in die Welt des Gedankens zu nehmen". Grundsätzlich ist aber eine häusliche Erziehung auch für Fichte nicht ausgeschlossen, denn nach einer Generation Nationalerziehung „wird sich berathschlagen lassen, welchen Theil von der Nationalerziehung man dem Hause anvertrauen wolle", ebd., S. 406 f., dazu auch Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 235. Reden, SW VII, S. 422. Allerdings konnte sich Fichte den Modellen Piatons und Rousseaus nicht ganz verschließen. So heißt es etwa in einem Fragment zur Staatslehre von 1813: „Ich will jedoch die Ehen alle kinderlos, auch allen ferneren Zusammenhang zwischen Eltern und Kindern aufgehoben, durchaus wie Plato. An die Stelle der Eltern treten die Erzieher", Excurse zur Staatslehre, SW VII, S. 574. In den Reden an die deutsche Nation findet sich die Überlegung, die Nationalerziehung auch mit „armen Verwaisten" und den „im Elende auf den Strassen Herumliegenden" zu versuchen, sollte sich kein breiter Anfang auf staatlicher oder gesamtgesellschaftlicher Basis realisieren lassen, Reden, SW VII, S. 442. Reden, SW VII, S. 434 f. und S. 436. Für Adelheid Ehrlich folgt dieser Zwang zur Erziehung aus einem „circulus vitiosus", der aus Fichtes Diagnose von verkommener Gegenwart einerseits und künftigem Heil andererseits resultiert: „[...] da die Bürger den neuen Erziehungsplan nicht unbedingt verstehen werden, werden sie auch ihre Kinder diesem nicht überlassen wollen; andererseits kann aber in der gegenwärtigen Not auch nicht gewartet werden, bis der Wille sich im Bürger von

Fichtes Vorschlag einer deutschen

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Nationalerziehung

Mittelpunkt der Nationalerziehung steht der philosophische Unterricht, der begleitet wird v o n körperlichen Übungen und landwirtschaftlichen oder handwerklichen Arbeiten, v o n denen nur die künftigen Gelehrten ausgenommen sind 161 . Fichte legt d e s w e g e n so großen Wert darauf, daß in der Nationalerziehung „Lernen und Arbeiten vereinigt sey" 1 6 2 , weil die praktischen Tätigkeiten z u m einen auf das spätere Berufsleben vorbereiten und z u m anderen die wirtschaftliche Autarkie der Nationalschulen sichern sollen. 1 6 3 Schon im Deducirten

Plan einer zu Berlin zu errichtenden

höheren

Lehranstalt

hatte Fichte die künftige Akademie als Abbild eines vollkommenen Staats konzipiert, und auch seine Nationalschulen sollen neben ihrer Autarkie über eine „innere Verfassung" 1 6 4 und eine „Gesetzgebung v o n hoher Strenge" 165 verfügen, w i e das Leben der Schüler insgesamt einem strikten Reglement unterworfen sein soll: „Das allererste Bild einer geselligen Ordnung, zu dessen Entwerfung der Geist des Zöglings angeregt werde, sey dieses der Gemeine, in der er selber lebt, also, dass er innerlich gezwungen sey, diese Ordnung Punct für Punct gerade also sich zu bilden, wie sie wirklich vorgezeichnet ist, und dass er dieselbe in allen ihren Theilen, als durchaus nothwendig, aus ihren Gründen verstehe. [...] In dieser gesellschaftlichen Ordnung muss nun im wirklichen Leben jeder Einzelne um des Ganzen willen immerfort gar vieles unterlassen, was er, wenn er sich allein befände, unbedenklich thun könnte [,..]."166 Entscheidend an Fichtes Nationalerziehungsplan ist aber weniger dieser äußere Zwang - die Trennung der Schüler v o n ihren Familien, die Strafen und Gesetze, der Spartanismus der körperlichen Arbeiten - , als vielmehr der darauf aufbauende Griff nach dem inneren Menschen. Ganz im Sinne des politischen Tugendbegriffs steht in den Natio-

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selbst gebildet hat, da jener ja nur in der vorgeschlagenen Erziehung gebildet werden kann", Ehrlich, Fichte als Redner, S. 265. Mit der Erziehung der künftigen Gelehrten als einem Teilaspekt der Nationalerziehung durchbricht Fichte deren Egalitarismus: Wer in der Nationalerziehung schon früh „eine vorzügliche Gabe zum Lernen, und eine hervorstechende Hinneigung nach der Welt der Begriffe" erkennen läßt, wird für die Gelehrtenerziehung ausgewählt, die allerdings nur „dem Knaben" offensteht. Früher als die übrigen Schüler erlernen die künftigen Gelehrten das Lesen und Schreiben, darüber hinaus sind sie von allen mechanischen Tätigkeiten befreit, vgl. Reden, SW VII, S. 426 f. und S. 406. Bestimmung und Wesen des Gelehrten haben Fichte in allen Phasen seiner intellektuellen Entwicklung beschäftigt, werden in den Reden aber nicht systematisch entfaltet. Zu Fichtes Theorie des Gelehrten vgl. Traub, Fichtes Populärphilosophie, S. 69 f f , und die Aufsätze „Johann Gottlieb Fichte. Die .Bestimmung des Gelehrten' in der Gesellschaft" von Otto Dann und „Fichtes Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten von 1794" von Klaus Vieweg. Reden, SW VII, S. 423. Fichtes Ausführungen erinnern in diesen Passagen an die Nützlichkeitserwägungen der Aufklärungspädagogik, etwa da, wo er die Staaten für seinen Plan zu überzeugen versucht, indem er ihnen „arbeitende Stände" und „ein Heer" in Aussicht stellt, „wie es noch keine Zeit gesehen hat", Reden, SW VII, S. 431. Mit Recht weist Nico Wallner hier auf Parallelen zwischen der Nationalerziehung und dem Geschloßnen Handelsstaat hin, vgl. Wallner, Fichte als politischer Denker, S. 219. Reden, SW VII, S. 423. Vgl. Reden, SW VII, S. 293 f. Reden, SW VII, S. 293.

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V. „Die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen "

nalschulen die „Gemeine" an erster Stelle und haben die Schüler ihre individuellen Interessen „um des Ganzen willen immerfort" zu unterdrücken. Es ist diese Absolutsetzung des Gemeinwohls, die es für die Reden an die deutsche Nation erforderlich macht, daß die Schüler „von Anbeginn an ununterbrochen und ganz unter dem Einflüsse dieser Erziehung"167 stehen. Im pädagogischen Hintergrund der Tugenderziehung stehen sowohl für Fichte als auch für Michel Lepelletier, mit dessen Jakobinismus Heinz Schuffenhauer die Nationalerziehung der Reden verglich168, die Überzeugung, den Schüler scheinbar unbegrenzt formen und gestalten zu können: „Willst du etwas über ihn vermögen, so musst du mehr thun, als ihn bloss anreden, du musst ihn machen, ihn also machen, dass er gar nicht anders wollen könne, als du willst, dass er wolle."169 Fichtes Griff nach dem ganzen Menschen, seine Absicht, mit der Nationalerziehung eine „Vernunftgemeine der gleichen Gesinnung" zu erzeugen, und sein Glaube an „die Unfehlbarkeit und Untrüglichkeit der vorgeschlagenen Mittel"170 erinnern in der Tat sehr stark an die „republikanische Gießform" 171 Lepelletiers, der den revolutionären Machbarkeitsglauben ganz ähnlich formuliert hatte: „In der öffentlichen Erziehungsanstalt dagegen gehört uns das ganze Kind; die Materie, wenn ich mich so ausdrücken darf, verläßt niemals die Gußform; kein Fremdkörper kann von außen herankommen und die Formung, die ihr von euch gegeben werden soll, zerstören."172

In den Reden an die deutsche Nation findet dieser jakobinische Totalitarisme seine Entsprechung in Fichtes erklärter Absicht, „dass der wirkliche lebendige Mensch, bis in die Wurzel seines Lebens hinein, keinesweges aber der blosse Schatten und Schemen eines Menschen gebildet werde [und] dass alle nothwendigen Bestandteile des Menschen ohne Ausnahme und gleichmässig ausgebildet werden"173. Den Menschen „bis in die Wurzel seines Lebens hinein" zu erfassen bedeutet, die Trennung zwischen Mensch und Bürger, zwischen Individuum und Gemeinschaft aufzuheben. Begründet wird dieser radikale Ansatz mit der politischen Krise, denn soll vor dem Hintergrund einer dekadenten Gegenwart „eine gänzliche Umbildung" der Menschheit vorgenommen 167 168

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Reden, SW VII, S. 291. Schuffenhauer spricht von einer engen Verwandtschaft „zwischen Fichtes Idee einer allgemeinen, gleichen und öffentlichen Erziehung und den Erziehungsprogrammen der Französischen Revolution" und verweist dazu auf den Erziehungsplan Lepelletiers, Schuffenhauer, Die Pädagogik Fichtes, S. 87 f. Auch Helmut König hatte eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen Fichtes Nationalerziehung und dem „Jakobinerstaat gesehen, vgl. König, Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland, S. 234. Auch die westdeutsche Forschung hat diesen Aspekt der Reden an die deutsche Nation erkannt, so hält Karl-Ernst Jeismann Fichtes Konzept verglichen mit den anderen Nationalerziehungsplänen seiner Zeit für „den genialsten und radikalsten dieser Pläne", K.-E. Jeismann, Nationalerziehung, S. 97. Reden, SW Reden, SW Lepelletier, Lepelletier, Alle Zitate,

VII, S. 282, ähnlich auch auf S. 301. VII, S. 413 und S. 436. Nationaler Erziehungsplan, S. 479. Nationaler Erziehungsplan, S. 462 f. Reden, SW VII, S. 301.

Vom Ich zum Wir

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werden, „so muss sie einmal ganz losgerissen werden von sich selber, und ein trennender Einschnitt gemacht werden in ihr hergebrachtes Fortleben"174. Das revolutionäre Geschichtsverständnis, der Machbarkeitsglaube und die Tugendorientierung verbinden sich zu einer weiteren charakteristischen Gemeinsamkeit von Nationalem Erziehungsplan und den Reden an die deutsche Nation: sowohl der Vorschlag Lepelletiers als auch der Plan Fichtes münden in einen pädagogischen Utopismus: Lepelletier versprach dem Pariser Konvent „ein neues Volk" und ein „neues Geschlecht", und auch Fichte zielt auf nicht weniger als auf „eine gänzliche Umschaffung des Menschengeschlechtes"175. Um dieser Absicht Nachdruck zu verschaffen, greift er, wie beschrieben, am Ende der dritten Rede zu dem Ethos und Pathos eines biblischen Propheten oder stellt, wie zu Beginn der zwölften, seinen Zuhörern fast schon paradiesische Zustände in Aussicht: ist die Nationalerziehung der Deutschen nämlich erst einmal verwirklicht, „so wird alles, was wir mit unsern kühnsten Wünschen begehren können, aus dem Daseyn desselben von selbst sich ergeben, und aus ihm natürlich hervorwachsen"176.

3. Vom Ich zum Wir Die Gemeinwohl- und Tugendorientierung von Fichtes Nationalerziehung gründet auf der Methodenlehre Pestalozzis und unterscheidet doch, so paradox das zunächst klingen mag, die Reden an die deutsche Nation fundamental von der Erziehungslehre des Schweizers, der Sittlichkeit als eine rein individuelle Eigenschaft begriffen hatte. Vor allem in seinen Nachforschungen werden „[...] gesellschaftliche und individuelle Entwicklung an einem entscheidenden Punkt dissoziiert. Der Entwicklung von natürlichem und konsekutivem gesellschaftlichem Zustand folgt nur noch beim Individuum ein sittlicher Zustand. [...] Der neue Ausgangspunkt in Pestalozzis Vorstellungen von Gesellschaft ist eher die Unstabilität als die Harmonie. Die Gesellschaft selbst kann nicht versittlicht werden, sondern allenfalls können die Triebansprüche und gesellschaftlichen Interessen der Individuen gegeneinander in ein unstabiles Gleichgewicht gebracht werden. Die Sittlichkeit als Vollendung wird in den Nachforschungen' ganz auf das Individuum zurückgenommen."177

Pestalozzi führte das Sittliche auf die Liebesbindung zwischen Mutter und Kind zurück und sprach der elterlichen Wohnstube von daher eine große pädagogische Bedeutung zu. Sittlichkeit war für ihn eine Angelegenheit allein des privaten, nicht-öffentlichen Raums der Familie und in Folge davon eine persönliche, individuelle Qualität: „Die

174 Reden, SW VII, S. 407 (Hervorh. d. Verf.). 175 Reden, SW VII, S. 400, ähnlich auch auf S. 305 f. und auf S. 428. 176 Reden, SW VII, S. 444. 177 Osterwalder, Die Methode, S. 167.

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V. „Die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen "

Sittlichkeit ist ganz individuel, sie bestehet nicht unter zweien."178 Fichte dagegen leitet Individualität und Sittlichkeit aus dem natürlichen Trieb nach Achtung ab und gibt ihnen damit von vornherein eine interpersonale Struktur. Wie beschrieben, rührt seine Begeisterung für die Methodenlehre Pestalozzis daher, daß er mit ihr einen Weg gefunden zu haben glaubte, das transzendentale und interpersonale Aufforderungs- und Anerkennungsverhältnis seiner Wissenschaftslehre einer Didaktik und damit einer dauerhaften praktischen Wendung zuführen zu können. Im Kern des Aufforderungsund Anerkennungsverhältnisses stand die Einsicht, daß Selbstbewußtsein und damit Individualität, Vernunft und Sittlichkeit nicht isoliert erlangt werden können, sondern nur in einem wechselseitigen und reflexiven Prozeß des Unterscheidens und Konfrontierens, zu dem das Ich von anderen Vernunftwesen aufgefordert werden muß. Vor allem in seiner zehnten Rede rekurriert Fichte auf dieses Verhältnis, „analysiert nun aber deutlicher als zuvor die intersubjektive Struktur, die diesem ursprünglichen Vernunftaffekt innewohnt"179. Hatte Fichte noch in den Aphorismen über Erziehung von 1804 eine Erziehung zu Tugend und Moral kategorisch ausgeschlossen180, so hebt er dieses Verdikt in den Reden an die deutsche Nation wieder auf und preist die neue Verbindung von einer Erziehung nach den Methoden Pestalozzis und einem besseren Verständnis der Wissenschaftslehre wiederholt als Rettung oder als Heilmittel für die ganze Menschheit. Er begreift den „Trieb zu gegenseitiger Achtung" als „das Band, was die Menschen zur Einheit des Sinnes verknüpft", und fordert von daher, die geregelte Ausbildung dieses natürlichen Triebs zum „Hauptbestandteil" 181 der Nationalerziehung zu machen. Gelingt es dem philosophischen Unterricht, alle sinnlich-sozialen Einflüsse so weit von ihren Schülern fernzuhalten, daß „diese geistige Entwickelung die Selbstsucht nicht zum Leben kommen lässt"182, werden „Einmüthigkeit und Eintracht des Geistes" und eine Liebe, „welche den Menschen an den Menschen bindet, und alle Einzelne zu einer einigen Vernunftgemeine der gleichen Gesinnung verbindet"183, ihre notwendigen Folgen sein. Diesen Erziehungszielen ist auch das strenge Reglement der Nationalschulen nicht abträglich, denn die äußere Zwangsordnung tangiert „die Sittlichkeit des

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Pestalozzi, Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwiklung des Menschengeschlechts, Werke, Bd. 12, S. 106, dazu Hinz, Pestalozzi und Preußen, S. 46 ff., zur Bedeutung von Familie und Mutter siehe Spranger, Pestalozzis Denkformen, S. 149, Ballauff u. Schaller, Pädagogik, S. 483 f., und Hinz, Pestalozzi und Preußen, S. 42 und S. 95 ff. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 234. „Eine positive moralische Erziehung, d. h. eine solche, die sich den Zweck setze und ihn ausdrücklich ausspreche, den Zögling zur Tugend zu bilden, giebt es nicht; vielmehr würde ein solches Verfahren den inneren moralischen Sinn ertödten und gemüthlose Heuchler und Gleissner bilden", Aphorismen über Erziehung, GA II, 7, S. 21, ähnlich auch noch in den Erlanger Vorlesungen Ueber das Wesen des Gelehrten von 1805, dazu Traub, Fichtes Populärphilosophie, S. 82 ff. Alle Zitate Reden, SW VII, S. 416. Reden, SW VII, S. 292. Reden, SW VII, S. 487 und S. 413.

Vom Ich zum Wir

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Zöglings überhaupt nicht, da sie ihn nur negativ zur Unterlassung des Unrechten anhält"184 Anders als Pestalozzi hält Fichte also eine Versittlichung von Gemeinschaft für möglich, und anders als Pestalozzi setzt er den privaten mit dem öffentlichen Raum gleich: „Erziehung ist politische Erziehung."185 Wie für die Politela Piatons besteht für die Reden an die deutsche Nation eine Analogie zwischen der Seele des Individuums und der guten Polis186, mit dem Unterschied aber, daß die Eindeutigkeit von Fichtes anthropologischer Prämisse - der natürliche Mensch ist gut und strebt nur nach dem Guten keine ausdifferenzierte Seelenlehre mehr benötigt, wie Piaton sie noch entwickelt hatte. Mit seiner Nationalerziehung erweist sich Fichte als Idealist reinsten Wassers, der Sein und Sollen weitgehend miteinander identifiziert und für den allein die Wissensformen die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse bestimmen.187 Diese „Kongruenz von Ethik und Gesellschaftslehre"188 der Reden an die deutsche Nation erinnert in vielem an die frühen Revolutionsschriften Fichtes, die ja ebenfalls von einem hochnormativen Bild des Menschen ausgegangen waren und damit alle rechtlich-institutionellen Probleme weitgehend minimieren konnten. Allerdings stand das frühe politische Denken Fichtes noch ganz auf einem individualistischen Fundament, während seine Nationalerziehung nun auf einem interpersonalen Begriff von Sittlichkeit aufbaut und damit den angestrebten Wandel vom Ich zum Wir vollzogen hat. Ähnlich wie die Revolutionsschriften ob ihrer Kongruenz von Ethik und Gesellschaftslehre meist als utopisch kritisiert wurden, stieß auch der grenzenlose pädagogische Optimismus von Fichtes Vorschlag einer deutschen Nationalerziehung auf den Zweifel seiner Interpreten: „Wenn dies zuträfe, wäre Erziehung eine relativ leichte Angelegenheit"189, so Johannes Schurr über das positive Menschenbild Fichtes, und auch Hansjürgen Verweyen fragt sich, ob „Fichte damals wirklich an die Möglichkeit einer unfehlbaren Wirkung dieser ,neuen Erziehung'" 190 geglaubt habe. Stärker aber noch als der pädagogische und anthropologische Optimismus Fichtes hat vor allem die Bezeich184 185 186

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Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 236. Ehrlich, Fichte als Redner, S. 80. Vgl. Piaton, Der Staat, S. 178: „Das Wesen der Gerechtigkeit, das Werden und Wesen eines vollkommen gerechten Menschen, umgekehrt das der Ungerechtigkeit und des Ungerechten sollte uns zum Musterbild dienen." So wie für Piaton der gerechte Mensch das Idealbild des guten Staates ist, gibt für Fichte der sittliche Mensch das Muster der politischen Ordnung ab. Indirekt bezieht sich Fichte auf Piaton, wenn er ausführt: „Hierdurch wird nun diese deutsche und allerneueste Staatskunst wiederum die allerälteste; denn auch diese bei den Griechen gründete das Bürgerthum auf die Erziehung, und bildete Bürger, wie die folgenden Zeitalter sie nicht wieder gesehen haben", Reden, SW VII, S. 366. Der neuen Erziehung „ist nur die Welt, die durch das Denken erfasst wird, die wahre und wirklich bestehende Welt; in diese will sie ihren Zögling, sogleich wie sie mit demselben beginnt, einführen", Reden, SW VII, S. 400, vgl. dazu Schuffenhauer, Die Pädagogik Fichtes, S. 98. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 233. Schurr, Zur Konzeption einer transzendentalen Bildungstheorie, S. 510. Verweyen, Recht und Sittlichkeit, S. 236.

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V. „Die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen "

nung „Nationalerziehung" zu Irritationen geführt, denn wer aufgrund dieser Bezeichnung und vor dem Hintergrund von Fichtes Volksbegriff einen hohen Stellenwert von deutscher Sprache und Literatur, von vaterländischer Geschichte und Heimatkunde, von Liedern und Gesängen oder dergleichen mehr in dem Vorschlag der Reden an die deutsche Nation erwartet hatte, sieht sich enttäuscht. Zwar hatte Fichte noch in der Republik der Deutschen über einen quasi-religiösen Nationalkult nachgedacht191 und auch in den Reden sich noch ganz vereinzelt über die identitätsstiftende Funktion von Geschichte und Dichtung geäußert192, doch haben diese Überlegungen keinen Eingang in seine systematischen Ausführungen zur Nationalerziehung gefunden. Im Gegenteil, Fichte warnt dort sogar ausdrücklich vor Pestalozzis „Ueberschätzung des Lesens und Schreibens", wie er es insgesamt bezweifelt, daß die Sprache ein geeignetes Mittel sei, „unser Geschlecht von dunkler Anschauung zu deutlichen Begriffen zu erheben"193. Hatte er zuvor noch einen erkenntnistheoretischen Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken hergestellt und die besondere Anlage der Deutschen zum Philosophieren mit ihrer ursprünglichen Sprache erklärt, wird in der Nationalerziehung philosophisches Denken allein als eine Frage der geregelten Ausbildung natürlich-menschlicher Anlagen verstanden - ein Perspektivwechsel, der schon einen der ersten Rezensenten der Reden an die deutsche Nation irritiert hatte: „Ree. wenigstens vermisst an seinem Theile gerade das Nationale in dieser Nationalerziehung, vielmehr fällt dieselbe zusammen mit der allgemeinen rein menschlichen Erziehung, wo alle Nationalunterschiede verschwinden in der Indifferenz der allgemeinen Menschheit. Reine Sittlichkeit ist ja weder das Wesen, noch der nationale Grundzug der Deutschen." 194

Seitdem ist von der Forschung immer wieder mit Recht festgestellt worden, daß Fichte vor allem „seine eigenen Ideen verbreiten [will], die nichts Nationales an sich haben", und daß seine Erziehungsziele „ausschließlich einem übergeordneten Ideal verpflichtet 191

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In dieser politischen Utopie Fichtes findet sich auch ein Abschnitt, der mit „Religionsbekenntniß der Deutschen" überschrieben ist und in vielem an die religiösen Kulte der Jakobiner erinnert. In der deutschen Nation des 22. Jahrhundert gibt es ein überkonfessionelles christliches Bekenntnis, den sogenannten „Christianismus", der eng auf die Nation bezogen ist und sich in einem öffentlichen „Cultus", einem neuen Kalender, in öffentlichen Tauf- und Beerdigungsritualen und in besonderen Sonntagsfeiern realisiert, vgl. Republik der Deutschen, GA II, 10, S. 412 ff. In der sechsten Rede ruft Fichte aus: „Unter den einzelnen und besonderen Mitteln, den deutschen Geist wieder zu heben, würde es ein sehr kräftiges seyn, wenn wir eine begeisternde Geschichte der Deutschen aus diesem Zeiträume [der Reformationszeit] hätten, die da Nationalund Volksbuch würde, so wie Bibel oder Gesangbuch es sind [...]", Reden, SW VII, S. 357. Und in der fünften Rede heißt es: „Unter den Mitteln, das Denken, das im einzelnen Leben begonnen, in das allgemeine Leben einzuführen, ist das vorzüglichste die Dichtung [...]", ebd., S. 333. Reden, SW VII, S. 404 und S. 405. Fichte möchte, mit Ausnahme der künftigen Gelehrten, seinen Schülern das Lesen und Schreiben möglichst spät beibringen, waren diese doch „bisher die eigentlichen Werkzeuge gewesen, um die Menschen in Nebel und Schatten einzuhüllen, und sie überklug zu machen", ebd., S. 404 f. Besprechung der Reden an die deutsche Nation eines unbekannten Rezensenten aus der Neuen Leipziger Literaturzeitung, in: J.G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen, Bd. 4, S. 275.

Vom Ich zum Wir

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[sind]: der Vernunft" 195 . Der Fall seiner Betrachtungen aus dem Gebiet der Sittenlehre in das der Geschichte, von dem Fichte in seiner ersten Rede gesprochen hatte, berührte also nicht seinen Plan einer deutschen Nationalerziehung, der „keine Frucht geschichtlichen Lebens [war], sondern ein Postulat der Vernunft" 196 . Das Politisch-Konkrete findet sich dagegen in Organisation und Durchführung der Nationalerziehung und dem Moment des Zwangs, das Fichte zu ihrer Realisierung geltend machen möchte. Die Reden an die deutsche Nation nehmen auf dieser Ebene den neuhumanistischen Evolutionismus zurück zugunsten eines eher revolutionären Machbarkeitsglaubens, der auf Veränderung und Bruch zielt, auf „Entschluss und That", zu denen Fichte seine Zuhörer wiederholt auffordert. Schon auf der politisch-konkreten Ebene ist Fichtes Nationalerziehungsplan erheblichen Ambivalenzen ausgesetzt, die zwischen den Polen eines „terroristischen Zwangssystems"197 einerseits und einem politisch-sozialen Egalitarismus andererseits schwanken. Noch auffalliger werden diese Ambivalenzen, setzt man sie in Bezug zu den Erziehungszielen Fichtes, die noch immer dem neuhumanistischen Ideal einer zweckfreien sittlich-geistigen Bildung und Vervollkommnung verpflichtet sind - allerdings nicht mehr auf die Vervollkommnung des Individuums zielen, sondern auf die der Menschheit. Die Liebe und die Begeisterung, von der Fichte mit Bezug auf seine Nationalerziehung wiederholt sprach und die den befehlenden und strafenden Staat ablösen sollte, ist die abstrakte Liebe zum Vernünftigen und Sittlichen. Das nationale Element seines Erziehungsplans besteht nicht darin, daß allein der Deutsche zu dieser Liebe fähig sei, sondern darin, daß in der deutschen Geistesgeschichte mit der Methodik Pestalozzis und der Wissenschaftslehre sowohl das Mittel als auch der Zweck dieser Erziehung zur Philosophie schon bereitliegen und die gegenwärtige Notlage die Deutschen geneigt machen könnte, den völligen Neuanfang auch zu wagen. Der Nationalerziehungsplan spricht daher von seinem Schüler nicht als einem Deutschen, sondern als einem „Mitglied der menschlichen Gesellschaft hier auf dieser Erde" und einem „Glied in der ewigen Kette eines geistigen Lebens überhaupt"198. Das eigentliche Erziehungsziel Fichtes ist daher auch nicht die deutsche Nation, sondern das „Bild von der gesellschaftlichen Ordnung der Menschen, so wie dieselbe nach dem Vernunftgesetze schlechthin seyn soll"199. Der Weg dorthin führte aber für Fichte wie für weite Teile des zeitgenössischen nationalen Denkens über „die nationalistische Relativierung universalistischer Ideale"200. Mit der Idee der Nation und vor allem mit dem Erziehungsziel Nation war eine Instanz gefunden, die zwischen Mensch und Bürger, aber auch zwischen Mensch und 195

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Radrizziani, Ist Fichtes Modell des Kosmopolitismus pluralistisch?, S. 19, und Soller, Nationale Erziehung, S. 92, ähnlich auch Willms, Totale Freiheit, S. 159, und Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer, S. 161. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 108. Vgl. Willms, Totale Freiheit, S. 155. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 297. Reden, SW VII, S. 292. Echternkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 242.

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V. „Die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen "

Menschheit vermitteln konnte und stärker als der Staat eine Identifizierung des Bildungsbürgertums ermöglichte. Für dieses komplexe Verhältnis von Idealität und politischer Emanzipation, von Universalismus und Partikularismus haben Fichtes Reden an die deutsche Nation eine treffende Formulierung gefunden: „die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen." 201

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Reden, SW VII, S. 354.

Schlußbetrachtung

Am 20. März 1808 hält Fichte die vierzehnte und damit letzte seiner Reden an die deutsche Nation, die wie die erste Rede von großem Pathos und einer Rhetorik der Aufforderung und der Beschwörung getragen wird. Ob es ihm wirklich gelungen ist, die Vielzahl von Fragen und Irritationen, die seine erste Rede aufwarf, den Zuhörer befriedigend beantwortet zu haben, sei dahingestellt. Fichte möchte seine Schlußrede auch gar nicht zu einer „Ergebnissicherung" nutzen und nochmals die Eckpunkte seiner Sprachphilosophie oder seines Vorschlags einer deutschen Nationalerziehung zusammenfassen - vielmehr zielt er erneut auf Gemüt, Selbstbild und Gefühl seiner Hörer und damit auf den Kern nationalen Denkens. Zunächst schließt er gleich mit dem ersten Satz an den Stellvertretergedanken aus der ersten Rede an, mit dem er sein Publikum zu Repräsentanten der ganzen Nation erklärt hatte: „Die Reden, welche ich hierdurch beschliesse, haben freilich ihre laute Stimme zunächst an Sie gerichtet, aber sie haben im Auge gehabt die ganze deutsche Nation, und sie haben in ihrer Absicht alles, was, so weit die deutsche Zunge reicht, fähig wäre, dieselben zu verstehen, um sich herum versammlet in den Raum, in dem Sie sichtbarlich athmen."1

Fichte wird dieses Pathos seine ganze Schlußrede hindurch beibehalten und im weiteren Verlauf die nationale Vereinigung rhetorisch selbst vollziehen: das „Wir" wird auch auf der sprachlichen Ebene erreicht, und die Distanz zwischen Redner und Hörern wird eingeebnet. Im Unterschied zur ersten Rede spricht Fichte sein Publikum kaum noch mit „ehrwürdige Versammlung", mit „Ihnen" oder „Sie" an, sondern mit „euch" und spricht betont von „wir" und von „uns".2 Er tritt hier auch zunächst nicht mehr mit dem Ethos des überlegenen Philosophen auf, der Einsicht in den Weltplan genommen hat, oder des charismatischen Propheten, der die kommende Zeit enthüllen wird, sondern nimmt vorerst das Ethos eines bescheidenen und pflichtbewußten Bürgers an, der tat, was eben getan werden mußte: Sollte Jemand unter euch hervortreten" und ihn fragen Reden, SW VII, S. 481, Fichte beendet diese Rede auch mit dem Stellvertretergedanken, der letzte Satz lautet: „Dies war es, E. V. [ehrwürdige Versammlung], was ich Ihnen, als meinen Stellvertretern der Nation, und durch Sie der gesammten Nation, am Schlüsse dieser Reden noch einschärfen wollte und sollte", ebd., S. 499. Auch in seiner ersten Rede hatte Fichte da und dort von „wir" und „uns" gesprochen, nicht aber in der direkten Anrede.

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Schlußbetrachtung

wollen: „was giebt gerade Dir [...] das Vorrecht, uns zu versammeln und auf uns einzudringen", dann würde er antworten, daß , jeder dasselbe Recht gehabt hatte" und daß er „schweigen würde, wenn ein anderer es früher gethan hätte"3. Fichte erinnert in seiner Schlußrede nochmals eindringlich an den „Schmerz" und das Leid der gegenwärtigen Situation und warnt vor dem „Uebel der Knechtschaft", vor dem „Hohn und Uebermuth des Ueberwinders". Er läßt seine Hörer wissen, daß sie es in der Hand haben, die Dinge zu wenden, und fordert einen „Entschluss, der zugleich unmittelbar Leben sey und inwendige That, und der da ohne Wanken oder Erkältung fortdaure und fortwalte, bis er am Ziele sey"4. Der Ton wird wieder feierlicher und das Ethos des Redners wieder etwas distanzierter, wenn Fichte mit biblischem Pathos seinem Publikum zuruft: „Es hängt von euch ab, ob ihr das Ende seyn wollt [...] oder ob ihr der Anfang seyn wollt und der Entwicklungspunct einer neuen, über alle eure Vorstellungen herrlichen Zeit"5. Hier ist wieder der heilsgeschichtliche, prophetische Ton gefunden, mit dem Fichte seine Reden an die deutsche Nation auch beenden wird. In einer ganzen Reihe von Beschwörungen stellt er den zentralen Gedanken seiner Vorträge heraus: die Nation als eine sittliche und übernatürliche Gemeinschaft aller Deutschen. Er entwickelt diesen Gedanken aber nicht in sachlich-argumentativer, sondern in emotionaler und appellativer Form, setzt also ganz auf das Pathos seiner Rede und sagt damit über das Wesen nationalen Denkens mehr aus als mit einer logoszentrierten Rhetorik. Programmatisch beginnt Fichte seinen Beschwörungen mit den „Jünglingen", denn sie liegen „den Jahren der kindlichen Unschuld und der Natur" noch am nächsten - und wie sollte auch „sonst jemals ein besseres Geschlecht beginnen"6 können. Der Hoffnung auf die Jugend folgt die Warnung an die „Alten", dem Neuanfang nicht im Wege zu stehen. Waren die Alten bislang „die aufhaltende Kraft aller Verbesserungen", so sollten sie sich nun zurückziehen und lediglich „die jüngere Welt"7 bestätigen, bestärken und beraten. Ähnlich kritisch fährt Fichte mit seinen Beschwörungen fort und wendet sich den „Geschäftsmännern" zu, die er beschuldigt, „bisher dem abgezogenen Denken und aller Wissenschaft [...] von Herzen feind" 8 gewesen zu sein. Aber auch die Wissenschaft und die Kunst, die „Denker, Gelehrten, Schriftsteller", die als nächste an der Reihe sind, werden von Fichtes Vorwürfen nicht verschont. Noch einmal klingt das Motiv seiner „Selbstanklage" an, wenn er die Intelligenz tadelt: „Ihr ginget oft zu unbesorgt im Gebiete des bloßen Denkens fort, ohne euch um die wirkliche Welt zu bekümmern, und nachzusehen, wie jenes an diese angeknüpft werden könne [...]."9 Hart

3 4 5 6 7 8 9

Alle Zitate Reden, SW VII, S. 484 f. (Hervorh. des Verf.). Reden, SW VII, S. 483. Reden, SW VII, S. 486. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 488 f. Beide Zitate Reden, SW VII, S. 490 f. Reden, SW VII, S. 491. Reden, SW VII, S. 492.

Schlußbetrachtung

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geht Fichte mit den Dichtern und Philosophen, mit ihren Eitelkeiten und Eifersüchteleien, ins Gericht, und gibt ihnen die Hauptschuld an der gegenwärtigen Misere. Auch hier mahnt Fichte zur Besinnung und zur Umkehr und zeigt einen Weg auf: ähnlich wie die Alten die Jungen unterstützen sollen, sollen sich die Gelehrten mit den Geschäftsleuten zum Wohle des Ganzen zusammentun. Fichte geht es also vor allem darum, Standesgrenzen zu überwinden und allen gesellschaftlichen Dissoziations- und Entfremdungsprozessen mit dem Appell an das Miteinander und dem Gedanken des Wir entgegenzuwirken. In diesem Sinne sollten Gelehrte und Geschäftsleute endlich auch begreifen, „dass ihr Beide untereinander euch also nothwendig seyd, wie Kopf und Arm sich nothwendig sind"10. Zu dieser integrativen und versöhnenden Absicht Fichtes paßt es auch, daß er in seiner folgenden Beschwörung die Fürsten nur vergleichsweise milde anfaßt: Zwar beginne auch für sie ein neues Leben, doch erinnert Fichte die Fürsten allem zuvor an die Liebe und die Ergebenheit, mit denen das Volk ihnen begegne und denen sie sich stärker als bisher verpflichtet fühlen sollten.11 Nach einer Aufforderung an die „Deutschen insgesammt", über seine Worte nachzudenken 12 , verändert sich die Perspektive seiner Beschwörungen: Fichte erweitert den Kreis seiner Rede und damit das „Wir" ins Metaphysische und wird zu einem Medium der überzeitlichen Nation. Fichte verleiht seiner Kritik an den Zeitgenossen und seiner Ermahnung zu Solidarität und Gemeinsinn durch den Hinweis Nachdruck, „dass in meine Stimme sich mischen die Stimmen eurer Ahnen aus der grauen Vorwelt, die mit ihren Leibern sich entgegengestemmt haben der heranströmenden römischen Weltherrschaft" 13 . Und auch die Reformation als weitere Sternstunde der deutschen Geschichte neben dem germanischen Befreiungskampf bleibt nicht unerwähnt: „Rettet auch unsere Ehre" flehen die alten Protestanten die Hörer Fichtes an. „Unser Blut", so die Protestanten weiter, flöß im Kampf für einen höheren Geist und „an euch ists, diesem Opfer seine Bedeutung und seine Rechtfertigung zu geben, indem ihr diesen Geist einsetzt in die ihm bestimmte Weltherrschaft" 14 . Sogar die „noch ungeborenen Nachkommen" stimmen daraufhin in Fichtes Chor der deutschen Stimmen ein und mahnen ihre künftigen Ahnen, dafür Sorge zu tragen, „dass bei euch die Kette nicht abreisse" 15 . Von da aus dehnt sich die überzeitliche Nation der Deutschen immer weiter ins Universale und Abstrakte aus: auch das Ausland, genauer: der Teil, der noch an „die grossen Verheissungen eines Reiches des Rechtes, der Vernunft und der Wahrheit" glaubt, blickt auf die Deutschen - schließlich haben sie „von uns Religion und jedwede

10 11 12 13 14 15

Reden, SW VII, S. 492. Vgl. Reden, SW VII, S. 494 f. Vgl. Reden, SW VII, S. 495. Reden, SW VII, S. 495. Alle Zitate Reden, SW VII, S. 496. Reden, SW VII, S. 497.

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Schlußbetrachtung

Bildung"16 erhalten. Und sogar „die Vorsehung und der göttliche Weltplan" flehen die Hörer Fichtes an, „seine Ehre und sein Daseyn zu retten"17. Noch einmal zeigt sich hier zum Abschluß des Vortragszyklus die menschheitsgeschichtliche und geistig-kulturelle Dimension, die Fichte der deutschen Nation zuspricht und die er dazu nutzt, ein letztes Mal seinem Publikum die Bedeutung seines Vorschlags einer sittlichen Erneuerung vor Augen zu fuhren und zum Neuanfang zu mahnen: „wenn ihr versinkt, so versinkt die 1X ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung."

16 17 18

Reden, SW VII, S. 498. Alle Zitate Reden, SW VII, S. 497 f. Reden, SW VII, S. 499.

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Abusch, Alexander 166 Achelis, Henrich Nikolaus 14, 66f. Alexander von Roes 130 Altenstein, Karl Sigmund Franz von Stein zum 41, 44,47, 54ff., 179 Alter, Peter 21, 37, 68, 115ff. Anderson, Benedict 20, 115f., 187 Angermeier, Heinz 59, 113, 115, 140, 161f. Annius von Viterbo 129 Aretin, Karl Otmar v. 36, 59 Aristoteles 18, 75 Arndt, Ernst Moritz 59, 109 Assmann, Aleida 172 Avineri, Shlomo 138, 142 Bahrdt, Karl Friedrich 181 Ballauf, Theodor 182, 202 Bär, Jochen A. 118f., 122ff., 132ff. Barbarie, Damir 121 Barnard, Frederick M. 125 Bartuschat, Wolfgang 93 Batscha, Zwi 42, 98f. Baumanns, Peter 42, 90, 93, 109 Bebel, Heinrich 129 Becker, Hans-Joachim 58, 122, 165, 167 Becker, Winfried 148 Bergmann, Hugo 165 Bernhardi, August Ferdinand 56, 122 Beyme, Karl Friedrich 38f., 44f., 55, 57f., 184f. Bezzola, Tobia 19, 189 Bielefeld, Ulrich 15, 22, 115f., 131, 139ff., 167, 189 Bielefeldt, Heiner 73

Blitz, Hans-Martin 21, 37, 116ff., 125, 129, 137f., 187 Bloch, Ernst 165 Böhme, Jakob 138 Bollenbeck, Georg 171 f., 174f. Bonaparte, Jérôme 58 Braubach, Max 35 Brumlik, Micha 167 Buber, Martin 165 Buhr, Manfred 81 Burke, Edmund 68ff., 71, 73 Campe, Joachim Heinrich 181 Celtis, Konrad 129 Cicero, Marcus Tullius 19 Clausewitz, Carl v. 53f. Condillac, Etienne Bonnot de 119 Dann, Otto 21, 85, 117, 140, 147, 167f., 199 Dante, Alighieri 42 Delbrück, Johann Friedrich Gottlieb 44 Dörner, Andreas 138, 141 Dorow, Wilhelm 24 Dumont, Louis 125, 153 Düsing, Edith 85 Echternkamp, Jörg 21, 36f., 52, 59, 111, 117ff., 125, 129f., 137f., 140f., 155, 159, 168, 171, 179f., 187, 205 Eco, U. 30, 64 Ehrlich, Adelheid 16f., 19, 24, 134, 181, 189, 198f., 203 Eisenstadt, Shmuel Noah 116f. Elkan, Albert 60

236 Epstein, Klaus 69f. Fehrenbach, Elisabeth 35 Fetscher, Iring 175 Fichte, Immanuel Hermann 9, 44, 57, 114, 122, 157 Fichte, Johann Gottlieb 9ff. Fichte, Marie Johanne (geb. Rahn) 14, 38, 41, 44f., 48f., 51, 54, 57, 123, 183f„ 190, 193 Fink, Gonthier-Louis 117, 136f. Fischer, Wolfgang 175 Flemming, Jens 56 Flemming, Paul 64 Flitner, Andreas 170f., 175, 178f. Fouqué, Friedrich Heinrich Karl de la Motte 64, 104 Fouquet-Plümacher, Doris 22, 58 Frank, Manfred 87, 89, 124 Franz II. 35 Freyer, Hans 42,44f., 51 Friedrich der Große 55 Friedrich Wilhelm I. 106 Friedrich Wilhelm II. 58 Friedrich Wilhelm III. 35, 38, 41, 45f., 48, 52, 54, 62, 185 Fuchs, Erich 9 Gamm, Gerhard 87 Garber, Jörn 129f., 186 Gehlen, Arnold 162, 166 Geiger, Ludwig 36 Geismann, Georg 96, 167 Gellner, Ernest 20, 112, 115f. George, Benjamin 55 George, Canvas 56 Giesen, Bernhard 20f., 36f., 125, 140, 152f., 186f. Gipper, Helmut 119, 123 Goethe, Johann Wolfgang v. 108, 123, 157 Grünberger, Hans 112f., 129f., 145 Gueroult, Martial 78, 91, 94 Günther, Hans F.K. 166 Habermas, Jürgen 73, 75, 116, 188 Hahn, Karl 82,93, 100

Personenverzeichnis Hamann, Johann Georg 125, 138 Hammacher, Klaus 54, 123 Hardenberg, Karl August v. 39f., 45f., 54 Hardtwig, Wolfgang 21, 116, 140 Harten, Hans-Christian 175 Haugwitz, Christian August Heinrich Kurt Graf v. 46 Haupt, Heinz-Gerhard 116 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28, 56, 59f., 96, 102, 106, 149 Heinrichs, Johannes 132 Hennigfeld, Jochem 119, 121, 123, 131 Henrich, Dieter 68, 87f. Herde, Peter 138, 142 Herder, Johann Gottfried 60, 117, 119, 121, 125ff., 137, 153f., 165, 173 Herrmann, Ulrich 171 f., 176ff., 192 Hinz, Renate 182, 191f., 194, 196, 202 Hitler, Adolf 167 Hobbes, Thomas 15, 79, 9Iff., 111 Hobsbawm, Eric 21, 113, 115 Hoffmann, Lutz 37 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 123 Höltenschmidt, Edith 157 Hösle, Vittorio 87, 89 Hroch, Miroslav 112f. Hubatsch, Walther 45 Huber, Ernst Rudolf 35, 52f. Hufeland, Christoph Wilhelm 44, 55 Hufeland, Gottfried 77 Humboldt, Alexander v. 54, 56 Humboldt, Wilhelm v. 123, 152, 173f., 178, 185 Hutten, Ulrich Ritter v. 129 Jacobi, Friedrich Heinrich 17, 87f., 91, 110

Jacobs, Wilhelm G. 65, 99, 181 Jamme, Christopf 60 Janke, Wolfgang 91, 94, 121 Jean Paul 147 Jeismann, Karl-Ernst 172, 175, 178ff., 200 Jeismann, Michael 108f., 115, 119, 133, 138, 140f„ 144, 167 Jolies, Frank 122 Julia, Dominique 175f.

237

Personenverzeichnis Jung, Franz Wilhelm 14 Junge, Kay 36f. Kahlo, Michael 90 Kallscheuer, Otto 147 Kamenka, Eugen 138, 142 Kant, Immanuel 12, 14, 17, 24, 27, 35, 42, 50, 65ff„ 69ff„ 83ff„ 9Iff., 128, 149, 157f., 160, 165, 168, 172f., 183, 192 Karl der Große 130, 156 Kemiläinen, Aira 118,137, 141, 152ff. Kersting, Wolfgang 45, 47, 60, 73ff., 78, 82, 89, 93, 113, 157 Kettenacker, Lothar 156 Kiss, Endre 14, 142 Kleist, Heinrich v. 59, 109, 145 Kleßmann, Eckart 53, 56 Klippel, Diethelm 73 Klopstock, Friedrich Gottlieb 137f., 145 Kocka, Jürgen 116 Kodalle, Klaus-M. 99 Kohn, Hans 37, 108, 125, 138 König, Helmut 200 Körner, Karl Theodor 59, 109 Körner, Rudolf 22 Koselleck, Reinhart 111, 141, 177 Krause, Horst 175, 178, 180 Kritschgau, Christian 36 Krüger, Peter 161 Kurzke, Hermann 149, 156f. La Vopa, Anthony J. 21 f., 65, 71, 73, 81 f., 84, 99, 174, 182 Langewiesche, Dieter 19, 21, 112f., 140, 159, 159, 168, 187 Lauth, Reinhard 17, 22f., 25, 35, 50f., 54, 87, 161, 184 Leggewie, Claus 147 Lehmann, Max 32, 58 Leibniz, Gottfried Wilhelm v. 149 Lemberg, Eugen 140 Lenz, Max 184 Léon, Xavier, 14, 54f„ 65, 99, 120, 122, 191 Lepelletier, Michel 176f., 200f. Lepsius, M. Rainer 116f.

Link, Hannelore 123 Locke, John 111, 160, 191 f. Lohse, Bernhard 148 Lombard, Johann Wilhelm 45f. Losurdo, Domenico 145, 149 Löwisch, Dieter-Jürgen 175 Lübbe, Hermann 140, 164,166 Luden, Heinrich 164 Luhmann, Niklas 15, 139 Luther, Martin 144, 146ff., 154, 190 Lützler, Paul Michael 163 Machiavelli 12, 42ff., 50ff., 54, 56, 58, 60, 63f., 104, 111, 114, 158 Mähl, Hans-Joachim 106, 155, 157 Manz, Hans Georg v. 89f. Maus, Ingeborg 73, 94 Mayer, Kathrin 112f., 129f., 145 Medici, Lorenzo de' 47 Medicus, Fritz 44,65, 99 Meinecke, Friedrich 42, 51, 115, 125, 153, 163f., 205 Merle, Jean-Christophe 89, 93f. Metz, Wilhelm 25 Metzger, Wilhelm 96 Mieck, Ilja 46 Miltitz, Ernst Hauboldt v. 181 Moggach, Douglas 42 Montesquieu, Charles de Secondât 119 Mosham, Franz Xaver v. 110 Muhlack, Ulrich 184f. Müller, Adam 16 Müller, Johannes v. 38,45, 54ff., 107 Müller-Vollmer, Kurt 123 Münchow-Pohl, Bernd v. 45f., 52f., 104 Münkler, Herfried 20, 38, 42, 45ff., 60, 112, 115, 129f., 145, 155f., 176, 178, 186f. Nagler, Karl Ferdinand Friedrich 44 Napoleon I Bonaparte 13, 21, 35, 48, 53f., 56ff, 104, 107ff, 134, 156, 162, 170 Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig 64 Niethammer, Friedrich Immanuel 86, 94, 121

238 Nipperdey, Thomas 35, 46, 52, 59, 125, 140, 148, 153, 163 Nolte 58 Novalis 28, 68, 106, 123, 149f., 154, 156f. Oelkers, Jürgen 176ff., 192, 194f. Oesterreich, Peter L. 18f., 25f., 29ff., 62f., 134, 139, 164, 188f.,205 Ohst, Martin 99 Osterwalder, Fritz 192ff., 201 Palm, Johann Philipp 40 Pape, Matthias 55 Paul, Jean-Marie 81, 84 Perconti, Pietro 121 Pesch, Reiner 22, 161 Pestalozzi, Johann Heinrich 56, 181 ff., 191 ff., 20Iff. Petri, Manfred 121 Philonenko, Alexis 36,42, 65, 69ff. Pikulik, Lothar 123 Platner, Ernst 121 Piaton 71, 111, 175, 198, 203 Plessner, Helmuth 137 Press, Volker 35, 156 Preul, Reiner 66, 181f. Prignitz, Christopf 36 Prinz Louis Ferdinand 46 Radrizzani, Ives 123, 134, 205 Raguse, Hartmut 29 Rehberg, August Wilhelm 69ff. Reimer, Georg Andreas 58 Reinhardt, Volker 136, 140, 144 Reinhold, Karl Leonhard 17, 69, 86ff, 181

Renan, Ernest 114f. Renaut, Alain 86 Riedel, Manfred 78 Riedl, Peter P. 16, 19, 22, 29, 189 Robespierre, Maximilien 176f. Robling, Franz-Hubert 16, 189 Rosenberg, Alfred 166 Rousseau, Jean-Jacques 26, 70, 79, 96, 111, 126, 136, 172ff, 191ff„ 198

Personenverzeichnis Rüchel, Ernst Friedrich Wilhelm Philipp v. 46 Rückert, Friedrich 109 Rückert, Joachim 73 Saage, Richard 99 Sagave, Pierre-Paul 46 Salzmann, Christian Gotthilf 181 Schaller, Klaus 182, 202 Schanze, Helmut 16 Schelling, Friedrich Wilhelm Josef 17, 64, 104 Schelsky, Helmut 184f. Schenkendorf, Max v. 41 Schieder, Theodor 21 Schiller, Friedrich 123, 149, 152ff., 156, 169, 173f. Schlegel, August Wilhelm 16, 122ff., 127, 132, 148 Schlegel, Friedrich 13, 16, 123, 153, 157f. Schleiermacher, Friedrich 16, 184 Schmalz, Theodor v. 73, 77, 80f. Schmitt, Carl 107, 109 Schmitter, Peter 119, 123 Schön, Theodor v. 85 Schönemann, Bernd 117 Schottky, Richard 18, 23f., 43f., 52, 78, 80ff., 91, 93f., 97, 162 Schräder, Wolfgang H. 15, 113, 139 Schrötter, Ferdinand Freiherr v. 41, 45 Schrötter, Friedrich Leopold Freiherr v. 44 Schrötter, Karl Wilhelm v. 41, 55 Schuffenhauer, Heinz 181ff., 191, 200, 203 Schulin, Ernst 116f., 167 Schulz, Gerhard 61, 123 Schurr, Johannes 182, 186, 203 Schütz, Wilhelm v. 56 See, Klaus v. 144 Sheehan, James J. 36, 45 Siep, Ludwig 90, 93 Sloterdijk, Peter 139 Soller, Alois 182, 196, 205 Spinoza, Baruch de 91

Personenverzeichnis Spranger, Eduard 44, 54, 176, 191f., 194f„ 202 Stadler, Peter 191 f., 195 Stägemann, Friedrich August v. 44, 56f., 59 Stählin, Friedrich 55 Stamm-Kuhlmann, Thomas 45 f. Stegemann, Wolfgang 29f. Stein, Heinrich Friedrich Karl, Freiherr vom und zum 179, 185 Stollberg-Rilinger, Barbara 98, 106 Stolleis, Michael 35, 155f. Summerer, Stefan 123 Tacitus, Publius Cornelius 57, 129f., 132, 144fiF. Tacke, Charlotte 116 Tenorth, Heinz-Elmar 173 Traub, Hartmut 25, 109, 199, 202 Vamhagen von Ense, Karl August 55ff., 122 Verweyen, Hansjürgen 15, 42, 59, 8Iff., 86, 88, 91, 93, 95, 98, 100, 107, 121, 126, 128, 131, 138, 142, 163, 196,198, 202f. Vierhaus, Rudolf 36f. Vieweg, Klaus 85, 97, 199 Villacaflas, José L. 29 Vogel, Barbara 21, 167 Vogel, Ursula 68, 70 Voigts, Manfred 14, 22, 165ff. Vondung, Klaus 28ff. Wallner, Nico 78, 80, 82, 94, 113, 162, 199 Weber, Max 29 Wehler, Hans-Ulrich 20f., 53, 59, 111, 115f., 118, 140, 164, 168, 172, 188 Weißhuhn, Friedrich August 65 Widmann, Joachim 14 Widmer, Paul 25 Wiegmann, Hermann 18 Wildt, Andreas 90, 92 Willemer 56 Willms, Bernard 42, 78, 82, 94ff., 98, 108, 138, 166f., 182, 205

239 Wimpfeling, Jakob 129 Windelband, Wilhelm 162, 164 Windischmann, Karl Josef Hieronymus 64 Winkler, Heinrich August 21, 35, 37, 149, 167 Wodak, Ruth 31, 140 Wohlfeil, Rainer 52 Wolf, Friedrich August 184 Wolff, Ernst A. 90 Wöllner, Johann Christoph 58 Wundt, Max 162 Zaczyk, Rainer 90 Zaremba, Michael 127 Zastrow, Friedrich Wilhelm Christian v. 46 Zeune, Johann August 42 Zimdars-Swartz, Paul F. 28 Zimdars-Swartz, Sandra L. 28 Ziolkowski, Theodore 54, 97, 174